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German Pages 338 [340] Year 1994
Rousseau in Deutschland
Jean-Jacques
Rousseau
Pastel de l'epoque, non signe.
Rousseau in Deutschland Neue Beiträge zur Erforschung seiner Rezeption
Herausgegeben von
Herbert Jaumann
w DE
G
Walter de Gruyter Berlin . New York 1995
Erläuterungen zum
Frontispiz:
D a s o v a l e P o r t r ä t zeigt R o u s s e a u , b a r h ä u p t i g , m i t P e r ü c k e , in s c h w a r z e m , s t ä d t i s c h e n H a b i t . E s u n t e r s c h e i d e t sich d e u t l i c h v o n allen a n d e r e n b e k a n n t e n D a r s t e l l u n g e n , b e s o n d e r s v o n d e n e n L a T o u r s . D a s u n s i g n i e r t e P a s t e l l eines u n b e k a n n ten
Künstlers
ist
zu
Rousseaus
Lebzeiten
entstanden;
es
mißt
im
Original
5 6 X 4 6 cm. Reproduktion Rousseau.
in: G i r a r d i n , F e r n a n d C o m t e d e : Iconographie
de
]ean-]acques
P a r i s 1 9 0 8 Τ . 1 ( R e p r i n t G e n e v e : S l a t k i n e 1 9 7 0 ) , z w i s c h e n S. 2 4 u n d
2 5 (PI. II).
© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die U S - A N S I - N o r m über Haltbarkeit erfüllt.
Die Deutsche Bibliothek — ClP-Einhettsaufnähme Rousseau in Deutschland: neue Beiträge zur Erforschung seiner Rezeption / hrsg. von Herbert J a u m a n n . — Berlin ; New York : de Gruyter, 1 9 9 4 ISBN 3-11-014078-0 N E : J a u m a n n , Herbert [Hrsg.]
© Copyright 1 9 9 4 by Walter de Gruyter Sc C o . , D - 1 0 7 8 5 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in G e r m a n y Einbandgestaltung: Sigurd Wendland, Berlin Satz: Arthur Collignon G m b H , Berlin — Druck: Gerike G m b H , Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer G m b H , Berlin
Vorwort
„Wir stehen alle auf den Schultern von Marx", äußerte der katholische Sozialwissenschaftler Oswald v. Nell-Breuning S. J . in den fünfziger Jahren — damals eine wohlmeinende Übertreibung, die höchstens, von politischen Bewegungen wie der Arbeiterbewegung abgesehen, auf mehrere Sozialwissenschaftler zutreffen mochte, aber im Westdeutschland Adenauers und der SPD nach ,Godesberg' Entrüstung hervorrief. Hätte NellBreuning von Rousseau gesprochen, er hätte wahrscheinlich weniger übertrieben. Obwohl Rousseaus Schultern gewiß schwächer waren als die von Karl Marx, geht seine Wirkung weit über Politik und Theorie hinaus ins Unermeßliche. Auch die Frage, ob Rousseau heute noch zur Interpretation unserer Welt taugt oder ob seine kritische Theorie im gleichen Maß historisch geworden ist, wie es im Falle von Marx zu sein scheint, muß zumindest offen bleiben. Nicht nur der militant konservative Kritiker der amerikanischen Universität, Allan Bloom, hat sich wiederholt auf ihn als intakten Bildungsklassiker berufen. Auch die sogenannten Kommunitaristen unter den Vertretern der Politischen Philosophie der neunziger Jahre stehen Rousseau erheblich näher als Marx; man vergleiche den Hinweis von Walter Erhart am Schluß seines Beitrages zum vorliegenden Band. Wer sich dem Thema der Rousseau-Rezeption in Deutschland zu nähern sucht, stößt schnell auf ein Paradox; daß man von diesem ebenso komplexen wie nachhaltig und weitreichend wirksamen Phänomen niemanden überzeugen muß und daß konkrete Antworten auf die Frage nach dem Wann und Wo und Wie und Warum dennoch so schwer fallen. Bis heute fehlt eine umfassende, die Dokumente breit und repräsentativ erschließende und interpretierende Darstellung. (Zur Forschungsgeschichte und zu dem traditionsreichen Vorwurf, Rousseau sei ein Paradoxist, vgl. den einleitenden Beitrag des Herausgebers.) Das Buch über die Rezeption Rousseaus in Deutschland, wie Roland Mortier es über Diderot in Deutschland geschrieben hat, 1 steht noch aus. Vielleicht bleibt es
1
Roland Mortier: Diderot in Deutschland 1750—1850. 1967. (Das französische Original Paris: PUF 1954).
Stuttgart: Metzler
VI
Vorwort
überhaupt ungeschrieben, und wir tun besser daran, unsere Aufmerksamkeit auf kollektive Bemühungen zu konzentrieren. Dazu wollte die interdisziplinäre Tagung, Hie vom 2 . - 4 . September 1 9 9 2 an der Universität T o r o n t o (Department of German) über das T h e m a Rousseau
in Deutschland
stattfand, eine Gelegenheit
bieten,
wohl zum ersten Mal in der langen Geschichte der Bemühungen um diese Frage. Z u den leitenden Gesichtspunkten gehörten in T o r o n t o die plinäre
interdiszi-
Perspektive der Arbeit sowie der ausdrückliche Anspruch auf
Rezeptionsforschung,
unbeirrt durch die Tatsache, daß diese Fragerich-
tung seit geraumer Zeit durch ganz andere, stärker ,ästhetisch' oder wie immer orientierte Richtungen der Literaturwissenschaft in den Schatten geraten ist. Die Probleme selbst sind natürlich noch immer gegeben und viele Fragen nach wie vor unbeantwortet. Eines dieser Probleme von großer Dringlichkeit ist es, wie man mit der Einfluβ-Kategorie
umzugehen habe, mit einer Fragestellung, die für
die ältere Wirkungsforschung und Komparatistik von naturwüchsiger Selbstevidenz gewesen sein muß. Rousseau ,beeinflußt' Goethe; der ,Einfluß' der Nouvelle
ΗέΙο'1'se auf den Werther
— diese ebenso geläufig wie
harmlos klingenden T h e m e n implizieren k o m p l e x e Übereinkünfte und Annahmen über Autoren- und Textbeziehungen, die von der Literaturwissenschaft heute dank eines geschärften Theorie- und Methodenbewußtseins immer deutlicher erkannt und problematisiert werden. 2 Ein Forschungsgebiet vom Typ ,Rousseau in Deutschland' wäre jedenfalls auch ein höchst ergiebiges Versuchsfeld für die Diskussion solcher Probleme und für die Erprobung neuer Fragestellungen. ,Aus dem Stand' vermochte die Tagung dazu keine völlig neuartigen Zugänge zu eröffnen, o b w o h l die Frage in den ausführlichen Diskussionen beständig präsent war. Der aufmerksame Leser wird feststellen, daß ihre Stärke in der Erarbeitung materialer Thesen und Deutungsvorschläge liegt. D e r heute vielfach begegnenden Praxis, literarhistorische Sachverhalte lediglich zur Illustration des Umgangs mit theoretischen Modellen oder Theoriestükken zu verwenden, wurde jedenfalls nicht gefolgt. 2
Dazu die Sammelbände: Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Hrsg. von Ulrich Broich, Manfred Pfister. Tübingen: Niemeyer 1985; Identity of the Literary Text, eds. Mario J. Valdes, Owen Miller. Toronto: Toronto UP 1985; Influence and lntertextuality in Literary History, eds. Jay Clayton, Eric Rothstein. Madison, Wise. 1991, sowie demnächst: Intertextualität in der frühen Neuzeit. Hrsg. von Wilhelm Kühlmann, Wolfgang Neuber, ersch. 1994.
Vorwort
VII
Die in diesem Band versammelten Beiträge bewegen sich mehrheitlich im 18. und frühen 19. Jahrhundert, also im Zeitraum der frühen Rezeption und ihrer dynamischen Entfaltung in der deutschen Aufklärung, in der Literatur des ,Rokoko' (wenn es denn eine solche gegeben hat), des sogenannten ,Sturm und Drang', der ,Weimarer Klassik' und der Romantik, in der Philosophie des Idealismus und den Theorien über den Staat, die Kirche und die Gesellschaft. Ein Symptom für die ungebrochene Aktualität Rousseaus könnte es sein, daß mehrere Vorträge ihre Linien ins 20. Jahrhundert ausziehen, explizit oder zwischen den Zeilen. Das häufig behandelte Thema ,Rousseau und die Pädagogik' wurde bewußt ausgeklammert; auch Wilhelm Voßkamp interessiert am Emile vor allem die Bedeutung von dessen aporetischer Struktur (,Mensch vs. Bürger') für die Elemente des entstehenden Bildungsromans, und er liest Rousseaus Werk seinerseits als eine Art experimentellen Roman, dessen Reiz im Angebot einer ästhetischen Auflösung der Aporie liegt und nicht so sehr im Erziehungsprogramm seines Autors. Auch die große Frage der Zivilreligion, die aus der Sicht des späten 18. Jahrhunderts vielleicht brisanter als die politische Theorie Rousseaus gewesen ist, wird allein von Sebastian Neumeister eingehend behandelt; denn die sonst so verschiedenen „Staatsutopien" des Novalis, des späten Friedrich Schlegel und Rousseaus haben ein gemeinsames Ziel: die Wiederherstellung der verlorengegangenen Einheit von Staat und Religion. Keine Frageperspektive schließlich hat die Rousseau-Interpretation der letzten ein bis zwei Jahrzehnte in eine so fruchtbare Spannung versetzt wie die feministische und die Arbeiten der historischen Frauenforschung (beides muß nicht dasselbe sein), ja man wird sagen können, sie hat seit den siebziger Jahren das Interesse an diesem Autor wieder neu entfacht und über den gewohnten Horizont der Pädagogik und politischen Ideengeschichte weit hinausgeführt. Bedauerlich, daß die Tagung in Toronto, bedingt durch einige Absagen, dazu nichts zu bieten hatte, und desto erfreulicher deshalb die gewichtige Untersuchung von Verena Ehrich-Haefeli (Genf) in diesem Band. Sie analysiert erneut den Emile als die folgenreichste Artikulation des neuen, bürgerlichen' WeiblichkeitsDiskurses mit allen seinen Reduktionen des weiblichen — und des männlichen — Subjektseins. Umfassender, sachhaltiger, besser dokumentiert als andere Studien zu diesem Thema und bereichert durch viele Parallelen und Kontrastbeispiele, bei Diderot, Lessing, Goethe, Schiller, und von Geliert bis Campe, wird noch einmal die Negativbilanz des Rous-
VIII
Vorwort
seauschen Konzepts aufgemacht, ein wahrhaft monströses System der Enteignung und Unterdrückung, das den Genfer Menschenfreund inzwischen zu einem der Schreckensmänner des internationalen Vulgärfeminismus heranreifen ließ. Das ist nur zu verständlich, aber deshalb muß die kritische oder dekonstruktive — oder auch ,nur' die genaue und reflektierte Rousseaulektüre eben den Widersprüchen und Aporien auch dieses Diskurses auf die Spur kommen. 3 Geradezu verblüffend übrigens dazu der Hinweis von Karl-Siegbert Rehberg, wonach Max Scheler in der Kulturkritik von Ludwig Klages einen „neuen Rousseauismus", ja einen „metaphysischen Feminismus" kritisiert habe. Die Schwerpunkte des Bandes liegen bei verschiedenen Aspekten der Rezeption Rousseaus zu dessen Lebzeiten in der deutschen Literatur des 18. und frühen 19. Jahrhunderts (die Beiträge von Ulrich Kronauer, Walter Erhart, Friedrich Vollhardt, Sebastian Neumeister und Wilhelm Voßkamp); in der Philosophie und Gesellschaftstheorie des deutschen Idealismus (Richard Velkley und Wilhelm Schmidt-Biggemann); in der Kulturtheorie zwischen dem 18. und dem 20. Jahrhundert (Sebastian Neumeister und Karl-Siegbert Rehberg), der Staats- und Gesellschaftskonzepte (Wilhelm Schmidt-Biggemann, Sebastian Neumeister und KarlSiegbert Rehberg) sowie mit dem Beitrag von Martin Peters auf dem Gebiet des historiographischen Diskurses der Göttinger Spätaufklärung. Hingewiesen sei schließlich auf die vom Herausgeber zusammengestellte Bibliographie zum Thema, die bis ins Jahr 1993 reicht, auf das Verzeichnis der derzeit greifbaren Einzel- und Auswahlausgaben der Werke Rousseaus auf deutsch bzw. zweisprachig französisch/deutsch sowie eine Liste der Namen und Adressen der Beiträger zu diesem Band. Zu danken hat der Herausgeber in erster Linie den Autoren für ihre Beiträge und für die Mitarbeit bei der Herstellung des Bandes. Unser gemeinsamer Dank gilt sodann der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die Gewährung von Reisebeihilfen; dem German Department in Toronto, zumal dem 1992 amtierenden chairman, Prof. Charles N. Genno,
3
Das leistet die außerordentliche Studie von Christine Garbe: Die ,weibliche List im ,männlichen Text. ]ean-]acques Rousseau in der feministischen Kritik. Stuttgart: Metzler 1992. — Zu Rousseaus Rolle in einem weiteren Kontext auch Claudia Honegger: Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib, 1750—1850. Frankfurt/M., New York: Campus 1991, 2. Aufl. 1992.
Vorwort
IX
und den Kollegen Prof. Heinz Wetzel und Prof. Allan D. Latta für ihre Mitwirkung bei der Vorbereitung und Organisation; dem benachbarten Massey-College, das den stilvollen Tagungsraum zur Verfügung gestellt hat, und last but not least dem Verlag de Gruyter für sein Entgegenkommen bei der Übernahme der Publikation. Enger (Westfalen), im Juni 1994
Herbert
Jaumann
Inhaltsverzeichnis
Herbert
]aumann
Rousseau in Deutschland. Forschungsgeschichte und Perspektiven
Ulrich
1
Kronauer
Der kühne Weltweise. Lessing als Leser Rousseaus
23
Walter Erhart „Was nützen schielende Wahrheiten?" Rousseau, Wieland und die Hermeneutik des Fremden
Friedrich
47
Vollhardt
Die Romanprojekte Friedrich Heinrich Jacobis. Empfindsamkeitskritik, Sprachkonzeption und Moralreflexion in der Auseinandersetzung mit Rousseau Wilhelm Voßkamp „Un livre P a r a d o x a l . " J . - J . Rousseaus ,Emile' in der deutschen Diskussion 1800 Verena umEhrich-Haefeli
79
101
Rousseaus Sophie und ihre deutschen Schwestern. Zur Entstehung der bürgerlichen Geschlechterideologie
Sebastian
Neumeister
Rousseaus Staatsidee und ihre Spuren bei Friedrich Schlegel
Richard
115
L.
163
Velkley
Freedom, Teleology, and Justification of Reason. O n the Philosophical Importance of Kant's Rousseauian Turn
181
XII
Inhaltsverzeichnis
Wilhelm Schmidt-Biggemann Die Freiheit, der Wille, das Absolute. Fichte als Aus-denker Rousseaus Karl-Siegbert
197
Rehberg
Natur und Sachhingabe. Jean-Jacques Rousseau, die Anthropologie und ,das Politische' im Deutschland des 20. Jahrhunderts Martin Peters Möglichkeiten und Grenzen der Rezeption Rousseaus in den deutschen Historiographien. Das Beispiel der Göttinger Professoren August Ludwig (von) Schlözer und Christoph Meiners
221
267
Literatur Bibliographie Rousseau in Deutschland Neuere Auswahl- und Einzelausgaben in deutscher Sprache
291 310
Beitragsautoren
313
Register Namen Sachen
315 321
Herbert
Jaumann
Rousseau in Deutschland Forschungsgeschichte und Perspektiven
Was ich Ihnen vortragen möchte, hat drei Schwerpunkte. Erstens sollte am Beginn einer solchen Tagung davon die Rede sein, auf welche Textcorpora wir uns beziehen, was mit ,Rousseau' gemeint ist, offenbar dem Inhalt und Gegenstand der Rezeption, die untersucht werden soll. Zweitens ist kurz über die Geschichte dieser Rezeptionsforschung zu sprechen, anhand der wichtigsten Publikationstypen, in denen sich diese Forschung seit mehr als hundert Jahren niedergeschlagen hat. Vor allem wegen der Zuhörer, die hier nicht als Vortragende und Fachleute teilnehmen, sollten wenigstens zu Beginn diese Daten und Titel vorgestellt werden. Drittens will ich eine Reihe von Domänen wie auch von Desideraten der Forschung benennen und davon am Schluß wenigstens eines aus eigener Sicht etwas ausführlicher behandeln, nämlich die Frage, was es mit dem unermüdlich gebrauchten Vorwurf auf sich hat, Rousseau sei ein Autor von ,Paradoxen'.
1. ,Rousseau' — einige bibliographische Eckdaten Zunächst die Werke. Dabei ist die Chronologie der Entstehung und Veröffentlichung bereits ein Moment, das die Rekonstruktion der Rezeptionsprozesse beträchtlich kompliziert. Man kann drei Gruppen unterscheiden. (a) Die Schriften, die in jenem verhältnismäßig kurzen Zeitraum, dem „Moment vorübergehender Gärung" (Rousseau), von 1750 bis 1762, produziert und sogleich publiziert werden, angefangen mit dem ersten Discours: St le retablissement des Sciences & des Arts a contribue ä 0purer les mceurs. Par un Citoyen de Geneve.1 Diese von der Akademie 1
Anonym erschienen, ohne Jahresangabe. Die vom Oktober-Heft 1749 des Mercure de France veröffentlichte Preisfrage der Akademie von Dijon betraf
2
Herbert J a u m a n n
von Dijon 1750 prämiierte Schrift entstand 1749/50 und ist nach den Forschungen von Ralph A. Leigh, dem Herausgeber der riesigen kommentierten Correspondance in 50 Bänden (49 Textbände, 1 Registerband: 1965 — 1991) nicht vor der zweiten Januarwoche des Jahres 1751 in Paris auf den Markt gekommen. 2 Daß man dennoch nach wie vor von dem Erscheinungsjahr 1750 spricht, liegt an der Ankündigung der Schrift im Dezemberheft des Mercure de France und natürlich daran, daß sie den Preis des Jahres 1750 erhalten hat. Der zweite Discours: Sur l'origine et les fondements de Ι'ίηέξαΙύέ parmi les hommes, erscheint 1755 in Amsterdam bei Marc Michel Rey, dieses Mal mit dem vollen Namen des Verfassers. 3 Nach Rousseaus Antworten auf die zahlreichen Gegenschriften folgen Emile und Du contrat social, beide im Jahre 1762. ein ,Modethema' der Zeit. Erwartet wurde eine Erörterung der Bedeutung der Renaissance oder auch der ,Querelle des Anciens et des Modernes'. Rousseaus Antwort steht der älteren Tradition einer fortschrittsskeptischen Einschätzung der Renaissance nahe (vgl. auch das ältere Beispiel S. 2 8 0 , Fn 4 1 , in diesem Band). Weigand weist auf die Vermutung hin, wonach Buffon die Zuerkennung des Preises an Rousseau beeinflußt habe (vgl. JeanJacques Rousseau: Schriften zur Kulturkritik. Eingeleitet, übersetzt u. hrsg. von Kurt Weigand, 3., durchges. Aufl. Hamburg 1 9 7 8 , S. 345). 2
Dazu bei Ludwig Tente: Die Polemik um den Ersten Discours von Rousseau in Frankreich und Deutschland. Diss. Kiel 1974, S. 5. Der Discours wurde also unter der Aufsicht Diderots, der auch die Korrektur übernahm, in Paris bei Pissot gedruckt und publiziert. Die Ortsangabe „A Geneve, Chez Barillot & fils" ist fiktiv, ebenso wie die Titulierung des Verf. als „Citoyen de Geneve", der Rousseau seit seiner Flucht aus Genf und der folgenden Konversion zum Katholizismus (1728) nicht mehr war. Dem Druck des zweiten Discours (1755) stellte er eine Widmungsvorrede an die Republik zu Genf voran, datiert Chambery, den 12. Juni 1754, die mit der Bitte um Wiederaufnahme in die Bürgerschaft verbunden war. Sie wurde gewährt, und die Aufnahme fand am 1. August durch das Konsistorium statt, als Rousseau in Genf weilte.
3
Die noch immer brauchbarste deutsche Ausgabe der beiden Discours (mit weiteren Beilagen) ist die zweisprachige Edition von Kurt Weigand (vgl. Fn 1). Die Übersetzung erweist sich an entscheidenden Stellen genauer als andere Versuche, und die ausführliche Einleitung enthält neben plausiblen, perspektivenreichen Interpretationen viele kritische Hinweise zu den Traditionen, in denen auch Rousseau steht, dazu viele eingehende und zuverlässige Sachkommentare. Leider verfügen wir nicht über zweisprachige Ausgaben gleichen Niveaus für die anderen Haupttexte Rousseaus. Der Ausgabe des ersten Discours von Henning Ritter (München 1978, Band I) liegt die revidierte Fassung der Ubersetzung zugrunde, die 1779 erschienen ist, dem zweiten Discours (ebda.) die revidierte Fassung der Übersetzung Moses Mendelssohns von 1756. Die Ausgabe von Martin Fontius (Berlin/DDR 1989,
Rousseau in Deutschland
3
(b) Der Briefroman La Nouvelle H0loise erscheint schon 1761, gehört aber wohl zu einer zweiten Schreibsequenz, zu der der Brief an d'Alembert gegen das Theater (Sur son Article Geneve dans le Vile Volume de L'EncyclopSdie [1758]), der Discours sur l'iconomie politique (Band V der Encyclop0die, 1755) und die Lettres icrites de la montagne (1764, gegen Tronchins Briefe De la Campagne) zählen. 1765 entsteht das Projet sur la constitution de la Corse, und es erscheint das Dictionnaire de Musique, eine Zusammenstellung älterer Artikel, die Rousseau für Diderots Enzyklopädie verfaßt hatte. Sieht man von den Considerations sur le gouvernement de Pologne (1770/71 entstanden, 1772 entgegen Rousseaus Absicht publiziert), so ist die schriftstellerische Produktion Rousseaus, die zu seinen Lebzeiten veröffentlicht wurde, Mitte der sechziger Jahre bereits abgeschlossen. (c) Die dritte Sequenz seines Schreibens, nach der theoretischen (Kritik, der Kultur, Pädagogik, Politik) und literarischen nun die autobiographische, entsteht in den sechziger und siebziger Jahren und wird ohne Ausnahme erst nach seinem Tod gedruckt: 1782 die ersten sechs Bücher der Confessions, die Reveries und Rousseau, juge de Jean-Jacques; 1789 liegen die Bekenntnisse vollständig vor. Die Phase der autobiographischen Texte, aus denen allenfalls während des Exils und der Wanderjahre nach dem mißglückten Englandaufenthalt in Adelssalons vorgelesen wurde (besonders in dem von Mme Egmont), sind Jahre des öffentlichen Schweigens (des Autors — natürlich nicht der veröffentlichten Berichte, Anekdoten und des Klatsches über ihn). Der letzte Spaziergang in den Reveries, der unvollendet blieb, wurde am Palmsonntag 1778, dem 12. April, geschrieben; Rousseau starb am 2. Juli. Er hatte auf die Rückseite einer Spielkarte notiert: „So soll mein Buch auf natürliche Weise zu Ende gehen, wenn ich mich dem Ende meines Lebens nähere." Äußerste Identifikation von Schreiben und Existenz, doch ohne Publizität dort, wo die Texte am meisten literarisch', am meisten verschlüsselt sind. Der Bürger von Genf, der ,alles' sagen will, wählt das Schweigen. Die autobiographischen Texte nennt er selbst seine „wahren Schriften", die AutobiograBand I) enthält eine Neuübersetzung des ersten Discours von Karlheinz Barck und eine Neuübersetzung des zweiten Discours von Brigitte Burmeister (ebda.). Beide neuen Auswahlausgaben sind mit lesenswerten Einleitungen versehen (von Henning Ritter bzw. Martin Fontius, jeweils im 1. Band) sowie mit Zeilenkommentaren, bes. weitreichend bei Ritter, der viele Eigennamen identifiziert und zusätzliche Textmaterialien in eigener Übersetzung zugänglich macht. Zu neueren Ausgaben vgl. auch die Bibliographie in diesem Band (S. 310f.).
4
Herbert Jaumann
phie hat das A u s m a ß eines Werkes a n g e n o m m e n . Er hält es für ein Werk der Vernunft, das entschlüsselt, und gleichzeitig f ü r ein Werk des Wahns, das den Leser auf Distanz hält. Das gesamte Werk, das theoretische, das literarische, das autobiographische, soll das Werk eines einzigartigen Menschen sein, der sich ,anders' definiert, durch die Differenz zu den anderen, und der deshalb beständig Abgrenzungen und Ablehnungen formulieren muß. Es k o m m t a n d a u e r n d zu Verdopplungen und Verschiebungen: weder Philosoph noch Schriftsteller noch Schöngeist; ein Genfer für die Pariser, ein Pariser f ü r die Genfer; Rousseau für Jean-Jacques, Jean-Jacques für Rousseau; ein Schweizer f ü r die Deutschen unter den Anhängern, ein Franzose für seine Gegner unter ihnen. Doch damit bin ich bereits bei einem T h e m a der Rezeption. Sie setzt in Deutschland, nach allem, was wir wissen, mit einer Rezension des ersten Discours von Lessing ein, im April 1751, in der Berliner Zeitung Das Neueste aus dem Reich des Witzes. Neben weiteren Rezensionen erscheint die erste Übersetzung von J o h a n n Daniel Tietz, einem Magister der Philosophie in Leipzig, 1752. Am interessantesten aber sind heute noch zwei Sammlungen von Entgegnungen auf die H e r a u s f o r d e r u n g e n des Genfers, interessant als institutionelle Ereignisse, weniger in den einzelnen Beiträgen: Gottfried Schütze, Rektor des Gymnasiums zu Altona, lädt im M ä r z 1752 zu einer R e d n e r ü b u n g , bei der seine Schüler in lateinischen und deutschen Reden und Poemen Rousseaus Urteil über die G e r m a n e n dadurch widerlegen sollen, daß sie die Göttervorstellungen und die ,Wissenschaft' der alten Dänen nachweisen (Altona ist um diese Zeit noch dänisch). Die Ergebnisse werden gedruckt unter dem Titel Beweis, daß der Grund der Glückseligkeit der alten Celten mit nickten in dem Mangel der Wissenschaften zu suchen sey (Altona 1752). Bekannter ist die Leipziger Veranstaltung, die Gottsched als Dek a n der Philosophischen Fakultät im September des gleichen Jahres anb e r a u m t ; die Reden werden noch im Herbst unter dem Titel Vertheidigung der Gelehrsamkeit usw. publiziert. 4 Wenig bekannt ist schließlich
4
Verteidigung der Gelehrsamkeit, und sonderlich der schönen Wissenschaften gegen den Herrn Rousseau aus Genf. Leipzig 1752 (134 S.). Die vier Reden in deutscher Sprache s t a m m e n von Friedrich Burscher, Wilhelm Abrah a m Teller, Karl Friedrich Brucker und J o h a n n T r a u g o t t Schulz. Der Redeactus w u r d e am 30. G e b u r t s t a g des Erbprinzen Friedrich Christian von Sachsen von Gottsched, dem D e k a n der Philosophischen Fakultät, veranstaltet (am 5. September 1752), und Gottsched verfaßte aus diesem Anlaß auch eine lateinische Einladungsschrift, die dem von ihm besorgten Druck vorangestellt ist. D a r a u s geht hervor, d a ß die Leipziger Veranstaltung neben der Widerlegung Rousseaus einen weiteren Z w e c k hatte: die öffentliche D e m o n -
Rousseau in Deutschland
5
eine 1753 in Gotha in französischer Sprache bei J . P. Mevius erschienene zweibändige Sammlung, die Rousseaus Discours und alle bis dahin bekannt gewordenen Antworten und Kritiken enthält: Kecueil de toutes les pieces qui ont ete publiees ä /'occasion du DISCOURS de M. ]. J. Rousseau usw. An den Rezensionen über diesen ,Recueil Mevius' kann man im übrigen ablesen, daß die Möglichkeit zum Überblick über die Polemik eine Relativierung der Urteile nach sich zog. Manche Rezensenten gestehen Rousseau nun, die erste Rezeption bereits reflektierend, zu, in gewissen Punkten Recht zu haben. 5 Die publizistische Reaktion auf den zweiten Discours ist in Deutschland weitaus schwächer gewesen. Obwohl die Irritationen entschieden zunahmen, glaubte man, die wichtigsten Argumente und Vorbehalte gegen den lästigen Störenfried bereits formuliert zu haben. In Wirklichkeit jedoch, so scheint es, war das deutsche Publikum auf diese weitaus besser argumentierende und theoretisch kräftiger zupackende Schrift noch weniger vorbereitet als auf die erste, 6 deren Wirkung auch aus der beträchtlichen Verblüffung des Publikums resultierte, deren Themenstellung, nüchtern betrachtet, dem gelehrten Leser aber auch völlig vertraut scheinen konnte, z.B. seit Agrippas von Nettesheim De Vanitate (1530) und vielen anderen Traktaten einer skeptischen Wissenschafts- und Kul-
5
6
stration eines Rede-actus in deutscher Sprache. Auch in der Volkssprache ließen sich die höchsten Güter der Gelehrtenkultur verteidigen. Der Sammlung ist ein Motto aus den Nebenstunden der Königin Christina von Schweden vorangestellt: „Die Wissenschaften verderben nicht die Menschen, sondern diese verderben die Wissenschaften." Rousseau erwähnt die „quatre sermons allemands" zu Beginn der Priface de Narcisse (1753), bei Ritter, Band I, S. 147 f. - Ein Ex. in der Sachs. LB Dresden; Tente 1974 (wie Fn 2) druckt die Schrift ganz ab (dort S. 460ff.). Vgl. Tente 1974 (wie Fn 2), S. 707. Tente gibt die Rezension Gottscheds (in: Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit, Sept. 1753) wieder sowie diejenige in den Göttingischen gelehrten Anzeigen (Okt. 1753, anonym) und in den Jenaischen gelehrten Zeitungen (Jan. 1754). Der Göttinger Rezensent bekundet großes Verständnis für Rousseau: „Wir müssen beklagen, ,Haec dici potuisse, & non potuisse refelli' " (Tente, S. 718); um Albrecht v. Haller dürfte es sich dabei also nicht handeln. Zu den beiden Discours vgl. besonders Leo Strauss: On the intention of Rousseau. In: Social Research 14 (1947), S. 455 — 487, und weiterführend ders. in: Naturrecht und Geschichte. Stuttgart 1956 (Kap. IV.A); Iring Fetscher: Rousseaus politische Philosophie, 3., überarb. Aufl. Frankfurt/M. 1975 (Kap. V auch zur Rezeption); Robert Spaemann: Von der Polis zur Natur. Die Kontroverse um Rousseaus ersten Discours. In: DVjs 47 (1973), S. 5 8 1 - 5 9 7 .
6
Herbert J a u m a n n
turtheorie, die auch im 18. Jahrhundert weiter präsent geblieben war. Wieder ist Lessing der erste Rezensent, diesmal in der Berlinischen Privilegirten Zeitung vom 10. Juli 1755, und er ist es auch, der seinen Freund Moses Mendelssohn dazu bewegt haben soll, den Discours zu übersetzen. Die Übersetzung erscheint in Berlin 1756 unter dem Titel Johann Jacob Rousseaus Bürgers zu Genf Abhandlung von dem Ursprünge der Ungleichheit unter den Menschen, und worauf sie sich gründe. Sie enthält auch ein Sendschreiben an den Herrn Magister Lessing, in dem Mendelssohn sich kritisch, sehr viel kritischer als Lessing, mit Rousseau auseinandersetzt. Drei weitere Dokumente möchte ich wenigstens noch nennen. Sie haben außerordentlich rezeptionssteuernd gewirkt und sind zugleich — von heute aus gesehen — symptomatisch für typische Positionen der frühen Einschätzung Rousseaus im deutschsprachigen Bereich, obwohl zwei von ihnen zunächst gar nicht auf deutsch erschienen sind. Ich meine erstens die Remarks on the Writings and Conduct of Jean Jacques Rousseau des schweizerischen Malers und Schriftstellers Johann Heinrich Füßli (1767 anonym in London). Füßli (geb. 1741) gehörte zu der Gruppe junger ,Patrioten' in Zürich, die Bodmer zu regelmäßigen politischen Diskussionen um sich versammelte und zu denen auch der junge Pestalozzi gehörte. Rousseau, der im Sommer 1762 wegen des Emile und Contrat social aus Genf verbannt worden war, war das bewunderte Vorbild, der Märtyrer der Freiheit, auch für Bodmer, der sich im Alter noch der Rousseau-Begeisterung seiner Schüler angeschlossen hatte. Wie auch Lavater versucht der 1761 zum Geistlichen ordinierte Füßli, das neue Gefühls- und Freiheitsevangelium von der Kanzel zu verkünden, und im Herbst 1762 bildet er mit Lavater und den Brüdern Heinrich und Felix Heß, alles Geistliche und ,Patrioten' aus der Schule Bodmers, eine Art Geheimbund zur ,Staatsverbesserung'. Man geht gegen den berüchtigten Landvogt von Grüningen und Zürcher Ratsherrn Grebel vor und läßt schließlich eine private Anklageschrift Der ungerechte Landvogt oder Klage eines Patrioten drucken. Die extravaganten ,angry young men' erregen großes Aufsehen, sie bekennen sich als Verfasser und werden in Haft genommen. Da aber der Volksfeind Grebel immerhin fliehen mußte und zu lebenslanger Verbannung verurteilt wurde, zogen es auch die ,Patrioten' vor, sich vor der Rache des mächtigen Politikers und seines Clans zu schützen und Zürich zu verlassen. Die Gruppe nimmt die Einladung des gleichgesinnten Johann Georg Sulzer nach Berlin an, und Füßli kehrt nicht mehr in die Heimat zurück, wo es in den folgenden Jahren zu einer Reihe weiterer Aktivitäten im Stile der ,Patrioten'
Rousseau in Deutschland
7
k o m m t , mit Beteiligung Lavaters und Pestalozzis. M ä r z 1 7 6 3 geht er nach London, und Walter Muschg hat darauf hingewiesen, daß Füßli sich in den folgenden J a h r e n zu einem schonungslosen Gegner Klopstocks wandelte (der in der Zürcher Zeit zu den Hausgöttern gehört hatte) und eine Geschichte der deutschen Literatur verfaßte, die an R o u s seau orientiert war und „schon die Einstellung der Umstürzler Herder und Goethe vorausspiegelte". Das Manuskript ging 1 7 7 0 beim Brand seiner Londoner Wohnung verloren. 7 Die Verteidigungsschrift für Rousseau war in England mangels Interesse unverkäuflich, kursierte aber bald in Deutschland, und bereits im Juli 1767 publizierte H a m a n n in den Königsberger schen
Zeitungen
des Eingangs des ersten Kapitels der Remarks den Inhalt des
Gelehrten
und
Politi-
„eine nahezu komplette Übersetzung der Vorrede und übrigen."8
und referierte dann bündig
D a b e i überrascht, daß selbst H a m a n n den an-
onymen Verfasser nicht kennt. Noch im Juli 1767 schreibt er an Herder: „Ich habe die nichtswürdige Grille gehabt, einen unförmlichen Auszug einer englischen Apologie des Rousseau, die den Sterne zum Verfasser haben soll, in die Königsbergsche Zeitung einflicken zu lassen", und Herder erkundigt sich noch im O k t o b e r 1 7 7 3 bei Lavater: „Für Füßlis
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Walter Muschg: Vorwort in Heinrich Füßli: Briefe, hrsg. von W. M. Klosterberg, Basel: Benno Schwabe 1942, S. 13—43, hier S. 31. Das Vorwort und die Auswahl der Briefe orientieren vorzüglich über Füßlis Leben, leider mit Ausnahme der Rousseau-Schrift. Claus Süßenberger: Rousseau im Urteil der deutschen Publizistik bis zum Ende der Französischen Revolution. Bern, Frankfurt/M. 1974, S. 93. Die Schrift liegt auch vor als Johann Heinrich Füssli: Remarks on the ^Writings and Conduct of J. J. Rousseau. Mit Einführung, deutscher Übersetzung und Kommentar hrsg. von Eudo C. Mason. Zürich 1962. Zu Rousseaus EnglandAufenthalt und Würdigung Füßlis jüngst Henning Ritter: Der Verdacht. Voltaire, Rousseau, Hume. In: Martin Meyer (Hrsg.): Intellektuellendämmerung? Beiträge zur neuesten Zeit des Geistes. München: Hanser 1992, S. 251 — 284 (Edition Akzente). Dokumente auch in: Pierre-Paul Plan (Hrsg.): ]ean-)acques Rousseau raconti par les gazettes de son temps. D'un decret ä l'autre (9 juin 1 7 6 2 - 2 1 decembre 1790). Paris 1912, Repr. New York 1972. Vgl. auch Johann Heinrich Füßli: Sämtliche Gedichte. Hrsg. von Martin Bircher und Karl S. Guthke. Zürich: Orell Füssli Verlag 1973, sowie ders.: Aphorismen über die Kunst, hrsg. von Eudo C. Mason. Basel 1944; Arnold Federmann: Johann Heinrich Füßli. Dichter und Maler, 1741 — 1825. Zürich, Leipzig 1927; Ernst Beutler: Johann Heinrich Füßli. Halle 1939; Eudo C. Mason: The Mind of Henry Fuseli. London 1951, und Hans Schnorf: Sturm und Drang in der Schweiz. Zürich 1914.
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Porträt Dank. Hat er den Essay on the writings of Rousseau geschrieben?" 9 Das zweite Dokument ist bekannter, es ist die Komödie Les Philosophes von Charles Palissot, die 1760 in Paris erfolgreich uraufgeführt worden ist, eine der zahlreichen Rousseau-Parodien auf dem Theater, die auch in Deutschland sehr bekannt gewesen ist und Nachahmer gefunden hat, u. a. Goethe in Satyros oder der vergötterte Waldteufel (1770). Palissots Stück enthält mit der Figur des Crispin das Sinnbild der populären, von Voltaire vorformulierten Rousseau-Karikatur, die sich auf die Naturstandskonstruktion im zweiten Discours bezieht. Goethe erinnert sich später an eine Frankfurter Aufführung mit der „Figur des Philosophen, der auf allen Vieren geht und in ein rohes Salathaupt beißt." 1 0 Der dritte Text ist Johann Georg Jacobis Nekrolog Über Jean Jacques Rousseau, den Wieland im Teutschen Merkur (1778, 3. Vj.) unmittelbar nach Rousseaus Tod veröffentlichte. Jacobis Nachruf ist die Hagiographie des unschuldig verfolgten Märtyrers der Wahrheit. Die Irritationen des Theoretikers sind in diesen gemeinhin als ,empfindsam' bezeichneten Kreisen ausgeschieden. Freilich muß man hier vorsichtig sein. Bedingt durch Anlaß und Textgattung, zeichnet Jacobis Memorial sicher ein extrem widerspruchsfreies Bild für ein auf Trauer und Verehrung gestimmtes Publikum. 11 Mehrheitsfähiger dürfte gewesen sein, was Gleim ein paar Jahre zuvor an seinen Freund Uz schreibt, beides Autoren, die Jacobi und seinem Kreis nicht fern standen. Die Rede ist von Wielands eben gedruckten Beyträgen zur Gebeimen Geschichte des menschlichen Verstandes und Herzens: ... [sie seien] hauptsächlich gegen des ehrlichen und guten Hans Jacobs System gerichtet, und bloß deswegen sehr nach meinem Geschmack! Der gute Mann könte mit seiner Ehrlichkeit es dahin bringen, daß die Menschen, die es bequemer finden dumm als klug zu seyn, anfiengen, wieder auf Vieren zu gehen, wenn nicht seiner Ehrlichkeit eine andere wiederspräche, und dazu dünkt Wieland mich der rechte Mann. 1 2
Auf diesen Pluralismus der Ehrlichkeiten ist zurückzukommen. Alle diese zuletzt genannten Dokumente stehen schließlich für einen Sachverhalt, der typisch ist für die Rousseau-Rezeption und zu ihrer 9 10 11 12
Beide Zitate bei Süßenberger (wie Fn 8), S. 93. Goethe: Dichtung und Wahrheit I, 3. Ausführlich dazu Süßenberger, S. 95 ff. Zu Jacobi vgl. den Beitrag von Friedrich Vollhardt in diesem Band. Zit. nach Thomas C. Starnes: Christoph Martin Wieland. Leben und Werk, Band I. Sigmaringen 1987, S. 371.
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Besonderheit beiträgt, während er bei sonst vergleichbaren Rezeptionen, etwa der Montesquieus, Diderots oder Voltaires, kaum eine Rolle spielt. Es ist die Trennung von Werk und Person, die, so meine ich, gelegentlich zu einer Verselbständigung der personalen Seite gegenüber den Texten und auch gegenüber der Autorenrolle geführt haben. Der Autor Rousseau wird nicht nur oder überhaupt nicht mehr als Verfasser seiner Schriften wahrgenommen, sondern als Projektionsfigur für Lebensentwürfe. Er verkörpert dann ein Modell des richtigen Lebens oder — in diesem Fall — vielmehr das Exempel dafür, wie weit man kommt, wenn man etwas davon realisieren will. Rousseau ist durchaus, gerade auch in der deutschen Rezeption, so etwas wie eine media celebrity, wie James Dean, Elvis Presley, Marilyn Monroe oder Woody Allen, und die Medienausstattung des späteren 18. Jahrhunderts war durchaus in der Lage — oder wurde anhand dieses Falles dazu veranlaßt —, das Publikum mit den Accessoires zu versorgen, aus denen ein solches Symbol bis heute gemacht ist: traditionell in Form von Anekdoten, dann von Örtlichkeiten (Ermenonville), Kleidung und Gegenständen, vor allem aber mit bildlichen Darstellungen. Diese Dimension der Rezeptionsgeschichte, die besonders stark kontextualistisch verfährt, zwischen Mediengeschichte und historischer Sozialpsychologie, die natürlich zur Textrezeption in ein Verhältnis gesetzt werden kann oder vielleicht muß (das wäre dann der Maximalanspruch), gibt es auf der deutschen Seite noch nicht. 1 3 Claus Süßenberger gehört zu den wenigen, die sich dieser 3
Eine Art ,Pressespiegel', jedoch unter Heranziehung sehr weniger Quellen, bietet die kommentierte Dokumentation von P.-P. Plan 1912 (wie Fn 8). Die jüngere Arbeit von Jakob Herman Huizinga: The Making of α Saint. The Tragi-Comedy of ]ean-]acques Rousseau. London: Hamish Hamilton 1976, enthält viel Spott über die Rousseau-Verehrung, viele anregende Ideen zur Deutung und weiteren Kontexten, aber meist ohne Nachweise; eine wenig brauchbare Darstellung. In diesem Zusammenhang ist Ermenonville von größtem Interesse, als Wallfahrtsort der Rousseau-Schwärmer nach seinem Tode am 2. Juli 1778 und in den 80er Jahren bis ins Vorfeld der Revolution, wobei die Todesart charakteristisch ungeklärt blieb, zwischen Schlaganfall, Selbstmord durch Gift, Unfall und Mordanschlag; vor allem aber mit Blick auf die von vornherein intendierte Semantik der Parkanlage im Norden von Paris. Der Marquis de Girardin, einer der vielen adligen Rousseau-Verehrer, hatte auf seinem Landgut die Naturidylle aus Rousseaus Nouvelle Helo'ise nachkonstruieren lassen, und die Einladung an den Autor, dort zu leben, bildete die Krönung dieser Inszenierung einer Naturkulisse. Daß Rousseau schon nach sechs Wochen starb, machte das Unternehmen keineswegs zunichte: Der Bewohner des Grabes auf der Pappelinsel konnte keinen Besucher mehr abweisen und war
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Dimension voll bewußt sind. Aber auch er bleibt zumeist auf — oft sehr bestechende — Spekulationen angewiesen, was bei der hohen Komplexität der hier miteinander in Beziehung zu setzenden Variablen kein Wunder ist. Die Rede von der ,Legende', mit deren Hilfe solche Phänomene herkömmlich eingeordnet zu werden pflegten, ist demgegenüber in jedem Fall ganz unbefriedigend. Das wäre eine Perspektive künftiger, hoffentlich nicht allzu zukünftiger Forschung, die sich schon an dieser Stelle aufdrängt und über die man relativ schnell zu konkreten Vorstellungen gelangen könnte.
2. Z u r bisherigen Forschung Ich muß mich kurz fassen, was mir nicht schwerfällt; denn da war nicht sehr viel. Auf die Frage, welche Publikationen ich für unverzichtbar halten würde für die auch wissenschaftsgeschichtlich reflektierte Weiterarbeit am T h e m a ,Rousseau in Deutschland', genauer gesagt: Rousseau in der deutschsprachigen Kultur und Literatur, würde ich gerne sechs Bücher und einen zweiteiligen Aufsatz nennen, nicht im Sinne einer Bibliographie natürlich — es gibt zwar nicht sehr viele Bücher, aber doch eine große Menge Aufsätze (vgl. die Bibliographie im Anhang zu diesem Band) —, sondern im Sinn der wissenschaftsgeschichtlichen und methodischen Symptomatik und der grundlegenden Erschließung oder wenigstens Reproduktion von Materialien. Ich ordne diese Arbeiten vorläufig in drei Gruppen: 1. Präsentation und Erschließung von Dokumenten 2. Einfluß-Studien, mehr oder weniger komparatistisch 3. Arbeiten mit Erklärungsanspruch, Ansätze zu Hypothesen Die erste Gruppe vertritt am besten der Brüsseler Komparatist R a y m o n d Trousson mit seinem Artikel Jean-Jacques
Rousseau
et son ceuvre
dans
auf Dauer präsent, bis er im Oktober 1794 ins Pantheon geholt wurde. Zu Phänomenen einer solchen ,nature naturelle', einer reflexiv gemachten Natur, findet man viel Anregendes bei Gernot Böhme: Natürlich Natur. Über Natur im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt/M. 1992 (edition suhrkamp 1680), leider ohne Beachtung des Modellfalls ,Ermenonville'.
R o u s s e a u in D e u t s c h l a n d
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la presse p0riodique allemande de 1750 a 1800, 1969/70 erschienen. 14 Trousson hält sich an die Chronologie von Rousseaus Publikationen und dokumentiert und kommentiert die dazu erschienenen Artikel, meist Rezensionen, ausführlich und wohl annähernd vollständig. Nicht viel anders verfährt Jacques Mounier in seiner umfangreichen Monographie: La fortune des ecrits de Jean-Jacques Rousseau dans les pays de langue allemande de 1782 a 1813, einer Pariser these von 1977 (1980 gedruckt). Sie setzt bei der Rezeption des ersten Bandes der Confessions ein und erschließt eine Fülle von Dokumenten, u. a. auch solche über die Rezeption von Rousseaus Schriften zur Musik, zum Theater und zu den Wissenschaften. Aber Mounier, der zwischen der Skylla der komparatistischen Parallelensucht und der Charybdis des ,rousseauisme', der traditionellen moralistischen Parteinahme, hindurchsteuern will, schüttet das Kind mit dem Bade aus. Was er methodische ,Strenge', Vorsicht und sogar ,Objektivität' nennt, das hindert ihn in Wahrheit an jedem Versuch zur Bildung ernsthafter Hypothesen über die von ihm dokumentierten Rezeptionsprozesse, Versuche, die man bei so viel Materialausbreitung wohl erwarten darf. Der gleichen Gruppe ist die Kieler Dissertation von Ludwig Tente (1974) zuzurechnen, über Die Polemik um den ersten Discours von Rousseau in Frankreich und Deutschland. Sie enthält eine Bibliographie aller Ausgaben des ersten Discours sowie aller Einzelschriften und Sammelbände dafür und dagegen bis um 1756, dazu einige spätere Reaktionen bis 1886, darunter auch die Rede Friedrichs des Großen gegen Rousseaus Kulturkritik von 1772. Alle Texte sind beschrieben und abgedruckt, sofern nicht leicht zugängliche Editionen vorliegen. Der einleitende Teil berichtet über die wichtigsten Gegner Rousseaus und über die Hauptargumente in diesem Streit. Es ist sehr bedauerlich, daß diese wertvolle Grundlagenarbeit nicht gedruckt zugänglich ist. Ich sprach von der programmatischen Enthaltsamkeit Mouniers gegenüber kurzschlüssigen Einflußkonstruktionen einer konventionellen Komparatistik. Besonders konsequent hat Wolfgang Liepe in mehreren Aufsätzen seit den zwanziger Jahren einen Rousseauismus bei Schiller in Frage gestellt und falsifiziert. W a s m a n meistens nicht klar genug a u s e i n a n d e r h ä l t , ist R o u s s e a u und die Z e i t s t i m m u n g des I r r a t i o n a l i s m u s , deren E x p o n e n t R o u s s e a u w u r d e ; n i c h t jeder A n t i i n t e l l e k t u a l i s m u s , n i c h t jeder I r r a t i o n a l i s m u s , nicht jede K u l t u r kritik b r a u c h t von R o u s s e a u angeregt zu sein,
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In: D i x - h u i t i e m e siecle 1 ( 1 9 6 9 ) , S. 2 8 9 - 3 1 0 (I), und 2 ( 1 9 7 0 ) , S. 2 2 7 - 2 6 4 (II).
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meint Guthke mit Recht in einem Beitrag von 1958 (ZDPh 77, S. 384), und geklärt sind diese Fragen bis heute nicht. Liepe forderte im Jahre 1926 vor allem zu diesem Zweck eine Geschichte der Rousseau-Rezeption in Deutschland. Erich Schmidts Richardson, Rousseau und Goethe, zum erstenmal 1875 erschienen, im Anschluß an den hundertsten Jahrestag des Werther (1874), ist ein Musterbeispiel für die gemeinte Einflußkomparatistik, die freilich nicht erst anhand konkreter Aufgaben wie der Rousseau-Rezeption ihr Ansehen verlor, sondern bekanntlich schon um 1900 mit der Durchsetzung der sogenannten geistesgeschichtlichen Literaturwissenschaft. Das Buch ist die Doktorarbeit eines Zweiundzwanzigjährigen, bei Scherer in Straßburg, an der ,Reichsuniversität' Straßburg entstanden und durchdrungen von jenem herablassenden und verächtlichen Überlegenheitsgestus des frischen Wilhelminismus gegenüber allem Französischen. Ein Musterbeispiel auch des politischen Opportunismus in der Germanistik. Was das Rousseau-Thema betrifft, steht die Einfluß-Parallele zwischen der Nouvelle Heloi'se und Werthers Leiden in Frage, und sie wird mit den Kategorien der damals sich bildenden ,Scherer-Schule' abgehandelt: theoretisch' anhand des Taineschen Schemas vom ,Erlebten' und ,Erlernten', das bei Schmidt allerdings um das ,Ererbte' verkürzt ist, also um die Biologie, deren Stunde auch in der Germanistik noch kommen sollte. Inhaltliche Vergleichspunkte sind dann die Handlung und die Komposition, die Episoden, die „Tendenz" (die es vor allem bei Rousseau gibt), die „Liebesleidenschaft", Aspekte der Natur, die Frage des Selbstmords, der Stil usw. So material- und zitatenreich — und wissenschaftsgeschichtlich lehrreich — diese Studie ist, so tautologisch ist sie auch: Meister Goethe ist in allem der Größte, Rousseau, der welsche Tendenzschriftsteller, ist bestenfalls der Zweitbeste, der Vergleich dient nur der Profilierung der Goethe-Ikone. Das zweite Buch in dieser Gruppe: Richard Festers Rousseau und die deutsche Geschichtsphilosophie (Leipzig 1890), ist auf der Ebene einer Ideen- und Weltanschauungsgeschichte im Sinne der Freiburger neukantianischen Schule durchaus mit Erich Schmidt verwandt. Die Bildungsgüter sind die gleichen. Die zentrale These des in Karlsruhe lehrenden Historikers Fester lautet: Rousseau ist der „unhistorische" Denker par excellence, im Sinne konsequenter Verachtung historischer Empirie, und beeinflußt als solcher die ,Weltanschauung' des deutschen Idealismus so lange, bis dieser sich von ihm emanzipiert und ,historischen Sinn' entwickelt. „Der Sieg der historischen Weltanschauung innerhalb der idealistischen Philosophie" (Vorwort, VI) bedeutet das Ende des Rousseauschen Einflusses. Rousseau ist hier ganz Aufklärer, wenn auch von der
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pessimistischen Art, und daß die Aufklärung nicht historisch denke, findet man später ja auch — wirkungsvoll — bei Friedrich Meinecke, über den dieses Vorurteil in den Klischeehaushalt der landläufigen Geschichtsbilder eingegangen ist. Aber es handelt sich dabei immerhin um eine These, und man könnte Festers Buch auch der dritten Gruppe zuschlagen, wenn mit dieser These heute noch etwas aufzufangen wäre. Die beiden Publikationen der dritten Gruppe, die also weder bei der Revue von Dokumenten noch bei notwendig vagen Einflußbehauptungen stehenbleiben, stammen von Francois Jost und von Claus Süßenberger. Das zweibändige Werk von Jost über Jean-Jacques Rousseau Suisse. Etude sur sa personnalit0 et sa pens0e (Fribourg 1961) gehört offenbar zu den unbekanntesten Arbeiten auf diesem Feld — ich habe es jedenfalls noch kaum zitiert gefunden. Das ist schade, weil es sowohl in der Erschließung der auf die Schweiz bezogenen Dokumente als auch über persönliche und textuelle Beziehungen in alle erdenkliche Richtungen als auch zum eigentlichen Thema — Rousseau als Schweizer mit dem Index ,Genf' und ,Kalvinismus' — die ausführlichsten und anderswo kaum erreichbaren Ergebnisse vorlegt. Zentral ist (neben der Aufhellung der Freundeskreise in der Schweiz) der erste Teil des zweiten Bandes über Rousseaus Anteil an der welschschweizerischen Mentalität, im Verhältnis zu den Frauen, auch zu denen in seinen Texten wie Sophie im Emile, und vor allem auch zu seiner „timidite", seiner spezifischen Art der Schüchternheit, bei der Jost mit Gewinn die Tagebücher von Amiel, von Sismondi, Gotthelf, Keller und Benjamin Constant zum Vergleich heranzieht. Wo sonst findet man ein Kapitel über die „grands timides" der schweizerischen Literatur? Claus Süßenbergers Dissertation Rousseau im Urteil der deutschen Publizistik bis zum Ende der Französischen Revolution. Ein Beitrag zur Rezeptionsgeschichte, ist 1974 als Buch erschienen. Man darf von dem einfallslosen Titel nicht auf die Darstellung schließen. Denn es handelt sich um ein an- und aufregendes Buch, das ebenfalls viel zu wenig bekannt ist, dessen Ergebnisse und vor allem dessen Fragen und Deutungshypothesen von der Forschung kaum aufgenommen, geprüft und weitergedacht worden sind. Es behandelt zwar nicht in erster Linie die Bedeutung Rousseaus für die Dichter, aber auch für diese ,innerliterarischen' Fragen kann es mit Gewinn benutzt werden. Süßenberger setzt bei dem dialogischen Frage-/Antwort-Schema der Rezeptionsforschung an, die Anfang der siebziger Jahre intensiv diskutiert wurde, und konfrontiert den ,Appellcharakter' von Werk und Person bzw. Image (Rolle) mit den Bedürfnissen der literarischen und politischen Öffentlichkeit in der zwei-
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ten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Deutschland, die er vor allem unter dem Aspekt der Ausbildung der bürgerlichen Literaturtheorie sieht, des Klassik-Paradigmas der ,Kunstperiode'. Die methodischen Vorgaben, mit denen er die ,Nachfrage'-Seite — den deutschen Sozialcharakter — wie die ,Antwort'-Seite — die Rousseaubilder samt den daran angelagerten Phantasmen — charakterisiert, kann man als eine Art Soziopsychoanalyse bezeichnen, ungefähr im Sinne Starobinskis. Anders gewendet: Süßenberger erklärt u. a. die Selektivität der Rezeption (was wird aus dem Angebotskomplex ,Rousseau' von wem auf welche Weise rezipiert und weiterverarbeitet?) aus (natürlich nicht homogenen) Erwartungshaltungen des Publikums. Beide Seiten werden durch reiche Belege dokumentiert. Süßenbergers Dokumentation ist in den Grenzen seines Anspruchs nicht weniger gründlich als diejenige Mouniers. Aber bei jenem findet man in einem schmalen Kapitel eine Menge mehr an Fragen, Diskussionen und Hypothesen als bei Mounier, der sich auf methodische Strenge hinausredet, auf 3 0 0 Seiten.
3. Einige Desiderate der Forschung Von dem Thema des Autors als öffentliche, auch medienvermittelte Figur usw. war die Rede. Bei Süßenberger lassen sich dazu viele Anregungen holen. Über den Rousseau der Dichter — Lyrik, Prosa, Theater, Literaturkritik — haben wir eine Reihe kleinerer Beiträge; diejenigen Liepes über Schiller wurden schon erwähnt, die neueren Studien Bernhard Böschensteins wären u. a. hinzuzufügen. Was meines Erachtens fehlt, sind aber nicht so sehr weitere Einzelstudien, und schon gar nicht mit Hilfe der ,Einfluß'-Kategorie, sondern eine Untersuchung auf einer Ebene höherer Allgemeinheit über die zentralen intertextuellen und eben auch nicht nur textbezogenen Sachverhalte und Prozesse, eine Monographie, an deren Leitlinien sich weitere Einzelstudien und -befunde dann anschließen lassen. Wovon ich hier spreche, ist ja im übrigen genau die Qualität, die wirklich bedeutende Untersuchungen auszeichnet und auch dann noch mühelos überdauern läßt, wenn ihre materialen Resultate zu veralten anfangen. Vorab müßte eine solche Studie, die im übrigen auch nicht ausschließlich chronologisch angelegt sein dürfte, Klarheit in eine Frage bringen: Was eigentlich ist Einflußforschung; was daran ist haltbar (angesichts der ,Härtetests' aktueller Theoriediskussion); in welche Richtungen kann bzw. muß sie überschritten bzw. überwunden werden, und
Rousseau in Deutschland
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w o liegen die Alternativen dazu — wirkliche Alternativen und nicht nur modische Etiketten, unter deren Schutz m a n weitermacht wie bisher? Es w ä r e ein großes Verdienst dieser Tagung, wenn m a n A n t w o r t e n auf diese Fragen in der Diskussion n ä h e r k o m m e n könnte. Das Problem, das ich zum Schluß a u f n e h m e n und in einer bestimmten — nicht der einzig möglichen — Richtung eingehender behandeln möchte, ist der im 18. J a h r h u n d e r t geläufige, von A n f a n g an eingespielte Vorwurf, Rousseau sei ein A u t o r von Paradoxen. Den meisten seiner Kritiker galt er deshalb als unglaubwürdig. Dabei ist aber festzuhalten, d a ß solche Urteile seinen überwältigenden Rezeptionserfolg ü b e r h a u p t nicht verhindert haben und d a ß trotzdem eine sehr g r o ß e Z a h l überaus ernsthaft argumentierender Gegenschriften über diesen ,unglaubwürdigen' Autor publiziert w o r d e n sind. Um hier klar zu sehen, ist es ratsam, auf die griechisch-römische, spätantike und frühneuzeitliche Tradition zurückzugehen. Paradoxa sind danach Aussagen über Sachverhalte wider Erwarten, die entgegen allgemein akzeptierten A n n a h m e n {doxa) als unwahrscheinlich oder u n m ö g lich gelten (,impossibilia'), mit einem gewissen Sensations- und Unterhaltungswert, mit Rätselcharakter, vor allem aber mit Erkenntniswert. Die Stoiker und Kyniker verwenden das P a r a d o x als didaktisch zugespitzten Satz, der eine Unwahrscheinlichkeit zum Ausdruck bringt, setzen also auf die Formulierung der Einzelaussage (ζ. B. die Anekdoten und Sprüche des Diogenes von Sinope). Das noch immer wichtigste Buch über die Tradition des Paradoxes bis zum Aufstieg der Neuen Wissenschaft und der frühen A u f k l ä r u n g verdanken wir Rosalie L. Colie. 1 5 Ihrer eindringenden Untersuchung k a n n m a n die weitgespannte Vielfalt der p a r a d o xen, selbstreferentiellen Rede und D e n k f o r m e n t n e h m e n , von der logisch-formalen Spielerei bis zum kalkulierten Selbstwiderspruch, zur Selbstnegation und Selbstaufhebung. Z u den klassischen Beispielen gehört das P a r a d o x des Epimenides: Der Kreter sagt, d a ß alle Kreter lügen, oder das p a r a d o x e E n k o m i o n , dessen sich Erasmus im Lob der Torheit bedient. Auch Utopia verdankt sich dem Paradox: Der N i c h t - O r t , ein ,impossibile', über das m a n der Logik gemäß keine Aussagen machen kann, wird gleichwohl beschrieben. Aber die Wahrheit seiner Existenz 15
Rosalie Littell Colie: Paradoxia Epidemica. The Renaissance Tradition of Paradox. Princeton: Princeton UP 1966. Repr. Archon Books 1976. Neuerdings H a n s Ulrich G u m b r e c h t , K. Ludwig Pfeiffer (Hrsg.): Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche: Situationen offener Epistemologie. Frankfurt/ M . 1991, sowie Niklas L u h m a n n : Gibt es ein System der Intelligenz? In: Martin Meyer (Hrsg.): Intellektuellendämmerung? (wie Fn 8), S. 57—73.
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verweist auf eine Welt jenseits der gegebenen. Colie macht deutlich, daß die Wahrheit, auf die das Paradox zielt, jederzeit metaphysisch und religiös gewesen ist, religiös vor allem in der Tradition der negativen Theologie und der Mystik. Klassische Belege sind das credo, quia absurdum (impossibile) und schließlich das biblische Ich bin, der ich bin·. Das Paradox läuft auf die Tautologie hinaus, die pure Selbstreferenz ist am Ende tautologisch. Im Vorfeld findet sich in der frühen Neuzeit eine Fülle von Formen paradoxer Rede. Colie hat ihre geradezu „epidemische" Verbreitung in der Renaissance dargestellt. Im Bereich der radikalen Reformation sind Sebastian Francks Paradoxa (1534) ein bekanntes Beispiel. Dort heißt es im Titel: Das ist/ C C L X X X Wunderred/ und gleichsam Rhäterschafft/ auß der H. Schrifft/ so vor allem flaisch unglaublich und unwar sind/ doch wider der gantzen weit wahn und achtung/ gewiß war (das sind 2 8 0 Wunderreden und eine Art Beratung aus der Heiligen Schrift, menschlich gesehen unglaublich und unwahr, doch entgegen der falschen Meinung der ganzen Welt sicher wahr).
Das — natürlich keineswegs negativ bewertete — Paradox funktioniert hier als eine verfremdende Aussage, die zunächst verblüfft und auf diesem Umweg in die Richtung der tieferen Wahrheit lenken soll, die aber nicht jedermann zutage liegt. Ja der Zugang zu ihr ist durch die Macht der geltenden Anschauungen so sehr versperrt, daß die einfache kritische Antithese als wirkungslos erscheint. Man sieht sich gezwungen, zu Mitteln des indirekten Angriffs seine Zuflucht zu nehmen. Das trifft auf viele, aus unterschiedlichen Richtungen vorgetragene Attacken auf die Bildungskonzepte und studia humanitatis des klassischen RenaissanceHumanismus zu, zwischen Agrippas von Nettesheim De incertitudine et vanitate scientiarum atque artiurn (1530) und Campanella oder Montaigne. Agrippas Polemik hat eine Alternative zu bieten: neuplatonischkabbalistische ,Mystik', eine Religiosität, für die der Mensch frei werden muß durch das Eingeständnis seiner ignorantia — ähnlich wie Campanella oder Descartes dem alten Bücherwissen mit einer neuen Wissenschaft, einer Philosophia realis (Campanella) gegenübertreten. Doch auch Agrippa hat seine Schrift in der Apologia gegenüber den Löwener Theologen als ,Paradoxon' bezeichnet und zu legitimieren versucht. Um so geläufiger ist das Paradox als Selbstbeschreibung derjenigen Renaissancekritik um die Mitte des 16. Jahrhunderts, die über keine Alternativkonzepte verfügt, wie ζ. Β bei jenem Ortensio Lando, der als entlaufener Augustinermönch zu schreiben beginnt. Gleich in seinem ersten Buch: Cicero relegatus et Cicero revocatus (1534), wendet er sich voller Spott
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gegen den Humanistenstreit um den Ciceronianismus als solchen, auch gegen die Position des Erasmus. Die Paradossi, cioe, sententie fuori del comun parere (jenseits dessen, was allgemein geglaubt wird), zuerst 1544, wurden sein bekanntestes Werk. Es behandelt 30 paradoxe Behauptungen von der schlichten Art, Unwissen sei besser als Gelehrsamkeit, Armut mache glücklicher als Reichtum usw., und vordergründig geht es um Bildungs- und Sozialkritik. Charakteristisch für Lando ist es, daß ihm das einfache Paradox nicht genügt. Schon im folgenden Jahr läßt er eine anonyme Confutazione del libro de paradossi erscheinen, in der er unter der Maske eines höhnischen Kritikers die Paradoxe des eigenen Buches widerlegt. Ahnlich verfährt er in anderen seiner Schriften, so in der auch literaturkritisch ergiebigen Sferza de Scrittori Anficht et Moderni (1550), in der zuerst alte wie neuere Autoren und Gelehrte ausführlich gegeißelt und als wertlos für das Leben verworfen werden. In einem Nachsatz jedoch soll alles nur ein Scherz gewesen sein, und es folgt eine exhortatio zum Studium derselben Autoren. 1 6 Wie es scheint, ist das Paradox für diese Vertreter einer kritischen und skeptischen Selbstinfragestellung des Humanismus eine sehr brauchbare Äußerungsform, gerade wenn ein alternatives Weltbild nicht jederzeit zur Verfügung steht. 1 7 Ich glaube, man kann aus der Verwendungsweise des Paradoxons innerhalb jener Renaissance-Konstellation einiges lernen auch für das Verständnis Rousseaus. Dabei ist zunächst zu unterscheiden zwischen den Formen des paradoxen Sprechens bei Rousseau und der Bewertung, mit der diese in der Rezeption thematisiert wird, und zwar durchgehend negativ. Der Form nach findet man bei Rousseau keine logischen Paradoxe, wie etwa das Paradox des Zenon von Elea über Achilleus, der die Schildkröte nie erreicht, o. ä. Man könnte sagen, das Paradox liegt bei
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Z u Lando und anderen poligrafi des 16. J a h r h u n d e r t s vgl. die wertvolle Studie von Paul F. Grendler: Critics of the Italian World 1530—1560. Anton Francesco Doni, Nicolo Franco & Ortensio Lando. M a d i s o n , L o n d o n : T h e U of Wisconsin Press 1969. Z u Landos Paradossi auch Colie 1966 (wie Fn 15), S. 461 ff. u . ö . Als Alternative standen gerade f ü r die italienischen poligrafi vom Typus Landos nicht Religion u n d Politik (wie f ü r Campanella) im H i n t e r g r u n d , sondern allenfalls die klassische geometrische Utopie. O r t e n s i o L a n d o hat M o rus' Utopia als erster ins Italienische übersetzt, sie erschien mit einem Widmungsbrief von Doni (Venedig 1548). Doni selbst verfaßte zwei utopieverw a n d t e Bücher: I Marmi und I Mondi (1552 f.). Dazu Grendler 1969 (wie Fn 16).
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ihm auf der E b e n e der K o m p o s i t i o n und der A r g u m e n t a t i o n als solcher, nicht
aber
der
widersprüchlich-rätselhaften
Einzelformulierung.
Als
grundsätzlich p a r a d o x wurde z . B . die R o l l e des Kritikers, ja des Verleumders der ,Wissenschaften' w a h r g e n o m m e n , in der R o u s s e a u gleichw o h l im Vollbesitz der Bildung, die diese Kultur vermittelt, auftritt, also Kritik der Kultur mit Hilfe eben dieser Kultur (die darin selbstreferentiell wird). In der ablehnenden R e a k t i o n der Kritiker spiegelt sich, wie so o f t , der historische O r t der zur D e b a t t e stehenden Position. W i e C o l i e gezeigt hat, ist mit der Durchsetzung des neuartigen e x a k t e n , g e o m e t r i schen' E r k e n n t n i s k o n z e p t s die Z e i t des P a r a d o x e s als rhetorisches Erkenntnismittel abgelaufen, und mit ihm verlor ein metaphysischer W a h r heitsbegriff sowie die Vorstellung, diese transzendente Wahrheit lasse sich mit W o r t e n o f f e n b a r e n , jegliche Geltung. Neben Galileis Begriff der „objektiven G e w i ß h e i t " hat das P a r a d o x keinen Platz mehr: such a definition o f k n o w l e d g e denies t h e validity o f s e l f c o n f i r m i n g , revel a t o r y p a r a d o x . F o r Galilei, h u m a n k n o w l e d g e o f this s o r t is „ c e r t a i n " in a w a y entirely alien t o the p a r a d o x i c a l m o d e — a n d , f u r t h e r m o r e , h u m a n i g n o r a n c e is itself never valuable. M a t h e m a t i c s is progressive and linear; it is a l s o a c c u m u l a t i v e — that is, p r o p o s i t i o n s o n c e certainly k n o w n c a n n o t be u n k n o w n thereafter, and they lead t o further p r o p o s i t i o n s and t o f u r t h e r solutions. A c c o r d i n g to this view, h u m a n k n o w l e d g e o n c e gained cannot be diminished.18
Für den Fortschrittsglauben und den Szientismus der Aufklärung — das ist nicht die ganze Aufklärung, m a n denke an D i d e r o t — ist das P a r a d o x als E l e m e n t des Wahrheitsdiskurses unmöglich geworden. M ö g l i c h ist es allenfalls als Ingredienz geistreicher Unterhaltung und Laune. Wenn R o u s s e a u als A u t o r von P a r a d o x e n getadelt wurde, so heißt das unter diesem A s p e k t , d a ß er diese K o n v e n t i o n verletzt hat. Er hat p a r a d o x e s Argumentieren in einem K o n t e x t verwendet, in den es nicht (mehr) geh ö r t . D o c h damit ist nur die R e a k t i o n seiner Kritiker in diesem Punkt plausibler geworden. Um den Funktionen der R o u s s e a u s c h e n P a r a d o x e auf die Spur zu k o m m e n , ist der Vergleich mit der R e n a i s s a n c e nützlich. Wenn j e n e satirisch-utopistischen
,poligrafi' wie D o n i oder L a n d o
Tendenzen einer Selbstkritik der humanistischen Kultur vertreten und als Außenseiter gegen mächtige Ü b e r e i n k ü n f t e zum Instrument des Parad o x e s greifen, so ist die Position R o u s s e a u s sehr gut damit vergleichbar.
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C o l i e 1 9 6 6 (wie Fn 15), S. 5 1 0 f.
Rousseau in Deutschland
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R o u s s e a u s P r o j e k t ist das der S e l b s t r e f l e x i o n u n d G r e n z b e s t i m m u n g der , A u f k l ä r u n g ' , des , A u f h a l t e n s ' ihrer F o r t s c h r i t t s d y n a m i k
(I. F e t s c h e r ) ,
a u c h ihre I n f r a g e s t e l l u n g von , u n t e n ' , v o m R a n d e der G e s e l l s c h a f t u n d der K u l t u r , o d e r v o n , a u ß e n ' , v o n weit her — alle diese S e l b s t p o s i t i o n i e r u n g e n und R o l l e n g i b t es in seinen S c h r i f t e n , die letztere gleich zu B e ginn m i t d e m M o t t o a u f d e m T i t e l b l a t t des ersten D i s c o u r s : „ B a r b a r u s hie e g o sum q u i a n o n i n t e l l i g o r i l l i s . " D a will e i n e r von w e i t h e r g e k o m m e n sein ( o b g l e i c h in einer P a r i s e r M a n s a r d e h a u s e n d ) , v o m S c h w a r z e n M e e r des v e r b a n n t e n O v i d gar, u n d er h ä l t u n t e r der M a s k e des B a r b a r e n der s o g e n a n n t e n K u l t u r ihre B a r b a r e i vor, usw. R o u s s e a u w i e d e r h o l t die p a r a d o x e n A t t a c k e n d e r R e n a i s s a n c e k r i t i k a u f die e t a b l i e r t e K u l t u r zwei J a h r h u n d e r t e s p ä t e r a u f einer neuen E b e n e . A n d e r s als C o l i e , die die F u n k t i o n s f r a g e w e i t i m H i n t e r g r u n d h ä l t , m e i n e ich, d a ß die V e r w e n dung des P a r a d o x e s als I n s t r u m e n t des k r i t i s c h e n A n g r i f f s e h e r d a f ü r s p r i c h t , d a ß das d i a l o g i s c h e S i c h - E i n l a s s e n a u f d a s S y s t e m als a u s s i c h t s los b e t r a c h t e t w i r d . A u c h R o u s s e a u läßt sich a u f die S y s t e m a t i k , u n d das b e d e u t e t a u c h : a u f die R e g e l n der k r i t i s c h e n A u s e i n a n d e r s e t z u n g m i t der K u l t u r , die er a n g r e i f t , n i c h t voll ein; er s c h e u t n i c h t den S e l b s t w i d e r s p r u c h , er e n t z i e h t sich und t a u c h t d o r t w i e d e r a u f , w o m a n ihn n i c h t e r w a r t e t . E r erzeugt den E i n d r u c k g e d a n k l i c h e r , t h e o r e t i s c h e r D i s p a r a t heit, weil v e r s c h i e d e n e A r g u m e n t e s o z u s a g e n in die R i c h t u n g v e r s c h i e d e ner W a h r h e i t e n d e u t e n — ich e r i n n e r e n u r an d a s Z i t a t , in d e m G l e i m von zwei v e r s c h i e d e n e n , E h r l i c h k e i t e n ' s p r i c h t (vgl. S. 8). D i e M e t h o d e , „ S i g n a l r e i z e " w i d e r s p r ü c h l i c h e n I n h a l t s in v e r s c h i e d e n e R i c h t u n g e n zu versenden, s c h r e i b t S ü ß e n b e r g e r , „trägt R o u s s e a u s c h o n m i t d e m
pre-
m i e r D i s c o u r s ' den V e r r u f ein, ein P a r a d o x i s t zu sein; u n d es s c h e i n t , als h a b e diese E r f a h r u n g d a s von der F r ü h s c h r i f t s o g l e i c h e r r e i c h t e P u b l i k u m in einer A r t v o r g e p r ä g t , als sei k ü n f t i g von d e m G e n f e r n i c h t s a n d e res zu e r w a r t e n . " 1 9
19
Süßenberger 1974 (w i e Fn 8), S. 14. Die Literatur zu Rousseaus Paradoxen bewegt sich zwischen den Extremen des Stehenlassens der Unvereinbarkeiten und verschiedenen Versuchen, sie aufzulösen. Vgl. Stephen G. Salkever: Interpreting Rousseau's Paradoxes. In: Eighteenth-Century Studies 11 ( 1 9 7 7 - 1 9 7 8 ) , S. 2 0 4 - 2 2 6 (der Verf. geht von einer „bipolarity" von moralischer vs. politischer Theorie aus, die er aber mit der vielfach vertretenen Auffassung einer Einheit und Konsistenz des Werkes in Einklang bringen will); ferner Robert Derathe: L'unite de la pensee de Jean-Jacques Rousseau. In: ]ean-)acques Rousseau. Neuchätel 1962, S. 203 — 218; Jean Wahl: La Bipolarite de Rousseau. In: Annales de la societe Jean-Jacques Rousseau 3 (1953 — 55), S. 49 — 55; Virgil W. Topazio: Rousseau, Man of Contradictions. In: Studies on Voltaire and the Eighteenth
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Herbert Jaumann D a s P a r a d o x k a n n , seines C h a r a k t e r s als E r k e n n t n i s i n s t r u m e n t ent-
kleidet, a u c h zu einem beliebigen Mittel individueller Selbstdarstellung w e r d e n . So wie D r J o h n s o n nach dem Bericht Boswells geäußert h a b e n soll: F ü r die Neuerungssüchtigen sei die W a h r h e i t eine Kuh, die ihnen keine M i l c h m e h r gebe, und so gingen sie denn hin, den Stier zu melken. Die A r t , wie Nietzsche den „ E r z i e h e r " S c h o p e n h a u e r v o n dem antizipierten V o r w u r f freispricht, zeigt, d a ß er einem ähnlichen Begriff folgt: Ich verstand ihn, als ob er für mich geschrieben hätte [...]. Daher kommt es, daß ich nie in ihm eine Paradoxie gefunden habe, obwohl hier und da einen kleinen Irrtum; denn was sind Paradoxien anderes als Behauptungen, die kein Vertrauen einflößen, weil der Autor sie selbst ohne rechtes Vertrauen machte, weil er mit ihnen glänzen, verführen und überhaupt scheinen wollte? 2 0 Alfred Treml hat vorgeschlagen, R o u s s e a u s Emile
systemtheoretisch zu
lesen. Ich glaube, d a m i t k o m m t m a n der Eigenart v o n R o u s s e a u s p a r a d o x e r Schreibweise und deren Funktion besonders nahe. Denn es handelt
20
Century 18 (1961), S. 7 7 - 9 3 ; Judith N. Shklar: Men and Citizens: Α Study of Rousseau's Social Theory. Cambridge 1969; R . H. Powers: Rousseau's ,Useless Science', Dilemma or Paradox? In: French Historical Studies 2 ( 1 9 6 1 - 6 2 ) , S. 4 5 0 - 4 6 8 . Zu Widersprüchen im Bereich der WeiblichkeitsKonzepte vgl. die ausgezeichnete Untersuchung von Christine Garbe: Die ,weibliche' List im ,männlichen Text. Stuttgart 1992. Nietzsche: Schopenhauer als Erzieher, zit. nach Schlechta (Hrsg.): Werke, Band I (1966), S. 295. — Was im übrigen Nietzsches Rousseau-Verständnis angeht, so ist auch in diesem Fall auf die expliziten Aussagen alleine kein Verlaß. In der Morgenröte heißt es, auch Kant habe, im Jahrhundert der „Schwärmerei", „die Moral-Tarantel Rousseau gebissen, auch ihm lag der Gedanke des moralischen Fanatismus auf dem Grunde der Seele, als dessen Vollstrecker sich ein andrer Jünger Rousseaus fühlte und bekannte, nämlich Robespierre" (Schlechta I, S. 1013). In der Götzendämmerung zeigt es sich, wie Nietzsche dem landläufigen Mißverständnis vom ,Zurück zur Natur!' erliegt, auch wenn er in folgender Weise weiterfragt: „Aber Rousseau — wohin wollte der eigentlich zurück? Rousseau, dieser erste moderne Mensch, Idealist und Kanaille in einer Person [...], diese Mißgeburt" (Schlechta II, S. 1023). Die Frage ist ja berechtigt, doch Nietzsche beantwortet sie nicht und attestiert sich stattdessen selbst eine Intention — „eigentlich nicht ein Zurückgehn, sondern ein Hinaufkommen" (ebda.) —, die derjenigen Rousseaus gleicht. Jedenfalls steht Nietzsche Rousseau näher, als er es selbst formuliert hat und wahrhaben will. Schopenhauer als Erzieher, d. i. das Dritte Buch der Unzeitgemäßen Betrachtungen, entspricht in vieler Hinsicht Rousseaus Emile, in den einleitenden Grundgedanken gibt es eklatante Parallelen, und beide Schriften handeln vom Ideal einer unzeitgemäßen' Erziehung.
Rousseau in Deutschland
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sich dabei doch um die Frage: Was leistet ein solcher von Paradoxien durchzogener, ,inkonsequent' und ,unsystematisch' verfahrender T e x t ? 2 1 Z u n ä c h s t schafft ein solcher T e x t ja nicht nur Verwirrung, sondern auch Entlastung: Anschlußmöglichkeiten,
Kontingenzbewußtsein,
das
Bewußtsein von einer Vielzahl von Möglichkeiten, die zwar nicht z u sammenpassen', die aber bereitliegen. So gesehen, ist es keineswegs unwichtig, aber sekundär, welche inhaltlichen Positionen verhandelt werden. Jede Negation eröffnet Möglichkeitsräume, die noch Unerprobtes zum Zuge k o m m e n lassen. „Gleichzeitig" — aber das ist vielleicht nur eine andere Formulierung dafür — „wird damit der Freiheitsraum erheblich vergrößert, und ,Freiheit' ist schließlich der Schlachtruf der M o derne, für Rousseau ,das erste aller G ü t e r ' " , so im besonders widersprüchlichen Emile.22
Gerade für den modernen M e n s c h e n ist es zuträg-
lich, wie O d o M a r q u a r d formuliert, viele (mehrere) Überzeugungen zu haben: nicht gar keine und nicht nur eine, sondern viele; und es ist zuträglich für ihn, viele (mehrere) Traditionen und Geschichten zu haben und auch viele (mehrere) Seelen — ach! — in der eigenen Brust: nicht gar keine und nicht nur eine, sondern viele. 23 Die Texte Rousseaus produzieren etwas, schreibt Treml, „was in der Folgezeit nicht mehr ein einzelnes Individuum, sondern die Gesellschaft als ganze leisten muß: die Produktion von Vielfalt, von Variation, von hoher Kontingenz. Insbesondere im Wissenschaftssystem der Neuzeit finden wir dieses Phänomen in methodisierter und institutionalisierter Weise vor: eine heterogene Vielfalt von T h e o r i e n und M e i n u n g e n , " 2 4 die also nicht zusammenpassen, sich sogar gegenseitig ausschließen oder einfach nichts miteinander zu tun haben: denen es also nicht um Wahrheit gehen kann, „sondern nur um das Vermögen, in Alternativen zu denken; um Auflöse- und R e k o m b i n a t i o n s v e r m ö g e n ; und um langfristig mögliche Konsequenzen dieser S t e i g e r u n g . " 2 5 M a n kann der Auffassung nur zustimmen, wonach es „nur eine von vielen P a r a d o x i e n " sei, d a ß Rousseau, dessen T e x t in der Tiefenstruktur die Leistungsfähigkeit mo21
22 23
24 25
Alfred K. Treml: Zurück zur Natur? Rousseaus Naturbegriff im Emile. In: Universitas 43 (1988), S. 7 9 9 - 8 1 3 . Treml, S. 805. Odo Marquard: Merkende Vernunft. Betrachtungen über Vernunft und Zufall beim Menschen. In: H. Rößner (Hrsg.): Der ganze Mensch τ- Aspekte einer pragmatischen Anthropologie. München 1986, S. 255. Treml (wie Fn21), S. 805. Niklas Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik, Band I. Frankfurt/M. 1980, S. 60.
22
Herbert Jaumann
derner, jedenfalls an Systemtheorie orientierter Theoriebildung so überzeugend beweise, „auf der Oberflächenstruktur seines Werkes ständig für das Gegenteil, für ,Praxis', für ,Sachen', für ,Handlung' und konkrete ,Erfahrung' plädiert." 2 6 Rousseau bewegt sich in seinen pädagogischpolitischen Entwürfen zur Überwindung des bürgerlich-miserablen Gesellschaftszustandes (vgl. dessen Charakterisierung u. a. am Beginn des Emilel) in der Nähe des Totalitären, wie immer wieder nicht ohne Berechtigung festgestellt worden ist. Seine Texte aber verdienen jenes ,Lob der Inkonsequenz', über das der Humanist Leszek Kolakowski vor vielen Jahren einmal geschrieben hat. Damit ist mehr angesprochen als die geläufige Einsicht, wonach Rousseau eben kein systematischer Denker gewesen sei. Die Rezeptionsforschung muß die Disparatheit seiner Wortmeldungen ernstnehmen, ohne ihr selbst zu erliegen.
26
Treml (wie Fn 21), S. 805.
Ulrich
Kronauer
Der kühne Weltweise Lessing als Leser Rousseaus
1. Hannah Arendt: die merkwürdige Übereinstimmung A n l ä ß l i c h der E n t g e g e n n a h m e des L e s s i n g - P r e i s e s der Freien und H a n s e stadt H a m b u r g a m 2 8 . S e p t e m b e r 1 9 5 9 hielt H a n n a h A r e n d t eine R e d e ü b e r die „ M e n s c h l i c h k e i t in finsteren Z e i t e n " . D a r i n h o b sie die „ m e r k würdige
Übereinstimmung"
Hochschätzung
der
zwischen
Lessing
Mitleidsempfindung
und
hervor.
Rousseau
in
der
Merkwürdig
ist
für
H a n n a h A r e n d t diese Ü b e r e i n s t i m m u n g d e s h a l b , weil die u n t e r s c h i e d l i chen G r u n d t e n d e n z e n der beiden A u f k l ä r e r sich e i g e n t l i c h a u c h a u f die B e w e r t u n g des M i t l e i d s h ä t t e n a u s w i r k e n m ü s s e n . R o u s s e a u ist für sie der im 18. J a h r h u n d e r t „ g r ö ß t e und g e s c h i c h t l i c h w i r k s a m s t e V e r t r e t e r " einer M e n s c h l i c h k e i t , die sich a u f die V o r s t e l l u n g einer allen M e n s c h e n gemeinsamen
Natur gründe.
Diese gemeinsame
Menschennatur
wie-
d e r u m m a n i f e s t i e r e sich für R o u s s e a u n i c h t in der V e r n u n f t , s o n d e r n i m M i t l e i d . E r h a b e d e s h a l b , „ g a n z im S i n n e der F r a n z ö s i s c h e n R e v o l u t i o n , die sich d a n n a u f ihn b e r i e f , die V e r w i r k l i c h u n g der M e n s c h l i c h k e i t in der f r a t e r n i t e , in der B r ü d e r l i c h k e i t " , e r b l i c k t . Lessing h i n g e g e n
habe
„die F r e u n d s c h a f t , die ja s o w ä h l e r i s c h ist wie d a s M i t l e i d e g a l i t ä r ist, für das z e n t r a l e P h ä n o m e n g e h a l t e n , in d e m allein sich M e n s c h l i c h k e i t b e w e i s e n k ö n n e " . 1 M i t d e m Lessing z u g e s p r o c h e n e n Prinzip der F r e u n d s c h a f t v e r b i n d e t sich in A r e n d t s I n t e r p r e t a t i o n der G e d a n k e des D i a l o g i s c h e n , der p r o d u k t i v e n A u s e i n a n d e r s e t z u n g , a u c h die V o r s t e l l u n g e i n e r D i s t a n z , die t r o t z m ö g l i c h e r N ä h e i m m e r g e w a h r t b l e i b t . D a s M i t l e i d s prinzip d a g e g e n sei a u f D i s t a n z l o s i g k e i t aus, a u f die „ W ä r m e m e n s c h l i c h e r B e z i e h u n g e n " . Es s t ü n d e d a h e r , als S o l i d a r i t ä t einer G r u p p e , m i t
1
Hannah Arendt: Gedanken zu Lessing. Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten. In: Dies.: Menschen in finsteren Zeiten. München, Zürich: Piper 1989, S. 27.
24
Ulrich Kronauer
Recht letztlich nur den Parias, den von der Gesellschaft Ausgeschlossenen, den Verfolgten zu. 2 Zu einem politischen Prinzip erhoben, entpuppe sich der Mitleidsgedanke als höchst gefährlich, ja explosiv, weil er Emotionalität an die Stelle von politischer Rationalität setze und weil das Mitleid mit den Armen und Unterdrückten sich als Kampfmittel gegen die vermeintlichen Unterdrücker einsetzen lasse. Diese Konsequenz habe die französische Revolution gezogen, und Robespierre, der gelehrige Schüler Rousseaus, habe in der terreur nur die Gedanken des Meisters umgesetzt. Diese These hat Hannah Arendt in ihrem Buch On Revolution von 1963 weiter ausgeführt. Auch dort kommt sie auf die Parallele zwischen Lessings und Rousseaus Mitleidsbegriffen zu sprechen. In beiden Texten verweist sie auf den Satz Lessings, „der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch", im Brief an Nicolai vom November 1756 und auf Rousseaus Charakterisierung der ρύίέ als eines „eingeborenen Widerwillens, einen Mitmenschen leiden zu sehen", aus dem Discours über die Ungleichheit von 1755. 3 Hannah Arendt ist nicht die erste, die auf diese Entsprechung hingewiesen hat. Schon 1840 hatte Arthur Schopenhauer den neunzehnten Paragraphen seiner ungekrönten Preisschrift über die Grundlage der Moral mit folgendem Satz beschlossen: „Bei Einzelnen freilich und Ueberlegenen hat die gefühlte Wahrheit [daß das Mitleid die Quelle der Moralität sei, U. K.] sich kundgegeben: so bei Rousseau, wie oben angeführt; und auch Lessing, in einem Briefe von 1756, sagt: Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch, zu allen gesellschaftlichen Tugenden, zu allen Arten der Großmuth der aufgelegteste." 4 Zuvor hatte Schopenhauer ausführlich aus dem Diskurs über die Ungleichheit und aus dem Emile zitiert. Während aber Schopenhauer ohne Bedenken Rousseau und Lessing gleichberechtigt in die Reihe der Überlegenen aufnimmt, die dann in direkter Linie zu seiner eigenen Mitleidsphilosophie führt, ist Hannah Arendt nicht bereit, Lessing in allzu große Nähe zu Rousseau zu rücken. Dies hängt ganz offensichtlich mit den negativen Auswirkungen zusammen, die sie der Rousseauschen Mitleidstheorie unterstellt. Die Irritation durch die „merkwürdige Übereinstimmung" wäre daher sicher noch stärker gewesen, wenn Hannah Arendt der Vorgeschichte des Les-
2 3
4
A . a . O . , S. 2 8 . Hannah Arendt: Gedanken, S. 27. Dies.: Über die Revolution. München, Zürich: Piper 1974, S. 89 (zur Mitleidsthematik dann ausführlich S. 8 9 f f . ) . Arthur Schoenhauer: Zürcher Ausgabe, Bd. 6, Zürich: Diogenes 1977, S. 2 8 9 f.
Der k ü h n e Weltweise
25
singschen Diktums, der mitleidigste Mensch sei der beste Mensch, nachgegangen wäre. Sie hätte dann nämlich feststellen können, daß Lessing nicht nur mit Rousseau übereinstimmt, sondern daß er sich sogar auf ihn beruft. Lessing kannte Rousseaus Position und hat sie bis zu einem gewissen Grad übernommen. Das heißt nun aber nicht, es gäbe keine gravierenden Unterschiede zwischen Rousseau und Lessing, zumal in der Idee und im Programm der Menschlichkeit. Hannah Arendts Auffassung, Rousseau und Lessing hätten sich geglückte menschliche Beziehungen unterschiedlich vorgestellt, behält ihre Berechtigung. Allerdings wird man sich die Differenz nicht an dem Gegensatzpaar: egalitäre Brüderlichkeit — exklusive Freundschaft deutlich machen können. Ganz im Gegenteil muß von vornherein klargestellt werden — so sonderbar dies vor dem Hintergrund der Auffassung Hannah Arendts klingen mag —, daß für Rousseau der Mensch von Natur aus nicht gesellig ist und daß für Lessing der Mensch von Natur aus dem Menschen ein Freund ist. Mit dem Begriff der fraternitS kommt man bei Rousseau nicht sehr weit, und der Begriff der Freundschaft wird von Lessing nicht exklusiv verstanden, sondern durchaus im Sinne der Aristotelischen pbilia als eine das Gattungswesen charakterisierende Anziehungskraft von Mensch zu Mensch. In den Gesprächen für Freimaurer läßt Lessing seinen Protagonisten Falk feststellen, „itzt", das heißt allgemein im Gesellschaftszustand, begegne „nicht mehr ein bloßer Mensch einem bloßen Menschen, die vermöge ihrer gleichen Natur gegen einander angezogen werden". 5 Das bedeutet positiv, daß ursprünglich einmal eine solche Begegnung möglich war. Auf der anderen Seite konstatiert Rousseau im vierten Buch des Emile, und zwar dort im Kontext seiner Ausführungen zum Mitleid: „un etre vraiment heureux est un etre solitaire." 6 Diese Hinweise seien vorausgeschickt, um den Zugang zu der „merkwürdigen Übereinstimmung" zwischen Lessing und Rousseau nicht durch irreführende Prämissen über Distanz und Nähe zu erschweren.
5
6
G o t t h o l d E p h r a i m Lessing: Werke, hrsg. von H . G. G ö p f e r t (im folgenden: Lessings Werke), Bd. 8, M ü n c h e n : H a n s e r 1979, S. 462. Den N a t u r t r i e b der philia behandelt Aristoteles in der N i k o m a c h i s c h e n Ethik im achten Buch (1155 a). Jean-Jacques Rousseau: CEuvres completes, hrsg. von B. Gagnebin u n d M . R a y m o n d (im folgenden: Rousseau, CEuvres), Bd. 4, Paris: G a l l i m a r d 1969, S. 503.
26
Ulrich Kronauer
2 . Lessings Gedanken
über
die Herrnhuter
und R o u s s e a u s
erster D i s c o u r s Lessing hat sich zu keinem Zeitpunkt seines Lebens so ausdrücklich zu Rousseau bekannt, wie dies der vierzigjährige Immanuel Kant tat, als er schrieb: „Rousseau hat mich zurecht gebracht." 7 Rousseau brauchte Lessing allerdings auch nicht zurechtzubringen, da beide bereits in einer grundsätzlichen Entscheidung übereinstimmten, als Lessing noch nichts von dem Citoyen de Geneve wußte. Es war dies die Entscheidung für das gute Handeln und gegen das „gut Reden", wie Rousseau sagt, beziehungsweise gegen das „Vernünfteln", wie Lessing sagt. Der junge Lessing hat diese Position emphatisch vertreten in der kleinen, Fragment gebliebenen Schrift Gedanken über die Herrnhuter. Diese Schrift ist, wie der Bruder Karl Gotthelf Lessing angibt, 1750 entstanden. 8 Sie kann also nicht unter dem Eindruck des von der Dijoner Akademie preisgekrönten Diskurs über die Wissenschaften und Künste geschrieben worden sein, der in der ersten Januarhälfte 1751 in Paris erschienen ist und mit dem Rousseau sogleich berühmt wurde. 9 Auch ein inhaltliches Argument spricht deutlich gegen die Annahme, Rousseau habe Lessing beeinflußt. Denn eine Pointe der Gedanken über die Herrnhuter ist ja gerade, daß der Auftritt eines neuen Sokrates, eines „verwegenen Freundes der Laien", in der eigenen Zeit ausgeschlossen wird. Man stelle sich vor, es stünde zu unsern Zeiten ein M a n n auf, welcher auf die wichtigsten Verrichtungen unserer Gelehrten von der Höhe seiner Empfindungen verächtlich herabsehen könnte, welcher mit einer somatischen Stärke die lächerlichen Seiten unserer so gepriesenen Weltweisen zu entdecken wüßte [...]. Gott sei Dank, daß so ein verwegener Freund der Laien noch nicht aufgestanden ist, und zu unsern Zeiten auch nicht aufstehen möchte: denn die Herrn, welche mit der Wirklichkeit der Dinge so viel zu tun haben, werden schon sorgen, daß meine Einbildung nimmermehr zur Wirklichkeit gelangt. 1 0
Sicher hatte Lessing mit den etwas unscharf charakterisierten „Herren" an deutsche Verhältnisse und Zensoren gedacht. In Frankreich sahen die Dinge offensichtlich anders aus. Bald nach seiner Prophezeiung hatte 7
8 9
10
Immanuel Kant: Gesammelte Schriften, hrsg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 20, Berlin 1942, S. 4 4 . Z u r Datierung vgl. Lessings Werke, Bd. 3 (1972), S. 7 9 4 . Z u r Datierung vgl. Ludwig Tente: Die Polemik um den ersten Discours von Rousseau in Frankreich und Deutschland. Diss. Kiel 1974, S. 5. Lessings Werke, Bd. 3, S. 688 u. 690 f.
Der kühne Weltweise
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Lessing Rousseaus ersten Discours in Händen, und schon in den ersten Sätzen tritt ihm der neue Sokrates entgegen. L e r e t a b l i s s e m e n t des Sciences et des Arts a-t-il c o n t r i b u e ä e p u r e r o u a c o r r o m p r e les Moeurs? Voilä ce qu'il s'agit d ' e x a m i n e r . Q u e l parti d o i s - j e prendre dans cette q u e s t i o n ? C e l u i , M e s s i e u r s , qui c o n v i e n t ä un h o n n e t e h o m m e qui ne sait rien, et qui ne s'en estime pas m o i n s . 1 1
Mit der eigenwilligen Erweiterung der Frage der Akademie von Dijon, die nur nach dem „epurer" und nicht nach dem „corrompre" gefragt hatte, zeigt der redliche Autor, der wie Sokrates weiß, daß er nichts weiß, und der sich dennoch nicht geringer achtet, in welche Richtung seine Argumentation zielen wird. Beim Weiterlesen muß Lessing zu seiner Verblüffung festgestellt haben, daß tatsächlich jemand aufgestanden war, um die vermeintlichen Weltweisen zu kritisieren. Lessing hatte in den Gedanken eine Reihe von Philosophen mit wichtigtuerischem Gehabe auftreten lassen, die in hybrider Selbsteinschätzung den neuen Sokrates, sofern er erschiene, examinieren und mit ihrem Fachwissen traktieren würden. Vergeblich würde Sokrates versuchen, die Nichtigkeit und Eitelkeit ihres Tuns zu entlarven und sie anzuhalten, den Forschungseifer als Bemühung um Selbsterkenntnis sinnvoll einzusetzen. 1 2 Rousseau beschimpft in seinem Discours bestimmte „Freunde der Weisheit" als eine „Bande von Scharlatanen", die in marktschreierischer Weise ihre gefährlichen Lehren anpreisen. 1 3 Er meint damit unter anderen Berkeley, H o b bes und Spinoza. Weder Rousseau noch Lessing lassen dem gegnerischen Lager Gerechtigkeit widerfahren, und auch dieser polemische Überschwang verbindet die beiden Frühwerke. Eine eklatante Übereinstimmung findet sich indes auch bei den positiven Gegenprinzipien: Lessing wie Rousseau preisen die Tugend und versuchen der Stimme der Natur, welche die Stimme des Herzens ist, Gehör zu verschaffen. Lessing hatte sich seinen neuen Sokrates so vorgestellt: G e s e t z t , alle seine E r m a h n u n g e n und Lehren zielten a u f das einzige, w a s uns ein glückliches L e b e n v e r s c h a f f e n k a n n , a u f die T u g e n d . E r lehrte uns, des R e i c h t u m s e n t b e h r e n , ja ihn fliehen. Er lehrte uns, unerbittlich gegen uns selbst, n a c h s e h e n d gegen a n d r e sein. E r lehrte uns, das Verdienst, a u c h w e n n es mit U n g l ü c k und S c h m a c h ü b e r h ä u f t ist, h o c h a c h t e n und gegen die m ä c h t i g e D u m m h e i t verteidigen. Er lehrte uns, die S t i m m e der N a t u r in unsern H e r z e n lebendig e m p f i n d e n [ . . . ] . 1 4
11 12 13 14
R o u s s e a u , ( E u v r e s , B d . 3 ( 1 9 6 4 ) , S. 5 . Lessings W e r k e , Bd. 3 , S. 6 9 0 . R o u s s e a u , CEuvres, B d . 3 , S. 2 7 . Lessings W e r k e , B d . 3 , S. 6 8 9 .
28
Ulrich K r o n a u e r
Rousseaus Diskurs über die Wissenschaften genden Sätzen:
und Künste schließt mit fol-
Ο vertu! S c i e n c e s u b l i m e des a m e s simples, faut-il d o n e t a n t de peines et d ' a p p a r e i l p o u r te c o n n o i t r e ? T e s prineipes ne sont-ils pas graves dans tous les coeurs? et ne suffit-il pas p o u r a p p r e n d r e tes L o i x de rentrer en s o i - m e m e et d ' e c o u t e r la v o i x de sa c o n s c i e n c e dans le silence des passions? Voilä la veritable P h i l o s o p h i e , s a c h o n s nous en c o n t e n t e r ; et sans envier la gloire de ces h o m i n e s celebres qui s ' i m m o r t a l i s e n t d a n s la R e p u blique des Lettres, t ä c h o n s de mettre entre e u x et n o u s cette distinction glorieuse q u ' o n r e m a r q u o i t jadis entre d e u x grands Peuples; q u e Tun savoit bien dire, et l ' a u t r e bien f a i r e . 1 5
„Der Mensch ward zum Tun und nicht zum Vernünfteln erschaffen", stellt der junge Lessing sehr bestimmt fest, 1 6 und er orientiert sich damit wie Rousseau an einer ursprünglichen Moralität, einer schlichten Tugendhaftigkeit, von der sich die Menschen entfernt haben, weil die glückliche Unwissenheit und Bedürfnislosigkeit durch Neugier und Hybris zerstört wurden. Allerdings argumentiert Lessing immer auch vor einem religiösen Hintergrund, und neben die griechische Antike tritt das biblische Altertum. G l ü c k s e l i g e Z e i t e n , als der T u g e n d h a f t e s t e der G e l e h r t e s t e w a r ! als alle Weisheit in kurzen L e b e n s r e g e l n b e s t a n d ! Sie w a r e n zu glückselig, als d a ß sie lange hätten dauern k ö n n e n . D i e S c h ü l e r der sieben Weisen glaubten ihre L e h r e r gar bald zu ü b e r s e h e n . W a h r h e i t e n , die jeder fassen, aber nicht jeder üben k a n n , w a r e n ihrer N e u b e g i e r d e eine allzuleichte N a h r u n g . D e r H i m m e l , v o r h e r der G e g e n s t a n d ihrer B e w u n d e r u n g , w a r d das Feld ihrer M u t m a ß u n g e n . D i e Z a h l e n öffneten ihnen ein L a b y r i n t h von G e h e i m n i s sen, die ihnen um so viel a n g e n e h m e r w a r e n , je weniger sie Verwandtschaft mit der Tugend h a t t e n . 1 7
Der Religion erging es wie der Weltweisheit. M a n gehe in die ältesten Z e i t e n . W i e e i n f a c h , leicht und lebendig w a r die R e l i g i o n des A d a m s ? Allein wie lange? J e d e r von seinen N a c h k o m m e n setzte n a c h eignem G u t a c h t e n e t w a s dazu. D a s Wesentliche w u r d e in einer Sündflut von willkürlichen Sätzen v e r s e n k t . 1 8
Lessings Hypothese vom nicht möglichen Erscheinen eines neuen Sokrates, der sich gegen den Verfall der Tugend stemmt, sollte dazu dienen, parallel hierzu das tatsächliche Erscheinen eines religiösen Tugendlehrers, des Grafen Zinzendorf darzustellen, der wie Sokrates wegen der 15
R o u s s e a u , GEuvres, Bd. 3 , S. 3 0 .
16
Lessings W e r k e , Bd. 3, S. 6 8 3 .
17
A . a . O . , S. 6 8 3 . A . a . O . , S. 6 8 5 .
18
Der kühne Weltweise
29
Einfachheit seiner Prinzipien und der Ablehnung jeglichen Spekulierens und Vernünfteins angefeindet wird. Dazu ist es nur noch im Ansatz gek o m m e n . Die Gedanken
über
die
Herrnbuter
sind wohl nicht zuletzt
deshalb Fragment geblieben, weil die Rousseausche Schrift eine völlige Neugestaltung nötig gemacht hätte. Auch Rousseau hatte in seinem Discours die „simplicite des premiers t e m p s " evoziert. 1 9 Als weiterer O r i e n tierungspunkt diente ihm das rauhe, kriegerische Sparta als O r t des „bien faire", im Gegensatz zum zivilisierten Athen, in dessen Gesellschaft sich das „bien dire" mit der trügerischen „politesse", mit Verweichlichung und Lasterhaftigkeit verbindet. In Rousseaus radikaler Kritik am Wissenschafts- und Kunstbetrieb seiner Zeit deutet sich bereits das große T h e m a des späteren Werks an. Der moderne M e n s c h ist nicht mehr „bei sich selbst". Er ist künstlichen Bedürfnissen unterworfen und völlig davon abhängig, was „ m a n " denkt und „ m a n " tut. D a s Bild des starken, patriotischen, spartanischen Kriegers dient daher der Erinnerung an eine Existenzform, in der noch ein intensives Lebensgefühl m ö g lich war, sowohl in der Verpflichtung auf die Gemeinschaft wie auch im Bewußtsein der eigenen Kraft und Wehrhaftigkeit. Charakteristisch für die beiden Frühschriften Lessings und Rousseaus ist eine ausgeprägte Skepsis gegenüber den Wissenschaften und dem vermeintlichen
Fort-
schritt. Beide begründen sogar den Drang nach Naturerkenntnis in der Bosheit und Lasterhaftigkeit des M e n s c h e n . 2 0 Wenige J a h r e zuvor hatte Denis Diderot das Bild der fortschreitenden, rapide wachsenden Erfahrung gezeichnet, die, indem sie mit Teleskop, Pendel, Q u e c k s i l b e r r ö h r e und Prisma die Welt erforscht und die Fackel der Aufklärung schwingt, schließlich das schwankende Gebäude der Hypothesen zum Einsturz bringt. 2 1 Von einem solchen Vertrauen in die Wissenschaft, die Licht in die Welt zu bringen versucht, sind die beiden T e x t e Lessings und R o u s seaus in überraschender Deutlichkeit geschieden.
19
R o u s s e a u , CEuvres, B d . 3 , S. 2 2 .
20
„ L ' A s t r o n o m i e est nee de la superstition; l ' E l o q u e n c e , de P a m b i t i o n , de la haine, de la flatterie, du m e n s o n g e ; la G e o m e t r i e , de l ' a v a r i c e ; la P h y s i q u e , d ' u n e vaine curiosite; toutes, et la M o r a l e m e m e , de l'orgueil h u m a i n . L e s Sciences et les Arts doivent d o n e leur n a i s s a n c e ä n o s vices: n o u s s e r i o n s m o i n s en d o u t e sur leurs a v a n t a g e s , s'ils la devoient a n o s v e r t u s . " R o u s s e a u , CEuvres, Bd. 3 , S. 17. „Seine B o s h e i t u n t e r n i m m t allezeit das, w a s er nicht soll, und seine V e r w e genheit allezeit das, w a s er nicht k a n n . Er, der M e n s c h , sollte sich S c h r a n k e n setzen lassen? G l ü c k s e l i g e Z e i t e n , als der T u g e n d h a f t e s t e der G e l e h r t e s t e w a r ! [ . . . ] . " Lessings W e r k e , B d . 3 , S. 6 8 3 .
21
Denis D i d e r o t , Les B i j o u x indiscrets ( 1 7 4 8 ) , c h a p i t r e X X I X .
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3. Lessings Rezension des ersten Discours Im April 1751 hat Lessing Rousseaus Discours in der Beilage zu den Berlinischen Staats- und Gelehrten Zeitungen rezensiert. Diese Beilage hat den Namen Das Neueste aus dem Reiche des Witzes und wird ausgerechnet mit der Rezension einer Schrift gegen die „Schönen Wissenschaften und freien Künste", die nach Lessing „das Reich des Witzes ausmachen", eröffnet. 22 Aus der Sicht des ersten Discours ist eine Unternehmung wie diese Beilage ein schönes Beispiel dafür, wie zur Freude der Mächte der Erde die Eisenketten der Knechtschaft mit Blumengirlanden kaschiert werden. L'esprit a ses besoins, ainsi que le corps. Ceux-ci font les fondemens de la societe, les autres en font l'agrement. Tandis que le Gouvernement et les Loix pourvoient ä la sürete et au bien-etre des hommes assembles; les Sciences, les Lettres et les Arts, moins despotiques et plus puissans peutetre, etendent des guirlandes de fleurs sur les chaines de fer dont ils sont charges, etouffent en eux le sentiment de cette liberte originelle pour laquelle ils sembloient etre nes, leur font aimer leur esclavage et en forment ce qu'on appelle des Peuples polices. Le besoin eleva les Trönes; les Sciences et les Arts les ont affermis. Puissances de la Terre, aimez les talens, et protegez ceux qui les cultivent. Peuples polices, cultivez-les: Heureux esclaves, vous leur devez ce goüt delicat et fin dont vous vous piquez; cette douceur de caractere et cette urbanite de moeurs qui rendent parmi vous le commerce si liant et si facile; en un mot, les apparences de toutes les vertus sans en avoir a u c u n e . 2 '
Der ironische Stil der Passage kann und will kaum die Heftigkeit abmildern, mit der sich Rousseau nicht nur gegen die Künste und Wissenschaften, sondern auch gegen die „puissances de la terre" wendet. Der Rousseaukritiker Gottsched hat in seiner Rezension des Discours in Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit vom Juli 1751 die Essenz der Passage nicht unrichtig so charakterisiert: Rousseau „meynt nämlich, die Künste und Wissenschaften dienten nur, die Menschen in die Sklaverey der Großen zu stürzen". 24 Ein Jahr später läßt Gottsched dann den Studenten Brucker eine Rede über das Thema halten, „daß die Wissenschaften nicht dienen, die Unterthanen ins Joch der Großen zu spannen". 2 5 Diese und drei weitere gegen den ersten Discours gerichtete Re-
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Lessings Werke, Bd. 3, S. 83. Rousseau, CEuvres, Bd. 3, S. 6 f. Tente, a . a . O . , S. 335 ff. Tente, a. a. O . , S. 458 ff.
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den ironisiert Lessing mit den Worten, „ein gewisser Schulmeister" habe „seine gutherzige K n a b e n " „deklamieren" lassen. 2 6 In seiner Rezension geht Lessing, nachdem er einleitend das Reich des Witzes abgesteckt hat, zu einer Charakterisierung der schönen Wissenschaften und freien Künste über, die deutlich Rousseausche Züge verrät. Es sind allein die schönen Wissenschaften, heißt es dort, „welche durch bezaubernde Reize die ursprüngliche Empfindung der Freiheit in uns ersticken, und unsre schimpflichen Ketten mit Blumenkränzen umwinden". Sie sind, heißt es weiter, „die Erfinderinnen von tausend Bequemlichkeiten, Ergötzungen und eingebildeten Notwendigkeiten, durch welche einzig kluge Monarchen ihre Throne unerschüttert zu erhalten wissen". Auffallend ist, daß Lessing hier zwar Rousseau paraphrasiert, dies aber für den Leser nicht kenntlich macht. Erst nach dem Passus ä la Rousseau wendet er sich in einem neuen Abschnitt der Rousseauschen Schrift zu: Aller dieser prächtigen L o b s p r ü c h e ohngeachtet wollen wir d e m Leser einen M a n n bekannt m a c h e n , welcher die Wissenschaften überhaupt, und besonders die schönen Wissenschaften nebst den freien Künsten auf einer ganz andern Seite betrachtet. Dieses ist der Verfasser derjenigen Rede, welche im vorigen J a h r e bei der A k a d e m i e zu Dijon den Preis erhalten hat.27
Festzuhalten bleibt, daß Lessing mit den „prächtigen Lobsprüchen" in die Rolle Rousseaus geschlüpft ist und daß er es nicht für nötig befunden hat, dies den Leser wissen zu lassen. Es wäre sicher übertrieben zu behaupten, er mache damit ein Geheimnis aus seiner Affinität zu Rousseau, da er ihn ja gerade in seiner Rezension nach Kräften würdigt. Rousseau hat „so erhabene Gesinnungen mit einer so männlichen Beredsamkeit zu verbinden gewußt, daß seine Rede ein Meisterstück sein würde, wenn sie auch von keiner Akademie dafür wäre erkannt word e n . " 2 8 Aber der verdeckte Bezug auf Rousseausche Gedanken und Formulierungen wiederholt sich bei Lessing und verdient deshalb Beachtung. Auch der berühmte Satz: „Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch [ . . . ] " spielt auf Rousseau an, nur daß Lessing diesmal einen expliziten Hinweis auf seinen Gewährsmann gibt. Der größte Teil der sehr ausführlichen Rezension des ersten Discours besteht aus einem „umständlichen Auszug" 2 9 dieser Schrift. (Wenn man diesen Auszug ne-
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Lessings Werke, Bd. 3, S. 2 5 2
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Lessings Werke, Bd. 3, S. 84. Lessings Werke, Bd. 3, S. 85. Ebd.
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ben die Gedanken über die Herrnbuter legt, wird augenfällig, w a r u m Lessing diese Schrift nicht vollendet hat.) D a r a n schließt sich eine m o d e r a t e Kritik an, die mit dem Ausdruck der Bewunderung eingeleitet wird: Mit solchen Waffen bestürmet Rousseau die Wissenschaften und Künste. Ich weiß nicht, was m a n f ü r eine heimliche E h r f u r c h t f ü r einen M a n n e m p f i n d e t , welcher der Tugend gegen alle gebilligte Vorurteile das Wort redet; auch sogar alsdann, w a n n er zu weit geht. 3 0
G a n z deutlich ist hier die N ä h e zu dem neuen Sokrates der Gedanken über die Herrnbuter. Lessing wendet jedoch ein, d a ß der Aufstieg der Künste und Wissenschaften und der Verfall der Sitten nicht ursächlich z u s a m m e n h ä n g e n , und stellt dem Schema Rousseaus eine zyklische Vorstellung entgegen, nach der jeder Staat notwendig Blütezeit und Verfall erleben m u ß . Auch dem kriegerischen Aspekt der Rousseauschen Tugendvorstellung k a n n Lessing nichts abgewinnen. Schließlich betont er, es sei nicht die Schuld der Künste und Wissenschaften, wenn die Sitten verderben, sondern derjenigen, die sie mißbrauchen. Es liege an uns, die Künste und Wissenschaften der Tugend dienstbar zu machen. Damit ist nicht n u r das P r o g r a m m seiner Zeitschrift gerechtfertigt, sondern auch ein Grundstein seiner Ästhetik gekennzeichnet. In der Auffassung, d a ß die Kunst der Tugend dienen müsse, findet er sich d a n n wenige J a h r e später ausgerechnet durch den großen Kritiker der Künste und Wissenschaften bestätigt.
