198 23 22MB
German Pages 504 [508] Year 2003
mimesis Untersuchungen zu den romanischen Literaturen der Neuzeit Recherches sur les litteratures romanes depuis la Renaissance
Herausgegeben von / Dirigees par Reinhold R. Grimm, Joseph Jurt, Friedrich Wolfzettel
41
Wiebke Bendrath
Ich, Region, Nation Maurice Barres im französischen Identitätsdiskurs seiner Zeit und seine Rezeption in Deutschland
Max Niemeyer Verlag Tübingen 2003
D25 Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-484-55041-4
ISSN 0178-7489
© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2003 http://www. niemeyer. de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: Andrea Siebert, Neuendettelsau Druck: Hanf Buch- und Mediendruck GmbH, Darmstadt Einband: Industriebuchbinderei Nädele, Nehren
Vorwort
Die hier publizierte Dissertation ist - wie andere größere Forschungsvorhaben sicherlich auch das Ergebnis stiller zurückgezogener Recherche- und Schreibarbeit. Sie trägt den Namen einer Autorin. Die Entstehung und Entwicklung des Textes wäre jedoch undenkbar gewesen, hätten nicht an seinem Werden mehrere Geister mitgewirkt. Den Raum fur die nötigen Impulse, den anregenden und die eigenen Thesen prüfenden Gedankenaustausch boten das Graduiertenkolleg Modernität und Tradition am Frankreich-Zentrum der Universität Freiburg (1996-1999) sowie der Freiburger Sonderforschungsbereich Identitäten und Alteritäten (1997-2000). Für die Betreuung und wertvollen Hinweise danke ich besonders meinem Professor Joseph Jurt sowie den Professoren Frank-Rutger Hausmann, Gerd Krumeich und Erich Pelzer. Die Einbindung in das am Frankreich-Zentrum angesiedelte von der DFG geförderte Graduiertenkolleg sicherte die für die wissenschaftliche Arbeit nötige materielle und geistige Freiheit. Dank der Strukturen und Möglichkeiten des FrankreichZentrums wurden Tagungen und besondere Vorlesungsreihen zur selbstverständlichen Begleitung der eigenen Recherchen; der Forschungsaufenthalt in Paris konnte angenehm unbürokratisch organisiert werden. Es ist für mich zudem eine große Auszeichnung und Freude, daß meine Dissertation schließlich in dem von der Rhodia Acetow AG gestifteten Preis zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses des Frankreich-Zentrums im Jahr 2000 ihre Anerkennung fand und in die mimesisReihe aufgenommen wurde. Der erfolgreiche Abschluß eines Forschungsprojektes ist auch immer das Ergebnis eines günstigen Arbeitsklimas: Vor allem Joseph Jurt schuf eine offene, den Gedankenaustausch fördernde und zu eigenen Wegen ermutigende Atmosphäre. Die Stadt und Region Freiburg stellte den geeigneten Ort dar, um - in der östlichen Perspektive auf die «ligne bleue des Vosges» - eine Arbeit über den aus Lothringen stammenden Autor Maurice Barrls zu schreiben. Mein Freiburger Freundeskreis sorgte für die heilsamen Unterbrechungen und Aufmunterungen, durch die ich mit immer wieder neuen Energien an die Arbeit zurückkehren konnte. Besonders erwähnen möchte ich Dagmar Braun und Daniela Nieden, die mir vor allem in der steinigen Anfangsphase zur Seite standen. Bei der Korrektur des Typoskripts leisteten mir in erster Linie Christian Boos sowie Nadja Nesselhauf unschätzbare Hilfe. Für die drucktechnische Unterstützung danke ich Michael Wild und Andrea Siebert. Gewidmet sei diese Arbeit meinen Freiburger Freunden.
Freiburg, im November 2002
Wiebke Bendrath
Inhaltsverzeichnis
1.
Identitätskonstruktion als neue Perspektive auf Maurice Barrös
2.
