Russische Literatur in Deutschland: Texte zur Rezeption von den Achtziger Jahren bis zur Jahrhundertwende [Reprint 2017 ed.] 9783110963366, 9783484190313


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German Pages 200 Year 1974

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Table of contents :
Inhalt
Abkürzungen
Einleitung
Quellenverzeichnis
DOSTOJEWSKI-PHASE
Feodor Michailowitsch Dostojewski
Dostojewskis Roman »Raskolnikow«
Vom Büchertisch [Dostojewskis »Raskolnikow«]
F. M. Dostojewski
Dostojewski
TOLSTOI-PHASE
Leo Tolstoi und der slawische Roman
Freie Bühne: Die Macht der Finsternis
Tolstoi und sein Berliner Publikum
Die Kreutzersonate von Tolstoi
Tolstois Kreutzersonate und die moderne Mönchsmoral
Tolstois Kreutzersonate
Der Tolstoische Zirkel
SPÄTPHASE
Der russische Maupassant (Anton Tschechow)
Tschechow als Dramatiker
Maxim Gorki
Ein Dichter des Proletariats
Gorki in Deutschland
Maxim Gorki
Biographische Angaben zu den russischen Schriftstellern
Weiterführende Bibliographie
Personenregister
Recommend Papers

Russische Literatur in Deutschland: Texte zur Rezeption von den Achtziger Jahren bis zur Jahrhundertwende [Reprint 2017 ed.]
 9783110963366, 9783484190313

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Deutsche Texte

Herausgegeben von G O T T H A R T WUNBERG

Russische Literatur in Deutschland Texte zur Rezeption von den Achtziger Jahren bis zur Jahrhundertwende

Mit einer Einführung und einer weiterführenden Bibliographie herausgegeben von SIGFRID H O E F E R T

Max Niemeyer Verlag Tübingen

ISBN 3-484-19031-0 ©

M a x Niemeyer Verlag Tübingen 1974 A l l e Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des V e r lages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege zu vervielfältigen. Printed in G e r m a n y .

Inhalt

ABKÜRZUNGEN

VI

EINLEITUNG

VII

QUELLENVERZEICHNIS

X X V I

TEXTE

Dosto

I

jewski-Phase

WILHELM HENCKEL, Feodor Michailowitsch Dostojewski . . . G . ROLLARD, Dostojewskis Roman »Raskolnikow« . . . . MICHAEL GEORG CONRAD, V o m Büchertisch

2 11

[Dostojewskis

»Raskolnikow«]

IJ

HERMANN CONRADI, F. M . D o s t o j e w s k i

17

GEORG

29

BRANDES,

Dostojewski

Tolstoi-Phase PAUL ERNST, Leo Tolstoi und der slawische Roman . . . . PAUL SCHLENTHER, Freie Bühne: Die Macht der Finsternis . . HANS OLDEN, Tolstoi und sein Berliner Publikum . . . . OLA HANSSON, Die Kreutzersonate von Tolstoi MARIE HERZFELD, Tolstois Kreutzersonate und die moderne Mönchsmoral LEO BERG, Tolstois Kreutzersonate W. BERDROW, Der Tolstoische Zirkel

58 83 88 90 95 101 IOJ

Spätphase ALEXIS

FREIHERR

VON

ENGELHARDT,

Der

russische

Maupassant

(Anton Tschechow) EDUARD HÖBER, Tschechow als Dramatiker NINA HOFFMANN, Maxim Gorki GEORG POLONSKY, Ein Dichter des Proletariats GEORG ADAM, Gorki in Deutschland LEO BERG, Maxim Gorki B I O G R A P H I S C H E A N G A B E N ZU DEN RUSSISCHEN S C H R I F T S T E L L E R N WEITERFÜHRENDE

116 119 123 130 136 141 .

149

BIBLIOGRAPHIE

156

PERSONENREGISTER

171

V

Abkürzungen

AfZ.

= Aus fremden Zungen

DR

= Deutsche Rundschau

FB

= Freie Bühne f ü r modernes Leben, Freie Bühne für den Ent-

GB

= Die Grenzboten

Geg.

= Die Gegenwart

wicklungskampf der Zeit

Ges.

= Die Gesellschaft

GQ

= The German Quarterly

GR

= The Germanic Review

KuL

= Kunst und Literatur

Kw.

= Der Kunstwart

LE

= Das litterarische Echo

Mag.

= Das Magazin f ü r die Literatur des In- und Auslandes, Das

Nat.

= Die N a t i o n

NDR

= Neue Deutsche Rundschau

NZ

= Die Neue Zeit

PJb.

= Preußische Jahrbücher

Magazin f ü r Litteratur

TR = Der Türmer WM = Westermanns illustrierte deutsche Monatshefte W Z U B = Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt-Universität zu Berlin W Z U J = Wissenschaftliche Zeitschrift der Friedrich-Schiller-Universität Jena ZfSl.

= Zeitschrift f ü r Slawistik

Zk.

= Die Z u k u n f t

VI

Einleitung

I Die russische Literatur hat sich im neunzehnten Jahrhundert in enger Verknüpfung mit den sozialen Gegebenheiten entwickelt. Sie spiegelt in einem für deutsche Verhältnisse ungewöhnlichen Maß die politisch-ökonomischen Umschichtungen wider, die sich in Rußland vollzogen. Eine erstaunliche Anzahl hervorragender literarischer Talente war dort zutage getreten, und viele von ihnen gaben dem Ringen der vorwärtsstrebenden K r ä f t e , der Opposition gegen die inhumane Gesellschaftsordnung und Willkür des Zarenreiches, künstlerischen Ausdruck. Das hervorstechendste Merkmal dieser Literatur war das Interesse an sozialen und ethischen Problemen, die in der Wirklichkeit ihre Wurzeln hatten. In Deutschland w a r man sich dieser Entwicklung kaum bewußt, selbst noch in den siebziger Jahren waren die eminenten Vertreter der russischen Literatur nur wenigen bekannt. Ubersetzungen aus den Werken dieser Dichter waren zwar seit einiger Zeit erschienen, und Wilhelm Wolfsohn und Friedrich Bodenstedt hatten sich um die Vermittlung russischen Literaturguts besonders bemüht, aber erst in den sechziger Jahren drang es in den deutschsprachigen R a u m wirklich ein, und zwar mit dem Werk Iwan Sergejewitsch Turgenjews ( 1 8 1 8 - 1 8 8 3 ) . Lediglich Turgenjew w a r der deutschen literarisch interessierten Öffentlichkeit, wenn es um russische Literatur ging, ein Begriff. Er w a r in Westeuropa »heimisch« geworden, er betrachtete Deutschland als sein »zweites Vaterland«, und seine Romane und Novellen hatten dort einen vorwiegend aus dem Bürgertum stammenden Leserkreis gewonnen. Das mag zum Teil daran gelegen haben, daß sich Turgenjew in Deutschland längere Zeit ( z . B . in Baden-Baden von 1863 bis 1 8 7 1 ) aufhielt, daß er mit verschiedenen deutschen Schriftstellern und Kritikern (Theodor Storm, Paul Heyse, Ludwig Pietsch, Julius Rodenberg, Julian Schmidt u. a.) enge, bisweilen auch freundschaftliche Beziehungen pflegte und daß er überhaupt sehr intime Verbindungen zum deutschen Kultur- und Geistesleben unterhielt. Zudem brachte es das politisch-ökonomische Interesse des deutschen Bürgertums mit sich, daß die gesellschaftlichen Verhältnisse in Rußland stärker VII

als zuvor seine A u f m e r k s a m k e i t beanspruchten. Turgenjews realistisches E r z ä h l w e r k w a r dem deutschen Leser eine A r t Spiegel, in dem sich die gesellschaftliche Problematik des Nachbarlandes erkennen ließ. Auch ästimierte man die künstlerischen Vorzüge Turgenjews, besonders das scharfe Beobachtungsvermögen und diskrete Spiel mit dem Erotischen, das seinen Werken oftmals das G e präge gab. Turgenjew galt zu der Zeit als der bedeutendste N o v e l list der zeitgenössischen Literatur. In den achtziger J a h r e n kam es in Deutschland zu wichtigen Veränderungen im literarischen Rezeptionsprozeß. M i t der H e r a u f k u n f t des Naturalismus änderte sich die H a l t u n g gegenüber T u r genjew und der russischen Literatur. Turgenjew w u r d e in den Hintergrund gedrängt und von den Naturalisten bald als der »russische Heyse« (»Freie Bühne«, 1 8 9 1 , S. 200), als einer vergangenen Epoche zugehörig empfunden. M a n w a n d t e sich jetzt den Werken Fjodor Michailowitsch Dostojewskis ( 1 8 2 1 - 1 8 8 1 ) und L e w N i k o lajewitsch Tolstois ( 1 8 2 8 - 1 9 1 0 ) zu. Dostojewski und Tolstoi w a ren in R u ß l a n d zu bedeutender Wirkung gelangt; sie hatten einen entschiedenen V o r r a n g v o r anderen russischen Dichtern erhalten und auch bereits eine überragende Stellung in der russischen Literatur eingenommen. In Deutschland wurden ihre Werke als zeitgemäß akzeptiert, sie erlangten dort eine ungewöhnliche Popularität, und mit ihnen ergriff die russiche Literatur breitere Schichten des Publikums und f a n d eine größere Resonanz als zuvor. Zunächst gilt es, die historisch-kulturelle Situation zu umreißen, die der Rezeption russischer Literatur auf breiterer Ebene unterlag. Ein wichtiger F a k t o r w a r hier die Ostpolitik Bismarcks. Während seiner Amtszeit bestanden zwischen R u ß l a n d und Deutschland mehr oder weniger freundschaftliche Beziehungen. Z w a r hatte sich Bismarck E n d e der siebziger J a h r e in den Augen der Russen nicht gerade als »ehrlicher M a k l e r « bewährt, aber 1 8 8 1 w u r d e das Dreikaiserbündnis geschlossen, 1884 w u r d e es verlängert, auch k a m es 1 8 8 7 zu einem gegenseitigen Neutralitätsversprechen (geheimer Rückversicherungsvertrag) im Falle eines A n g r i f f s durch eine dritte Macht. Durch die Terrormaßnahmen russischer revolutionärer Kreise - besonders nach der Ermordung Alexanders I I . - w a r zudem das Interesse an den dortigen radikalen Strömungen gestiegen, und die Gegenmaßnahmen der Reaktion wurden ebenso a u f merksam verfolgt. Neben diesen Aspekten, die der Interessensphäre »Rußland« direkt zugute kamen, spielten Bismarcks binnendeutVIII

sehe Unterdrückungspolitik (gerichtet vor allem gegen die Emanzipationsbestrebungen der unteren Klassen) und die immer stärkere Ausdehnung kapitalistischer Belange in Deutschland eine wichtige Rolle, zumal sie sich auf das Individuum nachteilig auswirkten und seine Tätigkeit in den verschiedensten Bereichen intellektuellen Strebens beeinträchtigten. Auf der kulturellen Ebene sah es im deutschen Sprachraum dürftig aus. Hier herrschte noch überall das Epigonale und Gründerzeitlich-Großartige; die Literatur zollte dem autoritär-monarchistischen Ungeist der Epoche Tribut, sie nahm die kulturpolitischen Tendenzen der herrschenden Schichten allzu willig auf und übte auf das Leben im deutschen Kaiserreich einen negativen Einfluß aus. Für soziale Fragen bestand kaum Verständnis, und an eine positive Engagiertheit der etablierten Literaturschaffenden war nicht zu denken. Die Naturalisten rebellierten gegen diesen Zustand, und sie erkannten bald die Relevanz und künstlerische Überlegenheit der russischen Romanciers. Vor allem sprach die Wahrheit der psychologischen Analyse und die starke soziale Tendenz die junge Dichtergeneration an. Sowohl die ideologischen als auch ästhetischen Bedingungen des deutschen Naturalismus, besonders des Berliner Kreises, schienen hier erfüllt, und die Werke der russischen Schriftsteller wurden als beispielgebend empfunden. Die Naturalisten fühlten sich durch Dostojewski und Tolstoi in ihrer oppositionellen Haltung gegen die bürgerliche Gesellschaft und deren kulturelle Bekundungen bestärkt und leiteten mit ihrer Hilfe die Erneuerung der deutschen Literatur ein. Sie verkündeten den Anbruch einer literarischen Revolution, bemühten sich ernsthaft auf programmatischer und literarischer Ebene und traten schließlich mit Werken auf, die wirklich Neues enthielten und grundlegende Veränderungen in der literarischen Entwicklung in die Wege leiteten; auch förderten sie die Bemühungen der Arbeiterschaft, die sich f ü r die neue ausländische Literatur empfänglich zeigte. Später allerdings gerieten die Naturalisten auf »Abwege«. Ihr H a f t e n an der bürgerlichen Individualität, ihre Beziehungslosigkelt zum vierten Stand verstellte ihnen die Blickrichtung derart, daß der anfangs revolutionäre Impetus nicht zu voller Wirkung kam und sich schließlich verlor: »Falsche Erwartungen und oberflächliche Einsicht in den Ablauf der sozialen Vorgänge, eine Erstarrung in der deskriptiven Vorstellung des proletarischen Elends wie auch der Mangel an hoffnungsIX

freudiger Perspektive führen die Naturalisten schließlich zu einer ablehnenden Stellung gegenüber revolutionären Ideen«. 1 Wenn w i r den V e r l a u f des Rezeptionsgeschehens in jener Zeit überblicken, ergibt sich sogleich das Problematische bei der A u f nahme eines literarischen Werkes, das aus einem anderen K u l t u r kreis stammt. H i e r ist festzuhalten, daß jedes literarische W e r k sowohl Eigenschöpfung als auch Ausdruck der historisch-kulturellen Verhältnisse des Entstehungslandes ist. Im A u f n a h m e l a n d müssen K o n t a k t e a f f i r m a t i v e r A r t auf gesellschaftlicher Ebene und innerhalb der literarischen E n t w i c k l u n g gewährleistet sein, um die nötige Rezeptionswilligkeit zu erbringen. Z u r Zeit des A u f k o m m e n s des Naturalismus in Deutschland w a r es vornehmlich der gesellschaftskritische T o n der russischen Schriftsteller, der aufhorchen ließ, sowie die Tatsache, d a ß sie letzthin gegen die bestehende O r d nung und ihre Erscheinungsformen Stellung nahmen. Die Schilderungen der russischen Realisten zogen die Naturalistengeneration in ihren Bann, weil sich, trotz des andersartigen Milieus, genügend Entsprechungen wahrnehmen ließen, und weil hier wie dort die Einsicht bestand, daß Veränderungen im gesellschaftlichen G e f ü g e herbeigeführt werden müßten. D i e Abwesenheit derartiger K o n takt-Gegebenheiten und ihre Nichtbeachtung seitens der Vermittler und Produzenten führt gewöhnlich zu Mißerfolgen. So ist daran zu erinnern, d a ß einige Übersetzungen aus dem W e r k Dostojewskis (ein Teil der »Armen Leute«, »Aufzeichnungen aus einem Totenhause«) bereits 1846 und dann auch in den sechziger Jahren publiziert wurden, ohne jedoch den geringsten E r f o l g zu haben. Erst nachdem R u ß l a n d E n d e der siebziger Jahre stärker in das Blickfeld der deutschen Leser gerückt w a r , und als 1882 der R o m a n »Schuld und Sühne« in der Ubersetzung v o n Wilhelm Henckel (u. d. T . » R a s k o l n i k o w « bei W . Friedrich in Leipzig) erschien, und auch anerkannte Literaturgrößen (u. a. Bodenstedt, Heyse, Brandes, Grosse, Ebers) sich darüber lobend ausließen, w u r d e Dostojewski in Deutschland weithin bekannt. Innerhalb des nächsten Jahrzehnts lagen auf dem deutschen Buchmarkt Übersetzungen fast aller w i c h tigen W e r k e dieses Schriftstellers vor. Ä h n l i c h w a r es mit Tolstoi. Lange Zeit blieb sein W e r k in Deutschland unbeachtet, doch dann geriet es in den achtziger Jahren in den Mittelpunkt des allgemei-

1

A . H o f m a n , » T h o m a s M a n n und die W e l t der russischen Literatur,« Berlin 1967, S. 34.

X

nen Interesses. Bereits 1863 w a r eine Ubersetzung von »Polikuschka« (u. d. T . »Paul«) erschienen, in den siebziger Jahren wurden verschiedene Übersetzungen aus seinem W e r k herausgegeben, aber erst 1885 lagen die großen R o m a n e (»Anna Karenina«, »Krieg und Frieden«) vor, 2 und erst durch diese Ausgaben - und nachdem »Krieg und Frieden« kurz z u v o r in Frankreich ein unbestrittener E r f o l g geworden w a r - gelangte Tolstoi in Deutschland zur W i r kung, wobei hinzugefügt werden muß, d a ß die an sich positive A u f n a h m e der Romane auch zu Widersprüchlichkeiten unter den Naturalisten führte. 3 Einen wirklichen E r f o l g errang Tolstoi dann mit seinem D r a m a »Die M a c h t der Finsternis«, 4 das 1887 erschien und das Interesse der »Jüngstdeutschen« besonders entfachte. V o n der Zeit an nahm das Lesebedürfnis des Publikums, was Tolstoi betrifft, rapide zu, derart, daß er bald als A h n h e r r der »Naturalistenbande« anerkannt wurde und als kontroverse Erscheinung in aller Bildungsbeflissenen Sinn w a r . A u c h wurden zu der Zeit russische Schriftsteller kleineren Formats, z. B. W s e w o l o d Garschin, W l a d i m i r K o r o l e n k o , G l e b Uspenski, ins Deutsche übersetzt und gelesen, und ältere russische Autoren, vornehmlich N i k o l a i Gogol, 5 wurden sozusagen wiederentdeckt. In der Tagespresse, den Zeitschriften und in verschiedenen Verlagen wurden W e r k e russischer Schriftsteller zum A b d r u c k gebracht; dem Leser etwas »Russisches« darzubieten, w a r nahezu unerläßlich. A u c h erschienen Übersichten, die den Interessenten mit der E n t w i c k l u n g der russischen Literatur bekannt machten; einschlägige Äußerungen v o n Übersetzern, Re-

!

» A n n a K a r e n i n a « . R o m a n in 6 Büchern, übersetzt v o n W i l h e l m P a u l

G r a f f , 3 Bde., B e r l i n : W i l h e l m i 1 8 8 j . - » K r i e g und Frieden«. H i s t o rischer R o m a n , übersetzt v o n Ernst Strenge, 4 Bde., B e r l i n : D e u b n e r 1885. * » K r i e g und Frieden« ist beispielsweise f ü r C a r l Bleibtreu das »politisch-historisch-militärisch u n r e i f e chauvinistische P a m p h l e t eines Stockrussen gegen die w e s t l i c h e K u l t u r . « (Ges., 1889, S. 916). 4

»Die M a c h t der Finsternis«. D r a m a t i s c h e s Sittenbild aus dem russischen V o l k s l e b e n in 5 A k t e n , übersetzt v o n A u g u s t S c h o l z , B e r l i n : S. Fischer 1887.

• G o g o l w u r d e bereits in den 40er und 50er J a h r e n ins D e u t s c h e übersetzt und sein » R e v i s o r « erschien 1858 z u m erstenmal auf der deutschen Bühne. In der F o l g e z e i t geriet sein W e r k j e d o c h in den H i n t e r g r u n d des Interesses; erst z u r Z e i t des N a t u r a l i s m u s w u ß t e man die sozialkritischen A s p e k t e v o l l a u f z u w ü r d i g e n .

XI

zensenten und Kritikern häuften sich und längere Aufsätze wurden publiziert. Die Ursachen f ü r diesen Wandel in der Rezeptionsintensität und -breite gehen vornehmlich auf die Bemühungen der literarischen Avantgarde sowie auf den Bewußtseinsstand und das Informationsbedürfnis der Lesermasse zurück. Ferner trugen die Qualität der Ubersetzungen, der Kuriositätscharakter einzelner Werke, die Effizienz der Produktions- und Verbreitungsmechanismen sowie der publizistische A u f w a n d seitens der Produzenten wesentlich zur Rezeptionsbereitschaft bei. Die Aufnahme einzelner Werke und Schriftsteller umfaßt naturgemäß verschiedene Stadien: Reklame, Publikation, Rezension, kritische Stellungnahme und Publikums-Echo, Interpretation und möglicher Einfluß auf die künstlerische Entwicklung im Aufnahmeland. 6 Manchmal bricht der Aufnahmeprozeß bereits mit der Veröffentlichung, allenfalls der Rezension ab (z. B. bei Fjodor Sologub), manchmal werden verschiedene Stadien übersprungen (so im Falle der Erzählungen Wsewolod Garschins), manchmal werden auch alle Stadien durchlaufen; ein eklatantes Beispiel ist Dostojewskis »Raskolnikow«. Die einzelnen Aufnahmeprozesse ergeben dann ein Gesamtbild des Rezeptionsgeschehens. Während der Zeit des deutschen Naturalismus scheint dieses Geschehen wellenartig verlaufen zu sein, wobei es jedoch zu Uberschneidungen diverser A r t gekommen ist. Bei der Sondierung des vorliegenden Materials zeichnen sich in der Hauptsache drei rezeptionsgeschichtliche Phasen ab: eine frühe Dostojewski-Phase, eine Tolstoi-Phase, die in die Hochjahre des Naturalismus fällt, und schließlich eine Spätphase, in der vornehmlich Maxim Gorki ins Licht gerückt wird. Daneben führt ein mehr sporadisches Interesse an einigen »Kleinepikern« (Tschechow, Garschin u. a.) zur Bildung von zusätzlichen Kristallisationspunkten. U m 1905 w a r es mit dem allgemeinen Interesse an der russischen Literatur einstweilen vorbei. Bezeichnenderweise schreibt Alexander Brückner im Jahre 1907 dazu: »Kommt man heute in die Bureaus einer großen Tageszeitung und frägt nach Korrespondenzen und Nachrichten aus Rußland, so weisen die Redakteure auf den Papierkorb: da liegen die teuren Telegramme, wir setzen sie unserm Publikum gar nicht mehr vor, 6

Siehe d a z u : E. Reißner, »Die Forschung auf dem Gebiet der Rezeption russischen Literaturgutes in Deutschland, ihre Problematik, ihre Methoden und ihre A u f g a b e n « , in: Z f S l . , 7 (1962), S. 30 ff.

XII

dessen Interesse höchstens ein groß angelegtes A t t e n t a t neu beleben könnte. Dasselbe hört man im Theaterbureau: ein russisches Stück? um Himmelswillen nein, w i r haben sie gründlich satt. A u c h der Buchhändler legt russische N o v e l l e n , noch unlängst einen seiner gangbarsten Artikel, mit weisem V o r b e d a c h t lieber weg«. 7

II D i e im vorliegenden Band aufgenommenen T e x t e belegen die A u f nahme russischer Literatur zur Zeit des Naturalismus in Deutschland (von den 8oer Jahren bis zur Jahrhundertwende) und spiegeln den dreiphasigen V e r l a u f des Rezeptionsgeschehens wider. Die Fülle des Materials und auch editorische E r w ä g u n g e n erforderten eine Beschränkung auf das Wichtigste; die Vielschichtigkeit der einzelnen Phasen und Aufnahmeprozesse, die verschiedenen Ausstrahlungen und Wirkungsmomente russischen Literaturguts in jener Zeitspanne werden nicht sichtbar. N u r das eingehende Studium des relevanten Zeitschriftenmaterials könnte eine solche Einsicht vermitteln. H i e r galt es, das Hervorstechendste zu erfassen und den V e r l a u f der Rezeption in ihren Grundlinien zu veranschaulichen. In der ersten Phase bilden die Arbeiten v o n Wilhelm Henckel 8 und G . R o l l a r d (1882) sozusagen den A u f t a k t . Henckel w i l l den Leser v o r allem über Dostojewski informieren, ihn mit dem Leben und der literarischen T ä t i g k e i t dieses Schriftstellers bekannt machen. Sein Ausgangspunkt ist die Beerdigung Dostojewskis im Jahre 1881 in Petersburg. D i e große Popularität, die der Dichter genoß, wurde während der Feierlichkeiten in anschaulicher Weise sichtbar; an die 40 000 Menschen aus den verschiedensten V o l k s schichten sollen ihm das letzte Geleit gegeben haben, und die studierende Jugend richtete ein Schreiben an die W i t w e , in dem es

7

A . B r ü c k n e r , » R u ß l a n d s geistige E n t w i c k l u n g im Spiegel seiner schönen L i t e r a t u r « , T ü b i n g e n 1908, S. 145.

8

H e n c k e l m a c h t e sich als V e r m i t t l e r russischer L i t e r a t u r im deutschen S p r a c h r a u m besonders v e r d i e n t . E r w a r v o n G e b u r t D e u t s c h e r , w u r de aber bei V e r w a n d t e n in R u ß l a n d e r z o g e n . Bis 1879 w a r er dort im B u c h h a n d e l tätig, d a n n k e h r t e er nach D e u t s c h l a n d z u r ü c k und setzte sich f ü r die A u f n a h m e D o s t o j e w s k i s resolut ein.

XIII

hieß, man werde die Ideale Dostojewskis von Generation zu Generation weiterreichen und sie niemals vergessen. D a ß es seitens der russischen Jugend zu einer solchen Huldigung kam, ist bemerkenswert, denn Dostojewski wußte sich mit ihren Bestrebungen nicht eins. Zwar hatte er sich vor seiner Verbannung in revolutionären Kreisen bewegt, und als Anhänger Petraschewskis 9 war er verurteilt worden, aber in Sibirien vollzog sich in ihm ein Wandel, der ihn religiös stimmte und ihn seine Strafe als »gerecht« erscheinen ließ. Henckel fragt nach den Gründen dieser Reverenz und konstatiert, daß es die Liebe zum russischen Volk und der Glaube an dessen Z u k u n f t war, die ihn trotz unterschiedlicher Ansichten mit der Jugend verband. Er geht dann auf einige Werke ein und bemerkt, daß sie von einem tiefen Humanitätsgefühl durchdrungen seien und daß sich in ihnen eine hervorragende psychologische Beobachtungsgabe bekunde. Die Tatsache, daß Dostojewski seine Werke so drucken ließ, wie sie ihm aus der Feder flössen, ergab einerseits ihre Unmittelbarkeit, andererseits einen gewissen Mangel an künstlerischer Vollendung. Man sieht, Henckels Ausführungen waren darauf angelegt, die Aufnahmebereitschaft des Publikums zu erhöhen und das Werk des Schriftstellers gegen etwaige Vorwürfe der Kritik abzuschirmen. Nicht lange nach der Publikation dieses Aufsatzes erschien G. Rollards Besprechung des Romans »Raskolnikow«. Es heißt darin, die russische Literatur verfolge seit den Tagen Belinskis eine praktisch-realistische Richtung, und Dostojewski sei nächst Turgenjew der wahrhaftigste Darsteller russischer sozialer Zustände. Der Roman »Raskolnikow« zeige das hohe Talent des Autors, das sich vornehmlich in der psychologischen Analyse und dem Beobachtungsvermögen offenbare. Rollard legt bewußt das Gewicht auf die psychologische Seite des Werkes, aber er flicht ein, daß man auch die kulturelle Seite im Blickfeld haben müsse. Man könne daraus russisches Denken und Handeln viel besser kennenlernen als aus manchen Abhandlungen wissenschaftlicher Art. Der Rezen9

U m M . W . Butaschewitsch-Petraschewski

f o r m i e r t e sich in S t . P e t e r s -

b u r g in den 4 0 e r J a h r e n der sog. P e t r a s c h e w z e n - K r e i s , der sich

vor-

n e h m l i c h an den utopistischen Ideen v o n F r a n ç o i s F o u r i e r orientierte. D o s t o j e w s k i besuchte die V e r s a m m l u n g e n dieses K r e i s e s und las d o r t mehrere M a l e Belinskis » B r i e f an G o g o l « seiner V e r h a f t u n g f ü h r t e .

XIV

v o r , ein U m s t a n d , der

zu

sent zielt somit auf das Interesse des Lesers, der bereit war, sich mit dem »Rätsel« Rußland, den dort herrschenden Anschauungen und Geisteshaltungen, auseinanderzusetzen. In der Folgezeit wird in den Arbeiten über Dostojewski gern an Turgenjew angeknüpft. O f t wird er mit ihm verglichen, und nicht immer wird er dabei zu seinem Vorteil von ihm unterschieden (z. B. bei Eugen Zabel). Der Roman »Raskolnikow« wird als wichtiges Dokument für die Beurteilung der Zeitgeschichte, der sozialen Mißstände in Rußland und des russichen Volkscharakters gesehen; die meisterhafte Analyse des Verbrechens und des Sühnebedürfnisses wird immer wieder gepriesen. Die Betrachtung dieses Romans steht entschieden im Vordergrund der Bemühungen. Z w a r geht man auch auf andere Werke ein (z. B. »Die Brüder Karamasow«, »Erniedrigte und Beleidigte«, »Die Dämonen«, »Aufzeichnungen aus einem Totenhause«, »Arme Leute«), doch die Vielfalt und Tiefe des Dostojewskischen Werkes wird kaum wahrgenommen, jedenfalls nicht in gebührendem Maße. Allmählich kommt es zu den ersten Stellungnahmen naturalistischer Schriftsteller. So schreibt Carl Bleibtreu 1887 im Vorwort seiner »Revolution der Literatur«, der neue realistische Roman werde aus einer »Mischung der Elemente« von Zolas »Germinal« und Dostojewskis »Raskolnikow« hervorgehen. Er hebt die »Virtuosität der Technik« und »wundervolle psychologische Ausführung« dieses Romans hervor und stellt ihn sehr hoch: »Niemals ist das Weltproblem, um das sich das Menschenleben seit Adam und E v a dreht: Die allbeherrschende Gewalt des unbekannten Gottes, der uns eingeboren und den wir »Gewissen« nennen, so erschöpfend dargethan - niemals, Shakespeare und Byron ausgenommen«. 10 Michael Georg Conrad, der Wortführer des Münchener Naturalisten-Kreises, preist im selben Jahre in der hier vorgelegten Rezension die rücksichtslose Wahrhaftigkeit, die sich im »Raskolnikow« bekundet. Derartiges lasse sich bei den deutschen Schriftstellern nicht finden, überhaupt seien die russischen Romanciers den deutschen im Hinblick auf Motivation, Sachlichkeit sowie Feinheit der psychologischen Analyse überlegen. Auch findet Conrad abwertende Worte f ü r die deutschen Nachahmer russischer Romane, wie Richard Voß und Julius Grosse. Er wendet sich damit gegen 10

C . Bleibtreu, »Revolution der Literatur«, hrsg. von J . J . burg, Tübingen 1 9 7 3 , S. V I I .

Braaken-

XV

eine Tendenz, die damals zutage trat, die des Nachempfindens ausländischer Modelle, und die anzeigt, daß die russische Literatur mindestens ebenso populär war wie die skandinavische. N u r gab es bei den Russen-Nachahmern keine Schriftsteller vom Rang eines Arno H o l z und Johannes Schlaf. In heutigen Darstellungen wird fast ausschließlich die Beliebtheit der Skandinavier angeführt; es wird übersehen, daß es derzeit in Deutschland eine Unzahl Dichterlinge gab, die mit »russischen Romanen« dem Zeitgeschmack hulgigten. Im Jahre 1889 legt dann Hermann Conradi in der »Gesellschaft« einen temperamentvoll gehaltenen Aufsatz über Dostojewski vor, in dem der russische Dichter als Menschendarsteller gepriesen wird, der eine besondere Sympathie f ü r Elende und Heruntergekommene habe und bezwingend »naturwahr« schildere. Conradi, der als Lyriker unter den Naturalisten zu hohem Ansehen gekommen w a r , 1 1 setzt sich f ü r das sog. »Überflüssige« in Dostojewskis Werken ein und macht auf die breiten Beichtszenen aufmerksam. Allerdings ist die Arbeit nicht »gradlinig« geschrieben, sondern von dauernden Abschweifungen gekennzeichnet; sie geht auf alles Mögliche ein: auch auf die Zustände in Deutschland, den deutschen Philister, die Belange der jungen Generation, die deutsche Dichtung etc. Es fällt auf, daß Dostojewski nicht mehr im Verband mit Turgenjew genannt w i r d ; neben Dostojewski, heißt es, könne nur noch Tolstoi bestehen. Beachtenswert ist noch die Bemerkung, daß Dostojewski vorgeworfen wurde, er habe in der Spätzeit seines Schaffens slawophilen Neigungen breiten Raum gegeben und sei in religiöser Hinsicht immer »mystischer« geworden. Conradi setzt sich jedoch mit diesem Vorwurf nicht weiter auseinander. Zu dieser Zeit (1889/90) erscheinen in Deutschland verschiedene längere Abhandlungen über Dostojewski, von denen die Arbeit des dänischen Literaturhistorikers Georg Brandes (eigentl. Morris Cohen) in die vorliegende Auswahl aufgenommen wird, und zwar 11

C o n r a d i w a r 1887 mit provozierenden »Liedern eines Sünders« hervorgetreten und galt als der genialste L y r i k e r der jungen Generation. A l s 1889 sein R o m a n » A d a m Mensch« erschien, wurde er wegen G o t teslästerung und Unsittlichkeit denunziert und, zusammen mit C o n r a d Alberti und Wilhelm Walloth, in den »Realistenprozeß« verwickelt. Conradi erlebte den Ausgang des Prozesses nicht; sein Roman wurde durch Richterspruch zur Vernichtung bestimmt.

XVI

weil sie in besonderem Maße auf die junge Generation in Deutschland gewirkt hat. Brandes galt dort als Verfechter materialistischer Ideen und genoß den Ruf eines Experten f ü r skandinavische Literatur. An seinen Ausführungen und an denen des Franzosen E.Melchior de Vogüe (»Le Roman russe«, Paris 1886) orientierten sich die Naturalisten und ihre Mitläufer vornehmlich. Brandes geht in seiner Arbeit auf die Lebensumstände Dostojewskis und das »Russische« in seinen Werken ein, und er bietet vor allem eine eingehende Analyse der Gestalt Raskolnikows. Viel Neues sagte er eigentlich nicht, aber seine Ausführungen wurden gelesen; er w a r als »renommierter« Kritiker maßgebend. Einige seiner Bemerkungen sind jedoch festzuhalten; so beispielsweise, daß das Humanitätsideal Dostojewskis von den Franzosen stamme, daß er sich ihre Erzählkunst aber nicht zu eigen machen konnte. Er könne ein »Dichter des Proletariats« genannt werden, und Mitleid sei f ü r ihn »eine A r t Religion«. Brandes befand sich mit diesen Ansichten genau auf der Wellenlänge der deutschen Naturalisten; für die letzterwähnten Züge zeigten sie sich besonders empfänglich. In den neunziger Jahren wird in immer stärkerem Maße die mystische Seite in Dostojewskis Schaffen hervorgekehrt, auch werden die pathologischen Züge o f t überbetont, eine Tendenz, die den neuen literarischen Strömungen, die damals zutage traten, durchaus gemäß war, die jedoch das Soziale in Dostojewskis Werk allmählich in den Hintergrund geraten ließ. Aus der Fülle der Sekundärliteratur soll hier lediglich Kurt Eisner zu Wort kommen. Im Jahre 1901 stellt er in Hinsicht auf die Rezeption Dostojewskis rückblickend fest, daß die deutschen Naturalisten mit »Raskolnikow« gleichsam aufwuchsen und daß sein Einfluß in den Werken der Zeit vielfach zu spüren sei. E r fährt dann fort und analysiert treffend die damalige Rezeptionswilligkeit: »Die Declassierten der Bourgeoisie, die der nationalen Autorität Entlaufenen, trafen in Dostojewskijs unheimlicher Schicksalsdichtung, die das Fatum des Gehirns schildert, verwandte Stimmungen. Der gesellschaftlich angestammte Boden w a r ihnen unter den Füßen verschwunden, die mythologische Glaubenstradition erloschen, die sociale N o t nagte schmerzhaft, revolutionäre Ideen beherrschten sie, unklar und uneinheitlich; sie cultivierten die großen Leidenschaften, die doch nur kleine Verirrungen sind, sie sehnten sich nach der gewaltigen Gesetzlosigkeit, die alle Werte zertrümmert, sie schauten verzückt die Morgendämmerung eines tausendjährigen Reichs, an dem sie XVII

aber nicht arbeiteten, im tiefsten Grunde fühlten sie, daß sie nur mit den Ketten klirrten, daß sie zwecklos und überflüssig waren, abseits der nüchternen, thätigen Welt. Vor allem berauschten sie sich an der Psychologie des Raskolnikow. Sie hatten die Begierde der Jugend, ins Chaos des triebhaften Bewußtseins zu tauchen, das nicht im Denken geordnet ist, sich einzuwühlen in die Wirrnis des gährenden Selbst, sich zu belauschen, sich der versteckten Blößen, Lügen und Tücken zu überführen, der eigene Detectiv zu sein.« 12 In der Tolstoi-Phase erhält das in den späten achtziger Jahren sich bekundende Interesse an diesem Dichter o f t seiflen Niederschlag in längeren Aufsätzen. Der Beitrag von Paul Ernst (1889) ist bezeichnend dafür. Ernst hatte sich während seiner Studentenzeit der sozialdemokratischen Partei angeschlossen und trat als Schriftsteller mit der hier vorgelegten Abhandlung über »Tolstoi und der slawische Roman« hervor. Er betont, daß die Dichtung in Rußland stärker als in anderen Ländern durch das politische und soziale Leben bestimmt sei und daß das neue Rußland durch Männer wie Tolstoi und Dostojewski vertreten werde. Tolstois Werke müsse man auf dem Hintergrund seines Slawophilentums sehen, doch gelte seine Begeisterung dem Volk, weil es Volk ist, nicht weil es russisch ist. Ernst bemüht sich, die Entwicklung Tolstois zu zeigen, und er geht auf verschiedene Werke ein. Dabei fällt auf, daß er immer wieder auf den sozialen Aspekt und auf erzähltechnische Gegebenheiten zu sprechen kommt. Er weist auch auf das Widersprüchliche zwischen dem Dichter und dem Denker Tolstoi hin, gerät im L a u f e seiner Ausführungen merklich ins Philosophische und setzt sich mit den christlichen Idealen Tolstois auseinander. Die sozialistische Grundhaltung bekundet sich wohl in seinem Aufsatz, aber in fast ebenso starkem Maße das Interesse an philosophisch-religiösen Fragen. In der weiteren Entwicklung dieser Rezeptionsphase zeichnen sich zwei Schwerpunkte ab: a) die Aufnahme der »Macht der Finsternis« und b) die Auseinandersetzung mit der »Kreutzersonate«. Das Drama »Die Macht der Finsternis« fand bei den »Jüngstdeutschen« besonders viel Anklang. D a angesichts der reaktionären Bestrebungen der preußischen Kulturbehörden an eine ö f 12

K . Eisner, »Raskolnikow. Z u Dostojewskijs Bild«, in: Sozialistische Monatshefte, 5 ( 1 9 0 1 ) , S. 49.

XVIII

fentliche A u f f ü h r u n g nicht zu denken w a r , entschloß sich die »Freie Bühne« dazu, es als f ü n f t e Vorstellung ihres Programms zu inszenieren. 13 Im Januar 1890 ging es in Berlin über die Bretter und löste anregende Diskussionen aus. D i e Beiträge v o n Paul Schienther und H a n s O l d e n (eigentl. Johann August Oppenheim) sind Stellungnahmen zu diesem Ereignis. Schienther, der später den Vorsitz der »Freien Bühne« übernahm, hält den starken Eindruck fest, den »Die M a c h t der Finsternis« bei den Zuschauern hinterließ, und bespricht den Gedankeninhalt, die Mängel und V o r z ü g e des Stücks. Die psychologische E n t w i c k l u n g und Echtheit der menschlichen Reaktionen sowie die Kunst der Stimmungserweckung werden als Positiva erkannt, die epische Breite dagegen - und das ist typisch f ü r die Position der K r i t i k - w i r d moniert; die Theaterwirkung werde dadurch reduziert. In der Bemerkung Schienthers, daß die deutschen Schriftsteller, die sich Tolstoi zum V o r b i l d nahmen, nicht die dramatische S p a n n k r a f t unterschätzen sollten, w i r d die reservatio mentalis sichtbar, die er gegenüber dem neuen D r a m a empfand. D e r A u f s a t z v o n O l d e n gibt dann den genauen V e r l a u f der A u f f ü h r u n g sowie die verschiedenen Stufen der Publikumsreaktion wieder. O l d e n unterstreicht, daß die v o n Tolstoi geschaffene Variante (im 4. A k t ) z u m E r f o l g des Stückes beigetragen hat und daß gegen Ende der Vorstellung die verschiedenen Faktionen ihre v o r g e f a ß t e n Meinungen aufgegeben hatten und ganz in den Bann der Tolstoischen S c h ö p f u n g s k r a f t gerieten. Dieser Überzeugung stehen jedoch diverse kritische Zeugnisse entgegen, in denen die Gespaltenheit des Publikums betont wird. 1,1 In den folgenden Jahren w i r d »Die M a c h t der Finsternis« noch einige Male in geschlossenen Vorstellungen aufgeführt. D a s Erfolgsmoment des Stücks liegt jedoch nicht in der Z a h l der A u f f ü h r u n g e n , sondern 13

D a geschlossene V o r s t e l l u n g e n in P r i v a t v e r e i n e n nicht der G e n e h m i g u n g der Z e n s u r b e h ö r d e b e d u r f t e n , schlössen sich M a x i m i l i a n H a r d e n , T h e o d o r W o l f f , O t t o B r a h m , P a u l Schienther, S a m u e l Fischer u. a. in Berlin z u s a m m e n und gründeten am 5. A p r i l 1889 den T h e a t e r v e r e i n »Freie Bühne«. O h n e R ü c k s i c h t n a h m e auf f i n a n z i e l l e Ü b e r l e g u n g e n und Z e n s u r b e s t i m m u n g e n sollte hier dem m o d e r n e n D r a m a in den Sattel g e h o l f e n w e r d e n . E r ö f f n e t w u r d e das P r o g r a m m der »Freien Bühne« im September 1889 mit einer V o r s t e l l u n g v o n Ibsens »Gespenster«.

14

Siehe d a z u u . a . : G . S c h l e y , »Die Freie Bühne in Berlin«, Berlin 1967 S. 6 3 - 6 5 .

XIX

in der Tatsache, daß es im dichterischen Schaffen der jungen Generation w i r k s a m wurde. In Anlehnung an das Tolstoische V o r b i l d sind W e r k e verschiedener A r t v e r f a ß t worden. A n der »Kreutzersonate« 1 5 entbrannte dann vollends der Streit um das Für und W i d e r der Tolstoischen Ansichten. In R u ß l a n d w a r das W e r k gleich nach seinem Erscheinen verboten w o r d e n , in Deutschland gelangte es zu einer ausgesprochenen Breitenwirkung. N i c h t nur die Naturalisten und die ihnen nahestehenden K r i tiker fühlten sich angesprochen, sondern Leserkreise verschiedenster Orientierung. D i e Vorstellung v o m neuen Verhältnis zwischen den Geschlechtern hatte bereits die Gemüter erregt, und Tolstois W e r k traf auf eine Gestimmtheit, die die breite A u f n a h m e sicherstellte. Die Beiträge, die über die »Kreutzersonate« vorgelegt werden, sind sämtlich im Jahre 1890 erschienen. D e r A u f s a t z des schwedischen Dichters O l a Hansson (er schrieb auch deutsch und lebte v o r w i e gend im Ausland) in der »Freien Bühne« schildert den V e r l a u f der H a n d l u n g und w i r f t Licht auf Personen und K o n f l i k t e . Es w i r d festgehalten, daß die »Kreutzersonate« ein künstlerisches Meisterstück sei, aber auch ein Gebrechen aufweise, und z w a r weil das H a u p t g e w i c h t v o m Psychologischen auf das Asketisch-Moralische verlegt w o r d e n sei. D i e moralische Forderung (absolute geschlechtliche Askese) sei auf die Spitze getrieben. Hansson bedauert, d a ß Tolstoi sich mit seiner Hauptgestalt identifiziert habe, doch das W e r k lasse die Mehrzahl ähnlicher Versuche französischer Naturalisten weit hinter sich. D i e österreichische Essayistin Marie H e r z f e l d (»Die Gesellschaft«) und der Berliner K r i t i k e r Leo Berg (»Moderne Dichtung«) sind in ihren Stellungnahmen noch kritischer gegenüber der Tendenz, der hier R a u m gegeben w i r d . Für Berg ist die Hauptgestalt »einer jener Vollrussen«, die, wie der Verfasser, v o m westeuropäischen Kulturbewußtsein erfüllt sind und daher mit sich selber in Streit geraten seien; Tolstois H e l d sei selbst nach dem Verbrechen der wollüstige G e w a l t t ä t i g e , der er anfangs w a r . H e r z f e l d betont, daß die Selbstanklage der H a u p t gestalt sich zu einer A n k l a g e gegen die Zeit ausweite und d a ß das W e r k typisch für die gegenwärtige »Rückschlagsströmung« sei. T r o t z aller Wahrheit sei es als Ganzes abzulehnen. W . Berdrows A u f s a t z (1893) beschließt den Textteil der TolstoiPhase. Es handelt sich um den Versuch einer Festlegung Tolstois 15

»Die K r e u t z e r s o n a t e « , Behr's B u c h h . 1890.

XX

auf Schopenhauer. D i e H i n w e n d u n g des Dichters zum Religiösen, heißt es, sei kein »seniles Moralpredigen«; dahinter stehe ein jahrelanges Studium verschiedener Konfessionen und Sekten sowie die eingehende Kenntnis der Bibel. Tolstoi sei lange im Bann der Ethik Schopenhauers gewesen, und die späteren W e r k e ließen den E i n f l u ß dieses Philosophen klar erkennen. D o c h während Schopenhauer zu der Erkenntnis der O h n m a c h t des menschlichen Willens gelangt und sich resignierend abwendet, w i r d Tolstoi z u m Evangelisten und verliert sich in den Höhen idealistischen Denkens. M a n nahm also das Utopische der Tolstoischen Ideen w a h r und stand ihnen kritisch b z w . ablehnend gegenüber, schätzte jedoch, zumindest in einigen Kreisen, die künstlerische Wahrheit in den Darstellungen seiner Personen und K o n f l i k t e . Allerdings verlor man im L a u f e der Auseinandersetzungen, ähnlich wie bei Dostojewski, den. Bezug auf das Soziale in seinen W e r k e n weitgehend aus den A u g e n . Tolstoi wurde in immer stärkerem M a ß e eine interessante literarische Persönlichkeit; man w a r von dem wunderlichen G e h a be des russischen G r a f e n im Bauernkittel geradezu fasziniert, und Eugen Zabel schrieb bezeichnenderweise d a z u : »Unbegreiflich ist es, daß noch kein amerikanischer Impresario auf den Gedanken gekommen ist, den G r a f e n Tolstoi f ü r eine Tournee durch die Hauptstädte Europas und die Vereinigten Staaten zu gewinnen. M a n denke sich den Dichter, so- wie w i r ihn in Moskau gesehen haben, nachmittags unter den Linden oder auf den pariser Boulevards, in der O x f o r d s t r e e t in L o n d o n oder auf dem B r o a d w a y in N e w y o r k und dann am A b e n d in einem geräumigen Konzertsaal, w o er einen V o r t r a g hält und sich dabei v o n mehreren tausenden Menschen anstaunen l ä ß t ! Statt des Fracks und der weißen Binde müßte er natürlich seine gewöhnliche K l e i d u n g tragen . . .« 19 In der Spätphase taucht zunächst A n t o n P a w l o w i t s c h Tschec h o w (1860-1904) a u f ; der Respons der K r i t i k ist jedoch minimal und wird durch den Widerhall, den die W e r k e M a x i m Gorkis (eigentl. A l e x e i M a x i m o w i t s c h Peschkow, 1868-1936) in Deutschland fanden, übertönt. Tschechows Erzählungen erschienen im deutschen Sprachraum bereits in den frühen neunziger Jahren, jedoch bekundete sich das Interesse an ihm auf etwas breiterer Basis erst gegen Ende des Jahrhunderts. D e r pessimistische G r u n d z u g der Zeit nahm die Erzählungen Tschechows bereitwilligst auf, doch ging 16

E . Z a b e l , »Russische L i t e r a t u r b i l d e r « , Berlin 1899, S. 225.

XXI

die Rezeption mehr im stillen v o r sich. Auch galt Tschechow lediglich als Meister der Kleinkunst, und als solcher f a n d er seitens der K r i t i k nicht die Beachtung, die er verdiente. Zudem w u r d e er mit Maupassant verglichen, w a s ihm ebenfalls nicht zum V o r teil gereichte. So auch in der Arbeit von Alexis Freiherr von Engelhardt im »Literarischen Echo« (1898). Der aus dem Baltikum stammende Journalist (später polit. Schriftleiter der »Münchener Neuesten Nachrichten«) umreißt die Entwicklung Tschechows und w i r f t Licht auf seine Position in R u ß l a n d und der russischen Literatur. Tschechow sei der Begabteste unter den jüng;ren Erzählern in R u ß land und stünde seinem »Meister« nicht alL.u weit nach, doch sei ihm der Franzose an Tiefe, schöpferischer Phantasie und Schaffensk r a f t überlegen. Als Dramatiker w a r Tschechow zu der Zeit in Deutschland noch unbekannt, lediglich einige Einakter gelangten dort um die J a h r hundertwende zur A u f f ü h r u n g . Der Beitrag von E d u a r d Höber ( 1 9 0 2 ) geht auf den Dramatiker Tschechow ein und hebt den künstlerischen Wert seiner Dramen und den starken Pessimismus in ihnen hervor. Insbesondere preist er das Schauspiel »Onkel Wanja«. E r stellt es über die anderen dramatischen Werke des Autors und plädiert f ü r die baldige A u f f ü h r u n g dieses Stückes auf der deutschen Bühne. In der Folgezeit blieben die Dramen Tschechows vorerst im Hintergrund, erst viel später setzten sie sich in Deutschland durch. Die Erzählungen fanden etwas mehr A n k l a n g ; es wurde auch eine Gesamtausgabe veranstaltet, aber f ü r das geringe Interesse, das man diesem A u t o r entgegenbrachte, ist folgende N o t i z aus dem »Literarischen Echo« des Jahres 1909 bezeichnend: »Die Tschechow-Ausgabe von Diederichs, J e n a , wird nicht fortgesetzt ob der absoluten Gleichgültigkeit und Verständnislosigkeit des deutschen Publikums diesem Dichter gegenüber, dem besten Russen der letzten literarischen Epoche«. 1 7 N a c h d e m die ersten Erzählungen Gorkis in Deutschland kurz v o r der Jahrhundertwende erschienen waren, w a r Gorkis N a m e in kurzer Zeit in aller Munde und erlangte eine ungewöhnliche Popularität. Z u m Teil mag das daran gelegen haben, daß in seinen Werken etwas Neues zu Worte kam. Die protestierend-kämpferische N o t e ließ in der v o m Pessimismus gekennzeichneten Zeit a u f horchen. Zudem gab G o r k i dem Deklassierten, dem russischen Boss17

»Russisch-Deutsches«, in: L E , 1 1 ( 1 9 0 9 ) , Sp. 1230.

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jaken oder Barfüßler, einen P l a t z in der Literatur und zeigte ostentativ, daß die Gesellschaft, in der er sich bewegte, brüchig w a r und die freie E n t w i c k l u n g des Individuums behinderte. A u c h w u r de das Revolutionäre in seinen Schriften wahrgenommen, besonders v o n der Jugend und den demokratischen Kreisen. Einer der ersten Beiträge, die in Deutschland über G o r k i erschienen, w a r der A u f s a t z von N i n a H o f f m a n n in der » Z u k u n f t « (1899). D i e zu der Zeit in Wien lebende Schriftstellerin führt den A u t o r als Bossjaken ein, kommt auf die E n t w i c k l u n g der russischen Literatur zu sprechen und betont, d a ß G o r k i eine Sonderstellung einnehme . D a s Leitmotiv seines Schaffens sei der H a ß gegen die K u l tur, im Gegensatz zu Tolstoi, bei dem es die Liebe sei. G o r k i beherrsche z w a r die Sprache des Gesindels in meisterhafter Weise, und seine Darstellungskraft, die Sicherheit der Schilderung sei bezwingend, aber sie glaube nicht, daß ihm eine bleibende W i r k u n g beschieden sein wird. H o f f m a n n verkennt die humanistische H a l t u n g des Autors und übersieht, daß es die sozialen Mißstände im Zarenreich waren, gegen die er seine Stimme erhob. D i e Verfasser der beiden Beiträge aus dem Jahre 1901, G e o r g P o l o n s k y und G e o r g A d a m , nehmen eine positivere Stellung gegenüber G o r k i ein, w i e w o h l bei A d a m ein N a c h h a l l der Ansichten H o f f m a n n s spürbar wird. P o l o n s k y , der hauptsächlich in München als Slawist und Soziologe tätig w a r , bringt Biographisches und betont den Erlebnisgehalt und die Wirklichkeitsfülle der Werke, er geht auf die Gestalten ein, nimmt einen neo-romantischen Z u g w a h r , lobt die dichterische Individualität des Autors und hebt hervor, daß er einen Menschen zu schöpfen erstrebe, der nicht nur »Bruchstück eines Menschen« sei. A u c h A d a m , der in Berlin als Ubersetzer vornehmlich slawischer Literatur agierte, preist die meisterhafte Darstellung, besonders die Schilderung seelischer Zustände, und unterstreicht, daß G o r k i s Gestaltungskraft auf reicher Lebenserfahrung und eingehender Kenntnis der niedrigsten V o l k s schichten gründet. Moniert wird der Mangel an Liebe; dies hindere G o r k i , ein großes W e r k zu schaffen. Seine neueren Arbeiten seien Beweis d a f ü r ; sie erreichten nicht die künstlerische H ö h e der V a g a bundengeschichten. Der Beitrag Leo Bergs (1902) geht über diese Vorstellungen einen Schritt hinaus. Berg w ü r d i g t G o r k i als Landschaftsdarsteller und Stimmungslyriker, hebt seine Vagabundengeschichten in positivem Sinne v o n der deutschen Vagabundenliteratur ab und beleuchtet die Vagabundengestalten in Gorkis Werk. XXIII

E r weist darauf hin, daß der K a m p f zwischen ihnen und den Besitzenden noch nicht zu Ende sei, und er erkennt das Revolutionäre in Gorkis Schaffen. Die vorliegenden Beiträge spiegeln nur die erste Etappe der A u f nahme Gorkis in Deutschland. Sehr bald erschienen dort seine Dramen, von denen das »Nachtasyl« einen unerwartet starken Widerhall fand. Die Berliner Aufführung dieses Stückes (23. 1. 1903) war der A u f t a k t zu Gorkis Weltruhm. Allerdings bahnte sich in Deutschland bald eine Wende an. 1905 wurde man gewahr, daß sich Gorki f ü r die Revolution entschieden einsetzte, daß er Belange vertrat, die den Interessen des Großteils der deutschen Bourgeoisie und des sie tragenden Staates zuwiderstanden. Ein durch Zurückhaltung gekennzeichneter Wandel in der Einschätzung Gorkis vollzog sich, und die Rezeptionsintensität wurde merklich reduziert: »Die Wandlung der Einschätzung Maksim Gorkijs durch breite Teile der bürgerlichen Presse äußerte sich nicht nur im Hinblick auf den Inhalt, sondern auch auf den U m f a n g der Rezeptionsliteratur. Die in den Jahren von 1906 bis 1 9 1 6 erschienenen Werke von und über Gorkij bilden nur einen Bruchteil der Literatur aus den vorausgegangenen Jahren«. 1 8

III Bei der Auswahl der Texte wurde auf die Erstausgaben zurückgegriffen. Wie aus dem Quellenverzeichnis ersichtlich ist, handelt es sich um Aufsätze, die in verschiedenen Zeitschriften bzw. den »Deutschen Litterarischen Volksheften« erschienen sind. Die Texte werden ohne Kürzungen dargeboten, lediglich einige Fußnoten redaktioneller Art sowie Preisangaben sind ausgeschieden worden. Die Textgestalt wurde behutsam modernisiert; die Orthographie ist der heutigen angeglichen, bisweilen auch die Zeichensetzung. Im wesentlichen erstreckt sich die Modernisierung auf die Beseitigung zeitbedingter sprachlicher Eigenheiten, vor allem in Buchstabenverbindungen (wie in v o l k s t ü m l i c h , B a r g e l d , Toc/ischlag, Ergebni/?, giebt usw.) und bezüglich Groß-, Klein-, Zusammenund Getrenntschreibung. Offensichtliche Druckfehler wurden kor18

»Maxim G o r k i in Deutschland. Bibliographie 1899 bis 1965«, zusgest. von E. C z i k o w s k y , I. Idzikowski u. G . Schwarz, Berlin 1968, S. 1 2 .

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rigiert. Vom Herausgeber hinzugefügte Hinweise sind durch eckige Klammern gekennzeichnet. Eigennamen sind überprüft worden (hier lagen eklatante Fälle von Verderbnis vor), und ihre Schreibweise ist weitgehend vereinheitlicht, wobei die populäre Umschrift bzw. die im deutschen Sprachraum herkömmliche Fassung verwendet wurde. Einige biographische Angaben über die in den Texten erwähnten russischen Schriftsteller dienen der schnellen Orientierung. Zur besseren Einsichtnahme in das Rezeptionsgeschehen der damaligen Zeit und zur weiteren Arbeit an diesem Fragenkomplex ist auch ein weiterführendes Literaturverzeichnis beigegeben. Es besteht aus Sekundärliteratur und anderen wichtigen Schriften, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts und um die Jahrhundertwende erschienen und f ü r unser Thema relevant sind. Die Materialfülle ergab eine Einteilung in zwei große Abschnitte: a) Literatur von ca. 1880 bis gegen Ende des ersten Dezenniums des 20. Jahrhunderts, b) Literatur von 1 9 1 0 bis zur Jetztzeit. Der erste Abschnitt wurde der Übersichtlichkeit halber weiter unterteilt, und zwar nach Dezennien. Ein Personenregister beschließt den Band. Es umfaßt sowohl die Texte als auch die einleitenden Ausführungen, Literaturverzeichnisse und biographischen Angaben. Der Herausgeber dankt den Inhabern der Nutzungsrechte für die freundliche Genehmigung des Abdrucks.