4. Rousseaus zweiter Discours und der Briefwechsel über das Trauerspiel Rousseaus zweiten Discours hat Lessing bei weitem nicht so ausführlich rezensiert wie den ersten. Am 10. Juli 1755, im 82. Stück der Berlinischen privilegierten Zeitung, zeigt er die von der Akademie von Dijon abgelehnte Preisschrift an, den Discours sur l'origine et les fondemens de l'inegalite parmi les bommes, der im gleichen J a h r erschienen war. Lessing will vor allem auf Moses Mendelssohns Übersetzung dieser Schrift a u f m e r k s a m machen 3 1 und beläßt es bei einigen allgemeineren, 30 31
Lessings Werke, Bd. 3, S. 91. Moses Mendelssohn: J o h a n n Jacob Rousseau Bürgers zu Genf A b h a n d l u n g von dem Ursprünge der Ungleichheit unter den Menschen, und worauf sie
Der k ü h n e Weltweise
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aber positiven Bemerkungen. Auch eine mögliche Kritik wird nur behutsam angedeutet: Selbst in den Punkten, w o m a n Rousseaus M e i n u n g nicht beitreten k a n n , ist das, was er schreibt, noch lesenswert. Rousseaus Schrift über die Ungleichheit ist derjenigen über die Künste und Wissenschaften ähnlich geraten: Die jetzt unter den Menschen übliche Ungleichheit scheinet nämlich an ihm keinen größern G ö n n e r gefunden zu h a b e n , als die Gelehrsamkeit an ihm fand, in so fern sie den Menschen t u g e n d h a f t e r wollte gemacht h a b e n . Er ist noch überall der k ü h n e Weltweise, welcher keine Vorurteile, w e n n sie auch noch so allgemein gebilliget w ä r e n , ansiehet, sondern graden Weges auf die Wahrheit zugehet, ohne sich um die Scheinwahrheiten, die er ihr bei jedem Tritte a u f o p f e r n m u ß , zu b e k ü m m e r n . Sein H e r z hat dabei an allen seinen spekulativischen Betrachtungen Anteil g e n o m m e n , u n d er spricht folglich aus einem ganz andern Tone, als ein feiler Sophist zu sprechen pflegt, welchen Eigennutz oder Prahlerei zum Lehrer der Weisheit gemacht h a b e n . 3 2
Rousseau ist f ü r Lessing der neue Sokrates geblieben, der „ k ü h n e Weltweise", der Gelehrtendünkel und allgemeines Vorurteil mißachtet und aus dem die Stimme des Herzens spricht. Schon diese wenigen Äußerungen zeigen Lessings Aufgeschlossenheit einer Schrift gegenüber, die bei ihrem Erscheinen, nicht allein ihres großen Umfangs wegen, weniger positive Resonanz fand als der preisgekrönte erste Discours. O b er sich intensiv mit dem Diskurs über die Ungleichheit beschäftigt hat, läßt sich mit Sicherheit nicht feststellen. Ein halbes J a h r nach seiner Rezension, im J a n u a r 1756, schreibt er in einem Brief an Mendelssohn, er h a b e Rousseaus „ A b h a n d l u n g noch bis jetzt mehr durchgeblättert als gelesen". 3 3 Wiederum zehn M o n a t e später, im N o v e m b e r 1756, b e r u f t er sich in einem Brief an Friedrich Nicolai auf einen Satz, der ganz offensichtlich auf die Rousseausche Schrift verweist. Dieser Brief gehört in den Kontext des in der Forschung vielerörterten Briefwechsels über das Trauerspiel, der 1756/57 zwischen Lessing, Mendelssohn und Nicolai geführt w u r d e . Lessing stellt hier die These auf, Bestimmung der Tragödie sei es, „unsre Fähigkeit, Mitleid zu fühlen", zu erweitern. Die Tragö-
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sich gründe; ins Deutsche übersetzt mit einem Schreiben an den H e r r n Magister Leßing und einem Briefe Voltairens an den Verfasser vermehret. Berlin 1756. Lessings Werke, Bd. 3, S. 252. Lessing, Sämtliche Schriften, hrsg. von Karl L a c h m a n n u n d Franz M u n k e r , Bd. 17. Leipzig: Göschen 1906, S. 52.
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die solle uns „so weit fühlbar machen, daß uns der Unglückliche zu allen Zeiten, und unter allen Gestalten, rühren und für sich einnehmen muß". Und nun berufe ich mich auf einen Satz, den Ihnen Herr Moses vorläufig demonstriren mag, wenn Sie, Ihrem eignen Gefühl zum Trotz, daran zweifeln wollen. Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch, zu allen gesellschaftlichen Tugenden, zu allen Arten der Großmuth der aufgelegteste. 3 4
Der Satz, um den es geht, hat seine Evidenz in sich selbst. Schon von seinem Gefühl her müßte Nicolai ihm zustimmen. Für den Fall aber, daß er dennoch an der Wahrheit des Satzes zweifelt, kann Moses Mendelssohn diesen „demonstrieren". Es würde zu weit führen, Mendelssohns Position im Briefwechsel hier mit einzubeziehen, oder seine Einschätzung des zweiten Discours, wie er sie im Sendschreiben an den Magister Lessing in Leipzig niedergelegt hat, zu berücksichtigen. Für unseren Zusammenhang ist entscheidend, daß Mendelssohn den Discours übersetzt hat und daher genau weiß, worauf Lessing anspielt: Rousseau hatte im ersten Teil seiner Schrift die „vertus sociales", Lessings „gesellschaftliche Tugenden", und die „generosite", Lessings „Großmuth", aus der „pitie" hergeleitet. Rousseau bezieht sich in der Mitleidspassage des Discours auf Mandeville, der in seiner Bienenfabel ausführlich vom Mitleid gehandelt hatte, und schreibt: Mandeville a bien senti qu'avec toute leur morale les hommes n'eussent jamais ete que des monstres, si la Nature ne leur eut donne la pitie ä l'appui de la raison: mais il n'a pas vü que de cette seule qualite decoulent toutes les vertus sociales qu'il veut disputer aux hommes. En effet, qu'estce que la generosite, la Clemence, l'Humanite, sinon la Pitie appliquee aux foibles, aux coupables, ou ä l'espece humaine en general? 35
Aus der Eigenschaft, Mitleid zu empfinden, leiten sich alle gesellschaftlichen Tugenden her; generosite zielt als Großmut auf die Schwachen (foibles), clemence als Milde auf die Schuldigen (coupables) und humanite als Menschlichkeit auf das Menschengeschlecht im allgemeinen (l'espece humain en general). Damit skizziert Rousseau einen umfassenden Ak34
35
G. E. Lessing, M. Mendelssohn, F. Nicolai: Briefwechsel über das Trauerspiel, hrsg. von J. Schulte-Sasse. München: Winkler 1972, S. 55. — Eine gute Zusammenstellung der Literatur zu Lessings „Begründung eines neuen Dramas" findet sich in: Lessing. Epoche—Werk—Wirkung, von W. Barner [u. a.]. 5. Aufl. München: Beck 1987, S. 180 ff. Der Discours wird zitiert nach der vorzüglichen zweisprachigen Ausgabe: J.J. Rousseau: Diskurs über die Ungleichheit, hrsg. von Heinrich Meier (im folgenden: Rousseau, Ungleichheit). Paderborn, München, Wien, Zürich: Schöningh 1984, S. 146.
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tionsradius des bien faire, und Lessing schließt sich ihm a n . 3 6 In Lessings „Satz" liegt der Akzent aber auf einem Superlativ, auf d e m „mitleidigsten Menschen". Bei Rousseau dagegen geht es u m die „qualite" Mitleid all36
Ich k n ü p f e hier an Überlegungen an, die ich an verschiedenen Stellen (vgl. A n m . 40 u. meine Anthologie: Vom Nutzen und Nachteil des Mitleids. F r a n k f u r t / M . : Keip 1990, S. 14—27), zuerst in meinem Buch: Rousseaus Kulturkritik und die A u f g a b e der Kunst. Heidelberg: J. G r o o s 1978, veröffentlicht habe. D o r t (S. 11 — 58) beschreibe ich die Diskussion zwischen Mendelssohn und Lessing im ,Briefwechsel' vor dem H i n t e r g r u n d des Discours Über die Ungleichheit u n d betone die Bedeutung, die Rousseaus B e g r ü n d u n g der sozialen Tugenden im Mitleid f ü r Lessing gehabt hat. In der Literatur, die seitdem zum T h e m a erschienen ist, wird zwar der Einfluß des Discours auf den ,Briefwechsel' erörtert, dem Rousseauschen Mitleidsgedanken selbst werden diese Darstellungen aber nicht gerecht. Hans-Jürgen Schings, der eine weitgehende Übereinstimmung zwischen Lessings und Rousseaus Mitleidskonzeption a n n i m m t , glaubt offensichtlich, Rousseausche Thesen wiederzugeben, wenn er schreibt: „ D e m Mitleid verdanken sich alle (sozialen) Tugenden. Die ,bonte naturelle', die es mit seiner süßen Stimme (sa douce voix) verbindlich macht, ist die Quelle der Moralität. Universalität u n d sanfte M a c h t des Mitleids beruhen d a r a u f , d a ß es dem Gebrauch der Reflexion vorausgeht, d a ß der N a t u r z u s t a n d die Entzweiung von Reflexion u n d Spontaneität, von Egoismus und Altruismus, von a m o u r de soi und pitie nicht k e n n t . " (Hans-Jürgen Schings: Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch. M ü n c h e n : Beck 1980, S. 27). In den beiden ersten Sätzen werden Rousseausche Bestimmungen zusammengezogen, die so nicht zusammengehören, im dritten Satz wird Rousseau eine höchst eigenartige Konzeption des „ N a t u r z u s t a n d s " unterstellt. Der A u s d r u c k „ b o n t e naturelle" k o m m t im Discours an einer einzigen Stelle vor (Rousseau, Ungleichheit, S. 150). Rousseau spricht d o r t von der „ m a x i m e de b o n t e naturelle", die lautet: Fais ton bien avec le moindre mal d ' a u t r u i qu'il est possible (Sorge f ü r dein Wohl mit d e m geringstmöglichen Schaden f ü r andere). Diese M a xime basiert auf dem natürlichen Widerwillen, ein e m p f i n d e n d e s Wesen umk o m m e n oder leiden zu sehen (Rousseau, Ungleichheit, S. 56 u. S. 140.). Dieser Widerwille (die süße Stimme des Mitleids) bringt den kräftigen Wilden davon ab, einem schwachen Kind oder einem Greis seine N a h r u n g wegzunehmen, si lui-meme espere pouvoir trouver la sienne ailleurs (Rousseau, Ungleichheit, S. 150). Von dieser H e m m u n g , einen Schwächeren o h n e N o t anzugreifen, ist es noch ein sehr weiter Weg bis zu den sozialen Tugenden! Uns (also den m o d e r n e n Menschen) veranlaßt das Mitleid o h n e Reflexion zur Unterstützung derer, die wir leiden sehen (ebd.). Diese Unterstützung k o m m t deshalb zustande, weil die Menschen sich weiterentwickelt h a b e n , weil sie Leidenserfahrung gesammelt haben und sich in andere hineinversetzen k ö n n e n . Dazu bedarf es nicht der Reflexion, wohl aber einer entwickelten Einbildungskraft. Im dritten Satz suggeriert Schings d a n n , im N a t u r z u stand habe es ein universelles Mitleid gegeben, also ein auf die Schwachen, die Schuldigen, die menschliche G a t t u n g insgesamt a n g e w a n d t e s Mitleid.
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Ulrich K r o n a u e r
gemein als einem Prinzip, das die sozialen Tugenden erst ermöglicht. Die Idee einer Steigerung des Mitleids durch Übung ist dem R o u s s e a u s c h e n D e n k e n fremd. W i e Lessing im Brief an M e n d e l s s o h n v o m 18. D e z e m b e r
W i e diese F o r m des Mitleids mit d e m t i e r ä h n l i c h e n N a t u r m e n s c h e n zu vere i n b a r e n ist, der keinerlei Verkehr mit seinesgleichen h a t ( R o u s s e a u , Ungleichheit, S. 1 5 2 ) , e r k l ä r t Schings nicht. E b e n s o w e n i g g i b t er einen H i n w e i s d a r a u f , wie m a n sich ein , Z u s a m m e n s e i n ' von R e f l e x i o n und S p o n t a n e i t ä t b e i m e n t s t e h e n d e n M e n s c h e n vorzustellen h a t , der das L e b e n eines T i e r e s führte, das z u n ä c h s t a u f die reinen S i n n e s e m p f i n d u n g e n b e s c h r ä n k t w a r ( R o u s s e a u , U n g l e i c h h e i t , S. 1 7 5 ) . D a s s e l b e gilt für „ E g o i s m u s und Altruism u s " . S c h l i e ß l i c h gibt es im D i s c o u r s keinen A n h a l t s p u n k t dafür, d a ß sich a m o u r de soi und pitie im Verlauf der M e n s c h h e i t s g e s c h i c h t e ,entzweit' hätten. K l a r ist vielmehr von v o r n e h e r e i n , d a ß der n a t ü r l i c h e W i d e r w i l l e , einen anderen leiden zu sehen, i m m e r d a n n a u ß e r K r a f t gesetzt wird, w e n n die E r h a l t u n g des natürlichen M e n s c h e n b e t r o f f e n ist „und er deshalb verpflichtet ist, sich selbst den Vorzug zu g e b e n " ( R o u s s e a u , Ungleichheit, S. 5 7 ) . Peter M i c h e l s e n h e b t in seiner heftigen A u s e i n a n d e r s e t z u n g mit Schings und dessen „ h a l s b r e c h e r i s c h e r U n t e r n e h m u n g " hervor, d a ß R o u s s e a u das M i t l e i d als E l e m e n t a r a f f e k t verstanden h a b e , der s o g a r m a n c h e n T i e r e n z u k o m m e . M i c h e l s e n will d a m i t die U n v e r e i n b a r k e i t von R o u s s e a u s und Lessings M i t l e i d s k o n z e p t i o n unterstreichen und stellt apodiktisch fest: „ M i t R o u s s e a u s M i t l e i d s b e g r i f f jedenfalls hat Lessing g e n a u s o w e n i g im S i n n e wie M e n d e l s sohn: er ü b e r g e h t ihn v o l l s t ä n d i g " (Peter M i c h e l s e n : D e r unruhige Bürger. Studien zu Lessing und zur L i t e r a t u r des 18. J a h r h u n d e r t s . W ü r z b u r g : K ö n i g s h a u s e n u. N e u m a n n 1 9 9 0 , S. 1 3 3 ) . M i c h e l s e n ignoriert d a m i t vollständig die e k l a t a n t e E n t s p r e c h u n g bei R o u s s e a u s und Lessings H e r l e i t u n g der gesellschaftlichen Tugenden aus d e m M i t l e i d . W e d e r Schings n o c h M i c h e l s e n e r w ä h n e n meine D a r s t e l l u n g . Schings b e a n sprucht sogar, die „ u n m i t t e l b a r e B e z u g n a h m e Lessings (und M e n d e l s s o h n s ) auf R o u s s e a u und dessen zweiten , D i s c o u r s ' " e n t d e c k t zu h a b e n (S. 1 1 ) . U m s i c h t i g e r geht M a r t i n Schenkel vor, der versucht, nicht nur den P r i m ä r t e x t e n , sondern auch der S e k u n d ä r l i t e r a t u r zum T h e m a gerecht zu werden ( M a r t i n S c h e n k e l : Lessings Poetik des M i t l e i d s im bürgerlichen Trauerspiel „ M i s s S a r a S a m p s o n " . B o n n : B o u v i e r 1 9 8 4 , S. 2 9 5 ff.). A b e r auch bei ihm bleibt u n k l a r , wie R o u s s e a u sich die E n t s t e h u n g der sozialen Tugenden aus d e m M i t l e i d vorgestellt h a t , und d a r u n t e r leidet sein Vergleich zwischen Lessing und R o u s s e a u . Seine T h e s e zu den jeweiligen M i t l e i d s k o n z e p t i o n e n formuliert er f o l g e n d e r m a ß e n : „Weder ist das M i t l e i d b l o ß die Quelle der sozialen T u g e n d e n , über d a ß (!) der « « g e s e l l i g e , n a t ü r l i c h e M e n s c h verfügt ( R o u s seau), n o c h ist das Mitleid ein zweiter, aus der L i e b e abgeleiteter A f f e k t ( M e n d e l s s o h n ) , sondern das M i t l e i d ist ein ursprünglicher, geselliger A f f e k t , eine n a t ü r l i c h e F ä h i g k e i t des M e n s c h e n (Lessing)" (S. 2 1 6 ) . Schenkel b e r ü c k sichtigt n i c h t , d a ß bei R o u s s e a u das M i t l e i d eine G e s c h i c h t e hat und d a ß die sozialen T u g e n d e n einer anderen E n t w i c k l u n g s p h a s e angehören als dem Naturzustand.
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1756 schreibt, soll das Trauerspiel das Mitleiden „ ü b e n " , damit es „immer leichter und leichter rege" wird. Der Mensch soll die „größte Fertigkeit im Mitleiden" e r w e r b e n . 3 7 Z u g r u n d e liegt die Vorstellung von einer Anlage, die im Keim v o r h a n d e n ist und die sich unter bestimmten Bedingungen weiter ausbilden läßt. Wenn Moses Mendelssohn d a n n 1767 in seinem Phädon schreibt, „aus dem angebornen Keime des Mitleidens entsprossen Wohlwollen, Mildtätigkeit und G r o ß m u t " , n i m m t er den Gedanken der Mitleidsentfaltung auf, ohne aber äußere Faktoren für die Förderung oder Beeinträchtigung dieses Prozesses anzugeben. 3 8 Die Passage des zweiten Discours, die zu diesen Bestimmungen den Anlaß gegeben hat, beruht auf einer anderen G r u n d k o n z e p t i o n . Allerdings hebt Rousseau d o r t die pitie von der raison ab und leistet damit dem Eindruck Vorschub, die sozialen Tugenden w ü r d e n sich allein aus einer emotionalen Gestimmtheit herleiten lassen. D a n n läge es nahe, durch Erweiterung oder Stärkung der Basis ein O p t i m u m an Tugend erreichen zu wollen, und das Theater wäre ein geeigneter O r t f ü r eine solche Unternehmung. Hinzu k o m m t noch, d a ß in der Erstausgabe des zweiten Discours, der Ausgabe also, die Lessing vorgelegen hat, der Passage, in der die umfassende Bedeutung der pitie hervorgehoben wird, unmittelbar ein Passus vorausgeht, in dem die Stärke der Mitleidsempfindung an einem Beispiel aus dem Bereich des Theaters illustriert wird. Die elementare K r a f t des Mitleids erweist sich darin, d a ß selbst derjenige, der sich im wirklichen Leben gegen seine Feinde g r a u s a m verhält, im Theater über das Schicksal des Unglücklichen weint. Er tut dies, weil er für kurze Zeit aus dem alltäglichen K o n k u r r e n z k a m p f herausgenommen ist und weil die in diesem Kampf entstandenen Leidenschaften schweigen. Lessing k o n n t e dieses Beispiel als A r g u m e n t f ü r sein Prog r a m m verstehen, durch die Mitleidserregung und Mitleidssteigerung im Trauerspiel den Menschen in das gute H a n d e l n einzustimmen. 3 9 Bekanntlich ist Rousseau d a n n 1758, in der Lettre ä d'Alembert sur les Spectacles, einer solchen positiven Beurteilung des Theaters mit der Feststellung entgegengetreten, das in der Tragödie erregte, sterile Mitleid habe nie den geringsten Akt der Menschlichkeit hervorgebracht. Im zweiten Discours ist Rousseaus Position aber nicht so eindeutig wie im Brief an d'Alembert; schon deshalb nicht, weil Denis Diderot an der
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Briefwechsel, S. 80. Moses Mendelssohn: Gesammelte Schriften. J u b i l ä u m s a u s g a b e , Bd. 3, 1, Stuttgart: F r o m m a n n - H o l z b o o g 1972, S. 111. Vgl. Ulrich K r o n a u e r , Rousseaus Kulturkritik, S. 50 ff.
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Mitleidspassage mitgearbeitet hat und das Beispiel vom weinenden Z u schauer im Theater durchaus auf dessen Anregung zurückgehen k a n n . Diderot hat 1758 in seinem Discours sur la po0sie dramatique die Bedeutung der Mitleidserregung für die sittliche Verbesserung des Zuschauers hervorgehoben und damit Lessing in seiner Auffassung bestärkt. 4 0 Dennoch ist Rousseaus Z u r ü c k w e i s u n g des dramatisch bewirkten Mitleids auch im Blick auf den zweiten Discours konsequent, wenn m a n die Aussage, auf die sich Lessing glaubte berufen zu können, in ihrer ganzen Tragweite betrachtet. Denn es geht dort nicht n u r um das Mitleid mit den Schwachen, sondern auch mit den Schuldigen und mit dem Menschengeschlecht insgesamt. Ein solches Mitleid k a n n nicht im Theater eingeübt werden, es kennzeichnet aber auch nicht den solitär lebenden Menschen des Naturzustandes und ebenso wenig den im Konkurrenzkampf verhärteten durchschnittlichen Bürger des Gesellschaftszustandes. Diese Mitleidshaltung setzt vielmehr eine tiefreichende Einsicht in die Bedingungen menschlicher Existenz voraus, die letztlich n u r dem Weisen möglich ist. D a ß sich für Rousseau Mitleid in seiner reifen Form mit dem Ideal der Weisheit verbindet, zeigt der Emile, der die Erziehung eines Knaben zum Weisen zum T h e m a hat. D o r t konfrontiert der Erzieher den sechzehnjährigen Emile mit entsetzlichem Leid, um ihm einzuprägen, d a ß jeder Mensch, nicht nur der Arme, sondern auch der Reiche, und nicht n u r der Kranke, sondern auch der (noch) Gesunde jederzeit von großen Schmerzen und Entbehrungen und abgrundtiefer Angst bed r o h t ist. Der Jüngling, der nun in einem Alter ist, in dem er sich in andere hineinversetzen kann, und der selbst schon gelitten hat, sieht das alle Menschen Verbindende, den allgemeinen Leidenszusammenhang, und reagiert mit umfassendem Mitleid. D a d u r c h erst wird er zu einem h u m a n e n Wesen und erwirbt die Voraussetzungen, um die Welt der Anderen aus der angemessenen Perspektive zu sehen. Nicht nur der Schwache findet nun seine Z u w e n d u n g , sondern auch den Schuldigen wird er
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Z u diesen Z u s a m m e n h ä n g e n vgl. Ulrich Kronauer: Die Dramaturgie der M o r a l . Lessing zwischen Rousseau und Diderot. In: Denis Diderot oder die Ambivalenz der Aufklärung. Heidelberger Vortragsreihe zum Internationalen D i d e r o t - J a h r 1984, hrsg. von Dietrich H a r t h u. M a r t i n Raether. Würzburg: Königshausen u. N e u m a n n 1987, S. 90—103. Z u Diderots Mitarbeit am „Diskurs über die Ungleichheit" vgl. Ulrich Kronauer, Rousseaus Kulturkritik, S. 26 (Anm. 2). Vgl. auch John Spink: Diderot et la rehabilitation de la pitie. In: Colloque International Diderot. Paris —Sevres—Reims —Langres (4—11 juillet 1984), hrsg. von Anne-Marie Chouillet, Paris: Aux Amateurs de Livres 1985, S. 56 f.
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mit Milde beurteilen. 4 1 Diese H a l t u n g der Weisheit ist so eindeutig, d a ß m a n Rousseau sicher nicht gerecht wird, wenn m a n ihm, wie H a n n a h Arendt, unterstellt, er habe Robespierre mit der pitie das Instrument des sozialen und politischen K a m p f e s geliefert.
5. Der Weise Rousseaus und Lessings Freimäurer An einer Stelle aus dem zweiten Teil des Discours läßt sich ganz deutlich zeigen, wie sich für Rousseau Weisheit mit Mitleid verbindet, und zwar mit einem umfassenden, grenzüberschreitenden Mitleid, das sich über jegliche Form von Feindschaft hinwegsetzt. Lessing hat sich auf diese Stelle nie explizit bezogen. Es ist aber k a u m vorstellbar, d a ß sie d e m Autor der Gespräche für Freimäurer entgangen sein k ö n n t e . Im zweiten Teil seines Diskurs über die Ungleichheit beschreibt Rousseau den innerhalb der Menschheitsgeschichte entscheidenden Schritt zu einer ersten Gesellschaftsbildung. In einer Phase, in der die natürliche Gleichheit längst zerstört ist und sich ein f o r t w ä h r e n d e r Konflikt „zwischen d e m Recht des Stärkeren und d e m Recht des ersten Besitznehmers" erhoben h a t , 4 2 in einem Z u s t a n d des Krieges aller gegen alle, k o m m t es zu einem Vertrag, der den Ursprung der Gesellschaft und ihrer Gesetze bezeichnet. Dieser Vereinigungspakt entspringt der List des Reichen, der den Anschein erweckt, als ginge es ihm um den Frieden f ü r alle, die Mächtigen und die Schwachen, w ä h r e n d er in Wirklichkeit nur seinen eigenen Besitzstand sichern will. N u n ist die natürliche Freiheit endgültig zerstört, das Gesetz des Eigentums und der Ungleichheit für immer festgeschrieben und das ganze Menschengeschlecht „ u m des Profites einiger Ehrgeiziger willen" f o r t a n der Arbeit, der Knechtschaft und d e m Elend ausgeliefert. 4 3 Aus der G r ü n d u n g einer Gesellschaft ergeben sich notwendig weitere Gesellschaftsgründungen, bis schließlich die ganze Erde in solche Gesellschaften aufgeteilt ist. Das zwischen diesen Gesellschaften herrschende „loy de n a t u r e " , das m a n hier als Gesetz des Stärkeren verstehen muß, wird, unter dem N a m e n „droit des gens", d u r c h einige stillschweigende Übereinkünfte gemildert, um den H a n d e l möglich zu machen und um das natürliche Mitleid (la commiseration naturelle) zu ersetzen:
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Rousseau, CEuvres, Bd. 4, S. 504 ff. Rousseau, Ungleichheit, S. 211. A . a . O . , S. 219.
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Ulrich K r o n a u e r qui, perdant de S o c i e t e ä S o c i e t e presque t o u t e la f o r c e qu'elle avoit d ' h o m m e ä h o m m e , ne reside plus que dans quelques g r a n d e s Arnes C o s m o p o l i t e s , qui franchissent les barrieres i m a g i n a i r e s qui separent les Peuples, et qui, ä l ' e x e m p l e de l'etre souverain qui les a crees, e m b r a s s e n t t o u t le G e n r e - h u m a i n dans leur b i e n v e i l l a n c e . 4 4
Nur noch einige große kosmopolitische Seelen sind in der Lage, sich über die eingebildeten Barrieren, die die Völker voneinander trennen, hinwegzusetzen. Sie können dies, weil in ihnen sich die Kraft des natürlichen Mitleids erhalten hat, das von Mensch zu Mensch stark ist, das sich aber zwischen verschiedenen Gesellschaften verliert. Dieser Gedanke Rousseaus findet sich in Lessings Dialogschrift Ernst und Falk. Gespräche für Freimaurer in ähnlicher Gestalt wieder. Da Lessing auch diesmal nicht explizit auf Rousseau rekurriert, wird man die Möglichkeit einer frappierenden Übereinstimmung ohne bewußten Bezug nicht ausschließen können. Auch wird man berücksichtigen müssen, daß die fünf Gespräche für Freimaurer fast fünfundzwanzig Jahre nach dem Erscheinen des zweiten Discours veröffentlicht wurden, nämlich zwischen 1778 und 1780. Auf der anderen Seite kann aber auch das Faktum, daß Rousseaus Konzeption des Weisen fünfundzwanzig Jahre später im Bild des wahren Freimaurers wiederkehrt, als deutliches Zeichen für Lessings andauernde, intensive Beschäftigung mit Rousseau verstanden werden. Vor allem das zweite Gespräch zwischen Ernst und Falk ist für unser Thema von Bedeutung. Dort geht es um die Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft und um die Folgen der ersten Staatenbildung. Mit „bürgerlicher Gesellschaft" ist dabei generell die Vereinigung von Menschen in einem gesellschaftlichen oder staatlichen Verband gemeint und nicht eine bestimmte Gesellschaftsform. Die erste Gesellschaftsgründung kommt zustande, weil „die Natur alles so eingerichtet, daß der Mensch sehr bald auf diese Erfindung geraten müssen". 45 Allerdings ist menschliche Vernunft hierbei nicht am Werk. Diese wird erst und nur in der bürgerlichen Gesellschaft „angebauet", weshalb man die gesellschaftliche Vereinigung auf jeden Fall „segnen" muß. 4 6 Bei der Gesellschaftsgründung spielen „unsere Leidenschaften und unsere Bedürfnisse" die entscheidende Rolle. 4 7 Anders als Rousseau geht Lessing also davon aus, daß der Mensch von Natur aus des Menschen bedarf. Wie Rousseau aber legitimiert er die erste Gesellschaftsgründung nicht als vernunftgemäßen 44 45
A . a . O . , S. 2 2 0 . Lessings W e r k e , Bd. 8, S. 4 5 9 .
46
A . a . O . , S. 4 6 4 .
47
A . a . O . , S. 4 6 0 .
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Schritt, oder als unhinterfragbares Resultat eines göttlichen Willens. Der Gesellschaftsgründung merkt man vielmehr die Unvollkommenheit einer menschlichen Erfindung an, die durch „Leidenschaften" und „Bedürfnisse" motiviert ist. Insgesamt argumentiert Lessing abstrakter als Rousseau, der die der ersten Gesellschaftsgründung zugrundeliegenden egoistischen Motive bestimmter Gruppen hervorgehoben und negativ charakterisiert hatte. Schließlich findet sich auch der positive Aspekt der Gesellschaftsgründung bei Rousseau. Im Contrat social beschreibt er eindrucksvoll die Veränderungen, die im Menschen durch den Übergang vom Naturzustand zum Gesellschaftszustand vor sich gehen. In seinem Verhalten tritt die Gerechtigkeit an die Stelle des Instinkts und gibt seinen Handlungen die Moralität, die ihnen zuvor gefehlt hatte. Der Mensch, der nur an sich selbst gedacht hatte, wird gezwungen, seine Vernunft zu befragen, bevor er auf seine Neigungen hört. Seine Gedanken werden weiter, seine Gefühle veredeln sich. Wenn die Mißbräuche des neuen Zustands den Menschen nicht oft unter den hinabwürdigen würden, den er verlassen hat, müßte er unaufhörlich den glücklichen Augenblick preisen, der ihn für immer dem ersten Zustand entrissen und aus einem dummen und begrenzten Tier (d'un animal stupide et borne) ein intelligentes Wesen und einen Menschen (un etre intelligent et un homme) gemacht hat. 4 8 Während Lessing die bürgerliche Gesellschaft trotz der Übel, die sie mit sich bringt, „segnet", weil nur in ihr die Vernunft angebaut werden kann, drückt sich in diesem Kapitel des Contrat social die für Rousseau charakteristische Ambivalenz aus, die jeglichen Fortschritt relativiert. Wie Rousseau sieht Lessing mit und infolge der ersten Gesellschaftsgründung viele Staaten entstehen, von denen jeder „sein eignes Interesse" hat. Lessing läßt seinen Protagonisten Falk sagen: Diese verschiedene Interesse würden öfters in Kollision kommen, so wie itzt: und zwei Glieder aus zwei verschiedenen Staaten würden einander eben so wenig mit unbefangenem Gemüt begegnen können, als itzt ein Deutscher einem Franzosen, ein Franzose einem Engländer begegnet. 4 9
Diese Entwicklung ist irreversibel, so wie es auch für Rousseau kein Zurück zu den Anfängen gibt. Ihr geht aber ein Zustand voraus, in dem die Beziehungen der Menschen noch nicht durch „Trennungen" gekennzeichnet sind, durch Trennungen, die sich auch im Bereich der religiösen Institutionen und in der innerstaatlichen ständischen Gliederung fortset-
48 49
Rousseau, CEuvres, Bd. 3, S. 3 6 3 ( = Contrat social 1. Buch, 8. Kap.). Lessings Werke, Bd. 8, S. 4 6 1 .
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Ulrich Kronauer
zen. D a s Bild des ersten Z u s t a n d s e n t h ä l t ein P o t e n t i a l der K r i t i k , a b e r a u c h der V e r h e i ß u n g . F a l k e r k l ä r t : [...] wenn itzt ein Deutscher einem Franzosen, ein Franzose einem Engländer, oder umgekehrt, begegnet, so begegnet nicht mehr ein bloßer Mensch einem bloßen Menschen, die vermöge ihrer gleichen Natur gegen einander angezogen werden, sondern ein solcher Mensch begegnet einem solchen Menschen, die ihrer verschiednen Tendenz sich bewußt sind, welches sie gegen einander kalt, zurückhaltend, mißtrauisch macht, noch ehe sie für ihre einzelne Person das geringste mit einander zu schaffen und zu teilen haben. 5 0 Bei
Rousseau
war
es das
natürliche
Mitleid,
das
ursprünglich
von
M e n s c h zu M e n s c h g e w i r k t h a t , bei Lessing ist es eine A n z i e h u n g s k r a f t a u f g r u n d der gleichen N a t u r . D a b e i ist zu b e r ü c k s i c h t i g e n , d a ß in d e m von R o u s s e a u b e s c h r i e b e n e n N a t u r z u s t a n d sich d a s M i t l e i d p r i m ä r als H e m m u n g ä u ß e r t , e i n e m e m p f i n d e n d e n Wesen L e i d zuzufügen und als G e f ü h l der B e u n r u h i g u n g a n g e s i c h t s f r e m d e n L e i d s , a b e r nicht als a k t i v e H i n w e n d u n g des N a t u r m e n s c h e n zu s e i n e s g l e i c h e n . Z w i s c h e n verschiedenen V ö l k e r n ist n a c h R o u s s e a u s A u f f a s s u n g diese u r s p r ü n g l i c h e H e m m u n g a u f g e h o b e n und a u c h s c h o n bei den M i t g l i e d e r n einer G e s e l l s c h a f t wird d a s M i t l e i d durch aggressive I m p u l s e e i n g e s c h r ä n k t . D e r k o s m o p o litische W e i s e h a t m i t d e m N a t u r m e n s c h e n z w a r n o c h die u r s p r ü n g l i c h e M i t l e i d s r e g u n g g e m e i n s a m , seinem W o h l w o l l e n , d a s das g a n z e
Men-
s c h e n g e s c h l e c h t e i n s c h l i e ß t , liegt a b e r ein l a n g e r E n t w i c k l u n g s - und R e i f u n g s p r o z e ß z u g r u n d e . A u c h bei Lessing sind es „die Weisesten und Besten eines jeden S t a a t e s " , „die ü b e r die V o r u r t e i l e der V ö l k e r s c h a f t hinw e g " sind und w i s s e n , „ w o P a t r i o t i s m u s T u g e n d zu sein
aufhöret".51
D i e w a h r e n F r e i m a u r e r , die k e i n e s w e g s mit den t a t s ä c h l i c h e n
Mitglie-
dern der o r g a n i s i e r t e n B r u d e r s c h a f t identisch sein m ü s s e n , h a b e n es sich zur A u f g a b e g e m a c h t , die von R o u s s e a u als „ i m a g i n ä r "
bezeichneten
G r e n z e n , die die Vertreter v e r s c h i e d e n e r N a t i o n a l i t ä t e n ,
verschiedener
50
A . a . O . , S. 462. Wenn Koselleck in seiner Studie über Ernst und Falk schreibt, nach Lessings Auffassung sei „die menschliche Verschiedenheit [...] ihren historischen Manifestationen [...] ontologisch vorgeordnet", seien „die Unterschiede zwischen den Menschen, die Grenzen zwischen den Staaten [...] mit der Natur des Menschen gegeben", erkennt er nicht die Pointe des Lessingschen Ansatzes. Nicht die Ungleichheit ist der bürgerlichen Gesellschaft vorgeordnet, sondern die wahren Freimaurer versuchen die Anziehungskraft der vorgeordneten „gleichen Natur" im gesellschaftlichen Zustand der Ungleichheit zu bewahren. Reinhart Koselleck: Kritik und Krise, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1976, S. 70.
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Lessings Werke, Bd. 8, S. 465.
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Religionen und verschiedener Gesellschaftsschichten voneinander trennen, zu überschreiten. Durch ihr Verhalten heben sie die Trennungen auf, ohne deren politische oder religiöse Grundlagen zu zerstören. Orientiert man sich an den gewiß sehr knappen Ausführungen Lessings zu dem Zustand vor der Gesellschaft, so läßt sich annehmen, daß die wahren Freimaurer ihr Werk verrichten, indem sie andere Menschen wie ihresgleichen behandeln und in dem selbstverständlichen Umgang mit ihnen die ursprüngliche Anziehungskraft zu einer gemeinsamen Erfahrung machen. Von da her fällt auch ein Licht auf das „Geheimnis der Freimaurerei", das, wie Lessing hervorhebt, der Freimaurer nicht über seine Lippen bringen kann, selbst wenn er es wollte. 5 2 Wenn der Freimaurer seine spezifisch ,freimaurerische' Einstellung einem anderen zu erkennen geben wollte, indem er etwa äußerte, daß er ihn als Gleichen ansehe und behandele, würde er aus dem Selbstverständlichen etwas Besonderes machen und damit das Geheimnis zerstören. Nur in dem selbstverständlichen Umgang stellt sich das „gemeinschaftliche Gefühl sympathisierender Geister" ein, von dem Falk im fünften Gespräch spricht. 5 3 Lessings Weisheit unterscheidet sich letztlich von der Rousseaus durch den optimistischeren Ansatz: Von Natur aus möchten die Menschen aufeinander zugehen, sie möchten Freunde werden; die gesellschaftliche Entwicklung stellt sich dieser Grundtendenz entgegen, aber eine Geheimgesellschaft von Weisen unterläuft die Entwicklung, indem sie durch ihr eigenes Verhalten verhindert, daß die Trennungen endgültig werden. Für Rousseau dagegen tendiert der Mensch nicht von Natur aus zu seinesgleichen. Der Wilde des Naturzustands ist ein solitäres Wesen, das man in seiner Unabhängigkeit und Autarkie glücklich nennen könnte, wäre es zu einer solchen Glücksempfindung in der Lage. Wahrhaft glücklich ist nur Gott in seiner Einsamkeit. Sobald die Menschen den ersten Zustand verlassen haben, sobald sie sich durch die Vergesellschaftung von einem tierähnlichen Wesen erst zu Menschen entwickelt haben, erleben sie sich als schwach und in ihrer Schwäche als aufeinander angewiesen. C'est la foiblesse de l ' h o m m e qui le rend sociable; ce sont nos miseres communes qui portent nos coeurs ä l ' h u m a n i t e , n o u s ne lui devrions rien si nous n'etions pas h o m m e s . Tout a t t a c h e m e n t est un signe d'insuffisance: si chacun de nous n'avoit nul besoin des autres il ne songeroit gueres ä s'unir ä eux. Ainsi de nötre infirmite m e m e nait n ö t r e freie b o n heur. 5 4 52 53 54
A . a . O . , S. 476. A . a . O . , S. 481. Rousseau, CEuvres, Bd. 4, S. 503.
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Nicht die Anziehungskraft, sondern die Schwäche führt die Menschen zusammen. Das zerbrechliche Glück, das zwischen Menschen möglich ist, kommt durch Leiden und Mitleiden zustande. Diese Voraussetzungen prägen auch die Sichtweise des Weisen, der wie Gott alle Menschen in sein Wohlwollen einbezieht, ohne aber wie dieser dem Leidenszusammenhang entzogen zu sein. Selbst die Freundschaft steht im Zeichen des Mitleids. Im zweiten Discours fährt Rousseau an der Stelle, auf die sich Lessing berufen hat, folgendermaßen fort: L a Bienveillance et l'amitie m e m e sont, a le bien prendre, des p r o d u c t i o n s d ' u n e pitie constante, fixee sur un object particulier: car desirer que quelq u ' u n ne s o u f f r e point, qu'est-ce autre chose, q u e desirer qu'il soit heureux?55
Wenn Lessing den Mitleidsgedanken Rousseaus in sein Programm der Humanisierung einbezogen hat, sei es im Briefwechsel über das Trauerspiel oder bei der Konzeption der Freimaurergespräche, dann hat er die positive Kraft dieser Empfindung vor Augen gehabt, die Rousseau selbst in seinem Discours deutlich kenntlich gemacht hat. 5 6 Der Hintergrund eines umfassenden Leidenszusammenhangs, vor dem auch und gerade die geglückten menschlichen Beziehungen bei Rousseau zu sehen sind, läßt sich bei Lessing, zumal bei seinem Bild einer Gemeinschaft sympathisierender Geister, so nicht erkennen. Wie präsent Rousseau für Lessing bis in die letzten Jahre seines Lebens geblieben ist, dokumentiert ein Brief an Elise Reimarus vom 7. Mai 1780. Darin nimmt der verwitwete Lessing zu den Gerüchten Stellung, er habe sich in seine sechzehnjährige Stieftochter verliebt. Es ist bedrükkend zu lesen, wie der vom Glück nicht verwöhnte Mann, der vor nicht langer Zeit Frau und Kind verloren hat, sich bemüht, über seine Gefühle Rechenschaft abzulegen und die Lauterkeit seiner Motive darzustellen. Ein Zufall, schreibt er nicht ohne Ironie, sei seiner Tugend zu Hilfe gekommen. Er habe nämlich „zur äußersten Kränkung" seiner Eitelkeit feststellen müssen, daß er es keineswegs ist, der der Stieftochter Amalie gefährlich werden könnte. Derjenige, den Amalie liebt, ist aber so weit von ihr entfernt, „daß sie in Einem Taumel der Leidenschaft sich nicht erreichen können". Damit sind die Voraussetzungen erfüllt, die Rousseau für seinen Emile erreichen wollte, „um ihn vor den übeln Folgen
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R o u s s e a u , Ungleichheit, S. 146. In der M i t l e i d s p a s s a g e spricht R o u s s e a u von der K r a f t (force) des natürlichen Mitleids ( a . a . O . , S. 144).
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einer sinnlichen Liebe zu schützen". 5 7 Lessing spielt damit auf das fünfte Buch des Emile an, in dem der Erzieher Emile und Sophie trennt, um die Liebe der beiden einer Prüfung zu unterziehen. In einer sehr persönlichen, ihm gewiß äußerst unangenehmen Situation ist Lessing also der Weltweise Rousseau gegenwärtig, sind dessen pädagogische Prinzipien Gegenstand eigener Überlegungen. Warum hat Lessing seine Affinität zu Rousseau nicht deutlicher zum Ausdruck gebracht? Ein Grund wird in seiner Idee des Weisen gelegen haben, die der wahre Freimaurer verkörpert. Lessings Verwandtschaft mit Rousseau bedurfte keiner Explikationen, die das Selbstverständliche nur zum Bemerkenswerten gemacht hätten. Ihre Gedanken berührten sich auf einer Ebene elementarer Menschlichkeit, die sich nicht im (darüber) Reden kundtut, sondern im Handeln.
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Lessing, Sämtliche Schriften, hrsg. von K. Lachmann und F. Munker, Bd. 18, Leipzig 1907, S. 341. Die Bedeutung der im Emile enthaltenen „Profession de foi du Vicaire Savoyard" für Lessings Religionsphilosophie hat Gericke hervorgehoben: Sechs theologische Schriften Gotthold Ephraim Lessings. Eingeleitet und kommentiert von Wolfgang Gericke, Berlin (Ost): Evangelische Verlagsanstalt 1985, S. 36 ff.
Walter Erhart
„Was nützen schielende Wahrheiten?" Rousseau, Wieland und die Hermeneutik des Fremden
I. „Hypothesen" — Rousseau, Geschichtsphilosophie, Anthropologie Als im J a h r e menschlichen der
Chor
1 7 7 0 W i e l a n d s Beyträge Verstandes
der
und Herzens
deutschen
zur
Gebeimen
Geschichte
des
v e r ö f f e n t l i c h t w e r d e n , scheint sich
Rousseau-Kritiker
lediglich
um
eine
neue
S t i m m e zu e r w e i t e r n . W i e l a n d w a r seit 1 7 6 9 P h i l o s o p h i e - P r o f e s s o r
in
E r f u r t , und sein Urteil ist i m m e r h i n g e w i c h t i g g e n u g , u m sogleich willk o m m e n geheißen zu w e r d e n . G l e i m schreibt a m 1 6 . M a i desselben J a h res an Uz: Beyträge zur geheimen Geschichte des menschlichen Verstandes und Herzens hab ich heute von ihm zu Geschenk bekommen. ... sie [sind] hauptsächlich gegen des ehrlichen und guten Hans J a c o b s System gerichtet, und bloß deswegen sehr nach meinem Geschmack! Der gute M a n n könte mit seiner Ehrlichkeit es dahin bringen, daß die Menschen [...] anfiengen, wieder auf Vieren zu gehen, wenn nicht seiner Ehrlichkeit eine andere wiederspräche, und dazu dünkt Wieland mich der rechte M a n n . 1 G l e i m w i e d e r h o l t ein z w e i f e l h a f t e s A r g u m e n t , d a s V o l t a i r e in F r a n k r e i c h 2 und A l b r e c h t v o n H a l l e r in D e u t s c h l a n d 3 längst v o r g e b r a c h t h a t ten und das v o n W i e l a n d u n v e r ä n d e r t k o l p o r t i e r t w i r d : 1
2
3
Zit. in: T h o m a s C. Starnes: Christoph Martin Wieland. Leben und Werk. 3 Bde. Sigmaringen: T h o r b e c k e 1987. Bd. 1, S. 3 7 1 . „On n'a jamais employe tant d'esprit a vouloir nous rendre betes; il prend envie de marcher ä quatre pattes, quand on lit votre ouvrage." Voltaire: Brief an Rousseau vom 30. August 1755. Zit. in: J e a n - J a c q u e s Rousseau: Schriften zur Kulturkritik. Discours sur les Sciences et les Arts (1750). Discours sur l'Origine de l'Inegalite parmi les H o m m e s (1755). Hrsg. v. Kurt Weigand, 4. Aufl. Hamburg: Meiner 1983, S. 3 0 2 . Raymond Trousson: J . - J . Rousseau et son oeuvre dans la presse periodique allemande de 1750 ä 1800 (I). In: Le dix-huitieme siecle 1 (1969), S. 2 8 9 3 1 0 , hier S. 2 9 8 .
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Walter E r h a r t War es diese Begierde zu schimmern, oder war es Laune, oder Misanthropie, — oder sollen wir glauben, d a ß es wirklich Liebe zur Wahrheit und Wohlneigung gegen das menschliche Geschlechte gewesen sey, was den scharfsinnigen Schriftsteller [...] bewegen k o n n t e [...] den abentheuerlichen Satz zu behaupten: [...] d a ß allen Nazionen, unter denen sich (nach seinem Ausdruck) die Stimme des Himmels nicht h a b e hören lassen, kein besserer R a t h zu geben sey, als in die Wälder zu den O r a n g - U t a n g s und den übrigen Affen, ihren Brüdern, zurückzukehren [...]. (II, 9 f . ) 4
Z u r Wiederholung eines oft mißverstandenen Gemeinplatzes 5 hätte es der Stimme Wielands k a u m b e d u r f t . Was Gleim an Wielands Beyträgen schätzt, scheint demnach eher die Autorität des neuen Rousseau-Kritikers als die Originalität der längst ausgetauschten und unermüdlich variierten Argumente zu sein. Die Aufsätze Wielands präsentieren zweifellos ein ganzes K o m p e n d i u m der seit dem Erscheinen der beiden Discours kursierenden Einwände gegen Rousseaus Kulturkritik. 6 Schon Lessing 4
Die Beyträge werden zitiert nach der ersten Ausgabe: Beyträge zur Geheimen Geschichte des menschlichen Verstandes und Herzens, 2 Theile, Leipzig 1770 (fortan im Text zitiert mit der Seitenzahl). Die erste Ausgabe weicht in wesentlichen Punkten von den seither erschienenen Ausgaben ab: Die einzelnen Beyträge sind in einer völlig anderen Reihenfolge angeordnet, die Übergänge enthalten später getilgte Textpassagen, die einzelnen Kapitel haben keine Überschriften. Z u r Kennzeichnung und zum besseren Verständnis werden im folgenden die späteren Aufsatztitel genannt. Die A n o r d n u n g der Kapitel in der Erstausgabe: Koxkox und Kikequetzel I, Reise des Priesters Abulfauaris ins innere Afrika, Die Bekenntnisse des Abulfauaris, Über die von }. J. Rousseau vorgeschlagenen Versuche den wahren Stand der Natur des Menschen zu entdecken nebst einem Traumgespräch mit Prometheus, Betrachtungen über J. J. Rousseaus ursprünglichen Zustand des Menschen, Koxkox und Kikequetzel II. Z u Wielands Beyträgen vgl. auch Verf.: Entzweiung und Selbstaufklärung. Christoph M a r t i n Wielands „Agathon"-Projekt. Tübingen: Niemeyer 1991, S. 189 ff. Vor allem das folgende erste Kapitel bezieht sich auf die Ergebnisse dieser größeren Untersuchung.
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Die U m k e h r u n g der Rousseauschen Kritik in die Forderung, sich einem vorzivilisatorischen Primitivismus — „ Z u r ü c k zur N a t u r " — anheimzugeben, in Frankreich durch Pallissot (Les Philosophes, 1760) angeregt, ist nicht nur in der Rousseau-Forschung späterer J a h r h u n d e r t e als hartnäckiges Vorurteil einer undifferenzierten Rousseau-Rezeption zurückgewiesen w o r d e n . Schon 1767 hat der Schweizer J o h a n n Heinrich Füssli in einer a n o n y m erschienenen Schrift Rousseau gegenüber dieser Kritik in Schutz zu nehmen versucht: J o h a n n H . Füssli: R e m a r k s on the Writings and conduct of J. J. Rousseau, mit E i n f ü h r u n g , deutscher Übersetzung und K o m m e n t a r . Hrsg. von E u d o C. M a s o n . Zürich: Fretz & Wasmuth 1962. Vgl. dazu Claus Süßenberger: Rousseau im Urteil der deutschen Publizistik bis zum Ende der Französischen Revolution. Ein Beitrag zur Rezeptionsge-
6
,Was nützen schielende Wahrheiten?"
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hatte in frühen Rezensionen des Discours sur les sciences et les arts7 den Rousseauschen Bruch zwischen Natur und Kultur in Frage gestellt, und Wieland tut es ihm — 19 Jahre später — gleich, wenn er die Entwicklung vom homme naturel zum Gesellschaftszustand nur als graduellen Übergang, nicht als plötzlichen Sündenfall der Menschheitsgeschichte verstanden wissen will: „Die Natur selbst ist es, welche durch die Kunst ihr Geschäffte in uns fortsetzt" (I, 95). Desgleichen greift Wieland Rousseaus These von der „Ungeselligkeit" (II, 23) des im Naturzustand lebenden Wilden an: „Solche „Wunderdinge" (II, 24) zur „Grundlage seines Systems über den ursprünglichen Stand" (II, 23) gewählt zu haben, bringe Rousseau in einen offensichtlichen Gegensatz zu den nach wie vor beglaubigten älteren Theorien des Naturrechts — auch dies ein Topos bereits der frühen europäischen Rousseau-Kritik. 8 Wielands späte Rousseau-Kritik hat wegen ihrer fehlenden Originalität wenig Aufmerksamkeit gefunden — damals wie heute. Sie gilt nicht nur als „von vornherein überholt" 9 , sondern sie reproduziert scheinbar auch jene Irrtümer der deutschen Rousseau-Rezeption, die die WielandForschung seit ihren Anfängen auch genau aufgerechnet h a t . 1 0 Freilich findet sich bei Wieland nicht die uneingeschränkte Apologie der Zivilisation, mit der viele Rousseau-Kritiker der ersten Stunde auf
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schichte. Frankfurt: Lang 1974. R o b e r t Spaemann: Rousseau — Bürger ohne Vaterland. München: Piper 1980, S. 4 4 ff. Gotthold Ephraim Lessing: Sämtliche Schriften. Hrsg. v. Karl Lachmann, 3. auf's neue durchges. und vermehrte Aufl. besorgt durch Franz Muncker. Bd. 1 - 2 2 u. ein Registerbd., Stuttgart, (ab Bd. 12) Leipzig 1 8 8 6 - 1 9 2 4 (fortan: L M ) . Bd. IV, S. 3 8 8 - 3 9 5 . Bd. V, S. 64 f. Unter dem sprechenden Pseudonym „Philopolis" hatte Charles Bonnet bei Erscheinen des zweiten Discours seine metaphysisch inspirierte Verteidigung des providentiell verbürgten Fortschritts mit dem anthropologischen Argument untermauert, „que l'etat de societe resulte immediatement des facultes de P h o m m e " (Lettre de M . Philopolis, abgedruckt bei: Jean-Jacques Rousseau: Diskurs über die Ungleichheit. Hrsg. v. Heinrich Meier. Paderborn: Schöningh 1984, S. 4 5 0 - 4 5 9 , hier S. 452). Frederic C. Tubach: Perfectibilite: der zweite Diskurs Rousseaus und die deutsche Aufklärung. In: Etudes Germaniques 15 (1960), S. 1 4 4 — 1 5 1 , S. 146. Vgl. Richard Fester: Rousseau und die deutsche Geschichtsphilosophie. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Idealismus. Stuttgart: Göschen 1 8 9 0 , S. 38 ff. Timotheus Klein: Wieland und Rousseau. In: Studien zur vergleichenden Literaturgeschichte 3 (1903), S. 4 2 5 - 4 8 0 u. 4 (1904), S. 1 2 9 - 1 7 4 , hier: I, S. 4 6 0 ff. Albert Fuchs: Les apports fran^ais dans l'oeuvre de Wieland de 1772 ä 1789. Paris: Champion 1 9 3 4 , S. 3 8 8 f.
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Walter Erhart
den A f f r o n t des , g e g e n a u f k l ä r e r i s c h e n ' Bilderstürmers reagiert h a t t e n . W i e l a n d teilt die kulturkritischen I m p l i k a t i o n e n der R o u s s e a u s c h e n Diagnose u n d b e t o n t dabei d u r c h a u s die im Verlauf der menschheitsgeschichtlichen „Policierung" (II, 31) unvermeidlich g e w o r d e n e n Z w ä n g e u n d V e r l u s t e r f a h r u n g e n . In seinem Essay Über die Behauptung dass ungehemmte Ausbildung der menschlichen Gattung nachtheilig sey verfällt er selbst in einen rousseauistischen Ton u n d stellt der Zivilisation das aus einem Reisebericht g e w o n n e n e Bild der a f r i k a n i s c h e n „Pholeys" geg e n ü b e r — eine f ü r die E u r o p ä e r „ d e m ü t h i g e n d e Vergleichung" (II, 211). Folgerichtig geht Wieland auch zu den zivilisationsgläubigen G e g n e r n R o u s s e a u s auf D i s t a n z . Die mißlichen „Folgen" der Zivilisation nämlich stellt er keineswegs in Abrede, n u r die von R o u s s e a u a n g e b o t e n e „ H y p o these" (II, 33) ihres Ursprungs. Als erste Vorlesung seiner E r f u r t e r Professur p l a n t Wieland d e n n auch eine Widerlegung von Isaak Iselins Geschichte der Menschheit11, die ihrerseits R o u s s e a u s Kulturkritik mit ein e m geschichtsphilosophischen L o b des Fortschritts zu widerlegen s u c h t . 1 2 Iselins A r g u m e n t a t i o n g r ü n d e t sich auf eine U m i n t e r p r e t a t i o n der bei R o u s s e a u vorausgesetzten a n t h r o p o l o g i s c h e n U n b e s t i m m b a r k e i t des M e n s c h e n , d e r perfectibilite.13 Dieser „Trieb zur V o l l k o m m e n h e i t " 1 4 nämlich steuere den G e s c h i c h t s p r o z e ß der M e n s c h h e i t v o m „Stande der N a t u r " bis z u m „bürgerlichen S t a n d e " in k o n s e q u e n t e r A u f w ä r t s b e w e g u n g , w o b e i Iselin die u n ü b e r s e h b a r e n W i d e r s p r ü c h e und zyklischen R ü c k s c h r i t t e der Weltgeschichte mit einer geschichtsphilosophischen u n d theologischen T h e o r i e zu k o m p e n s i e r e n sucht: „Die Philosophie u n d die Religion überzeugen uns, d a ß aus Verwirrung in d e n Theilen endlich O r d n u n g u n d H a r m o n i e im G a n z e n entstehen k ö n n e n . " 1 5 M i t der Absage an den radikalen Fortschrittspessimismus eines R o u s seau auf der einen, der Skepsis gegenüber der T h e o r i e eines p l a n m ä ß i g e n
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Vgl. Karl August Böttiger: Literarische Zustände und Zeitgenossen. 2 Bde. Frankfurt: Athenäum 1972 (Faksimile-Druck der ersten Ausgabe von 1838), Bd. 1, S. 211: „Wieland las über Iselin die Geschichte der Menschheit, widerlegte ihn vier Wochen, dann warf er ihn ganz weg; denn er hatte das Collegium in Erfurt angeschlagen, ohne Iselin selbst genau gelesen zu haben." Issak Iselin: Geschichte der Menschheit. 2 Bde. 4. Aufl. Basel 1779. Bd. 1, S. 159 ff. Vgl. dazu Günther Buck: Selbsterhaltung und Historizität. In: Reinhart Kosellek, Wolf-Dieter Stempel (Hrsg.): Geschichte — Ereignis und Erzählung. München: Fink 1973, S. 2 9 - 9 4 , S. 36 ff. Isaak Iselin: Geschichte der Menschheit. Bd. 1, S. 166, 170, 370. Ebd., Bd. II, S. 468.
,Was nützen schielende W a h r h e i t e n ? "
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Fortschritts auf der anderen Seite scheint Wieland vielmehr einen dritten Weg der deutschen Rousseau-Rezeption zu beschreiten, der mit Herder und Lessing beginnt und schließlich über Kant und Schiller zu Hegel führt. In seiner programmatischen Schrift Auch eine Philosophie zur Geschichte der Menschheit aus dem Jahre 1774 kritisiert Herder zunächst die „aufgeklärten Schöndenker", die wie Voltaire und Iselin „die Policierung unsers Jahrhunderts fürs non plus ultra der Menschheit" 1 6 halten. Die Kritik des vermeintlich aufgeklärten Zeitalters hindert ihn jedoch nicht, die Rousseausche Verfallsgeschichte mit dem geschichtsphilosophischen Plan einer undurchschaubaren „Vorsehung" zu konfrontieren, durch die sich die Zwecke der bei Rousseau nur depravierenden Zivilisation schließlich doch zum Besten ordnen. Insgeheim nämlich liege der Weltgeschichte durchaus ein „größerer Plan Gottes im Ganzen"17 zu1 8 grunde. Auch Lessing versucht wenig später den rousseauistischen Impuls für eine Theorie der Vervollkommnung und Erziehung des Menschengeschlechts zu retten und die im Zivilisationsgeschehen abgespaltenen Potentiale natürlicher Sittlichkeit und Solidarität auch und gerade innerhalb des Modernisierungsprozesses wieder zur Geltung zu bringen. 1 9 Geschichtsphilosophie, Kunst und ästhetische Erziehung sind fortan die bereits bei Lessing, Kant, Schiller und Hegel wechselweise ins Spiel gebrachten kompensatorischen und therapeutischen Antworten auf die Rousseausche Diagnose. 2 0 Wieland scheint mit der von ihm behaupteten Geselligkeit des homme naturel den Blick ebenfalls auf den trotz aller Zivilisationsschäden doch unzerstörbaren und fortdauernden ,Grundbestand' des Gattungswesens
16
J o h a n n G o t t f r i e d H e r d e r : S ä m m t l i c h e W e r k e . H r s g . v. B e r n h a r d 3 3 Bde. Berlin 1 8 7 7 - 9 9 ( f o r t a n : S W ) , Bd. 5 , S. 5 2 4 .
17
E b d . , S. 5 5 8 . Vgl. dazu Wilfried M a l s c h : H e r d e r s a m b i v a l e n t e Z i v i l i s a t i o n s k r i t i k an A u f k l ä r u n g und h i s t o r i s c h e m F o r t s c h r i t t . In: K u r t M u e l l e r - V o l l m e r ( H r s g . ) : H e r der Today. C o n t r i b u t i o n s f r o m the I n t e r n a t i o n a l H e r d e r C o n f e r e n c e 1 9 8 7 . Berlin/New Y o r k : de G r u y t e r 1 9 9 0 , S. 6 4 - 8 4 .
18
Suphan.
19
Vgl. Ulrich K r o n a u e r : R o u s s e a u s K u l t u r k r i t i k und die A u f g a b e der K u n s t . Z w e i Studien zur deutschen K u n s t t h e o r i e des 18. J a h r h u n d e r t s . H e i d e l b e r g : W i n t e r 1 9 7 8 . H a n s - J ü r g e n S c h i n g s : D e r mitleidigste M e n s c h ist der beste M e n s c h . Poetik des Mitleids von Lessing bis B ü c h n e r . M ü n c h e n : Fink 1 9 8 0 , S. 2 6 ff.
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Vgl. R ü d i g e r B u b n e r : R o u s s e a u , H e g e l und die D i a l e k t i k der A u f k l ä r u n g . In: J o c h e n S c h m i d t (Hrsg.): A u f k l ä r u n g und G e g e n a u f k l ä r u n g in der e u r o päischen Literatur, P h i l o s o p h i e und Politik von der A n t i k e bis zur G e g e n w a r t . D a r m s t a d t : W i s s e n s c h a f t l i c h e B u c h g e s e l l s c h a f t 1 9 8 9 , S. 4 0 4 - 4 2 0 .
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Mensch zu lenken. Sucht man jedoch nach geschichtsphilosophischen Thesen, mit denen Wieland die Diagnose Rousseaus in eine Vervollkommnungsperspektive umzuwandeln versucht, steht man alsbald vor einem Scherbenhaufen: einem Konglomerat unterschiedlichster theoretischer Ansätze. Zwar werden in Wielands Werken fast alle Geschichtstheorien des 18. Jahrhunderts referiert, die Widersprüchlichkeit der dabei meist nebeneinander aufgeführten Theorien erlaubt jedoch keinerlei Mutmaßungen über eine konsistente Theorie, vielmehr den Eindruck einer wenig durchdachten Zusammenstellung heterogenster Theoriefragmente. 2 1 Wielands Erzähler redet scheinbar einer verborgenen Teleologie der Zwecke das Wort, zu der sich — analog zum Ansatz Herders, Lessings und Kants 2 2 — die „Triebräder der moralischen Welt" (II, 221) insgeheim vereinigen. Wenige Jahre später allerdings — in einem den späteren Beyträgen hinzugefügten Aufsatz Über die vorgebliche Abnahme des menschlichen Geschlechts — unterstellt er der Menschheitsgeschichte eine „kreisförmige Bewegung, womit sich die menschlichen Dinge umwälzen" 2 3 (WG 14,327). Geschichtsphilosophische Paraphrase und traditionelles Zyklusdenken wechseln sich ab, ohne daß Wieland selbst eine Anstrengung unternähme, der Verwirrung entgegenzusteuern. Betrachtet man Wielands Romane, so scheinen sich diese Widersprüche unter dem Mantel der Fiktion um so mehr auszubreiten. In Der goldne Spiegel (1772) und der Geschichte des Philosophen Danischmend (1775) erörten die beteiligten Figuren überwiegend politische, moralische und geschichtsphilosophische Streitfragen, die fast alle Geschichtstheorien des 18. Jahrhunderts Revue passieren lassen. Der Philosoph Dani-
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Dies d ü r f t e auch das z u s a m m e n g e f a ß t e Ergebnis einer Reihe von Studien über Wielands Geschichtsauffassung sein: Vgl. Karl-Heinz Kausch: Das Kult u r p r o b l e m bei Wieland. Untersuchungen über den Z u s a m m e n h a n g von Problemstellung und Formgebung. Diss. Göttingen 1954, S. 112 ff. W o l f r a m Buddecke: C. M . Wielands Entwicklungsbegriff und die Geschichte des Agathon. Göttingen: Palaestra 1966, S. 129 ff. Dietrich N a u m a n n : Politik u n d M o r a l . Studien zur Utopie der deutschen A u f k l ä r u n g . Heidelberg: Winter 1971, S. 173 ff. Alfred E. Ratz: Freiheit des Individuums und Gesellschaftso r d n u n g bei Christoph Martin Wieland. Ein Beitrag zur Weimarer Klassik. B e r n / F r a n k f u r t : Lang 1974, S. 36 ff. Z u diesem „monistischen Ansatz der deutschen S p ä t a u f k l ä r u n g " vgl. Panajotis Kondylis: Die A u f k l ä r u n g im R a h m e n des neuzeitlichen Rationalismus. Stuttgart: Klett-Cotta 1981, S. 595 ff. Christoph M a r t i n Wieland: Sämmtliche Werke. H a m b u r g 1984. 39 Bde. u. 6 Supplementbände (Faksimiledruck der „Sämmtlichen Werke", Leipzig 1 7 9 4 - 1 8 1 1 ) (fortan: W G mit Band- u n d Seitenzahl), hier: Bd. 14, S. 327.
,Was nützen schielende Wahrheiten?"
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schmend, der — rousseauistisch — an das ursprünglich Gute im Menschen glaubt 2 4 , wird in der Praxis zwar ständig widerlegt; seinen redegewandten Widersachern — insbesondere dem kynischen Philosophen „Kalender" in der Geschichte des Danischmend — wird dabei jedoch nicht recht gegeben. Statt dessen verweist Danischmend auf die Relativität der eingenommenen Perspektiven: „Aber [...] wir können und sollen nicht alle durch ein und eben dasselbe Schlüsselloch in die Welt gucken." 2 5 Wielands Kritik der Geschichtsphilosophie gründet sich nicht selten auf ältere Formen des historischen Denkens, auf den Topos der historia magistra vitae etwa, mit dem der geschichtliche Raum als Ensemble lebenspraktischer exempla bestimmt wird. 2 6 In einem ersten Schritt entlarvt Wieland die zu seiner Zeit diesen Topos gerade in Frage stellenden Geschichtstheorien ihrerseits als künstliche Hypothesen, die kaum imstande sind, die Vielfalt des geschichtlichen Geschehens unter eine vereinheitlichende Perspektive zu bringen. Als der „Kalender" eine zynische Theorie über die Sinnlosigkeit aller Geschichte mit der Berufung auf die historischen Katastrophen und realgeschichtlichen Fakten zu belegen sucht, antwortet Danischmend: Facta sind alles, was man daraus machen will [...]: aus jedem neuen Augenpunkte scheinen sie etwas anders; und in zehn Fällen gegen Einen ist das vermeinte Faktum, worauf man mit großer Zuversicht seine Meinung gestützt hatte, im Grund eine bloße Hypothese.
Eine Fußnote des Herausgebers ordnet Danischmends Aussage sofort in die zeitgenössische Diskussion der Geschichtstheoretiker ein: „ c o n f . alle die beredten, scharfsinnigen und wohlmeinenden Herren, welche Versuche über die Geschichte der Menschheit geschrieben haben, von Iselin
bis Home inclusive."
(WG 8, 103)
In einem zweiten Schritt prüft Wieland nicht die Richtigkeit dieser Hypothesen, sondern stellt den Prozeß der Hypothesen-Bildung in den
Mittelpunkt. In den Betrachtungen
über J. J. Rousseaus
ursprünglichen
Zustand des Menschen etwa beschreibt Wieland die Geschichte der rousseauschen Theoriebildung: Rousseau wird als Pariser „ P h i l o s o p h im siebenten Stockwerke" vorgestellt, der das „Schauspiel" der großstädt-
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W G 6, S. 295 ff. W G 8, S. 126 ff. W G 8, S. 128. Reinhart Koselleck: Historia Magistra Vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte. In: Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1979, S. 3 8 - 6 6 .
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ischen Zivilisation, den „Anblick der ausschweifendsten Üppigkeit und zügellosesten Verderbnis der Sitten in einer von den Hauptstädten Europens" (II, 13) vor Augen gehabt habe: der t r a u r i g m a c h e n d e A n b l i c k eines u n t e r d r ü c k t e n Volkes und dem Besten der K ö n i g e ist sehr g e s c h i c k t , den B e t r a c h t u n g e n , welche der b e s a g t e phil o s o p h i s c h e Z u s c h a u e r über unsre Verfassungen, K ü n s t e und W i s s e n s c h a f ten anstellen k a n n , eine s o l c h e S t ä r k e zu geben [ . . . ] d a ß m a n nichts anders n ö t h i g h a t , u m zu begreifen, wie dieser P h i l o s o p h , mit einer enthusiastischen E i n b i l d u n g s k r a f t und einer m ä ß i g e n D o s i s M e n s c h e n l i e b e a u f den Einfall k o m m e n k o n n t e : ,Es w ü r d e diesem V o l k e besser seyn, gar keine G e s e t z e , K ü n s t e und W i s s e n s c h a f t e n zu h a b e n . ' (II, 14)
Wieland erprobt hier ein Verfahren, welches in der deutschen RousseauKritik nicht gerade selten praktiziert wurde: Dem Kulturkritiker wird persönliches Ressentiment unterstellt, die Zivilisationskritik einem bösartigen oder melancholischen Gemüt zugeschrieben. 27 Wieland allerdings macht die Gegenrechnung auf und münzt dieses fragwürdige Argument auch hier keineswegs zu einer Verteidigung des zivilisatorischen Fortschritts um. Noch bevor er Rousseaus Argumente aufzählt, stellt er ihnen Voltaire, den „ P h i l o s o p h zu Ferney" gegenüber, dessen Zivilisationslob einer ebenso verborgenen Disposition entstammt: Voltaire als Antipode Rousseaus könne die Pariser „Laster" wohl nur dann „so leicht verzeihen", „wenn er das Glück gehabt habe wohl zu verdauen" und imstande sei, den Blick auf die moderne Welt nicht aus der Armenwohnung, sondern „aus seinem kleinen bezauberten Schlosse" (WG 14,127) zu genießen. Sowohl die Umwandlung geschichtsphilosophischer Tatsachen in Hypothesen als auch die Rückführung geschichtsphilosophischer Theorien in die existentiellen und sozialen Umstände der erzählenden Figuren basiert auf traditionellen Vorgehensweisen der Historiographie (historia magistra vitae) und der Rhetorik (circumstantiae orationis), die ihrerseits ein invariantes Ensemble anthropologischer Gesetzmäßigkeiten voraussetzen. Wielands Texte stellen Geschichtstheorien und die „Hypothesen" Rousseaus nebeneinander, ohne sich auf eine Diskussion über deren normative Richtigkeit eigentlich einzulassen. Statt dessen werden — mit einem Begriff Jean-Franfois Lyotards — die innovativen „Meta-Erzählungen" des 18. Jahrhunderts gleichsam aufgereiht und hinsichtlich ihrer Entstehung, der Voraussetzungen ihrer Erzählbarkeit und ihrer anthropologischen Annahmen geprüft. Diese „empirisch-anthropologische Me-
27
S ü ß e n b e r g e r : R o u s s e a u im Urteil, S. 115 ff., S. 2 0 5 ff.
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takritik" verschiebt dabei ständig die Problemlage von normativen Wahrheitsansprüchen hin zu grundlegenderen, empirischen Kausalitäten und anthropologischen Gesetzmäßigkeiten. 2 8 Allerdings ist dieses Verfahren ständig dazu gezwungen, die anthropologisch gesicherten , G r u n d lagen' der eigenen A r g u m e n t a t i o n und des eigenen Verfahrens anzugeben — oder auch nicht. Einer der ersten Kritiker der Beyträge, Heinrich Wilhelm von Gerstenberg, hat vermutlich so unrecht nicht, w e n n er moniert, d a ß sich der Verfasser „mit so klaren Worten widerspricht, d a ß wir zu seiner Ehre lieber glauben wollen, er habe sich n u r nicht bestimmt und deutlich genug d a r ü b e r a u s g e d r ü c k t " 2 9 . Die W i d e r s p r ü c h e in den Beyträgen und R o m a n e n Wielands leiden indes nicht an einer rhetorisch mangelhaften obscuritas, sondern haben Methode: Sie ziehen nämlich auch jene anthropologischen G r u n d a n n a h m e n in Zweifel, von denen aus sich die Metakritik der herrschenden Theorien noch lancieren ließe. In dem von Gerstenberg beobachteten „beständigen Schwanken der G r u n d sätze", die „bald zu diesem bald zu jenem System h e r u m g e t r i e b e n " werden, lösen sich nicht n u r die Spekulationen und Projektionen auf — allein übrig bleibt ein „Skepticus, ein M a n n , der die Wahrheit zu finden verzweifelt, und sein Urtheil über alle Dinge in der Welt s u s p e n d i r t " . 3 0 Die Dunkelheit der Rede und die Suspension der Urteile sind offensichtlich nicht nur gesucht, sie ziehen auch jenes anthropologische Wissen in Zweifel, mit dem Rousseau und Rousseau-Gegner ihre Argumentation bestreiten. Schon Rousseaus „offene A n t h r o p o l o g i e " 3 1 setzte der Statik naturgesetzlicher A n n a h m e n über den zivilisatorisch erreichten Stand des Menschen die unkontrollierbare U n b e s t i m m b a r k e i t der menschlichen N a t u r gegenüber: Die „Perfektibilität" (II, 22) oder — wie Wieland später übersetzt — die „Vervollkommlichkeit" 3 2 beschreibt lediglich eine bestimmte Fähigkeit des homme naturel, kein kausal bedingtes Schema eines geradlinigen Fortschritts. Nicht nur die geschichtsphilosophische U m d e u t u n g der perfectibilite in eine p l a n m ä ß i g e „Vervollk o m m n u n g " , sondern auch die rousseauistischen Interpreten Rousseaus,
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Herbert J a u m a n n hat dies an einem Beispiel aus den politischen Schriften Wielands zum ersten Mal untersucht: Politische Vernunft, anthropologischer Vorbehalt, dichterische Fiktion. Z u Wielands Kritik des Politischen. In: M L N 99 (1984), S. 4 6 1 - 4 7 9 , hier S. 474. Heinrich Wilhelm von Gerstenberg: Rezensionen in der H a m b u r g i s c h e n Neuen Z e i t u n g 1 7 6 7 - 1 7 7 1 . Hrsg. v. O. Fischer. Berlin: Behr 1904, S. 391. Ebd., S. 390. Bubner: Rousseau, S. 406. W G 14, 133.
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allen voran die deutschen Stürmer und Dränger, haben die Rousseausche Unbestimmbarkeit erneut in klare Bestimmungen über die verlorene und wiederzugewinnende Natur des Menschen verwandelt. 3 3 Wieland persifliert 1770 deshalb immer auch die deutsche Rousseau-Rezeption, deren Deutlichkeit und deren Urteile er in das Zwielicht ungesicherter Hypothesen zurücklenken will. Schon Rousseaus eigene Ansichten über die Natur des Menschen sind durchaus zweideutig und bleiben selbst ausdrücklich hypothetisch. Der etat de nature ist eine methodische Grundannahme, die es erlaubt, den — einzig bekannten — gesellschaftlichen Status des Menschen in Distanz zu rücken und einer Prüfung zu unterziehen: „un etat qui n'existe plus, qui n'a peut-etre point existe, qui probablement n'existera jamais." 3 4 Wielands Polemik richtet sich deshalb besonders gegen jenen rousseauistischen „ M o d e t o n " (WG 14, 333), der Rousseaus „Hypothesen" in einen unbezweifelten Kanon anthropologischer ,Wahrheiten' überführt und die Rückkehr zum Ursprung als in Zukunft zu leistende Aufgabe propagiert. Rousseau jedoch hatte den Weg dazu gewiesen: So wie er die Übel der Zivilisationsgeschichte beschwört und mit immer neuen Details auflistet, so scheinbar genau — historiographisch und ethnologisch — bringt er auch jenen έίαί de nature zur Darstellung, der sich als illustratives Erinnerungsbild über die Katastrophe der Geschichte erheben soll. Wielands Auseinandersetzung mit Rousseau ist infolgedessen eine Debatte auch um die Grenzen einer Anthropologie, die ständig neue anthropologische Fakten suggerieren muß, um ihre „Hypothesen" zu belegen. 3 5 Von der Frage, ob Rousseau die abendländische Zivilisation zu Recht kritisiert, ob seine Diagnose geschichtsphilosophisch überboten oder mit realutopischen Fluchtphantasien fortgesetzt werden kann, von dem Streit also über die eigentliche wahre Natur des Menschen, verlagert sich Wielands Rousseaus-Kritik deshalb auf das Problem, wie die zur 33
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Vgl. Ursula Link-Heer: Facetten des Rousseauismus. Mit einer Auswahlbibliographie zu seiner Geschichte. In: H e l m u t Kreuzer/Ursula Link-Heer (Hrsg.): Rousseau und Rousseauismus. Zeitschrift f ü r Literaturwissenschaft und Linguistik 63. Göttingen: Vandenhoeck 1986, S. 127—156. Jean-Jacques Rousseau: Schriften zur Kulturkritik, S. 66. Z u r Fiktionalität des N a t u r z u s t a n d e s vgl. auch Jean Starobinski: Jean-Jacques Rousseau: La transparence et l'obstacle, suivi de sept essais sur Rousseau. Paris: Gallimard 1971, S. 330 ff. Vgl. dazu G ü n t e r Figal: Die R e k o n s t r u k t i o n der menschlichen Natur. Z u m Begriff des Naturzustandes in Rousseaus „Zweitem Diskurs". In: Neue H e f t e für Philosophie 29 (1989), S. 2 4 - 3 8 , bes. S. 31 f.
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Kulturkritik erforderlichen Erkenntnisse über den Menschen eigentlich zu gewinnen sind. Statt der anthropologischen Grundlagen und der geschichtsphilosophischen Konsequenzen rücken dabei die ethnologischen und hermeneutischen Bedingungen in den Vordergrund, die Rousseaus Verfahrensweise und die Polyvalenz seiner T h e o r e m e erst ermöglicht haben.
II. „Aus den Archiven der Natur gezogen": Die unmögliche „Identifikation mit dem Anderen" (Levi-Strauss) Wielands Beyträge beginnen mit der Geschichte von Koxkox und Kikequetzel. Später erhält sie den Untertitel Ein Beytrag zur Naturgeschichte des sittlichen Menschen: ein Hinweis auf das kulturtheoretische Prog r a m m der Beyträge wie auch auf den C h a r a k t e r der ersten Beispielgeschichte, in der Rousseaus Grenzziehung zwischen etat de nature und Gesellschaft auf dem Prüfstand steht. Am A n f a n g der Geschichte stehen Probleme der Überlieferung und der Interpretation. Die Erzählung von dem jungen mexikanischen Paar, das nach einer Sintflut allein überlebt und offenbar den Beginn einer natürlichen Gesellschaft einleitet, stützt sich auf eine „alte Mexicanische Tradition" (I, 17), die vom verhängnisvollen Kampf eines Kometen mit der Erde handelt. Der M y t h o s erinnert an die biblische Sintflut, die der Erzähler sogleich ins Feld f ü h r t , allerdings mit der Stimme der persiflierten theologischen Autoritäten: Hüet und seines gleichen würden kein Bedenken tragen, uns zu versichern, d a ß diese Tradition nichts anders als eine durch die Länge der Zeit abgenutzte, und, nach G e w o h n h e i t der Heiden, mit Fabeln wieder unterlegte und ausgeflickte Nachricht von der allgemeinen Sündflut sey. (I, 19 f.)
Die der Erzählung Koxkox und Kikequetzel vorangestellte Ursprungsgeschichte gerät in einen Streit der Auslegung, in der zwei „Fabeln" miteinander konkurrieren. Der Erzähler zieht sich scheinbar aus der D e b a t t e zurück, unterläßt es unmittelbar d a n a c h jedoch nicht, die theologische Auslegung durch eine moderne historiographische Interpretation noch einmal zu überbieten. Es k ö n n e sich bei der N a t u r k a t a s t r o p h e auch u m eine „Mexicanische U e b e r s c h w e m m u n g " gehandelt haben, die „nur partikular gewesen" und historisch „später erfolgt" sei als die biblische. Das Auslegungsproblem dieses ersten Kapitels der Erzählung f ü h r t zu dem
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Ergebnis, d a ß „sich in dieser Sache nichts bestimmen läßt" und die zugrundeliegende Frage „einem jeden, der sich ihrer a n n e h m e n will," überlassen wird (II, 20). Gleichwohl improvisiert die Wielandsche O u v e r t ü r e nur scheinbar und weist statt dessen auf das zentrale T h e m a und das kontinuierlich fortgesetzte Verfahren der gesamten Beyträge. Wielands Erzähler erzählt nicht eine einzelne „Naturgeschichte des sittlichen Menschen", er reflektiert über die Auslegungsversuche einer bereits erzählten bzw. auf verschiedene Weise erzählten Geschichte. Die Wielandsche A n t w o r t auf Rousseau zielt nicht auf eine Widerlegung, sondern auf die Bedingungen der Möglichkeit, jene Geschichte zu erzählen, die Rousseau seinen Lesern in Aussicht stellte: „ O h o m m e , [...] ecoute: voici ton histoire, telle que j'ai cru la lire, non dans les livres de tes semblables, qui sont menteurs, mais dans la nature, qui ne ment jamais." Der Topos vom Buch der Natur verwandelt sich bei Rousseau von der Erkenntnis statischer unabänderlicher Gesetze in die narrative R e k o n s t r u k t i o n einer Menschheitsgeschichte, an der sich Ursprung und Schicksal der menschlichen N a t u r ablesen lassen: „C'est, pour ainsi dire, la vie de ton espece que je te vais decrire [...]." „Lesen" und „Beschreiben", „lire" und „decrire", konstituieren einen gleichsam autobiographischen Verstehensprozeß, an dessen Ende der Mensch sich selbst erkennen soll. Die von Rousseau folglich erzählte „Biographie der G a t t u n g " beruht zwar auf dem Konzept der Zeit, k a n n sich gleichwohl nicht auf die „verites historiques" berufen, sondern konstruiert „des raisonnements hypothetiques et conditionnels". 3 6 Rousseau verläßt die G a t t u n g der bloßen Historiographie, um eine hypothetische, nicht an den Fakten zu ü b e r p r ü f e n d e „histoire" zu erzählen. Diese gleichsam fiktive Geschichte läßt sich allerdings auch nicht in eine Geschichtsphilosophie übersetzen, da ihre Verlaufsform ausschließlich dem Zufall — „par quelque funeste h a s a r d " 3 7 — zu verdanken ist. Die singulare und zufällig in G a n g gesetzte Geschichte — „la vie de ton espece" — hilft nicht das Ziel der Menschheit zu bestimmen, sondern ihre im Verlauf der Zivilisationsgeschichte verlorene N a t u r zu entziffern — das Andere der Zivilisation, mit deren Untersuchung Rousseau das P r o g r a m m der Ethnologie vorwegnimmt.38
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Rousseau: Schriften zur Kulturkritik, S. 80. Ebd., S. 208. Vgl. Claude Levi-Strauss: Jean-Jacques Rousseau, Begründer der Wissenschaften vom Menschen. In: Claude Levi-Strauss: Strukturale Anthropologie II. F r a n k f u r t / M . : Suhrkamp 1975, S. 4 5 - 5 6 .
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Aus „Mangel zuverläßiger chronologischer Nachrichten" (I, 20) lasse sich die „mexicanische Ueberschwemmung" nicht als historische Tatsache nachweisen: Mit dieser Notiz führt der Erzähler von Koxkox und Kikequetzel in das Feld der historischen Hypothesen und hermeneutischen Auslegungsversuche, mit denen sich die Gattungsgeschichte des Menschen rekonstruieren ließe. Während Huet den Sageninhalt typologisch liest und auf die entstellte Version der wahren Schöpfungsgeschichte zurückbuchstabiert, öffnet die These der „partikularen" und später zu datierenden Naturkatastrophe den Raum einer historischen Zeit, deren Lesbarkeit und Überprüfbarkeit offen und unsicher bleibt. Wieland also wendet das „Rousseausche Problem" (I, 203), wie nämlich „zu einer zuverläßigen Kenntniß des natürlichen Menschen zu gelangen" (I, 201 f.) sei, schon hier in eine Frage der Hermeneutik, zu der er die zu seiner Zeit gängigen allegorischen, rhetorischen und historiographischen Verfahrensweisen zitiert. 39 Ein zweiter Weg Rousseaus, sich dem Anderen der menschlichen Zivilisation zu nähern, führt über den ethnographischen Diskurs der Reiseschriftsteller, die sich im 18. Jahrhundert, sofern sie Europa verlassen, fast immer auch als philosophische Zeitreisende begreifen. 4 0 Auch hier kritisiert Rousseau — ähnlich wie im Falle der Geschichtsschreibung — die Ergebnisse der aufklärerischen Reisebeschreibungen seiner Zeit, in denen die divergenten und heterogenen Einzelbeobachtungen nicht gebündelt und für die „connaissances universelles" 41 einer Kulturtheorie fruchtbar gemacht werden: „Les particuliers ont beau aller et venir, il semble que la philosophic ne voyage point [,..]." 4 2 Gegen die Vielfalt der historiographischen und ethnographischen Zeugnisse also drängt Rousseau auf die Einheit eines anthropologischen Modells, das nichtsde39
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Vgl. M a n f r e d Beetz: Nachgeholte H e r m e n e u t i k . Z u m Verhältnis von Interpretations- und Logiklehren in Barock und A u f k l ä r u n g . In: DVjS 55 (1981), S. 591 — 628. Werner Alexander: Hermeneutica Generalis. Z u r Konzeption und Entwicklung der allgemeinen Verstehenslehre im 17. und 18. J a h r h u n dert. Stuttgart: Metzler 1993. Johannes Fabian: T i m e and the Other. H o w a n t h r o p o l o g y makes its object, New York: C o l u m b i a University Press 1983. Ein Überblick über die A n f ä n g e der Ethnologie im 18. J a h r h u n d e r t bei Urs Bitterli: Die Überseebewohner im europäischen Bewußtsein der Aufklärungszeit. In: Friedrich Engel-Janosi, Grete Klingenstein, Heinrich Lutz (Hrsg.): Fürst, Bürger, Mensch. Untersuchungen zu politischen und soziokulturellen Wandlungsprozessen im vorrevolutionären E u r o p a . M ü n c h e n : O l d e n b o u r g 1975, S. 186 — 214. Rousseau: Schriften zur Kulturkritik, S. 132. Ebd., S. 130.
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stoweniger erst aus der räumlichen und zeitlichen Ferne zu erkennen ist: in einer hypothetischen Rekonstruktion der universellen menschlichen Natur. „Quand on veut etudier les hommes, il faut regarder pres de soi, mais, pour etudier l'homme, il faut apprendre a porter sa vue au loin; il faut d'abord observer les differences, pour decouvrir les proprietes." 4 3 Claude Levi-Strauss, der diese Stelle bei Rousseau zustimmend zitiert und emphatisch für die ethnologische Tradition reklamiert 4 4 , hat den Kernpunkt des Rousseauschen Denkens als eine „Identifikation mit dem Anderen" 4 5 bestimmt. Rousseaus doppelte Blickrichtung auf den Ursprung des Menschen in der Geschichte und auf die Ferne der ethnographisch bezeugten Natur gründet in der Intuition, das Eigene der abendländischen Herkunft und Bestimmung durch den Blick auf das Fremde wegzurücken und zu relativieren. 46 Wielands Rekonstruktion der mexikanischen „Naturgeschichte" ist eine Reflexion und Auslegung dieses identifikatorischen Prozesses. Schon zu Beginn benennt der Erzähler jene Wissensbereiche, Geschichtsschreibung, Reiseberichte, Ethnologie, mit denen Rousseau die gesamte Argumentation seines zweiten discours begleitet. Die „armen Einwohner von Neuholland" stehen für Wieland sogleich für einen Vergleich mit dem Helden Koxkox bereit — unter einem Vorbehalt freilich: „wenn wir so gut seyn wollen, es den Reisebeschreibern zu glauben." (I, 21) Um im folgenden das Alter des Helden zu bestimmen und sein wundersames Überleben erklären zu können, werden erneut die verschiedenen Interpretationsversuche übereinandergeblendet: „Man weiß nicht wie es zugegangen" (I, 22), gesteht der Erzähler ein, behilft sich aber mit der Überlegung, ob es nicht opportun sei, auf die „Chronikenschreiber des achten und etlicher folgender Jahrhunderte" zurückzugreifen, nämlich „Wunder auf einander zu häufen". Der Gegenstand sei es jedoch nicht wert, ausgeführt zu werden: Den Leser brauche diese Art der „Entwicklungen" — „welche, im Grunde, in der That keine Entwicklungen sind" (I, 23) — vor dem eigentlichen Beginn der Geschichte gar nicht zu interessieren. Zwar ist mit dem Stichwort „Entwicklung" der Weg zur ,modernen' historiographischen Erklärung scheinbar wieder geebnet; gleichzeitig jedoch entfaltet nun die Geschichte von Koxkox und Kikequetzel genau 43
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Jean-Jacques Rousseau: Essai sur l'origine des langues. CEuvres Completes. T o m e I. Paris 1909, S. 384. Levi-Strauss: Rousseau, S . 4 6 f . Ebd., S. 51. Vgl. Ursula Link-Heer: Facetten des Rousseauismus, S. 152 f.
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jene Schwierigkeiten, die mit der hypothetischen R e k o n s t r u k t i o n der „Naturgeschichte" u n t r e n n b a r verbunden sind. Wieland inszeniert den Blick auf das Fremde als ethnographische Persiflage. Sie beginnt mit einem Zitat des mexikanischen Philosophen „ T l a n t l a q u a k a p a t l i " , der zum Z e i t p u n k t der Begegnung von K o x k o x mit Kikequetzel das Alter des M a n n e s auf „achtzehn Jahre, drey M o n a t e und einige Tage, Stunden, M i n u t e n und Secunden" (I, 44) festsetzt. Was folgt, ist eine Chronologie möglicher Auslegungen jenes Zustandes, in d e m K o x k o x mit Kikequetzel die Schwelle vom mexikanischen 0tat de nature zur Gesellschaft des ersten Paares überschreitet. Ein gewisser „Cornaro" f ü h r e „in seinem bekannten Buche von den Mitteln alt zu w e r d e n " (I, 45) die Gesundheit des Koxkox auf sein einfaches Leben zurück. Mit d e m „göttlichen Hippocrates" (27) lasse sich das Befinden des K o x k o x mit der gut f u n k t i o nierenden „Secretion seiner Säfte" (27) erklären; in den „Compendiis der modernen M e t a p h y s i k " (27) sei nachzulesen, d a ß „seine Sinnen und sinnliche Werkzeuge" in diesem M o m e n t „zum e m p f i n d e n " äußerst bereit gewesen seien; die eben eingenommene „Mahlzeit" k ö n n e sich „nach Boerhaaven und allen die er abgeschrieben und die ihn abgeschrieben h a b e n " (27) nur äußerst positiv ausgewirkt haben; auf die zur näheren Bestimmung nützliche Angabe der L u f t t e m p e r a t u r müsse „aus Mangel eines Keaumürschen oder irgend eines andern T h e r m o m e t e r s " (28) leider verzichtet werden. Es lohnt sich, die karnevaleske Satire 4 7 auf den komme naturel e t w a s genauer anzusehen. Die Reihe der nacheinander zitierten Autoritäten mißt den zeitlichen Abstand aus, der G e g e n w a r t und hypothetisch rekonstruierte Vergangenheit voneinander trennt. Das ethnographische O b j e k t wird verfremdet, u m die Bedingungen des ethnographischen Schreibens bloßzulegen: Die Authentizität des imaginierten bon sauvage wird in Frage gestellt; der oft verschleierte Zeitenabstand ethnologischer Projektionen markiert statt dessen die Künstlichkeit des rekonstruierten komme naturel; der Blick in die Ferne, „la vue au loin", offenbart die Unmöglichkeit, den eigenen S t a n d p u n k t und das eigene Wissen aufzugeben, um sich dem O r t des Fremden mimetisch a n z u n ä h e r n . Rousseau bestimmt die „perfectibilite", „cette faculte distinctive et presque i 1 Ii— mite", als Ursache eines fatalen Unterschieds zwischen etat de nature
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Nach Michail M . Bachtin: Literatur und Karneval. Z u r R o m a n t h e o r i e und Lachkultur. M ü n c h e n : H a n s e r 1969. Z u Wieland und Bachtin vgl. Wolfgang Preisendanz: Die M u s e Belesenheit: Transtextualität in Wielands „ N e u e m Amadis". In: M L N 99 (1984), S. 5 3 9 - 5 5 3 .
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und Zivilisation, „la source de tous les malheurs de l ' h o m m e " , einer Kluft, die erst d u r c h die „ Z e i t " aufgerissen wird und den Menschen aus seiner „Unschuld" vertreibt: c'est eile qui le tire, ä force de temps, de cette condition originaire dans laquelle il coulerait des jours transquilles et innocents." 4 8 Wieland will die Vergeblichkeit, diesen Ursprung überh a u p t erkennen zu können, satirisch bloßlegen: Je näher die Bestimmungsverfahren ihrem Gegenstand zu k o m m e n suchen, desto mehr weicht die Ursprünglichkeit zurück. Wie Wielands Erzähler im Untertitel der Beyträge und nochmals in der Einleitung betont, habe er das Wissen seiner Essays „aus den Archiven der N a t u r gezogen" (I, 13). Schon die mexikanische Ursprungsgeschichte mißt den Doppelsinn einer archivierten N a t u r aus, deren Erkenntnis niemals direkt, sondern über die Verfahrensweisen einer zivilisatorischen Archäologie erfolgt. Das Verständnis des N a t u r k i n d e s K o x k o x benötigt die „Calculierung der Ursachen und W ü r k u n g e n der menschlichen Leidenschaften" (I, 48); der Übergang von der bloßen N a t u r in den mexikanischen Gesellschaftszustand ist umstellt von den Interpretationen moderner Sachverständiger', die eine sich selbst o f f e n b a r e n d e Natur immer mehr in Abrede stellen. Indem Wieland gewissermaßen das hermeneutische Verfahren aufdeckt, mit d e m die Vorstellung der „condition originaire" produziert wird, enthüllt er nicht nur die geheimen Strategien ethnologischer Unmittelbarkeit 4 9 , sondern verhindert zugleich jene „Identifikation mit dem Anderen", die Rousseaus Zivilisationskritik initiiert und motiviert. Während Rousseau die Zeichen der Zivilisation als Verfallssymptome deutet, deren er sich verweigert, um sich zugleich den Signalen des Anderen anheimzugeben, f ü h r t Wieland die Signifikate des Natürlichen und Ursprünglichen auf ihren künstlichen Zeichencharakter zurück. Die Imagination des bon sauvage und des etat de nature bedient sich demzufolge genau jener Kategorien, die, statt zu der ursprünglichen Wahrheit hinzuführen, das vorgestellte O b j e k t der zivilisationsmüden Begierde stets weiter entfernen. D a ß der Ursprung sich den Auslegungsversuchen entzieht und statt dessen ständig neue, dem Ursprung immer schon wieder nachfolgende Verfallsstadien zum Vorschein bringt, mag der geheime dekonstruktive Gestus der Rousseauschen Texte selbst sein. 5 0 Schon Wie48 49
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Rousseau: Schriften zur Kulturkritik, S. 108. Dazu aus heutiger Sicht: J a m e s Clifford: O n Ethnographie Authority. In: Representations 1 (1983), S. 1 1 8 - 1 4 6 . Vgl. Jacques Derrida: G r a m m a t o l o g i e . F r a n k f u r t / M . : S u h r k a m p 1974, S. 416 ff. Paul de Man: T h e Rhetoric of Blindness: Jacques Derrida's Reading of Rousseau. In: Paul de M a n : Blindness and Insight. Essays in the Rhetoric
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land jedoch enthüllt die Ursprungsszene des N a t u r z u s t a n d e s als den vergeblichen Versuch, ein „ f u n d a m e n t a l e s Signifikat" 5 1 der Kulturkritik — die Natur, die unmittelbare Präsenz des Gattungswesens Mensch, die H a r m o n i e des Ursprungs — freizulegen. Die Beyträge benützen deshalb die rousseauschen Hypothesen wie die zeitgenössischen Rousseau-Widerlegungen gleichermaßen als oberflächliches Material eines diskurskritischen Spiels, in dem es um die Entlarvung der ungesicherten Voraussetzungen anthropologischer Diskurse geht. N a c h d e m Wielands Koxkox und Kikequetzel die Bedingungen der kulturkritischen Vergegenwärtigung und Aneignung des Anderen in Frage gestellt hat, geht die zweite Erzählung der Beyträge den umgekehrten Weg: Die Reise des Priesters Abulfauaris ins innere Afrika verfolgt das Unternehmen der Kolonisatoren, die das Fremde dem Eigenen zu unterwerfen und das N a t u r v o l k zu assimilieren suchen. Die Mission des ägyptischen Priesters Abulfauaris besteht in der Ausbreitung der Religion und der Sittlichkeit, als deren ersten Schritt er die Bekleidung der nackten Wilden anordnet. Der ägyptische „ O b e r a u f s e h e r der Finanzen" sieht zu diesem Z w e c k eine „vortreffliche Gelegenheit" (I, 109), die Textilindustrie des Landes zur H a u p t e i n n a h m e q u e l l e der Staatsfinanzen umzufunktionieren. Abulfauaris wiederum erkennt in d e m zunächst nicht einkalkulierten „politischen N u t z e n " (I, 110) seiner Reise eine segensreiche Voraussicht der Götter: Religiöse Mission und „ ö k o n o m i s c h e Absichten" (I, 110) gehen H a n d in H a n d . 5 2 Die Bekleidung und mit ihr die Entstehung der zivilisatorischen Übel Neid, Mißgunst, Eitelkeit und Verstellung führen bei dem afrikanischen Naturvolk zwangsläufig zum Verlust der „Unschuld" (1, 116). Die literarische Strategie folgt zunächst scheinbar einem etablierten rousseauistischen Muster: Die Differenz zwischen missionierender Zivilisation u n d z u r ü c k g e b l i e b e n e m ' N a t u r v o l k führt die zerstörten letzten Enklaven der „condition originaire" vor Augen. Die Imitation des rousseauistischen Diskurses f ü h r t jedoch auch hier zu einer kritischen Reflexion der Bedingungen, von denen die „Identifikation mit dem A n d e r e n " ihren Ausgang g e n o m m e n hatte. Der Kolonialsatire sind Die Bekenntnisse des Abulfauaris „auf fünf P a l m b l ä t t e r n " beigefügt, in denen ein dritter G r u n d für die Kolonialisierung — neben
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of C o n t e m p o r a r y Criticism. New York: O x f o r d University Press 1971, S. 1 0 2 - 1 4 1 . Derrida: G r a m m a t o l o g i e , S. 456. Ein Muster fast aller frühen abendländischen Kolonisationen: vgl. Tzvetan Todorov: Die E r o b e r u n g Amerikas. Das Problem des Anderen. F r a n k f u r t / M . : S u h r k a m p 1985, S. 58 ff.
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Religion und Politik — zum Vorschein kommt: Abulfauaris betreibt zwar mit Vorsatz den doppelten offiziellen Zweck seiner Reise; erst als er sich aber leidenschaftlich für eine Eingeborene, die „schöne Mazulipa" (1, 166), zu interessieren beginnt, ist der Entschluß zu dem „großen Entwurf der Metamorphose meiner Negern" (15,58) endgültig motiviert. Die autobiographischen Palmblätter jedoch sind dem Leser erst post festum zugänglich; der „geheime Beweggrund" (I, 71) des Abulfauaris war während des Geschehens sogar dem Priester selbst verborgen. Die Auseinandersetzung mit dem Anderen der Zivilisation wird erneut eine Stufe tiefer gelegt: Statt Assimilation und Zerstörung zu vollenden, verwandelt sich die Reise zu den Kolonialvölkern in eine Reise zu den unentdeckten Bereichen des zivilisierten Subjekts. Auch hier läßt sich die Umkehrung der Geschichte von Koxkox und Kikequetzel beobachten: Während dort die vorgebliche Nähe des Objekts des guten Wilden in die ethnographische Distanz gerückt wird, entdeckt der Kolonisator Abulfauaris das Fremde, das er zuvor nur in der Distanz des zu assimilierenden Objekts wahrgenommen hat, in sich selbst. Aber, ach! wer kennt, eh' ihn seine eigene Erfahrung belehrt hat, alle die geheimen Winkel des Herzens, in deren sicherm Hinterhalte die versteckte Leidenschaft, indessen wir von Triumphen träumen, auf Gelegenheiten lauert, uns ungewarnt und unbewaffnet mit verdoppelter Wuth zu überfallen? (I, 171)
Nicht von ungefähr übernimmt die Rede des Priesters über die unbewußten Gefahren im eigenen Ich die militärische Sprache der Kolonisation. Sowohl die Kolonisation als auch die rousseauistische Zivilisationskritik operiert mit den Oppositionen von Kultur und Natur, gut und böse, Gleichheit und Ungleichheit. 5 3 Verlagern sich ihre Schauplätze hingegen in das Innere des Kolonisators und des Zivilisationskritikers, so verwandeln sich die Projektionen der entgegengesetzten Wertbereiche in Spiele der Einbildungskraft, deren Oppositionen im Innern der wertenden Subjekte zu Hause sind. Die „Naturgeschichte" von Koxkox und Kikequetzel ironisiert die künstliche Authentizität des ethnographischen Schreibens 5 4 , die Reise des Abulfauaris karikiert die Selbstgenügsamkeit einer ethnologischen Praxis, die das Fremde immer nur nach außen verlagert. 5 5 Wielands Beispiel des Abulfauaris zielt vielleicht auch auf die
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Ebd., S. 177 ff. Dazu jetzt: Clifford Geertz: Die künstlichen Wilden. Der Anthropologe als Schriftsteller. Frankfurt/M.: Fischer 1993. Eine moderne Reflexion über das ,Fremde in uns selbst': Julia Kristeva: Fremde sind wir uns selbst. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1990.
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Person des Kulturkritikers Rousseau, der sich selbst als Enklave der historisch verlorenen Natur zu stilisieren versucht: Die verschwundene Transparenz des mit sich selbst zerfallenen Gattungswesens soll im Innern der einsamen Phantasie auferstehen. 5 6 Abulfauaris, der die „geheimen Winkel des Herzens" entdeckt, lenkt den nach außen verlagerten Widerspruch wieder in die Innenwelt des Subjekts zurück und zeugt von der Unmöglichkeit der Transparenz auch in der scheinbaren Unversehrtheit der privaten Identität. Wielands ironische Variationen über ethnologisches Schreiben und ethnologische Praxis rekonstruieren demnach die Voraussetzungen, unter denen der Blick auf das der Zivilisation Fremde gleichsam erst funktioniert. So wie im Bild des homme naturel die unaufhebbare Differenz zwischen dem Fremden und dem Eigenen eliminiert und die künstliche Konstruktion der Authentizität verwischt ist, so führt die Projektion des Anderen auf den Ort der Entstehung dieser Projektionen zurück. Das Projekt Rousseaus, mit den „Hypothesen" über Ursprung und Urzustand des Menschen den anthropologischen Blick auf das Andere der Zivilisation zu richten, ist auf einer grundsätzlichen Ebene in Frage gestellt: Die anthropologischen Kenntnisse sind ungesichert, das Fremde ist allein durch die Zeitdifferenz und den modernen Blickwinkel bis zur Unkenntlichkeit überformt, die von Rousseau angestrengte Lektüre der wahren Menschheitsgeschichte ist ein notwendig fehlgeleitetes Unternehmen, ein Mißverstehen.
III. Naturzustand und Utopie: Die Zirkulation der Widersprüche Rousseau stellt den Discours sur l'origine et les fondements de l'inegalite parmi les hommes ausdrücklich unter die Untersuchung der Frage, „ce qu'il y a d'originaire et d'artificiel dans la nature actuelle de l'homme". Die Reflexion hat den Status eines gedanklichen Experiments: „Quelles experiences seraient necessaires pour parvenir ä connaitre l'homme naturel? et quels sont les moyens de faire ces experiences au sein de la societe?" 5 7 Rousseaus Denkspiel ist gebunden an die methodische An-
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Vgl. dazu S t a r o b i n s k i : R o u s s e a u , S. 4 9 ff. R o u s s e a u : Schriften zur K u l t u r k r i t i k , S. 6 6 .
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nähme eines fiktiv zu entwerfenden Naturzustandes; die Notwendigkeit dieser Hypothese verdankt sich der weitgehenden „ignorance de la nature de l'homme qui jette tant d'incertitude et d'obscurite sur la veritable definition du droit naturel." 5 8 Wieland beantwortet diese „ignorance" mit einem satirischen Denkspiel eigener Art. Nach der ironischen Historiographie der „Naturgeschichte" und der Miniaturkolonisation des Priesters Abulfauaris entwirft er in dem Stück Über die von J. J. Rousseau vorgeschlagenen Versuche den wahren Stand der Natur des Menschen zu entdecken ein utopisches Experiment, das den in Koxkox und Kikequetzel ,historisch' rekonstruierten 0tat de nature gesellschaftstechnisch — „au sein de la societe" — herstellen will. Wieland beschreibt zu diesem Zweck den Aufbau von „Experimental-Colonien" (I, 224), in denen aus Übersee importierte Waisenkinder die Genese des homme naturel gleichsam in vitro veranschaulichen sollen. Als „bloße Kinder der Natur" (I, 212) müssen sie von der Gesellschaft und allen zivilisatorischen Einflüssen ferngehalten werden: Sie werden von stummen Ammen genährt, die Augen werden ihnen verbunden, sie werden zwanzig Jahre allein gelassen, wobei „vier große Bezirke" (I, 223) verschiedene Variationen der quantitativen geschlechtlichen Proportionen durchspielen. Der experimentelle Weg, zur „connaissance" der wahren Natur zu gelangen, verkehrt sich in die Künstlichkeit einer Sozialtechnologie, die mit Termini wie „Fabrick" (I, 210), „Project" (I, 210), „Mechanikern" (I, 216), „Direction" (I, 219), „Glasfabricken" (I, 220) recht drastisch benannt wird. Wieland stellt hier einmal mehr die Bedingungen der Möglichkeit utopischen Erzählens gleichsam auf den Kopf, relativiert und ironisiert die utopischen Inhalte und legt die Verfahrensweisen der utopischen Darstellung mit allen Mitteln der Fiktionsironie bloß. 5 9 Wielands Experiment ist zugleich eine Antwort auf die von Rousseau im zweiten Teil des discours beschriebene Geschichte der Menschheit, deren „perfectibilite" zwar eine zufällige und unbestimmte, allerdings unumkehrbare Entwicklung freigesetzt hat:
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Ebd., S. 68. Vgl.: Jürgen Fohrmann: Utopie, Reflexion, Erzählung. In: Wilhelm Voßkamp (Hrsg.): Utopieforschung. 3 Bde. Stuttgart: Metzler 1982. Bd. 3, S. 2 4 - 4 9 . H a n s - J o a c h i m Mähl: Die Republik des Diogenes. Utopische Fiktion und Fiktionsironie am Beispiel Wielands, in: V o ß k a m p (Hrsg.): Utopieforschung. Bd. 3, S. 5 0 - 8 5 .
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Je parcours c o m m e un trait des multitudes de siecles, force par le temps qui s'ecoule, par l ' a b o n d a n c e des choses que j'ai ä dire, et p a r le progres presque insensible des c o m m e n c e m e n t s ; car, plus les evenements etaient lents ä se succeder, plus ils sont p r o m p t s a decrire. 6 0
Während Rousseaus ,Deskription' also fast immer entlang einer Zeitachse verläuft, kehrt Wieland die Entwicklung gleichsam um und verwandelt den Weg vom etat de nature zurück zur Gegenwart in ein technisches Experiment zur Herstellung des Naturzustandes. Zugleich unterläuft er die Gattungsgeschichte der Utopie und verschiebt die mit der „perfectibilite" verbundene Verzeitlichung der Utopie 6 1 wieder in die klassischen Modelle der Raumutopie zurück. 6 2 Der Zweck dieser Operation ist auch hier die Infragestellung jener Imagination, mit der Rousseau die „ignorance", „incertitude" und „obscurite" im Wissen über die „nature de l'homme" beseitigen will. Die experimentalutopische Rückführung der verzeitlichten Zivilisation in den Zustand des έΐαΐ de nature endet bei den Kategorien der alten Zustandsutopien: Ordnung, Ausklammerung von Geschichte und Kontingenz, Separierung und Disziplinierung der Subjekte. 6 3 Der Weg, Kenntnisse über die wahre condition humaine zu gewinnen, führt zum Gegenteil jener Freiheit der Natur, die sich die rousseauistische Phantasie zum Ziel setzt. Utopische Modelle und imaginäre Ursprungsszenarien verfehlen ständig ihren Gegenstand, weil ihre Konstruktionen die in ihren prätendierte Unmittelbarkeit des Wissens sogleich zerstört. Seinem raumutopischen Ordnungsexperiment fügt Wieland ein Traumgespräch mit Prometheus hinzu, in dem die mythische „Fabel vom Ursprung der Menschen" (I, 241) zum Thema wird. Der Traum versetzt Prometheus in die Rolle des Sozialtechnologen, dessen Experiment nach eigenem Eingeständnis auf unerklärliche Weise mißglückt ist. Ursache ist die Büchse der Pandora, deren Geheimnis Prometheus eben lüften will, als der Autor erwacht. Was folgt, ist die Auslegung des Mythos durch die herbeizitierten Gelehrten, deren Streit wiederum von den theologi-
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Rousseau: Schriften zur Kulturkritik, S. 198. Vgl. Reinhart Koselleck: Die Verzeitlichung der Utopie. In: V o ß k a m p (Hrsg.): Utopieforschung. Bd. 3, S. 1 — 14, hier S. 5. Vgl. Wilhelm Voßkamp: Utopie als A n t w o r t auf Geschichte. Z u r Typologie literarischer Utopien in der Neuzeit. In: H a r t m u t Eggert/Ulrich Profitlich/ Klaus R. Scherpe (Hrsg.): Geschichte als Literatur. Formen und Grenzen der Repräsentation von Vergangenheit. Stuttgart: Metzler 1990, S. 273 — 283. Voßkamp: Utopie als A n t w o r t , S. 275 ff., F o h r m a n n : Utopie, Reflexion, Erzählung, S. 33 ff.
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sehen über die heidnisch-antiken bis zu naturrechtlich-modernen Erklärungsansätzen reicht. Die hermeneutische Diskussion um „allegorische Erklärungen" (I, 267) findet wiederum ein schnelles und ironisches Ende, w e n n die Wahrheit einem unbekannten Interpreten zugeschrieben wird, der P a n d o r a s Büchse umstandslos als „Schminkbüchse" (I, 267) identifiziert. Es ist überdeutlich, d a ß es bei Wielands Erzählschlüssen nicht um die Auflösung der hermeneutischen O p e r a t i o n e n geht: Die Ergebnisse werden statt dessen hier wie a n d e r s w o allesamt parodiert. Der durch den Streit der Auslegungen ständig inszenierte Aufschub aller Antworten auf die von Rousseau gestellten Fragen wird zum Ziel der Darstellung. Sowohl auf der Zeitachse, in den Fabeln vom Ursprung und Ende der Menschheitsgeschichte, als auch in der Lektüre der wahren menschlichen N a t u r , in ethnologischen Entdeckungen und autobiographischen Selbstbefragungen, f ü h r t der Wielandsche Diskurs das Verstehen der in den Rousseauschen Erzählungen umkreisten nature de l'homme in die Dunkelheit des Mißverstehens zurück. Ist die Beseitigung der obscuritas seit jeher ein Geschäft der R h e t o r i k 6 4 , so n i m m t Wieland den Z u s a m m e n hang von Rhetorik und Hermeneutik konsequent zum Anlaß, Rousseaus Rhetorik für die Beseitigung der lediglich verschleierten Dunkelheit jener anthropologischen Kenntnisse verantwortlich zu machen. Es seien „rhetorische Taschenspielerkünste", mit denen Rousseau die Wahrheit seiner Hypothesen vorspiegele und sich den Glauben seiner „Zeitgenossen" zu „erschleichen" suche: „neuer Unsinn, in schöne Phrasen gekleidet, mit spielenden Gegensätzen verbrämt, und mit den Schellen des rednerischen Wohlklangs behangen [...]." (II, 8 f.) 6 5 In der Fortsetzung der Erzählung von Koxkox und Kikequetzel, die als Rahmengeschichte den größten Teil der Beyträge umschließt, übern i m m t der kommentierende mexikanische Philosoph die Rolle des Rhetors Rousseau: „Welch ein glückliches Paar! ruft Tlantlaquakapatli aus, bey einem Leben, das ein Gewebe von Unschuld, Liebe und Vergnügen war [...]." (II, 122) Die sentimentalistische Rhetorik des Kulturkritikers k o m m t scheinbar zum richtigen Z e i t p u n k t . Wenig später nämlich bestä64
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Heinrich Lausberg: Elemente der literarischen Rhetorik. M ü n c h e n : H u e b e r 1963, S. 51. In historischer Perspektive: Alexander: Hermeneutica Generalis, S. 79 ff., S. 132 ff. (wie F n 3 9 ) . Eine Untersuchung dieser Z u s a m m e n h ä n g e von Rhetorik und Wissen bei Wieland bleibt ein Desiderat, auch nach der materialreichen Untersuchung von Reinhard Tschapke: Anmutige Vernunft. Christoph M a r t i n Wieland und die Rhetorik. Stuttgart: Heinz 1990.