Schreiben für Ich, Region und Nation: Identitätskonstruktion auf drei Ebenen
19
Das Ich und die nationale Gemeinschaft
28
2.1
1
2.1.1 Die Etappen des Culte du Moi: Vom Ich zur Gemeinschaft 2.1.2 Bants als boulangistischer Abgeordneter 2.1.3 Auf der Suche nach neuen Bezugspunkten für Ich und Nation
30 40 54
2.2
65
Die (entwurzelte) Nation
2.2.1 Les Diracinis 2.2.2 Petite patrie - grande patrie 2.2.3 Reaktionen auf Les Deracines 2.3
2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.3.4 2.3.5
Die Affaire Dreyfus und Barres' Scenes et doctrines du nationalisme
66 81 88
94
Die Veröffentlichung der Scenes et doctrines Das Nationverständnis der «intellectuels» und die Antwort von Barres La Terre et les Morts: Ein neues Nationmodell für Frankreich Qu'est-ce qu'une nation? La Terre et les Morts La Terre et les Morts: Ein Amalgam verschiedener identitätskonstituierender Diskurse
121
2.4
Die Region als nationales Identifikationsangebot
140
2.4.1 2.4.2 2.4.3 2.4.4
Entwürfe einer regionalistisch-nationalistischen Erziehung Frankreichs Ostgrenze und der Midi «Une nouvelle position du probleme alsacien-lorrain» Die Rezeption der Regionalromane und die Veränderungen in der literarischen und politischen Öffentlichkeit
141 166 171
Ästhetik und Nationalismus: Landschaften und nationale Orte
195
2.5
2.5.1 Von einer zu einer nationalistischen Ästhetik
94 99 111 117
185
197
VII
2.5.2 Griechenland, Sparta und französischer Klassizismus 2.5.3 Die Romantik-Klassizismus-Diskussion um 1900
203 216
2.6
224
Universalistische Integrationskonzepte
2.6.1 Region, Nation und Katholizismus 2.6.2 Die Union sacree: Die geeinte nationale Vielfalt vor dem Feind Deutschland
225
2.7
266
Die «Bastionen des Ostens» im und nach dem 1. Weltkrieg
236
2.7.1 Barres und die französischen Kriegsziele
269
2.8
291
Barres - ein «professeur d'energie» für Frankreich?
2.8.1 Barres' Selbstbilder als Autor und erste Reaktionen auf sein Werk
292
3.
Die Barres-Rezeption in Deutschland von 1890 bis 1944
305
3.1
Der Beginn der deutschen Barres-Rezeption
307
3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.1.4
Erste Reaktionen im Wilhelminischen Reich Barres und die Dreyfus-Affäre in Deutschland Das Rezeptionsfeld der Wiener Moderne Übersetzungen ins Deutsche
308 311 313 322
3.2
Barres und der 1. Weltkrieg
325
3.2.1 Die Barres-Rezeption im Vorfeld des 1. Weltkrieges 3.2.2 Die Barres-Rezeption während des 1. Weltkrieges
325 333
3.2.3 Barres und die Kriegsschuldfrage in Deutschland 3.2.4 Barrls, die deutsche Romanistik und der 1. Weltkrieg
338 346
3.3
350
B a r r e s ' « B a s t i o n e n des Ostens»
3.3.1 Die deutsche Retrospektive auf Barres' Einflußnahme auf Elsaß-Lothringen 3.3.2 Barres, die Deutschen und der Rhein
350 358
3.4
367
Barres und die deutsche Romanistik in der Weimarer Republik
3.4.1 Hermann Platz, der französische Nationalismus und die Idee des Abendlandes 3.4.2 Curtius, Barres und «das beste Frankreich» 3.4.3 Reaktionen auf Curtius'Barres-Bewertung
VIII
368 376 393
3.4.4 Victor Klemperer und Barres 3.5
Barres zwischen Romantik und Klassizismus deutsche Interpretationen des französischen Nationalismus
3.5.1 Nation und Ästhetik 3.5.2 Schwierigkeiten mit der Kategorie des «Dauerfranzosen» 3.6
Der französische Nationalismus und die Auflösung der Weimarer Republik
396
403 403 409
418
3.6.1 Das Interesse für Frankreichs antiparlamentarische Bewegungen 3.6.2 (Völkische) Deutungen des französischen Regionalismus 3.6.3 Nationalsozialistische Erwiderungen auf Frankreichs Universalitätsanspruch
420 433
3.7
Deutsche Barres-Bilder 1890-1944
443
4.
Barres in Frankreich und in Deutschland
449
5.
Bibliographie
453
437
5.1 Barres in Frankreich: Primärtexte 5.1.1 Maurice Barres 5.1.2 Rezensionen und zeitgenössische Texte
453 453 455
5.2 Primärtexte zur Barres-Rezeption in Deutschland 5.2.1 Deutsche Übersetzungen von Barres-Texten 5.2.2 Primärtexte
461 461 462
5.3 Sekundärliteratur 5.3.1 Nachschlagewerke 5.3.2 Forschungsliteratur
470 470 470
6.