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Quellenverzeichnis

Georg Adam, Gorki in Deutschland, in: LE, 4(1901), H. 4, Sp. 239-242. W. Berdrow, Der Tolstoische Zirkel, in: Ges., 9(1893), 2. Qtl., S. 755764. Leo Berg, Tolstois Kreutzersonate, in: Moderne Dichtung, Bd. II, 1890, H. 3, S. 579-580. - , Maxim Gorki, in: WM, 1902, Nr. 547, S. 46-50. Georg Brandes, Dostojewski, in: Deutsche Litterarische Volkshefte Nr. 3 (hrsg. von Leo Berg), übers, von Paul Herrmann, Berlin: Brachvogel & Ranft 1889. Michael Georg Conrad, Vom Büchertisch [Dostojewskis »Raskolnikow«], in: Ges., 3(1887), 1. Sem., S. 397-398. Hermann Conradi, F. M. Dostojewski, in: Ges., 5(1889), 2. Qtl., S. 52053°Alexis Freiherr von Engelhardt, Der russische Maupassant (Anton Tschechow), in: LE, 1(1898), H. 3, Sp. 150-153. Paul Ernst, Leo Tolstoi und der slawische Roman, in: Deutsche Litterarische Volkshefte Nr. 1 (hrsg. von Leo Berg), Berlin: Brachvogel & Ranft 1889. Ola Hansson, Die Kreutzersonate von Tolstoi, in: FB, 1(1890), S. 447449Wilhelm Henckel, Feodor Michailowitsch Dostojewski, in: Mag., 1882, Nr. 6, S. 76-80. Marie Herzfeld, Tolstois Kreutzersonate und die moderne Mönchsmoral, in: Ges., 6(1890), 4. Qtl., S. 1502-1508. Eduard Höber, Tschechow als Dramatiker, in: LE, 4(1902), H. 20, Sp. 1395-1397Nina Hoffmann, Maxim Gorki, in: Zk., 29(1899), S. 338-343. Hans Olden, Tolstoi und sein Berliner Publikum, in: FB, 1(1890), S- 14-15Georg Polonsky, Ein Dichter des Proletariats, in: LE, 3(1901), H. 7, Sp. 449-454. G. Rollard, Dostojewskis Roman »Raskolnikow«, in: Mag., 1882, Nr. 21, S. 291-292. Paul Schienther, Freie Bühne: Die Macht der Finsternis, in: FB, 1(1890), S. 1 2 - 1 4 .

XXVI

DOSTOJEWSKI-PHASE

WILHELM HENCKEL

Feodor Michailowitsch Dostojewski Einen Monat vor der großen Katastrophe vom 1 . / 1 3 . März 1881 wurde in St. Petersburg ein Mann zu Grabe getragen, dessen Name in der russischen Literatur zu den gefeiertsten gehört, obschon derselbe außerhalb seines Vaterlandes kaum genannt wurde. Feodor Michailowitsch Dostojewski, der am 28. Januar 1881 a. St. 1 fast sechzig Jahre alt starb, war aber eine von den Persönlichkeiten, welche in den weitesten Kreisen gekannt zu werden verdienen, und ich will deshalb versuchen, seine Person dem Leser näher zu rücken. Eine einigermaßen befriedigende Lebensbeschreibung Dostojewskis ist bis jetzt noch nicht erschienen, wir sind daher darauf angewiesen, uns mit den spärlichen Notizen über seinen Lebenslauf und seine literarische Tätigkeit zu begnügen, welche nach seinem Tode in den verschiedenen russischen Zeitschriften erschienen. Professor Orest Müller in S t . Petersburg ist gegenwärtig mit der Abfassung seiner Biographie beschäftigt, und da er sich im Besitze des nötigen Materials mit Einschluß des gesamten literarischen Nachlasses Dostojewskis befindet, so ist zu erwarten, daß eine ausführliche und gewissenhafte Arbeit der sympathischen Persönlichkeit des talentvollen Schriftstellers und edlen Menschen ein würdiges Denkmal setzen wird. Der Tod und die Beerdigung Dostojewskis gestaltete sich zu einem bedeutungsvollen Ereignis. Wäre nicht so schnell darauf die grauenvolle Ermordung Kaiser Alexanders erfolgt, die alles Vorhergegangene tief in den Schatten stellte, so wäre vielleicht der Tod eines der vorzüglichsten und eigenartigsten russischen Schriftsteller auch außerhalb der Grenzen seines Landes mehr besprochen worden. Eine auf vierzigtausend K ö p f e taxierte Menschenmenge folgte seinem Sarge, eine Unmasse von Kränzen bedeckte sein Grab, und tief empfundene Worte wurden unter Tränen und Schluchzen der Leidtragenden gehört, die fast die ganze Intelligenz Petersburgs repräsentierten. Das Wunderbarste bei dieser Leichen1

[Die Abkürzung a. St. (alten Stils) bezieht sich auf den in Rußland bis Februar 1 9 1 8 gültigen Julianischen Kalender. Der Unterschied z w i schen diesem und dem in anderen Teilen Europas gültigen Gregorianischen Kalender betrug im 20. Jahrhundert 13 Tage.]

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feier war aber wohl die Tatsache, daß noch nie zuvor einem einfachen Bürger ein so lebhaftes Mitgefühl von Hoch und Niedrig, vom Erzbischof bis zur jüdischen Studentin, vom liberalen Zeitungsredakteur bis zum obskuren Skribenten, vom Minister des Unterrichts bis zum Gymnasiasten, zuteil geworden war. Wenn man dabei in Betracht zieht, daß Dostojewski ein tief religiös angelegter Charakter, ein den Kaiser und die Regierung hochhaltender und die Familienbande heilig achtender Bürger war, wie sich das aus allen seinen Schriften nachweisen läßt, so wird man es kaum begreiflich finden, daß die studierende Jugend, dieser H e r d des Radikalismus, der nihilistischen und anarchischen Ideen, in solchem Grade ihr Mitgefühl an dem Tode Dostojewskis kundtat, wie es der Fall war. Denn er war durchaus kein Freund der Liberalen, er haßte die Materialisten, er war ein Mensch, der sich gerade dadurch besonders auszeichnete, daß er Eigenschaften besaß, welche durchaus denen entgegengesetzt sind, die man vorzugsweise der russischen Jugend zuschreibt. Nie hat er nach Popularität bei dieser turbulenten, zu allen Extremen geneigten Jugend gehascht, im Gegenteil, er hatte f ü r sie häufig genug die bittersten Worte. Trotz alledem aber besaß niemand von den lebenden russischen Schriftstellern - Turgenjew vielleicht ausgenommen - die Sympathien der russischen Gesellschaft so wie Dostojewski. Ein Ausdruck dieser Sympathie findet sich auch in dem Briefe, der, im Namen der russischen studierenden Jugend, seiner Witwe nach der Totenfeier überreicht wurde: »Nie werden wir die Ideale Dostojewskis vergessen, von Generation zu Generation werden wir dieselben wie ein teures Vermächtnis unseres großen, geliebten Lehrers vererben.« »Sein Andenken wird in den Herzen der russischen Jugend nie erlöschen, wir werden auch unsere Kinder lehren, den zu achten und zu lieben, den wir jetzt so bitter und trostlos beklagen.« »Dostojewski wird uns immer voranleuchten in unseren Lebenskämpfen, wir werden immer eingedenk sein, daß er es war, der uns die Möglichkeit lehrte, die Reinheit der Seele in jeder Lebenslage und unter allen Umständen unberührt zu erhalten.« Was war es also eigentlich, wodurch Dostojewski diese alles negierende, revolutionäre, kommunistische und materialistische Jugend an sich fesselte? Es war die außergewöhnliche Innigkeit, die heiße, grenzenlose Liebe zu seinem Volke und der mächtige, fanatische Glaube an dessen K r a f t und Zukunft. An dieser innigen Liebe Dostojewskis 3

hat nie jemand gezweifelt, und wenn man ihm auch den Vorwurf machte, daß er in seinen Werken nie eine eigene typische Figur aus dem Volksleben geschaffen habe, so hat er d a f ü r doch etwas Größeres, das >Tagebuch eines Schriftstellers« verfaßt, welches in jeder Zeile Liebe zum Volke und Glauben an dasselbe atmet. Man kann leicht in bezug auf manche Einzelheiten mit ihm nicht einverstanden sein, die allgemeine Stimmung aber, in welche das »Tagebuch« jeden Leser versetzt, überwältigt mit ihrer sympathischen Tendenz auch den Widerstrebendsten. Wer da weiß, wie groß die K l u f t ist, welche das »gemeine« Volk in Rußland von den intelligenteren Klassen trennt, der wird* es begreifen, was es heißt, ein ganzes Leben unverdrossen an der Ausfüllung dieser K l u f t zu arbeiten. »Vertrauen müssen und sollen wir unserem Volke entgegenbringen«, r u f t er, »wir dürfen ihm vertrauen, denn es ist dieses Vertrauens würdig.« »Ich wünschte nur die unparteiische Anerkennung zu erringen, daß ich vor allen Dingen für das Volk bin, daß ich an die Volksseele glaube, an die große Macht und K r a f t unseres Volkes, die noch niemand in seinem ganzen Umfange und in seiner ganzen Größe kennt, d a ß ich daran glaube wie an ein Heiligtum, an ihre erlösende Zukunft, an ihren mächtigen, erhaltenden und aufbauenden Geist, und daß ich nur nach dem Einen trachte, diese Einsicht allen, allen einzuflößen. Sobald nur erst diese Einsicht durchgedrungen sein wird, wird Klarheit sich auch über alles andere verbreiten.« Dieser innige Glaube, diese heiße Liebe zum Volke waren es, welche Dostojewski mit der Jugend verband, dies und die gemeinsame H o f f n u n g auf eine hellere Z u k u n f t für das bisher noch immer verachtete und zurückgesetzte Volk waren es, was diese Jugend so hoch über alle trennenden Tendenzen stellte. Die den Sarg Dostojewskis zur letzten Ruhestätte begleitende Jugend r u f t damit jenen, in deren Händen das Schicksal des russischen Volkes ruht, im Namen der gesamten russischen Intelligenz gleichsam zu: mögen euer Glaubensbekenntnis, mögen eure Überzeugungen sein, welche sie wollen, mag eure Lehre sich von unseren Idealen noch so sehr unterscheiden, seid nur wenigstens aufrichtig und ehrlich, glaubt an euer Volk, gönnt ihm den Platz, der ihm gebührt - und ihr seid unserer Achtung und Liebe sicher. Dostojewski strebte stets nach idealen Zielen, und sein höchstes Ideal war die Humanität. Ihr diente er mit der größten Hingabe; von diesem ideal-humanen Gefühle sind alle seine Werke durch4

drungen. Schon seine 1845 erschienene erste Novelle »Arme Leute«, welche Petersburger Elend schildert, erweckt im Leser das wärmste Mitgefühl für die von ihm geschilderten Personen, er nötigt ihm förmlich seine Teilnahme für die Unglücklichen auf. Es ist ihm weniger um die Schilderung der realen Wirklichkeit an und für sich, als um die Verkörperung jenes innigen, menschlichen Gefühls in derselben zu tun, welches in seinem eigenen Herzen glühte. Hatte er ja doch selbst so viel gelitten - vier Jahre lang als Zuchthäusler in Sibirien und darauf mehrere Jahre hindurch als gemeiner Soldat, zu einer Zeit, wo im russischen Heere der Abschaum aus allen Schichten der Gesellschaft zusammenfloß, selbstverständlich unter einer entsprechenden Disziplin. Er hatte also Gelegenheit genug, in die gebrochene, erschöpfte und verbrecherische Seele der Leidenden und Unglücklichen, als Mitleidender, Einblick zu gewinnen; er hatte gelernt, selbst unter der anscheinend vertierten, verknöcherten und gefühllosen Hülle einen Rest vom Ewig-Menschlichen und Edlen, welches auch im tiefsten Abgrunde der Verworfenheit dem Menschen nicht gänzlich abhanden kommt, zu finden. Nach seiner Rückkehr aus der Verbannung - in die ihn die politischen Bestrebungen gebracht hatten, welche infolge der revolutionären Bewegung Europas am Ende der vierziger Jahre in Rußland aufgetaucht waren und welche in der Verschwörung von Petraschewski und Genossen gipfelten - erschienen seine »Aufzeichnungen aus dem Hause der Toten«, in welchen er mit realistischen Pinselstrichen und düsteren Farben zum ersten Male die Welt der aus der Gesellschaft Verstoßenen schilderte und darauf hinwies, daß diese, von der herrschenden Gewalt oder Justiz Verfemten, immerhin noch Menschen seien und ein menschlicheres Los verdient hätten. Eine ähnliche Tendenz verfolgte sein Roman »Die Gekränkten und Gedemütigten«. Darauf erschien seine berühmteste Dichtung »Verbrechen und Strafe«,2 in welcher sich alle Seiten seines eigenartigen Talentes entwickelt finden. Die psychologische Analyse einer durch ein Verbrechen besudelten Seele ist noch nie dem Leser in so düsteren, ergreifenden Schilderungen vorgeführt worden. In diesem Romane zeigt sich Dostojewski als ein unvergleichlicher Meister der pathologischen Psychologie, der gleichsam eine neue Welt von Gemütsbewegungen und Empfindungen der 2

Eine deutsche Übersetzung unter dem Titel »Raskolnikow« befindet sich unter der Presse. 5

Seele entdeckt hat. Diese Schilderung der Qualen einer von Schuld beladenen Seele, bei deren Lektüre sich ein Alp auf die Brust des Lesers legt, und diese wunderbare psychologische Wahrheit, mit der der Verfasser die zur Reue führende Gewalt der reinen Liebe zeichnet, sind wohl kaum irgendwo mit gleicher Vollendung erreicht worden. Weniger gelungen sind seine Romane »Der Blödsinnige», »Die Dämonen* und »Der Heranwachsende*. Im zweiten dieser Werke beabsichtigte er diejenige Bewegung in der russischen Gesellschaft zu'schildern, deren Anfang von der Thronbesteigung Alexanders II. und von der Emanzipation der Leibeigenen her datierte; es gelang ihm dies aber ebensowenig wie seinem Zeitgenossen Pisemski, der in dem Romane »Das aufgewühlte Meer« sich den gleichen Vorwurf gewählt hatte. Dostojewski hatte überhaupt nie rechtes Glück mit Schilderungen der Wirklichkeit schlechthin; nur dann war sie ihm ein dankbares Thema, wenn er zugleich Gelegenheit hatte, sein angeborenes Humanitätsgefühl und sein psychologisches Talent dabei zu entfalten. Sein Idealismus und sein ewiges Suchen nach Wahrheit und Gerechtigkeit grenzten zuweilen fast an Mystizismus. Dies zeigt besonders sein letzter Roman »Die Brüder Karamasow«, in welchem die Verkörperung seiner Ideale - Sosim und Aljoscha - weder den Verstand noch das Gefühl befriedigen. Dafür aber zeigt er sich in dem Teile des Romans, welcher das düstere Drama, dessen Mittelpunkt der alte Karamasow und sein Sohn bilden, wieder als der unerreichte Künstler. Man trifft in diesem Romane sogar eigentümliche, gelungene realistische Züge, die sonst nicht gerade Dostojewskis starke Seite bilden, die aber hier, durch sein psychologisches Hellsehen vermittelt, reliefartig hervortreten. Wenn auch der bei ihm vorzugsweise prävalierende Zug eine außergewöhnliche Begabung für psychologische Beobachtung ist in diesem Bereiche hat er keinen Rivalen - , so legen wir doch bei seinem Schaffen den Hauptwert auf das tiefe, innige Gefühl für Humanität, welche entschiedener und kräftiger kaum bei irgendeinem seiner Berufsgenossen zur Geltung gekommen ist. Im Gegensatz zu dem oben erwähnten, fast zu gleicher Zeit mit ihm gestorbenen und früher weit mehr als Dostojewski genannten A. F. Pisemski, dessen Ruhm in den letzten zwanzig Jahren mehr und mehr erblich, stieg die Bedeutung Dostojewskis von Jahr zu Jahr. Man kann wirklich von ihm sagen, daß er im vollen Glänze seines seltenen Talentes erlosch. Die Ovationen, welche ihm 1880 6

aus Anlaß der Enthüllung des Puschkin-Denkmals gebracht wurden, zeugen davon, daß er nicht nur als Literat, sondern namentlich auch als edler Charakter sich die Zuneigung des Publikums in vollem Maße errungen hatte. Als am 29. Januar 1881 in Petersburg ein Puschkin-Abend gefeiert werden sollte, an dem Dostojewski nach langem Zureden endlich versprochen hatte, Puschkins »Prophet« vorzutragen, w a r man genötigt, außer Puschkins auch.noch Dostojewskis Gedächtnis zu feiern. Professor Orest Müller hatte es übernommen, einige seinem Andenken gewidmete Worte zu sprechen. Er erzählte, wie schwer es ihm geworden, den empfindlichen Dichter zur aktiven Teilnahme an dieser Feier zu bewegen. Besonders seit den Moskauer Ovationen, die von manchen Seiten dazu benutzt worden waren, ihm den Vorwurf zu machen, daß er es liebe, öffentlich gefeiert zu werden, vermied es Dostjewski, sich an derartigen Festen zu beteiligen. Der wohltätige Zweck und seine Liebe zu Puschkin vermochten es endlich, seine Abneigung zu überwinden. Nächst seiner Liebe f ü r das russische Volk liebte Dostojewski nämlich Puschkin am meisten, »übermäßig«, wie manche zu sagen pflegten, und das war, nach der Meinung dieser »Gemäßigten«, unpassend, denn auch Puschkin steht ja in den Augen dieser Partei als politisch anrüchig da. Dostojewski hatte in Moskau wie kein anderer vor ihm und nach ihm gesprochen; seine ganze Seele lag in seinen Worten, es kam ihm nicht in den Sinn, darüber nachzudenken, was wohl die Welt dazu sagen würde. Das überquellende Gefühl gab seinen Worten zuweilen das Gepräge einer Redeweise, die an die Propheten des alten Testaments erinnerte. Eine solche Rede konnte natürlich nicht verfehlen, alle mit sich fortzureißen - sogar seine Gegner waren entzückt und ein beispielloser .Enthusiasmus folgte seinem Vortrage. N u r die »wohlgesinnten Beschützer der geistigen Mediokrität«, die Prediger der »goldenen Mittelstraße«, denen alles, was sich über das Niveau der Mittelmäßigkeit erhebt, ein Greuel ist, vermochten es nachträglich, an seine heißen, hochaufwallenden Worte den Maßstab des kalten Verstandes zu legen und mit dem stumpfen Messer des Skeptizismus einen jeden Satz seiner Rede zu zerlegen, um - unter dem V o r w a n d der höchsten Wohlgesinntheit - die Jugend vor ihm zu warnen, »damit er sie nicht zum Mystizismus verführe«. Wie mußte der Ubergang von einer A r t Vergötterung bis zum Herunterstürzen von dem Piedestal, auf das man ihn eben erst gehoben, auf diesen Menschen wirken, der 7

zwar in den Kämpfen des Lebens seine Seele gestählt hatte, dessen Seele aber sich in einem »irdenen Gefäße« befand, welches vor langer Zeit schon einen Riß erhalten hatte - wir wissen ja alle wann und weshalb. Die Wirkung auf den sensiblen Dichter ist unschwer zu erraten; er äußerte, daß er zuweilen das Gefühl gehabt, als ob er bei einem Verbrechen ertappt worden sei. »Seit gestern aber«, so schloß der Vortragende seine Rede, »hat für Dostojewski die Nachwelt begonnen; sie wird gerecht gegen ihn sein, sie wird sein unsterbliches Bild auf die gleiche Höhe erheben, auf der bei uns Puschkin, Gogol und nur noch wenige andere stehen.« In Dostojewski loderte ein wahrer religiöser Enthusiasmus, er war ein Prophet in seinem Lande. »Mit seinem Worte durchglühte er die Herzen der Menschen« - wie Puschkin sich ausdrückte. Es gab Gelegenheit genug, seine Meinungen und Ansichten zu bekämpfen - aber achten und lieben mußte man ihn trotzdem. Er war sehr fleißig. Trotz seiner vorgerückten Jahre und der qualvollen Anfälle, die ihn jährlich mehrmals auf das Krankenlager warfen und ihm die K r ä f t e raubten, schrieb keiner von den neueren Belletristen Rußlands soviel wie er. Das »Tagebuch eines Schriftstellers«, eine Zeitschrift, wurde ausschließlich und allein von ihm geschrieben. Freilich übte diese Tätigkeit einen schlechten Einfluß auf seine Gesundheit aus und er war öfters genötigt, sein originelles Journal zu unterbrechen; sobald aber seine K r ä f t e es einigermaßen zuließen, setzte er dasselbe wieder fort. Der Chef der Oberpreßverwaltung, Herr Abasa, war Dostojewski besonders zugetan; er las selbst dessen Korrekturbogen, als der Dichter sich über seinen Zensor beklagte und um Zuteilung eines andern bat. Den Vorschlag, seine Zeitschrift ohne PräventivZensur, auf eigene Verantwortung drucken zu lassen, wollte er nicht akzeptieren. Bei diesem Anlaß will ich noch bemerken, daß nach dem Tode Dostojewskis H e r r Abasa der Witwe ein Schreiben des Finanzministers überreichte, in welchem derselbe ihr mitteilt, daß Seine Majestät der Kaiser, in Anbetracht der literarischen Verdienste des Verstorbenen, ihr eine jährliche Pension von zweitausend Rubel bewilligt habe. Am z. Februar 1881 hielt einer der ersten Kriminalisten Rußlands, Bezirksgerichtspräsident A. Koni, in der Generalversammlung der Juristengesellschaft der Petersburger Universität einen Vortrag, der ausschließlich »Dostojewski als Kriminalisten« gewidmet war. Schon die Tatsache ist bemerkenswert, daß ein Schrift8

steller, ein Laie, der nicht der Fakultät angehört hatte, den Vorwurf zu einem Vortrage in einer Versammlung von Fachleuten geben konnte. Der Redner betonte vorzugsweise die außerordentliche, genaue Kenntnis der menschlichen N a t u r , das tiefe Eindringen in die geheimsten Falten des Herzens, das Verfolgen des allmählichen Entstehens und der sukzessiven Entwicklung des verbrecherischen Gedankens, welche Dostojewski in seinen Werken auszeichnet, und zeigte an der H a n d der Typen, die jener geschaffen, wieviel der Kriminalist von dem Schriftsteller lernen könne. W i r dürfen uns hier leider nicht in das höchst interessante Detail dieser bemerkenswerten Rede einlassen und müssen uns begnügen, zur Charakteristik des Menschen und Schriftstellers nur weniges aus derselben anzuführen. »Er w a r der beständige Beschützer, der stete Verteidiger der Schwachen und Unmündigen. Deshalb gehörte auch sein ganzes Herz, mit allen den Tränen, die darin verborgen waren, den Kindern. Auf jeder Seite seiner Schriften ertönt der Ruf, der Kinderseele ein aufmerksames, liebevolles Studium zu widmen, dieser Seele, welche so frühzeitig schon mit dem herben Realismus des Lebens in Berührung kommt. Dieser Zug, den er mit Dickens gemein hat, w i r f t ein eigenes Licht auf alle seine Schriften. Nur ein w a h r e r Künstler mit zärtlich liebender und mitfühlender Seele konnte so einfach, so w a h r und so aus dem Herzen erzählen, wie die bittere Wirklichkeit des Lebens sich des Kindes bemächtigte, wie es entrüstet ist, wie es leidet und wie sein H e r z bei jeder Ungerechtigkeit und H ä r t e blutet. J a , er liebte die Kinder unendlich und tat alles, w a s in seinen Kräften stand, in Wort und Tat, um sie vor Vergewaltigung und bösem Beispiel zu schützen. M a n muß ihn, wie ich, - spricht der Redner - gesehen haben in der Kolonie für jugendliche Verbrecher und in den Räumen des litauischen Gefängnisses, seine kunstlosen, einfachen Worte gehört haben, es w a r kein einziger Mißton darin. Er kannte sie und sie glaubten an ihn, k a men mit Liebe ihm entgegen, horchten auf ihn mit ernster und inniger Aufmerksamkeit und ihre Bitten, >noch mehr zu erzählen< oder >wiederzukommen< mußte man gehört haben, um verstehen zu können, welche innerliche V e r w a n d t s c h a f t seine vielliebende Seele mit der Seele dieser Kleinen hatte.« »Die Verteidigung des verletzten, niedergetretenen Rechts w a r sein schönster Beruf, ihm stand die Persönlichkeit und die W ü r d e des Menschen, auch des allerniedrigsten und verachtetsten, am 9

höchsten. Er hat sein ganzes Leben hindurch die Gerechtigkeit gesucht und ihr hat er aufs eifrigste gedient. Durch all sein Tun zieht sich, wie ein mit Tränen befeuchteter Faden, die Forderung nach Barmherzigkeit und Nachsicht, nach Verständnis für die Gefallenen und Unglücklichen. Aus den schweren Jahren seiner Verbannung in Sibirien hat er ein liebendes und verzeihendes H e r z mit heimgebracht und das von ihm ausstrahlende Licht erleuchtete manche dunkle Abgründe.« Dostojewski ließ seine Romane, im Gegensatz zu den meisten Schriftstellern, die eine mehr oder minder sorgfältige Überarbeitung ihrer Werke für notwendig halten, so drucken, wie sie ihm aus der Feder geflossen waren. Darin liegt sowohl ihre starke wie auch ihre schwache Seite: die schwache - der Mangel an künstlerischer Vollendung, die starke - eine frische Unmittelbarkeit, welche alle seine Schöpfungen auszeichnet und durchdringt. Dieselbe Eigenschaft zeichnete auch seine Persönlichkeit aus. Man nannte ihn häufig taktlos und schroff; er brachte sich und andere öfters in eine äußerst unangenehme L a g e ; es waren aber nicht etwa Eigenliebe, Kleinlichkeit oder A r r o g a n z die Ursachen, sondern bloß eine zu große Aufrichtigkeit und Rücksichtslosigkeit den gesellschaftlichen Formen gegenüber. Solche Szenen machten häufig einen üblen Eindruck, aber wer Dostojewski seiner Vorzüge halber schätzte, der legte nur sehr wenig Wert auf diese Fehler. Nicht nur wurden sie durch die sympathischen Seiten seines Charakters vollständig aufgewogen, sie waren sogar von ihm nicht gut zu trennen. Wer Kinder liebt, die Reinheit ihrer N a t u r schätzt, der wird sich auch nicht verletzt fühlen, wenn ein K i n d in seiner Unschuld ihm zuweilen Unangenehmes sagt; und Dostojewski war in seiner aufrichtigen Art ein wahres K i n d ; er konnte von sich sagen: ich bin der, der ich scheine. Er hat sich ein unvergängliches Denkmal in den Herzen seiner Landsleute errichtet, indem er »Barmherzigkeit für die Gefallenen« verlangte. Wenn ich Barmherzigkeit sage, wähle ich eigentlich das unrechte W o r t , . . . Gefallene gab es überhaupt für ihn nicht, er kannte nur »Unglückliche«, in dem Sinne, wie dies Wort v o m russischen Volke gebraucht wird. 3 In dieser Beziehung ist er durch 3

Alle G e f a n g e n e n , überhaupt alle in den H ä n d e n der O b r i g k e i t sich befindenden Übeltäter werden v o m russischen Volke allgemein » U n glückliche« genannt. 10

und durch ein russischer Volksschriftsteller, gleichzeitig aber auch ein Weltschriftsteller. Ein Werk wie » D a s H a u s der Toten« hat keine andere Literatur aufzuweisen. Der unermüdliche Anwalt der Armen und Elenden kümmerte sich wenig um die hergebrachte Art und Weise der Heilung dieses Geschwürs der menschlichen Gesellschaft; er sah Armut und Elend, trotz der seit Jahrhunderten angewandten Mittel, noch in der ganzen Welt fortwuchern. Was den meisten sehr radikal schien, war in seinen Augen nur ein erbärmliches Palliativmittelchen. Er wollte in jedem einzelnen von uns die angeborene Trägheit der Seele bekämpfen und die in uns wohnende K r a f t erwecken, um uns zu veranlassen, den Worten des Erlösers zu folgen, der da spricht: K o m m e t her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken! Die Liebe, die allumfassende, siebenmal siebzigfach verzeihende Liebe ist sein einziges, untrügliches Universalmittel für die moralischen Schäden der Welt. G . ROLLARD

Dostojewskis Roman »Raskolnikow« Die russische Belletristik verfolgt seit Gogol und unter dem Einfluß Belinskis eine entschieden praktisch-realistische Richtung; alles, was in den letzten Jahrzehnten sich Achtung und Anerkennung verschaffen wollte, war gezwungen, vorzugsweise die Zustände der Gegenwart und Heimat zu behandeln. Der R o m a n , welcher Vergangenheit und fremden Boden kultivierte, spielte, seitdem Sagoskin, R . Sotow, Lashetschnikow und Kukolnik als abgetan betrachtet wurden, eine nur noch untergeordnete Rolle. Außer dem in der ganzen gebildeten Welt bekannten und gefeierten Turgenjew, der in seinen Schöpfungen das Ideale noch am wenigsten vernachlässigte, kultivierten diese realistische Richtung in hervorragender Weise Dostojewski, Gontscharow, Pisemski, Awdejew und Grigorowitsch, alle mit einem mehr oder weniger demokratischen Zug in ihrem Schaffen. Dagegen widmeten sich in neuerer Zeit Danilewski, G r a f Saljas und G r a f Tolstoi dem historischen Genre, waren aber nicht imstande, trotz ihres ausgesprochenen und teilweise sogar hervorragenden Talents, diejenige Anerkennung und Popularität zu erringen, welche den Erstgenannten in so reichlichem Maße zuteil ward. D i e Zeitschriften Sowremennik, Oteschestwennyje Sa11

piski, Djelo, mit den tonangebenden Kritikern Belinski, Dobroljubow, Pisarew und andern, beherrschten und beherrschen unter der Leitung jüngerer K r ä f t e teilweise noch bis heute die öffentliche Meinung, und unter ihrem Einfluß darf es diejenige Kunst, welche ihre eigenen, idealen Ziele verfolgt, kaum noch wagen, eine Existenzberechtigung zu beanspruchen, - sie wird als überflüssig, ja sogar als schädlich behandelt, wenn sie sich weigert, in den Dienst der Tendenz zu treten. Für den deutschen Leser braucht es wohl nicht betont zu werden, daß dieser Standpunkt sehr einseitig ist, obschon seine teilweise Berechtigung, besonders im heutigen Rußland, nicht in Abrede gestellt werden kann. Alle obengenannten Sittenschilderer haben das Verdienst, ihren Landsleuten ein Spiegelbild vorgehalten zu haben, in welchem Zustände, Personen und Tendenzen ihr naturgetreues Konterfei erblickten. Daß in diesen Schilderungen das düstere K o lorit vorherrscht, kann ihren Urhebern nicht zur Last gelegt werden, - wenn sie wahr sein wollten, so durften sie keine heiteren Farben wählen. Dagegen wird es kaum in Abrede zu stellen sein, daß in vielen Produkten dieser Richtung sich auch Keime vorfinden, aus denen sich nach und nach eine Weltanschauung entwickelte, die zu den extremen Theorien führte, welche im heutigen Rußland eine so verhängnisvolle Rolle spielen, obschon natürlich keiner von den genannten Schriftstellern zugeben wird, daß er dieses Ziel mit Bewußtsein im Auge gehabt habe. Nächst Turgenjew w a r es nun unstreitig Dostojewski, welcher der treueste Darsteller seiner Zeitgenossen und der gegenwärtigen Zustände seines Vaterlandes w a r und der für psychologische A n a lyse und feine Beobachtung das meiste Talent besaß; den Beweis dafür liefert sein Roman »Raskolnikow«, der jetzt in deutscher Ubersetzung vorliegt. Dostojewskis Name ist den deutschen Lesern wohl nur aus dem in dieser Zeitschrift veröffentlichten Aufsatz (1882, N o . 6) bekannt. Jetzt sind wir imstande, uns auch ein unmittelbares Urteil über die Bedeutung dieses eigenartigen Schriftstellers an der Hand dieses seines berühmtesten Romans zu bilden. Raskolnikow ist ein Student der Petersburger Universität, welcher seine Existenz durch Privatunterricht kümmerlich fristet. Seine Mutter ist Beamtenwitwe mit einer kleinen Pension, seine Schwester Gouvernante; letztere beide leben in einem Provinzialstädtchen und unterstützen den Sohn und Bruder aus ihren kärglichen Mitteln. 12

Raskolnikow, eine edel angelegte, zur Grübelei geneigte Natur, durch den Verlust seiner Existenzmittel in die äußerste N o t geraten, ist gezwungen, seine Studien zu unterbrechen, und faßt in schlaflosen Nächten den Gedanken, eine alte, ekelhafte Wucherin zu töten und zu berauben, um dadurch die Mittel zur Fortsetzung seiner Studien zu erlangen und Mutter und Schwester fernerhin nicht mehr zur Last zu fallen. Der innere Kampf, welcher dem Verbrechen vorausgeht, bildet den Anfang des Romans. Zufällige Umstände bestärken Raskolnikow in seiner Absicht; er t r i f f t seine Vorbereitungen, hält sich aber bis zum letzten Augenblick für unfähig, die geplante Tat auszuführen. Diese Tat ist freilich in seinen Augen kein Verbrechen, sein Verstand hat in ihm die Überzeugung befestigt, daß es durchaus berechtigt sei, eine schädliche Existenz, die ihren Reichtum nur zum Nachteil ihrer notleidenden Menschen ausnützt, zu vernichten, um mit den auf diese Weise erlangten Mitteln hundert- und tausendfach Gutes zu stiften. Die Tat kommt endlich doch zur Ausführung, aber sie wird in einem Zustande begangen, der nahe an Unzurechnungsfähigkeit streift - er läßt unter anderm, während er das Verbrechen ausführt, die Tür der Wohnung offenstehen und wird dadurch gezwungen, die Schwester der Getöteten, welche zufällig heimkehrt, auch zu erschlagen. Mit dem schnell zusammengerafften, übrigens keinen großen Wert repräsentierenden Raube entkommt er glücklich, verfällt aber infolge der Aufregung, der vorher erlittenen Entbehrungen und der mit knapper N o t entronnenen Gefahr in ein hitziges Fieber. Beim Beginn desselben hat er noch soviel Geistesklarheit, um den Raub in ein sicheres Versteck bringen zu können. Den ersten Verdacht gegen sich erweckt er im Polizeibüro, wohin er einer Geldforderung wegen zitiert worden war, dadurch, daß er bei Erwähnung der Mordtat ohnmächtig wird. Nach und nach häufen sich die Verdachtsgründe gegen ihn, und der Untersuchungsrichter, dem die Verfolgung des Verbrechens übertragen ist, gewinnt schließlich die moralische Überzeugung, daß Raskolnikow der Täter sei; er läßt ihn aber nicht festnehmen, sondern sucht ihn, auf seine eigentümliche, »psychologische« Weise, zum Geständnis zu zwingen. Raskolnikow schwankt schließlich zwischen Selbstmord und Selbstanklage und wählt endlich die letztere. Er wird zur Zwangsarbeit nach Sibirien verurteilt. Dies ist das Skelett des Romans, der hiernach freilich kaum geeignet scheint, ein tieferes Interesse zu erwecken. In keinem Falle 13

darf er es wagen, mit jenen Sensationsromanen zu wetteifern, in denen sich die Verbrechen und Schauerszenen gegenseitig abwechseln. Das Seelenleben eines durch falsche Theorien irregeleiteten, an und f ü r sich edlen, aufopferungsfähigen Menschen, der das Gute will und doch das Böse tut, ist mit einer Wahrheit geschildert, die alles Ähnliche, was wir bisher gelesen haben, weit hinter sich läßt. Es ist ein eminent psychologischer Roman, der, wenigstens in der deutschen Literatur, wohl kaum seinesgleichen hat. Von den übrigen Figuren erwähnen wir nur kurz: den Säufer Marmeladow, den Wollüstling und Selbstmörder Swidrigailow, die edle Dunja, die sympathische, aufopferungsvolle Sonja, die halbverrückte, bejammernswerte Katerina Iwanowna, den prächtigen, gelungenen Rasumichin, Porphyrius, den feinen Psychologen und Untersuchungsrichter, die gute, schwache Mutter, alle sind meisterhaft gezeichnet, sind echte, typische, aus dem Leben herausgegriffene, spezifisch russische Naturen; jede ist an ihrem Platze und so vollständig charakterisiert, daß sie eine Porträt-Ähnlichkeit verraten. Wenn wir nun auch in erster Linie Gewicht auf die psychologische Seite dieses Romans legen, so dürfen wir doch durchaus nicht seine sehr bedeutende kulturelle Seite vergessen. Wir möchten fast behaupten, daß ein eingehendes Studium desselben vielleicht mehr geeignet wäre, Licht über die außerhalb Rußlands noch vielfach herrschende Unkenntnis russischer Zustände zu verbreiten, als manche abstrakte, wissenschaftliche und politische Abhandlung, die den nichtrussischen Leser doch nicht so ganz in eine Sphäre zu versetzen mag, welche in vieler Beziehung den Zuständen des übrigen Europas so unähnlich ist. Sich mitten in Rußland hineinversetzen, russisches Denken und Handeln verstehen und würdigen lernen, kann man außerhalb Rußlands nur aus russischen Schriftstellern wie Dostojewski; nur sie sind imstande, dem mit der eigenartigen Kultur Rußlands unbekannten Leser einen Begriff davon zu geben, was f ü r Motive, Anschauungen und Geistesrichtungen dort maßgebend sind. Selbst der lange Jahre in Petersburg oder Moskau lebende Ausländer, wenn er sich nicht das Studium von Land und Leuten zur speziellen Aufgabe gemacht hat, ist nicht imstande, sich eine gründliche Vorstellung von der der russischen Volksseele eigentümlichen Geistesrichtung zu verschaffen. Wir müssen es uns leider versagen, Stellen aus »Raskolnikow« zu zitieren, um unsere Behauptung zu bekräftigen; die einzelnen 14

Episoden hängen so innig untereinander zusammen, daß sie ohne Schädigung nicht voneinander gerissen werden können. Wir beschränken uns darauf, die Lektüre des Romans zu empfehlen, müssen aber ausdrücklich betonen, daß er nicht flüchtig und oberflächlich gelesen werden darf, sondern peinlich aufmerksam - dann aber wird er bei jedem denkenden Leser einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Dem Übersetzer verdanken wir die Bekanntschaft mit einem Schriftsteller, der jedenfalls eine weit größere Beachtung verdient als viele andere, deren Ruf in Europa sehr verbreitet ist. H o f f e n t lich wird der E r f o l g der Übersetzung ihn veranlassen, uns auch mit noch anderen Werken Dostojewskis bekannt zu machen.

MICHAEL GEORG CONRAD

V o m Büchertisch [Dostojewskis » R a s k o l n i k o w « ] Es ist alter Schnee: in der Kühnheit der Motive, Feinheit der psychologischen Zergliederung, Sachlichkeit und Ruhe der Darstellung sind die russischen Romandichter erster Größe unübertrefflich und von unsern gefeiertsten deutschen Fabulisten, Spielhagen, Keller, Heyse und einem halben Dutzend anderer, an welche der deutsche Literaturphilister zuerst bewundernd denkt, wenn von vaterländischer Romandichtung die Rede ist, nicht einmal annähernd erreicht. Vielleicht, daß es unserm realistischen Dichternachwuchs beschieden ist, auch auf diesem Gebiete unser Schrifttum noch zum Siege zu führen - vielleicht! - . Heute sind die Russen noch die Unüberwundenen. Einer ihrer allerstärksten epischen Dichterhelden ist der im Jahre 1881 verstorbene Dostojewski. Sein Hauptwerk Prestuplenije i nakazanije (Schuld und Sühne), erschienen 1868, erlebt immer noch neue Auflagen und Übersetzungen. Die von Wilhelm Henckel in München nach der fünften Auflage des russischen Originals hergestellte Verdeutschung unter dem Titel »Raskolnikow« hat es bereits auch zu einer zweiten verbesserten Auflage gebracht (Friedrich in Leipzig). H a t sich der Übersetzer auch zu mancherlei Kürzungen entschließen zu müssen geglaubt, so macht seine Arbeit doch den Eindruck der Treue und Sorgfalt und liest sich außerordentlich gut. Das ist kein geringes Verdienst in Anbetracht der großen Schwierigkeiten des Originals. Gleichviel ij

in welcher Absicht der Deutsche dieses Meisterwerk zur H a n d nimmt, sei es sich zu zerstreuen, anzugruseln, zu belehren über Land und Leute oder sich im fremden Spiegel an seiner eigenen sittlichen Erhabenheit pharisäisch zu weiden: dem dämonischen Zauber dieser rücksichtslos wahrhaftigen Lebensdichtung wird sich niemand entziehen können. Ja, gerade die schrecklichsten Seiten des Seelengemäldes tragen so sehr den Stempel der Echtheit, daß man sich bis zur nervösen Überreizung, bis zur physischen Schmerzempfindung in ihre Betrachtung versenken kann. Diesen erschütternden, durch Herz und Nieren gehenden Eindruck kann nur ein Schriftsteller erreichen, dessen Darstellungskunst noch von der Fülle schmerzlichster Lebenserfahrungen im persönlichen Kampfe um ein edles menschenwürdiges Dasein für sich und seine Volksgenossen überragt wird. U n d was f ü r ein Helden- und Märtyrerleben war dasjenige Dostojewskis! Sohn eines Arztes, Zögling der Ingenieurschule, Offizier, Sozialist, Verbannter in Sibirien, dann gemeiner Soldat, dann Schriftsteller! Wie nehmen sich neben einem solchen Mann unsere »Helden der Feder« in Schlafrock und Pantoffeln aus - unsere modischen Literaturgrößen, die in der weichen Treibhausluft ästhetischer Bildungs- und Kunstfexerei großgezüchtet worden sind und die viel zu sybaritisch geschwächt sind, um überhaupt etwas anderes ertragen und erleben zu können - als allweihnachtlich neue Auflagen ihrer »schönen« Dichtungen, die sie in behaglicher Ruhe mit der jüngferlichen »Muse« zeugten?! Und welche Figur machen neben diesem echten Nationalrussen unsere literaturgewerblichen Kopisten und Nachempfinder und Zusammenleimer und Mosaikarbeiter, die aus gemütlicher deutscher Ferne sich berufen fühlen, russische Originalromane zu fabrizieren? Was würden wir von dem Russen sagen, der in Petersburg oder Moskau deutsche Originalromane zusammenspintisierte? Aber der wirklich talentvolle russische Schriftsteller hat zu viel N a t u r und Charakter, um solch ein unehrlich H a n d w e r k zu treiben! Darin liegt die hohe national-ethische Bedeutung des russischen Schrifttums: es ist in allen Fasern mit der russischen Volksseele verwachsen und offenbart deren feinste Bebungen und Regungen. Und nun laßt uns einmal sehen, was z. B. die deutschen Schriftsteller Richard Voß und Julius Grosse in ihren neuen russischen Originalromanen »Die Auferstandenen« und »Ein Spion« neben den Offenbarungen eines Dostojewski uns noch zu bieten vermögen!

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HERMANN CONRADI

F. M. Dostojewski A l s F e o d o r M i c h a i l o w i t s c h D o s t o j e w s k i 1 8 2 1 (in M o s k a u ; a m 30. O k t o b e r ) geboren w u r d e , s t a n d die russische L i t e r a t u r , so w i e sie sich heute aus der P e r s p e k t i v e der G e g e n w a r t auf die V e r g a n g e n heit gliedert, gleichsam i m Z e i c h e n P u s c h k i n s . A m 2 7 . J a n u a r 1 8 3 7 f i e l P u s c h k i n , 38 J a h r e alt, im D u e l l m i t d e m B a r o n D a n t e s - H e e k e ren. 1 8 8 0 , beim P u s c h k i n - F e s t in M o s k a u , hielt D o s t o j e w s k i seine b e r ü h m t e » R e d e auf P u s c h k i n « , der » R e a l i s t « feierte, apotheosierte also den » R o m a n t i k e r « . 1 8 7 3 hatte D o s t o j e w s k i sein » T a g e b u c h eines S c h r i f t s t e l l e r s « begonnen, das drei J a h r e l a n g in der W o c h e n s c h r i f t » D e r B ü r g e r « , herausgegeben v o m F ü r s t e n M e s c h t s c h e r s k i , erschien, 1 8 7 6 - 7 7 a b e r in S o n d e r a u s g a b e periodisch h e r a u s k a m . S p ä t e r erschienen n u r noch z w e i N u m m e r n v o n diesem J o u r n a l . D a s einzige 1 8 8 0 p u b l i z i e r t e E x e m p l a r b r a c h t e die oben e r w ä h n t e R e d e auf P u s c h k i n , die S c h l u ß n u m m e r w u r d e in der T o d e s w o c h e D o s t o j e w s k i s ausgegeben. 4 R u ß l a n d w a r v o n einem d o p p e l t s c h w e ren U n g l ü c k h e i m g e s u c h t : es h a t t e seinen bedeutendsten S c h r i f t steller v e r l o r e n : den s c h ö p f e r i s c h - k ü n s t l e r i s c h e n Geist, w e l c h e r den G i p f e l p u n k t seiner literarischen E n t w i c k l u n g a u s m a c h t e u n d ausm a c h t - einen G r ö ß e r e n w i r d R u ß l a n d nie w i e d e r g e b ä r e n . . . T o l s t o i ? D o c h auf das V e r h ä l t n i s T o l s t o i s zu D o s t o j e w s k i w e r d e ich n o c h zu sprechen k o m m e n - u n d D o s t o j e w s k i w a r h i n w e g g e g a n g e n , ohne d a ß er seinen R o m a n » D i e B r ü d e r K a r a m a s o w « hatte beendigen d ü r f e n . W e l c h e s ist das g r ö ß e r e U n g l ü c k f ü r R u ß l a n d - : der T o d seines ersten S c h r i f t s t e l l e r s ü b e r h a u p t - w a r u m hätte der S e c h z i g j ä h r i g e nicht noch zehn J a h r e leben k ö n n e n , um sein V e r m ä c h t n i s abzuschließen i m s t a n d e zu sein? - o d e r eben die T a t sache, d a ß die P h ä n o m e n o l o g i e des russischen V o l k s g e i s t e s n u r ein F r a g m e n t , w e n n a u c h ein großes, über alle B e g r i f f e bedeutsames, selbst in seiner B r u c h s t ü c k h a f t i g k e i t u n e r r e i c h b a r e s F r a g m e n t ge4

In Fragen biographischer Materialien sowie in allem, was literarhistorische Inventarstatistik und Enzyklopädismus angeht, ist auf diesem Gebiete sehr zu empfehlen die »Geschichte der russischen Literatur« von Alexander von Reinholdt. Verlag von Wilhelm Friedrich in Leipzig, woselbst auch Dostojewskis beide Hauptwerke »Raskolnikow« und »Junger Nachwuchs« in musterhafter Übersetzung erschienen sind.

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blieben ist? Aljoscha, dieser jüngste Sohn von Feodor Pawlowitsch Karamasow, der eigentliche »Held« des »Romans« - ach! alle in der T a t gewaltigen Bücher kümmern sich ja den Teufel um die ästhetisch abgezirkelte Definition und abgesteckte Rubrik des Begriffes »Roman«! - also dieser Aljoscha - ja! wenn ihn Dostojewskis sanft zwingende Heilshand bis zu der Stätte hätte leiten dürfen, w o sich alles im Mittel- und Kuppenpunkte erfüllen sollte, was gewollt, angesponnen, begonnen, beabsichtigt w a r : ich glaube, es wäre dabei schließlich für Rußland und somit für das . . . spätere Europa ein anderes Kulturideal, ein anderes Zukunftsideal, eine andere Entwicklungsgarantie herausgekommen, als noch diejenige war, welche Wersilow (»Junger Nachwuchs«) vierzig Jahre früher besaß - dieser Wersilow, der sich jenen »tausend K ö p f e n « beizählte, die das damalige russische Bildungsideal repräsentierten: nämlich echte »Europäer« zu sein . . . Eine Woche vor Dostojewski w a r in Moskau Alexei Pisemski gestorben, der Autor der Romane »Das aufgeregte Meer«, »Im Strudel«, »Der Tölpel« u. a. Von Puschkin, Lermontow geht der Weg über Gogol zu den ersten Trägern der »natürlichen Schule«, zu Turgenjew, Gontscharow, Pisemski, Grigorowitsch, Dostojewski, Nekrasow, Saltykow-Schtschedrin. Im gleichen Alter wie Puschkin starb halbverhungert 1848 Belinski, der erste Kritiker und Essayist Rußlands, der Pfadfinder, Pionier, Begleiter der neuen Strömung - Grigorjewitsch Belinski, von dem noch keine einzige Zeile ins Deutsche übersetzt ist! Nicht? Das läßt wahrhaftig wieder einmal sehr »tief blicken« . . . Das läßt denn doch die Vermutung wach werden, daß das Interesse des deutschen Publikums für russische Literatur, welches augenscheinlich wirklich vorhanden ist, auf andere Instinkte und Bewußtseinsmächte zurückgeht, als es zurückgehen dürfte, wenn es wirklich rein und tief wäre, echt wäre, d. h. wenn man das Bedürfnis empfände, in das organische Gefüge der Geistesentwicklung Rußlands in diesem Jahrhundert einzudringen . . . Man muß einmal selbst den glühenden Enthusiasmus, mit dem ein junger, gebildeter Russe an seinem Belinski hängt, erlebt haben, wenn man das Bedauern darüber, daß dem größten Teil des deutschen Publikums, der doch kein Russisch versteht, die Pforte zu diesem Schatzhause verschlossen bleibt - wenn man es ganz mitfühlen w i l l . . . Dobroljubow, nach Belinski der andere Hauptliebling der russischen J u gend, der geniale Ausleger des Dramatikers Ostrowski, starb 1861 - 25 Jahre alt! J a ! Es lastet eben auch über Rußland ein 18

Verhängnis, das die Entwicklung seiner besten K r ä f t e hemmt, in der Regel zu früh ganz b r i c h t . . . Nikolai Pomjalowski, mit Uspenski (dem »Homer des Proletariats«) und Slatowratski, der am Ursprünglichsten und Reichsten beanlagte Erbe Gogols, insofern dieser (in seiner Sammlung »Der Newski-Prospekt«), wenn man von den Versuchen Narjeshnys absieht, der Begründer einer belletristischen Physiologie des Proletariats ist - Pomjalowski starb 1863 26 Jahre alt! Die Beispiele ließen sich bequem vermehren. Wir haben erst kürzlich mit Trauer den frühen Tod Garschins erfahren, der wohl der Erste unter der jüngsten Schriftsteller-Generation Rußlands w a r . . . Allein! die Gründe, warum einem in Rußland die Götter so unheimlich ihre Liebe durch die Verordnung eines Todes in der Jugend beweisen - sie sind doch ganz anderer Natur, als - nun! nehmen wir das Nächstliegende, nehmen wir Deutschland - als sie mithin bei uns sind . . . In Rußland kommen die neuen Talente vom Adel oder vom Proletariat her - in Deutschland werden sie in der Mehrzahl von der Bourgeoisie produziert der Bourgeoisie, welche es allerdings in dem Sinne wie bei uns oder in Frankreich in Rußland nicht g i b t . . . In Deutschland ist die Bourgeoisie die Trägerin der Kultur - und doch scheint es deutsch-nationales Hausgesetz zu sein, daß sich die Kultur gegen den Willen ihres Repräsentanten e n t w i c k e l t . . . Ich werde darauf bei anderer Gelegenheit näher zu sprechen kommen. Übrigens sind das ja auch ganz klare geschichtliche Tatsachen. Man kennt z. B. die Bücher K a r l Hillebrands über Frankreich, über das provinzielle Frankreich. Aber schließlich ist eben Paris Frankreich - und Frankreich Paris. Und in Paris w a r man immer bewußt f ü r die Kultur. Jedoch! Was sollte sonst der Deutsche mit seinem p . p . »dreißigjährigen Kriege« anfangen? Ach! dieser arme dreißigjährige Krieg! E r ist das große Kamel, dem der deutsche Philister seit fünfzig oder hundert Jahren alles Bedenkliche a u f p a c k t . . . und natürlich schließlich sich selber, um vergnügt schmunzelnd mit perfider Geduld und Konsequenz durch die Wüsten seines eigenen Stumpfsinns und seiner Gleichgültigkeit zu hökern . . . Und da gäbe es gar keine Oasen in dieser Wüste - ? Aber warum nicht? Auch der Deutsche besitzt seine »Ideale«, besitzt noch »Ideale«, meinetwegen wieder »Ideale«, auch der Deutsche von heute, der »moderne Germane« . . . z. B. das des »Reiches«. Allein ein Achtzehnjähriger, meine ich, macht doch um diese Zeit schon andere Potenzen mobil, sofern er nur einigermaßen gesund, paarungskräftig,