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tigt die Beispielgeschichte von der mexikanischen Urfamilie das von Rousseau entworfene Schicksal des Menschengeschlechts. Sobald n u r ein einziges neues Gesellschaftsmitglied hinzutritt, beginnt die Katastrophe: Die mexikanische „ S t a m m m u t t e r " (II, 142) Kikequetzel unterliegt den Verführungskünsten eines ungehobelten Wilden und verläßt K o x k o x , Eifersucht f ü h r t zum ersten „ Z w e y k a m p f " (II, 149) der k o n k u r r i e r e n d e n Männer, Polygamie leitet den schnellen Verfall der mexikanischen Zivilisation ein, „Verderbniß und Verwilderung" (II, 156) n e h m e n ü b e r h a n d , die „ N a c h k o m m e n " der unschuldigen N a t u r k i n d e r regredieren „zur gefühllosen Trägheit" (I, 162). Die als Widerlegung Rousseaus aufgebotene „Naturgeschichte des sittlichen Menschen" setzt also die gesellige Idylle des zur Familie erweiterten wilden Paares nicht fort, sondern schlägt in das Gegenteil einer Idylle um. Schon die Erweiterung des natürlichen Liebespaares zu einer Gesellschaft en miniature sorgt für das Ende jeder zivilisatorischen Sittlichkeit. Nicht nur die in den Beyträgen zitierten Autoritäten widersprechen sich, auch die einzelnen „Beyträge" entwerfen höchst widersprüchliche Perspektiven. Die „schöne U n o r d n u n g " (I, 194), die der Erzähler in einer Zwischenrede seinem Werk unterstellt, ist Teil einer Strategie, die auch hier die Argumente bis zur Unentschiedenheit, ja Verwirrung einander gegenüberstellt. Koxkox und Kikequetzel beginnt als rousseauistisch ausgemalte Urgeschichte des mexikanischen N a t u r v o l k s , deren Szenario die „Unschuld" der ersten N a t u r scheinbar bestätigt. Während die darauf folgende Rousseau-Kritik die Hypothese des N a t u r z u s t a n d e s ad absurdum f ü h r t , verkehrt sich die Fortsetzung der mexikanischen Naturgeschichte in ein apokalyptisches Dekadenzgemälde, das einerseits Rousseaus Verfallsgeschichte bestätigt, andererseits allen ethnologischen Sehnsüchten H o h n spricht. Der Karikatur des mexikanischen Naturvolkes folgt die Darstellung der „Pholeys", in der sich das rousseauistische Ideal der N a t u r augenscheinlich wieder zu spiegeln scheint. Die „ O r d nung und Uebereinstimmung der Theile und des G a n z e n in dem gegenwärtigen Werke" (I, 195 f.) besteht d e m n a c h gerade in der Gegenläufigkeit jener „ H y p o t h e s e n " , die das historiographische und ethnographische Material in zeitliche Perspektiven übersetzen. Die Beyträge u m s p a n nen in ihren Beispielgeschichten exemplarische geschichtsphilosophische Zeitläufe vom Ursprung der Menschheit bis zur Apokalypse, dementieren in ihrer A n o r d n u n g jedoch die in den Modellen unterstellte Sinnhaftigkeit der zeitlichen Abläufe. Die schon in der zweiten S a m m l u n g der Beyträge (1795) grundlegend veränderte A n o r d n u n g der einzelnen Teile verrückt daher auch ständig die von Rousseau anvisierte Grenze, an der
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sich die Naturanteile des Menschen von seiner gesellschaftlich geformten Geschichte abheben ließen. Wenn Wielands Erzähler deshalb scheinbar immer von neuem zu einer Definition der Natur ansetzt, sind dem Leser die Kriterien der Beurteilung endgültig verloren gegangen. Das zu Beginn offensichtlich vorherrschende T h e m a , eine Kritik Rousseaus, scheint völlig aus den Augen geraten zu sein; die Wahl, sich f ü r oder gegen Rousseau zu entscheiden, ist in der ständigen Infragestellung der philosophischen und ethnologischen Autoritäten fast unmöglich geworden. Viel entscheidender ist am Ende die Frage, welches Verstehensproblem sich bei der von Rousseau und der durch ihn angeleiteten Anthropologie 6 6 und Ethnologie 6 7 ständig markierten Grenzziehung zwischen N a t u r und Kultur verbirgt, wie es zu dem kulturkritischen hie Rhodus hic salta der aufklärerischen Kulturkritik k o m m t : Auf welche Weise gelangt eine Kultur dazu, sich das Andere ihrer selbst zu imaginieren und sich selbst nur über den Umweg des Anderen zu verstehen?
IV. Die Statue des Glaukus und die Seele des Menschen. Wieland und die Rousseausche „Auslege-Kunst" Rousseau kleidet die Kulturkritik seines zweiten discours schon zu Beginn in die Metapher einer kunsthistorischen Auslegungspraxis. So wie die unkenntlich gewordene Statue des Glaukus erst wieder in ihrer originalen Form hergestellt werden m u ß , gilt es hinter den Spuren der Zivilisation das w a h r e Gesicht der menschlichen N a t u r freizulegen: Semblable ä la statue de Glaucus, que le temps, la mer et les orages avaient tellement defiguree, qu'elle ressemblait moins ä un dieu q u ' ä une bete feroce, l'äme humaine, altere au sein de la societe par mille causes sans cesse renaissantes, par l'acquisition d ' u n e multitude de connaissances et d'erreurs, par les changements arrives ä la constitution des corps, et par le choc continuel des passions, a p o u r ainsi dire change d ' a p p a r e n c e au point d'etre presque meconnaissable [...]. 6 8 66
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Vgl. R o b e r t D a r n t o n : Rousseau in Gesellschaft. Anthropologie und der Verlust der Unschuld. In: Ernst Cassirer, Jean Starobinski, Robert D a r n t o n : Drei Vorschläge Rousseau zu lesen. Frankfurt: Fischer 1989, S. 104—114. Vgl. Axel H o n n e t h : Ein strukturalistischer Rousseau. Z u r Anthropologie von C l a u d e Levi-Strauss. In: M e r k u r 463/464 (1987), S. 8 1 9 - 8 3 3 . Rousseau: Schriften zur Kulturkritik, S. 64. Wielands Danischmend paraphrasiert diese Stelle in der Geschichte des Danischmend, wenn sein Held die „Geschichte der Sultanen" k o m m e n t i e r t : „[...] können wir uns noch
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Wielands Rousseau-Kritik konzentriert sich nicht auf die inhaltliche Gegenüberstellung von Natur und Zivilisation, sondern auf die methodische Ebene des Verfahrens. Die von Rousseau vorausgesetzte E r k e n n b a r keit der entstellten und ü b e r f o r m t e n ursprünglichen N a t u r des Menschen wird von Wieland in Zweifel gezogen, und zu diesem Z w e c k vereiteln die Beyträge sämtliche von Rousseau in Angriff g e n o m m e n e n Strategien der Auslegung. Die in der Einschränkung „presque" verborgene hermeneutische Schwierigkeit einer „beinahe" unmöglichen Entzifferung der Menschenseele, die zugleich die H o f f n u n g auf Erkennbarkeit a u f r e c h t erhält 6 9 , initiiert die Rousseausche Suche nach dem verschütteten Text der menschlichen „Seele". Wielands Fabeln von K o x k o x , Kikequetzel und Abulfauaris, die satirischen „Beyträge" über die „Experimental-Colonien", den prometheischen Mythos und das N a t u r v o l k der „Pholeys" hingegen haben allein den Z w e c k , die von Rousseau angestrengte Suche nach dem verborgenen Sinngehalt der menschlichen „ N a t u r " zu erschweren, abzubiegen und zu blockieren, um ihrerseits die Unmöglichkeit der von Rousseau demonstrierten Auslegung v o r z u f ü h r e n . In einem Zwischenstück erörtert Wieland das methodische Vorgehen seiner Beyträge und ordnet sie einer „ M i t t e l g a t t u n g zwischen Geschichte und Roman" zu (I, 187). Ausdrücklich macht er die historiographische Auslegungspraxis seiner Zeit zum T h e m a : das Vergangene auf das Gegenwärtige a n z u w e n d e n , Anspielungen und Beziehungen von jenen auf diese aufzusuchen, und durch diese Vergleichung sich in den Stand zu setzen, von den menschlichen Dingen ein richtiges Urtheil zu fällen [...]. (I, 185)
Zugleich betont er die Schwierigkeit dieser hermeneutischen „ O p e r a tion". Z w a r gehöre dazu die „Freyheit von allem, was den Beobachtungsgeist täuschen oder das Urtheil verfälschen k a n n " (I, 185); zugleich jedoch k o m m e es nicht auf das bloße Sehen an, sondern auf die A n w e n dung der Urteilskraft: „Was Wunder, wenn der Chronikenschreiber und Compilatoren so viele, und der Plutarche, der M o n t a i g n e , der Montesquieu so wenig sind!" (I, 186) Während die Rede von der applicatio den rhetorischen G r u n d z u g der historia magistra vitae unterstreicht, erklärt Wieland die gesamte Ge-
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w u n d e r n , wie es zugegangen, d a ß wir die Menschen [...] durch U n t e r d r ü k k u n g und Elend so übel zugerichtet sehen, d a ß m a n M ü h e hat, an d e m zerkratzten, verstümmelten, zerdrückten R u m p f e die Spuren seiner ursprünglichen Form zu erkennen?" W G 8, 151. Starobinski: Rousseau, S. 28.
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schichte zum O r t jener „Auslege-Kunst" (Chladenius), die sich erst im 18. J a h r h u n d e r t von der Logik zu trennen beginnt und ein eigenständiges Feld der H e r m e n e u t i k b e g r ü n d e t . 7 0 Wieland also lenkt das „Rousseausche P r o b l e m " planmäßig auf ein Gebiet, in dem — nach Chladenius — die „Vernunfft-Lehre" nicht weiter zuständig ist, sondern die „Ausleg u n g " beginnt: in der „ausführlichen Betrachtung der Geschichte, Gedichte und anderer sinnreicher Schriften". 7 1 Die b e r ü h m t e Theorie des Chladenius über den „Sehe-punkt" 7 2 kehrt bei Wieland deshalb in vielen Variationen wieder: vom „Augenschein", d e m „nicht allezeit zu trauen ist" (I, 195), bis zu den Philosophen, bei denen die „Gabe, mit den Augen zu sehen" (I, 197), ständig zu überprüfen sei. Neben der Historiographie aber bezieht Wieland die hermeneutische Praxis vor allem auch auf die von Rousseau ebenfalls in den Zeugenschaft gerufene Ethnologie. Wielands Erzähler spricht ironischerweise zunächst seinem fiktiven G e w ä h r s m a n n , dem mexikanischen Philosoph Tlantlaquacapatli, die Legitimität des rechtmäßigen Interpreten zu: „ein M a n n , der weder durch Brillen, noch irgend eine andre Art von Gläsern, sondern aus seinen eigenen Augen sah [...]." (II, 92) In einem anderen Z u s a m m e n h a n g allerdings verweist der Erzähler ausdrücklich auf die Notwendigkeit hermeneutischer Kunst auch in der ethnographischen Praxis, die in ihrem Selbstverständnis bloßer Beobachtung — „wenn wir uns auf dem Erdboden u m s e h e n " (II, 169) — das Auslegungsproblem eher verdeckt: „Aber wo ist derjenige, der in diesem wichtigen Geschaffte, sich nicht genöthigt sieht, über das Vergangene durchaus, und über das Gegenwärtige größtentheils, aus fremden Augen zu sehen?" (II, 169 f.) Das T h e m a der Rousseau-Beyträge zentriert sich demnach um die Schwierigkeiten, Beurteilungsmaßstäbe über die menschliche N a t u r aus Geschichte und Ethnologie zu gewinnen und dabei auf „fremde Augen" und auf Interpretationen angewiesen zu sein. Die für die Untersuchung der „nature de P h o m m e " aufgebotenen Beweise, Belege und inhaltlichen Tatsachen stehen nie für sich selbst, sondern immer im Z w a n g einer sofort einsetzenden Auslege-Kunst, die aus „ S p u r e n " 7 3 und „Zeichen" 7 4 70 71
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Alexander: Hermeneutica Generalis, S. 197 ff. J o h a n n M a r t i n Chladenius: Einleitung zur richtigen Auslegung vernünftiger Reden und Schriften. Mit einer Einleitung von Lutz Geldsetzer. Düsseldorf: Stern 1969 (Faksimile-Druck der ersten Ausgabe von 1742), § 177, S. 97. Chladenius: Einleitung, § 309, S. 187 ff. Ebd., § 347, S. 231 f. Georg Friedrich Meier: Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst. Mit einer Einleitung von Lutz Geldsetzer. Düsseldorf: Stern 1965 (Faksimile-Druck
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den Weg zu den Bedeutungen b a h n t . In der Rousseauschen Auslegung erhält der von jeder Zivilisation hypothetisch gereinigte Naturzustand eine Bedeutungsfülle, die erst hinter den falschen Zeichen der Zivilisation sichtbar werden kann. D a s wahre Gesicht des Menschen zu erkennen, erfordert — ebenso wie die Freilegung der Statue des G l a u k u s — eine Auslegung, die — analog zur hermeneutischen Praxis — „die Bedeutung aus dem Zeichen klar e r k e n n e n " 7 5 m u ß . Die deshalb vor allem in der Geschichtsschreibung und der Ethnologie z u m Vorschein gebrachten echten „Zeichen" der N a t u r lassen sich in „Bedeutungen" übersetzen, mit denen die Grenzen zwischen Natur und Zivilisation markiert werden. Während die Zeichen der Zivilisation den Verfremdungsprozeß der „ ä m e h u m a i n e " in G a n g setzen und deren eigentliche Bedeutung verdunkeln, verfolgt Rousseau die Zeichen der N a t u r in den ständig wechselnden „Sehepunkten" seines Schreibens — bis hin zu den einsamen „reveries" und den botanischen Studien des solitären Spaziergängers. 7 6 Diesen Transfer von den historiographischen und ethnographischen Zeichen zu den Bedeutungen einer Kulturtheorie versucht Wielands Text zu unterlaufen und zu verhindern. Wielands eigenes Beispiel der „Pholeys" etwa unterstützt das rousseauistische Zeichen eines u n v e r d o r b e n e n Naturzustandes, dessen Bestätigung durch den „Augenzeugen" des Ethnographen Franz M o o r e sogar „keinen Zweifel" an der „ G l a u b w ü r d i g keit" der I n f o r m a t i o n läßt (II, 202). Die Lebensform der Pholeys, deren gemeinschaftliche Existenz den Trennungen der modernen Zivilisation und des modernen Staates vorausliegt, wird dabei mit den „patriarchalischen und Homerischen Z e i t e n " in eine Parallele gesetzt; die Fremdheit der Vergangenheit und die Ferne der ersten N a t u r bleiben freilich bestehen. Ethnographisches Zeugnis und historischer Vergleich legitimieren die kulturkritischen Zeichen des Anderen, werden jedoch gerade nicht in ein Verfahren der Auslegung ü b e r f ü h r t . Statt nämlich die Bedeutungsspielräume von N a t u r und Kultur auszumessen, formuliert Wielands Text im Gegenteil einen generellen Zweifel an jeder zivilisationskritischen Bedeutungszuschreibung. Welch ein reicher Stoff! welche Gelegenheit zu schimmernden G e d a n k e n , und feinen Sprüchen! Aber, wie gesagt, wir haben keine Lust, uns auf Gemeinplätzen h e r u m zu t u m m e l n ; u n d so schönc Sachen sich auch i m m e r
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der ersten Ausgabe von 1757). „ D a s erste Capitel, von der Auslegung aller Zeichen": § 7 , S. 4 ff. Ebd., § 8, S. 5. Vgl. Paul Mog: Ratio und Gefühlskultur. Studien zu Psychogenese und Liter a t u r im 18. J a h r u n d e r t . Tübingen: Niemeyer 1976, S. 77 ff.
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Walter Erhart über diesen Gegenstand sagen ließen, so möchte doch wohl schwerlich eine darunter seyn, die nicht in den unzähligen Utopien und Severambenländern, womit wir seit mehr als zwey hundert Jahren so reichlich beschenkt worden sind, schon mehr als einmal gesagt, und vielleicht schon so abgenutzt worden, daß sie zu weiterm Gebrauch nicht mehr tauglich ist. Eine Mischung von Wahrheit ist freylich immer in dergleichen Declamazionen; aber was nützen schielende 'Wahrheiten? (II, 213)
W i e d e r u m verlagert Wieland also den D i s k u r s von dessen Inhalten auf die Ebene des Verfahrens, zunächst im Z w e i f e l an d e m p r a g m a t i s c h e n N u t z e n der längst zu Topoi g e w o r d e n e n k u l t u r k r i t i s c h e n Potentiale, sod a n n wieder a m Ü b e r g a n g von der Beschreibung der „ Z e i c h e n " zu ihrer k u l t u r k r i t i s c h e n „ B e d e u t u n g " . W ä h r e n d R o u s s e a u z u m i n d e s t die A n n ä h e r u n g an d a s Bedeutete postuliert, beläßt Wieland die Bedeutungsebene b e w u ß t im D u n k e l n . Auch f ü r R o u s s e a u s I n t e r p r e t a t i o n sind die a n t h r o pologischen Bedeutungen nicht länger stringent theoretisch festgelegt, wie es f ü r die rhetorische u n d h e r m e n e u t i s c h e B e d e u t u n g s k o n z e p t i o n der zeitgenössischen Auslegungslehren n o c h selbstverständlich w a r . 7 7 Die v o n Wieland ins Kalkül gezogene „ M i s c h u n g von W a h r h e i t " b e t o n t jed o c h a u s d r ü c k l i c h die ungesicherten Transferlinien von den Zeichen zu den d a m i t v e r b u n d e n e n Bedeutungen und erinnert dabei an die h e r m e neutische Fortsetzung der skeptischen T r a d i t i o n 7 8 , auf die sich Wielands D i s k u r s ü b e r die Dunkelheit der menschlichen N a t u r stützt: „dunkle Gegenden der M o r a l - P h i l o s o p h i e [...], welche zu b e t r ä c h t l i c h e m A b b r u c h des allgemeinen Besten, n o c h m a n c h e s J a h r - T a u s e n d u n b e k a n n t e s Land bleiben w e r d e n . " 7 9 Dieses u n b e k a n n t e L a n d in das gesicherte G e l ä n d e des etat de nature zu übersetzen, k e n n z e i c h n e t Wieland als ein illegitimes h e r m e n e u t i s c h e s Verfahren, welches — n a c h allen Regeln der h e r m e n e u tischen u n d rhetorischen K u n s t — d e m Ungewissen einen Anschein von Klarheit zu geben versucht: „Wenn m a n eine Stelle fälschlich auslegt, u n d dieses selbst e r k e n n e t , anbey sich b e m ü h e t , seiner Auslegung den Schein einer richtigen Auslegung zu geben: so heißt das, die M e y n u n g der Schrifft selbst verdrehen."80 Auch d a s „Schielen", d a s „Verdrehen" der Augen, ist ein T e r m i n u s der r h e t o r i s c h - h e r m e n e u t i s c h e n Diskussion im 18. J a h r h u n d e r t . In diesem Sinne e t w a v e r w e n d e t Lessing ihn an einer
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Alexander: Hermeneutica Generalis, S. 215 ff. Ebd., S. 36 ff. Christoph Martin Wieland: Geschichte des Agathon. Erste Fassung. Hrsg. v. Fritz Martini. Stuttgart: Reclam 1979, S. 353. Chladenius: Einleitung, § 193, S. 109.
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Stelle seiner Kritik an Klotz: „Doch das Schielende ist der eigentliche Charakter des Klotzischen Stils, und es steht in keines Menschen M a c h t , von einer Sache, die er nicht versteht, anders als schielend zu sprechen." 8 1 Wieland überträgt die M e t a p h e r des „Schielens" auf die Perspektive des kulturkritischen Denkens, das sich im vergleichenden Blick auf Kultur und Natur konstituiert. Z u n ä c h s t scheint er dabei in die Interpretation des zugrundeliegenden Signifikats Natur einzutreten, w e n n er moniert, d a ß „gewisse Leute, aus einem ihnen selbst u n b e w u ß t e n Fehler ihrer Augen, tausend Schönheiten in dem vollkommensten der sichtbaren Werke Gottes überschielen [...]" (II, 71). Während dieses Signifikat jedoch unbestimmt bleibt und sich in Tautologien erschöpft, zielt die Kritik auf die kulturkritische Blickrichtung selbst, die sich die Grenze zwischen N a t u r und Kultur eigenmächtig zurechtlegt. Die „schielenden Wahrheiten" bedeuten s o d a n n nicht einfach n u r ein falsches Sehen oder ein Mißverstehen, sondern den „Sehepunkt" eines Beobachters, der die Distanz zum Anderen a u f h e b t , o h n e sich der Perspektivität des von ihm konstruierten Objekts weiter b e w u ß t zu sein. „Schielende" Kulturkritiker haben in diesem — physikalischen — Sinn „verdrehete Augen": ein „Gebrechen oder Fehler im Auge, wenn sich dasselbe allezeit gegen einen andern O r t wendet, als w o solche Leute hinsehen w o l l e n . " 8 2 Wieland verlagert also das „Rousseauische P r o b l e m " nicht n u r von der Ebene des N a t u r r e c h t s auf das Feld der hermeneutischen „AuslegeKunst", sondern lenkt den Blick des Interpreten von den M i ß v e r s t ä n d nissen einer rousseauistisch ausgelegten Ganzheit natürlicher Lebensverhältnisse 8 3 auf die Zerrissenheit und f u n k t i o n a l e Differenzierung m o d e r ner Gesellschaften zurück. Die von den Kulturkritikern mit ihren interpretierenden „Augen" gesuchte ursprüngliche N a t u r wird ausgelegt u n d zurechtgelegt, klärt jedoch nicht auf über die G e g e n w a r t der Zivilisation. Statt der Zivilisation ihren Weg zu weisen, enthüllt sie n u r die o h n m ä c h tigen Sehnsüchte des Zivilisationskritikers. A m Ende seines Kapitels über die „Pholeys" verhindert Wieland deshalb auch die Möglichkeit der Grenzziehung zwischen der Natur der „Pholeys" und der Zivilisation der Gegenwart, indem er die R e k o n s t r u k t i o n einer Entwicklung f ü r un-
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Gotthold E p h r a i m Lessing: Briefe, antiquarischen Inhalts. L M 10, S. 266. J o h a n n Heinrich Zedier: Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste. 64 Bde. Halle/Leipzig 1 7 3 3 - 1 7 5 0 . Bd. 33, Sp. 1420. Vgl. Ursula Link-Heer: Facetten des Rousseauismus, S. 146 ff.
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möglich erklärt, die beide Z u s t ä n d e aus sich hervorgehen ließe. Schon die Existenz der Pholeys selbst ist nicht ursächlich zu bestimmen, nicht zeitlich zu terminieren oder gar sentimentalisch zu konservieren: die „Sicherheit" ihres Zustandes ist „bloß zufällig" (II, 218). Aber auch die Z e r s t ö r u n g des vorzivilisatorischen Zustandes in Europa läßt sich nicht nachvollziehen: Am Anfang und im Verlauf des Zivilisationsprozesses sind es allein „Zufälle" (II, 218), die jede Entwicklung vorantreiben und die Grenzen zwischen Natur und Zivilisation verwischen. Die mehrfache Betonung des „Zufalls" am Ende der Beyträge hält nicht nur die Projektion des 0tat de nature auf Distanz, sondern verhindert auch die Anw e n d b a r k e i t dieser Projektion: Der „schielende" Kulturkritiker macht sich das Fremde unmittelbar gleich und überspringt die Kontingenz, die es vereitelt, das Verlorene zurückzuverfolgen oder wiederherzustellen. Auch Rousseau hatte die Kontingenz des zivilisatorischen Fortschritts betont, der einen „concours fortuit de plusieurs causes etrangeres" benötigte, u m den Menschen aus dem etat de nature h e r a u s z u f ü h r e n . 8 4 Während Rousseau jedoch die Kontingenz beklagt und die Scheidelinie zwischen N a t u r und Zivilisation in der Trennung des inneren Naturzustandes und der äußeren Einflüsse wiederholt und stabilisiert, macht die von Wieland aufgerufene Kontingenz die Unterscheidung zwischen wahrer und entfremdeter menschlicher N a t u r zunichte. Rousseaus Werk hingegen besteht darin, diese Unterscheidung in immer neuen Anläufen zu markieren und festzulegen. In den beiden discours dienen arachaische Natur- und Gemeinschaftsbilder wechselweise als Abgrenzungskriterien. In den E n t w ü r f e n des contrat social und des Emile verlegt Rousseau die Versöhnungsprojekte in eine imaginäre Z u k u n f t . In den Confessions und den Reveries sucht der einsame JeanJacques die letzten Refugien seiner Sehnsüchte im Innern des eigenen Ich auszuloten. O h n e sich auf alle diese Versuche ausdrücklich zu beziehen, zielt Wielands Einspruch gegen Rousseau nicht nur auf das Vorgehen des zweiten discours, ja nicht nur auf das von ein und demselben Impuls beseelte Werk Rousseaus, sondern auch auf den Rousseauismus, der sich die Ideen Rousseaus bis weit über die Französische Revolution hinaus 8 5 auf die Fahnen schrieb. Die von Wieland diskurskritisch in Frage ge-
84 85
Rousseau: Schriften zur Kulturkritik, S. 188. Vgl. Iring Fetscher: Rousseaus politische Philosophie. Z u r Geschichte des demokratischen Freiheitsbegriffs. F r a n k f u r t / M . : S u h r k a m p 1975, S. 258 ff. J.-J. Rousseau et la Revolution Fran^aise. Hrsg. v. Tanguy L'Aminot. Reims: Edition „A L' Ecart" 1989.
,Was nützen schielende Wahrheiten?"
77
stellte Grenze zwischen Natur und Kultur ist seither Bestandteil jeder kulturkritischen Auseinandersetzung um anthropologische Authentizität. Die vom zweiten discours ausgehende Imagination über den komme naturel füllt mit immer neuen Varianten die Arsenale zivilisationsmüder Rousseauisten. Max Nordau hat fast hundert Jahre später in Rousseaus „Sehnsuchtsruf" den Auftakt einer kontinuierlichen „Lüge der Kulturmenschheit" diagnostiziert: Sein Schrei e r w e c k t e in allen Zeitgenossen ein E c h o , wie ein angeschlagener Ton alle in der N ä h e befindlichen auf denselben T o n gestimmten Saiten zum Klingen bringt. Ein Beweis, daß Rousseaus S t i m m u n g in allen Seelen vorbestand. Schwelger und Philister duselten sich mit E n t z ü c k e n in ein heißes Verlangen nach U r w ä l d e r n und Wildniß-Existenzen hinein, das damals noch einen komisch wirkenden K o n t r a s t zum Eifer bildete, mit dem sie sich alle Überfeinerungen und Laster der g e s c h m ä h t e n Civilisation für ihre Genüsse zu Nutzen m a c h t e n . 8 6
Statt die Botschaft Rousseaus als Lüge zu bezeichnen oder ihr — wie es Gleim im Jahre 1770 forderte — zu widersprechen, macht Wieland eher auf den „Kontrast" aufmerksam, der im Inneren des Rousseauschen Verfahrens verborgen ist. Auf der Suche nach dem Ort der „Identifikation mit dem Anderen" (Levi-Strauss) geht Rousseau den verschütteten Quellen unverstellter Natur nach, um mit dem Blick in die Ferne das Andere der Zivilisation zu entdecken. Im Wunsch, seiner habhaft zu werden, verliert sich jedoch die Differenz zwischen Ausgangspunkt und Ziel, zwischen dem Eigenen und dem Fremden. Wieland hingegen lenkt den Blick zurück auf die Vorgehensweise, mit der die Rousseausche Suche ins Werk gesetzt wird. Er zeigt die Distanz zwischen der Gegenwart und den Projektionen, enthüllt die Künstlichkeit der Bilder und Grenzziehungen, zweifelt an der ,Wahrheit' der anthropologischen Auslegungen. Im Zuge dieser skeptischen Infragestellung verwischt Wieland die vermeintlich gesicherten Spuren, die den Weg zurück in den Naturzustand weisen ( K o x kox und Kikequetzel), er verstellt die utopischen Visionen zur Wiederversöhnung der im Gesellschaftszustand zerfallenen anthropologischen
Ganzheiten (Über die von ]. J. Rousseau vorgeschlagenen Versuche den wahren Stand der Natur des Menschen zu entdecken) und er verdunkelt die hermeneutischen Wege, die zum klaren Verständnis unbezweifelter anthropologischer ,Grundlagen' führen sollen (Über die Behauptung,
daß ungehemmte 86
Max Nordau:
Ausbildung
der menschlichen
Gattung schädlich
Die conventionellen Lügen der Kulturmenschheit.
Leipzig 1 8 8 4 , S. 8.
sei). 3 . Aufl.
78
Walter Erhart
Mit der Verfahrenskritik rousseauistischen Denkens hat Wieland zugleich einen Diskurs eröffnet, der sich nicht nur an den Inhalten des 18. Jahrhunderts, sondern an den seither immer von neuem unternommenen kulturkritischen Grenzziehungen zwischen Natur und Kultur, Gemeinschaft und Gesellschaft, Ganzheit und Entzweiung bewähren kann. Sein aktuelles Terrain ist der amerikanische Kommunitarismus. 8 7 In der Beschwörung der „Gemeinschaft" erinnert dieser nicht nur an den „Sehnsuchtsruf" der Rousseauisten. 8 8 Er sucht in seinen Prämissen auch nach jenen anthropologischen Heilkräften, mit denen die natur- und gemeinschaftsvergessenen Gesellschaften der Moderne noch einmal gerettet werden sollen. O b auch dabei nur wieder „schielende Wahrheiten" im Spiel sind, bliebe zu prüfen.
87
88
Axel Honneth (Hrsg.): Kommunitarismus. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1993. Micha Brumlik/Hauke Brunkhorst (Hrsg.): Gemeinschaft und Gerechtigkeit. Frankfurt/M.: Fischer 1993. Vgl. Sibylle Tönnies: Die konkrete Gemeinschaft. In: Merkur 5 3 2 (1993), S. 5 7 6 - 5 8 5 .
Friedrich
Vollhardt
Die Romanprojekte Friedrich Heinrich Jacobis Empfindsamkeitskritik, Sprachkonzeption und Moralreflexion in der Auseinandersetzung mit Rousseau
Im September 1778 erschien im Teutschen Merkur ein Nachruf auf Rousseau, der in einem ebenso elegischen wie emphatischen Ton gehalten war. Der Autor, Johann Georg Jacobi, rechnet Rousseau „unter diejenigen, welche der Himmel in gewissen Zeitaltern aus vielen Tausenden auszuwählen und zu senden scheint, damit sie durch Wort und That auf die Völker umher würken." 1 Unter diesem Leitgedanken lassen sich Leben und Werk problemlos zu einer Einheit zusammenfügen. Rousseaus Berufung zum Dichter und Erzieher, ja zum Künder einer besseren Welt bestätigt sich an seinem Schicksal, das er mit allen wahren Propheten teilt, die von den Zeitgenossen ignoriert, wenn nicht gar verspottet oder verfolgt wurden. Die Pilgerfahrt zu der Grabstätte des „Märtyrerfs]" wird für Jacobi zum — wenn auch nur imaginierten — Akt der Bekenntnis zu der Lehre Rousseaus, die im Ausdruck des Gefühls gelebt und nicht durch die Anwendung von Vernunftschlüssen seziert werden soll: Unter jene Bäume will ich wallen, wo, von Menschen weit, dein Lager sanfter ist: O , da werden blut'ge Thränen fallen, ums Jahrhundert, wenn es dich vergißt! (S. 218)
Das Jahrhundert hat Rousseau keineswegs vergessen, im Gegenteil, es hat sein Werk diskutiert und gleichzeitig sein Andenken in der eben beschriebenen Weise gepflegt. Seiner Gestalt wurden legendenhafte Züge verliehen, wozu Jacobi mit seinem Nachruf einen Teil beigetragen hat. Die ausgewählten biographischen Episoden werden von ihm mit „sym1
Johann Georg J a c o b i : Ueber J . J . Rousseau. In: Der Teutsche Merkur. September 1778, S. 2 0 1 — 2 1 8 , hier S. 2 0 1 . — Stellennachweise aus häufig angeführten Werken werden künftig im Text im Anschluß an das Zitat gegeben.
80
Friedrich Vollhardt
bolischen R e s o n a n z e n " 2 ausgestattet, die bald zum festen Bestand der deutschen Rousseauliteratur gehören sollten. Z u einem
Grundmotiv
wurde das Bild vom verkannten und von der Welt verstoßenen M e n schenfreund, der seinen letzten Zufluchtsort in einem G r a b unter Pappeln findet. Gesucht wird nicht das in sich stimmige historische Porträt, sondern die Übereinstimmung
im Urteil, die Orientierung
an
einer
empfindsamen Welt- und Lebensauffassung, für die — ob zu Recht oder nicht — der N a m e Rousseaus steht. Entscheidend ist der Aspekt der Identifikation. Denn im Grunde ist an der Abhandlung J o h a n n Georg J a c o b i s kaum etwas bemerkenswert, wäre da nicht eine Kleinigkeit, von der die Forschung bisher keine Notiz genommen hat: Der Nachruf im Teutscken
Merkur
ist mit den Initialen
„ J . J . " unterzeichnet worden. 3 Die Anfangsbuchstaben lassen sich wahlweise zu J e a n - J a c q u e s ' oder dem verkürzten Namen J a c o b i s ergänzen. Womöglich handelt es sich um einen Druckfehler, vielleicht aber auch, bedenkt man Wielands Vorliebe für bissige Zusätze und K o m m e n t a r e zu einzelnen Artikeln der Zeitschrift, für die er sich als Herausgeber nur bedingt verantwortlich fühlte, um den als Persiflage gemeinten Schlußpunkt unter dem Zeugnis eines sentimentalen Rousseau-Kultes. Im J a h r zuvor hatte Wieland in einem Brief an Friedrich Heinrich J a c o b i deutliche Worte für die Modephilosophie gefunden, die ihm „mit ihren Prätentionen, [...] Zierereien, und mit ihrer verwünschten emp[h]athischen Sprache, in der Seele zuwider" sei. 4 D a ß Wieland seinen Briefpartner so offen ins Vertrauen zieht, muß verwundern, gilt Friedrich Heinrich J a c o b i doch wie sein Bruder als Repräsentant eben jener ,Gefühlskultur', gegen deren schwärmerische Auswüchse sich Wieland wendet. Das Urteil der Literaturgeschichte läßt sich genauer fassen und diffe2
3
4
Jürgen Link: „Traurender Halbgott, den ich meine!" Hölderlin und Rousseau. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 63 (1986), S. 86—114, hier S. 87. Vgl. auch Ursula Link-Heer: Art. Rousseauismus. In: Hist. Wb. Philos., Bd. 8 [1992], Sp. 1 0 8 6 - 1 0 9 1 . Vgl. Claus Süßenberger: Rousseau im Urteil der deutschen Publizistik bis zum Ende der Französischen Revolution. Ein Beitrag zur Rezeptionsgeschichte. Frankfurt/M.: Lang 1974 (Europäische Hochschulschriften I, 95), S. 25 f.; Jacques Mounier: La fortune des ecrits de J.-J. Rousseau dans les pays de langue allemande de 1782 ä 1813. Paris 1980, S. 56ff. C. M. Wieland an F. H. Jacobi (Weimar, 12. 2. 1777). Zit. nach: Friedrich Heinrich Jacobi: Briefwechsel 1775—1781. Gesamtausgabe Reihe I, Bd. 2. Hrsg. v. P. Bachmaier u.a. Stuttgart—Bad Cannstatt: Frommann 1983, S. 53 (Nr. 451). Im Text wird künftig unter Angabe der Band- und Briefnummer nach der Gesamtausgabe [Sigle: BW] zitiert.
Die Romanprojekte Friedrich Heinrich J a c o b i s
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renzieren, betrachtet man die beiden Briefromane Jacobis näher, für die Rousseaus Nouvelle Heloise den Problemhintergrund lieferte. Eine einfache Adaptation Rousseauscher Motive hat Jacobi bei der Konzeption seiner Romane, das sei vorausgeschickt, ebenso vermieden wie den simplifizierenden Gebrauch jener Sprache der Natur, die Rousseau im Emile als göttlichen Instinkt und sicheren Führer zur Tugend beschrieben hatte. Bei der Suche nach dem wahren (sprachlichen) Gefühlsausdruck, der sich von dem nur prätendierten abgrenzen läßt, waren Mißverständnisse indes nur schwer zu vermeiden. In seinen Fliegenden Blättern hat Jacobi die Schwierigkeit benannt und seine Vorbehalte gegenüber den emphatischen, aber leeren Gesten der Modeliteratur ähnlich wie Wieland formuliert: Wir können uns ohne Gefahr den Eindrücken der Natur, auch den Eindrücken von Menschen überlassen; es heiße Enthusiasmus, heiße Schwärmerei; ist der Eindruck nur wirklich da, ist unsere Empfindung nur das Resultat eines wirklichen Verhältnisses, so hat es nichts zu bedeuten. So bald wir aber nur die Empfindung länger erhalten wollen, als sie von selbst dauert, so bald wir bemüht sind, sie nachzuahmen, so bald wir endlich gar bemüht sind, die Empfindungen Anderer in uns zu erwecken, so sind wir auf dem Wege des Selbstbetruges, der Heuchelei. 5
Das ist keine weise Einsicht des Spätwerkes, sondern eine von Jacobi seit dem Beginn seiner schriftstellerischen Tätigkeit wiederholt geäußerte Kritik an dem ,vornehmen Ton' der literarischen Kreise, zu denen er selbst gehörte. Eine Gelegenheit zur Distanzierung bot ihm schon im Jahr 1771 eine Affäre, die sein Bruder durch die Veröffentlichung einer kleinen Broschüre mitveranlaßt hatte. In dem Schreiben eines Freydenkers an seine Brüder bemühte sich J. G. Jacobi um die Bildung schöner Seelen, vor allem um deren religiöse Gesinnungen; kein Autor wird von ihm ausführlicher zitiert als der „Freydenker" Rousseau, dessen „Glaubens =Bekenntniß" gegen die Philosophie der Enzyklopädisten ausgespielt wird, obgleich der Verfasser mit Bedauern einräumen muß, daß sich Rousseau in seinem empfindungsvollen Vortrag religiöser Wahrheiten nicht als kirchenfrommer Christ erwiesen habe: „Warum stört er den Frieden so vieler, um einige Zweifelhafte wieder aufzurichten?" 6 Nun: 5
6
Friedrich Heinrich J a c o b i : Werke. Sechster und letzter Band. Leipzig: Fleischer 1825, S. 187. [Sigle: JW.] Der Text ist von Hermann Bräuning-Oktavio neu ediert und ausführlich kommentiert worden: J o h a n n Georg Jacobis „Schreiben eines Freydenkers an seine Brüder" (1771), der sog. „Brief an die Freydenker". In: Weimarer Beiträge 7 (1961), S. 6 9 4 - 7 3 8 , hier: 7 0 6 Anm. f.
82
Friedrich Vollhardt
weil er aus systematischen G r ü n d e n die Unvereinbarkeit zwischen christlicher und weltlicher M o r a l behaupten m u ß . Die Enttäuschung über Rousseaus Häresie sollte noch in dem zitierten Nachruf durchklingen. 7 Das Schreiben eines Freydenkers w u r d e in den Freundschaftszirkeln der E m p f i n d s a m e n wie ein Rundbrief gelesen und weitergereicht. Als Bote wirkte vor allem Franz Michael Leuchsenring, der sich auf den Weg machte, u m einen „Orden der E m p f i n d s a m k e i t " zu stiften. 8 Goethe hat ihn in seinem Fastnachtsspiel vom Pater Brey als „falschen Propheten" porträtiert, Herder verspottete ihn als „Apostel" 9 und ähnlich abschätzig hat sich auch F. H . Jacobi in einem Brief an Sophie von La Roche über den verehrten „Erz = Leuchsenring" geäußert, wobei er Rousseau vor dem gefühlsseligen Rousseauismus in Schutz nimmt: Wahrscheinlicher Weise geht unser Lieber jetzt zu Bergzabern, an einem rosenfarbenen Bande, hinter der Elysischen Zieglerin, und weidet, von ihrem L ä m m c h e n angelächelt, neben ihm Charmillen und Rosenblätter. — Welch eine e m p f i n d s a m e Schilderung! [...] II faut m a r c h e r avec la nature; und die simpeln und reinen E m p f i n d u n g e n , die sie giebt, mit so viel Feuer und Stärke a u f n e h m e n , als sie einem ein Herz dazu gegeben hat, aber keine neuen erfinden wollen. — (BW 1/1, S. 199)
In der ersten umfangreicheren Fassung seines Allwill-Romans, der 1776 in mehreren Lieferungen ebenfalls im Teutschen Merkur erschien, hat Jacobi diese Sätze variiert. Das „müßige Sammeln von E m p f i n d u n g e n " und das „Bestreben, Empfindungen zu empfinden, Gefühle zu 10 f ü h l e n " , kennzeichnen eine Lebenshaltung, durch die der Mensch seine Bestimmung zu einem verantwortlichen gesellschaftlichen Handeln und damit zur h u m a n e n Vervollkommnung verfehlt. Sobald zwischen den programmatischen Erklärungen und den Möglichkeiten ihrer .Realisierung, den „Ideen" und der „ T h a t " , 1 1 ein Widerspruch eintritt, m u ß an der Wahrheit des kommunizierten Gefühls gezweifelt werden. Die mit dem Erzählen verbundenen Intentionen werden von Jacobi im Text selbst ausdrücklich genannt. Der Autor wußte offenbar um die naheliegenden Fehleinschätzungen seiner Sprache der Empfindungen, die sich nicht leicht schattieren ließ, auf die gleichwohl aber der gesamte 7 8 9 10
11
Vgl. Süßenberger: Rousseau im Urteil, S. 27. Vgl. Bräuning-Oktavio: Jacobis Schreiben, S. 726. Ebd., S. 737. Friedrich Heinrich Jacobi: E d u a r d All wills Papiere. Hrsg. v. H . Nicolai. Stuttgart 1962 (Faksimiledruck der erweiterten Fassung von 1776), S. 103. Soweit nicht anders vermerkt, wird im folgenden nach dieser Ausgabe zitiert. Ebd.
Die R o m a n p r o j e k t e Friedrich Heinrich Jacobis
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R o m a n aufgebaut werden sollte. Woraus auch seine Statik resultierte, das Fehlen einer abwechslungsreichen H a n d l u n g , an deren Stelle die Schilderung der inneren Reaktionsweisen der Personen tritt, die in einem engen Familienverhältnis leben. Die vielfältigen Freundschafts- u n d Liebesbeteuerungen bieten den fiktiven Briefschreibern einen immer neuen, aber auch immer gleichen Anlaß zur Selbstbeobachtung. Diese wird bis an die eben beschriebene Grenze eines problematischen Selbstgenusses, der Invokation der eigenen Gefühle und Stimmungen getrieben, denen der Autor die moralische Legitimation abspricht. 1 2 Die Forschung zur E m p f i n d s a m k e i t hat den zuletzt genannten Aspekt bisweilen ignoriert und demgegenüber das M o m e n t des introvertierten Gefühls hervorgehoben, was zu einer verkürzten D e u t u n g der literarischen Gestaltungen der Affektivität führte. Die e m p f i n d s a m e n R o m a n e der siebziger und achtziger J a h r e konnten so einer kurzlebigen, ständisch ungebundenen und schließlich zur M o d e verflachenden „Gefühlsideologie" 1 3 zugerechnet werden, in der m a n eine O p p o s i t i o n s h a l t u n g zu der durch die bürgerliche M o r a l erzwungenen Affektdisziplinierung, letztlich also ein Krisenzeichen der neueren Zivilisationsgeschichte zu erkennen glaubte. Auf die Argumente, die f ü r oder gegen diese sozialpsychologische These sprechen, soll an dieser Stelle nicht eingegangen w e r d e n . 1 4 Entscheidend ist, was mit dieser These implizit angesprochen wird und was für die R o m a n e Jacobis in besonderer Weise zu gelten scheint. Gemeint ist die stilistische Einheit der Texte, die sich aus der k o n s e q u e n t e n A n w e n d u n g der e m p f i n d s a m e n Rede ergibt, mit der sich zugleich aber der Eindruck einer Uniformität oder gar der künstlerischen Ausdrucksa r m u t einstellt. Gleichwohl handelt es sich, auf den ersten Blick m a g dies p a r a d o x erscheinen, um ein kalkuliertes stilistisches Verfahren, das aus seinen vermeintlichen Schwächen — dem Verzicht auf Pointierungen, den Wiederholungen und gleichförmigen Charakterschilderungen — ei-
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13
14
Z u r Rhetorik der Selbstinvokation in der Erzählliteratur des 18. und f r ü h e n 19. J a h r h u n d e r t s vgl. Dietrich Schwanitz: Selbstthematisierung im englischen Liebesroman. In: A. H a h n , V. Kapp (Hrsg.): Selbstthematisierung u n d Selbstzeugnis: Bekenntnis und Geständnis. F r a n k f u r t / M . : S u h r k a m p 1987, S. 2 8 1 - 2 9 6 , bes. S. 286 f. Lothar Pikulik: Leistungsethik contra Gefühlskult. Über das Verhältnis von Bürgerlichkeit und E m p f i n d s a m k e i t in Deutschland. Göttingen: Vandenhoeck 1984, S. 212. Vgl. dazu Vf.: Selbstliebe und Geselligkeit. Untersuchungen zum Verhältnis von naturrechtlichem Denken und ,schöner Literatur' im 18. J a h r h u n d e r t . Tübingen: Niemeyer 1995 (Reihe C o m m u n i c a t i o ) , Kap. I.
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Friedrich Vollhardt
n e n G e w i n n a n N a t ü r l i c h k e i t u n d Ü b e r z e u g u n g s k r a f t zu z i e h e n v e r s u c h t . D i e englischen Vorbilder der G a t t u n g hatten das Verfahren nur angedeut e t . F ü r ein s o l c h e s R o m a n p r o j e k t , w i e es J a c o b i in m e h r e r e n A n l ä u f e n zu v e r w i r k l i c h e n s u c h t e , l i e ß e n sich k a u m f e r t i g e M u s t e r f i n d e n
oder
p o e t o l o g i s c h e R e g e l n zitieren — e i n e A u s n a h m e b i l d e t e allein R o u s s e a u , a u f den J a c o b i hier direkt Bezug n i m m t . 1 5
I. In e i n e r A n m e r k u n g a m S c h l u ß d e r e r s t e n S a m m l u n g d e r i m Merkur
gedruckten
Allwill-Rrieie,
die in die s p ä t e r e n
Teutschen
Buchfassungen
nicht ü b e r n o m m e n wurde, d e n k t der fiktive H e r a u s g e b e r über „Sinn und S c h r e i b a r t " der von ihm veröffentlichten Papiere nach.
Stellvertretend
f ü r den A u t o r r e f l e k t i e r t er ü b e r den E i n s a t z d e r k ü n s t l e r i s c h e n M i t t e l , d i e u m s o w a h r s c h e i n l i c h e r w i r k e n , j e w e n i g e r sie d e m G e b o t d e r N a t u r nachahmung folgen:
15
F. H. J a c o b i hat sich zwischen 1759 und 1761 in Genf aufgehalten, wo er mit Parteigängern Rousseaus zusammentraf. Uber sein intensives Studium der Schriften Rousseaus geben die Briefe Auskunft, welche er an Marc Michel Rey — den Amsterdamer Verleger Rousseaus — schrieb; vgl. J . T h . de Booy u. R . Mortier (Hrsg.): Lettres inedites de F. H. J a c o b i . Genf: Droz 1966 (Studies on Voltaire and the Eighteenth Century XLV) und die Einleitung von Roland Mortier, S. 15—71, bes. S. 47 („La Nouvelle ΗέΙοϊεε etait [...] sa lecture preferee"). Auf die Bedeutung Rousseaus für das Romanwerk Jacobis hat die Forschung bereits früh aufmerksam gemacht; vgl. etwa Lucien Levy-Bruhl: L'influence de Jean-Jacques Rousseau en Allemagne. In: Annales de l'ecole libre des Sciences Politiques 2 (1887), S. 3 2 5 - 3 5 8 , bes. S. 349 f. Den „kaum zu überschätzende[n] Einfluß der Nouvelle Hiloi'se auf Jacobis Woldemar" hat jüngst Friedrich Bechmann hervorgehoben: Jacobis ,Woldemar' im Spiegel der Kritik. Eine rezeptionsästhetische Untersuchung. Frankfurt/M.: Lang 1990 (Europäische Hochschulschriften X X , 301), S. 99; dem Vergleich der beiden R o m a n e hat Bechmann ein eigenes Kapitel gewidmet (S. 82—110), das zu der hier entwickelten Fragestellung jedoch nur wenig beiträgt. Wichtigere Hinweise finden sich in den Studien von Klaus Hammacher: Ein bemerkenswerter Einfluß französischen Denkens: Friedrich Heinrich Jacobis (1743—1819) Auseinandersetzung mit Voltaire und Rousseau. In: Revue Internationale de Philosophie 3 2 (1978), S. 3 2 7 - 3 4 7 , bes. S. 345 f.; Ders.: Jacobis Romantheorie. In: W. Jaeschke u. H. Holzhey (Hrsg.): Früher Idealismus und Frühromantik. Der Streit um die Grundlagen der Ästhetik ( 1 7 9 5 - 1 8 0 5 ) . Hamburg: Meiner 1990 (Philosophisch-literarische Streitsachen 1), S. 1 7 6 - 1 8 9 .
Die Romanprojekte Friedrich Heinrich Jacobis
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Ich muß hier etwas nachholen, das in der Vorrede vergessen worden. Roußeau (dessen Unterredung über die Romane vor der neuen Heloise ich gern dem Leser ganz übersetzte, da sie so manches enthält, das diesen Briefen treflich zu statten käme) soll für mich sprechen. Dieser legt seinem Freunde die Bemerkung in den Mund, daß ein gewisser Zug von Aehnlichkeit in Sinn und Schreibart, die man bey den Personen der neuen Heloise wahrnehme, nebst einigen andern Unschicklichkeiten die Muthmaßung verstärke, daß sie kein erdichtetes Werk sey." „[...] In dieser Sammlung ist vieles so ungeschickt, daß sich der ärgste Schmierer davor gehütet hätte. ... Wo ist einer, der nicht angefangen hätte sich zu sagen: man muß die Charaktere genau bezeichnen, muß pünktlich den Styl verändern. Ohnfehlbar hätte er es bey diesem Vorsatz besser gemacht, als die Natur." (S. 62) Im Anschluß hieran übersetzt Jacobi noch eine weitere Stelle aus dem romantheoretischen Dialog Rousseaus. Sie ist mit Bedacht gewählt. In einem einzigen Satz wird die Form und die soziale Funktion des empfindsamen Sprachgebrauchs charakterisiert: „Ich beobachte, daß in einer sehr innigen Gesellschaft, die Schreibarten sich einander so nähern, wie die Charaktere, und daß wie die Seelen der Freunde sich vermischen, eben so auch ihre Arten zu denken, zu empfinden, und sich auszudrücken, in einander fließen." 16 Dieser Aspekt der Gefühlssprache war in Deutschland bis dahin unverstanden geblieben, selbst bei den prominentesten Vertretern der Literaturkritik. In den Briefen, die neueste Litteratur betreffend wurden der R o m a n Rousseaus und seine deutsche Übersetzung als ,,[k]aum mittelmäßig" abgefertigt, da ein anspruchsvoller Leser hier nur „gekünstelte Empfindungen, geschraubte Gedanken, und zärtliche Antithesen" entdecken könne. Der Rezensent, Moses Mendelssohn, stößt sich vor allem an der Figur des St. Preux, der „eine Menge von verliebten Briefen in diesem Tone fortleyert" — einem Ton, der allen Regeln einer natürlichen Empfindung und wahrscheinlichen Schreibart widerspricht. 1 7 Auf Rous16
17
Ebd. — Die Stelle lautet im Original: „J'observe que dans une societe tres intime les styles se rapprochent ainsi que les caracteres et que les amis, confondant leurs ämes, confondent aussi leurs manieres de penser, de sentir et de dire." Zit. nach der Ausgabe von Rene Pomeau (Paris: Editions Garnier 1960), S. 755. Zu den zeitkritischen Aspekten der Seconde Preface vgl. auch Sieglinde Domurath: Politische Dimensionen von Jean-Jacques Rousseaus La Nouvelle Heloise. Frankfurt/M.: Lang 1992 (Europäische Hochschulschriften X X , 360), S. 48 ff. Moses Mendelssohn: Rezensionsartikel in Briefe, die neueste Litteratur betreffend (1759—1765). Bearbeitet von Eva J. Engel. Stuttgart—Bad Cannstatt: Frommann 1991 (Jub.-Ausg. Bd. 5,1), S. 399 (168. Literaturbrief, 11. Juni 1761).
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Friedrich Vollhardt
seaus PrSface
de Julie
ou Entretien
sur les romans
geht Mendelssohn
nur kurz ein. D a s Gespräch enthält für ihn keine neuen poetologischen Leitlinien, wie sie J a c o b i entdecken wird, sondern nur eine mißglückte Apologie; was Rousseau von der guten Absicht eines Romanenschreibers, und von der Lauterkeit der Moral sagt, die in seinen Briefen gepredigt wird, das lasse ich dahingestellt seyn. Aber die magern Erfindungen und der unnatürliche Vortrag lassen sich durch keine gute Absichten entschuldigen. (S. 367; 166. Literaturbrief)
Die Kritik Mendelssohns hat J o h a n n Georg H a m a n n mit einer Reihe von Chimärischen
Einfüllen
beantwortet, die unter dem
Pseudonym
„Abälardus V i r b i u s " im 192. Literaturbrief abgedruckt wurden; M e n delssohn replizierte mit einem ähnlich anspielungsreichen und ironischen Text im folgenden Brief. 1 8 H a m a n n gibt zu bedenken, daß „Rousseau die wahre Natur des R o m a n h a f t e n tiefer eingesehen und glücklicher n a c h g e a h m t " habe als der Anhänger einer normativen Dichtungstheorie (S. 4 4 3 f.). Er verteidigt die sinnliche Erfahrung als Ausgangspunkt jeder möglichen Erkenntnis; auch eine solche, die durch Leidenschaften erregt wird. Die A n t w o r t Mendelssohns zielt auf den Kern einer vernunftskeptisch argumentierenden ,Glaubensphilosophie', über deren Grundsätze sich H a m a n n in seinem späteren Briefwechsel mit J a c o b i verständigte, wobei die poetologische Debatte in den Hintergrund trat. Mendelssohn verlangt eine Bestimmung der Grenzen, die den nichtrationalen Vermögen des Menschen gesetzt sind: Ich forderte Bündigkeit Ordnung und Zusammenhang, und siehe! ich war in einer Zauberwelt, wo ich nichts begreifen, wenig glaubwürdig finden, und alles desto kräftiger glauben soke. (S. 450; 192. Literaturbrief)
D a sich das Unbedingt dieser Erfahrungen nicht nachkonstruierend begreifen läßt, muß es durch eine besondere Schreibart zur Darstellung
18
Ebd. S. 4 4 2 - 4 4 8 u. 4 4 9 - 4 5 3 (Fulberti Kulmii
Antwort
an Abälardum
bium im Namen des Verfassers der fünf Briefe die neue Heloise
Vir-
betreffend).
Zu der Auseinandersetzung zwischen Mendelssohn und Hamann vgl. SvenAage Jorgensen: Empfindung und Wahrscheinlichkeit. Hamanns Metakritik über Mendelssohns Besprechung von Rousseaus Julie ou la Nouvelle Heloise. In: Text & Kontext 9,2 (1981), S. 2 3 7 - 2 4 9 ; Karlfried Gründer: Hamann und Mendelssohn. In: K. Gründer u. Κ. H. Rengstorf (Hrsg.): Religionskritik und Religiosität in der deutschen Aufklärung. Heidelberg: Lambert Schneider 1989 (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung 11), S. 113 — 144, bes. S. 115.
Die Romanprojekte Friedrich Heinrich J a c o b i s
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gebracht werden — eben die Sprache der Affekte. Eine solche Sprache gehört nicht zu den Instrumenten des Konkurrenzkampfes, die der Prozeß der Kulturentwicklung ausgebildet hat; sie ist kein Mittel der Selbstinszenierung, des berechnenden Umgangs oder der Täuschung, das die Menschen nur scheinbar miteinander verbindet, in Wirklichkeit aber die unter ihnen bestehende Ungleichheit und Entfremdung befestigt. 19 Der rhetorische Sprachgebrauch ist für Rousseau ein Symptom des sittlichen Verfalls, den die Zivilisation erzeugt und mit dem der Roman zu rechnen hat. Im Vorwort warnt der Autor den keuschen Leser vor den Wirkungen des Buches, die umgekehrt für den bereits Verdorbenen nützlich sein können, da sie ihm „eine verlorene Einfachheit" 2 0 nahebringen. Und zwar im Bild einer Kommunikationsgemeinschaft, wie sie in der von Jacobi zitierten Stelle geschildert wird. Rousseau, und Jacobi schließt sich ihm an, entwirft das Ideal einer Sprache, mit der im gesellschaftlichen Raum eine Erziehung zur natürlichen Humanität denkbar wird. 21 Die intime Verständigung erschöpft sich nicht in der Mitteilung von Informationen, sondern behält ihre ursprünglich gegebene „Ausdrucksfunktion" (Forschner), indem sie das kollektiv Empfundene noch einmal bestätigt: „Sie zielt auf die Festigung schon bestehender Gemeinschaften Gleichgesinnter ab." 2 2 Von den Gefährdungen, die auch für die neuen gesellschaftlichen Ordnungsformen — sollten sie denn je verwirklicht werden — weiter bestehen, ist bereits gesprochen worden. Erst die entfremdete bürgerliche Gesellschaft macht es notwendig, aber auch möglich, das Gegenbild einer auf Tugend und Vertrauen gegründeten Lebensgemeinschaft zu entwerfen. Die in der Nouvelle Helo'ise gezeichnete Utopie entfaltet einen Teil der Rousseauschen Theorie
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Vgl. hierzu Maximilian Forschner: Rousseau. Freiburg/Bg.: Albert 1 9 7 7 , S. 41 Anm. 31 sowie Ursula Geitner: Die Sprache der Verstellung: Studien zum rhetorischen und anthropologischen Wissen im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen: Niemeyer 1992 (Communicatio 1), S. 2 0 9 — 2 3 8 . Karlheinz Stierle: Theorie und Erfahrung. Das Werk Jean-Jacques Rousseaus und die Dialektik der Aufklärung. In: J . v. Stackelberg (Hrsg.): Europäische Aufklärung III. Wiesbaden: Athenaion 1980 (Neues Handbuch der Literaturwissenschaft 13), S. 1 5 9 - 2 0 8 , hier S. 181. Vgl. hierzu Martin Rang: Rousseaus Lehre vom Menschen. Göttingen: Vandenhoeck 1959, S. 78. Klaus Dirscherl: Stillosigkeit als Stil. Du Bos, Marivaux und Rousseau auf dem Weg zu einer empfindsamen Poetik. In: H . U. Gumbrecht u. K. L. Pfeiffer (Hrsg.): Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1 9 8 6 , S. 1 4 4 - 1 5 4 , hier S. 151.
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Friedrich Vollhardt
der Kulturentwicklung, deren Gesamtkonzept bereits im ersten
Discours
angedeutet wird. Der R o m a n verweist auf die in den anderen Werken formulierten anthropologischen, pädagogischen und gesellschaftstheoretischen Prämissen. Daß die Nouvelle
Heloise
aus diesem Kontext heraus-
gelöst werden konnte, muß aus heutiger Sicht erstaunen. Für Jacobi stellte sich die Frage nach der wechselseitigen Auslegung der einzelnen Werke nicht in der gleichen Weise. Er hat den Briefroman allen anderen Schriften des Genfers vorgezogen und die aus dem künstlerischen Formexperiment gewonnenen Einsichten fruchtbar zu machen versucht, ohne die zivilisationsgeschichtliche Perspektive Rousseaus ausdrücklich mitzubedenken. Worin liegt der Grund für die Hochschätzung gerade dieses einen Werkes? Meine Vermutung lautet: Der Romancier hat in diesem Werk Anregungen und Lösungen gefunden, die der
philosophische
Schriftsteller in den beiden Akademieabhandlungen und der staatstheoretischen Schrift Rousseaus weder suchte noch vermißte, weil diese in seinen Augen entweder nur Bekanntes bestätigten oder neben gleichwertigen Entwürfen zu diskutieren waren. Die deutschen Aufklärer ließen sich von Rousseaus Direktheit einnehmen, auch provozieren, kaum jedoch irritieren. Jacobi konnte hier auf eine seit zwei Jahrzehnten geführte Debatte zurückblicken.
II. Erinnert sei nur an Mendelssohns Sendschreiben
an Lessing, das aus der
Sicht der modernen Naturrechtslehre — der Position der ,Schule', mit der auch J a c o b i vertraut war — Rousseaus Konzeption des Naturzustandes und seine Begriffe von humaner Freiheit, Pflicht und Vollkommenheit kritisiert. Mendelssohn entwickelt seine Argumente, indem er Rousseaus Abstraktion des natürlichen Menschen die Fiktion der akademischen Lehre vom Naturzustand gegenüberstellt und deren rein methodischen Anspruch betont: Wenn die Gelehrten zu allen Zeiten es für nöthig erkannt haben, den Menschen in seinem natürlichen Zustande zu betrachten, um ein Recht der Natur auf sichere Gründe bauen zu können; so müssen sie [...] den Menschen genommen haben, wie er ietzt ist, mit allen Kräften, mit welchen er sich ausgerüstet, und auf der Stufe der Vollkommenheit, auf die er sich nach langer Arbeit erhoben hat. [...] Hierauf haben sie das Recht
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der Natur gegründet, welches also nichts anders seyn kann, als die Gesetze der Gerechtigkeit, die aus unsrer wesentlichen Beschaffenheit herfliesen, und [...] nicht verändert werden können.23
Die wesentliche Beschaffenheit des Menschen, aus der sich die Gesetze des Gemeinschaftslebens notwendig ableiten, ist für Mendelssohn die Geselligkeit, welche als „vorzügliche Neigung" beschrieben wird, die dem „Wilden [ . . . ] einen Funke von Liebe in seine Seele gelegt" habe (S. 8 7 ) . 2 4 Mit dem empfindsam ausgedeuteten Leitgedanken der Geselligkeit erläutert Mendelssohn den Affekt des Mitleids, den Rousseau dem primitiven Menschen als Naturtrieb zugestanden hat. Für Mendelssohn ist er keine „ursprüngliche Neigung" (S. 86), sondern ein erst durch die Sozialität gestiftetes Gefühlsvermögen, das näherhin als gemischte Empfindung bestimmt werden k a n n . 2 5 In der Folgezeit ist das Anliegen des Kulturkritikers dann weniger differenziert dargestellt worden. Der Naturmensch wurde auf die zweite essentielle Eigenschaft reduziert, die ihm Rousseau zugeschrieben hatte: den egoistischen Trieb zur Selbsterhaltung. Die Forderung nach einer Rückkehr zur Natur sollte ironisch kommentiert werden. In einer Abhandlung über die „Sympathie", die 1781 im Hannoverischen
Magazin
erschienen ist, schließt sich der Autor inhaltlich der Kritik Mendelssohns a n , 2 6 liefert jedoch ein verfälschtes Bild der von Rousseau in seinem Discours
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sur Ι'ϊηέξαίΗέ
entworfenen Argumentation:
Moses Mendelssohn: Schriften zur Philosophie und Ästhetik II. Bearbeitet v. F. Bamberger u. L. Strauss. Berlin: Akademie 1931 (Jub.-Ausg. Bd. 2), S. 92. Vgl. dazu Alexander Altmann: Moses Mendelssohn über Naturrecht und Naturzustand. In: N. Hinske (Hrsg.): „Ich handle mit Vernunft . . . " Moses Mendelssohn und die europäische Aufklärung. Hamburg: Meiner 1981, S. 45 — 83. Zu Rousseau vgl. Arthur M . Melzer: The Natural Goodness of Man. On the System of Rousseau's Thought. Chicago: University Press 1990. In diesem Punkt ist die Darstellung von Jost Schillemeit: Lessings und Mendelssohns Differenz. Zum Briefwechsel über das Trauerspiel (1756/57). In: G. Frühsorge u . a . (Hrsg.): Digressionen. Wege zur Aufklärung. Heidelberg: Winter 1984, S. 7 9 - 9 2 , bes. S. 83, zu präzisieren. „Der Mensch erkennt immer mehr die Vortheile der Geselligkeit, ihre Annehmlichkeiten, und wird des Wohlwollens gegen andere fähig. [...] Von dieser Sympathie glaub' ich, daß sie allen Menschen angeboren werde, doch aber so, daß sie nicht allein durch Uebung, sondern auch durch Vorstellungen [...] gestärkt werden k a n . " [?] Kuhls: Von der Sympathie. In: Hannoverisches Magazin. 18. Stück (2. März 1781), S. 2 7 4 - 2 8 8 , hier S. 275 f. u. 19. Stück (5. März 1781), S. 2 9 0 - 2 9 4 .
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Friedrich Vollhardt Die ganze A b h a n d l u n g des mir ehrwürdigen Weisen ist, wie die ganze Welt weiß, voll widersinniger Sätze und spricht dem Meister H o h n , der unsere N a t u r so schön bildete. Rousseaus N a t u r m e n s c h ist ein äusserst eigennütziges Thier. [...] Der Stand schien dem Genfer Bürger allein beneidenswürdig und er bot allen Witz, alles Feuer der Einbildungskraft, allen Z a u b e r der Schreibart, w o d u r c h er sich so außerordentlich auszeichnet, auf, um seiner Schrift Eingang zu verschaffen. Es gelang ihm, so viel ich weiß, nirgends, außer bei der Akademie zu Dijon, die seine A b h a n d l u n g k r ö n t e und wahrscheinlich nicht abgeneigt war, in die Wälder zu laufen. (S. 274 f.)
An ein weniger gelehrtes Publikum wendeten sich August Friedrich Meier und Samuel G o t t h o l d Lange in ihrer Wochenschrift Der Glückselige. Rousseaus Angriff auf die populäre Aufklärungsliteratur begegnen sie mit demonstrativer Gelassenheit und der allen E i n w ä n d e n zuvorkommenden Feststellung, d a ß sich ein Schriftsteller an die Tugend zu binden hat, so wie das von ihm vermittelte Wissen nach seinem moralischen Nutzen zu beurteilen ist. Die Wissenschaft löst diese Forderungen nicht immer ein — darin geben die Autoren dem Zivilisationskritiker recht: „Verstand und Wissenschaft bessern zuweilen einen Menschen: doch meistentheils dienen sie nur dazu, ihn verschmitzter und feiner, aber auch eben dadurch seine Bosheit desto gefährlicher zu machen." Von daher auf einen kausalen Z u s a m m e n h a n g zwischen dem Fortschritt der Wissenschaften und dem Verfall der Sitten zu schließen, halten die Autoren allerdings f ü r groben Unfug: Doch ist es falsch, wenn Rousseau sagt, d a ß die schönen Wissenschaften die Sitten verderben. Der Ueberfluß zeuget die schönen Künste und verderbet die Sitten. Aber deswegen, weil beydes zugleich und neben einander ist, k a n m a n nicht sagen, d a ß eines die Ursache von dem andern ist. Es pranget ein Regenbogen am H i m m e l und zugleich entstehet eine grosse Feuersbrunst. Wer schreibet aber wol die letztere dem Regenbogen zu? Ueberhaupt haben blos die Zeitungsschreiber aus dem Geneverbürger einen grossen M a n n g e m a c h t . 2 7
Auch für Jacobi ist es eine „nur zu offenbare Thatsache, daß ein Volk b e w u n d e r n s w ü r d i g kunstreich, vielseitig gebildet, auch äußerlich auf das Feinste gesittet; und doch innerlich zugleich im höchsten Grade verderbt, [...] aller wahren Tugend beraubt seyn k a n n . " (JW VI, S. 47) Doch sieht er keinen unmittelbaren Z u s a m m e n h a n g zwischen den Errungenschaften der Verstandeskultur und den Phänomenen der zivilisatorischen Entar-
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Der Glückselige, eine moralische Wochenschrift. Siebenter Theil. Halle 1766, Stück 211 (S. 39 f.).
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tung. Dem Anliegen des ,feurigen Redners' zollt er Bewunderung, ansonsten hält er es mit den eher nüchternen Abhandlungen Herders Vom Einfluß der Regierung auf die Wissenschaften und der Wissenschaften auf die Regierung (1780). Wo Rousseau dagegen weniger polemisch und mehr in eigener Sache philosophierte, wurde seine Originalität nicht eben hoch eingeschätzt. Jacobi spricht von einer „unlauterefn] Originalität". 2 8 Und Christoph Meiners vermerkt in seiner Untersuchung der Frage: Ob die Neigungen der Menschen natürlich sind, daß Rousseaus „amour de soi-meme" ein Begriff sei, den bereits die „neuern Moralisten" eingeführt haben. 2 9 Namentlich erwähnt wird Jacques Abbadie, der zwei Formen der Selbstreferenz, eine moralisch legitime (amour de nous-meme) und eine verderbliche (amour-propre) terminologisch unterschieden hatte. Diesem lange Zeit vergessenen Autor ist erst in der neueren Rousseau-Forschung wieder Beachtung geschenkt worden. 3 0 In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bildete der Autor noch eine Instanz in Fragen der Moralpsychologie, auf die sich auch Jacobi mit der Bemerkung berief, das Hauptwerk Abbadies sei die Schrift eines „trefflichen Mannes" (JW VI, S. 75). 31 Nimmt man die genannten Aspekte zusammen — weitere ließen sich ergänzen —, wird verständlich, warum Jacobi den theoretischen Schriften Rousseaus, auch den autobiographischen, mit Zurückhaltung begegnete, während er von dem empfindsamen Briefroman mit der größten Bewunderung sprach. Um das Inkommensurable des Werkes zu beschrei-
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In der überarbeiteten Fassung seines Waldemar-Romans: Erster Theil. Neue verbesserte Ausgabe. Königsberg: Nicolovius 1796, S. 82. Christoph Meiners: Untersuchung der Frage: O b die Neigungen der M e n schen natürlich sind und folglich vertilget werden k ö n n e n oder nicht? In: L. Cochius Untersuchung über die Neigungen welche den von der Königl. Akademie der Wissenschaften zu Berlin für das J a h r 1767 ausgesetzten Preiß erhalten hat. Nebst andern dahin einschlagenden A b h a n d l u n g e n . Berlin 1769, S. 1 8 7 - 3 3 1 , hier S. 297. Vgl. Wolfgang Matzat: Diskursgeschichte der Leidenschaft. Z u r A f f e k t m o dellierung im französischen R o m a n von Rousseau bis Balzac. Tübingen: N a r r 1990 (Romanica Monacensia 35), Kap. 1/3; ein k n a p p e r Hinweis bei Iring Fetscher: Rousseaus politische Philosophie. Z u r Geschichte des d e m o kratischen Freiheitsbegriffs. 3. Aufl. F r a n k f u r t / M . : S u h r k a m p 1980, S. 65. Jacobi besaß Abbadies L'Art de se connoitre soi-meme, ou la recherche des sources de la morale in einer 1760 gedruckten französischen Ausgabe (La Haye: Neaulme); vgl. K o n r a d Wiedemann (Hrsg.): Die Bibliothek Friedrich Heinrich Jacobis. Ein Katalog. Bd. 1. Stuttgart: F r o m m a n n 1989 (F. H . Jacobi. D o k u m e n t e zu Leben u n d Werk 1,1), S. 122 (Nr. 501).
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ben, wählte er in einem an Goethe gerichteten Brief einen f ü r den Empfänger nicht gerade schmeichelhaften Vergleich: „ein Buch, wahrhaftig w o v o n ich nicht weiß, wenn ich mir das H i r n ein wenig zurecht schüttle, ob ich es für Göthens R o m a n [Die Leiden des jungen Werthers] hingäbe." (BW 1/1, S. 355) An der Aufrichtigkeit dieser Mitteilung ließ sich k a u m zweifeln. Mit ähnlicher Offenheit teilte Jacobi nach dem Erscheinen des Woldemar seine Freude d a r ü b e r mit, daß der R o m a n in einer A b h a n d l u n g „bei Gelegenheit von Rousseau a n g e f ü h r t " w o r d e n sei: „Es k a n n nichts richtiger seyn als diese Vergleichung." (BW 1/2, S. 526)
III. Abhängigkeiten lassen sich bereits auf einer elementaren Ebene nachweisen. Es gibt Anspielungen auf Motive und Charaktere der Nouvelle Heloi'se, ja sogar wörtliche Ü b e r n a h m e n aus dem Text Rousseaus in beiden R o m a n e n Jacobis; im Stellenkommentar der kritischen Ausgabe des Allwill werden Beispiele a n g e f ü h r t . 3 2 Wichtiger sind jedoch die großen thematischen Einheiten, an denen sich Jacobi orientierte. Erst diese geben A u s k u n f t darüber, wie Rousseau in Deutschland gelesen wurde, wie sein R o m a n als Vorbild wirkte und welche Fragen die deutschen Schriftsteller zu eigenen, konkurrierenden A n t w o r t e n herausforderten. H a n s R o b e r t J a u ß ist diesen Problemen der Rousseau-Rezeption an Goethes Werther, dem wohl prominentesten Beispiel, nachgegangen. Die exemplarische Studie zu den sich überschneidenden und zugleich voneinander abhebenden literarischen ,Horizontstiftungen' zeigt, d a ß die provozierende Uneindeutigkeit der Nouvelle HSloise von Goethe nicht beseitigt, sondern ins Tragische verlängert wird. Eine Lösung des von Rousseau im R o m a n gestalteten „Widerspruchs zwischen natürlicher und gesellschaftlicher Existenz" 3 3 stand seiner Generation noch nicht zur Verfügung. J a u ß entdeckt sie — hier liegt der geheime Zielpunkt seiner Rekonstruktion — in dem vom deutschen Idealismus eröffneten ,dritten Weg', der auf eine Moralisierung des Menschen hinführt, „bei der sich erweisen muß, d a ß Moralität eine Sache der Kunst, nicht der Natur ist, und vollkommene
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Vgl. J. U. Terpstra (Hrsg.): Friedrich Heinrich Jacobis „Allwill". Groningen: Wolters 1957, S. 112 A n m . 83. H a n s R o b e r t Jauß: Ästhetische E r f a h r u n g und literarische Hermeneutik. 2. Aufl. F r a n k f u r t / M . : S u h r k a m p 1984, S. 613.
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Kunst wieder zur Natur werden k a n n . " 3 4 Im Ausgang von der durch Rousseau bezeichneten Problemstellung kommt Jacobi dieser Lösung näher als der Autor des Werther. Wie bemerkt, verzichtete Jacobi bei der Konzeption seiner Romane auf die geschichtsphilosophische Perspektive, die ihm das Werk Rousseaus anbot. Und ebenso verzichtete er auf die Motivierung der Handlung durch eine äußere, gesellschaftlich gesetzte Norm, wie sie Rousseau einführt: An dem Standesunterschied zwischen Julie und ihrem Lehrer St. Preux beschreibt dieser den Widerspruch zwischen Natur- und Gesellschaftszustand und die Unordnung, die entstehen muß, sobald das Individuum im Vertrauen auf seine natürlichen Neigungen die von der Gesellschaft gezogenen Grenzen glaubt korrigieren zu können. Eine neue gesellschaftliche Ordnung läßt sich allerdings, das zeigt der zweite Teil des Romans, nicht allein auf die Evidenz subjektiver Gefühle gründen. Auf die Schilderung einer solchen Ausgangssituation kann Jacobi auch deshalb verzichten, weil sie einen tieferliegenden Konflikt unberührt läßt. Denn auch bei Rousseau bildet nicht das äußere Hindernis die eigentliche Gefährdung der Liebe, vielmehr ist diese in der Unausgeglichenheit zwischen den Leidenschaften, auf deren Moralität das Individuum oft fälschlicherweise setzt, und den in Wahrheit intersubjektiven, natürlich-freundschaftlichen Gefühlen zu suchen, auf denen sich ein vollkommenes Gemeinwesen errichten läßt. Um die Darstellung dieses Konflikts war es Jacobi zu tun. Den All will-Roman eröffnen drei Briefe einer jungen Witwe, von der das Vorwort mitteilt, daß sie sich in einem ,,sonderbare[n] GemüthsZustand" befinde, der „keinen Namen hat". (S. 6) Sie selbst umschreibt diese „Gemüthsstimmung" mit einer Reihe von Synonymen für die Melancholie, die aus der Betrachtung des „traurigen Einerleyfs] menschlichen Lugs und Trugs" (S. 16) entsteht. Ihr Fluchtraum ist die Natur, die überaus empfindsam geschildert wird, mitsamt den ästhetisch-moralischen Projektionen, über die die Briefschreiberin wieder an die Liebe zu glauben lernt (S. 13). Auf der Komplementarität solcher Handlungsräume baute auch der Roman Rousseaus seine Symbolik auf: „Das Subjekt, das sich mit der Gesellschaft entzweit, erlebt sich selbst in einem neuen Zusammenhang mit der Natur." 3 5 Die junge Witwe wird von der Schwermut geheilt und in eine harmonische Gemeinschaft zurückgeführt, wo ihr die natürliche Bestimmung 34 35
Ebd. Stierle: Theorie und Erfahrung, S. 183.
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des Menschen zur Sozialität nicht bewiesen, sondern lebendig erfahrbar gemacht wird. Die Familie der Amalia bildet das Gegenstück zu der Idylle von Ciarens: Wo findest du, bey den entgegengesetzten Eigenschaften und Bedürfnissen der Menschen, diese innige Theilnehmung, welche alle Kräfte in einen Willen zusammenschmelzt [...]? Hier ist sie. (S. 70)
Am R a n d e dieses Kreises bewegt sich die H a u p t f i g u r des R o m a n s , die als einer „der interessantesten Gegenstände" (S. 23) der empfindsamen M e n s c h e n k u n d e in den Briefwechsel eingeführt wird. Von Allwill geht die stärkste G e f ä h r d u n g f ü r das kleine Gemeinwesen aus, o b w o h l er zunächst als ein C h a r a k t e r geschildert wird, der durch den bloßen Affekt (S. 33) zu Handlungen der Nächstenliebe getrieben wird: „Und siehe, so sind alle meine T h a t e n gut, oder ihre Folge wird's; denn durch alle meine Empfindungen weht der lebendige Athem der N a t u r , " wie er über sich selber sagt (S. 89). Das von bloßer Sinnlichkeit bestimmte H a n d e l n entlarvt sich im nachhinein als eine verfeinerte Form der korrumpierten Selbstliebe des Menschen. In der erweiterten Fassung des R o m a n s wird der fehlende Sozialbezug dieser k o m p r o m i ß l o s e n Naturgläubigkeit deutlich hervorgehoben: Unter den Egoisten machen diese Z a u b e r e r eine eigene Classe aus. Jede leidenschaftliche Bewegung ist, ihrer N a t u r nach, eigensüchtig. D a h e r k a n n m a n in der Regel a n n e h m e n , d a ß ü b e r h a u p t der empfindsamere Mensch, als solcher, auch der eigensüchtigere ist. Nicht, d a ß er es wollte; im Gegentheil: er möchte gern sich a u f o p f e r n ; aber er k a n n nicht, weil er so über alle M a a ß e n zuerst von sich selbst gerührt ist. 3 6
Allwill verwirft alle Formen einer O r d n u n g , durch welche die Gesellschaft „für alle und für jedweden" (S. 89) denkt und damit dem Subjekt die vermeintliche Freiheit des Handelns nimmt: „Und d a r u m ist's so ein L u m p e n k r a m u m alle gelernte Religionen und alle gelernte M o r a l . " (S. 93) Folgerichtig wird auch das Erkenntnisvermögen einer sensualistischen Erklärung unterworfen: „Das Ding Vernunft, woher hat es sein Wesen? Ist es mehr als helleres Bewußtseyn durch zartere Sinnlichkeit hervorgebracht?" (S. 85) In dem später mit Lessing in Wolfenbüttel geführten und durch die 1785 erfolgte Publikation b e r ü h m t gewordenen Gespräch über die Lehre des Spinoza hat Jacobi eine ähnliche Position skizziert und hinzugefügt,
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Friedrich Heinrich Jacobi: E d u a r d Allwills Briefsammlung. Erster Band. Königsberg: Nicolovius 1792, S. 220.
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d a ß sie eigentlich nicht zu widerlegen sei, a b e r bis a n die eigenen G r e n zen verfolgt w e r d e n m u ß , d a m i t ü b e r diese h i n a u s g e d a c h t w e r d e n k a n n . Im Allwill-Roman ging es ihm nicht u m solche prinzipiellen A n n a h m e n , s o n d e r n u m die schlichtere ,Wahrheit' m o r a l i s c h e r L e b e n s e n t w ü r f e . D u r c h die A b s o l u t s e t z u n g der Begriffe von N a t u r u n d E m p f i n d u n g verfehlt die H a u p t f i g u r des R o m a n s d a s Wesen sittlicher Freiheit, die nicht in einer völligen Bedingungslosigkeit, s o n d e r n erst mit der A n e r k e n n u n g eines ä u ß e r e n R a h m e n s u n d mit der Einsicht in die N o t w e n d i g k e i t einer M ä ß i g u n g der n a t ü r l i c h e n Begierden entsteht. M i t spöttischer Geste w e n d e t sich Allwill gegen die M a x i m e n einer L e b e n s f ü h r u n g , die im R o m a n R o u s s e a u s die Figur W o l m a r s v e r k ö r p e r t , der leidenschaftslose Erzieher zur H u m a n i t ä t : Ich soll mich um veste Grundsätze bemühen, damit ich zu unwandelbarer Tugend gelange. Nun klingt es mir gerade so, wenn mir jemand vorschlägt aus Grundsätzen tugendhaft zu werden, als wenn mir einer vorschlüge, mich aus Grundsätzen zu verlieben. Ein Verliebter — nicht aus Empfindung, sondern aus Grundsätzen, wäre freylich wohl sehr treu. (S. 86) Der T h e o r e t i k e r der L e i d e n s c h a f t e n scheitert a m E n d e e b e n s o w i e Liebhaber Julies, mit d e m Unterschied, d a s ihm die A u f n a h m e in ideale L e b e n s g e m e i n s c h a f t versagt w i r d . Seine von der Sinnlichkeit hängige E m p f i n d u n g k a n n sich, als b l o ß e r Reiz, nicht zur Sicherheit nes moralischen G e f ü h l s qualifizieren.
der die abei-
Im letzten Brief der S a m m l u n g wird Allwill ironisch als „ L e h r e r " (S. 94) tituliert, d e m wie St. P r e u x e m p f o h l e n w i r d , die eigene Selbstbezogenheit, das schon zitierte „Bestreben, Empfindungen zu empfinden", d u r c h einen P r o z e ß der E r z i e h u n g zu läutern u n d h ö h e r e n N o r m f o r d e r u n g e n zu unterstellen, o h n e die wertvolle A n t r i e b s k r a f t d e r Neigungen auszulöschen: Unter allen Formen zu Bildung unserer Natur ist freylich die Form eines bloßen moralischen Systems die geringste und zerbrechlichste: aber besser als keine ist sie doch allemahl. [...] Wir preißen denjenigen, bey dem — der Empfindung das Gefühl, und dem Gefühl der Gedanke die Wage hält. Also nicht unsere Gefühle verringern, nicht sie schwächen will die Weisheit, sie nur reinigen will sie; und dann bis zur Lebhaftigkeit des Gefühls den Gedanken erhöhen; also die Empfindung überhaupt — schärfen, vergrößern. (S. 105) Dieses E r z i e h u n g s p r o g r a m m deckt sich mit den im p ä d a g o g i s c h e n ' Teil der Nouvelle Heloise entwickelten Zielen einer L e b e n s f ü h r u n g , die nicht heroische Taten p r ä m i e r t , s o n d e r n das H a n d e l n des einzelnen auf die
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„Pluralität der G e m e i n s c h a f t " 3 7 ausrichtet. D a ß sich die natürlichen, stets selbstbezogenen Leidenschaften tatsächlich in sanfte, auf die Gemeinschaft bezogene Empfindungen ü b e r f ü h r e n lassen, zeigt am eindringlichsten die Erziehung der Kinder (S. 44), allerdings in dem aufs engste beschränkten Kreis der Familie, w o die G e f a h r e n der Täuschung erheblich gemindert sind.
IV. Die Transparenz aller Lebensbeziehungen, die Rousseau zum „kategorischen Imperativ" (Jauß) der Gemeinschaft von Ciarens erhoben hatte, wird zum T h e m a von Jacobis zweitem R o m a n . 3 8 Wie Rousseau zeigt auch Jacobi, d a ß dem Versuch einer Realisierung des moralischen Prinzips k a u m lösbare Schwierigkeiten entgegenstehen. Er ü b e r n i m m t dabei das Modell des menage ä trois: N o c h bevor Henriette, die weibliche H a u p t f i g u r des R o m a n s , in eine nähere Beziehung zu Woldemar tritt, bestimmt sie ihre beste Freundin zu dessen Geliebten und Frau. Die Verb i n d u n g der drei Personen wird mit derselben Geste geschlossen (S. 196), die den Bund von Ciarens besiegelte; da Jacobi die Bildung des Freundschaftsbundes künstlerisch nicht ausreichend motivieren konnte, „war er genötigt", wie Friedrich Schlegel in seiner 1796 veröffentlichten Rezension des R o m a n e s bemerkte, „sie zu postulieren" 3 9 — das Vorbild Rousseaus blieb zudem leicht erkennbar. Der Autor geht damit einen Schritt über den Allwill-Roman hinaus. Geschildert wird nicht die frag-
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Klaus Dirscherl: Der R o m a n der Philosophen. Diderot—Rousseau —Voltaire. Tübingen: N a r r 1985 (Romanica Monacensia 23), S. 90. N a c h J. Starobinski und H. R. J a u ß hat Roland Galle dieses M o m e n t hervorgehoben und zum Ausgangspunkt seiner Interpretation der Nouvelle Ηέloise gemacht: Geständnis und Subjektivität: Untersuchungen zum französischen R o m a n zwischen Klassik und R o m a n t i k . M ü n c h e n : Fink 1986 (Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste 72). Im „Wechselspiel" zwischen der „Entfaltung des Transparenzideals und dessen Relativierung" enthüllt sich f ü r Galle das „Strukturgesetz" des R o m a n s (S. 137). — Jacobis Woldemar wird, soweit nicht anders vermerkt, nach dem von H . Nicolai hrsg. Faksimile der Ausgabe Flensburg u. Leipzig: Korten 1779 (Neudruck Stuttgart: Metzler 1969) zitiert. Friedrich Schlegel: Jacobis Woldemar. In: E. Behler u. H . Eichner (Hrsg.): Kritische Schriften und Fragmente (1794—1797). Studienausgabe Bd. 1. Pad e r b o r n : Schöningh 1988, S. 1 7 7 - 1 9 1 , hier S. 182.
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würdige Befreiung von äußeren Ordnungsformen, sondern der Versuch ihrer Ersetzung durch eine intersubjektive Verständigung, die sich allen sittlichen Konventionen als überlegen erweisen soll. Die sinnlichen Empfindungen und Leidenschaften sollen zur Form einer Freundschaft sublimiert werden („qu'ils soient toujours amants et ne soient plus qu'amis" 4 0 ), Liebe und Freundschaft lautete der vom Autor ursprünglich vorgesehene Titel. In der Freundschaft soll das Subjekt seine ursprüngliche Sympathiefähigkeit entdecken und in Anerkennung der selbstgesetzten Ideale zugleich eine höchste Stufe der Sociabilität erreichen: „Es konnte nicht fehlen, nachdem er [sc. Woldemar] einmahl in Ein Geschöpf ein unumschränktes Vertrauen gesetzt hatte, daß die ganze Gattung dabey gewinnen mußte." (S. 59) Die Konventionen der alten Ordnung lassen sich indes nicht völlig aufheben. Henriette gelobt ihrem sterbenden Vater — dem Repräsentanten der denaturierten, nur auf Eigennutz errichteten Gesellschaft —, keine Ehe mit Woldemar einzugehen. Das Gelübde und eine anschließende Traumerzählung verweisen deutlich auf die in der Nouvelle Helo't'se verwendeten literarischen Muster. 4 1 Woldemar mißdeutet das Versprechen als Vertrauensbruch, seine heimlich vollzogene Abwendung von Henriette dementiert die beschworene Transparenz der Lebensgemeinschaft und endet in Reflexionen einer negativen Anthropologie: Woher nur die Sage unter die Leute gekommen seyn mag — das allgemeine Gerücht von Liebe, von Freundschaft? [...] Die geselligen Gefühle, wie sie Nahmen haben, sind in sich so zusammengesetzt, so unendlich vermischt, so [...] zweydeutigen, betrüglichen, hinfälligen, unwesentlichen Wesens; [...] liegt da wohl je würkliche Sympathie zum Grunde; ist da je eigentliche Liebe? (S. 240 f.)
Die neue Ordnung des ,sittlichen Genies' 4 2 scheitert wie das Gesellschaftsmodell von Ciarens an den Widersprüchen der Gefühle; die nach40
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Rousseau: La Nouvelle Heloise, S. 491. Zu diesem Aspekt der Moralphilosophie Jacobis vgl. Günther Baum: Freundschaft und Liebe im Widerstreit von Ideal und Leben. In: Schopenhauer Jahrbuch 66 (1985), S. 103 — 114. Vgl. Frida David: Friedrich Heinrich Jacobis „Woldemar" in seinen verschiedenen Fassungen. Leipzig: Voigtländer 1913 (Probefahrten 23), S. 35 f. Die von Jacobi mehrfach eingesetzte Formulierung verweist auf die Gefahren, die mit einer Ästhetisierung der Moral verbunden sind; dieser „Nutzanwendung" des Romans konnte selbst Friedrich Schlegel vorbehaltlos zustimmen (Jacobis Woldemar, S. 184). Vgl. hierzu auch Niels Werber: Literatur als System. Zur Ausdifferenzierung literarischer Kommunikation. Opladen: Westdeutscher Verlag 1992, S. 189.
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Friedrich Vollhardt
gesellschaftliche K o n s t r u k t i o n einer n a t ü r l i c h e n Existenz bleibt ein nicht verwirklichtes Ideal. J a c o b i h a t seinen R o m a n k u r z nach d e m Erscheinen u m g e a r b e i t e t , wobei er d a s pessimistische Ende a b s c h w ä c h t e . D a s philosophische Gespräch ist 1781 unter d e m Titel Der Kunstgarten veröffentlicht w o r d e n . 4 3 Die Kritik h a t die polemische Fortsetzung des R o m a n s mit Z u stimmung aufgenommen. Jacobi habe die Lücken, die Folgen, den Unzusammenhang nicht bloß dieses oder jenes Systems, sondern auch der herrschenden Denkart des Zeitalters mit kritischem Geist, und mit der hinreißenden Beredsamkeit des gerechten Unwillens aufgedeckt; das letzte vorzüglich im ,Kunstgarten' [...]. 44 Der A u t o r h a t sich hier noch deutlicher als in der z u v o r erschienenen B u c h f a s s u n g des R o m a n s auf das Werk R o u s s e a u s bezogen. Bereits der Titel b r i n g t dies zum A u s d r u c k : Der n u r scheinbar wilde, in Wirklichkeit d u r c h menschliche Arbeit angelegte G a r t e n — Julies künstliches Paradies — bildet eine „ E r s a t z n a t u r " (Matzat), ein Sinnbild, das J a c o b i A n l a ß zu der Frage gibt, o b diese Illusion, die einen eingeschränkten, aber k a l k u l i e r b a r e n G e n u ß g e w ä h r t , nicht eher der Verwirklichung w e r t ist als die R e k o n s t r u k t i o n der vermeintlich w a h r e n N a t u r . 4 5 Im Mittelp u n k t steht der T o p o s der Zivilisationskritik: Es ist mehrmals angemerkt und besonders von Roußeau, ins helleste Licht gestellt worden, daß diejenigen Bande der Gesellschaft, die aus Wohlwollen und gegenseitiger Hochachtung bestehen, unter uns nachgelassen; diejenigen Bande hingegen, welche Wollust und Eitelkeit zusammen weben, [...] sich desto fester gemacht haben [...]. (S. 81 f.; vgl. auch ebd. S. 12, 63 u. ö.) Allem L u x u s absagen u n d „zu einer g a n z einfachen L e b e n s a r t " (S. 63) z u r ü c k k e h r e n zu wollen, ist A f f e k t a t i o n , die d e m B e m ü h e n ähnelt, die u n b e r ü h r t e N a t u r in der gesellschaftlichen Welt des M e n s c h e n freizusetzen: „Wo N a c h a h m u n g ist, da m u ß sich K u n s t zeigen, s c h a f f e n d e M e n schen = H a n d ; [...] mein G a r t e n soll ein G a r t e n seyn, u n d das in h o h e m G r a d e ; er soll mir an Z i e r d e u n d A n m u t h ersetzen, w a s er an Fülle u n d M a j e s t ä t nicht h a b e n k a n n [...]." (S. 59) U n d d a n n folgt eine weitere Stelle „ a u s eben diesem R o u ß e a u " (S. 82), der mit d e m G e d a n k e n einer 43
44 45
Friedrich Heinrich Jacobi: Vermischte Schriften. Erster Theil. Hamburg: Meyn 1781, S. 7 - 1 4 2 . Friedrich Schlegel: Jacobis Woldemar, S. 187. Zur Bedeutung dieses Fluchtraums im Werk Rousseaus vgl. die Hinweise bei Matzat: Diskursgeschichte der Leidenschaft, S. 78 ff.
Die R o m a n p r o j e k t e Friedrich Heinrich J a c o b i s
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natürlichen Erziehung nicht die Abwendung von der bestehenden Gesellschaft gepredigt hat: „Lieben Freunde, man muß sich dem Stande und dem Jahrhundert in dem man sich befindet, gemäß verhalten." (S. 63) In einem ,künstlichen Garten' können Empfindungen und Leidenschaften ihre Wirkung entfalten, solange „die Vernunft" sie „beherrscht" (S. 110). Der Held des Romans spart nicht mit Selbstkritik. Er mißt seine Verfehlungen an der geltenden Ordnung moralischer Pflichten 4 6 und empfiehlt den Anhängern Rousseaus die Abkehr von einer sentimentalen Naturschwärmerei: Ich weiß, meine Freunde, der H a u f e n dieser z u r ü c k g e k o m m e n e n ist nicht klein, die nun mit ganzer Seele an der Tugend höchstes Wesen glauben. [ . . . ] [S]ie haben empfunden wie schwer die E r r e t t u n g aus diesem j a m m e r vollen Z u s t a n d e ist; wie es demjenigen, welcher lange jedem seiner Triebe nachgehangen und nicht einmahl die Vorschriften seines Eigennutzes zu befolgen gewußt h a t , wie es demjenigen so schwer, ja beynah unmöglich werde, sich den unwandelbaren Gesetzen der Rechtschaffenheit treulich zu unterwerfen, und wie d e n n o c h eine solche Unterwerfung, o h n e Ausn a h m e und nachherige Klügeley, Tugend und C h a r a c t e r allein zu sichern vermöge. (S. 9 8 f.)
Es ist der Rousseau der Zivilreligion, auf den J a c o b i sich hier berufen k a n n . 4 7 Ihr Dogma ist die Pflege der gewachsenen sittlichen Gemeinschaftsgefühle, die um so wertvoller sind, je näher sie dem Naturzustand kommen — der freilich eine fiktive Setzung bleibt. Was garantiert dann aber die Beständigkeit eines Sittengesetzes oder die Geltung eines sittlichen Ideals? Zieht man sich auf die Konvention zurück, bleibt der Gegensatz zwischen humaner Natur und entfremdeter Gesellschaft notwendig bestehen. Kann, noch einmal anders gefragt, an den Idealen der intersubjektiven Transparenz, der sanften Leidenschaften und einer untrüglichen Selbstwahrnehmung festgehalten werden? Jacobi hat weder den Evidenzgründen Rousseaus zugestimmt noch an dem Konzept der ästhetischen Bildung mitgewirkt, das wenig später in Weimar entwickelt worden ist. 4 8 Seine Lösung der genannten Fragen hat 46
Vgl. hierzu Vf.: Freundschaft und Pflicht. Naturrechtliches Denken und literarisches Freundschaftsideal im 18. J a h r h u n d e r t . In: W. M a u s e r , B. BeckerC a n t a r i n o (Hrsg.): Frauenfreundschaft — M ä n n e r f r e u n d s c h a f t . Literarische Diskurse im 18. J a h r h u n d e r t . Tübingen: Niemeyer 1 9 9 1 , S. 2 9 3 — 3 0 9 , bes. S. 3 0 6 ff.
47
Vgl. Karl Dietrich E r d m a n n : D a s Verhältnis von Staat und Religion n a c h der Sozialphilosophie Rousseaus (Der Begriff der „religion civile"). Berlin: Ebering 1 9 3 5 (Historische Studien H . 2 7 1 ) .
48
Ebenfalls unter A u f n a h m e R o u s s e a u s c h e r G e d a n k e n ; vgl. hierzu Wilhelm Voßkamp: Perfectibiliti und Bildung. Z u den Besonderheiten des deutschen
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Friedrich Vollhardt
er in der von H u m e und H a m a n n vorbereiteten Analyse der sinnlichen Erkenntnis und in dem Faktum gefunden, d a ß wir an die Wahrheit dieser Erkenntnis glauben müssen. Das Glaubensprinzip löst die Frage nach der Struktur unseres Urteilsvermögens und bildet die Basis für die Unterscheidung zweier im Bewußtsein des Menschen sich teilender Vorstellungen. Z u m einen des durch die äußere Sinneserfahrung vermittelten Wissens vom Dasein endlicher Dinge und zum anderen desjenigen Gefühls, das uns von der ,Realität' sittlicher Freiheit und moralischer Selbstbes t i m m u n g überzeugt. 4 9 Dieses ,Unbedingte' läßt sich nicht theoretisch konstruieren; nicht einmal im Modell des R o m a n s .
49
Bildungskonzepts im Kontext der europäischen Utopie- und Fortschrittsdiskussion. In: S. Jüttner, J. Schlobach (Hrsg.): Europäische Aufklärung(en). Einheit u n d nationale Vielfalt. H a m b u r g : Meiner 1992 (Studien zum achtzehnten J a h r h u n d e r t 14), S. 1 1 7 - 1 2 6 . Z u r Bedeutung Rousseaus f ü r die Entwicklung dieser Gedankengänge vgl. Ellert H e r m s : Selbsterkenntnis und Metaphysik in den philosophischen H a u p t s c h r i f t e n Friedrich Heinrich Jacobis. In: Archiv f ü r Geschichte der Philosophie 58 (1976), S. 1 2 1 - 1 6 3 , bes. S. 1 3 8 - 1 4 1 .
Wilhelm
Voßkamp
„Un Livre Paradoxal" J . - J . Rousseaus ,Emile' in der deutschen Diskussion um 1800
Über die herausgehobene Rolle und Bedeutung von Rousseaus Emile ou de l'Education (1762) sind sich die Interpreten und Kritiker seit dem 18. Jahrhundert in Deutschland einig: „Das beste Buch, das jemals mit französischen Lettern ist abgedruckt worden". 1 — „Der Emile ist historisch vielleicht das wirkungsmächtigste, der Sache nach vielleicht aber das dunkelste und bis heute am meisten verkannte Werk Rousseaus." 2 Die Eigenart der (produktiven) Rezeption und die Form der selektiven Verarbeitung des Rousseauschen Buchs ist dabei besonders signifikant. Die Besonderheit des Emile liegt in seiner paradoxalen Struktur. Zwar gehört das Paradoxon — in der Tradition der spanischen und französischen Moralisten — zu einem bereits als toposhaft erkannten Stilmittel insbesondere der französischen Aufklärung, aber Rousseaus Texte scheinen hier insgesamt eine Sonderrolle zu spielen, indem sie aufgrund ihrer konzeptuellen Paradoxa mehrfache Anschlußmöglichkeiten für unterschiedliche Interpretationen und Auslegungen bieten. Ich möchte das an einem Beispiel diskutieren, das besonders symptomatisch für Rousseaus Denken und außerordentlich folgenreich für die Rousseau-Rezeption in Deutschland war. Sowohl unter konzeptuellen als auch unter formalen Gesichtspunkten ist Rousseaus Emile durch eine Aporie charakterisiert, die in der deutschen Rezeption und Diskussion aufgrund spezifischer Dispositionen und Erwartungen des Publikums zu unverwechselbaren Verarbeitungen geführt hat. Unter konzeptuellen Aspekten ist die aporetische Konstellation durch die von Rousseau hervorgehobene grundlegende Dichotomie zwischen „homme" und „citoyen" („Mensch" und „Bürger") bestimmt. Im Hori1
J a k o b M i c h a e l R e i n h o l d Lenz, zit. K a r l S. G u t h k e : Z u r F r ü h g e s c h i c h t e des R o u s s e a u i s m u s in D e u t s c h l a n d . In: Z f d P h 7 7 ( 1 9 5 8 ) , S. 3 8 7 .
2
G ü n t h e r B u c k : Ü b e r die s y s t e m a t i s c h e Stellung des , E m i l e ' im W e r k R o u s seaus. In: A l l g e m e i n e Z e i t s c h r i f t für P h i l o s o p h i e 5 ( 1 9 8 0 ) , S. 1.
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Wilhelm Voßkamp
zont eines auf Ganzheit und Totalität gerichteten Subjekt-Konzepts muß es zu einer Dichotomie zwischen dem unverwechselbaren autonomen Subjekt und dem Menschen als einem sozialen, einer politischen Ordnung angehörigen Lebewesen kommen, so wie es Rousseau schon im Discours sur l'origine et les fondements de l'inegalite parmi les hommes (1755) betont hatte. Unter dem Aspekt der Form ist Rousseaus Emile durch die Spannung und den Widerspruch zwischen der literarischen Fiktion (der Fiktionalität des Textes) und dem Anspruch auf eine Erziehung des einzelnen zu authentischer Identität charakterisiert: Fiktionalität im erzählerischen Arrangement der dialogischen Situation zwischen (erfundenem) Erzieher und (erfundenem) Zögling auf der einen und behauptete Authentizität im Sinne einer Selbstwerdung des sich entwickelnden Individuums auf der anderen Seite. Ludwig Tieck spricht zu Recht von der „erfundenen Kunst der Erziehung". 3 Wie werden diese Aporien des Emile in Deutschland rezipiert? Wie werden sie verarbeitet oder ,aufgelöst'? In Deutschland läßt sich eine dreifache Reaktion auf die von Rousseau aufgeworfenen Probleme beobachten: eine pädagogische, eine philosophische und eine poetologische. Diese durchaus disparaten ,Antworten' verstehe ich als abgestufte ,Lösungs'-Konzepte der Rousseauschen Aporien. Die konzeptuelle Aporie in der Gegenüberstellung von „homme" und „citoyen" wird vornehmlich unter pädagogischen und philosophischen Aspekten diskutiert; die ,formale' Aporie zwischen literarischem Text (Fiktionalität) und Erziehung zum Selbst (Authentizität) erweist sich als poetologisches und romanpraktisches Problem. Vor allem in Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre[n], dem Prototyp des Bildungsromans, wird in der deutschen Rezeption eine originelle Lösung gefunden.
I. Rousseaus grundlegende These, wonach der Mensch von Natur gut sei, aber unter den Händen des Menschen degeneriere („Tout est bien, sortant des mains de l'auteur des choses: tout degenere entre les mains de l'homme") 4 , die er bereits im ersten Satz des Emile formuliert, hat zu 3 4
Ludwig Tieck: Kritische Schriften. Leipzig 1848, 2. Bd., S. 117. Jean-Jacques Rousseau: Emile ou De l'Education. In: J . - J . Rousseau: CEuvres completes, Vol. IV. Paris 1969 (Bibliotheque de la Pleiade), S. 245.
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einer Diskussion über die Rolle der Erziehung und Pädagogik geführt, die kaum überschätzt werden kann. Rousseau weist in einem Brief an Philibert Cramer vom 13. 10. 1764 darauf hin, daß es „ein ziemlich philosophisches Werk über das Prinzip, das der Autor schon in seinen anderen Schriften ausgeführt hatte, [sei], daß der Mensch von Natur gut ist. Um dieses Prinzip mit der anderen, nicht weniger gewissen Wahrheit, daß die Menschen böse sind, in Übereinstimmung zu bringen, mußte man in der Geschichte des menschlichen Herzens den Ursprung aller Laster aufzeigen. Das habe ich in diesem Buche getan." 5 Für Rousseau kann es deshalb keine Lebensordnung geben, in der der einzelne Mensch in seiner subjektiven Ganzheit („homme") und der Mensch als zoon politikon („citoyen") miteinander bestehen können. Die Dichotomisierung zwischen Mensch und Bürger ist deshalb nur konsequent: Man hat zu „wählen, ob man einen Menschen oder einen Bürger erziehen will: beides zugleich ist unmöglich" 6 : „Force de combattre la nature ou les institutions sociales, il faut opter entre faire un homme ou un citoyen; car on ne peut faire a la fois Tun et l'autre." 7 Daß diese Gegenüberstellung in Rousseaus pädagogischer Biographie des Emile in den anthropologischen, psychologischen und pädagogischen Diskussionen seiner Zeit zu einer ungewöhnlichen Herausforderung werden mußte, läßt sich in Deutschland insbesondere an den Stellungnahmen und Kommentaren der Philanthropen ablesen. In dem von Joachim Heinrich Campe herausgegebenen Kompendium Allgemeine Revision des gesamten Schul- und Erziehungswesens von einer Gesellschaft praktischer Erzieher zeigt sich, wie die philanthropische Pädagogik auf die von Rousseau nicht aufgelöste Aporie von „homme" und „citoyen" reagiert. Im zwölften Teil dieses Werks (von 1789) finden sich ausführliche kommentierende Anmerkungen zu Rousseaus Emile. Dabei sind jene Passagen besonders aufschlußreich, die sich auf Rousseaus entscheidende Formulierung von der notwendigen Dichotomie zwischen „homme" und „citoyen" beziehen. Im Kommentar von Martin Ehlers heißt es zu dieser Stelle:
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Correspondence generale, Nr. 2 2 3 0 / X I , 3 3 9 ; zit. Martin Rang: Rousseaus Lehre vom Menschen. Göttingen 2 1 9 6 5 , S. 6 1 . Jean-Jacques Rousseau: Emil oder Über die Erziehung. Vollständige Ausgabe. In neuer deutscher Fassung besorgt von Ludwig Schmidts. Paderborn 1971, S. 12. Ders.: Emile ou De l'Education. In: J . - J . Rousseau, CEuvres completes, Vol. IV. Paris 1969 (Bibliotheque de la Pleiade), S. 2 4 8 .
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„ S e l b s t bei einer u n v o l l k o m m e n e n Erziehung hat m a n doch den zweifachen E n d z w e c k , den zu erziehenden M e n s c h e n selbst v o l l k o m m e n und glücklich zu m a c h e n und in ihm der menschlichen G e s e l l s c h a f t ein nützliches Mitglied zu liefern, gewöhnlich v o r Augen. Dieser E n d z w e c k wird auch wirklich minder o d e r mehr erreicht. Der M e n s c h ist selbst von der Vorsehung mit Anlagen gerüstet, die a u f die Erreichung jenes zweifachen E n d z w e c k s abzielen. S o wenig ist es g e g r ü n d e t , d a ß der eine E n d z w e c k d e m anderen entgegengesetzt ist [ . . . ] " . 8
C a m p e betont in seinem Kommentar zu dieser Stelle: „ D e r M i s v e r s t a n d liegt o f f e n b a r wieder darin, d a ß R . a b e r m a l s im Allgemeinen und o h n e E i n s c h r ä n k u n g b e h a u p t e t , w a s nur gewissermaßen und theilweise w a h r ist. Es ist nämlich wahr, d a ß die Erziehung z u m M e n s c h e n und die z u m Bürger nach unserer d e r m a l i g e n Weltverfassung, einander in m a n c h e m S t ü c k e — nur nicht in allen Stücken — wirklich entgegengesetzt sind, und d a ß m a n diese beiden Z w e c k e in ihrer Vollkommenheit nie g a n z a b e r d o c h z u m Teil erreichen k a n n . " 9
Dieser eher zurückhaltenden Formel Campes werden dann wieder stärker harmonisierende Positionen hinzugefügt, so die von Friedrich Gabriel Resewitz: „ D a der M e n s c h o f f e n b a r zur G e s e l l s c h a f t b e s t i m m t , und durch die Gesellschaft erst g a n z eigentlich z u m M e n s c h e n gebildet wird, so können sich beide Erziehungen nicht w i d e r s p r e c h e n , und es muß ein Punct sein, w o sie z u s a m m e n t r e f f e n k ö n n e n , wenn dieser Punct gleich schwer zu finden seyn s o l l t e . " 1 0
Bestritten wird eine „grundsätzliche Diskrepanz zwischen Natur und Gesellschaft, das heißt in spezifizierter Form auch die zwischen privater (individueller) und allgemeiner (gesellschaftlicher) Glückseligkeit und Vollkommenheit". 1 1 8
M a r t i n Ehlers, in: J o a c h i m Heinrich C a m p e (Hg.): Allgemeine Revision des g e s a m t e n Schul- und E r z i e h u n g s w e s e n s von einer Gesellschaft praktischer Erzieher. 16 Teile. H a m b u r g , Wolfenbüttel, Wien, B r a u n s c h w e i g 1785 — 92, 12. Teil (1789), S. 47 f.; vgl. d a z u : Wilhelm V o ß k a m p : Perfectibilite und Bild u n g . Z u den Besonderheiten des deutschen B i l d u n g s k o n z e p t s im K o n t e x t der e u r o p ä i s c h e n Utopie- und Fortschrittsdiskussion. In: E u r o p ä i s c h e Aufk l ä r u n g e n ) . Einheit und n a t i o n a l e Vielfalt, hrsg. v. Siegfried Jüttner und J o c h e n S c h l o b a c h . H a m b u r g 1 9 9 2 , S. 117—126, hier S. 123 f., auch z u m Folgenden.
9
J o a c h i m Heinrich C a m p e , e b d . , S. 48. Friedrich G a b r i e l Resewitz, ebd., S. 4 8 . R o s e m a r i e Wothke: Der K o m m e n t a r zu R o u s s e a u s ,Fmile' in C a m p e s Revis i o n s w e r k . In: Wissenschaftl. Z s . d. Martin-Luther-Universität Halle—Wittenberg. Gesellschafts- und s p r a c h w i s s e n s c h a f t l . Reihe, 4. J g . H a l l e 1 9 5 5 , S. 2 5 6 .
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In allen Äußerungen wird die Schwierigkeit sichtbar, sich auf die grundlegende Dichotomie Rousseaus unmittelbar einzulassen. Das ,Sowohl-als-auch' dominiert vor der scharfen Kontrastierung des einen oder anderen. Gesucht wird nach Vermittlungsmöglichkeiten zwischen individueller und staatsbürgerlicher Erziehung. Bezeichnenderweise bietet sich bei den philanthropischen Pädagogen dann der Beruf an: „Der Mensch kann nur glücklich werden, wenn er seiner Bestimmung gemäß lebt. Der Beruf ist die bestimmtere Bestimmung des Menschen als Bürger. Mensch kann man nicht recht sein, wenn man nicht Bürger ist, [...] Bürger nicht recht ohne einen besonderen B e r u f . " 1 2
Im Unterschied zu Rousseaus Emile, in der der Mensch zu allererst er selbst sein bzw. werden muß und der Beruf eine untergeordnete Rolle spielt, entscheiden sich die Philanthropen für den Beruf als Brücke zwischen individueller und gesellschaftlicher Erziehung, so daß die Rolle des Staates entsprechend aufgewertet wird: Politisch war das Programm der Philanthropen „an den aufgeklärten absolutistischen Staat gerichtet". 1 3 Damit wird die Frage Rousseaus, ob der Mensch zum Menschen oder zum Bürger gebildet werden soll, zugunsten einer Erziehung zum Bürger (und damit für die bürgerliche Brauchbarkeit und Nützlichkeit) entschieden. 14 Eine philanthropische, auf das Pragmatische gerichtete Pädagogik vermochte die Rousseausche Dichotomie nicht festzuhalten; sie löste sie zugunsten einer Erziehung zum Bürger auf, womit die Intention von Authentizität und substantieller Einheit des Subjekts (in seiner Ganzheit) bei Rousseau zurückgenommen wird.
II. Wenn das Problem des Emile als „die Kunst" charakterisiert werden kann, „ein Werden zu ermöglichen, das eine unentzweite Existenz unter der Bedingung der Gesellschaftlichkeit zum Ziel hat und als Werden 12
13
14
Ernst Christian Trapp: Über das allgemeine Studium der alten Sprachen in Beziehung auf Herrn G. K. Rehberg's Untersuchungen [...] In: Braunschweigisches Journal 1788, S. 2 8 2 . C. Kersting: Rousseaus Einfluß auf die Philanthropen — Z u m ,Emile'-Kommentar in der ,Allgemeinen Revision des gesammten Schul- und Erziehungswesens'. In: Educational Thinkers on the Enlightenment and their Influences in different Countries, hrsg. von D. Jedan und F. P. Hager. Pecs 1987, S. 139. Ulrich Hermann: Die Pädagogik der Philanthropen. In: Klassiker der Pädagogik, Bd. 1. Hrsg. v. Hans Scheuerl. München 1979, S. 1 3 5 - 1 5 8 .
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selbst unentzweite Existenz i s t " 1 5 , wird deutlich, daß Rousseaus „Bildungsbuch" ebenso im Zusammenhang mit seiner im Discours sur l'orgine et les fondements de Ι'ίηέξαΙίΐέ parmi les hommes geführten Diskussion steht. Hier hatte Rousseau, wie zuvor betont, hervorgehoben, daß es eine strenge Dichotomie zwischen dem menschlichen Naturzustand und der durch Vernunft entwickelten menschlichen Kultur gibt. Dem Menschen wird — und dies ist die Voraussetzung für seine Entwicklungsfähigkeit und Erziehbarkeit — prinzipiell das Vermögen zugeschrieben, „sich vollkommener zu machen", wobei allerdings zu bedenken sei, „daß das menschliche Geschlecht durch seinen eigenen Fortgang immer mehr von seinem ursprünglichen Zustand abgeführt w i r d " 1 6 . Diese Formulierung bedeutet, daß in der menschlichen Zivilisation nicht nur das Prinzip der „perfectibilite", sondern auch das der „corruptibilite" zu beobachten ist. Geschichte ist ein Prozeß der „Veredelung und Verschlimmerung" 1 7 , ein Prozeß des Fortgangs, Stillstands und Rückschritts zugleich. Die Entwicklung der Kultur durch die menschliche Fähigkeit „de se perfectionner" ist eine Fähigkeit, die zugleich die Ungleichheit zwischen den Menschen zur Folge hat. Ein harmonischer Zusammenhang zwischen der „perfectibilite" (innerhalb der Zivilisation) und dem Naturzustand ist deshalb für Rousseau unmöglich. In Deutschland wird diese Auffassung Rousseaus — bis auf wenige Ausnahmen (Schlözer, Lichtenberg) — teleologisch uminterpretiert. Rousseau wird — so hat Günther Buck formuliert — „die Annahme eines entelechialen Prinzips" unterstellt, und dies „rührt vermutlich davon her, daß sich in Deutschland die Kategorie der ,Bildung' in einer zunächst völlig teleologischen Gestalt zunehmend Geltung verschafft. Rousseaus Begriff der Perfektibilität wird so ohne weiteres als aktiver Drang des Menschen interpretiert, sich ,vollkommener zu machen'."18 Auch hier findet sich deshalb eine Neigung zur Harmonisierung der von Rousseau hervorgehobenen Dichotomie. Perfectibilite wird zurückbezogen auf die Natur des Menschen und so eine natürliche Entwicklung vom Naturzustand zum Kulturzustand angenommen — eine Entwicklung, die für Rousseau undenkbar ist. Moses Mendelssohn spricht etwa 15
16
17
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Günther Buck: Über die systematische Stellung des ,Emile' im Werk Rousseaus. In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 5, S. 2 9 . Jean-Jacques Rousseau: Schriften. Hrsg. v. Henning Ritter. München, Wien 1978. Bd. 1, S. 2 0 4 und S. 181 f. A. L. Schlözer: Vorstellung seiner Universal-Historie, Teil 1. Göttingen, G o tha 1 7 7 3 , S. 7. Günther Buck: Über die systematische Stellung des ,Emile' (Fn 15), S. 18.