489
Namenregister
IX
1. Identitätskonstruktion als neue Perspektive auf Maurice Barres
Die politischen Ereignisse seit dem Ende der 80er Jahre, wie vor allem der Zerfall des Sowjetimperiums, und die Jahrtausendwende haben zu einer erneuten Auseinandersetzung mit der Nation und ihrer Zukunft sowie mit Ich- und Gruppenidentitäten geführt. Das Wiederaufleben von Nationalismen einerseits und die sich im Prozeß der Globalisierung ausbildende Weltgesellschaft andererseits stellen das Spannungsfeld dar, in dem über die zerstörerischen Konsequenzen und die gleichzeitige Notwendigkeit von regionalen und nationalen Zugehörigkeiten für das Individuum nachgedacht wird. Die geschichts-, politik- und sozialwissenschaftliche Forschung sieht die Nation zunächst als eine neutrale Bezugsgröße. Zahlreiche Arbeiten untersuchen, von der Grundannahme eines positiven Patriotismus ausgehend, die Entstehung und die Entstehungsbedingungen eines negativ bewerteten Nationalismus. 1 Der Soziologe Dirk Richter entwickelt in seiner 1996 erschienenen Dissertation eine «Theorie der Nation». 2 Unter Anwendung des von Niklas Luhmann adaptierten Formbegriffs definiert Richter die Nation als «Zwei-Seiten-Form», die durch eine Grenzsetzung eine Innen- und eine Außenseite konstruiert, Zugehörigkeiten und Ausgrenzungen festlegt. Nach Richters konstruktivistischem Ansatz handelt es sich bei der Nation um einen «Beobachtungmodus der Weltgesellschaft». Die Nation mache die Weltgesellschaft «bestimmbar und kommunikabel». Richters Theorie zufolge stehen Innen- und Außenseite in einem asymmetrischen Verhältnis zueinander: Die Form «Nation» werte die Innenseite auf, während sie die Außenseite abwerte. «Weltgesellschaftliche Konflikte» verursachen für Richter eine Radikalisierung der Asymmetrie bzw. den Übergang vom Patriotismus zum Nationalismus. Stereotypen würden durch Feindbilder ersetzt; eine offene Perspektive auf die Weltgesellschaft wandle sich in einen starren Beobachtungsmodus, der sich anderen Sichtweisen gänzlich verschließe. Richter gelingt es, mit seiner Theorie die Ambivalenz der Nation aufzuzeigen: Als «eine semantische Selbstbeschreibung eines (Kollektivs)» hat sie einerseits eine identitätsstiftende und stabilisierende Funktion, andererseits bewirkt sie jedoch in Krisenzeiten eine Radikalisierung des latenten Konflikts zwischen den Nationen bzw. zwischen den verschiedenen «Sichtweisen» auf die Weltgesellschaft. Bei der Untersuchung einer konkreten Ausprägung der Nation in einer bestimmten historischen Zeit interessieren die sie konstruierenden Semantiken sowie die die Nation überlagernden und mit ihr konkurrierenden Beobachtungsparadigmen. 1
2
Dieter Langewiesche: «Nation, Nationalismus, Nationalstaat. Forschungsstand und Forschungsperspektiven». In: Neue politische Literatur 46 (1995), p. 190-235. Dirk Richter: Nation als Form, Opladen, Westdt. Verl., 1996. Für die folgenden Ausführungen cf. p. 252-260.