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dauerhaft angelegt i s t . . . er liest keine ostafrikanischen Negerromane und Räubergeschichten mehr - und wenn ihm auch ein »forsches, schneidiges Auftreten«, »Patenz«, Sporengezwitscher und krumme Säbel immerhin einen Fingerhut voll Vergnügen bereiten sollten, so ist das doch nur mehr äußerlich, nur mehr nebenbei - mit achtzehn Jahren wird das Individuum - ich setze natürlich nicht gerade eins unter Null voraus - dynamisch, eigentümlich, selbständig, innerlich, verinnerlicht, seine »Ideale« wachsen von der Epidermis, der Peripherie her dem Mittelpunkte zu . . . Das Ideal des »Reiches« ist nur ein formales - aber der deutsche Philister, der deutsche Bourgeois ist heidenfroh, daß er nun aufwarten kann, sollte es wirklich noch jemandem einfallen, »ideale Forderungen« einkassieren zu wollen . . . Der Deutsche ist »politisch mündig« geworden - ja wohl! Ecce homol Aber man heizt doch nur ausnahmsweise den Ofen, der in einem leeren Zimmer s t e h t . . . Der Geist des neuen Gottes, den wir, die einen meinen: versuchsweise, die anderen: »auf immerwährende Zeiten«, eingesetzt haben, er brütet mir etwas zu lange über den Wassern . . . Man hört: die Stimme eines »Unzufriedenen« . . . So einer die Romane Dostojewskis genauer kennt, d. h. wenigstens seine »besten Sachen« gelesen hat - nicht? wir haben doch eine prachtvolle »sachliche« Terminologie! - so weiß er, daß Dostojewski es wagt, selbst so weit naturwahr zu sein, daß er seine Menschen bei allen möglichen Gelegenheiten, zumeist aber an für sie sehr wichtigen, entscheidenden Punkten, scheinbar, d. h. wirklich Überflüssiges, Nebensächliches, Abliegendes nicht nur sagen, sondern sogar mit auffallender, vorspringender, kopfnickender Betonung sagen l ä ß t . . . Dostojewski liebt, um auf eine seiner ersten, interessantesten Eigentümlichkeiten aufmerksam zu machen, breite Beichtszenen: ich nenne z. B. aus dem »Jungen Nachwuchs« die Aussprache zwischen Wersilow und Dolgorucki (III. Band, 7. Buch), eben das Kapitel, wo der Typus eines »echten Europäers«, wie er vor einem halben Jahrhundert von der älteren Generation in Rußland definiert wurde, gezeichnet wird - oder die Geständnissippe, die (in den »Brüdern Karamasow«) Mitja, die brutalwollüstig-sentimental-idiotische Bestie, seinem Stiefbruder Aljoscha macht (I, 149 u. f.) - oder die geradezu unheimlich meisterhaft dargestellte Souperszene in »Die Erniedrigten und Beleidigten« (vorzüglich verdeutscht von Konstantin Jürgens, Kollektion Spemann, Band 84), w o Fürst Walkowski vor Wanja seine Karten 20

mit perfid-empfindsamem Zynismus a u f d e c k t . . . vor diesem Wanja, der mit seinem scharfen Realistenauge den Kerl, der als Schurke halb Virtuose, halb Dilettant, vom ersten Augenblick an durchschaut h a t . . . In sotanen Beichtszenen also, in den Konfessionsaventiuren solchen Stils geben die betreffenden, vom Dichter gerade auf die Bühne gerufenen Personen redlich viel nebensächliches, unwesentliches Zeug zum besten - warum? Haben wir den Epiker vor uns im Zustande seines künstlerischen Deliriums? Oder genießen wir die Wirklichkeit, wo alles Kausalität, also erlebter Zufall, erlittene, »begriffene« Begegnung ist - ? Wo alle Assoziationen Gedanke und Wort in eins gesetzt - zwanglos, ungehemmt hinströmen . . . und um so freier und zwangloser, je »zerstreuter«, mithin je gesammelter einer ist - ? Ich glaube, Dostojewski wäre noch viel unglücklicher gewesen, wenn er von N a t u r zum Lyriker oder Dramatiker, nicht zum Epiker geraten w ä r e . . . Ein echter Epiker ist immer ein wenig Phlegmatiker, er liegt lieber auf der Bärenhaut, er findet, indem er daliegt und wartet, indem er nicht selber sucht er läßt alles an sich herankommen . . . und es kommt auch in der Regel alles . . . es kommt auch alles zu ihm hin . . . Das ist dann sein »Glück«, sein »Schicksal« . . . Wie hätte Dostojewski sonst manchmal auffahren müssen vor Wut, wenn man ihn einen »feinen« . . . oder sogar einen »sehr feinen Psychologen« zu titulieren gewagt h a t ! . . . Man hat's ja oft genug getan. Tausendmal hat sich die europäische Kritik, die doch in ihrer Masse ebenso taubstumm wie staubdumm ist, mit solchen meuchlerischen Abfindungsblutegeln an ihm gerächt - dafür, daß er ein Genie war, also selbstverständlich ein Psychologe, ein Wissender, ein Herzenskundiger, ein Seelenkündiger, ein clairvoyant, ein Lächelnder . . . Doch! um noch einmal und noch einmal auf das bemitleidenswerte »Uberflüssige« zu kommen nicht wahr? hier wird's »Ereignis«, hier wird's »Erlebnis«, will sagen: Ventil - denn wir würden ja alle ersticken, wenn der Saal, wo wir in entscheidenden Augenblicken unseres Lebens mit Quintessenzen, mit Polartendenzen unserer N a tur konfrontiert werden - wenn dieser Saal keine Ventilationsanlagen b e s ä ß e . . . ja! wir erstickten a l l e . . . Darum dieses »Uberflüssige«, dieses Ventil: es wird wohl oder übel einmal Selbstzweck, es wird als identisch gesetzt, es wird »Gleichnis«, S y m b o l . . . Ich war oben von russischen Entwicklungsproportionen allmählich auf deutsche psychologische Geschichtstatsachen zu sprechen gekommen, hatte also allen Ernstes beinahe eine »ungehörige« Abschwei21

fung g e m a c h t . . . Und doch nicht. Ich habe Dostojewski selber auf meiner Seite. Am Schlüsse der Einleitung zu den »Brüdern Karamasow« heißt es: »Das ist meine ganze Vorrede. Ich bin durchaus einverstanden damit, daß sie überflüssig ist; da sie nun aber einmal geschrieben ist, mag sie auch steh'n bleiben.« Eine entzückend psychologische Definition der Epik - um so entzückender, als sie so unscheinbar, so zufällig, so ganz im Bagagetrain des Reichtums verpackt a u f t r i t t . . . Dasjenige, in welchem wir die Axe unserer N a t u r erkannt zu haben glauben, bejahen: wir wollen es alle wohl, aber wir vollziehen dieses Bejahen doch nur, indem wir jene Axe nach Kräften zu verneinen suchen. Das nennen wir dann »leben«. Damit stigmatisieren wir uns aber auch als Träger, wenn wir durchaus wollen: als »Opfer« von »fixen Ideen« - es muß einer wahrhaftig schon einen breiten, soliden Rücken haben, wenn er sich eine tüchtige, respektable »fixe Idee«, die sich sehen lassen kann, aufladen w i l l . . . Gewiß! Auch die Psychopathiker haben ihre Klassen und Ordnungen. Aber vielleicht ist das »Gesunde« überhaupt nur ein Kompromiß, ein abstrakt-spekulativ gewonnenes Durchschnittsmittel... Dostojewski kennt die Menschen - : ob er nichts weiter getan hat, als es sich künstlerisch »leicht« gemacht, wenn er sie am Kanthaken ihrer »fixen Ideen« gepackt? Überblicken wir die ganze, große Galerie seiner Figuren: wer macht die Überfracht aus: die Mittelschlagswesen oder die Sippe der »Sonderlinge«, der »Originale«? Wir finden unter den letzteren allerdings, um nur die nächsten Namen zu nennen, einen Raskolnikow, einen Dolgorucki (»Junger Nachwuchs«: sehr tendenziös übersetzt - die wörtliche Übertragung des russischen Titels lautete »Der Halbwüchsige«), einen Feodor Pawlowitsch (»Brüder Karamasow«), einen Makar Alexejewitsch Dewuschkin (»Arme Leute«), einen Stepan Trofimowitsch (»Die Besessenen«), der Held der kleinen, ergreifend schönen Skizze »Helle Nächte« (»Erzählungen von F. M. Dostojewski«, übersetzt von W. Goldschmidt, Reclam), stellt sich seiner Nastenka selbst als »Original« v o r . . . Dostojewski ist mithin der Dichter der Klinik, des Spitals, des Irrenhauses, er ist Pathologiker: es liegt auf der H a n d . Wer einen »Raskolnikow« schreiben kann, der - es liegt abermals auf der H a n d . Ich hätte im Grunde nichts gegen diese Anschauungen - denn es sind eben auch Anschauungen, also erklärbar, also verzeihbar und sonst höchstens nur noch zu brutalisieren, wenn sich eine höhere Gewalt dazu findet - möchte aber noch bemerken, daß dem Dichter bekannt22

lieh nichts Menschliches fremd zu bleiben hat, womit nicht gesagt sein soll, daß ihm allzuviel Menschliches allenthalben passieren d a r f . . . Aber um die »Sittlichkeit«, die »Wohlanständigkeit«, um das ästhetisch gerade noch »Zulässige« oder schon »Unzulässige« hat er sich den Teufel zu kümmern. Dostojewski ist Natur, er rehabilitiert die Natur in den Menschen, d. h. er stellt sie rein dar, w o er sie rein findet: man vergleiche hier in erster Reihe das Menschenpanorama, das er in seinen sibirischen Kulturbildern »Aus dem toten Hause« entrollt - oder er findet sie, die Natur, eben entstellt, verzerrt, verbildet - und er führt dann seine Figuren gern in Situationen, selbstverständlich ohne alle »moralische« Tendenzsteckenpferderei, w o der Widerspruch zwischen Maske und eigentlichem Gefühl haarsträubend scharf herausspringt... Dostojewski ist Menschendarsteller, zunächst weiter gar nichts. Nun, ich stände jetzt davor, wenn ich wollte: ich könnte wieder einmal eine kleine Untersuchung darüber anbändeln, wie weit der Dichter »subjektiv« bleiben darf - wo, wann und in welchem Stärkegrade er »objektiv« sein muß . . . wo er sein »Temperament« zu zügeln hat, wo er ihm freien Lauf lassen darf? Ich hüte mich, diesen »objektivsachlichen« Erörterungen heute in die offenen Arme zu fallen. Jedenfalls ist Dostojewski von seinem ersten Romane an bis zu seinem letzten, also von dem 1846 erschienenen Buche »Arme Leute«, das Belinski sofort aufmerksam machte auf den jungen Realisten, bis zu den »Brüdern Karamasow«, zugleich ebenso »subjektiv« wie »objektiv« geblieben - : »subjektiv«, insofern es seine besondere Art, seine Stärke, damit auch seine Einseitigkeit war, im Menschen nur schlechthin den Menschen zu sehen, zwar als Produkt bestimmter Verhältnisse, aber in der Hauptsache doch nur als Individuum, das sich in einem bestimmten Prozesse auseinandersetzt - »objektiv« insofern, als er nie persönlich-private Kapriolen für oder wider irgendwelche seiner Figuren macht, als er nie aufdringlich tendenziös, bekehrungswütig, empört, gallig, verbissen, mithin: unkünstlerisch ist, zwar seine besonderen Sympathien für eine gewisse Menschensorte, eben für »arme Leute«, für Proletarierexistenzen oder für jugendliche Va banque-Spieler des Lebens, für nervösextatisch-idiotische Naturen (Raskolnikow, Ordynow in der Erzählung »Die Wirtin«, Aljoscha in »Erniedrigte und Beleidigte« u. a.) besitzt, jedoch auch mit derselben episch-reservierten Liebesfülle und Teilnahme Charaktere aufnimmt, nachschafft, ausgestaltet, die a priori schon zu gleichmäßig kombiniert waren, als daß

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sie nicht schon vom ersten Stadium ihrer breiteren Entwicklung an gewisse eigene Neigungen für die Ausbildung besonderer, individueller fixer Ideen der Summe von fixen Ideen, welche die Allgemeinheit, die Gesamtheit besitzt - wenn man nicht geradezu sagen will, daß die letztere durch die ersteren überhaupt in ihrem Dasein bedingt wird - hätten überantworten müssen. Sintemalen eben man näher zusieht, man allenthalben größere oder kleinere Gefüge von »fixen Ideen« entdeckt, als deren Träger sogenannte »Menschen«, Gruppen oder einzelne, vereinzelte Individuen, figurieren . . . Diese Beobachtung hat Dostojewski sehr früh gemacht. Unsere Sprache, unsere Ausdrucksweise ist ja nur relativ, resultativ nur als Kompromiß. Das, was direkt aus der Sphäre des im sozialen Verbände Verwendbaren herausfällt, nennen wir »abnorm«. J e leichter wir - und der Grad dieser Leichtigkeit hängt ganz von der Zusammensetzung und der Funktionsart des Individuums ab - unsere besonderen »fixen Ideen« sozial rubrizieren, subsumieren können - und schließlich ist die Ausübung jedes »Berufes« z. B. auch nur eine »fixe Idee«, eine Kaprize: ich bin überzeugt, daß wir eines Tages in der Tat eine »Philosophie der fixen Idee* haben werden . . . wir müßten dazu allerdings erst etwas weiter in der Gehirnmechanik, der Nervenphysik, der gesamten Psychophysik sein - also je leichter wir uns einordnen, unterordnen, um so »gesünder«, also um so weniger »gefährlich« sind wir . . . Ob einer ein Pedant ist und es nicht sehen kann, daß ein Buch aufgeschlagen auf dem Tisch liegen b l e i b t . . . oder daß ein Rouleau schief hängt - oder ob er es sich in den Kopf setzt, eine alte Hexe aus irgendeinem Grunde ad absurdum mortis zu führen: das ist doch am Ende, die Qualität des Geistes betrachtet, ganz dasselbe - nur die Intensität ist eine a n d e r e . . . Wir Deutschen fangen ja eben erst an, Psychologen zu werden, Labyrinthe zu entdecken, wo wir hundert Jahre lang, mit verdammt wenigen Ausnahmen, nur sehr einfache, übersichtliche Lokalitäten ä la Heuscheunen, Tanzböden, Schlafzimmer, Ritterburgskemenaten, Kasernenbuden, Kirchenschiffe und Viehställe gesehen haben . . . Wir haben z. B., um nur einen Fall zu erwähnen, erst vor kurzem entdeckt, daß sogar auch der in der Belletristik so gern in Anwendung gebrachte junge Gelehrte, Privatdozent, Bibliothekar usw. so etwas wie einen Leib besitzt. . . Und woher kommt das? Unsere Schriftsteller haben bisher immer nur entweder Menschen auf Ideen gezogen . . . oder sie haben »gedichtet«, weil sie eine Liebespointe auf dem Herzen 24

hatten, respektive unter dem Herzen trugen, die sich a b o l u t . . . entleiben w o l l t e . . . oder sie hatten das direkte Delirium des Fabulierens, die pele-mele-Speise der Situationsverzwicktheit war ihnen Selbstzweck . . . oder sie hatten sich viertens am Alkohol des historischen Kostümbildes b e r a u s c h t . . . Gogol ( 1 8 0 9 - 5 2 ) entdeckte schon in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts das Petersburger Proletariat - Nikolai Wasiljewitsch Gogol, der Begründer der neueren Literatur in Rußland . . . Die deutsche Prosa-Epik ist zu Fiinfsechstel gerade wie die deutsche Dramatik bis heute abstrakt gewesen - : die russischen Talente stehen schon seit sechzig, siebenzig Jahren unmittelbar im Leben, sind konkret. Jawohl! Sie gingen von der Armut, dem Elende, der Not, der Enge aus - und die Armut, das Elend, die Not, die Enge: sie schaffen keine »idealen« Menschenbilder, wohl aber kleine, verkrümmte, verschüchterte, wortkarge, zerdrückte, angequetschte, armselige, verrenkte, feige, boshafte, verbissene, heisere, zischelnde Kreaturen . . . N u n ! Ist das etwa nur eine Spezies? Finden wir etwa in den »besseren« Ständen auch nur einen »ausgeglichenen«, einen »harmonischen« Menschen - ? Sind wir vor dem Spiegel des »Ideals« nicht etwa alle Karikaturen, also in Wirklichkeit, also im Leben - ? Die russischen Schriftsteller haben seit hundert Jahren den Mut des Sehens gehabt - freilich! ihre Verhältnisse mögen sie dazu gezwungen haben, aber das kommt hierbei nicht in F r a g e . . . Wir entwickeln eben erst unseren Blick - kein Wunder! unsere Poeten und Wortkünstler kamen fast alle von der Bourgeoisie her und schrieben für die Bourgeoisie. . . Wir haben geträumt, wir haben das Leben nicht gekannt, wir wuselten herum im Abrahamsschoße des Abstrakten, des »abgezogenen Ideals« - bis dato w a r der Philister ganz damit zufrieden, daß die »soziale Frage« eine »brennende« w a r : konnte er sich doch seine Zigarre an ihr anzünden . . . Das ist nun allerdings vorbei, ich meine: die Zeit derartiger ästhetisch-praktischer K r i t e r i e n . . . Das Leben hat uns mit brutaler Faust auf das Leben selber gestoßen: nun schreien wir auf, wir spektakeln, wir werden unartig, höhnisch, »anrüchig«, boshaft, also tendenziös . . . Dostojewski fällt es nicht im Traume ein, tendenziös zu sein, korrigieren, verbessern, reformieren zu wollen . . . Er ist Künstler, er kennt die Menschen, ihm fehlt aber auch das Temperament nicht, keineswegs. N u r stellt er sich damit nicht in die Schießbude des Bußpredigers, er nimmt sich keine Z i e l e . . . Er ist Epiker, er erzählt, stellt dar, all' sein Temperament setzt er in lebendiges

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Menschenblut um, das er seinen Figuren einflößt, er opfert es nicht dem Moloch einer besonderen, bestimmten, tendenziösen Idee, er schafft keine Anklage-Literatur, keine Notwehr-Literatur . . . Daß sich nachher seine Werke zu einem Ganzen zusammenschließen, das als solches eine Idee ausstrahlt, ein »Ideal« verkörpert - : ja! das ist eben nicht anders möglich, insofern es eine Eigenschaft des Geistes ist, das Neue auf ein Früheres zu beziehen, das Kleinere auf ein Größeres, das unutn auf ein plus, das Eine, Einzelne unter der Optik eines Ganzen zu sehen . . . Diese Beziehungs- und Rubrizierungsfäden knüpft nachher die Kritik - und so hat denn auch Dostojewski, dieser sarkastisch-warmherzige Liebhaber seiner Kunst; dieser Mann, der von den Naturen ausging, die »erschreckt und eingeschüchtert« sind (»Arme Leute«, S. 194); der wußte, daß auch die gebrochenen, halbidiotischen, stammelnden, nervös-brutalen Menschenkinder wirkliche Menschenkinder sind; der wußte, daß sich diese, daß sich ähnliche Qualitäten allenthalben fanden und finden, sofern man nur das Sein vom Schein zu enthüllen vermag - so hat denn auch Dostojewski, sage ich, unter den führenden Instrumenten der Kritik unendlich viel zu dem großen Emanzipationskampf beigetragen, der in den mittleren Jahrzehnten dieses Jahrhunderts in Rußland gekämpft wurde . . . Mit welchem süffisant-verbissene Pathos würde ein Deutscher ein Buch wie »Aus dem toten Hause« - Dostojewski hat selbst vier Jahre in Sibirien auf der Strafstation gelitten - ausgestattet haben! Allein mit welcher überlegenen Ruhe, durch die nur so etwas wie eine tiefgeheime Trauer hindurchzittert, wie ein unendliches Mitleid mit den »Unglücklichen«: denn nur als solche gelten bei allem Volke in Rußland die Sträflinge, zeichnet Dostojewski seine Gestalten: einen Isai Fomitsch, den Tscherkessen Alei, den Idioten Suschilow, einen Luka, Bakluschin, Akim Akimowitsch, Petrow, den Branntweinpascher Osip und viele a n d e r e . . . Es ist nur selbstverständlich, daß er mit feinstfädiger Psychologie den Wert, die Herrschaft der Kopeken im Zuchthaus analysiert... daß er die Würde, die Steifheit, Pedanterie der Gefangenen; das Verhältnis des Proletariers zum adligen Sträfling; die Skala der singulären Freiheitsbegriffe; die Seligkeit des Branntweinrausches; das Schimpfen zum Zwecke, sich zu zerstreuen; die »Unglücklichen«, die »sich selber sortieren müssen«, bei der Arbeit, bei der befohlenen und der verbotenen, schildert . . . daß er sich mit dem Problem vom »bösen Gewissen« beschäftigt; das interessante Moment, um nur noch dieses zu er26

wähnen, feststeckt, inwiefern die Gefangenen damit einverstanden oder nicht einverstanden sind, daß man sie fürchtet... N u r Szenen, nur Bilder gibt Dostojewski in diesem Buche »Aus dem toten Hause« (1862 erschienen) - mehr »Künstler« ist er vielleicht in den kleineren Novelletten, wie »Die Wirtin«, »Helle Nächte« - eine Skizze wie »Der ehrliche Dieb« vermöchte ihm höchstens ein Neruda nachzuschreiben . . . Wie geschlossen, wie lapidar komponiert ist andrerseits ein Roman wie »Erniedrigte und Beleidigte«, ganz zu geschweigen von »Raskolnikow«, dessen großartige Architektonik einem immer mehr aufgeht, je mehr man sich in ihn hineinlebt und v e r s e n k t . . . Allerdings hängen die »Brüder Karamasow« und »Junger Nachwuchs« um vieles lockerer im Einbände. Man hat es Dostojewski zum Vorwurf gemacht, daß er in den letzten Jahren seines Lebens starke slawophile Tendenzen besessen hätte . . . daß er in religiöser Beziehung immer »mystischer« geworden wäre . . . Ich müßte eine ausführliche Genese der gesamten Geistesentwicklung Rußlands in diesem Jahrhundert geben, wollte ich psychologisch einigermaßen verständlich machen, wie Dostojewski dazu kam, seinen Aljoscha (»Brüder Karamasow«) zum Träger einer slawo-russischen Kulturidee zu entwickeln . . . Ich muß mich hier wegen Raummangels dieser Auseinandersetzung enthalten wie ich denn aus demselben Grunde leider darauf verzichten muß, Dostojewski schlechthin als Schriftsteller, als Künstler einmal auf ein Perspektivenplateau mit Cervantes, Goethe, Poe, Flaubert, Zola, Björnson, Ibsen, Kielland zu s e t z e n . . . Als Epiker kann neben Dostojewski ja heute nur noch Tolstoi in Frage kommen. Tolstoi ist durch seine Schrift »Worin besteht mein Glaube« in der letzten Zeit sehr bekannt geworden in Europa. Dostojewski hat seinen Aljoscha zum Träger des Ideals einer »geistigen Kirche« emporführen wollen, Tolstoi ist in der erwähnten Schrift auf die »reinen« Lehren Christi zurückgegangen. »Man soll dem Übel nicht widerstreben.« Haben wir in Tolstois Buche mehr als ein »Traktat« vor uns - ? Wohl doch. Schon Friedrich Nietzsche hat auf die Verwandtschaft von einigen Dostojewskischen Romanfiguren mit den Gestalten des Neuen Testaments hingewiesen. Ich formuliere meine Anschauung über das Kultur- und Rassenproblem, welches hier vorliegt - und es spitzt sich zu einem volkspsychologischnationalökonomischen Probleme, durchaus nicht zu einem ethischen zu, wie man auf den ersten Blick glauben möchte - also ich gebe mein Urteil, allerdings ohne es näher psychologisch zu begründen,

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was ich demnächst bei anderer Gelegenheit tun werde: denn wir stehen hier eben vor einer sehr »modernen«, sehr »aktuellen« Materie . . . Wie schon oben erwähnt, ist die Struktur des russischen Gesellschaftskörpers eine ganz andere denn die des deutschen. Dostojewski und Tolstoi rekurrieren aufs »Volk«, auf das Proletariat, aufs Bauerntum. Unsere Entwicklung tritt in die Bahnen einer (materiell-geistigen) Auflehnung gegen das Prinzipat des Bürgertums, der Bourgeoisie. Wir haben nur unsere Kraft, unser Talent für uns, sonst alles gegen uns. Wir haben nur durch unsere Kraft unsere Zukunft, unseren Sieg zu erdauern - das Zuchtwahlinstrument der Bourgeoisie aber ist das Kapital mit seinen verschiedenen Monden: ich nenne nur traditionelle Autorität, Protektion . . . Wir sehen unsere Besten untergehen, weil der Wille der Bourgeoisie ein Wille gegen den Geist, gegen unseren Geist, gegen den Geist der Zukunft ist. Im »vierten Stande« gehen ungeheure Kräftemassen verloren, weil der materielle Mutterboden zu ihrer Entwicklung fehlt - und nur die materielle Basis garantiert ja das Leben . . . Uns geziemt kein Mitleid mit der Bourgeoisie, keine »Nächstenliebe« mit diesen Kreaturen, die nur eine . . . Portemonnächstenliebe kennen . . . »Rassemenschen« sind ganz nett, allein das Geld ist es ja nur, welches ihre Existenz, ihre Fortdauer überhaupt erm ö g l i c h t . . . Das ist die Forderung-, die Kraft hat das Geld zu ihrer Ausbildung zu finden. Das sind die Tendenzen unseres »Kampfes ums Dasein«. Wir sehen gar keinen Grund, warum wir nach dem Buddhaschen Rezept »Mitleid mit allem Erschaffenen« haben sollten. J a ! Auch wir wollen eine »Herrenmoral« und keine »Sklavenmoral«. Aber wir haben heute nur »Herren« und »Sklaven« von Geldesgnaden oder Geldesungnaden. Der Deutsche ist, ins Ganze genommen, Phänomenalist, Künstler, Objektsenthusiast. Der Russe Prophet, Verbrecher, Krämer, Idiot, Schwärmer, Fanatiker oder blasiert-empfindsamer Weltmann (Adel). Und darum muß eines Tages doch das Slawentum über das Germanentum triumphieren. Denn der breitere, weniger gebrochene, noch stumpfere, einseitig verbissene Wille siegt immer über den intellektual-differenzierten - die mit ökonomisch-ideellen Motiven erfüllte Kontemplation wirft immer - wenn man will: aus »psychopathischen« Gründen - die rein auf die Objekte gestimmte ästhetische Kontemplation über den Haufen: noch einmal - : ich nehme dabei nur die größten, psychologisch-prinzipiellsten Maßstäbe in der Rassenbeurteilung. Wie ich in meinem »Briefe aus der Ver28

bannung« angedeutet ( M ä r z h e f t der »Ges.«) ist der sächsisch-ostfränkische V o l k s c h a r a k t e r der Vermittler zwischen den Gesamtcharakteren der germanischen und slawischen Rasse. Ich werde demnächst in meiner A b f e r t i g u n g Nietzsches näher auf diese M o mente zu sprechen kommen. I m übrigen weise ich noch einmal auf das / . K a p i t e l im I I I . B a n d v o n Dostojewskis » J u n g e m N a c h wuchs« hin, w i e auf den »Philosophischen B r i e f « des Obersten T s c h a a d a j e w , aus dem von R e i n h o l d t ein Bruchstück in seiner Literaturgeschichte mitteilt. (S. 62.5 u. f.) In dem R o m a n e »Erniedrigte und Beleidigte« sagt der alte Ichmenew einmal zu W a n j a , dem jungen realistischen Schriftsteller (S . 2 9 ) : » N u n , ich meine es nicht s o . . . Siehst D u , D u hast ein ganz gewöhnliches G e s i c h t . . . es ist so g a r nichts Poetisches darin . . . M a n sagt, die Poeten sind immer blaß und haben langes H a a r . . . und ihre A u g e n sind so b e s o n d e r s . . . Weißt D u , Goethe z. B . oder andre . . . « U n d nun sehe man sich noch einmal das B i l d Dostojewskis an, dieses Einzigen, der unser aufmerksamstes Studium verdient, also unsere ganze Liebe und unsere ganze B e w u n derung.

GEORG BRANDES

Dostojewski I m Gegensatz zu dem nationalen Pessmismus bei T u r g e n j e w steht bei Dostojewski der nationale Optimismus. D e r große Skeptiker T u r g e n j e w , der an so wenig glaubte, glaubte an die K u l t u r Westeuropas. D o s t o j e w s k i achtete den O k z i d e n t gering und glaubte an R u ß l a n d . K a n n man die P r o d u k t i o n T u r g e n j e w s beinahe als E m i grantenliteratur ansehen, so stehen w i r mit Dostojewski ganz auf russischem B o d e n ; er ist der autochthone Dichter, »der w a h r e S k y the«, der echte B a r b a r ohne einen T r o p f e n klassischen Blutes in seinen A d e r n . M a n betrachte dieses A n t l i t z ! H a l b russisches Bauerngesicht, halb Verbrecherphysiognomie, mit f l a c h g e d r ü c k t e r N a s e , kleinen, durchbohrenden Augen unter Augenlidern, die v o r N e r v o s i t ä t zittern, langem, dichtem, unordentlichem B a r t und hellem K o p f h a a r ; dazu eine D e n k e r - und Dichterstirn, groß und ausgeprägt, der ausdrucksvollste M u n d , der selbst geschlossen noch v o n zahllosen Qualen zu reden scheint, v o n abgrundtiefer Wehmut,

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von krankhaften Lüsten, unendlichem Mitleid, leidenschaftlichem Neid, Unruhe und Verbissenheit! Man betrachte diesen Körper, der nur N e r v ist, klein und schmächtig, krummgebeugt und zäh, von Kindheit an behaftet mit Krämpfen und Halluzinationen! Dieses Äußere - beim ersten Blick wie unansehnlich und gemein, bei näherer Betrachtung aber wie genial, unbestreitbar krank, aber auch ohne Zweifel außergewöhnlich! - spricht von Dostojewskis epileptischem Genie, von der Gewalt der Milde, die seine Seele erfüllte, von den Erregungen eines fast wahnsinnigen Geistes, die ihn o f t überwältigten, endlich von einem Ehrgeiz, der Gewaltiges will, und einem Neide, der Kleinliches schafft in der Seele. Ein Charakter, der an Rousseau erinnert, reizbar und mißtrauisch, mit Anfällen von Gemeinheit und doch des höchsten Aufschwungs fähig. Obwohl seine Familie zu dem russischen KleinAdel gehörte, aus welchem in der Regel die untergeordneten Beamten hervorgehen, war er doch durch und durch, wie Rousseau, Demokrat. Ist er auch noch ein Ideenfanatiker, wie Rousseau, so unterscheidet er sich doch von ihm durch tiefe, seelische Züge: Rousseau ist Deist, aber trotz aller Empfindsamkeit kein Christ, ein Feind der christlichen Demut und jeder Art von Passivität gegen das Schicksal. Dostojewski hingegen ist - ganz gleichgültig ob sein dogmatischer Glaube orthodox war oder nicht - in seinem ganzen Gefühlsleben der typische Christ. Seine Werke machen ein wahres Repertorium von christlich aufgefaßten Charakteren und Sinneszuständen aus. Alle seine Personen sind Kranke, Sünder oder Heilige beiderlei Geschlechtes, und der Übergang vom Sünder zum Bekehrten, von der Sünderin zur Heiligen, vom leiblich Kranken zum seelisch Gesunden vollzieht sich nicht immer durch langsame Läuterung, o f t durch einen einzigen Blick in das Neue Testament, ja zuweilen ist die Sünderin zugleich eine Heilige, und den größten Verbrecher kann man ebensogut für bewunderungswürdig halten wie für einen Schurken. Physiologisch und psychologisch sind alle diese Typen von Armen und Elenden, von unwissenden Herzensguten, einfältig zarten Naturen, edlen Freudenmädchen, nervösen Verstörten, beständig an Halluzinationen Leidenden, begabten Epileptikern, schwärmerischen Märtyrern - gerade dieselben Typen, die wir bei den Aposteln und Schülern des ersten christlichen Zeitalters ahnen.



I.

Fjodor Michailowitsch Dostojewski wurde geboren im Oktober 1 8 2 1 zu Moskau im Armenhospital, w o sein Vater als Arzt angestellt war. In der Familie waren viele Kinder und wenig Vermögen. Fjodor und sein Bruder Alexis, mit dem ihn das Leben durch vertraute Freundschaft und gleiche literarische Interessen verband, wurden auf die militärische Ingenieurschule nach Petersburg geschickt und gingen aus derselben als Unterleutnants hervor. Aber bereits nach einem Jahre (1844) suchte Fjodor seinen Abschied beim Militärdienst, um ganz der Literatur zu leben. Er litt schon damals unter der Krankheit, die sich noch verschlimmerte, als er in Sibirien mit Peitschenhieben gezüchtigt wurde, er hatte K r ä m p f e und war außerdem visionär. Der Stoffe, die er später behandelt, und seines Talentes wegen, Verbrecherpsychologie zu geben, ist folgende Aussage zu einem Freunde von ihm charakteristisch: »Die Niedergeschlagenheit, die bei mir auf die epileptischen Anfälle folgt, hat das Bezeichnende: ich fühle mich wie ein großer Verbrecher; es kommt mir vor, als ob ein unbekanntes Verbrechen, eine verbrecherische Tat mein Gewissen bedrückt 24 Jahre alt schrieb er den Roman »Arme Leute«. A m Schluß seines Lebens hat er in dem »Tagebuch eines Schriftstellers« die Umstände erzählt, unter welchen sein erster Eintritt in die Literatur erfolgte. Als er seinen Roman geschrieben hatte und nicht wußte, wie er das Manuskript anbringen sollte, bewog er einen seiner Freunde, den später bekannten Schriftsteller Grigorowitsch dazu, es dem Dichter Nekrasow zu überbringen. Des Morgens um 3 Uhr hörte Dostojewski ein Klopfen an seiner Tür. Es w a r Grigorowitsch; er kam mit Nekrasow zurück, der den Roman bereits gelesen hatte und so erfüllt von ihm war, daß er den Drang gefühlt hatte, den Verfasser sogleich an sein Herz zu drücken. Als er spät am Morgen des nächsten Tages Dostojewski verließ, ging er mit dem Manuskript sogleich zu Belinski, »dem russischen GedankenOrakel, dem Kritiker, dessen bloßer N a m e die Debütanten entsetzte.« - »Ein neuer Gogol ist auferstanden« - rief Nekrasow, indem er in die Tür trat. - » J a , gewiß, sie schießen auch heutzutage wie Pilze empor!« - antwortete Belinski ärgerlich und griff unwillig nach dem Manuskript. Aber die Wirkung auf ihn war dieselbe wie auf Nekrasow. Als der Verfasser ihn besuchte, rief er ihm leidenschaftlich zu: »Verstehen Sie selbst, jung wie Sie sind, 3i

wie wahr das ist, was Sie geschrieben haben? Ich glaube nicht. Aber es ist wahre, künstlerische Inspiration darin. Respektieren Sie selbst die Gaben, die Sie empfangen haben, und werden Sie ein großer Schriftsteller.« Um diese Überraschung und diese Begeisterung verstehen zu können, muß man sich erinnern, daß die russische Literatur noch keinen einzigen Versuch dieser Art enthielt außer Gogols »Mantel« und daß Turgenjews »Tagebuch eines Jägers« erst fünf Jahre später erschien. Als ein paar Monate nach der Unterredung Belinskis mit Dostojewski »Arme Leute« gedruckt vorlagen, war des Verfassers literarisches Ansehen mit einem Schlage begründet. Die Unruhe und Vielseitigkeit seines Wesens kann man schon daran erkennen, daß er unmittelbar, nachdem er in einer Richtung debütiert hatte, die sich der nähert, welche Dickens kurz zuvor eingeschlagen hatte, mit einer wertlosen und komischen Novelle in Paul de Kocks Manier: »Die Frau eines Andern und der Ehemann unter dem Bette«, fortfahren konnte. Er hatte f r ü h übermäßig viel gelesen. Zwölf Jahre alt hatte er schon Karamsin und Walter Scott, Geschichte und geschichtliche Romane in Menge durchwühlt. Das Lesen griff ihn an, nervös, reizbar, furchtsam, empfindsam, unentwickelt wie er war, noch dazu bei seiner ungewöhnlichen Fähigkeit, sich in gedachte Situationen zu versetzen. Auf der Ingenieurschule las er besonders eifrig Balzac, schwärmte für Père Goriot, der mit seinem ganzen geistigen Gepräge eine von den Voraussetzungen f ü r seine eigenen Romane hergibt, und übersetzte »Eugénie Grandet«, beschäftigte sich im übrigen viel mit George Sand und Eugène Sue, Dickens und H o f f mann, die alle in seinen Produktionen zu erkennen sind. In dieser ersten Jugendperiode war Dostojewski noch eine Beute der verschiedenartigsten Einflüsse. Er hat selbst in seinen späteren Jahren erzählt, wie Belinski ihn zum Sozialismus führte und, wie er es nennt, sich bestrebte, ihn zum Atheismus zu bekehren. Derselbe H a ß und dieselbe Undankbarkeit gegen die Männer, die auf seine Jugend einwirkten, Herzen, Belinski usw., und der seinen Ausdruck in dem R o m a n : »Die Dämonen« (Die Besessenen) erhalten hat, macht sich in diesem bitteren und giftigen Versuche geltend, die Schuld f ü r seine Jugendfehler auf einen Toten zu werfen. Man muß bemerken, daß es ein alter Reaktionär ist, der da spricht, und zu seiner Verteidigung sich erinnern, daß Dostojewski ein vom Leben mißhandelter Mann war. 32

A m 23. April 1849, des Morgens um 5 Uhr, wurde er zugleich mit dreiunddreißig andern jungen Männern gefangen genommen. Er hatte längere Zeit einem Kreise angehört, der sich um einen gewissen Petraschewski gebildet hatte, einen Anhänger von Fouriers System; in diesen Zusammenkünften ward laut und unvorsichtig gesprochen; der Führer war als echter Fourierist ein Feind von Göttern und Königen, ein Gegner der Ehe und des Eigentums in der herrschenden Gestalt. Die Anklage gegen Dostojewski persönlich lautete auf: Teilnahme an den Begegnungen des Kreises, Reden über die Strenge der Zensur, lesen oder doch zuhören beim Lesen verbotener Broschüren, endlich Gelübde über mögliche H i l f e zur Errichtung einer Druckerei. Die Angeklagten wurden nach dem Kastell geführt und dort in den Kasematten isoliert. Sie blieben dort acht Monate ohne andere Zerstreuung als die Verhöre. Erst gegen Ende ihrer Gefängniszeit wurden ihnen einige Erbauungsbücher gestattet. Der arme Dichter, der allein auf den Umgang mit seinen Gedanken angewiesen war, fühlte sich wie unter einer Luftpumpe. A m 22. Dezember wurden die Angeklagten, die man f ü r schuldig befunden hatte, nach dem Semenowski-Platz geführt, w o bereits ein Schaffott errichtet war. Bei einer Kälte von 21 G r a d Reaumur zwang man sie, sich bis aufs bloße Hemd auszuziehen, um ihr Urteil zu vernehmen. Das Vorlesen dauerte eine halbe Stunde. Als es begann, wandte sich der stets optimistische Dostojewski zu seinem Nachbar und sagte: »Sollte es möglich sein, daß man uns hinrichten will?« Statt zu antworten zeigte der Gefragte nur auf einige Gegenstände, die unter den Wagendecken verborgen standen und wie Särge aussahen. Das Todesurteil endete mit den Worten: » . . . sind dazu verurteilt erschossen zu werden.« Ein Priester mit dem K r u z i f i x in der Hand trat nun vor und forderte die zum Tode Verurteilten auf zu beichten. Sie schlugen es alle bis auf eine einzige Ausnahme ab. Man band darauf Petraschewski und zwei andere von den Anführern an einem P f a h l zusammen. Ein Offizier ließ seine Kompanie Soldaten die Gewehre laden und erteilte das erste Kommando-Wort. Erst in diesem Augenblick wurde eine weiße Standarte geschwungen und den Verurteilten mitgeteilt, daß der Kaiser ihre Strafe geändert habe. Unten am Schaffott warteten die Schlitten, die sie nach Sibirien bringen sollten. Dostojewski war zu zehnjähriger Zwangsarbeit verurteilt. Aber die Strafe wurde später auf fünf Jahre Zuchthaus und vierjährige Dienstzeit als ge33

meiner Soldat mit Verlust des Adelstandes und der bürgerlichen Rechte vermindert. In Tobolsk trennten sich die Wege der Gefangenen; sie sagten einander Lebewohl. Man legte ihnen Fußfesseln an, rasierte ihre K ö p f e und schickte sie in ihre verschiedenen Bestimmungsorte. Was Dostojewski sah und fühlte, erlebte und erlitt in dem sibirischen Zuchthaus unter Verworfenen und Bettlern, Unwissenden und Wilden, Verbrechern und Verzweifelten, das hat er in indirekter Form der Welt mitgeteilt in seinen »Aufzeichnungen aus dem toten Hause«, einem der größten Meisterwerke in beschreibender und psychologischer Hinsicht, das irgend eine Literatur aufzuweisen hat. Hätte er in eigenem Namen geschrieben und sein Verbrechen als ein politisches ausgegeben, würde das Buch nicht die Zensur passiert haben. Wir treffen daher einen erdichteten Erzähler, der in plötzlicher Leidenschaft ein gewöhnliches Kriminalverbrechen begangen hat und auf dessen Rechnung die Beobachtungen kommen. Was Dostojewski nicht erzählt, das ist, daß er selbst persönlich der Gegenstand der entsetzlichen, körperlichen Strafen w a r , die er beschreibt. Von 1 8 4 9 - 1 8 5 9 w a r Dostojewski f ü r die Literatur tot. 37 Jahre alt kehrte er von Sibirien mit völlig zerrüttetem N e r vensystem zurück. Eine große Veränderung w a r mit ihm vorgegangen. In den vier Jahren, die er in der Zwangsanstalt zugebracht hatte, hatte er nur ein einziges Buch bei sich gehabt, das Neue Testament, und er hatte es wieder und wieder gelesen. Alle Empörung in seiner Seele w a r erloschen. Er sah nicht allein ein, mit wie geringer Menschenkenntnis er so jung die Welt hatte reformieren wollen, und wie wenig jener abstrakte Idealismus verschlug; sondern er w a r auch durchaus fromm und demütig geworden, gehorsam und untertänig. Er fand seine Strafe gerecht; ja, noch mehr, er w a r Kaiser Nikolai dankbar dafür. Er bildete sich ein, er wäre ohne sie wahnsinnig geworden; meinte, daß das geheimnisvolle Entsetzen, das er stets bei Anbruch der Dunkelheit fühlte, unter normalen Verhältnissen ihm den Verstand geraubt haben würde; nun nahmen wirkliche Leiden diesem seine Macht. Zunächst hatte er einen tiefen Einblick in das Seelenleben des russischen Volkes erhalten. Sein Geschick hatte ihm die Einsicht in das eröffnet, was gewöhnlich als die K l o a k e der Menschheit gilt, und er hatte bei jedem, selbst dem am tiefsten Gesunkenen trotz aller Schlechtigkeit noch etwas Hohes gefunden. Gleichzeitig damit, daß er den Glauben an den Nutzen und die Möglichkeit einer politischen Revolu34

tion verloren hatte, gewann er den Glauben an eine sittliche Revolution im Geiste des Evangeliums. Er kehrte als Philanthrop zu den russischen Dichtern zurück, als der Dichter der hilflosen Parias. Mit Recht ist anderswo gesagt, was Wilberforce im englischen Parlament für die Neger gewesen, das war Dostojewski in der russischen Literatur für das Proletariat, d. h., ihr Fürsprecher. Er ist als Künstler wahrheitsliebend genug, um den Paria nicht sonderlich zu verschönen, als Poet schwärmerisch genug, um das Bestehen eines »göttlichen Funkens« selbst bei diesen Elenden zu verkünden. J a noch mehr, die Moral, die er verkündet, ist vielleicht der reinste Ausdruck für die Paria-Moral, die Sklaven-Moral, und reiner vielleicht noch als das historische Christentum, worin sich auch andere Moral-Elemente finden. Dem Philosophen Friedrich Nietzsche verdanken wir die Feststellung des wahren und tiefen Gegensatzes zwischen Herren-Moral und Sklaven-Moral. Die Ausdrücke stammen von ihm? Unter H e r ren-Moral versteht man die Moral, die ausgeht vom Selbstgefühl, v o m positiven Lebensgefühl: die Moral Roms, Islands, der Renaissance; unter Sklaven-Moral diejenige, welche ausgeht von der Selbstlosigkeit als der höchsten Tugend, v o m H a ß gegen die Glücklichen und Starken. D a s stete Preisen des Selbstlosen, Aufopfernden (im Gegensatz zu dem, der seine volle K r a f t einsetzt für Selbsterhaltung, Selbstentwicklung und Machterweiterung) entspringt selbst keineswegs aus dem Geist der Selbstlosigkeit. Der Mensch lobt die Selbstlosigkeit, weil er Vorteil davon hat; dächte er selbst selbstlos, würde er alles von sich weisen, was ihm zum Vorteil gereichen kann. Hierin liegt der Grundwiderspruch dieser Moral, daß ihre Beweggründe gegen ihr Prinzip streiten. Sie wird verkündet zum Besten der unglücklichen Menschen und hat in der Regel keinen eifrigeren und wärmeren Fürsprecher als die Art von Unglücklichen, die nicht selbständiges Geistesleben genug haben, um in ihrer eigenen Ideenwelt leben zu können, aber sogenannte Bildung genug, um darunter zu leiden, und deren tiefstes Wesen der N e i d ist. Was für Begabung und Bildung auch solche Menschen haben, es bereitet ihnen Q u a l ; sie leben in einem steten D r a n g nach H a ß gegen die, von denen sie argwöhnen, sie könnten schöpferisch tätig sein. Dostojewski entwickelt sich zu einem kolossalen Muster dieses Typus, als er die schlimmsten Mißhandlungen seines Lebens hinter sich hat und nun arm, verschuldet und in steten, endlosen Geld35

Verlegenheiten, abhängig von den Verlegern, deren Vorschüsse ihm den Lebensunterhalt verschaffen, aufs Neue anfangen soll, sich einen Weg in der Literatur zu bahnen. Das erste Buch, das er nach seiner Rückkehr von Sibirien schrieb, »Erniedrigte und Beleidigte«, gehört nicht zu seinen besten Werken, es enthält Charaktere, die er bereits in seinem ersten Buch angedeutet hatte und die später bei ihm wiederkehren. Er hatte von Sibirien eine junge Frau mitgebracht, in welche er selbst verliebt war, die Witwe eines der Anhänger Petraschewskis, der in der Gefangenschaft starb. Aber sie ihrerseits liebte einen andern, und Dostojewskis Briefe zeigen, wie er ein ganzes J a h r daran arbeitete, sie mit seinem Nebenbuhler zu vereinen, und wie er seine Freunde in Bewegung setzte, um die Hindernisse f ü r die Verbindung dieser beiden aus dem Wege zu räumen. Dieser Kampf endete indessen damit, daß er sie selbst heiratete. Diese Tatsache liegt der Handlung in den »Erniedrigten und Beleidigten« zu Grunde, worin die Schilderungen übrigens, die an Dickens erinnern, keinen lebenswahren Eindruck machen. E r warf sich auf die Journalistik, die auf ihn während seines ganzen Lebens Anziehung ausübte und welcher er viel Zeit und K r a f t gewidmet hat. Er wurde Mitarbeiter an den von seinem Bruder Michael herausgegebenen slawophilen Zeitschriften, zuerst »Die Zeit«, dann »Die Epoche« und predigte Liebe und Bewunderung für Rußland, »das nicht mit dem Verstände begriffen werden kann, sondern an das man glauben muß.« Im Jahre I 8 6 J verliert er seine erste Gattin und seinen Bruder Alexis; Michaels zweite Zeitschrift geht ein, und er flüchtet ins Ausland, um seinen Gläubigern zu entgehen. Er hat keine Freude an der Reise, die er durch Deutschland, durch Frankreich und Italien macht. E r hat stets epileptische A n f ä l l e und muß heimkehren, um seine Verleger um neuen Vorschuß zu bitten, der ihm auch gewährt wird, aber unter den ungünstigsten Bedingungen. Von der Reise bringt er einen einzigen tiefen Eindruck mit, den einer Hinrichtung, deren Zuschauer er in Lyon gewesen war. Sie hat ihm den Augenblick seines Lebens zurückgerufen, in dem er sich am tiefsten erschüttert fühlte und an den die Erinnerung stets in seinen Romanen wiederkehrt: Jene Morgenstunde auf dem Schaffott am 22. Dezember 1849. 1862 machte er einen mächtigen Eindruck auf die Lesewelt mit seinen »Erinnerungen aus dem toten Hause«; 1866 aber schlug er völlig durch mit »Verbrechen und Strafe« (Raskolni-

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kow), das einen Beitrag zu der Psychologie des damaligen Rußlands liefert wie kaum ein anderes Werk. Was das Buch schildert, ist nur anscheinend etwas Spezielles; in Wirklichkeit rollt es ein allgemeines großes Gesellschaftsbild auf.

II. Das Problem des Buches ist mit knappen Worten ein Problem, mit dem die meisten denkenden K ö p f e sich beschäftigt haben: die sich selbst widersprechende Doppelbetrachtung der Gesellschaft über den Wert des Menschenlebens. Man findet das Problem tief behandelt in Bismarcks Reden. 5 Es beschäftigte den Schreiber dieser Zeilen, als vor mehreren Jahren in Berlin ein Mord an einem mehr als 82 Jahre alten Weibe verübt war, die von einem der vielen Liebhaber, welche sie durch Geld gewonnen hatte, erschlagen war. 6 Das Problem war dieses: hat das Menschenleben unbedingten Wert? Warum beantwortet die moderne Gesellschaft diese Frage auf sich selbst widersprechende Weise? Sie straft mit den härtesten Strafen die Mutter, die ihr neugeborenes K i n d tötet, ohne Rücksicht darauf, daß sie nur aus Furcht vor Schande oder aus Mangel sich selbst einen weit größeren Verlust und einen weit größeren Schmerz zufügt, als der Gesellschaft; ja sie bestraft sie, selbst wenn ihr Beweggrund der gewesen ist, das K i n d vor all dem Elend zu behüten, das es zu erwarten hätte. Die Gesellschaft fordert, daß der volle Kelch des irdischen Glücks über das Haupt des kleinen Wesens ausgegossen werden soll. Aber die Gesellschaft widersetzt sich nicht der Anlage von Fabriken, deren Betrieb den Arbeitern Krankheit und frühen Tod bringt, ja sie betrachtet noch die Anlage einer solchen Fabrik in einer industrielosen Gegend als eine Wohltat. Derjenige, der sich in Dostojewskis Werk mit diesem Problem befaßt, ist Raskolnikow, ein junger russischer Student, ungewöhnlich schön, mit feinem Gesichtsausdruck und schwarzen seelenvollen Augen, aber arm, wie nur ein russischer Student arm ist, in tiefstem Elend, in Lumpen gehüllt, mit einem Hut, den man nicht ansehen kann, ohne zu lachen. Aus Armut hat er die Studien aufgegeben, ' G e s a m m e l t e Reden des Fürsten Bismarck. (Hahn 1., 895). 9 G . Brandes, Berlin, S. 303 ff.

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sich vergebens bemüht, sich zu ernähren und ist tiefer und tiefer gesunken. Er ist verschlossen, mürrisch, mißtrauisch und hypochondrisch; er ist stolz, aber zugleich großmütig und gut; er verrät sogar, dazu gezwungen, seine Gefühle. E r ist ehrgeizig und von großer Kühnheit, aber o f t so mißmutig, daß er kalt und gefühllos bis zur Unmenschlichkeit erscheint. E r ist von Charakter Melancholiker, finster und auffahrend, hochmütig und hochherzig, traurig über das Unglück des Menschengeschlechts und mit einer stets brennenden Begier, den Menschen ein Helfer zu sein. Er ist von N a t u r träg. Man ist das nach des Verfassers Meinung durchgehend in Rußland, w o alle wünschen, ohne Arbeit und Mühe schnell reich zu werden, und w o man daran gewöhnt ist, daß alles, was man überhaupt erreicht, einem f i x und fertig in den Schoß fällt, gewohnt, am Gängelband geführt zu werden, gewohnt, seine ganze geistige Nahrung von andern vorgekaut zu bekommen. Seit fast 200 Jahren hat man sich jeder öffentlichen Wirksamkeit entwöhnt. War Raskolnikow von Natur schon melancholisch, so bietet die Armut seiner Melancholie neue Nahrung. Schon sein elendes Zimmer verstimmt ihn unausgesetzt. Der schmutzige, enge Raum engt seine Seele ein. E r kann seine Miete nicht bezahlen und leidet o f t Hunger. An den langen Winterabenden hat er kein Licht, liegt im Dunkeln, arbeitet zuletzt nicht einmal, um sich Licht zu verschaffen; auf seinem Bücherbrett sind die Kollegienhefte mit fingerdickem Staub bedeckt. Er träumt, träumt beständig. Träumt von einer abscheulichen, alten Wucherin, steinreich und geizig, von der er öfters geborgt hat, und von einem sie betreffenden Gespräche, dessen Zeuge er einmal in einer Kneipe war. D a saß ein Student und sagte: »Die verfluchte Alte möchte ich totschlagen und berauben und ich versichere Dich, daß ich auch nicht die geringsten Gewissensbisse spüren würde.« E r sagte das wohl im Scherz, setzte aber im Ernst fort: »Auf der einen Seite eine dumme, elende, niederträchtige Alte, die nicht allein niemandem nützt, sondern allen schadet, mit denen sie in Berührung kommt; auf der andern Seite junge, frische K r ä f t e , die zu Grunde gehen aus Mangel an Unterstützung und zwar zu Tausenden; hunderte, vielleicht tausende von Existenzen, die auf den rechten Weg gebracht werden könnten, Dutzende von Familien, die vor dem Elend, der Unzucht, von widerlichen Krankheiten befreit werden könnten - alles durch das Geld dieser A l t e n . . . und was hat überhaupt die E x i stenz dieser schwindsüchtigen, dummen und niederträchtigen Alten

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auf der allgemeinen Waagschale des Lebens f ü r eine Bedeutung? Nicht mehr als das Leben einer Laus, einer Schabe und nicht einmal soviel; denn die Alte ist weit schändlicher, da sie das Leben anderer untergräbt.« Die Worte schlagen in Raskolnikows Seele ein, weil gerade derselbe Gedanke in seinem K o p f e schwirrt, rumoren fort in seinem Hirn wie das Küchlein im Ei, umsomehr, da zu seinem eigenen Elend das der Wesen getreten ist, die ihm die teuersten sind. Seine alte Mutter, die draußen in einer Provinzstadt lebt von einer Pension von 120 Rubeln, und die durch Stricken und Sticken ihre armen Augen verdirbt und doch nur noch zo Rubel im Jahre dazuverdient, schickt ihm einen Brief, aus dessen milden, rücksichtsvollen Ausdrücken hervorgeht, daß seine einzige, heißgeliebte Schwester, so stolz und schön wie er selbst, im Begriff steht, sich in einer abscheulichen Ehe zu opfern, um ihn auf der Universität halten und die Mutter auf ihren alten Tagen unterstützen zu können. Er fährt auf, sträubt sich wider den Stachel, will seiner reinen Schwester verbieten, sich auf diese schreckliche Ehe einzulassen. Aber mit welchem Recht verbieten? Wie verhindern? Was kann er ihr dafür bieten? Ihr und der Mutter seine ganze Z u k u n f t bieten, wenn er erst seine Studien vollendet und eine Stelle erlangt hat! In zehn Jahren vielleicht! Aber bis dahin ist seine Mutter blind oder tot vom Fasten und Weinen und bis dahin ist die Schwester . . . was kann nicht in zehn Jahren geschehen! E r hat sich früh eine eigene Theorie über Verbrechen gebildet, daß der ungewöhnliche Mensch das Recht habe, nicht das offizielle Recht, sondern eins, welches ihm das Gewissen gibt, gewisse Hindernisse und Schranken zu überschreiten, die andere Menschen hemmen; einzig und allein doch in dem Fall, daß seine Idee, eine Idee, die auf das Menschenglück ausgeht, ein solches Uberschreiten fordert. Wenn Männer wie Kepler und Newton ihre Entdeckungen auf keine Weise der Menschheit hätten zugänglich machen können als durch Aufopferung von Menschenleben, die ihren Entdeckungen Hindernisse in den Weg legten, so hätten sie das Recht gehabt, ja waren sogar verpflichtet dazu, sie aus dem Wege zu räumen. Die Erfahrung lehrt ihn, daß fast alle Gesetzgeber und Reformatoren der Menschheit von den ältesten an bis zu Lykurg, Solon, Muhamed, Napoleon Verbrecher gewesen wären, schon dadurch, daß sie ein neues Gesetz schufen und ein altes umstießen, das der Gesellschaft als heilig galt und von den Vorfahren überliefert war, 39

und daß sie vor Blutvergießen nicht zurückgeschaudert wären, nicht einmal vor dem Vergießen ganz unschuldigen Blutes, das mit Heldenmut zum Schutz des alten Gesetzes aufgeopfert wurde. Die Menge erkennt nicht das Recht solcher Menschen, sie richtet sie hin oder hängt sie, wenn sie diese erreicht, aber die folgenden Geschlechter stellen diese Ermordeten auf Piedestale und erweisen ihnen Ehrerbietung. U n d ist er nicht selbst ein solcher ungewöhnlicher Mensch? Aber sein ganzes Wesen empört sich gegen die Tat. Sie ist ihm zu ekelhaft, allzu widrig. Eine alte Frau mit einer Axt zu Boden zu schlagen! All sein Stolz, der ganze Adel seiner N a t u r krümmt und windet sich. Doch die Tage gehen - und es ist kein anderer Ausweg; langsam, langsam macht er sich mit dem Gedanken vertraut; durch einen ganz merkwürdigen Zufall erfährt er die Zeit, wann die alte Frau an einem bestimmten Abend allein sein wird . . . es ist, als wäre er mit dem Zipfel seines Kleides in das Rad einer Maschine gekommen, die ihn mit sich fortwirbelt, und mit einer Mischung von verzweifelter Entschlossenheit und kindlichem Leichtsinn vollführt er in dem Augenblick des Verbrechens den Mord - und noch einen Mord; denn ihre Schwester, ein einfältiges und gutmütiges Geschöpf tritt ein, als Raskolnikow gerade begonnen hat, die Taschen der Toten zu untersuchen, und er tötet sie mit noch einem Schlage. Aber er war der Tat nicht gewachsen oder zu edel angelegt für die Untat - wie man es nehmen will. Er kann morden im Nachtwandler-Wahnsinn, aber er vermag nicht zu stehlen. Er eignet sich nur ein paar wertlose Sachen an, entrinnt mit äußerster Mühe dem Schicksal, am Ort der Tat ergriffen zu werden; und nun beginnt die Periode seines Lebens, in der er nicht mehr imstande ist, etwas anderes zu tun, als über seine Untat nachzugrübeln. Er vertilgt alle ihre materiellen Spuren; aber er geht auf in dem Gedanken, sie zu verbergen, und verrät sich doch alltäglich, wo er geht, dem, der den Schuldigen sucht. Aber das ist nicht die Hauptsache; keine äußere Entdeckung vernichtet ihn, sondern eine innere, die, daß er nicht eine von jenen auserwählten ungewöhnlichen Naturen ist, denen alles erlaubt ist. Er vermag nach der Ausführung seines Verbrechens nicht mehr, sich zu der Höhe zu erheben, von der er es betrachtete, ehe es vollbracht war. Er verzehrt sich allmählich. »Nein«, sagt er zu sich selbst, »jene 40