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davon, daß die innere Harmonie des Menschen in seiner fortschreitenden Entwicklung erhalten bleibe: „ H a t uns die N a t u r das Vergnügen geschenkt, uns v o l l k o m m e n e r zu m a chen, so hat sie zugleich unserem Wesen gleichsam eingegraben, alle unsere Fähigkeiten in der verständigsten H a r m o n i e h e r v o r z u h e b e n . " 1 9
Lessing erweitert den Begriff der Perfektibilität noch dadurch, daß er ihn auf alle Lebewesen bezieht: „Ich glaube, der Schöpfer muß alles, was er erschuf, fähig machen, vollkommner zu werden, wenn es in der Vollkommenheit, in welcher er es schuf, bleiben sollte." 2 0 Auffallend ist, daß sich im Unterschied zu Rousseau in Deutschland die Vorstellung einer naturalen Teleologie durchsetzt. Rousseaus Intention ist damit in einem entscheidenden Punkt uminterpretiert: „Perfectibilite" wird zum Grundprinzip der Natur erhoben. Diese Vorstellung erinnert an die durch Johann Friedrich Blumenbach vertretene Theorie des „Bildungstriebs", die offensichtlich die Umdeutung der Rousseauschen Dichotomie wesentlich mitbestimmt hat. Indem von der Existenz eines „nisus formativus", eines konstitutiven menschlichen Bildungstriebs ausgegangen wird, kann Perfektibilität quasi naturwissenschaftlich begründet werden. 21 Die Uminterpretation der Rousseauschen Dichotomie im Zeichen von ,Natur' und die Theorie des „Bildungstriebs" dürften ein entscheidender Grund dafür sein, daß sich eine teleologisch und entelechisch verstandene Konzeption von Bildung in Deutschland durchsetzen konnte. ,Bildung', naturteleologisch verstanden, dient dazu, die Dichotomie zwischen „homme" und „citoyen" aufzulösen zugunsten einer zielgerichtet verstandenen Perfektibilität. In Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit sieht man etwa aufs genaueste, wie der von Herder angenommene universale, teleologische Prozeß sowohl die Natur 19
M o s e s Mendelssohns Briefwechsel mit G o t t h o l d E p h r a i m Lessing. In: Gesammelte Schriften. Hrsg. von G. E. Mendelssohn. Leipzig 1 8 4 3 . Bd. 1, S. 3 7 9 ; zit. n a c h Frederic T u b a c h : „Perfectibilite": D e r zweite Diskurs R o u s seaus und die deutsche Aufklärung. In: Etudes G e r m a n i q u e s 15 ( 1 9 6 0 ) , S. 1 4 7 .
20
Gotthold E p h r a i m Lessing: G e s a m m e l t e Werke. H r s g . von Paul Rilla. Berlin 1 9 5 7 . Bd. 9, S. 6 3 ; zit. G. H o r n i g : Perfektibilität. Eine U n t e r s u c h u n g zu Geschichte und Bedeutung dieses Begriffs in der deutschsprachigen Literatur. In: Archiv für Begriffsgeschichte 2 4 ( 1 9 8 0 ) , S. 2 2 6 .
21
J o h a n n Friedrich B l u m e n b a c h : Über den Bildungstrieb und das Zeugungsgeschäfte ( 1 7 8 1 ) . Mit einem V o r w o r t und A n m e r k u n g e n von Dr. L. V. Karolyi. Stuttgart 1 9 7 1 .
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als auch die Geschichte umfaßt: „Aller Zusammenhang der Kräfte und Formen ist weder Rückgang noch Stillstand, sondern Fortschreitung." 2 2 Rudolf Vierhaus hat deshalb im Blick auf Herder von einer „Universalgeschichte der Bildung der Welt" gesprochen. 2 3 Individuelle Bildung, die den „ganzen Menschen in allen seinen Kräften und allen seinen Äußerungen umfaßt", ist zugleich die Voraussetzung und einzige Möglichkeit „für die Fortschritte des Menschengeschlechts". 2 4 Das Utopische liegt also nicht allein darin, daß auf eine idealistische Totalität des Individuums gezielt ist, sondern zugleich immer auch auf die Gesamtentwicklung der Gattung Mensch. Wilhelm von Humboldt spricht deshalb vom „Begriff der Menschheit in unserer Person". 2 5 Die Selbstbildung des Subjekts und die Bildung der Menschheit als Gattung werden konstitutiv miteinander verknüpft. Das Perfectibilite-Konzept — ohne den Gegenbegriff der „corruptibilite" — liefert, teleologisch interpretiert, die Basis für das neuhumanistische Bildungskonzept. Die Widersprüche in Rousseaus Emile werden (scheinbar) überbrückt durch eine Utopie der individuellen und gattungsgeschichtlichen „Bildung".
III. Im Unterschied zu den in der Forschung vielfach diskutierten pädagogischen und philosophischen Problemen hat die poetologische Dimension des Emile eine bisher zu geringe Aufmerksamkeit erfahren. Das ist um so erstaunlicher, als es sich bei dem Text Rousseaus um keine pädagogische Reformliteratur handelt, sondern vielmehr um einen hochartifiziellen Text, in dem das Problem des Fiktionalen von Rousseau selbst immer wieder thematisiert wird. Die reflexive Vergegenwärtigung des Selbstseins im Sinne der substantiellen Einheit des Subjekts korrespondiert mit
22
J o h a n n G o t t f r i e d H e r d e r : Ideen zur P h i l o s o p h i e der G e s c h i c h t e der M e n s c h heit. In: J . G . H e r d e r : W e r k e . Berlin, W e i m a r 1 9 6 4 . Bd. 4 , S. 127.
23
R u d o l f V i e r h a u s : Art. B i l d u n g . In: G e s c h i c h t l i c h e G r u n d b e g r i f f e . Historisches L e x i k o n zur politisch-sozialen S p r a c h e in D e u t s c h l a n d . Hrsg. von O . B r u n n e r , W. C o n z e und R . K o s e l l e c k . S t u t t g a r t 1 9 7 2 . B d . 1, S. 5 1 6 .
24
W i l h e l m von H u m b o l d t : Ideen zu einem Versuch, die G r ä n z e n der W i r k s a m keit des S t a a t e s zu b e s t i m m e n ( 1 7 9 2 ) . In: W. v. H u m b o l d t : S t u d i e n a u s g a b e . H r s g . von A. Flitner und K . Giel. S t u t t g a r t 3 1 9 8 0 . Bd. 1, S. 6 4 .
25
Vgl. W i l h e l m von H u m b o l d t : T h e o r i e der B i l d u n g des M e n s c h e n . In: E b d . , S. 2 3 5 .
Un Livre P a r a d o x a l "
109
dem des Fiktionalen des Buchs. Den Confessions verwandt, geht es um fiktionale Entwürfe des Selbst, jenes Selbst, dessen (authentische) Identität mittels dichterischer Erfindung zu begründen versucht wird. Rousseau macht das Experimentelle seiner Fiktion bereits zu Beginn deutlich, wenn er den Erzähler (als Erzieher/„gouverneur") einen Zögling erfinden läßt, dem Leser also das Spiel des fiktiven Erziehers mit dem erfundenen Zögling vor Augen führt: „J'ai done pris le parti de me donner un eleve imaginaire, de me supposer l'äge, la sante, les connoissances, et tous les talents convenables pour travailler a son education, de le conduire depuis le moment de sa naissance jusqu'a celui oü devenu homme fait il n'aura plus besoin d'autre guide que l u i - m e m e . " 2 6
Rousseau liefert eine Experimentiersituation im Konjunktiv; der Erzieher soll den Zögling bis zu dem Augenblick begleiten, wo er ihn — ein Selbst geworden — nicht mehr nötig hat. Die Leitung des Zöglings durch den Erzieher vergegenwärtigt Rousseau nicht als eine didaktische oder pädagogisch-moralische Abhandlung. Der Leser kann deshalb in jedem Moment an dem Spiel zwischen Erzieher und Zögling teilnehmen. Die Erzählweisen wechseln zwischen einem auktorialen Erzähler, der kommentierend, moralisch-beurteilend eingreift, und einem bekenntnishaften, autobiographischen Erzählen, das über die innere Verfassung und Erfahrung im Umgang mit dem Zögling Auskunft gibt. Vorherrschend ist eine dialogische Schreibweise, die den Leser in jedem Augenblick miteinbezieht. Im Erzähler-Leser-Dialog wird der Leser zum Mitspieler eines literarischen Spiels, das an Traditionen des Aufklärungsromans (Fielding, Sterne, Diderot) erinnert. Der Leser wird nicht nur durch den Erzähler angesprochen, er soll sich darüber hinaus sowohl in die Rolle des Erziehers als auch in die Rolle des Zöglings hineinversetzen (vgl. die Parallelen zum Briefroman). Daß er dabei in erster Linie die Rolle des Zöglings zu übernehmen hat, also Teil des Erziehungsprozesses wird, macht Rousseau auch dadurch deutlich, daß er sich gelegentlich selbst als Beispiel präsentiert. Neben der doppelten Identifikation des Lesers mit dem Erzieher und dem Zögling wird dem Leser die Rolle des Beobachters zugewiesen. Er beobachtet das Hin und Her zwischen Erzieher und Zögling und gewinnt auf diese Weise Distanz zu seinen ihm angebotenen wechselnden Identifikationen mit einem der beiden fiktiven Personen. Die Beobachterrolle schafft Distanz zu einem
26
Jean-Jacques Rousseau, Emile ou De l'Education (wie Fn 4), S. 2 6 4 .
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Wilhelm V o ß k a m p
literarischen Spiel, in dem der „Leser als zu erziehender Erzieher [...] der verborgene Gegenstand des R o m a n s " ist. 2 7 Rousseaus Modell von Erzieher und Zögling geht auf Fenelons ΤέΙέmaque (1699) zurück. Rousseau bezeichnet Telemaque und Mentor als die „Schattenbilder", die dem literarischen Spiel des Emile zugrundeliegen. 2 8 Daß dieser intertextuelle Hinweis auf das Fenelonsche Modell keine bloße Reverenz vor dem großen Autor darstellt, wird sichtbar, wenn sich (die als ideale Partnerin für Emile konzipierte) Sophie in den (fiktiven) Telemaque verliebt, weil sie das Buch Fenelons gelesen hat. Sophie hat außer einem Rechenbuch von Barreme nichts als Fenelons TSlemaque studiert, und beim Kennenlernen Emiles erblickt Sophie in ihm Telemaque. Der Kunstcharakter des Buchs unterstreicht das gänzlich Fiktionale der Erziehungssituation im Emile. Die Künstlichkeit des erzieherischen Experiments korrespondiert mit dem Kunstcharakter des Textes. Emile ist als pädagogischer Homunculus' angelegt, an dessen Beispiel Rousseau die Stufen der individuellen Entwicklung im Konjunktiv durchspielt. Der Bezugspunkt bleibt jene substantielle Einheit des Menschen, die erst gewonnen werden muß, bevor das Individuum zu einem politisch-sozialen (Staats-)Bürger werden kann. Alle Zwischenstufen (das Postulat von der Einheit von Kopf- und Handarbeit; das Erziehen zum Menschen, der für jeden Stand und Beruf qualifiziert ist; die Ehe erst nach einer zweijährigen Reise im Anschluß an die Verlobung) sind Beispiele für jene Künstlichkeit, deren Medium nur die Literatur sein kann. Der literarische Text — und nur der literarische Text — vermag der Ort für die Entfaltung der inhärenten theoretischen Widersprüche zu sein. Friedrich Schlegel hat darauf in einer prägnanten Formulierung hingewiesen: „Ich denke, wenn man jemand zum guten Bürger bildet, und ihn nach der Beschaffenheit seiner U m s t ä n d e allerley tüchtige G e w e r b e lehrt, übrigens aber der Entwicklung seiner N a t u r den freysten Spielraum lässt: so hat m a n weit mehr gethan als bey den besten geschieht und alles was zu geschehen b r a u c h t . Wenn m a n aber zum Menschen bilden will, das k ö m m t mir gerde so vor, als wenn einer sagte, er gebe Stunden in der Gottähnlich-
27
Vgl. Karlheinz Stierle: T h e o r i e und Erfahrung. D a s Werk J e a n - J a c q u e s Rousseaus und die Dialektik der Aufklärung. In: Neues H a n d b u c h der Literaturwissenschaft. Hrsg. von Klaus von See, E u r o p ä i s c h e Aufklärung III. Hrsg. von Jürgen von Stackelberg. Wiesbaden 1 9 8 0 , S. 1 7 6 .
28
Vgl. J e a n - J a c q u e s S. 5 1 6 .
Rousseau:
Emil oder Über die Erziehung
(wie Fn 6),
Un Livre P a r a d o x a l "
111
keit. D i e M e n s c h h e i t lässt sich nicht inoculiren und die T u g e n d lässt sich nicht lehren und lernen, a u ß e r d u r c h F r e u n d s c h a f t und L i e b e mit t ü c h t i g e n und w a h r e n M e n s c h e n durch den U m g a n g mit uns selbst, mit den G ö t t e r n in u n s . " 2 9
Liest man Rousseaus Emile — wie angedeutet — als Literatur und nicht als pädagogische Abhandlung, wird schnell deutlich, daß in diesem Buch die Elemente derjenigen Romanform vorgebildet sind, die in Deutschland unter der Gattungsbezeichnung ,Bildungsroman' zusammengefaßt werden. Rousseaus Modell liefert die kategorialen Elemente für jenen Romantyp, der die konfliktreiche Auseinandersetzung des einzelnen mit gesellschaftlicher Wirklichkeit am Beispiel des sich selbst vervollkommnenden Subjekts darstellt. Auch hier ist das Arrangieren einer erzählerischen Experimentiersituation entscheidend. Christoph Martin Wielands Geschichte des Agathon oder Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre machen deutlich, daß in der ästhetischen Organisation des Erzähler-LeserDialogs die eigentliche Pointe des Bildungsromans steckt. Ein (auktorialer) Erzähler dialogisiert mit einem (impliziten) Leser, in dessen Rolle sich unterschiedliche historische Leser hineinversetzen können. Zugleich bleibt auch hier der Leser Beobachter, sowohl des Erzählarrangements als der Hauptfigur, die durch den Erzähler auf eine bestimmte Lebensund Entwicklungsbahn geschickt wird. Agathon und Wilhelm Meister sind Figuren der Identifikation, Selbstprojektion und distanzierenden Beobachtung. Das Erzieher-Zögling-Modell läßt sich in vielen Bildungsromanen implizit oder explizit beobachten. In Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahrein] kann man unschwer die Turmgesellschaft als Institution der Erziehung ausmachen, die frühzeitig einen Abgesandten (den Abbe) zum Gesprächspartner Wilhelms macht. Mehr noch: Auch in der Rolle des souveränen, alles überblickenden Erzählers läßt sich der „Gouverneur" erkennen. Das Spiel, das der Erzähler mit dem Protagonisten ,spielt' und das der Leser jeweils von Fall zu Fall beobachtet, überträgt ihm ebenso die Rolle des Erziehers. Zentral für den deutschen Bildungsroman dürfte die Doppelung Rousseaus sein: von Erziehung zu sich selbst und Erziehung zu einem politisch-sozialen Mitglied von Gesellschaften. Bildungromane sind konstitutiv bestimmt durch Entwicklungsgeschichten des einzelnen (vornehmlich als Liebesgeschichten) und durch Geschichten des Subjekts als
29
Friedrich Schlegel: Seine p r o s a i s c h e n J u g e n d s c h r i f t e n . H r s g . von J . M i n o r . W i e n 1 8 8 2 . Bd. 2 , S. 3 2 0 .
112
Wilhelm Voßkamp
politische Individuen (vgl. Wielands Geschichte des Agathon). Wilhelm Meisters Lehrjahre — und in seiner Nachfolge eine Vielzahl von Bildungsromanen — bleiben an diesem Modell orientiert oder verschärfen noch die Problematik Rousseaus. Die Entwicklung zu sich selbst als Vervollkommnungsprozeß im Sinne der Bildung zu individueller Totalität muß in eine Aporie führen, wenn man — wie in Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre[n] — die Individualutopie ,Bildung' mit einem sozialutopischen Konzept (in der Turmgesellschaft) konfrontiert. Die Unaufhebbarkeit des Widerspruchs von „homme" und „citoyen" wird schlagartig sichtbar im Nicht-Übereinstimmen-Können zwischen Individualutopie und Sozialutopie in Goethes Lehrjahre[n], Rousseaus aporetische Opposition führt Goethe zu dem nicht aufhebbaren Widerspruch zwischen Wilhelms Bildungsgang und den Projekten der Turmgesellschaft. 3 0 Auch die Wilhelm verordnete Reisezeit (vgl. auch hier den Emile) am Ende der Lehrjahre — als Wanderjahre — kann die konstitutive Spannung nicht aufheben. Wird die Aporie bei Goethe nicht dennoch aufgelöst? Hans Robert J a u ß ' These vom Wilhelm Meister als dem „Emile der ästhetischen Bildung" 3 1 macht darauf aufmerksam, daß die einzige Möglichkeit des Aufhebens des Widerspruchs in der Kunst liegt. Aber nicht in der „ästhetischen Bildung", sondern im Werk selbst. Und die ,ästhetische' Aufhebung des Widerspruchs läßt sich bereits in Rousseaus Emile beobachten. So bleibt am Ende nur der Text als ästhetische Fiktion, als ein Ort der Aufhebung von Widersprüchen, die Rousseau formuliert. ,Bildung' kann nur dann ein Medium der ,Versöhnung' sein, wenn sie, wie oben gezeigt, als naturale Teleologie — gegen Rousseaus Intention! — umgedeutet wird. Die deutschen Versuche, in der Rezeption des Emile die pädagogischen und philosophischen Probleme ,aufzulösen', erweisen sich als wenig kongenial im Blick auf die von Rousseau aufgeworfenen (aporetischen) Probleme. In der Rezeption und Fortführung des poetologischen
30
Vgl. dazu meinen K o m m e n t a r . In: J o h a n n W o l f g a n g G o e t h e : Wilhelm M e i sters t h e a t r a l i s c h e Sendung. W i l h e l m Meisters L e h r j a h r e . U n t e r h a l t u n g e n d e u t s c h e r A u s g e w a n d e r t e n . H r s g . von W i l h e l m V o ß k a m p und H e r b e r t J a u m a n n . U n t e r M i t w i r k u n g von A l m u t h V o ß k a m p . F r a n k f u r t / M a i n 1 9 9 2 ( = J . W. G o e t h e : S ä m t l i c h e W e r k e , I. A b t i g . , B d . 9), S. 1 3 6 3 - 1 3 8 0 .
31
H a n s R o b e r t J a u ß : Ästhetische E r f a h r u n g und literarische F r a n k f u r t / M a i n 3 1 9 8 4 , S. 6 4 7 - 6 5 2 .
Hermeneutik.
Un Livre P a r a d o x a l "
113
Ansatzes zeigt sich dagegen ein anderes Bild. Deutsche Bildungsromane des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts offenbaren in ihren Strukturen Elemente, die ohne die Vorgaben des Emile schwer vorstellbar sind. Das Fiktionale der Fiktionen als Medium der Diskussion von Aporien erscheint Rousseau angemessener als eine auf Versöhnung gerichtete „Aufhebung" von Dichotomien.5·
Der vorstehende Beitrag erscheint auch in: Geschichtlichkeit und Gegenwart. FS für Hans Dietrich Irmscher zum 65. Geburtstag. Hrsg. v. Hans Esselborn u. Werner Keller. Köln 1994.
Verena
Ebrich-Haefeli
Rousseaus Sophie und ihre deutschen Schwestern Z u r Entstehung der bürgerlichen Geschlechterideologie* [...] das wirkliche Unheil, das falsche Begriffe anrichten. (Hofmannsthal, Buch der
Freunde)1
„Sei nicht so unweiblich!" „Wieder mal echt w e i b l i c h ! " — solche Sätze kennen noch die meisten von uns. Woher aber s t a m m t solches Wissen um das, was Weiblichkeit, weibliche ,Natur' ist? Bekanntlich nicht aus der Natur, es stammt aus dem 18. Jahrhundert. Rousseaus Emile,
insbesondere das 5. Buch Sophie
ou la Femme,
er-
weist sich als die folgenreichste Artikulation des Übergangs zu jenem neuen Diskurs über die Frau, der in Dichtung und T h e o r i e bis zur Klassik sich reich entfaltet und dann wenig verändert durch das 19. J a h r h u n dert hin in Geltung ist, und der es erlaubt, die neu verengten Roilenzuschreibungen der Frau nun durch ihre ,Natur', durch einen spezifischen ,weiblichen Geschlechtscharakter' zu legitimieren. Auf Rousseaus Beitrag zu dieser Entwicklung ist von feministischer Seite schon mehrmals hingewiesen worden; 2 seine eigentliche Tragweite Es handelt sich hier um einen leicht überarbeiteten und um den letzten Teil ergänzten Wiederabdruck eines Aufsatzes, der in den Freiburger Literaturpsychologischen Gesprächen, Band 12, 1993, erschienen ist unter dem Titel: Zur Genese der bürgerlichen Konzeption der Frau: der psychohistorische Stellenwert von Rousseaus Sophie. 1 2
Hugo von Hofmannsthal: Buch der Freunde. Wiesbaden 1949, S. 47. Elisabeth de Fontenay: Pour Emile et par Emile. Sophie ou l'invention du menage. In: Les Temps Modernes, Mai 1976, S. 1774—1795. — Eva Maria Knapp-Tepperberg: Rousseaus Emile ou de l'education. Sexualauffassung und Bild der Frau. In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 1978, S. 199—221. — Christine Garbe: Sophie oder die heimliche Macht der Frauen. In: Ilse Brehmer-u.a. (Hrsg.): Frauen in der Geschichte IV: „Wissen heißt leben ...". Beiträge zur Bildungsgeschichte von Frauen im 18. und
116
Verena Ehrich-Haefeli
aber zeigt sich erst, wenn man Rousseaus Modelle des Mannes und der Frau im Hinblick auf die entworfenen psychischen Strukturen analysiert und deren psychohistorische Implikationen bedenkt. Um es provokativ vorwegzunehmen: Rousseau programmiert Weiblichkeit als fundamentale narzißtische Störung; im Bild seiner Sophie werden jene Züge angelegt, die 150 Jahre später etwa Freud aus der Psyche seiner Patientinnen herauslesen wird als besondere Merkmale von ,Weiblichkeit', Passivität, den weiblichen Masochismus, das defizitäre Über-Ich, den weiblichen Narzißmus, den „dunklen Kontinent" der weiblichen Sexualität etc. Ein Ziel meiner Arbeit ist eine präzise historische Relativierung der Weiblichkeitskonzepte der klassischen Psychoanalyse und des entsprechenden populären Wissens um das, was ,weiblich' sein soll. In ihrer grundlegenden Studie hat Silvia Bovenschen 3 diesen Wandel des Diskurses über die Frau dargestellt als Übergang vom frühaufklärerischen Entwurf der ,gelehrten Frau' zum Bild der Empfindsamen. Mit der ,gelehrten Frau', die als Schriftstellerin am höchsten Rang von Mündigkeit teilhat und an den Kulturaufgaben der Aufklärung mitarbeitet — wie es etwa das „Triumfeminat" von Gottscheds Vernünftigen Tadlerinnen4 und dann auch die Gottschedin selbst tun —, hat Bovenschen sicher das wichtigste Moment weiblicher Gleichstellung im Denken der früheren Aufklärung hervorgehoben. Indes bildet die Schriftstellerin einen professionellen Spezialfall; für meine Untersuchung der Veränderung psychischer Strukturen ist es nötig, die Fragestellung allgemeiner zu fassen: Wieviel Spielraum wird in den Texten vor 1750 artikuliert für (pauschal gesagt) weibliches Subjekt-Sein; auf welche Weise, in welchem Maß wird dieser Spielraum danach eingeschränkt?
Zweimal Adam und Eva, 1743 und 1798 Um diese Fragestellung möglichst knapp zu veranschaulichen, möchte ich nach dem Schema vorher —nachher das Feld für Rousseaus programmatisches Menschenpaar von 1762 ausstecken mit zwei Adam-und-Eva19. J a h r h u n d e r t . D ü s s e l d o r f 1 9 8 3 , S. 6 5 —86. B o v e n s c h e n und Steinbrügge siehe unten. 3
Silvia B o v e n s c h e n : D i e imaginierte W e i b l i c h k e i t . E x e m p l a r i s c h e Untersuc h u n g e n zu kulturgeschichtlichen und literarischen P r ä s e n t a t i o n s f o r m e n des Weiblichen. Frankfurt a . M . 1979.
4
D i e Vernünftigen T a d l e r i n n e n . A n d e r e r J a h r - T h e i l 1 7 2 6 . F r a n k f u r t a. M . und Leipzig 1 7 4 0 , S. 1 6 3 .
Rousseaus Sophie und ihre deutschen Schwestern D a r s t e l l u n g e n , aus d e m s c h w a n k h a f t e n Schöpfungsspiel Sailer von fung
17435
117
von S e b a s t i a n
u n d d e m van S w i e t e n s c h e n T e x t b u c h zu H a y d n s
von 1 7 9 8 6 , d a s den neuen K o n s e n s s c h o n in s c h ö n e n
Schöp-
Klischees
v o r f ü h r t . Es h a n d e l t sich u m die Stellen der P r ä s e n t a t i o n des n e u g e s c h a f fenen P a a r e s und u m ihren ersten E h e - D i a l o g , bei S a i l e r d a z u u m die R e a k t i o n beider n a c h d e m S ü n d e n f a l l . ( H a y d n s T e x t b u c h b r i c h t v o r h e r ab — in der T a t ist seiner E v a a u c h kein U n g e h o r s a m m e h r z u z u t r a u e n . ) W e n n bei S a i l e r G o t t v a t e r die e b e n e r s c h a f f e n e E v a zu A d a m b r i n g t , fragt dieser: „ I s c h t dees m e i ' G ' s c h p ä n i ? " S t a t t d e m a n g e r e d e t e n G o t t v a ter die A n t w o r t u n d die V o r s t e l l u n g zu ü b e r l a s s e n , f ü h l t diese E v a sich d u r c h a u s i m s t a n d e , für sich selbst zu r e d e n : „ J o , O d a m , dees b e n i, i m o i ' s ! " [ich m e i n ' s ] . 7 U n d n a c h e i n e r kurzen E r k l ä r u n g G o t t v a t e r s , w i e er sie aus der R i p p e g e s c h n i t z t h a b e , b e g i n n t sie a l s b a l d einen S t r e i t , w e r w o h l aus b e s s e r e m S t o f f sei: I komm doch ussam weissa Boi', hübsch, wacker und ganz g'schmeidig. Du bischt us Leatta nu alloi', gealt, gealt! da bischt mar neidig! 8 A d a m b l e i b t die A n t w o r t n i c h t schuldig (es sind alte S t r e i t p u n k t e m i t t e l alterlicher T h e o l o g i e 9 ) , ärgerlich m a h n t G o t t v a t e r z u m F r i e d e n .
Ehe-
streit u m den V o r r a n g — das setzt bei E v a z u m i n d e s t ein e n t s c h i e d e n e s B e w u ß t s e i n von E b e n b ü r t i g k e i t , von G l e i c h w e r t i g k e i t v o r a u s . E i n ä h n liches S e l b s t b e w u ß t s e i n zeigt G o t t s c h e d s C a l l i s t e , die k ü h n s t e der vernünftigen T a d l e r i n n e n , mit ihrer V i s i o n eines g r o ß e n R o l l e n t a u s c h s , 1 0 da
5 6
7 8 9
10
Sebastian Sailer: Die Schöpfung. Hrsg. von Martin Stern. Stuttgart 1969. Joseph Haydn: Die Schöpfung. Die Jahreszeiten. Hrsg. von Wilhelm Zentner. Stuttgart 1982. Sailer, Die Schöpfung, s. Anm. 5, S. 24. Ebd., S. 25. Claudia Opitz: Evatöchter und Bräute Christi. Weiblicher Lebenszusammenhang und Frauenkultur im Mittelalter. Weinheim 1990, S. 140. Die Vernünfftigen Tadlerinnen. Erster Jahr-Theil 1725, S. 49—51. Bovenschen betont vor allem den einschränkenden Widerruf, der auf diese Vision folgt, s. Bovenschen, Die imaginierte Weiblichkeit, s. Anm. 3, S. 103—105. Mir geht es hier um die Möglichkeit, überhaupt mit dem Rollentausch-Motiv zu experimentieren. Dessen Verwendung in Schlegels Lucinde zeigt besonders stark die gewollte Provokation an. Zur Tradition des Motivs vgl. Hermann Pleij: Arbeitsteilung in der Ehe. Literatur und soziale Wirklichkeit im Spätmittelalter. In: Maria E. Müller (Hrsg.): Eheglück und Liebesjoch. Bilder von Liebe, Ehe und Familie in der Literatur des 15. und 16. Jahrhunderts. Weinheim und Basel 1988, S. 1 0 5 - 1 2 4 .
118
Verena Ehrich-Haefeli
alle Ämter ihrer Vaterstadt von weiblichen Magistratspersonen bekleidet würden, wobei es vor Gericht oft gerechter und jedenfalls in der Universität lebhafter zuginge —: das Motiv des Rollentauschs wird im neuen Diskurs über die Frau nicht mehr denkbar sein. Bei der Austeilung der Strafen nach dem Apfel-Essen nimmt Adam seinen Teil, die Mühsal der Feldarbeit, nach einem kleinen Versuch, mit Gott zu markten, still hin; anders aber Eva. Die Geburtsschmerzen läßt sie auf sich beruhen; als sie aber hört, daß sie zur Strafe auf immer dem Mann untergeben sein soll, da erfolgt ein furioser Redeschwall leidenschaftlicher Entrüstung: Ο Jeggerle! was fällt Ui ei'! was fangat ar no a'! dass i soll untergeaba sei' und diena gar mei'm M a ' ! Suppa, Knüpfla, Spatza kocha, schpüala, schaffa ganze Wocha, und darnoh zum Lauh' [Lohn] d'Moischterschaft itt hau'! [ . . . ] , 1 1
so schimpft sie mit Gottvater, verlangt umgekehrt, Adam müsse ihr Knecht sein, droht, sie werde sich zu wehren wissen etc. — zum Schluß ordnet sie eigenmächtig eine andere Herrschaftsverteilung an: auf dem Acker mag Adam Meister sein, in Haus und Hof aber ist sie's, „und dees will i hau'!" 1 2 Ihr Hauptargument dafür ist die Arbeit, für die sie in Haus und Hof verantwortlich ist — 52 Tätigkeiten werden in den Refrains aufgezählt. 13 Diese Eva wehrt sich für ihre Selbständigkeit, die sie für ihr Recht hält; sie läßt es auf einen Konflikt ankommen; und ihren Zorn äußert sie mit großer Offenherzigkeit. (Es scheint auch wenig wahrscheinlich, daß Adam und Gottvater sich schließlich gegen sie durchsetzen werden.) Natürlich ist das Parodie, Schwanktradition, komisch outriert; aber auch in Romanen dieser Jahre, in anderer Tonart, findet sich Vergleichbares. Zum Beispiel in Schnabels Roman Insel Felsenburg (1731) die Darstellung des Zusammenlebens des Gründerpaars Albertus und Concordia, die sich auf der Insel, „diesem neuen Paradiese", als „ein anderer Adam" und neue Eva einrichten. 14 Mit welcher Achtung vor dem Urteil 11 12 13 14
Sailer, Die Schöpfung, s. Anm. 5, S. 4 0 f. Ebd, S. 43. Z u m hier angesprochenen sozialgeschichtlichen Wandel vgl. Anm. 28. J o h a n n Gottfried Schnabel: Die Insel Felsenburg. Hrsg. von Wilhelm Voßkamp. Hamburg 1969, S. 143.
Rousseaus Sophie und ihre deutschen Schwestern
119
des anderen sie einander begegnen; wie sie gemeinsam beratschlagen bei Entscheidungen; wie die Kompetenzverteilung erörtert wird vor der Hochzeit; wie sie miteinander arbeiten oder die Arbeiten teilen (wobei Concordia immerhin schießen lernt und Albertus glückselig das Neugeborene badet und füttert); wie sie beim „Informieren" der heranwachsenden Kinder einander „ablösen"; 1 5 wie einmal er ihr, ein andermal sie ihm zuredet; wie sie einen Konflikt beilegen — das zeigt, gerade weil dieses Verhältnis nicht eigens thematisiert erscheint, daß hier wie selbstverständlich die Vorstellung von Gleichwertigkeit zugrundeliegt, vom Nebeneinanderleben von zwei wesentlich gleichartigen Menschen. Bei Gellerts Paaren im Leben der schwedischen Gräfin von G. gibt es kein gemeinsames bzw. geteiltes Arbeiten mehr, da man privatisierend vom Vermögen lebt, dafür spielt das gemeinsame „Studieren" guter Bücher, „Lesen und Denken" als ,,edelste[r] Zeitvertreib" beider eine wichtige Rolle, 1 6 wofür die Heldin schon dadurch vorbereitet war, daß sie „Vormittage [...] als ein Mann und Nachmittage als eine Frau" erzogen wurde; 1 7 im übrigen gilt für Gellerts Roman (1747—1748) dasselbe wie für Insel Felsenburg. In eine völlig andere Disposition des ersten Menschenpaars führt uns fünfzig Jahre später van Swieten. Der Erzengel Uriel schildert das Ergebnis von Gottes Schöpfungsakt wie folgt: Mit W ü r d ' und H o h e i t angetan, mit Schönheit, Stärk' und M u t begabt, gen H i m m e l aufgerichtet steht der M e n s c h , ein M a n n und König der N a t u r . Die breit g e w ö l b t ' , erhabne Stirn verkünd't der Weisheit tiefen Sinn, und aus dem hellen Blicke strahlt der Geist, des Schöpfers H a u c h und Ebenbild. An seinen Busen schmieget sich für ihn, aus ihm g e f o r m t , die Gattin, hold und anmutsvoll. In froher Unschuld lächelt sie, des Frühlings reizend Bild, ihm Liebe, Glück und W o n n e z u . 1 8
16
E b d . , S. 1 2 4 - 1 6 0 , hier S. 1 5 8 . Christian F ü r c h t e g o t t Geliert: Leben der schwedischen Gräfin von G. H r s g . von J ö r g - U l r i c h Fechner. Stuttgart 1 9 7 1 , S. 3 8 .
17
E b d . , S. 5.
18
H a y d n , Die Schöpfung, s. A n m . 6 , S. 19.
15
120
Verena Ehrich-Haefeli
„Zum Himmel aufgerichtet steht" der Mann und bezeugt damit, daß sein Wesen Selbständigkeit ist, Selbstbestimmung, Autonomie; er ist für sich, Zweck seiner selbst; Eva hingegen ist „für ihn", sie wird nicht einmal Frau genannt, sondern nur aus der Beziehung zu ihm definiert als „die Gattin". 1 9 So ,steht' sie auch nicht: sie „schmieget sich [...] an" ihn und „lächelt ihm [...] zu". Bei Sailer, Schnabel, Geliert gab es eine klare Ausrichtung auf Intersubjektivität — „Zwei Bäume im Garten" 2 0 —; hier aber wird ,Eiche und Efeu' proklamiert; die Metapher hat seit kurzem erst entsprechende Bedeutung und Kurswert gewonnen. 21 Dabei geistert die alte theologische Streitfrage, ob auch die Frau eine vernünftige Seele habe, ob auch sie in vollem Sinne Mensch sei (die im Zeitalter der Menschenrechte und des Humanitätsdenkens — dem es das Höchste ist, „ein Mensch zu heißen" 2 2 — neue Dimensionen erhalten hat) nicht einmal verhüllt durch diese Zeilen; von Gottebenbildlichkeit und vom göttlichen „Hauch", d. h. vom „Geist" ist nur bei Adam die Rede. Die zwei wichtigsten diskriminierenden Sätze der Genesis, von denen im Text des Kanonikus Sailer jede Spur getilgt war, tauchen hier wieder auf. Ob dann mit der Apposition „der Mensch, ein Mann" sprachlogisch die Frau schon völlig ausgeschlossen ist oder noch mitgemeint werden kann, das stehe hier dahin — die gleiche diskursive Unklarheit wird bei Rousseau zu erörtern sein. Mit Sicherheit aber ist Eva nicht gemeinsam mit Adam „Königin der Natur", denn Natur ist sie ja selbst, wenn sie „des Frühlings reizend Bild" repräsentiert. An dieser Stelle sagt der Text vielleicht mehr als er will: des „Frühlings reizend Bild" zeigt sie ihm, Glück, Liebe, Wonne „lächelt" sie „ihm zu" — da wird sie zum Spiegel seiner Wünsche; was aber hinter dem Spiegel ist, ihr Zumutesein in sich und für sich — die Frage scheint sich für Uriel wie für Adam nicht zu stellen. Aber auch für Eva nicht, das zeigt der
19
Entsprechend die Verteilung der Bezeichnungen in Schillers Lied von
Glocke.
20
21
22
der
Vgl. Janine Chasseguet-Smirgel: Zwei Bäume im Garten. Zur psychischen Bedeutung der Vater- und Mutterbilder. München und Wien 1988. In den wenigen Beispielen aus der früheren Zeit, denen ich begegnet bin, bezieht sich die Metapher ausschließlich auf die Umklammerung beim Liebesakt, entsprechend ist „Efeu" einmal der Mann, einmal die Frau, in einem Beispiel sind sogar beide gegenseitig gemeint. Belege für die neue, uns geläufige Bedeutung finden sich von 1770 an, vor allem dann in der Zeit der Klassik. So Nathan zum Tempelherrn. S. Gottfried Ephraim Lessing: Werke. Hrsg. von Herbert G. Göpfert. Bd. 2. München 1971, S. 253.
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folgende Dialog der beiden. Nachdem sie zusammen mit den Engeln Gott für die Schöpfung gedankt haben, ergreift Adam das Wort und setzt nun die ,Ordnung der Dinge' fest: das erste war der Dank an G o t t , nun wird er Eva in die Schöpfung einführen, dabei ihr auch erklären, wie sie sich zu Gott zu verhalten hat; er weiß auch schon, wie ihre Freude dabei beschaffen sein wird. „Komm, folge mir, ich leite dich!" — zweimal in zwölf Versen ertönt dieses Schlüsselwort. 2 3 Selber wahrnehmen, selber Erfahrungen machen ist für sie nicht vorgesehen. Und Eva stimmt zu: „O du, für den ich ward, / mein Schirm, mein Schild, mein A l l ! " 2 4 Während seine Sätze die Fäden spannen zu Gott und Welt, gibt es für sie nur Adam, nur den Anruf „O du!", wobei die klischeehaften Metaphern im Zusammenhang eine überraschend genaue Bedeutung gewinnen: sein „Schild" ist ihr statt des Zugangs zur Schöpfung; sein „Schirm" ist ihr statt eines freien Blicks nach oben, zur Transzendenz; so wird Adam tatsächlich ihr „All", zu ihr herein k o m m t nur, was er ihr vermitteln will. Mit Evas freudiger Unterwerfung unter diese Anordnung endet der Dialog: „Dein Will' ist mir Gesetz [...] / und dir gehorchen bringt / mir Freude, Glück und R u h m . " 2 5 In sechs Zeilen spricht sie ihre Existenz, d. h. ihr Verhältnis zu Adam aus, ohne daß ein einziger Satz vom Subjektpronomen „ich" ausginge — der Verzicht auf Subjekt-Sein prägt schon ihre Sprachform. An zwei Momenten des Textes ist zu erkennen, daß das hierarchische Verhältnis zwischen Adam und Eva hier von anderer Qualität ist als jenes ältere, um das bei Sailer gestritten wird. Bei Sailer war das Herrschaftsverhältnis dem Menschenpaar nicht anerschaffen, es wird nachträglich — als Folge ihres Handelns — durch einen Sprechakt instituiert und ist als Institution diskutabel; es bleibt ihnen gewissermaßen äußerlich, als eine Art Ehestandsrolle auferlegt. Bei van Swieten ist es beiden anerschaffen als verschiedene Wesensart, ihnen unmittelbar bewußt als Moment ihrer männlichen oder weiblichen ,Natur'. (Einen Disput darüber kann es jetzt gar nicht mehr geben.) — Dazu werden die alten Argumente mit einem modernen Diskurs neu legitimiert: An der „weitgewölbt' erhabnen Stirn" und dem „hellen Blick" nämlich ist abzulesen, daß der Mann von Natur zum Herrschen bestimmt ist, unwiderleglich; so will es die neue Anthropologie der medecins-philosophes, 2 6 23 24 25 26
Haydn, Die Schöpfung, s. Anm. 6, S. 22. Ebd. Ebd., S. 23. Vgl. dazu die umfassende Darstellung von Claudia Honegger: Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib 1750—
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die, e i n e m p s y c h o p h y s i s c h e n M o n i s m u s e r g e b e n , G e i s t e s a r t und P s y c h o logie der G e s c h l e c h t e r aus der jeweiligen b i o l o g i s c h e n O r g a n i s a t i o n , ja aus der A n a t o m i e zu e r k e n n e n g e w i ß sind. S o e n t w i c k e l t a u c h H u m b o l d t zu dieser Z e i t eine g a n z e G e s c h l e c h t e r p h i l o s o p h i e v o m K ö r p e r b a u her u n d , b e o b a c h t e t ' d a b e i , d a ß an der m ä n n l i c h e n F o r m sich weit m e h r die „ r e i n e M e n s c h h e i t " zeige als an der w e i b l i c h e n 2 7 — wie es R o u s s e a u und a n d e r e vierzig J a h r e zuvor zu d e k r e t i e r e n b e g a n n e n . — An die diskursive E r s c h a f f u n g u n d B e g r ü n d u n g des neuen K o n z e p t s von m ä n n l i c h e r und w e i b l i c h e r , N a t u r ' , von , G e s c h l e c h t s c h a r a k t e r e n ' leistet R o u s s e a u s T e x t einen w e s e n t l i c h e n B e i t r a g .
Rousseaus Buch im Kontext D e r g r u n d l e g e n d e W a n d e l der K o n z e p t i o n der F r a u , den w i r an den A d a m - u n d - E v a - D a r s t e l l u n g e n abgelesen h a b e n , ist n u r ein Teil jenes u m f a s s e n d e n W a n d e l s der V o r s t e l l u n g e n , der die g r o ß e
Epochenschwelle
(die „ S a t t e l z e i t " n a c h K o s e l l e c k ) a m B e g i n n unserer, der b ü r g e r l i c h e n ' E p o c h e k e n n z e i c h n e t ; es s c h e i n t mir w i c h t i g , für u n s e r e Frage dieses k o m p l e x e U m f e l d g e g e n w ä r t i g zu h a l t e n . Es ist die Z e i t , in der die m o d e r n e I n d i v i d u a l i t ä t e n t s t e h t ; in der a u c h in den L e i t v o r s t e l l u n g e n , die das L e b e n u n d A r b e i t e n der M ä n n e r b e t r e f f e n , t i e f g r e i f e n d e V e r ä n d e r u n gen e i n t r e t e n ; in der mit der D i s s o z i a t i o n von E r w e r b s - und F a m i l i e n l e ben die neue K e r n f a m i l i e e n t s t e h t ; 2 8 in der das K i n d allererst als s o l c h e s , n i c h t n u r als u n v o l l k o m m e n e r E r w a c h s e n e r w i c h t i g w i r d ; in der M ü t t e r l i c h k e i t ' in neuer Weise t h e m a t i s c h wird — mit den letzten beiden G e s i c h t s p u n k t e n sind w i r w i e d e r bei R o u s s e a u . D a ß ich R o u s s e a u so o h n e weiteres in den d e u t s c h e n K o n t e x t hineinziehe, b e d a r f vielleicht einer R e c h t f e r t i g u n g . F ü r die g r o ß e n D i c h t e r und
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1850. Frankfurt a. M . und New York 1991. - Lieselotte Steinbrügge: Die Aufteilung des Menschen. Zur anthropologischen Bestimmung der Frau in Diderots Encyclopidie. In: Frauen in der Geschichte IV, s. Anm. 2, S. 51 — 65. Wilhelm von Humboldt: Über die männliche und weibliche Form (1795). In: Ders.: Werke in fünf Bänden. Hrsg. von Andreas Flitner und Klaus Giel. Bd. 1. Darmstadt 3 1 9 8 0 , S. 2 9 6 - 3 3 6 , hier S. 305. Vgl. dazu den grundlegenden Aufsatz von Karin Hausen: Die Polarisierung der ,Geschlechtscharaktere' — Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs· und Familienleben. In: Werner Conze (Hrsg.): Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Stuttgart 1967, S. 363 — 393.
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Philosophen der Folgezeit ist sein Einfluß bekannt genug; darüber hinaus aber haben seine Hauptschriften, vom Moment ihres Erscheinens an, eine erstaunliche Verbreitung im deutschen Raum erfahren. Eine umfassende Darstellung dieser Präsenz Rousseaus in Deutschland fehlt; ich nenne nur ein paar rasch gefundene Zeugnisse, die sich auf die erste Wirkung des Emile beziehen. (Zu dieser hat sicher auch das Märtyrerschicksal des Verfassers beigetragen; nach der öffentlichen Verbrennung des Buchs wurde er aus Frankreich und dann aus seiner Heimat Genf verbannt.) Kaum ein Jahr nach Erscheinen des Emile beabsichtigt Wieland, der Vater zu werden hofft, eine handlichere Kurzfassung des Werks herzustellen. 2 9 Ebenfalls 1763 wendet sich Prinz Louis Eugen von Württemberg an den „auguste ami de la verite" 3 0 und bittet ihn um die Gunst, ihn und die Prinzessin bei der Erziehung ihres dreimonatigen Töchterchens — es heißt Sophie — zu beraten; er hofft sehr, nicht zur Regierung gerufen zu werden, damit sie beide von Rousseau lernen können, ihre Elternpflichten wahrhaft zu erfüllen ... Der Briefwechsel, mit ausführlichen wöchentlichen Rapporten des Prinzen über das Verhalten des Babys und mit den praktischen Anweisungen Rousseaus, dauert über ein Jahr! 1767 schreibt Pestalozzi an seine Braut: „Lies Emile, meine Nanetten, [...] und unser erstes Geschäft, wenn wir einander wieder sehen, wird dieses sein, ihn miteinander zu lesen." 3 1 Ihr erster Sohn (1770) wird Jean-Jacques heißen. Über Monate hinweg ist von Emile die Rede im Briefwechsel von Herder und seiner Braut. „Mir ist er [Rousseau] ein Heiliger, ein Prophet, den ich fast anbete," schreibt Caroline. 3 2 Herder möchte gern in ihre Seele sehen können, wenn sie in dem Buch liest: „Mir ist doch sehr daran gelegen, wie Sie sich zu dem Mütterlichen Gedanken haben müssen [...]. [Rousseau ist] ein Prediger der Menschheit, [...] aber wir müssen ihn nicht loben, sondern t h u n . " 3 3 Christian Stolbergs Frau Luise schreibt eine dramatische Bearbeitung des kleinen
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Brief Wielands an Sophie La R o c h e vom 17. O k t o b e r 1763. S. Wielands Briefwechsel. Hrsg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften durch Hans Werner Seiffert. Bd. 3. Berlin 1975, S. 192. Alain Grosrichard: Le prince saisi par la philosophie. In: Analytica 1 9 8 2 , S. 1 - 1 7 , hier S. 1. Heinrich Pestalozzi: Werke. Hrsg. von Gertrude Cepl-Kaufmann und M a n fred Windfuhr. Bd. 2. München o. J . , S. 7 2 4 . Herders Briefwechsel mit Caroline Flachsland. Hrsg. von Hans Schauer. Weimar 1926, S. 2 8 5 . Ebd., S. 2 9 3 und S. 2 9 7 .
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Romans von Emile und Sophie, die in Tremsbüttel aufgeführt werden soll. 3 4 Georg Jacobis Aufsatz Über die Erziehung der Töchter im ersten Band seiner Iris (1774) ist eine vage Poetisierung Rousseauscher Gedanken. 3 5 Die große Bedeutung des Emile für Lenz und für Klinger ist bekannt. 3 6 Campe veröffentlicht in seiner Allgemeine[n] Revision des Gesammten Schul- und Erziehungswesens in Band 12 bis 15 eine neue Übersetzung des Emile,37 die er und seine Mitarbeiter mit fortlaufenden Anmerkungen versehen. Während sie im Emile-Teil sich genötigt sehen, oftmals Rousseaus „Poesie in Prosa zu übersetzen", so stimmen sie, was Sophies Erziehung und die Bestimmung der Frau betrifft, Rousseau entschieden zu; sie tadeln nur, daß in dem französischen Werk zuviel weibliche Koketterie erlaubt werde. Die selbstverständliche Präsenz des Emile bezeugt schließlich Jean Pauls Levana·. in dem Kapitel über „die Erziehung, die gewöhnlich Weiber geben," läßt er Madame Jaqueline, „Schwester-Rednerin ihres ganzes Geschlechts", bereuen, daß sie es bei ihren Kindern in bezug auf „viele Gebote Rousseaus und Campens" an Konsequenz habe fehlen lassen. 3 8 Ein weiteres mag dazukommen, was nun speziell das 5. Buch betrifft. Die mondäne Geselligkeit, gegen die Rousseau so vehement anschreibt, weil sie die Frauen ihren natürlichen Pflichten entfremde, ist in Deutschland weit weniger entfaltet als in Frankreich; das „Welt-Weib" (so übersetzt Pestalozzi die femme du monde 3 9 ) ist im deutschen bürgerlichen Bereich noch relativ selten anzutreffen. Wenn man hier also Rousseaus 34
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Ich war wohl klug, daß ich dich fand. Heinrich Christian Boies Briefwechsel mit Luise Mejer 1777—1785. Hrsg. von Ilse Schreiber. München 1975, S. 174. Johann Georg Jacobi: Erziehung der Töchter. In: Iris. Bd. 1. Düsseldorf 1774, 3. Stück, S. 3 — 14. — Ders.: Fortsetzung der Töchtererziehung. Bd. 2. Düsseldorf 1775, 2. Stück, S. 1 0 6 - 1 1 4 . „Emil [...] war das erste Buch unsers Jahrhunderts, das erste Buch der neuen Zeit," schreibt Klinger. S. Karl S. Guthke: Zur Frühgeschichte des Rousseauismus in Deutschland. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 77, 1958, S. 384—396, hier S. 387. — Norman R. Diffey: Lenz und Rousseau. Bonn 1981. Allgemeine Revision des gesammten Schul- und Erziehungswesens von einer Gesellschaft practischer Erzieher. Hrsg. von J. H. Campe. Wien und Braunschweig 1789 (Zwölfter Theil) bis 1791 (Fünfzehnter Theil), hier Bd. 12, S. 8. Jean Paul: Levana. In: Ders.: Werke in zwölf Bänden. Hrsg. von Norbert Miller. Bd. 10. München 1975, S. 672 f. Heinrich Pestalozzi: Weltweib und Mutter. In: Werke, s. Anm. 31, Bd. 2, S. 1 2 7 - 1 4 0 .
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Vorstellungen folgen wollte, mußte man wohl weniger aufopfern als in Frankreich, gewann aber vielleicht dafür eine willkommene Aufwertung und Verklärung der bestehenden eingeschränkten Verhältnisse. Rousseau selber spricht davon, daß in protestantischen Gebieten weit mehr Zusammenhalt der Familien herrsche als im katholischen Frankreich (491). 40 Auch Diderots gefühlvolle Familiendramen fanden in Deutschland ja größeren Anklang als in Frankreich. 4 1 Für den Wandel der Konzeption der Frau ist Rousseaus Text nun besonders interessant, nicht nur weil er das erste Bild des Neuen von dichterischer Strahlungskraft entwirft (neben Sophie tritt auch Julie im zweiten Teil der Nouvelle ΗέΙοϊίβ), sondern weil in seinem Text drei deutlich geschiedene Register nebeneinander herlaufen: einmal die Setzungen über die ,Natur' der Frau, aus denen deren grundsätzliche Unterworfenheit unter den Mann gefolgert wird; dann — für die entstehenden psychischen Strukturen das Interessanteste — eine Erziehungslehre, deren praktische Anweisungen zeigen, wie die postulierte ,Natur' der Frau hergestellt, d. h. wie aus einem potentiellen Baum ein Efeu gemacht werden kann; als drittes das Register der Verklärung, welches das neue Frauenbild und das Glück der entworfenen Häuslichkeit mit hellem Glanz versieht. (Der kleine Roman am Ende, wie Emile und Sophie sich finden, gehört fast ganz der dritten Tonart an.) Repression und Verklärung stehen also noch hart und deutlich gegeneinander, was in entsprechenden Texten der Klassik nicht mehr der Fall ist. Dabei gibt es zwischen dem Emile-Teil des Buchs und dem SophieTeil, besonders aber innerhalb dieses letzteren, flagrante Widersprüche und höchst fragwürdige Argumentationen, etwa ein verblüffend willkürliches Wirtschaften mit dem ,Willen der Natur'. Es ist offensichtlich, schon am Habitus des Textes abzulesen: Emile und erst recht Sophie sind auch Wunschkonstruktionen, die traumatischen Erfahrungen von Rousseaus eigener Geschichte beschwörend entgegengehalten werden,
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Zitiert wird nach folgender Ausgabe: Jean Jacques Rousseau: Emile ou de l'education. Introduction p a r Francois et Pierre Richard. Paris 1964. Z u m Z u s a m m e n h a n g von Familienstruktur und konfessionellem H i n t e r grund s. Verf.: Secularisation, langue et structure familiale: le pere d a n s le theatre de Lessing et de Diderot. In: Colloquium Helveticum 4 , 1986, S. 33 — 72. — Z u m üblichen, weitgehend ,externen' Erziehungsweg der Kinder im Frankreich des 18. J a h r h u n d e r t s vgl. Elisabeth Badinter: L'amour en plus. Histoire de l ' a m o u r maternel XVIIe—XXe siecle. Paris 1980. (dt.: Die M u t terliebe. Geschichte eines Gefühls vom 17. J a h r h u n d e r t bis heute. M ü n c h e n und Zürich 1981.)
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was zur Persuasionskraft des Buchs wohl beitragen mochte; beim Lesen „entflammet sich Alles", schreibt H e r d e r 4 2 . Auf all dies kann ich in dieser Arbeit nicht eingehen. Mein Versuch geht dahin, die wichtigsten Aspekte der psychischen Organisation, die hier für die Frau vorgesehen wird, herauszuarbeiten — in knappster Abhebung von dem, was Emile zugedacht wird, und mit wenigen Hinweisen auf die Wirkungsgeschichte, den historischen Erfolg der hier artikulierten Weiblichkeitskonzeption. Dieser geschichtliche Erfolg zeigt, wie sehr Rousseau mit dem Buch Sophie ou la Femme, das in der Folge der literarischen Frauenbilder eine Wende zu markieren scheint, zugleich nur Sprachrohr w a r für mächtige Tendenzen, die in diese Richtung drängten. (So bekundet die Encyclopedie, die eine Art progressiven Konsens der Zeit anzeigte, im Z u s a m m e n h a n g mit den Demographie-Sorgen der Physiokraten ähnliche Ansichten; 4 3 mit ganz abstrusem Detaileifer wird hier alles, was mit M u t t e r s c h a f t zu tun hat, ausgebreitet; die Lohnarbeit etwa von Frauen, die im damaligen Frankreich schon bedeutend war, wird k a u m vermerkt.)
Die Frau als das ,Andere' — des Mannes oder des Menschen? Auch Rousseau beginnt seine Ausführungen über Sophie ou la Femme mit der Frage, wieweit die Frau am Gattungswesen Mensch teilhabe — allerdings gut camoufliert in der Eröffnungsfrage nach Gleichartigkeit u n d Verschiedenheit der Geschlechter. Diese beantwortet er nach logischer Billigkeit: In allem, was nicht mit dem Geschlecht zu tun hat, ist die Frau gleich wie der M a n n , d . h . Mensch („la f e m m e est h o m m e " , 445); in allem, was sich auf Geschlechtlichkeit bezieht, sind sie verschieden. Ein p a a r Seiten weiter indes wird dargelegt, d a ß der M a n n nur in gewissen Augenblicken die Rolle des M ä n n c h e n s innehat, während die Frau Weibchen ist ihr ganzes Leben lang bzw. solange sie nicht zu alt ist dazu: ihr gesamtes Dasein, ihre Konstitution, aber auch ihr Geist, T e m p e r a m e n t und Charakter sind bestimmt von ihren Geschlechtsfunktionen (450). D a ß die Frauen schlechterdings als „le sexe" bezeichnet werden, ist nur folgerichtig. Das heißt aber, von dem, was der Frau mit dem M a n n gemeinsam wäre, bleibt nichts übrig, und auf dieser Grund42 43
Herders Briefwechsel mit Caroline Flachsland, s. Anm. 32, S. 297. Steinbrügge, Die Aufteilung des Menschen, s. A n m . 26, S. 51 — 65.
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läge baut der Text sich auf. (Silvia Bovenschen hat auch bei Kant, im Kontext der Diskussion der bürgerlichen Rechte, die gleichen Formen des impliziten Ausschlusses der Frau aus der Gesamtkategorie Mensch aufgezeigt. 44 ) Die Konsequenzen solcher Scheidung der Geschlechter werden von immer neuen Seiten her im Text hervorgehoben. Während es bei den Vernünftigen Tadlerinnen hieß: „Die Seele theilet sich in kein Geschlechte ein: / Sie ist ein freier Geist in unterschiednen Leibern," 4 5 setzt Rousseau fest, ein vollkommener Mann und eine vollkommene Frau dürfen sich im Geist so wenig gleichen wie in ihrem Antlitz (446). J e getrennter daher Männer und Frauen leben, um so besser für beide und für das Ganze; die zeitgenössische Annäherung und gesellige Vermischung der Geschlechter, gar das Gerede von Gleichheit sei nur eines der deutlichsten Anzeichen des jetzigen Niedergangs (451 — 454 und passim). So ist auch die ideale Gemeinschaft von Ciarens in der Nouvelle Heloi'se so organisiert, daß Männer und Frauen sich nur zu besonderen Anlässen zusammenfinden. Ferner: bei der traditionellen Weiberschelte (die bei Sailer noch ein wenig durchschlägt in der exzessiven Länge von Evas Zornarie) standen den als spezifisch ,weiblich' geltenden Lastern Tugenden gegenüber, an denen die Frauen ja auch teilhaben konnten. Rousseau nun erklärt, was bei uns Männern ein Fehler wäre, ist bei ihnen Tugend, und umgekehrt; die Fähigkeiten beider „se compensent" (453 f.); die Frau, die ,männliche' Fähigkeiten entwickelt, ist keine Frau mehr, sondern wird zu einer Art Unwesen (454, 488). So gibt es schlechterdings nichts Gemeinsam-Gleichartiges mehr; die Verschiedenheit erstreckt sich von der Nahrung — die Frauen hat die Natur zu Milch- und Süßspeisen bestimmt (501) — bis zu einer für beide Geschlechter spezifischen Moral. Zwei Bemerkungen drängen sich hier auf. Diesem Denken, das von der genannten neuen Geschlechteranthropologie geprägt ist, erscheinen die Frauen ausgegrenzt als das ,Andere' schlechthin; sie werden in einem verschärften Sinn zum Objekt des männlichen Diskurses. Das zeigt schon die Redestrategie im ersten, allgemein abhandelnden Teil des 5. Buchs: es ist ein Männergespräch unter „nous, vous et moi" über „elles" — ganz selten nur wird eine „mere judicieuse" (454) direkt mit Ratschlägen angesprochen. Die Dimensionen dieser Andersheit werden exemplarisch aufgezeigt in Diderots kleinem Aufsatz Sur les femmes ( 1 7 7 2 ) . 4 6 44 45 46
Bovenschen, Die imaginierte Weiblichkeit, s. Anm. 3, S. 71 f. P i e Vernünftigen Tadlerinnen, s. Anm. 4, Anhang S. 31. Denis Diderot: Sur les femmes. In: Ders.: CEuvres completes. Introductions de Roger Lewinter. Bd. 10 o. O . 1971, S. 31 — 53 (zwei Versionen).
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Die Beschwerden der Frauen von der Pubertät über Schwangerschaften bis zur M e n o p a u s e machen sie zu bedauernswerten Kranken; im Hinblick auf die Manifestationen der Hysterie werden sie mit einer Art schaudernder Bewunderung als „wahre Wilde im Innern" („de vraies sauvages en d e d a n s " 4 7 ) bezeichnet, und schließlich — Bewunderung und Entwertung zusammenfassend
— als „des enfants bien
extraordinai-
r e s ! " 4 8 So dreifach außerhalb der Welt der männlichen Vernunftordnung situiert, werden sie schließlich zum „ m y s t e r e " 4 9 — zu jenem „Rätsel der Weiblichkeit", das Freud immer noch den M ä n n e r n zum „ G r ü b e l n " aufgegeben findet. 5 0 Für die Frauen genüge es, sagt Freud, das Rätsel zu sein; die Redeordnung ist dieselbe geblieben. (Wie sehr die Frau, als „mystere" verstanden, zu Projektionen einladen mag, bezeugt die Vorstellung einer in der Frau verborgenen spezifischen Wildheit, die sich mehrfach findet in der Folgezeit: nur die Weiber werden bei Schiller „zu H y ä n e n " 5 1 ; es ist Claudia Galotti, die „brüllet" wie eine „Löwin, der man die Jungen g e r a u b e t " , 5 2 so wie bei Lessing auch nur Frauen [Marw o o d , Orsina] „ r a s e n " und ihre Opfer lebendig „zerfleischen" möcht e n . 5 3 ) Diese Ausgrenzung der Frau als das fremdartige ,Andere', mit welchem einen keine Empathie verbindet, mag auch beitragen zu der erstaunlichen H ä r t e und Indifferenz, mit der Rousseau manchmal die Frau ihrem Untergebenenstatus und das kleine M ä d c h e n seinem naturgewollten Dressurprogramm überantwortet. Das zweite M o m e n t betrifft die strategische diskursive Undeutlichkeit, Indirektheit, Nur-Impliziertheit von Ausgrenzung oder Zuordnung der Frau (in bezug auf Mensch-Sein), wie wir sie schon beim HaydnT e x t sahen. Was die feministische Linguistik als Zweideutigkeit des generischen 47 48
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Maskulinums
untersucht
hat54
(Beispiel: der Plural
„alle
Ebd., S. 35. Ebd., S. 33. Auch Rousseau nennt die Frauen „de grands enfants" (245). Freilich hat Diderot selbst — fünfzehn Jahre zuvor — auch ganz andere Frauengestalten geschaffen, etwa die besonders selbständige, starke Constance in Le fils naturel. Ebd., S. 48. Sigmund Freud: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Studienausgabe Bd. I. Frankfurt a . M . 4 1 9 7 2 , S. 545. Friedrich Schiller: Sämtliche Werke. Hrsg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert. Bd. I. München 5 1 9 7 3 , S. 440. Lessing, Werke, s. Anm. 22, Bd. 2, S. 173. Ebd., S. 26, S. 41 und S. 189 f. Luise F. Pusch: Das Deutsche als Männersprache. Aufsätze und Glossen zur feministischen Linguistik. Frankfurt a . M . 1984, S. 46 ff.
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Schweizer Bürger" Schloß beim Wahlrecht die Frauen aus, w ä h r e n d sie bei der Steuerpflicht mitgemeint waren), das t a u c h t schon hier auf, bei der fundamentalsten aller Z u o r d n u n g e n . Wichtig d a r a n f ü r unsere Frage erscheint mir die grundsätzliche Verunsicherung der Frau in bezug auf den eigenen Standort, die eigene Identität, das Gefühl von Selbst-Sein. Es dann im einzelnen auszuprobieren, ob sie hier nun mitgemeint ist oder nicht, ob sie da zugelassen wird oder nicht, m u ß unzählbare traumatische Enttäuschungen verursacht haben, mit ihrem Gefolge an Lähmung und Selbstverachtung.
Bestimmt zu gefallen: Leben im Spiegel Den Ausgangspunkt der Differenzierung von M a n n und Frau sieht Rousseau im „gemeinsamen N a t u r z w e c k " , dem Begattungsakt. G e b u n d e n an das Vorstellungsschema des Liebeskriegs, erklärt er, der M a n n müsse dazu aktiv, stark, zum Angriff bereit sein; es genüge, w e n n die Frau wenig Widerstand leiste; ihre Konstitution ist also schwach, passiv, furchtsam (446f.). D a r a u s folgert er alles übrige. Um ihre Schwäche auszugleichen, ist die Frau dazu bestimmt, d a ß sie dem M a n n zu gefallen suche und sich ihm angenehm mache: u m ihn zum H e r r n zu gewinnen („eile doit se rendre agreable ä l ' h o m m e [...] p o u r etre subjuguee", 446); um ihm dann das häusliche Leben so angenehm zu machen, d a ß er sein Vergnügen nicht a u ß e r h a l b sucht (469); vor allem aber m u ß sie u m sein Wohlwollen werben, d a m i t er willens sei, ihr und ihren (!) Kindern zu geben, was sie zum Leben brauchen: „Par la loi meme de la nature, les femmes, tant p o u r elles que p o u r leurs enfants, sont ä la merci des jugements des h o m m e s . " (455) Das Ausgeliefertsein an das Urteil des M a n n e s für ihre Subsistenz spricht ihr vollends jeden Boden, auf d e m sie ,stehen' könnte, a b — wir sehen schon Ibsens N o r a , wie sie ängstlich-eifrig ihrem G a t t e n das wöchentliche Haushaltsgeld abschmeichelt. Die historisch relativ neuen Voraussetzungen solcher Abhängigkeit, die Sailers Eva noch nicht k a n n t e (Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben und ihre Folgen 5 5 ), werden von Rousseau nirgends reflektiert, sondern diese selbst in einer Art Bibelton als n a t u r h a f t verkündet: „Femme, h o n o r e ton chef; c'est lui qui travaille p o u r toi, qui te gagne 55
Vgl. Anm. 28.
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ton pain, qui te nourrit: voilä l'homme." (558) So wird ihr eingeschärft — ihre Leistungen (es sind nicht wenige, wie wir sehen werden), heißen, in einer folgenschweren Sprachregelung, nicht „travail", sondern „soins" (461, 467 und passim). Sehr viel hängt also davon ab, daß es der Frau gelingt, dem Mann zu gefallen, seine Wünsche zu erraten, ihm zu Willen zu sein: ihre eigene Existenz, Kohärenz und das Glück der Familie, und damit, wie Rousseau nicht müde wird zu versichern, auch das Wohl des Gemeinwesens. Ainsi, toute l'education des f e m m e s doit etre relative a u x h o m m e s . L e u r plaire, leur etre utiles, se faire aimer et h o n o r e r d ' e u x , les elever jeunes, les soigner g r a n d s , les conseiller, les consoler, leur rendre la vie a g r e a b l e et d o u c e : voilä les devoirs des f e m m e s [...] et ce q u ' o n doit leur a p p r e n d r e des leur enfance. (455)
D a s „für ihn" des Haydn-Textes wird hier auseinandergefaltet: Die Frau hat ihr Dasein als Objekt eines fremden Blicks, eines fremden Urteils, eines fremden Willens, in permanenter Selbstentäußerung. Dabei enthalten doch die vorangehenden 450 Seiten des Buchs Rousseaus revolutionäre Botschaft, wie dem heranwachsenden Menschenkind jene glückliche Freiheit, die die Natur vorgesehen hat, gelassen werden soll, damit es aus eigener Initiative, eigenen Impulsen folgend, alle Kräfte des Körpers und des Geistes entfalte und so als Erwachsener zur wahren Autonomie gelange: „qu'il voie par ses yeux, qu'il sente par son cceur; qu'aucune autorite ne le gouverne hors celle de sa propre raison." (306) D a s utopische Konstrukt von Emiles Erziehung in einer künstlich ,natürlichen' Einsamkeit hat keinen anderen Zweck als zu verhindern, daß er zu früh ,nach außen gewendet' werde; die affektiven Verstrickungen und Abhängigkeiten im Netz der zwischenmenschlichen Beziehungen, „les rivalites, la jalousie, la crainte, l'envie" (250, 528) sollen ihm erspart bleiben, indem er erst dann in die menschliche Gemeinschaft eintritt, wenn er ein starkes, ruhiges Selbstvertrauen erworben hat: die schmählichste aller Abhängigkeiten, die von der Meinung der anderen, werde ihm so immer fremd bleiben. „ C e qu'on pense de lui ne l'inquiete p a s . " (419) Zu Beginn des 5. Buchs aber erweist sich, daß das Kind, dessen glückliches Heranwachsen zur Selbständigkeit uns vorgeführt wurde, nur das männliche Kind sein kann; für Sophie gilt das alles nicht, es gilt wesentlich das Gegenteil. (Dabei zeigt sich hier erneut jene diskursive Undeutlichkeit, von der die Rede war: was zu Beginn über die frühkindliche Entwicklung und die Abhärtung des Säuglings ausgeführt wird, gilt offensichtlich für beide Geschlechter, das zeigt auch die Korrespondenz
R o u s s e a u s S o p h i e und ihre deutschen S c h w e s t e r n
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mit dem Prinzen von Württemberg; an welcher Stelle die Ausgrenzung erfolgt, wird nicht gesagt.) D a nun für die Frau Selbstbestimmung nicht vorgesehen ist, da ihr Leben sich vollzieht in der vielfältigsten Ausrichtung auf den Mann, ihren „maitre" (511) und „chef", begrüßt Rousseau alles, was anzeigt, daß solche ,Wendung nach außen' schon in der Natur der Frau angelegt sei und also nur noch gefördert werden müsse. Ein Hauptmoment entdeckt er in den bevorzugten Kinderspielen. Fast von Geburt weg, so sagt er, lieben die Mädchen „la parure" (450), „ce qui sert ä l'ornement; des miroirs, des bijoux, des chiffons, surtout des poupees" (459). Als erstes also der Spiegel; und das Puppenspiel beschreibt Rousseau interessanterweise nicht etwa als Einübung in Mütterlichkeit, sondern als rein narzißtisch. Die Puppe ist das alter ego des kleinen Mädchens, das sie als Spiegelbild seiner selbst unermüdlich umkleidet und schmückt, in wachsender Bezauberung schön und schöner macht (459); lustvoll verliert es sich im Bild seiner selbst, das bestimmt ist, den anderen zu gefallen. Sein Spiel ist Selbstentfremdung, indem es sich identifiziert mit dem Objekt eines fremden Wunsches. Für Rousseau manifestiert sich hier weibliche Natur. Auch für Freud wird Weiblichkeit mit Narzißmus verbunden sein; den „häufigsten, wahrscheinlich reinsten und echtesten Typus des Weibes" sieht er charakterisiert durch eine besondere „Steigerung des ursprünglichen Narzißmus [...]. Ihr Bedürfnis geht nicht dahin zu lieben," sondern bewundert und „geliebt zu werden". 5 6 Heute würde uns wohl eher die Frage naheliegen, durch welches Verhalten der Mutter speziell ihrem kleinen Mädchen gegenüber diesem die Bildung eines eigenen, in sich ruhenden Selbstgefühls erschwert wird. Rousseau aber zeigt nun, wie dieses ,weibliche' Gefallenwollen in verschiedenen Gebieten gefördert und geübt werden kann. Ich nenne nur noch zwei. Während Emile wie ein junges Pferdchen herumtoben soll, rennend und springend seine Kräfte entwickelnd (71), steht die körperliche Entwicklung schon der kleinen Mädchen unter dem Zeichen der Anmut (456). Von den Zehnjährigen erwartet Rousseau folgendes: O n peut dejä chercher ä donner un tour a g r e a b l e ä ses gestes, un accent flatteur a sa v o i x , ä c o m p o s e r son maintien, ä marcher avec legerte, ä prendre des attitudes gracieuses, et ä choisir p a r t o u t ses a v a n t a g e s [...] il y a un art de se faire regarder. (467 f.)
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S i g m u n d Freud: Z u r E i n f ü h r u n g des N a r z i ß m u s . In: D e r s . : Psychologie des Unbewußten. S t u d i e n a u s g a b e Bd. III. F r a n k f u r t a, M . 1975, S. 3 7 — 6 8 , hier S. 55.
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Das Mädchen darf sich nicht einfach seinen Impulsen, seinem inneren Körpergefühl überlassen; Bewegungen und Haltung sollen wie ,νοη außen' überwacht werden im Hinblick auf Wirkung; diese Anmut ist eine Fremdbestimmung, eine Art ästhetischer Enteignung des Körpers: 5 7 das Mädchen lerne ,sich zieren' im Hinblick auf den Blick des Zuschauers. J a , sogar Sophies Vorlieben für diese oder jene Beschäftigung — Rousseau vermerkt es lobend — richten sich öfter danach, wie gut sie dabei aussieht: sie macht gerne Klöppelspitzen, weil ihr das eine anmutige Haltung gibt; sie spielt gerne Spinett, weil da ihre feinen Finger zur Geltung kommen (499). 5 8 "Während Emile frei bleibt zu ungestörter Sachlichkeit („Qu'un enfant ne fasse rien parce qu'il est vu ou entendu, rien [...] par rapport aux autres" 81), muß das Mädchen möglichst gründlich lernen, stets das Wohlgefallen, die Billigung anderer im Auge zu behalten — nicht umsonst ist „agreable" ihre wichtigste Qualifikation! Besonders interessant ist Rousseaus Beispiel der Kunst des Gesprächs — sie ist natürlich wichtig, wenn es sich darum handelt zu gefallen (470). Im Gegensatz zu Emiles substantieller Wortkargheit (177, 419) — verbindliche Äußerungen sind von ihm keine zu erwarten — zeigt sich schon bei den kleinen Mädchen „un petit babil agreable" (470), ein niedliches Geschwätz, und dieser Gegensatz bildet sich fort: „Phomme dit ce qu'il sait, la femme dit ce qui platt." (471) Und auch das muß geübt werden; Rousseau schlägt eine Art Gesellschaftsspiel für Mädchen vor, bei dem sie zu jedem der Anwesenden nur sagen dürfen, was ihm gefällig ist und dazu noch wahr ... Die Kunst liebenswürdiger Konversation wird im Text gepriesen, und doch wird hier die Entwertung der Frau besonders deutlich: die Rede des Mannes ist gehaltvoll, da sachbezogen; die ihre gilt als Beziehungsöl, als verbindlich', auf den Inhalt kommt es so genau nicht an. („Un babil [est ce] qu'on ecoute point," (177) hieß es zuvor bei Emile.) So wird die Frau aus dem Bereich des echten Gesprächs hinausgewiesen, Intersubjektivität auch hier aufgekündigt — was um so schwerer wiegt, wenn man die Bedeutung von Dialog und Gespräch im Denken und Lebensstil der Aufklärung bedenkt.
57
Im U n t e r s c h i e d zu späteren B e s t i m m u n g e n der A n m u t e t w a bei Schiller und Kleist.
58
Z u r Asthetisierung w e i b l i c h e r H a u s a r b e i t vgl. B a r b a r a D u d e n : D a s s c h ö n e E i g e n t u m . Z u r H e r a u s b i l d u n g des bürgerlichen Frauenbildes an der Wende v o m 18. zum 19. J a h r h u n d e r t . In: K u r s b u c h 4 7 , 1 9 7 7 , S. 1 2 5 - 1 4 2 , besonders S. 1 3 5 f.
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L'aimable ignorance, la soumission: nicht selber denken, nicht selber handeln D a ß Emile frei seine Interessen entfalten darf und durch eigene E r f a h r u n gen in einer stets sich erweiternden Umwelt sich zurechtfinden lernt, begründet sein ruhig sicheres Selbstgefühl und seine Kreativität; mit Recht traut er sich vieles zu. Beides aber ist dem M ä d c h e n verwehrt. Die Finalität all ihres Lernens ist das Wohlgefallen des zukünftigen G a t t e n , und es stellt sich bei allem vorneweg die Frage, was und wieviel sich verträgt mit der Simplizität, die den M ä d c h e n ansteht (482). Es ist schön, wenn sie die „talents agreables" (469) entfalten, Singen, Tanzen, Zeichnen (aber nur Blumenstücke und Stickmuster, „cela leur suffit", 460) — damit werden sie dem M a n n die Häuslichkeit angenehm und unterhaltsam machen; aber keineswegs soll d a r a u s K u n s t ü b u n g werden, es braucht weder Lehrer dazu noch, für die Musik, N o t e n (469 f.). Da ferner ihr Geist ein d u r c h a u s weiblicher ist, liegt ihm alles, was „raisonnem e n t " ist, Abstraktion, Generalisieren, Prinzipien, nicht; entsprechend sind die „sciences exactes", mit denen Emile im Kinderspiel Bekanntschaft macht, a u ß e r h a l b ihres Gebiets, und ebenso die „connaissances physiques" (Geographie, Naturgeschichte, Völkerkunde etc.), denn sie k o m m e n ja nicht aus dem H a u s (488 f.). Aber auch vom Lesen generell wird sehr abgeraten — Rousseau fürchtet o f f e n b a r die Folgen gefährlicher R o m a n l e k t ü r e (460 f.). N u n wächst auch Emile vorerst o h n e Bücher auf, abgesehen von Robinson-, mit dem Eintritt ins Vernunftalter a b f ü n f zehn wird das jedoch nachgeholt. Sophie aber hat ihre Klugheit und Menschenkenntnis allein aus d e m Gespräch mit Vater und M u t t e r (501); nur zufällig k a m ihr Fenelons Tetemaque in die H ä n d e . 5 9 Mit dieser Absperrung von allen Feldern des Wissens wird dem M ä d chen gleichsam ein zweites Mal die ,Trennung von der M u t t e r ' untersagt: es wird ihr untersagt, ihrem Trieb der Neugier zu folgen, etwas — u n d sei es nur lesend — von der Welt zu entdecken, durch die Freude a m Erwerben von Wissen einen Z u w a c h s an Selbstvertrauen zu gewinnen; es bleibt ihr nur das Gefühl — und die Tatsache — ihrer Hilflosigkeit und O h n m a c h t in bezug auf alles, was jenseits der Häuslichkeit liegt. Das einzige Gebiet, das der Frau emphatisch zugesprochen wird, ist das der Menschenkenntnis — vielmehr nicht der Menschen generell (Rousseau schränkt sogleich ein: das ist natürlich Sache der M ä n n e r ) , 59
Diese einzige Lektüre Sophies ist notwendig, d a m i t sich in ihrer Seele das Idealbild des edlen M a n n e s bilden k a n n , den sie d a n n in Emile findet.
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wohl aber jener Menschen, d. h. M ä n n e r , mit denen sie zu tun hat („qui l'entourent [...] [et] auxquels eile est assujettie", 489). In der Kunst des Menschenlesens durch „penetration" und „observations fines" (489), die auf kein ,Wissen' angewiesen ist (484), sind die Frauen unübertrefflich; darauf werden wir z u r ü c k k o m m e n . Wie M ä d c h e n unterrichtet werden sollen, zeigt Rousseau einzig am Gebiet von Religion und Moral. Da nun die Frau wegen ihres Mangels an raisonnement auch von Fragen der Religion nie selber urteilen k a n n („hors d'etat d'etre juges elles-memes, elles doivent recevoir la decision des peres et des maris", 473), so m u ß m a n schon dem M ä d c h e n , ohne auf G r ü n d e einzugehen, nur kurz und klar darlegen, was zu wissen und zu glauben ist (472 f.). Wie anders dagegen, wenn auch immer noch etwas problematisch, der Unterricht der Heldin bei Geliert: „Ich d u r f t e meinem Vetter nichts auf sein Wort glauben, ja er befahl mir, in Dingen, die noch über meinem Verstand waren, so lange zu zweifeln, bis ich mehr Einsicht b e k o m m e n w ü r d e . " 6 0 Und natürlich gilt f ü r Emile, d a ß der Erzieher „ne doit point donner de preceptes, il doit les faire t r o u v e r " (26). Sophie aber m u ß fertiges Wissen entgegennehmen, sie darf nicht denken lernen, sie darf nicht lernen lernen. Und ihre Eltern haben klug ihre Fragen jeweils abgeblockt: „Ses parents [...] l'ont accoutumee a une soumission respectueuse, en lui disant toujours: Ma fille, ces conaissances ne sont pas encore de votre äge, votre mari vous en instruira q u a n d il sera temps." (502) So wird hier eine Quelle innerer Lebendigkeit, Selbsttätigkeit, von möglicher intellektueller Kreativität beharrlich zugeschüttet. Entsprechend heißt es im zusammenfassenden Porträt Sophies vor ihrer Begegnung mit Emile: „O aimable ignorance! H e u r e u x celui q u ' o n destine a l'instruire!" (520) — Wieder ist sie O b j e k t in der H a n d des Mannes, er f o r m t und bestimmt ihren Geist; so ist d a f ü r gesorgt, d a ß auch in dieser Hinsicht der Efeu sich gut der Eiche anschmiegt. Schlimm wäre es offenbar, wenn sie mit eigenen Vorstellungen und Meinungen, als Subjekt eigenen Denkens ihm entgegenträte. Sophie indes ist glücklicherweise so erzogen w o r d e n , daß ihr Anpassung nicht nur selbstverständlich, sondern zum Bedürfnis geworden ist; ihren vorbildlich weiblichen Geist beschreibt Rousseau folgendermaßen: „Sophie a l'esprit agreable [...], un esprit d o n t on ne dit rien, parce q u ' o n ne lui en trouve jamais ni plus ni moins q u ' ä soi. Elle a t o u j o u r s celui qui plait aux gens qui lui parlent." (501) (Die Konstellation ,der Liebende bildet sich seine Freundin heran' 60
Geliert, Leben der schwedischen Gräfin von G., s. A n m . 16, S. 7.
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w i r d Schule m a c h e n , bis hin zu Schillers B r a u t w a h l 6 1 u n d zu Kleists Briefwechsel mit W i l h e l m i n e v o n Z e n g e u. a.; d a ß das P y g m a l i o n - M o t i v jetzt aktuell w i r d , g e h ö r t in denselben Z u s a m m e n h a n g . ) Der Verzicht auf Subjekt-Sein gilt indes nicht n u r f ü r L e r n e n , Wissen, D e n k e n — wichtiger f ü r die psychische K o n s t i t u t i o n des kleinen M ä d chens ist es, d a ß sie keine Gelegenheit h a b e n soll, sich als Subjekt eigenen H a n d e l n s ü b e r h a u p t zu e r f a h r e n . „Als Z e n t r u m der eigenen Aktivit ä t " w a h r g e n o m m e n u n d a n e r k a n n t zu w e r d e n , 6 2 diese wesentliche Voraussetzung f ü r ein a u t h e n t i s c h e s G e f ü h l von Selbst-Sein, H a u p t s t ü c k v o n Emiles Erziehungsplan, ist f ü r sie nicht vorgesehen. D e n n — R o u s s e a u insistiert hier sehr — die M ä d c h e n d ü r f e n nie sich selber überlassen werd e n . „Les filles [...] doivent avoir peu de liberte" (462); „justifiez [...] les soins q u e vous imposez a u x filles, mais imposez-leur-en t o u j o u r s ! " (461) I m m e r m u ß ein f r e m d e r Wille s p ü r b a r sein: „ q u e les filles soient t o u j o u r s soumises [...] a u x volontes d ' a u t r u i " (461, 463) — ja ein M ä d chen, das aus eigenem A n t r i e b n u n i m m e r f o r t a r b e i t e n m ö c h t e , m u ß d a r a n gehindert und u n t e r b r o c h e n w e r d e n (461). Die M ö g l i c h k e i t , aus eigener Initiative e t w a s ins Werk zu setzen u n d zu verfolgen, jene Versunkenheit des Kindes in sein Spiel, w e n n es e x p e r i m e n t i e r e n d Eigenes aus sich herausstellt u n d als solches e r f ä h r t , M a t r i x gleichsam von k ü n f t i g e r Kreativität — dies ist d e n M ä d c h e n grundsätzlich u n t e r s a g t . D a ihr Frauenleben stets „ e n t r e c o u p e e de soins divers" (460) sein w i r d , sind sie f r ü h d a r a n zu g e w ö h n e n : „accoutumez-les ä se voir i n t e r r o m p r e au milieu de leurs jeux, et r a m e n e r a d ' a u t r e s soins sans m u r m u r e r . " (463) D a n k dieser vorsorglichen D r e s s u r zur Disponibilität — „la seule habit u d e suffit encore en ceci," versichert R o u s s e a u (463) — w i r d ihnen b a l d nicht mehr einfallen, d a ß sie e t w a s Eigenes wollen o d e r u n t e r n e h m e n k ö n n t e n ; beschäftigt zu w e r d e n , g e b r a u c h t zu w e r d e n , f ü r a n d e r e d a zu sein, wird schließlich z u m B e d ü r f n i s w e r d e n — so ist es ja d a n n , N a t u r ' . (Was übrigens den k o n k r e t e n Inhalt dieser „soins" b e t r i f f t , zeigt sich u. a. hier schon die fatale F u n k t i o n der s o g e n a n n t e n ,weiblichen H a n d a r beiten' wie Stickerei, Spitzen, Tapisserie (460), die g e r a d e im w o h l h a b e n 61
62
Brief Schillers an Charlotte von Lengefeld und Caroline von Beulwitz vom 15. November 1789: „Was Caroline vor Dir voraushat, mußt Du von mir empfangen; Deine Seele muß sich in meiner Liebe entfalten, und mein Geschöpf mußt Du sein [...]. Hätten wir uns später gefunden, so hättest Du mir diese schöne Freude weggenommen, Dich für mich aufblühen zu sehen." S. Friedrich Schiller: Briefe. Hrsg. von Gerhard Fricke. München 1955, S. 224. Alice Miller: Das Drama des begabten Kindes und die Suche nach dem wahren Selbst. Frankfurt a . M . 1980, S. 21.
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deren Bürgertum, dem von Rousseau angesprochenen Publikum, wo die Frauen nicht mehr ausschließlich mit Hausarbeiten beschäftigt sind, obligatorisch werden und es bleiben bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. 6 3 Es scheint üblich, daß schon ein kleines Mädchen „tout le jour" so mit der Nadel neben seiner Mutter sitzt — „sans ennui," versichert Rousseau, solange es diese liebe (462). Siehe auch die berühmte „matinee ä l'anglaise" in der Nouvelle Helo'ise:64 Julie stickt am Fenster, die Haushälterin Fanchon sitzt am Klöppelkissen, die kleine Henriette neben ihr näht; die beiden Knaben indes schauen ein Bilderbuch an, die zwei Männer am Teetisch lesen die Zeitung. Der Wandel der häuslichen Szenerie von Geliert, der stets Mann und Frau beide mit Lektüre beschäftigt zeigt, zu Rousseau scheint bedenkenswert.)
Erziehung zur Selbst-Losigkeit: Verzicht auf eigene Gefühle und Bedürfnisse Mitten aus dem Spiel zu Besorgungen abgerufen werden „sans murmurer", das führt zu einem weiteren wichtigen Punkt. Welche Frustration auch immer das Mädchen erfährt, das man aus seinem Spiel wegholt — sie darf nicht bemerkbar werden. Ein rigoroser Verzicht auf eigene Gefühle muß von dem Mädchen verlangt werden, d . h . auf alle Gefühle, die irgendwie ,nein' signalisieren und Selbstbehauptung in der Not: Auflehnung, Zorn, Trauer, Wut ... Und Rousseau zeigt, wie man das erreichen kann. „Ii faut les exercer d'abord ä la contrainte, afin qu'elle ne leur coüte jamais rien" (461); aus dieser „contrainte habituelle" resultiert dann die „docilite" (463), die Fügsamkeit, und diese reift alsdann zur „douceur [...] la premiere et la plus importante qualite de la femme." (463) Sanftheit, Sanftmut wird zur ersten Pflichteigenschaft der Frau. An Sophie, die als Kind noch nicht ganz die wünschenswerte „parfaite egalite d'humeur" (501) erreicht hat, wird gezeigt, wie die Eltern dabei mithelfen können: 63
64
Bei Fontane sehen wir Melanie van der Straaten, Mutter und Tochter de Carayon, Mutter und Tochter Briest mit Handarbeiten beschäftigt. Vgl. auch Ursi Blosser und Franziska Gerber: Töchter der guten Gesellschaft. Frauenrolle und Mädchenerziehung im schweizerischen Großbürgertum um 1900. Zürich 1985, S. 1 1 4 - 1 2 4 (Die Tätigkeiten einer Dame). Jean Jacques Rousseau: Julie ou la Nouvelle Heloi'se. Introduction par Robert Pomeau. Paris 1960, S. 5 4 4 f.
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Qu'on dise un seul mot qui la blesse, eile ne boude pas, mais son cceur se gonfle; eile täche de s'echapper pour aller pleurer. Qu'au milieu de ses pleurs son pere ou sa mere la rappelle, et dise un seul mot, eile vient ä l'instant jouer et rire en s'essuyant adroitement les yeux et tächant d'etouffer ses sanglots. (501 f.) Sophie, ihrer Eltern einziger Schatz und Trost (507, 5 2 6 ) , ,weiß', d a ß ihre Eltern ein trauriges oder ein zorniges, trotziges Kind nicht ertragen können; dieses ganz zu verbergen, auch vor sich selber, wird ihr bald vollkommen gelingen. Die gleiche Virtuosität der Affektbeherrschung wird wenig später eine Frau ihren Leserinnen empfehlen, Sophie La R o che in Rosaliens
Briefe[n];
damit die Frau jene „unveränderliche Gleich-
heit des G e m ü t h s " zeigen kann, die die glückliche Ehe von ihr fordert, sind solche „Übergänge des Aufopferns ihrer selbst vielfach" notwendig. 6 5 — Rousseau deutet noch andere Verfahren an, wie man den M ä d chen die ,negativen' Affekte abgewöhnen kann; von den Frauen heißt es da, mit viel rhetorischer Amplifikation: „Le ciel [ . . . ] ne leur d o n n a point une voix si douce [ . . . ] pour gronder; [...] il ne leur fit point des traits si delicats pour les defigurer par la c o l e r e . " (463) Umgesetzt in eine k o n krete Situation wie die obige der Sophie heißt das etwa: „Schau, wie häßlich du wirst, wenn du zornig b i s t " — eine raffinierte Strategie, die Verletztheit des Menschen
einfach zu annullieren hinter einer ,Huldi-
gung' an die von der Frau doch zu erwartende Anmut! (Die diversen Möglichkeiten, in der neuen Geschlechterordnung mit der dem Weiblichen zugeordneten ,Schönheit' argumentativ zu operieren, wären eine umfassende Analyse wert.) Wenig weiter in Rousseaus T e x t hat sich dann die Sanftmut, die in den angeführten Stellen als Resultat von Repression zu erkennen war, in ,weibliche Natur' verwandelt; Sophie „souffre avec patience les torts des autres [...] tel est l'aimable naturel de son sexe [...]. La femme est faite pour ceder ä l ' h o m m e et pour supporter m e m e son injustice [...] sans se plaindre." (463, 5 0 2 ) Bei den M ä n n e r n freilich ist es ganz anders: „Vous ne reduirez [!] jamais les jeunes gar^ons au meme point; le sentiment interieur s'eleve et se revoke en eux contre l'injustice; la nature ne les fit point pour la tolerer." (502) Auch ist es Rousseau klar, daß alle Unterdrückung in M ä n n e r n H a ß erzeugt (565): hier zeigt es sich, wie es von Vorteil sein kann, das weibliche Geschlecht als das ,Andere' schlechthin
65
Sophie La Roche: Rosaliens Briefe an ihre Freundin Mariane von St. Altenburg 2 1791, S. 33 und S. 77 (erstmals in den siebziger Jahren in Jacobis Frauentaschenbuch Iris).
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vom eigenen Mensch-Sein wegzurücken; sie ,fühlen eben nicht so wie wir ...' — ein Argument, das auch aus anderen, rassistischen Zusammenhängen wohlbekannt ist. Ebenso wichtig wie das Verdrängen und Annullieren der eigenen Gefühle ist der Verzicht auf eigene Wünsche und Bedürfnisse, der dem Mädchen abverlangt wird. Während bei Emile sorgfältig unterschieden wird zwischen Wünschen und Bedürfnissen, die ungesäumt erfüllt werden sollen, und allfälligen „fantaisies", die nicht zu berücksichtigen sind (71), gibt es bei den Mädchen nur eine Kategorie: „II faut les exercer ä dompter toutes leurs fantaisies, pour les soumettre aux volontes d'autrui" (461). Alles ist bei ihnen „fantaisies", denen ein grundsätzliches erzieherisches Nein entgegenzusetzen ist: „apprenez-leur surtout ä se vaincre," (462) und zwar immer. Gelegentlich gesteht Rousseau zu, daß das, was die ,Natur' von den Frauen verlange, hart sei (450, 495); er weiß dagegen nur ein Hilfsmittel: es genügt nicht, Trotz oder Zorn und Wünsche sorgfältig auszumerzen und zu unterdrücken, sie müssen ihre Pflichten lieben lernen (467, 488). Er macht klar, daß diese Erziehung nur gelingen kann im Medium der Liebe zwischen Mutter und Tochter. Aus Liebe zur Mutter wird das kleine Mädchen zu allem bereit sein, nicht nur zum Stillsitzen mit der Handarbeit; ja, der Zwang sogar, den die Mutter ausüben muß, „la gene meme ou eile la tient, bien dirigee, loin d'affaiblir cet attachement, ne fera que l'augmenter." (482) Wir kennen diese Situation verdrängter Ambivalenz, wo gerade in einer Konstellation von besonders inniger Liebe und Verbundenheit jede Auflehnung unterdrückt werden muß, aus unterdrückter Auflehnung aber Schuldgefühl und aus diesem wieder überwältigende Liebe und Aufopferungsbedürfnis entsteht. Und wo so viele repressive Eingriffe geschehen wie hier, ist viel verdrängte Auflehnung, viel Schuldgefühl in Liebe umzuwandeln — welche Einfühlung wird Sophie entwickeln, um die Wünsche der Mutter zu erraten und ihren Forderungen zuvorzukommen! Mehrmals sehen wir sie in einem wortlos antennenhaften Kontakt Orientierung oder Zustimmung bei ihr suchen (535, 563). Mit fünfzehn Jahren ist sie gleichsam zur Mutter ihrer Mutter geworden: „Son unique vue est de servir sa mere, et de la soulager d'une partie de ses soins." (499) Für das Wohlergehen der nächsten Bezugsperson sich so tief verantwortlich zu fühlen, ist freilich die günstigste Voraussetzung für Sophies Ehe, wie sie hier entworfen wird. Die fremden Forderungen sind, in einer Art fortlaufender Identifizierung mit dem geliebten mütterlichen Aggressor, als eigenes ideales Selbst verinnerlicht worden. — In dieser Weise seine Pflichten lieben, seine Wünsche annul-
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lieren, dazu das B e d ü r f n i s zur A u f o p f e r u n g : in s o l c h e r A n o r d n u n g s c h e i nen V o r a u s s e t z u n g e n genug für die E n t w i c k l u n g eines , f e m i n i n e n M a s o c h i s m u s ' g e g e b e n . D a s zeigt sich a u c h bei den speziellen Ü b u n g e n z u m T r i e b v e r z i c h t , die bei S o p h i e d u r c h g e f ü h r t w e r d e n . I h r e f r ü h e N a s c h h a f tigkeit (die bei K n a b e n d u r c h a u s zu dulden ist) h a t die M u t t e r ihr m i t Tadel, Strafe, Fasten
abgewöhnt
und m i t d e m A r g u m e n t
— damals
s c h o n —, d a ß vieles E s s e n die F i g u r v e r d e r b e ; n u n h a t S o p h i e g e r a d e an der E n t h a l t s a m k e i t G e s c h m a c k g e f u n d e n ( 5 0 0 f.) — ein T h e m a , das d a n n bei der , T u g e n d ' , bei d e m T r i e b v e r z i c h t , a u f den es v o r a l l e m a n k o m m t , breit e n t f a l t e t w i r d . A b e r ü b e r h a u p t wird der F r a u i m m e r w i e d e r n a h e gelegt, in der a l t r u i s t i s c h e n A b t r e t u n g ihre e i g e n e E r f ü l l u n g zu f i n d e n . „ L e b o n h e u r d ' u n e h o n n e t e fille est de f a i r e celui d ' u n h o n n e t e h o m m e " , wird S o p h i e v o n i h r e m Vater e r k l ä r t ( 5 0 6 ) , „ses plaisirs s o n t d a n s le b o n h e u r de sa f a m i l l e " ( 5 1 9 ) e t c . D i e Prinzessin in G o e t h e s Tasso sich s c h o n selber so z u m V e r z i c h t e n zureden: „ M u ß ich s c h o n
wird wieder
diesen S c h m e r z als gut / und h e i l s a m p r e i s e n ? " 6 6 H i e r m u ß nun a u f eine A r t der V e r k l ä r u n g s r e d e h i n g e w i e s e n w e r d e n , die, in v i e l f a c h e r A b w a n d l u n g d u r c h das 5 . B u c h h i n , i m m e r w i e d e r die implizite Leserin g l e i c h s a m zu e i n e r m a s o c h i s t i s c h e n U m w e r t u n g h i n z u d r ä n g e n v e r s u c h t . M i t einer b e s c h w ö r e n d e n R h e t o r i k w e r d e n die Verh ä l t n i s s e , die erst in n ü c h t e r n e r H ä r t e gezeigt w o r d e n sind, d a n n verh e r r l i c h t als die einzige M ö g l i c h k e i t , das w a h r e G l ü c k u n d die w a h r e W ü r d e der F r a u e n zu g a r a n t i e r e n . Sie m e i n e n , sie seien u n t e r d r ü c k t ? Sie h a b e n d o c h alles selbst in der H a n d ; w e n n sie ihre P f l i c h t e n g a n z u n d g e r n e a u f sich n e h m e n , d a n n w i r d der L o h n n i c h t a u s b l e i b e n . „Est-il si p e n i b l e [ . . . ] de se r e n d r e a i m a b l e p o u r etre h e u r e u s e , de se
rendre
e s t i m a b l e [ . . . ] p o u r e t r e h o n o r e e ? " ( 4 9 3 ) B e m e r k e n s w e r t hier, wie R o u s seau den M a n n f a m i l i e n i n t e r n e n t p f l i c h t e t : S c h o n den U n t e r h a l t für sich und die K i n d e r m u ß die F r a u d u r c h G e f ä l l i g k e i t v e r d i e n e n ( 4 5 0 ) ; b e s o n ders a b e r die G e s t a l t u n g der B e z i e h u n g e n in der F a m i l i e ist g ä n z l i c h ihre S a c h e , wie der M a n n sich in der H ä u s l i c h k e i t zeigt, das h a t sie sich selber z u z u s c h r e i b e n . 6 7 D a ß in dieser v e r t r a c k t e n A n o r d n u n g , w o n u r der U n t e r g e b e n e für die G e s t a l t u n g des g e m e i n s a m e n B e r e i c h s v e r a n t w o r t l i c h ist, die F r a u zur A u s b i l d u n g eines d a u e r n d e n l a t e n t e n S c h u l d g e -
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Tasso, Vers 1776 f. Im Unterschied etwa zu Diderots und Lessings Familiendarstellungen zeichnet sich hier schon jene Verschiebung ab zu einer zwar patriarchalisch regierten, aber im konkreten Lebensvollzug mutterzentrierten Familienstruktur, die in der Folgezeit so wichtig wird.
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f ü h l s bzw. eines m o r a l i s c h - m a s o c h i s t i s c h e n L e i s t u n g s z w a n g s v e r a n l a ß t w e r d e n m a g — das läßt sich auch an L e b e n s l ä u f e n u n d R o m a n f i g u r e n der Folgezeit e r k e n n e n . 6 8 Interessant ist hier H o r k h e i m e r s Urteil über g e n a u diesen Aspekt der bürgerlichen Familie: sie k o n d i t i o n i e r e d a z u , „den Fehler stets von v o r n h e r e i n bei sich selbst zu suchen [...]. D a s z w a n g s m ä ß i g e Schuldgefühl, als a n d a u e r n d e O p f e r b e r e i t s c h a f t , vereitelt die Kritik der W i r k l i c h k e i t . " 6 9 Und eben in dieser R i c h t u n g d r ä n g t die Suggestion der Verklärungsrede. Es t r i f f t ja g a r nicht zu, d a ß die Frau d e m M a n n n u r Untertan ist: d u r c h ihre Bescheidenheit w i r d sie gebieten, „eile regne p a r la d o u c e u r de son c h a r a c t e r e " (493); ihre Gefälligkeit ist ihre H e r r s c h a f t , ihre L i e b k o s u n g e n sind die Befehle, ihre T r ä n e n die D r o h u n g e n (517). Was die strenge Eingezogenheit des häuslichen Lebens b e t r i f f t , w i r d ihr versichert, sie b r a u c h e die Welt d o c h nicht, „sa dignite est d ' e t r e ignoree, sa gloire est d a n s l'estime de son m a r i : ses plaisirs sont d a n s le b o n h e u r de sa famille." (519) Die T r i e b b e h e r r s c h u n g Sophies w i r d v e r k l ä r t zu einem w a h r e n , E n t h u s i a s m u s " der Tugend (503). U n d i m m e r wieder die Bilder der glücklichen Familie als des einzigen O r t s „des plus d o u x sentiments de la n a t u r e " (452 f.), als des einzigen Bereichs, w o d a s „ H e r z a u f l e b e n " k a n n (19), insbesondere im letzten Teil des Buchs, d e m kleinen R o m a n des jungen Paars. Im R a h m e n dieser Arbeit k a n n ich diesem A s p e k t des Textes nicht gerecht w e r d e n , f ü r die W i r k u n g des Buchs aber w a r er sicher v o n g r ö ß t e r Bedeutung, im selben Sinn wie die v e r k l ä r e n d e D a r s t e l l u n g der Familienidylle von Ciarens in der Nouvelle Heloi'se, die ganz d u r c h d r u n g e n ist v o m Geist der vorbildlichen G a t t i n u n d M u t t e r Julie, o b w o h l sie — o d e r eben weil sie — d u r c h aus die Direktiven ihres weisen G a t t e n befolgt. Diese Verklärungsrede f u n k t i o n i e r t insgesamt wie eine g r o ß a r t i g e M a n i p u l a t i o n des Gesetzgebers R o u s s e a u , der die w a h r e O r d n u n g der Geschlechter wiederherstellen will u n d d a b e i der Frau ihr zu e r w a r t e n d e s W i d e r s t r e b e n a u s z u r e d e n , die Begeisterung f ü r seine Version a b e r einzureden sucht; er n e n n t es „retablir les sentiments n a t u r e l s " (493). So geschieht d u r c h den Text selbst n o c h m a l s das, w a s die e m p f o h l e n e n Sozialisationspraktiken bew i r k e n sollen.
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S. Verf.: Gestehungskosten tugendempfindsamer Freundschaft: Probleme der weiblichen Rolle im Briefwechsel Wieland —Sophie La Roche bis zum Erscheinen der Sternheim (1750—1771). In: Frauenfreundschaft—Männerfreundschaft. Literarische Diskurse im 18. Jahrhundert. Hrsg. von Wolfram Mauser und Barbara Becker-Cantarino. Tübingen 1991, S. 75—135. Max Horkheimer: Autorität und Familie. In: Ders.: Traditionelle und kritische Theorie. Vier Aufsätze. Frankfurt a. M. 1970, S. 215.
Rousseaus Sophie und ihre deutschen Schwestern
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Double-bind-Strukturen: Wer bin ich? Wir haben gesehen, wie in Rousseaus Entwurf der Weiblichkeit wesentliche Erfahrungen, die zur Bildung eines authentischen Gefühls von ,Selbst' beitragen, dem Mädchen verwehrt sind, und wie dafür Strukturen fundamentaler Abhängigkeit gefördert werden; wie viele seiner elementaren Bedürfnisse und Gefühle konsequent unterdrückt, andere (Heiterkeit) dafür gefordert werden; welche Ideale von Aufopferung ihm nahegelegt sind. Das vorbildliche junge Mädchen, wie es als vor der Heirat stehend gezeichnet wird, voller „douceur" und „modestie", „aimable et sage, qui parle peu, qui ecoute, qui met de la decence (Sittsamkeit) dans son maintien et dans ses propos, qui interesse par sa timidite meme et s'attire le respect qu'elle porte ä tout le monde" (493), zeigt sich uns, wenn ich das summarisch so zusammenfassen darf, als Ergebnis einer vielfältigen Erziehung zu einem falschen Selbst'; das Ideal der selbstlosen' Gattin-Mutter, das Rousseau anvisiert, möchte man gern beim Wort nehmen. Kein Wunder, daß Julie nach ihrer Verheiratung, d. h. von dem Moment an, wo sie das geworden ist, was sie sein soll, nicht mehr von sich selbst spricht. Nun gibt es in diesem Erziehungsdispositiv noch einen weiteren Mechanismus, der zu einer besonderen Verunsicherung des Selbstgefühls beiträgt, der es in besonderer Weise schwierig macht zu wissen, ,wer ich bin': das sind die Anordnungen, denen durch die Widersprüchlichkeit der Erwartungen, Anforderungen, Zuschreibungen eine verborgene double-bind-Struktur zugrundeliegt. Die aufgezeigten diskursiven Undeutlichkeiten: Wie weit gilt das Menschliche auch für die Frau und wie weit nicht; wie weit gelten die Ratschläge für die Frühkindheit auch für das Mädchen und wo nicht mehr? zeigten schon diese Struktur. Die wichtigste Maßnahme hier ist die der „Mäßigung", der das M ä d chen immer unterworfen werden muß. (Den eigentlichen Grund werden wir im Abschnitt über Sexualität erkennen.) Empechez que les filles [...] ne se passionnent dans leur amusements [...]. Cet emportent [dans leur jeux] doit etre modere. [...] Ne leur ötez pas la gaiete, les ris, le bruit, les folätres jeux; mais [...] ne souffrez pas qu'un seul instant dans leur vie elles ne connaissent plus de frein. (462 f.)
Wir sehen das kleine Mädchen, das selbstvergessen etwas ausprobieren, das hingerissen seinem Spiel folgen möchte: Immer muß sein Impuls gebremst, immer muß es zurückgehalten, zur ,Zurückhaltung' angeleitet werden; immer ist die Mutter da, die ihm zu verstehen gibt: du darfst schon, aber nicht zu viel, nicht zu laut, nicht zu heftig; du darfst schon,
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Verena E h r i c h - H a e f e l i
aber nur ausnahmsweise. So ist das Mädchen dauernd konfrontiert mit zwei widersprüchlichen Botschaften; es wird bald selbst nicht mehr wissen: Will ich das eigentlich oder will ich es doch lieber nicht? — eine Verunsicherung im Innersten, die sie immer erneut an die Abhängigkeit vom fremden Blick, vom fremden Willen zurückbindet. Auch auf diese Weise wird es ihr zum Bedürfnis werden, ,disponibel' zu sein, von anderen zu etwas bestimmt zu werden. — Das Arrangement für Emile ist gerade entgegengesetzt: er soll seine Spiele und Unternehmungen frei verfolgen, bis er an die Grenze seiner Kräfte oder an den Widerstand der Objekte stößt: Erlaubnis, Befehl, Verbot, überhaupt ,Botschaften' sind für ihn strikt ausgeschaltet (71, 78 — 80) — die verborgene Überwachung durch den Erzieher (ein Problem für sich) merkt Emile nicht, er erfährt sich selber als frei. Er weiß, was er will, und tut es; für ihn gilt: „Pour etre quelque chose, pour etre soi-meme et toujours un [...] il faut etre toujours decide sur le parti [ä] prendre [...] et le suivre toujours." (10) (Daß die Mutter oder der Erzieher das Kind immer überwachen muß, gehört zu der neuen Konzeption von Kindheit; bei Emile ist es nötig, um die naturwidrigen' Einflüsse der verderbten Umwelt abzuhalten; das Ziel dieser Überwachung bei den Mädchen sehen wir hier bzw. im folgenden Abschnitt über Sexualität.) Der double-bind-Struktur des Prinzips weiblicher Mäßigung entsprechend zeigt sich eine fundamentale Widersprüchlichkeit in manchen von Rousseaus Bestimmungen der Weiblichkeit überhaupt. So ist die Frau dazu geschaffen, daß sie dem Mann gefallen will, das soll sie auch auf allen möglichen Gebieten lernen; aber ,falsches' Gefallenwollen ist natürlich zu vermeiden, etwa den Männern statt nur dem einen, oder mit zu viel Toilettenaufwand etc. Sie soll die „talents agreables" entfalten, aber ja nicht sie bis zur Kunstübung treiben. Reserviertheit, Schamhaftigkeit ist ihr oberstes Gebot; sie muß aber auch kokett sein und ihre weiblichen Künste spielen lassen, um den Mann an die Häuslichkeit zu fesseln. Daß sie auch indirekte Wege zu wählen weiß, um den zornigen Mann zu begütigen und die Kinder zur Eintracht zu überlisten, gehört zu ihren besonderen Vorzügen; die ,natürliche' weibliche Listigkeit darf aber nicht zur Unaufrichtigkeit ausarten — und so fort. Nicht nur wird die Frau als das ,Andere' schlechthin für den männlichen Blick zu etwas Fremdartigem, nicht nur wird sie zum „mystere" erklärt: in ihrer Abhängigkeit von einem männlichen Diskurs der Widersprüche, der doch ihr Wesen zu definieren beansprucht, als Projektionsfläche entgegengesetzter männlicher Wünsche und Ängste zugleich, wird es für Frauen erst recht schwierig, sich ihrer selbst zu vergewissern. Daß
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Rousseaus Sophie und ihre deutschen Schwestern
J u l i e s G e s i c h t zuletzt h i n t e r e i n e m (von St. P r e u x s c h o n v o r g e t r ä u m t e n ) S c h l e i e r u n s i c h t b a r w i r d , 7 0 e r s c h e i n t hier b e d e u t u n g s v o l l e r , als es R o u s seau w o h l b e a b s i c h t i g t e . „Wer bin i c h ? " , „ w a s will i c h , w a s ist m e i n P r o b l e m ? " 7 1 o d e r , als A n t w o r t a u f Freud: „Was will das W e i b in m i r ? " 7 2 — dergleichen im n e u e r e n S c h r e i b e n von F r a u e n i m m e r w i e d e r k e h r e n d e F r a g e n zeugen n o c h h e u t e v o n dieser f u n d a m e n t a l e n S c h w i e r i g k e i t .
Die Enteignung der weiblichen Sexualität W a s nun die w e i b l i c h e S e x u a l i t ä t b e t r i f f t , s o zeigt sich hier d a s vielleicht w i c h t i g s t e Beispiel der g e n a n n t e n w i d e r s p r ü c h l i c h e n
Zuschreibungen:
z w a r sieht R o u s s e a u die F r a u als in i h r e m g a n z e n D a s e i n u n d W e s e n v o n G e s c h l e c h t l i c h k e i t b e s t i m m t , ihr eigenes B e g e h r e n a b e r soll ihr m ö g l i c h s t v e r b o r g e n b l e i b e n . ( D a ß in d i e s e m B e r e i c h die W i d e r s p r ü c h e v i e l f ä l t i g e r sind als a n d e r s w o , ist n i c h t v e r w u n d e r l i c h ; ich m u ß m i c h hier a u f w e n i g e Hauptlinien beschränken.) N u n steht a b e r die s i t t s a m - z u r ü c k h a l t e n d e , s a n f t e F r a u , a u f die h i e r alles hinzielt, i m G e g e n s a t z zu den N a t u r a n l a g e n , die R o u s s e a u zu B e ginn von B u c h 5 n e n n t . D i e F r a u e n h a b e n n ä m l i c h — im G e g e n s a t z z u m M a n n , der hierin von der N a t u r e i n g e s c h r ä n k t ist ( R o u s s e a u m e i n t es g a n z k r u d , er , k a n n ' n i c h t i m m e r ) — „des desirs i l l i m i t e s " ( 4 4 8 ) ; in ihren N e i g u n g e n u n d L e i d e n s c h a f t e n w ä r e n sie „ t o u j o u r s e x t r e m e s en
tout
[ . . . ] , o u t r e e s " ( 4 6 2 , 4 7 3 ) , w e n n die N a t u r ihnen n i c h t m i t der S c h a m ( „ h o n t e " , „ p u d e u r " , „ r e s e r v e " , „ m o d e s t i e " etc.) einen Z ü g e l
angelegt
h ä t t e ( 4 4 7 f.). J a , R o u s s e a u e n t w i r f t die S c h r e c k e n s v i s i o n e i n e r G e s e l l s c h a f t , w o diese S c h a m f e h l e n , die F r a u e n in k u r z e r Z e i t die M ä n n e r zu T o d e b r a u c h e n und alle z u s a m m e n d u r c h das M i t t e l der F o r t p f l a n z u n g a u s s t e r b e n w ü r d e n ( 4 4 7 ) . W e i b l i c h k e i t als ü b e r m ä c h t i g ,
verschlingend:
b e m e r k e n s w e r t ist, d a ß a m A n f a n g der b ü r g e r l i c h e n O r d n u n g der G e schlechter, in der ja d a n n d a s w e i b l i c h e B e g e h r e n m e h r und m e h r uns i c h t b a r w i r d , die V o r s t e l l u n g der S c h r a n k e n l o s i g k e i t e b e n dieses B e g e h rens steht. U n d n i c h t n u r bei R o u s s e a u ; a u c h D i d e r o t e t w a , der ein viel
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Rousseau, La Nouvelle Helo'ise, s. Anm. 64, 5. Teil, Brief 9, und 6. Teil, Brief 11. So eine Art Refrain in Barbara Frischmuth: Amy oder Die Metamorphose. Salzburg und Wien 1978. Karola Brede (Hrsg.): Was will das Weib in mir? Freiburg 1989.