1
Im Unterschied zu jüngeren historischen Arbeiten zum Thema Nation und Nationalismus, die ihren Untersuchungen lediglich einen nicht weiter spezifizierten konstruktivistischen Ansatz voranstellten, hat Richter erstmals sowohl eine detaillierte theoretische Grundlegung als auch eine umfassende Anwendung der entwickelten «Theorie der Nation» geleistet. Richters soziologischer Beitrag zur Nation- und Nationalismusforschung ist insofern eine wichtige Fortführung und Ergänzung der historischen Arbeiten von Benedict Anderson und Pierre Nora. Anderson prägte mit seiner Studie zu den nicht-europäischen Erscheinungsformen des Nationalismus die inzwischen vielzitierte Formel der «Imagined communities»3, die die Nation und ihre Bilder als «Produkt eines Prozesses der sozialen Konstruktion, an dem sich die verschiedenen Gruppen der Gesellschaft beteiligen»4 deutet. Pierre Nora legte dem sich aus zahlreichen Einzeldarstellungen zusammensetzenden Monumentalwerk Les lieux de memoire ein Konzept zugrunde, das die Nation als «representation» definiert.5 Die hier beispielhaft genannten Arbeiten sind ein Beleg für die zunehmende Bedeutung konstruktivistischer Ansätze bei der Untersuchung nationaler Identitäten in Geschichte und Gegenwart. Beeinflussen aktuelle Ereignisse und Themen die Forschungstendenzen, so eröffnen sich aufgrund der theoretischen und methodischen Entwicklung in der Nation- und Nationalismusforschung wiederum neue Perspektiven auf historische oder zeitgeschichtliche Gegenstände bzw. Phänomene. Wenn man die Nation als «eine Semantik, die kommuniziert» wird,6 versteht, stellt sich die Frage, welche Personen oder Gruppen in den verschiedenen Gesellschaften an diesem Kommunikations- und Konstruktionsprozeß beteiligt waren oder sind. Bei Studien zu Herausbildung und Wandel nationaler Identitäten im 19. und 20. Jahrhundert rücken sowohl Vertreter der entstehenden wissenschaftlichen Disziplinen als auch Schriftsteller, Journalisten und Politiker in den Mittelpunkt des Interesses.
3
4
5
6
2
Benedict Anderson: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Frankfurt/M., New York, Campus, 1996; ursprünglich: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London, Verso, 1983. Cf. den Forschungstlberblick bei Etienne Franpois [et al.]: «Die Nation. Vorstellungen, Inszenierungen, Emotionen». In: Id. (ed.), Nation und Emotion. Deutschland und Frankreich im Vergleich. 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 1995, p. 13-35, hier: p. 14. Pierre Nora: «Präsentation». In: Id. (ed.), Les lieux de memoire, t. 2,1: La Nation, Paris, Gallimard, 1986, p. X: «C'est que la Nation elle-meme est tout entiöre une reprösentation. Ni un rdgime, ni une politique, ni une doctrine, ni une culture, mais le cadre de toutes leurs expressions, une forme pure, la formule immuable et changeante de notre communaute sociale, comme d'ailleurs de toutes les communaut£s sociales modernes.» D. Richter, Nation als Form, p. 253. Cf. auch Reinhart Koselleck: «Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe». In: Id., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt/M., Suhrkamp, 1979, p. 211-259. Jürgen Link, Wulf Wülfing (ed.): Nationale Mythen und Symbole in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Strukturen und Funktionen von Konzepten nationaler Identität, Stuttgart, KlettCotta, 1991.
Maurice Barrls (1862-1923) vereinigte die drei Rollen des Schriftstellers, Journalisten und Politikers in einer Person. Er wurde im Frankreich der Jahrhundertwende zu einem herausragenden Repräsentanten der «nation litteraire»7 sowie zum Begründer eines neuen Nationalismus. Vor dem Hintergrund der benannten Tendenzen der aktuellen Nation- und Nationalismusforschung sowie der schriftstellerischen und politischen Entwicklung des Autors gewinnt Barrds von neuem an Aktualität: Mit seinem Schreiben und seinem politischen Engagement reagierte der lothringische Schriftsteller auf die im modernen Frankreich nach 1870/71 herrschende Krise. Das