Menschen, die man bewundert, sind nicht so beschaffen wie ich. Der wahre Herrscher, dem alles erlaubt ist, vernichtet Toulon, bemächtigt sich mit den Bajonetten der Macht in Paris, vergißt ein Heer in Ägypten, opfert eine halbe Million Menschen auf dem Feldzuge nach Moskau, macht dann in Wilna ein Wortspiel darüber - und nach seinem Tode werden ihm Götzenbilder errichtet. - Solche Menschen müssen wohl von Erz sein, aber nicht von Fleisch und Blut!« Und ein Nebengedanke bringt ihn fast zum Lachen: »Napoleon - die Pyramiden, Waterloo - und ein ekelhaftes, kleines, altes, wuchertreibendes Weib mit einem rotbeschlagenen Koffer unter ihrem Bett. Würde wohl Napoleon in das Bett einer elenden Alten k r i e c h e n ? . . . Unsinn!« Ihn bekümmert nicht der Mord der Alten; er betrachtet immer noch ihr Leben als ein unnützes, ihren Tod als etwas Gleichgültiges, sogar Nützliches. Die Alte ist und bleibt ihm Nebensache; er wollte ja durch ihren Tod nur einem Prinzip zum Leben verhelfen; nicht einen Menschen töten, sondern ein Vorurteil und die Kluft überschreiten, welche die Alltagsseelen, die zum gewöhnlichen Troß gehören, von den Scharen der Auserwählten trennt. Er hat das Vorurteil getötet, aber er ist gleichwohl auf dieser Seite der Kluft stehen geblieben. Er ist grenzenlos elend, elender als je zuvor. Er hat nichts Böses getan. Er wollte nur seine Mutter nicht hungern lassen und seinen Rubel in der Tasche behalten. Und wie wahnsinnig hat er gehandelt! Er versicherte sich ja erst durch sorgsame Selbstprüfung, daß er die Schranke nicht überschreiten wollte, um sinnliche Triebe zu stillen, sondern um eines großen Zieles willen; so suchte er sich unter all den »unnützen Läusen« die allerunnützeste aus und endlich beschloß er, indem er jene Frau ermordete, nur soviel zu nehmen, als ihm absolut nötig war zu seinem nächsten Ziel. Aber nicht die Alte hat er getroffen; sich selbst, sein eigenes Ich. Seine Tat ist ihm weit über den Kopf gewachsen, sie hat ihn vollständig isoliert, ihn ganz in sich selbst zurückgeworfen. Das Geheimnis quält ihn bis zum Wahnsinn, und die Qual, eine »Laus« zu sein, wie all die andern, vernichtet ihn. Sobald er den Mord begangen hat, fühlt er sich einsam, fremd vor sich selbst, und zu ewigem Schweigen verdammt. Es ist ihm, als könnte er niemals mehr mit anderen sprechen. Bald darauf wird er von einem wahnsinnigen Drang gequält, sich zu verraten, selbst alles zu erzählen. Er würfe am liebsten sogleich den ganzen Raub 4i

in den Kanal, er denkt nicht daran, es anzuwenden, vergißt es unter einem Stein am Bauplatz. Er begreift selbst nicht, was mit ihm geschehen ist, aber es ist ihm, als wäre er von seiner Vergangenheit abgetrennt wie durch den Schnitt einer Schere. Es kommt ein Augenblick, wo er am liebsten gleich ins Wasser spränge, um dem allem ein Ende zu machen. Auf seine Umgebung macht er den Eindruck eines Verrückten. Aber er t r i f f t menschliches Elend in seinen schlimmsten Gestalten - einen sterbenden Trunkenbold, eine brustkranke Witwe mit einer Reihe Kinder ohne Brot, ein edles junges Mädchen, das sich zum Freudenmädchen hat erniedrigen müssen, um seinen kleinen Geschwistern Nahrung zu verschaffen - und der Drang, Edelmut zu zeigen, zu helfen, gibt ihm auf kurze Zeit den Glauben an das Licht wieder. Doch dem kurzen Aufschwung folgen neue Qualen. Der Gedanke martert ihn, ob die andern nicht alles wüßten; so spielt er eine ganz unnütze Komödie, wenn er sich vor gewissen Leuten verstellt. Und wirklich ist man ihm auf der Spur: Einer, der alles geahnt und ihn ganz durchschaut hat, und dieser Eine ist ein genialer Jurist, ein Untersuchungsrichter. Raskolnikow wird aber weder in H a f t genommen, noch verhört, nein, was zuletzt seine Lippen öffnet und ihn zur Selbstanzeige zwingt, ist ein rein inneres, seelisches Ereignis. Lange bevor dies zum Ausbruch kommt, kommt es ihm vor, als nähere sich der Augenblick, da er sich verraten müsse, und er vergleicht selbst das Gefühl von dem Kommen dieses Augenblicks mit dem früheren Empfinden, als er vor der Notwendigkeit stand, die Alte zu ermorden. Doch jenes Gefühl wird beständig durchkreuzt von dem Gefühl des auflodernden Hasses gegen die Mitwelt; er nährt einen mörderischen H a ß gegen die, von denen er ahnt oder fürchtet, daß sie um sein Geheimnis wüßten. Wenn er in seinen einsamen Betrachtungen sich selbst die Fragen vorlegt, was er unter diesen oder jenen Umständen tun müsse, um nicht überlistet zu werden, ist der Ausbruch »so töte ich ihn« die stete Antwort auf alle solche auftauchenden Fragen. Ja zuletzt entdeckt er mit Schrecken, daß er sogar an Mutter und Schwester, die er stets so lieb gehabt, zuweilen mit einem Gefühle von H a ß denkt. U n d all dieser H a ß und all diese Qual ist entsprungen aus Liebe. H ä t t e er nur nicht so heiß geliebt, so wäre dies alles nicht geschehen! Wäre seine Seele kalt gewesen, er selbst nicht kühn, hochherzig und ernsthaft, er wäre niemals ein Mörder geworden. Mehr und 41

mehr fühlt er sich in jener schrecklichen Zeit zu jenem jungen, oben erwähnten Mädchen hingezogen, das aus Liebe zu seinen kleinen Geschwistern eine Dirne geworden. Sie konnte selbst bei angestrengtester Arbeit niemals das zum Lebensunterhalt Nötige durch Tagelohn verdienen, und die Mutter selbst hatte sie auf die Straße getrieben. Mitleid hat ihn in Verbindung mit ihr gebracht, Bewunderung f ü r den Adel und die Reinheit ihres Wesens - denn kein Tropfen wirklicher Unzucht war noch in ihr Herz gedrungen - bewegt ihn, sie aufzusuchen. Er ehrt die von der Welt Verstoßene. Auch sie hat ja »die Schranken überschritten«, auch sie hat H a n d an ein Menschenleben gelegt, an ihr eigenes, hat sich geopfert und sich unnütz geopfert; aber sie steht seelisch hoch über ihm. Und sie wird nach und nach sein Gewissen. Eines Tages, da er lange schweigend in ihr weinendes Antlitz geblickt, wirft er sich vor ihr nieder und küßt ihre Füße. »Was tun Sie? Was tun Sie? Das mir!« Er antwortet: »Nicht vor Dir habe ich mich gebeugt - ich habe mich gebeugt vor dem ganzen Leiden des Menschengeschlechtes.« Sonjas Bitte ist, er solle selbst sein Verbrechen anzeigen, »sein Martyrium auf sich nehmen«; sie will ihn niemals verlassen, will ihm in die Verbannung nach Sibirien folgen als Zuchthäuslerin. Er weigert sich lange. Auch seine Schwester ruft ihm zu, sich selbst anzuzeigen; sie sieht in diesem Schritt die erste Rettung von der Selbstverzehrung, in die er gesunken ist. Aber als sie den Ausdruck Verbrechen gebraucht, empört er sich. »Daß ich eine widerwärtige, schädliche Laus, eine alte Wucherin ermordet, für deren Tod einem vierzig Sünden vergeben werden könnten, ein Wesen, das den armen Leuten das Blut aussaugte - das soll ein Verbrechen sein!« »Du hast Blut vergossen«! ruft die Schwester verzweifelt aus, »Blut«! antwortet Raskolnikow. »Alle vergießen es - es fließt und hat stets auf Erden in Strömen geflossen, es wird wie Champagner vergossen, und man wird deshalb auf dem Kapitol gekrönt und Wohltäter der Menschheit genannt - ich selbst wollte ja nur das Gute, und würde hunderttausend gute Taten für diese eine Dummheit begangen haben, und es war nicht einmal eine Dummheit, nur eine Nachlässigkeit. Durch diese Dummheit wollte ich mir nur eine unabhängige Stellung verschaffen, den ersten Schritt tun, und dann sollte dies alles durch einen verhältnismäßig ungewöhnlichen Nutzen aufgewogen werden. Aber nicht einmal den 43

ersten Schritt habe ich ausführen können, weil ich ein Lump bin! D a s ist das G a n z e ! « Doch Sonja ist auf die Länge stärker als er. Er kann den bei all ihrer Demut und Bescheidenheit starken Bitten des Weibes nicht widerstehen, seine T a t zu bekennen; und der R o m a n endet mit Raskolnikows Selbstanklage auf dem Polizeikontor: »Ich bin es gewesen, der die alte Registratorwitwe und ihre Schwester mit einer A x t mordete und darauf ihr Eigentum raubte.« III. Dostojewski hat in dieser Erzählung offenbar ein Zeitbild geben wollen. »Was hier vorliegt«, sagt im dritten Teil des Buches der Untersuchungsrichter Porphyrius zu dem Helden, »ist deutlich genug ein phantastisches, trauriges Produkt der neuen Zeitrichtung; es ist eine T a t , die nur die Neuzeit hervorbringen kann, die Zeit, in der es Brauch ist, seine Gefühle zurück zu zwingen und Phrasen anzuführen wie die: daß Blut »erfrischend« wirkt; diese Phantasien stammen aus Büchern; es ist ein Herz, das k r a m p f a r t i g von Theorien überreizt ist; es ist eine Entschlossenheit, die bis zum Verbrechen geht, wie wenn fremde Füße ihn dahin brächten.« Der Verfasser hat augenscheinlich die politische Gärung im Auge, obgleich er sich wohl hütet, ein Wort über Politik fallen zu lassen. Es findet sich unzweifelhaft eine Hindeutung auf den Kaisermord. »Es ist nur gut«, sagt Porphyrius zu Roskolnikow, »daß es nur ein elendes, altes Weib war, das Ihr mordetet; wenn Ihre Theorie eine andere Richtung genommen hätte, so wäre Euer Verbrechen vielleicht noch eine hundertmillionenmal fürchterlichere T a t geworden.« U n d es findet sich nebenbei durch einen Traum, den Raskolnikow hat, während er über dem Mordgedanken brütet und sich davor entsetzt, eine Schilderung, die sich wohl keineswegs auf das russische Volk anwenden läßt, aber die unzweifelhaft in einem Sinnbild die finsterste Vorstellung der Zustände geben will. Der H e l d sieht im Traume ein klägliches mageres, hellbraunes Bauernpferd, das vor einem ungeheuern Lastwagen gespannt ist, den es unmöglich ziehen kann; aber von dem rohen Besitzer des Wagens wird es wieder und wieder gepeitscht ohne Gnade, über das Maul, über die Augen, erst mit einer Peitsche, dann mit drei Peitschen auf einmal; es stöhnt und keucht, kann kaum atmen, zieht, bleibt stehen, versucht wieder zu ziehen, kann den Hagel 44

von Schlägen nicht länger aushalten und beginnt endlich unter allgemeinem Gelächter auszuschlagen. Es wird von Neuem gepeitscht - während einige das Tamburin dazu schlagen, einer ein freches Lied singt und ein Frauenzimmer vergnügt Nüsse knackt - gepeitscht über das Maul und über die Augen. D a selbst wuchtige Schläge mit einer Wagenstange über den Rücken das Pferd nicht weiter treiben können, greift der Besitzer zu einer großen Eisenstange und gibt ihm hiermit einen Schlag. Es versucht zum letzten Mal zu ziehen; da schlägt es noch ein Hieb entseelt zu Boden. Wo der soziale Zustand der Art ist, wie er hier symbolisch geschildert wird, da ist es kein Wunder, daß sich in der Seele der Jugend blutige Gedanken regen. Ist es auch kein, politischer Verbrecher, den Dostojewski dargestellt hat, so ist es doch einer, dessen Verbrechen das Gemeinschaftliche mit einem politischen hat, daß es kein L u m p ist, nicht ausgeführt in der gemeinen Absicht, sich großen Reichtum zu verschaffen, sondern bis zu einem gewissen G r a d e uneigennützig, und vor allem, es ist ausgeführt von einer Person, die im Augenblick des Verbrechens keinen Zweifel an ihrem Recht hegt. Vergleicht man indessen die Männer und Frauen, die wir in späteren Jahren in Rußland wegen Mordes verurteilt gesehen haben, und nicht weniger die, welche als Teilnehmer am Kaisermord hingerichtet wurden, mit diesem Mörder, so ist der Gegensatz auffallend. Jene gingen keineswegs durch die seelischen Folgen ihrer T a t zugrunde; sie waren als Verschworene, in und nach dem Augenblick des Mordes, in voller Übereinstimmung mit ihrem innersten Wesen; ihre Überzeugung blieb unverrückt und unangefochten bis zuletzt. Wären sie nicht aus dem Wege geschafft worden, würden sie aller Wahrscheinlichkeit nach ihr Leben zu Ende gelebt haben, ohne eine andere Erinnerung zu bewahren, als eine ruhige und stolze an ihre Mordattentate auf die Wesen, deren Ausrottung sie für eine gute T a t , ja sogar für ihre Pflicht hielten. Raskolnikow hingegen geht unter den Folgen des Mordes zugrunde. Er ist wie die politischen Verbrecher von einem bestimmten Grundsatz ausgegangen, der z w a r im Buche nicht genannt wird, aber nichtsdestoweniger seiner Handlungsweise zugrunde liegt, daß nämlich der Zweck das Mittel heiligt. Dieser Satz, den die Einfalt mißverstanden und der Jesuitismus mißbraucht hat, ist bestimmt und buchstäblich wahr. Das Wort »heiligt« weist darauf hin, daß ein guter, würdiger Zweck gemeint ist. 45

Einen guten, würdigen Zweck hat derjenige, der etwas wirklich Wertvolles erhalten oder vollbringen will. Gesetzt nun, daß einer nur sein gutes Ziel erreichen kann, indem er Leid zufügt, und gesetzt, daß dieses Leid geringer wäre als das, welches erstehen würde, wenn er es unterließe, das Mittel anzuwenden; gesetzt, z. B., daß ein Mann das Wohl seiner Mitbürger will und diesen guten Zweck nur erreichen kann, indem er einen einzelnen Mann stürzt (es sei ein mit ansteckender Krankheit Behafteter oder ein Tyrann): so ist seine Handlung rühmenswert, wenn er von den beiden Übeln - wovon das eine oder das andere mit Notwendigkeit eintritt - das kleinste wählt. Der naheliegende Einwand, daß er die Folgen seiner Tat nicht übersehen kann, bedeutet nichts, da die Moral auf die Rücksicht, nicht auf das Resultat sieht. Im täglichen Leben bezweifelt darum auch niemand die Richtigkeit des Satzes; man ist vollkommen mit dem Gedanken vertraut, daß es keine absoluten Pflichten gibt. Die Gesellschaft lehrt: Du darfst nicht töten, aber fügt hinzu: ausgenommen, wenn das Vaterland (der gute Zweck) es fordert, denn da ist es nicht nur erlaubt, sondern Pflicht, die größtmögliche Anzahl Feinde zu töten. Die Gesellschaft lehrt, es ist eine schlechte Handlung, Arm oder Bein eines andern abzuschneiden, fügt aber hinzu: wenn der Arzt Arm oder Bein amputiert in der Absicht, das Leben eines Kranken oder Verwundeten zu retten, so heiligt der gute Zweck das Mittel. Damit der Satz gültig sein soll, müssen folgende Bedingungen erfüllt sein: Der Zweck muß gut sein. - Der Zweck darf durch keine anderen Mittel zu erreichen sein, als durch schmerzbereitende, auch nicht durch ein in geringerem Grade schmerzbereitendes Mittel als das angewandte. - Das Leid, das als Schmerz angewandt wird, muß geringer sein als das, welches ohne Anwendung des Mittels entstehen würde. - Mit Rücksicht auf alle diese Punkte wird der typische russische Terrorist vor wie nach seinem Eingriff in den Gang der Ereignisse ohne irgendwelche Gewissensbisse sein. Warum ist es Raskolnikow nicht? Obwohl Dostojewski unzweifelhaft nicht das geringste Gemeingefühl mit politischen Terroristen mehr übrig gehabt hat, seitdem selbst politische Fortschrittsmänner ihm verhaßt waren, hat er doch in diesem Punkt eine außerordentliche Feinheit des Empfindens gezeigt. Er bestreitet eigentlich nicht die Richtigkeit von Raskolnikows Räsonnement, aber zeigt, daß er unklar über seinen Zweck 46

ist, ungewiß, ob es wirklich ein guter ist oder nicht. Zu Sonja sagt dieser einen M o n a t nach dem M o r d e v e r z w e i f e l t , d a ß er stets unsicher gewesen wäre. W e n n er sich selbst p r ü f t , f i n d e t er, d a ß er im G r u n d e nicht gemordet hat, um seine M u t t e r zu unterstützen, auch nicht um ein W o h l t ä t e r der Menschheit zu werden, sondern um zu e r f a h r e n , ob er wie alle a n d e r n »eine Laus« wäre, nicht ein Mensch, das heißt, ob er imstande wäre, die Schranken zu überschreiten oder nicht. Er ist unsicher in seinem Ziel u n d unsicher in seiner innern Berechtigung, dieses bestimmte Ziel zu verfolgen, das nach seiner eigenen Theorie nur von den Auserkorenen mit allen Mitteln erstrebt w e r d e n d a r f . D a er ganze Tage hindurch sich mit der Frage quälte, ob N a p o l e o n so gehandelt haben w ü r d e , f ü h l t e er bereits dunkel, d a ß er nicht ein N a p o l e o n w a r . Deshalb w i r d er v o n den Konsequenzen der T a t völlig ü b e r w ä l tigt. Er wollte n u r ein altes Ungeheuer töten, aber k a u m w a r dies geschehen, so z w a n g ihn die N o t w e n d i g k e i t , um nicht entdeckt zu werden, ein armes gutmütiges Geschöpf zu töten, das niemals irgendeinem Menschen Leid z u g e f ü g t hatte, ja h ä u f i g ein O p f e r a n d e r e r geworden w a r . Er w i r d später selbst genötigt, Lisawetas geistige V e r w a n d t s c h a f t mit Sonja zu erkennen, die er so hoch schätzt. Er sagt i r g e n d w o : »O, wie ich jenes elende, alte Weib hasse; ich glaube, ich k ö n n t e sie noch einmal niederschlagen, wenn sie z u m Leben erwachte! Aber die arme Lisaweta! W a r u m m u ß t e sie h i n z u k o m m e n ! W u n d e r b a r , d a ß ich fast niemals an sie denke, als ob ich sie gar nicht getötet habe! Lisaweta! S o n j a ! . . . Ihr A r m e n ! Ihr Milden mit den f u r c h t s a m e n Augen . . . Ihr Lieben . . . W a r u m weint I h r nicht? W a r u m stöhnt Ihr auch nicht? Sie geben alles hin mit ihrem milden, stillen Blick.« D o c h weit mehr als dieser nicht gewollte M o r d Lisawetas m a r tert ihn die U n r u h e , e n t d e c k t zu w e r d e n u n d dieses System von Verstellen, Leugnen u n d Lügen, w o r i n er sich verwickelt! Sein Verstand ist nicht solid genug, um dies auszuhalten u n d er ist, bis er sich selbst anzeigt, beständig am R a n d des Wahnsinns. In einem Epilog, der in Sibirien spielt, läßt Dostojewski R a s k o l n i k o w s trotziges und doch gebrochenes Wesen sich auflösen in Zärtlichkeit u n d durch neuen Lebensmut gestärkt werden durch Sonjas treue, aushaltende Liebe. R a s k o l n i k o w ist »ungläubig«, aber Sonja gläubig. N o c h ehe R a s k o l n i k o w sein Verbrechen b e k a n n t hat, f i n d e t sich eine ergreifende Szene, wie Sonja ihm laut aus dem N e u e n Testament vorliest, eine Szene, in welcher das Talglicht in dem 47

krummen Leuchter des elenden Zimmers mit einem Male den Mörder beleuchtet, das gefallene Mädchen und das Evangelium - eine geniale und wahrhaft christliche Szene. In dem Epilog, zu welchem Dostojewski offenbar seine eigenen Erfahrungen aus Sibirien hat benutzen wollen, tritt seine religiöse Überzeugung direkt und doktrinär vor. Überhaupt hat man, wie ich eine junge russische Dame es ausdrücken hörte, sehr oft bei Dostojewski ein Gefühl, als ob seine geschaffenen Gestalten tiefer schauten als der Dichter selbst. Er hat es nicht vermocht, die Tragweite seiner Produktion zu übersehen.

IV. Wollte man nun die Nebenpersonen nur annähernd mit derselben Sorgfalt studieren, mit welcher hier der Charakter der Hauptperson erforscht ist, so würde man finden, daß sie fast ohne Ausnahme, ein Dutzend etwa der Zahl nach, auf der Höhe des Helden stehen durch die K r a f t und Wahrheit, mit der sie gezeichnet sind; und alle stehen im Verhältnis zu ihm. Es ist keine überflüssige Person in diesem Buche. Zu den bewunderungswürdigsten Gestalten gehört der Untersuchungsrichter Porphyrius, ein juristisches Genie, und der Gutsbesitzer Swidrigailow, eine mannigfach zusammengesetzte Natur, ein Wollüstling, der sich in Raskolnikows Schwester verliebt hat und ihr nachstellt. Er ist ein Verstandesmensch, ein vortrefflicher Kopf und besitzt, obwohl er einen ungebüßten Mord oder auch mehrere auf seinem Gewissen hat, Mut und Ehrgefühl auf seine Weise. Er bildet, als Mörder aus Eigennutz, durch zahlreiche Einzelheiten in seiner Handels- und Denkweise einen Gegensatz zu dem Helden des Buches, der sich gegen Swidrigailows Behauptung sträubt, daß sie einen bestimmten, gemeinsamen Grundzug hätten. Die Charakterzeichnung bei Dostojewski ist ersten Ranges; sie ist tief und kräftig. Gleichwohl läßt sie nach Dickens Weise fast das ganze Geschlechtsleben wenn nicht unberührt, so doch ungeschildert. Der Dichter scheut auf diesem Gebiet kein Paradox, so die sittlich untadelhafte Dirne, jedem feil und doch strahlend von Reinheit - sie erinnert mehr an eine Antithese in den Gestalten Victor Hugos als an eine wirkliche Persönlichkeit. Die Scheu vor Schilderungen des natürlichen Sinnenlebens ist 48

um so a u f f a l l e n d e r , als hier w i e in den meisten andern Büchern des Dichters unnatürliche, empörende Geschlechtstriebe gestreift werden. M a n denke hier an S w i d r i g a i l o w s häßliches Verlangen nach kleinen zarten M ä d c h e n . U n d man vergleiche die erschrekkende Inquisition in den »Besessenen«, w o S c h a t o w den S t a w r o g i n a u s f r a g t , ob es w a h r sei, daß er in Petersburg zu einem geheimen K l u b gehört haben, der B e f r i e d i g u n g unnatürlicher Wollust zum Ziele hatte, ob er w i r k l i c h gesagt habe, daß der Marquis de Sade bei ihm in die Schule gehen könnte, und ob er K i n d e r v e r f ü h r t und mißbraucht habe. Es ist klar, daß Dostojewskis Phantasie sich h ä u f i g um solche n a t u r w i d r i g e n Lüste drehte, weil nach seiner Meinung hier einer gesunden Sinnlichkeit kein R a u m gelassen wurde. Sein H a n g zur Schilderung körperlicher Leiden, das lange V e r w e i len bei Grausamkeiten deutet auch auf unnatürliche Lustgefühle. Eigentümlich ist es, daß T u r g e n j e w w i e d e r und wieder auf V e r gleiche zwischen Dostojewski und de Sade z u r ü c k k o m m t . Es ist ganz gewiß meist aus U n w i l l e n darüber geschehen, zu sehen, wie sein gehaßter R i v a l e als H e i l i g e r dargestellt w u r d e , aber es ist o f f e n b a r T u r g e n j e w s Überzeugung gewesen, daß hier physiologisch und psychologisch eine w i r k l i c h e V e r w a n d t s c h a f t stattfand. 7 Soviel ist jedenfalls klar, daß Dostojewskis Begabung mit einer perversen N e r v o s i t ä t zusammenhing. S o hoch auch die C h a r a k t e r z e i c h n u n g in »Verbrechen und S t r a f e « steht, leidet das Buch doch unter der U n v o l l k o m m e n h e i t des V o r t r a g e s . D i e dialogisierten Partien sind ohne Vergleich die besten. S o b a l d der Dichter selbst redend a u f t r i t t , hört die K u n s t a u f . Dostojewski vermochte nicht wie T u r g e n j e w den Franzosen ihre K u n s t im E r z ä h l e n abzulauschen; w a s er sich von ihnen aneignete, w a r ihr Humanitätsideal. E r , der in so hohem G r a d e Dichter w a r , w a r in geringem G r a d e Künstler. Seine Schriften ließ er alle drucken, w i e sie ihm aus der Feder flössen, ohne irgendwelches Durcharbeiten, geschweige Umarbeiten. E r ging nicht darauf aus, den höchstmöglichen G r a d v o n V o l l k o m m e n h e i t zu geben durch Z u s a m m e n d r ä n g e n oder Ausscheiden, sondern arbeitete w i e ein bloßer Publizist, und d a r u m ist er durchgehend zu w e i t l ä u f i g . So ist es gerade bei seinem vorzüglichsten W e r k e klar, daß er im ersten Teil g a r nichts von der A b h a n d l u n g gewußt hat, die er im zweiten Teil R a s k o l n i k o w über seine Theorie geschrieben haben 7

Turgenjews Brief an Saltykow vom 24. September 1882. 49

läßt. Bestimmte Äußerungen im ersten Teil widersprechen sogar dem, daß der Held eine solche geschrieben haben kann. Es paßt nur wenig zu der modernen Kunst zu erzählen, wenn der Dichter an verschiedenen Stellen des Raskolnikow Wendungen gebraucht wie: »Später erfuhr man, daß Swidrigailow an dem Abend noch einen Besuch gemacht habe« oder »als er sich später, lange darauf, jener Zeit erinnerte, war es ihm klar, daß sein Bewußtsein zuweilen umnebelt gewesen sein müßte« oder »später erschien es Sonja wunderbar, daß sie mit einem Male es begriffen hatte«. Mit solchen Wendungen sucht ein Dichter die Lücken und Versäumnisse der Schilderungen auszubessern. Irgendwo schreibt Dostojewski noch mit echter altertümlicher N a i v i t ä t : »Wir wollen vorläufig den ganzen Prozeß liegen lassen, durch welchen Raskolnikow zu diesem Resultat gekommen war; wir haben ohnedies schon zu weit vorgegriffen. Wir fügen nur noch hinzu, daß die faktischen, rein materiellen Schwierigkeiten bei dem Unternehmen eine ganz nebensächliche Rolle f ü r ihn spielten.« Vorgreifen und Entschuldigen für Vorgreifen haben in einem Roman ebensowenig Platz wie Lücken und Zustopfen von Lücken. Bereits aus »Verbrechen und Strafe« sieht man, inwiefern Dostojewski ein Dichter des Proletariats genannt werden kann. Er hat wie kein anderer das Proletariat der Intelligenz wie das der Unwissenheit gekannt und verstanden. Seine Haupteigenschaft, wenn er es darstellt, ist eine Art psychologischer Clairvoyance, die ihn nur der vornehmen Welt gegenüber im Stich läßt (z. B. der Fürst in »Erniedrigte und Beleidigte«). Die Stärke und Weite dieser Clairvoyance merkt man besonders, wenn der gesunde seelische Zustand an das Gebiet des Wahnsinns streift. Er hat den menschlichen Seelenzuständen gegenüber den sichern Blick eines Irrenarztes, aber es geht ihm zuweilen wie den Irrenärzten, daß die stete Gewohnheit, seelische Abnormitäten vor Augen zu haben, ihn dazu verführt, das Abnorme überall zu sehen; und nach und nach gerät das Gleichgewicht seines eigenen Verstandes ins Schwanken. Er nimmt gerne seinen Stand auf den schmalen Scheidelinien, die vernünftigen Ideengang von exaltiertem trennen und zweckmäßige Handlungsweise von verbrecherischer. Von diesem schmalen und niedrigen D a m m blickt er hinaus nach beiden Seiten und vergißt niemals, den Leser darauf aufmerksam zu machen, wie schmal und niedrig diese Scheide zwischen Gesundheit und Krank50

heit, Recht und Unrecht in Wirklichkeit sei. Mit besonderer Virtuosität malt er den geistigen Schwindel aus, der die Menschheit bewegt, sich in einen Abgrund von Verbrechen oder Aufopferung zu stürzen. Er kennt wie kein anderer die anziehende Macht des Abgrundes. Als Kenner des Seelenlebens ist er ganz Patholog. Die unendliche Sensibilität, eine Folge seines epileptischen Naturells, ist eher seine Stärke. Sein eigenes Leiden, seine nervösen Anfälle, seine Halluzinationen, seine Krämpfe kehren bei den Personen wieder, die er schildert. Der Schrecken, der ihn durchschauert, zuerst als er die Todesstrafe, später als er die Peitschenstrafe vor Augen hatte, begegnet uns in der Haltung seiner Hauptpersonen gegenüber der Aussicht auf Strafe wieder (Raskolnikow, eine Menge Personen in »Das tote Haus«. Dimitri in »Die Brüder Karamasow«), am deutlichsten aber in »Der Idiot«, wo der Held gleich im Beginn des Buches einem Kammerdiener alle die Schrecken der zum Tode Verurteilten vorstellt. Es wird hier entwickelt, daß das Töten infolge eines Todesurteils unverhältnismäßig abscheulicher sei als der fürchterlichste Mord selbst, und damit geschlossen: Vielleicht gibt es einen Menschen, dem ein Todesurteil nur vorgelesen ist, um ihn zu martern. Immer dieser Hintergrund von Qual und Angst! Die meisten von Dostojewskis Personen sind visionär. So allein in »Die Brüder Karamasow« der jüngste der Brüder, Aljoscha, der in den Seelen liest und das Verborgene sieht, und der edle Mönch Sosima, der Heilige des Buches, der Dmitris Versuchung zum Vatermord voraussieht und sich in christlicher Mystik vor ihm auf die Knie wirft, vor ihm als dem Sündigsten und darum dem Heile Nächsten. Epileptisch ist der Held in »Der Idiot«, Fürst Myschkin, und der Mörder in »Die Brüder Karamasow«, Smerdjakow. Da nun das Pathologische Dostojewskis Stärke ist, so ist es ganz natürlich, daß seine drei besten Bücher Verbrechernaturen schildern. Man findet sie in »Die Brüder Karamasow« wie in »Das tote Haus«; aber »Verbrechen und Strafe« gibt doch das typischste Beispiel der Meisterschaft seiner psychologischen Analyse ab; es entfaltet das Verbrechen in seinem ganzen Wachsen von der ersten Zelle an, bis es seine letzte Frucht bringt. Als Kenner kranker Sinneszustände, als Dichter »des moralischen Fiebers« hat Dostojewski nicht seinesgleichen. Es ist natürlich, daß bei einem Dichter, der so ausschließlich Psychologe ist, die Naturumgebung fast keine Rolle spielt. Was Ji

er von der Landschaft gebraucht, ist der Streifen Horizont, der Schimmer des blauen Himmels, der von einem Dachstübchen in einer der Vorstädte einer großen Stadt erblickt wird oder durch die hoch oben angebrachte Scheibe einer Gefängniszelle. Bei ihm ist alles Replik, alles Gespräch, insofern alles dramatisch. Dostojewski ist unter allen Dichtern Rußlands der größte Dialektiker. Er hat besonders seine Stärke in einer erstaunlichen Disputierkunst des Replikenwechsels. Der Monolog - und er liebt unendliche Monologe - analysiert eine Sache von den verschiedensten Seiten in das feinste Detail. Der Dialog ist bei ihm eine Art Inquisition, ein fortgesetzter Kampf zwischen Menschen, die einander ihre Geheimnisse zu entreißen suchen. Äußerst treffend hat de Vogüe den Ausdruck von ihm gebraucht, er vereine das Gemüt einer barmherzigen Schwester mit der Geistesanlage eines Großinquisitors. Sehr wahr hat derselbe Verfasser über ihn bemerkt, daß seine Personen sozusagen sich uns niemals in einer ruhigen Stellung zeigen. Niemals sitzt einer von ihnen an einem Tische, mit diesem oder jenem beschäftigt. Es heißt: Er lag auf dem Sofa mit geschlossenen Augen, aber ohne zu schlafen . . . Er ging auf der Straße ohne zu wissen, wo er sich befand . . . Er stand unbeweglich, die Blicke unausgesetzt auf einen Punkt in dem leeren Raum gerichtet. Sie speisen niemals, sondern trinken Tee zur Nachtzeit. Sie schlafen fast nie, und wenn sie schlafen, träumen sie.8 Nichts ist ihnen und ihrem Verfasser ferner als der westeuropäische Ehren-Kodex, wie er am schärfsten formuliert in Calderons Dramen hervortritt und noch existiert als Rest aus der Ritterzeit in der romanischen und deutschen Gesellschaft. In der Welt, die Dostojewski uns eröffnet, sind die am meisten kränkenden Beschuldigungen, ja ein Schlag ins Gesicht nichts Entehrendes für einen Mann. Da wird von Durchpeitschen gesprochen wie von den natürlichsten Dingen der Welt. In christlichem Geist und in guter Ubereinstimmung mit der nationalen Mystik wird das Leid beinah als ein Gut betrachtet. Eine Person bei Dostojewski sagt: »Ich fürchte nur, meiner Qual nicht würdig zu sein.« Die Qual wird als eine Art Distinktion aufgefaßt. Sie k a u f t niemals einen oder etwas los. Wenn sie vorüber ist, ist das Verbrechen, das die Anregung dazu gab, ausgelöscht.

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De Vogüe: Le Roman russe. S. 257. 52

J a noch mehr: D a s Leid ist in dieser verkehrten Welt eine Versuchung. Schatow sagt zu Stawrogin (Nihilisten): »Wissen Sie, warum Sie damals diese gemeine und schändliche Ehe e i n g i n g e n ? . . . Sie verheirateten sich aus Lust, Schmerzen zu fühlen, Gewissensqualen, aus moralischer Wollust. Es war eine Nervenirritation.« U n d diese A u f f a s s u n g ist nicht alleinstehend. D a r u m ist höchst bezeichnend und echt byzantinisch-christlich für Dostojewski der Lebenstrieb das böse Prinzip. Das hat er mystisch verkörpert in den drei Brüdern K a r a m a s o w . Der Atheist Iwan sagt zu seinem jüngern Bruder: »Weißt Du, wenn ich meinen Glauben an das Leben verloren hätte, . . . so würde ich mich doch nicht töten, würde ich trotz allem leben! Ich habe den verzauberten Becher an meine Lippen gesetzt, ich lasse ihn nicht los, ehe ich ihn bis zum Boden a u s g e l e e r t . . . Mehr als einmal habe ich mich gefragt, ob es in der Welt einen Schmerz gibt, der imstande ist, in mir diesen unendlichen Durst zu überwinden, diesen Durst nach Leben, der vielleicht unziemlich ist; aber ich glaube nicht, daß es für mich, für meine dreißig J a h r e irgendeinen Schmerz der Art gibt. Ich weiß es wohl, daß diesen Lebensdurst die Moralisten, grade die, welche Verse schreiben, die tuberkulösen Leute, und die, welche ewig den Schnupfen haben, niedrig und verächtlich nennen. Es ist auch wahr, daß dieser Durst ein Charakterzug ist, der die Familie K a r a m a s o w kennzeichnet: leben! es koste, was es wolle! Er ist auch in mir. Aber was ist darin n i e d r i g ? « 9 . . . Obwohl nun der Lebensdurst zu den Übeln gehört, ist doch das Leiden nicht ohne weiteres ein Gut. Dostojewski ist bei all seinem (unbewußt grausamen) Verweilen bei Q u a l e n und Genießen von Q u a l e n allzu weich und empfindsam und nervenschwach und zitternd, um nicht in Mitleid hinzuschmelzen. J a das Mitleid ist ihm eine Art Religion, und es kommt zuweilen seinem System, seinem Glauben an Gott, seinem Christentum in den Weg. Er ist Dialektiker genug, um einen fürchterlichen Angriff auf den Glauben an G o t t erheben zu können wegen der Leiden auf Erden. Man lese z. B. Iwans Aufzählung all der menschlichen Grausamkeiten gegen schutzlose Tiere, gegen kleine Kinder, und mit welchem Raffinement werden alle diese Grausamkeiten ins Werk gesetzt: ein kleines Pferd, das in die Augen gepeitscht wird, ein siebenjähriges M ä d chen, das mit Dornenzweigen gepeitscht wird; ein fünfjähriges • Die Brüder Karamasow i. 53

Mädchen, das man in der N a c h t k ä l t e des Winters auf einem Klosett einschließt und dessen Gesicht man mit Exkrementen beschmiert, die man es nachher zu essen zwingt; ein leibeigener K n a b e von acht Jahren, den ein General von seinen Hunden zerreißen läßt - alles dies, ohne daß G o t t eingreift - und man erwäge seinen Schluß: es ist möglich, daß alles dies zusammen mit zu der himmlischen H a r m o n i e des Alls gehört; aber ich muß den verachten, den nicht eine einzige T r ä n e eines Kindes zu rühren vermag. Der junge Heilige Aljoscha schlägt für Dostojewski diese Zweifel mit der Antwort nieder: » E s gibt ein Wesen, das alles vergeben kann, denn es selbst hat sein unschuldiges Blut für alle und alles vergossen.« Dies Argument ist nicht viel besser als das, welches an einer andern Stelle des Buches der Teufel unter einer Halluzination Iwan gibt: »Welches Vergnügen würde man ohne Leiden haben? Alles würde wie eine unendliche Zeremonie sein: heilig, aber unendlich langweilig.« Mit einer ganz überraschenden Hoheit und Größe hat Dostojewski das religiöse Problem, das er sich vorstellte, in der sinnreichen Dichtung » D e r Großinquisitor« entwickelt, deren Verfasser er I w a n sein läßt und derentwegen allein »Die Brüder K a r a m a sow« übersetzt zu werden verdienen: Christus ist auf Erden zurückgekehrt. Bei einem großen Autod a f e in Sevilla, wo man Hunderte von Ketzern ihm zu Ehren verbrennt, zeigt er sich, still in der Asche des Scheiterhaufens wandelnd. Alle erkennen ihn, die Menge schart sich um ihn, er segnet sie. D a läßt der Großinquisitor, ein neunzigjähriger Greis, ihn greifen, fesseln, in die Zelle der zum Scheiterhaufen Verdammten bringen und hier macht er ihm zur Nachtzeit einen Besuch. Die Dichtung besteht aus einem Gespräch zwischen dem Großinquisitor und Christus, oder richtiger aus einem langen Monolog des ersteren, der von keiner Antwort unterbrochen wird, einem Monolog, in welchem der K a r d i n a l dem Erlöser zeigt, wie großes Unrecht er damit tue, wiederzukommen und das Werk seiner Gläubigen zu zerstören, und er verkündet ihm seinen bestimmten Willen, ihn lebendig als Ketzer verbrennen zu lassen, um Ruhe vor ihm zu haben. Der Inquisitor entwickelt Christus, welche Fehler, politische Fehler er bei Lebzeiten begangen. Der wichtigste von allen war, nicht der A u f f o r d e r u n g des Versuchers zu folgen, Steine in Brot zu verwandeln, sondern sich den Menschen mit leeren H ä n d e n zu offenbaren. Hierdurch hat er es denen, die sich wider ihn erheben, mög54

lieh gemacht, sich um die Losung zu scharen: »Gib ihnen erst zu essen, wenn Du willst, daß sie gut sein sollen.« Wir, sagt der Kardinal, geben ihnen Brot. Wir verstehen zu lügen, und wir reden in Deinem Namen. Und sie endigen damit, daß sie uns ihre Freiheit bringen, sie zu unsern Füßen niederlegen und uns um Ketten und Brot bitten. Es gibt auf Erden nur drei K r ä f t e , welche die im Grunde so schwache und aufsässige Menschheit im Zaum halten können, das ist: das Wunder, das Mysterium und die Autorität. Und Du hast diese K r ä f t e verschmäht, um eine Freiheit zu verkünden, die es grade zu konfiszieren galt, und eine Liebe, mit welcher die Menschen nicht regiert werden können: »Darum ist es notwendig gewesen, Dein Werk zu korrigieren«, es zu korrigieren durch Roms Macht und Cäsars Schwert, und einige Hunderttausende von fortgeschrittenen Geistern unglücklich zu machen, sie auszurotten, w o man konnte, um unzähliger Millionen Wohl zu sichern. »Morgen lasse ich Dich verbrennen, dixi.« Christus erwidert kein Wort, sondern starrt dem Inquisitor mit einem sanften und festen Blick in seine Augen, dann nähert er ruhig das Antlitz dem seinen und küßt den Greis auf seinen blutlosen Mund. D a erbebt der alte Mann, öffnet die Zellentür und sagt: Geh Deines Wegs und kehre niemals wieder . . . niemals, niemals! Dieses Gedicht wird in dem Roman als aus atheistischen Gedanken entsprungen verdammt, aber schon die Komposition zeigt, mit welchem Ernst und welcher Reichhaltigkeit sich Dostojewski die verschiedenen Fragen vorgelegt und geprüft hat. - Die Zeit von 1 8 7 1 - 8 1 w a r die ruhigste in Dostojewskis Leben. Seine zweite Ehe trug dazu bei, seine ökonomischen Verhältnisse zu ordnen. E r überstrahlte durch seine Popularität alle die Schriftsteller, die anfangs ihm ebenbürtig galten; besonders erbleichte Pisemskis Ruhm völlig vor ihm. Aber er überstrahlte auch Turgenjew, der so lange ihm überlegen galt; all der Unwille, den der große Dichter bei Radikalen und Slawophilen sich zugezogen hatte, kam eine Zeitlang Dostojewski zugute. Als im Jahre 1880 die Enthüllung einer Statue Puschkins ein literarisches Nationalfest in Moskau veranlaßte, bei welchem die größten Dichter sprachen, weckte Turgenjews Rede Beifall, aber Dostojewskis rief Entzücken und Schluchzen hervor, und als er geendet, trug man ihn im Triumph umher. In seiner Monatsschrift: »Tagebuch eines Schriftstellers« predigte er nun den Glauben an Rußland als Pflicht und fiel mit gleicher 55

Bitterkeit die russische »Intelligenz« wie die westeuropäische Kultur an, die f ü r ihn Babel und Sodom gleichkam. So galt er bei seinem Tode als Rußlands größter, populärster Dichter. Die Trauer über seinen Tod war eine Landestrauer; 40 000 Menschen folgten seinem Sarge. Russische Studenten sandten einen offenen Brief an seine Witwe, worin es u. a. heißt: »Niemals werden Dostojewskis Ideale vergessen werden; von Geschlecht zu Geschlecht werden wir sie vererben als eine teure Hinterlassenschaft unseres großen, geliebten Lehrers . . . Sein Andenken wird niemals aus den Herzen der russischen Jugend gelöscht werden, und wie wir ihn lieben, wollen wir auch unsere Kinder lehren, zu achten und zu lieben den Mann, den wir nun so bitter und trostlos b e w e i n e n . . . Dostojewski wird immer leuchtend vor uns im K a m p f ums Dasein stehen, wir werden immer daran denken, daß er es war, der uns die Möglichkeit lehrte, die Reinheit der Seele unberührt in jeder Lebensstellung und unter allen Verhältnissen zu bewahren.« Es war, wie man sieht, die slawophile Geistesrichtung, die bei seinem Tode das letzte Wort behielt.

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TOLSTOI-PHASE

PAUL ERNST

Leo Tolstoi und der slawische Roman I In viel höherem Maße als in den anderen Ländern wird in Rußland das literarische Leben durch das politische und soziale bestimmt; Jahrzehnte hindurch war die Dichtung das einzige Medium, durch welches politische und soziale Gedanken dem Publikum mitgeteilt werden durften, und durch diesen Umstand gewöhnte sich der Russe daran, von der Dichtung überhaupt Beschäftigung mit derartigen Fragen zu verlangen. Eine Literatur, welche unbekümmert um die Lebensinteressen des Lesers »frei« schafft, ist in Rußland unmöglich; Belinski spricht es auf jeder Seite aus, und seine Worte sind nur der Widerhall der Forderungen, welche das Publikum stellt, daß in der Literatur sich das wirkliche, reale Leben mit allen seinen Interessen abspiegeln solle, damit durch sie das Verständnis für die Fragen des Lebens in die Gesellschaft hineingetragen werde. Diese Forderung macht von vornherein jede »idealistische« Poesie unmöglich, jene Dichtung, die sich nicht darauf beschränken will, Wahrnehmungen zu ordnen und wiederzugeben, sondern welche diese Wahrnehmungen erst durch die Abstraktion hindurchgehen läßt und dann das Produkt dieser Tätigkeit als »freie Schöpfung des dichtenden Geistes« der »sklavischen Wiedergabe der N a tur« gegenüberstellt. Von dem Augenblick an, als jene Forderung aufgestellt war, bestrebte sich die russische Literatur, realistisch zu werden. Ein zweites Moment, welches den Realismus der russischen Literatur erklärt, ist die eigentümliche Beschaffenheit der Sprache. Die russische Sprache ist noch ursprünglich, sie hat nur Bezeichnungen für Konkreta; abstrakte Begriffe müssen zum größten Teil durch importierte Worte bezeichnet werden; die Verführung zum »Idealismus« ist also viel geringer, als beispielsweise in der französischen Sprache, deren Geist sich direkt gegen den Realismus wehrt. Während der russische Dichter naiv und unbekümmert das niederzuschreiben hat, was er sieht, ohne sich viel um den Stil zu bekümmern, muß der Franzose einen harten Strauß mit seiner Sprache bestehen, wie man am klarsten bei den Schriften der Goncourts verfolgen kann. 58

Die Verhältnisse sind für den russichen Dichter also die denkbar günstigsten; wenn ein großes Genie in diese Verhältnisse hineingeboren wurde, so mußte es zu einer vollständigen Entfaltung seiner Kräfte kommen, es mußte Werke von der höchsten Bedeutung schaffen. Von den beiden bedeutendsten russischen Dichtern der Gegenwart, von Tolstoi und Dostojewski, ist es namentlich der erstere gewesen, welcher sich die Gunst des westlichen Publikums errungen hat. Leo Tolstoi ist Slawophile; nicht, daß er ausgesprochener Parteimensch wäre; er zieht sich gerade vom Parteileben zurück; aber seine ganze Entwicklung, seine Dichtungen und seine philosophischen Gedanken sind lediglich das Produkt der slawophilen Einwirkungen. Graf Leo Nikolajewitsch Tolstoi wurde 1828 in Jasnaja Poljana im Gouvernement Tula geboren; er bezog 1843 die Universität, aber er konnte dem Wissenschaftsbetriebe keinen Geschmack abgewinnen; 1851 bis 1855 war er aktiver Offizier und machte den Türkenkrieg mit, späterhin lebte er in Petersburg und Moskau und zuletzt wieder auf seinem Gute. Tolstoi sagt von sich, er sei zuerst »Nihilist« gewesen, die Bezeichnung nicht im politischen, sondern im intellektuellen und moralischen Sinne genommen; aber trotzdem zeigte sich in seinem Geiste von Anfang an die Tendenz auf jene andere Richtung; das Slawophilentum bildete sich ungefähr in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre; Tolstoi entwickelte sich also in der Zeit, welche dasselbe verbreitete. Nach Pypins »Charakteristiki« sind die hauptsächlichsten slawophilen Theorien folgende: Die Slawen haben ihre eigene Kultur; die Entwicklung derselben ist durch die Reformen Peters gehemmt, indem ihr die europäische Zivilisation aufoktroyiert wurde, welche dem russischen Geiste fremd ist. Das russische Volk hat sich die wahren, russischen Prinzipien bewahrt, während die sogenannte gebildete Gesellschaft in ihrer Lebensanschauung der westlichen Zivilisation angehört. Um die verlorene Einheit des Volkes wieder herzustellen, muß sich die Gesellschaft wieder den Prinzipien des Volkes zuwenden. Das erste dieser Prinzipien ist die russische Orthodoxie, das wahre Christentum, wie es sich entgegen der römischen Lehre durch treues Festhalten an den Traditionen entwickelt hat; das zweite Prinzip ist 59

der russische A g r a r k o m m u n i s m u s , eine eigentümliche Gesellschaftsf o r m , welche durch die Geschlechtertheorie begründet w i r d . W i r k ö n n e n gegenwärtig, da sich die Verhältnisse mehr zugespitzt haben, die Forderungen des S l a w o p h i l e n t u m s zusammenfassen als das Verlangen, den alten A c k e r b a u s t a a t mit seiner p a t r i a r chalischen F o r m der Gesellschaft u n d mit seiner starren A r t der Religiosität zu verteidigen gegen den modernen Industriestaat mit der d u r c h den Kapitalismus gegebenen O r d n u n g und seiner Beweglichkeit des geistigen Lebens.

II Diese wenigen N o t i z e n über die slawophile Partei sind n o t w e n d i g zum Verständnis der Erscheinung Tolstois. Die G r u n d g e d a n k e n des S l a w o p h i l e n t u m s ziehen sich durch seine sämtlichen Werke, freilich Schritt f ü r Schritt geläuterter und gereinigter, bis sie sich zuletzt zu den w u n d e r b a r s t e n u n d herrlichsten Idealen verklären. D a s ist möglich, weil Tolstoi nicht von A n f a n g an v o n einem bornierten Chauvinismus ausgeht; seine Begeisterung gilt nicht dem russischen Volke, weil es russisch ist, sondern weil es Volk ist, und deshalb eine S u m m e von moralischen K r ä f t e n besitzt, welche den Gebildeten verloren gegangen sind. In der N o v e l l e »Die Kosaken«, 1 0 in der er seine Erlebnisse w ä h r e n d seines A u f e n t h a l t e s im K a u k a s u s geschildert hat, stellt er die N a t u r , die N a t u r m e n s c h e n und die unbelebte N a t u r einem Menschen aus der zivilisierten Gesellschaft entgegen; er zeigt wie der Gebildete physisch und moralisch dem natürlichen Menschen gegenüber im Nachteile ist; sein bisheriges Leben genügt ihm nicht, er sieht ein, d a ß dieses einfache, anspruchslose Leben die Menschen glücklicher m a c h t als die K u l t u r mit allen ihren Genüssen; und d a ß die Menschen in diesem Leben deshalb glücklich sind, weil dieses Leben sie bedürfnislos m a c h t ; sie sind sich selbst genug, sie haben nicht a n d e r e zu ihren Diensten nötig, sie sind ohne Wunsch u n d Bedürfnis, wie die ganze N a t u r , die P f l a n z e n u n d Tiere, ohne Wunsch u n d Bedürfnis sind. M a n m u ß aber leben, u n d leben heißt sich betätigen; wenn man bedürfnislos ist, so b r a u c h t man nicht f ü r sich selbst zu leben, egoistisch seine K r ä f t e f ü r sich zu betätigen, sondern m a n lebt f ü r andere. »Ich 10

Verl. von A. Deubner, Berlin. 60

brauche nichts für mein G l ü c k « und »nur darin liegt Glück, für andere zu leben«, das sind die beiden Gedanken, die Olenin, der H e l d der Novelle, aus dem Kaukasus mit fortnimmt. Die Novelle schließt mit der traurigen Erkenntnis, daß diese Gedanken für Olenin nutzlos sind, denn er ist durch sein bisheriges Leben zu sehr verkrüppelt, als daß er nach ihnen leben könnte. Im Kaukasus spielen auch die Soldatengeschichten,11 welche sämtlich wieder den Kontrast zwischen dem Gebildeten und dem Volk aufweisen, in der Art, wie man sich beim K a m p f e benimmt, wie man die Strapazen erträgt, wie man stirbt. Tolstoi zeigt die verschiedenen Arten der T a p f e r k e i t ; die anspruchsvolle, prahlerische Tapferkeit des gebildeten Offiziers, welcher sich fürchtet, feige zu erscheinen, und deshalb tollkühn ist; die ruhige Tapferkeit aus Pflichtgefühl des anspruchslosen, schlichten, ungebildeten O f f i ziers; die gänzliche Todesverachtung des Gemeinen aus Ergebung in das Schicksal; er schildert, wie die Gebildeten das Bedürfnis haben, trotz ihres geheimen Bebens Scherzworte zu machen, um möglichst unerschrocken zu scheinen, und wie sich das einfache Gefühl des Soldaten äußert; er schildert, wie der Gebildete, wenn er auf sich selbst angewiesen ist, gänzlich verkommt und verlumpt, während der Gemeine durch sein naives Sittlichkeitsbewußtsein stets aufrecht gehalten wird. Am bekanntesten von den Soldatengeschichten sind die Skizzen aus der Belagerung von Sewastopol. Mit erschrekkender Genauigkeit hält Tolstoi hier jedes flüchtige Gefühl, jede Empfindung, jeden Gedanken fest, nur mit einigen Strichen ist die Situation gezeichnet; die Dinge, welche der französische Realismus mit unerträglicher Weitschweifigkeit ausmalen würde, sind eben angedeutet; nur die gröbsten Wahrnehmungen werden aufgezeichnet und dann so oft wiederholt, daß man sie fast im Gedächtnis behält und sich mit ihrer H i l f e das Bild selbst s c h a f f t ; aber d a f ü r sind die Bewegungen im Geiste der Figuren auf das Minutiöseste und Genaueste wiedergegeben; hier ist nicht das Kleinste und Unbedeutendste weggelassen. D i e Kontraste zwischen Zivilisation und N a t u r geben den Schlüssel zu allen Novellen Tolstois; »Drei Todesarten« stellt das qualvolle Sterben einer hohen Dame, den ruhigen T o d eines Bauern und das heitere Verscheiden eines Baumes d a r ; »Der Schneesturm« 11

» D e r G e f a n g e n e im K a u k a s u s u. a. G . « , Verl. von O . J a n k e , Berlin. » K l e i n e Erzählungen und K r i e g s b i l d e r « , R . Wilhelmi, Berlin.

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schildert wie ein Gebildeter trotz aller seiner Kenntnisse und Fähigkeiten machtlos der N a t u r gegenüber steht und nur durch die B a u ern gerettet w i r d ; » F a m i l i e n g l ü c k « 1 2 zeigt wie das Leben der G e sellschaft d a s Familienleben zerrüttet; » A l b e r t « 1 3 ist die Geschichte eines bescheidenen, armen Musikanten, der trotz seiner V e r k o m menheit besser und tüchtiger ist als der s ü f f i s a n t e Vornehme, der ihn » r e t t e n « w i l l ; » Z w e i H u s a r e n « stellt einen naiven, frischen O f f i z i e r aus der früheren, rohen und natürlichen Zeit seinem berechnenden, kaltblütigen Sohne gegenüber, dem K i n d e der zivilisierten G e g e n w a r t . E i n e besondere Eigentümlichkeit Tolstois ist die K u n s t , mit welcher er alles einer einheitlichen S t i m m u n g unterordnet. » L u z e r n « 1 4 beginnt mit einer einfachen, anspruchslosen Schilderung des V i e r w a l d s t ä d t e r Sees; das g e r a d e f ü n f s t ö c k i g e H o t e l , der g e r a d e Q u a i mit der geraden Reihe v o n B ä u m e n , und der See, das U f e r , der H i n t e r g r u n d , die L u f t , alles d a s w i r d g a n z einfach und schlicht a u f g e z ä h l t . In diesen K o n t r a s t e n in der L a n d s c h a f t bereitet sich die E r z ä h l u n g v o r ; dieselben G e g e n s ä t z e kehren nachher immer wieder. Ein Geigenspieler spielt v o r der vornehmen B a degesellschaft; die Gesellschaft findet das Spiel wunderschön, es p a ß t recht in die S t i m m u n g der L a n d s c h a f t hinein; man klatscht B e i f a l l , aber n i e m a n d w i r f t dem A r m e n eine G a b e z u ; dieser bettelnde M u s i k a n t als Mensch ist ihnen allen gleichgültig, er ist ihnen nur eine S t a f f a g e der L a n d s c h a f t . D e r E r z ä h l e r geht zu ihm und ladet ihn zu einer Flasche ein; die beiden setzen sich in das H o t e l , aber sie werden v o n den Bedienten schief angesehen, m a n behandelt sie nachlässig; und nun f o l g t eine lange, leidenschaftliche Auseinandersetzung über die entsittlichenden Folgen der Standesunterschiede. T r o t z der scheinbar so trockenen B e h a n d l u n g , der fast wissenschaftlich genauen psychologischen Analyse, t r o t z d e m jede H a n d l u n g fehlt, t r o t z d e m seitenlange rein ethische Untersuchungen eingefügt sind, schwebt doch ein w u n d e r b a r e r Z a u b e r der Stimm u n g über dem G a n z e n ; m a n e m p f i n d e t die G e f ü h l e des Erzählers v o n A n f a n g bis zu E n d e nach, m a n m a c h t jeden der häufigen Wechsel in der S t i m m u n g mit; die einfachen Situationen sind mit zwei, drei Worten gezeichnet, und m a n hat sofort ein B i l d lebendig 12 15 14

Verl. von O. Janke, Berlin. Zwei Erzählungen, Verl. von S. Fischer, Berlin. Verl. von Greßner u. Schramm, Leipzig. 62

vor Augen stehen von einer Klarheit, wie es die ausführlichste Beschreibung nicht verschaffen könnte; es ist, als ob man mithandelte und mitspräche. »Luzern« ist kaum Novelle zu nennen; es ist halb Predigt, halb Abhandlung, halb tiefsinnige psychologische Analyse, halb wunderbar plastische poetische Gestaltung; was das Ganze zusammenhält ist nichts als die einheitliche Stimmung, die von Anfang an ausgeht und wie ein Traum über dem kleinsten Teilchen der Erzählung liegt. Man macht der russischen Dichtung den Vorwurf der Formlosigkeit. Wenn man unter Form die äußerliche Geschlossenheit der alten idealistischen Poesie versteht, so ist dieser Vorwurf allerdings begründet. Die Novelle »Der Tode des Iwan Iljitsch« 15 besteht aus zwei Stücken, die eigentlich gar nicht zusammenzugehören scheinen, weil in ihnen von ganz verschiedenen Personen die Rede ist; der erste Teil zeigt die Trauer der Freunde und der Witwe, der zweite schildert das allmähliche Absterben des Iwan. Iwan ist ein ganz gewöhlicher Durchschnittsmensch, der erst während seiner schmerzhaften Krankheit dazu kommt, den Sinn seines Lebens zu begreifen. Stufe f ü r Stufe wird beschrieben, wie sein ganzes Leben ihm immer klarer und klarer wird; zugleich entfernt er sich immer mehr von seiner Familie, mit der er früher in völliger Übereinstimmung gelebt hat; sie versteht ihn jetzt nicht mehr. N u r mit einem Diener besteht eine stumme, unausgesprochene, ihm selbst unverständliche Beziehung. Der Kontrast zwischen der Familie, welche immer noch so fortlebt wie früher, und dem verinnerlichten Leben des Iwan, der im zweiten Teil allmählich von seinen ersten Anfängen an geschildert wird, ist im ersten Teile schroff aufgestellt. Das Bild der bleichen Leiche in dem schwarzen Sarge, umgeben von den Freunden, welche vom Kartenspielen sprechen, faßt das Hauptmoment der Stimmung energisch zusammen. An Stelle der alten, äußerlichen Formgesetze ist ein neues, innerliches getreten, das Gesetz von der Einheit der Stimmung. Der wunderbare Eindruck, den die Novellen Tolstois machen, ist vor allem durch diese festgehaltene Einheit der Stimmung zu erklären; in keiner noch so kleinen Schilderung, in keiner noch so geringfügigen Reflexion tritt der Dichter aus der Stimmung her15

Verl. von Greßner u. Schramm, Leipzig. 63

aus, wie es etwa in den deutschen Romanen von der Richtung Gutzkows und Spielhagens geschieht. Natürlich stellt dieser Umstand dem Dichter die denkbar schwierigsten Aufgaben; selbst wenn er das Leben seiner Figuren noch so sehr selbst erlebt, wird es doch außerordentlich schwer für ihn sein, nun gewissermaßen ganz in den Leib eines anderen hineinzugehen und dessen Empfindungen und Gedanken zu haben bei denjenigen Wahrnehmungen, welche bei ihm selbst ganz andere Empfindungen erwecken. Die Folge wird sein, daß, je sorgfältiger und genauer der Dichter jene Forderung zu erfüllen sucht, seine Personen desto mehr Familienähnlichkeit bekommen werden, weil er unbewußt, oder vielleicht auch bewußt, sich selbst als Helden aufstellt, dessen Empfindungen er dann natürlich bedeutend leichter erfahren kann. Fast alle russischen Realisten sind zu dieser Familienähnlichkeit gekommen: Gontscharow geraten von allen seinen Gestalten nur die männlichen oder weiblichen Oblomows; Dostojewski hat in seinen Romanen gleichsam Porträts von sich selbst in seinen verschiedenen Lebensperioden gegeben; ja, bei ihm geht die Familienhaftigkeit sogar so weit, daß in »Raskolnikow« zum Beispiel drei vollständig gleiche Figuren vorkommen. Tolstoi gesteht diesen Zug offen ein; einige seiner Novellen haben den Fürsten Nechljudow zum Helden: »Luzern«, «Der Morgen der Gutsherrn«, »Erinnerungen eines Markörs«, »Wie Nechljudow einem Bekannten im Felde begegnete« u. a. Nechljudow ist Tolstoi in der Periode seines Lebens, welche er selbst die »nihilistische« nennt; er ist ein Mensch mit guten Vorsätzen, guten Anlagen, aber schwachem Können und schwachem Willen, derselbe Mensch wie Olenin, der Held in »Die Kosaken«. Nechljudow verkommt, weil er in schlechte H ä n d e gerät, oder er geht mit allerhand guten Vorsätzen aufs Land, ohne etwas auszurichten, oder er protestiert mit Worten gegen die schlechten Verhältnisse der Gegenwart, ohne die nötigen Taten zu diesen Worten zu vollführen. Die eigentümliche Art der Empfindungen und Gedanken in Tolstois Werken rührt ebenfalls von diesem Umstand der Familienhaftigkeit her; dieses schlichte, einfache, natürliche Fühlen, dieses frische, naive Denken, dessen Richtigkeit jedem sofort klar ist, zeigt sich ebenso in den »Bekenntnissen« und in der Schrift »Mein Glaube«; es ist das eigene Fühlen und Denken Tolstois.