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e n t s p a n n t e r e s Verhältnis zur Sexualität u n d zur Frau h a t , ist b e e i n d r u c k t v o n der u n g e b ä n d i g t e n T r i e b h a f t i g k e i t u n d Leidenschaftlichkeit der F r a u e n . W e n n sie z w a r äußerlich zivilisierter als die M ä n n e r , aber w a h r e W i l d e im Inneren sind, ist das z u r ü c k z u f ü h r e n auf jene „bete f e r o c e " in ihnen, die d u r c h „des spasmes terribles" auch die sensationellen P h ä n o m e n e der H y s t e r i e b e w i r k t 7 3 — die auf die a u f g e k l ä r t e Vernunft eine ä h n l i c h e Faszination a u s ü b t e n wie die wirklichen Wilden der Südsee. 7 4 M i t der weiblichen S c h a m n u n verhält es sich ähnlich wie mit der „ d o u c e u r " ; z w a r ist sie der Frau v o n N a t u r gegeben (448), es wird d a n n a b e r d o c h gezeigt, wie E r z i e h u n g sie herzustellen h a t : Les filles doivent etre genees de bonne heure. Ce malheur, si c'en est un pour elles, est inseparable de leur sexe [...] Elles seront toutes leur vie asservies ä la gene la plus continuelle et la plus severe, qui est celle de la bienseance (461), [...] a l'attention la plus scrupuleuse sur leur conduite, sur leurs manieres, sur leur maintien [...]. (451) D e r Sinn dieser E i n r i c h t u n g w i r d erst später verständlich, w e n n auch nicht o f f e n ausgesprochen: da w o n u n Sophie diesem Z w a n g zur Schicklichkeit u n t e r w o r f e n wird: Sophie a naturellement de la gaiete, eile etait meme folätre dans son enfance; mais peu ä peu la mere a pris soin de reprimer ses airs evapores [!], de peur que bientöt un changement trop subit n'instruisit du moment qui l'avait rendu necessaire. Elle est done devenue modeste et reservee meme avant le temps de l'etre; et maintenant que ce temps est venu, il lui est plus aise de garder le ton qu'elle a pris, qu'il ne lui serait de le prendre sans indiquer la raison de ce changement. C'est une chose plaisante [!] de la voir se livrer quelquefois par un reste d'habitude ä des vivacites de l'enfance, puis tout d'un coup rentrer en elle-meme; baisser les yeux et rougir. (501, Herv. d. Verf.) D i e s p o n t a n e Lebhaftigkeit der Kindheit m u ß einem von a u ß e n auferlegten u n d allmählich verinnerlichten Z w a n g der Sittsamkeit weichen; das selbstverständliche Spüren u n d Ausagieren der eigenen körperlichen Lebendigkeit m u ß u n t e r b u n d e n w e r d e n d u r c h eine strikt auf , F ü h r u n g ' , , H a l t u n g ' b e d a c h t e Selbstbeherrschung. Eindrücklich w i r d eben diese V e r w a n d l u n g dargestellt im Grünen Heinrich, d a A n n a aus d e m I n t e r n a t z u r ü c k ist: 73 74
Diderot, Sur les femmes, s. Anm. 46, S. 32 f. Diderot schrieb Sur les femmes fast gleichzeitig mit Supplement au voyage de Bougainville (1772). Bougainvilles Voyage autour du monde erschien 1771, ein Hauptwerk der weiblichen Anthropologie, Pierre Roussels Systeme physique et moral de la femme, 1775. Vgl. auch Sigrid Weigel: Topographie der Geschlechter. Reinbek 1990, S. 118-142.
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An [...] der veränderten und doch gleich gebliebenen Stimme erkannte ich sogleich Anna. [...] Sie war eine ganz andere Gestalt geworden, [...] ihr Goldhaar lag schlicht und vornehm gebunden [...], während früher manche Löckchen sich auf eigne Hand gekräuselt und zwischen den Flechten hervorgeguckt hatten. Die Gesichtszüge waren in ihrer Eigentümlichkeit ganz gleich geblieben, nur hielten sie sich viel ruhiger, und die armen, schönen blauen Augen hatten ihre Freiheit verloren und lagen in den Banden bewußter Sitte. 7 5 W o z u a b e r dieser f r ü h z e i t i g e , ja v o r z e i t i g e ( „ a v a n t le t e m p s " ) Z w a n g der S i t t s a m k e i t ? R o u s s e a u s A n s p i e l u n g e n sind deutlich g e n u g : d a m i t d a n n a u c h die R e g u n g e n der P u b e r t ä t m ö g l i c h s t n i c h t m e r k b a r w ü r d e n , n i c h t ins B e w u ß t s e i n t r ä t e n ; u n d d a m i t es n i c h t n ö t i g w i r d , ü b e r die G r ü n d e dieser V e r ä n d e r u n g zu s p r e c h e n . A n dieser Stelle d r ä n g e n sich m e h r e r e B e m e r k u n g e n auf. 1. Z w a r soll a u c h E m i l e s e r w a c h e n d e S e x u a l i t ä t m i t e i n e r m a s s i v e n Abwehrstrategie
niedergehalten
werden,
das g e h ö r t
zum
Methoden-
w e c h s e l zu B e g i n n des 4 . B u c h s ( v o r g e s c h l a g e n w i r d der B e s u c h in e i n e m Spital mit s c h w e r k r a n k e n S y p h i l i t i k e r n ) ; diese A b s c h r e c k u n g g e s c h i e h t a b e r explizit, und b e t r i f f t s o nur die S e x u a l i t ä t , die d a b e i a u c h t h e m a t i siert und a n e r k a n n t w i r d ; die freie L e b e n d i g k e i t von E m i l e s K ö r p e r w i r d im übrigen n i c h t e i n g e s c h r ä n k t , und seine s p o n t a n e I m p u l s i v i t ä t b l e i b t ihm w e i t h i n e r h a l t e n ( 5 2 6 , 5 7 4 u. ö . ) . S o p h i e a b e r m u ß ihre g a n z e S p o n t a n e i t ä t a u f o p f e r n , und ein ihr u n d u r c h d r i n g l i c h e s T a b u e n t f r e m d e t ihr den eigenen K ö r p e r , d a m i t ihre S e x u a l i t ä t d a n n im V e r b o r g e n e n
ver-
w a h r t bleibe. D a f ü r a l s o , v o n früh a u f , j e n e r stete Z ü g e l ( „ f r e i n " ) , den die M ä d c h e n b r a u c h e n . 2 . Ihre S e x u a l i t ä t a l s o soll S o p h i e m ö g l i c h s t nicht ins B e w u ß t s e i n treten; d o r t ist stattdessen ein a n d e r e s eingesetzt w o r d e n : sie w e i ß sich „ c h a r g e e d ' u n d e p ö t difficile ä g a r d e r " ( 5 0 3 ) . S t a t t von i h r e m B e g e h r e n w e i ß sie von e i n e m „ P f a n d " in sich — in der I n t i m i t ä t ihres K ö r p e r s sitzt also ein f r e m d e s E t w a s , m i t A n g s t besetzt („difficile ä g a r d e r " ) , d a s sie als , L i e b e n d e ' zum b l o ß e n V o l l s t r e c k e r eines e x t e r n e n A u f t r a g s m a c h t ; das B e g e h r e n ist v e r t a u s c h t w o r d e n gegen die V i r g i n i t ä t , die sie d e m G a t t e n zu ü b e r l i e f e r n h a t . I h r e S e x u a l i t ä t w i r d ihr e n t w e n d e t als I n s t r u m e n t der f a m i l i a l e n L e g i t i m i t ä t , die — das s c h e i n t R o u s s e a u in d i e s e m Werk selbstverständlich
— w e s e n t l i c h m i t der V e r e r b u n g des Besitzes
zu tun hat ( 4 5 0 ) . H i e r e r s c h e i n t ein a n d e r e r A s p e k t der F a m i l i e — als p a t r i a r c h a l e O r g a n i s a t i o n der B e s i t z i n t e r e s s e n —, der s o n s t h i n t e r d e m
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Gottfried Kellers Werke. Zürcher Ausgabe. Hrsg. von Gustav Steiner. Bd. 1. Zürich 1978, S. 272 f.
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Bild der tugendhaften Häuslichkeit, des Horts der „plus doux sentiments de la nature" (452 f.) eher zurücktritt. Daß der Bestand der Familie wesentlich von der Frau abhängt, das verdankt sich nicht nur ihrer von Rousseau gepriesenen Beziehungsarbeit (450, 465), es verdankt sich auch der doppelten Moral; denn für sie ist das Treuegebot absolut, während Fremdgehen des Mannes zwar bedauerlich ist, aber die Legitimität der (eigenen) Familie ja nicht aufs Spiel setzt (450 f.). Ehe, als Bestimmung der Frau, hat also mit sinnlichem Liebesglück nichts zu tun. Zwar gönnt Rousseau schließlich Emile und Sophie das Glück, sich aus gegenseitiger Liebe zu verbinden — ein bißchen amour passion, feurig ausgemalt, darf hier stattfinden (es ist die einzige kurze Zeit im Leben der Frau, wo sie als „maltresse" (540) das wohlgeregelte Spiel von Versagung, Aufschub, Versprechen etc. in der Hand hat, dem der Liebhaber sich ,unterwirft'). Aber Rousseau ist überzeugt, daß mit dem Genuß die Leidenschaft sowieso rasch aufhört; Vertrauen, Achtung, Gewohnheit bilden das Fundament der Ehe (607, 613). Julie in der Nouvelle Heloise zeigt deutlich, wie es gemeint ist: Ihren Würdestand als Gattin und Mutter verdankt sie der Aufopferung ihres Begehrens, der sinnlichen Liebe zu St. Preux. Daß die häusliche Abgeschlossenheit der Frau dem Kloster verglichen wird (489), ist auch dafür bezeichnend. Mutterschaft, auf die allein es ankommt — „l'etat de la femme [est] d'etre mere" (451) — ist vom Begehren abgekoppelt: das Idealbild ist das der a-sexuellen Mutter. 3. Emile wird seine Sexualität beherrschen durch Vernunft, die in seinem Gewissen das Pflichtgesetz eingeschrieben hat; durch Vernunftentschluß auch Herr seiner (einzigen) Leidenschaft für Sophie zu werden, macht ihn erst ganz zur freien selbstbestimmten Person (567 f.). Da aber die Vernunft der Frau („esprit", nicht „raison") durchaus von Geschlechtlichkeit durchwirkt ist, da sie sich nicht zu Prinzipien und Gesetzen erheben kann, ihre Erkenntnisvermögen noch mit den Sinnen verbunden sind, so ist darauf kein Verlaß; Sophies Enthusiasmus für die Tugend hat andere, im Text etwas diffuse Grundlagen. Rousseau spricht von dem speziell den Frauen gegebenen inneren Gefühl („le sentiment interieur" 482 f.) und vom „Geschmack" an der Tugend (448, 470) — dahinter stehen englische moral-sense-Theorien, die nun hier zur Differenzierung der Geschlechter dienen. Wichtig ist auch die Angst vor dem Verdikt der Gesellschaft — Rousseau bejaht es emphatisch, daß die ,Ehre' der Frau diesem unterworfen sei, als ob die Aufsicht der Eltern, des Gatten nie genügen könnte (455, 530f.). Das wichtigste aber ist die Scham, die die ,Natur' ihr anstelle des Instinkts der Tiere eingepflanzt
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(447) oder, im anderen Register, die mütterliche Sozialisation in ihr verinnerlicht hat: jedenfalls wirkt die Scham als eine bewußtlose Hemmung, die der Frau widerfährt; es gibt für sie nicht die frei ein Gesetz anerkennende Selbstbestimmung, durch die sie zur moralischen Person würde. 7 6 Die Vorstellung von moralischer Unmündigkeit bleibt ein wichtiger Bestandteil des hier sich konstituierenden Diskurses über die Frau 7 7 — Freuds Vorstellungen von dem mangelhaften Über-Ich der Frau wird von langer Hand vorgearbeitet. 4. Dieser Punkt scheint mir von besonderer Tragweite. Sophies Pubertät soll überstanden werden, so hieß es, „sans indiquer les raisons de cechangement", ohne daß irgend etwas „n'instruisit du moment qui [...]". Wenn dem Mädchen der eigene Körper entfremdet werden muß durch die undurchdringliche Konditionierung der „gene", wenn der Umgang der Frau mit Sexualität geregelt werden soll nicht durch Entscheidungen, sondern durch die blind automatisierte Abwehr der Scham, so hängt das zusammen mit einem besonderen Sprechverbot, das in Rousseaus Text erkennbar wird. Was möglichst wenig erfahrbar werden soll, soll möglichst nicht ins Bewußtsein treten: es muß also aus der Sprache der Frau verbannt werden. Die Mutter spricht von Pflichten, Lastern, Tugenden der Frau (503), aber nicht von möglicher Lust; die „questions indiscretes" sind in einer Weise verboten (472), daß Sophie sicher keine stellt. Das weibliche Begehren (jene „desirs illimites" ...) untersteht hier einem Sprechverbot, das von der Mutter auf die Tochter übergeht; Sophie „wäre lieber tot" als einzugestehen, daß sie vielleicht heiraten möchte (510); eine unüberwindliche Schamschwelle liegt hier nicht etwa vor einer ersten Annäherung oder Berührung, sondern schon vor jedem Wort, das der Mutter verraten würde, daß ,dies' überhaupt in ihren Gedanken ist. „La honte l'empechait de parier, et la modestie ne trouvait point de langage [...]" (511). Daß die Frau ihr Begehren nicht verbalisieren darf, 76
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Ulrike Prokop: Der Mythos des Weiblichen und die Idee der Gleichheit in literarischen Entwürfen des frühen Bürgertums. In: Feministische Literaturwissenschaft. Hrsg. von Inge Stephan und Sigrid Weigel. Berlin 1984, S. 15 — 21, hier S. 21. Vgl. Kants Ausführungen über die „schöne Tugend" der Frauen gegenüber der „edlen Tugend des Mannes" in Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen. S. Immanuel Kant: Werke. Akademie-Textausgabe. Bd. 2. Berlin 1968, S. 231 f. Vgl. auch Schiller im Zusammenhang der „schönen Seele" in Über Anmut und Würde, s. Schiller, Sämtliche Werke, s. Anm. 51, Bd. 3, S. 469 f. S. auch Jean Paul, Levana, s. Anm. 38, S. 693 und S. 698, etc.
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davon spricht Rousseau mehrmals als von einem Gesetz des weiblichen Geschlechts (486f., 610f., 447). Er kennt nur eine Ausnahme, Ninon de l'Enclos, die zwar für ihre Freimütigkeit berühmt, dafür aber zur Schreckfigur eines Mannweibs wurde (488). Daß dieses Sprechverbot, wie es in Rousseaus Text begegnet — ein neuer Aspekt der hier programmierten ,Entmündigung' der Frau — in der Folgezeit schwerwiegende "Wirkungen hervorgebracht hat, liegt auf der Hand; erst die moderne Frauenbewegung setzt auch damit sich gründlich auseinander. Norbert Elias hat das Vorschreiten von Schambarrieren im Prozeß der Zivilisation anschaulich gemacht; 78 die Frage stellt sich, ob mit einem solchen Sprechverbot für die Frauen generell in jener Zeit gleichsam eine neue Schamschwelle, ein neuer Standard der weiblichen Selbstkontrolle und Selbstentfremdung aufgerichtet wurde? Auf der Insel Felsenburg jedenfalls ist dieses Verbot noch nicht eingeführt, hier darf auch auf dieser Ebene die Frau fast wie der Mann Subjekt sein. Als die beiden allein auf der Insel übrigbleiben und in Albertus eine heftige Liebe zu Concordia erwacht, da versichert er sich, daß seine „sehnliche Liebe nicht in geiler Brunst, sondern in Gottes heiliger Ordnung" ihren Grund habe; 7 9 ein Schwur von früher aber steht seiner Werbung entgegen. Glücklicherweise merkt Concordia, wie es um ihn steht, und trägt sich ihm brieflich selber an, um mit der Beiwohnung „uns beyde zu vergnügen"; indem auch sie das, was „ihr Herz gereitzet" hat, unterscheidet von „Geilheit" und „Brunst", bezeugt sie wie er ihr Verlangen. 8 0 In Bachs Kaffeekantate (Text von Picander, 1732) vermag weder Drohung noch Versprechen das junge Lieschen von ihrem Kaffetrinken abzubringen, bis der Vater ihr in Aussicht stellt, einen Mann zu kriegen: Nun, Kaffee, bleib nur immer liegen [...] Heute noch, heute noch, lieber Vater, tut es doch! Ach, ein Mann, ach, ach, ein M a n n , Wahrlich, dieses steht mir a n ! 8 1
— wo Sophie lieber tot wäre als ein Wort über ihre Lippen zu bringen. In Gellerts Roman versichert die Gräfin: „Man denke ja nicht, [...] daß wir an uns nur unsere Seelen geliebt hätten," und betont das Dazugehö78
79 80 81
Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Frankfurt a . M . 6 1 9 7 8 . Schnabel, Insel Felsenburg, s. Anm. 14, S. 143. Ebd., S. 145 f. J o h a n n Sebastian Bach: Neue Ausgabe sämtlicher Werke. Serie I, Bd. 40. Kassel 1 9 6 9 , S. 195.
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ren der „sinnlichen Liebe" des Körpers. 8 2 Besonders aufschlußreich ist die nette Episode in der Komödie Die Betschwester (1745), in der die ältere Freundin besorgt und eindringlich das noch gar kindliche Christianchen befragt, ob es denn auch gar kein „Verlangen" verspüre nach dem Mann, der sein Bräutigam werden soll? „Aber bey diesem Kusse werden Sie desto mehr gefühlt haben, weil es der erste gewesen ist?" Christianchen sagt, sie schämte sich nur; die Freundin insistiert: beim Schämen könne wohl noch anderes mit sich regen. 8 3 Diese jungen Frauen sprechen über weibliches Begehren. Bei Lessing, wenig Jahre später, ist es damit vorbei. Wenn in Miss Sara Sampson (1756) die M a r w o o d ihren Geliebten zurückgewinnen will, indem sie ihn an den gemeinsamen Liebesgenuß erinnert, 8 4 tut sie das mit einer Deutlichkeit, die m. W. im deutschsprachigen Raum einzig ist; gerade das aber gehört zu den M o menten, die sie entschieden als Lasterhafte charakterisieren. Sara, die „die fesselnden Künste einer Buhlerin so wenig versteht," wie ihr Vater sagt, 8 5 verfügt nur über die Wörter „Zärtlichkeit" und „lieben". Und Emilia erschrickt buchstäblich ,zu Tode', wenn das verdrängte Begehren — anläßlich der Begegnung mit dem Prinzen — an die Pforte des Bewußtseins klopft; daß es dafür bei ihr keine Sprache gibt, scheint jenes wiederholte „es" in ihrem Bericht anzudeuten. 8 6 Bei Recha ist es dann der Vater, Nathan, der in seiner Rolle als ,Inhaber des Diskurses' dem weiblichen Begehren anscheinend eine Stelle einräumt; aber wie er das tut, bekräftigt vielmehr die Exkommunikation; wie tief beunruhigt mag eine einsame Tochter über solchen Andeutungen brüten: Was auch in dienern Innern vorgeht, ist Natur und Unschuld. Laß es keine Sorge Dir machen. Mir, mir macht es keine. [...] Nichts mehr hiervon! Das ein für allemal Ist abgetan. 8 7
Goethe läßt im Urfaust, in der Sturm-und-Drang-Zeit der größten Körpernähe, Gretchen sagen: „Mein Schoß, Gott! drängt sich nach ihm hin" — dieser Text wurde aber nicht gedruckt, im veröffentlichten Fragment
82 83
84 85 86 87
Geliert, Leben der schwedischen Gräfin, s. Anm. 16, S. 38 f. Christian Fürchtegott Geliert: Die Betschwester. Hrsg. von Wolfgang Martens. Berlin 1962, S. 32. Lessing, Werke, s. Anm. 2 2 , Bd. 2, S. 33. Ebd., S. 4 5 . Ebd., S. 150 f. Ebd., S. 2 4 8 f.
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von 1790 heißt es dann: „Mein Busen drängt sich nach ihm h i n , " 8 8 und bei diesem pauschalen ,Busen' ist es danach weithin geblieben. Jean Paul spricht d a n n von einer den „verletzbaren Seelen" der Frauen „angeborenen [...] Sprech- und Hör-Scheu", nur die „weißeste" Farbe stehe ihnen a n 8 9 — die der reinen Ahnungslosigkeit in sexuellen Dingen. Von dem zu wissen, was doch Teil meiner Lebendigkeit wäre, wird jetzt schon Schuld. Wieweit zu der neuen O r d n u n g der Geschlechter, die Rousseaus Text instaurieren hilft, tatsächlich ein Verstummen der Frau in bezug auf ihre Sexualität gehört, das zu prüfen w ä r e Gegenstand einer neuen Arbeit. Was aber ein solches Verstummen nun für die Frau bedeutet, wird schon in Rousseaus Text klar. In dem M a ß , wie sie von ihrem eigenen Wunsch nichts wissen und nicht sprechen darf (auch nicht, gerade nicht, unter Frauen, auch von Mutter zu Tochter nicht), ist ihr auch auf diesem Gebiet das Subjekt-Sein verwehrt — ihr M a n n allein soll es in der H a n d haben, wieviel von weiblicher Sexualität sie erfahren, wieviel von ihrem eigenen Begehren sie entdecken wird. (Die von Freud in Das Tabu der Virginität e r w ä h n t e Vorstellung, d a ß die Frau ihrem ersten M a n n sexuell hörig zu bleiben genötigt sei, gehört in diese Linie. 9 0 ) So geht das weibliche Begehren ganz in männliche Regie über. 9 1 Rousseau spricht freimütig von der narzißtischen Befriedigung („amour-propre"), die diese Ano r d n u n g dem männlichen G e n u ß hinzufüge, wenn der M a n n gleichsam über ihre Person hinweg das aus dem Körper der Frau herauslockt, was sie nicht (be)kennen darf. Wenn dagegen eine u m w o r b e n e Frau ihren a n t w o r t e n d e n Wunsch zeigte und ausspräche, w ü r d e sie sogleich alle Anziehungskraft verlieren (446 f., 486 f.). Im Klartext: Wenn nicht ein bißchen Vergewaltigung dabei ist, so finde der M a n n seinen Spaß nicht. D a ß mit solchem Verstummen der Frau über ihr Begehren dieses schließlich ein Stück weit aus dem gesellschaftlichen Bewußtsein überh a u p t verschwinden mag, auch d a f ü r gibt es Anzeichen. Für Rousseau ist es klar, d a ß die Frau in sich verborgen sexuelle Wünsche hat, „les memes besoins que P h o m m e " (486); im Ehekapitel von Fichtes Natur88
89 90
91
J o h a n n Wolfgang Goethe: Poetische Werke. Vollständige Ausgabe, Bd. 5. Stuttgart o. J., S. 56 und S. 139. Jean Paul, Levana, s. Anm. 38, S. 698 f. Sigmund Freud: Das Tabu der Virginität. In: Ders.: Sexualleben. Studienausgabe Bd. V. F r a n k f u r t a . M . 1972, S. 213. Es ist die Zeit, in der auch bei der Geburtshilfe die Arzte die H e b a m m e n abzulösen beginnen. Vgl. Steinbrügge, Die Aufteilung des Menschen, s. A n m . 26, S. 60.
Rousseaus Sophie und ihre deutschen Schwestern recht
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(1796), das sich, was Herrschaft und Unterordnung betrifft, sehr
eng an Rousseau anschließt, sind diese verschwunden: Im unverdorbenen Weibe äußert sich kein Geschlechtstrieb, und wohnt kein Geschlechtstrieb, sondern nur Liebe; und diese Liebe ist der Naturtrieb des Weibes, einen Mann zu befriedigen. [...] für das Weib ist es nur Befriedigung des Herzens. Ihr Bedürfnis ist nur das, zu lieben und geliebt zu seyn. [...] Liebe aber ist es, wenn man um des Andern willen [...] zufolge eines Naturtriebs sich aufopfert. 92 Als „Naturtrieb" bleibt der Frau nur die Aufopferung. Hier ist in der T a t die weibliche Sexualität schon zum dunklen Kontinent geworden. Interessant in diesem Z u s a m m e n h a n g ist der Titel eines der Frauenbücher, das vor 2 0 J a h r e n in Frankreich Aufsehen machte, der autobiographische Bericht von M a r i e Cardinal Les mots pour le dire
— Worte
endlich, um es zu sagen.
Mutter und Tochter Rousseaus T e x t zeigt einen grundsätzlichen Sachverhalt, insbesondere durch die tiefe Abhängigkeitsliebe, die hier die T o c h t e r an die M u t t e r bindet und wohl auch umgekehrt: die neuartige Unterdrückung durch die patriarchale Ordnung, die Beeinträchtigung von Entfaltung,
von
Selbstwerdung, die Enteigung der Sexualität etc. erfährt das M ä d c h e n nicht durch einen M a n n , es erfährt sie zuerst und wesentlich durch die Mutter. Eindrucksvoll
ist folgendes Beispiel:
In seinem
Liebesüber-
schwang möchte Emile Sophie möglichst viel mitteilen von dem, was er gelernt hat; sie aber läßt stillschweigend an sich vorbeigehen, was für eine Frau sich nicht schickt — die Sozialisation durch die M u t t e r reicht tiefer als das, was ihr von ihrem M a n n danach begegnet. Was das für Folgen mit sich bringen wird für das Verhältnis Tochter-Mutter und für das Verhältnis von Frauen untereinander, auch damit hat die Auseinandersetzung ja erst vor kurzem b e g o n n e n . 9 3
92
93
Johann Gottlieb Fichte: Sämmtliche Werke. Hrsg. von J . H. Fichte. Zweite Abteilung, Bd. 1. Berlin 1845, S. 310 f. Ein früher Beitrag dazu ist der Aufsatz von Marina Moeller-Gambaroff: Emanzipation macht Angst. In: Kursbuch 47, 1977, S. 1—26.
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Die Frau und das goldene Zeitalter: Mütterlichkeit — für den M a n n B o v e n s c h e n w i r f t R o u s s e a u u. a. vor, d a ß er der F r a u keinen O r t angewiesen h a b e in s e i n e m g e s c h i c h t s p h i l o s o p h i s c h e n E n t w u r f . 9 4 D i e s e r l ä ß t sich e t w a so z u s a m m e n f a s s e n : D e m N a t u r z u s t a n d , w o der M e n s c h allein u n d frei im W a l d e streift, folgt „ l ' e p o q u e la plus h e u r e u s e et la plus d u r a b l e " der M e n s c h h e i t s g e s c h i c h t e , 9 5 die Z e i t der ersten Vergesellschaft u n g , w o k l e i n e G r u p p e n von F a m i l i e n n o c h o h n e P r i v a t b e s i t z z u s a m m e n l e b e n ; von da weg b r i n g t d a s F o r t s c h r e i t e n z i v i l i s a t o r i s c h e r E r r u n g e n s c h a f t e n m i t der E n t f a l t u n g der Individuen zugleich eine p r o g r e s s i v e V e r g e s e l l s c h a f t u n g , p r o g r e s s i v e U n f r e i h e i t , p r o g r e s s i v e m o r a l i s c h e Verd e r b n i s h e r v o r . E m i l e stellt d a s Ideal der h ö h e r e n N a t ü r l i c h k e i t d a r ; er l e b t als F r e i g e b l i e b e n e r im f o r t g e s c h r i t t e n e n g e s e l l s c h a f t l i c h e n
Zustand
— w o z u es e b e n einer n e u a r t i g e n E r z i e h u n g b e d a r f . — In diesem E n t w u r f , s o B o v e n s c h e n , weise R o u s s e a u der F r a u w e d e r eine Stelle n o c h eine E n t w i c k l u n g zu, da sie n u r definiert w e r d e als S u p p l e m e n t zu den B e d ü r f n i s s e n des M a n n e s . S t e i n b r ü g g e d a g e g e n m a c h t die M o m e n t e des T e x t e s n a m h a f t , die zeigen, d a ß R o u s s e a u die F r a u g l e i c h s a m a u f den Z u s t a n d des g o l d e n e n Z e i t a l t e r s , z u r ü c k s t u f t ' . 9 6
Dahin gehört
— im
K o n t e x t der A u f k l ä r u n g s d i s k u s s i o n ü b e r die G r a d a t i o n e n des m e n s c h l i chen Erkennens
—, d a ß ihre E r k e n n t n i s v e r m ö g e n
sinnliche
geblieben
sind und sich n i c h t bis zur A b s t r a k t i o n e n t w i c k e l t h a b e n ; so ist der G e s c h m a c k ihr b e s o n d e r s eigen, m o r a l i s c h e s E m p f i n d e n statt G e w i s s e n s a u t o n o m i e , E i n f ü h l u n g , die k e i n W i s s e n b e n ö t i g t , etc. D a z u w ü r d e a u c h d a s g e h ö r e n , w a s o b e n unter d e m B e g r i f f M ä ß i g u n g diskutiert w u r d e ; d a s G l ü c k j e n e r M e n s c h h e i t s f r ü h e b e r u h t e ja a u f der n a t u r h a f t e n E i n f a c h h e i t und B e s c h r ä n k t h e i t der B e d ü r f n i s s e , der B e z i e h u n g e n , des W i s -
94 95
96
Bovenschen, Die imaginierte Weiblichkeit, s. Anm. 3, S. 175 — 177. Jean Jacques Rousseau: Discours sur l'origine de l'inegalite parmi les hommes. In: Du contrat social ou Principes du droit politique. Paris 1962. S. 72. — Rousseau vermeidet hier zwar die Bezeichnung „äge d'or", weil er schon in der allerersten Vergesellschaftung die Wurzeln der folgenden Depravation findet; danach aber vollzieht sich bei ihm eine progressive Aufwertung des goldenen Zeitalters. Vgl. Christie Mc Donald-Vance: The Extravagant Shepherd. Α study of pastoral vision in Rousseau's Nouvelle Helotse. Banbury 1973. (The Voltaire Foundation). Lieselotte Steinbrügge. Das moralische Geschlecht. Theorien und literarische Entwürfe über die Natur der Frau in der französischen Aufklärung. Weinheim und Basel 1987, S. 6 7 - 9 6 .
Rousseaus Sophie und ihre deutschen Schwestern
153
sens, der Wünsche. Die Frau soll gleichsam die Menschheitsentwicklung über das goldene Zeitalter hinaus nicht mitmachen; die Entfaltung ihrer Fähigkeiten und ihrer Persönlichkeit zu beschränken, habe den Sinn, sie auf jener Stufe des höchsten Menschenglücks festzuhalten. So kann Emiles Weg von Paris zurück in ländliche Abgeschiedenheit, um dort Sophie zu finden, gelesen werden auch als historisches Zurück. Mir scheint, daß beide Deutungen von Rousseaus impliziter Intention ein Stück weit zutreffen (bezeichnend, daß er hier vage bleibt, seine Intentionen Emile betreffend werden dagegen oft genug formuliert), nämlich daß er im Verlauf des 5. Buchs sich immer mehr und mit zunehmender Begeisterung in die Version ,goldenes Zeitalter' hineinschreibt. „L'äge d'or [...] semble renaitre autour de l'habitation de Sophie", heißt es gegen Ende (606), man glaubt sich zu Gast bei Alkinous (534); von seinem Schreiben am 5. Buch berichtet er: „C'est dans cette profonde et delicieuse solitude qu'au milieu des bois et des eaux, aux concerts des oiseaux de toute espece [...] je composai le cinquieme livre de 1 'Emile dans une continuelle extase." 9 7 Wie kaum ein anderer seiner Zeit scheint Rousseau mit seiner extremen Sensibilität am Krieg aller gegen alle im gesellschaftlichen Konkurrenzkampf gelitten zu haben, gleichsam im Verhalten der ,guten Gesellschaft' vorausahnend, was sich vom Ökonomischen her dann erst recht verallgemeinern sollte. Der Glanz von goldenem Zeitalter, der über dem letzten Teil von Buch 5 liegt wie auch über der Idylle von Ciarens, läßt uns ermessen, wie tief und schmerzhaft seine Sehnsucht gewesen sein muß nach einem Refugium, wo das Herz sich vertrauensvoll den einfachen süßen Gefühlen der Natur überlassen könnte und wo ihm nichts ,entgegenstünde' ... Nur daher versteht sich die blinde Gewaltsamkeit, mit der Sophie in einer Spätzeit zur Garantin und Hüterin solchen Glücks der Menschheitsfrühe zurechtgemodelt wird — damit dann der Mann, „sortant de son cabinet la tete epuisee", in liebevoller Häuslichkeit seine „recreation" finde (469). Rousseaus Ausdrucksweise überrascht hier durch ihre Modernität; sie mahnt uns, nicht außer acht zu lassen, daß in dieser Zeit auch im männlichen Lebenszusammenhang und Arbeitsverhalten schwerwiegende Veränderungen sich anbahnen, die den Mann in neuer Weise fordern, auch überfordern müssen. (Stichworte: Lessings Teilheim will, mit Minna zusammen, „einzig und allein
y7
Jean Jacques Rousseau: Les confessions. Texte etabli et annote par Louis Martin-Chauffier. Paris 1 9 4 7 , S. 5 1 3 .
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ein ruhiger und zufriedener Mensch [...] sein"; 9 8 dagegen Herder an Caroline: „Wenn Sie wüssten, wie viel es sey, was ich aus mir noch zu machen h a b e ! " 9 9 Dazu — in der Arbeitswelt — neue Produktionsweisen und neue Methoden der Verwaltung, die neuartige und erhöhte Anforderungen an Rationalität und Disziplin stellten. 1 0 0 ) Im Refugium der Familie erträgt dieser Mann offenbar kein Gegenüber mehr, nur noch ein Wesen, das sich ihm bedingungslos anschmiegt und ihn mit sanftem Entgegenkommen rundum einhüllt. „Homme, aime ta compagne: Dieu te la donne pour te consoler dans tes peines, pour te soulager dans tes maux: voilä la femme." (564) Lindern und trösten — niemand kann das so gut wie Sophie, an der all das entwickelt wurde, was zu einfühlend-fürsorglicher Zuwendung geschickt macht. Was bald nachher als ,Mütterlichkeit' ins Bild gesetzt und auf den Begriff gebracht wird — etwa an Werthers Lotte, die gerade nicht Mutter ist —, das wird hier zuerst entworfen als Wunschbild, das für den Mann im Binnenraum der Häuslichkeit das sanfte Glück des goldenen Zeitalters wiederbringen soll. Interessanterweise betrachtet Rousseau die Frau im ganzen Text nicht von den Bedürfnissen der Kinder her; liebevolle Sorge für diese wird natürlich unter ihren Pflichten genannt, die verschiedenen Aspekte ihres Wesens aber werden entworfen vom männlichen Gegenüber, von seinen Bedürfnissen und Sehnsüchten her. (Die Metapher von Eiche und Efeu ist hierin präzis.) Das Wort,Mütterlichkeit' — das im Französischen fehlt — verzeichnet Grimm erstmals 1807, in einem Satz aus Jean Pauls Levana, der nun keinen Kommentar mehr braucht: „Wenn nun die Natur die Weiblichkeit zur Mütterlichkeit bestimmt, so ordnet sie schon von selber die Entwicklungen dazu a n . " 1 0 1 Die geschichtsphilosophische Zuordnung der Frau zum goldenen Zeitalter wird dann explizit und bedeutungsvoll in der Geschlechteranthropologie der Klassik, besonders prägnant formuliert etwa in Schillers Gedicht Würde der Frauen. Den Mann, der hinaus muß „ins feindliche L e b e n " 1 0 2 und „gierig" dabei „in die Ferne greift", den „winken" die Frauen „zurück": „In der Mutter bescheidener Hütte / Sind sie geblieben mit schamhafter Sitte, / Treue Töchter der frommen Natur." 1 0 3 Da die in den Frauen wohnende harmonische Ganzheit des Ursprungs zugleich 98 99 100 101 102 103
Lessing, Werke, s. Anm. 2 2 , Bd. 1, S. 694. Herders Briefwechsel mit Caroline Flachsland, s. Anm. 32, S. 51. Hausen, Die Polarisierung der ,Geschlechtscharaktere', s. Anm. 2 8 , S. 3 8 6 f. Jean Paul, Levana, s. Anm. 38, S. 6 9 4 . Schiller, Werke, s. Anm. 5 1 , Bd. 1, S. 4 3 2 . Ebd., S. 2 1 9 .
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einen Vorschein des Ziels der Geschichte darstellt, so brauchen sie den konfliktreichen Weg durch die Geschichte gar nicht mitzumachen. Im konkreten Einzelfall aber bedeutet das um 1800: Jene neue Konzeption des Suchens und Werdens, des Entwicklungswegs, durch welchen Individualität sich allererst entfaltet, soll für Frauen nicht gelten; ihre Aufgabe wird sein, wir wissen es, den Werdegang ihres Mannes ,mütterlich' zu unterstützen. (Von schöner Deutlichkeit in dieser Hinsicht sind ζ. B. Herders Briefe an Caroline.) Dabei ist in Schillers Texten (fast) nur noch das Verklärungsregister zu hören, von den repressiven Veranstaltungen, welche das „Zurückbleiben" der Frauen im goldenen Zeitalter garantieren, verlautet hier nichts mehr — weil sie als selbstverständliche sich dem Bewußtsein jetzt entziehen? Solchem Glanz idealisierender Verklärung mag es schließlich zuzuschreiben sein, daß auch Frauen willig zustimmten, ja sich begeisterten für das Bild, das hier für sie entworfen wurde. (Caroline Flachsland und Luise von Stolberg wurden schon genannt; auch Sophie La R o c h e scheint ihr Selbstverständnis zu ändern und beginnt, sich in empfindsamen Familienvignetten als Mutter darzustellen. 1 0 4 ) Allerdings ist dabei die massive Gewalt des geschlechteranthropologischen Arguments auch zu bedenken: die Frau, die über die Schranken dieses Entwurfs hinauszutreten versucht, vor allem die schöngeistig-intellektuelle Frau, „la fille savante et bei esprit" (518), hört schlechterdings auf, Frau zu sein — als was soll sie sich selber dann verstehen und fühlen? Bei der rhetorischen Verteufelung der Gegenbilder ist Rousseau maßlos, und nicht nur er; bedenkenswert, wie bald der Begriff ,Natur', der ,willkürlich gewordenen' Normen und Machtverhältnissen entgegengesetzt wurde, seinerseits normativ und repressiv verwendet werden kann.
Nochmals: Polarisierung der Geschlechter Zum Abschluß scheint es mir unerläßlich, eine Erweiterung der Perspektive anzudeuten. Wir haben gesehen, in welchen Weisen Rousseaus Entwurf, der als Sprachrohr mächtiger geschichtlicher Tendenzen sich erwies, die Frau in ihren menschlichen Möglichkeiten verkürzt. Da nun das Verhältnis der Geschlechter, abgesehen von der Dimension Herr104 Verf.: Gestehungskosten S. 120 f.
tugendempfindsamer
Freundschaft,
s. Anm. 6 8 ,
156
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schaft —Unterordnung, auch als komplementäres gedacht wird: muß nicht auch der Mann bei dieser Aufteilung von Fähigkeiten und Eigenschaften Wesentliches einbüßen? Bei Rousseau allerdings wird das der Frau Zugeteilte noch nirgends als Verlust des Mannes vermerkt, die ,Aufteilung' erscheint hier eher als Stehenbleiben der Frau bei den niedrigeren Vermögen, zu denen hinzu der Mann die höheren noch erwirbt (245). Die Seiten im 5. Buch, die zeigen sollen, daß im Hinblick auf gegenseitige Ergänzung „la relation sociale des sexes est admirable" (472), antizipieren gleichsam die Darstellung eines idealen Zusammenwirkens von Chef und Sekretärin, deren praktische und menschliche Detailkompetenz der Vorgesetzte bei sich ja nicht vermißt. Und in Emiles Erziehungsdispositiv zielen alle Maßnahmen — und Enthaltungen — nur darauf, die Entfaltung aller Kräfte und Fähigkeiten zu garantieren, über die er schließlich, dank erreichter Vernunftautonomie, frei verfügt; er ist konzipiert als das Ideal eines vollständigen Menschen. Bei Schiller indes weist ein Ton nostalgischer Klage an manchen Stellen (nicht nur in Würde der Frauen, wo er auch zur Strategie gehört) auf das Problematische solcher Aufteilung hin. So ist es zwar erhaben, aber auch schmerzlich für den Mann, daß Wärme, „sanftes" oder „schönes" Fühlen, ja selbst Liebe nun ganz ins Ressort der Frauen gehören, während Männer im Kampf jeder Art für den Kampf sich zu „stählen" haben — nach Grimm erscheint bei Schiller erstmals dieses Verb, dem eine große Zukunft bevorsteht, in seinen metaphorischen Bedeutungen ,sich psychisch und physisch hart machen'. (Wie hätte Nathan noch sich gegen eine solche Zumutung verwahrt.) Wenn wir von hier aus einen zweiten Blick auf Rousseaus Text zurückwerfen, zeigt sich, daß indes schon Emile in dieser Richtung angelegt ist: Selbstgenügsamkeit ist das Prinzip seines Heranwachsens. Er hat keine Familie, er hat auch nie einen Freund; und es ist gut, daß ihm noch mit 15 Jahren eine Schwester soviel gälte wie seine Uhr, ein Freund soviel wie sein Hund (256), denn allein unter den Menschen und nur auf sich selber zählend, war er frei und glücklich bis dahin (244). Emile soll ohne menschliche Bindungen sein (abgesehen von der Omnipräsenz des Gouverneurs), bis er schließlich Sophie trifft. Hier wird in der Tat ein Mangel programmiert; Emile wird sorgfältig erzogen zu einer zukünftigen ,männlichen Inkompetenz in Beziehungsdingen'. Daß er angesichts seines eigenen neugeborenen Kindes sogleich den Gouverneur um Rat und Hilfe angeht, er, der doch lernen durfte, überall selber zu probieren und zu finden, ist bezeichnend. Dazu die Ausrichtung seiner kindlichen
Rousseaus Sophie und ihre deutschen Schwestern
157
A u f m e r k s a m k e i t (ebenfalls bis zu 15 J a h r e n ) a u s s c h l i e ß l i c h a u f die k o n k r e t e n G e g e b e n h e i t e n der U m w e l t , so d a ß seine u n g e h e m m t e K r e a t i v i t ä t eine rein t e c h n i s c h e w i r d , die für alle p r a k t i s c h e n P r o b l e m e
Lösungen
findet — in der F l u c h t l i n i e s c h e i n t sich, u n t e r a n d e r e m , s c h o n der e r f i n d e r i s c h e I n g e n i e u r - f r o n t i e r s m a n a n z u d e u t e n , der, u n b e h i n d e r t v o n B e z i e h u n g s r ü c k s i c h t e n , d e m n ä c h s t die t e c h n i s c h e , E r s c h l i e ß u n g ' der W e l t in die H a n d n e h m e n w i r d . S i c h s t ä h l e n , B i n d u n g e n negieren etc. — n i c h t erst in u n s e r e r Z e i t w i r d e r s i c h t l i c h , d a ß m i t der b ü r g e r l i c h e n P o l a r i s i e r u n g der G e s c h l e c h t e r a u c h an M ä n n e r n
Lebendiges unterdrückt und abgetötet,
Entfaltung
m e n s c h l i c h e r M ö g l i c h k e i t e n b l o c k i e r t wird. D i e m ü h s a m e A r b e i t , v o n diesen I d e o l o g e m e n m ä n n l i c h e r und w e i b l i c h e r , N a t u r ' sich f r e i z u m a c h e n , liegt im I n t e r e s s e v o n F r a u e n und M ä n n e r n zugleich.
A n h a n g : C a m p e s Väterlicher
Rath
für meine
Tochter
(1789)
Im Voranstehenden wurde das Weiterwirken von Rousseaus historisch so e r f o l g r e i c h e m W e i b l i c h k e i t s e n t w u r f in e i n e m l o c k e r e n M o s a i k
von
Einzelstellen a u f g e z e i g t , die j e w e i l s nur den g e r a d e zur D i s k u s s i o n steh e n d e n A s p e k t b e t r a f e n . Ü b r i g b l e i b t , a u f ein B u c h h i n z u w e i s e n , das als eine direkte u n d s y s t e m a t i s c h e N e u b e a r b e i t u n g v o n Sophie
ou la
femme
zu diesem E r f o l g in D e u t s c h l a n d w o h l w e s e n t l i c h b e i g e t r a g e n h a t : den Väterlichen
Rath
für meine
Tochter
von C a m p e ,
1789.105
D e r Status von U n t e r w o r f e n h e i t und A b h ä n g i g k e i t und die allseitige E i n s c h r ä n k u n g der w e i b l i c h e n S p h ä r e s c h e i n t h i e r n o c h h ä r t e r , n o c h rig o r o s e r d u r c h g e f ü h r t , i n s o f e r n als anstelle v o n R o u s s e a u s o f t a b s t r a k t e m P a t h o s und p o e t i s c h e m A l F r e s c o hier ein sehr n ü c h t e r n e r B l i c k die D e t a i l r e a l i t ä t des b ü r g e r l i c h e n A l l t a g s b e r ü c k s i c h t i g t . In d i e s e m
Medium
w i r k t die g ä n z l i c h e E i n s e i t i g k e i t v o n E r w a r t u n g e n und F o r d e r u n g e n des M a n n e s , die a u c h hier das E h e v e r h ä l t n i s b e s t i m m t , b e s o n d e r s k r a ß (cf. e t w a das K a p i t e l
„Äusserliche Annehmlichkeiten",
von im Z u s a m m e n l e b e n
zu s c h o n e n d e n
wo
ausschließlich
möglichen Sensibilitäten
des
M a n n e s die R e d e ist.) N i c h t ein G e d a n k e k o m m t d e m gütig b e l e h r e n d e n V a t e r an m ö g l i c h e E r w a r t u n g e n , W ü n s c h e , B e d ü r f n i s s e s e i n e r g e l i e b t e n
105
Joachim Heinrich Campe: Väterlicher Rath für meine Tochter. Ein Gegenstück zum Theophron. Neudruck der Ausgabe Braunschweig 1796. Mit Einführung von Ruth Bleckwenn. Paderborn 1988. Die eingeklammerten Seitenzahlen im folgenden beziehen sich auf diese Ausgabe.
158
Verena Ehrich-Haefeli
Tochter — und wäre es nur, um sie über deren Unerfüllbarkeit zu trösten. Im Gegenteil, dergleichen als das Allerschädlichste für die zukünftige eheliche Glückseligkeit gar nicht erst aufkommen zu lassen, die weibliche Seele „anspruchsleer" (46), „bedürfnisfrei zu erhalten" (37), ist das Ziel der meisten Anordnungen und Lehren hier. Sophie durfte noch selber entscheiden, ob sie Emiles Werbung annehmen will, d. h. ob auch sie ihn „annehmlich" und angenehm findet; Campes Tochter aber soll sich keine Illusionen machen: „gleich einer Waare, die nicht ausgeboten werden darf, musst du warten, bis sich jemand findet, dem du anstehen wirst." (30) Wenn das Thema dieser Untersuchung ist, die in unserem Zeitraum neu eingeführten Einschränkungen weiblichen SubjektSeins zu verfolgen, so ist Campes Vergleich an Deutlichkeit nicht mehr zu überbieten. Auch die Metapher von Eiche und Efeu wird von ihm hart ausgezogen: Die Efeupflanze, die sich nicht an einer Eiche anlehnen und emporranken kann, bleibt ein „niedriges" Gewächs, „das von jedem Vorübergehenden zertreten wird" (23) — die Verheiratete hat allen Grund, ihrem Mann fortan „dankbare und folgsame Gehülfin seines Lebens" zu sein. Bei Campe erscheint erstmals als Leitmotiv die so folgenreiche triadische Definition der weiblichen Bestimmung als „beglückende Gattin, bildende Mutter und weise Vorsteherin des inneren Hauswesens" (16 f.). Dabei erweist sich das dritte als das weitaus Wichtigste: die Pflichten, die nötigen Kenntnisse und Fähigkeiten der „wackeren" (86), der „braven" (46) Hausfrau werden ausgeführt bis in die Details des viertelstündlichen Tagesplans (223) oder die genauesten Anweisungen zur Buchführung über das Haushaltgeld (94 ff., 238 ff.) Das Wort „Vorsteherin" trifft allerdings nicht ganz zu: die Pläne, Anordnungen und Grundsätze für das Hauswesen erläßt der Mann, Sache der Frau sind die „tausend wirklichen, oft sehr kleinen, unerheblichen" Einzelheiten (45) der Durchführung, die dann vom Mann kontrolliert wird (213). Der Vorrang des Aspekts Hausfrau entspricht der Ausrichtung aufs Praktisch-Nützliche des Philanthropismus, wie sie ihrerseits von Rousseaus Erziehungsplan für Emile beeinflußt worden war; Campe war Leiter in Dessau 1776 — 77. Mit der anmutigen Schwäche, die Rousseau den Frauen zuschreibt, mit dem Wunsch zu gefallen und der Koketterie, die er ihnen erlaubt, konnte Campe daher nichts anfangen; stattdessen empfiehlt er seiner Tochter als allererstes „Abhärtung [...] an Leib und Seele" (36) — das erste, damit sie kräftig genug sei für die unermüdliche Tätigkeit der Hausfrau „in Küche, Keller, Vorratskammer, Hof und Garten" (38), das zweite, damit sie die „oft sehr unlieblichen, [...] widerlichen und ekelhaften Ge-
Rousseaus Sophie und ihre deutschen Schwestern
159
s c h ä f t e " in K i n d e r s t u b e und H a u s h a l t (45) d e n n o c h stets gern und freudig besorge. D e m Aspekt „beglückende G a t t i n " sind ebenfalls wichtige G r u n d z ü g e des weiblichen G e m ü t s c h a r a k t e r s zugeordnet, die die T o c h t e r sich angew ö h n e n muß: „Bescheidenheit, F r e u n d l i c h k e i t " und immergleiche „unerschöpfliche H e r z e n s g ü t e " ( 1 4 0 ) , zu welcher „Geduld, S a n f t m u t , Biegsamkeit und Selbstverleugnung" (191) g e h ö r e n , „und endlich ein liebevolles Hingeben ihres eigenen Willens in den Willen des M a n n e s " ( 1 4 0 ) , die insgesamt a u f über 6 0 Seiten erläutert werden. Diese weiblichen T u genden werden die T o c h t e r geschickt m a c h e n , den „von G e s c h ä f t e n und Sorgen ermüdeten M a n n " zu erquicken, ihm den „ U n m u t " von der Seele zu „ v e r s c h e u c h e n " ( 1 9 0 ) , statt des „von aussen k o m m e n d e n K u m m e r s " ihm wieder „Heiterkeit, T r o s t , Freude und M u t ins H e r z zu l ä c h e l n " ( 1 9 6 ) , kurz ihm, der ja doch „die grösseren B e s c h w e r d e n , Sorgen und Mühseligkeiten zu tragen h a t , durch zärtliche T h e i l n a h m e [ . . . ] das Leben [zu] versüssen." (17) D i e Vorstellung des von der A u ß e n w e l t der G e s c h ä f t e erschöpften M a n n e s , für dessen E r h o l u n g a b e n d s , in lieblicher Häuslichkeit, die Frau zuständig ist, die bei R o u s s e a u sich eben erst abzeichnete, wird bei C a m p e nun breit entfaltet. Vom dritten Aspekt der „bildenden M u t t e r " aber, v o m Verhältnis zu den Kindern und dem Verhalten ihnen gegenüber, wird nichts gesagt — außer daß die M u t t e r sich selber um die „ K i n d e r z u c h t " k ü m m e r n m u ß , damit die Kinder nicht v o m Gesinde v e r w ö h n t werden. (53) Hier bestätigt sich also eine G e n e r a t i o n später jener wichtige B e f u n d , den wir in bezug a u f Sophie
ou la femme
k o n s t a t i e r t e n : D e r „weibliche G e m ü t s c h a -
r a k t e r " von selbstloser A u f o p f e r u n g , immergleicher Sanftheit, einfühlender Fürsorglichkeit etc. wird entworfen und gefordert zuerst und ausschließlich im H i n b l i c k auf die Bedürfnisse des M a n n e s ; erst n a c h t r ä g l i c h wird er dann u m k o d i e r t a u f „ M ü t t e r l i c h k e i t " und dadurch n o c h m a l s , nun erst recht unwiderleglich, als n a t u r h a f t gesetzt. C a m p e s T e x t wendet sich an eine F ü n f z e h n j ä h r i g e , die als junge Erwachsene angesprochen wird; Sozialisationsrezepte für die Kindheit, wie wir sie bei R o u s s e a u
analysierten,
finden
sich
hier nicht,
sie
sind
allenfalls zu erschließen. M i t dieser veränderten Sprechsituation h ä n g t es aber nur ζ. T. z u s a m m e n , d a ß die Begründungsstrategien hier anders angelegt sind. Wenn bei R o u s s e a u handgreiflich Gesellschaftliches
als
naturalisiert erscheint (das Spielen der kleinsten M ä d c h e n mit Spiegeln und S c h m u c k oder die S c h w ä c h e der Frau, die sie k a u m einige Schritte weit gehen lasse, als Anzeichen weiblicher , N a t u r ' ) , so beruft C a m p e sich nur zum Teil auf die Natur. Z w a r ist ihm etwa die physiologische
160
Verena Ehrich-Haefeli
Theorie der biegsamen weiblichen Nervenfasern willkommen, um zu erweisen, wie sehr der Frau Anpassung und Aufopferung ihres Willens gemäß sind (195); Roussels Systeme physique et moral de la femme (1775) und andere standen ja jetzt zur Verfügung. 1 0 6 Öfter indes beruft er sich auch auf den Willen Gottes oder die Vorsehung (denn für die Frau sei Religion in ganz besonderem Maß unentbehrlich, 144 f.). Erstaunlich häufig aber führt er den „Willen [...] der menschlichen Gesellschaft" (23) an, oder „unsere dermalige Weltverfassung" (21, 174); ja jene Rousseau nachgebildete Liste von Geschlechtsmerkmalen (der Mann ist „stark, fest, kühn, ausdauernd, gross, hehr und kraftvoll an Leib und Seele [...] das Weib schwach, klein, zart, empfindlich, furchtsam, kleingeistig" [22]), die Rousseau direkt vom Naturzweck der Begattung herleitete, verknüpft Campe mit der „ganzen Erziehungs- und Lebensart der beiden Geschlechter", wie sie bei „gebildeten Völkerschaften eingerichtet" worden (22); es gibt auch kritische Äußerungen über das, was der „Wohlstand" von den Frauen verlange, ζ. B. in bezug auf ihre unnatürliche Kleidung, auf das Stillsitzen etc. Eine Zeitlang erwartet man beim ersten Lesen, daß durch dieses Bewußtsein von der vielfachen gesellschaftlichen Bedingtheit der Verhältnisse eine Offenheit für andere Möglichkeiten, für mehr Spielraum des weiblichen Lebens in Campes Denken statthabe; aber diese Erwartung wird bald gründlich enttäuscht. Campe ist ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie revolutionäre Begeisterung für die freiheitliche Umgestaltung der Gesellschaft sich mit der fraglosen Bejahung und Durchsetzung von männlicher Herrschaft und Machtausübung innerhalb des Paars aufs innigste vereinigen kann — eine Erfahrung, die mutatis mutandis manchen meiner Generationsgenossinnen in der Folge von 1968 zuteil wurde. (Campe war entschiedener Anhänger der Revolution [bis zur Terreur von 1792], schon im August 1789 reiste er mit seinem ehemaligen Zögling Wilhelm von Humboldt nach Frankreich und beschrieb in den eindrucksvollen Briefen aus Paris die ersten euphorischen Wochen der neuen Freiheit; er wurde auch vom Konvent zum Ehrenbürger der französischen Republik ernannt.) In diesem Zusammenhang wird nun das in Campes Buch bekämpfte Feindbild aufschlußreich: es sind die „verfeinerten Stände", d. h. der Adel und die sich ihm angleichenden wohlhabenden Bürger in Residenzstädten mit ihrer Gepflogenheit, den Frauen als Herrinnen der Geselligkeit zu huldigen und sie zu umwerben, als ob „wir (Männer) ihre demüthigen Sklaven" sein sollten (176) — alles nur Schein, schärft Campe der Tochter ein, von
06
Claudia Honegger: Die Ordnung der Geschlechter, s. Anm. 26, Kap. 5.
Rousseaus Sophie und ihre deutschen Schwestern
161
dem sie sich ja nie betrügen lassen darf (25, 175 ff.). Demgegenüber wird bei Campe spürbar ein männlicher Bürgerstolz oder ein bürgerlicher Mannesstolz, gerade dergleichen nicht mitzumachen; so kann es zum Bestandteil gerade des bürgerlichen Selbstbewußtseins werden, daß man die Frau entschieden an ihrem gehörigen Platz im Hause hält. Von ihr ist „eine willige Anerkennung des männlichen Übergewichts in jedem Betracht" zu fordern (178); es ist ja doch klar, dass „der Mann [...] — ich meine den wirklichen (182) — der nachgebende Theil weder sein kann, noch wird, noch soll." (201) Entsprechend heißt es also hier meist nicht, die Natur der Frau ist so beschaffen, daß sie dieses oder jenes nicht kann, sondern vielmehr, sie kann ganz wohl, aber sie soll „nun einmal" nicht; das „nun einmal" (22 und öfter) signalisiert die vom übrigen Denken abgekoppelte Berufung auf die bloße Faktizität der Macht. (Vgl. das Beispiel S. 28 f.) Oder aber sie soll nicht — so wird hier ihr grundsätzlicher Ausschluß von allem Kulturellen, insbesondere von der neuen Mode des Viellesens begründet —, weil sie sonst mit dem Inferioren ihrer Tätigkeit, den „tausend unbedeutenden Einzelheiten" ihres Alltags, nicht mehr zufrieden sein wird, was die häusliche Harmonie stören würde. Nun ist es aber nicht so, daß Campe ganz auf Verklärungsrede verzichten würde; er hat dabei nur andere, in seiner Welt inzwischen geltende Denkbilder zu berücksichtigen. Wenn er immer wieder die anspruchslose Schlichtheit der idealen bürgerlichen Hausmutter preist, so kommt es ihm sehr zupaß, daß „edle Einfalt" (187) nun einen besonders aufgewerteten, assoziationsreichen Klang gewonnen hat. Interessant ist dann sein Gebrauch des Wortes „Beruf", in dem sich Lutherisches und Philanthropisches mischen; auch die Frau hat nämlich einen Beruf (12), Berufsgeschäfte (129), Berufspflichten, ein Berufsleben (131), aber wo es für den Mann Berufe gibt, unter denen er den seinen sucht und wählt — Campes Weg führte ihn durch mehrere hindurch —, ist mit dem Frau-Sein ihr Beruf schon gegeben. Oder er spricht sie als „junge Weltbürgerin" an (250) — nachdem er ihr jeden Schritt, ja jedes Hinausblicken über ihr Hauswesen hinaus verbaut hat; mit Erhebung soll sie eben ihren Haushalt als den ihr zugewiesenen Ort im Weltganzen betrachten lernen. So wird ihr auch versichert — entsprechend den Forderungen der Genie-Generation —, daß es auch ihre menschliche Bestimmung sei, alle ihre Kräfte und Fähigkeiten zu entfalten, „aber wohlverstanden! immer in Bezug auf deinen eigentlichen Beruf als Weib, und nur [...] und nur [ . . . ] " (12); solche einschränkend-aufhebenden „aber nur [...] nur" — Ketten werden zu einem Stil-
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Verena Ehrich-Haefeli
m e r k m a l hier. Die E r ö f f n u n g des Buchs begrüßt sie feierlich als junge Erwachsene, für die die Zeit der „Rechte [...] und [...] Pflichten der eigenen Selbständigkeit" g e k o m m e n sei, wo sie „mit eigenen Augen sehen, mit eigenem Verstand urtheilen" soll (6) — dies als Einleitung zu 250 Seiten minutiöser Verhaltensvorschriften; „und du, mein gutes Kind, gehorche der Stimme des Buchs, wie du [...] meiner eigenen Stimme [...] gehorchen würdest." (6) Und entsprechend läßt sich auch das Gesamt der E r m a h n u n g e n zusammenfassen: Wenn sie sich frei erhält von allen Wünschen, „Launen, Einbildungen und Eigenheiten" (188), d . h . auf jedes Selbst-Sein verzichtet, und wenn sie freiwillig und gern all das tut, was sie sowieso m u ß , d a n n sieht der Vater ihre zukünftige Glückseligkeit gesichert. Hier bahnt sich ein neuer Verklärungsdiskurs an, der d a n n in der „schönen Seele" der Klassik kulminiert. Wenn in Jean Pauls Levana oder Erziehlehre M a d a m e Jaqueline, die als M m e Tout-le-monde fungiert, in Erziehungsdingen Rousseau und C a m p e in einem Atemzug n e n n t , 1 0 7 läßt sich ermessen, welche Verbreitung und welchen Einfluß auch Campes Schrift gewann.
107
Vgl. Anm. 38.
Sebastian
Neumeister
Rousseaus Staatsidee und ihre Spuren bei Friedrich Schlegel
I. Friedrich Schlegels Anteil am politischen Denken der deutschen Klassik und R o m a n t i k läßt sich in mehrere Phasen einteilen. In einer ersten Phase sind die N a c h w i r k u n g e n u n d der Einfluß Rousseaus u n d der f r a n zösischen Revolution unmittelbar auszumachen. Hier sind zwei Schriften zu nennen: der Versuch über den Begriff des Republikanismus, eine Rezension von Kants Schrift Zum ewigen Frieden von 1795, und die Rezension der ebenfalls 1795 p o s t u m erschienenen Esquisse d'un tableau historique des progres de l'esprit humain von C o n d o r c e t . Beide bringen Friedrich Schlegel in den Ruf, ein politisch radikaler Denker zu sein. Auch die Reise nach Frankreich, die Friedrich Schlegel 1803 an den A n f a n g des ersten Heftes seiner Zeitschrift Europa stellt, gehört vor allem in ihrem dritten Teil („Betrachtung") hierher. Mit seinem Aufsatz Über das Studium der griechischen Poesie von 1795 reiht sich Friedrich Schlegel in einer zweiten Phase seines f r ü h e n Denkens in die Phalanx derer ein, die die staatsphilosophische Diskussion in die Richtung ästhetischer — statt im engeren Sinn verfassungsrechtlicher oder sozialer — Utopien vorantreiben. Z u nennen sind hier Lessings Erziehung des Menschengeschlechts von 1780, Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen von 1795 (also gleichzeitig mit Friedrich Schlegels Studium-Aufsatz) und — im engeren Sinne romantisch — Friedrich von H a r d e n b e r g s Fragment-Sammlung Glauben und Liebe, die dazugehörigen Politischen Aphorismen von 1798 und insbesondere sein Aufsatz Die Christenheit oder Europa von 1799. Im Studium-Aufsatz, der umfangreichsten und geschlossensten Arbeit dieser Schaffensperiode, w i d m e t sich Friedrich Schlegel nicht nur der Poesie und nicht nur der Antike, sondern setzt die eine ins Verhältnis zur Gesellschaft und die andere ins Verhältnis zur M o d e r n e . Die hier geäußerte Idee, bei den Griechen von einer Einheit von Poesie und Leben auszuge-
164
Sebastian Neumeister
hen, die in der modernen Entfaltung der Subjektivität verlorengegangen sei, ist, auch wenn sie primär ästhetisch argumentiert, ebenso wie die geforderte Überwindung der modernen Zerrissenheit in einer neuen „Objektivität" ohne Rousseau nicht zu denken. In einer dritten Phase schließlich treibt Friedrich Schlegel die utopische Anstrengung in die Richtung einer Verabsolutierung des ästhetischen Elements einschließlich einer neuen Mythologie, die die Bildersprache der alten ablösen soll. Diese Mythologie soll nicht mehr wie im
sog. Ältesten Systemprogramm
des deutschen
Idealismus,
das bekannt-
lich Schelling zugeschrieben wird, „im Dienste der Ideen stehen" und „eine Mythologie der Vernunft werden" 1 , sondern sich gleichsam direkt aus der Natur des Menschen ergeben und erklären. Friedrich Schlegel entwickelt das Konzept einer solchen ästhetischen Autonomie, wie bekannt, vor allem im 116. Athenäums-Fragment und in der „Rede über die Mythologie" innerhalb des Gesprächs über die Poesie von 1800. Er läßt damit erstmals die gesellschaftsanalytische Argumentation ganz hinter sich, sieht sich aber, wie er in einem Brief an Novalis erklärt, zugleich als ein neuer Mohammed oder Christus: „Ich denke", so schreibt er am 2. Dezember 1798 an Novalis, „eine neue Religion zu stiften oder vielmehr sie zu verkündigen helfen: denn kommen und siegen wird sie auch ohne m i c h . " 2 Es ist derselbe Brief, in dem Friedrich Schlegel Novalis nach dessen „christlichen Fragmenten" fragt, in Anknüpfung an Gespräche in Dresden Ende August 1798. In ihnen erörterten die Freunde schon jene Wendung zum Christentum, die Novalis zur Abfassung seiner Schrift Die Christenheit oder Europa bewegte und eine lange Debatte im Kreise der Jenaer Romantiker unter Einbeziehung Goethes auslöst. 3 Friedrich Schlegel gibt sich in seinen Fragmenten stärker als Novalis messianisch, er sieht die Zeichen einer Revolution, die nicht politisch ist wie die französische, sondern epochal im Sinne des 222. AthenäumsFragments:
1
In: Friedrich H ö l d e r l i n : S ä m t l i c h e W e r k e ( G r o ß e S t u t t g a r t e r A u s g a b e ) . Hrsg. von Friedrich Beißner, B d . 4 . S t u t t g a r t : K o h l h a m m e r u. C o t t a 1 9 6 1 , S. 2 9 9 .
2
In: Friedrich Schlegel und Novalis. B i o g r a p h i e einer R o m a n t i k e r f r e u n d s c h a f t in ihren B r i e f e n . H r s g . v. M a x Preitz. D a r m s t a d t : H . G e n t n e r 1 9 5 7 , S. 138 f. (Brief Nr. 5 5 ) .
3
Vgl. dazu R i c h a r d S a m u e l : Einleitung zu: D i e C h r i s t e n h e i t oder E u r o p a . In: N o v a l i s : S c h r i f t e n , Bd. 3 : D a s p h i l o s o p h i s c h e W e r k II. D a r m s t a d t : W i s s e n s c h a f t l i c h e B u c h g e s e l l s c h a f t 1 9 6 8 , S. 4 9 7 - 5 0 1 .
Rousseaus Staatsidee und ihre Spuren bei Friedrich Schlegel
165
Der revolutionäre Wunsch, das Reich Gottes zu realisieren, ist der elastische Punkt der progressiven Bildung, und der Anfang der modernen Geschichte. Was in gar keiner Beziehung auf's Reich Gottes steht, ist in ihr nur Nebensache. 4
Rousseau ist scheinbar weit abgedrängt in diesem Denken. Es gilt jedoch genau hinzusehen, sowohl was die Rede von der Religion in der ersten romantischen Schule angeht als auch was deren Beziehung zum späteren Katholizismus Friedrich Schlegels betrifft. Die romantische Religiosität ist, wie angedeutet, nicht zu denken ohne eine ästhetische Präferenz vor jeder im engeren Sinne theologischen Begründung. Friedrich Schlegels Hinwendung zur katholischen Kirche seit 1804 steht aber andererseits immer auch im Zusammenhang staatspolitischer Fragestellungen. Gerade sie werden im Laufe der beiden folgenden Jahrzehnte immer stärker in den Vordergrund rücken. Der Übergang von der Kunstreligion zur Religion selbst, mit dem eine ganz neue Etappe im Denken Friedrich Schlegels beginnt, hat das Leben und Werk des vielleicht wichtigsten Autors der deutschen Romantik in zwei Teile zerlegt und nicht zuletzt auch die Kritik gespalten. Benno von Wiese hat schon 1927 im katholischen Friedrich Schlegel den „abgedankten, kapitulierten Schlegel" gesehen. 5 Der katholische Philosoph Alois Dempf dagegen erkennt in seinem Buch Weltordnung und Heilsgeschichte von 1958 (das sich schon im Titel gegen Karl Löwiths klassische Untersuchung Weltgeschichte und Heilsgeschehen von 1953 stellt) in Friedrich Schlegel den Verkünder einer positiven Geistphilosophie und Gesellschaftslehre: „Nicht mehr die Politik stiftet die Kultursynthese und bringt die Wiederherstellung des gespaltenen Bewußtseins, sondern die göttliche Vorsehung selber, indem sie die Heils- und Geistesgeschichte führt und in ihrem dialektischen Gang bestimmt." 6 Die Kontroverse um den späten Friedrich Schlegel braucht hier nicht entschieden zu werden. Wichtig daran ist immerhin, daß Friedrich Schlegel selbst seine Hinwendung zum katholischen Glauben für konsequent gehalten hat und daß auch die Forschung zumindest teilweise bemüht
4
5
6
Friedrich Schlegel: Charakteristiken und Kritiken I ( 1 7 9 6 — 1 8 0 1 ) . Hrsg. v. Hans Eichner. München/Paderborn: Schöningh 1967 (Kritische Ausgabe 1,2), S. 2 0 1 . Benno von Wiese: Friedrich Schlegel. Ein Beitrag zur Geschichte der romantischen Konversionen. Berlin: Springer 1927, S. 54. Alois Dempf: Der frühe und der späte Friedrich Schlegel. In: Ders.: Weltordnung und Heilsgeschehen. Einsiedeln: Johannes Verlag 1 9 5 8 , S. 97.
166
Sebastian Neumeister
ist, in diesem Schritt eine kontinuierliche Entwicklung zu sehen. 7 Auch die hier zu behandelnde Frage, nämlich Friedrich Schlegels Verhältnis zu Rousseau, k ö n n t e gute Argumente für den Versuch liefern, zwischen f r ü h r o m a n t i s c h e m Ästhetizismus und spätromantischem Katholizismus — für den neben Friedrich Schlegel und Eichendorff auch noch die Konvertiten A d a m Müller und Z a c h a r i a s Werner und, in der H i n w e n d u n g zur Religion, sicherlich auch August Wilhelm Schlegel, Tieck und Schelling in Anspruch genommen werden können — eine Brücke zu schlagen.
II. Rousseau äußert sich an zwei Stellen in grundsätzlicher Weise zur Frage des Glaubens, beide Male an hervorgehobener Stelle. In der „Profession de foi du vicaire Savoyard" im vierten Buch des Emile schafft sich Rousseau die Form, in der er die religiöse Erziehung seines Musterknaben erörtern und zugleich seiner diffus-deistischen Religiosität Ausdruck verleihen k a n n . Im letzten Kapitel des Contrat social behandelt Rousseau zur gleichen Zeit unter der Überschrift „De la religion civile" das Verhältnis von Staat und Religion aus politologischer Sicht. Da es im vorliegenden Z u s a m m e n h a n g vor allem u m das Staatsverständnis geht, das Friedrich Schlegel in seiner späten katholischen Phase entwickeln wird, m u ß vor allem dieser zweite Text herangezogen werden, um die Frage nach einem möglichen Einfluß von Rousseau auf Friedrich Schlegel behandeln zu k ö n n e n . Rousseau stellt im Schlußkapitel seines Contrat social fest, d a ß mit dem Christentum als der Lehre von einem Reich, das nicht von dieser Welt ist, an die Stelle der heidnischen Nationalreligionen n u n m e h r unabweislich die Trennung von Staat und Religion getreten sei. Einzig das P a p s t t u m verstoße gegen dieses Strukturgesetz der christlichen Ära und versuche die verlorene Einheit wiederherzustellen — mit verabscheuungswürdigen Folgen: „ O n a vu ce pretendu r o y a u m e de l'autre m o n d e devenir sous un chef visible le plus violent despotisme dans celui-ci." 8 7
8
Eine solche undogmatische Revision des Urteils ist zuerst und vor allem Josef Körner zu danken (Romantiker und Klassiker. Die Brüder Schlegel in ihren Beziehungen zu Schiller und Goethe. Berlin: Askanischer Verlag 1924). Jean-Jacques Rousseau: Du C o n t r a t social ou Principes du droit politique IV,8: „De la religion civile". Paris: Garnier 1960, S. 329. Die Ausgabe enthält a u ß e r d e m weitere wichtige Schriften Rousseaus zur Gesellschaftstheorie.
Rousseaus Staatsidee und ihre Spuren bei Friedrich Schlegel
167
Vor diesem historischen Hintergrund unterscheidet Rousseau dann drei Typen des Verhältnisses von Staat und Religion: 1. eine (sofort verworfene) Doppellegislation von Priesterstaat und weltlichem Staat, 2. die traditionelle Form der Staats- und Nationalreligion, „la religion du citoyen", und schließlich 3. die Innerlichkeitsreligion des Christentums, „la religion de l ' h o m m e ou le Christianisme, non pas celui d ' a u j o u r d ' h u i , mais celui de Γ Evangile, qui en est tout a fait different." 9 Es ist diese Alternative von „religion du citoyen" und „religion de l'homme", von „droit divin civil" und „droit divin naturel", die Rousseaus Mißfallen erregt. Denn da die traditionelle „religion du citoyen" auf dem Aberglauben beruht und da die „religion de l ' h o m m e " keine Einheit mit dem Staat, dem „corps politique", ermöglicht, taugen beide Typen nicht für eine zeitgemäße Regelung des Verhältnisses von Staat und Religion. Der Vorschlag, den Rousseau in dieser Situation macht, ist einigermaßen überraschend: Er fordert, der Souverän, also das Volk, möge jedem Staatsbürger eine eigene und strafbewehrte „profession de foi purement civile" abverlangen. Ihre Glaubensartikel sollen nicht religiöser N a t u r sein, sondern „sentiments de sociabilite, sans lesquels il est impossible d'etre bon citoyen ni sujet fidele." 1 0 Ja, der einzige Verbotsartikel dieses Zivilglaubens richtet sich gerade gegen die Intoleranz: Sie ist es, die den Staat des Contrat social von der Theokratie, etwa derjenigen der römisch-katholischen Kirche, unterscheidet. Rousseau lehnt also die Erhebung einer Religion zur Staatsreligion ebenso ab wie ihre Trennung vom Staat, er macht den Staat selbst zur Religion — eine Lösung des Loyalitätsproblems, die, wie man befürchten kann, allerdings nun doch leicht in die Nähe einer totalitären Staatskonzeption gerät. 1 1 Blicken wir von hier aus auf Friedrich Schlegel, so scheinen sich die Spuren Rousseaus schnell im Flugsand der Geschichte zu verlieren, also des seit 1762, dem gemeinsamen Erscheinungsjahr des Emile und des 9 10 11
Ebd., S. 331 f. Ebd., S. 334. Z u den Anfängen der D e b a t t e um Rousseaus „Totalitarismus" vgl. Werner Bahner: War J.-J. Rousseau ein konservativer Denker? In: Ders. (Hrsg.): Beiträge zur französischen A u f k l ä r u n g und zur spanischen Literatur (Festgabe Werner Krauss). Berlin: Akademie-Verlag 1971, S. 27—43, hier S. 29— 31.
168
Sebastian Neumeister
Contrat social, verflossenen halben J a h r h u n d e r t s . Zweifellos ist Friedrich Schlegel d u r c h die Schule Rousseaus, Kants und Fichtes gegangen, er weiß, wie vor allem sein Versuch über den Begriff des Republikanismus zeigt, was die νοίοηίέ g0nerale ist, was die Idee einer Weltrepublik und was ein geschlossener Handelsstaat. Gleichwohl bleibt Friedrich Schlegel, insofern er eine Geschichtsphilosophie o h n e Philosophie entwirft, wie etwa auch Herder ein philosophischer Dilettant, der, wie Richard Fester in seinem Buch Rousseau und die deutsche Geschichtsphilosophie formuliert, kein D a u e r w o h n r e c h t im H a u s der neueren deutschen Philosophie beanspruchen d ü r f t e . 1 2 Friedrich Schlegel bleibt schon deshalb vor der Tür dieses Hauses, weil er wie Rousseau ein A u t o d i d a k t ist. Die philosophisch-historischen Studien seiner Frühzeit, die, wie er 1793 in Briefen an den Bruder ausf ü h r t 1 3 , auf Rousseau a u f b a u e n sollen, finden so ihren höchsten Ausdruck bezeichnenderweise nicht in einem philosophischen System und auch nicht in den beiden schon genannten Rezensionen zu Schriften von Kant und Condorcet, sondern in den Fragmenten der Zeitschrift Athenäum. Friedrich Schlegel ist sich dieses Dilemmas durchaus bewußt. Im 220. Athenäums-Fragment propagiert er mit k ü h n e r Sophistik das „genialische" Philosophieren: [...] sollen wir die einzigen noch vorhandenen P r o d u k t e des synthesierenden Genies d a r u m nicht achten, weil es noch keine kombinatorische Kunst und Wissenschaft gibt? 1 4
Die historische Vorläufigkeit des eigenen genialischen Tuns tritt noch stärker hervor im 426. Fragment. Hier richtet Friedrich Schlegel unter Bezugnahme auf Frankreich und die französische Revolution den Blick schon auf die bevorstehende nächste Geschichtsepoche:
12
13 14
Vgl. Richard Fester: Rousseau und die deutsche Geschichtsphilosophie. Stuttgart 1890 (Reprint Genf 1972), Kap. 7. „ M a n k ö n n t e " , so erläutert Fester zu Beginn dieses Kapitels (S. 188), „die Geschichte der neueren deutschen Philosophie einem stattlichen G e b ä u d e vergleichen, welches zu ebener Erde von Kant, im ersten Geschosse von Fichte, im zweiten von Schelling und Krause bewohnt, von Hegel, Schopenhauer u n d H e r b a r t aber als Eigent u m b e a n s p r u c h t wird, so jedoch, d a ß die beiden letztgenannten eines Baufehlers wegen einen völligem U m b a u der oberen Stockwerke zur Bedingung machen. Auf der in den Grundstein dieses Hauses eingesenkten Stiftungsurk u n d e w ü r d e aber neben anderen N a m e n auch der des Genfer Bürgers zu lesen sein." Nachweise ebd., S. 193, Anra. 2. Charakteristiken und Kritiken I (wie Anm. 4), S. 200.
Rousseaus Staatsidee und ihre Spuren bei Friedrich Schlegel
169
Es ist natürlich, d a ß die Franzosen e t w a s dominieren im Zeitalter. Sie sind eine chemische N a t i o n , der chemische Sinn ist bei ihnen a m allgemeinsten erregt, und sie machen ihre Versuche auch in der moralischen Chemie immer im G r o ß e n . Das Zeitalter ist gleichfalls ein chemisches Zeitalter. Revolutionen sind universelle nicht organische, sondern chemische Bewegungen. Der große H a n d e l ist die Chemie der großen Ö k o n o m i e ; es gibt wohl auch eine Alchemie der Art. Die chemische N a t u r des R o m a n s , der Kritik, des Witzes, der Geselligkeit, der neuesten Rhetorik u n d der bisherigen Historie leuchtet von selbst ein. Ehe man nicht zu einer Charakteristik des Universums und zu einer Einteilung der Menschheit gelangt ist, m u ß man sich nur mit Notizen über den G r u n d t o n und einzelne Manieren des Zeitalters begnügen lassen, ohne den Riesen auch nur silhouettieren zu können. D e n n wie wollte m a n ohne jene Vorkenntnisse bestimmen, ob das Zeitalter wirklich ein Individuum, oder vielleicht nur ein Kollisionspunkt andrer Zeitalter sei; w o es bestimmt anfange und endige? Wie wäre es möglich, die gegenwärtige Periode der Welt richtig zu verstehen und zu interpungieren, w e n n m a n nicht wenigstens den allgemeinen C h a r a k t e r der nächstfolgenden antizipieren dürfte? Nach der Analogie jenes G e d a n kens w ü r d e auf das chemische ein organisches Zeitalter folgen, und d a n n d ü r f t e n die Erdbürger des nächsten S o n n e n u m l a u f s wohl bei weitem nicht so groß von uns denken wie wir selbst, und vieles w a s jetzt bloß angestaunt wird, nur für nützliche J u g e n d ü b u n g e n der Menschheit h a l t e n . 1 5 D i e F r u c h t b a r k e i t d e s r o m a n t i s c h e n D e n k e n s in F r a g m e n t e n s t e h t , d a s h a b e n Friedrich Schlegel u n d N o v a l i s zur G e n ü g e b e w i e s e n , g a n z a u ß e r Zweifel. D a v o n bleibt u n b e r ü h r t , d a ß eine g r u n d s ä t z l i c h e A u s e i n a n d e r s e t z u n g m i t R o u s s e a u in d i e s e r F o r m n i c h t f ü h r b a r ist. F r i e d r i c h S c h l e g e l g e w i n n t erst w i e d e r festen B o d e n u n t e r d e n F ü ß e n , als er d e n K a t h o l i z i s m u s z u m O r d n u n g s p r i n z i p seines D e n k e n s u n d der G e s c h i c h t e
macht.
D a m i t s c h e i n e n a l l e r d i n g s d i e B r ü c k e n zu R o u s s e a u v o l l e n d s a b g e b r o c h e n u n d d e r S c h r i t t z u r ü c k h i n t e r d e s 18. J a h r h u n d e r t
unvermeidlich:
F r i e d r i c h S c h l e g e l v e r a b s c h i e d e t sich e n d g ü l t i g v o n d e r e i g e n e n k r i t i s c h republikanischen Frühphase und auch vom konstitutionellen
Liberalis-
mus der Epoche. S e i n e n N i e d e r s c h l a g f i n d e t d i e s e s D e n k e n a u ß e r in d e n
philosophi-
s c h e n u n d h i s t o r i s c h e n V o r l e s u n g e n d e r J a h r e a b 1 8 0 4 v o r a l l e m in d e n zu Lebzeiten u n v e r ö f f e n t l i c h t e n F r a g m e n t e n zur G e s c h i c h t e u n d Politik d e r J a h r e 1 8 2 0 bis 1 8 2 8 1 6 u n d in d e n A u f s ä t z e n d e r Z e i t s c h r i f t e n u n d Concordia.
D e r A u f s a t z Signatur
S c h l e g e l 1 8 2 0 d i e Concordia
15 16
des Zeitalters,
Europa
mit d e m Friedrich
eröffnet und mit zwei langen Fortsetzungen
Ebd., S. 248 f. Fragmente zur Geschichte u n d Politik III (1820—1828). Hrsg. von Ursula Behler. M ü n c h e n / P a d e r b o r n : Schöningh 1979 (Kritische Ausgabe I, 22).
170
Sebastian Neumeister
im selben Jahr und in der letzten N u m m e r der Zeitschrift von 1823 begleitet 1 7 , stellt so etwas wie die Summe seiner staatspolitischen Überlegungen dieser Zeit dar. Z u m Befremden des eigenen Bruders, der Freunde und auch der Wiener Hofgesellschaft entfaltet Friedrich Schlegel hier eine Sicht auf Geschichte und Gesellschaft, die erzkonservativ, altkatholisch und r ü c k w ä r t s g e w a n d t genannt werden m u ß . 1 8 Friedrich Schlegels Geschichtsbild m u ß sich mit einem solchen Konzept zwangsläufig radikal von demjenigen Rousseaus entfernen. Der Weg der Befreiung des Menschen führt hier nicht zu sich selbst, sondern zu Gott, die Vertreibung aus dem Paradies ist nicht ein Bruch mit der Natur, sondern mit G o t t und k a n n nur durch Christus wieder in einen Sieg über die Finsternis verwandelt werden. Auch die Staatsauffassung ist diametral verschieden, sie m ü n d e t in eine hierarchisch gegliederte Ständegesellschaft, in der Kirche und Staat einander als kontrollierende und als regierende Gewalt ergänzen sollen. Friedrich Schlegel favorisiert damit zufällig genau das Modell, das Rousseau als „une sorte de droit mixte et insociable" ob seiner Nachteile k a u m der Kritik für wert erachtete, die von ihm sogenannte „religion du Pretre", qui d o n n a n t aux h o m m e s deux legislations, deux chefs, deux patries, les soumet ä des devoirs contradictoires et les empeche de pouvoir etre ä la fois devots et citoyens. 1 9
Rousseau nennt im Contrat social die tibetanische, die japanische und die römisch-katholische Religion als Beispiel einer solchen Doppelhierarchie. Er verwirft das Nebeneinander von Staat und Kirche als einen Bruch der „unite sociale", der die Menschen in Widerspruch mit sich selbst bringe, ein für Rousseau ganz substantieller Mangel. Friedrich Schlegel dagegen erhebt ein solches Z u s a m m e n w i r k e n von Staat und Kirche gerade zu seinem ordnungspolitischen Ideal:
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18
19
C o n c o r d i a . Eine Zeitschrift. Hrsg. von Friedrich Schlegel. Mit einem Nachw o r t zur Neuausgabe von Ernst Behler. D a r m s t a d t : Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1967. Eine ganz ähnliche H a l t u n g n a h m im noch nicht vereinigten Italien der Graf M o n a l d o Leopardi, der Vater des italienischen Nationaldichters G i a c o m o Leopardi, ein. Vgl. Caspar-Veit Elm: Religion und Politik im Werk M o n a l d o Leopardis. In: Sebastian Neumeister (Hrsg.): Leopardi in seiner Zeit. Akten des 2. Kongresses der Deutschen Leopardi-Gesellschaft. Tübingen: Stauffenburg 1994. C o n t r a t social (Anm. 8), S. 331.
Rousseaus Staatsidee und ihre Spuren bei Friedrich Schlegel
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Eben daher sind auch diese beyden auf den innern und äußern, den göttlichen und menschlichen Frieden gerichteten Institute, eines Theils so ganz verschieden, d a ß sie nie ohne G e f a h r für beyde Z w e c k e verwechselt und vermischt werden dürfen, andrerseits aber so nah v e r w a n d t und innig verbunden, d a ß sie eines das a n d e r e bedürfen, und einander k a u m entbehren k ö n n e n . 2 0
Und doch durchzieht eine ursprüngliche Gemeinsamkeit diese beiden im Ergebnis so konträren Konzeptionen. Friedrich Schlegels Vorstellung von der ursprünglichen H a r m o n i e als erstem Stadium der Menschheitsgeschichte deckt sich mit Rousseaus Naturzustand, auch wenn Friedrich Schlegel durch die Hinwendung zum Glauben erreichen will, was R o u s seau als R ü c k k e h r zur Natur predigt. Auch die Vorstellung von der Gesellschaft als einem Übel ist beiden gemeinsam, auch wenn Friedrich Schlegel den Weg zu „einem liebevoll vereinigten und sittlichen G a n z e n " sucht, wo sich Rousseau als „promeneur solitaire" in die Einsamkeit zurückzieht. Und auch die gesellschaftliche Konstruktion als Ganzes ist dieselbe, in der Ablehnung des repräsentativen Systems ebenso wie in der Favorisierung einer monistischen Staatsideologie. Wo R o u s s e a u der νοίοηΐέ gemrale
den Vorzug vor der Aufteilung der Volkssouveränität in
einem Repräsentativsystem gibt (Contrat social 11,1 und 111,15), verfolgt Friedrich Schlegel dasselbe Ziel mit einem Absolutismus, der ihm zufolge als einziger konsequent die M a c h t zu verkörpern vermöge. R o u s s e a u stellt sich die Lösung, wie gesagt, sozusagen als eine Staatstheokratie vor, die zwar in Glaubensfragen tolerant ist, ihren Bürgern aber eine auf den Staat gerichtete „profession de foi civile" abverlangt. Friedrich Schlegel dagegen denkt sich über der ständischen M a c h t b a l a n c e von Kirche und Staat einen Kaiser, der nicht nur wie Z a r Alexander in der Heiligen Allianz die Religion zum Staatsprinzip erhebt, sondern — so stellt es sich Friedrich Schlegel wenigstens vor — möglichst als ein aus einem geistlichen Ritterorden gewählter Papst zugleich Kaiser wäre. Beide, Rousseau wie Friedrich Schlegel, ziehen die Konsequenz aus dem Einbruch des Christentums in die Staatenwelt. Christus hatte sie durch seinen Ausspruch „Mein R e i c h ist nicht von dieser W e l t " in die Krise gestürzt: [ . . . ] Jesus vint etablir sur la terre un r o y a u m e spirituel; ce qui, s e p a r a n t le systeme theologique du systeme politique, fit que l ' E t a t cessa d ' e t r e un, et causa les divisions intestines qui n ' o n t jamais cesse d'agiter les peuples chretiens. 2 1
20
Signatur des Zeitalters (Anm. 17), S. 1 8 4 .
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C o n t r a t social ( A n m . 8), S. 3 2 9 .
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Sebastian Neumeister
W ä h r e n d R o u s s e a u , u m die R u h e wiederherzustellen, f ü r eine Staatsreligion p l ä d i e r t , sieht Friedrich Schlegel, wie a n g e d e u t e t , d a s Prinzip staatlicher R u h e u n d Stabilität in der Religion allein. 2 2 Er tritt so wieder mit G e d a n k e n vor eine, wie er meint, a u f n a h m e b e r e i t e Ö f f e n t l i c h k e i t , die er schon 1798/99, also zwei J a h r z e h n t e f r ü h e r , mit den Freunden u n d i n s b e s o n d e r e mit Novalis e r ö r t e r t hatte. Novalis läßt seinen Aufsatz Die Christenheit oder Europa mit den bezeichnenden Sätzen beginnen: Es waren schöne glänzende Zeiten, wo Europa ein christliches Land war, wo Eine Christenheit diesen menschlich gestalteten Welttheil bewohnte; Ein großes gemeinschaftliches Interesse verband die entlegensten Provinzen dieses weiten geistlichen Reichs. — Ohne große weltliche Besitzthümer lenkte und vereinigte Ein Oberhaupt, die großen politischen Kräfte. 2 3 Die G e d a n k e n dieses Aufsatzes sind zu b e k a n n t , als d a ß sie hier n o c h einmal referiert w e r d e n m ü ß t e n . Wichtig im vorliegenden Z u s a m m e n h a n g ist zweierlei. Z u m einen die auch von Friedrich Schlegel geteilte, bei N o v a l i s m e h r f a c h w i e d e r h o l t e A u f f a s s u n g , allein eine geistliche M a c h t k ö n n e den seit der R e f o r m a t i o n verlorengegangenen politischen Frieden z u r ü c k b r i n g e n : Es ist unmöglich, daß weltliche Kräfte sich selbst ins Gleichgewicht setzen, ein drittes Element, das weltlich und überirdisch zugleich ist, kann allein diese Aufgabe lösen. 24 Z u m a n d e r e n , k o n k r e t e r als bei Friedrich Schlegel, die k o n s e q u e n t e u n d e m p h a t i s c h historische H e r l e i t u n g dieses Postulats aus der e u r o p ä i s c h e n Geschichte seit d e m Mittelalter, eine H e r l e i t u n g , die entgegen landläufigen Vorstellungen den Blick nicht n u r auf eine zu U n r e c h t verklärte Verg a n g e n h e i t richtet, s o n d e r n d u r c h a u s a u c h den Ereignissen seit 1789 u n d der seither zu b e o b a c h t e n d e n Dialektik v o n B e w a h r u n g u n d E r n e u e r u n g ihr R e c h t läßt: Beide Theile haben große, nothwendige Ansprüche und müssen sie machen, getrieben vom Geiste der Welt und der Menschheit. Beide sind unvertilgbare Mächte der Menschenbrust; hier die Andacht zum Althertum,
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23 24
Es hat gleichwohl nicht an Versuchen gefehlt, auch Rousseau für eine christlich-konservative Staatsform in Anspruch zu nehmen (vgl. Werner Bahner: War J.-J. Rousseau ein konservativer Denker, a . a . O . (Anm. 11), bes. S. 32 f., und Iring Fetscher: Rousseaus politische Philosophie. Neuwied: Luchterhand 1960). Die Christenheit oder Europa (Anm. 3), S. 507. Ebd., S. 522.
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173
die Anhänglichkeit an die geschichtliche Verfassung, die Liebe zu den Denkmalen der Altväter und der alten glorreichen Staatsfamilie, und die Freude des Gehorsams; dort das entzückende Gefühl der Freiheit, die unbedingte Erwartung mächtiger Wirkungskreise, die Lust am Neuen und Jungen, die zwanglose Berührung mit allen Staatsgenossen, der Stolz auf menschliche Allgemeingültigkeit, die Freude am persönlichen Recht und am Eigenthum des Ganzen, und das kraftvolle Bürgergefühl. 2 5 M i t der Einigung so entgegengesetzter Tendenzen unter einer geistlichen O b e r h e r r s c h a f t w e n d e t N o v a l i s in eine a n d e r e R i c h t u n g , w a s er in seiner
Fragmentsammlung Glauben und Liebe oder Der König und die Königin — ein Titel, dessen zweite H ä l f t e weitgehend aus dem Bewußtsein geschwunden ist — zu Beginn des J a h r e s 1 7 9 8 n o c h als eine A r t republikanischen M o n a r c h i s m u s p r ä s e n t i e r t hatte: Es wird eine Zeit kommen und das bald, wo man allgemein überzeugt seyn wird, daß kein König ohne Republik, und keine Republik ohne König bestehn könne, daß beide so untheilbar sind, wie Körper und Seele, und daß ein König ohne Republik, und eine Republik ohne König, nur Worte ohne Bedeutung sind. Daher entstand mit einer ächten Republik immer ein König zugleich, und mit einem ächten König eine Republik zugleich. Der ächte König wird Republik, die ächte Republik König seyn. (Fragment 2 2 ) 2 6
25 26
Ebd. Novalis: Schriften, Bd. 2: Das philosophische Werk I. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1965, S. 490. Novalis ist mit der Fragmentsammlung Glaube und Liebe oder Der König und die Königin, die 1798 im Juli-Heft der Jahrbücher der Preußischen Monarchie unter der Regierung von Friedrich Wilhelm III. erschienen, auf ähnliches Unverständnis gestoßen wie 22 Jahre später Friedrich Schlegel mit seiner Concordia in Wien. Wie nahe hier Novalis und Friedrich Schlegel einander sind, zeigt jene „allerliebste Anekdote", von der Friedrich Schlegel Ende Juli 1798 Novalis zu berichten weiß: Der König hat den „Glauben und Liebe" gelesen aber nicht verstanden, und daher dem Obristlieutenant Köckeritz Ordre gegeben, ihn zu lesen. Weil dieser ihn aber gleichfalls nicht verstanden, hat er den Consistorialrat Niemeyer zu Rate gezogen. Dieser hat auch nicht verstanden, worüber er höchlich entrüstet gewesen und gemeint hat, es müsse gewiß einer von den beiden Schlegeln geschrieben haben. Es ist nämlich für ihn wie für mehrere Philister Axiom: Was man nicht versteht, hat ein Schlegel geschrieben. Romantikerfreundschaft (Anm. 2), S. 122 (Brief Nr. 48).
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Sebastian Neumeister
Novalis sieht, wie einige Sätze aus dem 18. Fragment von Glauben und Liebe zeigen, im König eine Integrationsfigur von größter gesellschaftlicher Bedeutung: Alle M e n s c h e n sollen t h r o n f ä h i g w e r d e n . D a s E r z i e h u n g s m i t t e l zu diesem fernen Ziel ist ein K ö n i g . E r assimilirt sich a l l m ä h l i c h die M a s s e seiner Unterthanen.27
Der Erziehungsgedanke, der hier ins Zentrum rückt, verweist uns erneut an Rousseau zurück, auf eine Dichotomie, die sich aus dessen pädagogischem Konzept im Emile und in den Consid0rations sur le Gouvernement de Pologne ergibt. Während nämlich Rousseau im Emile seinen Zögling aus der Gesellschaft herausnimmt und einem Privaterzieher anvertraut, der ihn abseits von ihr im Einklang mit seiner Natur erzieht, kann im katholischen Polen gerade umgekehrt auf Erzieher ganz verzichtet werden: Die Erziehung übernimmt hier die Gesellschaft insgesamt in Gestalt verdienter Bürger. Das missing link zwischen diesen beiden einander so scharf entgegengesetzten Auffassungen von der Gesellschaft und von der Erziehung in ihr ist nun nach Auffassung des Philosophen Robert Spaemann genau jenes Kapitel des Contrat social, das auch hier im Zentrum steht — das Schlußkapitel über Staat und Religion. 28 Der Contrat social ist nach dieser Deutung nicht ein Zukunftsprojekt, sondern der Abgesang auf die klassische Staatskonstruktion. Polen dagegen ist für Rousseau wie der preußische Staat in Glauben und Liebe für Novalis eine Ausnahme von dieser inneren Zerrissenheit der christlichen Moderne: Hier decken sich Staat und Nation noch einmal in einem Ausmaß, das an die Staatsreligion der antiken Polis erinnert. Rousseau, Novalis und der späte Friedrich Schlegel machen es sich — jeweils im Abstand von mehreren Jahrzehnten — in ihren im Detail so gänzlich verschiedenen Staatsutopien zum Ziel, die verlorengegangene Einheit von Staat und Religion wiederherzustellen. Friedrich Schlegel, der letzte der drei, erweist sich dabei allerdings mit seiner ständischkatholischen Staatskonstruktion auf den Spuren Rousseaus und Friedrichs von Hardenberg weniger als ein Visionär denn als ein — wie es im 80. Athenäums-Fragment vom Historiker heißt — „rückwärtsgewandter Prophet".
27 28
S c h r i f t e n , B d . 2 (Anm. 2 6 ) , S. 4 8 9 . R o b e r t Spaemann: Rousseau — Bürger ohne Vaterland. M ü n c h e n : 1 9 8 0 , S. 2 1 .
Piper
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III. Friedrich Schlegel ist ein Leben lang auf der Suche gewesen: In meinem Leben und philosophischen Lehrjahren ist ein beständiges Suchen nach der ewigen Einheit (in der Wissenschaft und in der Liebe) und ein Anschließen an ein äußeres, historisch Reales oder ideal Gegebenes (zuerst Idee der Schule und einer neuen Religion der Ideen) — dann Anschließen an den Orient, an das Deutsche, an die Freiheit der Poesie, endlich an die Kirche, da sonst überall das Suchen nach Freiheit und Einheit vergeblich w a r . 2 9
Daß Friedrich Schlegel sich mit der Einordnung in die katholische Kirchengläubigkeit am Ziel seiner Suche wähnt, hat nicht nur weltanschauliche und vielleicht auch psychologische Gründe. Noch einmal wirkt sich hier auch ein Interesse aus, das schon Friedrich Schlegels Anfänge kennzeichnet: das ästhetische. Zur Deutung dieser ästhetischen Seite im Denken Friedrich Schlegels reicht es allerdings nicht aus, sozusagen entschuldigend auf den Dichter und Literaturkritiker der Frühromantik hinzuweisen. Vielmehr empfiehlt es sich, zwei Begriffe einzuführen, deren einer mehr in die psychologische und deren anderer mehr in die politische Sphäre gehört: Kompensation und Repräsentation. Vor allem Joachim Ritter und O d o Marquard haben den Begriff der Kompensation, der aus der juristischen, theologischen und anthropologischen Diskussion kommt, auf die Geisteswissenschaften angewandt und diese insbesondere in ihren historischen und philosophischen Disziplinen als das „Organ" der Gesellschaft bezeichnet, das, so Ritter, deren „Abstraktheit und Geschichtslosigkeit ausgleichen k a n n . " 3 0 Eine solche Operation hätte nun allerdings, würde sie den Prozeß der Versachlichung und Enthistorisierung, der die Moderne seit Rene Descartes kennzeichnet, nur begleiten, durchaus etwas Sekundäres und bloß Kosmetisches. Eine andere Situation ergibt sich erst dann, wenn es möglich ist, speziell im Ästhetisch-Sinnlichen den ebenbürtigen — und, wenn man so will, natürlich zugleich auch kompensatorischen — Gegenpol zu einer primär nicht historisch fundierten Abstraktion zu sehen, die sich zu Unrecht als 29
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Zitiert nach Fester: Rousseau und die deutsche Geschichtsphilosophie (Anm. 12), S. 191, Anm. 1. Joachim Ritter: Die Aufgabe der Geisteswissenschaften in der modernen Gesellschaft. In: Ders.: Subjektivität. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1 9 7 4 , S. 1 0 5 140; Odo Marquard: Kompensation. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. von J o a c h i m Ritter und Karlfried Gründer, Bd. 4. Basel/Stuttgart: Schwabe 1976, s.v., hier S. 132.
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allein rational und s a c h a d ä q u a t darstellt und ihre Vertreter durchaus auch innerhalb der Geisteswissenschaften h a t . 3 1 Mit dem U m b a u der sichtbar hierarchisch gegliederten Staatenwelt in eine repräsentativ geordnete — oder, mit Niklas L u h m a n n zu sprechen, mit dem Übergang von der stratifikatorischen zur funktionalen Differenzierung der Gesellschaft 3 2 — hat sich u n e n t r i n n b a r Abstraktion etabliert. Ihre Endstufe ist die a n o n y m e Massengesellschaft, wie sie Alexis de Tocqueville erahnt, die m o d e r n e G r o ß s t a d t , wie sie G e o r g Simmel beschreibt, das weltweite Mediendorf von Marshall M a c L u h a n . Gibt es zu dieser Entwicklung noch eine Alternative oder zumindest eine Gegenkraft? Diese Frage hat sich Carl Schmitt 1923 gestellt, in einer Schrift, die den Titel Römischer Katholizismus und politische Form trägt. Carl Schmitt sieht eine solche mögliche Gegenkraft in der katholischen Kirche. Und dies nicht etwa, weil diese als Institution eine mögliche Kompensation für Modernisierungsschäden böte: Ließe die Kirche sich herbei, nicht mehr als die seelenvolle Polarität der Seelenlosigkeit zu sein, so hätte sie sich selbst vergessen. Sie wäre das erwünschte K o m p l e m e n t des Kapitalismus geworden, ein hygienisches Institut f ü r die Leiden des K o n k u r r e n z k a m p f e s , ein Sonntagsausflug oder S o m m e r a u f e n t h a l t des Großstädters. Natürlich existiert eine bedeutende therapeutische W i r k u n g der Kirche, n u r k a n n darin nicht das Wesen einer solchen Institution bestehen. 3 3
Carl Schmitt zufolge ist entscheidend nicht die Kompensationsfunktion der katholischen Kirche, sondern die Repräsentation: Die politische M a c h t des Katholizismus beruht weder auf ökonomischen noch auf militärischen Machtmitteln. Unabhängig von ihnen hat die Kirche jenes Pathos der Autorität in seiner ganzen Reinheit. Auch die Kirche ist eine „juristische Person", aber anders als eine Aktiengesellschaft. Diese, das typische P r o d u k t des Zeitalters der Produktion, ist ein Rechnungsmodus, die Kirche aber eine konkrete, persönliche Repräsentation konkreter Persönlichkeit. D a ß sie im größten Stil die Trägerin juristischen Geistes und die w a h r e Erbin der römischen Jurisprudenz ist, hat ihr noch jeder zugegeben, der sie kennt. Darin, d a ß sie die Fähigkeit zur juristischen
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Das P a n o r a m a der Debatte, auf die hier angespielt wird, entfaltet sich vielfältig differenziert zwischen den Extremen von H e r m e n e u t i k und Strukturalismus oder, um zwei N a m e n zu nennen, zwischen Ernesto Grassi und Siegfried J. Schmidt. Vgl. Niklas L u h m a n n : Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 1, F r a n k f u r t / M . : S u h r k a m p 1980. Carl Schmitt: Römischer Katholizismus und politische Form. Stuttgart: Klett-Cotta 3 1984, S. 19 f.
Rousseaus Staatsidee u n d ihre Spuren bei Friedrich Schlegel
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Form hat, liegt eines ihrer soziologischen Geheimnisse. Aber sie hat die Kraft zu dieser wie zu jeder Form nur, weil sie die Kraft zur Repräsentation hat. Sie repräsentiert die civitas h u m a n a , sie stellt in jedem Augenblick den geschichtlichen Z u s a m m e n h a n g mit der M e n s c h w e r d u n g u n d dem Kreuzesopfer Christi dar, sie repräsentiert Christus selbst, persönlich, den in geschichtlicher Wirklichkeit Mensch gewordenen G o t t . Im Repräsentativen liegt ihre Überlegenheit über ein Zeitalter ö k o n o m i s c h e n Denkens. 3 4
Im Repräsentativen und Historischen liegt wie bei Novalis die K r a f t des Katholizismus. Carl Schmitt weist, um die M a c h t konkret-persönlicher Repräsentation auch noch in der M o d e r n e zu beweisen, auf Auguste C o m t e hin. 3 5 Dieser hatte den Versuch u n t e r n o m m e n , der katholischen Kirche eine positivistische Gegenkirche entgegenzusetzen u n d die repräsentativen Typen des Mittelalters, den Kleriker und den Ritter, mit d e m Gelehrten und dem K a u f m a n n als Typen der modernen Gesellschaft in eine Reihe gestellt. Carl Schmitt hätte hier ebensogut auf Friedrich Schlegel verweisen k ö n n e n , der in seinem Signatur-Aufsatz von 1820 e x a k t dieselben Stände als Konstituenten des Staates benennt: Das Wichtigste dabei ist die richtige Auffassung jener großen u n d ewigen C o r p o r a t i o n e n , des Staats u n d der Kirche, der Schule und der Gilde, in ihrem gegenseitigen Verhältnis unter einander und zum christlich begründeten Privatleben, wie es auf dem Heiligthum der Ehe beruht, u n d in der Familie uns den A n f a n g und gemeinsamen U r g r u n d aller andern gesellschaftlichen Vereine und Verbindungsformen darbietet. Denn nur in diesem gegenseitigen Verhältniße jener großen H a u p t o r g a n e der menschlichen Gesellschaft, welche keines derselben entbehren, und so wenig o h n e Kirche und Schule, ohne Religion und Lehre, als ohne den Staat u n d die Gilde, ohne Schwerdt und Geld bestehen mag, k a n n auch die eigenthümliche N a t u r und der w a h r e Z w e c k und Begriff, mit einem Wort, das Positive einer jeden von diesen zu Einem politischen Leben so m a n n i c h f a c h und eng verflochtenen vier Systemen und Sphären des gesellschaftlichen Vereins, einzeln richtig verstanden w e r d e n . 3 6
Der Staat des späten Friedrich Schlegel ruht, wie m a n sieht, auf denselben vier G r u n d t y p e n wie bei C o m t e , jedoch anders als d o r t auf einem festen christlich-katholischen Fundament. Friedrich Schlegel bestätigt so aufs schönste Carl Schmitt, der die katholische Kirche als politische Form und Denkweise der a n o n y m e n , d. h. repräsentationslosen R a t i o n a lität der modernen Gesellschaft gegenüberstellt. Sie ist es, die auch Fried-
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Ebd., S. 31 f. Ebd., S. 33. Signatur des Zeitalters (Anm. 17), S. 345.
178
Sebastian Neumeister
rich Schlegel meint, wenn er den modernen Staat im selben Aufsatz beschreibt als d a s S y s t e m e i n e r rein m a t h e m a t i s c h e n , b l o ß m e c h a n i s c h e n u n d m a s c h i n i stischen o d e r aufs höchste g e n o m m e n , d o c h nur dynamischen
Staatsan-
s i c h t , S t a a t s b e h a n d l u n g u n d S t a a t s v e r w a l t u n g , die k e i n e s w e g s a u f j e n e n Z e i t r a u m des e u r o p ä i s c h e n N a t i o n a l k r i e g e s ( v o n 1 7 9 2 — 1 8 1 5 ) b e s c h r ä n k t , s o n d e r n s c h o n ein o d e r m e h r e r e J a h r z e h n d e f r ü h e r im G a n g e w a r , ja a u c h j e t z t n o c h h ä u f i g und m e h r e n t h e i l s h e r r s c h e n d i s t . 3 7
„Auch jetzt noch": Friedrich Schlegel träumt also noch 1820 von einer möglichen Umkehr und Rückkehr zum Ständestaat. Es ist dies eine Vorstellung, die man reaktionär nennen kann oder aber mit Carl Schmitt auch nur konträr — konträr zum modernen Verwaltungsstaat. Auch Novalis dachte im übrigen so, wenn er in Glaube und Liebe den aktuellen preußischen Staat mit dem vergleicht, was er durch die Personen des Königs und der Königin einst werden könnte. Auf der einen Seite steht das Preußen der friderizianischen Staatsreformen: K e i n S t a a t ist m e h r als F a b r i k v e r w a l t e t w o r d e n , als P r e u ß e n , seit Friedrich W i l h e l m des E r s t e n T o d e . S o n ö t h i g v i e l l e i c h t eine s o l c h e m a s c h i n i s t i s c h e A d m i n i s t r a t i o n zur p h y s i s c h e n G e s u n d h e i t , S t ä r k u n g und G e w a n d heit des S t a a t e s seyn m a g , s o g e h t d o c h d e r S t a a t , w e n n er b l o ß a u f diese A r t b e h a n d e l t w i r d , im W e s e n t l i c h e n d a r ü b e r zu G r u n d e . ( F r a g m e n t 3 6 )
Auf der anderen Seite steht das Königspaar, das jene echte Repräsentation ermöglicht und verkörpert, die Carl Schmitt in der katholischen Kirche sieht: E i n w a h r h a f t e s K ö n i g s p a a r ist für den g a n z e n M e n s c h e n w a s eine C o n s t i t u t i o n für den b l o ß e n V e r s t a n d ist. M a n k a n n sich für eine C o n s t i t u t i o n nur, w i e f ü r e i n e n B u c h s t a b e n i n t e r e s s i r e n . [ . . . ] B e d a r f der m y s t i s c h e S o u v e r a i n n i c h t , w i e jede I d e e , e i n e s S y m b o l s , u n d w e l c h e s S y m b o l ist w ü r d i g e r und p a s s e n d e r , als ein l i e b e n s w ü r d i g e r t r e f l i c h e r M e n s c h ? D i e K ü r z e des A u s d r u c k s ist d o c h w o h l e t w a s w e r t h , u n d ist n i c h t ein M e n s c h ein k ü r z e r e r , s c h ö n e r e r A u s d r u c k e i n e s G e i s t e s als ein C o l l e g i u m ?
(Fragment
15)
Novalis ist sich der Andersartigkeit seiner Argumentation durchaus bewußt. Er beschließt dieses Fragment mit dem schönen Satz: W e r h i e r m i t seinen h i s t o r i s c h e n E r f a h r u n g e n a n g e z o g e n k ö m m t , w e i ß g a r n i c h t , w o v o n ich rede, u n d a u f w e l c h e m S t a n d p u n c t ich r e d e : d e m Sprech ich a r a b i s c h , u n d er t h u t a m b e s t e n , seines W e g s zu g e h n u n d sich n i c h t unter Z u h ö r e r f r e m d ist.
37
E b d . , S. 4 3 .
zu m i s c h e n , d e r e n I d i o m
und Landesart
ihm
durchaus
Rousseaus Staatsidee und ihre Spuren bei Friedrich Schlegel
179
Das „Arabisch", das Novalis hier spricht, ist die Sprache der symbolischrepräsentativen Rhetorik, der Fähigkeit zur Form, deren ästhetisches Potential Carl Schmitt einklagt und der modernen Verkennung der Rhetorik gegenüberstellt. 3 8 Die „historischen Erfahrungen" sind das, was die Verfassungsdiskussionen seit Montesquieus Esprit des lois an Modellen und die Geschichte seit der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 an Umbrüchen erbracht hat, die — im anderen Sinne — repräsentative Demokratie als Maßstab aller konstitutionellen Reformen. An sie denkt Novalis, wenn er im 19. Fragment von Glauben und Liebe schreibt: „Ein großer Fehler unserer Staaten ist es, daß man den Staat zu wenig sieht." Novalis löst, um seiner, „der schönsten poetischen Gesellschaftsform" (Fragment 16) Leben einzuhauchen, das Problem der Repräsentation des Staates konkret personal und zugleich ästhetisch befriedigend in der Gestalt des preußischen Königspaares. Auch Rousseau hatte schon das repräsentative Defizit des modernen Staates gespürt. Im Brief an d'Alembert empfiehlt er deshalb der Stadt Genf, statt eines Theaters öffentliche Feste einzurichten. Rousseau spricht dabei zwar auch von der Nützlichkeit solcher Feste für die Arbeitsmoral des Volkes. Vorrangig aber geht es ihm um die Selbstdarstellung des Souveräns, d. h. des Volkes selbst in öffentlicher Repräsentation: Plantez au milieu d ' u n e place un piquet c o u r o n n e de fleurs, rassemblez-y le peuple, et vous aurez une fete. Faites mieux encore: d o n n e z les spectateurs en spectacle; rendez-les acteurs eux-memes; faites que chacun se voie et s'aime dans les autres, afin que tous en soient mieux unis. 3 9
Die Form dieser Feste ist, wie schon das Bild des Festbaums zeigt, noch durchaus konventionell: Bottswettbewerbe auf dem Genfer See, Bälle der heiratsfähigen Jugend — es sind patriotische Feiern wie im alten Sparta und Athen. Friedrich Schlegel, der dritte und letzte in diesem merkwürdigen Bunde, geht nicht ganz soweit zurück. Ihm liegt für seine rückwärtsgewandte Utopie eines christlichen Staates das Mittelalter doch näher als 38
39
Römischer Katholizismus und politische Form (Anm. 33), S. 37—40. Hier ist auch an die Schriften Ernesto Grassis zu erinnern, dem die R e t t u n g des Rhetorischen immer am Herzen gelegen hat (vgl. bes. M a c h t des Bildes, M ü n c h e n : Fink 1979, und: Die M a c h t der Phantasie, Königstein: A t h e n ä u m 1979). C o n t r a t social (Anm. 8), S. 225. Z u r Theorie des Festes vgl. Sebastian Neumeister: Die A u f h e b u n g der Geschichte im Fest. In: H e l m u t Kreuzer/Karl Walter Bonfig (Hrsg.): Entwicklungen der siebziger J a h r e . G e r a b r o n n : H o henloher Druck- und Verlagshaus 1978, S. 3 0 1 - 3 1 0 .
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Sebastian Neumeister
die Antike. Gegen die Zerschlagung der bürgerlichen Gesellschaft in „Staats-Atome oder Individuen", „Gedanken-Constitutionen und Repräsentativschöpfungen", 4 0 setzt Friedrich Schlegel den mittelalterlichen Ständestaat. Es gibt keine andere Rettung, so erklärt er mit dem gleichen moralischen Rigorismus, der auch Rousseau auszeichnet, als wenn m a n sich wieder mehr und mehr anschließt an das Lokale und historisch v o r h a n d n e und begründete Positive, an die Stände und wesentlichen C o r p o r a t i o n e n , welche uns allein, statt der einzelnen Atome und losgebundenen Elemente des aufgelösten Staats, die gesunden organischen Glieder des gesellschaftlichen Körpers und seiner z u s a m m e n w i r k e n d e n Lebensfunctionen darstellen k ö n n e n , und in sich enthalten. 4 1
Es ist, als spräche auch hier der Bürger von Genf. Doch wenn zwei dasselbe sagen, ist es nicht unbedingt dasselbe. Friedrich Schlegel schreibt nicht vor, sondern — nach der französischen Revolution von 1789 — redet in seinem dreiteiligen Signatur-Aufsatz auf über 150 Seiten gegen eine Zeit an, die allen restaurativen Strukturen der Epoche nach d e m Wiener Kongreß längst den Totenschein ausgestellt hatte. Die künstliche Wiederbelebung des Ständestaates aus dem Geist des Christentums bleibt eine politische Vorstellung ohne innere Kraft — nicht Repräsentation, sondern eben doch Kompensation.