Zusammenbrechen sinnstiftender Deutungssysteme, die nationale Niederlage, die aus Staats- und Regierungsform resultierenden gesellschaftspolitischen Konflikte sowie eine pessimistische Stimmung bedeuteten eine Infragestellung der individuellen und nationalen Identität. Die Ich-Suche führte den Autor in seiner ersten Romantrilogie Le Culte du Moi zunächst zu einer Abkehr von der Gesellschaft. Die sich als vergeblich erweisende Introspektion veranlaßte ihn schließlich, im politischen Engagement eine Sinnstiftung zu suchen. Barres schrieb nun, parallel zur weiterlaufenden Ich-Suche und Identitätskonstruktion, für die infragegestellte Nation. Die Bestimmung der Ich-Identität und die Neudefinition der nationalen Identität verbanden sich mit dem Thema Lothringen bzw. Elsaß-Lothringen. Barres schaltete die Region als vermittelnde Instanz zwischen Ich und Nation. Er entwickelte in seinem Werk Analogien zwischen einer Ich-Identität, einer regionalen und nationalen Gruppenidentität.8 Ich, Region und Nation wurden in den Texten des lothringischen Autors im Sinn von Niklas Luhmann und Dirk Richter zu «Zwei-SeitenFormen» jeweils unterschiedlicher Bedeutung. Im Laufe seiner biographischen und schriftstellerischen Entwicklung ordnete Barrls Ich und Region allmählich der Form «Nation» unter. Das Besondere an seinem Werk blieb jedoch, daß es das Problem der Ich-Identität mit dem der regionalen und nationalen Identität verknüpfte. Die Analyse der autobiographischen, literarischen und journalistischen Texte ermöglicht, den Schritt des Autors vom Individualismus zum Nationalismus nachzuvollziehen; sie liefert zudem Ergebnisse, die gerade für die aktuellen theoretischen Überlegungen zu Analogien zwischen Ich- und Gruppenidentität von Interesse sind. Barr£s konstruierte für sich und seine Zeitgenossen aus traditionellen und modernen Inhalten neue Identitätsangebote und Sinnstiftungen. Sein literarisches und politisches Werk leistete einerseits einen Beitrag zur «gesellschaftlichen Konstruk-
Cf. Joseph Jurt: «L'identitd nationale: une fiction, une construction ou une rdalitd sociale?» In: Regards sociologiques 16 (1998), p. 37-50, hier: p. 44. Die Charakterisierung Frankreichs als «nation littöraire» stammt von Priscilla Parkhurst Ferguson: La France: nation litteraire, Bruxelles, Labor, 1991. Die Übertragung der personalen Identitätsvorstellung auf das Nationkonzept ist auch bei zahlreichen anderen französischen Autoren, wie z.B. Jules Michelet, zu finden. Der logische Transfer verdichtet sich in dem nationalen Selbstbild «La France est une personne». Cf. dazu Edmond Marc Lipiansky: L 'identitd franqaise Representations, mythes, ideologies, La Garenne-Colombes, Ed. de l'Espace Europden, 1991. Cf. auch J. Jurt, «L'identitd nationale», p. 38.
3
tion der Wirklichkeit» 9 . Gleichzeitig war es aber auch selbst Konstrukt, es war Entwurf und Ergebnis eines schriftstellerischen Selbstverständnisses. Die sich auf die Ebenen von Ich, Region und Nation erstreckende Identitätskonstruktion ging in den literarischen und metaliterarischen Texten mit dem Konzept einer Ästhetik einher. Nach der an keinen festen Ort geknüpften Ich-Ästhetik im Frühwerk leitete B a n t s seine nationalistische Ästhetik aus seiner Heimatregion ab. Die Lorraine rückte in ihrer konkreten und metaphorischen Bedeutung in den Mittelpunkt des Werkes. Aufgrund ihrer historischen Eigenschaft als Zwischen- bzw. Grenzregion eignete sie sich als Metapher für eine von allen Seiten bedrohten und unterdrückten Identität. In ihrer Interpretation als Raum, in dem mit Frankreich und Deutschland zwei Kulturen und Machtansprüche aufeinanderstießen, stand sie jedoch nicht nur ftir eine Verunsicherung der regionalen und nationalen Identität; vielmehr gründete B a n t s sein Konzept französischer Identität gerade auf den in Frankreichs Osten unmittelbar erfahrbar werdenden Gegensatz zum deutschen Nachbarn. Seine über die Grenzregion erfolgende Neubestimmung der französischen Identität verfestigte das