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III I n d e m T o l s t o i die G e d a n k e n des S l a w o p h i l e n t u m s w e i t e r v e r f o l g t e , h a t t e er die K o n t r a s t e z w i s c h e n d e n G e b i l d e t e n u n d d e m V o l k e n a c h allen Seiten hin w e i t e r u n t e r s u c h t u n d v e r t i e f t ; er h a t t e die U n t e r s c h i e d e im K ö r p e r l i c h e n u n d Geistigen, im M o r a l i s c h e n u n d I n t e l l e k t u e l l e n , in jeder R i c h t u n g des Lebens a u f g e w i e s e n . In » K r i e g u n d Frieden« 1 6 f a ß t er das alles g e w i s s e r m a ß e n z u s a m m e n ; das r i e s e n h a f t e W e r k , das vier s t a r k e B ä n d e u m f a ß t , ist ein einziger H y m n u s auf das Volk; schon ä u ß e r l i c h , in d e r technischen A n o r d n u n g t r i t t das h e r v o r ; diese U n s u m m e v o n Szenen ist o h n e einen H e l d e n ; die h e r v o r t r e t e n d e n F i g u r e n sind n i c h t H a u p t p e r s o n e n des R o m a n s im a l t e n Sinne, u m die sich die g a n z e H a n d l u n g d r e h t , sie sind n u r die Gläser, d u r c h welche die H a n d l u n g gesehen w i r d . Schon die Skizzen aus d e r B e l a g e r u n g v o n S e w a s t o p o l sind so geo r d n e t . »Mein Held ist die Wahrheit«, sagte T o l s t o i d o r t ; er w o l l t e d o r t nichts geben als ein w a h r e s u n d genaues Bild d e r W i r k l i c h k e i t , a b e r gegen seinen Willen h a t t e er sich schon d o r t einen H e l d e n g e s c h a f f e n , d e n er schilderte m i t all d e r z a r t e n Liebe u n d t r e u e n Sorge, die ein D i c h t e r f ü r sein G e s c h ö p f h e g t ; dieser H e l d w a r das V o l k . A u c h in » K r i e g u n d F r i e d e n « ist d e r H e l d das V o l k . D e r R o m a n b e h a n d e l t die n a p o l e o n i s c h e n K r i e g e ; er zeigt die F e l d h e r r e n u n d Kaiser, die Salons, das F a m i l i e n l e b e n u n d d e n gem e i n e n S o l d a t e n ; u n b a r m h e r z i g r e i ß t d e r D i c h t e r die M a s k e n der G r ö ß e u n d E r h a b e n h e i t v o n d e n G e s i c h t e r n d e r historischen P e r sonen u n d schildert ihre K l e i n h e i t u n d E r b ä r m l i c h k e i t ; er zeigt S c h r i t t v o r S c h r i t t , d a ß n i c h t diese P e r s o n e n es w a r e n , d u r c h w e l che die g r o ß e n Ereignisse geschahen, s o n d e r n das V o l k , diese S u m m e v o n gemeinen S o l d a t e n , diese e i n f a c h e n n i e d r i g e n O f f i z i e r e , v o n denen jeder t r e u u n d fest s t a n d , w o er stehen m u ß t e . D i e F e l d h e r r e n streiten sich u m allerlei T o r h e i t e n , sie s c h a d e n n u r d u r c h i h r e A n o r d n u n g e n ; der schlichte S o l d a t w e i ß , w a s geschehen m u ß , u n d w e n n m a n , w i e K u t u s o w es t u t , auf sein G e f ü h l v e r t r a u t u n d sich d a r a u f b e s c h r ä n k t , das w e g z u r ä u m e n , w a s dieses G e f ü h l h e m m t , so w i r d m a n den besten E r f o l g h a b e n . D e n H a u p t q u a r t i e r e n im F e l d e e n t s p r e c h e n z u H a u s e die v o r n e h m e n Salons; w i e d o r t nichts geschieht als überflüssiges o d e r schädliches G e s c h w ä t z , so ist a u c h hier alles leeres u n d hohles 19

Verl. von A. Deubner, Berlin.

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Scheinwesen; dem Soldatenleben gegenüber, wo der wirkliche Geist lebt, der den großen nationalen Aufschwung erzeugt hat. »Krieg und Frieden« steht selbst in Rußland einzig da; es umfaßt alles, es ist eine Enzyklopädie, eine Enzyklopädie aber, die nicht aus kurzen Notizen besteht, welche irgendwie geordnet sind; sie ist zusammengesetzt aus genauen und gründlichen Lehrbüchern über jedes Wort; sie u m f a ß t alles und alles mit der größten Genauigkeit, mit der peinlichsten Ausführlichkeit; den Zusammenstoß der Heere und die Gefühle jedes Soldaten, welcher kämpft, stirbt, flieht, marschiert, sich lagert; den Zusammenlauf der Volksmenge vor dem Palais und das Stück Torte, welches der Kaiser in der H a n d hält. Zuerst, wenn man an den Roman herantritt, fühlt man sich verwirrt durch diese Unsumme von Szenen und Personen, die ganz einfach nebeneinander gestellt sind, ohne gegenseitig unter- oder übergeordnet zu sein, ohne Mittelpunkt, ohne Helden, um den sich die Handlung gruppiert. Der Dichter ist einzig beherrscht von dem Gedanken, daß alles gegenseitig voneinander abhängig ist, daß das Kleinste in diesem Abhängigkeitsverhältnis ebenso wichtig ist wie das Größte, das Stückchen Torte, das in der H a n d des Kaisers zerbröckelt, ebenso wichtig und ebenso notwendig wie die Geschütze auf der Schanze, welche die Entscheidungsschlacht herbeiführen, und aus diesem Gedanken heraus ist das ganze ungeheure Werk geschrieben. Es ist ein demokratisches Prinzip, welches Tolstoi befolgt; der Roman ist demokratisch in dem gewöhnlichen äußerlichen Sinne und auch in anderer Bedeutung. Die früheren idealistischen Dichter schilderten große Gefühle, das Bewußtsein der Heldenhaftigkeit, sie schilderten Menschen mit übermenschlichen Gefühlen; Tolstoi schildert ganz gewöhnliche, einfache, schlichte Menschen; was sie tun, erscheint ihnen ganz einfach, sie haben nicht das Bewußtsein, daß sie Helden sind. Pierre, der Hauptträger der Gedanken, ist Tolstoi selbst; er entwickelt sich aus verworrenen Anfängen heraus, aus einem törichten, unbesonnenen Leben voller Jugendstreiche, aus Faulheit und Bequemlichkeit, durch unklare und phantastische Gedanken zu einfacher und bestimmter Klarheit der Lebensauffassung; er verwirft den moralischen Nihilismus, wie er unter den Gebildeten herrscht, und kehrt zu der schlichten, religiösen Lebensbetrachtung des Volkes zurück. Tolstoi hat »Krieg und Frieden« zwanzig Jahre vor 66

seiner Umkehr geschrieben, aber er hat hier schon seine spätere Entwicklung im voraus dargestellt. Pierre empfängt seine neue Lebensauffassung von einem gemeinen Soldaten; diese Lebensauffassung ist dieselbe, welche schon in den allerersten Werken gepredigt wird: Leben ohne Bedürfnisse, ein Pflanzenleben führen, ein Leben, das sich von der indischen N i r w a n a nur durch die größere moralische Energie unterscheidet: es soll nicht allein moralisch sein durch seine Passivität, durch sein geduldiges Ertragen des Übels und sein Vermeiden von bösen Handlungen, sondern es soll auch aktiv moralisch sein, es soll Gutes bewirken. IV »Anna Karenina« 1 7 hat wiederum als Träger des Gedankens den Dichter selbst. Der Roman stellt nicht das ganze Leben der beiden Gesellschaftsklassen, wie sie Tolstoi annimmt, in Gegensatz, sondern er zeigt die Kontraste dieses Mal in dem bestimmten Gebiete der Ehe. Es werden drei Paare vorgeführt: ein Paar, welches die Sittlichkeit der Gebildeten befolgt, Anna Karenina und Wronski; die beiden leben in einem ehebrecherischen Verhältnis; ein zweites Paar, welches in der alten, ehrlichen Weise des Volkes lebt, Lewin und Kitty, und ein drittes, welches die beiden Gegensätze vereint, Oblonski und Dolly. Lewin ist Gutsbesitzer, er befindet sich in beständiger Gemeinschaft mit der Natur, die Arbeit macht ihn glücklich und gut, während ihn das müßige Stadtleben verderben würde; er entwikkelt sich vom Atheismus, den er freilich praktisch bereits überwunden hat, zum Christentum. Diese Entwicklung erscheint hier nicht ganz fest mit dem Übrigen verknüpft, und vielleicht liegt hier ein kleiner Fehler in der Komposition vor, der sich dadurch erklären läßt, daß in dem Dichter selbst, während er seinen Roman schrieb, die bedeutsamste Wandlung vorging. Es ist ebenso schwer, Tolstois Figuren, wie die Figuren des Lebens, mit einigen wenigen Worten zu kennzeichnen. Eine der besondersten Eigentümlichkeiten des russischen Realismus ist es, daß er jene grobe Holzschnittmanier vermeidet, in welcher der Idealismus und auch zum großen Teil noch die französischen Realisten ihre Figuren zeichnen. In Wirklichkeit hängt jede einzelne Äußerung eines Men17

Verl. von R. Wilhelmi, Berlin.

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sehen auf das genaueste von scheinbar ganz nebensächlichen U m ständen ab und nicht von jenen schematischen, hypostasierten Eigenschaften eines hypostasierten Charakters. Lewin z. B. ist stets sparsam und einfach; diese Sparsamkeit und Einfachheit rührt daher, daß er beständig in Tätigkeit ist. D e r Zustand seiner Frau zwingt ihn, einige M o n a t e untätig in Moskau zu verweilen; er findet Geschmack an den Vergnügungen und Zerstreuungen, die ihm früher so wertlos und dumm erschienen waren; er gibt mehr Geld aus, als er einbekommt, und er macht sich darüber keine Sorgen; würde sein Sohn nicht geboren, so würde er Lebemann. Oder, um ein Beispiel aus »Krieg und Frieden« zu nehmen: hier sind z. B. die Männer ganz andere Menschen im Felde als zu H a u s e ; der E i n f l u ß der Familien auf das Individuum wird stets auf das genaueste und feinste dargestellt. Dieser Umstand verursacht eine eigentümliche Erscheinung: es besteht ein unlösbarer Widerspruch zwischen den Resultaten des Denkers Tolstoi und dem W e r k e des Dichters. Indem durch die realistische Charakterzeichnung das Geschehene bis in die feinsten Fäden seiner Ursprünge hinein verfolgt wird, zeigt sich seine unbedingte Notwendigkeit; als realistischer Dichter ist Tolstoi ebenso gut Determinist wie der Materialist Zola. Anna Karenina mußte so handeln, wie sie gehandelt hat, sie konnte nicht anders. Aber der Denker Tolstoi sagt: es gibt eine Freiheit des Willens; vermöge dieser Freiheit sind wir dem göttlichen Gebote verpflichtet, und wenn wir dieser Verpflichtung nicht nachkommen, so t r i f f t uns die Strafe, welche j a keine jenseitige sein muß, sondern eine diesseitige, wie auch G o t t , »das Gute«, an welches Lewin glaubt, nichts Transzendentes ist, sondern etwas Immanentes. Aber wie kann man für etwas bestraft werden, was man hat tun müssen? Wenn man an S t r a f e und Lohn für unsere T a t e n glaubt, so muß man auch an eine Freiheit des Willens glauben, den Ausdruck in seinem streng theologischen Begriff gebraucht. A n n a ist von ihrer T a n t e an einen M a n n verheiratet, der zwar edel, rechtschaffen und hochbegabt ist, aber der seine Gefühle nicht ausdrücken kann und deshalb kalt und gleichgültig scheint, der auch nicht mehr jugendlich genug ist, um Liebe zu erwecken und selbst jene Liebe zu empfinden, auf welche ein junges, leidenschaftliches Weib Ansprüche hat. I h r kommt ein Mensch entgegen, der alles das besitzt, was jenem fehlt, und was vielleicht allein für die Jugend anziehend ist; es ist geradezu notwendig, daß sie den Ehebruch begeht. D e r Edelmut ihres 68

Gatten muß sie erbittern, mit ihren heißen Leidenschaften kann sie ihn nicht verstehen; sie haßt ihn, instinktiv, physisch, sie kann nicht anders. Und dafür diese Strafe, diese elende Zeit des Zusammenlebens mit Wronski, zuerst auf dem Gute, wo sie nicht die tätige, gebietende Hausfrau sein kann, sondern die unterhaltene Mätresse, dann in Moskau jene allgemeine Verachtung der anderen, die doch noch viel schlechter sind als sie, und zuletzt der Selbstmord im halben Wahnsinn. Erbarmungslos sagt der Ethiker Tolstoi: Sie mußte so enden, denn sie hat gefehlt; für ihn ist ihre Geschichte ein Triumph des Guten und Wahren. Der Dichter aber, der dieses ganze Unheil aufgedeckt, und der nicht durch Schemata und Kategorien befangen ist, erregt in uns das Mitleid mit dem ins Unglück getriebenen Weibe. Der Roman wirkt moralisch, aber nicht in dem Sinn moralisch, wie es Tolstoi gewollt hat: er lehrt nicht das Verbrechen fliehen, sondern es verzeihen, denn er lehrt es verstehen. Die realistische Zeichnung hat noch eine andere Folge, die gerade bei Tolstoi und seinen russischen Genossen auffällig hervortritt. Der idealistische Roman geht im allgemeinen ruhig und gleichmäßig, ohne Sprünge und Auslassungen weiter; bei Tolstoi finden wir den Roman nach Art eines Dramas in Szenen eingeteilt. Im vorigen Jahrhundert fiel in dieselbe Zeit die vollständige Ausgestaltung der phänomenalistischen Philosophie und die Blüte des realistischen Romans in England, und auch gegenwärtig treffen der Realismus in der Poesie und der Phänomenalismus in der Philosophie wieder zusammen. Beide Richtungen werden in einer Grundstimmung des modernen Geistes ihren Ursprung haben; man kann diese Grundstimmung nicht in Worte fassen, denn dem Mitlebenden ist es unmöglich, alle Zusammenhänge der Dinge zu erkennen; aber sicherlich liegt dieselbe Tendenz allen jenen Erscheinungen zugrunde, die sich in der gesamten modernen Kulturmenschheit zeigen: dem Positivismus, dem Realismus, Naturalismus oder Verismus, und dem Impressionimus; diese Tendenz ist das Betonen des Momentes. Die Philosophie lehrt, daß das Ich nichts ist als eine Summe von Momenten, die mit Wahrnehmungen angefüllt sind, und die Kunst sucht diese Momente darzustellen. Nirgends kann man diese Eigentümlichkeit so deutlich beobachten wie bei Tolstoi. Ihm kommt es nur auf den einzelnen Moment an, den er so erschöpfend wie möglich darzustellen sucht; auch die kleinste Wahrnehmung, welche diesem Moment Inhalt gibt, vergißt er nicht. Alles dazwi69

sehen Liegende ist durch einfachen Bericht ausgefüllt; die Art dieser Komposition erinnert an die alten Komödien, wo eine Szene gespielt wurde und dann das, was bis zur nächsten Szene geschehen ist, durch einen Schauspieler erzählt wird. Je feiner und genauer ein Moment ausgearbeitet ist und je einsichtsvoller die Stimmung erweckenden Einzelwahrnehmungen ausgewählt werden, desto eher wird jener Zustand im Leser erregt werden können, welcher der eigentliche Zweck sein sollte, den die Poesie erreichen will: das Schauen des Gedichteten. Tolstoi hat immer nur eine Manier, diese Momente darzustellen. Er sucht nie, wie Zola, möglichst jede Kleinigkeit, die tatsächlich existiert, zu Papier zu bringen, er liefert keine subtilen wissenschaftlichen Beschreibungen, wie Zola etwa die Zusammensetzung der Gerüche in einem Käseladen mit chemischer Gewissenhaftigkeit darstellt, er sucht immer nur diejenigen Wahrnehmungen unter der Füllung des Momentes heraus, die sofort zum Bewußtsein kommen und die geeignet sind, den Leser das Bild reproduzieren zu lassen. Zu diesem Zwecke gebraucht er überall da, wo es sich um kompliziertere Erscheinungen handelt, wo ein ganzes Gewirr von tatsächlich Vorhandenem sich aufdrängt, den Kunstgriff, alles durch die Seele einer der handelnden Personen zu schildern. Er hat hier einen doppelten Vorteil: erstens werden dadurch gleich die nebensächlichen, nicht sofort zum Bewußtsein kommenden und deshalb auch auf den Leser nicht wirkenden Wahrnehmungen ausgeschlossen, und zweitens verwandelt sich ein verwirrtes Nebeneinander in ein klares und schlichtes Nacheinander. So schildert Tolstoi die Truppen, welche zum Kampfe ausrücken, indem er sie an einem Offizier vorbeipassieren läßt, der sie nacheinander beobachtet, während er auf einer Brücke eingeklemmt steht; er schildert auch niemals eine Schlacht wie ein Generalstabsbericht, sondern er läßt seine Personen, die an einem bestimmten Punkt inmitten des Getöses stehen, alle jene Einzelheiten erleben, aus denen sich die Schlacht zusammensetzt; die Schlacht sieht man nicht; man sieht eine Kolonne, welche abwartend dasteht, während die Granaten Lücken in sie reißen; eine Batterie, welche in Rauch und Qualm eingehüllt ist und irgendwohin feuert; einen Soldaten, welcher zusammenbricht; die verschiedenen Arten des Todes, die verschiedenen Empfindungen werden geschildert. Soll die ganze Aufstellung der Truppen gegeben werden, so läßt der Dichter etwa eine Ordonanz das Schlachtfeld quer durchreiten. 7°

Das sind alles die Folgen des Prinzips, daß der Dichter hinter seinem Werke zurücktritt, das Erleben nicht stört durch Schilderungen, die der Verfasser schreibt. Eine Folge dieses Prinzips ist auch die Art, wie Tolstoi charakterisiert; er sagt nie: dieser Mensch hat den und den Charakter; selten schon, daß er einmal bei einer Handlung hervorhebt, daß sie eine häufig oder selten vorkommende bei dem betreffenden Menschen ist. Er tut nichts als erzählen, er läßt den Leser selbst zu einem Urteil und zu dem abstrakten Ausdruck kommen, welcher das Gemeinsame alles Erzählten zusammenfaßt. Eine der auffallendsten Eigentümlichkeiten Tolstois ist sein Stil. Er bekümmert sich zunächst gar nicht um den Stil, er schreibt nur genau das nieder, was er sieht und empfindet; er häuft Adjektiva, um eine Sache möglichst genau wiederzugeben; ob er dabei wiederholt, weitläufig wird, das ist ihm alles durchaus gleichgültig. Die Worte sind für ihn wegen der Gedanken da, nicht die Gedanken wegen der Worte. Dadurch gewinnt sein Stil jene Kraft der Überzeugung, der Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit. Man ist gegenwärtig noch immer gewohnt, als Vertreter des literarischen Rußland Turgenjew aufzufassen, aber das Rußland, welches Turgenjew vertrat, ist tot; das neue, junge Rußland stellt sich dar in Männern wie Tolstoi und Dostojewski. Die Bedeutung Turgenjews wurzelt in den Kämpfen gegen die Leibeigenschaft; seine Werke, welche in diese Kämpfe hineingehören, sind lebendig gewesen und sind auch noch jetzt lebendig; noch jetzt wird man seine kleinen Geschichten aus dem Leben des russischen Bauern und Kleinbürgers lesen, Geschichten der Art, wie Tolstois »Polikuschka« 18 noch ist. Aber mit der Aufhebung der Leibeigenschaft verlor Turgenjew den Zusammenhang mit seinem Lande; das Slawophilentum und der Nihilismus, diese beiden mächtigen geistigen Strömungen des neuen Rußland, blieben ihm unverständlich. Er hat sie darzustellen versucht in seinen großen Romanen, aber hat sie dargestellt, wie jemand ein Land schildert, in welchem er nicht gewesen ist, das er nur aus Büchern kennt. Er hat Beobachtungen gesammelt und Menschen studiert, und das ist das Material zu seinen Romanen gewesen. Sicherlich hat er sehr fein beobachtet und sehr genau studiert, sogar Züge, deren Bedeutung er selbst nicht verstanden hat, hat er in seinen Gemälden 18

Leipzig, Greßner u. Schramm.

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nicht ausgelassen. Aber er hat das alles nicht selbst erlebt, durchdacht und durchfühlt, und deshalb mutet uns seine Darstellung tot und unwahr an. Turgenjew hat zu lange im Auslande gelebt.19 Das gegenwärtige Rußland wird vertreten durch die slawophilen Dichter und durch die Nihilisten; für die letzteren ist noch immer typisch Tschernyschewski, auch die Romane von Michailow (»Die Familie Obnoskow«, Zürich, J . Schabelitz) kennzeichnen diese Richtung; sie haben vor Tschernyschewskis »Was tun?« noch den Vorzug, daß Michailow ein hervorragender Dichter von großer Gestaltungskraft ist, was man von Tschernyschewski eben nicht sagen kann. V »Was ist der Sinn des Lebens? Ich zählte fast 50 Jahre, als diese unbeantwortete Frage mich in die schrecklichste Lage gebracht hatte. Es war dahin gekommen, daß ich, ein gesunder, glücklicher Mensch, es empfand, daß ich nicht mehr leben könne; irgendeine unbestimmbare Macht riß mich dazu fort, daß ich mich irgendwie des Lebens entledigte.« Was ist der Sinn des Lebens? Es ist dieselbe Frage, welche Olenin in seinem Kosakendorfe quälte, als er darüber nachdachte: Wie werde ich glücklich? Olenin hatte eine Antwort gefunden: Lebe für andere, lebe nicht für dich selbst. Aber er hatte diese Antwort nicht gebrauchen können; er ging wieder nach Moskau und Petersburg zurück und lebte für sich, indem er schrieb und dichtete, um sich Ruhm zu erwerben; und er hatte einen Ruhm erworben, wie er ihn sich nicht größer wünschen konnte. Dann hatte er geheiratet und sich ein glückliches Familienleben geschaffen; er hatte Kinder und vermehrte sein Vermögen, indem er sich wieder auf das Land zurückzog und sein Gut bewirtschaftete. Alles hatte er erreicht, was er wollte, aber die eine Frage stand ihm immer noch quälend vor dem Geiste: Was ist der Sinn des Lebens? Wie werde ich glücklich? Von Anfang an hatte ihn seine Entwicklung dazu getrieben, daß er zuletzt die Berechtigung des modernen Lebens leugnen mußte, wie es in Rußland sich in der Schicht der Gebildeten zeigt; Tolstoi 19

Turgenjews Werke sind zum großen Teil in Reclams »Universalbibliothek« erschienen.

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hat in einer Autobiographie diese Entwicklung zum Teil selbst geschildert. 20 Das moderne Leben beruht auf der kapitalistischen Produktionsweise, welche sich moralisch äußert in der Betätigung der egoistischen Triebe des Menschen nach der Theorie, welche den Kampf ums Dasein auch in die Menschenwelt überträgt, und im Pessimismus und Lebensüberdruß, welcher die Frucht einer derartigen Praxis ist, des völligen Aufgebens jedes moralischen Strebens. Rußland ist noch primitiver Ackerbaustaat; jene Konsequenzen der kapitalistischen Produktionsweise machen sich nur in den oberen Schichten, unter den Gebildeten bemerkbar, welche unter dem Einfluß des industriellen Westens stehen; wer also vor dem Pessimismus, dem Lebensüberdruß und dem moralischen Indifferentismus fliehen will, kann zu dem Volke fliehen. Aber diese Flucht zu dem Volke bedeutet eine Rückkehr, ein Verlassen fortgeschrittener Verhältnisse zu Gunsten zurückgebliebener; Tolstoi weiß das auch, er spricht stets von »Rückkehren«. Der Sozialismus, welcher im westlichen Europa gleichfalls die Flucht vor der kapitalistischen Produktion bedeutet, flieht nach der entgegengesetzten Richtung, er sucht nicht die Vergangenheit, sondern die Z u k u n f t ; er h o f f t , daß aus dem inneren Widerspruch des modernen ökonomischen Lebens ein neues Leben hervorgehen werde, welches ein moralisches Streben befriedigt. Tolstoi wendet sich also zum Volke: »Die Massen, die gewaltigen Massen leben und haben gelebt im Besitz der Antworten auf die Fragen des Lebens. Ich hatte früher geglaubt: Milliarden Volkes, das sind Milliarden Wilder, Vieh ist es. Wir, wir sind Menschen. Wir reichen ihnen die geistige Speise. Ich gelangte schließlich zur Erkenntnis; ich durchbrach jene Wand, die mich, den Gelehrten und Weisen, von den Dummen und Rohen getrennt hatte, und ich erwachte; wie aus einem dumpfen Brunnen schwang ich mich zur Gotteswelt empor. Ich begriff, daß die Masse lebt; und wenn sie lebt, so muß sie auch den Sinn des Lebens kennen.« Aber noch sträubte sich der Intellekt, die Lösung anzunehmen, die ihm hier geboten wurde. »Da begegnete mir das Entsetzlichste; ich sah, daß sie den Sinn des Lebens kennen und daher das Leben besitzen; sobald ich mich aber an das Studium dieses Sinnes machte, welchen sie dem Leben 20

Leider ist nur der erste Teil übersetzt: »Geschichte meiner heit«. Leipzig, Steinacker.

Kind-

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beilegten, zeigte es sich, daß dieser Sinn von der Vernunft nicht gebilligt wird; der Sinn gründet sich nicht auf die Vernunft, er ist der Vernunft zuwider, wird nicht von ihr gebilligt.« Aber so heftig war in ihm der Trieb, etwas Festes zu bekommen, woran er sich halten konnte, daß er bald das Bedenken zum Schweigen brachte. Durch ein sonderbares Sophisma, das man sich nur durch die Stärke des Wunsches erklären kann, kommt er auf den Gedanken, daß die Vernunft nicht zureichend ist, die Frage zu entscheiden. »Ich erkannte, der Fehler habe darin bestanden, daß mein Denken der aufgestellten Frage nicht entsprochen hatte. Die Frage war folgende gewesen: welche unzeitliche, unursächliche und unräumliche Bedeutung hat mein Leben? U n d geantwortet auf die Frage hatte ich also: welche zeitliche, ursächliche und räumliche Bedeutung hat mein Leben? Es ergab sich, daß ich nach langer Denkarbeit zum Schlußpunkt gelangt w a r : ist die von mir verlangte Durchschauung meines Lebens unbegreiflich? A n t w o r t : Sie ist unbegreiflich.« Die Behauptung ist falsch, daß es sich um die unzeitliche, unursächliche und unräumliche Bedeutung des Lebens gehandelt habe. Man merkt sofort heraus, daß dieser ganze Gedanke nicht in Tolstoi entstanden ist, sondern daß er von Schopenhauer stammt; er ist eine metaphysische Idee, welche mit dem Seelenzustande eines in Verzweiflung ringenden Menschen nichts zu tun hat. Die Frage war f ü r Tolstoi lediglich die, die er auch beantwortet hatte, wiewohl falsch: welche zeitliche, ursächliche und räumliche Bedeutung hat mein Leben? Metaphysik ist eine unbestimmte Sehnsucht nach dem unerreichbaren Ding an sich, die sich dann sofort, namentlich bei feurigen Naturen, mit den ebenfalls für unerreichbar gehaltenen sittlichen Idealen verknüpft. Den realen Sinn des Lebens kann man allerdings finden, und freilich ist er nicht im Pessimismus zu suchen; der transzendente Sinn aber ist ewig unfindbar - wenn es überhaupt einen solchen gibt. N u n ist das Spiel gewonnen, das Unzeitliche, Unursächliche und Unräumliche ist nicht zu erkennen, also ist die menschliche Vernunft überhaupt nur schwach und gebrechlich; der Mensch muß irgendwo anders her Erkenntnis und auch K r a f t bekommen. »Als ich das begriffen hatte, da begriff ich auch, daß es unmöglich ist, in der vernünftigen Erkenntnis eine Antwort auf meine 74

Frage zu finden. So war ich also unvermeidlich darauf angewiesen, außer der vernünftigen Erkenntnis noch eine andere, und zwar unvernünftige Erkenntnis anzunehmen. Die Erkenntnis ist das, was man Religion, Glaube nennt. Der Glaube ist die Kenntnis vom Sinne des menschlichen Lebens, die K r a f t , dank welcher der Mensch sich nicht vernichtet, sondern lebt.« Die K r a f t , dank welcher der Mensch sich nicht vernichtet, sondern lebt; dieser Gedanke geht beständig durch die Worte Tolstois, wo er von seinem Suchen nach Gott spricht; es ist die Angst vor dem Pessimismus, der Religion der modernen kapitalistischen Kultur, welche ihn lehrt, daß das Leben schlecht ist, daß man nichts tun kann, daß das Leben vernichtet werden muß. Er wendet sich ganz der »Masse« zu, weil er bei ihr allein seinen Sinn des Lebens wahr findet, und fast mechanisch, mit bewußter Unterdrückung des Verstandes, arbeitet er sich in ihre Anschauungsweise hinein; »ich bemühte mich, alles zu tun, was man tun soll: zu fasten, den Gottesdienst zu besuchen, den Beichtübungen mich zu unterziehen, dabei der Verurteilung dessen, was mir dumm erschien, mich zu enthalten.« Aber wie, wenn dasselbe Gespenst, das ihn in die Arme der orthodoxen Kirche getrieben hatte, ihm auch in der neuen Zufluchtstätte entgegentreten sollte? Wird nicht der Pessimismus des christlichen Dogmas, wie es in der Ausbildung des Christentums entstand, ihn wieder von neuem aufschrecken? Das orthodoxe Dogma lehrt: durch den Sündenfall Adams ist die Sünde über alle Menschen gekommen; es ist keiner rein, sie sind allzumal Sünder. Deshalb ist es am besten, wenn man sich möglichst fern vom menschlichen Leben hält; der Fromme zieht als Einsiedler in die Wüste und lebt hier beschaulich nur Gott allein. »Der Zustand des Menschen, in dem er arbeitet, duldet, stirbt, das Gute wählt und das Böse verwirft, dieser Zustand, der in Wirklichkeit existiert und außer dem wir uns nichts denken können, ist nach der Lehre dieser Religion nicht der normale, er ist ein Zustand, der ihm nicht natürlich ist, ein temporärer Zustand. Der Kampf zwischen den tierischen und vernünftigen Trieben, welcher das Wesen des menschlichen Lebens ausmacht, ist bereits von Adam im Paradies entschieden; und die Frage: soll ich von diesen Äpfeln essen oder nicht, existiert nicht mehr f ü r die Menschen; sie ist ein für allemal von Adam entschieden.« 75

Es ist klar, daß Tolstoi in dieser Lehre nicht bleiben konnte; er wollte moralisch handeln, und hier wurde ihm gesagt: du kannst nicht moralisch handeln, es ist das Beste, du verzichtest auf alle Tätigkeit; lebe als Mönch, zurückgezogen und untätig. Jedenfalls hatte Jesus diese Lehren nicht verkündet, er hatte nicht sittliche Trägheit gepredigt. Und noch einen Anstoß bot ihm die Dogmatik dar, den Satz von der persönlichen Auferstehung. Das Verlangen, nach dem Tode persönlich weiterzuleben und womöglich die Früchte seiner guten Taten einzuheimsen, ist ein so widrig egoistisches, daß es Jesus unmöglich gepredigt haben konnte. Durch diese Zweifel wurde er zum Selbststudium der Bibel und der theologischen Literatur getrieben, und mit einem eisernen Fleiß arbeitete er sich noch trotz seines Alters in die ihm ganz fremde Beschäftigung hinein; er brachte es soweit, daß er unechte Stellen in den Reden Jesu, welche er besonders durcharbeitete, sofort herausfühlte. Das Bild, welches uns die erhaltenen Bruchstücke von Christus geben, ist schwankend und verschwommen; die eigenen Worte des Herrn sind fast nie erhalten; aber mit wunderbarem Scharfsinn, der fast an Divination grenzt, fand Tolstoi den festen Punkt heraus; hier machte er sich ein Bild von Jesus, und nach diesem Bilde kritisierte er das Übrige. Beweisen wird man schwerlich können, daß Tolstois Auffassung die richtige sei. Aber seine Vermutungen über die Echtheit oder Unechtheit einzelner Stellen stimmen stets mit den Ergebnissen der Textkritik überein; sogar dann, wenn ihm die Kritik nicht bekannt ist, weil er die neuen Ausgaben des Neuen Testaments von Tregelles und Westcott-Hort nicht kennt. Der Grund, auf welchem sich die Lehre des modernen Christentums in den Menschen aufbaut, ist die Frage: Wie werde ich selig, nämlich im jenseitigen Leben; bei Tolstoi heißt die Frage: Wie werde ich glücklich, nämlich im diesseitigen Leben. Tolstoi glaubt nicht, daß Jesus so gelehrt habe wie das moderne Christentum; er hat sein »Reich Gottes« nicht im jenseitigen Leben gesucht, sondern im diesseitigen; er sah, daß die gegenwärtige Welt schlecht und ungerecht war, und er glaubte, daß die Zeit nicht mehr fern sei, wo Gott ein Reich in dieser Welt gründen werde, in das sich die durch die Schlechtigkeit und Ungerechtigkeit dieser Welt Unterdrückten retten könnten und glücklich seien. Erst später, als dieses Reich des Glückes nicht erschien, versetzte man es in 76

das Leben nach dem T o d e ; ebenso wie man Christus zum Gott machte, um seine Gebote nicht erfüllen zu müssen, versetzte man sein Ideal in unerreichbare Ferne, damit man es nicht zu erstreben brauchte. D a s einzige Mittel, das Ideal zu erreichen, ist die Befolgung der Lehren Jesu; Jesus hat seine Lehren zu diesem Zweck gegeben, wer sie befolgt, bringt das Reich Gottes herauf. Aber die Lehren Jesu werden nicht von denen befolgt, welche sich Christen nennen. Tolstoi stellt die Logik dieser Scheinchristen so d a r : Die Lehre Jesu ist bewundernswürdig, aber unmöglich auszuführen, weil sie schwierig ist; sie ist schwierig, weil wir, wenn wir ihr folgen, unsere Genüsse aufgeben müssen. - Aber diese Genüsse haben nur dann Wert für uns, wenn wir nicht in Christus leben; wenn wir in Christus leben, so haben wir so viel schönere, daß wir uns nach jenen nicht mehr zurücksehnen. D a s Gebot Jesu macht uns sofort glücklich, wenn wir es befolgen; sogar in der Mitte von Gegnern und Feinden werden wir glücklicher sein als die, welche dem Gebote der Welt folgen. Denn Jesus lehrt uns, wie wir Dummheiten vermeiden, Dinge, welche uns unglücklich machen. Welches ist nun das Prinzip der Glückseligkeitstheorie? Es ist die Sympathie. U n d dazu brauchen wir unsere N a t u r nicht zu überwinden, wir sind von der N a t u r zur Sympathie angelegt; wir sind nicht egoistisch, sondern wir scheinen nur so, weil wir unwissend sind und nicht das Elend kennen; sobald wir aber dem Unglück nahe treten, wird sofort das Mitleid rege. Wir wissen nicht, daß jede Minute Vergnügen, die wir genießen, durch das Leiden und Entbehren anderer Menschen erkauft wird, und deshalb vergnügen wir uns an guten Speisen, an kostbaren Kleidern, an teuern Liebhabereien, an Ausschweifungen; aber wenn wir die Millionen sehen, die deswegen hungern müssen, damit wir feine Gerichte essen können, die in Lumpen gehen, damit wir uns mit Samt und Seide bedecken können, die ohne Obdach sind oder in scheußlichen H ö h len hausen, damit wir vornehme und geschmackvolle Paläste bewohnen können, wenn wir sie sehen, wirklich sehen, uns ihre Leiden erzählen lassen, ihre Wohnungen aufsuchen, ihre N a h r u n g essen, dann werden wir unseren Luxus von uns tun; denn »es wäre gegen die menschliche N a t u r « . Diese Sympathiedoktrin fordert also nichts Widernatürliches, sondern nur das Natürlichste: dem herrschenden Triebe zu folgen. 77

Wir sehen hier den uralten Gedanken wieder, den schon Plato und Sokrates ausgesprochen haben, den Gedanken von der Schönheitsherrüchkeit der Tugend, welche jeden, der sie anschaut, zur Nachfolge zwingt. Es ist derselbe Gedanke, der sich, unausgesprochen, durch Kants ethische Schriften zieht, der sich bei jedem idealistischen Ethiker findet. Der Gedanke hat zwei Grundlagen: einmal die unrichtige Verallgemeinerung der Persönlichkeit des idealistischen Ethikers, die falsche Annahme, daß nun alle Menschen so angelegt sind, wie Sokrates, Kant, Tolstoi, dann aber liegt hinter dem Gedanken auch vielleicht die moralpsychologische Tatsache, daß die moralischen Triebe stärker werden, je näher das Objekt kommt, gegen welches man moralisch handelt, oder je näher die Gedanken gerückt werden, welche die moralische Handlung begleiten. Die im modernen Leben herrschende Doktrin ist die Egoismustheorie, welche nationalökonomisch im Kapitalismus und in dem Prinzip der freien Konkurrenz zum Ausdruck kommt, nicht etwa jene Philosophenlehre vom Egoismus, welche jede Handlung egoistisch nennt, weil sie aus Motiven der Lust oder Unlust entsteht; eine solche Lehre ist nur Eigentum der Bücher und kommt hier gar nicht in Betracht; sondern jene Theorie, welche noch nie wissenschaftlich dargestellt ist, deren Sätze lauten: H a n d l e nur nach deinem Interesse; auch die anderen Menschen handeln nach ihrem Interesse, und so kommt das beste Produkt zustande; die freie Konkurrenz ist dasselbe f ü r die Menschenwelt wie der Kampf ums Dasein f ü r die Tiere - jene Philosophie, welche noch Rostow in »Krieg und Frieden« befolgt. Tolstois Doktrin der Sympathie läßt sich in zwei Gesetzen ausdrücken, einem Verbot: widerstrebe nicht dem Bösen, und einem Gebot: sei mitleidig; es wird gefordert: Geduld (wenn der Gebrauch dieses Wortes f ü r diesen besonderen Sinn gestattet ist) als negative, Mitleid als positive Tugend. Systematisch ausgeführt hat Tolstoi nur die Lehre von der Geduld; das Mitleid ist nur psychologisch dargestellt und analysiert, hauptsächlich in dem Traktat »Was sollen wir denn tun?« »Ihr habt gehört, daß gesagt ist: Auge um Auge und Zahn um Zahn; ich aber sage euch: ihr sollt nicht widerstreben dem Übel. Diese Worte erschienen mir plötzlich ganz neu, wie wenn ich sie vorher niemals gelesen hätte.« 78

Der Sinn, welchen Tolstoi in diesen Worten findet, wird am klarsten in dem Bilde ausgedrückt, welches er selbst gebraucht: »So befiehlt ein Vater, welcher seinen Sohn auf eine weite Reise schickt, ihm, sich nicht auf dem Wege aufzuhalten, auch wenn er einmal gestoßen wird.« Das Böse kann nicht durch Böses überwunden werden, man vernichtet eine böse Tat nicht, indem man sie mit einer bösen Tat vergilt; dadurch vermehrt man nur das Böse in der Welt; durch geduldiges und gelassenes Ertragen wird man es überwinden. Wenn jemand dir einen Streich auf die eine Wange gibt, so sollst du ihm auch die andere darbieten; nicht, um zu dulden, nicht als ob das Dulden an sich irgendeinen Wert hätte, sondern um dem Bösen nicht Widerstand zu leisten und es dadurch zu vermehren. Wenn man die Beweisführung zergliedern wollte, so würde man eine falsche Ansicht vom Wesen des Bösen finden. Tolstoi denkt sich das Böse als eine Art Materie, welche man vermehren und vermindern kann; er vergißt, daß es »das Böse« nicht gibt, daß »das Böse« nur ein Gedankending, eine Abstraktion ist. Aus dem Gebote der Geduld leitet Tolstoi die Lehren her, welche Jesus weiter in der Bergpredigt gibt, und an der H a n d dieser Lehren kritisiert er den modernen Staat und die moderne Kirche. Es sind sechs Hauptgebote, welche er aus den Worten Jesu herausfindet: du sollst nicht zürnen; du sollst nicht richten; du sollst nicht ehebrechen; du sollst nicht schwören; du sollst dich nicht mit Gewalt verteidigen; du sollst deinen Feind lieben. Aber im modernen Staate verleitet die soziale Trennung der Menschen zum Zürnen; die Gerichte verleiten dazu, den Feind zu richten, ihm Böses mit Bösem zu vergelten, statt Böses mit Gutem; die Scheidung ermöglicht den Ehebruch; der Staat verlangt den Eid, ja der Staat verlangt sogar den Krieg. Tolstoi leugnet die Berechtigung der sozialen Unterschiede, des Gerichts, des Eides, des Krieges, er leugnet überhaupt die Berechtigung des modernen Staates. Das Zukunftsideal vernichtet also die ganze gegenwärtige Form des Staates und der Gesellschaft; es soll aber nicht etwa durch eine Revolution oder durch eine geschichtliche Entwicklung heraufgeführt werden, sondern durch eine bewußte moralische Umkehr der Menschen. Es ist jener unrichtige Gedanke von der Schönheitsher'rlichkeit der Tugend, welche Tolstoi zu dieser utopischen Forderung bringt. 79

Wie soll die Umkehr nun geschehen? »Wenn ich inmitten von Leuten, welche die Lehre Jesu nicht befolgen, sie allein befolge, wenn ich verlasse, was ich besitze, wenn ich meine Wange hinhalte, ohne mich zu verteidigen, wenn ich mich weigere, den Eid zu leisten und in den Krieg zu ziehen, so stehe ich sozusagen dem Nichts gegenüber, und wenn ich nicht vor Hunger sterbe, wird man mich totschlagen; wenn ich leben bleibe, wird man mich ins Gefängnis werfen; ich werde vergeblich mein ganzes Lebensglück opfern, mein ganzes Leben.« Das ist der landläufige Einwurf. Aber die Lehre Jesu soll gerade aus diesem Leben retten, das so ganz ihr zuwider eingerichtet ist; und man fürchtet dieses Leben zu verlieren! Jesus gibt ein Heilmittel gegen ein Leben der Vernichtung, und man klammert sich an dieses Leben an! Dieses Leben muß verworfen werden, damit das wahre Leben gewonnen werden kann. Ein Zirkus steht in Flammen, die Menge drängt der Tür zu und versperrt sie, daß niemand herauskommen kann und die Menschen entweder erdrückt werden oder in den Flammen umkommen. Plötzlich ruft jemand: haltet euch zurück, gehet einzeln nach der Tür und ihr werdet alle gerettet. Ein Mensch, der das gehört hat und eingesehen, daß der Rat richtig ist, muß ihn befolgen, selbst auf die Gefahr hin, erdrückt zu werden; denn der Rat ist der einzige, welcher Rettung gewähren kann. - In der Befolgung der Gesetze liegt das Glück. Aber niemand will dieses Glück genießen; jeder nimmt lieber die Leiden der Welt auf sich als das Glück Christi. Tolstoi p r ü f t nun die Bedingungen menschlichen Glücks im einzelnen. Er findet fünf Bedingungen: den freien Verkehr mit der N a t u r ; die Arbeit, und zwar erstens die frei gewählte und zweitens die körperliche, die ermüdet und stärkt; das Familienleben; den ungetrennten Verkehr mit allen Menschen; Gesundheit und sanften Tod. Das ideale Leben Tolstois ist das Landleben, und seine Ideale lassen sich nur im Landleben verwirklichen. Das Stadtleben macht den Verkehr mit der N a t u r unmöglich, es bürdet uns überflüssige und widerliche Arbeiten auf, es zerstört das Familienleben und errichtet soziale Schranken zwischen den Menschen auf, es wirkt schädlich auf die Gesundheit. Diese ganze Kritik ist sehr richtig; aber es ist unmöglich, das Stadtleben zu vermeiden, und auch Tolstoi gibt kein Mittel dazu an, als eine allgemeine, bewußte Rück80

kehr der Menschen in den Rousseauschen Naturzustand. In den russischen Verhältnissen, wo eben die Industrie noch eine sehr untergeordnete Rolle spielt, kann man sich das Entstehen eines solchen Gedankens erklären; aber gerade an diesem Punkt der Gedankenreihe tritt die Unhaltbarkeit des Ganzen am auffälligsten zu Tage. VI Tolstoi hat sich nicht damit begnügt, seine Gedanken in Büchern niederzulegen, sondern er hat sie auch praktisch durchgeführt. Der hochgeborne Graf, der reiche Gutsbesitzer, der große Dichter verzichtete auf alle Annehmlichkeiten, welche ihm seine Stellung gestattete, sogar auf die poetische Produktion; er ging aufs Land und begann seinen Unterhalt durch die Arbeit seiner H ä n d e selbst zu verdienen; er kleidete sich in Bauerntracht, zog selbstverfertigte Bauernschuhe an und arbeitete wie ein Bauer. Außer den sozial-ethischen Schriften hat er in dieser Zeit noch seine Volksbücher geschrieben: das Drama »Die Macht der Finsternis« und die kleinen Erzählungen für das Volk, welche teils umsonst verbreitet, teils für wenige Pfennige verkauft wurden. »Die Macht der Finsternis« ist von Anfang an nicht für die Aufführung bestimmt, das Drama ist zum Lesen für das Volk geschrieben; Tolstoi hat auch nicht die Absicht gehabt, ein literarisches Kunstwerk zu schaffen, sein Buch dient rein lehrhaften Zwekken. Trotzdem ist das Werk von einer gewaltigen poetischen Kraft. Das Eigentümliche von Tolstois Poesie, das tiefe Erfassen der seelischen Vorgänge und der traumhafte Zauber der Stimmung können naturgemäß hier nicht so zur Geltung kommen, wie in den Romanen und Novellen; hier wirkt lediglich die frische, unbefangene Gestaltungskraft, die durch kein Klügeln gehemmt wird, die schlichte und naive Wiedergabe der Wirklichkeit, die durch keinerlei törichte Ästhetik beschränkt und verhunzt ist. Die schlichte Bauernphilosophie Akims wirkt erhebend, selbst da, wo er an Gegenstände anknüpft, die sonst leicht triviale Nebenassoziationen erwecken. Überraschend ist die Erscheinung, daß der Dichter, welcher in seinen Romanen und Novellen allen Effekten so sorgsam aus dem Wege geht, hier die denkbar stärksten Effekte gehäuft hat; das ganze Drama ist eine Kette der grausigsten Verbrechen; man findet 81

hier keine Spur jener feinen psychologischen Entwicklungen, nur die krassesten Hauptmomente sind herausgegriffen und nebeneinander gestellt. Auch die Erzählungen für das Volk 21 sind ohne bewußte Absichten auf künstlerischen Wert mit rein lehrhafter Tendenz geschrieben; dennoch sind auch sie von einer wunderbar tiefen Poesie. Tolstoi hat die kompliziertesten Seelenvorgänge in »Anna Karenina« geschildert, er hat das feine und unendlich verschlungene Gewebe der Gedanken und Empfindungen dargestellt, welche Menschen aus den höchsten Gesellschaftsschichten haben; jetzt stellt er die einfachen und schlichten Empfindungen der niedrigen Leute für die niedrigen Leute dar. Auch vorher schon war ihm die Darstellung einfacher und schlichter Empfindungen besser geglückt nicht etwa, daß er sie genauer und realistischer gegeben hätte, weil sie ihm leichter gefallen wären; sie sagten nur seiner Eigenart mehr zu, und er vermochte deshalb besser sie mit seiner poetischen K r a f t der Stimmung zu durchtränken; den anderen stand er kälter gegenüber. In noch höherem Maße als früher ist das jetzt in den Erzählungen f ü r das Volk der Fall. »Iwan der Narr« 2 2 schildert in Märchenform die Art, wie Tolstoi sich seinen Zukunftsstaat denkt; »Zwei Greise« erzählt eine Pilgerfahrt nach Jerusalem; »Ein Kerzlein« schildert die fromme Ergebung eines Bauern in den Willen seines bösen Vorgesetzten; »Was die Menschen am Leben hält« ist die Geschichte von der H e r a b k u n f t eines Engels - alles ganz einfache Geschichten, ohne jedes stoffliche Interesse, in denen das Märchenhafte auf das innigste mit dem strengsten Realismus vereinigt ist. Das Märchenhafte liegt nur in einem einzelnen Zuge, wie in »Zwei Greise«, alles andere ist genau der Wirklichkeit nachgeahmt, so daß durch diese Umgebung allein schon das Wunderbare die Glaubhaftigkeit der Wirklichkeit gewinnt, oder es heftet sich an eine Figur, wie in »Was die Menschen am Leben hält«, wo eine Reihe rätselhafter und sonderbarer Erscheinungen in einer ganz gewöhnlichen Umgebung am Schluß durch das Wunder aufgeklärt wird; man erstaunt dann, indem man bemerkt, daß man das alles bis jetzt für ganz natürlich gehalten hat; zuweilen schafft der Dichter auch ganz nach der Weise des Volksmärchens, wie in »Iwan der Narr«. 21 22

Verl. von C. Reißner, Leipzig. Rud. Jenni, Bern. 82

Dem »Volk der Dichter und Denker« beginnt gegenwärtig allmählich der Gedanke aufzugehen, daß seine gegenwärtige Literatur vielleicht doch nicht der Gipfel aller Vortrefflichkeit ist. Man darf nicht hoffen, eher etwas auch nur Erträgliches zu bekommen, ehe nicht andere Bedingungen für die dichterische Produktion gegeben sind. Es ist töricht, zu glauben, daß die Genies nur in bestimmten Zeiten geboren werden; die Menschen, die etwas Großes leisten können, sind stets vorhanden, es sind nur nicht immer die Bedingungen vorhanden. Millionen von Samenkörnern fliegen in der Luft herum; finden sie Boden * so gehen sie auf, und fallen sie auf die Steine, so gehen sie spurlos zugrunde. Natürlich lassen sich diese Bedingungen für eine Besserung unserer Literatur nicht durch irgendwelche Vereine und Reden heraufführen; das ist das Werk der sozialen Entwicklung; wenn die Verhältnisse andere werden, können auch wir eine neue Literatur erwarten; die bestehenden Verhältnisse haben sich als durchaus unfruchtbar erwiesen. Welches die materiellen Bedingungen, die anderen Verhältnisse sein werden, läßt sich schwer im voraus sagen; die neuen geistigen Bedingungen können wir in Rußland studieren: Fähigkeit zur Begeisterung, Ernst und Würde der Überzeugung, Mut die Wahrheit zu sagen, auch wo sie gefährlich ist.

PAUL SCHLENTHER

Freie B ü h n e : D i e M a c h t der Finsternis In der Bibel steht, daß Jesus von Nazareth zu seinen Jüngern und Schülern die Niedrigsten aus dem Volke und große Sünder erwählt habe. Einen Niedrigsten aus dem Volke, der ein großer Sünder war, hat sich Graf Leo Tolstoi zum Helden seines Dramas ausgesucht. Und wie dieser Dichter im schroffen Gegensatz zu späteren Christenheiten auf die Urlehren jenes Messias zurückgreift und den Widerspruch hervorhebt zwischen dem, was Christi Lehre war, und dem, was aus ihr geworden ist, so könnte sich der Held des russischen Dichters wohl zu jenen gesellen, die ohne Rücksicht auf Gut und Blut der Lehre des Meisters anhängen. Wenn Christus mit doppelt kräftiger Beteuerung lehrte, es würde mehr Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut, als über tausend Gerechte,

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welche der Vergebung nicht bedürfen, so führt Tolstoi einen solchen büßendem Sünder vor; er zeigt ihn in seiner ganzen Verschuldung, und arir sehen, wie sein Sinn sich ändert. Metanoia heißt das neutescamentliche Wort, welches Luther mit »Buße« übersetzt und das durch lateinische P f a f f e n den trostlosen, engherzigen Begriff der Pönitenz erhalten hat, der vielmehr auf einen strafenden als auf einen vergebenden Gott hinweist. Metanoia bedeutet nichts mehr und nichts weniger als Sinnesänderung. U n d diese erfährt an sich Tolstois Nikita. Der Übersetzer, H e r r August Scholz, hat die Dichtung, deren Held Nikita ist, ein »dramatisches Sittenbild aus dem russischen Volksleben« genannt. Offenbar wollte er mit diesem Umschweif übertriebenen Erwartungen auf die Bühnenwirksamkeit des D r a mas vorbeugen. Aber zu allen Zeiten wurde als das Wesen des Dramas anerkannt, daß im Leben eines Menschen ein großer Wendepunkt eintritt. U n d es gibt nicht viele Beispiele, wo dieser Wendepunkt mit so hinreißender K r a f t und so erschütternder Wahrheit eintritt wie in Tolstois »Macht der Finsternis«. Wir sahn den Helden schuldig werden, und wir sehen, wie er in einer großen Eingebung das Kreuz auf sich nimmt und seine Schuld bekennt; durch kein irdisches Strafgericht gezwungen, sondern in freiwilliger Tat, weil sein Gewissen frei werden will und sein Mut sich vor Menschen nicht mehr fürchtet. Es ist Hochzeit im Bauernhause. Die Braut hat nicht geweint, und daraus ziehn ein paar junge Mädchen den Schluß, daß sie den Bräutigam nicht gern nahm. Der Brautvater drückt sich, als er den üblichen Segen geben soll, und ist weder von Frau noch von Mutter zu bewegen, ins Hochzeitshaus zurückzukehren. Damit hat es seine Bewandtnis: die Braut ist die Stieftochter seiner Frau. Aber von ihm hatte sie ein Kind und er hat dieses Kind gleich nach der Geburt überseit gebracht. Ja, es steht noch mehr auf seinem Kerbholz. Er war Knecht auf dem H o f e gewesen, den er jetzt durch die H a n d der Bäuerin erhielt, und schon zu Lebzeiten des alten kranken Bauern hatte er mit dem Weib Umgang gepflogen. Durch Vermittlung seiner Mutter hatte das stumpfe Weib ihren Alten vergiftet, um Nikita heuern zu können. U n d als Nikita Herr im Hause war, und auch das Bargeld unrechtmäßig in seinen Besitz gelangt war, legte er sich vollends auf die liederliche Seite, soff, schlug sein Weib, mißbrauchte deren halbblöde Stieftochter und mordete das Kind, das diese ihm gebar. 84

Ein Scheusal! sagt jedermann, und in den ersten vier Akten des Dramas hat Tolstoi keine Farbe gespart, seine ganze Scheußlichkeit bloßzulegen. Aber er ist kein konventionsmäßiges Theaterscheusal, das aus irgendeinem Höllenpfuhl frischgebacken hervorgeholt ward, sondern ein Mensch, der als das Ergebnis einer Geburt und seiner Gewöhnung erscheint, ein hübscher, kräftiger Bursche mit einer träumerischen Gemütsart, dem die Mutter das schlechteste Beispiel gab, auf den der dumpfe unredefertige Vater keinen Einfluß hatte, den die Weiber verlockten, der durch die geflissentliche Unterdrückung seines natürlichen Rechtsgerühls immer tiefer ins Unrecht geriet, der den Regungen des Mitleids und der Reue nicht unzugänglich, doch durch die Leidenschaft seiner ungezügelten N a tur zum Schlimmsten fähig war. Während den Kindesmörder das Gewissen furchtbar quält, droht er seiner Mutter mit Totschlag, der Anstifterin und Mitwisserin des Verbrechens. In solch leicht hingeworfener Skizzierung der Charaktere zeigt sich die Kunst eines großen Dichters, der mit einem einzigen Fingerzeig in der Brust des Menschen alle beiden Seelen aufdeckt. Vom Vater hat Nikita die eine, von der Mutter die andere Seele. Der Vater ist gut, die Mutter schlecht. Aber wie des Vaters schlichte Frömmigkeit durch geistige Dumpfheit bis zur stammelnden Senilität herabgedrückt ist, so wird der Mutter Niedertracht durch naive Unempfindlichkeit f ü r moralischen Wert fast gehoben. Dort geistige, hier sittliche Dumpfheit. Wenn die Mutter mit einer gewissen behäbigen Gemütlichkeit, nesciens bonum et malum, frevelt, wenn sie den Säugling, den sie kaltblütig ersticken läßt, vorher durchaus noch getauft sehen will, wenn diese alte Giftmischerin und Diebin mit geläufiger Zunge in den Sohn gefühlvoll und verschmitzt hineinredete, bis sie ihn 'rum hatte, konnte der Vater stottern und kopfschütteln und fingerweisen, nach Gutdünken, niemand achtete seiner, denn sein schwacher Geist fand keinen Ausdruck für das, was sein Sittlichkeitsgefühl, das bei ihm so naiv ist wie beim Weibe die moralische Blindheit, ihm eingab. Als aber das Maß der Sünden voll ist, kommt des Vaters Seele über den Sohn, er erfährt an sich die große Umwandlung, die nach Christi Lehre den Weg zum ewigen Glück weist. Er hat den Mut des öffentlichen Schuldbekenntnisses. Er wirft sich in die Knie, er wirft sich auf die Brust und gesteht vor versammelter Dorfgemeinde alle seine Schuld. Seine Mutter hält ihn zuerst f ü r betrunken, dann f ü r behext, dann f ü r verrückt. Sein plumpes Weib jammert, der Dorfälteste läßt 85

ihn in Stricke legen und will ein Protokoll anfertigen, die Einfalt der stumpfsinnigen Verführten aber, vom Reumut des Sünders tief ergriffen, bekennt sich zur Mitschuld, und der alte Vater, der einfältig seinem Rechtsgefühl folgte und nichts vom geschriebenen Jus noch von der Lebensschlauheit weiß, tritt dem Vertreter irdischer Geselligkeit entgegen: »Ein Mensch tut Buße und Du wirst vom Krotopoll sprechen?« Und den Sohn zieht er ans Herz: »Mein liebes Kind! Hast selber kein Mitleid gehabt, drum wird Er dir verzeihen, Gott nämlich, Gott.« Dem gewaltigen Eindruck »des Menschen, der Buße tut«, hat sich bei der Aufführung des Dramas, die auf der »Freien Bühne« am letzten Sonntage stattfand, wohl auch der Widerwilligste und Voreingenommenste nicht entziehen können. Und ebenso mußte alles, was schon vorher auf die große Seelenänderung hinwies, tief wirken. Wenn der alte Bauer in der Angst der Sterbestunde seinen Knecht, der ihm das Weib stahl, um Vergebung bittet etwaigen Unrechts wegen, und der sonst so rüde, geckenhafte Nikita, "im Gefühl seiner großen Schuld gegen den Sterbenden, bitterlich anfängt zu weinen; wenn der alte Vater mitten im Elend des Familienlebens (der Mann treibt trunkene Albernheiten, die Weiber prügeln sich) es über bekommt und vom warmen Ofen in die kalte Schneenacht hinauswankt, wenn das halbwüchsige Dirnchen im Augenblick, wo unter der Diele ein Todverbrechen geschieht, bebend vor Furcht und Mitleid sich in die Arme des alten graubärtigen Knechts flüchtet - so sind das Momente, welche erst in der Bühnenaufführung zur ganzen Geltung kamen und erwiesen, daß die dramatische Kunst nicht bloß durch Handlung, sondern auch durch Stimmung das Ziel erreicht, das aller Dichtung erstes und letztes ist: den Blick zu öffnen in die Geheimnisse der Menschenseele. Wir lesen täglich in den Verhandlungen des Schwurgerichts, daß im Volke schwere Verbrechen begangen und bestraft werden. In jeder Sekunde unseres Lebens können wir aufmerken und uns sagen: jetzt geschieht irgendwo in der Welt unter Menschen, die beisammen wohnen, eine finstere Tat. Worte wie Schändung, Kindermord, Giftmischerin, wir lesen sie so oft im Tagesrapport, daß wir höchstens dafür noch ein Kopfschütteln haben. Der Richter stellt den Sachverhalt fest und dann fällt er sein Urteil, eisern und ernst. Aber nach den Motiven der Tat braucht er nicht zu fragen. Höchstens, daß der Arzt den Geisteszustand des Verbrechers untersucht 86

hat. Das Psychiatrische kommt noch in Frage, das Psychologische steht dahin. Für den Einzelfall ist es gleichgültig, was fürs Allgemeine das Wichtigste ist. Hier, wo das Geschäft des Richters schließt, beginnt das heilige Amt des Dichters. Und wenn nach hehrer Sitte in der Todesstunde des großen Sünders ein Priester bei ihm steht und Trost zu geben sucht, so hat der Dichter noch einen höheren Trost übrig: er erklärt der Welt die Tat. Er kann nur auf seine Weise wirken, mit den Mitteln der Kunst, und wenn ein Epiker wie Leo Tolstoi zu solchem Zweck die Mittel des Dramas wählt, so fragt es sich, ob er seinen Zweck mit diesem Mittel ebenso erreicht hat wie in den Romanen. Er hat es überall dort erreicht, wo die Gestalt des sündhaften Büßers in ihrer langsamen Entwicklung hervortritt. Wie zuerst die Begegnung mit der längst verheirateten Jugendgeliebten, die er auch verführt hatte (»o Marinuschka, hätt' ich doch nicht von dir gelassen!«), dann die Scheußlichkeit der Mutter, die öde Angeheitertheit des eignen Weibes, und endlich die Menschenverachtung eines betrunknen Dorfweisen, der ein ruhiges Gewissen hat weil er niemals lügt, einen großen Entschluß zur Reife bringt, ist gewaltig. Wo der Dichter dagegen Nikitas Gestalt nach der Art des echten Naturalismus aus seiner Umgebung heraus begreiflich macht, gab er oft einer epischen Breite nach, welche die unmittelbare Theaterwirkung herabdrückt. Und wenn Tolstois »Macht der Finsternis« in der psychologischen Entwicklung und im Erwecken der Stimmung unsern jungen Dichtern ein Vorbild ist, so sollten sie sich von diesem Werk, hinter dem bei jedem Wort ein Genius steht, nicht zur Unterschätzung dramatischer Spannkraft verleiten lassen. Die Breiten zu tilgen, ist man auf der »Freien Bühne« eifrig beflissen gewesen; stellenweis nicht genug. Auch die Rücksicht auf das nervenschwache Publikum, das vor der Gewalt eines Schicksals erbebt und seine Scheu dann gern hinter H o h n verbirgt, ist so weit wie irgend möglich getrieben worden; Nikita hörte nicht das kleinste Knöchelchen knacken. Dank der ein- und umsichtigen Regie des Herrn Meery und dem verständnisvollen Opferwillen der Darsteller, namentlich der H e r ren Hock, Pauli, Kauer, Ferd. Meyer sowie der Damen Reicher, Veneta, Lauber, A. Hock und L. Detschy wurde der Ton und Stil der Dichtung im Ganzen getroffen. Einige Halb- und Viertelrussen entsetzten sich darob, daß in einem russischen Hause der Tee aus Tassen getrunken wurde und ein Backfisch in fliegenden Haaren 87

ging. Kann sein, daß das spezifische Russisch nicht immer nationalecht getroffen wurde, und spezifisch russisch ist die Dichtung sicherlich. Aber die Echtheit des Russischen läßt sich auch aus der Echtheit des Menschlichen heraushorchen, und wenn das gelingt, so ist Besseres geleistet, als durch richtige Haartrachten und Trinkgeschirre. Durch die Aufführung des Dramas ist eine fremde, aber auch mit Menschen bevölkerte Welt uns nahe getreten. Hätten sich zur Verkörperung dieser Welt nur Schauspieler ersten Ranges zusammengetan, so wäre sie uns sicherlich noch näher getreten. Wenn aber von unsern ersten Schauspielern verschwindend wenige den Trieb verspüren, neue Welten der Menschendarstellung zu entdecken, und die Gelegenheit, die sich ihnen bietet, vorbeigehen lassen, vielleicht vorbeizulassen gezwungen sind, so ist niemand weniger dafür verantwortlich als der Vorstand der »Freien Bühne«.