40 41
Signatur des Zeitalters (Anm. 17), S. 167. Ebd., S. 167 f.
Richard L. Velkley
Freedom, Teleology, and Justification of Reason On the Philosophical Importance of Kant's Rousseauian Turn
I. The Scope of Kant's Rousseauian Revolution That Immanuel Kant was converted to a fundamentally new view of philosophy and of philosophy's human significance by his reading of Rousseau in the early and middle 1760s is a familiar platitude of intellectual biographies of Kant and of histories of eighteenth-century thought. For several generations scholars were aware that Kant describes this experience in the large body of fragmentary remarks that have become known as the Bemerkungen zu den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, which date from 1764 — 65, and which take the form of marginal notations and interleaved pages within Kant's own copy of his recently published moral-aesthetic treatise on the beautiful and the sublime. Yet before Gerhard Lehmann prepared a complete edition of these Bemerkungen for the twentieth volume of the AkademieAusgabe of Kant's works in 1942, they were not central to scholarly examination of the origins of Kant's mature philosophy. 1 Indeed they were hardly cited in such studies, apart from a few famous passages, such as the autobiographical one beginning "Ich bin selbst aus Neigung ein Forscher," which credits Rousseau with having Kant "zurecht gebracht." Ernst Cassirer's often insightful suggestions about the Rous-
1
See Lehmann's edition with philological-historical i n t r o d u c t i o n in Kants gesammelte Schriften, volume 20. Preußische Akademie der Wissenschaften. Berlin: Walter de Gruyter, 1902 f, pp. 1 — 192. See also M a r i e Rischmüller's recent annotated edition of the Bemerkungen in: R. Brandt and W. Stark (eds.): Kant-Forschungen, volume 3. H a m b u r g : Meiner Verlag, 1991. This edition offers a scholarly a p p a r a t u s that will be of great value to f u r t h e r research and reflection. Unfortunately it appeared after I had completed my book (vgl. Fn 4).
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Richard L. Velkley
seau-Kant relation did not a t t e m p t to come to terms with the Bemerkungen as a whole, and he did not reach the deepest levels of interpretation. 2 N o t until the 1960s did Josef Schmucker and Dieter Henrich, on the basis of the necessary study of the entire body of fragments, advance the thesis that the first of Kant's Copernican Revolutions occurs in the mid-1760s, when Kant discovers t h r o u g h Rousseau the new moral principle of self-legislative a u t o n o m y . 3 T h e basis of moral consciousness is a self-given law inherent in reason rather than a law taken f r o m an external natural or divine source — a conception clearly much indebted to Rousseau's volonte ge^rale. In other words Kant arrives at the most basic concepts of his moral philosophy well before he formulates the arguments of the theoretical critique. Indeed one could say that Kant is a critical philosopher in the theory of practical reason before becoming a critical philosopher in the account of theoretical reason some time after 1770. Even so, matters could not be left at this i m p o r t a n t insight. Henrich realized that the idea of self-legislative rationality, as first formulated for morality, must have had some productive role in the theoretical notion of a Verstand that spontaneously legislates over the realm of sensibly-given p h e n o m e n a , thus making possible the p u r e laws of n a t u r e and the transcendental criticism of metaphysics. In b o t h the realms of moral practice and theoretical knowledge, h u m a n reason does not follow nature's "leading-strings" (Leitbände) but rather determines f r o m itself the order of universal and necessary principles. And it is fair to say that this is in spirit a fundamentally Rousseauian conception. T h u s the Bemerkungen indicate that the self-legislative will of the Contrat social supplies Kant with a highly fertile m e t a p h o r for reason in general. But m o r e is at stake in the relation of Rousseau to Kant than a " m e t a p h o r " ; one 2
3
In addition to the various writings of Cassirer on Rousseau and Kant, early discussions of the Rousseau-Kant relation include K. Dieterich: Kant und Rousseau. Tübingen, 1878; H a r a l d H ö f f d i n g : Rousseaus Einfluß auf die definitive Form der Kantischen Ethik. In: Kant-Studien 2 (1898); Klaus Reich: Rousseau und Kant. Tübingen: J. C. B. M o h r (Paul Siebeck), 1936; Paul Art h u r Schilpp: Kant's Pre-Critical Ethics. Evanston a n d Chicago: N o r t h w e s t ern University Press, 1938. Joseph Schmucker: Die Ursprünge der Ethik Kants in seinen vorkritischen Schriften und Reflektionen. Meisenheim am Glan: A n t o n H a i n , 1961; Dieter Henrich: H u t c h e s o n und Kant. In: Kant-Studien 49 (1957/58), pp. 4 9 - 6 9 ; Uber Kants früheste Ethik. Versuch einer R e k o n s t r u k t i o n . In: Kant-Studien 54 (1963), pp. 4 0 4 - 3 1 ; Über Kants Entwicklungsgeschichte. In: Philosophische R u n d s c h a u 13 (1965), pp. 252—63.
Freedom, Teleology, and Justification of Reason
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needs to locate m o r e exactly the features of Rousseau's accounts of reason and of will that move Kant t o w a r d decisive features of his m a t u r e critical philosophy. I have attempted to supply this m o r e detailed interpretation in the f o r m of a theoretical reconstruction of a p p a r e n t lines of argumentation extending f r o m Kant's reading of Rousseau's pre-1764 m a j o r works (the t w o Discours, Contrat social, Emile, Nouvelle Helo'ise) to the treatises in critical philosophy of the 1780s. W h a t I have p r o p o s e d is still only a beginning. 4 Briefly I wish to state n o w some of the m a j o r points of my reconstruction. My claim is that Rousseau's i m p o r t a n c e for Kant after 1764 goes beyond providing the self-legislative model for practical, and m o r e derivatively, theoretical rationality. And also that it goes beyond providing a certain moral impetus, or a new enthusiasm for a moral conception of humanity, to motivate the activity of theoretical science. M o r e f u n d a mentally, Rousseau proposes to Kant a way of thinking a b o u t the justification (Rechtfertigung) of reason, as whole. This issue of justification is inseparable f r o m the issue of the end, Zweck, or telos of reason. Both of these issues are at the heart of m o d e r n philosophy since its seventeenth-century beginnings; the revolution that Rousseau initiates in Kant's thinking a b o u t them is still evident in the post-Kantian f o r m s of G e r m a n Idealism and is even a p p a r e n t in later E u r o p e a n philosophy of the post-Idealist era. I shall proceed in the following way. First I shall offer a very b r o a d characterization of the problem of the justification of reason in the m o d ern era; I will then give a brief account of w h a t Rousseau contributes to thinking a b o u t this problem; and then I shall discuss some of the most important aspects of Kant's t r a n s f o r m a t i o n of Rousseau's contribution. Finally I shall m a k e some very general observations a b o u t implications of all of this for later E u r o p e a n philosophy.
II. The Justification of Reason in Modernity W h a t Nietzsche says of G e r m a n philosophy f r o m Leibniz to Hegel can be said of modern philosophy f r o m Descartes o n w a r d : its central p r o b lem is the apparent homelessness of h u m a n reason in the universe, and 4
R. L. Velkley: Freedom and the End of Reason: O n the M o r a l F o u n d a t i o n of Kant's Critical Philosophy. Chicago and L o n d o n : University of Chicago Press, 1989.
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R i c h a r d L. Velkley
its chief effort is to demonstrate that reason is "at home," in spite of all the imposing evidence to the contrary. 5 One can call this demonstration a theodicy or justification of reason; such a justification starts from the opinion that reason has no clear cosmological grounding, in nature or the divine. Indeed it proceeds from the opinion that human reason seems unable to fulfill its inherent purpose and function, due to a lack of such grounding. The justification that would give a new kind of grounding for reason is addressed not only to philosophers but to the larger culture which is deeply affected by the belief that reason is lacking such grounding and that its beneficence is in question. Modern discussions of reason thus differ from premodern both by starting from the thesis of the apparent unpurposiveness of reason, and by confronting that thesis with a refutation that supplies a universal foundation for all of human culture, thus erecting a unifying telos for reason. The similarities and differences between this project and the confrontation of Socratic thought with sophistical skepticism, cannot be addressed here. 6 Let it be said simply that the modern "apologies" for philosophic reason, unlike the Socratic, attempt to demonstrate on a new "methodological" basis the unproblematic beneficence or "utility" of such rationality to universal human welfare. This demonstration is the core of Baconian doctrine, and it remains the foundation of modern Enlightenment (Aufklärung). Descartes inaugurates the modern turning to self-consciousness as the source of this grounding of universally practical and methodological reason. In this grounding reason cannot be directly and immediately related to nature and the divine, but can be only mediately related to them, through the autonomy of a human self-reflection that apprehends its own principles with clarity and distinctness, and then only on that basis, elaborates its cognitive access to nature and the divine. The Archimedean point of self-reflection is immune to the doubt that arises from the apparent lack of natural and divine guarantees for the efficacy of reason, and provides an immanent basis for the methodical construction of an infinitely extensible order of human knowledge. That basis was developed in the great rationalist metaphysical systems of Spinoza and Leibniz, who in turn bequeathed crucial elements to the metaphysical problematic addressed by Kant and German Idealism.
5
F . N i e t z s c h e : W e r k e in drei B ä n d e n , v o l u m e 3 . Κ . S c h l e c h t a (ed.): M u n i c h : C a r l H a n s e r , 1 9 6 6 , p. 4 6 4 .
6
See by the a u t h o r : O n Kant's S o c r a t i s m . In: R . K e n n i n g t o n (ed.): T h e Philoso p h y o f I m m a n u e l K a n t . Studies in P h i l o s o p h y and t h e H i s t o r y o f P h i l o s o -
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I must make one rather obvious remark about this justification of reason before proceeding further. The effort to justify reason is a philosophical inquiry at the most fundamental level, and cannot be simply identified with progress in the theory of the natural sciences and in their practical applications, nor with advances made in the areas of metaphysica specialis, that is, rational knowledge of God, the soul, and the world. For all such inquiries presuppose the validity of the most basic metaphysical and ontological concepts, and it is precisely these which are in question in the project of justifying reason. 7 This project cannot presume the existence of a fundamental science that supplies the principles for all the sciences. The justification aims instead at the primordial creation of such a foundational science. One does not ordinarily think of Rousseau as offering major insights and innovations in such foundational and ontological inquiries. Yet Rousseau certainly believes that he has made a revolutionary advance in the understanding of the essence of the human, and such an advance, if it is genuine, must have immediate consequences for foundational thinking about human reason and its place in the whole of things. And it was precisely in this spirit that Kant receives, absorbs, and modifies Rousseau's thinking. One can indicate the significance of Rousseau by saying that he contributes a new concept of freedom to the ontological categories that must be justified in the theodicy of reason. Before moving to Rousseau's contribution I must mention that the foundational justification of reason in modernity is inseparable from the ideas of unity, teleology, and (mostly overlooked) metaphysical eros. Already for Descartes the establishing of the unity of human reason, or the unifying power of its basic principles for all spheres of knowledge, is crucial to the overcoming of the disputes and pernicious "dialectic" that threatened confidence in reason. At the same time, a certain universal end or telos is implicit in the establishing of this unity, that is, a common goal to which all uses of human reason contribute, and in relation to which the unity comes to light. One can say that this is an overarching concept of the human good. Descartes leaves the essential teleology of his project, i.e., his notion of the human good, somewhat
7
phy, volume 12. Washington, D . C . : Catholic University of America Press, 1985, pp. 8 7 - 1 0 5 . For the ontological problem underlying the modern scientific-methodological foundations see M . Heidegger: Die Zeit des Weltbildes. In: Holzwege. Frankfurt/M: Vittorio Klostermann, 1950, pp. 6 9 - 1 0 4 .
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obscure, while indicating its centrality for his intended reform of philosophy. It is Leibniz w h o elaborates the most impressive early modern teleology of reason through a modification of Cartesian principles which a c c o m m o d a t e s them to elements of scholastic f o r m s and potentialities. T h e dynamical notion of a universal appetite or conatus in all substance, which is basic to this Leibnizian reconciliation, already contains the third essential idea, that of metaphysical eros. Rousseau's contribution to m o d e r n philosophy is comparable both in p u r p o s e and influence to that of Leibniz, for Rousseau offers a crucial insight a b o u t the nature of metaphysical eros in the h u m a n species. This is an insight which connects metaphysical eros to freedom, and which also reveals some f u n d a m e n t a l weaknesses in the earlier m o d e r n justifications of reason. It is through this insight that Rousseau becomes the founder of G e r m a n Idealism and of its new f o r m of the justification of reason.
III. Rousseau on the Teleological Problem of Reason Rousseau alters the m o d e r n justification of reason by radicalizing the problem of the purposiveness of reason. Whereas earlier modern justifications partially, if precariously, retain a cosmological grounding of reason, albeit chiefly by way of derivations f r o m self-consciousness, Rousseau introduces new considerations which m a k e all "naturalness" of reason quite doubtful. H e questions not only the naturalness that is proposed in the modern rationalist doctrines, but also the more limited naturalness f o u n d in the leading doctrines of the British and French Enlightenments. In the anthropological empiricism of these latter doctrines, reason is restricted to being the mere servant of the inclinations and passions, so that it exists only as an instrument to assist the needs of h u m a n nature, and has no other cosmological grounding. Rousseau exposes a flaw c o m m o n to both the rationalist and empiricist accounts of reason, and in so doing, prepares the ground for G e r m a n Idealism. T h e premise c o m m o n to the earlier m o d e r n justifications of reason can be expressed as follows: in spite of the doubtfulness of all p r e m o d e r n teleology, it is still the case that h u m a n reason can discern a natural order of some kind (even if that is only the enduring natural order of h u m a n needs), and can bring itself into correspondence with that order, which exists independently of its o w n legislation or construction. T h r o u g h this establishment of accord between reason and the natu-
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ral order, the h u m a n species can overcome the most basic errors or illusions of h u m a n life, and thereby enhance its well-being. Rousseau breaks with this whole tradition of looking f o r some n a t u ral grounding of h u m a n reason as the corrective to h u m a n ills. His argument is that reason, far f r o m being the a d e q u a t e and reliable m e a n s for the apprehending and securing of a natural order w h o s e observance overcomes h u m a n ills, is itself the true origin of those evils t h r o u g h its introduction of self-refectiveness into the previously " i n n o c e n t " and prereflective h u m a n situation. Primordial n a t u r e has been c o r r u p t e d by reason; the natural order as prereflective can never be recovered in its original purity by philosophic inquiry. In order to grasp the genuine condition of h u m a n well-being, one must a t t e m p t to reconstruct a p r e r a tional condition; this is clearly a problematic enterprise. In his hypothetical reconstruction of h u m a n history and of the origins of social life, Rousseau ascribes a temporal origin for h u m a n reason, and indeed proposes a more radically historical view of h u m a n reason t h a n f o u n d in any earlier writer. As a radically historical or malleable p o w e r , rooted in h u m a n perfectibility, reason c a n n o t bring itself into c o r r e s p o n d e n c e with an independent order of nature. Indeed reason's very essence is the perpetual flight and deviation f r o m the only truly natural order, t h a t of the prerational condition. All readers of Rousseau are familiar, as was k a n t in 1764, with the details of the account of the emergence of h u m a n rationality given in the Discours sur l'origine de l'inegalitd. T h e decisive features are imagination, curiosity, and fear of the future, which were u n k n o w n to other animals and t o h u m a n s prior to their development of the capacity to invent general ideas. T h a t is to say that prerational sentient beings live wholly in the present, and their desires and needs press on them only in the f o r m of immediate and present urgencies. T h u s prerational h u m a n s experienced the sustained pleasure, which is truly natural, of the sentiment d'existence, a certain restful c o n t a i n m e n t w i t h o u t distraction (other than passing wants) within the present m o m e n t . But rational humans, with their active imaginations that constantly tear t h e m a w a y f r o m the present m o m e n t , seldom if ever have this pleasure. Instead they are immersed in restless efforts to allay their f u n d a m e n t a l anxieties a b o u t mortality and other f u t u r e , as well as past, evils. T h e curse of reason is the temporally-projective imagination which gives the past and f u t u r e as m u c h , if not more, reality than the present. It should also be mentioned that the same t e m p o r a l projection of reason is essential to the growth of needs that m a k e h u m a n beings dependent on one a n o t h e r
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Richard L. Velkley
for their satisfaction. Hence human sociality, and the passions connected with sociality such as love, hate, honor, envy, and revenge, arise through the same curse, and are the most dramatic evidence of the tendency of reason to produce endless complications that forever destroy original simplicity and contentment. In Rousseau's analysis, reason as temporally projective is unable to recover the original contentment of unreflective sentiment; as we can see in the autobiographical writings, Rousseau's efforts to reestablish the quasi-divine self-sufficiency of the natural condition, through states of revery and recollections of such states, always bear the hallmarks of rational life and its anxieties. One can say that the striving to attain a state of perfect rest is paradoxical and self-defeating, because it can never wholly forget the evils which it seeks to overcome. The striving presupposes the remembrance of evil, without which there would be no striving. T h e striving must attempt to annul this remembrance, but cannot seek that annihilation without simultaneously recreating the memory. Rousseau thinks that true happiness, as a sustained condition, is simply unavailable to rational and socialized humanity. Reason cannot establish a secure correspondence between human willing and natural order, because all rational efforts bring about disequilibrium. That is to say, whereas our natural contentment consists in being wholly contained within the present moment, reason, even when it seeks only to create that contentment and nothing else, places inevitably the present moment within a context of recollections and anticipations that remove the mind from the present moment.
IV. Freedom as the Foundation of a Unifying Telos Some aspects of Rousseau's account of reason as destabilizing and limitlessly expansive, through being temporally projective, are of great importance for German Idealism. O f course earlier thinkers, most notably Hobbes, write about the inherent restlessness and expansiveness of human passions, in particular the passions for power and honor. But they attribute such restlessness to an enduring human nature, and not specifically to innovations of reason. This is the meaning of Rousseau's complaint that earlier theorists did not uncover the true state of nature, since they ascribe to that state certain passions which can only be ascribed to the temporal projection of reason. Therewith Rousseau characterizes
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reason as having a kind of spontaneity that goes well beyond the s p o n t a neity that one finds in Leibniz, where a certain perpetual striving for more adequate perceptions is a feature of all substances, h u m a n and n o n - h u m a n . Reason is accorded by Rousseau the function of introducing the whole t e m p o r a l and passionate world of h u m a n experience — the peculiar h u m a n "lifeworld" of temporal openness and anxiety — which otherwise would have no existence in nature. Surely reason in Rousseau's account finds nothing in n a t u r e corresponding to its o w n s p o n t a neity. This is h u m a n reason's great misfortune, but in another sense, it is its dignity as well. O n e could say that Rousseau discovers the later modern notion of the historicity of h u m a n existence. T h e historicity of h u m a n reason's constant projection of a changing t e m p o r a l horizon is evidence of a certain lack of natural determination which is n o w h e r e found in the rest of nature. Of course it is equally true that this peculiar dignity of the h u m a n is the souce of uncertainties and conflicts u n k n o w n outside the sphere of h u m a n culture. Such considerations indicate h o w Rousseau thus offers a new approach to metaphysical eros, which is more or less explicitly a central concern of the G e r m a n philosophers after Rousseau. It is n o w clear t h a t reason is the creator, for good or for ill, of the ideas of wholeness and totality that are the objects of the most passionate h u m a n strivings. These ideas d o not have a f o u n d a t i o n in an independent natural order; they are spontaneous projections of reason. Of course one must here think of Kant, whose revised notion of the Platonic idea, as a projected totality of reason, is most certainly indebted to Rousseau, as several passages in lectures and in the Nacblaß reveal. Just as reason does not fulfill itself through correspondence to a natural order, it also c a n n o t restrict itself to being the mere instrument for the satisfaction of desires. For in the most f u n d a m e n t a l respect reason itself originates the peculiarly h u m a n passions and longings which it in turn tries to satisfy. In this way the totality sought by these longings is delusive, to the extent that while the temporally projective striving of reasons pursues totality, it also compels the perpetual receding of the horizon. As temporally conditioned beings, we can never attain the totality or the unconditio n e d whole whose very idea is instituted by the same reason that institutes the temporal conditions of its o w n activity. H u m a n reason, therefore, is inherently dialectical. T h a t is to say that metaphysical eros is dialectical. This is w h a t earlier m o d e r n justifications of reason missed. They justified reason by bringing it into some relation with a unified and p u r p o s -
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ive natural totality. Rousseau, however, reveals that these earlier modern foundations for a coherent culture of reason are vitiated by overlooking the dialectical nature of the eros of reason which projects such notions of unity and teleology. The modern Enlightenment, in other words, has not seen that the progress of reason is delusive, to the extent that all progress in rational powers and instruments to satisfy desire, produce new desires and therewith new dependencies and inequalities that render more difficult all projects of satisfaction. Accordingly Rousseau is pessimistic not only about the progressive aspirations of modernity, but also about the feasability of the philosophic life as a quest for totality of understanding. The philosopher, just as much if not more than the ordinary citizen, experiences constant alienation, since his rational activity always projects a goal that exceeds his powers of attainment. Yet in spite of the obvious pessimism of this account of the selfalienating eros of reason, Rousseau's novel doctrine contains, in the eyes of Kant and the other Idealists, the basis for a new justification, or theodicy of reason. It is a basis that the German philosophers regarded as not being sufficiently perceived and exploited by Rousseau himself. This basis is precisely the view which has, prima facie, a mostly negative significance, namely, that human reason is itself the primary origin of evils. The other side of this view, however, is that human evils arise from the freedom and spontaneity of the human, rather than from some incorrigible and permanent extra-human source, natural or divine. Thus what reason itself introduces into the universe, it alone is able to correct. And it should indeed possess this power of correction, since what it must improve, or legislate over, is itself, rather than an independent reality. Rousseau outlines certain programs of rational self-correction, most notably the political legislation of the Contrat social, and the moral education of Emile. All the same, Rousseau understands such corrections to be only ameliorations of an essentially unsatisfactory condition, that of socially and intellectually corrupted humanity. It was clear to him that such improvements could never recreate the condition of true human contentment. But this position on the unatteinability of pure natural contentment is compatible with the position that all of the good which is attainable by corrupted humanity is the work of freedom. Already Rousseau's thinking contains, implicitly, the Idealist doctrine which is stated most explicitly by the post-Kantian Idealists: the beginning and the end of all philosophy is freedom. 8 8
F. W. J . Schelling: V o m Ich als Prinzip der P h i l o s o p h i e . In: K. F. A. Schelling (ed.): Schelling, S ä m m t l i c h e W e r k e , 1/1. S t u t t g a r t : C o t t a , 1 8 5 6 - 6 1 , p. 1 7 7 .
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Kant himself states this notion in a milder form when he characterized freedom as the keystone to the arch of the whole system of philosophy. The moment at which Kant grasps this possibility is not 1788, the date of the Kritik der praktischen Vernunft, but 1764—65, the date of the Bemerkungen. Already at the earlier date, Kant writes of freedom as the Archimedean point which, unlike natural inclination, is able to move the will. 9 Human reason, with its capacity for the spontaneous origination of ideas and purposes, possesses an inherent dignity that inspires respect, and that can function, without other determinative content, as a motive for moral action. The interest in the preservation of the capacity for free rational action in onself and others is sufficient to motivate the will for benevolent deeds. At the same time, Kant declares that it is only human freedom which makes the situation of human beings intolerable, and which causes them to make complaints, quite unjustly, about the order of Providence. In other words, Rousseau shows the way to a new theodicy: human beings experience no evil but what they themselves have caused, and hence complaints directed at nature and God are not in order. The good that humans seek and the evil that they despise are not to be grounded in something alien to the human soul. Rousseau compels a turning inward, away from dogmatic groundings of good and evil, toward a self-knowledge that discloses the hitherto unnoticed projective power of human reason. By turning back to themselves, and discovering the sources of good and evil in themselves, human beings also come closer to recovering a primordial unity with themselves. For the basis of all alienation and disunity within the self is the opinion that good and evil lie outside the will or the self, in the objective realms of nature and God.
V. The Dialectical Basis of the Critical System One might still think that these Rousseauian reflections of Kant in the 1760s are far removed from the concerns of the great Kritiken. Yet it should be noted that in the Bemerkungen Kant ventures, for the first time, the definition of metaphysics as "science of the limits of human
9
Bemerkungen. In: Kants gesammelte Schriften, v o l . 2 0 , p. 4 6 , lines 11 — 15 and p. 5 6 , lines 3—5.
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r e a s o n . " 1 0 As these fragments and other writings of the later 1760s show, Kant increasingly sees the basic theoretical p r o b l e m of reason to be the disequilibrium within rational powers, or in other terms, the failure on the part of reason to conceive adequately the relation between the subject and the objects of possible knowledge. T h e f u n d a m e n t a l dialectical errors which lead to skepticism are not due to the inherent confusedness of the h u m a n understanding preventing the achievement of a divine clarity and adequacy of perception. Instead, h u m a n discursive reason is wholly different in kind f r o m a divine intuitive reason, for the h u m a n m o d e of intuition is receptive rather than productive. All the same, h u m a n reason is capable of a certain order and self-sufficiency on its o w n plane, and of a m o d e of activity that is wholly sufficient to its o w n needs. But to attain this salutary order h u m a n reason must a b a n d o n the quest for knowledge of totality a p p r o x i m a t i n g the divine apprehension of the whole. If h u m a n reason, through a t h o r o u g h self-critique, determines the true range of its powers, and abides within that range, it will achieve a condition of certainty and self-unity, free of dialectic and skepticism. This Kantian conception of the 1760s, which is the beginnings of the critical account of the dialectic of reason and of its overcoming t h r o u g h transcendental self-examination of reason, is surely indebted to Rousseau's account of the dialectic of h u m a n reason in terms of the disproportion between desire and power, or between projected ultimate ends and the means for attaining them. Again, the disproportion is inherent only in h u m a n reason or will. Hence self-knowledge is needed above any other kind of knowledge. In Kant's terms, metaphysical error is rooted in a rational self-ignorance, rather than in some other feature of the universe, such as a malevolent n a t u r e or deity. Of course this means that our h u m a n reason suffers a peculiar fate, that of being compelled to raise questions which it is unable to answer. Yet when the same reason, t h r o u g h critical self-analysis, discovers that the unanswerable questions are actually poorly formed questions, based on false conceptions of the relation between rational spontaneity (i. e., in producing ideas of totality) and the conditioned realm of sensibility — then it can understand that it was in pursuit of mere illusions. H u m a n reason can then learn to rest content with the awareness that the true unconditioned totality which it seeks corresponds to the f r e e d o m of the self-determining will, and is not to be f o u n d in a theoretical cognition of a supersensible realm. Kant already 10
Bemerkungen. In: Kants gesammelte Schriften, vol. 20, p. 181.
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sketches this conception of h o w h u m a n reason should satisfy its striving for knowledge of absolute wholes through moral, rather than theoretical, insight, in the 1766 treatise Träume eines Geistersehers, which reveals the immediate effect of the reading of Rousseau. 1 1 The Rousseauian structure of critical thought is already emerging in the later 1760s, as a three-part structure: (1) the account of metaphysical eros, or projective spontaneity, of reason as the source of the ills of dialectic and of the disproportion between reason's goals and its powers; (2) the turn to a self-correction or reason in order to discover a truly livable condition of humanity within self-imposed limitations; (3) the resulting insight of the falsity of dogmatic efforts to locate the good in something beyond the will itself, which insight, in the terms of the critical philosophy, means the replacement of precritical theoretical totality with the projects of practical reason. For only the practical f o r m of the unconditioned can satisfy the erotic need for totality without generating dialectic. The three-part structure indicates how reason is actually a truer unity, or system, than previous philosophy had seen. For one can n o w see that metaphysical error, and resulting skepticism, are due in a sense only to freedom, or to a misuse of the h u m a n faculties. And thus when reason arrives at a satisfactory position in metaphysical matters, it is only correcting its own dialectic illusions, rather than settling for a best possible approximation to divine insight. Reason's activity is both the origin and the conclusion of the metaphysical problematic; as Kant says in the first Kritik, in transcendental inquiry reason has to deal only with itself. In one of the last chapters of that Kritik, the "Kanon der reinen Vernunft", Kant comes very close to saying that the activity wherein reason is dealing only with itself, is freedom. For he there argues that the sole purpose of the striving for the unconditioned, which initiates the theoretical dialectic and necessitates self-critique, is to realize the practical ends of morality, as it strives to create a moral world. T h r o u g h theoretical dialectic, freedom is only struggling to realize itself. T h u s when Fichte and Schelling understand reason in a more deeply unitary way than Kant, identifying the practical and theoretical more strictly, they are nonetheless following out Kant's own sketch of a systematic self-ordering of reason. But one must also not overlook the profoundly Rousseauian foundation of such moves: for it is Rousseau w h o introduces the idea,
1
T r ä u m e eines Geistersehers erläutert durch T r ä u m e der M e t a p h y s i k . In: Kants gesammelte Schriften, vol. 2, pp. 315 — 373.
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crucial for all German philosophy, that reason is inherently a problematic erotic force seeking, through manifold forms of alienation constituting human history, to achieve self-unity.
VI. After Rousseau: The Project of Restoring Wholeness As a final brief observation on what all of this implies for later philosophy, I note that Rousseau establishes the fundamental theme of the Idealist, Romantic and phenomenological-existential criticisms of the rational Enlightenment (and more generally of the modern era) as a project aiming at progressive rational mastery of nature and the human situation. That is, he initiates the attitude that civilization is above all threatened by its own rational basis, or that reason itself, as striving for tyrannical mastery of the whole of things, is the most dangerous, errant, and destructive force in the whole. Reason is that factor in the cosmos causing loss of human wholeness. It is surely with inspiration from Rousseau that Schiller, Hölderlin, Schelling and Hegel develop their complaints against alienating, fragmenting and objectifying forms of modern rationality that prevent the attaining of the vitality, unity and wholeness of true human culture. But it has not been remarked that this Rousseauian element is also present in Kant's account of the dialectic of speculative reason as a kind of "injustice." Kant argues that earlier philosophy failed to uncover a satisfactory justification or grounding of reason, because it looked in the wrong place for the cause of the dialectical errors of reason. It did not turn to reason's own pretensions to knowledge of things in themselves — hence to reason's injustice — as that cause. Kant's "critical" account of reason as the problematic force striving for unachievable ends, and thus as instigating an injurious dialectic harmful to culture as a whole, is first formulated in the Bemerkungen where its Rousseauian sources are evident. So it is more than an accidental terminological fact that Kant describes the problem of deducing the legitimacy of the categories as a problem of justice. The question is with what right, quid juris, or with what legitimacy (Rechtmäßigkeit), reason uses the metaphysical categories in pursuit of its deepest interest, the achievement of wholeness. In various ways German Idealism after Kant, and major later figures such as Nietzsche, Bergson, Husserl, Scheler and Heidegger, remain preoccupied with this problem of the justice of the metaphysical demands
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or "urges" of reason — and usually in connection with the abandonment of the projects of traditional metaphysical and epistemological justifications. The self-correction of human rationality then replaces inquiry into the suprahuman natural or metaphysical order, as that activity satisfying the innermost demands of the human spirit. From various standpoints reason as discursive, logical, scientific, calculative, and technological — pathologies ultimately deriving from the Greek metaphysics of the rational logos — is accused of betraying the primordial wholeness of being. Theoretical inquiry must be subordinated to the recovery of a prescientific and mythopoetic stance toward nature, with a sense of man's place as "embedded" rather than as dominant within the whole. Culture, under the guidance of new forms of philosophpy, undertakes self-redemptive therapies of reason, which would bring reason into better accord with whatever is regarded as soundest and deepest in our existence: freedom, the unconscious, the erotic will, the prescientific life-world, or the unobjectifiable disclosures of Sein. Each cure would overcome the inherent injustice of reason — which Nietzsche called the revenge of concepts and logic against the "innocence of becoming" — for the sake of a new and more harmonious beginning of human history. All of this is to argue that the metaphysical eros of human reason cannot be justified in terms of ontological knowledge, but that it can attain a supratheoretical justice precisely on the basis of abandoning the search for ontological knowledge. In this way ontology is itself transformed. Knowledge of being is replaced by the authentic, or just and legitimate, self-relation of human freedom toward its own finitude and its radical discontinuity with any divine intellect or cause. Kant's version of this is to give up the traditional metaphysical project bearing "the proud name of ontology," and to replace it with the determination of the highest ends by practical reason as self-legislative freedom. 12 The project of rendering the human relation to being free of the alienation of "onto-theological" metaphysics, is already anticipated in the pregnant utterances of Kant's Bemerkungen: Wenn es irgend eine Wissenschaft giebt deren der Mensch bedarf, so ist es die so ihn lehret die Stelle geziemend zu erfüllen welche ihm in der Schöpfung angewiesen ist und aus der er lernen kann was man seyn muß um ein Mensch zu sein. 13 12
13
Heidegger draws attention to the affinities between his analytic of Dasein as disclosing the ground of human access to beings in the unobjectifiable "preunderstanding" of the temporality of Being, and Kant's account of freedom as the unobjectifiable transcendental condition for any possible use of reason. Bemerkungen. In: Kants gesammelte Schriften, vol. 20, p. 45, lines 17—20.
Wilhelm
Schmidt-Biggemann
Die Freiheit, der Wille, das Absolute Fichte als Aus-denker Rousseaus
I. Rousseaus Begriffsaufschwung zur absoluten Freiheit 1. Der Gesellschaftsvertrag als Verschmelzungsvertrag 2. Politischer Hylemorphismus: Die Metaphorik der Personne 3. Souveränität und Hegemonikon 4. Zwischenruf: Was ist Gleichheit? 5. Die Logik der absoluten Politik
politique
II. Fichtes weltgeschichtlicher Freiheitsimperialismus 1. Der Anspruch des Systems 2. Setzung aus Freiheit 3. Weltgeschichte und Erziehung 4. Nationalerziehung 5. Philosophen als Erzieher oder Idealimperialismus III. Konklusion: Über die Bekömmlichkeit politischer Philosophie
I. Rousseaus Begriffsaufschwung zur absoluten Freiheit F r e i h e i t ist das K a r r i e r e - W o r t d e r n e u z e i t l i c h e n P h i l o s o p h i e , d a s N a c h d e n k e n ü b e r F r e i h e i t h a t seit L e i b n i z e n s T h e o d i z e e i m m e r s t ä r k e r d i e Grenzen der theologischen u n d juristischen D i s k u r s e ü b e r s p r u n g e n u n d h a t sich als d e r K a t a l y s a t o r d e r t h e o r e t i s c h e n u n d p r a k t i s c h e n P h i l o s o phie des deutschen Idealismus erwiesen.1 U n d dabei spielt — f ü r d e n p r a k t i s c h e n Teil z u m a l — R o u s s e a u e i n e e n t s c h e i d e n d e R o l l e . F i c h t e ist
1
Für die Frage des Freiheitsbegriffs Rousseaus in Bezug auf Kants Konzept von Emanzipation und Autonomie vgl. Richard L. Velkley: Freedom and the End of Reason. O n the Moral Foundation of Kant's Critical Philosophy. Chicago 1989.
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derjenige, der den praktischen Begriff der Freiheit — Kant beerbend — aufs rabiateste und radikalste mit der theoretischen Philosophie verknüpft und der zugleich eine Geschichtsphilosophie mit Rousseauschen Politikvorstellungen entwickelt hat. Das möchte ich hier kurz skizzieren.
1. Der Gesellschaftsvertrag als Verschmelzungsvertrag Freiheit ist für Rousseau zunächst die Freiheit des Naturstandes. Soweit ich sehe, ist das die Norm, an der er sein Leben lang orientiert blieb. Nicht nur seine Geschichtstypik, sondern die Freiheit des Gefühls und die Freiheit von Institutionen sind dadurch gekennzeichnet, auch noch, wenn auch auf den ersten Blick nicht so leicht identifizierbar, der Contrat social. War es im zweiten Discours die Frage nach dem Eigentum, die den Sündenfall in die Ungleichheit und damit das Ende der naturständigen Freiheit ausmachte, so geht es im Contrat Social darum, die Gleichheit, die Bedingung der naturständigen Freiheit, gegen die Macht anderer zu verteidigen. (Dabei spielt das Eigentum — anders als im zweiten Discours — keine negative Rolle mehr, es gehört im Gegenteil zu den nun schutzwürdigen Gütern.) Für seine Theorie der Freiheit, die gegen die Macht einzelner zu verteidigen ist, variiert Rousseau die Theorie vom Gesellschaftsvertrag, die die neuzeitliche politische Philosophie geprägt hat wie kaum eine andere. Ziel der Freiheitstheorie: „Wie findet man eine Gesellschaftsform, die mit der ganzen gemeinsamen Kraft die Person und das Vermögen [les biens] jedes Gesellschaftsgliedes verteidigt und schützt, und kraft derer jeder einzelne, obgleich er sich mit allen vereint, gleichwohl nur sich selbst gehorcht und so frei bleibt wie vorher?" 2 Die Wahrung der Freiheit = Selbstgehorsam ist offensichtlich die einzige Legitimation von Staatlichkeit. Folglich muß der Gesellschaftsvertrag so konstruiert sein, daß er die Freiheit wahrt. Rousseau hat dafür folgende Konstruktion: 2
J . J . R o u s s e a u : Vom G e s e l l s c h a f t s v e r t r a g o d e r G r u n d s ä t z e des S t a a t s r e c h t s . S t u t t g a r t 1 9 7 5 , S. 17 (im folgenden zit. als „ E b d . " ) . D a s O r i g i n a l : „Trouver une f o r m e d ' a s s o c i a t i o n qui defende et p r o t e g e de toute la force c o m m u n e la p e r s o n n e et les biens de c h a q u e associe, et p a r laquelle c h a c u n s'unissant a t o u s n ' o b e i s s e p o u r t a n t q u ' ä l u i - m e m e et reste aussi libre q u ' a u p a r a v a n t ? " In: J . J . R o u s s e a u : CEuvres c o m p l e t e s III: D u c o n t r a t social, Ecrits politiques. H r s g . B . G a g n e b i n , M . R a y m o n d . Paris 1 9 6 4 , S. 3 6 0 (im folgenden zit. als „frz.").
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„Jeder von uns stellt gemeinschaftlich seine Person und seine ganze Kraft unter die oberste Leitung eines allgemeinen Willens, und wir nehmen jedes Mitglied als untrennbaren Teil des Ganzen auf." 3 Das ist seine Kernformel des Gesellschaftsvertrags, und Rousseau unterscheidet sich damit von den Vorgängern: Hier geht es um keinen Unterwerfungsvertrag wie bei Hobbes, auch nicht um die Zweiteilung des Vertrages in Zusammenschluß einerseits und Unterwerfung andererseits, wie bei Pufendorf, der damit ein gewisses Widerstandsrecht offenläßt; es geht auch nicht um einen Zusammenschluß unter Vorbehalt, wie bei Locke, der im großen und ganzen von Pufendorf abhängt, und es geht auch nicht um eine ständische Genossenschaft mit Widerstandsrecht wie bei Althusius, sondern um „das gänzliche Aufgehen jedes Gesellschaftsgliedes mit allen seinen Rechten in der Gesamtheit, denn indem jeder ganz sich hingibt, so ist das Verhältnis zunächst für alle gleich [Gleichheitsgrundsatz gegenüber der Macht], und weil das Verhältnis für alle gleich ist, so hat niemand ein Interesse daran, es den anderen drückend zu machen." 4 Die beiden Elemente dieser Konstruktion: 1. Gleichheit als Bedingung für Freiheit; das ist ein durchaus schwieriges Element des Rousseauschen Vertrages. 2. Ebenso spannend — und noch umstrittener — ist das andere Element: das Aufgehen des Einzelnen im Ganzen. Beide Elemente hängen miteinander zusammen: Die Gleichheit wird durch die Aufgabe aller naturständigen Partikularrechte erreicht, jeder ist sozusagen in seiner nackten Menschlichkeit gleich, und nur so gilt der Vertrag für alle. Darauf legt Rousseau größten Wert. Diese naturständige Gleichheit macht es möglich, daß alle Rechte des Einzelnen gleich sind — denn er hat ja nur seine Naturständigkeit — und so als gleiche Rechte in die Staatlichkeit überführt werden. Die juristische und ideologische Folge: Nur so kann der Staat — auch dann, wenn es Differenzen im einzelnen gibt — tatsächlich mein Staat bleiben. Das Ergebnis dieser Konstruktion, in dem der Einzelne auf seine ursprüngliche naturständige Gleichheit zurückgeführt werden soll, um dann neu politisch zu erstehen, ist ein politischer Einschmelzungsprozeß, und der Vertrag ist deshalb ein Verschmelzungsvertrag: „An die Stelle der einzel-
' Ebd., S. 18 f., frz. S. 361: „ C h a c u n de nous met en c o m m u n sa personne et toute sa puissance sous la supreme direction de la volonte generale; et n o u s recevons en corps chaque m e m b r e c o m m e partie indivisible tu t o u t . " 4 Ebd., S. 18, frz. S. 360 f.: „Car premierement, chacun se d o n n a n t t o u t entier, la condition est egale p o u r tous, et la condition etant egale p o u r tous, nul n'a interet de la rendre onereuse aux autres."
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nen Personen jedes Vertragsschließenden setzt solcher Gesellschaftsvertrag sofort einen geistigen G e s a m t k ö r p e r [corps moral], dessen Mitglieder aus sämtlichen Stimmabgebenden bestehen, und der durch eben diesen Akt seine Einheit, sein gemeinsames Ich, sein Leben und seinen Willen e r h ä l t . " 5
2. Politischer Hylemorphismus: die Metaphorik der Personne politique M a n k a n n sich diesen Einschmelzungsprozeß, der zur politischen Metam o r p h o s e in den Staat f ü h r t , d u r c h a u s a n h a n d des naturphilosophischen H y l e m o r p h i s m u s plausibel machen. M a n m u ß sich diesen neuentstehenden politischen Körper so vorstellen, wie m a n sich früher chemische U m w a n d l u n g e n und vollkommene Legierungen und Mischungen vorgestellt hat: Aus den Ingredienzen wird alle Differenz und Form herausdestilliert, übrig bleibt eine Prima materia, eine f o r m b a r e Masse, deren einziges M e r k m a l Formbarkeit ist. Diese Prima materia, diese Masse bek o m m t d a n n die neue — bei Rousseau die politische — Form. Diese neue Form ist zusammengesetzt aus den alten Prädikaten der persönlichen Individualität, aber die neue Form gilt nicht mehr für das Substrat Einzelperson, sondern für den neuentstandenen politisch-moralischen Körper. Alles, was war, bleibt wegen der Prädikatengleichheit irgendwie erhalten und erscheint am politischen Körper doch in ganz neuer Konstellation. Das ist das Los des Staatsbürgers: Er behält nichts von seiner naturständigen partikularen Freiheit. Seine Freiheit erscheint als ganz neu: Der neue K ö r p e r 6 wird „in passivem Z u s t a n d von seinen Mitgliedern Staat, im aktiven Z u s t a n d O b e r h a u p t , im Vergleich mit anderen seiner Art M a c h t genannt. Die Gesellschaftsgenossen führen als Gesamtheit den N a m e n Volk und nennen sich einzeln als Teilhaber der höchsten Gewalt
5
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Ebd., S. 19, frz. S. 361: „A l'instant, au lieu de la personne particuliere de chaque contractant, cet acte d'association produit un corps moral et collectif c o m p o s e d ' a u t a n t de membres que l'assemblee a de voix, lequel re5oit de ce m e m e acte son unite, son moi c o m m u n , sa vie et sa volonte." Ernst Kantorowicz: T h e King's T w o Bodies. A Study in Medieval Political Theology. Princeton, N.Y. 1957, stellt die alte R e c h t s f o r m dar. Vgl. auch Ε. Kantorowicz: Kaiser Friedrich der Zweite, Berlin 3 1931.
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Staatsbürger und im Hinblick auf den Gehorsam, den sie den Staatsgesetzen schuldig sind, Untertanen." 7 Das Leben dieses Körpers wird ganz nach vormechanischer Biologie als Habitus beschrieben: Ein Habitus hat ein aktives und ein passives, rezeptives Moment. Dadurch lebt er. (Ζ. B.: Photosynthese des Chlorophylls. Passive Fähigkeit: Rezeptivität für Mineralien und Licht. Aktivposten: Assimilation; Herstellen von Lebenskraft zu Wachstum und Gedeihen.) Rousseaus Metaphorik der Personne publique erfüllt vollständig die Merkmale einer vormechanistischen Lebenstheorie, und das gilt auch für die Frage nach dem Willen; denn der Wille der Personne politique, die Volonte generale, entspricht genau der Lebenskraft, die in dem Verschmelzungsprozeß einer lebendigen Form die alten Parikularkräfte bündelt und zum Leben bringt.
3. Souveränität und H e g e m o n i k o n Bei seiner politischen Metaphorik kommt Rousseau entgegen, daß in den antiken Definitionsmerkmalen das Charakteristikum einer Sache Hegemonikon, das Mächtige, genannt wird; das Hegemonikon der Person ist juristisch und natürlich der Wille: Wille ist Definitionsmerkmal der Person, Vernunft ist Definitionsmerkmal der Gattung. 8 Das Hegemonikon
von Rousseaus Personne publique
ist die Volonte generale.
Sie ist ent-
standen aus der Assimilation aller Partikularkräfte der naturständigen Personen zu einem homogenen Kraftstrom, der für sich politische M o r a lität beansprucht. Entscheidende Präzision in der Metaphorik des Staates als lebendem und moralischem Wesen 9 ist der Begriff des Willens, der sich zur Doppeldeutigkeit des Hegemonikon trefflich fügt. Das Aufgehen des Einzelnen im Ganzen ist also Teilhabe am Leben und an der Kraft,
7
Wie Anm. 4, S. 19, frz. S. 361 f.: „Cette personne publique qui se forme ainsi par l'union de toutes les autres prenoit autrefois le nom de Cite, et prend maintenant celui de K0publique ou de corps politique, lequel est appelle par ses membres Etat quand il est passif, Souuerain quand il est actif, Puissance en le comparant ä ses semblables. A l'egard des associes ils prennent collectivement le nom de peuple, et s'appellent en particulier Citoyens c o m m e participans ä l'autorite souveraine, et Sujets c o m m e soumis aux loix le 1 'Etat."
8
Leibniz' Definition: Persona est qui voluntatem habet. Der Begriff ,Organismus' ist zu belastet und eher für Adam Müllers politische Theorie angebracht.
9
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also am Hegemonikon des staatlichen Körpers, und dieses lebendige Teilhaben ist Definitionsmerkmal des Bürgers. Es ist der Zweck des Verschmelzungsvertrages, es ist der Prozeß der Freiheit, der Teilhabe an der Herrschaft, der zugleich für jeden Bürger die unterwerfende, schlechterdings gehorsamheischende Gewalt ist. Diese Gewalt ist die Souveränität. Wie andere neuzeitliche Vertragstheoretiker geht Rousseau von der Volkssouveränität aus — und da es sich um einen Verschmelzungsvertrag zu einer Personne publique, einem "moralischen Körper" handelt, kann keine Gewalt jemandem Einzelnen übergeben werden, nur das Volk im Vollzug seiner eigenen Gewalt ist Souverän. Jede Übertragung von Souveränitätsrechten an einen Einzelnen verletzt die Voraussetzung der legitimen Machtausübung (nach innen), denn dadurch würde der Gleichheitsgrundsatz aufgehoben. Die Freiheit ist ununterscheidbar von dieser Machtausübung. Nur dadurch, daß er am politischen Leben Teil hat, als passives und aktives Glied, ist der Bürger Bürger. Seine Freiheit ist die Freiheit der vollzogenen Souveränität des Ganzen; er kann — weil er als Glied des Ganzen seine alte, naturständige Partikularität verloren hat — politisch nicht anders denn als Gleicher unter Gleichen denken. Seine Freiheit ist die Freiheit der Souveränität des Volks. Freiheit des Bürgers ist nur durch EntSpezifizierung jeder individuellen Identität möglich. Deshalb gibt es keine Repräsentation, weil jeder ein Repräsentant des Ganzen ist und keiner mehr als der andere. Dieses politische Argumentationsmuster der Analogie zum lebendigen Körper hat alle Dialektik des Anfangs, der Freiheit, des Ganzen und der Totalität an sich. Ist Rousseaus Verschmelzungsvertrag erst gedacht, dann kann mit einem Begriff von ganz argumentiert werden, der die Momente der Hobbesschen Souveränität mit den Segnungen der Freiheit koppelt: Der Staat ist das integrierte moralische Ganze seiner Glieder, er hat — das ist „die stillschweigend folgende Verpflichtung", die der Verschmelzungsvertrag enthält — das Recht, jeden, „der dem allgemeinen Willen den Gehorsam verweigert, von dem ganzen Körper dazu zu zwingen". 1 0 10
W i e A n m . 6, S. 2 2 , frz. S. 3 6 4 : „Afin d o n e q u e le pacte social ne soit pas un vain f o r m u l a i r e , il r e n f e r m e t a c i t e m e n t cet e n g a g e m e n t qui seul peut d o n n e r de la f o r c e a u x autres, q u e q u i c o n q u e refusera d ' o b e i r ä v o l o n t e generale y sera c o n t r a i n t par t o u t le c o r p s : ce qui ne signifie autre c h o s e sinon q u ' o n le f o r c e r a d'etre libre; c a r telle est la c o n d i t i o n qui d o n n a n t c h a q u e Citoyen a la Patrie le g a r a n t i t de t o u t e d e p e n d a n c e personelle; c o n d i t i o n qui fait l ' a r t i f i c e et le jeu de la m a c h i n e p o l i t i q u e , et qui seule rend legitimes les e n g a g e m e n t s civils, lesquels sans cela seroient absurdes, t y r a n n i q u e s , et sujet a u x plus e n o r m e s a b u s . "
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Modern gesprochen: Die Personne politique, das Moi commun, der Corps moral hat Gewaltmonopol mit absolutem, logisch und moralisch legitimiertem Gehorsamsanspruch: Souveränität nach innen. Die Souveränität nach innen ist erkauft durch die Gleichheit der Einzelnen im Verschmelzungsvertrag.
4. Zwischenruf: Was ist Gleichheit? Die Hauptschwierigkeit scheint das Argument der Gleichheit zu sein. Hobbes hat konstatiert, daß die Menschen kein größeres Interesse als das an der Ungleichheit haben; ob sie gleich sind, hat er offengelassen. Was Rousseau mit Gleichheit meint, ist unklar. Er läßt sich offensichtlich von seiner Assimilations-Metaphorik einfangen. Er braucht die rückhaltlose Assimilation der Verschiedenartigkeit der empirischen Menschen zu einer homogenen Masse-Gleichheit innerhalb der Personne politique. Rousseau setzt eine ursprüngliche Gleichheit voraus, die entweder ein theologisch oder ein gattungsspezifisch begründetes Postulat sein kann: denn in Bezug auf was sind denn die Menschen im Naturstande gleich, wenn das Eigentum keine Rolle spielt? Rousseau unterstellt eine Legitimität für die Gleichheit, die entweder theologisch oder gattungsspezifisch begründet sein kann. Es ist die ursprüngliche Gleichheit des Naturstandes, die seine Norm bleibt und die auch im Gesellschaftsvertrag politisch reinstalliert werden soll. Aber in Bezug auf was sind denn die Menschen im Naturstand gleich, wenn das Eigentum keine Rolle spielt? Gleichheit vor der göttlichen Instanz kann sich nur auf die Gerechtigkeit beziehen, die Gott walten läßt. Dieses Recht macht gleich in Bezug auf Schuldfähigkeit vor dem Gesetz, alle andere Verschiedenheit der Personen ist offensichtlich schöpfungsgemäß. Der Staat kann deshalb die Position Gottes in Bezug auf die Gerechtigkeit nicht zur Voraussetzung einer allgemeinen politischen Gleichheit machen. Das Recht hat — suum cuique — die Ungleichheit der Person zu schützen. Nur in diesem Sinn sind alle vor dem Gesetz gleich. Bleibt die Gleichheit der Mitglieder einer Gattung. Aber wie kann aus einer Gattungs-Klassifikation ein Recht gezogen werden? Eine biologische Klassifikation hebt die Unterschiede innerhalb dieser Klassifikation nicht auf, und aus einem Sein kann bekanntlich kein Sollen geschlossen werden.
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Fazit: Aus einer Gleichheit wie d e m a m o r p h e n Z u s t a n d der Formbarkeit im Gesellschaftsvertrag k a n n kein klarer Begriff von Gerechtigkeit gewonnen werden. Deshalb ist die entscheidende Frage: Läßt sich die R e d u k t i o n der Menschen auf eine Gleichheit im Gesellschaftsvertrag ü b e r h a u p t so denken, oder ist diese Vorstellung einer Gattungsgleichheit mit absolutem G e h o r s a m s a n s p r u c h nicht das proton pseudos des Rousseauschen Verschmelzungsvertrags?
5. Die Logik der absoluten Politik D u r c h den Verschmelzungsvertrag gibt es nur noch ein politisches Subjekt: den Corps moral, die Personne politique, den kollektiven Souverän. Dieses freie Kollektivsubjekt mit Macht- und Wahrheitsmonopol radikalisiert die politische Semantik; es erhebt sie in die Logik des Absoluten. a) Die Volonte generale ist nicht veräußerbar. Das ist ein Kalkül mit dem absolut-Einen, dem Ganzen. Wo der Staat das Ganze des gemeinsamen Willens ist, wie sollte das G a n z e etwas über sich selbst hinaus haben? Das Ganze ist Eins und Alles — es ist geeint durch den gemeinsamen Willen, der im Verschmelzungsvertrag entstand. Der Staat ist nicht d e n k b a r ohne Volonte generale, sie ist Definitionsmerkmal des Staates und deshalb unveräußerlich, wie beim Animal rationale die Rationalität. b) Der Staat verknüpft inneren und äußeren Souveränitätsanspruch: „Ii est appelle par ses membres Etat q u a n d il est passif, Souverain q u a n d il est actif, Puissance en le c o m p a r a n t ä ses semblables." 1 1 Es gibt keine M a c h t oberhalb der Souveränität, wie w ä r e etwas Höheres als das H ö c h ste denkbar? Das ist die Logik des Absoluten. So hieß H o b b e s ' aus H i o b zitiertes M o t t o im Leviathan: „ N o n est potestas in terra super e u m . " Und die Freiheit? Welche Freiheit ist nach dem Verschmelzungsvertrag d e n k b a r als die allgemeine Freiheit der kollektiven Souveränität, die sich selbst im Prozeß der Verschmelzung gebildet hat? Es ist die Freiheit des Souveräns, die schlechterdings nicht aufgehoben werden kann; und die Freiheit der Teil-Glieder besteht in der M i t w i r k u n g an der politischen Person, aktiv als Abstimmungs- und Versammlungsteilnehmer, passiv als gehorsames Subjekt. c) Der Selbstsetzungsprozeß der Volonte g0^rale im M o m e n t des Gesellschaftsvertrages impliziert ein Legitimationsmonopol des Staats 11
Ebd., S. 362, wie Anm. 7.
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(Staat ist Personne morale) und damit die Entlegitimierung aller Partikularinteressen. Es ist der Akt der Freiheit selbst, sich so als unüberbietbar zu setzen und absolute Macht zu sein. Es gibt keinen Sinn, eine eigene Volonte particuliere zu verlangen, weil diese die Volonte generale aufhöbe. Deshalb ist es „von Wichtigkeit, daß es im Staat möglichst keine besonderen Gesellschaften geben und jeder Staatsbürger nur für seine eigene Überzeugung eintreten soll." 1 2 Der Staat wird gelebt, und zwar durch jeden Einzelnen, aber diese Individualität ist bürgerlich, nicht interessengebunden. Ein naturständig freies „Individuum würde die moralische Person, die den Staat ausmacht, nur als eine Idee auffassen können, weil sie eben kein Mensch ist, und die Rechte des Staatsbürgers genießen, ohne die Pflichten des Untertans erfüllen zu wollen, eine Ungerechtigkeit, deren Umsichgreifen den Untergang des Staatskörpers herbeiführen w ü r d e . " 1 3 d) „Aus dem Vorhergehenden ergibt sich, daß der allgemeine Wille beständig der richtige ist und immer auf das allgemeine Beste abzielt"; die Volonte genirale kann sich nicht irren. „Ii s'ensuit de ce qui precede que la volonte generale est toujours droite et tend toujours ä l'utilite publique." 1 4 Das ist ebenfalls ein Argument aus der Logik des Absoluten: Wenn oberhalb der Souveränität nichts ist, dann redet die Souveränität die Wahrheit. Die Souveränität hat das Wahrheitsmonopol. Schließlich definiert sie die Interessen, und indem sie die Interessen definiert, werden diese zu dem, was sie später sind: Ziele der Politik. So schafft Macht Recht, denn die Wahrheit ist das Wort der Macht, und was kann wahrer sein? Oberhalb des allgemeinen Willens gib es keine Vernunft; aber der Wille hat Interesse an der Vernunft: Er legitimiert sie, indem er allein Recht setzt und spricht. Freiheit setzt die Wahrheit; Freiheit ist die Unbedingtheit, sich nach nichts richten zu müssen, und so ist Wahrheit aus der Freiheit entstanden. Dieser Setzungsakt ist ganz analog zum nominalistischen Gott, der die Wahrheit nach Willkür setzt — und auch hier zeigt sich die Logik des Absoluten.
12
E b d . , II, 3 , S. 3 3 , frz. S. 3 7 2 : „Ii i m p o r t e d o n e p o u r a v o i r bien l ' e n o n c e de la v o l o n t e g e n e r a l e qu'il n'y ait pas de societe partielle d a n s l ' E t a t et q u e chaque Citoyen n'opine que d'apres lui."
13
E b d . , S. 2 2 , frz. S. 3 6 3 : „ . . . et r e g a r d a n t la p e r s o n n e m o r a l e qui c o n s t i t u e l ' E t a t c o m m e un etre de raison p a r c e que ce n'est pas un h o m m e , il j o u i r o i t des droits du c i t o y e n sans v o u l o i r remplir les devoirs du s u j e t ; i n j u s t i c e d o n t le progres c a u s e r o i t la ruine du c o r p s p o l i t i q u e . "
14
E b d . , II, 3 , S. 3 2 , frz. S. 3 7 1 .
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Was geschieht hier? Es ist der Prozeß einer ideologischen Begriffsverwandlung, der Prozeß der Verwandlung definierter Begriffe in dialektische, weil der Träger dieser Begriffe das staatlich Absolute ist: die Souveränität. Es ist die Metamorphose politisch definierter Begriffe in dialektisch absolute: Freiheit, Macht und Wahrheit werden an der Souveränität ununterscheidbar.
II. Fichtes weltgeschichtlicher Freiheitsimperialismus 1. Der Anspruch des Systems Fichtes System hat viele Großväter. Einer ist natürlich Kant — aber für den Voluntarismus der Setzung des Ich als Sein des Willens drängen sich bei Fichte Parallelen zu formalen Argumenten aus dem Contrat social und seiner Souveränitätsdiskussion auf; bei Fichte stammen sie wohl unmittelbar von Kants Autonomiekonzept. Aber die Argumentationsparallelen liegen in der begrifflichen Natur von souveräner Freiheit. Und die zumindest hat Fichte gekannt, sei es aus Rousseau, 1 5 sei es aus Kant. Mit seiner Abhandlung über den Geschlossenen Handelsstaat hat Fichte versucht, Rousseaus Ideal des völlig integrierten Staatsbürgers in einer Art ökonomischen Ständestaat umzusetzen, in dem jeder Bürger als
15
Fichte zitiert Rousseau in Über die Bestimmung des Gelehrten 1794: „... wir sind selbst noch nicht zum Gefühl unsrer Freiheit und Selbstthätigkeit gereift, denn sonst müßten wir notwendig um uns herum uns ähnliche, d. i. freie Wesen sehen wollen. Wir sind Sklaven und wollen Sklaven halten. Rousseau sagt: M a n c h e r hält sich für einen Herrn anderer, der doch mehr Sklave ist, als sie:" [J. J . Rousseau: Contrat social, 1. Buch, 1. Kap.: „Tel se croit le maitre des autres, qui ne laisse pas d'etre plus esclave qu'eux."] „er hätte noch weit richtiger sagen können: Jeder der sich für einen Herrn anderer hält, ist selbst ein Sklav. Ist er es auch nicht immer wirklich, so hat er doch sicher eine Sklavenseele und vor dem ersten Stärkeren, der ihn unterjocht, wird er niederträchtig kriechen. — Nur derjenige ist frei, der alles um sich herum frei machen will, und durch einen gewissen Einfluß, dessen Ursache man nicht immer bemerkt hat, wirklich frei macht. Unter seinem Auge athmen wir freier; wir fühlen uns durch nichts gepreßt und zurückgehalten und eingeengt; wir fühlen eine ungewohnte Lust, alles zu seyn und zu thun, was nicht die Achtung für uns selbst uns verbietet." J . G. Fichte, Ges. Werke I, 3. Bayer. Akad. d. Wiss. Hrsg. R. Lauth, H. J a c o b , Stuttgart-Bad Cannstatt 1966, S. 39 (zit. als „Akad.Ausg.").
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Glied des Staates sein Teil der Freiheit des Ganzen beitrug; 1 6 in der Geschichtsphilosophie schließlich wird das Moment der Volonte generale zum Motor der Weltgeschichte, die sich selbst in ihrer politischen Vernünftigkeit absolutsetzt. Als kantianischer Rousseauist legitimiert Fichte alle politische menschliche Existenz mit der Freiheit. Dabei verschärft er Rousseaus Argumente mit Kants theoretischen Mitteln. Freiheit, die Rousseau noch an den Menschen bindet — sei es an den Naturstand, sei es an die Bürgerlichkeit — wird für Fichte zur primären Setzung des Willens selbst. Fichtes Ich, das sich selbst als Bedingung aller Wissenschaft überhaupt setzt, ist kein anthropologisches, es ist ein transzendentales, idealistisches Prinzip. Der erste, umfassende Wille setzt — wie die volonte generale — im konstitutiven Moment des Gesellschaftsvertrages das System aller Systeme fest. Er hat das Wahrheitsmonopol, weil er Bedingung allen Wissens ist, und er hat das Legitimitätsmonopol, weil er die Verbindung von Macht und Wahrheit ausmacht. Beidemale geht es um die Logik des Absoluten, um das Extremenkalkül eines Willens, der nichts über sich hat, der die Wahrheit spricht, weil seine Macht Wahrheit macht. Beidemale geht es nicht nur um Souveränität allein, sondern um die Einschmelzung der Individuen im Prozeß der politisch-historischen Willensbildung. Die Macht der Souveränität wird in der Logik des Absoluten von der Freiheit der Bürger ununterscheidbar. Diese Begriffsverschärfung in Fichtes transzendentalem Idealismus ist von systematischer Natur. Fichtes System kommt natürlich zuerst von 16
Im geschlossenen H a n d e l s s t a a t soll man — das ist das Ziel — arbeiten u n d leben mit Lust und Freude, dabei frei über die N a t u r gebieten (Ausgabe Batscha, StW 201, S. 91). Es ist ein Distributionsstaat der Produzenten — Künstler — durch Kaufleute, mit festgesetzter N o r m f ü r Verbrauch, gleicher Verteilung nach Gleichheitsgrundsatz, keinem M a r k t . Wegen der Gerechtigkeitsnorm gibt es Freiheitsrestriktionen (Freiheit des Souveräns nach innen ist die Definition der Gerechtigkeit). Gewinne d ü r f e n nicht gemacht werden (S. 111: Gewinn ist R a u b . Deshalb: Schließung der Erwerbszweige, eine Art Zunftsystem). Die Fichtesche Republik ist ein Industrie-Zwangs-Ständestaat. Entscheidend ist das H a n d e l n : Eigentum wird nicht wegen der Dinge, sondern wegen H a n d l u n g und Arbeit geschützt: Deshalb ist Eigentum nur durch Gebrauch legitimiert. Ständestaat: Nicht durch Eigentum, sondern d u r c h H a n d l u n g wird Reichtum erzeugt: Eigentum entsteht durch Arbeitsteilung und Distribution. Wegend der staatlichen Distribution der G ü t e r darf es keinen privaten Außenhandel geben, stattdessen besteht Staats-Außenhandelsm o n o p o l . D e m entspricht, d a ß es f ü r die Individuen auch keine Freizügigkeit gibt. Fichtes Geldpolitik ist konsequenterweise merkantilistisch.
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K a n t . Aber Fichtes A n s p r u c h ist radikaler als der K a n t s , er besteht in der Selbstherrlichkeit, kein anderes Prinzip über sich zu haben: Aus der Kantischen Einheitsfunktion von transzendentaler Apperzeption und A u t o n o m i e einerseits, aus der Leistung der Urteilskraft andererseits, sich ihr eigenes O b j e k t ästhetisch zu prägen, wird bei Fichte das Ich, d a s Identität und Differenz noch zugrunde liegt als d a s schlechthin Ursprüngliche. Der Satz „ D a s Ich setzt sich und sein Nicht-Ich" erfüllt die Kriterien eines systematisch ersten Satzes: M a t e r i a l ist es die schlechthin erste Setzung des Ich und zugleich f o r m a l die Unterscheidung zwischen Identität und Differenz. In dieser systematisch ersten Setzung besteht der entscheidende S a t z des transzendentalen I d e a l i s m u s 1 7 . Was ist hier geschehen? M a n kann Fichtes Philosophie als K o n s e q u e n z des Kantischen Ansatzes begreifen, man m u ß Fichtes theoretische Philosophie zugleich als idealistische U s u r p a t i o n einer v o m Denken unabhängigen Welt begreifen, als einen K r a f t a k t , in d e m zwischen Vernehmen, Verpflichtung und Urteilskraft, zwischen Setzen, zwischen theoretischer und praktischer und politischer Vernunft nicht unterschieden wird: D a s ist interpretierbar als eine Re-konstruktion des absoluten A n f a n g s , aber im R a h m e n der Transzendentalphilosophie ist es auch ein Selbstermächti g u n g s a k t der Vernunft, und dieser Selbstermächtigungsakt hat politische K o n s e q u e n z e n , die den R o u s s e a u s c h e n entsprechen. D i e Vernunft setzt sich als Ich selbst und d a m i t ihre Welt; und sie setzt sich — wie R o u s seaus Volonte generale — zugleich ihre geschichtliche Z u k u n f t .
2. Setzung aus Freiheit Fichtes transzendentale Vernunft traut sich schlechterdings alles zu. D a s heißt allerdings auch, daß diese Vernunft sich alles zumutet. In Anbetracht dieser Z u m u t u n g stellt sich die Frage, wer eigentlich der Träger einer solchen Vernunft ist. Ist die Fichtesche transzendentale Vernunft eine menschliche Vernunft? Sie versteht sich nicht anthropologisch und empirisch, sie ist menschlich nur, indem sie sich im Denken ereignet. Die Konstitution der Welt durch die Vernunft (das ist der Sinn der R e d e v o m ,Idealismus') ist nicht durch die Vernunft dieses oder jenes menschlichen
17
Vgl. G ü n t e r Wohlfart: Der spekulative Satz. B e m e r k u n g e n z u m Begriff der S p e k u l a t i o n bei Hegel. Berlin/New York 1981. (Phil. Hab.-Sehr. Tübingen 1978).
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Individuums beschreibbar. Individuelle Vernunft ist fehlbar, transzendentale, absolute Vernunft offensichtlich nicht, das verbindet Fichtes Vernunft mit Rousseaus Volonte gendrale. Eine Vernunft, die sich schlechterdings setzt, die ihr eigenes Prinzip immer in sich trägt, ist unfehlbar, denn sie hat keinen Maßstab außer ihr selbst. Ist eine solche Vernunft individuell menschlich? Bei Fichte bleibt der Anspruch des empirischen Ich, vom transzendentalen Ich getragen zu werden und es zu tragen, erhalten. Gleichwohl bleibt das Ich doppeldeutig: Es ist theologisch (johanneisch) 1 8 Logos, selbstsetzend und zugleich aktives empirisches Ich. Z w a r wird nicht, wie bei Rousseau, der Gesellschaftsvertrag als Verschmelzungsvertrag neu bestimmt, aber seine Ergebnisse werden vorausgesetzt. Individuelle und transzendentale Vernunft konvergieren. Das hat politische Folgen: Es werden Machbarkeitshoffnungen für die kollektive geschichtliche Zukunft geweckt, die den revolutionären Charakter einer ursprünglichen Setzung des politischen Kollektiv-Ichs haben. Und darin besteht zugleich der Ermächtigungsakt der Vernunft gegenüber der zukünftigen Geschichte: Geschichte wird als Nicht-Ich nur O b jekt des Ich. — Schließlich ist Geschichte kein Subjekt. Wie sollte sie, wo alles vom Ich gesetzt wird, eine eigenständige, widerständige Existenz haben? Ergebnis dieser historischen Logik des Absoluten: Geschichte ist setzbar, machbar nach den selbstgesetzten Gesetzen der Vernunft. Da es kein Entrinnen aus dieser Vernunft gibt, hat diese Vernunft durchaus bestimmenden, eben ausweglosen Charakter: Sie ist ausweglos beglückend und beängstigend wie die Volonte g0nerale und die göttliche Gnade. Setzung ist zugleich Freiheit, denn Freiheit besteht im bedingungslosen Anfang. „Die Wissenschaftslehre entsteht also, insofern sie eine systematische Wissenschaft seyn soll, gerade so, wie alle möglichen Wissenschaften, insofern sie systematisch seyn sollen, durch eine Bestimmung der Freyheit." 1 9 Darin besteht die Freiheit der Setzung, Geschichte machen zu können. Vernunft ist — da sie noch ihr Anderes, ihr NichtIch ist — total. Wie die Volonte gen0rale kann sie nicht irren. Ihre Freiheit besteht nicht nur darin, machen zu können, ihre Freiheit ist zugleich ausweglos. Es ist die Freiheit einer absoluten Vernunft; als absolut und unentrinnbar bleibt diese Vernunft spontan. Sie entwirft sich, nur sich,
18
W i s s e n s c h a f t s l e h r e von 1 8 0 4 , W W X , 2 4 1 : A n w e i s u n g zum seligen L e b e n ( 1 8 0 6 ) . In: A k a d . - A u s g . II, 8, S. 2 9 2 .
19
Ü b e r den B e g r i f f der W i s s e n s c h a f t s l e h r e . In: A k a d . - A u s g . I, 2 , S. 1 4 2 .
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sie ist ihre eigene Erfahrung — jeder anderen Erfahrung gegenüber ist sie notwendig immun, denn diese kann es nicht geben. In der Totalität der Freiheit besteht zugleich der Zwang der Freiheit, überhaupt machen zu müssen. Hier wird nun das Begriffskarussell der Volonte ξέηέταΐβ in Gang gesetzt: Freiheit, Macht, Gehorsam, Wahrheit und geschichtliche Projektemacherei sind im begrifflichen Absolutismus ununterscheidbar. Darin bestehen die Grundlagen des Naturrechts, das ist der Kern des geschlossenen Handelsstaats, und das ist auch der Grund für die Vernunftkonstruktion eines Weltenplans. Welches immer das Subjekt der Vernunft ist, ob es die transzendentale Vernunft des Ich ist, ob es die Gattungsvernunft ist, ob es die vorausgesetzte göttliche Vernunft ist, die in ihrer Selbstsetzung sich in Freiheit verwirklicht 20 : Alle Vernunft geht von ihrer Einheit aus. Zugleich sind alle ihre Entwürfe vom Charakter dieser Einheit, denn sie haben selbst den Charakter einer systematischen Vernunft. Sie haben — wegen der Selbstsetzung des Ich — den Charakter der freien, selbstbewußten Setzung; denn dieses Bewußtsein der Selbstsetzung ist konstitutiv für Vernunft, als das Bewußtsein seiner selbst, das Bewußtsein seiner Einheit und das Bewußtsein seiner Freiheit in Spontaneität. Auch die Geschichte ist notwendig von diesem Charakter, denn die Wahrheit der Volonte generale läßt nichts außer sich zu. Geschichte ist deshalb ein Weltenplan des politischen allgemeinen Willens, und je länger, desto mehr werden die Prädikate der politischen Vernunft, der Volonte ξέηέναΐβ und der transzendentalen Vernunft theologisch. Der Ausdruck des Willens ist die Vernunft, und die ist systematisch-vernünftig: d. h. sie hat praktische Struktur — sie ist frei, sie ist vom Charakter der Selbstverantwortung.
20
Die Staatslehre oder über das Verhältnis des Urstaates zum Vernunftreiche (1813). Angewendete Philosophie/Staatslehre. Hrsg. F. Medicus. Leipzig 1912, Bd. 6, S. 4 7 9 , 3. Abschnitt: Von der Errichtung des Vernunftreiches. Voraussetzungen: „Nur Gott ist. Außer ihm nur seine Erscheinung. In der Erscheinung nur das einzig wahrhaft Reale die Freiheit; in ihrer absoluten Form, im Bewußtsein; also als eine Freiheit von Ichen. Diese und ihre Freiheitsprodukte das wahrhaft Reale. — An diese Freiheit nun ist ein Gesetz gerichtet, ein Reich von Zwecken, — das Sittengesetz. Dieses darum und sein Inhalt die einzig realen O b j e k t e . " S. 4 8 0 : „Satz: Jeder soll frei sein: — er soll nur seiner eigenen Einsicht folgen. Wir sagen: jeder; es soll also in der Welt der freien Iche duraus keinen geben, der irgendeinem anderen, denn seiner freien Einsicht gehorche." Zu den Ichen und ihrer möglichen Gemeinschaft ein Aufsatz von Karen Gloy: Die drei Grundsätze aus Fichtes Grundlagen der gesamten Wissenschaftslehre von 1794, in: Philosophisches Jahrbuch 91 (1984), S. 2 8 9 - 3 0 7 .
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Fichte definiert: „Der Zweck des Erdenlebens der Menschheit ist der, daß sie in demselben alle ihre Verhältnisse mit Freiheit nach der Vernunft einrichte." 2 1
3. Weltgeschichte und Erziehung Aus einer Einheit, die historisch durchs Ziel bestimmt ist und die notwendig den gesamten Plan — wegen der Totalität des Logos, des Willens, des Logos-Willens und des Willens zum Logos — umfassen muß, läßt sich deduzieren. Es geht um die Verwirklichung der Freiheit. Was macht einen praktischen Begriff wirklich? Offensichtlich seine historisch-politische Realisierung. Aber was heißt das? Die Realität von Ideen in der Geschichte muß man sich vorstellen als Erziehung: das Einprägen einer Idee als Maxime ins Handeln. Erziehen fördert und läßt das entwickeln, was dem zu Erziehenden als das ,Seine' zukommt. Der Erzieher verweist den Handelnden auf seine ,eigenen', und das sind dann die eigentlichen Handlungsziele. Wer das ,Seine' nicht begreift oder nicht begreifen will, wird gezwungen. So ist die Verwirklichung von Ideen ein zielgerichtetes Erziehungsprogramm derjenigen, die den rechten Zweck eingesehen haben. Jede Erziehung geht notwendig von diesem Verwirklichungskonzept aus, vom Einprägen einer Idee ins Handeln. Das hatte Rousseau für seinen Bürger als Ergebnis des Verschmelzungsprozesses im Gesellschaftsvertrag vorgesehen. Fichte verzeitlicht — durchaus in Rousseaus Geist — diese Verschmelzung zur Erziehung, und er lehnt sich an Lessing und an Herders Volksbegriff an. Lessing hatte einen göttlichen Erziehungsplan in seiner Geschichte schlechts
des
Menschenge-
erspekuliert; Fichtes Philosophie der Freiheit, die Ursprung und
Ziel allen menschlichen Handelns, allen denkbaren Handelns überhaupt ist, integriert diesen Plan in seinen Absolutismus der Freiheit. Ich fasse wie folgt zusammen: Fichtes W e l t g e s c h i c h t e zur Freiheit hat einen heilsgeschichtlichen Plan: Es gibt fünf G r u n d e p o c h e n des E r d e n l e b e n s ; deren jede, da sie d o c h i m m e r
21
G r u n d z ü g e des g e g e n w ä r t i g e n Z e i t a l t e r s . H r s g . F. M e d i c u s . Leipzig Bd. 4 , S. 4 0 1 .
1908,
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von Individuen ausgehen, aber, um Epoche im Leben der G a t t u n g zu sein, allmählich alle ergreifen und durchdringen m u ß , eine g e r a u m e Zeit d a u ern, und so das Ganze zu sich scheinbar d u r c h k r e u z e n d e n und zum Teil nebeneinander fortlaufenden Zeitaltern ausdehnen wird. 1. Die Epoche der unbedingten H e r r s c h a f t der Vernunft durch den Instinkt; der Stand der Unschuld des Menschengeschlechts [unbewußte Vernunft; Vernunft waltet als Instinkt]. 2. Die Epoche, da der Vernunftinstinkt in eine äußerlich zwingende Autorität verwandelt ist: das Zeitalter positiver Lehr- und Lebenssysteme, die nirgends zurückgehen bis auf die letzten G r ü n d e und deswegen nicht zu überzeugen vermögen, dagegen aber zu zwingen begehren, u n d blinden Glauben und unbedingten G e h o r s a m fordern: der Stand der anhebenden Sünde [positive Vernunft, Gesetz als Gegensatz zur Freiheit, Z w a n g von Autoritäten, Fichte denkt wohl ans Mittelalter]. 3. Die Epoche der Befreiung, unmittelbar von der gebietenden Autorität, mittelbar von der Botmäßigkeit des Vernunftinstinkts und der Vernunft ü b e r h a u p t in jeglicher Gestalt: das Zeitalter der absoluten Gleichgültigkeit gegen alle Wahrheit, und der völligen Ungebundenheit ohne einigen Leitfaden: der Stand der vollendeten Sündhaftigkeit [Freiheit als Ungebundenheit, Freiheit setzt sich gegen Z w a n g , absolute Revolution], 4. Die Epoche der Vernunftwissenschaft: das Zeitalter, w o die Wahrheit als das Höchste a n e r k a n n t , und am höchsten geliebt wird: der Stand der angehenden Rechtfertigung [Vernunft begreift sich als Freiheit, das ist die Zeit der „Reden an die Deutsche Nation"]. 5. Die Epoche der Vernunftskunst: das Zeitalter, da die Menschheit mit sicherer und unfehlbarer H a n d sich selber zum getroffenen A b d r u c k e der Vernunft a u f b a u e t : der Stand der vollendeten Rechtfertigung und Heiligung. — Der gesamte Weg aber, den zufolge dieser Aufzählung die Menschheit hienieden macht, ist nichts anderes als ein Z u r ü c k g e h e n zu dem Punkte, auf welchem sie gleich anfangs stand, und beabsichtigt nichts als die R ü c k k e h r zu seinem Ursprünge [Verwirklichung der Freiheit, die ihrer selbst bewußte und ins H a n d e l n gewendete Vernunft]. 2 2 D a m i t ist a u c h d i e Z e i t F i c h t e s w e l t g e s c h i c h t l i c h s i t u i e r t : E r s i e h t sich a n d e r S c h w e l l e d e r 4. E p o c h e , z w i s c h e n d e m S t a n d d e r a b s o l u t e n U n g e b u n d e n h e i t u n d d e m d e r a n g e h e n d e n R e c h t f e r t i g u n g , 2 3 „ d a die M e n s c h h e i t m i t s i c h e r e r u n d u n f e h l b a r e r H a n d sich s e l b e r z u m g e t r o f f e n e n A b d r u c k e d e r V e r n u n f t a u f b a u e t " . D i e s e F r e i h e i t k a n n n u r als V e r n u n f t e n t w u r f g e s e h e n w e r d e n ; als V e r n u n f t e n t w u r f , d e r sich z e i g t in d e r t r a n s z e n d e n t a l e n , s y s t e m a t i s c h e n S e l b s t b e s t i m m u n g d e r F r e i h e i t i m R e c h t , in d e r P o l i t i k , in d e r Z i e l v o r s t e l l u n g d e r G e s c h i c h t e . A n d i e s e r S c h w e l l e m u ß
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G r u n d z ü g e des gegenwärtigen Zeitalters. Hrsg. F. Medicus, Bd. 4, S. 405 ff. Vgl. Wilhelm G. Jacobs: Johann Gottlieb Fichte. Reinbek bei H a m b u r g 1984, S. 115. In den Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters sieht er sich noch in der dritten Phase, in den Reden an die deutsche Nation (1. Vorlesung) schon in der 4. Phase.
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f ü r Fichte die transzendentale Vernunft die Rolle der politischen Raison übernehmen, sie ist eine Erzieherin und Verwandlerin von der Radikalität der Rousseauschen Volonte generale: Das ist der Sinn der Grundlagen des Naturrecbts, das ist der Sinn des Geschlossenen Handelsstaates, daß die Bürger politisch diszipliniert und als Bürger d u r c h die Volonte generale unfehlbar an das allgemeine Wohl, das ihre Pflicht ist, assimiliert werden.
4. Nationalerziehung Weltgeschichte geht freilich über den nationalen, staatlich-rechtlichen Disziplinierungsvorgang f ü r Einzelne zur Verwirklichung der Freiheit hinaus. Der Staat ist Erziehungssouverän. Die erzieherische Rolle des Staates für seine Untertanen, die allesamt Subjekte seiner Freiheit sind, ist für die Weltgeschichte nur ein M o m e n t . In der Einheit der Weltgeschichte als Verwirklichung der Freiheit der G a t t u n g k o m m t es nun darauf an — u n d hier überholt Fichte Rousseau mit utopischem Schwung —, d a ß eine N a t i o n den Charakter eines Vorreiters b e k o m m t . Die fortgeschrittenste N a t i o n wird zur Erziehungsnation f ü r die anderen N a t i o n e n . In dieser erziehenden Nation zeigt sich die Verwirklichung der Freiheit sozusagen von innen. Sie ist die eigentlich philosophische Nation — die den utopischen C h a r a k ter in sich entdeckt, der die Verwirklichung einer transzendental begriffenen Freiheit in der Übereinstimmung von Freiheit, Pflicht und Vernunft zeige, die Einrichtung „der Freiheit nach der Vernunft". Das ist ein weltgeschichtlicher, an der Freiheit orientierter Erziehungsplan, der zuerst national, d a n n weltgeschichtlich ausgerichtet ist. Dieses Konzept hat seine Pointe in den Reden an die deutsche Nation: „Ihr sehet im Geiste durch dieses Geschlecht den deutschen N a m e n zum glorreichsten unter allen Völkern erhoben, ihr sehet diese N a t i o n als Wiedergebärerin und Wiederherstellerin der Welt" 2 4 . Wer ist eigentlich der Erzieher zu Freiheit? N a c h Fichte ist es offensichtlich das Volk selbst. Und dieses Volk ist der Souverän, in d e m alle Individuen aufgegangen sind wie in Rousseaus politischem Körper. Fichte aber historisiert und typisiert dieses souveräne Volk. Er stellt die Deutschen dar als das „Urvolk, das Volk schlechtweg", in d e m die Frei-
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Hrsg. F. Medicus, Bd. 5, S. 597.
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heit zum Entschlüsse und Handeln kommt und so das Leben beginnt. 25 Vor allem in den Reden an die deutsche Nation, aber auch in den Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters verbindet Fichte die Rousseausche Rolle des Volks mit Herders Vorstellungen einer Individualisierung der Geschichte in den Völkern und belegt diese Konstruktion mit historischen Mustern: zunächst mit dem Taciteischen Klischee des eigenständig sittlichen, freien Volks der Germanen, dann mit der nationalen Selbststilisierung der Reformation, 2 6 schließlich mit Lessings Erziehung des Menschengeschlechts zu seiner Freiheit: ein Konzept, das Fichte national verengt interpretiert. „Nur diejenige Nation, welche zuvörderst die Aufgabe der Erziehung zum vollkommnen Menschen durch die wirkliche Ausübung gelöst haben wird, wird sodann auch jene des vollkommnen Staats lösen." 2 7 Das erzogene Volk ist von der Homogeneität der Rousseauschen Personne politique. Als kollektives Ich entspricht es dem Moi commun des Gesellschaftsvertrages und ist durch Geistes-Geschichte und große geistige Persönlichkeiten wie Luther oder Leibniz geformt. Es ist ausgezeichnet durch Festigkeit, Sicherheit, Unabhängigkeit, in ihm verwirklicht sich lebendige Freiheit in „Leben und Liebe". 2 8 So wird ihm die Berechtigung verschafft, andere Völker zu erziehen. Einblick in diesen Status Nation hat der Philosoph, der am Zielpunkt der transzendentalen Freiheitsphilosophie steht. In der Bewegung, die er beobachtet, die er zugleich in seiner Philosophie repräsentiert und beschleunigt, wird er selbst aus Einsicht in die idealen Tatsachen zum Erzieher und weiß sich der eingesehenen Wahrheit als Erzieher verpflichtet. Fichtes Entwurf wendet Rousseaus Politikentwurf pädagogisch: Die Erziehungsverpflichtung für die Völker geht über den nationalen Rahmen hinaus bis zum weltgeschichtlichen Entwurf einer Erlösungsphilosophie, in der die deutsche Nation die Erzieher- und Erlöserrolle spielt.
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„Die Freiheit, im Sinne des unentschiedenen Schwankens zwischen mehreren gleich Möglichen genommen, ist nicht Leben, sondern nur Vorhof und Eingang zu wirklichem Leben. Endlich muß es doch einmal aus diesem Schwanken heraus zum Entschlüsse und zum Handeln kommen, und erst jetzt beginnt das Leben." (Fichtes Reden an die deutsche Nation. Hrsg. F. Medicus, Bd. 5, S. 480.) Das gilt für Sleidanus und Melanchthon, vgl. E. Menke-Glückert: Die Geschichtsschreibung der Reformation und der Gegenreformation. Osterwick 1912. Reden an die deutsche Nation. Hrsg. F. Medicus, ebd., S. 4 6 4 f. Ebd., S. 4 8 7 .
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5. Philosophen als Erzieher oder Idealimperialismus Das ist ein kosmopolitisches Selbsterlösungsprojekt mit nationalem Anspruch, und Fichte ist sein Prophet. Selbsterlösungsprojekte haben auch in johanneischer Einsicht in den Welten-Logos — das ist d u r c h a u s auch theologisch gemeint — Pferdefüße, und so hat Fichtes Projekt einige, die über Rousseaus Unerträglichkeiten im Bezug auf Individualität, Gleichheit und Freiheit noch hinausgehen: a) Sind Philosophen Erzieher? Diejenigen, die d a v o n ausgehen, Einsicht in die Wahrheit zu haben, sei sie unverfügbar und durchs Gefühl zu erlangen, wie bei Rousseau, sei sie v e r n u n f t f ö r m i g wie bei Fichte, 2 9 der sicher war, „das menschliche Wissen ü b e r h a u p t erschöpft zu h a b e n " , solche Wissenden k ö n n e n aus diesem sicheren Wissen heraus erziehen. Denn das Ziel ist vorgegeben, die Wahrheit liegt ihnen zutage: und die Transzendentalphilosophie der Freiheit impliziert Erziehungspflicht zu ihrer weltgeschichtlichen Verwirklichung. Für alle Philosophen, die über die Einsicht in dieses weltgeschichtliche Ziel nicht verfügen, die ihre Ideen noch zu M a r k t e tragen, wird der positive, weltgeschichtliche Erziehungsauftrag schwerer. b) D a r ü b e r hinaus: Selbst wenn m a n die Rolle des Philosophen als Erzieher zunächst konzediert, so bleibt doch ganz undeutlich, w a r u m die Philosophie national begriffen werden m u ß , nicht weltbürgerlich. Sicher gibt es einen Konkretisierungsbedarf des Allgemeinen zum historisch Konkreten. Aber ein Vorrang des Nationalen läßt sich d a r a u s nicht schließen. Das gilt für Rousseau nur zum Teil — über den R a h m e n eines Volksstaats hat er nie hinausgeblickt. Aber für Fichte gilt verstärkt: Die Vorstellung einer besonderen nationalen Rolle der Deutschen m a g als Trost für die Napoleonische Niederlage verständlich sein, b e g r ü n d b a r ist sie nicht. 3 0
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Über den Begriff der Wissenschaftslehre. In: Akad.-Ausg. I, 2, S. 129, wie Anm. 15. Fichtes Argumente aus den Reden an die deutsche Nation sind nicht stichhaltig: Ursprünglichkeit ist kein ausgezeichneter C h a r a k t e r ; Archaismen k ö n nen ebenso als Kulturidentität wie als Borniertheit interpretiert w e r d e n . Das gilt auch f ü r Sprache u n d f ü r Religion. In unterschiedlichen historischen Konkurrenzverhältnissen ist es sinnvoll, nationale Eigenheiten zu betonen. Sie gegenseitig nach verschiedenen „Wertigkeiten" zu qualifizieren, zeugt selbst vom kulturellen Machtwillen und hat deshalb eher P r o p a g a n d a w e r t . (Das gilt natürlich auch f ü r die französischen Vorlagen Fichtes.)
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c) M i t der Übernahme des Kollektivindividuums ,Volk' aus Rousseaus politischer und Herders Geschichtsphilosophie wird der schroffe Gegensatz von Volonte generale und Volonte particuliere zwar historisch und lebensphilosophisch vermittelt: Volkserziehung und Erziehung der Völker durch ein Volk. Aber die Kernfrage nach der Berechtigung auch der natürlich-persönlichen Volonte particuliere wird zugunsten einer nationalen und weltgeschichtlichen Zielsetzung suspendiert. d) Besonders schwierig wird die zweite Stufe des Fichteschen Erziehungsprozesses für das Menschengeschlecht. Dabei soll eine besonders fortgeschrittene Nation andere Nationen erziehen. Wie soll man sich das vorstellen? Erziehung ist ein Disziplinierungsvorgang, zielgerichtete R e duktion vieler Entwicklungsmöglichkeiten auf ein akzeptiertes Set von Realisationen. Der weltgeschichtliche Disziplinierungsvorgang der anderen, unphilosophischen Nationen durch die eine philosophische bestünde dann darin, die besondere weltgeschichtliche Stellung der Freiheitsentwicklung in einem Land — Fichte denkt an die deutsche Nation — auf andere Nationen zu übertragen. 3 1 Wenn Erziehung Einprägen einer Idee ins Handeln ist, dann wäre die Wiedergeburt also eine Art Freiheitsimperialismus der fortgeschrittensten N a t i o n , und das scheint Fichte als Erziehungsziel der Völker anzustreben. 3 2 e) Freiheit und Freiheiten: Was ist das für eine Freiheit, in deren Namen ein solcher Idealimperialismus vonstatten geht? Um welche Freiheit handelt es sich eigentlich, die weltgeschichtlich verwirklicht werden soll? Erziehung zur Freiheit, die Anfang und Ziel der Geschichte zugleich ist, ist für Fichte immer Erziehung der transzendentalen Subjektivität im Einzel31
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Er beschreibt das emphatisch in seiner letzten Rede aus den Reden (Hrsg. F. Medicus, Bd. 5, S. 597): „Ihr sehet im Geiste durch dieses Geschlecht den deutschen Namen zum glorreichsten unter allen Völkern erhoben, ihr sehet diese Nation als Wiedergebärerin und Wiederherstellerin der Welt". 7. Rede an die Deutsche Nation, hrsg. Liebert. Berlin 1912, S. 126 f: „Und so trete denn endlich in seiner vollendeten Klarheit heraus, was wir in unsrer bisherigen Schilderung unter Deutschen verstanden haben. Der eigentliche Unterscheidungsgrund liegt darin, ob man an ein absolut Erstes und Ursprüngliches im Menschen selber, an Freiheit, an unendliche Verbesserlichkeit, an ewiges Fortschreiten unseres Geschlechts glaube, oder ob man an alles dieses nicht glaube, ja wohl deutlich einzusehen und zu begreifen vermeine, daß das Gegenteil von diesem allen stattfinde. Alle, die entweder selbst schöpferisch und hervorbringend das Neue leben oder die, falls ihnen dies nicht zuteil geworden wäre, das Nichtige wenigstens entschieden fallen lassen und aufmerkend dastehen, ob irgendwo der Fluß ursprünglichen Lebens sie ergreifen werde, oder die, falls sie auch nicht so weit wären, die Freiheit wenigstens ahnen und sie nicht hassen oder vor ihr erschrecken,
D i e Freiheit, der W i l l e , das A b s o l u t e
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nen zum Ganzen, so wie die Freiheit des politischen Körpers für Rousseau unaufgebbar war. Es ist nicht die konkrete Freiheit der empirischen Person. Fichtes Freiheit ist die Rousseaus, es ist eine absolute und dialektische Freiheit, keine konkret institutionalisierte. Die konkret institutionalisierte Freiheit des transzendentalen Subjekts zeigt sich — wie in Rousseaus Contrat social und in Fichtes Geschlossenem Handelsstaat sichtbar — für die empirische Subjektivität offensichtlich nur als disziplinierende Zwangseinrichtung, als die Freiheit des staatlichen Untertanen. Auch wenn es sich um die Disziplinierung zu höheren Zwecken handelt, so bleibt die konkrete Unfreiheit das Ergebnis der höheren kollektiven Freiheit. Was ist das für eine Vernunft, die sich als Freiheit — unwiderlegbar — ausgibt und die doch dem Einzelnen als Zwangsanstalt vorkommt? Am Ende ist bei beiden, bei Fichte und Rousseau, der Freiheitsbegriff äquivok. Zwischen absoluter und konkreter politischer Freiheit wird nicht unterschieden, und die Erziehung liefert keine Vermittlung zwischen beiden. Fichte hat Rousseau zuendegedacht, indem er den Freiheitsbegriff systematisch radikalisiert und als universalgeschichtliches Erziehungsprojekt umgedeutet hat. Er hat damit Rousseaus Probleme aus dem Contrat social weltgeschichtlich ausgeweitet.
III. K o n k l u s i o n über die B e k ö m m l i c h k e i t politischer Philosophie Fichtes Konklusionen hören sich konsequent an, sind es wohl auch. Die Einsicht in Fichtes absolute Begrifflichkeit und ihre theoretische Überwältigung ist kaum bestreitbar. Es die Philosophie, die sich als Vollzug ihres Gedankens nicht als theoretisch distanziertes, skeptisches Abwägen begreift. Aber ist ein solches Inne-Sein im kraftvollen Agieren des absosondern sie lieben: alle diese sind ursprüngliche M e n s c h e n , sie sind, w e n n sie als ein Volk b e t r a c h t e t w e r d e n , ein U r v o l k , das Volk s c h l e c h t w e g , D e u t s c h e . Alle, die sich darein e r g e b e n , ein Z w e i t e s zu sein und A b g e s t a m m t e s , und die deutlich sich also k e n n e n und begreifen, sind es in der T a t und w e r d e n es i m m e r m e h r durch diesen ihren G l a u b e n , sie sind ein A n h a n g zum L e b e n , das v o r ihnen o d e r n e b e n ihnen aus eigenem T r i e b e sich regte, ein v o m Felsen z u r ü c k t ö n e n d e r N a c h h a l l einer s c h o n v e r s t u m m t e n S t i m m e : sie sind als Volk b e t r a c h tet a u ß e r h a l b des U r v o l k s und für dasselbe F r e m d e und A u s l ä n d e r . " . . . „Was an Stillstand, R ü c k g a n g und Z i r k e l t a n z g l a u b t o d e r g a r eine t o t e N a t u r an das R u d e r der Weltregierung setzt, dieses, w o a u c h es g e b o r e n sei und w e l c h e S p r a c h e es rede, ist undeutsch und fremd für uns, und es ist zu w ü n s c h e n , d a ß es je eher je lieber sich gänzlich von uns a b t r e n n e . "
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luten Ich für Politik bekömmlich? Das Transzendente/Transzendentale mag als absolute Bestimmung des Guten für die Pflicht absolut sein. Wenn es in der Politik um die Bekömmlichkeit menschlichen Z u s a m m e n lebens geht, d a n n ist ein solcher ausweglos absoluter Rigorismus schwer auszuhalten. Kann m a n das Unbehagen über die Unbekömmlichkeit eines solchen politischen Begriffsabsolutismus ü b e r h a u p t loswerden? In der politischen Philosophie — vielleicht ist das ein Unterschied zur Geschichtsphilosophie — kann m a n zwischen dem, was man wünscht, und dem, was m a n befürchtet, unterscheiden. Auch im Politischen müssen wir denken, was wir nicht denken wollen. Aber wir können zugleich denken, was wir gerne hätten. Der Unterschied zur absoluten Begrifflichkeit liegt darin begründet, d a ß m a n praktisches H a n d e l n im menschlich angemessenen R a h m e n sich abzuschätzen traut: Der R a h m e n heißt Bekömmlichkeit. Was immer dieser R a h m e n ist, jedenfalls ist er nicht die Weltgeschichte und nicht Selbstverwirklichung des Absoluten. Vielleicht ist er die Amplitude zwischen irdischem Möchtegern und Fürchtesehr. Darin liegen die bescheidenen Gestaltungsmöglichkeiten des Menschlichen. Denn m a n k a n n die zu erwartenden Folgen einer politischen Theorie gedanklich erproben: Die Realität der politischen Theorie sind das Recht und die Rechtsveränderung. M a n k a n n sich vorstellen, in einem Rechtszusamm e n h a n g zu leben, der nach politischen Theorien konturiert ist; die Nagelp r o b e ist, ob man in einem solchen R e c h t s z u s a m m e n h a n g leben möchte. 3 3 Das Abschätzen von Bekömmlichkeiten ist ein Akt politischer Klugheit. Mir scheint es eindeutig: Die Rechtsrealität, die nach Fichte und Rousseau konturiert ist, ist unbekömmlich. D a f ü r gibt es zwei Gründe: 1. Der Unterschied zwischen natürlichen Personen und Rechtspersonen ist unklar. Das hat zur Folge, d a ß die Rechte des Einzelnen Undefiniert sind. Es gibt auch gar keine Möglichkeit, die Rechte eines Einzelnen, die ja im Verschmelzungsvertrag in Souveränität umgewandelt w u r d e n , überh a u p t zu definieren, geschweige denn, sie gegen den Staat einzuklagen, dessen Kompetenz sie als Menschen- und Bürgerrechte entzogen sein sollen. 3 4 Fichtes und Rousseaus Staaten sind keine Rechtsstaaten; sie haben 33
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Deshalb sind auch andere Rechtsrealitäten als theoretische legitim, das hat vor allem die Historische Rechtsschule herausgestellt, und die ist bezeichnenderweise den politischen Theorien spinnefeind. Der Ursprung der Soziologie ist deshalb konservativ. R. Spaemann: Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration. Studien über L. G. A. de Bonald. M ü n c h e n 1959. (Phil. Diss. M ü n s t e r 1951.) Dazu Jellinek in: R o m a n Schnur (Hrsg.): Z u r Geschichte der Erklärung der Menschenrechte. D a r m s t a d t 1964. Darin: Georg Jellinek: Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte. A n t w o r t an Emile Boutry, S. 113 — 128.
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kein Verwaltungs- und kein individuelles Menschenrecht. Ihre Freiheit ist abstrakt, ihre D e m o k r a t i e ist totalitär. Und das gilt auch gegenüber zeitgenössisch verfügbaren E n t w ü r f e n , gegenüber P u f e n d o r f , gegenüber M o n tesquieu, auch gegenüber Burke. Wahrscheinlich ist es bekömmlicher, in einem undemokratischen Rechtsstaat als in einer totalitären D e m o k r a t i e zu leben. 2. Der Aufschwung politischer Begriffe — vor allem des Freiheitsbegriffs, aber auch der Konzeption der M a c h t — in theologisch-dialektische und metaphysische Sphären ist politisch gefährlich und u n z w e c k m ä ß i g . Dialektisch-theologische Leitbegriffe destabilisieren die Berechenbarkeit der Begriffe; sie sind entwickelt, u m übers theologisch Absolute reden zu k ö n n e n , das logisch unbegreiflich ist. Indem die absoluten Begriffe auf die politische Sphäre übertragen w e r d e n , b e k o m m t diese Sphäre den C h a r a k ter des Absoluten und Unverfügbaren einerseits, die politische Philosophie den Charakter des Spekulativen und gelegentlich Prophetischen andererseits. Die Übertragung absoluter Begriffe aufs Politische hat zur Folge, d a ß Politik in den R a h m e n einer Weltgeschichte des Absoluten — sei es als Plan Gottes, sei es als Verwirklichung des Absoluten —, d a ß also Politik in ein absolutes System integriert wird. D a m i t werden Staaten M o m e n t e der systematisch verstandenen Weltgeschichte; und die spekulativen Philosophen, die sich den Einblick ins Absolute zutrauen, werden für die Staaten zu Erziehern. In Staaten, die p e r m a n e n t erziehen, sowohl ihre Bürger als auch andere Staaten, herrscht Ideenimperialismus; und Ideenimperialismus ist Ideologie: Das gilt für die Heilige Allianz wie für die Weltrevolution. (De Maistre und M a r x berufen sich beide auf Rousseau, und M a r x beruft sich zusätzlich — und zwar heftig — auf Fichte.) Auch das sind Folgen aus Rousseaus und Fichtes politischen T h e o r i e n . Deshalb plädiere ich f ü r eine regionale, politische Vernunft, die ihre Methoden ihrem Gegenstandsbereich a k k o m o d i e r t . Ich meine, politische Theorie sollte für die Politik erträgliche Rechtsverhältnisse vorschlagen, indem sie natürliche Personen und politische Körper klar unterscheidet und damit berechenbare Rechtsverhältnisse ermöglicht. Vor Kollektivabsolutismen sollte sie sich hüten (das gilt auch für den Begriff,Gesellschaft') und vor der Weltgeschichte. In dieser Selbstbescheidung k a n n die politische Theorie die Nagelprobe ihrer Richtigkeit bestehen, die nämlich, d a ß möglichst viele in den Rechtsverhältnissen leben möchten, in denen politische Theorie Realität wurde.
Karl-Siegbert
Rehberg
Natur und Sachhingabe Jean-Jacques Rousseau, die Anthropologie und ,das Politische' im Deutschland des 20. Jahrhunderts *
I. Menschenwissenschaften und Sozialtheorie 1. Jean-Jacques als „Projektionsfigur" Rousseau w a r immer mehr als ein Autor, er w a r ein M y t h o s , eine „Projektionsfigur" (Herbert J a u m a n n ) , und seine Wirkungen beziehen sich auf das Bild, das m a n von ihm entwarf. Dabei w a r von Anfang an die Selbststilisierung ein M o t o r der Mythenbildung: Rousseau wollte gerade kein ,Schriftsteller', kein ,Schöngeist' sein, sondern Prophet und Realisator in einem; der Gesetzgeber, der keiner Legislative bedarf; der Erzieher, der eines Lehrers entraten k o n n t e ; 1 der Gerechte, der seine Kraft aus dem Leiden und den ihm zugefügten Ungerechtigkeiten zieht, seit jener ersten, als m a n ihm die Z e r s t ö r u n g der K ä m m e von Mile L a m b e r c i e r
* Dank für Anregungen sage ich Herbert Jaumann (der auch vielfältige Literaturhinweise zur Rousseau-Rezeption gab), sodann Alfred Schobert, RoseMarie Klinkenberg-Schulz, Heike Bergrath, Andreas Pischel und Hagen Delport; Antonia Grunenberg verdanke ich, daß die Vortragsfassung des Textes in der anregungsreichen Ruhe von Ortignano entstehen konnte. Für häufig verwendete Texte und Werkausgaben werden im vorliegenden Text folgende Siglen verwendet (zur genauen Bibliographie s. Literaturverzeichnis): Arnold-Gehlen-Gesamtausgabe (für die entsprechenden Bände): GA1, GA2, GA3, GA4, GA7. Ε = Rousseau, Emile. 1. Disc. = Rousseau: Erster Diskurs. 2. Disc. = Rousseau: Zweiter Diskurs. Rousseau I bzw. II = Rousseau: Schriften. Hrsg. von Henning Ritter (1978). 1
„Diejenigen, welche die Natur bestimmt hat, Schüler zu haben, brauchten keine Lehrer" — Rousseau: 1. Disc., Zweiter Teil in: Rousseau I, S. 58.
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v o r w a r f 2 — eben ein Erlöser, ans Kreuz der Verdächtigungen und Verfolgungen, der Verschwörungen und Verleumdungen geschlagen. Und dieser Einsame, dieser vom Verfolgungswahn Verfolgte, 3 dieser einzig authentische Exeget und Verteidiger des t u g e n d h a f t e n Jean-Jacques aus G e n f 4 wird gerade durch die Verdächtigungen und Verdammungen vor d e m Vergessen gerettet, k o n n t e durch den Zensor und den Z w a n g , manche seiner Bücher in A m s t e r d a m erscheinen lassen zu müssen, zu einer Kultfigur der Großen Revolution werden, die ihn — der nun entseelt, also zu neuem Protest und Streit nicht mehr fähig w a r — 1794 aus Ermenonville, von „dem Platz unter Pappeln", in die steinerne Apotheose des Pantheon ü b e r f ü h r t e . 5 D a d u r c h ist seine W i r k u n g auch in Deutschland gesichert und bestimmt w o r d e n , vorangetrieben von Bew u n d e r u n g und H a ß . Beide mögen sich abgekühlt haben in unserem jetzt zu Ende gehenden J a h r h u n d e r t , aber eingeschrieben blieben sie der Rezeptionsgeschichte der Rousseauschen Werke. Deshalb ist Rousseau nicht nur ein Autor, vielmehr ein Mythos. Am meisten gilt das für die ihm zugeschriebene Schlüsselformulierung seines ganzen Werkes „Retour ä la n a t u r e " , die sich wörtlich bei ihm nicht findet und gegen deren verzerrende Ausdeutung er sich immer wieder zur Wehr setzte. Es w a r dies ein P r o d u k t von Voltaires überlegenem Spott 6 und der ihm folgenden Rezeption — auch in Deutschland. 7 Das Titelkupfer der ersten Über2 3 4
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Vgl. Rousseau: Bekenntnisse, S. 22 ff. Vgl. zu Rousseaus Krankheit: Starobinski: Rousseau, S. 542—560. Vgl. bes. Rousseau: Rousseau richtet ]ean-]acques und die anderen Verteidigungsschriften in: Rousseau II. Vgl. Robespierre: Texte, S. 681 f. Vgl. auch H a r t e n / H a r t e n : Versöhnung, S. 166, w o Pläne zur Errichtung eines R o u s s e a u - D e n k m a l s in den zum „Jardin n a t i o n a l " umgewidmeten Tuilerien-Gärten dargestellt werden. Vgl. ζ. B. Rousseau I, S. 120 (Letzte A n t w o r t an Bordes), 310 (Brief an H e r r n Philopolis); vgl. den Brief Voltaires an Rousseau v. 30. 8. 1755 in: Rousseau: Kulturkritik, S. 3 0 1 - 3 0 9 , und den Antwortbrief Rousseaus v. 1 0 . 9 . 1755 in: Ebd., S. 3 0 9 - 3 1 5 , sowie GA4, Anm. 133.3. G u t h k e (Frühgeschichte, S. 392) verweist auf Moses Mendelssohns Reaktion auf Rousseaus „Primitivismus", den er 1756 so verstand, „daß wir besser thäten, w e n n wir uns nicht von dem Vieh entfernten", u n d dagegen setzte: „Ehe mein Leben wie das Leben eines Wilden, ohne Menschenliebe und Freundschaft dahinschleichen sollte, lieber lasse mich das Verhängnis [...]"; auch zitiert G u t h k e Wieland, der 1770 aus dem 2. Disc, herausgelesen habe, es sei der Wunsch Rousseaus gewesen, „in die Wälder zu den O r a n g - U t a n s und den übrigen Affen, ihren Brüdern, zurückzukehren, aus welchen sie eine unselige Kette von Zufällen zu ihrem Unglücke herausgezogen h a b e " oder „zu unserer ursprünglichen Gesellschaft, den Vierfüßigen in den Wald zur ü c k z u k e h r e n " ; bündig und ganz in Voltaires Sinn faßt J. G. Jacobi zusam-
N a t u r u n d Sachhingabe
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setzung des Zweiten Discours durch Moses Mendelssohn (aus dem J a h r e 1756) zeigt einen Weißen — vielleicht Jean-Jacques — der sich (noch zögerlich) anschickt, „den Wilden", die ihn gestenreich zum Abstieg einladen, zu folgen. Die dazugehörige Bildunterschrift legt suggestiv nahe: „Er geht wieder zu seines Gleichen hin". 8 Die Zuschreibungen blieben stärker als die Beteuerungen des Autors — sie steuern den Diskurs über Rousseau. 9 Ich werde die ambivalenten Verbindungslinien zwischen deutschem Denken in diesem J a h r h u n d e r t und der Rousseauschen Philosophie unter zwei Aspekten behandeln: anthropologisch und politisch, oder genauer — beide Aspekte z u s a m m e n n e h m e n d —: aus der Perspektive einer politischen Anthropologie.
2. Rousseaus „Studium des Menschen" Jede Philosophie enthält eine implizite Anthropologie. Die anthropologische Dimension ist in der Rousseau-Rezeption immer gesehen w o r d e n ; Sätze wie der, d a ß die Menschen schlecht, der Mensch hingegen gut sei, 1 0 sind Gemeinbesitz. Es findet sich aber nicht nur eingeschlossen in die zivilisationskritischen und politischen Reflexionen ein ,Menschenbild' bei ihm, sondern er wollte ausdrücklich A n t h r o p o l o g e sein, 1 1 eine ,Neue
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men: „ K o m m t in die Wälder und werdet Menschen". — Vgl. zu Beispielen einer — bei aller Kritik (bes. an Rousseaus Emile) — nüchterneren Aufnahme: Knabe: Rezeption, S. 204—230. Den Hinweis auf das Titelkupfer der ersten deutschen Übersetzung des 2. Discours durch Moses Mendelssohn (erschienen 1756 in Berlin bei Christian Friedrich Voß) verdanke ich Henning Ritter; vgl. zu weiteren Nachweisen GA4, Anm. 133.3. Friedrich Gentz hat in seiner Übersetzung von E d m u n d Burkes Betrachtungen über die Französische Revolution Rousseau mehr Gerechtigkeit widerfahren lassen, ihn sogar zur Rechtfertigung seines Autors herbeigezogen, als er in einer seiner Übersetzer-Anmerkungen d a v o r w a r n t e , angesichts der Burkeschen „Lobrede auf das Rittersystem" in „denselben a b g e s c h m a c k t e n Fehler [zu verfallen], dessen sich zahlreiche Widersacher des Rousseauschen Systems schuldigmachten, wenn sie dem G e n f e r Philosophen den förmlichen Plan, ,die Menschen in vierfüßige Tiere zu v e r w a n d e l n ' zur Last legten" (Burke: Betrachtungen, A n m . d. Übers, zum 1. Teil Nr. 21, S. 435 ff., hier: 435). Vgl. ζ. B. Rousseau I, S. 508 f., 518; £ , S. 71. Vgl. ζ. B. 2. Disc, in: Rousseau I, S. 191, 193, 310 und E, S. 289 ff.
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Wissenschaft' vom Menschen errichten, wenngleich gerade diese wiederum unlösbarer Bestandteil der verderbenden Zivilisation ist, so daß Rousseau zu sagen gezwungen war: „Je fleißiger wir den Menschen studieren, desto weniger können wir ihn erkennen". 1 2 Dennoch verzichtet er nicht auf Aufklärung durch Erfahrungswissen; der Bücherverächter, der nach einem Jahrhundert sich sehnte, in dem es ihrer nicht bedurft hätte, nahm es auf sich, Bücher zu schreiben. Aber solche Paradoxien sind Intellektuellen ja nicht fremd: Die Bände füllenden ,Geheim'-Wissenschaftler der Macht (von Machiavelli bis zu Vilfredo Pareto und Carl Schmitt), die den Zersetzungsprozeß der Institutionen durch Reflexion reflektierenden Kulturkritiker (wie Gehlen) — sie alle stehen vor demselben Dilemma: eigentlich zum wissenden Schweigen verurteilt zu sein, aber gerade darüber unablässig reden und schreiben zu müssen. So sind noch Rousseaus autobiographische Selbst-Sezierungen Teil einer anthropologischen Experimentalwissenschaft, die den Menschen unverstellt — „wie er ist" — zeigen soll, die lehren soll, was der Mensch sein könnte, wenn er nicht durch die korrumpierenden Institutionen und zivilisatorischen Verweichlichungen denaturiert wäre. In diesem Sinne sollten die Bekenntnisse als das „erste Vergleichsstück beim Studium des Menschen" dienen, „einem Studium, welches erst beginnen muß". 1 3 Rousseaus anthropologisches Verfahren stimmt durchaus mit dem wissenschaftsorientierten Blick der Philosophischen Anthropologie unseres Jahrhunderts überein, etwa mit Gehlens Entwurf einer „empirischen Philosophie", insofern auch er erfahrungsgeleitet arbeiten wollte. 14 Rousseau verwirft noch (wie übrigens später der junge Gehlen) 15 ein — wenn man diesen Anachronismus verwenden darf — ,evolutionsbiologisches' Verfahren, will also nicht gattungsgenetisch argumentieren, oder, mit seinen Worten ausgedrückt: Er will die menschliche „Organisation" nicht „durch ihre allmähliche Entwicklung" verfolgen. Aber seine Ablehnung einer naturgeschichtlichen Vergleichsperspektive erweist sich zugleich als hellsichtiger Vorgriff auf eine evolutionstheoretisch angeleitete Analyse, wenn er — ohne selbst zu einem methodisch klaren
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Vorrede zum 2. Disc, in: Rousseau I, S. 182. So beginnen die Bekenntnisse (S. 7) mit der Versicherung, daß sie „das einzige Bild eines Menschen" seien, „genau nach der Natur und in seiner ganzen Wahrheit gemalt". Vgl. ζ. B. Rousseau I, S. 514 oder £ , S. 505. Gehlen: „prima philosophia von innen" — vgl. GA2, S. 341 und Rehberg: Nachwort zu GA3, S. 757.