Konstrukt der Nation in der Terminologie von Dirk Richter zu einer «rigiden Zwei-Seiten-Form», die die «Innenseite» aufwertete, die «Außenseite» dagegen radikal abwertete. Die Aus- bzw. Abgrenzung richtete sich in der Affaire Dreyfus zunächst gegen den inneren Feind, dann gegen die feindliche Nachbarnation. Sollte die semantische Grenzziehung zwischen dem «uns» und den «anderen» zur inneren Einheit und nationalen Selbstvergewisserung fuhren, so verhinderte sie nach innen die Akzeptanz des in einer bestimmten Situation als fremd Empfundenen und nach außen die friedliche Koexistenz mit der Siegernation von 1870/71. Auf der deutschen Seite wurde der sich an der Grenzregion orientierende Nationalismus von B a n t s zunehmend als Bedrohung wahrgenommen. Das nationale Identitätskonzept des französischen Autors kollidierte mit dem deutschen Nationverständnis und ließ ein anfangliches literarisches Interesse für den avantgardistischen Autor des Culte du Moi in den Hintergrund treten. Die erneute deutsch-französische Konfrontation in den Jahren vor dem 1. Weltkrieg richtete die Aufmerksamkeit deutscher Frankreich-Beobachter auf den Barres'schen Nationalismus und schränkte die Auseinandersetzung auf eine politische Rezeption ein. Die z.T. stereotype Wahrnehmung eines herausragenden Vertreters der französischen wandelte sich aufgrund des 1. Weltkrieges und der deutschen Niederlage von 1918/19 zu einem Feindbild, das sowohl abschreckte als auch faszinierte. Die Konzepte des französischen Autors stießen in der 1918 einsetzenden Identitätsdiskussion auf heftige Reaktionen und wurden zu einem Negativmodell, zu dem man Gegenkonzepte deutscher Identität entwarf. B a n t s bildete insofern die verbindende Achse zwischen zwei nationalen Identitätsdiskursen: Er war selbst ein wichtiger Teilnehmer und Gestalter der durch die Niederlage Frankreichs von 1870/71 ausgelösten
9
Peter L. Berger, Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Ubers, von Monika Plessner, Frankfurt/M., Fischer,
1996 [1966],
4
Debatte sowie , durch die Römer, die seit Theodosius I. das Christentum als Staatsreligion verteidigten, in den Mittelpunkt. 8 Barres leitete aus dem Bild der in ihrer letzten Repräsentantin sterbenden Hellas die Situation und Konsequenz für sich selbst als modernen Schriftsteller ab. Im Anklang an eine Äußerung von Nerval in seiner Erzählung Sylvie folgerte Barres, daß der moderne Schriftsteller gezwungen war, sich in seinen Elfenbeinturm zurückzuziehen, um den Hellas-Kult in dem Kult um die eigene «sensibilite» zu bewahren. 9 Das Ergebnis der Absonderung und der Introspektion war jedoch ambivalent und bedurfte einer Fortfuhrung: Der Hochmut angesichts der Überlegenheit über die Menge verwandelte sich letztlich in ein Gefühl der Einsamkeit und Erstarrung. Das Bild des Todes der Athena öffnete sich daher in einem Gebet des Ich-Erzählers fragend in die Zukunft:
7 8
9
Bants I, 29-32. Z. Sternhell, Barres, p. 57. Cf. auch Kap. 2.3.3-2.3.5. 391 erklärte Theodosius I. das Christentum zur Staatsreligion und verbot alle heidnischen Kulte. Im selben Jahr wurde das Serapeum zerstört. Bants I, 83-90; 104-108; 126-132. E. R. Curtius, Barres, p. 22-24. V. Rambaud, «Notes», t. l , p . 1226-1228, Anm. 38,44, 46; 50: Rambaud zitiert aus dem 1. Kapitel von Nervals Sylvie: «II ne nous restait pour asile que cette tour d'ivoire des pontes, oü nous montions toujours plus haut pour nous isoler de la foule.» Cf. auch Bants' Entwürfe in den Taches d'encre (I, 475-490). Für den jungen Bants zeigte sich im Sterben des Hellenismus zum letzten Mal das Ideal der Vollendung, das mit dem Tod jedoch auch unwiederbringlich verloren war. Cf. dazu Ida-Marie Frandon: L 'orient de Maurice Barres. Etude de genese, Genöve, Droz, 1952, hier: p. 49. 31