HANS OLDEN

Tolstoi und sein Berliner Publikum Wer hat recht, der größte deutsche Dramatiker oder der tüchtigste Theaterpraktiker? Friedrich Schiller oder Heinrich Laube? J e d e r , sieht m a n ihn einzeln, ist leidlich klug und v e r s t ä n d i g ; Sind sie in corpore, gleich wird euch ein D u m m k o p f d a r a u s ,

hat Schiller gesagt; Laube aber erwidert: »Jeder Einzelne mag ein Dummkopf sein, alle zusammen sind sie doch ein verflucht gescheiter Kerl.« Sofern das Theater in Frage steht, kommt Laube dem Wesen der Sache näher, scheint mir: jeder Einzelne sei hier, was er sei, ein Dummkopf, ein Kenner, ein Bankier; bilden sie aber eine Gesamtheit, so entsteht ein Neues, ein Selbständiges, von jedem Einzelnen Unabhängiges, eben das, was Laube den »Kerl« nennt. Und ich hätte mich nur gegen das allzu schmeichelhafte Epitheton aufzulehnen. »Verflucht gescheit« hat sich der »Kerl« nicht immer bewiesen. Er hat oft zu dem Aufgang ewiger Sonnen gezischt, und noch öfter sich von Irrlichtern im Kreis herumführen lassen. Immer aber haben wir mit diesem Gesamtgeist im Theaterleben zu rechnen, er behält zunächst das letzte Wort, seine Auffassung ist die interessanteste und - er bildet sich jeden Tag von neuem: er ent88

steht u n d beweist sich, selbst w e n n Z u h ö r e r s c h a f t e n in Parteien geschieden, v o n S y m p a t h i e n u n d A n t i p a t h i e n durchaus beherrscht sind. Niemals haben wir das besser beobachten k ö n n e n als in der ersten deutschen A u f f ü h r u n g der »Macht der Finsternis«. Wie es bei allen A u f f ü h r u n g e n der »Freien Bühne« gewesen, so w a r ' s auch diesmal: es k a m kein u n b e f a n g e n e r Mensch ins Theater. Sie hatten wieder einmal schrecklich viel gelesen und w a r e n schon beim Abgeben der Straßenkleider überschwengliche Gegner oder w ü t e n d e Bewunderer. D e r V o r h a n g geht auf. Die niedere russische Bauernstube erscheint. Ein f r e m d e r Schauplatz, f r e m d e Menschen, f r e m d e Zustände. N u n galt es. D a s D i c h t w e r k h a t t e sich seinen Boden, seine A t m o s p h ä r e zu erringen - u n d hier scheint mir Tolstoi beinahe sein Stärkstes zu geben: völlig z w a n g er uns in den Kreis seiner Anschauung hinein. Als der erste A k t zu E n d e war, dachte, atmete m a n in der v o m Dichter gewollten Welt. L e b h a f t e r Beifall. Erst als die prinzipiellen Bewunderer den A p p l a u s z u r D e m o n s t r a t i o n erweitern wollten, erinnerte sich die andere Partei ihrer gleichfalls prinzipiellen Gegnerschaft u n d spitzte die Lippen. Ein kurzes Scharmützel, u n d die H ä n d e siegten. Aber es w a r doch ärgerlich: w a s m u ß t e n die übereifrig gefährlichen F r e u n d e die so hübsch gew o n n e n e N e u t r a l i t ä t stören? N a c h dem zweiten A k t ging's schon hitziger her. Die Widersacher hatten K r a f t gesammelt. F u r c h t b a r e Dinge hatten sich im Stück z u g e t r a g e n : das Sterben des vergifteten Bauern, das grauenh a f t e Suchen nach dem Geld - und als endlich M a t r o n a die Ärmel hochschlägt, um die frische Leiche mit dem w a r m e n Teewasser zu waschen, u n d über dieser Szene der V o r h a n g niederging, da d u r c h f u h r zunächst ein Zischen wie ein schneidender Strahl das H a u s . D e r Beifall erhob sich z u m K a m p f . Bald w a r ' s auf beiden Seiten still, n u r im zweiten R a n g irrlichtelierte noch eine Weile kleiner Krieg hin u n d her. D a ereignete sich etwas Ungewöhnliches: die H ö r e r im P a r k e t t und teilweise in den Logen erhoben sich, machten F r o n t gegen die L ä r m m a c h e r u n d geboten ohne Z o r n und Eifer, aber ernst u n d entschieden R u h e . D a s w u r d e verstanden. Das hieß: Wir sind hier nicht zum Spektakelmachen, w i r stehn vor dem W e r k eines Dichters, also, ob f ü r oder gegen, in erster Reihe: Respekt! In diesem Augenblick w a r der Gesamtgeist fast f ü h l b a r v o r h a n d e n und h a t t e sich p r ä c h t i g o f f e n b a r t mit seinem guten, ehrlichen Sinn u n d seinem gesunden T a k t . 89

Glücklicher verlief nun der dritte Aufzug; man stand ganz unter dem Bann der Vorgänge. Beweis: breiter, volkstümlicher Humor konnte unmittelbar neben dem Ergreifendsten zur Wirkung gelangen, und Mitritsch's Erklärung, was Zinsen und eine Bank sind, entfesselte einen Sturm von Applaus. Selbst Sachverständige konnte man lebhaft einstimmen sehen. Entscheidung brachte der vierte Akt. Die erste Hälfte des Aufzugs ruft nochmals lebhafte Aufregung hervor: Nikita gräbt das Loch, in das das Neugeborene verscharrt werden soll, und das allgemeine Schaudern macht sich Luft in starker Opposition. Aber in der zweiten Hälfte trat ein völliger Umschlag ein; wir sehen die von Tolstoi selbst geschaffene Variante, der Kindesmord ereignet sich nicht vor uns, nur sein Reflex fällt auf die Szene. Ich glaube, tatsächlich geschaut, hätte er die große Stimmung, die nun über der ganzen Zuhörerschaft lag, gründlich beeinträchtigt - die große Stimmung, in welcher der letzte Akt begann, und die er zu mächtiger Höhe emporhob. Wenn man wirklich von neuer Kunst, einer neuen Schule sprechen will, hier haben sie einen leuchtenden Sieg erfochten. Wo waren denn beim Schluß des Werkes die - Parteien geblieben? Wo waren die vorgefaßten Meinungen? Wo waren die Zeloten von hüben und drüben, die Neuen, die Alten, die Enthusiasten, die Skandalmacher? Ich habe keine Spur von dem allen mehr bemerkt. Ein Sturmwind von Begeisterung hatte die Gesamtheit ergriffen und sie hinaufgetragen in den klaren Äther der Kunst. Wie Glockenklänge zitterten die letzten Worte eines echten Poeten. Eine Mahnung aber legt diese Aufführung allen nahe: lassen wir den Gesamtgeist freier, ganz frei schalten! Lassen wir die Kunstprinzipien draußen, oder jedenfalls betätigen wir sie nicht drinnen im Haus. Ich wende mich hier gegen den freundlichen Übereifer so gut wie gegen den feindlichen. Lassen wir den »Kerl« wie er sich gibt! N u r so bleibt er lebendig, bleibt er »gescheit«.

OLA HANSSON

D i e Kreutzersonate von Tolstoi Leo Tolstoi trifft in einem Eisenbahncoupe mit einem Herrn mittleren Alters zusammen, klein von Wuchs, sehr nervös, mit eigentümlich glänzenden Augen von unbestimmter Farbe, die lebhaft 90

von einem Gegenstand zum andern schweifen. Dieser Fremdling erweist sich als ein gewisser Posdnyschew, der gerade in jenen Tagen in aller Mund war, weil er seine Frau ermordet und von den Geschworenen freigesprochen worden war. Während der Fahrt erzählt er dem Dichter seine wunderliche Lebensgeschichte, deren Hauptzüge folgende sind: Er war der Sohn eines reichen Gutsbesitzers aus dem höchsten Adel des Landes. An der Universität studierte er Jurisprudenz, und wir begegnen ihm als dem Inhaber eines höheren Beamtenpostens. Seine jungen Jahre hatte er verlebt, wie es internationale Sitte ist, in der Gesellschaftsschicht, der er angehörte; Björnsons Svava wäre er schwarz erschienen wie die Sünde, obgleich er eher besser als schlechter war denn die meisten. Seine Verlobte - Tochter eines ruinierten Gutsbesitzers - ist indessen keine Svava; dazu hat sie zuviel von dem guten Eva-Kern in sich; die Tagebuchaufzeichnungen des jungen Mannes machen sie nicht gerade munter, aber noch weniger kommt es zu einem »Handschuh«-Konflikt. Posdnyschew für sein Teil trat in die Ehe mit den allerwackersten Vorsätzen, ihr Sakrament in Ehren zu halten; und er hielt seine Vorsätze. Sie war gleicherweise ihrem Manne treu; aber der Stern des Unglücks steht nun einmal über diesem Hause. Die Honigwochen finden ein unnatürlich schnelles Ende; die Süße wurde diesem Ehepaar unmittelbar zum Ekel; und die Enttäuschung war so intens, daß Posdnyschew in Verzweiflung generalisiert: »Wonnen der Flitterwochen gibt es nicht, im Gegenteil, Unbehaglichkeit, Sehnen, häßliche, trübe Stimmung und vor allem Langeweile erfassen den Menschen.« Schon am dritten Tage kommt es zur ersten, allzu ehelichen Szene; die zweite läßt natürlicherweise nicht zu lange auf sich warten, und die dritte folgt ihr auf den Fersen. Posdnyschew entdeckt zu seiner Verwunderung und seinem Entsetzen im Antlitz und im Blick seiner Gattin H a ß , boshaften, heißen H a ß ; einen H a ß , der gegen ihn gerichtet ist. Die Ursachen, die Mal auf Mal die Streitigkeiten hervorrufen, sind so sinnnlos unbedeutend, daß sie nicht allein den hinreichenden Erklärungsgrund abzugeben vermögen; und zu dem beständigen, stets intensiveren H a ß , von dem sie beide wie besessen sind, kann Posdnyschew nicht den geringsten wirklichen Grund entdecken. »Wie es bei fröhlich scherzenden, jungen Leuten vorkommt, die keinen Scherz mehr ersinnen können, der zum Lachen reizt, daß sie über das Lachen lachen, so haßten wir, da wir f ü r unseren H a ß keinen Grund mehr 9i

finden konnten, uns einfach deshalb, weil in unserer Seele der H a ß gegeneinande.' wohnte. Endlich kam es dahin, daß nicht mehr die Verschiedenhf it der Anschauungen den H a ß , sondern daß der H a ß die Verschiedenheit der Anschauungen erzeugte.« Die Atmosphäre um sie ist erfüllt von unsichtbaren Stoffen, die ihre Nerven irritieren, ohne daß sie dagegen ankämpfen können; sie gehen wie mit Feindseligkeiten geladen umher; alles, alle Ereignisse, das Größte und das Kleinste kehrt gewissermaßen nur die Seite hervor, die ihnen zum Zankapfel dienen kann; selbst mit den Kindern ist das der Fall. Sie sind - um Posdnyschews eigene Worte zu gebrauchen - »wie zwei Gefangene an einer Kette, die einander hassen, die einander das Leben vergiften und sich bemühen, es nicht zu bemerken.« Sie suchen Vergessen in angespannter, nervöser Tätigkeit und Zerstreuung, jeder auf seine Weise; aber aus der nervenaufreizenden Atmosphäre gelangen sie nicht heraus. Darauf wird sie krank und die Ärzte verordnen Kinderlosigkeit. Während dieser Zeit wird sie wie neugeboren und verjüngt, eine späte Herbstblume. Sie erblüht zu der eigentümlichen, reifen Schönheit des dreißigjährigen Weibes; ihr eigener Mann schildert sie: »wie ein arbeitsloses, feuriges Zugpferd, dem man die Zügel abgenommen hat!« Die Begierden und Träume ihrer frühen Jugend stehen von den Toten auf, und im Gefühl der Fülle ihrer Lebenskraft macht sie die ketzerische Entdeckung, daß sich für sie noch eine ganze, schöne Welt mit tausend Freuden finden lassen könnte. Gerade zu dieser kritischen Zeit kommt ein junger Mann ins Haus, ein Lümmel von Violinist, der aus der für alle Töchter Evas so unwiderstehlichen Mischung von Stallknecht und Dandy besteht, mit vollen Gliedern und sorgfältig pomadisiertem H a a r . Posdnyschew, dessen Nervosität derart gestiegen, daß sie momentweise in Wahnsinn übergeht, und auf dessen Sinne und Urteile kein Verlaß ist — eine Beute fixer Ideen, wie er ist - sieht zwischen dem jungen Mann und seiner Frau ein Verhältnis entstehen und sich entwickeln; und die tragische Schlußkatastrophe ist, daß er, als er sie eines Abends zusammen überrascht, seine Frau ersticht. Das sind Verlauf, Personen und Konflikte in dieser tragischen Ehegeschichte. Wie man sieht, ist das Thema ganz und gar ein psychologisches. Es gehörte zu der großen Gruppe von Motiven, die mit entschiedener Vorliebe von den Dichtern der Gegenwart behandelt werden und unter das Gebiet des Verhältnisses zwischen Mann und Weib fallen. Das Buch ist gleichzeitig ein Ausdruck 9*

für das Bestreben, welches sich darunter geltend macht, nämlich die große, gerade Landstraße der abstrakt psychologischen Debatten zu verlassen, und sich statt dessen in die verborgenen Waldpfade und dunklen Buschwege der unter der Bewußtseinsschwelle liegenden Regionen des Geschlechtslebens zu vertiefen. Es handelt sich ja nun nicht länger darum, mittelst einer guten philosophischen Darlegung die Gleichstellung oder Nichtgleichstellung der Geschlechter zu verteidigen; worauf es ankommt ist, neue Länder in der Psycho-Physiologie des Geschlechtslebens, jene unbekannten Landstriche in Besitz zu nehmen, auf denen allerlei seltsame Blumen wild und tropisch wachsen: geheimnisvolle Sym- und Antipathien, abnorme Neigungen, Liebeshaß, Leidenschaftsverbrechen, Triebparasiten, die fixen Ideen des Verdachts usw. Alles, was in Tolstois Novelle an solch pathologischer Psychologie vorhanden, ist unbedingt Kunst ersten Ranges; aber das zentrale Gebrechen des Buches besteht meiner Meinung nach darin, daß der Verfasser bei der Schilderung dieser Erscheinungen das Hauptgewicht von dem psychologischen auf das moralische Gebiet verlegt hat. Das Referat, das ich von der Erzählung gegeben, ist nämlich bloß ihr Untergrund. Über diesem tief aufgefaßten und meisterlich verdeutlichten Stück Leben breiten sich die Stickereien einer moralischen Weltanschauung in so dichtem Muster, daß das, was wirklich wertvoll ist, drunter verborgen wird, während eine Theorie, die kein anderes Interesse als das der Kuriosität hat, alle Blicke und Gedanken in ihrem bunten Muster auffängt. Posdnyschew hat aus seinem eigenen Schicksal diese moralische Weltanschauung konstruiert. Aber abgesehen davon, daß diese auf einer so schwachen Wurzel ruht, sind auch alle die Erlebnisse, aus denen sie Nahrung saugt, von einer abnormen Persönlichkeit erfahren worden. Posdnyschew ist ein seelisch kranker Mensch, eine pathologische Erscheinung. Dagegen wäre ja im übrigen nichts zu sagen, wenn der Verfasser auch das als einen eigentümlichen Fall dargestellt hätte, der ausschließlich aus psychologischem Gesichtspunkte zu beurteilen wäre. Aber Tolstoi hat sich hierin mit dem Helden identifiziert; es ist keine Möglichkeit da, zwischen Posdnyschews und Tolstois Erzählung fest zu unterscheiden; die ganze einleitende Eisenbahngeschichte könnte, was diese Seite betrifft, weggeschnitten sein. Diese moralische Weltanschauung fordert die absolute, geschlechtliche Askese. Die bewußte und ausgesprochene Konsequenz 93

wäre das Aussterben des menschlichen Geschlechts. Alles, was im Zusammenhang mit dem Verkehr der Geschlechter steht, ist Schmutz und Ekel; ob natürlich oder naturwidrig, das ist ganz einerlei. Posdnyschew (= Tolstoi) ekelt es hinterher nicht minder vor den Nächten, die er mit seiner jungen, schönen, frischen Frau verbracht, wie vor der Erinnerung an Venus vulgivaga. Das Einzige, was rein und heilig ist, ist die J u n g f r a u ; ein verwandtes Ideal des Weibes findet man bei den extremsten französischen Dekadenten. Als Schlußstrophe in dieser Apotheose der Askese stehen die Sätze da: » J a , mein Herr, man muß die wahre Bedeutung des Evangeliums Matthäi V., V.28 verstehen, daß die Worte: Wer ein Weib ansiehet, ihrer zu begehren, der hat die Ehe gebrochen, sich auf die Frau, auf die Schwester beziehen; nicht nur auf die Fremde, die Frau eines anderen, sondern vor allem auf die eigene Frau.« Es finden sich unzweifelhaft tiefe Wurzeln von diesem mönchisch-harten Rigorismus weit rückwärts in Tolstois früherer Produktion. Keiner hat, wie Tolstoi, das rein physische, unbewußte Gefühl des Liebesglücks von jungen Mädchen zu schildern gewußt; aber er hat nie vergessen, den schön gelb und roten Apfel aufzuschneiden, in dem dieses Gefühl Frucht angesetzt, um auf die schwarzen Wurmgänge hinzuweisen. Es ist wahrscheinlich, daß der essigsaure Geschmack, der der »Kreutzersonate« eigentümlich ist, von dem intimen Studium der Bibel herstammt, in die sich Tolstoi während seiner späteren Ä r a versenkte. Aber ebenso wahrscheinlich ist es, daß dieses Studium eine natürliche Disposition nur auf die Spitze trieb. Fast in all seinen Büchern ist das Geschlechtsverlangen f ü r Tolstoi eine Süße, die Geschlechtsbefriedigung eine Bitternis. Es ist die christliche Askese, wiedergeboren in einem starken K ö r per und einer wunden Seele, in einem großen Dichter und einem genialen Blick und einem unfreien Geist, einem großen, sensitiven, wundgeriebenen Gefühl und einem kleinen, künstlich verengten, verknöcherten Wissen. Was ist »Anna Karenina« anders als das Grundthema, zu dem er später immer neue, immer dissonanzenreichere Variationen fand? Was für alle Fälle diesem letzten Buch des letzten großen Russen das ganz eigenartige Interesse verleiht, ist die Zusammenschmelzung, Vollendung und Zuspitzung, die andere literarische Kulturen, die gallische und die skandinavische, in ihm erhalten: die Schilderung Posdnyschews, dieser pathologischen Erscheinung, ist ein künstleri94

sches Meisterstück, das die Mehrzahl der verwandten Versuche der französischen Naturalisten weit hinter sich läßt. Und der brutal konsequente Asketismus des Buches gibt Björnsons bürgerlich zippes Handschuhideal in grandiosen Proportionen wieder. In der einen wie der anderen Hinsicht, in der intimen Vertiefung, dem Aufgehen in den Studiengegenstand sowohl wie in dem Ausschwellenlassen der Idee, aus dem Naturgrunde des Unbewußten über Zeiten und Welten hinaus, offenbart sich des Dichters tiefe russische Eigenart.

MARIE HERZFELD

Tolstois Kreutzersonate und die moderne Mönchsmoral Das neunzehnte Jahrhundert legt sich zum Sterben hin und wird fromm. Es blickt zurück auf sein ganzes Leben, auf diese Tage voll Zweifelsucht, Taumelgier und Himmelssturm, es beichtet in seinen Büchern aller Zukunft seine Sünden und ruft ihr mit Hamlet zu: »In ein Kloster geh'!« Fin de siècle - fin du monde. Und als ob wirklich morgen die Welt zu Asche fiele, so tönet rings um uns, aus Frankreich, Skandinavien, Rußland herüber Bußgesang und Geißelschlag. Das Buch, welches ich besprechen will, ist nicht vereinzelt in seiner Art; es ist typisch für eine mächtige Rückschlagsströmung im Geiste unserer Zeit. Mag dieselbe sich nach den Umständen verschieden färben, je nach den Ufern steiniges Geröll oder Spülicht führen: es ist die gemeinsame Woge einer großen Enttäuschung, welche sie speist und trägt. In den Siebzigerjahren, als der Darwinismus siegreich ward, da träumte die Welt vom Anbruch goldener Tage der Erkenntnis. Jedoch die Naturwissenschaft, die für uns die Wissenschaft geworden, sie, deren Ergebnisse von gestern man ohne Prüfung zum Dogma von heute erhob, die Naturwissenschaft, von welcher die Moral ihr Stichwort nahm und die moderne Kunst ihre Attribute holte, sie hatte unseren Jugendleichtmut betrogen. Die exakte Forschung hatte uns nichts gegeben als eine Reihe von dürren Tatsachen und wahrscheinlichen Hypothesen und wohl nichts so Sicheres wie die wachsende Uberzeugung, daß das innerste Wesen der Dinge, daß das Anfangs- und Endglied der kausalen Kette, ja, das Zwingende des ursächlichen Zusammenhanges überhaupt uns immerdar unfaßbar bleibt. Und so frug man 9$

denn weiter und weiter und stieß sich die Köpfe wund an den ehernen Mauern des Welträtsels und bohrte und zweifelte, bis auch der Zweifel verzweifelt war und man eines Tages vor der Frage stand: »Ja, wenn alles so ungewiß, - warum da nicht lieber glauben?« Und so versucht denn zu glauben, wer zu glauben vermag, und wer es nicht mehr kann, ermuntert wenigstens die anderen dazu - und das nicht bloß in Rußland, sondern auch im Geburtslande des Skeptizismus, in Frankreich; denn traut man dem Zeugnisse der Dichtkunst, so flüchtet sich die Blume französischen Geistes zurück ins warme Treibhaus des Spiritualismus. Paul Verlaine schreibt unvergleichlich schöne Gedichte voll inbrünstigen Katholizismus; Léon Hennique wirft sich dem Spiritismus völlig in die Arme; Paul Bourget, der sein Senkblei in alle Abgründe des Daseins geworfen und nirgends Boden gefunden, der Nihilist des Endlichen mit dem Hunger und Durst nach dem Unendlichen, er mahnt zur Umkehr und zum Glauben, und selbst Guy de Maupassant, dieser Heide und lebensfrohe Erbe altfranzösischen Geistes, sogar er ist angekränkelt von dem Geist der Zeit und schilt in »L'inutile beauté« die N a t u r den Feind, den man in sich und um sich unaufhörlich bekämpfen müsse. Die gleiche Strömung ist es, welche Tolstoi von den lichten Geistesbahnen des Iwan Turgenjew so weit hinweggeführt. Der Grundgedanke der »Kreutzersonate« ist in unseren Tagen nicht ganz neu. Die streng monogamistische Forderung, welche das Leben vor der Ehe gleichfalls in ihren Rahmen zieht, treffen wir auch bei Björnson, den schmerzlichen Abscheu vor dem Natürlichen - Allzu-Natürlichen - bei den Sensitivisten der französischen und skandinavischen Literatur; jedoch diese vorläufigen Behandlungen des Themas erscheinen dürftig und kleinlich neben der Tiefe und Großartigkeit von Tolstois Auffassung, und das Monstruöse in den Schlußfolgerungen der Kreutzersonate wird geradezu gefährlich, so sehr stützt der Dichter sie durch den Reichtum seiner Beobachtung, durch die Überfülle seiner Herzenskenntnis und durch rücksichtsloses Aussprechen von anstößigen Wahrheiten. Der Inhalt des Buches ist in Kürze folgender: Posdnyschew erzählt dem Autor während einer Eisenbahnfahrt, wie er dazu kam, seine Frau in einem Anfall von Eifersucht, oder besser von Liebeswahnsinn zu erstechen. Auf dem Tatsächlichen verweilt er nicht, denn es ist ihm nur der Faden, aus welchem er sein Räsonnement spinnt, und er schießt auf demselben hin und her wie eine tollge96

wordene giftige Kreuzspinne. Die Geschworenen haben ihn freigesprochen; jedoch er sieht in ihnen nicht seine Richter. Er steigt zur Quelle seiner Tat hinauf und dort, wo er ihren Ursprung zu finden glaubt, dort ist sie für ihn geschehen. An seinem Junggesellenleben liegts, an diesem Leben, auf das er doch so stolz gewesen, weil er sich freigehalten von allen Abnormitäten und Enormitäten seiner Freunde, - an diesem Leben, in welchem er gelernt hat, die Frau als Genußmittel anzusehen, nicht als Eigenzweck, nicht als menschliches Wesen mit Selbstbestimmungsrecht, und deshalb hat er eigentlich damals, als er zum erstenmal ein Weib berührte, das Weib und damit sein Weib getötet. In diesem Augenblick quoll der Keim des Mordes auf, den er so viel Jahre später ausführt; aus diesem Keim erwuchs die Parasitenblume einer tierischen Leidenschaft, die seine Ehe zu einer einzigen unaufhörlichen H a ß und Liebesorgie gestaltet, - eine Wucherblüte, deren schwüler Duft sein Gehirn zum Kreisen bringt und deren Luftwurzeln in tödlicher Umrankung alles ersticken, was Menschlich-Feines in ihm vorhanden war. Und der Virus seiner eigenen Verderbtheit greift über auf seine Frau, bis nichts in ihrem Verhältnis mehr gesund und rein und schuldlos erscheint. Er erniedrigt sie und sie erniedrigt ihn in dieser harpyiengleichen Liebesgier; Verachtung und Zwietracht und grundlose Eifersucht sind ihre Hausgenossen und ab und zu erhebt der Irrsinn zwischen ihnen sein Medusenhaupt: sie will sich töten, er will sie töten und schließlich tötet er sie wirklich. Und indem Posdnyschew Anfang und Ende seines Liebeslebens zusammenknüpft, wird es ein Ganzes, ein einziges, ungeheuerliches Verbrechen, ein langsamer fortgesetzter Mord in zahllosen Stationen, eine Gewalttat von so riesenhaften Verhältnissen, daß die dunkeln Schatten derselben in alle Zukunft hinein den Erdball verfinstern und die Sündenschmach erst getilgt wird, wenn alles Leben erstorben ist. Denn Posdnyschew sieht in seiner Bluttat nur die fleischgewordene Folge unserer Moral und seine Selbstanklage wird zu einer furchtbaren Anklage unserer Zeit. Will man die ganze Bedeutung dieser Eheschilderung verstehen, so muß man sich der älteren Werke Tolstois erinnern: der Novelle »Familienglück«, der Romane »Krieg und Frieden« und »Anna Karenina« und muß mit dem überquellenden Detail derselben ausfüllen, was in der »Kreutzersonate« dem lehrhaften Zweck geopfert ist. Besonders »Anna Karenina« ist in diser Hinsicht wichtig; in der Darstellung des Zusammenlebens von Lewin und Kitty am 97

A n f a n g ihrer Ehe steckt der Embryo der »Kreutzersonate«. Auch auf Lewin drückt im voraus das Bewußtsein, eine Liebesvergangenheit zu haben; auch ihn stört die ewige Selbstbespiegelung in der Unschuld des Gewissens; auch er leidet durch die Pflicht und die Unmöglichkeit mit Kitty geistig zu verschmelzen; auch er erwartet von dem Honigmonat blaue Wunder und vom Vatergefühl überirdische Wonnen; auch er will das Glück geschenkt haben, anstatt es zu erwerben; auch er empfindet die Enttäuschung und will sie sich nicht eingestehen, und wie er seine eigenen Gefühle auf die Marterbank streckt, so ruft er jede Miene, jeden Blick, jeden Farbenwechsel seiner Frau vor den Richterstuhl, und wenn seine Suggestivfragen es nicht vermögen, Kittys Gedanken ernstlich zu beschmutzen, liegt der Grund wohl darin, daß die junge Mutter nicht Zeit hat, außer ihrem K i n d noch ein schlechtes Gewissen zu hegen und zu pflegen. N u r ist Lewins Inneres nicht so tief getroffen wie das von Posdnyschew; nur findet er eine Sanktion seiner Liebe und eine Heiligung der Ehe in seinem Sohne; nur hat er noch andere Interessen, sogar Genuß davon, ein Stückchen blauen Himmel f ü r sich allein zu behalten. In der »Kreutzersonate« sind dieselben Elemente; aber alles in ihr hat ungeheuerliche Proportionen angenommen, alles ist krankhaft, verzerrt, und das Natürliche zur Widernatur gestempelt. Liebe ist überhaupt vom Übel, die tierische Erbsünde, deren wir uns zu entledigen haben. Sie schändet alles, was sie berührt und wer sich ihr hingibt, den tötet sie - Körper und Seele tötet sie. An ihr starb schon Anna Karenina: nicht der Ehebruch w a r ihre tragische Schuld, sondern das Liebesübermaß, die selbstverzehrende Leidenschaft, welche der ganze Inhalt ihres Daseins geworden. Hätte Tolstoi ihre Geschichte nicht 1877, sondern 1890 veröffentlicht, er hätte den grausamen Mut gehabt, dieser wundervollen Gestalt auch ein Brandmal aufzudrücken; Dar ja Oblonski, die tugendhafte Frau, deren Dasein nichts als Pflichterfüllung und Selbstverleugnung ist, hätte nicht wider Willen sie lieben und - beneiden müssen; sie wäre weniger verführerisch und weniger unvergeßliche Dichtung geworden. Nichts kennzeichnet mehr den Wandel in Tolstois moralischen Anschauungen als der Unterschied in der Behandlung von Annas freiem Verhältnis und Posdnyschews Ehe. Welches Füllhorn von künstlerischer Zärtlichkeit ergießt er auf das schöne Haupt der Frau, welche Ehre, Stellung, Muttergefühl, alles, Stück für Stück der Überflut von Liebe opfert, achtlos der inneren Wunde, deren 98

Schmerz übertäubt sein will und die des Balsams bedarf, nämlich einer immer größeren, immer ausschließlicheren, ewig fließenden Liebe! Wie hütet sich Tolstoi, durch ein Wort, durch eine Miene diese Empfindung zu beflecken! Wie rein und von persönlichem Menschheitsadel getragen ist dies immoralische Verhältnis dargestellt; - wie grauenhaft dagegen, als ein Spielball wilder Triebe, wie eine aufbrechende Pestbeule erscheint jene von der Gesellschaft gut geheißene Ehe. Die Trauungsformel ist bei Tolstoi ja nicht das Siegel Salomonis, welches den bösen Geist in die Tiefe bannt; sie ist überhaupt nichts Sakramentales; sie entscheidet nicht über Recht und Unrecht in der Liebe; denn es gibt für ihn in der Liebe nicht mehr Recht und Unrecht, gut oder böse; alle Liebe, irdische Liebe, sinnliche Liebe ist unrecht und böse, verdirbt die Menschen, und der Sinn der Ehe ist nur der, von der Liebe weg zu erziehen, ein Geschlecht zu produzieren, das von ihr nichts mehr wissen mag, - nichts mehr weiß. Das wird die Erlösung sein von jener tierischen Erbsünde, die Erlösung vom Leben. Und so faßt Tolstoi den Kernpunkt seiner Liebesmoral in diese Lehre: »Man muß die Worte Matth. V, 28 nur in ihrer vollen Bedeutung verstehen; diese Worte: »Jeder, der ein Weib ansieht, ihrer zu begehren, hat schon mit ihr die Ehe gebrochen in seinem Herzen«, - sie beziehen sich nicht nur auf das Weib im allgemeinen, oder auf die Schwester, oder auf das Weib des anderen, sondern vorzugsweise - auf die eigene Frau.« - Diese Worte stehen dem Buch als Motto voran, - sie schließen dasselbe. So ist denn d>e »Kreutzersonate« zweierlei: halb Kunstwerk, halb Predigt, beides halb - zwei Hälften von ungleichem Wert, die sich nicht ergänzen, - ein prächtiger Götterleib mit tranfeuchten Fischaugen und kurzem Delphinschwanz. Was die Schwäche der Predigt für mich im voraus feststellt, ist gerade das, was das Buch zum Kunstwerk macht: jedes Wort darin ist individuell gedacht. Posdnyschew ist's, der spricht, erzählt, polemisiert, argumentiert, Posdnyschew, eine grüblerisch-exzentrische Natur, gallig, nervös von Temperament, gefährlich wie ein Gefäß mit Nitroglyzerin, das explodiert, so o f t man daran schüttelt - (man bemerke, wie er seinen Zuhörer anschreit, ob derselbe nun seine Einwendung vorbringe oder sie ängstlich verschweige) - ein abnormer Mischling von Pierre Besuchow und Lewin, - ewig aufgestachelt, ein wahres Raubtier, das nachts seine Beute zerfleischt und tags seine Gierden; - wie vermöchte, was f ü r ihn gilt, f ü r uns andere zu 99

gelten! Wir si ld nicht alle so gewissenhaft; denn was diesen Mann verdirbt, ist d; s, worauf er stolz ist, sein Gewissen. Immerfort dies geheime Leiden, immerfort der innere Beobachter, immerfort die Nase in der Luft, ob es nicht nach Schwefel riecht. Dies Mißtrauen ?uf sich selbst, dies das Eine wollen und das Andere tun mit nachfolgender Selbstverachtung, Selbsterniedrigung, das ist krank, und die meisten Menschen sind in dieser Hinsicht noch gesund. Und wären sie es nicht, - die Heilung nach Doktor Eisenbarts Rezept ist kaum in jedermanns Geschmack. Denn was will Tolstoi? Er sagt es in seinen religiös-philosophischen Bekenntnisschriften und er sagt es ebenso durch Posdnyschews Mund: Umänderung der Beziehung der Geschlechter zueinander, und zwar auf neuer Grundlage. »Der alte Boden ist ausgenutzt; es muß ein neuer gefunden werden, ohne Sittenverderbnis zu predigen.« Diese Grundlage ist aber f ü r ihn die immer strengere Auffassung des Keuschheitsgebotes, bis zur vollständigen Aufhebung der Sinnlichkeit. Das spricht er in aller Entschiedenheit und in vollem Bewußtsein der Konsequenzen aus. Vernichtung der Menschheit? Warum denn nicht? Wenn sie ihre Bestimmung erfüllt hat! Und diese Bestimmung ist die Glückseligkeit, die Glückseligkeit, zu erreichen durch Verwirklichung der göttlichen Gebote, des »Gesetzes« . . . »Diese Verwirklichung behindern unsere Leidenschaften. Die mächtigste und böseste Leidenschaft aber ist die sinnliche Liebe; wenn wir diese als die stärkste vernichtet haben«, dann werden wir alle der Errichtung eines moralischen Gottesreiches nach Tolstois Prägung zustreben, die Menschheit erfüllt ihre Bestimmung und bedarf nicht mehr der Existenz. Ober die Art, wie jene böse mächtige Liebe am wirksamsten zu fassen ist, spricht Tolstoi sich viel weniger deutlich aus. Vielleicht weiß er selbst es nicht. Der Hausmittel spottet sie. Alle Fesseln zerbricht sie. Womit sie also bekämpfen? Das Predigen hilft nichts. Gepredigt wird ja seit Jahrtausenden und man hat den alten Adam doch nicht ausgetrieben. Die Heiligengeschichte wimmelt von Tugendmustern, die Literatur von abschreckenden Exempeln, - und die Welt liebt weiter, wird nicht aufhören zu lieben, so lang die Jugend jung und die Sonne hell bleibt und die Erde Blüten und süße Früchte trägt. Behielte aber Tolstoi recht und fände er das Kraut, das gegen die Liebe gewachsen ist, weiß er, was er damit erreichte? Ahnt er, wie aschfarben grau, wie kalt und mißmutig leer das ganze Dasein würde? Die Liebe tot, die Schönheit tot und tot die Kunst, ioo

- auf ihrem Leichenhügel trauerte mit seinem letzten Funken von Gefühl der von Moralfrösten umschauerte Mensch. Doch was hat unsereins mit Tolstois Gottesreich, mit bleichem Mönchtum und Entsagung zu tun! Wir glauben nicht an dessen Möglichkeit. U n d wir wünschen sie auch nicht. Der Mensch ist nun einmal zu so zahmer Tugend nicht geboren. Es wäre uns ein schlimmes Zeichen, sähen den Wolf wir friedlich neben dem Lamme grasen. Wir dürfen da beschwören, daß der Mund des Wolfes zahnlos und das Fleisch des Lammes unschmackhaft geworden. Nein, wir träumen von anderen Welten. Von einer höheren Menschheit mit einer höheren Kultur. U n d diese wird sich eine andere Gesellschaftsordnung schaffen, eine neue Unschuld und eine freiere Sittlichkeit. U n d damit scheide ich von der »Kreutzersonate«. Das Buch ist voll von Wahrheiten; ach, es strotzt von feinen, kühnen und genialen Zügen. Ich bewundere es Stück für Stück, - als Ganzes lehne ich es ab. Ein barockes Meisterwerk byzantinischer Klosterkunst: ich betrachte es, ich studiere es und hänge dann mit Ehrfucht es als Weihgeschenk in die heiligste Kirche von Nischni-Nowgorod.

LEO BERG

Tolstois Kreutzersonate Vor mir liegen zwei Bilder vom Grafen Tolstoi. Ich weiß nicht, ob sie, was man »gut getroffen« nennt, sind, noch auch, welchem Jahre sie entstammen. Aber ich halte sie wenigstens nicht für schlecht. Auf dem einen ist der Dichter etwa 30 und auf dem andern 60 Jahre. U n d beide sehen sie jedenfalls nicht aus wie die Bilder von Heiligen! Welch' ein Mensch! Diese aufgeworfenen, wulstigen Lippen, dieses breite knochige Gesicht, diese starken gierigen Nasenflügel und diese kräftig vortretende Stirn . . . Das alles deutet vielmehr auf eine gewalttätige, wollüstige, leidenschaftliche und herrschsüchtige Natur, als auf einen Asketen, als auf einen Priester Rousseauscher Kultur-Ideale, als auf einen Verherrlicher des höheren Jungferntums! H ä t t e nicht Tolstoi in vielen kleinen Schriften, von denen »Mein Glaube« die bekannteste ist, seine Ansichten deutlich genug ausgesprochen, man wäre geneigt, sein neuestes Werk, »Die Kreutzer101

sonate«, 23 als ein Wunder von Realismus, feiner psychologischer Beobachtungen zu preisen, als ein Werk, hinter das der Dichter in reinster Tendenzlosigkeit zurückgetreten ist, das uns nichts von ihm selbst sagt, das in nichts für ihn verpflichtend wäre. Hier hätten einmal die Anti-Tendenzler recht. U n d weshalb sollte man ihnen diesen einen Triumph nicht gönnen, sie haben ja so selten recht! Auf einer Eisenbahn erzählt dem Dichter der Held seines Romans seine Geschichte. Vergessen wir nicht, daß ein Mörder es ist, der hier spricht, und noch dazu ein Mörder, der freigesprochen wurde! U n d dieser Mörder - Posdnyschew ist sein N a m e - klagt sich nun selber an; er ist das schuldbeladenste Wesen, sein Opfer hingegen erscheint ihm plötzlich im hellsten Lichte kindlicher U n schuld. Was sie auch getan hat, auf ihn fällt doch alles zurück. Es ist richtig, sie war kokett, sie war sinnlich, sie war leichtfertig und sogar treulos; und gleichwohl, war er's nicht, der sie zu alledem gebracht, er der »gefallene Mann«; 24 der Unreine, der als ein Schuldiger in die Ehe trat? Der Mann ist es, welcher das Weib, dies reinere, dies höhere Geschöpf, in den Sumpf seiner sinnlichen Begierden hinabzieht! Das Weib hat einen natürlichen Abscheu 23

D i e » K r e u t z e r s o n a t e « ist bisher deutsch in z w e i Ü b e r s e t z u n g e n erschienen. D i e eine v o n L. A. H a u f f in der C o l l e c t i o n O t t o J a n k e (Berlin, O t t o J a n k e ) . Die z w e i t e v o n D r . L ö w e n f e l d (herausgegeben v o m Bibliographischen B u r e a u in Berlin). Beide w e r d e n als a u t o r i sierte b e z e i c h n e t ! - D i e letzte k a n n m a n eigentlich n u r eine beschnittene A u s g a b e n e n n e n , eine R e i h e zynischer, aber sehr w i c h t i g e r Stellen ist e i n f a c h weggelassen. U n d ein wissenschaftliches I n s t i t u t k a n n es d u l d e n , d a ß m i t einem poetischen W e r k e so u m g e g a n g e n w e r d e ! E m p ö r t e m a n sich gegen d e n Z y n i s m u s , d a n n h ä t t p m a n d o c h e i n f a c h alles wegstreichen sollen! Es z w a n g ja die H e r r e n n i e m a n d , i h r e r idealistischen Seele G e w a l t a n z u t u n ! - D i e U b e r s e t z u n g v o n H a u f f liest sich z u w e i l e n besser, t r i f f t auch, w i e mir scheint, den s t a r k e n a u f w ü h l e n d e n T o n d e r russischen N o v e l l i s t i k sehr gut. A b e r a u c h n u r z u w e i l e n , n u r hie u n d d a ! Im A u s d r u c k ist sie h ä u f i g g e r a d e z u schwach und ungenau.

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Auf das sexuelle T h e m a will ich hier nicht eingehen, da m i c h in diesem Falle das psychologische P r o b l e m am meisten interessiert. Jenes ist übrigens im Z u s a m m e n h a n g b e h a n d e l t in einer eben in z w e i t e r A u f l a g e erschienenen, sehr interessanten S c h r i f t : » D a s sexuelle P r o b l e m in der m o d e r n e n L i t e r a t u r . Ein B e i t r a g z u r Psychologie der m o d e r n e n L i t e r a t u r u n d Gesellschaft.« V o n D r . P a s c a l (Berlin, Sallis'scher Verlag), auf die ich hier n u r in d e r A n m e r k u n g k u r z hinweisen will.

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vor sinnlichen Genüssen, die Scham des Menschen nach einem sexuellen Genuß, das alles deutet darauf hin, daß hier etwas Verwerfliches geschieht. Das Weib will bloß Kinder, und deshalb gibt sie sich dem Manne hin, der Mann aber will Genuß; und was tut der Mann! Er geht in die Parlamente, schreibt, schwatzt, er will ja nur Geld verdienen; das Weib aber: es liegt den höchsten Pflichten ob! Was ist alle Männerarbeit gegen die eine Frauentat, daß sie die Kinder nährt. O, nicht damals habe ich meine Frau getötet, als ich sie erstach! Ich habe sie getötet, als ich das erste Weib berührte, als ich die reinen Beziehungen zwischen Mann und Weib, zwischen Bruder und Schwester besudelte, als ich es verlernt hatte, das Weib mit andern Augen als mit denen eines gierigen Wüstlings anzusehen! So wirft sich dieser wollüstige gewalttätige Mensch jetzt auf sich selber und mit gierigen Blicken schwelgt er in seiner eigenen gemarterten Seele; raubtierartig stürzt sich sein böser Dämon auf sich selbst und zerfleischt sich selbst! Was bleibt übrig? Nichts als der gefallene Mann! Ehe, Liebe, Kunst, Kultur, das alles gibt es ja gar nicht, oder sollte es wenigstens nicht geben! Welch' ein Recht hatte ich, Anspruch zu erheben auf den Leib meines Weibes? Welche Macht hatte ich, ihn zu fesseln? Alles wird diesem ausschweifenden Geiste jetzt nur noch zur W a f f e gegen sich selbst. Die Musik! Man muß lesen, in welchen Schaudern diese sensitive wildleidenschaftliche N a t u r in den wollüstigen Entzückungen der Musik zu leben verstand! Wie er zu genießen versteht! Und wie er aus jedem Genuß noch die Selbstanklage herauszulesen weiß! Wie er jetzt noch in der Erinnerung der genossenen Genüsse und vollbrachten Taten schwelgt, und wie er sich selbst vor sich erniedrigt, und mit wie grausamer Ironie er die kleinsten kleinlichsten Regungen seiner Seele in den Vordergrund treten läßt, nur um noch den letzten Genuß der Selbstvergewaltigung zu haben. Nein, das ist kein Asket, der hier vor uns steht! Das ist einer jener Vollrussen, mit überschäumender Leidenschaftlichkeit, starken Instinkten, brutal und selbstbewußt; aber jener Russen, die zugleich von der westeuropäischen Kultur erfüllt sind, und daher in einen Streit geraten mit sich selber, übersinnlich und überempfindlich zugleich, und die sich gegenseitig in sich selbst aufreiben. Diese Naturen finden wir unter den russischen Dichtern (Tolstoi selbst ist solch' einer), derartigen Kämpfen begegnen wir bei den 103

alten Deutscl en, als sie mit der römisch-christlichen K u l t u r in Ber ü h r u n g k a m ; n ! Auch der Fall Posdnyschew ist n u r wieder eine P r o b e aufs Exempel der Nietzscheschen Lehre. Die durch die M o r a l z u r ü c k g e d r ä n g t e n Instinkte wenden sich gegen sich selbst. D e r Fall Posdnyschews ist aber zugleich auch der Fall Tolstois. H ä t t e dieser in reiner O b j e k t i v i t ä t und als Realist gedichtet, d a n n hätte er die Zeit der U m w a n d l u n g uns vor allen Dingen geschildert, hierher w ä r e der H a u p t a k z e n t der Darstellung gefallen. Aber gerade hier setzt Posdnyschew-Tolstoi mit einem k ü h n e n Sprunge hinweg. Er der alles aufdeckte, dies m u ß t e er im D u n k e l n lassen, eine Lüge m u ß t e er sich reservieren. D e r gewaltätige Mensch w u r de plötzlich der sittliche Mensch. Aber auch diese Sittlichkeit ist ja eine gewalttätige. Posdnyschew blieb was er w a r : der wollüstige Gewalttätige. Wie es Menschen gibt, deren Gewissen eine Lüge nicht ertragen k a n n , die aber ruhig werden, sobald sie eine zweite h i n z u g e f ü g t haben, die ein U n r e c h t n u r durch ein zweites ungeschehen machen k ö n n e n ; so auch Posdnyschew. Er h a t getötet, sein eigen Weib. Dies w a r nicht zu ertragen f ü r seine stolze Seele. Deshalb f ü g t e er noch einen zweiten M o r d hinzu, er n a h m Blutrache f ü r den ersten: er tötete die Sinnlichkeit, er tötete seinen Stolz; so richtete er sich selbst. Aber weshalb z w a n g m a n ihn zu dieser Selbstrache! Sollten jene Richter, die ihn freigesprochen hatten, vielleicht seine Mitschuldigen sein! U n d er verallgemeinerte seinen Fall. Sie alle, alle sind sie schuldig, die M ä n n e r ! H i e r züngelte die F l a m m e seines alten Stolzes wieder a u f . Wie w e n n er als A n k l ä g e r gegen die M ä n ner, gegen die m o d e r n e K u l t u r a u f t r ä t e , wenn gerade er dazu berufen w ä r e ! . . . M a n sieht, das Schiff seiner Leidenschaft h a t bloß den K u r s geändert. Ich k a n n nicht auf alle Schönheiten dieses w u n d e r b a r e n Werkes eingehen, ich k a n n nicht alle seine Tiefen ausmessen: denn d a n n m ü ß t e ich eine Broschüre, und nicht einen A u f s a t z über dasselbe schreiben. Diese Feinheit der Selbstbeobachtung u n d Selbstanalyse, diese einfache u n d doch hinreißende Darstellungsweise, das h a t in der heutigen L i t e r a t u r wenig oder nichts z u r Seite. Aber m a n m u ß diesen Tolstoi zu lesen, diesen Posdnyschew zu hören verstehen, w e n n m a n den richtigen G e n u ß an diesem P h ä n o men, das sich hier uns selbst darstellt, haben will. Bedenk' ich, in wie naivem v e r w u n d e r t e m T o n e die meisten Besprechungen der »Kreutzersonate« gehalten waren, wie wenig m a n verstanden h a t 104

zu deuten, was in der Seele dieses Posdnyschew eigentlich vorgegangen ist, dann muß ich allerdings sagen: die Kunst zu lesen und zu hören ist doch bei uns noch recht mangelhaft entwickelt! Gesetzt, die Askese hätte überhaupt einen Sinn, dann sollte sie wenigstens nicht von Wollüstlingen gepredigt werden! Aber wer wird sie denn predigen, wenn nicht der erschöpfte oder der empörte, der enttäuschte oder der verekelte und vor allen Dingen der durch eine furchtbare Tat oder ein gewaltsames Ereignis zur Besinnung gebrachte Wollüstling! Und wessen Predigt wird allein einen Erfolg haben? Wessen anders als die eines Gewaltmenschen! Und Nietzsche behält wieder einmal recht: der Priester bleibt der letzte Gewaltmensch einer degenerierten Nation.