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Vorausset-
zungen sehr k l a r sieht, d a ß es n ä m l i c h mit „der v e r g l e i c h e n d e n A n a t o m i e [ . . . ] n o c h n i c h t so w e i t g e k o m m e n " sei, d a ß m a n o h n e b l o ß e V e r m u t u n gen aus d e m „ t i e r i s c h e n S y s t e m " e r s c h l i e ß e n k ö n n e , „ w a s d e r M e n s c h a n f a n g s gewesen sein m a g u n d d a r a u s endlich zu e r r a t e n , w a s er i s t " . 1 7 S o l c h e F r a g e n will R o u s s e a u „ b e i s e i t e s e t z e n " — a u c h G e h l e n s M e t h o d e nimmt zahlreiche „ E i n k l a m m e r u n g e n " vor.18 R o u s s e a u ist a l s o zuallererst A n t h r o p o l o g e ; a u c h g i b t es bei ihm d a s I n e i n a n d e r g r e i f e n der A u f f a s s u n g v o m M e n s c h e n als e i n e r — d u r c h invariante M e r k m a l e bestimmten — „echten G a t t u n g " 1 9 mit einer schen
Anthropologie,20
histori-
e i n e r E r f o r s c h u n g der g e s e l l s c h a f t l i c h sich w a n -
delnden M e n t a l i t ä t e n . N i c h t erst h e u t e gibt es d a f ü r f r a n z ö s i s c h e V o r b i l der, R o u s s e a u j e d e n f a l l s k o n n t e h o f f e n , j e n e r „ n e u e M o n t e s q u i e u "
zu
w e r d e n , den er für ein w i s s e n s c h a f t l i c h e s V e r s t ä n d n i s der G e s c h i c h t e d e r Menschheit herbeigewünscht
hatte.21
Beweggrund
für die
prinzipielle
H i s t o r i s i e r u n g seiner A n t h r o p o l o g i e ist die K u l t u r k r i t i k : 16
Morphologische Unterschiede erörtert Rousseau im V. Zusatz zum 2. Discours: „Bei den vierfüßigen Tieren sind die Zähne und die Beschaffenheit der Eingeweide die beiden allgemeinsten Zeichen, woran man die Raubtiere erkennt. Die Tiere, die sich von Pflanzen ernähren, haben stumpfe Zähne [...] Die Raubtiere hingegen haben spitzige Zähne [ . . . ] " etc. (Rousseau I, S. 270 f.). An anderer Stelle heißt es in derselben Schrift: „Ich sehe in jedem Tiere nichts als eine kunstvolle Maschine, welche die Natur mit Sinnen begabt hat, um sich selbst aufziehen und gewissermaßen vor allem bewahren zu können, was sie zu verderben oder in Unordnung zu bringen droht. In der menschlichen Maschine werde ich eben dasselbe gewahr. Der Unterschied ist nur dieser: bei den Verrichtungen der Tiere muß die Natur alles wirken, während der Mensch als ein freihandelndes Wesen zu seinen Verrichtungen vieles beiträgt. Jene wählen und verwerfen aus einem bloßen Instinkt, dieser aus Freiheit" (2. Disc, in: Rousseau I, S. 203). — Dann aber nennt Rousseau die von ihm angenommene ursprüngliche Promiskuität — vor aller triebsteigernden Institutionalisierung von „Liebe" und den damit verbundenen Gebots- und Verbotsregeln „eine bloß tierische Handlung". Auch ist er sich unklar über die Stellung der Primaten, etwa, wenn er — selbstverständlich entgegen den Gelehrten der Zeit — die Orang-Utan als Frühmenschen sieht, vgl. X . Zusatz zum 2. Discours in: Rousseau I, S. 284. Vgl. auch die Referierung Buffons, der die Lebensdauer der Tiere und Menschen ins Verhältnis setzt zu ihren Wachstumsjahren: VII. Zusatz zum 2. Disc, in: Rousseau I, S. 273.
17
2. Disc, in: Rousseau I, S. 195. Vgl. ζ. B. GA3, S. 5, 11, 145 u. 4 6 6 sowie GA4, S. 415. Vgl. GA3, S. 6. Vgl. ζ. B. Rousseau I, S. 226 u. 263 f. Vgl. zum Lob Montesquieus ζ. B. auch: E, S. 5 0 4 f. u. 517 sowie Fetscher: Rousseau, bes. S. 166 f.
18 19 20 21
226
Karl-Siegbert Rehberg
Es ist leicht zu begreifen, d a ß aus dieser allmählichen Veränderung der menschlichen Beschaffenheit [d. h. aus den gesellschaftlichen Verhältnissen nach der Durchsetzung des Eigentums] alle Verschiedenheiten entsprungen sind, die wir zwischen den Menschen antreffen, denn niemand zweifelt d a r a n , d a ß die Menschen von N a t u r einander ebenso gleich sein sollten, als es alle Tiere untereinander sind. 2 2
II. Anthropologische Vergleichsmaßstäbe 1. Der Anti-Rousseauismus der Philosophischen Anthropologie S i e h t m a n R o u s s e a u n u n als B e z u g s f i g u r a n t h r o p o l o g i s c h e n P h i l o s o p h i e r e n s — n o c h in u n s e r e r Z e i t —, s o ist d a s V e r h ä l t n i s d e r G e h l e n s c h e n A n t h r o p o l o g i e zu R o u s s e a u a m sachhaltigsten u n d d e s h a l b a u f s c h l u ß reichsten. G e h l e n w a r kein philologisch interessierter A u t o r , der die herbeigezogenen
Denker
subtil interpretiert
hätte; vielmehr piazierte
er
seine B e z u g n a h m e n auf a n d e r e W e r k e strategisch-selektiv: D a k a m einer w i e R o u s s e a u g e r a d e r e c h t . G e h l e n s A n t h r o p o l o g i e ist g a n z o f f e n s i c h t lich a l s A n t i t h e s e g e m e i n t . E r h a t d i e s — o b w o h l e r R o u s s e a u in s e i n e m H a u p t w e r k Der
Mensch
n u r e i n m a l a n n e b e n s ä c h l i c h e r Stelle e r w ä h n t
— mit anti-aufklärerischem Pathos hervorgehoben: Ich vertrete geradezu einen umgekehrten S t a n d p u n k t als das 18. J a h r h u n dert: es ist Zeit f ü r einen Gegen-Rousseau, f ü r eine Philosophie des Pessimismus und des Lebensernstes. , Z u r ü c k zur N a t u r ' heißt f ü r Rousseau: die Kultur entstellt den Menschen, der N a t u r z u s t a n d zeigt ihn in voller Naivität, Gerechtigkeit und Beseelung. Dagegen und umgekehrt scheint es uns heute, d a ß der N a t u r z u s t a n d im Menschen das C h a o s ist, das M e d u senhaupt, bei dessen Anblick man erstarrt. Die Kultur ist das U n w a h r scheinliche, nämlich das Recht, die Gesittung, die Disziplin, die Hegemonie des Moralischen. Aber [... wenn] die Gaukler, Dilettanten, die leichtfüßigen Intellektuellen sich vordrängen, w e n n der Wind allgemeiner H a n s wursterei sich erhebt, d a n n lockern sich auch die uralten Institutionen und die strengen professionellen Körperschaften: das Recht wird elastisch, die Kunst nervös, die Religion sentimental [...], der Mensch wird natürlich und alles wird möglich. Es m u ß heißen: Zurück zur Kultur! Denn vorw ä r t s geht es o f f e n b a r mit schnellen Schritten der N a t u r entgegen. 2 3
22 23
Vorrede zum 2. Disc, in: Rousseau I, S. 182. GA4, S. 133 f. [Hervorheb. von mir, K.-S. R.].
Natur und Sachhingabe
227
Philosophische Anthropologie ist der Name für denjenigen Denkansatz, der die Naturtatsachen, wie die Biologie und die anderen empirischen Menschenwissenschaften sie seit fast zweihundert Jahren zu unwiderlegbaren Bestandteilen unseres Weltbildes gemacht haben, nicht ignorieren und gleichwohl ein philosophisches Verständnis der Besonderheit der Stellung des Menschen im Kosmos — so der Titel der berühmten Initialschrift Max Schelers aus dem Jahre 1928 — eröffnen sollte. Ganz falsch ist es, wie es oft getan wurde, 24 daraus — etwa Gehlen gegenüber — den Vorwurf eines ,Biologismus' abzuleiten; denn es ging um das Besondere der menschlichen Kultur als der entscheidenden Grundlage einer ,Welt' des Menschen, in der dieser nicht instinktiv eingepaßt lebt, sondern in der er — Welten entwerfend und verändernd — sein Leben ,führen' muß. 25 Die ,Natur' wurde also — wie bei Rousseau — zum entscheidenden Bezugspunkt, aber zu einem problematischen. 26 Für die hier gemeinten Anthropologen — Max Scheler, Helmuth Plessner, Arnold Gehlen, auch für einen Vorläufer wie Paul Alsberg — war die Natur keine unmittelbar normgebende Macht, wohl aber eine, welche die Menschen zur Normsetzung zwingt. Mittelbar war allerdings gerade diese Konstellation wiederum selbst naturgegeben: „,Kultur' ist daher ein anthropobiologischer Begriff", schreibt Gehlen, „der Mensch von Natur ein Kulturwesen". 27 Dieses Wesen ist ein Naturentwurf, wobei „Natur" bei Gehlen — wie bei Rousseau — oft als Quasi-Subjekt erscheint. 28 Rousseau ist ein Antipode nicht nur Gehlens, sondern auch Plessners (der Rousseau allerdings kaum je erwähnt, jedenfalls den eigenen Ansatz 24
25 26 27
28
Vgl. Gehlen: Stellungnahme, GA3, Anm. 784.20, und Rehberg: Nachwort zu GA3, bes. S. 772. Vgl. GA3, S. 12, sowie Rehberg: Nachwort zu GA3, S. 763. Vgl. Treml: Natur, S. 806 ff. Vgl. GA3, S. 88 u. 138 sowie Rehberg, Nachwort zu GA3, S. 767, 781 und 7 8 4 f. Vgl. ζ. B. GA3, S. 9 f., 12 f., 18, 30 u. 54. - Bruno Liebrucks ( S p r a c h e , S. 81) fragt nicht ohne Recht, was es mit Gehlens „ technischer' Metaphysikenthaltung" auf sich habe, wenn „ ,Geist' schon in der Natur zu finden ist". — Bei Gehlen finden sich auch spinozistische Motive, vermittelt durch den Vitalismus seines Lehrers Hans Driesch — vgl. dazu Samson: Naturteleologie, bes. S. 116 ff. Heideggers Konzeption formuliert die Gegenposition am schärfsten: „Nicht ,die Natur' bringt ihn [den Menschen] hervor, nicht er stellt sich her, sondern das Sein ruft ihn hervor" (Heidegger: Piaton, S. 67, zit. in: Ballauff: Mensch, S. 579). Ballauff (ebd., S. 574) zitiert in diesem Sinne zudem Gustav Wyneken, der den Menschen einen Wurf [!] „der Natur über sich selbst hinaus" nennt (was aber der Gehlenschen Sprechweise wieder sehr nahe kommt); vgl. Wyneken: Weltanschauung, S. 354.
228
Karl-Siegbert Rehberg
nicht in ausdrücklichem Kontrast zu ihm bestimmt hat). Trotz vielfältiger Differenzen Gehlens und Plessners (vor allem auch in den Voraussetzungen ihres Denkens und den politisch-sozialen Schlußfolgerungen aus den eigenen T h e o r e m e n ) , ist ihre Position Rousseau gegenüber gut vergleichbar. Bei Plessner ist es ein bürgerlich-liberaler
Anti-Romantizis-
mus, ein entschiedener, auf Distanznahme bestehender Individualismus, der ihn allem Unmittelbaren gegenüber, ζ. B. dem Gemeinschaftsdenken, vorsichtig-skeptisch stimmte, der ihn dazu brachte, anthropologisch zeigen zu wollen, daß alle Unmittelbarkeit
gefährlich und alle Natürlichkeit
eine auf Vermittlungsverlusten beruhende Täuschung sei. Bei Gehlen sind die gleichen Ansichten aktivistischer zugespitzt und mit konservativen Ordnungssynthesen verknüpft. 2 9 D a ß sein starrer Institutionalismus allerdings durch seine anthropologischen Funde oft nicht gestützt wird, jedenfalls nicht notwendig aus ihnen folgt, wird gerade durch einen Vergleich mit der Rousseauschen Position sichtbar. Soweit die anthropologischen Deutungen von Plessner und Gehlen als Begründung einer (soziologisch durchgeführten) Ordnungstheorie entwickelt sind, stehen sie in krassem Gegensatz zu allen Setzungen R o u s seaus, ganz gleich ob es sich um die Ansicht handelt, die Würde der menschlichen Person k ö n n e sich erst aus den Institutioinen und ihrer sinnvermittelnden
— deshalb unhinterfragbaren
— Geltung
ergeben
(Gehlen) oder um die korrespondierende, etwas flexibler formulierte Variante bürgerlichen Gesellschaftsdenkens, daß es nämlich die Rollenmuster und in Kämpfen entwickelten Habitusformen seien, die dem M e n schen als Person Schutz vermitteln und Sicherheit vor der E n t b l ö ß u n g , 3 0 vor der Lächerlichkeit, der preisgegeben ist, wer sich dem „Blick" der Anderen ausliefert (Plessner). Letzteres ist ein protestantisches Ur-Motiv, das ζ. B. auch Jean-Paul Sartres Menschenbild zentral b e s t i m m t e . 3 1 Das erinnert allerdings wiederum auch an Rousseau: Der ungeschickte, die
29 30
31
Vgl. zu Plessner und Gehlen auch: Rehberg: Werk und ders.: Antipoden. Die Menschen im Paradies könnten nackt sein, weil sie keinen Feind mehr hätten, notierte sich Carl Schmitt am 15. 6. 1950, vgl. ders.: Glossarium, S. 306. Vgl. zum Modell der Selbstauslieferung an den „Blick" der anderen: Sartre: Sein, bes. 338 — 397, und ders.: Idiot, bes. Bd. 3, Zweites Buch: Das College, S. 475 — 847, sowie zu Sartre und Gehlen: Rehberg: Motive. — Zu klären wären die calvinistisch-reformierten Fundamente einer solchen Ethik, angesichts des intersubjektiven Gesehenwerdens als der säkularisierten Form des göttlichen Blickes — auch bei Rousseau und Sartre; vgl. auch: Beerling: Jean-
Jacques.
Natur und Sachhingabe
229
Salons darum umso mehr verachtende Schweizerische Außenseiter in der Großen Gesellschaft des übermächtigen Paris wollte durch seine poetisierenden Kompensationsversuche jene Natürlichkeit wieder heraufbeschwören, in der solche Bloßstellung nicht zu fürchten ist. Nicht also in der Ausgangslage, dem Bedrohungsgefühl und dem Urerlebnis der Riskiertheit — Gehlen macht dies geradezu zu einem Definitionsmerkmal des Menschen 3 2 — liegt der Unterschied, sondern in den Konsequenzen. Ganz entgegengesetzt sind die Vorstellungen davon, wie man die eigene Person schützen könne, einerseits durch machtvolle oder wenigstens machtgestützte Sicherungen, andererseits durch eine Vermeidung der Kraftfelder des Machtkampfes. Aber auch da kann man sich täuschen: Die Allgegenwart der Macht kann noch die Refugien in Neuchätel oder in der Einsamkeit von Montmorency erreichen und zerstören. So liegt die wirklich entscheidende Differenz zwischen Plessner und Gehlen (auch Scheler) auf der einen, Rousseau auf der anderen Seite in der Beurteilung der lndirektheit. Der Rousseausche Satz: „Der wilde Mensch lebt in sich, der gesellige immer außer sich und [...] nur in der Meinung, die andere von ihm haben", 3 3 ist gerade kein Ausgangspunkt für die Philosophische Anthropologie, verfehlt ζ. B. Plessners Exzentrizitäts-These, nach welcher der Mensch kategorial einen Bezug zu sich selbst nur über andere herstellen kann. Diese Bestimmung einer Lebensform durch ihre Überschreitungs- und Selbstobjektivierungschance heißt bei Plessner (ähnlich, nur im Hegeischen Sinne kollektiv objektiviert, bei Gehlen) Geist. Herder kam diesen Ansichten schon näher als Rousseau, er sah den Zusammenhang zwischen der menschlichen Konstitution und einer „Sphäre der Bespiegelung", also eine schon die Subjektivität konstituierende — sozusagen von Anfang an mitgedachte — Sozialität' des menschlichen Selbstbezuges. 34 Aus diesen Unterschieden folgt auch, daß — ganz entgegen der zentralen Stellung des „Taktes" in Plessners Anthropologie der Macht 3 5 oder der Darstellung zivilisierender Interdependenzverdichtungen durch die (zuerst) höfische Etikette bei Norbert Elias 3 6 — Höflichkeit für Rousseau nur äußerer Schein, Täuschung, Selbstgefälligkeit ist, bestenfalls ein Mit-
32
33 34 35 36
Vgl. ζ. B. GA3, S. 30. 2. Disc, in: Rousseau I, S. 264 bzw. E, S. 12.
Vgl. Herder: Abhandlung, S. 26. Vgl. Plessner: Macht. Vgl. Elias: Gesellschaft bzw. ders.: Prozeß.
230
Karl-Siegbert Rehberg
tel der O h n m ä c h t i g e n , sich durch List zu b e h a u p t e n . 3 7 Und vor allem ist die Höflichkeit ein Mittel der subtileren Bosheit: Wo „Kälte, Zurückhaltung, H a ß und Verleumdung" herrschen, wird man seinen Feind „nicht mehr offen beleidigen, dafür aber insgeheim verleumden" — das ist eine Entlarvungspsychologie, würdig eines Nietzsche, der im „letzten M e n s c h e n " diesen Habitus auf Dauer gestellt sah: „man geht achtsam einher. Ein T h o r , der noch über Steine und Menschen s t o l p e r t ! " 3 8 Bei Gehlen wird der Gegensatz zu Rousseau dadurch noch deutlicher, daß er Hegels Setzung — welche durchaus auch Rousseau hätte unterschreiben können —, d a ß wahre Freiheit allein in der Anerkenntnis der Notwendigkeit liege, 3 9 dahingehend verschärfte, daß er Rousseaus und der Linkshegelianer Entfremdungs- und Verdinglichungskritik geradezu verkehrte, indem er die „Geburt der Freiheit aus der E n t f r e m d u n g " 4 0 postulierte. Wer so argumentiert, entwickelt ein waches Mißtrauen gegenüber den menschlichen Expressionen und Gefühlen (sogar den eigenen). Bestimmend wird der Verdacht, d a ß der Mensch eher der Steigerung und kulturellen Formierung bedürfe als der Autonomie, mehr des „Führens" als des „Wachsenlassens" (um T h e o d o r Litts berühmte Formulierung aufzun e h m e n ) . 4 1 In diesem Sinne scheint jeder Satz Rousseaus eine Gegenformulierung in Gehlens Werk zu finden (aber ebenso in dem Plessners, wie mit Bezug auf dessen M a c h t t h e o r i e schon gezeigt wurde). Für alle philosophische Anthropologie
(selbst für den aus
jüdisch-christlicher
D o g m a t i k sich herausarbeiten wollenden M a x Scheler) gilt: Schopenhauer und Nietzsche sind hier eher Ratgeber als Rousseau.
37
38 39
40 41
Der „verfeinerte Geschmack" und die „Kunst zu gefallen" führen zu einem Zustand, in dem die Höflichkeit Forderungen stellt und „der Anstand" gebietet; „immer folgt man angenommenen Gebräuchen und niemals seinem eigenen Sinne" (1. Disc, in: Rousseau I, S. 35). Vgl. Nietzsche: Zarathustra. 5. Vorrede, S. 20. Vgl. Hegel: Grundlinien, S. 343, 412 und mit Bezug auf Rousseau: ders.: Geschichte III, S. 308 ff. und 331 sowie ders.: Wissenschaft II, S. 239. — Bei Rousseau heißt es: „Der Naturmensch lernt in allen Dingen das Joch der Notwendigkeit zu tragen und sich ihm zu unterwerfen, nie gegen die Vorsehung zu murren" (Rousseau II, S. 489). Gehlen: Geburt. Litt: Führen - vgl. zu Litts Gehlen-Kritik ders.: Mensch, S. 2 8 7 - 3 0 6 . Richtig ist es, Herders Position des Wachsens und der Entstehung sozialer Formen zu betonen und Gehlens Herder-Rezeption gerade darin als einseitig zu empfinden, vgl. ζ. B. Liebrucks: Sprache, S. 81, Häberlin: Anthropologie und Brede: Antinomien.
Natur und Sachhingabe
231
2. Sachempfindlichkeit und Reflexionsabwehr bei Rousseau und Gehlen Die daraus sich ergebenden Oppositionen sind — besonders im Vergleich Gehlens mit Rousseau — so offensichtlich, daß ihr weiterer Aufweis unterbleiben mag. Aber damit ist das Kapitel nicht beschlossen — der Ertrag wäre allzu mager. Deshalb will ich — vor allem im Vergleich der Rousseauschen Sozialtheorie und Erziehungslehre mit Gehlens anthropologischem Modell — Übereinstimmungen zwischen diesen beiden Autoren aufzeigen, also ein Spannungsfeld, das Inkonsequenzen, ungelöste Widersprüchlichkeiten, aber auch Vielschichtigkeiten oder von den Autoren in Kauf genommene Mehrdeutigkeiten in beiden Konzeptionen sichtbar macht. Jean-Jacques' leidvoll-stereotypes Frauenbild mag dabei übergangen werden — hier wäre eine Übereinstimmung mit Gehlen allzuleicht zu erreichen. 42 Beide meinten, daß den Frauen fehle, was einzelne von ihnen durchaus auszeichnen mag, auf die man dann — wie Rousseau formulierte — sogar „hören kann", er nämlich auf Fran^oise de Graffigny, die Verfasserin der Cenie und der Lettres p0ruviennes (1747). 4 3 Gehlen empfahl und beherzigte das etwa für Hannah Arendt, Margaret Mead oder Margret Boveri. Zweifellos zeichnet Rousseau das Zerrbild der „weiblichen Natur" naiver und emphatischer, Gehlen mit mehr Zurückhaltung und Vorsicht. Aber die tragenden Vorurteile verbinden — und (wie man weiß) nicht nur diese beiden Autoren. M a x Scheler war das noch nicht prinzipiell genug gedacht; er kritisierte: „Die rohe Vorstellung des 18. Jahhrunderts, ζ. B. J . J . Rousseaus, daß die seelischen Differenzen von Mann und Weib ausschließlich Folgen der leiblichen und biologischen Funktionsunterschiede der Geschlechter seien, sonst aber beide je dasselbe Exemplar ,vernünftige Seele' besäßen, muß mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden. Die geschlechtliche Differenz ist geistig ebenso ursprünglich, wie sie es leiblich und biologisch ist." 4 4 Auch die korrespondierenden Phantasmen der „militärischen Paradiese", von der gleichsam kompensatorischen Option für die (Gehlen 42
Vgl. z . B . Rousseau I, S. 49, 112 f., 163, 2 2 3 , 3 8 0 ff., 4 2 3 f., 4 3 6 , 4 3 9 , 4 4 3 und £ , S. 3 8 9 ff. und Gehlen: Matriarchat. — Vgl. zu Rousseau auch Prokop:
Konstruktion. 43
Vgl. Erläuterungen von Henning Ritter in: Rousseau I: S. 639, und Rousseau:
Bekenntnisse, Buch IX, S. 454. 44
Scheler: Frauenbewegung, ζ. B. Rousseau I, S. 2 3 4 .
S. 205; vgl. zur geschlechtlichen
Arbeitsteilung
232
Karl-Siegbert Rehberg
k a u m weniger als Rousseau fehlende) „ursprüngliche Stärke" und militärische K r a f t 4 5 nicht verweichlichter M ä n n e r mögen dahinstehen. In ihnen wird ein Bild der „ N a t u r " e n t w o r f e n , die weniger Idyll als vielmehr dem Menschen ein „Sparta" ist. 4 6 Mir geht es statt solcher „ M ä n n e r p h a n t a s i e n " 4 7 u m den analytischen Kern der anthropologischen Ansätze: Bei Rousseau findet sich wie bei Gehlen eine Bestimmung des Menschen als eines von G e b u r t an auf Lernen angewiesenen Wesens, das alle Sinne und Persönlichkeits-„Schichten" 4 8 aktiv verknüpft: „Der Mensch lernt mit den Augen seines Geistes ebenso wie mit den Augen seines Leibes sehen", sagt Rousseau. 4 9 Beide Autoren bestimmen Denken als ein aktives Prinzip, 5 0 als Medium der praktischen Weltaneignung, dem wir auch unsere Selbstgewißheit verdanken, also die Auflösbarkeit des cartesischen Zweifels in praktischen Handlungsvollzügen und -erfolgen; H a n d lung ist d a n n die andere Seite des Erkennens, Denken immer ein „virtuelles H a n d e l n " . D a m i t ist Erfahrung ein sicherer Erkenntnisgrund geworden, ein privilegierter Z u g a n g zur Welt, der immer ein Selbstverhältnis einschließt: Im Emile wird die „ E r f a h r u n g als Lehrerin" geschildert, 5 1 u n d bei Gehlen heißt es etwa, ein „erfahrener Mensch ist [...] nicht einer, der richtige Urteile zur H a n d hat, sondern einer, der auf irgendeinem Gebiete, und m a g es sich schließlich um bloße körperliche Geschicklichkeit handeln, etwas aufgebaut, verfügbar hat und einfach k a n n " . 5 2 Erf a h r u n g und Können, Verfügen und Sich-Selbst-Finden hängen eng zus a m m e n — es ist dies ein aktiver, an den eigenen Handlungsrealitäten entwickelter Weltumgang (ganz wie für Rousseau). Wird dieser Ausg a n g s p u n k t weiter konkretisiert, so ergeben sich vielfältige Parallelen zwischen beiden Autoren, die bei oberflächlicher Betrachtung übersehen 45
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48
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Bei Rousseau in einer m e r k w ü r d i g positiven Stellung zum Duell nachklingend - vgl. E, S. 258 f. Vgl. dazu 1. Disc, in: Rousseau I, S. 40. Vgl. Theweleit: Männerphantasien oder Sombart: Männer-, letzteres eine prächtige Collage möglicher Motivvernetzungen im Z u s a m m e n h a n g von Wilhelminismus und Carl Schmitt, die m a n allerdings nicht — wie der A u t o r — als Kausalanalyse lesen sollte; d a n n wäre ihre Einseitigkeit geradezu obsessiv. Vgl. zu Gehlens Ablehnung der Schichten-Modelle, bes. bei Rothacker, aber auch bei Nicolai H a r t m a n n : Rehberg: N a c h w o r t zu GA3, S. 757, und Briefe Gehlens an Nicolai H a r t m a n n aus den J a h r e n 1940 und 1941 in ebd.: Anm. 757.10. Rousseau: Brief, S. 525. Vgl. ζ. Β. E, S. 279 f. Vgl. ζ. B. den so überschriebenen Abschnitt im Vierten Buch: E, S. 257—261. GA4, S. 6.
Natur und Sachhingabe
233
werden. Hier muß im Rückgriff auf das eben Gesagte eingeschaltet werden, daß auch die noch näher aufzuweisende Dingbezogenheit der Analyse bei Rousseau und Gehlen gleichermaßen mit einer Vermeidung des Femininen (und damit eng verknüpft: der Familie) zusammenhängen mag. Dieter Ciaessens hat gezeigt, wie familienfern Gehlens Sozialisationsmodell ist, in dem die Mutter-Kind-Dyade unbehandelt bleibt und die gruppenspezifischen „Insulations"-Effekte, die für die Reproduktionsbedingung unerläßlich sind, übergangen werden. 5 3 Gehlen behandelt demgegenüber die von Kindesbeinen an ,einsame', von anderen allenfalls begleitete Umgangssensibilisierung des Einzelmenschen. Damit werden die Bezugspersonen, die Mütter als wichtigste, sekundär und ausblendbar. Z w a r betonte Rousseau, am „meisten k o m m t es auf die erste Erziehung an, die unbestreitbar Sache der Frauen i s t " , 5 4 deren „Urpflichten" deshalb auch an den Anfang jeder Erörterung über Erziehung zu setzen seien. Aber er tut das nur, um es schnell wieder vergessen zu machen. Denn als „Opfer der Frauen" würde das Kind (spätestens nach fünf, sechs Jahren) „Sklave und Tyrann zugleich", bedarf also notwendig des Vaters als seines „wahren Lehrers" oder — schon schlechter, aber wahrscheinlicher — eines (vielleicht sogar bezahlten) Erziehers, 5 5 der es mit dem Gang der Natur und den Erfordernissen der Dinge vertraut macht, es zur Eigentätigkeit anregt und seinen Erfahrungsaufbau leitet. 5 6 Die systematisch entscheidende Übereinstimmung ist nun der Gedanke der Selbsttätigkeit, der bei Gehlen wie bei Rousseau zur Vorstellung eines über die Dinge und Sachgesetzlichkeiten geleiteten Prozesses der eigendynamischen Welterfassung führt. 5 7 „Kein materielles Wesen", schreibt Rousseau, „ist durch sich selbst tätig; ich aber bin e s " . 5 8 So ist es kein Zufall, daß in beiden Anthropologien letztlich ein oniogenetisches Modell in den Mittelpunkt gerückt wird, also die Entwicklung des Einzelmenschen. Gehlens vielfältige und sehr intelligent ausgewerteten Kinder-Beobachtungen in Der Mensch berühren sich mit Rousseaus fiktivem
53
54 55 56
57 58
Vgl. Ciaessens: Instinkt,
bes. S. 166 ff., ders.: Das Konkrete,
bes. S. 60 ff.,
sowie zu dessen These: Rehberg: Diskussionsbeitrag, S. 6 3 5 f. E, S. 9. E, S. 2 f. Noch in der Begründung, warum er „seine Kinder" (ob es die seinen waren — vgl. Holmsten: Rousseau, S. 63 — mag dahinstehen) ins Findelhaus gab, wird betont, daß er ihnen kein Erzieher sein konnte, die Mutter sie hingegen verzogen hätte und die Verwandten „wahre Ungeheuer" aus ihnen gemacht hätten: Rousseau II, S. 7 4 6 . Vgl. ζ. Β. E, S. 101 ff. E, S. 292.
234
Karl-Siegbert Rehberg
und programmatischen Erziehungsbericht: Anthropologie verläßt hier wie dort die Spekulationen der gattungsgeschichtlichen Ur-Kausalitäten und kehrt zu den Prozessen der — auch vom Autor je selbst erfahrenen — Personwerdung zurück. Daß Gehlens gesamtes Werk durch existentielle (und zuweilen existentialistisch durchgeführte) Motive bestimmt ist, letztlich so etwas wie ein „philosophischer Bildungsroman", habe ich an anderer Stelle ausführlich dargelegt. 59 Auch das eröffnet Nähen zu Rousseau. Ich will im folgenden die zentralen Aspekte des menschlichen Leistungsaufbaues in diesen anthropologischen Deutungen darstellen: Rousseau wies nachdrücklich darauf hin, daß das Kind „alles berühren, alles anfassen" will, und wie es dadurch „Wärme, Kälte, Härte, Weichheit, Schwere, Leichtigkeit der Körper kennen und die Größe, Gestalt und alle anderen Eigenschaften" beurteilen lernt, „indem es sie betrachtet, befühlt, belauscht, indem es Gesichts- und Tasteindrücke vergleicht; indem es das Auge lehrt, abzuschätzen welchen Eindruck die Körper unter den Fingern erzeugen". 6 0 Gehlen hat in gleicher Weise gezeigt, wie die Menschen ihr Handlungsfeld tastend aufbauen, die Welt also wirklich be-greifen lernen, wobei der Mechanismus der Entlastung zentral für den menschlichen Leistungsaufbau ist, also zuerst die Höherlegung der Tasterfahrungen durch die Komplexitätssteigerung der Verarbeitung von Seheindrücken (ζ. B. durch Gesia/iwahrnehmung) 61 , sodann die wiederum ,höhere' Verarbeitung all dessen durch sprachliche Verfügung. Darauf basiert dann eine (relativ) freie Montierbarkeit der Dinge und Umgangswerte: das ist die spezifisch menschliche, nämlich zerebrale Repräsentanz aller Körperempfindungen und Vollzugserfahrungen. Gehlen faßt das so zusammen: Die Welt wird [...] in bedürfnisfreien (selbst entlasteten), kommunikativen Bewegungen und Aktionen ,durchgegangen', ihre offene Fülle in Erfahrung gezogen, ,erkannt' und abgestellt, und dieser Prozeß [...] hat als Re59 60
61
Vgl. Rehberg: Motive. E, S. 41. — Über die (tastende) Wahrnehmung ergeben sich die Möglichkeiten des Vergleichens, damit die Grundlage für Urteile, so daß Empfindungen nicht einen passiven Eindrucksempfänger entstehen lassen, sondern einen aktiven und insofern: intelligenten Menschen (vgl. z . B . E, S. 280 u. 282), was wiederum ganz zu Gehlens These vom Intelligenzaufbau paßt. — Rousseaus harmonistischer Funktionalismus äußert sich in folgender Formulierung: „der Tastsinn [...] liegt wie ein ewiger Wächter auf der ganzen Oberfläche des Körpers und setzt uns von allem in Kenntnis, was uns schaden könnte" (£, S. 120). Vgl. E, S. 128 und GA3, S. 1 8 2 - 1 8 5 .
N a t u r und Sachhingabe
235
sultat die uns gegebene W a h r n e h m u n g s w e l t . [...] der bloße oberflächliche optische Eindruck gibt uns Symbole, welche uns den G e b r a u c h s w e r t und die Umgangseigenschaften der Dinge (Gestalt, Schwere, Textur, H ä r t e , Gewicht usw.) a n d e u t e n . 6 2
Rousseau sieht ganz ähnlich in den durch Bewegungserfahrungen ermöglichten Erprobungen der w a h r g e n o m m e n e n Gegenstände und der „sinnlich erfaßbaren Beziehungen zwischen den Dingen" eine „Art von Experimentalphysik, die sich auf die eigene Erhaltung bezieht" und von der, wie er gleich hinzufügt, „spekulative Studien und Bewußtseinsinhalte" n u r ablenken w ü r d e n . 6 3 Es sind gegenseitige Verstärkungen oder „Kreisprozesse" 6 4 , wie Gehlen sagt, welche die Weltaneignung d a n n a k k u m u l a t i v vorantreiben, wobei die auf R ü c k k o p p e l u n g s e f f e k t e n 6 5 beruhende E n t f a l t u n g des Sprachvermögens w i e d e r u m auf Kreisbewegungen des Sprech-Hör-Systems basiert. Diese Entlastung der H a n d durch Auge und Sprache und die dadurch erreichbaren Freiheitsgrade sind f ü r Gehlen das entscheidende Charakteristikum der menschlichen „Interessenarchitektur" und der Formierung seiner Antriebe; das kennzeichnet er durch den H e r d e r entlehnten Begriff „Spracbmäßigkeit" des menschlichen Antriebslebens (vgl. Abschn. II.3 des vorliegenden Aufsatzes). 6 6 Das hängt nun mit dem eigentätigen Aktivismus des auf Lernen angewiesenen Wesens Mensch eng zusammen: Wie George H e r b e r t Mead in der Erkennbarkeit der eigenen L a u t p r o d u k t i o n eine Quelle des menschlichen Geistes sah (weil die Laute als selbstproduzierte z u r ü c k e m p f u n d e n und d a d u r c h wiederholbar und variierbar werden — wie auch Gehlen in sehr subtilen Analysen gezeigt hat), so formulierte auch schon Rousseau die Prinzipien der sich selbst verstärkenden Eigenkommunikativität auf der Basis der L a u t p r o d u k t i o n , vor allem der „Lallmonologe" der Kinder: Wir haben ein O r g a n , das dem G e h ö r entspricht: die Stimme. Für das Sehen haben wir keines; wir k ö n n e n die Farben nicht so wiedergeben wie die Töne. D a m i t haben wir ein weiteres Mittel, das G e h ö r zu pflegen, indem wir das aktive und das passive O r g a n gegenseitig ausbilden. 6 7 62 63 64 65
66 67
GA3, S. 39. E, S. 111. Vgl. GA3, S. 1 4 9 - 1 7 0 . Vgl. Rehberg: N a c h w o r t zu GA3, S. 775, u n d A n m . 775.32 sowie GA4, S. 208, 210 u. 240. Vgl. ζ. B. GA3, S. 65, 217, 245 u. ö. und Rehberg: N a c h w o r t zu GA3, S. 778. E, S. 138; vgl. Wilhelm v. H u m b o l d t (Werke III, S. 428) zum lebendigen Klang, der „wie das a t h m e n d e Daseyn selbst" aus der Brust h e r v o r f ä h r t ; die Stimme „begleitet, auch ohne Sprache, Schmerz und Freude, Abscheu u n d
236
Karl-Siegbert Rehberg
Aus alledem ergibt sich eine Autonomie des Weltaufbaues durch die einzelne Person, eine sozusagen solipsistische Sozialisation im Umgang mit den Sachen, die erkennen läßt, daß beide Sozialtheoretiker die Gesellschaftlichkeit in ihrer Anthropologie nicht als konstitutives Gattungsmerkmal nehmen (zumindest nicht bei der Analyse des menschlichen Leistungsaufbaues), sondern daß die Kategorien des Sozialen als etwas Hinzutretendes, Sekundäres erscheinen, vielleicht als „ärgerliche Tatsac h e " , wie einst bei R a l f D a h r e n d o r f (der dies jetzt allerdings widerruft). 6 8 Anders als die englischen Gentlemen-Anthropologen
— etwa
Adam Smith oder David H u m e —, welche aus der Geselligkeit des Menschen, aus seiner ursprünglichsten Soziabilität alle seine Fähigkeiten und Bedürfnisse ableiten wollten, und unvermittelter auch, als dies Kant mit seiner Formel von der „ungeselligen Geselligkeit" des Menschen gel a n g , 6 9 setzt Rousseau (wie es implizit auch Gehlen später tut) R o b i n s o n , „allein auf einer Insel, ohne Beistand und ohne Werkzeug", als Vorbild ein. Rousseau weiß sehr wohl, daß dies „nicht der Regelfall in der menschlichen Gesellschaft ist; Emile wird wahrscheinlich auch nicht so leben. Aber nach diesen Verhältnissen soll er die anderen messen", denn „der Schüler der Natur ist frühzeitig geübt, sich so weit wie möglich selbst zu g e n ü g e n . " 7 0 Dieses mehr unterlaufende als wirlich durchanalysierte Bild von der sekundären
Gesellschaftlicbkeit
eines doch durch und
durch vergesellschafteten Wesens läßt Rousseau sagen, daß die Natur sich „wenig M ü h e gegeben hat, die Menschen durch gegenseitige Bedürfnisse zusammenzubringen und ihnen den G e b r a u c h der Sprache leichter
68
69
70
Begierde, und haucht also das Leben, aus dem sie hervorströmt, in den Sinn, der sie aufnimmt, so wie auch die Sprache selbst immer zugleich mit dem dargestellten Object die dadurch hervorgebrachte Empfindung wiedergiebt und in immer wiederholten Acten die Welt mit dem Menschen oder [...] seine Sellbstthätigkeit mit seiner Empfänglichkeit in sich zusammenknüpft". Vgl. Dahrendorf: Homo-, ders.: Einführung-, ders.: Gesellschaft sowie Rehberg: Institutionen·, vgl. auch Anm. 158. Vgl. Kant: Metaphysik, hier: Teil II: Tugendlehre [zuerst 1797], § 47, S. 333, wo es heißt: „Der Mensch ist ein für die Geselligkeit bestimmtes (obzwar doch auch ungeselliges) Wesen", das sich anderen „eröffnen" wolle, sich jedoch aus „Furcht vor dem Mißbrauch [...] beengt und gewarnt" genötigt sehe, „einen guten Teil seiner Urteile [...] in sich selbst zu verschließen". Plessner mag dadurch zur Formulierung anthropologischer Grundgesetze — ζ. B. das der „vermittelten Unmittelbarkeit" — angeregt worden sein; vgl. ders.: Stufen, S. 383 ff. E, S. 180 u. 103.
Natur und Sachhingabe
237
zu m a c h e n [ . . . ] und d a ß sie [ . . . ] sehr wenig beigetragen h a t , die M e n schen d u r c h B a n d e der Gesellschaft zu v e r e i n i g e n " . 7 1 Die gleiche Tendenz führt d a z u , d a ß Gehlen, der in D e u t s c h l a n d als erster die Bedeutung M e a d s e r k a n n t hatte, gleichwohl einen gehaltvollen Begriff von Intersubjektivität72
verfehlte. D a s v o n M e a d e n t w i c k e l t e M o -
dell der R o l l e n ü b e r n a h m e bezieht er v o r allem a u f die v o n ihm g r o ß a r t i g dargestellte S a c h k o m m u n i k a t i o n ; bei
R o u s s e a u hieß das: „ H a l t e t d a s
Kind v o n den Dingen abhängig und ihr w e r d e t es n a t u r g e m ä ß erzieh e n . " 7 3 Eine F o r m u l i e r u n g , die übrigens a u c h als M o t t o über d e m E r z i e hungskonzept M a r i a M o n t e s s o r i s stehen k ö n n t e . R o u s s e a u ist — wie die g r o ß e italienische P ä d a g o g i n der
Sachgesetzlichkeiten;74
— , a n t i a u t o r i t ä r ' im Dienste der A u t o r i t ä t
nicht G e h o r c h e n und Befehlen soll das Kind
kennenlernen, s o n d e r n den Z w a n g der Sache, der A n e r k e n n u n g f o r d e r t : „Der vernünftige M e n s c h bleibt auf seinem P l a t z " , und er akzeptiert dabei — wie i m m e r er die Abhängigkeit v o n anderen M e n s c h e n v e r a b scheuen m a g — die „Abhängigkeit von den D i n g e n " , von denen R o u s seau meint, sie stehe „ a u ß e r h a l b der M o r a l , schadet der Freiheit nicht und erzeugt keine L a s t e r " . 7 5 Bei Gehlen heißt es dazu g a n z ähnlich: Der ,Handlungskreis' [...] ist genötigt, dem Gesetz und dem Antwortverhalten der Tatsachen zu folgen, sich darauf einzulassen, ihnen nachzugehen und sie auszubauen. Diese Sachlichkeit des Verhaltens innerhalb der sachzufälligen Tatsachen erfordert auf der anderen Seite die Hemmbarkeit der Bedürfnisse [...], wenn diese Tätigkeit, ganz den Eigengesetzen des Sachumgangs hingegeben, künftigen Bedürfnissen dienen soll. 7 6
71 72 73 74
75 7ft
2. Disc, in: Rousseau I, S. 215. Vgl. Joas in Honneth/Joas: Handeln, S. 69 f. £ , S. 63. Man könnte meinen, daß Gehlens Bestimmung des Menschen als eines „Zuchtwesens" Rousseau in jeder Weise entgegenstünde, aber Barnard ( S e l f direction, S. 319, Anm. 54) weist ganz richtig darauf hin, daß für Rousseau „the word virtue comes from strength. Strength is the foundation of virtue". Ganz unmittelbar sah Rousseau die Notwendigkeiten der „ Z u c h t " bei den Frauen: „Müßiggang und Lernunwilligkeit sind die beiden gefährlichsten Fehler, die man am schwersten wieder ablegen kann, wenn man sie einmal angenommen hat. Mädchen müssen umsichtig und fleißig sein. Das ist aber nicht alles: sie müssen beizeiten an den Zwang gewöhnt werden. Dieses Unglück (wenn es für sie ein Unglück ist) gehört untrennbar zu ihrem Geschlecht. [...] Sie müssen also zuerst an den Zwang gewöhnt werden, damit es ihnen später keine Mühe mehr macht, ihre Launen zu beherrschen und sie dem Willen eines anderen unterzuordnen" (£, S. 399). E, S. 63. GA3, S. 56 f.
238
Karl-Siegbert Rehberg
So entstehen ,Sachinteressen', eine von den Sachgesetzlichkeiten her entw i c k e l b a r e Motivlage, welche die u r s p r ü n g l i c h e A n t r i e b s r i c h t u n g sogar u m z u k e h r e n v e r m a g 7 7 (Schlußfolgerungen, die der h a r m o n i s t i s c h e r denk e n d e R o u s s e a u aus seiner gleichgelagerten Analyse nicht zog). Von solchen Versachlichungsprozessen 7 8 a u s g e h e n d , sehnt R o u s s e a u sich (auch d a r i n wird Gehlen ähnlich a r g u m e n t i e r e n ) , n a c h einer Übersetzbarkeit dieses z w a n g l o s e n Z w a n g e s in gesellschaftliche N o r m i e r u n gen, w o b e i er Gehlens Vorstellungen v o n einer S a c h h e r r s c h a f t und Sachu n t e r w e r f u n g nicht fern steht: Wenn die Gesetze der Völker so unbeugsam wären wie die Gesetze der Natur, die keine menschliche Kraft jemals brechen kann, dann wären die Menschen von den Gesetzen genau so abhängig wie von den Dingen. Man könnte in der Republik alle Vorteile des Naturzustandes mit den Vorteilen der Gesellschaft verbinden. Und zur Freiheit, die ihn vor Lastern bewahrt, käme die Sittlichkeit, die ihn zur Tugend erhebt. 79 Gehlen h a t die Kategorien der „ S a c h e m p f i n d l i c h k e i t " in den Umgangsb e w e g u n g e n weiter entwickelt zur Vorstellung eines „Sachinteresses", d e m die „ H a n d l u n g e n n a c h w a c h s e n " m ü s s e n , 8 0 schließlich zur imponierenden f u n k t i o n a l e n A u t o r i t ä t 8 1 der „ S a c h z w ä n g e " , die aber nicht eine Ü b e r e i n s t i m m u n g von Perfektibilität, n a t ü r l i c h e r M o r a l , Fortschritt u n d m e n s c h l i c h e m Gleichgewicht versprechen, s o n d e r n sozusagen m e c h a nisch g e w o r d e n e E r l e d i g u n g s o r d n u n g w e r d e n . Gehlen f o r m u l i e r t in diesem Z u s a m m e n h a n g , w a s R o u s s e a u u n v o r s t e l l b a r blieb, was hingegen N i k l a s L u h m a n n z u m G e g e n s t a n d seines D e n k e n s g e m a c h t h a t , d a ß n ä m l i c h die g r o ß e n W e l t e n t w ü r f e sich unter d e m D r u c k der Sachgesetzlichkeiten in „ a u s e i n a n d e r l a u f e n d e Prozesse" a u f f ä c h e r n , „die i m m e r m e h r ihre eigene Gesetzlichkeit e n t f a l t e n " . 8 2 D a r a u s folgen d a n n Überleg u n g e n wie die H e l m u t Schelskys v o m „technischen S t a a t " , also der Ersetzung von H e r r s c h a f t d u r c h bloße E x p e r t e n r e g i e r u n g . H a n s Freyer,
77
78
79 80 81 82
Vgl. zu „Umkehr der Antriebsrichtung" GA3, S. 56, GA4, S. 112 u. 202 sowie Gehlen: Urmensch, S. 238 ff. „Versachlichung" hängt bei Gehlen tiefgründig zusammen mit „Instrumentalität" als einem grundlegenden Weltverhältnis des „weltoffenen" Wesens (Scheler); daraus entstehen „Wucherungen" und Verselbständigungen, welche Gehlen später in seinen Analysen des technischen Zeitalters behandelt; vgl. ζ. B. GA3, S. 466. E, S. 63. GA3, S. 54. GA7, S. 118 u. 398. GA7, S. 409.
N a t u r u n d Sachhingabe
239
Gehlen und Schelsky haben aus der anthropologischen Grundeinsicht der Sachgebundenheit menschlichen Handelns geradezu ein Konzept der Ordnungsgarantie im technischen Zeitalter und unter den Bedingungen der von ihnen perhorreszierten „Massengesellschaft" gemacht — sie haben sozusagen mit den Mitteln Rousseaus einen neuen Anti-Rousseauismus errichtet, eine „technokratisch-konservative" Theorie der Sachdominanz. 8 3 Das Beispiel zeigt, wie gleichgelagerte anthropologische Überzeugungen ordnungstheoretisch und geschichtsphilosophisch sehr verschieden ausgewertet werden können. Wenn ich von einer Parallelität und Übereinstimmung Gehlens und Rousseau spreche, so immer vor dem Hintergrund dieser tiefgreifendsten Verschiedenheiten in den Voraussetzungen und Schlußfolgerungen. Um die beiden Autoren wieder einander anzunähern, will ich noch einen letzten Punkt berühren: die Reflexionsfeindlicbkeit beider Dauerreflektierer. Die Angst davor, daß die Person als aus Phantasmen gebautes Weltzentrum sich verlieren könne — ein durchaus unromantisches Motiv auch bei Rousseau —, treibt Gehlen wie Rousseau dazu, gewissermaßen gegen ihre Einsicht von der Verknüpfung aller Seinsmodalitäten im Handeln, einseitig den Tatvollzügen einen Vorrang allem Vor- und Nachdenken gegenüber einzuräumen: 8 4 Rousseau sagt von seinem Emile bündig: „Er schwatzt nicht, er handelt", 8 5 und bestimmt den Menschen in seiner Vorrede zu Narcisse dadurch, daß er „geboren [ist] zum Handeln und Denken, nicht aber zum Nachdenken", 8 6 welches ein „widernatürlicher Zustand" sei, und einen Menschen, „der sich in Betrachtungen 83
84
85 86
Vgl. zu technokratischem Konservatismus ζ. B. Greiffenhagen: Neokonservatismus, S. 15 ff., aber auch Linde: Sachdominanz. Vgl. z . B . Gehlens Darstellung von Reflexionsprozessen in GA3, S. 2 9 0 f f . , oder 4 7 0 f . , u. GA4, S. 343. — Gehlen grenzt Reflexion v o m Bewußtsein durchaus ab, sagt beispielsweise ( G A 3 , S. 164), „daß es beim Menschen kein bewußtloses Dasein gibt, s o n d e r n nur bewußtlos gewordenes: G e w o h n h e i ten, die m ü h s a m aus Widerständen herausentwickelt w u r d e n , und n u n in die entscheidende neue Funktion eintreten, die Basis eines entlasteten, höheren, aber wieder bewußten Verhaltens zu w e r d e n " . Aber er verfehlt die h a n d lungsgebundenen und -begleitenden „Reflexionen", die d a u e r n d e n Sinnveränderungen u n d Komplexitätssteigerungen des Sinns und der H a n d l u n g s ziele. — Vgl. zum G e s a m t p r o b l e m von Reflexion und H a n d l u n g : Lepenies: Handlung, sowie Rehberg: N a c h w o r t GA3, S. 775 f. sowie ders.: Motive, S. 506 ff. E, S. 104. Rousseau I, S. 159.
240
Karl-Siegbert Rehberg
vertieft", nennt er „ein aus der Art geschlagenes T i e r " [!]. 8 7 Gehlen zitiert eine entsprechende Rousseau-Stelle — allerdings als Angriff auf den Geist der modernen Wissenschaftlichkeit —, weshalb die Übereinstimmung der Positionen ihm selbst unsichtbar blieb. Mit deutlichem Vorbehalt jedem romantischen Irrationalismus gegenüber sieht er darin ein „gefährliches Präludium eines massenemotionalen Gegenschlages": Diderot hat in Reve de d'Alembert diesen extremen Gedanken aufgenommen: „Nichts widerspricht der Natur mehr, als die gewohnheitsmäßige Meditation oder der Zustand des Gelehrten. Der natürliche Mensch ist gemacht, wenig zu denken und viel zu handeln. Die Wissenschaft dagegen denkt viel und bewegt sich wenig." So nennt er den Gelehrten ein „systeme agissant ä rebours", ein verkehrtlaufendes System. 88
Anthropologisch sieht Gehlen in der Reflexion mein, eine Steigerung des indirekten mung
„zunächst, ganz allge-
Verhaltens zur Welt, also eine
des unmittelbaren motorischen oder lautmotorischen
Hem-
Umgangs
mit den Dingen. Diese , R e f l e x i o ' scheint nicht nur im Bewußtsein zu liegen, sondern in die Vitalschicht der Person herabzureichen, denn diese H e m m u n g ist ja zugleich Ausdruckshemmung aller sensomotorischen P r o z e s s e " . 8 9 Er bevorzugt den Begriff der Handlung
als anthropologi-
sche Schlüsselkategorie, weil hier „die Reflexion unvollziehbar und ausg e h ä n g t " sei. 9 0 Gehlens Angst vor der handlungshemmenden Reflexion — wie vor der Phantasie, jenem (mit Schlegel zu sprechen) „gefährlichen Vorzug des M e n s c h e n " 9 1 — hängt mit seinem Triebmodell zusammen: Antriebsüberschuß und „Triebhang" bestimmen den Menschen gleichermaßen: Einerseits sind seine Begierden unstillbar (was das Hobbessche Lösungsmodell erzwingt), andererseits ist der Mensch von Natur eine Art O b l o m o v , untätig und selbstzentriert, reflexiv und schwunglos — besonders in den Jahren seiner Entwicklung. In Pubertät und Adoleszenz eröffnet das Reflektieren phantastische R ä u m e virtueller Welten und Möglichkeiten, schafft ein Übungsfeld für die eigenen Handlungsmöglichkeiten und riegelt den jungen Menschen andererseits von den M ö g lichkeiten der Realisierung ab. Deshalb verwirft Gehlen die subjektivierende (für ihn notwendig negative) Reflexion,
die — einmal entdeckt —
zu einem Bestandteil des Denk- und Verhaltenshabitus wird und dann
87
88 89 90 91
2. Disc, in: Rousseau I, S. 200. GA3, S. 370. GA3, S. 308 f. GA4, S. 37. Vgl. GA1, S. 110.
Natur und Sachhingabe
241
„jede U n m i t t e l b a r k e i t des L e b e n s m i t i h r e m leisen S i c h m e l d e n u n d I n f r a g e s t e l l e n " b e g l e i t e t ; 9 2 da ist m a n d a n n schnell bei der I n t e l l e k t u e l l e n k r i t i k . 9 3 Einziges M i t t e l der , R e t t u n g ' des M e n s c h e n aus der ihn v o n J u g e n d an b e d r ä n g e n d e n t r ä u m e r i s c h e n und r e f l e x i o n s v e r h a n g e n e n S a c h f e r n e ist somit
— wie bei R o u s s e a u
— die H a n d l u n g . 9 4
Durch
sie w i r d
der
M e n s c h in die S a c h g e g e b e n h e i t e n g e z w u n g e n , in ein Ä u ß e r e s , F a k t i s c h e s , S t r u k t u r i e r t e s . E r s t i m A k t i o n s v o l l z u g e r ö f f n e t sich d e m Ich die W i r k lichkeit',
indem
es
seine
unwirklich
bleibende
Selbstbezüglichkeit
s p r e n g t , denn „ w i r lernen uns n u r d u r c h u n s e r e H a n d l u n g e n
kennen,
und w e r w a r t e n w o l l t e , bis er m i t der R e f l e x i o n fertig ist, k o m m t zu nichts".95 Z w a r v e r a c h t e t R o u s s e a u alles (vor a l l e m sexuelles) L u x u r i e r e n und s p r i c h t h ä u f i g von dessen sitten- und k ö r p e r s c h ä d i g e n d e n F o l g e n . A b e r die T h e s e v o n e i n e m b i o l o g i s c h v e r a n k e r t e n Antriebsüberscbuß
teilt er
n i c h t , 9 6 die N a t u r t r i e b e e r s c h e i n e n i h m nie als p r o b l e m a t i s c h o d e r ü b e r lastend, a x i o m a t i s c h e n t s p r e c h e n sie der K o n s t i t u t i o n des
„Naturwe-
s e n s " , also den B e d ü r f n i s s e n eines n a t u r g e m ä ß e r z o g e n e n o d e r l e b e n d e n M e n s c h e n . 9 7 J e d o c h findet sich die A n s i c h t einer t r i e b h a f t e n V e r s c h l e i e rung der Welt v i e l f a c h a u c h bei i h m . Sie b a s i e r t a u f M ü ß i g g a n g führt zu einer V e r f a l l e n h e i t ans eigene D e n k e n ,
an
und
selbstproduzierte
P h a n t a s m e n . Sozial f ü h r t das zu e i n e m z w e i f a c h e n N a c h t e i l : E i n e r s e i t s wird d u r c h diese T r i e b e g o z e n t r i k die U n g l e i c h h e i t g e s t e i g e r t ,
anderer-
seits m a c h t die d a r a u s f o l g e n d e I n a k t i v i t ä t s c h w a c h u n d u n t ü c h t i g . D e r Dekadenztheoretiker
Rousseau
fürchtet
sich e b e n f a l l s
vor dem,
was
G e h l e n die m e n s c h l i c h e „ E n t a r t u n g s b e r e i t s c h a f t " 9 8 n a n n t e , a l s o die für ihn — vor a l l e m d u r c h den m o d e r n e n S u b j e k t i v i s m u s — w a h r s c h e i n l i c h
92 93 94
95 96
97 98
GA1, S. 391. Vgl. bes. GA7, S. 2 3 9 - 3 4 7 , und ζ. B. auch Gehlen: Moral, S. 151 ff. ,Handlung' und ,Handeln' werden von Gehlen — anders als in den subtilen phänomenologischen Analysen von Alfred Schütz (Aufbau, bes. S. 49 ff.) — terminologisch nicht unterschieden, obwohl der Entwurfscharakter jedes Handlungszusammenhanges auch von Gehlen gesehen wird. Beide Autoren teilen vitalistische Voraussetzungen und beziehen sich auf Henri Bergson. Bei Gehlen liegt der Schwerpunkt der Handlungsanalyse allerdings nicht auf der Entwurfsphase, sondern auf dem HandlungsVollzug. Daraus ergibt sich die Einheit der Handlung. GA2, S. 142. Herder ( A b h a n d l u n g , S. 29) erkennt ihn implizit an, wenn er von der „Mäßigung aller seiner Kräfte" beim menschlichen Kinde spricht. „Kinder haben keine überschüssigen Kräfte" (£, S. 45). Vgl. GA4, S. 18.
242
Karl-Siegbert Rehberg
gewordene Gefahr einer Re-Barbarisierung des Menschen, denn — so formulierte Rousseau es — der Mensch kann, wenn er seine erlernten Fähigkeiten einbüßt, „noch tiefer fallen als das V i e h " . 9 9
3. Herder als ,Vermittler' Wenn Rousseau nicht unmittelbar eine Quelle des Gehlenschen Denkens war, vielmehr ein Widerpart; wenn Gehlen seine anthropologische „Sachnähe" (im doppelten Wortsinn) nicht aus diesem Werk herausgelesen hat, weil ihm der anthropologische Autor Rousseau stets durch politische Negativmythisierungen verhüllt blieb (vgl. Abschn. 1.1. und III. des vorliegenden Aufsatzes), so gab es doch eine Vermittlungsfigur. Ich denke an J o h a n n Gottfried Herder, über dessen Anthropologie Gehlen jenen seither oft zitierten Satz schrieb, der auch seinem eigenen Hauptwerk, Der Mensch, Evidenz und Autorität verleihen sollte: Die philosophische Anthropologie hat seit Herder keinen Schritt vorwärts getan, und es ist im Schema dieselbe Auffassung, die ich mit den Mitteln moderner Wissenschaft entwickeln will. Sie braucht auch keinen Schritt vorwärts zu tun, denn dies ist die Wahrheit (GA3, S. 93).
Welche „Wahrheiten" nun entlehnte Gehlen dem protestantischen Rousseau-Jünger und -Kritiker H e r d e r ? 1 0 0 Zuerst eine Umweltlehre,
die spä-
ter von Arthur Schopenhauer und fach-biologisch von J a k o b von Uexküll verfeinert wurde und zeigt, daß die Tiere in einer Einpassungsharmonie innerhalb eines je umgrenzten Weltausschnittes leben, während der Mensch „Welt" hat, deshalb „weltoffen" sein muß, wie Scheler das nannte; Herder spricht von der „Sphäre der T i e r e " , 1 0 1 während sich mit dem Auftreten des Menschen „die Szene ganz ändert": „ D e r Mensch 99
hat
2. Disc, in: Rousseau I, S. 204.
100 Vg]
zu
Remarks
Herders Rousseau-Rezeption den Nebenhinweis auf den Einfluß der
on the Writings an Conduct of J. ]. Rousseau des Schweizer Malers
und Poeten Heinrich Füssli auf Herder, in: Guthke: Frühgeschichte, bes. S. 387 ff., und Kim, Herder; sodann auch: Barnard: Aufklärung, ders.: Cul-
ture, Heizmann: Ursprünglichkeit,
101
bes. S. 107—117 und Wells:
Condillac.
„Jedes Tier hat seinen Kreis, in den es von der Geburt an gehört, gleich eintritt, in dem es lebenslang bleibet und stirbt. Nun ist es sonderbar, je
schärfer die Sinne der Tiere, je stärker und sicherer ihre Triebe und je wunderbarer ihre Kunstwerke sind, desto kleiner ist ihr Kreis" (Herder: Abhandlung, S. 21).
N a t u r u n d Sachhingabe
243
keine so einförmige und enge Sphäre, wo nur eine Arbeit auf ihn wartet: eine Welt von Geschäften und Bestimmungen liegt um ihn", 1 0 2 das ist sozusagen die in der Natur des Menschen verankerte Civil Society. Sodann ist es die Ansicht vom Menschen als eines „Mängelwesens", mit der Gehlen sich auf Herder stützt (das Substantiv kommt m. W. in dessen Werk allerdings nicht vor), denn der neugeborene Mensch sei das „verwaisteste Kind der Natur": N a c k t und bloß, schwach und dürftig, schüchtern und u n b e w a f f n e t : u n d was die Summe seines Elends a u s m a c h t , aller Leiterinnen des Lebens beraubt. Mit einer so zerstreuten, geschwächten Sinnlichkeit, mit so unbestimmten, schlafenden Fähigkeiten, mit so geteilten und e r m a t t e t e n Trieben geboren, o f f e n b a r auf tausend Bedürfnisse verwiesen, zu einem großen Kreise b e s t i m m t . 1 0 3
Diese Vorstellung hatte schon Rousseau, sah darin jedoch so wenig wie Herder ein Unglück, vielmehr einen Beleg für die „Vernunft der Natur": „Ein Neugeborenes ist elend und schwach" (Jean-Jacques war auch hier Prototyp der Gattung, selbstverständlich in leidvoller Zuspitzung, denn er kam „fast sterbend zur Welt" 1 0 4 ). Aber für die Natur-Teleologen Rousseau und Herder (und somit sogar noch für Gehlen) können die „Lücken und Mängel" des Menschen, wie Herder sich ausdrückt, „doch nicht der Charakter seiner Gattung sein".105 Die Dramatisierung der Schutzlosigkeit liefert nur einen (allerdings folgenreichen) Ausgangspunkt für die Anthropologie, nicht ist sie deren Resume. Es ist Herders Sprachtheorie, welche genau an dieser Stelle „das Rettende" zeigt. Gehlen greift sie auf und postuliert, daß die Sprache den Menschen geradezu definiere. Dabei wird die Frage nach dem göttlichen Wirken ausgehebelt, 106 auch der Disput darum, ob Sprache dem Menschen von Anfang an gegeben gewesen sei oder ob sie evolutionär, d. h. durch Produktivitätssteigerung bereits beim Tiere vorhandener Vermögen, entstanden sei: Das war jener Streit, der die Berliner Akademie der Wissenschaften 1769 zu einer Preisfrage inspiriert hatte, für die Herder den Preis erhielt und den er geschickt dadurch ,aushängte', daß er in der Sprache weder die „Erfindung" einer jenseitigen Schöpfermacht, noch 102
Herder: Abhandlung, S. 23 u. 22. " " Herder: Abhandlung, zit. in: GA3, S. 91. 104 Rousseau: Bekenntnisse, S. 9. 105 Herder: Abhandlung, S. 24; vgl. P ö h l m a n n : Mensch, sowie Rehberg: Nachw o r t zu GA3, S. 765. 106 Herders A r g u m e n t a t i o n wechselt hier, wohl auch wegen der Angriffe H a manns gegen seine Sprachschrift. — Vgl. dazu Wolff: Herder.
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auch der diesseitigen Menschen sehen wollte; vielmehr definiere sie den Menschen, sei das Prinzip seiner Lebensweise. 1 0 7 Er rückte hier von seiner früheren Ü b e r n a h m e der Rousseauschen Dekadenztheorie ab, kritisierte vor allem dessen zu enge „Urschrei"-Theorie; 1 0 8 mit Condillac habe Rousseau die menschliche Sprache aus dem „Geschrei der N a t u r " abzuleiten gesucht. Z w a r tönten in „allen Sprachen des Ursprungs" noch „Reste dieser Naturtöne; nur freilich sind sie nicht die H a u p t f ä d e n der menschlichen Sprache" (Abhandlung, S. 9). Gehlen k o m m t im Anschluß d a r a n zu seiner Kombination von Sprachwurzeln expressiver und intellektueller Art, deren jede für sich g e n o m m e n keinen hinreichenden G r u n d f ü r die Sprachentwicklung darstellt: 1. „Leben des Lautes", 2. „Lautausdruck auf Seheindrücke", 3. den „ R u f " , 4. die „Lautgeste" und 5. den „wiedererkennenden L a u t " . 1 0 9 Die letztgenannte Wurzel verweist besonders auf Herder: M a n k a n n sie so fassen: wiederholte Eindrücke werden in kommunizierenden Bewegungen beantwortet, unter denen Lautbewegungen einen Vorzugswert erhalten, weil sie gestatten, auch bloß gesehene Fernreize in das Selbstgefühl aktiver Teilnahme hineinzuziehen und sie in bestimmten Aktionen, an welche sich Erinnerungsmassen anschließen, zu beantworten. Es präzisieren sich bestimmte L a u t a n t w o r t e n gegenüber wiederholten Eindrucksfolgen mit ,Entlastungserfolg'. 1 1 0
Allerdings erweitert er — gegenüber Herder, aber auch gegenüber Rousseau — den Blickwinkel, indem er nicht nur die kommunikative Seite der Sprache betont, sondern (Wilhelm von H u m b o l d t s tiefsinnige Betrachtungen aufnehmend) die Sprache als „das bildende Organ des Ged a n k e n s " a u f f a ß t , so d a ß sie welt-konstitutiv ist und nicht nur Realitätserfahrungen repräsentiert. 1 1 1 107
„En s u p p o s a n t les h o m m e s a b a n d o n n e s ä leurs facultes naturelles, sont-ils en etat d'inventer le langage? Et par quels moyens parviendront-ils ä cette invention", hieß die Preisfrage, f ü r deren B e a n t w o r t u n g Herder den Preis erhielt, so d a ß seine Schrift 1772 im A u f t r a g der Akademie veröffentlicht w u r d e (vgl. Irmscher: Nachwort in: Herder: Abhandlung, S. 137). los Vgl Penisson: „Tönen". 109 Yg] QA2, S. 279 f., wobei die Z ä h l u n g der Sprachwurzeln in dieser Z u s a m m e n f a s s u n g — die Gehlen aber aus einem früheren Aufsatz Das Problem des Sprachursprungs ü b e r n a h m — vom H a u p t t e x t ( G A 3 , S. 224 — 280) abweicht; vgl. dazu GA3, Anm. 279.4.
1,0 111
GA3, S. 280. H u m b o l d t : Verschiedenheit, S. 426; in dieser Schrift (S. 429) heißt es weiter: „ O h n e d a h e r irgend auf die Mittheilung zwischen Menschen und Menschen zu sein, ist das Sprechen eine nothwendige Bedingung des Denkens des Einzelnen in abgeschlossener Einsamkeit".
Natur und Sachhingabe
245
Am Argumentationsgang Herders war das Entscheidende für Gehlen die von jenem entwickelte Theorie-Form: Herder blieb — wegen seiner Bindung an theologische Sonder-Schöpfungs-Vorstellungen — skeptisch gegen alle Stufenlehren, 112 wurde aber doch von ihnen beeinflußt; man denke nur an den berühmten und paradox sein wollenden ersten Satz seiner Preisschrift über die Sprache: „Schon als Tier hat der Mensch Sprache".113 So kommt Herder zu einem sehr prägnanten und morphologisch fundierten Konstellations-ModeW. Dieses Verfahren paßt zu Gehlens Absicht, Ursprungsfragen zu umgehen (obwohl das auch ihm nicht immer gelingt). Der morphologische Schlüssel in Herders Anthropologie heißt Aufrichtung, damit ist alles gesetzt: „Mit dem aufgerichteten Gange wurde der Mensch ein Kunstgeschöpf." 114 So entgeht man der Frage nach dem „missing link" 1 1 5 in Rousseaus Theorie, das Herder heftig kritisiert hat, also jener Lücke, die erklärbar macht, wie aus Tieren Urmenschen oder aus „Naturmenschen" Gesellschaftsglieder wurden. Es genügt, das Freiwerden des Blicks und die damit verbundenen Aufgaben des Auges zu verstehen, denn: „Über die Erde und Kräuter erhoben, herrschet der Geruch nicht mehr, sondern das Auge", dessen vermittelndes Zusammenspiel mit Hand und Gehirn Gehlen ganz analog zu Herder (wenn auch viel ausführlicher) beschrieben hat. Dann sind Vernunftsgebrauch und Sprache dem Menschen „so wesentlich, als — er ein Mensch ist".116 Der Mensch hat — das übernimmt Gehlen als wichtigsten Fund von Herder — nicht nur Sprache, Rede o. ä., sondern sein Antriebsleben ist derart symbolisch strukturiert, daß man geradezu von einer „Sprachmäßigkeit" des Menschen sprechen kann (auch dies ein Ausdruck von Herder). 117 So wurden Rousseausche Einsichten über Herder vermittelt an Gehlen weitergegeben. Besonders gilt das für ein — alle drei Autoren verbindendes — Pathos des Lernenmüssens als wichtigster Existenzbedingung des Menschen. Man denke an die bereits dargestellte Bedeutung des taktilen Weltumgangs und der daraus abgezogenen Erfahrungen und Kenntnisse — wenn etwa auch Herder schreibt: „Nun lasset dem Menschen alle Sinne frei; er sehe und taste und fühle zugleich alle Wesen. [...] 112
Vgl. Herder: Abhandlung,
113
Herder: Abhandlung, S. 5. Herder: Ideen 1, S. 135.
114 115
S. 2 5 und — mit Hinweis auf Reimarus — S. 150.
Vgl. zu „missing link" (selbstverständlich kein Herder-Ausdruck) ζ. B. S. 133 u. 143 und GA4, S. 115.
116
Herder: Abhandlung,
117
Vgl. Anm. 66.
S. 25.
GA3,
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Welch ein Lehrsaal der Ideen und der Sprache!" 1 1 8 Und es ließen sich weitere Beispiele anführen. Auch erinnert Herders Analyse des Gehörs als eines Mittels des Sprachausbaues sowohl an Rousseau als auch an Gehlen; das Ohr sei der „erste Lehrmeister der Sprache", der Mensch insofern ein „Zögling des Ohrs". 1 1 9 Des weiteren teilt Gehlen mit beiden Autoren eine Skepsis aller diskursiven Rationalität gegenüber, glaubt nicht an deren willensbestimmende und handlungsmotivierende Evidenz, weshalb auch bei ihm die Verankerung der „Wahrheit" in „Gründen des Herzens" nicht fehlt, nur unromantischer als „irrationale Erfahrungsgewißheit" eingeführt wird. 1 2 0 Schließlich erinnert Gehlens Analyse der Bedeutung von Weltanschauungen (später: von institutionellen Leitideen) für die Stabilisierung der menschlichen Ohnmacht an die Funktion des Religiösen, wie Herder und Rousseau sie sich vorstellen. Aber jene Übereinstimmungen, die Herder als einen „deutschen Rousseau" 1 2 1 erscheinen ließen und sich insbesondere auf das geschichtsphilosophisch begründete Konzept der menschlichen Selbstbestimmung bezogen, wurden von Gehlen gerade nicht aufgenommen. Vielleicht sah er in Herder in erster Linie den „Überwinder der Aufklärung" oder den frühen Vorläufer eines volksgeschichtlichen „Historismus". 1 2 2 So findet sich bei Gehlen eine unterschwellige und halbierte Rezeption aufklärerischen Selbstbestimmungs-Denkens: Das Pathos der „Eigentätigkeit" wird in einen aktionistischen Individualismus übersetzt, der Handlungseliten oder denen, die ihnen Ratgeber sein wollen, 1 2 3 einleuchtend ist. Aber die Emanzipationsgewinne, die aus der Umweltentbundenheit und den dadurch ermöglichten Freiheitsgraden sich ergeben könnten — besser: müßten —, werden von Gehlen gerade verworfen. Der „aufrechte Gang" bleibt eine morphologisch gewonnene, psycho-physische Kategorie, nicht wird er zu einem moralisch-politischen Begriff. 124 118
Herder: Abhandlung, S. 45. Herder: Abhandlung, S. 44, und ders.: Ideen I, S. 140; vgl. auch ders.: Abhandlung, S. 58 ff. mit Analysen des Gehörs als eines „mittleren O r g a n s " . 120 Vgl. GA3, Kap. 36. 121 Vgl. Barnard: Self-Direction, S. 1 f, 122 Vgl. zu bürgerlichen und „imperialistischen" Rousseau-Legenden bes. die Dissertation von Wolfgang H a r i c h , bes. S. 131 ff. 123 Vg) z u m Ratgeber-Syndrom: Sombart: Männer, S. 191—220, und Niethammer: Posthistoire, S. 95 — 98. 124 Der „aufrechte G a n g " hat auch normative Konsequenzen, so bei Bloch: Messungen, S. 13, w o es heißt: „Der aufrechte G a n g wird am letzten gelernt. Kopf oben, frei umherblickend, nur dazu ist er d a " . 119
Natur und Sachhingabe
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Sieht man, wie hoch Gehlen Herder geschätzt hat und wie er sich durchaus auch ,rousseauistische' Aspekte aus dessen Anthropologie angeeignet hat, ohne je positiv auf Rousseau zurückgreifen zu müssen, so legt das nahe, daß die unterschiedliche Rezeption dieser beiden Autoren des 18. Jahrhunderts wesentlich politische Gründe hatte. Und das gilt nicht nur für Gehlen.
III. Rousseau und die „Ideen von 1 7 8 9 " 1 2 5 1. Ein Wegbereiter der Guillotine? In welchem Maße der Name Rousseaus zu einem politischen Losungswort wurde, erweist sich ζ. B. auch am Werk Max Schelers. Dieser Begründer der „Philosophischen Anthropologie" im Deutschland unseres Jahrhunderts erwähnte den Anthropologen Rousseau (den „Begründer der Wissenschaften vom Menschen", wie Claude Levi-Strauss 1 2 6 emphatisch formuliert hatte) allerdings kaum, in seiner anthropologischen Grundlagenschrift, Die Stellung des Menschen im Kosmos (1928) spielt Rousseau wenigstens keine Rolle. Wenn Rousseau bei Scheler doch einmal im Kontext einer anthropologischen Überlegung erscheint, so als Dekadenztheoretiker. Gerne greift Scheler auf ihn zurück, wenn er die lebensphilosophischen Zuspitzungen eines Ludwig Klages (den Gehlen zuweilen als Scheler-Schüler etikettierte 127 ) kritisieren will, also die These vom Geist als dem Widersacher der Seele (des Lebens); darin sah Scheler „Zeichen einer Erkrankung an ,Übersublimierung' ", eine Überschätzung pflanzlicher und vegatativer Existenzformen, und bezeichnete diese Vorstellung geradezu als „neuen Rousseauismus", mehr noch — Rousseau hätte das sattsam geärgert — als „metaphysischen Feminismus".128 In allererster Linie ist Rousseau für Scheler jedoch die Symbolgestalt der verderblichen „Ideen von 1789", der Protagonist „demokratischer 125
126 127 128
Vgl. zur Rezeption Rousseaus in der Französischen Revolution vor allem Fetscher: Rousseau, S. 258—304. Levi-Strauss: Rousseau. Vgl. GA3, Var. 388.22. Scheler: Werke 12, S. 57 [Hervorheb. von mir, K.-S. R.]. — Auch für Thomas Mann, Carl Schmitt und Gehlen ist „Feminismus" das Kennzeichen der durch den Ziehsohn der Mme de Warens verbreiteten Stimmung.
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Karl-Siegbert Rehberg
G e f ü h l s r o m a n t i k " , w e l c h e „die Wurzel aller B a r b a r e i " s e i . 1 2 9 D u r c h g ä n gig k o n s t r u i e r t Scheler eine „Wesens-Differenz" zwischen dem „Gesinn u n g s d e m o k r a t i s m u s " R o u s s e a u s und den christlichen Idealen der N ä c h s t e n l i e b e , 1 3 0 letztere ein „klar leuchtendes L i c h t " , w ä h r e n d die aufklärerische
Erleuchtung
nur
F l a m m e " hervorgebracht
eine
„schwelende,
habe.1,1
brennende,
zerbrennende
In allen Vorurteilen über R o u s s e a u
folgt er z w a r den H a ß t i r a d e n Nietzsches, will in der „seichten" Aufklärung und Mitleidstheorie jedoch — a n d e r s als dieser, anders auch als T h o m a s M a n n — , 1 3 2 keine Fortsetzung des C h r i s t e n t u m s mit anderen Mitteln sehen, sondern dessen m e t a p h y s i s c h e Differenz
hervorheben.
Schelers wissenssoziologisch und e n t l a r v u n g s p s y c h o l o g i s c h gemeinte Bem e r k u n g e n sind gleichwohl a n g e w a n d t e r Nietzscheanismus: Mit R o u s seau h a b e die französische Philosophie, die seit der Scholastik eine Angelegenheit des „aufgeklärten A d e l s " gewesen sei, sich in „ r e v o l u t i o n ä r e m Gefühlsradikalismus"
verloren;133
das sei sozusagen der
französische
Beitrag zur „ R o m a n t i k " . F ü r die d e u t s c h e Geistesgeschichte blieb das nicht folgenlos, da — mit der angeblichen A u s n a h m e G o e t h e s — k a u m „ein g r o ß e r D e u t s c h e r jener Zeit der A n s t e c k u n g d u r c h R o u s s e a u s Pat h o s entging (Fichte, H e r d e r , Schiller, K a n t ζ. B. haben alle ihre R o u s seauphase)".134
Scheler: Werke 4, S. 309. 130 Yg] auch Scheler: Werke 3, S. 98, wo die aufklärerische Konzeption einer aus dem Mitleid geborenen Menschenliebe (Hutcheson, Smith, Hume und Rousseau, später dann Schopenhauer) dem „hellen und fast kühlen geistigen Enthusiasmus der christlichen Liebe" gegenübergestellt wird. 1 3 1 Scheler: Werke 4, S. 680. 132 yg] Mann: Betrachtungen, S. 45, wo er meint, „daß der Revolution, soweit sie Rousseau'sches Geistesgepräge trug, ein gutes Teil Christlichkeit, christlicher Universalität, christlicher Empfindsamkeit zugrunde lag. [...] Auch ist leicht festzustellen, daß bis zum heutigen Tage aller Rousseauismus, aller radikale Demokratismus, alles Revolutionsepigonentum jeden Augenblick bereit ist, in christlichem Stile zu moralisieren, ja, das Christentum bewußt als Eideshelfer anzurufen". 1 3 3 Scheler: Werke 8, S. 90. 1 3 4 Scheler: Werke 3, S. 102. — Dabei handelt es sich um jene „Menschenliebe", die „in gewaltigster Form in Rousseau" zuerst erstanden sei, vorangetrieben vom „Feuer eines riesenhaften Ressentiments" — der von Scheler gelobte Goethe machte 1787 „sein Fragezeichen [...] zu jener Art von Herder unter Rousseaus Einfluß gepredigter ,Humanität' ", die wohl endlich siegen werde, „nur fürcht' ich, daß zu gleicher Zeit die Welt ein großes Hospital und einer des andern humaner Krankenwärter sein werde" (ebd., S. 102). Nietzsche schrieb am 24. 11. 1887 an Heinrich Köselitz: „Daß Gluck zu seinen ersten 129
Natur und Sachhingabe
249
S c h e l e r s R o u s s e a u - V e r a r b e i t u n g ist ein R e f l e x a u f j e n e n K a t z e n j a m mer, der den „Ideen v o n 1 9 1 4 " f o l g t e . D o m i n i e r e n d w a r ein G e f ü h l des N i e d e r g a n g s , w e l c h e s S c h e l e r sagen ließ, w e n n T a l l e y r a n d g e m e i n t h a b e , die n a c h 1 7 8 9 G e b o r e n e n h ä t t e n die F r e u d e n des L e b e n s n i c h t k e n n e n g e lernt, so gelte das mit „ w e i t mehr
R e c h t " für die Z e i t n a c h 1 9 1 4 . D i e
zivilisatorische E n t s e e l u n g der W e l t , die T e c h n i s i e r u n g und die m i t ihr n o t w e n d i g v e r b u n d e n e g r a u s a m e Z e r s t ö r u n g der T r ä u m e des 1 8 . J a h r h u n d e r t s h ä t t e n ihren g e i s t e s g e s c h i c h t l i c h e n A u s d r u c k seit R o u s s e a u in e i n e m „ f r a g w ü r d i g e n G e d a n k e n - und G e f ü h l s z u g des Z i v i l i s a t i o n s - u n d Kulturpessimismus"
g e f u n d e n . A l l e r d i n g s sei R o u s s e a u s
Rat,
„in
die
, N a t u r ' , die Idylle, z u r ü c k z u g e h e n " , a n g e s i c h t s der „ e h e r n e n K o n s e q u e n z und U n e n t r i n n b a r k e i t des z i v i l i s a t o r i s c h e n L e b e n s " , von d e m er sich (bei aller Z i v i l i s a t i o n s f e i n d s c h a f t ) k e i n e n B e g r i f f h a b e m a c h e n k ö n n e n , l ä n g s t naiv
geworden.135
A u c h das w a r s c h o n von F r i e d r i c h N i e t z s c h e v o r g e d a c h t , der R o u s seau, „diesen ersten m o d e r n e n M e n s c h e n " , n i c h t nur als n a i v e m p f a n d , e h e r als „Idealist und K a n a i l l e in einer
Person", denn:
Was ich hasse, ist [...] Rousseau'sche Moralität — die sogenannten W a h r heiten' der Revolution, [...] Die Lehre von der Gleichheit! [...] Ich sehe nur Einen, der sie empfand, wie sie empfunden werden muss, mit Ekel — Goethe. 1 3 6
Anhängern Rousseau gehabt hat, giebt zu denken: mir wenigstens ist Alles, was dieser Mensch geschätzt hat, ein wenig fragezeichenwürdig; insgleichen Alle, die ihn geschätzt haben (— es ist eine ganze Familie Rousseau, dahin gehört auch Schiller, zum Theil Kant, in Frankreich George Sand, sogar Sainte-Beuve; in England die Eliot usw.) Jedermann, der ,die moralische Würde' nöthig gehabt hat, faute de mieux, hat zu den Verehrern Rousseaus gehört, bis auf unseren Liebling Dühring hinab, der den Geschmack hat, sich in seiner Selbstbiographie geradezu als Rousseau des neunzehnten Jahrhunderts zu präsentieren. (Bemerken Sie, wie Jemand sich zu Voltaire und Rousseau verhält: es macht den tiefsten Unterschied, ob er zum ersten J a sagt oder zum zweiten. Die Feinde Voltaire's (zb. Victor Hugo, alle Romantiker, selbst die letzten Raffinirten der Romantik, wie die Gebrüder Goncourt) sind allesammt gnädig gegen den maskirten Pöbel-Mann Rousseau — ich argwöhne, daß auf dem Grunde der Romantik selbst etwas von pöbelhaftem Ressentiment zu finden ist). Voltaire ist eine prachtvolle geistreiche canaille [...] nur auf dem Boden einer vornehmen Cultur möglich und erträglich, die sich eben den Luxus der geistigen canaillerie gestatten kann" (Nietzsche: Briefe 8, S. 203 f.). 135 136
Vgl. Scheler: Werke 6, S. 50 f. Nietzsche: Götzen-Dämmerung,
Streifzüge,
Aph. 48, S. 150 f.
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Karl-Siegbert Rehberg
S o l c h e M o t i v e h a b e n nicht n u r a u f S c h e l e r g e w i r k t , s o n d e r n d u r c h a u s a u c h a u f T h o m a s M a n n , 1 3 7 der in R o u s s e a u — n i c h t e t w a in V o l t a i r e 1 3 8 (dessen N a m e , wie der P e t r a r c a s o d e r der des E r a s m u s , die „Welt der H u m a n i t ä t " e r ö f f n e ) — den „ M a n n der R e v o l u t i o n " s a h , den „Vater der D e m o k r a t i e " . R o u s s e a u ist der P r o t o t y p des v e r h a ß t e n „ Z i v i l i s a t i o n s l i t e r a t e n , des w i e d e r a u f e r s t a n d e n e n J a k o b i n i e r s " — m i t allen Folgen: Er hat des Jakobiners Optimismus, seine vorgefaßten Schäferideen von der Vernunft und dem schönen Herzen des Menschen, seine Neigung zur Demagogie größten Stils, zur Menschheitsschmeichelei [...] Er hat des J a kobiners Hang zur Anarchie und zum Despotismus, zur Sentimentalität und zum Doktrinarismus, Terrorismus, Fanatismus, zum radikalen Dogma, zur Guillotine. [...] Er ist, wie jener, ein Humanitätsprinzipienreiter mit Vorliebe fürs Blutgerüst. 1 3 9 A r n o l d G e h l e n v e r w e n d e t e für d e n s e l b e n G e d a n k e n g e r n e das H e i n r i c h Heines
Wintermärchen
entlehnte
und ü b e r T h e o d o r
Mommsen
ver-
m i t t e l t e Bild v o m b e w u ß t e n G e d a n k e n , d e m u n b e w u ß t das R i c h t b e i l folge.140 137 138
139 140
Mann: Betrachtungen, S. 500. Alle „ H ö h e n der menschlichen Entwicklung", schrieb Nietzsche (Fragmente, S. 560 f.), stellten sich „dem Auge der Moral-Fanatiker" als „non plus ultra der Corruption" dar — man denke ζ. B. „an Piatos Urtheil über das Perikleische Athen, an Savonarolas Urtheil über Florenz, an Luthers Urtheil über R o m , an Rousseaus Urtheil über die Gesellschaft Voltaires, an das deutsche Urtheil contra Goethe". Mann: Betrachtungen, S. 386 f. GA4, S. 378 und GA7, S. 494; vgl. zur Quelle: GA7, Anm. 148.11. - So werden Hitler und Stalin aus Rousseau erklärbar, die Enzyklopädisten zu Vorläufern der jakobinischen Schreckensherrschaft, wie auch M a r x ' Politökonomie zum Kausalgrund für KGB-Willkür und Stasi-Wühlarbeit. Zwar sind die intellektuellen Projektemacher tatsächlich nicht einfach zu entlasten von den Folgen des radikal Gedachten. Aber so einfach — wie etwa der damalige Ministerpräsident Filbinger wollte — ist es denn doch nicht, daß etwa Max Horkheimer, Theodor W. Adorno oder Herbert Marcuse die „Väter" der RAF gewesen wären. Sowenig gilt dies, als man von Nietzsche wohl kaum sagen kann, er sei der Programmautor des Nazi-Wahnsinns gewesen, welcher ja eher von denjenigen breit legitimiert wurde, die Nietzsche mit Haß und Verachtung übergoß, also besonders von den (leider nicht nur: kleinbürgerlichen Massen. Zwar liegen im Gedanken (auch ζ. B. in Rousseaus politischem Substantialismus, in Marx' — aus der historischen Situation zwar verstehbarem, gleichwohl fatalem — Etatismus, erst recht in Nietzsches Maßstablosigkeiten) eben doch auch Gründe für die ihnen nachfolgenden Werzerrungsmöglichkeiten — nicht immer handelt es sich nur um ,Mißverständnisse' oder gar ,Mißbrauch'. Aber, obwohl die Genese falscher, sogar menschenzerstörender Praxis auch auf Vordenker zurückverweist, auf
Natur und Sachhingabe
251
So entsteht ein durch Robespierre blutig eingefärbter Rousseau, derjenige, den Jakov L. Talmon sezieren wollte, 1 4 1 derjenige auch, der konservativen und kulturkritischen Autoren zum ambivalenten Abschrekkungs- wie Rechtfertigungsmittel geworden ist. Zutreffend ist immerhin, daß Robespierre 1 4 2 Rousseau als jemanden verehrte, der durch „seine Seelengröße und seinen bedeutsamen Charakter" zum „Lehrer des Menschengeschlechts" wurde, und daß er ihn einen „Vorläufer der Revolution" nennen konnte. Dieser Rousseau war es, der in Deutschland ausgetrieben werden mußte, mit ihm zugleich aber auch noch die ganzen gefährlichen (französischen) Selbstentäußerungen, die „mitteilende Hingabe bis zur Prostituierung" des „Bekenners" Rousseau, diese „vollständige Jean-Jacqueshafte Schamlosigkeit". 1 4 3 Wo sie nur sich selbst zu offenbaren glaubte, war sie doch von grundlegend politischer Bedeutung, sie offenbarte nämlich ganz die Differenz zwischen Deutschland und Frankreich, zwischen „Meistersinger" und „Zivilisation". Rousseau war der literarisierende Repräsentant des „femininen" und „verlogenen" 18. Jahrhunderts — wie Mann 1 4 4 mit Nietzsche formuliert —, das zu vergessen suchte, „was man von der Natur des Menschen weiß, um ihn an seine Utopie anzupassen". 1 4 5 Rousseau, der sich vor allem als Kenner des Menschengeschlechts hatte sehen wollen (vgl. Abschn. 1.2 des vorliegenden Aufsatzes), avancierte so zum Anti-Anthropologen schlechthin; mehr noch: die Anthropologie wurde auf einen Anti-Rousseauismus geradezu verpflichtet, ganz gleich ob sie phänomenologisch-metaphysisch oder empirisch-wissenschaftsgesättigt sein sollte.
141 142 145 144 145
welche die ,Anwender' sich beziehen (d. h. eben: sich beziehen könnend), ist die Kausalitätsverknüpfung doch nicht so einfach, wie auch der frühe Thomas Mann nahezulegen suchte, um „Politisches", d. h. Demokratisches, schlechthin zu denunzieren. Terror folgt nicht einfach aufklärerischem Denken, obwohl Terroristen sich oft darauf berufen und nicht selten dadurch motiviert sein mögen. Was aber allzuoft vergessen wird: Der radikalisierte Zusammenhang theoretischer und praktischer Formen der Auseinandersetzung mit dem Bestehenden wird oft gerade durch dieses Bestehende selbst hergestellt. Vor allem ist es die Unnachgiebigkeit der Unterdrückung, ist es das Setzen auf Gewalt anstelle möglicher Argumente, ist es die Kriminalisierung von Kritik, welche Übergänge von der theoretischen Kritik zur „Kritik im Handgemenge" schaffen, wie Karl Marx (Kritik, S. 381), gleich anderen Linkshegelianern, das programmatisch formulierte. Vgl. Talmon: Ursprünge. Robespierre: Texte, S. 681. Mann: Betrachtungen, S. 31. Ebd., S. 22. Ebd.
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2. ,Verkehrte' Resonanzen: Carl Schmitt Das Bild von Rousseau als dem Vordenker des großen Umsturzes bestimmte auch die merkwürdig vielschichtige Verwendung Rousseauscher Argumentationsfiguren durch Carl Schmitt. Der war ein weiterer O p p o nent der Lehre vom friedlichen Naturzustand, indem er die Hobbessche Anthropologie pessimistisch überhöhte, ein Institutionalist, der gegen alles stand, was Rousseau gewollt haben mag. Und doch zeigt sich auch bei ihm ein ambivalentes Bild, denn der R o m a n t i k e r Rousseau wird niemals nur als Idylliker und Phantast gelesen, sondern stets auch mit jener politischen Aufladung, mit der Schmitt viele seiner Gegenstände, besonders die „Politische R o m a n t i k " , betrachtet h a t . 1 4 6 Auch Schmitt meint, in Rousseau den Denker zu erkennen, dessen „ R a t i o n a l i s m u s " zur Revolution führte, auch er will die Selbsttäuschungen der Aufklärung bloßstellen durch das Z u - E n d e - D e n k e n ihrer möglichen Konsequenzen. Der hypertroph gewordene „ R a t i o n a l i s m u s " R o u s seaus liege in der abstrakten und entpersonalisierenden Ersetzung der Herrschaft von Menschen über Menschen durch die des Gesetzes. Die juridische Autorität „des R i c h t i g e n " müsse zur Auflösung der Gewaltenteilung führen, weil die Prinzipien des Rational-Diskursiven (samt ihrer romantischen Überspitzung, dem „ewigen G e s p r ä c h " 1 4 7 ) unmittelbar zusammengedacht werden mit ihrer Verwirklichung — dies ein Grund, warum die Exekutive (wie schon Montesquieu m e i n t e 1 4 8 ) am besten in einer
H a n d liegen solle. Verbindet sich eine solche Herrschaftsvorstel-
lung mit dem Substantialismus der volonte
generale,
so ist der erzieheri-
sche Vorgriff auf die gerechte Ordnung unausweichlich: also die
Dikta-
tur. So wird Rousseau, der radikale D e m o k r a t , der allerdings ein Gegner allen Parlamentarismus' war, zum G e w ä h r s m a n n gegen den Liberalismus, denn, so Schmitt: „Die Fassade" ist liberal, der Staat aber setzt die Einheit eines Volkes voraus. Nun wird verstehbar, wie Rousseau zum (partiell straffrei gestellten) „Kronzeugen" in Schmitts scharfer Anklage des parlamentarischen Systems werden konnte. Schmitt wollte zeigen, daß „ D e m o k r a t i e " und parlamentarische Repräsentativverfassung strukturell nicht identifiziert werden dürfen und daß es bei solchen Fragen 146
147 148
Sombart ( M ä n n e r , S. 36—54) meinte in der gesamten Kritik der Entscheidungsferne romantischen Einheitsdenkens durch Schmitt eine Kritik an Wilhelm II. zu erkennen, an dessen Verweichlichung, „Pazifismus", latenter Homosexualität und Abhängigkeit von den „englischen Frauen". Schmitt: Theologie, S. 70. Montesquieu: Geist, X I . Buch, 6. Kap., S. 221.
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um mehr geht, als nur um theoretische Analysen: um die De-Legitimierung der Weimarer Republik. Schmitts polemisches Denken legt oft überraschende Übereinstimmungen mit seinen Gegnern frei: Bei Karl M a r x war das dessen klare Feindsetzungskraft, also der Vernichtungswille gegenüber der „Bourgeoisie" (was Schmitt auf die westlich-liberalen Gesellschaften übertrug), bei Rousseau das Motiv der Homogenität des Volkes, das dieser als gefühlsmäßige Gemeinschaft „sentimentalisiert" habe. So wurde aus dem Individualisten Jean-Jacques der „Kollektivist", der (strukturelle) Revolutionär gemacht. Dieser Rousseau, der den „Gesetzgeber" als deus ex macbina der Verfassungsbegründung braucht, der nicht nur Korsen und Polen so gerne selbst ein legislateur (zumindest dessen Berater) geworden wäre, einer, der den Souverän — so wie Carl Schmitt den „Führer" — führen wollte, wird zum Rechtfertigungsautor der Diktatur gemacht (wie zentraler noch Jean Bodin). Keineswegs meint Schmitt, Rousseau sei durch solche ,Anwendung' für eine autoritäre Einheitsstiftung mißbraucht: Substantielle Einheit verlange eben (zumindest latent) nach der Diktatur. So ist es ein logischer Schluß, daß die Diktatur gerade dort den „Volkswillen" durchsetzen muß, wo dieser sich — wie in den modernen Massendemokratien — zu verlieren droht. Schmitts spitzfindiger ,Rousseauismus' wird zum objektiven Zynismus: „Der Führer schützt das R e c h t " , proklamierte Schmitt 1934 in seiner staatsrechtlichen Rechtfertigung der propagandistisch zum „Röhm-Putsch" verdrehten Hitlerschen Mordtat. Anders als das einst „starke" Bismarck-Reich, das zusammengebrochen sei, weil es „im entscheidenden Augenblick nicht die Kraft gehabt" habe, „von seinen Kriegsartikeln Gebrauch zu m a c h e n " — die Schuld daran trage eine „Lähmung" durch die Denkweise des „liberalen R e c h t s s t a a t s ' " —, habe „der Führer" die „politische T a t " gewagt, d. h. als „oberster Gerichtsherr unmittelbar R e c h t " geschaffen. 1 4 9 Ein so gelesener Rousseau hat übrigens alles Außerpolitische abgestreift. Der Träumer und ,Grübler', dieser Einzige ohne Eigentum, wird gegen seine Intention ,politisch': Rousseau hatte viele Feinde, unablässig erzeugte er sie durch seine Anklagen (oder versicherte sich ihrer wenigstens). Aber von „dem Feind" — dessen Bestimmung für Schmitt die Substanz des „Politischen" ausmacht — schwieg er. Schmitt jedoch sieht gerade ihn in Rousseaus Homogenitätsträumen mitgedacht.
149
Schmitt: Führer; vgl. auch Lauermann: Begriffsmagie, wo der Verf. neben vielen interessanten Hinweisen auch auf einen 1988 in Dubrovnik gehaltenen Vortrag verweist: Ballestrem: Schmitt.
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Bei alledem geht es nicht zuletzt um Politische Anthropologie. Schmitt nennt als grundlegende Differenz in jedem politischen Denken, ob der Mensch darin vorgestellt werde als ein „ g e f ä h r l i c h e s ' oder ungefährliches, ein riskantes oder ein harmlos nicht-riskantes Wesen". 1 5 0 Das ist nicht nur eine Frage von anthropologischem ,Optimismus' oder Pessimismus', sondern des Z u s a m m e n h a n g e s von Menschenbild und O r d nungsidee. In diesem Sinne fand Schmitt in H e l m u t h Plessner den ersten modernen Philosophen, der „eine politische Anthropologie großen Stils gewagt" h a b e . 1 5 1 Der hatte seinerseits in Macht und menschliche Natur 152 (1931) Schmitts Freund-Feind-Unterscheidung zum Ausgangspunkt seiner Bestimmungen des „politischen Apriori" gemacht und eine Machttheorie e n t w o r f e n , welche die Selbstabgrenzung und Umfeldbeherrschung zur notwendigen Bedingung einer h u m a n e n Lebensführung von Subjekten (im Vollsinn des Wortes) machte. Es ist dies eine Anthropologie der D i s t a n z n a h m e (ohne das aristokratisierende Pathos Nietzsches, das aber anklingt) und der Lebensformierung gegen die Bedrohtheit des Menschen. Aus dieser nämlich ergibt sich f ü r Plessner (wie für Gehlen) ein „Primat des Politischen" f ü r die Wesenserkenntnis des Menschen: Deshalb auch w a r Rousseau, der Menschenerforscher, gezwungen, ein politischer A u t o r zu werden.
3. Rousseau — der anti-institutionalistische Institutionen-Gründer Wenn M a x Scheler, Carl Schmitt, T h o m a s M a n n , auch Arnold Gehlen, Rousseau, den „Vater der D e m o k r a t i e " , zu einem der Revolution machten, so ist dabei entscheidend, d a ß damit der Vertreter einer ,undeut150 151 152
Schmitt: Positionen, S. 59; vgl. auch Balke: Anthropologie. Schmitt: Begriff, S. 60; vgl. zu Schmitt und Plessner auch: Kramrae: Plessner. Vgl. ebd., bes. S. 26 f., w o es heißt: „Die spezifisch politische Unterscheidung, auf welche sich die politischen H a n d l u n g e n und Motive zurückführen lassen, ist die Unterscheidung von Freund und Feind. [...] Die Unterscheidung von Freund und Feind hat den Sinn, den äußersten Intensitätsgrad einer Verbindung oder Trennung, einer Assoziation oder Dissoziation zu bezeichnen; sie k a n n theoretisch und praktisch bestehen, ohne d a ß gleichzeitig alle jene moralischen, ästhetischen, ökonomischen oder anderen Unterscheidungen zur A n w e n d u n g k o m m e n m ü ß t e n " ; vgl. auch Flickinger: Autonomie, Sombart: Männer, S. 155—190 und Meier: Schmitt.
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sehen' Theorie der Staatsbegründung gemeint war. Schlimm genug, daß er Veriragstheoretiker war, also Protagonist der Vorstellung, die staatlichen Obligationen könnten auf Übereinkunft gegründet sein. Schlimmer aber noch, daß es sich dabei um eine Variante der kontraktuellen Staatsbegründung handelt, welche die Institutionen nicht von vornherein und unbedingt ins Recht setzt. Die ,Institutionalisten' wehren sich vor allem gegen Rousseaus Ableitung der Ordnung aus der Vernunft, aus der Einsicht und dem rationalen Kalkül. Man kann das sogar noch im Verhältnis von Carl Schmitt zum Werk des von ihm oft gelobten Thomas Hobbes 1 5 3 sehen: Er totalisiert dessen Theorie vom Notstaat, indem er sie von ihrer rationalistischen Grundlegung ablöst. Einig ist er mit Hobbes darin, daß die übermenschliche Geltung des „sterblichen Gottes" — wenn dieser stark genug sein soll, den Bürgerkrieg niederzuzwingen und den Schutz von Leben und „Vermögen" (einschließlich des Eigentums) zu garantieren — nur durch das institutionelle Surplus einer Ordnung gesichert werden kann, die selbst denen, die sie geschaffen haben, nicht mehr „verfügbar" sein darf. Ganz so hatte Hobbes es mit seinem Vertrag zugunsten „eines Dritten" (des souveränen Machthabers) konstruiert. 1 5 4 Aber er hatte mit seinem Vernunftsargument, nach welchem selbst „Wölfe" aus Selbsterhaltungsgründen zur Selbstzügelung fähig und bereit sein sollen, aus der Sicht seiner modernen Nachfolger doch eine gefährliche Grundlegung der so legitimierten Ordnung geschaffen, eine Rechtfertigung, die letztlich zu Rousseau führt. Allen Vertragstheoremen ist nämlich gemeinsam, daß der menschlichen (Rest-)Vernunft zugetraut wird, einen — zumindest minimalen und verfahrenstechnischen — Konsens im Dienste des Selbstschutzes herzustellen, aus dem dann das politische Gemeinwesen entsteht. Insofern ist Hobbes' Lösung für Schmitt durchaus ambivalent, während der „Fall Rousseau" eindeutig zu sein scheint. Aber das stimmt auch hier nur auf den ersten Blick. Schmitt setzt (wie Gehlen) auf die kirchlichen und staatlichen Ordnungsmächte; das sind die Musterfälle der großen, bewahrenden und die Menschen hierarchisch formenden Institutionen. Gerade diese galten Rousseau nun aber als Ursachen jener denaturierenden Verfeinerung, Ungleichheit und Entmenschlichung, die er zeitlebens bekämpft hat, gerade sie sind Prototypen der Entfremdung. Die Verwerfung dieser Rousseauschen Grundthese eint nicht nur Gehlen und Schmitt. Zwar geht es auch ihnen —
153 154
Vgl. vor allem Schmitt: Leviathan. Vgl. Hobbes: Leviathan: S. 131 ff., bes. 134.
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wie Rousseau — um „Verkörperung" der Herrschaft, aber in einem autoritativen Sinn. Ein anderer Aspekt der Rousseauschen Lehre wird von den konservativen Autoren hingegen positiver aufgenommen: Rousseau hatte verstanden, daß die menschlichen Ordnungen der „Heiligung" bedürfen, daß sogar der säkulare Staat eine zivilreligiöse Transzendierung braucht, rituell vergegenwärtigbar in den Symbolen seiner Geltung. Das ist aber in säkularisierten und entzauberten Zeiten auch schon wieder vieldeutig, denn die romantische Idee, den Staat zu einer „religiösen Angelegenheit" zu machen, schützt nicht vor falschen Göttern; ,Menschheit' oder ,Geschichte' können zu den neuen Demiurgen werden. 1 5 5 So bleibt die romantische — also auch die Rousseausche — Heiligung der Politik für Schmitt lediglich politisierte Religion, ohne den großen institutionellen Halt der römisch-katholischen Complexio Oppositorum. Rousseaus zivilreligiöse Substitute und die daraus folgenden republikanischen Rituale, bis hin zu den Freiheitsbäumen und Marsfeldfeiern für das „höchste Wesen", 1 5 6 führen zu einem idyllisierenden Mystizismus, der (wie die Geschichte belegt hat) sogar revolutionäre Züge annehmen kann. Die Unbestimmtheiten der Rousseauschen „Heiligungs"-Ideen werden Schmitt vor allem darin deutlich, daß jede Romantik wesensmäßig unentschieden ist: In Deutschland stellte sie sich gegen die Revolution, in Frankreich wurde sie hingegen revolutionär. 157 Eine weitere Doppeldeutigkeit liegt darin, daß Rousseau, der entschiedendste Kritiker aller Institutionen, doch zugleich zum Institutionengründer werden wollte (bzw. aus seiner Sicht: werden mußte). So war er Totengräber des Institutionellen und zugleich der Prophet, der sich selbst als ligislateur, als Gründer neuer, freiheitlicher ,Institutionen' anbot. Die darin liegende Paradoxie blieb wirksam, bestimmt ζ. B. noch das Bild des liberalen Ralf Dahrendorf, 1 5 8 der — in den letzten Jahren nicht nur biographisch den großen bewahrenden Ordnungen nähergerückt — versichert:
155
Vgl. Schmitt: Romantik,
S. 86 ff. u. 118 ff.
156 Yg] Harten/Harten: Versöhnung,
bole.
157 158
sowie Starobinski: 1789 und Hunt:
Sym-
Vgl. ebd., S. 3 6 . Gegen eine institutionenblinde Soziologie will Dahrendorf an die festen Strukturen der sozialen Ordnungen, an die „Ligaturen" und Institutionen erinnern, die er früher — in einer anarchistischen Phase, wie er meinte, sozusagen seiner „Rousseauschen" — selbst vernachlässigt habe. Vgl. zu Dahrendorfs institutionentheoretischer ,Bekehrung' die Anm. 6 8 .
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A d a m Smith ist tot. [...] Wenn m a n einen einzigen Täter identifizieren will, so ist dies Jean-Jacques Rousseau. Der Rousseausche Gehalt der modernen Sozialwissenschaften ist ihr einziger und zugleich ihr g r ö ß t e r Schwachpunkt.159
Dahrendorf meint, d a ß die Soziologie d a n n nur noch „subinstitutionelle Erscheinungen des gesellschaftlichen Lebens" untersuche, w ä h r e n d „die politische Ö k o n o m i e vergessen ist bzw. z u s a m m e n mit der institutionellen Gesellschaftsanalyse in den Bann getan w o r d e n ist" — eine sozusagen „rousseauistische" Soziologie wird „Bewegungswissenschaft", reduziert auf Alltags-Phänomenologie und Soziographie des Besonderen. Genau dieser Impuls w a r es, den Claude Levi-Strauss (Rousseau: S. 52 f.) an Rousseau am meisten bewundert hat, denn er sah „die unverlierbare Botschaft des Gesellschaftsvertrages, der Briefe über die Botanik und der Träumereien" in Rousseau erkenntnisfördernder Distanz zu den „faits sociaux" (wie Emile D ü r k h e i m , 1 6 0 der in vielem von Rousseau abhängige O p p o n e n t seiner Lehren das später nannte): Die rousseauistische Revolution, die die ethnologische Revolution p r ä f o r miert und auslöst, besteht in der Z u r ü c k w e i s u n g erzwungener Identifikationen, sei es einer Kultur mit einer anderen oder eines Individuums als des Angehörigen einer Kultur mit einer bestimmten Rolle oder mit einer sozialen Funktion, in die eben diese Kultur es hineinzwängen will.
Statt dessen sei es Rousseau um eine „freie Identifikation" gegangen, die sich „nur jenseits des Menschen verwirklichen kann: mit allem, was lebt und also leidet": Wenn es nämlich w a h r ist, d a ß die N a t u r den Menschen ausgestoßen hat und die Gesellschaft f o r t f ä h r t , ihn zu u n t e r d r ü c k e n , d a n n k a n n der Mensch zumindest die Pole des Dilemmas zu seinen G u n s t e n u m k e h r e n und die Gesellschaft der Natur aufsuchen, um in ihr über die Natur der Gesellschaft nachzudenken.
Die politische Dimension aller Bilder vom Menschen — von Jean-Jacques Rousseau bis zu Carl Schmitt — w u r d e in den hier d u r c h g e f ü h r t e n Vergleichen sichtbar. D a d u r c h sollten auch die Ambivalenzen der Wirkungsgeschichte Rousseaus und des Rousseauismus in Deutschland verstehbar werden. 159
D a h r e n d o r f : Weber, S. 779; vgl. die in D a h r e n d o r f s Formulierung liegende Anspielung auf Parsons' b e r ü h m t e Eingangsformulierung zu The Structure of Social Action (p. 3): „Spencer is dead". 160 Yg] Dürkheim: Regeln, bes. S. 105 — 114, u n d zu D ü r k h e i m und Rousseau: Lukes: Dürkheim, ζ. B. S. 1 2 5 - 1 2 8 u. 2 8 2 - 2 8 8 .
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Diese Rezeptionsgeschichte wurde an einem charakteristischen Fallbeispiel behandelt: Die auf der Oberfläche allen Gedanken Rousseaus so vollständig entgegengesetzt erscheinende Philosophische Anthropologie Arnold Gehlens erwies sich als Kon-Text, voller Ähnlichkeiten und Bestätigungen der anthropologischen Studien Rousseaus. Aber diese Nähe vollzog sich in einer eigentümlichen Kontextlosigkeit, geprägt von der Ignoranz Gehlens dieser Quelle einer Theorie der menschlichen Eigentätigkeit gegenüber. D a ß Rousseau (solchen Übereinstimmungen zum Trotz) für Gehlen zum Gegenautor schlechthin wurde, hatte politische Gründe. Der Kulturkritiker der Herrschaftskultur, der alternative Gesellschafts- und Staatszustände konstruierende (und erträumende) Autor, der sich selbst als einen „Seher" der Notwendigkeiten zur Umkehr sah, war wohl kaum geeignet, einer konservativ unterlegten Sozialtheorie den Weg zu weisen. So gab es eine Fülle von Übereinstimmungen, zivilisationskritische, substantialistische, willenstheoretische (wie vor allem Carl Schmitt sie anerkannte und in verfänglicher Umkehrung aufgriff). Aber entscheidend blieb das Mißtrauen dem Rousseauschen Entwurf gegenüber, der als subjektzentriert und emotionsorientiert gerade keine Sicherungen für das „entartungsbereite" menschliche Wesen 1 6 1 versprach, statt dessen die Subjektivierung der Kultur, 1 6 2 wie Gehlen sie am meisten fürchtete. Deshalb mußte Rousseau zum Vordenker des Jakobinismus, der Fallbeil-Rationalität stilisiert werden. Nicht, daß er der Gesetzgeber-Diktatur die Kraft zur Setzung neuer Zustände zugetraut hätte, wurde abgelehnt, sondern, daß dies populistisch' geschah, mit dem Blick auf die Selbstermächtigung des Volkes, gar der Einzelsubjekte in der Geschichte. Alle diese Lektüren des großen Jean-Jacques belegen, daß seine Bücher, daß sein durch sie hindurchscheinendes Leben intellektuelle Abenteuer bereithält — bis heute.
Literatur Balke, Friedrich: Zur politischen Autonomie, S. 37—65.
Anthropologie
Carl Schmitts.
In: Flickinger:
Ballauff, T h e o d o r : Der Mensch [...]. Zu dem gleichnamigen Werk von Arnold Gehlen [Diskussion mit Literaturbericht]. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 6 (1951/52), S. 5 6 6 - 5 9 3 . 161 162
Vgl. Anm. 98. Vgl. Gehlen: Seele,
bes. S. 5 7 - 6 9 .
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Ballestrem, Karl Graf: Carl Schmitt und der Nationalsozialismus. In: Nürnberger Blätter (1989), Nr. 10, S. 7, 8 u. 10 u. Nr. 11, S. 14 f. Barnard, Frederick M.: Zwischen Aufklärung und politischer Romantik. Eine Studie über Herders soziologisch-politisches Denken. Berlin: Schmidt 1964. National Culture and Political Legitimacy: Herder and Rousseau. In: Journal of the History of Ideas 44 (1983), S. 2 3 1 - 2 5 3 . Self-direction and Political Legitimacy. Rousseau and Herder. Oxford: Clarendon 1988. Beerling, Reinier F.: Jean-Jacques und Jean-Paul. Rousseau, Sartre und die Zwangsidee der vollkommenen Transparenz. In: Bernhard Waidenfels, Jan M. Brockmann und Ante Pazanin (Hrsg.): Phänomenologie und Marxismus. Bd. 2: Praktische Philosophie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977. Bloch, Ernst: Politische Messungen. Pestzeit, Vormärz. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1970. Brede, Werner: Anthropologische Antinomien. Herrschaft und Anthropologie im Werk Arnold Gehlens. Phil. Diss. Gießen 1971. Burke, Edmund: Betrachtungen über die Französische Revolution [engl, zuerst 1790]. Aus d. Engl, übertr. v. Friedrich Gentz [zuerst 1793]. Hrsg. v. Ulrich Frank-Planitz. Zürich: Manesse 1986. Ciaessens, Dieter: Instinkt, Psyche, Geltung. Zur Legitimation menschlichen Verhaltens. 2., überarb. Aufl. Köln/Opladen: Westdeutscher Verlag 1970. Das Konkrete und das Abstrakte. Soziologische Skizzen zur Anthropologie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1980. Dahrendorf, Ralf: Einführung in die Soziologie. In: Soziale Welt (1989), S. 2—10. Die offene Gesellschaft und ihre Ängste. In: Wolfgang Zapf (Hrsg.): Die Modernisierung moderner Gesellschaften. Verhandlungen des 25. Deutschen Soziologentages Frankfurt a.M. 1990. Frankfurt a.M./New York: Campus 1991, S. 1 4 0 - 1 5 0 . Homo sociologicus. Ein Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik der Kategorie der sozialen Rolle. 9. Aufl. Köln/Opladen: Westdeutscher Verlag 1970. Max Weber und die moderne Sozialwissenschaft. In: Wolfgang J. Mommsen und Wolfgang Schwentker (Hrsg.): Max Weber und seine Zeitgenossen. Göttingen/Zürich: Vandenhoeck & Ruprecht 1988, S. 777—785. Dürkheim, Emile: Regeln der soziologischen Methode [frz. zuerst 1894], Hrsg. von Rene König. Neuwied/Berlin: Luchterhand 1961. Elias, Norbert: Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie mit einer Einleitung: Soziologie und Geschichtswissenschaft. Neuwied/Berlin: Luchterhand 1969. Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. 2 Bde. [zuerst 1939]. Bern/München: Francke 1969. Fetscher, Iring: Rousseaus politische Philosophie. Zur Geschichte des demokratischen Freiheitsbegriffs [zuerst I960]. 3., überarb. Aufl. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1975.