Ο maitre, dissipe la torpeur douloureuse, pour que je me livre avec confiance ä la seule recherche de mon absolu. Cette 16gende alexandrine, qui m'engendra autrefois ä la vie personnelle, m'enseigne que mon äme, ötant remontöe dans sa tour d'ivoire qu'assifcgent les Barbares, sous l'assaut de tant d'influences vulgaires se transformera, pour se tourner vers quel avenir? Tout ce rdcit n'est que l'instant oü le probteme de la vie se presente ä moi avec une grande clartö. Puisqu'on a dit qu'il ne faut pas aimer en paroles mais en ceuvres, apres l'£lan de l'äme, apr6s la tendresse du cceur, le vöritable amour serait d'agir. (I, 132) An dem Gebet, das der Ich-Erzähler an einen «maitre» bzw. ein absolutes, göttliches Prinzip adressierte, wurde deutlich, daß das Ich nur ein Platzhalter für das Absolute und der «Culte du Moi» ein Schlüssel zum Absoluten darstellte. Das Ich als die einzig verfügbare Instanz der Seinsgewißheit war nicht im Stillstand erfahrbar, sondern bedurfte immer wieder neuer Reize. Der Begriff des «culte» bzw. der «culture» resümierte, wie Ernst Robert Curtius bemerkte, die hier deutlich werdende Doppeldeutigkeit. Das Ich war einmal im Sinn von «cultus» Gegenstand der göttlichen Verehrung und Objekt seiner Liebe, gleichzeitig galt ihm aber auch im Sinn der «cultura» die Pflege, wie sie einer Nutzpflanze zukam. 1 0 Das Individuum konnte die für sein Seelenleben notwendige (Nahrung) im Studium ihm entsprechender Werke sowie auf Reisen gewinnen. Der Roman Un Homme libre zeichnet den Schritt des aus seiner Abgrenzung heraustretenden Subjekts und seine Entwicklung zur Handlungsbereitschaft nach: Nachdem der Ich-Erzähler erkennt, daß er durch das Studium der Schriften von Benjamin Constant und Sainte-Beuve nur die oberen Schichten seines Ich erreicht (I, 195), entdeckt er in der lothringischen Heimatregion die Vergangenheits- und Tiefendimension seines Bewußtseins. Der Ich-Erzähler durchlebt im Anblick der lothringischen Landschaft die Geschichte der Region seit der Neuzeit bis zu ihrem definitiven Aufgehen im französischen Staat im Jahr 1766. Die Lorraine ist von Anfang an aufgrund ihrer geographischen Lage dazu gezwungen, sich vor den sie umgebenden Mächten zu schützen. Unter dem Herzog Rene II. gelangt die Lorraine an der Wende zum 16. Jahrhundert zu politischer Autonomie und einer gewissen kulturellen Blüte. Die Phase, in der die Region ein eigenes politisches und kulturelles Bewußtsein entwickeln kann, hält jedoch nicht lange an. Die Aristokratie und die Künstler Lothringens orientieren sich in ihrem Interesse und ihrem Schaffen an den politischen und kulturellen Zentren Frankreich und Italien und verhindern damit die Ausbildung einer regionalen Kunst. In den die französische Klassik kopierenden Bauten des Herzogs Stanislas stirbt das lothringische Bewußtsein. Die politische und kulturelle Entwicklung des Herzogtums sowie Landschaft und Bevölkerung der Region bieten damit für den sich ergründenden Ich-Erzähler Philippe und seinen Freund Simon kaum noch Identifikationsmöglichkeiten. Philippe bleibt beim Rekapitulieren der lothringischen Geschichte allerdings nicht an dem pessimistischen Punkt der «Lorraine morte» stehen, sondern gewinnt für die Steigerung seines Ich
10
32
E. R. Curtius, Barres, p. 41.
eine neue Methode. 11 Trotz des politischen und kulturellen Scheiterns Lothringens im Text auch als «nation» bezeichnet - bleibt ein spezifisch regionaler Charakter bestehen, der dem Ich-Erzähler ein Handlungsprinzip für die Zukunft weist: II y a dans ma race, non pas l'esprit d'attaque, la tdmdrite trap souvent mel6e de vanit£, mais la fermetö r6fl6chie, persdvdrante et opportune. Faire en temps voulu ce qui est convenable. On vit en Lorraine les plus sages soldats du monde, ceux que le penseur accueille. Par les armes, le Lorrain avait fondi sa race; par les armes, il essaye hdroi'quement de la protöger. Pressd par les etrangers, il n'eut pas le loisir de chercher d'autres proc6d0s pour etre un homme libre. [...] Que je ddpense la meme önergie, la meme persdvörance ä me protdger contre les dtrangers, contre les Barbares, alors je serai un homme libre. (I, 2 0 9 )