W . BERDROW

Der Tolstoische Zirkel In Tolstois großem, in der zweiten H ä l f t e der siebziger Jahre niedergeschriebenem Familienroman »Anna Karenina« verläuft abgesondert von allen anderen, äußeren wie innerlichen Ereignissen, »getrennt von ihnen durch eine heilige Mauer«, die seelische Entwicklung des Landedelmannes Konstantin Lewin. Eine eigentümliche, in schmerzhaften Zuckungen und ruhelos zitternder Selbstpeinigung auf- und abschwankende Seelengeschichte, wie sie jedesmal dann sich wiederholt, wenn ein Mann von tiefblickendem Geist und offenem Auge für das Leben gleichzeitig an der Bürde eines weichen Gemüts und an dem Alp eines zum Gespenst und Spuk (nach Stirners Hohnwort) gewordenen Pflichtbewußtseins trägt. Und nun mit der Fackel der Wissenschaften in die Rätselhöhlen des Lebens hineinzuleuchten beginnt: festen Entschlusses, nicht einen Schritt zu gehen, der dunkel blieb, keinen Kompromiß, auch den kleinsten nicht, einzugehen, der Lüge in unerbittlichem Krieg zu folgen bis in ihre letzten Schlupflöcher, und einzig der Wahrheit zu dienen. Die Enttäuschung folgt unausweichbar und um so schneller, je ehrlicher das Streben, je heller der Verstand und je heißer die Sehnsucht nach dem idealen Glück des Seelenfriedens. D a ß all unsere Wissenschaft, heiße sie auch wie sie will, am Ende in unbewiesene und unbeweisbare Hypothese ausläuft, bis der einen Disziplin schließlich kein anderer Trost bleibt, als der, daß es den 105

übrigen nicht besser gehe; daß alle Philosophie, wenn sie ehrlich bleibt, schließlich von dem Leben nichts weiter herausbringt, a¡s was die letzten Worte des greisen Schopenhauer in den philosophischen Handschriften in verzweifelter Kürze aussprachen: »ich möchte nur wissen, wer etwas davon hat,« - das alles konnte Konstantin Dmitritsch Lewin ebensowenig verborgen bleiben wie dem großen Dicher-Philosophen selbst, von dessen geistiger und seelischer, durch Jahrzehnte sich ziehender Krisis die inneren Kämpfe Lewins nur ein lebendiges Spiegelbild sind. »Klar erkennend, daß es für jeden Menschen, und auch für ihn, in Zukunft nichts als Leiden, Tod und ewige Vergessenheit geben werde, entschied er, daß er so nicht weiter leben könne und sich sein Leben entweder so abklären müssen, daß es nicht mehr als der böse Streich eines Satans erscheine - oder er sich erschießen müsse.« So erzählt der Dichter von Lewin, aus seinen Seelenkämpfen den wundesten Punkt herausgreifend, wo mit der Erkenntnis das Pflichtbewußtsein in Fehde kommt und die Forderung aufstellt: wenn du klar erkennst, daß das Leben nichts weiter ist wie ein Übel, und noch dazu ein albernes, sinnloses Übel, so ist es deines Amtes, diesem Übel ein Ende zu machen, so - oder so. Konstantin Dmitritsch aber erschließt sich nicht, so oft ihn auch die Geister des Selbstmordes plagen. Wer daran zweifelte, daß alle die seelischen Kämpfe, in denen der Dichter den Helden von »Anna Karenina« sich winden läßt, und durch welche hindurch er ihn in den letzten Kapiteln der Religion der Liebe in die Arme führt, daß sie nur dieselben sind, in denen auch er von seinem vierzigsten bis zum fünfzigsten Jahre rang, und die auch ihn hinleiteten zu »jener freudigen Erkenntnis, die allein die Seelenruhe verleiht,« - wer daran zweifelt und Tolstois Zurückwendung zum Religiösen auf seniles Moralpredigen reduzieren möchte, wie es seit dem Erscheinen der Kreutzersonate recht beliebt ist, den wird am besten die nur ein Jahr nach der Vollendung der »Anna Karenina« geschriebene »Beichte« überzeugen. In einfachen Worten, aber mit echt dichterischer Anschaulichkeit läßt Tolstoi sein Innenleben von der Jugend an mit allen Wandlungen, allen Zweifeln sich entrollen. Sein Jünglings- und erstes Mannesleben mit den seichten Vergnügungen und Bestrebungen dieser Jahre, »an die er nicht ohne Entsetzen, Ekel und Herzweh zurückzudenken vermag,« und dann das allmähliche, schrittweise Erwachen zum Nachdenken. Die Wissenschaft versagte ihm die 106

A u f s c h l ü s s e , die er a m e i f r i g s t e n suchte, w i e sie jeden o h n e A n t w o r t läßt, der v o n ihr m e h r e r f r a g e n w i l l als den ursächlichen Z u s a m m e n h a n g in der W e l t der E r s c h e i n u n g e n , - w a s a b e r hat die g r o ß e F r a g e nach d e m Z w e c k u n d E n d e unseres D a s e i n s mit Ä t h e r s c h w i n g u n g e n , E l e k t r i z i t ä t u n d P r o t i s t e n z u tun? U n d k l a r e r u n d b e w u ß ter w a r d es d e m Z w e i f e l n d e n , d a ß er die E r f o r s c h u n g seiner P r o b l e m e bei sich selber anheben müsse, a n s t a t t im d u n k e l n H y p o t h e s e n k r a m d e r A t o m e und S p i r a l n e b e l . H o b er a b e r bei sich selbst an, so blieb das L e b e n L e i d , V e r g ä n g l i c h k e i t , T o d , V e r z w e i f l u n g , - u n d die E r k e n n t n i s , d a ß a l l e a n d e r e n , u n d g e r a d e die größten D e n k e r , die gleich ihm » q u a l v o l l und h a r t n ä c k i g , T a g u n d N a c h t « in denselben R ä t s e l n w ü h l t e n , dieselbe A n t w o r t f a n d e n o d e r v i e l m e h r dasselbe V e r s t u m m e n . » N i c h t n u r h a b e n sie nichts g e f u n d e n , s o n d e r sie h a b e n es k l a r a n e r k a n n t , d a ß dasselbe, w a s mich z u r V e r z w e i f l u n g g e f ü h r t hat - des L e b e n s S i n n l o s i g k e i t , die einzige, d e m M e n s c h e n z u g ä n g l i c h e , u n z w e i f e l h a f t e E r k e n n t n i s sei.« S o das E r g e b n i s der W i s s e n s c h a f t - ein A c h s e l z u c k e n ; so das E r g e b n i s d e r P h i l o s o p h i e - eine V e r n e i n u n g . U n d so w ä l z t sich, J a h r e u m J a h r e , in l e i d v o l l e r Sehnsucht, der D i c h t e r - D e n k e r , Die Brust voll Wehmut, das Haupt voll Zweifel, Und mit düstern Lippen fragt er die Wogen: O löst mir das Rätsel des Lebens, Das qualvoll uralte R ä t s e l . . . Es murmeln die Wogen ihr ew'ges Gemurmel, Es wehet der Wind, es fliehen die Wolken, Es blinken die Sterne gleichgültig und kalt, Und ein N a r r steht und wartet auf Antwort. T o l s t o i w o l l t e nicht dieser N a r r sein, der v e r g e b l i c h w a r t e t ; u n d kostete ihn sein T r o t z das L e b e n , er w o l l t e dennoch b o h r e n , bis er auf eine A n t w o r t stieß. U n d d a er w e d e r mit der a c h s e l z u c k e n den R e s i g n a t i o n des S p i n o z a den Z w e c k b e g r i f f aus der W e l t z u s c h a f f e n , noch n a c h L e i b n i t z e n s f a u l e m T r o s t m i t der »besten aller m ö g l i c h e n W e l t e n « sich zu b e g n ü g e n v e r m o c h t e , 50 blieben ihm n u r z w e i A u s w e g e : der k o n s e q u e n t e Pessimismus S c h o p e n h a u e r s , e r w e i t e r t u m die v e r m e i n t l i c h e » P f l i c h t « , die G a b e v o n sich zu w e r f e n , v o n d e r er nicht absehen k o n n t e , w o h i n sie f ü h r t , - o d e r die a n d e r e » P f l i c h t « , das L e b e n » a b z u k l ä r e n « , das Ü b e l aus der W e l t z u s c h a f f e n . - L a n g e Z e i t l a g T o l s t o i g ä n z l i c h in d e m m ä c h tigen B a n n der S c h o p e n h a u e r s c h e n W e l t a n s c h a u u n g . » E i n u n w a n -

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delbares Entzücken an Schopenhauer und eine Reihe geistiger Genüsse durch ihn haben mich erfaßt, wie ich sie nie bisher empfunden. Ich weiß nicht, ob ich die Meinung je ändern werde, aber gegenwärtig finde ich, daß Schopenhauer der genialste der Menschen ist,« schrieb er im Anfang der sechziger Jahre seinem Freunde Feth-Schenschin, der erst durch ihn zum Studium und zur Ubersetzung der Werke Schopenhauers ins Russische hingeleitet wurde. Und in der Tat hat ihn der große Pessimist unlösbar in die festen Bande seines Genies geschlungen und alle seine späteren Werke von dem ersten meertiefen und meerklaren Satze der »Anna Karenina« bis zu den Orgien, welche der Pessimismus in der »Kreutzersonate« feiert, lassen den Einfluß Schopenhauers erkennen, was natürlich die gewaltige geistige Bedeutung Tolstois, der unter den Lebenden wenige nahekommen, in nichts verringert. - »Dort, wo die Philosophie exakt ist, . . . wo der Philosoph die wesentliche Frage nicht aus dem Auge verliert, bleibt die Antwort immer eine und dieselbe, - nämlich die von Sokrates, Schopenhauer, Salomo und Buddha gegebene,« heißt es in der »Beichte«, und neben den weltverneinenden Aussprüchen der drei älteren Weisen werden dann die wunderbaren Schlußworte zitiert, in welche der dreißigjährige Schopenhauer die »Welt als Wille und Vorstellung« so großartig ausklingen läßt. - »Und das, was diese starken Geister gesagt haben, - das denke und empfinde auch ich . . . Es verlohnt nicht, sich zu betrügen. Alles ist eitel - der Tod ist besser als das Leben, man muß sich desselben entledigen . . . « Hier setzt der erste Trugschluß ein, den nichts anderes zur Welt bringt, als das fleischgewordene Pflichtbewußtsein, überall da handeln, helfen zu müssen, wo etwas - und liege es der K r a f t unseres Willens noch so entrückt nicht in Ordnung scheint, nicht stimmt. D a ß kein leiblicher Tod das Leben beendet, daß nur neues Leben und neues Leid aus dem Moder quillt, daß das einzige wahre Ende allein das Nichts ist und, einmal das Leben als Widersinn zugegeben, der Tod der größte Widersinn ist, weil er das Leben gebiert - alles das konnte Tolstois bohrendem Geiste nicht entgehen. So o f t sich aber eine solche Überlegung einstellt und mit ihr die dunkle Perspektive in die Selbstzerfleischung des Willens zum Leben, die endlos ist, so lange der Wille in der Erscheinung den Kampf ums Dasein kämpft, so o f t bäumt sich gegen diese Erkenntnis eben derselbe Wille, der in dem Kraftmenschen Tolstoi so stark ist wie die Muskeln, die »beim Heumähen mit den Bauern um die Wette arbeiteten,« und der mit 108

all seiner urwüchsigen Energie sich müht, das Leben so zu formen, daß ihm die Erkenntnis es nicht verriegeln müsse. Gewissenlos scheinen ihm die Philosophen, die das Leben verneinen und doch darin bleiben, statt es abzuwerfen. Ihn selbst trieb allerdings das Gewissen in den Jahren seiner düstersten Weltbetrachtung mit eisernem Zwang der Notwendigkeit sich zu töten entgegen, und es ist sicherlich kein Wort der Übertreibung in den Aufzeichnungen, welche die »Beichte« aus dieser Zeit enthält, in der er alle Schnüre aus seinem Zimmer entfernte und aufhörte, zur Jagd zu gehen, um nicht mit der geladenen Flinte in der H a n d allein zu sein. - Und dennoch »erhoffte er noch etwas vom Leben«, und seine starre, eigenwillige Natur, die gegen alles Hergebrachte sich bäumte, Shakespeare einmal einen »Dutzendskribenten« schalt und auch Schopenhauers Übermacht gewiß nur langsam sich gebeugt hat, war ganz danach geartet, sich dieses »Etwas«, wenn es sich von selbst nicht bieten wollte, am Ende auch zu ertrotzen. So kam er von der Philosophie zurück, wie er längst von der Wissenschaft, von der »Bildung« und »Kultur« zurückgekommen war, und was ihn auf seinen Geistespfaden schon immer gewaltig beeinflußt hatte, die Liebe, ja Verehrung f ü r das Volk, die bis zur Marotte gehende Zuneigung zu den Bauern in ihrer Natürlichkeit, das leitete ihn auch jetzt wieder. Lange freilich wehrt sich das logisch gewöhnte Denken gegen den entscheidenden Schritt, der nur ein Schritt zurück sein konnte, und wie Konstantin Lewin dem Bauern Fjodor, der ihm von einem »Gerechten in Gott« erzählt, in störrischem Zorn sein: »Wie soll er denn an Gott denken? Wie soll er denn nur für sein Seelenheil leben?« ins Gesicht schleudert, um dann, allein geblieben, die ganze Wahrheit in des Bauern Worten vor sich selbst anzuerkennen, so verschweigt Tolstoi in der »Beichte« nichts von den inneren Qualen, die er erduldete im Schwanken zwischen der vernünftigen Erkenntnis, die ihm das Weiterleben versperrte und »jenem Glauben, den ich nur annehmen kann, wenn ich verrückt werde«. Wie aber hier Fjodor dem aufbrausenden Gutsherrn seinen Glauben wie ein ehernes Schild entgegen hält, so ist der Dichter auch im Leben wohl oft genug auf kräftige und urwüchsige Religiosität gestoßen, um die Uberzeugung zu gewinnen, daß nicht die Wissenschaft, nicht Philosophie die K r a f t zum Leben gibt, sondern allein der Glaube, gleichviel was für ein Glaube immer, wenn er nur die Verbindung herstellt zwischen dem Endlichen, als das wir erscheinen und dem 109

Unendlichen, das wir in Wahrheit sein müssen - wenn wir nicht verzweifeln wollen. »Die ganze U n v e r n u n f t des Glaubens war für mich genau dieselbe geblieben, wie vormals, aber ich mußte das jetzt anerkennen, daß er einzig und allein dem Menschen die Frage des Lebens beantwortet und in Folge dessen die Möglichkeit zu leben verleiht« (Beichte). Und »ist es denn nicht aus der Entwicklung der Theorie eines jeden Philosophen klar ersichtlich, daß er im voraus unfehlbar ebensogut, wie der Bauer Fjodor, - den Hauptgedanken des Daseins kennt und nur auf dem zweifelhaften Wege des Verstandes zu dem gelangen will, was allen bekannt ist?« (Anna Karenina). Ich sehe allerdings nicht, was sich gegen diese Behauptung einwenden ließe, wenn wir die unabsehbare Reihe unserer Philosophen betrachten, die, in welchen Lösungsversuchen der großen Aufgabe sie sich immer ergehen mochten, doch stets, etwa mit einziger Ausnahme der Schule von Jena, das Eine a priori und als unumstößliche Gewißheit vorausgesetzt haben, daß ein Ewiges, Unzerstörbares der Welt und uns zu Grunde liegt. D a ß aber - wenn wir mit Kant der Uberzeugung sind, daß jeder Versuch, mit dem Verstände in das Wesen des Dinges an sich einzudringen vergeblich bleiben muß, - daß dann der Glaube und seine Offenbarungen uns auch nur einen einzigen Schritt weiterzubringen imstande seien, vermag ich auf der andern Seite ebensowenig abzusehen, wie ich überhaupt die von Tolstoi vorausgeschobene Gewißheit anerkennen kann, das Leben, das wir auf seiner leiblichen Seite als so sinnlos und leidvoll anerkennen, müsse notwendig noch eine bessere, unserem Verstände verschlossene Bedeutung haben. Denn wie sollen in jenen Regionen, wo schon die Ur- und Grundformen unseres Denkens, wo Raum und Zeit schon versagen und wo das Gesetz von Ursache und Wirkung wie ein H o h n klingt, wie sollen dort noch die rein menschlich ausgesonderten und selbst unter uns schon so strittigen Begriffe Recht und Unrecht, Gut und Böse eine Stelle finden? D a ß sich der stärkste Geist ganz Rußlands nicht ohne neuen Kampf in das ungründige Meer des Glaubens stürzen konnte, liegt auf der H a n d . Die Widersprüche und die blöde Gedankenlosigkeit der kirchlichen Dogmen widerten ihn an; nur an dem eigentlich Kernhaften, Ursprünglichen des Glaubens konnte ihm gelegen sein, der das Wunder verrichtete, Milliarden von Menschen leben, leiden und mit gelassener Fassung sterben zu lassen, während der Mangel an ebendiesem Glauben ihn verzweifeln ließ. U n d jetzt beginnt 110

das jahrelange, eindringende Studium aller Religionen, die von diesem Glauben nur etwas in sich zu tragen schienen, das Herumziehen mit den russischen Sektierern aller Färbungen, das Wühlen in den Gegensätzen der christlichen Konfessionen, das Forschen in den Büchern des Islam und Buddhismus und schließlich das langjährige Bibelstudium. D a ß eine solche Tätigkeit den Zeitgenossen, die - Turgenjew an der Spitze - noch immer auf dem abgedroschenen Ideenfelde des Freisinnes und Fortschritts sich tummelten, gleichzeitig eine Verirrung des Menschen und eine Versündigung des Künstlers bedeutete, ist nur zu begreiflich. Liest man Turgenjews Urteil über »Anna Karenina«, worin ihm gerade die Gestalt Lewins, in der Tolstoi sich und seine Leiden verkörpert, ihres nach innen gerichteten, allem äußerlichen Fortschrittskram abholden Charakters wegen widerwärtig war (»ein Egoist durch und durch, der selbst, da er gliebt wird und glücklich ist, nicht aufhört, sich mit seinem Ich zu beschäftigen«), vergleicht man damit noch den flehenden Brief Turgenjews, in dem er den Freund vom Sterbelager aus beschwört, »umzukehren«, - so tritt der krasse Gegensatz der beiden großen Männer grell zu Tage, in deren einem das Dichten nur zu oft das Denken erstickte, während der andere so sehr Denker war, daß er sein Leben lang den Vers verachtete, weil er der Klarheit des Gedankens Fesseln anlege. - Es dauerte fast ein Jahrzehnt, bevor Tolstoi in rastloser Arbeit den religiösen Inhalt der ganzen kultivierten Menschheit weit genug erforscht hatte, um über ihn hinaus wieder zu eigenem selbständigem Denken zu gelangen. Dann entstand die philosophische Schrift: »Über das Leben.« Im negativen, kritischen Teil dieses Werkes bleibt auch der Evangelist Tolstoi wiederum unverrückbar auf dem Boden Schopenhauers. Unser Leben ist lediglich ein Streben nach dem Wohl, nur in diesem Streben fühlen, begreifen wir uns, nur solange leben wir, als wir für unser Wohlbefinden kämpfen. Ja, es ist sogar dieses Streben, dieser »Wille« nach Schopenhauer, das einzige Mittel, welches uns mit der umgebenden Welt verknüpft, wir begreifen außer uns nur das, was »strebt«, und nur, weil und solange es »strebt«. Der Mensch, der gleich uns voll wütender Selbstsucht ringt im Kampf um das Leben, ist uns am begreiflichsten, weil wir in ihm das Prinzip des Lebens am deutlichsten in die Erscheinung treten sehen, ferner steht uns das Tier, der Organismus, ganz in der Ferne und, nur durch ein schwaches Band der Erkenntnis mit uns verI I I

knüpft, die Materie. So erklärt sich der Widerwille des Philosophen gegen die Wissenschaft unserer Tage, jene »Irrlehre« und »falsche Wissenschaft«, die da glaubt, den Rätseln des Daseins am nächsten zu kommen, wenn sie bei dem scheinbar einfachsten, in Wahrheit unerklärlichsten, der Materie, zu forschen anfängt. Nur von uns können wir ausgehen, wenn wir die Wahrheit erfahren wollen, denn außer uns gibt es nichts Zweifelloses, was mit dem Unendlichen uns verknüpfte. Wir begreifen von der ganzen Welt nicht, was zeitlich und räumlich, sondern nur das, was auch in uns ist, nur den Willen, das Streben, d. h. nur uns. - Wen erinnert diese Lehre nicht an das auch in Schopenhauers Philosophie unendlich wiederkehrende: Tat twam asi, (das bist Du), das »große Wort« aus den heiligen Büchern der Hindu? - Wie dieses Streben, dieser blinde Wille in allen alle zerfleischt, wie jeder nur sich selbst als wahr und berechtigt anerkennt, und den gierigen Abgrund seines Willens nur füllen könnte, wenn alle anderen sich aufgäben und ihm dienten, wie dieses entsetzliche Streben nach dem Wohl uns vernichtet, indem es uns von Tag zu Tag der Auflösung, dem Tode näher führt, alles das ist in derselben furchtbaren Wahrheit in den Schriften beider Philosophen ausgeführt, aber nach dieser Erkenntnis scheiden sich ihre Wege. Mit deutendem Finger zu den Weltentsagern hinweisend, den großen Verneinern des Willens, welche die Nachwelt, gleichviel ob mit Spott oder Bewunderung, unter die Heiligen zählt, läßt uns der Philosoph von Frankfurt am Ende seines mächtigen Gedankenganges stehen. So fest wie die Überzeugung vom Unwert des Daseins, so klar ist in ihm die Erkenntnis von unserer Ohnmacht, dem Willen, der wir selbst sind, Umkehr zu gebieten, und schweigend hüllt er sich, nachdem er gesagt hat, was sich sagen läßt, in den Mantel der Resignation. Seine einzige Morallehre bleibt: neminem laede, imo omnes, quantum potes, juva! - Demgegenüber erhebt sich der Philosoph von Jasnaja Poljana zu einer positiven Heilslehre; mit dem Glauben an die fortschreitende Versittlichung sündigt er am Pessimismus, mit der Lehre: Ihr könnt das Streben zum Wohl so verkehren, daß es tatsächlich zum Glück, zur Seelenruhe und zum Völkerfrieden führt! erhebt er sich in ätherische Höhen, in denen ihn nur ein unbegrenzter Idealismus des Gedankenfluges vor dem tiefen Fall auf das harte Pflaster der Realität wird bewahren können. »Das Leben ist eine unaufhörliche Bewegung.« Aber nicht mehr jener gleichmäßige, ewig entstehende und ewig zerrinnende Wellen112

schlag von Entstehen und Vergehen, aus dem es keinen Ausweg gibt, sondern ein Klimmen, Wachsen, Streben, das schließlich nicht dem leiblichen W o h l , das w i r alle kennen und von dem w i r wissen, d a ß es unerreichbar ist, - nein, das dem ewigen W o h l entgegengeht, der Glückseligkeit, der »Bestimmung des Lebens«. D a s »Gesetz des Lebens« ist f ü r jede Lebensstufe ein anderes. »Die Welt der Tiere ist f ü r uns schon ein Reflex dessen, was w i r in uns selbst kennen. Die Welt der Materie ist bereits gleichsam der Reflex eines Reflexes.« Wie aber im Tier noch die Materie, so lebt in uns noch das Tier, so können w i r uns noch v o m tierischen Bewußtsein nicht befreien. »Wir sind so überzeugt, d a ß alle Lebensfragen durch das Telephon, die O p e r e t t e n , die Bakteriologie, das elektrische Licht beseitigt werden, - d a ß der G e d a n k e an die Lossagung vom (leiblichen) W o h l e uns nur als ein Echo der alten U n k u l t u r erscheint.« »Mittlerweile ahnen die Unglücklichen nicht, d a ß der roheste Indier, der um der Lossagung vom persönlichen Wohle, um N i r w a n a s Willen, jahrelang auf einem Fuße steht, ein unvergleichlich lebendigerer Mensch ist, als sie, die vertierten Menschen der europäischen G e s e l l s c h a f t . . . Dieser Indier hat begriffen, d a ß zwischen dem Leben der Persönlichkeit und dem Leben der V e r n u n f t ein Widerspruch herrscht, und löst ihn, so gut er k a n n ; die Menschen unserer gebildeten Welt begreifen nicht nur diesen Widerspruch nicht, sondern sie glauben nicht einmal, d a ß es einen gibt.« - Wir sollen indes nicht den d u m m e n H i n d u nachahmen, sondern unsere V e r n u n f t zu R a t e ziehen, um den Widerspruch der Welt zu lösen. Wir sollen ihm nicht durch Lebensverneinung, durch Schnur und Pistole entwischen wollen, sondern ihn aus eigener K r a f t , die wir nach Tolstois Ansicht besitzen, in sein höllisches N i c h t s auflösen, um uns zu retten ins Reich des Friedens: Die Liebe gibt dazu das Mittel und in der V e r f e c h t u n g dieses Mittels wird aus dem Philosophen Tolstoi der Prediger. D a s Ziel unseres Egoismus ist f ü r jeden erreicht, w e n n alle anderen sich aufgeben u n d ihn mehr lieben als sich selbst. N u n wohl, gebe also ein jeder sich selbst auf und lebe nur noch f ü r das W o h l aller a n d r e n , ist d a n n nicht f ü r alle das W o h l erzielt? U n d sind d a n n nicht f ü r jeden die Leiden getilgt? - Sicherlich ist der rasende K a m p f aller gegen alle v e r s c h w u n d e n ; es hören f e r n e r die E n t täuschungen auf, die der ewige H u n g e r nach G e n u ß in dem v o m Willen erfüllten Menschen, nach jeder Befriedigung e m p f i n d e t ; es schwindet endlich der letzte Schrecken, die T o d e s f u r c h t . - So 113

trabt nun der einst gewaltige Denker den ermüdenden Kreislauf der Erfüllung des Willens durch die Aufgabe des Willens. Das Streben zum Wohl, dessen Objektivation lediglich wir alle sind, soll zur Befriedigung geführt werden, wenn wir alle das Streben für uns, in dem allein wir uns lebend fühlen, in das Streben für alle anderen verwandeln, die wir mit uns nur gleichartig begreifen, eben in dem Streben für sich selbst. Wohl versichert Tolstoi eindringlich, daß das, was er verlangt, nicht die Lossagung von der Persönlichkeit sei, sondern nur die Befreiung von den über das Notwendige hinausgehenden Wünschen, - aber ist nicht eben die Stärke des Willens zum Leben, ist nicht der U m f a n g der Wünsche eben die Persönlichkeit? Und ist es denkbar, daß sich der Wille, der einzig und allein das ausmacht, was wir sind, daß er sich den Forderungen einer Vernunft unterwirft, die er sich erst zu seiner Befriedigung im K a m p f e ums Dasein geschaffen hat? H a t doch auch beim Tolstoi von heute, dem Schuster und Bauer von Jasnaja Poljana, keineswegs der Gang der Überlegung den Gang des H a n delns bestimmt, sondern umgekehrt der hohe G r a d der Selbstlosigkeit, der schon beim Kinde vorhanden war, die Philosophie beeinflußt! Denn nicht ohne Grund verließ 1846 der achtzehnjährige Jüngling die Universität Kasan und ging auf das Gut, um sein Leben und seine K r a f t seinen Bauern zu weihen, die ihn nicht verstanden und glaubten, er wolle sie betrügen, wenn er ihnen mit R a t und Tat zur Seite ging. Daß ihn dann die von neuem aufschäumende Lebenslust sofort aufs neue in die gärenden Großstadtwirbel schleuderte, ist nur ein Beweis mehr für die Eitelkeit alles Bemühens, den Willen durch die Vernunft zur Umkehr zu bringen. Was aber wäre gewonnen, wenn wirklich das Streben für sich in das Streben für andere sich verwandeln ließe? Mit den schlimmen Pandoragaben, die der Wille in sich schließt, andere zu überschütten, anstatt sie selbst zu tragen, kann nicht wohl als Schritt zur Lösung angesehen werden; w o Wille, da Leid, w o Leben, da Tod. Daß der Weise, von des Daseins Nichtigkeit durchdrungen, seine K r a f t nur noch objektiver, künstlerischer Betrachtung weiht und sich aus dem leidvollen Strom des Willens f ü r seine Person an das U f e r schmerzloser Weltbetrachtung rettet, ist eine Lösung, für Hundert unter Milliarden erreichbar, - den Willen aber, damit sein G i f t uns nicht steche, anderen zu weihen und über sie die bittere Schale irdischen Wohles zu schütten, ist keine Lösung, sondern eine Verirrung. 114

SPÄTPHASE

A L E X I S FREIHERR VON E N G E L H A R D T

D e r russische M a u p a s s a n t ( A n t o n T s c h e c h o w ) Anton Pawlowitsch Tschechow ist unter den jüngeren Erzählern Rußlands der Fesselndste und Begabteste. Wenn auch die heutige belletristische Literatur nicht gerade arm an aufstrebenden und Beachtung verdienenden Talenten ist - Namen wie Potapenko, K o rolenko, Boborykin und von den Jüngsten Gorki, Bulygin und Alexandrowski haben in Rußland einen guten Klang - so findet und verdient doch keiner dieser Epigonen der großen Zeit des russischen Romans ein gleich lebhaftes Interesse seitens des Lesenden wie Tschechow. Schon die ersten kleinen Erzählungen, die er vor etwa zwölf Jahren im Feuilleton der »Nowoje Wremja« veröffentlichte, richteten sofort das Augenmerk des lesenden Publikums und der Kritik auf dieses ungewöhnliche Erzählertalent, das es verstand, in dem knappsten Rahmen einer o f t nur 5-6 Seiten umfassenden Novellette dem Leser ein einheitliches, mit wenigen sicheren Strichen skizziertes Bild eines stets packenden, bezeichnenden Vorgangs zu geben. Ein Meister des kurzen prägnanten Stils, ein souveräner Künstler im Aufbau, in der Komposition, stellt Tschechow die Gestalten seiner glücklichen Eingebung so unmittelbar und lebensvoll vor den Leser, daß sie vor dessen geistigem Auge meist greifbarer und eindrücklicher erscheinen, als die mit zahllosen Details geschilderten Persönlichkeiten dickleibiger Romane anderer Autoren. So war man bald darüber klar, daß man es in Tschechow mit einem Novellisten ersten Ranges zu tun hatte, der seinem französischen Meister G u y de Maupassant nicht allzu weit nachstand, mit dem man ihn auch seiner ganzen Schreibweise nach am ehesten vergleichen muß. Dieselbe glänzende Kunst der Charakterprägung, die gleiche verblüffende Klarheit, derselbe derb zugreifende und rücksichtslos enthüllende Wahrheitsdrang kennzeichnen beide Dichter - wenn auch der geniale Franzose dem Russen an Tiefe, an Fruchtbarkeit der Phantasie und an Schaffenskraft zweifellos überlegen ist. Seine »Erzählungen« und die darauffolgenden »Bunten Erzählungen« machten Tschechow mit einem Schlage zum Liebling der russischen Lesewelt und spannten die Erwartungen aufs höchste. Ein leiser Zug von Melancholie und ein gesunder Sarkasmus, der 116

bereits in diesen kleinen Erzählungen neben der feinen Beobachtungsgabe hervortrat, durfte bei einem echt russischen Schriftsteller nicht fehlen, dessen Lebensgang überdies von Kindheit an ein schwerer und aufreibender gewesen war. Und diese grübelnde, pessimistische Ader des Autors trat dann mit fast jedem seiner folgenden Werke immer mehr hervor, bis sie sich in den letzten Erzählungen Tschechows zum proklamierten, fast hoffnungslosen Pessimismus entwickelte, einem Pessimismus, der in den russischen Kultur* oder vielmehr Halbkulturzuständen seinen Urgrund hat und an dem die Werke der besten Romanschriftsteller Rußlands und seiner edelsten Geister - eines Turgenjew, Dostojewski, Gontscharow, Schtschedrin und auch Tolstoi - gleicherweise krankten. Oder auch nicht »krankten«. Denn der russische Pessimismus ist kein Krankheitssymptom, sondern eine ganz natürliche Erscheinung. Wie ein Spiegel das getreue Ebenbild des vor ihm Stehenden zurückwirft, so konnte und durfte der unbestechliche Wahrheitsdrang der großen russischen Erzähler von dem Boden einer senilen, morschen und in jeder Beziehung ruinierten Gesellschaft keine Idealgestalten loslösen und nachschaffen, sondern nur ihr der Wahrheit entsprechendes Konterfei wiedergeben. Nicht die Erzähler schaffen den Pessimismus, sondern die Zustände; in diesen hat er seine Wurzel. So sehen wir heute auch das große Talent Tschechows dem Pessimismus schon fast gänzlich anheimgefallen - weil es eben ein großes und echtes Talent ist, das mit den Besten seines Volkes die furchtbaren Schäden mitfühlt und mitlebt, an denen die russische Gesellschaft leidet. Und wenn auch die kleinen Erzählungen Tschechows, die der vorliegende Band in Übersetzungen vereinigt, 25 Kabinettstücke feiner Charakteristik und Detailmalerei, Proben glänzenden Stils und subtilster Seelenanalyse sind - man nehme nur die Skizze »Die Kinder« oder die folgende »Adonis« zur H a n d - so packt Tschechow die Seelen seiner Leser im Innersten doch erst mit seinen späteren Werken. Bereits in der Novelle »Der Zweikampf« behandelt Tschechow ein tieferes Problem und entwirft in der Figur des triumphierenden Siegers in diesem Kampfe, des anscheinend sittlich völlig verkom25

[Im Original weist die Redaktion auf eine Skizze in den »Stil-Proben« des H e f t e s hin. Es handelt sich um Tschechows »In der Fremde«, die in dem Band »Starker Tobak und andere N o v e l l e n « erschien.] 117

menen Lajewski, ein Stück echten Menschentums. Noch deutlicher klingt aus »Düstere Leute« und »In der Dämmerung« eine tiefe Melancholie und Lebensunlust, die sich in Tschechows letzten Erzeugnissen, »Die Bauern«, diesem ergreifenden und bitterlich wahren Sittengemälde - entschieden sein bis jetzt reifstes und bezeichnendstes Werk - und in »Mein Leben«, sowie in den erst im verflossenen Sommer erschienenen Erzählungen »Der Mensch im Futteral«, »Die Stachelbeeren« und »Liebe« völlig ins Düstere und Tragische steigert. Durch all diese letzten Sachen geht bei all ihrer meisterhaften Darstellung ein so trüber Zug der Weltverachtung, daß auch den Leser ein beklemmendes, quälendes Gefühl befällt, das nicht zu bewältigen ist. Tschechow malt hier nur die düsteren Seiten des Lebens, er klirrt gewissermaßen unaufhörlich mit den Ketten, die ein jeder mehr oder weniger am Leibe mit sich trägt, er schildert das Leben wie einen grauen sonnenlosen Tag in öder schneebedeckter Tundra. Stilistisch und in der Charakteristik sind auch die letzten Erzählungen Tschechows vollendet. Ein Liebling der Leser, hat Tschechow bei der Kritik nicht immer den gleichen Beifall gefunden, besonders seine »Bauern« haben seitens der nie aussterbenden Clique der alles im Staate Rußland vollkommen und gut Findenden lebhafte Verurteilung gefunden, was freilich den Dichter nicht im geringsten kümmerte. Zu hoffen ist es gleichwohl und zu wünschen, daß ein so starkes Talent wie Tschechow sich durch den aussichtslosen Pessimismus seiner Weltanschauung durchringe und seinem Volke in Werken, die seines Talentes würdig sind, die Wege weise, wie es sich durchringen kann zu höheren Idealen und freierer Kultur und Gesittung. Geboren wurde Anton Pawlowitsch Tschechow in der Stadt Taganrog am Asowschen Meer, in einer Kaufmannsfamilie, im Jahre 18J9. Seine erste Ausbildung erhielt er im väterlichen Hause, machte dann das Gymnasium seiner Vaterstadt durch und bezog die Universität zu Moskau, wo er das medizinische Studium absolvierte. Während seiner ganzen Studienzeit ernährte er nicht nur sich selbst durch literarische Tätigkeit und Privatstunden, sondern erhielt auch seine zahlreiche Familie, die aus seinen Eltern und mehreren jüngeren Brüdern bestand. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit den täglichen Sorgen um eine ganze Familie zu vereinigen, war hart und schwer, diese frühen Sorgen in so jungen Jahren haben wohl auch den Grund zu seiner jetzigen Kränklichkeit gelegt. Seine ersten literarischen Versuche erschienen in den russischen 118

humoristischen Journalen »Splitter« und » D i e Grille«, später in der » N o w o j e Wremja«. Zu der Eigenheit seines dichterischen Schaffens gehört es, daß er nicht in Zwischenräumen tätig ist und die »Impression« erwartet, sondern täglich fest bestimmte Stunden am Schreibtisch arbeitet. J e d e seiner Arbeiten schreibt er persönlich ab und unterwirft sie einer eingehenden Durcharbeitung und Korrektur. Erwähnt sei noch, daß Tschechow sich auch auf dramatischem Gebiet erfolgreich versucht hat. Seine besten Stücke sind » I w a n o w « und »Die Möwe«. Über den Gesundheitszustand Tschechows kursierten neuerdings sehr übertriebene ungünstige Gerüchte. Der Dichter befindet sich augenblicklich in J a l t a am Südufer der K r i m und fühlt sich dort recht wohl, wird jedoch den Winter voraussichtlich in einem noch milderen K l i m a verbringen müssen. Aufrichtig wünschen wir dem reich begabten Poeten Genesung von seinem Leiden und erneute K r a f t zum Schaffen.

EDUARD

HÖBER

Tschechow als Dramatiker So bekannt und beliebt der Erzähler Anton Tschechow heutzutage in Deutschland ist, so unbekannt ist bisher der Dramatiker Tschechow bei uns geblieben. Seine dramatischen Hauptwerke, »Die M ö w e « , »Onkel W a n j a « und »Drei Schwestern«, sind erst vor kurzem in deutscher Übersetzung 2 6 erschienen, trotzdem sie bereits vor mehreren Jahren in Rußland mit teils sehr starkem E r f o l g aufgeführt worden sind, und auf deutschen Bühnen ist Tschechow bis heute nur mit den zwei kurzen Einaktern »Der B ä r « und »Der Heiratsantrag« zu Worte gekommen. Diese Erscheinung ist nur in beschränktem Maße verständlich. Denn mag auch Tschechow, wie seine Landsleute Turgenjew und Tolstoi, sein Reifstes und Größtes bislang auf epischem Gebiet geschaffen haben, so stehen 28

»Die M ö w e « . Schauspiel in 4 A u f z ü g e n . - »Onkel Wanja«. Szenen aus dem Landleben in 4 A u f z ü g e n . - »Drei Schwestern«. D r a m a in 4 A u f z ü g e n . A u t . Ubers, von W. C z u m i k o w . Leipzig, Eugen Diederichs. 1902. 98, 87 u. 1 1 0 S. HC,

doch andererseits seine Schauspiele an künstlerischem W e r t hoch über der M e h r z a h l dessen, was in unserer Zeit beispielsweise aus der französischen u n d italienischen D r a m a t i k nicht n u r in die deutsche Sprache übersetzt, sondern auch auf deutschen Bühnen massenweise gespielt w i r d . G a n z abgesehen d a v o n , d a ß das C h a r a k t e r bild des Schriftstellers Tschechow erst durch seine D r a m e n vervollkommnet und abgerundet wird. Viel stärker noch als in seinen E r z ä h l u n g e n erscheint Tschechow in seinen D r a m e n als Melancholiker u n d Pessimist. W ä h r e n d in seinen meisten epischen W e r k e n die pessimistische G r u n d a n s c h a u ung d u r c h den überlegenen Spott und die Ironie, mit der er die Menschen und die Verhältnisse dieser Welt betrachtet, gemildert w i r d , t r i t t sie in den D r a m e n , deren Gestalten Geist v o m Geist u n d Blut v o m Blut ihres Schöpfers besitzen, völlig unabgeschwächt zutage. Eine schwere Resignation lastet über den drei großen Schauspielen. N u r einsame, gebrochene, unzufriedene, lebensmüde Menschen, in ihrer trübseligen Verlassenheit vielfach zu Sonderlingen geworden, treten uns entgegen, die mit geringer K r a f t gegen ein widriges Schicksal a n z u k ä m p f e n versuchen u n d sich Glück u n d inneren Frieden zu erringen streben, um doch bald wieder der G e walt des Bestehenden, der engen Verhältnisse, in die sie eingeschlossen sind, zu unterliegen und auf eine glücklichere Gestaltung ihres Daseins zu verzichten. E i n m a l scheint es, als ob ihnen das Glück erblühen k ö n n e ; sie f i n d e n einen Menschen, der ihr Fühlen und Sehnen versteht, zu dem eine stille Liebe sie hinzieht, mit dem sie sich aus der d r ü c k e n d e n Enge ihres Lebens in eine freiere S p h ä r e emporzuringen h o f f e n . Aber diese A r m e n vermögen das Glück nicht f e s t z u h a l t e n ; schnell entgleitet es wieder ihren schwachen H ä n d e n , und wieder sind sie einsam, m ü d e und traurig wie z u v o r , bescheiden sich mit stiller Arbeit oder bestenfalls mit einem d u m p f e n H o f f e n , d a ß es vielleicht eines Tages doch noch lichter um sie w i r d . »Was ist dabei zu machen,« tröstet Sonja sich u n d ihren O n k e l W a n j a , n a c h d e m ihnen beiden ein bescheidenes Liebesglück jäh zerschlagen w o r d e n ist u n d sie wieder allein auf dem einsamen L a n d g u t bei trockener Arbeit sitzen, »was ist dabei zu m a c h e n ; m a n m u ß leben. Eine lange, lange Reihe von Tagen, v o n langen A b e n d e n ; wir wollen geduldig die P r ü f u n g e n tragen, die uns das Schicksal schickt; wir wollen f ü r andere arbeiten, jetzt und im Alter, ohne R u h e zu kennen. W e n n aber unsere S t u n d e k o m m t , so wollen w i r ruhig sterben. D o r t aber, jenseits des Grabes, 120

werden wir sagen, daß wir gelitten haben, daß wir geweint haben, daß wir es schwer hatten, und Gott wird Mitleid mit uns haben, und wir werden ein neues helles, schönes und leichtes Leben führen, werden uns freuen über unser jetziges Unglück, mit Rührung und Lächeln zurückschauen - und ausruhen.« Und als von den drei Schwestern Prosorow alle ihre f r e u n d e wohl für immer geschieden sind und sie allein in der kleinen toten Stadt zurückblieben, da umarmt Olga schluchzend ihre Schwestern: »Man möchte leben! O, mein Gott! Die Zeit wird vergehen, und wir werden auf ewig verschwinden; man wird uns vergessen, vergessen unsere Gesichter, unsere Stimmen und wieviel unserer waren. Aber unsere Leiden werden zu Freuden werden für diejenigen, die nach uns leben; Glück und Frieden werden auf der Erde herrschen, und man wird derer, die jetzt leben, freundlich gedenken und sie segnen. O liebe Schwestern, unser Leben ist noch nicht beendet. Leben wir! Die Musik spielt so heiter, so fröhlich, und es ist, als wenn es nicht mehr lange dauern wird, und wir erfahren, wozu wir leben, wozu wir leiden. Wenn man nur wüßte, wenn man nur wüßte! . . . « Die drei Dramen sind in ihren Grundzügen Variationen über ein und dasselbe Thema: einsamen, unbefriedigten Menschen leuchtet in der Öde ihres Alltaglebens ein bescheidenes Glück auf; aber schnell bricht es wieder zusammen, und die zum Kampf ums Dasein nicht Gerüsteten gehen dabei zugrunde oder siechen in stiller Resignation dahin wie vordem. Der jungen Nina und dem schwärmerisch-sensitiven Treplew - in der »Möwe«« - wird ihr eben erblühtes Liebesglück durch den eitlen Schriftsteller Trigorin zerstört; Nina verläßt Treplew, und der geht leise hinaus und erschießt sich. Sonja und ihr Onkel Iwan Woinitzki, der »Onkel Wanja«, glauben, die Menschen gefunden zu haben, an deren Seite ihnen ein Leben voll Glück und Frieden beschieden sein könnte; aber beide werden zurückgewiesen und sinken wieder hinab in ihre öde, trostlose, die Seele zerreibende Arbeit für andere. Und auch die H o f f n u n g der drei Schwestern Prosorow, durch die O f f i ziere der kleinen Gouvernementsstadt aus ihrer seelischen Misere erhoben zu werden, zerschellt; Irinas Bräutigam fällt im Duell, die ganze Garnison wird versetzt, und die Schwestern bleiben in Einsamkeit und Traurigkeit zurück. Die Menschen der drei Dramen sind, mit wenigen Ausnahmen, alle eng miteinander verwandt. Schwache, energielose Charaktere, 121

ohne den Willen und ohne die K r a f t , sich das Leben selbst zu gestalten, die Seele gefüllt mit Wünschen, Hoffnungen und Sehnsucht, doch ohne die Fähigkeit, ihrem Wünschen und Sehnen Erfüllung zu schaffen, den Kopf voller Gedanken, aber Gedanken, die absonderliche, verworrene, dunkle Wege gehen und nicht auf das Leben und seine Notwendigkeiten achten. Es sind keine Menschen großer Städte, ständig angespornt durch die Konkurrenz und das Beispiel anderer, gewöhnt an harte, eifrige, nie ermattende Tätigkeit; auf entlegenen friedsamen Landgütern oder in kleinen stillen Städten leben sie dahin, ohne geregeltes, anspannendes Arbeiten aller Muskeln und Nerven, nur von einem kleinen Kreis ihnen ähnlich gearteter Menschen umgeben. U n d so sind sie zu Sonderlingen geworden, die die Welt und das Leben durch eine bunte Brille anschauen, denen das richtige Maß für die Dinge fehlt, und die den H a l t verlieren, sobald sie den engen Pfad, den zu gehen sie gewohnt sind, verlassen. So überwiegen in den Dramen die krankhaften, anormalen Charaktere; in der »Möwe« und den »Drei Schwestern« sind sie sogar in einem Maße gehäuft, daß viele Szenen peinlich und befremdend wirken. Aber alle Gestalten leben, wir verstehen sie und können mit ihnen fühlen, und mit feinster Kunst sind sie individualisiert und gegeneinander abgestuft. Zumal in »Onkel Wanja« ist die Charakteristik von reifer Meisterschaft. Dies Drama steht auch in seiner technischen Gestaltung und seiner Entwicklung über den beiden anderen. Hier erwächst die innerliche Handlung in gedrängter Geschlossenheit und Natürlichkeit aus den Charakteren, die da aufeinander stoßen, steigt zu lebhaft bewegter H ö h e empor, um dann in eine Schlußszene von wundervoller Stimmungskraft auszuklingen. Dagegen fließen die beiden anderen Schauspiele vielfach in eine epische Breite auseinander, und das Fühlen und H a n deln der Gestalten wirkt hier nicht immer mit der zwingenden Wahrheit und Sicherheit, wie in »Onkel Wanja«. Einer Aufführung der »Möwe« oder der »Drei Schwestern« bei uns möchte ich nicht das Wort reden. Dagegen ist Tschechows »Onkel Wanja«, eine gedankenvolle abgeklärte Dichtung, aus der mit leisen, verhaltenen Tönen ein erschütterndes Lied von Menschenleid erklingt, einer baldigen Aufführung in Deutschland in hohem Maße wert.

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NINA

HOFFMANN

Maxim Gorki Der jüngste Stern der neuen russischen Literatur ist der sechsundzwanzigjährige Bossjak Maxim Gorki. 27 Unter Bossjak ist ein Barfüßler zu verstehen, ein Mensch, der sich im ungeheuren russischen Heimatreich die Sohlen abgelaufen hat, - nicht etwa als Pilger, wie es Tausende seiner Landsleute beiderlei Geschlechts, dem Wandertrieb ihres Wesens folgend, alljährlich tun, nein, einfach als Herumläufer, Brodjag, Vagabundus, der durch die Steppe läuft, um weiter draußen, an einem entfernten Ende des Mütterchens Rußland, etwas anderes zu probieren, als er schon getan und erfahren hat. Am Meer ist er Fischer, an der Wolga Flößer, in den Hafenstädten Dammarbeiter, im Binnenland Zimmermann, Schreiner, Schuster usw., - alles dies aber nur, so lange es ihm gefällt. Dann zieht er, die paar erworbenen Rubel in der Tasche - wenn er sie nicht schon an Ort und Stelle vertrunken hat - , seines Weges und sammelt so, im gemächlichen Dauerlauf durch das Achtzigmillionenreich, seinen Vorrat heiter verwegener und ungehemmter Lebensphilosophie, die den Starken seiner Art zum Raubtier, den Weichen zum Melancholiker und Selbstmörder, den Humoristen zum bezahlten Hanswurst, den Psychologen zum Lästerer macht. Diesem Milieu ist Rußlands jüngster Dichter entwachsen, ein Bäckerlehrling, von dem wir nichts weiter wissen, als daß er zwei Bände Skizzen und Erzählungen herausgegeben hat, schon auf ein Jahr administrativ verschickt worden ist und - wenn er sich hohe Ziele setzen wird - im Besitz einer außerordentlichen künstlerischen Kraft eine ruhmvolle Zukunft vor sich hat. Die »Skizzen und Erzählungen« führen uns Bilder aus diesem Vagabunden-Milieu vor Augen. Ehe ich jedoch auf die Würdigung dieser Arbeiten und die künstlerische Individualität des Autors näher eingehe, sind einige Worte über die neueren Richtungen und ihre inneren Zusammenhänge zu sagen. Vor allem muß betont werden, daß die russische Literatur nur im Zusammenhang mit dem ganzen nationalen Werden und den Aufgaben, die es an die führenden Geister stellt, 27

In der » Z u k u n f t « vom 14. Oktober (»Jemeljan Piljai«) erschienen.

1899 ist eine Skizze

Gorkis

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betrachtet werden darf. Der Russe verlangt von seiner Literatur, daß sie ihm die Wege für das Leben als Mensch und als Staatsbürger weist, und nur wer dies im Auge behält, findet sich in den einander kreuzenden Strömungen und Absichten zurecht. Das ewige Grübeln, das Aufstellen von Prinzipien, die er übrigens, seiner wandelbaren N a t u r nach, selbst nie befolgt, hat dem Russen eine Literatur der Lebensfragen gezeitigt, die um so intensiver ist, als ihm ein heißer Wunsch nach dem modernen Staat, nach Freiheit und Recht alle ethischen und praktischen Fragen durchzieht. In den vierziger Jahren kam die russische Literatur in Männern wie Lermontow, Gogol, Puschkin, Schtschedrin, Nekrasow, Belinski zum Bewußtsein ihrer K r a f t , in den sechziger Jahren durch Gontscharow, Dostojewski, Tolstoi, Turgenjew und andere zur Blüte und Spaltung. 28 Die Slawophilen beharrten auf der nationalen Grundlage, die Westler verlachten diese Richtung (verlachen sie noch heute, auch da, wo sie ehrlich ist) und fanden und finden in Rußland nichts, aber auch gar nichts, was der Westen nicht weit vollkommener besäße. Sie warfen alles Russische hinter sich, Sitten, Anschauungen, bis auf die Sprache und deren N a t u r atmende Kunstformen, und steuerten dem Westen zu, wie Belinski, H e r zen, Turgenjew und andere. Auch Tolstoi begann in gewissem Sinne als Westler, - wenn man einem so universalen Künstlergenius überhaupt eine Parteistellung zuweisen darf. Seine ersten großen Werke wurzeln in westlichen Kunstanschauungen und sind scheinbar Produkte eines an westlicher Kultur genährten Geistes. Aber nur scheinbar. Denn daß Tolstoi in »Anna Karenina« und in »Krieg und Frieden« nicht nur dort den Ehebruch in seinen zerstörenden Folgen, hier den napoleonischen Feldzug beschreiben wollte, sondern in Lewin und im Grafen Peter sich selbst, den russischen Menschen, gesucht und gefunden hat, der auf der Suche nach Wahrheit durchs Leben wandelt: Das wird unwiderleglich durch die »schrullige« Tatsache bewiesen, daß der große Künstler später der reinen Kunst entsagt und seine Feder fast ganz in den Dienst des Lebens gestellt hat. Dostojewskis schriftstellerische Tätigkeit fällt in die Zeit, da es noch ehrliche Slawophilen gab. Er erlebte Tolstois Wandlung nicht mehr; und deshalb ist eine Bemerkung, die er in einem Brief 28

Theoretisch hatte diese Spaltung schon unter Katharina der Zweiten begonnen. 124

an einen Freund macht, sehr bedeutsam. »L. T.«, sagte er da, »wird nichts mehr schreiben.« In einem tieferen Sinne hatte er prophetisch gesprochen, denn Graf Tolstoi verzichtete wirklich auf das Kunstwerk um der Kunst willen. Dostojewski war es, der auf die Notwendigkeit hinwies, die russische N a t u r mit der westlichen Kultur zu verschmelzen, und der in Puschkin diese Synthese sah. Ich glaube nicht zu irren, wenn ich behaupte, daß die großartige Puschkinfeier, die jüngst in Rußland begangen wurde, auf den Einfluß der o f t ausgesprochenen Gedanken Dostojewskis zurückzuführen ist. Seitdem haben die Westler in der Literatur bedeutend an Boden gewonnen; nicht etwa, weil ihre Anschauungen sie auf dem Wege des Heils schon sehr weit geführt hätten, sondern, weil das Slawöphilentum der Orthodoxie mit allem damit zusammenhängenden Unwesen verfallen ist. Von reinem, ehrlichem Altrussentum ist heute in der Schriftwelt nicht mehr viel zu spüren. Es wird in Moskau wie eine Oriflamme im heiligen Schrein gehütet, aber es zeitigt keine Talente mehr. In Petersburg, der Metropole der modernen Literatur, findet man wohl einige echte Künstler, die über den Zinnen der Partei stehen, so vor allen den vornehmen und kraftvollen Wladimir Galaktionowitsch Korolenko; die meisten Vertreter der jungen Generation aber sind reine Westler, bilden jedoch seit neuester Zeit zwei Heerlager. Die einen, wie Anton Tschechow (der übrigens in einer Wendung zum Tolstoismus begriffen scheint), Gleb Uspenski und andere, wirken in reformatorischem Sinne mit großem Können, lassen nur die Absicht leider zu deutlich merken. Die anderen sind und nennen sich mit Vorliebe Dekadenten. Dieser Gruppe gehören in erster Reihe Sologub, die hochbegabten Frauen Gurewitsch und Mereshkowski, die Herausgeberinnen des eingegangenen »Sewerny Westnik«, und als kritische Schriftstellerin Sinaida Wengerow, die Schwester des hochverdienten Herausgebers des literarisch-kritischen Lexikons an. Maxim Gorki ist in keine Partei einzureihen, er nimmt eine Sonderstellung ein. Er gleicht darin dem Grafen Tolstoi. Ein ganz eigenartiger Wesenszug geht durch seine Schöpfungen. Während aber bei Tolstoi unendliche Liebe das Leitmotiv ist, ist es ihm der H a ß : kein gesunder H a ß gegen die Lügen der Gesellschaft, gegen die Sünden der Kultur, nein, ein H a ß gegen das Prinzip der Kultur selbst, ein Liebkosen des Häßlichen, das sich im Lasterpfuhl der Gesellschaft ablagert. Es ist sehr bezeichnend f ü r diesen I2

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Grundzug Gorkis, daß in seinen Erzählungen überall der Sieg des Bösen verherrlicht wird, das in seiner K r a f t stets schöner dasteht, als das, was bei ihm Unschuld heißt. Auch seine Personen sprechen als Resultat ihres Vagierens die bitterkecke (Gorki = der Bittere) Lebensphilosophie aus, die sich geschädigte Eigensucht schließlich immer zurechtlegt, gelangen jedoch niemals zu der Lebensweisheit und Selbstentäußerung tolstoischer Gestalten. Tolstoi hat, seit er das »Gutsbesitzerwort« aufgegeben, die Sprache des Volkes gefunden, er behandelt diese Sprache mit einer Vollendung, wie sie in der Weltliteratur kaum anderswo vorkommt; Gorki beherrscht dagegen mit unnachahmlicher Kunst die Sprache des Gesindels. Seine Meisterschaft darin ist, wenn möglich, noch größer: so ursinnlich, sö kraftvoll unbewußt ist sie in jedem Detail. Ein Beispiel davon geben seine unter dem Gesamttitel .--»Gewesene Leute« zusammengefaßten Skizzen aus dem Leben des Auswurfes verschiedener Städte, in den Ruinen einer Baracke, am Gossenweg einer Provinzstadt. Diese Leute leben im »Nachtquartier eines gewesenen Rittmeisters«, erzählen einander ihre Erlebnisse, schimpfen, fluchen in ihrer Gaunersprache, werden vom Schankwirt betrogen und betrügen ihn, haben jedoch einen gewissen gesellschaftlichen Kodex, verschwinden zuweilen, kommen ohne Kopeke, zerlumpt, aus der Welt der Sitte, Reinheit und Strenge wieder zurück, bis die Obrigkeit endlich, da man nicht mehr zahlen kann, das Nest aushebt, der »Rittmeister« gefesselt in Arrest geführt und sein »einziger Ebenbürtiger,« ein ehemaliger Lehrer, den man aus der »reinen« Welt zum Sterben wieder hierher geschleppt hat, als Leiche irgendwo verscharrt wird. Mit wahrer Wollust wühlt hier der Dichter im Gemeinen. Aber wie wahr, wie einheitlich ist doch alles in diesem Bilde. Und welcher tiefe Hintergrund hassenden Schmerzes! Der Eindruck ist derselbe, wie wenn Zola im Venire de Paris das Würstemachen, das Plätten usw. so beschreibt, daß man es - wie aus einer Berufsanleitung - lernen könnte. Allein Gorki beschreibt nichts; er streift nur mit dem Ärmel an irgend etwas, wie zufällig, in beliebigen Zeit- und Ortintervallen, - und es steht in Leibhaftigkeit vor uns: nichts gelernt, nichts »beobachtet«, alles selbst erlebt. Wenn er in der Skizze »Konowalow« erzählt, wie er, der Lehrbursche Maxim, in der unterirdischen Backstube bei schwelender Lampe wacht, während der Obergehilfe Konowalow schläft, wie da der Ofenverschluß mit der zunehmenden Hitze kracht und die erkaltende Rinde der schon herausge126

nommenen Brote knistert, oder wenn er irgendeinen Teil der Fischarbeiten am Meeresstrand oder das stille Rudern des diebischen Tschelkasch zwischen den großen Dampfern und Barkassen in der Erzählung gleichen Namens mit einigen Strichen hervorzaubert, so ist unser Eindruck weit stärker, als ihn die genaueste Schilderung hervorzubringen vermöchte, und wir haben immer das ganze Bild vor uns, - ein tönendes Bild, denn Gorki ist ein echtes Kind seines Volkes und, wie dieses Volk, halb unbewußt musikalisch. Wenn er nach äußeren Mitteln sucht, um seine Vorstellungen auszudrücken, so greift er nach Formen, Farben und Tönen zugleich. Wie das Volk, das sonst so still einhergeht (wenn es nicht etwa berauscht ist), sein monotones Lied zu jedem Bewegungsrhythmus seiner Arbeit findet, so klingt auch für Gorki die Arbeit, das Leben; es klingt und dröhnt der harte Tag an ihm vorüber, es singt und tönt ihm die träumende N a c h t . Ein packendes Beispiel für diese plastisch-musikalische Darstellung einer Szene ist gleich die Einführung in die Erzählung »Tschelkasch«. Tschelkasch ist ein bei harter Diebs- und Schmuggelarbeit ergrauter Bursche, der einen »lieben Jungen« zum Helfer an einem nächtlichen Unternehmen dingt und dem Gehilfen zuletzt nahezu den ganzen Gewinn der Arbeit hinwirft, nachdem der Junge, vom Anblick des Geldes verwirrt, ihn darum angefleht hat. Tschelkasch zerbleut ihn, jener wirft ihm meuchlings einen Stein an den Kopf, jammert dann kläglich und will das Geld nicht nehmen, ehe ihm der Dienstherr verziehen h a t . Eine Geißelung des echt russischen Versöhnungsbedürfnisses nach einem Meuchelmordversuch. Doch hören wir ihn, wie er zu erzählen beginnt, wie das Einzelne der Szene sich vom allgemeinen Hintergrunde des Lebens abhebt und wie die Schilderung schon in der Wahl der Verbaladjektiva - man möchte beinahe sagen: ebenso vieler Verbalinjurien - wie mit Sklavenhaß durchtränkt ist: »Der vom aufgewirbelten Staub des Hafens verdunkelte blaue Himmel des Südens ist trüb. Die glühende Sonne schaut blind, wie durch einen feinen grauen Schleier, herab auf das grünliche Meer. Sie kann sich nicht in der Wasserfläche spiegeln, die von Ruderschlägen, von Dampferschrauben, von den tiefen, scharfen Kielen der türkischen Feluken und anderer D a m p f e r gebrochen wird. Sie durchfurchen den engen H a f e n nach allen Richtungen, wo die freien Meereswellen, in den Granit gezwängt, von ungeheuren Lasten erdrückt werden, die über ihren Rücken schleifen. Sie " 7

schlagen an die Schiffborde, an die Hafenwände, klatschen und murren, unter den Schlägen aufkochend und beschmutzt von allerlei Kehricht. Das Klingen der Ankerketten, das Gerassel der Waggon-Verkettungen, der metallische Aufschrei der Eisenplatten, die irgendwoher auf das Steinpflaster des Hafens fallen, das dumpfe Poltern des Holzes, das Dröhnen der Mietwägelchen, die P f i f f e der Dampfer, bald durchdringend schrill, bald hohl klagend, die Rufe der Packträger, der Matrosen und Zollaufseher: alle diese Laute fließen in die betäubende Symphonie des Arbeitstages zusammen und lagern sich, gleichsam unschlüssig, schwebend, am Himmelsgewölbe über den Hafen, als fürchteten sie, in den Himmel hineinzufließen und dort zu vergehen. Ihnen nach aber erheben sich von der Erde neue und immer neue Lautwellen; bald dumpf polternd und alles ringsumher erschütternd, bald schrill, klirrend, ohrenzerreißend und die dunstige, staubige Atmosphäre durchschneidend. Granit, Eisen, Holz, das Steinpflaster des Hafens, die Schiffe und die Menschen, allem entströmt der Gluthauch eines rasenden H y m nus an Merkur . . . « Doch auch andere Töne weiß Gorki anzuschlagen, poetische, verliebte: so in der schönen Erzählung von der Zigeunerin Radda. Aber auch hier ist nicht Liebe zu finden, sondern nur Leidenschaft, die das geliebte Wesen zerstört, weil das Weib den unbesiegten Helden gedemütigt hat. Dasselbe, immer wiederkehrende Thema der siegenden K r a f t wird meisterhaft in der Erzählung: »Auf den Flößen« behandelt. Der gesunde, von Lebenskraft strotzende Alte fährt auf dem Schlepper mit der drallen Schwiegertochter, küßt und kost vor den Augen des lungenkranken Sohnes, der auf dem zweiten Floß steht und in mondbeglänzter Nacht, im feuchten Nebel, das Liebesleben der beiden halb sieht, halb ahnt. Erschütternd und dabei höchst gemein ist das Thema der Skizze »Aus Langeweile« . Doch meisterhaft ist auch hier die Darstellung. Es handelt sich um fünf Personen auf einer einsamen Eisenbahnhaltestelle, die nur zweimal täglich andere Menschen zu Gesicht bekommen. Der Stationschef und seine Ehehälfte langweilen sich. Da ersinnt der »gebildete« Gehilfe einen Spaß. Er hat entdeckt, daß der Bahnwärter, ein gesetzter, älterer Mann, zur blatternarbigen, armseligen, alternden Köchin in heimlichen Beziehungen steht. Die Magd schläft in einem Keller. Dahin schleicht sich nun 128

zuweilen der Liebhaber, der ihr gestattet, seine Wäsche in O r d nung zu halten. Wehe aber, wenn sie den Bund je verriete! Das Weib hat niemals Liebe genossen und empfängt demütig und schweigend die zweifelhafte Ehrung. Da, als sie einmal wieder beisammen sind, hört sie, die vor Angst und Sorge niemals einzuschlafen vermag, wie jemand den Riegel draußen vor die Kellertür schiebt. Sie sind gefangen, der Schmach preisgegeben! Das Weib weckt den Schläfer, der mit harten Scheltworten über sie herfällt. Als es Tag wird, empfängt man die Verstörten vor der Tür mit einem Katzen-Hochzeitsmarsch, - und lacht und lacht. Der Mann schiebt nach Memmenart alle Schuld auf die Frau. Sie aber läuft ins Kornfeld und liegt da, betäubt, starr, den welken Busen entblößt der sengenden Sonnenglut preisgegeben. Alle rufen nach ihr, denn das Essen muß ja bereitet werden. Sie hört die Stimmen, sie lauscht nach der seinigen, - nur diese hört sie nicht. Da bleibt sie liegen, bis es Abend wird. Dann geht sie auf den Dachboden und erhängt sich. Die Herrschaft aber hatte ihren Spaß, der noch lange über die Monotonie des Stationslebens h i n w e g h a l f . . . Wir sehen auch hier das Grausame in Gorkis Talent; nirgends auch nur als Episode Liebe, nur Leidenschaft oder des heißen Lebens menschlichste N o t . Die einzige schwache Erzählung Gorkis ist nach meiner Meinung »Das Ehepaar Orlow«. Sie beginnt kräftig und einfach wie die anderen, doch überwuchert schließlich die Tendenz: Volksbildung, Frauenrecht und Frauenvorrecht. In einigen anderen Skizzen wird das ewige Thema des Suchens nach dem Lebensweg variiert, immer mit dem Sieg dessen, der nicht grübelt und sichs leicht macht. Überall sind Schönheiten ausgestreut, die das Herz erbeben machen: eine Fülle von Gedanken, ein seltener Glanz der Bilder und eine durch keine eitlen Kunststückchen zerrissene Geschlossenheit des Aufbaues, die Staunen erregen. Aber wer mit Bedacht in dem ungeheuren Buch der Weltliteratur ein Blatt nach dem anderen umwendet, wird finden, daß der H a ß sich kein Denkmal errichtet hat und daß die bleibenden Wirkungen im Schrifttum wie im Leben von der Liebe ausgehen. Die großen Hasser verschwinden, ihre Stimme reicht nicht über die Gegenwart hinaus. Möge den jungen Dichter sein kühnes Talent auf den rechten Weg weisen, - auf den Weg, der von klügelnder Absichtlichkeit und von dreistem Vagabundentum gleich weit abführt. 129