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N a t u r u n d Sachhingabe
263
Die Stufen des Organiseben und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie [zuerst 1928]. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Hrsg. von G ü n t e r D u x , O d o M a r q u a r d und Elisabeth Ströker, Bd. IV. F r a n k f u r t a . M . : S u h r k a m p 1981. P ö h l m a n n , Egert: Der Mensch — das Mängelwesen? Zum Nachwirken antiker Anthropologie bei Arnold Gehlen. In: Archiv für Kulturgeschichte 52 (1970), S. 2 9 7 - 3 1 2 . P r o k o p , Ulrike: Die Konstruktion der idealen Frau. Zu einigen Szenen aus den „Bekenntnissen" des ]ean-]acques Rousseau. In: H a n s - J o a c h i m H o f f m a n n N o w o t n y (Hrsg.): Kultur und Gesellschaft. G e m e i n s a m e r K o n g r e ß der Deutschen, der Osterreichischen und der Schweizerischen Gesellschaften f ü r Soziologie [24. Deutscher Soziologentag]. Beiträge der Forschungskomitees, Sektionen und A d - h o c - G r u p p e n . Zürich: Seismo 1989, S. 129—141. Rehberg, Karl-Siegbert: Verwandte Antipoden. Helmuth Plessner und Arnold Gehlen — eine Portraitskizze. In: Heinrich P f u s t e r s c h m i d - H a r d e n s t e i n (Hrsg.): Was ist der Menschf Menschenbilder im Wandel. Europäisches Forum Alpbach 1993. Wien: Ibera 1994, S. 1 2 2 - 1 3 8 . [Diskussionsbeitrag zur] Aussprache zum Referat von Dieter Ciaessens: „Arnold Gehlen und die Soziologie — Auf den Punkt gebracht". In: Klages/ Quaritsch: Bedeutung, S. 635 f. Institutionen als symbolische Ordnungen. Leitfragen zur Theorie und Analyse institutioneller Mechanismen (TAIM). In: G e r h a r d Göhler (Hrsg.): Die Eigenart der Institutionen. Baden-Baden: N o m o s 1994. Existentielle Motive im Werk Arnold Gehlens. „Persönlichkeit" als Schlüsselkategorie der Gehlenschen Anthropologie und Sozialtheorie. In: Klages/ Quaritsch: Bedeutung, S. 4 9 1 - 5 3 0 [Aussprache: S. 5 3 1 - 5 4 2 ] . Nachwort. In: GA3, S. 7 5 1 - 7 8 6 u. 8 7 0 - 9 1 5 . Die Theorie der Intersubjektivität als eine Lehre vom Menschen. George Herbert Mead und die deutsche Tradition der „Philosophischen Anthropologie" . In: H a n s Joas (Hrsg.): Das Problem der Intersubjektivität. Beiträge zum Werk G. H. Meads. F r a n k f u r t a.M.: S u h r k a m p 1985, S. 6 0 - 9 2 . Das Werk Helmuth Plessners. Zum Erscheinen der Edition seiner „Gesammelten Schriften". In: Kölner Zeitschrift f ü r Soziologie und Sozialpsychologie 36 (1984), S. 7 9 9 - 8 1 1 . Robespierre, Maximilien: Rede vor dem N a t i o n a l k o n v e n t „Über die Beziehungen der religiösen und moralischen Ideen zu den republikanischen Grundsätzen, und über die nationalen Feste" vom 7. 5. 1794, in: Ders.: Ausgewählte Texte. Mit einer Einl. von Carlo Schmid. 2. Aufl. H a m b u r g : Merlin 1989, S. 6 5 3 - 6 9 6 . Rousseau, Jean-Jacques: Abhandlung über die Wissenschaft und Künste [1. Disc., frz. zuerst 1750]. In: Ders.: Schriften I, S. 27—60. Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit [2. Disc., frz. zuerst 1755]. In: Ders.: Schriften II, S. 1 6 5 - 3 0 2 .
264
Karl-Siegbert Rehberg
Die Bekenntnisse. Die Träumereien des einsamen Spaziergängers. Hrsg. von C h r i s t o p h Kunze. M ü n c h e n : Winkler 1978. Brief an Christophe de Beaumont. In: Rousseau I, S. 497—589. Emil oder Über die Erziehung. Vollst. Ausg. in neuer dt. Fassung. Hrsg. von Ludwig Schmidts. Paderborn: Schöningh 1975. Rousseau richtet über Jean-Jacques. In: Rousseau II, S. 253 — 636. Schriften, 2 Bde. Hrsg. von H e n n i n g Ritter. M ü n c h e n : H a n s e r 1978 [Rousseau I bzw. II]. Samson, Lothar: Naturteleologie und Freiheit bei Arnold Gehlen. Systematischhistorische Untersuchungen. F r e i b u r g / M ü n c h e n : Alber 1976. Sartre, Jean-Paul: Der Idiot der Familie. Gustave Flaubert 1821 — 1857, 5 Bde. [frz. zuerst 1 9 7 1 - 1 9 7 2 ] , Reinbek: R o w o h l t 1 9 7 7 - 1 9 7 9 . Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie [frz. zuerst 1943], 6. Aufl. Reinbek: R o w o h l t 1976. Scheler, Max: Gesammelte Werke. Bd. 3: Vom Umsturz der Werte. 5. Aufl. Bern/ M ü n c h e n : Francke 1972. Gesammelte Werke. Bd. 4: Politisch-pädagogische Schriften. Hrsg. von M a n f r e d S. Frings. B e r n / M ü n c h e n : Francke 1982. Gesammelte Werke, Bd. 8: Die Wissensformen und die Gesellschaft. 2., durchg. Aufl. Mit Zusätzen hrsg. von Maria Scheler. B e r n / M ü n c h e n : Francke 1960. Gesammelte Werke, Bd. 6: Schriften zur Soziologie und Weltanschauungslehre. 2., durchges. Aufl. Mit Zusätzen hrsg. von M a r i a Scheler. Bern/ M ü n c h e n : Francke 1963. Gesammelte Werke, Bd. 12: Schriften aus dem Nachlaß III: Philosophische Anthropologie. Hrsg. von M a n f r e d S. Frings. Bonn: Bouvier 1987. Zum Sinn der Frauenbewegung. In: Werke 3, S. 197—211. Schmitt, Carl: Der Begriff des Politischen [zuerst 1927], Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien. Berlin: Duncker & H u m b l o t 1979. Glossarium. Aufzeichnungen der Jahre 1947—1951. Hrsg. von Eberhard Frhr. von M e d e m . Berlin: Duncker & H u m b l o t 1991. Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes. Sinn und Fehlschlag eines politischen Symbols. H a m b u r g : Hanseatische Verlagsanstalt 1938. Positionen und Begriffe. Im Kampf mit Weimar — Genf — Versailles 1923-1939 [zuerst 1940], Berlin: D u n c k e r & H u m b l o t 1988. Politische Romantik [zuerst 1919]. 3. Aufl. Berlin: D u n c k e r & H u m b l o t 1968. Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität. 3. Aufl. Berlin: Duncker & H u m b l o t 1979. Schütz, Alfred: Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie [zuerst 1932], Frankfurt a . M . : S u h r k a m p 1974. S o m b a r t , Nicolaus: Die deutschen Männer und ihre Feinde. Carl Schmitt — ein deutsches Schicksal zwischen Männerbund und Matriarchatsmythos. München: H a n s e r 1991.
N a t u r u n d Sachhingabe
265
Starobinski, Jean: 1789 — Die Embleme der Vernunft. M ü n c h e n : Fink o. J. Rousseau. Eine Welt von Widerständen. M ü n c h e n : H a n s e r 1988. T a l m o n , Jakov L.: Die Ursprünge der totalitären Demokratie. Köln/Opladen: Westdeutscher Verlag 1961. Theweleit, Klaus: Männerphantasien. 2 Bde. F r a n k f u r t a.M.: R o t e r Stern 1978. Treml, Alfred K.: Zurück zur Natur? Rousseaus Naturbegriff im „Emile". In: Universitas (1968), S. 7 9 9 - 8 1 3 . Wells, George Α.: Condillac, Rousseau, and Herder on the Origin of Language. In: Studies on Voltaire and the Eighteenth C e n t u r y 230 (1985), S. 233 — 246. Wolff, H a n s M . : Der junge Herder und die Entwicklungsidee Rousseaus. In: Publications of the M o d e r n Language Association of America, LVII (1942), S. 7 5 3 - 8 1 9 . Wyneken, Gustav: Weltanschauung. 2. Aufl. M ü n c h e n : Erasmus 1947.
Martin
Peters
Möglichkeiten und Grenzen der Rezeption Rousseaus in den deutschen Historiographien Das Beispiel der Göttinger Professoren August Ludwig (von) Schlözer und Christoph Meiners
I. Rousseau und die Geschichte Jean-Jacques Rousseau übte mit den beiden Discours aus den 50er J a h ren und seinem Contrat Social von 1763 seinen Reiz auch auf zwei sich erst am Ende des 18. J a h r h u n d e r t s neu formierende Wissenschaften aus: die Geschichtswissenschaft und die Politik. In Göttingen bündelten sich die Versuche, die Grenzen und Möglichkeiten beider Wissenschaften zu definieren: Christoph Meiners, der Professor für Weltweisheit, b e m ü h t e sich in der Fortsetzung von Isaak Iselin um eine Verbindung von Geschichtswissenschaft und Philosophie, deren Resultat in der Konstitution einer ,Geschichte der Menschheit' bestand. August Ludwig Schlözer, Professor für Geschichte und Politik, versuchte in der Nachfolge von Gottfried Achenwall durch eine Verbindung von Geschichte und Politik die Darstellung einer .Geschichte des Staaten- und Völkersystems' der Erde. Die Rolle Rousseaus in der Geschichte der deutschen H i s t o r i o g r a p h i e w u r d e bis heute nicht einheitlich gewürdigt. 1 Friedrich M e i n e c k e 2 ver-
1
2
In der Rezension des Buches von E. Schaumkell: Geschichte der deutschen Kulturgeschichtsschreibung von der Mitte des 18. Jhs. bis zur R o m a n t i k im Z u s a m m e n h a n g mit der allgemeinen geistigen Entwicklung. Leipzig 1905, von E. Troeltsch ist zu lesen: „ D a n n handelt er II. von ,der universalen Geschichtsschreibung', und z w a r 1. von der Geschichtsphilosophie, bei der merkwürdigerweise neben Turgot und C o n d o r c e t der Wichtigste, R o u s s e a u , fehlt, und 2. von den Göttinger H i s t o r i k e r n . " In: H Z 97 (1906), S. 562 f. Fr. Meinecke: Die Entstehung des Historismus. 2. Aufl. M ü n c h e n 1946, S. 186 f.
268
Martin Peters
wies in seiner Entstehung des Historismus von 1936 auf dessen Verdienste um das Recht der Individualität. Zuletzt bezeichneten Horst-Walter Blanke und Dirk Fleischer die schottischen, britischen, französischen Schriftsteller — und eben auch Rousseau — als „Folie" der deutschen „Aufklärungshistorie". 3 Eine Untersuchung über die Rezeption Rousseaus in der deutschen Geschichtswissenschaft des ausgehenden 18. Jhs. ist mir nicht bekannt. Sein eigenes Interesse an Geschichte, das er im Emile offenbarte, bezog sich auf ihre Darstellungsweise, also auf die Geschichtsschreibung, auf das Verhältnis von Wahrheit, Wirklichkeit und Nützlichkeit, von Geschichte und Moral, auf das Ereignis und seine Begründung und auf die A u t o r i t ä t des Geschichtsschreibers und seinen Standpunkt. Rousseaus Auseinandersetzung mit Geschichte und ihrer Wissenschaft lag in der Frage nach d e m pädagogischen Sinn von Geschichte eingebettet, aus der heraus seine Kritik an der Historiograpie seiner Zeit, die vornehmlich im 4. Buch des Emile beschrieben w u r d e , entsprang. 4 Vor allem w a r es die historische Kritik, also die „Abhängigkeit" von der Quelle und der Überlieferung, gegen die sich Rousseau w a n d t e . Denn trotz aller historischen Kritik, so argumentierte Rousseau, konstituiere der Historiker durch seine Unwissenheit, Parteilichkeit und durch seine Vorurteile und Interessen die Geschichte. Der R o m a n , so folgerte er, weil er von diesen Z w ä n g e n frei sei, erscheine daher ehrlicher. Schließlich plädierte Rousseau für die Darstellung positiver und friedlicher Z u s t ä n d e anstatt einer Geschichtsschreibung der Kriege, Katastrophen und negativen Seiten. Rousseaus historiographisches Sujet w a r die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft, ihr Einfluß auf die Geschichte des Menschen und seiner kulturellen Entwicklung. In seinem Diskurs über den Ursprung der Ungleichheit bemühte er sich u m die Darstellung des Verhältnisses von Wirklichkeit und Potentialität. Die Beschreibung des Naturzustandes w u r d e a u f g r u n d einer methodischen Absicht zu einer Folie, auf der eine Charakterisierung des gesellschaftlichen Z u s t a n d e s ermöglicht werden sollte. Rousseau stand vor der Geschichte, da ihm die Wirklichkeit weit weniger Erkenntnis bot als die hypothetische Geschichte. Der Naturmensch Rousseaus war nicht historisch. Er stand jenseits von R a u m 3
4
H.-W. Blanke/D. Fleischer (Hrsg.): Theoretiker der deutschen Aufklärungshistorie, Band 1: Die theoretische Begründung der Geschichte als Fachwissenschaft (Fundamenta Historica. Texte und Forschungen, Band 1.1.) S t u t t g a r t - B a d C a n n s t a d t 1990, S. 30. P. R. Auguis (Hrsg.): CEuvres Completes de J. J. Rousseau, Bd. 4: Emile, Τ. II. Paris 1824, S. 67 ff.
Göttinger Historiographie
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und Zeit. Rousseau leitete seine Aussagen aus Annahmen her. Sie durchliefen aufgrund ihrer Nützlichkeit und Anwendbarkeit einen Prozeß, an dessen Ende sie erst zu Tatsachen geworden waren. 5 Denn, so Rousseau, nicht die Authentizität der Quelle, sondern die Nützlichkeit der Lehre, die aus einem Text gezogen werde, sei relevant. Die Rezeption Rousseaus stand im Kontext der Kontroversen in der deutschen Geschichtswissenschaft des ausgehenden 18. Jahrhunderts, die sich um ein neues Verhältnis von Geschichte, Naturrecht, Politik, Kultur, Quellenkritik, Philosophie und Religion bemühte. Vor allem in Göttingen wollte sie sich gegen das „Raisonnieren", „Projektemachen" und „Spekulieren" in der Geschichte wehren. Die Diskussion um die Geschichte im Hinblick auf deren politische' Nützlichkeit und ihr Selbstverständnis mußte sich von den sich als geschichtliche, philosophische und staatstheoretische Wahrheiten ausnehmenden Sätzen Rousseaus berührt zeigen. In der Auseinandersetzung mit Jean-Jacques Rousseau ereignete sich im ,Alten Reich' eine Kontroverse über die Frage nach dem Historischen und seinem Sujet, in deren Folge eine Trennung von ,Universal'- und ,Weltgeschichte' auf der einen und der ,Geschichte der Menschheit' auf der anderen Seite vollzogen wurde. Dieser Schnitt, der im folgenden dargestellt werden soll, wurde am deutlichsten an der modernen und reformorientierten Universität in Göttingen sichtbar.
II. Die Vielfalt geschichtswissenschaftlicher Formen im 18. Jh.: Welt-, Menschheits- und Kulturgeschichte Rousseaus Werke erschienen zwischen den 1750er und 1760er Jahren zu einer Zeit, da sich die deutsche Geschichtswissenschaft neue Inhalte und Methoden erschloß. Viele deutsche Gelehrte nahmen Rousseau mit Enthusiasmus auf, ohne allerdings ihm deshalb auch inhaltlich zu folgen. Johann Gottlieb Steeb schrieb im Vorbericht zu seinem Buch Ueber den
Menseben
nach den hauptsächlichen
Anlagen in seiner Natur, das als
eine „allgemeine Einleitung in die Geschichte der Menschheit" verstanden werden sollte: Der seelige [...] Baron von Holland [...] gab mir in meiner frühen Jugend das Buch von Rousseau, über die Ungleichheit der Menschen, in die Hand, 5
Vgl. P. R . Auguis (Hrsg.): CEuvres Completes de J . J . Rousseau, Bd. 1: Discours. Paris 1825, S. 2 7 2 .
270
Martin Peters
und legte dadurch den Grund zu meinem Studium, das von da an bis auf diese Stunde mein Lieblings Studium geworden ist, und vermuthlich, bis an mein Grab hin, bleiben wird. 6 A u c h C h r i s t o p h M e i n e r s w u ß t e v o n „jungen L e u t e n " zu b e r i c h t e n , denen R o u s s e a u m i t dieser A b h a n d l u n g „den K o p f v e r d r e h t " h a t t e . 7 U n d d e r H i s t o r i k e r , D i p l o m a t und D i c h t e r K a r l L u d w i g (von) W o l t m a n n wies in seiner B i o g r a p h i e über J o h a n n e s (von) M ü l l e r a u f den Reiz hin, den R o u s s e a u mit seinem Schreibstil u n d mit seiner S p r a c h e a u f den H i s t o r i k e r der Schweizer
Geschichte
ausgeübt hatte.8 Z w e i mit dem deutschen
R e i c h v e r b u n d e n e , historisch g e s c h u l t e G e l e h r t e b e s u c h t e n R o u s s e a u : Jacob
Weguelin9,
d e r eine g e s c h i c h t s t h e o r e t i s c h e
s p r a c h m i t i h m 1 7 6 3 und Isaak
Iselin,
Abhandlung
der Begründer der
verfaßte, Geschichte
d e r M e n s c h h e i t , t r a f mit R o u s s e a u 1 7 5 2 z u s a m m e n . A u c h der G ö t t i n g e r P h i l o s o p h F e d e r w ü r d i g t e in seiner seit 1 7 7 9 v e r ö f f e n t l i c h t e n chung
über
den
menschlichen
Willen,
Untersu-
dessen erster Teil C h r i s t o p h M e i -
ners gewidmet war: [...] diejenigen Schriftsteller, die nicht die Geschichte einzelner Völker und Personen, sondern vielmehr aus der Vergleichung vieler solcher Partikulargeschichten, und mit Hülfe der psychologischen Grundlehren, die Geschichte der Menschheit, die natürliche Geschichte der Sitten, ans Licht zu bringen sich Mühe gegeben haben; [ . . . ] 1 0 6
7
8
9
10
J . G. Steeb: Ueber den Menschen nach den hauptsächlichen Anlagen in seiner Natur, 3 Bde. Bd. 1, Tübingen 1785, S. 3 ff. Chr. Meiners: Historische Vergleichung der Sitten und Verfassungen, der Gesetze und Gewerbe des Handels und der Religion, der Wissenschaften und Lehranstalten des Mittelalters mit denen unsers Jahrhunderts in Rücksicht auf die Vortheile und Nachtheile der Aufklärung, 3 Bde. Hannover 1 7 9 3 - 1 7 9 5 , S. 18. K. L. (von) Woltmann: Johannes (von) Müller (nebst e. Anh. Johannes von Müllers Briefe an den Verfasser enthaltend). Berlin 1810, S. 109: „Von Rousseau lernte er nach seinem Geständniß die große Wichtigkeit und Allmacht der Kunst zu reden. Das ganze denkende Europa habe derselbe entzückt, alle hätten, ohne irgend etwas zu lernen, ihn angebetet, nur weil er die Sprache so allmächtig führe wie Gott Jupiter seinen Donner. So will ich dann, sagt Müller, dieses großen Instrumentes mich auch bemächtigen. Auf die Art gewöhnte er sich, den Styl als etwas von den Gegenständen und dem Inhalt Verschiedenes zu betrachten [ . . . ] . " Vgl. R . A. Leigh: Wegelin's visit to Rousseau in 1763. In: Studies on Voltaire and the Eighteenth Century 249 (1987), S. 3 0 3 - 3 3 2 . J . G. H . Feder: Untersuchungen über den menschlichen Willen, dessen Naturtriebe, Veränderungen, Verhältniß zur Tugend und Glückseligkeit und die Grundregeln, die menschlichen Gemüther zu erkennen und zu regieren, Neueste Auflage Th. 1 - 2 . Linz 1 7 8 5 - 1 7 8 6 . 2. T h . , S. X V I I I .
Göttinger H i s t o r i o g r a p h i e
271
Allen voran nannte Feder, der in einer Rezension der Göttingischen Gelehrten Anzeigen von 1792 als „grosser Verehrer von Rousseau" 1 1 betitelt worden war, Isaak Iselin. Als die beiden einflußreichsten Schriftsteller lobte er Montesquieu und Rousseau. Montesquieu, so Feder, enthalte die wirksamsten „Erweckungen" zur Philosophie der Geschichte überhaupt, wie die Untersuchungen der Einflüsse des Klimas und anderer physischer und moralischer Ursachen und Sitten: Ein solches, wenn auch nicht ebenso großes, doch ähnliches Verdienst der Erweckung anderer hat Rousseau; nicht nur in Absicht auf seinen Aimil, sondern auch wegen seiner p a r a d o x e n Abhandlungen vom Einflüsse der Wissenschaften und vom U r s p r u n g der Ungleichheit u n t e r den Menschen. Es läßt sich dieß in den vortreflichen Werken der vorzüglichsten von den [...] Bearbeitern der Geschichte der Menschheit o h n e M ü h e w a h r n e h men. 12
Rousseau hatte nicht nur an der Legitimierung der Kulturentwicklung und „Aufklärung" der Zeit, sondern auch an der Entstehung eines Legitimationsbedürfnisses der deutschen Geschichtswissenschaft, das in Kontroversen um den Nutzen und Nachteil von Geschichte einmündete, Anteil gehabt. 1 3 Das Programm der Geschichte der Menschheit, das von Reill als „anti-rousseauisches" 14 Werk bezeichnet wurde, formulierte Iselin zuerst 1764 und in einer veränderten Ausgabe 1768. Seine Tagebücher von der Reise nach Paris von 1752 ließen erkennen, daß es Rousseaus Abhandlung von den schönen Künsten und Wissenschaften war, die Iselin auf das Thema der Geschichte der Menschheit hinführte. 1 5 Er schrieb in der Ausgabe von 1768 über den Naturzustand: Unsere Absicht f o r d e r t uns auf, denselben zu erweisen, u n d mit d e m gesitteten Stande zu vergleichen. Es eröfnet sich uns ein abscheulicher Auftritt, der aller unserer A u f m e r k s a m k e i t würdig ist; ein Auftritt, der uns lehren wird, in wie weit wir mit unserem Z u s t a n d e zufrieden seyn sollen, u n d o b wir denselben durch zurückgehen, oder durch Fortgang verbessern können.16 11 12 13
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16
(Anonym): Göttingische Gelehrte Anzeigen, 69. Stück (1792), S. 694. J. G. H. Feder: Untersuchungen. Linz 1786, S. X V I V f . Vgl. ζ. B. C. F. Geiger: Der gesellschaftliche Vertrag oder die G r u n d r e g e l n des allgemeinen Staatsrechts; aus d. Französ. mit A n m e r k u n g e n . M a r b u r g 1763. Vgl. P. H . Reill: T h e G e r m a n Enlightenment and the Rise of Historicism. Berkeley, Los Angeles, L o n d o n 1975, S. 52. F. Schwarz (Bearb.): Isaak Iselin. Pariser Tagebuch 1752. Basel 1919, S. 131 und S. 141. I. Iselin: Über die Geschichte der Menschheit, 2 Bde. 1. Bd. Z ü r i c h (neue Aufl.) 1768, S. 202.
272
M a r t i n Peters
Iselin wiederholte damit die A u f f o r d e r u n g Rousseaus, der geschrieben hatte: „ C o m p a r e z sans prejuges l'etat de P h o m m e civil avec celui de l ' h o m m e sauvage, [,..]." 1 7 Iselins Geschichte der Menschheit war nur in den Resultaten des Vergleichs ein „antirousseauisches" Buch. Es ist aber zugleich eine Reaktion auf Rousseau und ü b e r n i m m t dessen Methode: den Vergleich einer G a t t u n g mit sich selbst zu einer unterschiedlichen Zeit, die in Stadien, nämlich ihren Ursprung und E n d p u n k t , eingeteilt und als Z u s t ä n d e verstanden w u r d e n — nicht als K o n t i n u u m . Im Hinblick auf die Vergleichung des N a t u r z u s t a n d e s mit dem „polizirten" bürgerlichen Z u s t a n d stand Rousseau an der ersten Stelle der Geschichte der Literatur, die der Göttinger Philosoph Michael H i ß m a n n in seiner auf Feders Anregung hin verfaßten Anleitung zur Kenntnis der auserlesenen Litteratur18 aus dem J a h r 1778 bibliographierte. Rousseau fand sich auch an der ersten Stelle der Literatur, die sich mit der Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft als Ganzes befaßte. 1 9 Der Zeitp u n k t der Loslösung der Geschichte der Menschheit von der Universalund Weltgeschichte kann näher eingegrenzt werden. N o c h 1765 erschienen beide ,Geschichten' nicht als unterschiedliche Abschnitte der Klassifizierung. Die Geschichte der Menschheit w a r noch als ,menschliche Geschichte' nur ein Pendant zur n a t ü r l i c h e n Geschichte'. Menschliche Geschichte w a r zu diesem Z e i t p u n k t noch die „gegründete Erzählung merkwürdiger Begebenheiten der Menschen", die auch ,Weltgeschichte' genannt w u r d e . 2 0 Sieben Jahre später aber schon, 1772, w a r es Meiners, der in seiner Revision der Philosophie21 der neuen Form, der Geschichte der Menschheit, das Verdienst zusprach, die Kluft, die zwischen den allgemeinen Lehren der Philosophie und den besonderen Fakten der Geschichte gelegen habe, ausgefüllt zu haben. 1778 betonte schließlich Hißm a n n die „vollzogene", aber noch nicht definierte Trennung von ,Weltgeschichte' und ,Geschichte der Menschheit', die sich um den Vergleich der Z u s t ä n d e b e m ü h t und w o d u r c h sie sich von anderen historiographi-
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P. R. Auguis (Hrsg.): CEuvres, Bd. 1: Discours. Paris 1825, S. 343. M . H i ß m a n n : Anleitung zur Kenntniß der auserlesenen Litteratur in allen Theilen der Philosophie. Göttingen und Lemgo 1778. Vgl. ebd., S. 1 0 7 - 1 1 3 . Vgl. (Anonym): Allgemeine Geschichte Der Welt und Natur, der Völker, der Staaten, der Kirche, der Wissenschaften und Künste. Aus den Quellen geschöpft. Erster Theil, welcher eine nöthige Vorbereitung und ein Lehrgeb ä u d e sowohl der mathematischen als der historischen Zeitrechnung enthält. Berlin 1765, S. 13 und 178. Chr. Meiners: Revision der Philosophie. Göttingen und G o t h a 1772, S. 139.
Göttinger Historiographie
273
sehen Richtungen separiert habe. Hißmann mußte jedoch einräumen, daß die Grenzen noch nicht genau abgesteckt seien. 2 2 Ein charakteristisches Unterscheidungsmerkmal sah Hißmann darin, daß die "Weltgeschichte keine kleinen, wilden Horden aufnehme, sondern sich nur um die weltumkehrenden und merkwürdigen Nationen bemühe. Weltgeschichte selektiere nach besonderen Kriterien; die Geschichte der Menschheit aber stelle Nachrichten über alle Völker — Wilde, Barbaren und aufgeklärte Nationen — bereit. Bis zur Jahrhundertwende hatte sich die Geschichte der Menschheit gegen die verschiedenen Varianten der Völker-, Staaten- und Kulturgeschichtsschreibung abzugrenzen. Die Heterogenität der deutschen Geschichtswissenschaft der 80er Jahre des 18. Jahrhunderts machte Johann Christoph Adelung 1782 in seinem Versuch einer Geschichte der Cultur des menschlichen Geschlechts23 deutlich. Er grenzte seine Kulturgeschichte von der ,Staatshistoriographie' und der pragmatischen Geschichte der Herrscher' sowie von der ,Universalgeschichte' und von der ,Geschichte der Menschheit', der es, so Adelung, noch an einem gehörigen Begriff ermangele, ab. Meiners hatte vier Jahre später in seinem Grundriß der Geschichte der Menschheit24 den Versuch unternommen, diese Unübersichtlichkeit zu klären. Die Unterscheidungsmerkmale zwischen beiden Historiographien sah Meiners in der Absicht und in der Methode begründet. Die Geschichte der Menschheit lehre nicht, so Meiners, was der Mensch in verschiedenen Zeitaltern getan oder gelitten habe, wie die Universalhistorie, sondern sie lehre, was er gewesen, oder noch jetzt sei. Während die Universalhistorie nur solche Völker und Menschen beachte, die etwas, sei es gut oder böse, bewirkt hätten, würdige die Geschichte der Menschheit die „Wilden" und „Barbaren" aller Erdteile, die in den Schicksalen des Menschengeschlechts nicht die geringste Veränderung hervorgebracht hätten, die aber nicht minder für die Kenntnis der menschlichen Natur wichtig gewesen seien. 25 Die Geschichte der Menschheit aber durfte nicht mit der ,Menschengeschichte' verwechselt werden, wie sie der Geschichtstheoretiker Karl Ludwig (von) Woltmann 1797 vorstellte. 26 Woltmann hatte in Göttingen 22 23
24 25 26
Hißmann: Anleitung, 1778, S. 101 f. Versuch einer Geschichte der Cultur der menschlichen Gesellschaft. Von dem Verfasser des Begriffs menschlicher Fertigkeiten und Kenntnisse [Verf. Johann Christoph Adelung]. Leipzig 1782. Chr. Meiners: Grundriß der Geschichte der Menschheit. Lemgo 1785. Ebd., S. 15 f. K. L. (von) Woltmann: Grundriss der ältern Menschengeschichte, Erster
Theil. Jena 1797. Woltmanns Geschichte
des Westphälischen
Friedens
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Martin Peters
studiert und wurde 1795 für zwei Jahre außerordentlicher Professor der Philosophie in Jena. Er war es auch, der im gleichen Jahr einen Aufsatz über Rousseau, das einzige mir bekannte Rousseau-Portrait eines Historikers, veröffentlichte. Die Schrift deckt sich in großen Teilen mit einer in seiner ,Menschengeschichte' von 1797 veröffentlichten geschichtstheoretischen Abhandlung. Woltmann beschrieb in beiden Aufsätzen den Kampf dreier Naturen: der Sinnlichkeit, des Intellektuellen und des Sittlichen, der die Menschengeschichte kennzeichne. Rousseau erschien Woltmann in diesem Kampf, der in dem unsittlichen Zeitalter Ludwigs XV. am stärksten getobt habe, als einsames und sensibles Opfer: In diesem Jahrhundert aber gab es keinen Geist, welcher dieses Misbehagen inniger fühlen konnte, als Rousseau; in keinem Zeitpunkte dieses Jahrhunderts musste dieser Druck so fühlbar werden, als in jenem, zu welchem sein Leben gehörte; und in seinem zweiten Vaterland, in Frankreich erschien das Phänomen dieses Zwiespalts furchtbarer, als in irgend einem andern Staate. Alles vereinigte sich, um ihn gleichsam zum Repräsentanten unseres Jahrhunderts in der Klage ueber die Uebel der Kultur zu machen; [ , . . ] . 2 7
Rousseaus Philosophie, so Woltmann, sei „ein Schrei der ganzen gebildeten Menschheit", der „Inbegriff von den Klagen aller Zeitalter über den Gang der menschlichen Kultur!" 2 8 Die Menschengeschichte wurde in der Vorstellung Woltmanns in der Biographie Rousseaus verdeutlicht, da sich ihre problematische Entwicklung in seiner Person spiegelte. Rousseau wurde für den Historiker interessant, indem er in den historischen Kontext der Zeit gestellt wurde. Im Jahr 1805 wurde ein Versuch einer Propädeutik oder Wissenschaft der Geschichte von dem Privatgelehrten J . G. Heynig, der ebenfalls in Göttingen studiert hatte, veröffentlicht. In dieser Propädeutik lehnte Heynig die Menschheitsgeschichtsschreibung ab und rekurrierte auf die Völker- und Staatenhistoriker wie Gatterer, Schlözer und Heeren. Er begründete seine Haltung mit der Meinung, daß alle Menschen und das Menschengeschlecht überhaupt in und unter den Völkern und Staaten der Erde enthalten seien. Heynig sah insofern keinen Unterschied mehr
27
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war von Schiller als Fortsetzung seines Dreissigjährigen Krieges veröffentlicht worden. K. L. (von) Woltmann: Ueber Rousseaus Verhältnis zur Kultur seines Zeitalters. In: Ders.: Kleine historische Schriften, 1. Theil. Jena 1797, S. 81 — 102, S. 89. Ebd., S. 90.
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zwischen beiden historiographischen F o r m e n . 2 9 Die Geschichte der Menschheit, so Heynig weiter, sei eigentlich nichts anderes als die Geschichte des Innern, also die Geschichte der Völker und Staaten in Bezieh u n g zu sich selbst. Die T h e m e n der Geschichte der Menschheit seien die Staatsverfassung und Geistesbildung, L a n d b a u und H a n d e l , Künste und Wissenschaften, also das bürgerliche und geistige Wesen, deren Anfänge, Entwicklungen, Veränderungen und W i r k u n g e n . Heynig plädierte f ü r eine Synthese der inneren und äußeren Begebenheiten, wie sie in einer „echten Art von Geschichte" dargelegt werde. Im Gegensatz zu Heynig wünschte sich sein Rezensent Heeren in den Göttingischen Gelehrten Anzeigen einen Primat der Geschichte der Menschheit, die auch als Kulturgeschichte bezeichnet werde und von der die politische Geschichte nur einen Teil a u s m a c h e . 3 0 In Reaktion auf Rousseaus Abhandlungen der 50er Jahre bildete sich eine neue historiographische Form, die Geschichte der Menschheit, aus. Sie thematisierte die Lebensformen des Menschen. Iselin verstand sie als eine Möglichkeit, die Fortschritte des gesellschaftlichen Z u s t a n d e s gegenüber dem N a t u r z u s t a n d zu betonen. Meiners beschrieb sie als neue Form der Geschichtsforschung, die die Welt- und Staatengeschichtsschreibung ergänzen sollte. Um 1800 w u r d e sie als Oberbegriff — syno n y m mit der Kulturgeschichte — verwandt oder ging in der Völker- u n d Staatengeschichte auf.
III. Christoph Meiners 3 1 Mit der Veröffentlichung seines Buches Grundriß der Geschichte der Menschheit32 im Jahre 1786 bemühte sich Meiners, der vor allem als Wissenschafts- und Ideenhistoriker b e k a n n t war, u m die Konstitution und Definierung der Geschichte der Menschheit, zu der bereits eine 29
30 31
32
Vgl. J. G. Heynig: Versuch einer Propädeutik oder Wissenschaft der Geschichte. 2., verb. u. verm. Aufl. Schleusingen 1813, S. 5. (Anonym): Göttingische Gelehrte Anzeigen, 47. Stück (1805), S. 469. Über Christoph Meiners vgl. Fr. Lotter: C h r i s t o p h Meiners und die Lehre von der unterschiedlichen Wertigkeit der Menschenrassen. In: H . Boockmann, H . Wellenreuther (Hrsg.): Geschichtswissenschaft in Göttingen. Eine Vorlesungsreihe. Göttingen 1987. (Göttinger Universitätsschriften, Serie A: Schriften Bd. 2), S. 3 0 - 7 5 . Wie Anm. 24.
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M a r t i n Peters
Reihe von Studien vorlägen, wie Meiners schrieb. Es war sein Ziel, mit ihr eine Forschungslücke zu schließen, denn man habe nicht, wie er ausführte, alle Nationen der Erde miteinander verglichen, und noch weniger die Resultate dieser Vergleichungen zu Abschnitten einer besonderen Wissenschaft gemacht. Thema der neuen Wissenschaft sei die Untersuchung ursprünglicher Verschiedenheiten der Menschen im Hinblick auf ihren Körper, Geist und ihr Herz und deren physische Ursachen: ferner die Geschichte der Nahrungsmittel und starken Getränke, der Wohnungen, Kleidungen und des ,Putzes' aller Nationen. Meiners nahm Forderungen Rousseaus und Absichten Iselins auf und bemühte sich, diese in seinen Studien einzulösen. Im Rahmen seiner Kritik an Iselin forderte er eine Verdrängung Rousseaus aus dem Genre der Geschichte der Menschheit. Schon 1772 schrieb er, daß Iselin vielfach noch Universalgeschichte geschrieben habe, vor allem aber: In den R e v o l u t i o n e n der M e n s c h h e i t w ü n s c h e ich freilich der R o u s s e a u i schen Ideen e r w ä h n e t , a b e r d o c h nicht mit einer so sorgfältigen Weitläufigkeit sie zu widerlegen g e s u c h t h a b e n , weil es d o c h nur i m m e r die G e d a n k e n eines M a n n e s sind, die mit den R e i t z e n der Neuigkeit zugleich das meiste von ihrem Ansehen v e r l i e h r e n . 3 3
Für die Geschichte der Menschheit ging Meiners gegen folgenden Prämissen aus:
Rousseau von
1. Rousseaus Beschreibung eines ursprünglichen Standes der Natur sei erdichtet. 2. Ungereimt sei die Meinung, daß der Stand der Natur die wahre Bestimmung des Menschen sei. 3. Der Ursprung des Ackerbaus ist unerklärlich. Fast alle Gemeinplätze über die Wirkungen des Feldbaus brauchten Einschränkungen. 4. Völker ohne alles Eigentum seien Geschöpfe einer dichtenden Einbildungskraft. 5. Der eigentliche Wilde sei nicht unschuldig und glücklich. 6. Wahre Aufklärung bringe nicht allein keine Sittenverderbnis und keinen Unglauben hervor, sondern sei das sicherste Gegenmittel gegen beide. Meiners aber war nicht so sehr der affirmativ denkende Gelehrte seiner Gegenwart, zumal er mit seiner Anschauung alleine stand. Einen Idealzustand der Geschichte der Menschheit hatte er bereits in zwei Phasen erblickt, in der die Glückseligkeit von unschuldigen und freien und un33
M e i n e r s : R e v i s i o n , 1 7 7 2 , S. 1 3 9 .
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aufgeklärten Völkern erzielt w o r d e n sei: unter Solon und in der Periode vor dem 2. Punischen Krieg. Auch ohne wissenschaftliche Bildung, so Meiners, k ö n n e der Mensch glücklich sein. Es m ü ß t e n aber folgende Voraussetzungen erfüllt sein: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
Fehlen von äußerem und innerem D r u c k Fehlender K o n t a k t zu verdorbenen Völkern Segensvolle Arbeitsamkeit Gesundheit und Stärke Freiheit und Sicherheit Liebe und Gegenliebe Anhänglichkeit an Gesetze Freudiger M u t , für Weiber, Kinder, Eigentum, Freiheit und Vaterland das Leben zu w a g e n . 3 4
Meiners besaß also eine Utopie von einer glückseligen und wissenschaftlich unaufgeklärten Gesellschaft, wie sie auch Iselin bei seiner RousseauRezeption in seinen Tagebüchern von 1752 beschrieben hatte. Es w a r eine Utopie, wie sie, in der Vorstellung von Meiners, von räumlich oder zeitlich abgeschlossenen Gesellschaften bereits erreicht w o r d e n war. Auf der anderen Seite aber wollte er dem Vorwurf z u v o r k o m m e n , er hänge ebenfalls an den Sagen von den „Goldenen Zeitaltern". In seinem Gemälde vom Idealzustand, wie die Geschichte und Gesellschaft Solons zeige, gründete sich der Idealzustand auf Feldbau und H a n d e l . Anders als in allen Beschreibungen des Goldenen Zeitalters w u r d e n , so Meiners, Arbeit und Fleiß mit Glückseligkeit in ein kausales Verhältnis gesetzt. Die glückselige Gesellschaft gründete sich sicherlich sowohl auf Meiners' protestantische — wie auf seine Arbeitsethik; vor allem aber sollte seine Utopie empirisch verankert sein. G a n z anders als Rousseau beschrieb er den Z u s t a n d der Wilden. Es fehle den Wilden, im Gegensatz zum eigenen J a h r h u n d e r t , an Begriffen wie Recht, Unrecht, Schönheit, Häßlichkeit, Wahrheit, Irrtum, Glück, Unglück. Das Eigentum anderer sei ihnen nicht heilig und unverletzlich, genauso wenig wie Verträge, so d a ß eine g r o ß e Rechtsunsicherheit herrsche. Wilde nehmen schlechte und unregelmäßig N a h r u n g auf, es herrsche Zauberei statt Wissenschaft, es fehle an Mitleid Kranken gegenüber, sie seien keinen Augenblick sicher und setzten sich unvermeidlichen Gefahren eines plötzlichen oder langsamen und grausamen Todes aus. Keine Behauptung sei geschichtswidriger, als d a ß der Wilde nicht rachgierig, sondern barmherzig und versöhnlich sei. Es fehle 34
Vgl. Meiners: Historische Vergleichung, Bd. 1. H a n n o v e r 1793, S. 37.
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an Freundschaft und Wohltätigkeit, Dankbarkeit, Liebe, Freude an der Natur, Kunst und Wissenschaft. Einig aber war Meiners mit Rousseau darin, daß der Wilde nur in der Gegenwart lebe. Freilich war damit die Kritik verbunden, daß der Wilde nicht Vernunft genug besitze, planen zu können. 35 Wie auch die Utopie einer glückseligen Gesellschaft mit der Wirklichkeit verbunden werden mußte, so mußte Meiners auch das Bild des Naturzustandes verifizierbar machen. Christoph Meiners propagierte die Methode der Quellenkritik und verwandte sie als Instrumentarium in seiner Argumentation gegen Rousseau. Rousseau stehe demnach jenseits von Geschichte und Erfahrung, ohne die aber auch die Philosophie nicht auskommen könne. Zwischen Philosophie und Geschichte bestand für ihn, anders als für Rousseau, keine Arbeitsteilung, die je nach Überlieferung der Fakten genutzt werden konnte. Vielmehr schien ihm Philosophie, die Kenntnis vom Menschen, ohne historisches Wissen nicht denkbar. In Rousseaus Diskursen sah Meiners daher nur Prunkreden, die jedoch nicht als solche konzipiert worden seien. Als „historisch-philosophische Untersuchungen" seien sie nur mittelmäßig, und ohne ihre meisterhafte Sprache müßten sie „elend" genannt werden. Erfahrung, Geschichte und die gesunde Vernunft seien mißhandelt worden durch die Verwendung falscher und verdrehter Fakten; geprüfte Beobachtungen seien verkannt, Erscheinungen aus unrichtigen Ursachen abgeleitet, die Nachteile übertrieben und die Vorteile übersehen worden. Rousseaus Schilderung des Naturzustandes sei, so Meiners, die größte mit Erfahrung und Geschichte streitende Fiktion. Meiners lobte abschließend, daß beide Abhandlungen keinen Leser von Bedeutung zu einem Feinde der Aufklärung und der Gesellschaft gemacht hätten. 3 6 Deutlich wird, daß sich auch Meiners, da ihm die Quellen fehlten, behelfen mußte. Während Rousseau die wirkliche, historische Existenz des Naturzustandes bezweifelte, schrieb Meiners in seinem Aufsatz über den Stand der Natur: Z w a r existierten niemals Menschen ohne alle Sprache, Religion und Eigenthum, allein wenn man diese Züge aus dem Gemälde des Standes der Natur wegwischt, so kann man mit Zuversicht behaupten, daß in der alten und neuen Zeit viele Haufen von elenden Thier-Menschen gefunden worden, die der traurigen Schilderung des ursprünglichen Standes des Menschen vollkommen entsprachen oder auch noch jetzo entsprechen. 3 7
35 36 37
Ebd., S. 1 8 - 3 5 . Ebd., S. 6 - 8 . Chr. Meiners: Ueber den Stand der Natur. In: Chr. Meiners, L. T. Spittler (Hrsg.): Göttinger Historisches Magazin, Bd. 2, 4. Stück, 1788, S. 701.
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Während Rousseau bewußt vor der Geschichte stehen blieb, mußte Meiners anstatt einer ,quasi-historischen' oder, wie er meinte, „hypothetischen" Argumentation eine Argumentationsform finden, die quellenkritisch und faktisch überprüfbar war. Nach diesem Verständnis konnte Meiners Rousseau alle Wissenschaftlichkeit absprechen. Indem sich die Idee der Quellenkritik und Authentizität gegenüber der Lehre, die aus der Geschichte gezogen werden sollte, durchsetzte, mußten sich Meiners und andere Gelehrte von Rousseau, nachdem sie dessen Thesen überprüft hatten, abrupt abwenden. Aus dieser Kehrtwende resultierte die apologetische Verteidigung des Standes der Gelehrten. Meiners sah sich gezwungen, die dem Menschen und Gelehrten zum Eigentum gewordenen Verdienste der Geschichte der Menschheit zu verteidigen: Die Sitten des Bürgers von G e n f seien die g e s c h w o r e n e n Feinde der Wissenschaften. Er gehört d a m i t zu einer G r u p p e von Neuerern, die mit M e n schendieben verglichen werden k ö n n e n , die w o h l h a b e n d e n Leuten ihre gegenwärtigen G l ü c k s u m s t ä n d e verhasst m a c h t e n und sie unter prächtigen Versprechungen in u n f r u c h t b a r e G e g e n d e n f ü h r e n , w o sie den R e s t ihres eingeschmolzenen Vermögens e i n b ü ß t e n . 3 8
Meiners verglich Rousseau auch mit den f...] u n b e d a c h t s a m e n E r o b e r e r n [...], die den A n b a u und die Verbesserungen der reichsten und fruchtbarsten Besitzungen vernachlässigen, und alle ihre K r ä f t e und S c h ä t z e auf die E r o b e r u n g von solchen L ä n d e r n verschwenden, die ihnen weiter nichts als die H e r r s c h a f t über einen kleinen Theil der O b e r f l ä c h e der E r d e v e r s c h a f f e n . 3 9
Wahre Aufklärung, verstanden als die gegen Aberglauben, Despotismus und Schwärmerei wirksamen schönen oder nützlichen menschlichen Kenntnisse, finde sich, so Meiners weiter, vor allem beim Stand der Gelehrten. Sie seien es, die am längsten lebten, weil sie mäßiger, nüchterner und arbeitsamer seien und die Leidenschaften am besten beherrschten. Der Gelehrtenstand erschien — gerade in Göttingen — wie eine insulare und unabhängige Schicht innerhalb der sozialen Differenzierung. Die Feinde der Aufklärung seien jene, die einen Gegensatz zwischen Religion und Vernunft stifteten, und jene, die der Meinung seien, daß Aufklärung die Sitten verderbe. Meiners schreibt:
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C h r i s t o p h Meiners: Über w a h r e , unzeitige und falsche A u f k l ä r u n g . H a n n o ver 1794, S. 152. E b d . , S. 152.
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Die meisten Widersacher der A u f k l ä r e r b e k ü m m e r n sich weder um die Geschichte noch um andere E r f a h r u n g e n , sondern haben bloß die Französischen Encyclopädisten und J a k o b i n e r im Sinne, w e n n sie den Unglauben, u n d die Sittenlosigkeit f ü r Früchte der A u f k l ä r u n g ausgeben. 4 0
Den Hinweis auf die Sittenverderbnis der Römer, die während ihrer höchsten ,Aufklärung' stattgefunden habe, ließ Meiners nicht gelten, indem er einen zeitlichen von einem kausalen Z u s a m m e n h a n g unterschied. Den G r u n d , d a ß die Sitten der R ö m e r verschlimmert w o r d e n seien, darin zu suchen, d a ß die Wissenschaften und Künste wuchsen, war nach Ansicht von Meiners unhistorisch und wider jede N a t u r und E r f a h r u n g . Stattdessen liege die Ursache der Sittenverderbnis im Despotismus. So seien auch die Prämissen der französischen Schriftsteller, wie Voltaire, Rousseau und Diderot, ihrerseits sittenverderbend. Meiners r ä u m t e jedoch ein, d a ß sie selbst eine W i r k u n g der Verdorbenheit und des Despotismus gewesen seien. Hier fand sich also eine Parallele zu der in dem Rousseau-Aufsatz Woltmanns vertretenen These, o h n e d a ß Meiners das dort ausgedrückte Verständnis für Rousseau aufbringen konnte. Rousseau w u r d e aber nicht n u r mit den französischen Schriftstellern verglichen, sondern auch mit solchen aus dem Mittelalter, den Averroisten, den Griechen und den älteren Sophisten, da diese die menschliche Tugend, die R u h e , die Freiheit und die Glückseligkeit zerstört hätten. Der Inhalt des Diskurses über die Wissenschaften sei, so Meiners, mit der Schrift Justins über die Skythen vergleichbar, was auch Flögel 4 1 in seiner b e r ü h m t e n und vielgelobten Geschichte des Verstandes ausgeführt hatte. Es w a r auch Meiners' erklärtes Anliegen, Rousseau den Reiz der Neuheit zu n e h m e n . Im Jahre 1800 faßte Meiners sein Urteil über Rousseau in diesem Sinne zusammen: [...] d a ß Plato den R u h m eines originalen Denkers, und eines schönen, oder erhabenen Schriftstellers noch mehr als Wahrheit u n d Tugend liebte: d a ß er weniger zu nutzen, als zu glänzen suchte; d a ß er wie alle großen Geister von ähnlichen Anlagen, Senecca, R o u ß e a u , selbst Cicero beym Lehren und Schreiben zuerst, und am allermeisten d a r a n dachte, und danach strebte: Z u h ö r e r , oder Leser d u r c h die Neuheit u n d Kühnheit seiner Raisonnements, und Dichtungen oder durch Reitze seiner Sprache in Er-
40 41
Ebd., S. 43. C. Fr. Flögel: Geschichte des menschlichen Verstandes. Frankfurt, Leipzig 3 1778, S. 225. Flögel schrieb: „ Z w a r behauptet R o u ß e a u in seiner Preisschrift [...], d a ß Künste und Wissenschaften einen schädlichen Einfluß auf die Sitten hätten; welches Justinus längst vor ihm in einer Vergleichung der Scythen mit den Griechen sagte."
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staunen und Bewunderung zu setzen. Daher der in allen Schriften des Plato unverkennbare H a n g zu Paradoxen! Daher die Ungleichheit und der gesamte Schmuck, und sehr o f t der Schwulst seiner Schreibart. Daher die häufigen Widersprüche in Behauptungen und Fictionen! Die meisten Schriften des Plato waren Schaustücke, wie die Prunkreden oder Sophismen der Griechischen Sophisten und Rhetoren. 4 2
IV. August Ludwig (von) Schlözer M e i n e r s u n d S c h l ö z e r b e r ü h r t e n u n d u n t e r s c h i e d e n sich in i h r e r
Art,
G e s c h i c h t e zu e r f o r s c h e n . S c h l ö z e r v e r t e i d i g t e 1 7 7 3 d i e W a h l d e s B e g r i f fes , U n i v e r s a l g e s c h i c h t e ' a u c h g e g e n Iselin u n d Flögel in s e i n e r R e p l i k auf H e r d e r s R e z e n s i o n : Wol mir, d a ß ich den gewöhnlichen altfränkischen Titel beibehalten, und nicht dafür Weltgeschichte, oder gar Geschichte der Menschheit, Geschichte des menschlichen Verstandes gesetzt. 4 3 D i e D i f f e r e n z z w i s c h e n b e i d e n G ö t t i n g e r H i s t o r i k e r n o f f e n b a r t e s i c h , als M e i n e r s auf d e m H i n t e r g r u n d d e s e n o r m e n A u f s t i e g s R u ß l a n d s zu e i n e r G r o ß m a c h t 1 7 9 8 s e i n e Vergleichung
des altern
und
neuern
Rußlandes44
e r s c h e i n e n ließ. N i c h t n u r in d e r B e u r t e i l u n g d e r B e s t i m m u n g d e r S l a v e n , s o n d e r n a u c h in d e r W ü r d i g u n g d e r Q u e l l e n t r e n n t e n sich b e i d e G e l e h r t e . 4 5 W ä h r e n d M e i n e r s d e r A n s i c h t w a r , d a ß die R e i s e b e s c h r e i b u n g e n w i c h t i g e D a t e n e n t h i e l t e n , w e l c h e m a n in d e n r u s s i s c h e n G e s c h i c h t s u n d C h r o n i k e n s c h r e i b e r n v e r g e b e n s s u c h e , w i e s S c h l ö z e r in s e i n e r seit 1 8 0 2 v e r ö f f e n t l i c h t e n Nestor-Edition
d a r a u f h i n , d a ß d u r c h a u s a u c h in
d e n C h r o n i k e n die K u l t u r g e s c h i c h t e R u ß l a n d s b e t r e f f e n d e F a k t e n zu f i n -
42
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Chr. Meiners: Allgemeine kritische Geschichte der altern und neuern Ethik oder Lebenswissenschaft, nebst einer Untersuchung der Fragen: Gibt es denn auch wirklich eine Wissenschaft des Lebens? Wie sollte ihr Inhalt, wie ihre Methode beschaffen seyn? Erster Theil. Göttingen 1800, S. 200. August Ludwig Schlözers Vorstellung seiner Universal-Historie, Zweeter Teil. H r n . J o h a n n Gottfried Herders Beurteilung der Schlözerischen Universalhistorie in den Frankfurter Gel. Anzeigen St. 60, 1772, mit August Ludwig Schlözers Anmerkungen über die Kunst, Universalhistorien zu beurteilen. Göttingen und G o t h a 1773, S. 247. Chr. Meiners: Vergleichung des altern und neuern Rußlands, in Rücksicht auf die natürliche Beschaffenheit der Einwohner, ihrer Kultur, Sitten [...], 2 Theile. Leipzig 1798. Diese Kontroverse ist meines Wissens bisher unberücksichtigt geblieben.
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den s e i e n . 4 6 N i c h t nur das Q u e l l e n m a t e r i a l erhielt in b e i d e n H i s t o r i o g r a phien eine u n t e r s c h i e d l i c h e R e l e v a n z . A u c h die R e s u l t a t e in der W ü r d i g u n g der W e s e n s z ü g e und des N a t ü r l i c h e n a m Beispiel des russischen V o l k e s u n t e r s c h i e d e n sich t r o t z der A n w e n d u n g der von beiden S c h r i f t stellern p r o p a g i e r t e n h i s t o r i s c h - k r i t i s c h e n M e t h o d e . S o g e s t a n d M e i n e r s , der sich n i c h t w i e S c h l ö z e r in R u ß l a n d a u f g e h a l t e n h a t t e , den R u s s e n n u r eine G e l e h r i g k e i t für m e c h a n i s c h e K ü n s t e und L e i b e s ü b u n g e n , also n u r eine N a c h a h m u n g s b e g a b u n g zu; die Q u e l l e n b e r i c h t e n , so M e i n e r s , n i c h t von g e n i a l e n , k r e a t i v e n G e i s t e s a n l a g e n . M e i n e r s sah Ä h n l i c h k e i t e n z w i s c h e n der B e s c h r e i b u n g der Sitten und d e r „ G e m ü t h s a r t " der R u s s e n mit d e m B i l d v o m N a t u r z u s t a n d . G e s c h i c h t e der M e n s c h h e i t u n d U n i versalgeschichte hatten schließlich unterschiedliche Absichten: Während M e i n e r s U n t e r s u c h u n g e n anstellte, die d e m Z i e l d i e n t e n , die n a t ü r l i c h e n A n l a g e n des M e n s c h e n a u f z u d e c k e n , sah S c h l ö z e r einen engen Z u s a m m e n h a n g z w i s c h e n der N a t u r und ihrer V e r ä n d e r l i c h k e i t , die a u c h d u r c h die E i n g r i f f e des M e n s c h e n bedingt w a r e n . D i e F r a g e n H e r d e r s : [...] wo steht der Eine, große Endphal? wo geht der gerade Weg zu ihm? was heists, „Fortgang des menschlichen Geschlechts" ist Aufklärung? Verbesserung? Vervollkommnung? mehrere Glückseligkeit? Wo ist Maaß? wo sind Sata zum Maaße in so verschiedenen Zeiten und Völkern, selbst, wo wir die besten Nachrichten der Aussenseite haben? 4 7 m u ß t e S c h l ö z e r als „ w u n d e r l i c h e s Z e u g " b e t r a c h t e n . E r richtete seine Geschichte
nicht teleologisch
n a c h e i n e m E n d e aus, s o n d e r n
kannte
stattdessen „ V e r e d e l u n g " und „ V e r s c h l i m m e r u n g " als K e n n z e i c h e n der
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A. L. (von) Schlözer: Nestor. Russische Annalen in ihrer Slavonischen Grundsprache verglichen, übersetzt, und erklärt. Erster Teil: Allgemeine Einleitung in die alte Russische Geschichte, und in Nordische Geschichte überhaupt. Göttingen 1802. Dritter Teil: Oleg, vom J. 879—913: zweiter GrosFürst und zweiter Stifter des Russischen Reichs. Göttingen 1805. Fünfter Teil: Die heil. Olga, Reichsverweserin: der IVte GrosFürst Sviatoslav, und der VIte Jaropolk: zusammen vom J . 945 bis 980. Göttingen 1809. Schlözer gesteht im 5. Teil des Nestor, Kap. VII: Landeskultur, S. 55: „Die würdige Olga [...] tritt auf als Reichs Verweserin, die ihr hohen Amts eingedenk, ihr Reich zu — cultivieren anfängt. Diß ist die allererste Stelle von der Art in unserer Chronik — Culturgeschichte der Völker ist bekanntlich, und allgemein, der verwarloseste Teil in der alten Staatengeschichte —: Schade nur, daß sie so kurz und unbestimmt, hin und wieder sogar unverständlich ist; aber ihren großen Werth hat sie immer, und wundern mögt man sich, daß manche Ausleger der Chronik sie ganz übersehen haben."
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J . G. Herder: A. L. Schlötzers Vorstellung seiner Universalhistorie. Bey Dietrich 1772. In: Frankfurter Gelehrte Anzeigen, 60. Stück (1772), S. 395.
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Geschichtsentwicklung. Die Anlagen des Menschen boten im Verständnis Schlözers alle Möglichkeiten der Entwicklung. Mit Rousseau verwandte er die Ausdrücke ,Perfektibilität' und ,Deteriobilität'. 4 8 Zudem aber konnte das eine aus dem anderen entstehen: Schlözer meinte aus der Geschichte eine Kontraproduktivität der Aufklärung erfahren zu haben, eine Vorstellung, die für Meiners ein Widerspruch in sich gewesen wäre. Die zunehmende Kommunikation der Menschen (Reisen, Buchdruck) bezeichnete Schlözers Begriff von Geschichte. Veränderlichkeit, Unbestimmtheit und Zufälligkeit waren daher die Grundcharakteristika der Schlözerschen Vorstellung von Universalhistorie, die sich aus der „unbegrenzten Perfektibilität" ergaben. Der berühmte Satz Schlözers: „Von Natur ist der Mensch nichts, durch Konjunkturen kann er alles werden", 4 9 suchte auch den Unterschied von Natur und Gesellschaft, vor allem aber die Differenz von Sein und Werden aufzustellen. Den Dualismus von Natur und Gesellschaft hatte Schlözer in ein Kontinuum mehrerer Stadien aufgelöst. Nicht der Vergleich der Stadien, sondern ihre Begründung, ihr Ursprung und ihr Übergang war Schlözers staatstheoretisches Thema. Seine Geschichtsschreibung hatte den Naturzustand als Epoche in seine „Metapolitik" oder „Vorgeschichte" verbannt. Denn Aussagen über den Naturmenschen ließen sich, so Schlözer, nur a priori, nicht aber historisch gewinnen: Eine Zeit ohne verzeichnete Begebenheiten war ihm eine unbekannte, folglich für die Geschichte keine Zeit. Auch der Naturmensch war aus diesem Grunde für Schlözer geschichtslos. Quellenkritik und Exegese waren dem Schüler Johann David Michaelis' ein Regulativ für geschichtsphilosophische Erwartungshaltungen. Gegen Tradition, Fabeln, Dichtungen, Räsonnements, Hypothesen und vor allem gegen R o m a n e setzte Schlözer quellenkundlich nachweisbare Tatsachen und Fakten. In der Unterscheidung von Wirklichem und Literarischem, von Sein und Möglichkeit fand Schlözer seinen Begriff eines aufklärenden Realismus. Thema der Geschichte war daher nicht der „etat primordial", sondern der „etat preadamitique". Die Bibel wurde von Schlözer als historische Quelle, Moses als Geschichtsschreiber akzeptiert. 5 0 Die Wissenschaftlichkeit eines Konzepts vom Natur-
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Vgl. G. Buck: Selbsterhaltung und Historizität. In: R . Koselleck, W.-D. Stempel (Hrsg.): Geschichte — Ereignis und Erzählung. München 1973 (Poetik und Hermeneutik V), S. 2 9 - 9 4 . „Homo non nascitur, sed fit", von dem sich der Satz ableitet, legt den Schwerpunkt auf die „Menschwerdung". Vielleicht mit Seitenblick auf Michaelis und Schlözer kritisierte Woltmann, der in Göttingen studiert hatte: „Die neuren Geschichtsschreiber [...] hielten
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menschen mußte Schlözer zum Problem werden: Historisch nachweisbar konnte es ihn nicht geben, weshalb er nicht als geschichtswissenschaftlicher Forschungsgegenstand zu verhandeln sein konnte. Metapolitischwirklich aber war der Urmensch keine Fiktion; er war daher mehr als nur ein methodisches Instrumentarium oder eine Folie der eigenen Gegenwart. Schlözer verfolgte zwei Möglichkeiten, dem Urmenschen auf die Spur zu kommen. Er meinte, daß der „vergessene", „verlorenene" Urzustand von der höchsten kultivierten Stufe, der europäischen Zivilisation, über die in den Reisebeschreibungen dargestellten wilden Völker wiedergefunden werden konnte. Diese fungierten als missing links, so daß man gewissermaßen nach rückwärts, durch Abstraktion, nicht aber durch Deduktion, den Urzustand beschreiben konnte. Um Geschichte zu schreiben, bedurfte es also der Kenntnisse von Moral und Naturrecht. Philosophie und Staatstheorie wurden der Geschichte zu Hilfwissenschaften. 5 1 Geschichtswissenschaftlich zog Schlözer zweitens gegen Meiners die „Geschichte" der „Vergleichung" vor. Die Vergleichung ziehe, so Schlözer, andere Völker, die in vergleichbaren Situationen lebten, heran; die Geschichte aber benutze die Quellen anderer gebildeter Völker, die, da sie mit den geschichtslosen Urvölkern im Verkehr geraten seien, diese beschrieben und beobachtet hätten. 5 2 Metapolitisch stand der Urmensch in der Schlözerschen Staatslehre als „einsamer Son der Natur" 5 3 am Anfang der Entwicklung. Der Naturmensch habe sich gezwungen gefühlt, in die Gesellschaft zu flüchten. Der Mensch aber, so
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sich f ü r sehr aufgeklärt, indem sie die M e t h o d e , nach den vier Monachien in Daniels T r a u m e die Weltgeschichte vorzutragen, mit Recht verwarfen; aber sie klirrten d a f ü r noch mit den Ketten, welche ihnen ein M a n n anlegte, der weit vor Daniel sich im grausen Alterthum verliehrt, nämlich Moses." Vgl. Karl L u d w i g Woltmann: Plan für historische Vorlesungen. Jena und Leipzig 1795, S. 21. Vgl. Abbe Gabriel Bonnot de Mably: Von der Art die Geschichte zu schreiben, oder über die historische Kunst. Aus dem Französischen mit A n m e r k u n gen von F. R. Salzmann und einer Vorrede von August Ludwig Schlözer. Straßburg 1784. Diese Schrift galt als eine der wenigen zur Geschichtstheorie neben Gatterers „Vom historischen Plan" (1767) u n d Wegelins „Briefen über den Wert der Geschichte" (1783). A. L. (von) Schlözer: Kritische Sammlung zur Geschichte der Deutschen in Siebenbürgen, 1. Stück: U r k u n d e n . Göttingen 1795, S. 223. A. L. (von) Schlözer: Allgemeines StatsRecht und StatsVerfassungsLere. Voran: Einleitung in alle StatsWissenschaften. Encyklopädie derselben. Metapolitik. Anhang: P r ü f u n g der v. Moserschen G r u n d s ä t z e des Allgem. StatsRechts. Göttingen 1793 (Nachdruck 1970), S. 32.
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Schlözer in einer Vorlesung über das lus Publicum Universale, lebt nicht von N a t u r im Staate: Der Stand der Menschen im Staat sei a u ß e r n a t ü r lich. 5 4 Erst Vergesellschaftung definiere aber den Menschen und sei aufgrund der Konstitution des Naturmenschen wenn auch keine n o t w e n dige, so doch eine sinnvolle Konsequenz. Wie bei Rousseau w a r e n es auch bei Schlözer äußere Zufälle, die diese Entwicklung eingeleitet hatten. Die dritte Stufe der Menschheitsentwicklung — bzw. mit Einschluß des Standes des Urmenschen die vierte — sei die „Statsgesellschaft", die die notwendigen negativen Erscheinungen einer Gesellschaft durch Ubertragung von Rechten an Dritte zu verhindern vermag. Die U n t e r d r ü k kung, so Schlözer gegen Rousseau, k o m m e nicht vom Staate, sondern von den ersten Gesellschaften, genauer von der „häuslichen Gesellschaft". Hier finde sich eine ungleiche Gesellschaft, die eine Unterscheidung in „Elende" und „Vollbürtige" treffe, so d a ß die Vertragspartner nicht auf gleichem Niveau stünden. Ungleichheit w a r also kein Resultat der Bürgerlichen Gesellschaft. Alle „ U n a r t e n " und „Ungerechtigkeiten" fanden sich nach Meinung Schlözers nicht (wie bei Rousseau) in der bürgerlichen, sondern in der häuslichen Gesellschaft. Hier begann f ü r Schlözer das Unglück der Menschheit: die Verletzung der Rechte. Die Aufgabe der Ungerechtigkeiten dachte Schlözer dem Staat zu: „Der Stat sollte künftig dem Verderben steuern, aber oft vermert er es n o c h . " 5 5 Für Schlözer w a r der Gegensatz zur N a t u r weder Kultur, wie bei Meiners, noch bürgerliche Gesellschaft. Auch diese w u r d e von Schlözer n u r als problematisches Zwischenstadium in der Menschheitsentwicklung vorgeführt, da sie nicht nur „schöne", sondern ebenso viele negative Seiten besaß. Eine aus sich selbst vereinheitlichende Gesellschaft w a r für Schlözer a u f g r u n d seiner historischen E r f a h r u n g u n d e n k b a r , zumal Uneinigkeit gerade seinen Gesellschaftsbegriff definierte. Die Staatsgesellschaft als höchste Form der Organisation menschlichen Z u s a m m e n l e bens sollte zum Regulativ der aus den „ G e b r e c h e n " entstehenden sozialen Kosten der Gesellschaft werden. Es w a r der Staat, der die Freiheit erst realisieren sollte und von Schlözer als Gegenbegriff zur N a t u r eingef ü h r t wurde. Mit Rousseau leitete auch der Statistiker Schlözer mit Hin-
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Vgl. Kollegnachschriften des Grafen Ladislaus von Teleki: „Statistik, Politik, Oeconomie", die sich in der Bibliothek der Ungarischen Akademie der Wissenschaften befinden [Sign.: Jogt. Alt. 4° 2]. Für das Z u s t a n d e k o m m e n meines Aufenthaltes in Budapest habe ich der Ungarischen Akademie der Wissenschaften in Budapest und der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel zu d a n k e n . Schlözer: Allgemeines StatsRecht, S. 53.
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weis auf die Geschichte der Griechen und Römer die Größe eines Volkes nicht vom Ruhm der Künste ab. In seiner Weltgeschichte zitierte Schlözer aus Rousseaus Contrat Social: „Ii ne suffit pas qu'un Poete ait 10 000 Livres de rente pour que son siecle soit le meilleur de t o u s . " 5 6 Diesen Satz hatte Rousseau in einer Anmerkung zu der Aufforderung an die Statistiker geschrieben, die Bevölkerung zu zählen, zu messen und zu vergleichen, um die Größe eines Volkes nicht nach dem Glanz seiner Literatur und Kunst, sondern nach seiner Vermehrung und Ausbreitung zu beurteilen. Er wurde dem politischen Welthistoriker Schlözer zum Beurteilungsmaßstab für historische Völker und richtete sich expressis verbis gegen philologische Urteile. Der Rezensent der Allgemeinen Deutschen Bibliothek kritisierte Schlözers Standpunkt in der Querelle des anciens et des modernes: Man sollte denken, was Philologen, und zwar ehemals gesagt haben, könnte jetzt den Geschichtschreiber nicht so sehr in Bewegung setzen. Uebrigens gilt es auch bey Hrn. Schi. Fragen und Ausrufungen: wie die Frage, so die Antwort. Z u sehr herabwürdigen ist eben so fehlerhaft, als über die Wolken erheben. 5 7
In Bezug auf das Rousseau-Zitat Schlözers fragte der Rezensent: Braucht man aber das vom Rousseau zu lernen? Unter die Maulpatrioten und feigen Niederträchtigungen werden ebendaselbst Cicero, Vater und Sohn, gerechnet. Ein alter Machtspruch des Verf., den wir nicht wieder anzutreffen hofften. 5 8
Schlözer hatte Rousseau bewußt als Gewährsmann gegen jene philologischen Historiker ins Feld geführt, die von diesem die literarische Herangehensweise und seinen Stil gelernt hatten. Ein weiterer Problemkomplex der deutschen Historiographie des ausgehenden 18. Jhs. war neben der Bestimmung des Verhältnisses zwischen Literatur und Geschichtswissenschaft 59 die historische Legitimation des 56
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A. L. Schlözer: WeltGeschichte nach ihrem HauptTheile im Auszug und Zusammenhang, Zweiter Theil: IV: Alte Welt, von Kyrus, 5 0 0 J . nach Christi Geburt. Göttingen 1789, S. 3 1 5 . Schlözer schrieb über Octavius: „[...] und ward mit dem Namen August, [...] unumschränkter Beherrscher des römischen Reichs, und gab, in philologischem Verstände, R o m sein goldenes Zeitalter." (Anonym): In: Allgemeine Deutsche Bibliothek, 2. Stück (1794), S. 5 2 4 . Ebd., S. 5 2 4 . Vgl. Die geschichtstheoretischen Abhandlungen von Karl Ludwig (von) Woltmann: Ueber den poetischen Gebrauch des historischen Stoffes. In: Ders. (Hrsg.): Geschichte und Politik, 9. Stück (1804), S. 1 - 1 1 . J a c o b Wegelin: Briefe über den Wert der Geschichte. Berlin 1783, S. 5 9 ff. Wegelin wen-
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Staates. An der russischen Geschichte läßt sich die enge Verbindung von Staatstheorie und Geschichte im Werk Schlözers exemplifizieren. In seinem Allgemeinen StatsRecht schrieb Schlözer: „Menschen, die von Natur frei sind, belieben, sich einem Herrscher zu untergeben." In einer Anmerkung führte er weiter aus: „Belieben". Man erlaube mir diesen Ausdruck, wenn gleich so oft dagegen erinnert worden, daß die Geschichte kaum Ein Beispiel eines, durch Philosophie, oder freiwillig und Vertrags Weise, errichteten Stats kenne. Die Antwort darauf ist eben so oft gegeben; soll ein Unterschied zwischen RäuberBande und Regierung seyn, so muß freies Belieben in die Mitte treten. Le plus fort n'est jamais assez fort pour etre toujours le maitre, s'il ne transforme sa force en droit et l'obeissance en devoir. R o u s s e a u . 6 0
Schlözer akzeptierte weder das Recht des Stärkeren noch göttliches Recht noch Erbrecht als Legitimation eines Staates. Die Entstehung des russischen Reiches in der Historiographie Schlözers soll daher näher ausgeführt werden. Sie läßt sich in 10 Schritte unterteilen: 1. Waräger plündern slavische Gebiete. 2. Sie werden zurückgeschlagen. 3. Es entstehen innere Unruhen, 4. Slaven und Bundesgenossen suchen Beschützer („Commandanten"). 5. Slaven beschließen, Waräger zu rufen. 6. Rurik und seine Brüder kommen. 7. Novgoroder erheben sich gegen Rurik. 8. Rurik schlägt den Aufstand nieder. 9. Die Brüder sterben. 10. Rurik wird Alleinherrscher und Monarch. 6 1 Schlözer vertrat die noch nach seinem Tod vieldiskutierte These, daß die Stifter des russischen Reiches die Waräger, nicht die Russen selbst gewesen seien. Zudem stünden am Beginn der russischen Monarchie Gewalt und Blutvergießen. Schlözer war der Meinung, daß eine Fortentwicklung niemals durch eigene Kraft, sondern nur durch äußere Einflüsse einsetzen könne: Leuten, die in wilder Freiheit aufgewachsen waren, [...] traue man nicht zu, daß sie plötzlich und freiwillig ihre ciuitas in ein imperium umbilden.62
Schon in seinem Briefwechsel63 hatte Schlözer darauf hinweisen lassen, wie schwer Wilde ihren eigenen Zustand aufgeben, um in einen zivilisier-
60 61 62 6:!
det auch gegen Rousseau, ohne ihn zu nennen, ein, daß die Herleitung der Gewalt von Herkules, mehrerer Geschicklichkeit oder mehrere Kenntnisse nicht mit Verstellung, Betrug oder Gewalttätigkeit zu verwechseln seien. Schlözer: Allgemeines StatsRecht, S. 12 und 159. Vgl. A. L. (von) Schlözer: Nestor. Göttingen, S. 172 f. Ebd., S. 173. Auch Rousseau war der Meinung, daß der Eintritt in den zivilisierten Zustand schwerer falle als umgekehrt. Vgl. August Ludwig Schlözers Brief-
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ten Zustand überzuwechseln. Vor allem aber stand am Anfang der Staatsgründung der freiwillige Beschluß, sich einen „Commandanten" zu suchen: Seltsam und mißlich w a r freilich der E i n f a l l , Beschützer gegen ihre b a r b a rischen Plünderer selbst aus der N a t i o n dieser Plünderer zu r u f e n ; 6 4
Das freie „Belieben", das „Commandiren" fand sich am Ursprung der Staatsgründung, wodurch Rurik seine Legitimität erhielt. Mit „seltsamen" Konjunkturen, so Schlözer, aber auch durch Zufälle — der Tod der Brüder Ruriks — setzte die russische Geschichte ein. Diese Zufälle und Konjunkturen hatten Rurik von einem Beschützer zu einem Monarchen, Gewalt in Recht, Gehorsam in Pflicht transformiert. Schließlich diskutierte Schlözer in seiner StatsLehre auch Rousseaus Eigentumsbegriff und das Problem der obersten Gewalt im Staate. Auch hier sah Schlözer die Regulierung der Eigentumsfrage, etwa am Beispiel der Aufhebung der Gemeinweide, nur durch den Staat gewährleistet. Das Recht des Menschen auf den Erdboden, das ius terram, verändere sich nicht, selbst dann nicht, nachdem der Privatbesitz Einzug gehalten habe. Es bleibe ewig und unveränderlich. Das ius primi occupandi war für Schlözer kein Naturrecht, sondern notwendiges, künftiges positives Recht. 6 5 Auch die These von der Legitimation von Eigentum durch Arbeit stellte Schlözer in Frage. Auf das ius terram habe nicht etwa niemand, sondern das gesamte menschliche Geschlecht ein Anrecht. 66 Da dieses Recht auch in der bürgerlichen Gesellschaft Geltung besitze, fielen alle die „Romantischen Ideen eines Rousseau von dem Naturmenschen" 67 weg. Schlözer folgte schließlich auch nicht der These Rousseaus von der Unveräußerlichkeit der Gewalt des Volkes. Schlözers antinomische Staatstheorie ließ auf der einen Seite Natur- und Menschenrechte, wie den Satz „alle Ge-
wechsel meist historischen und politischen Inhalts, T h . IV, H e f t X X I I I : D r i t ter K a n a d i s c h e r B r i e f ( 1 7 7 8 ) , S. 3 0 3 . A u c h : August L u d w i g Schlözer: Kritische S a m m l u n g zur G e s c h i c h t e der D e u t s c h e n , 1. S t ü c k . G ö t t i n g e n 1 7 9 5 , S. 1 7 8 . S c h l ö z e r fragte: „ [ . . . ] w e l c h e r W i l d e legte je seine Wildheit ungezwungen a b ? " E r b e g r ü n d e t e dieses P h ä n o m e n mit der A n g s t der Wilden v o r N e u e r u n g e n . T r o t z der gleichen T h e s e S c h l ö z e r s und R o u s s e a u s w a r deren A u s s a g e freilich unterschiedlich. 64 65
66 67
E b d . , S. 1 7 3 . Z u m Verhältnis von N a t u r r e c h t und positivem R e c h t vgl. G . D i l c h e r : G e s e t z g e b u n g s w i s s e n s c h a f t und N a t u r r e c h t . In: J u r i s t e n z e i t u n g , 2 4 . J g . Nr. 1 ( 1 9 6 9 ) , S. 1 - 7 . Vgl. S c h l ö z e r : Allgemeines S t a t s R e c h t , S. 4 7 ff. Wie Anm. 54.
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wait geht vom Volke aus", auch weiterhin in der bürgerlichen- und Staatsgesellschaft fortbestehen. Auf der anderen Seite: „um jenes UrRecht geltend zu machen, darf, muß, er seiner Unabhängigkeit in bestimmten Fällen entsagen." 68 Dieses Urrecht bestand für Schlözer in dem Wunsch, glücklich zu sein. Die Umsetzung von Urrechten konnte im Sinne Schlözers nur durch eine Verrechtlichung, also eine Veräußerung von Rechten an Dritte, erreicht werden. Schlözer hatte Rousseau zugestanden, eine Reihe von Wahrheiten gesagt zu haben. Allein diese seien für den Staat nicht immer nützlich gewesen. Gegen Friedrich Carl von Mosers Kritik am Gesellschaftsvertrag, den der Freiherr als „Träumereien" und „Grübeleien" bezeichnete, verteidigte er hingegen Rousseau: Über jeden Gegenstand, er sei wichtig oder unwichtig, lassen sich a) Untersuchungen, b) Grübeleien, und c) Träumereien, anstellen. Die bekannten Gegenstände untersuchte Locke; Jean-Jacques grübelte, und Anacharsis Cloots träumt darüber: [ . . . ] . 6 9
Träumereien enthielten, so Schlözer, gar nichts Wahres und Gutes, Grübeleien nichts Brauchbares; aber Untersuchungen dieser Materien seien, zum Glücke der Welt, notwendig. 70
68 69 70
Schlözer: Allgemeines StatsRecht, S. 44. Ebd., S. 176. Ebd.
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Beitragsautoren
Ebricb-Haefeli, Verena, Dr. Universite de Geneve, Faculte des Lettres, Departement de langue et de litterature allemandes, C H - 1 2 1 1 Geneve 4, Suisse Erhart, Walter, Dr. Universität Göttingen, Seminar für Deutsche Philologie, J a c o b Grimm Haus, Humboldtallee 13, D-37073 Göttingen Jaumann,
Herbert,
Prof.
Dr.
University of Toronto, Department of German, Victoria College, 73 Queen's Park Cresc., Northrop Frye Building Toronto, Ont. M 5 S 1K7, Canada Kronauer,
Ulrich,
Dr.
Akademie der Wissenschaften, Heidelberg, Deutsches Rechtswörterbuch, Karlstraße 4, D - 6 9 1 1 7 Heidelberg Neumeister, Sebastian, Prof. Dr. Freie Universität Berlin, Fachbereich Neuere Fremdsprachige Philologien, Institut für Romanische Philologie, Habelschwerdter Allee 45, D - 1 4 1 9 5 Berlin Peters, Martin, cand. phil. Schwanallee 41, D-35037 Marburg/L. Rehberg, Karl-Siegbert, Prof. Dr. Technische Universität Dresden, Institut für Soziologie, Lehrstuhl für Soziologische Theorie, Theoriegeschichte und Kultursoziologie, Bergstraße 53, D-01069 Dresden Schmidt-Biggemann,
Wilhelm,
Prof.
Dr.
Freie Universität Berlin, Fachbereich Philosophie und Sozialwissenschaften I, Institut für Philosophie, Geschichte der Philosophie und der Geisteswissenschaften, Königin-Luise-Straße 34, D - 1 4 1 9 5 Berlin Velkley, Richard, Prof. Dr. Stonehill College, Department of Philosophy, North Easton, Mass. 02357, USA
314 Vollhardt,
Beitragsautoren Friedrich,
Prof. Dr.
Universität Magdeburg, Fakultät für Geisteswissenschaften, Institut für Germanistik, Virchowstraße 24, D - 3 9 1 0 4 Magdeburg Voßkamp,
Wilhelm,
Prof.
Dr.
Universität Köln, Institut für deutsche Sprache und Literatur, Albertus-Magnus-Platz, D - 5 0 9 3 5 Köln
Register
Namen Das Namenregister verzeichnet die in den Texten und Fußnoten e r w ä h n t e n natürlichen Personen. Unberücksichtigt bleiben in der Regel die N a m e n der Herausgeber von Editionen und wissenschaftlichen S a m m e l w e r k e n . Z w i s c h e n Stellenangaben im Text u n d in den Fußnoten wird im D r u c k nicht unterschieden. Die in die alphabetischen Literaturverzeichnisse a u f g e n o m m e n e n N a m e n erscheinen nicht im Register. H . }.
Abbadie, Jacques 91 Achenwall, G o t t f r i e d 267 Adelung, J o h a n n Christoph 273 A d o r n o , T h e o d o r Wiesengrund 250 Agrippa von Nettesheim, Heinrich Cornelius 5, 16 Alembert, Jean le R o n d de 3, 179, 37 Alexander, Werner 59, 72, 74 Allen, Woody 9 Alsberg, Paul 227 Althusius, J o h a n n e s 199 A l t m a n n , Alexander 89 Arendt, H a n n a h 23 ff., 231 Aristoteles 25 Bach, J o h a n n Sebastian 148 Bachtin, Michael M . 61 Bacon, Francis 184 Badinter, Elisabeth 125 Balke, Friedrich 254 Ballauff, T h e o d o r 227 Ballestrem, Karl Graf 253 Bahner, Werner 167 Barck, Karlheinz 3 Barnard, Frederick M . 237, 242, 246 Barner, Wilfried 34 Baum, G ü n t h e r 97 Bechmann, Friedrich 84
Beerling, Reinier F. 228 Beetz, M a n f r e d 59 Bergson, H e n r i 194, 241 Berkeley, George 27 Bitterli, Urs 59 Blanke, Horst-Walter 268 Bleckwenn, R u t h 157 Bloch, Ernst 246 Bloom, Allan V Blosser, Ursi 136 Blumenbach, J o h a n n Friedrich 107 Bodin, Jean 253 Bodmer, J o h a n n J a k o b 6 Boerhaave, H e r m a n n 61 Böschenstein, Bernhard 14 Böttiger, Karl August 50 Boie, Heinrich Christian 124 Bonnet, Charles 49 B o n n o t de Condillac, Etienne 244 B o n n o t de Mably (abbe), Gabriel 283 B o o c k m a n n , H a r t m u t 275 Bougainville, Louis Antoine de 144 Bovenschen, Silvia 116 f., 127, 152 Boveri, M a r g r e t 231 Brede, Karola 143 Brede, Werner 230 Broich, Ulrich VI Brucker, Karl Friedrich 4
316
Register
Bubner, Rüdiger 51, 55 Buck, Günter 50, 101, 107, 283 Buffon, Georges Louis Leclerc de 2, 225 Burke, Edmund 219, 223 Burmeister, Brigitte 3 Burscher, Friedrich 4 Campanella, Tommaso 16 Campe, Joachim Heinrich VII, 103 ff., 124, 157 ff. Cassirer, Ernst 181 Chasseguet-Smirgel, Janine 120 Chladenius, Johann Martin 72, 74 Cicero, Marcus Tullius 280, 286 Ciaessens, Dieter 233 Clayton, Jay VI Clifford, James 62 Colie, Rosalie Litteil 15 f., 18 f. Comte, Auguste 177 Condillac: vgl. Bonnot de Condillac Condorcet, Marie J. Antoine Nicolas Caritat de 163, 168, 267 Dahrendorf, Ralf 236, 256 f. Darnton, Robert 70 de Man, Paul 62 Dempf, Alois 165 Derathe, Robert 19 Derrida, Jacques 62 Descartes, Rene 16, 175, 183, 185 Diderot, Denis VII, 2, 9, 29, 37 f., 109, 125, 127 f., 139, 144, 240, 280 Diffey, Norman R. 124 Dilcher, Gerhard 288 Diogenes von Sinope 15 Dirscherl, Klaus 87, 96 Dean, James 9 Domurath, Sieglinde 85 Doni, Anton Francesco 17 f. Driesch, Hans 227 Duden, Barbara 132 Dühring, Eugen 249 Dürkheim, Emile 257
Egmont, Mme Sophie de 3 Ehlers, Martin 103 f. Ehrich-Haefeli, Verena VII, 125, 140, 155 Eichendorff, Joseph Frh. von 166 Elias, Norbert 148, 229 Eliot, George (Ps. für Mary Anne Evans) 249 Engel, Eva J. 85 Erasmus, Desiderius, von Rotterdam 16 f., 250 Erdmann, Karl Dietrich 99 Erhart, Walter V, VIII, 48 Fabian, Johannes 59 Feder, Johann Georg Heinrich 270 f. Fenelon, Francois de Salignac de la Mothe de 110, 133 {Tilimaque) Fester, Richard 12 f., 49, 168 Fetscher, Iring 5, 19, 76, 91, 172, 225 Fichte, Johann Gottlieb 151, 168, 193, 197 ff., 248 Fielding, Henry 109 Figal, Günter 56 Filbinger, Hans Karl 250 Flachsland, Caroline 123, 154 f. Fleischer, Dirk 268 Flickinger, Hans-Georg 254 Flögel, Carl Friedrich 280 f. Fohrmann, Jürgen 66 f. Fontane, Theodor 136 Fontenay, Elisabeth de 115 Fontius, Martin 2 Forschner, Maximilian 87 Franck, Sebastian 16 Freud, Sigmund 116, 128, 131, 147, 150 Freyer, Hans 238 Friedrich Wilhelm III., Preuß. König 173 Frischmuth, Barbara 143 Fuchs, Albert 49 Füßli, Johann Heinrich 6 f., 48, 242
Namen
Galilei, Galileo 18 Galle, R o l a n d 96 Garbe, Christine VIII, 20, 115 Gatterer, J o h a n n Christoph 284 Geertz, Clifford 64 Gehlen, Arnold 224 ff., 227 ff., 250, 254 f., 258 Geiger, C. F. 271 Geitner, Ursula 87 Geliert, Christian Fürchtegott VII, 119 f., 134, 136, 148 f. Gentz, Friedrich 223 Gerber, Franziska 136 Gericke, Wolfgang 45 Gerstenberg, Heinrich Wilhelm von 55 Girardin, Rene-Louis m a r q u i s de 9 Gleim, J o h a n n Wilhelm Ludwig 8, 19, 47 f., 77 Gloy, Karen 210 Goethe, J o h a n n Wolfgang (von) VII, 8, 12, 82, 92, 102, l l l f . , 139, 149 f., 164, 248 f. G o n c o u r t , Brüder E d m o n d und Jules H u o t de 249 Gottsched, J o h a n n Christoph 4, 30, 117 Graffigny, M m e Fran^oise de 231 Grassi, Ernesto 176, 179 Greiffenhagen, M a r t i n 239 Grendler, Paul F. 17 Gründer, Karlfried 86 Guthke, Karl S. 12, 124, 222, 242 Häberlin, Paul 230 H a h n , Alois 83 Haller, Albrecht von 47 H a m a n n , J o h a n n Georg 7, 86, 100, 243 H a m m a c h e r , Klaus 84 Harich, Wolfgang 246 H a r t e n , H a n s Christian u n d Elke 222, 256 H a r t m a n n , Nicolai 232 H a u s e n , Karin 122
317
H a y d n , Joseph 117, 119, 121 Heeren, Arnold H e r m a n n L u d w i g 274 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 51, 183, 194, 229 f. Heidegger, M a r t i n 194, 227 Heine, Heinrich 250 H e i z m a n n , Berthold 242 Henrich, Dieter 182 Herder, J o h a n n G o t t f r i e d 7, 51 f., 82, 91, 107f., 123, 126, 154f., 211, 214 f., 229 f., 241 ff., 281 f. H e r m s , Ellert 100 Heß, Felix und Heinrich 6 Heynig, J o h a n n Gottlieb 274 f. H i p p o k r a t e s von Kos 61 H i ß m a n n , Michael 272 f. H o b b e s , T h o m a s 27, 188, 199, 202 ff., 252, 255 Hölderlin, Friedrich 194 H o f m a n n s t h a l , H u g o von 115 H o l m s t e n , Georg 233 H o m e , Henry, Lord Kames 53 Honegger, Claudia VIII, 121, 160 H o n n e t h , Axel 70, 78 H o r k h e i m e r , M a x 140, 250 H u e t , Perre Daniel 57, 59 H u g o , Victor 249 H u m b o l d t , Wilhelm von 108, 160, 235, 244 H u m e , David 100, 236, 248 H u n t , Lynn 256 Husserl, E d m u n d 194 H u t c h e s o n , Francis 248
122,
Ibsen, Henrik 129 Irmscher, H a n s Dietrich 244 Iselin, Isaak 50 f., 53, 270 ff., 276, 281 Jacobi, Friedrich Heinrich 79 ff. Jacobi, J o h a n n G e o r g 8, 79, 124, 222 Jacobs, Wilhelm G. 212 J a u m a n n , H e r b e r t 55, 112, 221 J a u ß , H a n s R o b e r t 92, 96, 112
318
Register
Jean Paul (Richter) 124, 147, 150, 154, 162 Jellinek, Georg 218 Joas, H a n s 237 Jorgensen, Sven-Aage 86 J o h n s o n , Dr. Samuel 20 Jost, Francois 13 Kant, Immanuel 26, 51 f., 127, 147, 163, 181 ff., 198, 206 ff., 236, 248 Kantorowicz, Ernst 200 K a p p , Volker 83 Kausch, Karl-Heinz 52 Keller, Gottfried 144 f. Kim, Vivian 242 Klages, Ludwig VIII, 247 Klein, T i m o t h e u s 49 Kleist, Heinrich von 132, 135 Klinger, Friedrich Maximilian 124 Klopstock, Friedrich Gottlieb 7 Klotz, Christian Adolph 75 Knabe, Peter-Eckhard 223 Knapp-Tepperberg, Eva-Maria 115 Körner, Josef 166 Kolakowski, Leszek 22 Kondylis, Panajotis 52 Koselleck, R e i n h a r t 50, 53, 67, 122 K r a m m e , Rüdiger 254 Kristeva, Julia 64 Kronauer, Ulrich VIII, 51 K ü h l m a n n , Wilhelm VI L a n d o , Ortensio 17 f. Lange, Samuel G o t t h o l d 90 La Roche, Sophie von 82, 123, 137, 155 L a u e r m a n n , M a n f r e d 253 Lavater, J o h a n n Kaspar 6 f. L e h m a n n , G e r h a r d 181 Leigh, Ralph A. 2, 270 Lenz, J a k o b Michael Reinhold 101, 124 Leopardi, M o n a l d o Graf 170 Lepenies, Wolf 239
Lessing, G o t t h o l d Ephraim VII, 4, 6, 23 ff., 26 ff., 48 f., 51 f., 74, 88, 107, 120, 128, 139, 149, 153 f., 211, 214 Lessing, Karl Gotthelf 26 Leuchsenring, Franz Michael 82 Levi-Strauss, Claude 58, 60, 77, 247, 257 Levy-Bruhl, Lucien 84 Lichtenberg, Georg Christoph 106 Liebrucks, Bruno 227, 230 Liepe, Wolfgang 11 f., 14 Linde, H a n s 239 Link, Jürgen 80 Link-Heer, Ursula 56, 60, 75, 80 Litt, T h e o d o r 230 Locke, J o h n 199 Lotter, Friedrich 275 Louis Eugen, Prinz von W ü r t t e m b e r g 123, 130 f. L u h m a n n , Niklas 15, 21, 176, 238 Lukes, Steven 257 Luther, M a r t i n 214, 250 Lyotard, Jean-Fran^ois 54 Mably: vgl. Bonnot de Mably Machiavelli, Niccolö 224 M a c L u h a n , Marshall 176 M ä h l , H a n s - J o a c h i m 66 Maistre, Joseph Marie comte de 219 Malsch, Wilfried 51 Mandeville, Bernhard de 34 M a n n , T h o m a s 247 f., 250 f., 254 Marcuse, H e r b e r t 250 M a r q u a r d , O d o 21, 175 M a r x , Karl V, 219, 250, 253 M a s o n , E u d o C. 7, 48 M a t z a t , Wolfgang 91, 98 McDonald-Vance, Christie 152 M e a d , George H e r b e r t 235, 237 M e a d , M a r g a r e t 231 Meier, August Friedrich 90 Meier, Georg Friedrich 72 Meier, Heinrich 254 Meinecke, Friedrich 13, 267
Namen Meiners, Christoph 91, 267 ff., 275 ff. Mejer, Luise 124 Melanchthon, Philippus 214 Mendelssohn, Moses 6, 32 ff., 36 f., 85, 88, 106 f., 222 f. Mevius, Johann Paul (Verleger, Gotha) 5 Michaelis, Johann David 283 Michelsen, Peter 36 Miller, Alice 135 Miller, Owen VI Mog, Paul 73 Mommsen, Theodor 250 Monroe, Marilyn 9 Montesquieu, Charles de Secondat de 9, 179, 219, 225, 252, 271 Montessori, Maria 237 Mortier, Roland V, 84 Morus, Thomas 17 Moser, Friedrich Carl von 289 Mounier, Jacques 11, 14, 80 Müller, Adam 166, 201 Müller, Johannes von 270 Müller, Maria E. 117 Muschg, Walter 7 Nell-Breuning, Oswald von, S. J. V Neuber, Wolfgang VI Neumeister, Sebastian VII f., 170, 179 Nicolai, Friedrich 24, 33 f. Niethammer, Lutz 246 Nietzsche, Friedrich 20, 183 f., 194 f., 230, 248 ff. Nordau, Max (Ps. für M. Südfeld) 77 Novalis (Hardenberg, Friedrich von) VII, 163 ff. Opitz, Claudia 117 Palissot de Montenoy, Charles 8, 48 Pareto, Vilfredo 224 Penisson, Pierre 244 Pestalozzi, Johann Heinrich 6 f., 123 f. Peters, Martin VIII
319
Pfister, Manfred VI Pilculik, Lothar 83 Piaton 250, 280 f. Plessner, Helmuth 227 ff., 236, 254 Pöhlmann, Egert 243 Preisendanz, Wolfgang 61 Presley, Elvis 9 Prokop, Ulrike 147, 231 Pufendorf, Samuel Frh. von 199, 219 Pusch, Luise F. 128 Rang, Martin 87 Rehberg, Karl-Siegbert VIII, 224, 227 f., 239, 243 Reimarus, Elise 44 Resewitz, Friedrich Gabriel 104 Rey, Marc-Michel 2, 84 Ritter, Henning 2, 221, 223, 231 Ritter, Joachim 175 Robespierre, Maximilien 24, 39, 251 Rothacker, Erich 232 Rothstein, Eric VI Rousseau, Jean-Jacques: — abstraktes Pathos 157 — Ankläger des Zeitalters 274 — dekonstruktiver Gestus seiner Texte 62 f. — Differenz zu den anderen 4 — Ehrlichkeit 8 — Frauen, Frauenbild 115 ff., 231, 233, 237, 247, 251 — Hagiographie 8 — Heiliger, Prophet, Prediger der Menschheit 123 — Identifikation mit ihm 80 — Idylle von Ciarens 127, 140, 153 — und Kant 181 ff. — Kulturkritik, Zivilisationskritik 48 ff., 63 ff., 70 ff., 89 f., 98, 225 f. — Märtyrer 6, 8 — sein Leiden unter sozialem Konkurrenzkampf 153 — medienvermittelte Figur 14 — öffentliche Feste 179
320
Register
— — — —
Pädagogik VII Parodie, Karikatur 8, 68 f. pessimistischer Aufklärer 13, 50 f. Rousseau-Kritik als Verfahrenskritik 71 ff., 74 ff. — Schreibsequenzen: theoretisch, literarisch, autobiographisch 1 ff. — Schwärmer 9 — als Schweizer 13 — Todesart 9 — unhistorischer Denker 12 f. Roussel, Pierre 144, 160 Sailer, Sebastian 117 ff., 120 f. Sainte-Beuve, Charles Augustin 249 Salkever, Stephen G. 19 Samson, Lothar 227 Sand, George 249 Sartre, Jean-Paul 228 Savonarola, G i r o l a m o 250 Scheler, M a x VIII, 194, 227, 229, 231, 238, 242, 247 ff., 254 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 164, 166, 193 f. Schelsky, H e l m u t 238 f. Scherer, Wilhelm 12 Schiller, Friedrich (von) VII, 51, 128, 132, 135, 147, 154, 156, 163, 194, 248 f., 274 Schings, H a n s - J ü r g e n 35 f., 51 Schlegel, August Wilhelm 166 Schlegel, Friedrich VII, 96, 98, 110 f., 117, 163 ff. Schlözer, August Ludwig (von) 107, 267, 281 ff. Schmidt, Erich 12 Schmidt-Biggemann, Wilhelm VIII Schmitt, Carl 176 ff., 224, 228, 232, 247, 252 ff. Schmucker, Josef 182 Schnabel, J o h a n n Gottfried 118, 120, 148 Schopenhauer, 242, 248
Arthur
20, 24,
230,
Schütz, Alfred 241 Schütze, G o t t f r i e d 4 Schulz, J o h a n n T r a u g o t t 4 Seneca, Lucius Annaeus 280 Shklar, Judith N . 20 Simmel, Georg 176 Smith, A d a m 236, 248, 257 Sokrates 26 ff., 3 2 f . S o m b a r t , Nicolaus 232, 246, 252, 254 S p a e m a n n , R o b e r t 5, 49, 174, 218 Spencer, H e r b e r t 257 Spinoza, Baruch 27, 184 Spittler, L u d w i g T i m o t h e u s von 278 Starnes, T h o m a s C. 8, 47 Starobinski, Jean 14, 56, 65, 71, 96, 222, 256 Steeb, J o h a n n Gottlieb 269 f. Steinbrügge, Lieselotte 122, 126 Sterne, Laurence 109 Stierle, Karlheinz 87, 93, 110 Strauss, Leo 5 Süßenberger, Claus 9 f., 13 f., 48, 54,
80, 82 Sulzer, J o h a n n Georg 6 van Swieten, G o t t f r i e d 117, 119 ff. Taine, Hippolyte 12 Talleyrand, Charles Maurice de 249 Talmon, J a k o v L. 251 Teller, Wilhelm A b r a h a m 4 Tente, Ludwig 11 Theweleit, Klaus 232 Tieck, Ludwig 102, 166 Tietz, J o h a n n Daniel 4 Tocqueville, Alexis de 176 Todorov, Tzvetan 63 Tönnies, Sibylle 78 Topazio, Virgil W. 20 Trapp, Ernst Christian 105 Treml, Alfred 20 ff., 227 Tronchin, J e a n - R o b e r t 3 Trousson, R a y m o n d 11, 47 Tubach, Frederic C. 49 Turgor, Anne R. Jacques de 267
Sachen Uexküll, Jakob Johann Baron von 242 Uz, Johann Peter 8, 47 Valdes, Mario J. VI Velkley, Richard L. 197 Vierhaus, Rudolf 108 Vollhardt, Friedrich VIII, 8, 83, 99 Voltaire, Francois Marie Arouet 9, 47, 51, 54, 222, 249 f., 280 Voßkamp, Wilhelm VII f., 67, 99 f. Wahl, Jean 19 Warens, Mme de (La Tour, Fran^oise Louise de) 247 Weguelin, Jakob 270, 284, 286 Weigand, Kurt 2 Weigel, Sigrid 144 Wellenreuther, Hermann 275
321
Wells, George A. 242 Werber, Niels 97 Werner, Zacharias 166 Wieland, Christoph Martin 47 ff., 80, l l l f . , 123 Wiese, Benno von 165 Wilhelm II. von Hohenzollern, Deutscher Kaiser 252 Wohlfart, Günter 208 Wolff, Hans M. 243 Woltmann, Karl Ludwig (von) 270, 273 f., 280, 283 f., 286 Wothke, Rosemarie 104 Wyneken, Gustav 227 Zenge, Wilhelmine von 135 Zinzendorf, Nikolaus Ludwig Reichsgraf von 29
Sachen Das Sachregister berücksichtigt die wichtigsten in den Beiträgen vorkommenden Einzelbegriffe. Ergänzend dazu wurden französische Prägungen aufgenommen (ζ. Β. νοίοηίέ genirale), die mit Rousseau in Verbindung stehen, sowie frei gebildete, generalisierende Stichworte, die auf Schwerpunkte der Forschung oder auf durchgehend relevante Konzepte verweisen. Die Oberbegriffe decken in der Regel zugleich ihre Ableitungen (z.B. dazugehörige Adjektive) und Varianten, einschließlich der fremdsprachigen Äquivalente in Zitaten oder im Beitrag von R. L. Velkley. Die Verzeichnung von Synonymen wurde möglichst vermieden. H. J.
Absolutismus 171 — der Freiheit 209, 211 Adelssalon 3 Anthropologie 55, 56 f., 70, 208, 221 ff. — negative 97 — neue 121 f. Anti-Aufklärung 226, 246 Antithese, kritische 16 Aporie 101 (im Emile) applicatio 71 Arbeiterbewegung V
Aufklärung 116, 132, 152, 184, 246, 248 — deutsche VII — französische 101 — neuzeitliche 184 — wahre 279 Augenblick, gegenwärtiger 187 f. Autonomie 120, 182, 184, 206 — ästhetische 164 Begriffsabsolutismus, politischer 218 Bildungsklassiker V
322
Register
Bildungskonzept 108 Bildungsroman VII, 102 bon sauvage 61 f. Bürgerliches Selbstbewußtsein, männliches 161 Christentum 163 ff., 248 corps moral 203 f. corruptibilite 106 Deismus 166 Demokratie 218 f., 247 ff., 251 ff. Deutscher Idealismus 12 f., 183, 185, 197 Dialektik 185, 189, 192 f. Dokumenten, Erschließung von 10 ff. Eigentum 198, 277, 288 ,Einfluß'-Kategorie VI, 15 (Erforschung) ,Einfluß'-Studien 11 ff. Einheit 190 f., 193 Empfindsamkeit 83 f., 116, 140 Entfremdung 87, 194 f., 230 Entgegnungen (Gegenschriften) 4 f. Entlastung 239, 234 f. Encyclopidie (Diderot) 3 Erfahrung 29, 232 Erklärungshypothesen 1 0 , 1 3 f. Erlösungsphilosophie (Fichtes) 214 Ermenonville 9 f. Eros, metaphysischer 185 f., 189 f., 193 Erziehung 96, 174, 211, 213 ff., 233 f., 236 — zur Authentizität 102 — unzeitgemäße' 20 Erziehungsdispositiv 141, 156 Ethnologie 58 ff., 65, 70, 72 f. Existenzbedingungen, vorrationale 187 Familie 122, 139 f., 145 f., 154 Feminismus VII f., 115 ff. Fiktionalität 102 Fortschritt 41, 90 f.
fraterniti 23, 25 Frauenforschung, historische VII f., 115 ff. Freiheit 185 f., 190 ff., 197 ff. Freimaurer, der wahre 40, 42 f., 45 Freundschaft 23, 44 Frühromantik 175 Ganzheit 103, 194 f. Gefühl 198, 215 Gefühlssprache 85 Germanistik, politischer Opportunismus der 12 Geschichte 209 f., 217 — Fakten 278, 283 — vs. Fiktion 278, 284 — Hypothesenbildung 53 f. — hypothetische 268, 278 — Menschengeschichte (Woltmann) 273 f. — der Menschheit (Meiners) 267, 271 ff., 275 ff. — menschliche 194 f. — vs. Roman 71 ff., 268, 283 — ihr Sujet 268 f. — Universalund Weltgeschichte 211 ff., 267, 269, 272, 276, 281, 283 — Vorurteile und Interessen 268 Geschichtlichkeit 189 Geschichtsphilosophie 51 ff., 58, 198, 215, 217 f., 271 Geschichtswissenschaft, deutsche 267 ff. Geschlechter, Polarisierung der 121 f., 155 ff. Geschlechterideologie, bürgerliche 115 ff. Geselligkeit 89 Gesellschaft, bürgerliche 40 f., 87 Gesellschaftstheorie VIII Gesellschaftsvertrag (contrat social) 198 ff., 207, 2 0 9 , 2 1 1 , 2 1 4 Gesellschaftszustand 41 Gleichheit 198 ff., 202 ff., 215
Sachen
Glück 44 Glückseligkeit 104 Gottesebenbildlichkeit 120 H a n d e l n 211, 216 H a n d l u n g 232, 234, 238, 241 H e g e m o n i k o n 201 f. Hermeneutik 47 ff., 62, 68, 72, 74 f. historia magistra vitae 53 f., 71 Historiographie VIII, 267 ff. Historismus 267 f. Höflichkeit 229 f. homme naturel 42, 51, 55, 61 f., 65, 77 komme vs. citoyen 101 (im Emile) Hylemorphismus, politischer 200 f. Idealismus, transzendentaler 208 f. Image 14 impossibilia 15 f. Indirektheit 229 Individualität, m o d e r n e 122 Institution 198, 224, 228, 252, 255, 257 Institutionalismus 228 Interdisziplinäre Perspektive (der Rezeptionsforschung) VI Irrationalismus 12 Katholizismus 165, 175 ff. Kind 130, 142, 2 4 1 , 2 4 3 Kirche, katholische 176 ff. Klassik, Geschlechteranthropologie der 154 K o m m u n i k a t i o n 283 Kommunitaristen, K o m m u n i t a r i s m u s V, 78 Komparatistik VI, 10 ff., 12 Kompensation 175 ff. Konservatismus 172, 256, 258 Kontingenz 76 Kontingenzbewußtsein 21 f. Konventionen 97 Kultur vs. Barbarei 19 Kultur, Entwicklung der 88 Kulturskepsis 5 f.
323
Kulturtheorie VIII Kunstreligion 165 Legende 10 Legitimation des Staates 287 L e g i t i m a t i o n s m o n o p o l , staatliches 204 f., 207 Leidenschaften 93, 1 8 6 , 1 8 8 f. Liberalismus 169 Linguistik, feministische 128 f. Literatur, deutsche VII f., 7 Literaturwissenschaft VI Literaturwissenschaft, geistesgeschichtliche 12 Logik des Absoluten 204 f., 207, 209 M a c h t 198, 200, 207, 210, 219, 229 M a s o c h i s m u s , weiblicher 116 Mensch 223 ff., 241, 245, 258 media celebrity 9 Menschenrechte 120 Menschlichkeit 45 Metaphysische, ontologische Begriffe 185, 191 f., 195 Mitleid 23, 33 ff., 89 Mittelalter 172 M o d e r n e 163 moi commun 203, 214 Mythologie, neue 164 N a r z i ß m u s , weiblicher 116 Natürliche Neigungen 93 Natur, Sprache der 81 N a t u r e r k e n n t n i s 29 N a t u r m e n s c h 225, 230, 284, 288 N a t u r r e c h t 49, 284, 288 N a t u r s t a n d s k o n s t r u k t i o n 8, 53 f., 69 f., 278 N a t u r t r i e b 89 N a t u r s t a n d , N a t u r z u s t a n d (etat de la nature) 41 ff., 49 ff., 5 6 , 6 1 , 66, 73 f., 76, 88 f., 9 9 , 1 7 1 , 1 9 8 , 2 0 3 , 2 0 7 , 2 6 8 , 271 f., 276, 278, 282
324
Register
Pädagogik 103 Paradox V, 1, 15 ff., 19 ff. (Funktion), 101,271 Paradoxist V, 15 ,Patrioten' in Zürich 6 f. Perfektibilität (perfectibilit0) 50, 55 f., 61, 66 f., 106, 1 8 7 , 2 3 8 , 2 8 3 Person 228, 234, 254 personne politique 200 f., 203 f., 214 personne publique 201 f. Philanthropen 105 Philosophie, die neuzeitliche 197 Philosophie, Politische 198, 217 ff. Poesie 163 Politik, das Politische 217 ff., 247, 252 ff. Politische Klugheit 218 Politischer Körper 200 Positivismus (A. Comte) 177 Preußen 178 Pressespiegel 9 Priesterstaat 167 Projektmacherei, geschichtliche 210 Projektionsfigur 9, 221 Psychoanalyse 116 Psychohistorie 116 ff. Publikum 9 Publizität 3 Pygmalion-Motiv 135 Quellenkritik 278, 283 Querelle des anciens et des modernes 2, 286 Rationalität, moderne 177 f. Recueil Mevius 4 f. rede-actus 4 Reflexion 239 f. Reformation, radikale 16 Religion 165 religion du citoyen vs. religion l'komme 167
de
religion du pretre 170 Religiosität 165 f. Renaissance 2 , 1 6 Repräsentation 175 ff., 202 Ressentiment 54 retour ä la nature 222 Revolution, Französische 9, 163, 223, 247 ff. Revolution und männliche Herrschaft 160 f. Rezensionen (von Rousseaus Werken) 4 f. Rezeption 1, 4, 14 Rezeption, frühe VII Rezeptionserfolg 15 Rezeptionsforschung VI, 1 (Geschichte), 1 ff. (Publikationstypen), 14 (dialogisches Schema der Analyse) Rezeptionsgeschichte 9 Rezeptionssteuerung 6 Rhetorik 54, 68, 71, 74, 87, 139, 155, 178 f. ,Rokoko'-Literatur VII Roman, experimenteller VII Romantik VII Rousseauismus, rousseauisme 11, 247 f., 251, 257 Rousseauist, kantianischer 207 Rousseau-Kritik 47 ff., 65 ff., 69 f. Sattelzeit 122 ,Scherer-Schule' 12 Schüchternheit 13 Schweigen 3 Sehe-punkt (Chladenius) 72 Selbstbeobachtung 83 Selbsterhaltung 89 Selbstgehorsam 198 Selbstgenuß 83 Selbstreferenz 15 f., 19 ff., 91 Selbsttätigkeit 233 Selbstwahrnehmung 99 Semantik, politische 204
Sachen
sentiment d'existence 187 Setzung, erste 208 Skepsis, Tradition der 74 Souveränität 202 ff., 218 Soziabilität 97 Sozialität 94 Soziologie, konservativer Ursprung der 218 Spätaufklärung VIII Spontaneität 189 ff., 192 f. Sprache 234 ff., 243 ff. Staat 200, 202 ff., 213, 218 f., 285 Staatsbürger 167, 202, 205 Staatsreligion 167 Staatsutopien VII Ständestaat 179, 206 ,Sturm und Drang' VII, 56 Subjekt 97 Subjektivität, moderne 164 Symbol 9 Sympathie 89 f. Systemtheorie 20 ff. Teleologie 186,282 Textcorpora (Rousseaus Werk) 1 Theater 37 f. Theodizee 184 f., 190 f., 197 Theokratie 167 Theologie, negative 16 Theorie, kritische V Tier 222 f., 242, 245 Totalität 189 f., 193 Totalitäre, das 22, 167, 218 Tragödie 33 Trauerspiel 37 Tugend 27 f., 34, 36 f. Übersetzungen 4 Unterwerfungs vertrag 199 Urmensch 284 Utopie 16 f., 65 ff., 277 Utopie, ästhetische 163 ff.
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Verfallsgeschichte 51, 90 f. Vergesellschaftung 285 Vernunft 23, 32, 40 f. — in historischer Betrachtung 187 — .Natürlichkeit' der 186 — praktische 182,193, 195 — Rechtfertigung der 183 ff., 186, 189 — Selbstermächtigung der 208 — Selbstverantwortung der 210 f. — das Subjekt der 210 — Zweck (telos) der 183 f., 194 Verschmelzung zur Erziehung 211 Verschmelzungsvertrag 198 f., 202 ff., 209,211,218 Vervollkommnung 82 Volk 200, 211, 213 ff. Volkssouveränität 167, 171, 202 Vollkommenheit 104 volonte generale 171, 182, 201 ff. Vorurteile 32 Vulgärfeminismus VIII Wahrheitsbegriff, metaphysischer 18 Wahrheitsmonopol 205, 207, 215 ,Weiblicher Geschlechtscharakter' 115 ,Weiblichkeits'-Diskurs VII f. — Affektbeherrschung 137 — das Andere des Mannes 126 ff. — Begehren 145 ff. — Kunst des Gesprächs, Dialog 132 — double-bind-Strukturen 141 ff. — Ehe 138,146, 157 — Eiche-und-Efeu-Metapher 120, 134, 154, 158 — Frau als Supplement 152 — gefährliche Romanlektüre 133 — Frau/Goldenes Zeitalter 152 ff. — die gelehrte Frau 116 — Geschlechtsfunktionen 126 ff. — Häuslichkeit 133 f., 139 f., 159,161 — Handarbeiten 135 f. — Hausarbeit, Ästhetisierung der 132 — Hierarchie Mann/Frau 121 — Hysterie 128, 144
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Register
Kind, Kindheit 130 f., 142 Kompetenzverteilung 119, 156 Liebeskrieg (Schema) 129 M ä d c h e n 131 ff., 141 f. M a n n w e i b 148 Menschenkenntnis 133 f. Mütterlichkeit 122, 1 5 4 , 1 5 8 f. , N a t u r ' der Frau 125 psychophysischer M o n i s m u s 121 f. Pubertät 147 Religion und M o r a l 134 Rollentausch-Motiv 117 f. Rollenzuschreibungen 115 S a n f t m u t 136 ff. Scham, Schicklichkeit 143 ff. Selbstentäußerung 130 Sexualität, weibliche 143 ff. Sprechverbot 147 f., 150 f. Subjekt-Sein, Verzicht auf 3 5 , 1 3 6 ff. Triade: Gattin-Mutter-Hausfrau (Campe) 158 f. Tugend 1 2 7 , 1 3 9 , 146 verderbte Umwelt des Kindes 142
— Verklärungsrede, Verklärungsregister, Verklärungsdiskurs 139 f., 155, 161 f. — Virginität, Treuegebot 145 f.., 150 — weibliche Wildheit 128,143 ff. ,Weimarer Klassik' VII Weise, der 40, 42 ff. Weisheit 38 f. Werk vs. Person (Autor) 9, 14 Werther (Goethe) 12 Widerstandsrecht 199 Wilde, der 43, 222, 229, 276 ff. Wildheit 128, 143 ff. Wilhelminismus 12 Wille, der 197, 2 0 1 , 2 0 6 f. Wille, erotischer 195 Wirkungsforschung, ältere VI Zeitalter, chemisches 169 Zeitalter, organisches 169 Zeithorizont, sich verändernd 188 f. Zivilisation 224 Zivilreligion VII, 99