Die Lektion, die der Ich-Erzähler in Geschichte und Eigenart der Lorraine erkennt, stellt eine Analogie her zwischen Ich und Außenwelt sowie Lothringen und seiner politisch-kulturellen Zwischen- bzw. Grenzlage. Die geistige Unabhängigkeit von Ich und Region, die Existenz als «homme libre», resultiert nicht, wie es die an das Attribut «frei» geknüpften Assoziationen vermuten lassen, aus einer Offenheit gegenüber fremden Einflüssen, sondern aus einer konsequenten Abwehrhaltung. Die militärische Verteidigungshaltung der sich gegen ihre Feinde erwehrenden Lorraine wird zur psychologischen Strategie des lothringischen Ich-Erzählers. Das Ich erhält die Chance, die politische und kulturelle Niederlage der Herkunftsregion in seiner Entwicklung zu korrigieren, da sich in ihm das Bewußtsein der lothringischen «race» verdichtet. In einem fiktiven Dialog wendet sich die personifizierte Lorraine an den Ich-Erzähler und fordert ihn auf, sein Leben an seiner Vorstellung des Idealen zu orientieren: Pose devant toi ton pressentiment du meilleur, et que ce reve te soit un univers, un refuge. Ces beautds qui sont encore imaginatives, tu peux les habiter. Tu seras ton Moi embelli: l'Esprit Triomphant, apr£s avoir έίέ si longtemps l'Esprit Militant. (I, 2 1 3 )
Diese Wendung in der Interpretation der lothringischen Geschichte ermöglicht dem Ich-Erzähler, sich für einen Moment mit seiner Heimatregion zu identifizieren, führt ihn aber dann doch von ihr weg. Genauso wie Claude Gellee und andere lothringische Künstler Lothringen verließen, entscheidet sich Philippe, nach Italien zu reisen. 12 Der beim Überdenken der lothringischen Geschichte geäußerte Vorwurf, daß die nach Italien ziehenden Künstler einer eigenen lothringischen Kunst die Entwicklungschancen genommen und sie sich selbst unter den Einflüssen der südlichen Region entfremdet hätten, müßte den Ich-Erzähler nun eigentlich auch treffen. Der Widerspruch wird vom Autor übergangen. Der Lorraine kommt in dem frühen Roman zunächst nur die Bedeutung einer notwendigen Etappe auf dem Weg zur Steigerung des Ich zu. Ihre Geschichte ist wie die Geschichte der in der ersten Trilogie noch nicht thematisierten Nation die Geschichte einer Decadence. Die positiv be11
12
B a n t s I, 195, 1 9 7 - 2 1 3 . R. Taveneaux, « B a n t s et la Lorraine», p. 1 3 8 - 1 4 4 . Thtrdse Charpentier, « B a n t s et Part lorrain de son temps», p. 6 3 - 8 3 . Cf. Τ. Charpentier, « B a n t s et l'art lorrain de son temps», p. 6 3 - 8 3 .
33
wertete kämpferische Mentalität bestärkt das Ich, seine Suche nach dem Absoluten fortzusetzen. Die «Lorraine morte» vermag dem Ich-Erzähler das Ideal nicht zu bieten. Sie birgt eine pessimistische Tiefendimension, die das Ich jedoch in neue Schöpfungskraft zu verwandeln weiß. Mit dem Aufenthalt in Lothringen verändert sich die Methode der Ich-Erweiterung. Die Lektüre der der Introspektion und die von ihnen angeleitete Selbsterforschung werden durch die Methode der Stadt- und Landschaftskontemplation abgelöst: Ainsi que nous essayämes en Lorraine, je veux me modeler sur des groupes humains, qui me feront toucher en un fort relief tous les caracteres dont mon etre a le pressentiment. Les individus, si parfaits qu'on les imagine, ne sont que des fragments du systöme plus complet qu'est la race, fragment elle-meme de Dieu. Echappant ddsormais ä la sterile analyse de mon organisation, je travaillerai ä r6aliser la tendance de mon etre. Tendance obscure! Mais pour la satisfaire je me modölerai sur ceux que mon instinct elit comme analogues et superieurs ä mon etre. Et c'est Venise que je choisis, d'autant qu'il y fait en moyenne 13°, 38 en mars et 18°, 23 en mai. Puis la vie materielle y est extremement facile, ce qui convient ä un contemplateur. (I, 222sq.) Das Ich begreift sich seit seiner Etappe in Lothringen als Teil einer «race» und durch sie vermittelt als ein Teil von Gott bzw. des Absoluten. Diese Grunderkenntnis bindet den Ich-Erzähler jedoch nicht an die historische Gemeinschaft der lothringischen Bevölkerung, stattdessen wählt sich das Ich in einer