GEORG POLONSKY

Ein Dichter des Proletariats »Fürchten Sie sich nicht, schreien Sie nicht! Das Leben ist doch schön! Ich kam von unten, vom Boden des Lebens, von da, w o Nacht und Grauen herrscht, w o der Mensch noch ein Halbtier, w o das Leben nur Arbeit fürs Brot i s t . . . Dort fließt es langsam, in dunklen Strömen, aber auch dort leuchten die Perlen der Hochherzigkeit, des Geistes und des Heroismus, auch dort leben Schönheit und Liebe. Überall, w o der Mensch, ist auch das Gute vorhanden. In winzigen Stückchen, in unscheinbaren Keimen - aber es ist doch vorhanden! Und all diese Keime werden nicht vergehen: sie wachsen und gedeihen und treiben Früchte des Lebens . . . Das Recht, daran zu glauben, habe ich teuer erkauft, dafür besitze ich's f ü r das ganze Leben. Dadurch habe ich noch ein anderes Recht erworben, das Recht zu fordern, daß auch ihr so glaubt, wie ich, denn ich bin die wahre Stimme des Lebens, der verzweifelte Aufschrei derer, die dort unten geblieben sind und mich zu euch entsandt haben, um ihr Leid zu bekunden. Auch sie wollen hinauf, nach oben, zum Selbstbewußtsein, zu Licht und Freiheit! . . . « In diesen Worten, die Gorki dem Helden seines vor kurzem unterbrochenen Romans »Muschik« in den Mund legt, spiegelt sich der eigene Lebenslauf des Dichters wider. N u r ein paar traurige Einzelheiten zur Ergänzung. Maxim Gorki w a r d am 14. März 1868 als Sohn eines armen Tapezierers in Nischni-Nowgorod geboren. Neun Jahre alt, verlor er seine Eltern, worauf ihn sein Großvater als Laufburschen in einem Schuhwarengeschäft unterbrachte. Bald jedoch trat er in eine Werkstatt für Heiligenmalerei. Dann wurde er Gehilfe eines Kochs auf einem Dampfschiffe. Hier ging ihm unter dem Einfluß seines Küchenmeisters, der ein Bücherfreund war, der Genuß am Lesen auf, das er früher gehaßt hatte. Mit fünfzehn Jahren bemächtigte sich seiner ein unüberwindlicher Wissensdrang, und er begab sich nach Kasan, ohne daran zu denken, daß ihm jede materielle Grundlage zum Studium fehle. So mußte er denn eine Stelle in einer Zuckerbäckerei annehmen mit einem monatlichen Gehalte von drei Rubeln, gab aber die schwere Arbeit bald wieder auf, um als Äpfelverkäufer, Holzsäger, Gepäckträger, Tagelöhner usw. seine Existenz zu erzwingen. 1888 130

versuchte Gorki durch Selbstmord diesem traurigen Dasein ein Ende zu machen. Ein Zufall rettete ihm das Leben . . . Er geht nun nach Zaryzin, um an den Ufern der Wolga nochmals sein Glück zu versuchen. Aber das Elend beginnt von neuem. Als Bahnwärter, als Arbeiter in Eisenwerkstätten, dann als Schriftführer bei einem Rechtsanwalt Lanin, dem er später seine Werke zueignete, durchstreift er ganze Gebiete des weiten russischen Reiches, bis er endlich nach dem Kaukasus gelangt, wo er sich bemüht, seine Zeit zwischen Handlangerarbeit und dichterischen Versuchen zu teilen. Vom Kaukasus kehrt er nach seiner Heimatstadt Nischni-Nowgorod zurück, wo er als Mitarbeiter an verschiedenen kleinen Provinzblättern mit Korolenko bekannt wurde. N u n endlich wandte sich sein Schicksal. Etwa drei Jahre sind seitdem verstrichen, und heute gilt Gorki als einer der bedeutendsten, gelesensten und beliebtesten russischen Dichter der Gegenwart. Es ist schwer, zu entscheiden, ob Gorki mehr seiner mächtigen poetischen Gabe oder den eigentümlichen Zeitverhältnissen seine hervorragende, mit einem Schlage eroberte literarische Stellung zu verdanken hat. Sicher ist, daß die russische Literatur kein zweites Beispiel aufzuweisen hat, in dem sich ihre lang gehegten, zum Teil einander widersprechenden Wünsche so reich verwirklicht haben. Die am Grabe Nekrasows verkündete Prophezeiung Dostojewskis: der nächste (nach Nekrasow) den Koryphäen der russischen Poesie ebenbürtige Dichter würde aus dem Volke selbst erstehen, - das sehnsüchtige Verlangen des russischen Lesers, der des in sozialer Realistik gefangenen Epigonentums längst müde war, nach neuen künstlerischen Genüssen und die von Westen herübergetragene individualistische Stimmung, die bis jetzt vergebens um den originellen Ausdruck rang: - all das t r i f f t bedeutsam in dem poetischen Schaffen Gorkis zusammen. Die von Winden durchbrauste weite russische Steppe und die brandenden Fluten des Meeres weckten die erste unbestimmte Sehnsucht des Dichters. Er sah den Kampf um des Lebens nackte N o t d u r f t und die elende Massenarbeit der Millionen von Menschen, die dem Einzelnen sein Selbst nimmt und ihn zu einem Teil der ungeheuren Maschine macht, die der Erfindergabe einzelner Individuen ihre Entstehung dankt. Und innerhalb dieser Welt dann wieder kluge, durstige, lebenssehnsüchtige Menschen, Vagabunden, »Bossjaki« (Barfüßler) genannt. Durch ihr Aussehen, I31

durch die Eigenart ihrer Sprache, durch das unbeschränkte Unabhängigkeitsgefühl, durch die Fähigkeit und das Streben, sich in jedem Augenblick von allen möglichen Pflichten, Gewohnheiten etc. zu befreien, ziehen sie sofort die Aufmerksamkeit auf sich. Auf ihren fortwährenden Wanderungen machen sie in verdächtigen Herbergen der Groß- und namentlich der Hafenstädte in der Gesellschaft von Dieben, Dirnen und Trunkenbolden kurze Rast, bis sie der Drang nach Veränderung, nach neuen Eindrücken die verhaßte Einförmigkeit der zufälligen Daseinsart schmerzlich empfinden und die Stätte ebenso leicht aufgeben läßt, als sie sie gefunden haben. Die vollständige Ruhelosigkeit des Geistes, die Unmöglichkeit, an geregelter Lebensweise Gefallen zu finden, und die trotzige Sehnsucht nach unbeschränkter Freiheit, verbunden mit dem unstillbaren Verlangen, alle Fesseln des Lebens abzustreifen, bildet das bleibende Merkmal dieser merkwürdigen Gesellen. Mit dem in dieser Welt erworbenen Schatz von inneren und äußeren Erlebnissen tritt Gorki in die Kultursphäre ein. »Man muß schon in der Kultursphäre geboren sein«, sagt der Dichter, »um nicht den Wunsch zu hegen, irgendwohin zu flüchten aus der Sphäre all dieser peinlichen Konventionalitäten, der von der Sitte sanktionierten kleinen giftigen Lügen, aus der Sphäre kränklicher Eigenliebe, Ideensektiererei, kurz aus der Sphäre der Falschheit und Betrügerei, die das Gefühl und den Verstand verdirbt und im großen und ganzen zu Unrecht Kultur genannt wird.« Als Dichter, Erzähler und Interpret kehrt Gorki dann zu seiner Vergangenheit zurück. Er erzählt nur eigene Erlebnisse. Aus dem lokal gefärbten Kolorit, in dem seine Erzählungen gehalten sind, aus der unerschöpflichen Fülle konkreter Gestalten und Bilder, aus dem spontan hervorbrechenden Gefühl, das alles, was er schreibt, durchglüht, entnehmen wir diese Gewißheit. Allein die Wirklichkeitsfülle, die den Kenner der russischen Heimat des Dichters fesselt, erscheint angesichts des Gesamtergebnisses seines Schaffen keineswegs als dessen erschöpfender Gehalt. In die lebensstrotzenden Gestalten und Bilder mengen sich Gedanken und Wünsche des Dichters selbst hinein, die jeder Einzelheit wie der Gesamtheit seiner Schöpfungen ein stark subjektives, individuelles Gepräge verleihen. Bereits während der ersten Lektüre von Gorkis Werken fällt im Charakter der geschilderten Situation oder der gezeichneten Gestalt, in der zurückbleibenden Stimmung oder im gewonnenen Eindruck die untrennbare einheitliche Zusammenge132

hörigkeit des unmittelbar sich gebenden Wirklichkeitsobjekts mit der allgemeinen Beschaffenheit der Gestaltungskraft und der mächtigen Individualität des Dichters selbst auf. Mit unsichtbaren Fäden wird das Einzelne mit dem Ganzen verwoben, dem individuellen Fühlen und Wollen die beharrende Gewalt der Elementark r ä f t e entgegengestemmt, diesen der ebenso mächtige Drang des nach neuen Werten verlangenden Herzens gegenübergestellt. Alles entquillt der scharf ausgeprägten dichterischen Individualität, und alles strömt zu ihr zurück. Daher Gorkis Realismus, der doch kein Realismus im eigentlichen Sinne ist, daher seine ewig dürstenden, stolzen, verachtungsvollen, hassenden, trotzenden, freien Charaktere, die trotz der ihnen anhaftenden realen Züge nicht immer den Eindruck lebendiger Gestalten machen. Wollte man dieses individuell geartete, von jedem bewußten Einflüsse freie poetische Schaffen auf den kürzesten Ausdruck bringen, so könnte man es russische Neo-Romantik nennen. Das nationale Moment liegt in dem relativ engeren Umfange der unmittelbar gewonnenen Beziehungen zur absoluten Gesamtheit der Dinge, dafür aber in der größeren Intensität ihres Erdgeruches. Sucht die Neo-Romantik in gewissem Sinne eine subjektive Beziehung zur absoluten Gesamtheit überhaupt zu erreichen, so erzeugt den romantischen Schwung des metaphysisch und philosophisch wenig veranlagten Russen nur der elementare Gesamtcharakter der Lebenswirklichkeit. Damit hängen fast alle Elemente und Motive in Gorkis Schaffen zusammen: die hinreißende Gewalt seiner Naturbilder, die ebenso zur freien, unbeschränkten Entfaltung all unserer K r ä f t e einladen, wie das unbezähmbar stolze Ich seiner Lumpenhelden, die alles von sich werfen und frei durch die Welt wandern; die phantasietrunkenen Gestalten der orientalischen Legende (»Die Greisin Isergil«, »Makar Tschudra«), die entweder die höchstmögliche Fülle des Leidens und Genießens anstreben oder trotzig das Leben verneinen; die prächtige Individualität des Dichters, der in seinen symbolischen Dichtungen (»Das Lied vom Falken« u .a.) die ebenso gearteten kühnen Wünsche besingt. Damit verquicken sich die formalen Eigenschaften seiner Dichtung, die bald in wehmütig leidenschaftlichen Tönen des jungen Sehnens, (»Es war einmal im Herbst«) sich ergießt, bald im verzweifelten Gram angesichts des geknechteten menschlichen Lebens ihren Ausdruck sucht (»Aus Langeweile«), bald in glühender Begeisterung der kühnen Machtlust voll ausklingt. (Hierher gehören die meisten seiner Erzählungen.) 133

Die Helden Gorkis entstammen den niedrigsten Gesellschaftsschichten. H a l b Verbrecher, halb heruntergekommene Proletarier, sind sie über ganz Rußland zerstreut. Ethnographisch lassen sie sich nicht bestimmen. Sie rekrutieren sich aus allen möglichen Elementen der russischen Bevölkerung. In den meisten Fällen haben sie aus verschiedenen Gründen eigenmächtig ihre Vergangenheit aufgegeben, um den stürmischen Wellen des Lebens ihr Schifflein anzuvertrauen. Im Gegensatz zu ihren historischen Vorgängern der »Wolniza« - den halb räuberisch, halb militärisch organisierten Banden, die unter dem Drucke der Leibeigenschaft emporkamen und gewissermaßen als autonome Gebilde innerhalb desselben Staates erschienen, weisen die Helden Gorkis rein individualistische Züge auf, wenn sie auch unter demselben sozialpsychischen Zeichen gestanden haben. Dadurch ist ihre eigenartige Psyche bedingt, deren Enträtselung das eigentliche Wesen des gesamten bisherigen Schaffens Gorkis ausmacht. In konkreter Gestalt erscheint sein Vagabund »Bossjak« als die verkörperte Ruhelosigkeit. Der Drang nach absoluter Freiheit erhebt ihn zum Helden. Trotz aller äußeren Merkmale des Verstoßenseins ist er doch selbst der Verstoßende. Alles von sich werfen, alles verachten, was den Menschen mit unzähligen Schlingen umstrickt - das macht die N a t u r eines »Bossjaks« aus. Gorki lauscht gierig den leisesten Äußerungen dieser Typen und verkörpert sie in lebendigen Gestalten. In fein nuancierter Reihe treten vor uns all diese heldenmütigen »Tschelkaschs«, die jede Regung der früheren friedlichen Gefühle gewaltsam ersticken, sich eine eigene Welt aus gefahrvollen Wagnissen und leidenschaftlich stürmischen Empfindungen schaffen, trinken und bummeln, in bewußter hartnäckiger Verneinung aller zwingenden Gewalten dieser Erde beharren und sich als Herrenmenschen fühlen; die melancholischen, innerlich mit sich selbst zerfallenen »Konowalows«, die selbst nach dem Rätsel ihres Wesens fragen, sich als gefährliche Elemente des Lebens betrachten, strenge Gesetze gegen sich fordern, in die Weite ziehen, von den Stürmen des Meeres und den Lüften der Ferne sich eine Seelenerlösung erhoffend, und als Vagabunden im Gefängnisse oder auf der breiten Landstraße oder in einer verpesteten und durchseuchten Herberge ihr frühes Ende finden; die heißblütigen Orlows (in der Erzählung: »Das Ehepaar Orlow«), die über die »Gruben des Lebens« klagen, von einem Plane zum anderen eilen, ruhelos durch die Welt taumeln, nach außerordentlichen Taten lechzend; dahin ge134

hören die »gewesenen Menschen« (in der Erzählung des gleichen Namens), die ihre Zeit zwischen zornsprühenden Ausbrüchen des unbefriedigten Begehrens und philosophischen Lebensbetrachtungen teilen, ihre früheren angeerbten Gefühle auszumerzen suchen und von neuen Anschauungen und Werten träumen; dahin gehört ein entarteter Sprößling des Kaufmannstandes an der Wolga, Foma Gordejew (im R o m a n des gleichen Namens 2 9 ), der zerknirscht unter dem Drucke seiner seelenlosen Umgebung in unheilvollem K a m p f e um sein eigenes elementar empfindendes Ich erliegt. N e ben den Helden ein ganzer Schwärm hungriger, dürstender, sehnsüchtiger, trotzender, lebensgieriger Lumpenproletarier, die in dem ganzen Schmutz ihres realen Daseins vorbeiziehen mit dem gleichen Begehren nach Lebensfülle und Lebensstärke, mit den gleichen wechselreichen Launen ihrer stürmischen Seelen. Neben den Männern die Frauen (Malwa, Frau Orlow usw.), die in marternden und wehen Gefühlen schwelgen, die brutalsten Schläge ihrer Männer gerne ertragen, sie sogar verursachen, weil die Schläge sie erbosen, das Böse aber ihre ganze Seele e r r e g t . . . Aus den schmutzigsten Herbergen herbeigezogen, entkleiden sie sich ihrer konkreten Züge. N u r noch die traurigen Weisen der freien weiten Steppe erinnern an die unendliche Sehnsucht, die in diesen Menschenseelen lebt. N u r das zügellose Spiel der N a t u r , das gewitterschwangere Wolken am Horizonte zusammenzieht, das ganze Elend und den ganzen Schmutz von der traurigen, unglücklichen Erde wegzufegen droht und der rastlosen Bewegung der K r a f t das Siegeslied singt, wecken noch dieselben H o f f n u n g e n und Wünsche. Sie fallen in das phantastische Reich der orientalischen Legende, in der die Zaubergestalten der R a o l a , Loiko Sobar etc., geläutert von allem Irdischen, dieselben Züge des ruhelosen Geistes an sich tragen. U n d über all diesen Welten schwebt der unsichtbare Geist des Dichters, der wie seine Helden den Fesseln des Lebens, wie die N a t u r seines Vaterlandes der trägen Ruhe unerbittlichen Widerstand entgegensetzt und seine gemarterte Seele in einem erschütternden K a m p f e s ruf gegen alle Fesseln, die den Menschen zum Bruchstück eines Menschen machen, e n t l ä d t . . .

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G e l a n g t e in der Zeitschrift » A u s fremden Zungen« zum A b d r u c k und wird später im Verlage der Deutschen Verl.-Anst. in Stuttgart als Buch erscheinen.

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GEORG

ADAM

Gorki in Deutschland 30 M i t e r s t a u n l i c h e r S c h n e l l i g k e i t h a t G o r k i , ü b e r d e n in diesen B l ä t tern b e r e i t s ein A r t i k e l erschienen ist ( L E I I I , H e f t 7 ) , sich n i c h t n u r d a s russische, s o n d e r n a u c h d a s a u s l ä n d i s c h e P u b l i k u m e r o b e r t . D e r G r u n d d a f ü r l i e g t w o h l n i c h t a l l e i n in d e m w a c h s e n d e n I n t e r esse, d a s m a n seit e i n i g e r Z e i t d e r l i t e r a r i s c h e n E n t w i c k l u n g

Ruß-

lands entgegenbringt, sondern im wesentlichen darin, daß

Gorki

w i r k l i c h s o w o h l f ü r R u ß l a n d w i e f ü r W e s t e u r o p a eine neue, e i g e n a r t i g e E r s c h e i n u n g ist. A l l e r d i n g s sind G o r k i s H e l d e n , die V a g a b u n d e n , in d e r russischen L i t e r a t u r n i c h t so n e u . D a s L u m p e n p r o l e t a r i a t u n d d i e V e r b r e c h e r w e l t h a b e n d o r t schon m a n c h e n D i c h t e r g e f u n d e n , v o r allem D o s t o j e w s k i und Uspenski, und sind mit jener f ü r d i e russische L i t e r a t u r k e n n z e i c h n e n d e n i n n i g e n L i e b e , die a u c h d e n G e r i n g s t e n z u v e r s t e h e n sucht, d e m a l l g e m e i n e n 30

Empfinden

[Folgende bibliographische Angaben waren dem A u f s a t z vorangestellt: Ausgewählte Erzählungen von M a x i m G o r k i . Deutsch von A . Scholz. Mit Umschlagzeichnung von Th. Th. Heine. Berlin 1 9 0 1 , Bruno und Paul Cassirer. 6 Bände. Ausgewählte Erzählungen von M a x i m G o r k i . Autorisierte Übersetzung von Michael F e o f a n o f f . Mit Buchschmuck von Otto Ubbelohde. Leipzig 1 9 0 1 , Eugen Diederichs. 2 Bände. Z w e i Novellen ( M a l w a - K o n o w a l o w ) von M a x i m G o r k i . Aus d. Russ. übers, von K l a r a Brauner. Stuttgart 1 9 0 1 , Deutsche VerlagsAnstalt. Foma Gordejew. R o m a n von M a x i m G o r k i . Aus d. Russ. übers, v. K l a r a Brauner. 2. A u f l . Stuttgart 1 9 0 1 , Deutsche Verlags-Anstalt. Ein junges Mädchen (Warenka Olessow). Erzählung von M a x i m G o r ki. Deutsch von L. M . Wiegandt. Mit Bildnis des Verfassers. Dresden, Heinrich Minden. Ein sonderbarer Leser. - Wanderungen eines Teufels. V o n M a x i m G o r k i . Deutsch von P. J a k o f l e f f . Mit Buchschmuck von F. O. Behringer. Leipzig 1 9 0 1 , R i c h a r d Wöpke. Tschelkasch. - Boles. - Lied vom Falken. Drei Erzählungen von M a xim G o r k i . Deutsch von C . Berger. Mit Buchschmuck von F. O. Behringer. Leipzig 1 9 0 1 , Richard Wöpke. Ein Individualist. V o n M a x i m G o r k i . Deutsch von P. J a k o f l e f f . Mit Buchschmuck von O. R . Bossert. Leipzig 1 9 0 1 , R i c h a r d Wöpke.] 136

nähergebracht worden. Das Neue liegt bei Gorki in der Art, wie er das Wesen seiner Helden a u f f a ß t und zur Darstellung bringt. Gorki ist nicht Proletarierdichter in dem Sinne, daß er unter der N o t der äußeren Verhältnisse Leidende zeichnet, seine Menschen leiden unter ihrem Innern. Er behandelt seine Vorwürfe nicht vom sozialen Standpunkte, sondern als individueller Psychologe oder richtiger Psychopathologe; denn pathologische Charaktere sind es im wesentlichen, um die es sich bei seinen Helden handelt. Es sind die geborenen Vagabunden, die Kerntruppe des »barfüßigen Regiments«, die selbst, wenn ihnen Gelegenheit zu einem geordneten und auskömmlichen Leben geboten wird, immer wieder aus unwiderstehlichem Drange auf die Landstraße zurückkehren. Und Gorki steht aus vollem Herzen auf ihrer Seite; nicht aus prinzipieller Menschenfreundlichkeit oder spielender Sympathie, sondern gemäß seiner Natur, aus innerem Triebe. Das Vagabundentum ist seine Lebensphilosophie. In diesen Menschen, deren herrschender Charakterzug der unbändige, maßlose Freiheitsdrang ist, der ihnen jede seßhafte Tätigkeit, die zu Pflichten und Rücksichten zwingt, unerträglich erscheinen läßt, sieht er eine K r a f t und eine Größe, die sie über die blöde Masse erhebt und deren die seßhaften Leute in ihrem engen Dasein nicht fähig sind; diese spielen denn auch in seinen Geschichten meist eine recht klägliche Rolle. Man sieht, wie nahe hier ein Vergleich mit Nietzsches »Ubermenschen« und »Herdenmenschen« liegt. Und es ist psychologisch gewiß von hohem Interesse, zu beobachten, wie diese ganz verschiedenen Menschen, der deutsch-polnische Aristokrat und Gelehrte und der russische Mann aus dem Volke, auf ganz verschiedenen Wegen doch am Ende zu demselben Ergebnisse kommen, zu der Philosophie eines krankhaften, menschenfeindlichen Individualismus. Bedeutungsvoll ist, daß Gorki einzelne seiner Helden zuweilen das Empfinden des Krankhaften ihres Wesens aussprechen läßt. Und so meisterhaft ist der seelische Zustand dieser Menschen zur Darstellung gebracht, daß manche seiner Erzählungen geradezu als klassische psychiatrische Krankengeschichten aufgefaßt werden können. So ergibt z. B. die prächtige, ergreifende Geschichte des Bäckers Konowalow, der an sich ein außergewöhnlich tüchtiger und nüchterner Arbeiter ist, zeitweise aber von einer unerklärlichen Schwermut befallen wird, die ihn unstet von Ort zu Ort treibt und unwiderstehlich dem Trünke verfallen läßt, die präzise psychiatrische Diagnose: periodische Melancholie und Dipsomanie. 137

Gorkis Erzählungen, auf die im einzelnen einzugehen hier nicht mehr nötig ist, haben ihren hervorragenden Wert in der auf eingehendste persönliche Kenntnis gegründeten bewegten und greifbaren Schilderung des Lebens jener eigenartigen Menschentypen und überhaupt der niedrigsten Volksschichten in Rußland, sowie in dem reichen Schatze mannigfaltiger Lebenserfahrung, die allerdings hie und da zu wunderlichen Anschauungen und Sätzen verarbeitet ist, aber stets eine Fülle von Anregungen zu bieten vermag, wenn sie auch fern ist von jener erhabenen, in Liebe geläuterten und geschlossenen Lebensweisheit Tolstois, - und auch das Leben der Natur, vor allem der südrussischen Steppe und des Meeres, der Symbole der Größe und der Freiheit, weiß Gorki in stimmungsvollen Tönen in seine Bilder zu bannen. So ist die Erzählung der alten Isergil, einer einst berückenden orientalischen Schönheit, von ihren wechselvollen, nie sie sättigenden Liebesabenteuern, durchflochten von ein paar wundersam ergreifenden Volksmärchen, begleitet von dem süß-träumerischen Gesänge der am Feierabend aus den Weinbergen der Dobrudsha heimkehrenden braunen rumänischen Burschen und Mädchen, von einer tiefen eigenen Poesie durchglüht. Die meisten von Gorkis Erzählungen sind in der cassirerschen Sammlung zusammengestellt, eine gute Auswahl in der bei Eugen Diederichs erschienenen; zwei der wertvollsten sind die »Zwei N o vellen« der Deutschen Verlags-Anstalt: die vom freien Atem des Meeres durchhauchte Geschichte der rätselhaften Malwa, deren Wesen in seinen Launen unergründlich ist wie das Meer, und die bereits erwähnte Konowalows. Auch »Tschelkasch« ist ein f ü r Gorki recht charakteristisches Stück: es lehrt die in der Freiheit des Lebens begründete stolze Überlegenheit des berufsmäßigen Diebes und Schmugglers über den Bauern, der ihm bei seinem waghalsigen Unternehmen unter Zittern und Zagen behilflich war und, nachdem die Gefahr überstanden, mit dem reichlichen Lohne, den ihm sein Gefährte und Meister gewährt, nicht zufrieden, in blinder Habgier ihn hinterrücks überfällt, um sich des ganzen Ertrages zu bemächtigen, den jener ihm schon, in halbverächtlichem Mitleid gerührt von den kleinlichen Sorgen des Bauern, freiwillig zugedacht hatte. »Ein Individualist« enthält die Lebensgeschichte des listen- und ränkevollen Pilgers (Prochodimetz) und seine Lebensphilosophie, die sich auf die rücksichtslose Ausbeutung der Dummheit seiner Mitmenschen gründet. »Ein sonderbarer Leser« und 138

»Wanderungen eines Teufels« sind zwei treffliche Satiren, die sich denen des großen russischen Satirikers Saltykow-Schtschedrin würdig anreihen. In der ersten stellt Gorki in einem Zwiegespräch mit einem rücksichtslos kritischen Leser seiner Werke Betrachtungen an über die Aufgaben des Schriftstellers, deren Ergebnis im wesentlichen in den Sätzen liegt: »Das Recht, zum Volke zu sprechen, steht nur dem zu, der in seinem Geiste entweder einen großen H a ß gegen Fehler und Mängel desselben oder eine gewaltige Liebe zu ihm für seine Leiden hegt. Fehlen deiner Seele solche Gefühle, so verhalte dich hübsch bescheiden und überlege lange, bevor du etwas zu sagen w a g s t . . . Der Mensch schlummert und wird in ein Tier verwandelt. Eine Peitsche braucht er und ein Kosen feuriger Liebe. Habe nur keine Angst, wenn du ihm weh tust: schlägst du nur in aufrichtiger Liebe, so versteht er dich, und wenn er dann den Schmerz, die Scham für sich selbst empfindet, so kose ihn in glühender Liebe, und er ist wiedergeboren . . . « Doch als das Gewissen, als das der »sonderbare Leser« sich entpuppt, ihm die Schicksalsfrage stellt: »Kannst du die Menschen lieben?«, da muß er sich antworten: »die Menschen l i e b e n ? . . . ich weiß wirklich nicht, ob ich die Menschen liebe.« Und dieser Mangel, diese Unsicherheit ist es, was Gorki nicht dazu kommen läßt, ein großes, gesundes, aufbauendes Werk zu schaffen. Das tritt recht klar in seinem Roman »Foma Gordejew« zutage. Es ist das wieder eine Krankengeschichte. Der Held ist wesensgleich der übrigen Vagabundengesellschaft, die Gorki so anschaulich und anziehend zu schildern weiß, doch seine gesellschaftliche Stellung unterscheidet ihn von jenen. Dieser geborene Vagabund Gcydejew ist als Sohn und Erbe eines reichen Kaufmanns in den Kreis seiner Standesgenossen hineingezwängt, und nur als unerreichbarer, verzehrender Traum erfüllt ihn die Sehnsucht nach dem freien Leben des von allen Verbindungen und Verpflichtungen gelösten Landstreichers. Seine Geschichte zeigt deutlich, wie unmöglich derartige Charaktere, wenn sie ganz ihren Trieben überlassen bleiben, in der menschlichen Gesellschaft sind. 400 Seiten lang finden wir ihn immer und immer wieder, nur mit sich selbst beschäftigt, sich unter der quälenden Frage winden: was bedeutet das Leben? Wie soll man leben? - eine Frage, auf die ihm keiner seiner Umgebung, die entweder aus ebensolchen Verirrten und Verwirrten besteht wie er oder aus herzlosen Geschäftsmenschen, eine erlösende Antwort zu geben vermag, ja, wie es

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scheint, auch der Dichter selbst nicht. Und das ist es, was den ganzen Roman als ein verunglücktes Werk erscheinen läßt. Gorki steht nicht über seinem kranken Helden, sucht vielmehr für ihn, in dem er eine Art Ubermenschen sieht, falsche Sympathien zu erwecken, während jeder unbefangene Beobachter, wenn auch mit Bedauern, doch den »angesehenen Kaufleuten«, einer Bande von Gaunern und geheimen Verbrechern, von vornherein recht geben muß, wenn sie ihn ins Irrenhaus stecken, wozu ihnen sein wüstes Leben und seine wahnwitzigen Streiche nur zu viel Berechtigung verleihen. Man kann gewiß nicht leugnen, »Foma Gordejew« ist das Werk eines starken Künstlers, es bietet viele packende, auch manche schöne Momente und eine Reihe stets eigenartiger und wertvoller, o f t sehr beherzigenswerter Urteile und Lehren über das Leben, aber das Ganze hinterläßt einen peinlichen, unbefriedigenden Eindruck. Gorkis Philosophie ist, sich außerhalb der menschlichen Gesellschaft zu stellen, aber darum vermag er noch nicht, sich über sie zu stellen. Er erkennt die gegenwärtigen Zustände als verrottet und schädlich f ü r die freie Entfaltung des Individuums, er kennt aber nur den Ausweg der Krankheit und der Verzweiflung: die Flucht in die Wüste - und das, weil es ihm eben an der Liebe fehlt, um die guten Seiten in den Menschen allgemein zu würdigen, und an der K r a f t und dem Glauben, auf diese guten Seiten, mögen sie noch so verborgen und überwuchert sein, bauend, sie zum Höheren führen zu wollen. Ein recht unbefriedigendes Buch ist auch die Geschichte von Warenka Olessow, dem jungen Mädchen, das in wilder Freiheit auf dem Lande aufgewachsen ist, den alten Diener ihres Vaters verprügelt, ihren albernen Freiern ins Gesicht treten möchte sie schließt damit, daß Warenka den jungen Privatdozenten, der einige Tage lang mit ihr fruchtlos über das Leben philosophiert und sich nicht klar werden kann, ob er sie wegen ihrer sinnlichen Reize heiraten soll, als sie von ihm beim Baden überrascht wird, zu Boden w i r f t und mit einer Tracht Prügel heimschickt. Der Stil Gorkis ist, hauptsächlich in seinen Vagabundengeschichten, die überhaupt weit über seinen neueren Werken stehen, von einer packenden, lebensvollen Frische und hat seinen eigenen, sarkastischen Humor. Es ist schwer, sein eigenartiges Wesen ohne Beeinträchtigung in eine Ubersetzung zu übertragen. Zumal f ü r den Dialog, der in der ureinfachen, doch herzlichen und kraftvoll gedrungenen Sprache des russischen Volkes geführt wird, lassen 140

sich im Deutschen nur schwer entsprechende, gleich ausdrucksvolle Töne finden. Am besten hat von den oben angeführten Übersetzern seine mühevolle A u f g a b e A. Scholz gelöst; ihm ist es gelungen, seinen Dichter auch in der Übertragung frisch und natürlich wiedererstehen zu lassen. Auch die Ubersetzung von J a k o f l e f f ist noch eine ganz anerkennenswerte Arbeit, während Feofanoff sich allzu sklavisch an die Worte des Originals klammert, was mitunter recht störend wirkt. 3 1

LEO BERG

Maxim Gorki Vor wenigen Jahren war der russische Schriftsteller M a x i m Gorki in Deutschland noch völlig unbekannt. Sein deutscher Ruhm datiert kaum weiter als ein J a h r zurück und ist ziemlich jäh gestiegen. In solchen Fällen plötzlicher Berühmtheit wird unwillkürlich alles durcheinander übersetzt. Plötzlich trifft man den N a m e n überall: in Zeitungen, im Buchhandel; hier eine Skizze, dort eine größere Arbeit, dann Sammlungen. U n d man lernt beinahe in umgekehrter Reihenfolge, wie sie entstanden, die Werke kennen. D a ist es schwer, sich ein Bild der Entwicklung, ja der ganzen Persönlichkeit auch nur in den Hauptzügen zu vergegenwärtigen. Gleichwohl hinterlassen die Skizzen und Novellen Gorkis, wie sie zerstreut jetzt überall bei uns zu finden sind, einen ziemlich einheitlichen Eindruck. Das, was ihn auszeichnet, tritt stark hervor, entweder als einzelne Erscheinung, die das Grundmotiv bildet, oder in merkwürdigen Mischungen, so daß es möglich wird, seine literarische Gestalt zu charakterisieren. In der Physiognomie Gorkis fallen zunächst zwei Züge a u f : der Vagabund und der Träumer. In beidem ist er echter Russe, aber verschiedenen Gruppen dieser bunten Völkerschaft angehörend. Gorki hat eine ganze Reihe von Novellen geschrieben, darunter sind wohl seine besten und stärksten die, die den Stromer zum Gegenstande haben. Mit dem, was wir in unserer älteren Poesie als Vagantenliteratur verstehen, hat diese Novellistik keine Ähn31

U b e r den soeben erschienenen R o m a n » D r e i Menschen« u. a. nächstens.

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lichkeit. Der Fahrende in den deutschen Liedern ist ein lustiger Bursche, der keine Sorgen hat oder sich doch keine macht, meist Student oder Künstler, der dem Philister gern ein Schnippchen schlägt, dabei aber im allgemeinen einer idealen Lebensführung huldigt. Wein, Weib und Gesang sind seine Götter; er ist tapfer, wenn auch nicht so ritterlich, wie sein französischer Bruder, er spielt und flucht, vergißt aber darüber nicht ganz seiner Wissenschaft und Kunst. Vor allem liebt er das Wandern. Aber wenn er auch ungebunden umherstreift und sich gern außerhalb der bürgerlichen Ordnung stellt, denn er ist jung, so macht er doch der bürgerlichen Ordnung selbst nicht den Krieg. U n d vor allem, er ist nicht heimatlos; er ist nur brotlos. Im ganzen also ein ziemlich naiver Junge. Ganz anders Gorki. Sein Vagabund ist ein Verbrecher, Verschwörer und Verächter. Es ist noch Chaos im russischen Volkskörper. Gorki und andere russische Schriftsteller schildern die Elemente, die sich der organischen Bildung widersetzen, die sich als feindliche Mächte im brodelnden Kessel der Gesellschaftsentwicklung beweisen. Ob sie diese ihre außergesellschaftliche Stellung, dieses Herum- und Herausgeschleudertwerden aus dem Organismus des Volkskörpers, was sie unselig und trotzig macht, ob sie sich selbst mystisch umschleiern wie bei Dostojewski; ob sie wie bei Tolstoi durch die Schuld der Gesellschaft gerächt werden; ob sie sich politisch rechtfertigen wie bei Turgenjew oder durch irgendwelche Philosophie und Theorie begründen, oder ob sie endlich wie bei Gorki mit vornehmer Dialektik der Gesellschaft spotten - immer zeigen sie dasselbe, die starke individuelle Gegenkraft, die sich im Inneren dem Ungeheuer Russischer Staat widersetzt. Alle sind sie gezeichnet durch diesen Staat. Wir werden, indem wir die russische Literatur verfolgen, Zeugen eines Prozesses, wie ihn die Welt vielleicht seit der Zeit der alten orientalischen Staatenbildungen nicht mehr erlebt hat. Der Gorkische Vagabund ist ein Enterbter, Lohnarbeiter auf so niedriger Stufe und von solcher Unsicherheit des Lebens, daß das Herumstrolchen schon fast die normale Erscheinung dieser Existenzen ist. Arbeiter und Vagabund ist hier ein und dasselbe. Hier scheint der Dichter, der selber Lohnarbeiter war, am persönlichsten in seinen Schilderungen zu sein, erzählt oft direkt von sich selber oder seinen Genossen auf der Wanderschaft von Arbeit zu Arbeit, von H a f e n zu H a f e n , von Gehöft zu Gehöft. Uberall mit scheelen 142

Blicken angesehen, oft zwecklos die Landstraße dahinstreichend, ist er ja ohnedies ein Vagabund, der an dem Bestände der Gesellschaft, ihren Gesetzen und Anschauungen teilnahmslos ist, ja ihnen feindselig gegenübersteht. Warum soll er nicht stehlen und lügen, wenn er dadurch etwas erreicht, da man ihn ja doch ohnedies wie einen Dieb und Lügner behandelt? Dazu kommt, daß der Bettler in Rußland zu den heiligen Institutionen gehört; was den Verkehr mit dem Bettler betrifft, der sich auch oft einen Pilger nennt, so herrscht im Volk der wüsteste Aberglaube. Als Bettler ist man jedenfalls mehr denn als Lohnarbeiter. Sobald sich mehrere dieser Vagabunden zusammentun, entsteht fast immer so etwas wie ein Freistaat im Staat. Wohl fällt der eine und andere aus Schwäche, Feigheit oder Gutmütigkeit ab, wohl wirkt die Erinnerung an den Jammer des Bestohlenen, der ja auch ein armer Teufel ist, oder die religiöse Angst und Demut nach. Da geht so einem elenden, physisch und moralisch heruntergekommenen Strolch auf seinen Streichen, während er im Begriffe ist, einem Bauern sein kleines struppiges Pferd wegzufangen, und man schon kalkuliert, was das Fell bringen wird, ein gar wehmütiger Gedanke durch den von Hunger und Branntwein verödeten Schädel: auch er hatte mal ein Pferdchen. Mag's noch so eine elende Schindmähre sein - in der Wirtschaft ist ein Gaul doch immerhin ein Kapital. Damals war er noch ein Kerl, der arbeitete wie kein zweiter. Wenn der Bauer kommt und sucht, und's Pferdchen ist nicht da . . . dann wird auch er herunterkommen und vielleicht so auf der Landstraße oder im Walde verenden wie der schwindsüchtig sentimentale Strolch selbst. Aber »man muß nicht zu viel nachdenken«, belehrt ihn barsch sein Kumpan, der aus härterem Holze gemacht ist (»Die Unzertrennlichen«). Oder wenn sie mal bei einer alten Frau einen Brunnen zu reinigen haben und sehen, wie die Dame, während sie die Arbeiter beaufsichtigt, in einem silberbeschlagenen Gebetbuche liest, dann ist es selbstverständlich, daß sie ihr das Silber wegstibitzen, auch wenn sie das Buch dabei zerstören müssen. Aber die Alte hat ihnen aus dem Buche vorgelesen, und das Gehörte wirkt stark genug in ihren verworrenen Seelen nach, bis einer hingeht und das Gestohlene wiederbringt. Der Lohn ist eine neue Predigt, aber jetzt kann er nichts mehr hören, denn der Hunger und das Wort Gottes bohren ihm in den Eingeweiden. »Unbußfertige Seelen«, kreischt ihm die Alte nach; und die Genossen höhnen ihn: »Bei deinen dummen 143

Einfällen fressen dich noch mal die Fliegen auf.« Sie wissen wohl selbst, daß ihr Betragen unschicklich ist. Aber was können sie dafür, »wenn's im Leben mal so unpraktisch eingerichtet ist, daß die Schicklichkeit einer Handlung fast immer mit ihrer Einträglichkeit im Widerspruch steht.« Aber das sind noch die harmlosesten Fälle. Zwar eine gewisse Gutmütigkeit, ja Moralität bricht doch gewöhnlich in diesen Verlorenen durch, die bedauernswert, aber nicht schlecht sind, und denen niemals irgendwelche sympathischen, ja rührenden Eigenschaften fehlen. N u r ist es nicht immer die Welt der Bestohlenen, gegen welche diese bessere N a t u r durchbricht. O f t nur gegen die Genossen. Da gibt es einen ganzen Staat in der »Offenen Gasse«: »Verlorene Leute« 32 mit dem Rittmeister Aristid Kuwalda an der Spitze, der sich eine sehr drollige Philosophie zurechtgemacht hat, H a u p t m a n n all dieser zerstückelten Seelen und Leiber, die sich mit H u m o r und Phantastik, in Schimpf und Träumerei gegen die Kultur und Gesellschaft eins fühlen und sie als ihre Todfeinde, ihre Verstümmler hassen und verabscheuen; besonders aber die Polizei und die Kaufleute, diese Teufel, welche das Leben der Armen zur Hölle gemacht haben. Gar merkwürdig war's, das ist der ganze oder doch der hauptsächlichste Inhalt dieser Novelle; »wie diese zerlumpten, von Branntwein, Bosheit, H o h n und Schmutz durchtränkten Menschen, die von der Tafel des Lebens ausgeschlossen waren, über eben dieses Leben ihr Urteil abgaben.« Da sie nichts anderes haben als ihr Elend und etwa höchstens noch die K r a f t , sich auszuschimpfen, so rivalisieren sie hierin und finden ihren Genuß, sich in der Verworrenheit ihrer Reden, aus denen aber zuweilen verhaltene Weisheit herausleuchtet, und der Größe ihres Elendes, das im Nebel des Mitleids verschwimmt, voreinan52

M a x i m G o r k i , Ausgewählte Erzählungen. Deutsch von A . Scholz. Sechs Bde. Verlag von Bruno Cassirer. Berlin W. (Die empfehlenswerteste Ausgabe.) - Ausgewählte Erzählungen. Übersetzung von M i chael F e o f a n o f f . B a n d i und 2. Mit Buchschmuck von Otto Ubbelohde. Verlegt bei Eugen Diederichs, Leipzig. - Foma G o r d e j e w . R o m a n . Stuttgart und Leipzig, Deutsche Verlags-Anstalt. - Ein junges M ä d chen (Warenka Olessow). Erzählung. Deutsch von L. M. Wiegandt. 5. A u f l a g e . Mit dem Bildnis des Verfassers. Dresden und Leipzig, Verlag von Heinrich Minden. - Ein sonderbarer Leser. Deutsch von P. J a k o f l e f f . Mit Buchschmuck von F. O . Behringer. Verlegt bei R i chard Wöpke in Leipzig usw.

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der auszuzeichnen. Schließlich kommt es zur Rebellion, denn ihr Schlupfwinkel ist von den Interessenten des Kapitals und des Staates aufgestöbert. Das Verhängnis lauert über ihnen. Sie fühlen wohl, daß sie nur etwas sind, ja sogar eine gewisse Macht bedeuten, wenn sie zusammenhalten, eine Gruppe, Gemeinschaft, einen Staat für sich bilden. Wenn man sie auseinanderjagt, sind sie ganz elend. Und mit der Betrübnis über das, was kommt, wächst auch ihr Durst, und so fahren sie sich endlich im Zustande ihrer Besoffenheit an die Kehle. Man erkennt den tiefen psychologischen Blick, den wir so o f t bei den russischen Dichtern gefunden haben, wenn hier, in der Stunde, da ihnen das baldige Ende ihrer Genossenschaft lebendig wird, sich ein unbändiger H a ß und Widerwille aller gegen alle bemächtigt und die Wut, welche sich nach außen nicht entladen kann, im Inneren schwärt und gegen die wendet, mit denen man sich noch eben eins fühlte. Das menschliche Bewußtsein hat nichts so Kränkendes, sagt Gorki, als einem feindlichen Menschen nichts Böses antun zu können. In der Haltung des Rittmeisters gegen die Polizisten, die ihn verhaften, haben wir zum Schluß ein schauerliches Bild von der feindlichen Gewalt dieser Elemente gegen die offiziellen Mächte. Die H ä n d e auf dem Rücken gefesselt, hoch emporgerichtet, steht er zwischen den Polizisten; um die Mütze das rote Band schimmert wie ein Blutstreifen. Der Leichenkarren hat eben einen toten Genossen weggeführt. Der bewölkte Himmel sieht schweigsam auf den Hof hinab. Auf dem Dache des Vorderhauses sitzt eine Krähe, die den Hals ausreckend und wackelnd ihr triumphierendes Gekrächz ausstößt. Ein gewaltiger Platzregen will sich in dem grauen Gewölk entladen, das dem Himmel etwas Strenges, Gespanntes, Unerbittliches gibt. Man fühlt es, dieser Kampf zwischen den Verlorenen und den Leuten im sicheren Besitz ist noch nicht ausgekämpft, es ist erst ein fahles Wetterleuchten. Leise donnert von fern herauf die Revolution. Einen ganz anderen Typus lernen wir in der Novelle »Der Pilger« kennen. Das ist der Verbrecher aus Uberzeugung. Achtung vor fremdem Eigentum, belehrt er unseren Dichter, der ihn unter einem Getreidemagazin auf freiem Felde kampierend kennen gelernt hat, Achtung vor fremdem Eigentum braucht man nur, wenn man selbst Eigentum besitzt und den Wunsch, daß es gleichfalls jedem anderen gegenüber als fremdes gelte. Wir bekommen den Abriß eines Menschen, dem es im Leben, d. h. im bürgerlichen Leben, zu eng ist, der, wiewohl zu vielen Berufen befähigt, es in i4i

keinem aushält, zum Bettler wird aus Lust am Vagabundieren, weil etwas Ungebundenes, die Romantik vom Ewigen Juden in ihm steckt, und der schließlich mit überlegenem H u m o r über sich und sein Leben und die anderen reflektiert. Aus dieser Überlegenheit erwächst ihm eine große Macht über die Menschen, die K r a f t der Intelligenz über die in Dumpfheit, Aberglauben und Furcht Dahinlebenden, die so leicht zu betrügen und zu beherrschen sind. Es ist der Fahrende, der mit Stirner sein Sach auf nichts gestellt hat, der den unbeschränkten Egoimus predigt und sich bei seinen Streichen, trotz Hunger und Verfolgungen, als so etwas wie ein Übermensch fühlt. Er ist frei, liebt die Gefahr, die ihm einzig die Wonne des Daseins ausmacht, und ist bereit, um einer Brotkruste willen einen Menschen zu töten. Welch ein Genuß, welche Poesie diese Bereitschaft zum Verbrechen! Er verachtet die Moral und alle Ideale, verteidigt mit Stirner die Lüge, kurz, ist ein vollkommener Philosoph des Stromertums. Es liegt eine magische Anziehungskraft in diesem Stromerleben. »Wie erhebend es ist, sich so ganz frei zu sehen« usw. Wenn er die Leute betrügt und bestiehlt, so tut er ihnen eine Wohltat. Er ist ganz frei und lügt bis zu jener Konsequenz, die die Lüge selbst aufhebt. Wenn in den »Verlorenen Leuten« spezifisch russisches Leben und russische Charaktere dargestellt werden, so ist »Der Pilger« auch in diesem Punkt, was die Nationalität betrifft, frei. Er könnte auch auf deutschem Boden gewachsen sein und hat in seiner Ungebundenheit jedenfalls etwas Heimatloses, ob auch seine Existenz in dieser Form nur in Rußland möglich ist. Wenn auch die Helden der Gorkischen Erzählungen nur zum Teil von Vagabunden handeln, so spielen sie doch in ihrer größeren Mehrheit in dieser Sphäre. Es sind die kleinen Leute, die losgetrennten Existenzen, die Verkommenen, mit denen er sich fast ausschließlich beschäftigt. Und nirgends ist er so echt und ganz. Seine sonstigen Erzählungen, selbst »Das Ehepaar Orlow«, bleiben etwas in der Luft hängen. Sie sind weder ursprünglich noch fein genug, weder so abgerundet und umschlossen, noch so weit, daß sie uns eine Welt vermitteln, wodurch der internationale Ruhm Gorkis gerechtfertigt würde. Sie verraten wohl einen großen Künstler, aber scheinen selbst nur die Abfälle aus der Werkstatt eines Meisters zu sein, verblüffend und überraschend im einzelnen (z. B. »Ein Irrtum«), aber unbefriedigend als Ganzes; wenigstens f ü r deutsche Leser, die unvermittelt dieser Welt gegenübertreten. 146

U n d doch gibt es noch einen anderen Gorki, der vielleicht noch nicht sein letztes Wort gesprochen, sein Lied noch nicht gesungen hat, aber aus dem Töne einer ungeheuren Melodie aufsteigen: das ist der großartige Stimmungslyriker und Landschafter, der träumerische Erinnerer alter verklungener Legenden und Mythen. Die feuchte, dunkle Waldesschlucht mit den Espen auf der niedergestürzten Erdscholle, wo das Traugottchen seine zerschundene Seele aushaucht (»Die Unzertrennlichen«); das Hafenbild mit seinen klaren Konturen inmitten der Dunkelheit der Nacht, die in der N a t u r wie in den Seelen der Helden herrscht (»Tschelkasch«); der »Sturmvogel«, der zwischen den Wogen des Meeres und den Wolken des Himmels pfeilgeschwind dahinstreift, und aus dessen Schrei die Sehnsucht nach dem Sturm klingt; die Szene an der Brücke am Ufer der Worska, wo einer der Helden einem K a u f mann auflauert, um ihn in den Fluß zu werfen und ihm das Geld zu nehmen, statt dessen aber ein Mädchen rettet, das sich in den Fluß stürzen will, weil der Geliebte sie verlassen - alle diese Szenen und Bilder sind in ihrer düsteren Traurigkeit und endlosen Melancholie ungemein stark und suggestiv, sie prägen sich dem Gemüt und der Phantasie des Lesers ein und sind trotz ihrer unbestimmten und oft verschwommenen Linien von großer Anschaulichkeit. Die Landschaft wird gleichsam plastisch durch die Melodien, die das Ohr von ihr auffängt, durch das, was in ihren Gründen und Kronen rauscht, in den Nebeln und Flüssen zieht. Diese Mischung von heller Reflexion und grenzenloser Verträumtheit, die so vielen russischen Dichtern eigentümlich ist, gehört auch zum Wesen Gorkis. Es scheint, als ob der Gorki auf dem Lande, in der Steppe, am Meer ein ganz anderer sei als der der Städte, der sich auch dann mit ihren Gesellschaftsproblemen beschäftigt, wenn er sich scheinbar in freiem Vagantentum von ihnen losgelöst hat. Eine ganz eigentümliche Erscheinung der russischen Literatur! Kritisch, streitbar, überlegen gegenüber der Zivilisation, ist er gegenüber der N a t u r weich, hingegeben, ohnmächtig; eine Muschel im Meere, die keine andere Aufgabe hat, als das Rauschen der Unendlichkeit aufzufangen. Dann löst sich die Lebensgeschichte einer alten Frau zum ungeheuren Mythos auf, und ihre Erinnerung verliert sich so weit in die Zeiten und Völker, daß ihre Gesichte unverstanden, in die Ferne verdämmern (»Die alte Isergil«), Die Erzählung klingt aus in eine ohnmächtige Bewunderung jener alten Gebilde und Legenden, der »Phantasie der Menschen, die '47

so viele schöne, gewaltige Legenden erdichtet hat.« Das ist die Elegie des Dichters, den die Poesie selbst noch nicht erlöst hat. Sie zeigt, daß in Gorki noch andere Möglichkeiten liegen, wenn der Bann seinem Leben und Dichten genommen. Bei diesen Russen nämlich, die sich immer gleich an die letzten Fragen des Lebens geworfen fühlen, ist die Literatur zunächst immer nur die N o t wehr der Verzweiflung. Das macht sie stark und revolutionär, aber hier liegt auch ihre Schranke. Es sind bei keinem Volke tiefere Blicke in die menschliche Seele geworfen. Aber die großen, schöpferischen Gestalten, die die Zeiten erlösen, indem sie sie darstellen, gelingen ihnen nicht. Die tiefe Sehnsucht nach der Erlöserin Phantasie dehnt ihre Schwingen auch in Gorki, der in dem, was er kann, und in dem, was bei ihm versagt, typisch ist f ü r die literarische Welt Rußlands. Und damit ist zugleich auch gesagt, daß er an die größten russischen Dichter, einen Gogol, Turgenjew, Dostojewski, nicht heranreicht.

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Biographische Angaben zu den russischen Schriftstellern

ALEXANDROWSKI - nach Engelhardt im J a h r e 1898 ein literarischer Zeitgenosse Gorkis(?). MICHAIL WASILJEWITSCH AWDEJEW - geb. 1 8 2 1 , trat als R o m a n s c h r i f t s t e l -

ler hervor, Mitarbeiter der Zeitschrift »Sowremennik«, starb 1876. WISSARION GRIGORJEWITSCH BELINSKI -

geb.

1811

in S v e a b o r g

als

Sohn

eines Arztes; 1 8 2 9 - 3 2 Studium an der Moskauer Universität, wurde von der Universität relegiert, w a r dann als Journalist und Kritiker tätig (u. a. Redaktion der »Otetschestwennyje sapiski« und des »Sowremennik«), E r gilt als der größte Literaturkritiker Rußlands. Seit 1 8 3 9 in Petersburg; 1847 Kurreise nach Salzbrunn/Schl., starb 1848 in Petersburg. PJOTR

DMITRIJEWITSCH BOBORYKIN -

geb.

1836,

Studium

in K a s a n

und

in Deutschland; 1 8 6 3 - 6 5 Herausgabe der Zeitschrift »Biblioteka dlja Tschtenija«, später Klitarbeit am »Westnik J e w r o p y « . Ausgedehnte Auslandsreisen; schrieb Romane ( u . a . » K i t a i - G o r o d « , 1882), wurde der bedeutendste Vertreter des Naturalismus in Rußland, starb 1 9 2 1 im Ausland. BULYGIN - nach Engelhardt im J a h r e 1898 ein literarischer Zeitgenosse Gorkis(?). GRIGORIJ PETROWITSCH DANILEWSKI -

geb. 1829, S t u d i u m an der

Peters-

burger Universität; 1 8 5 0 - 5 7 im Staatsdienst; 1 8 7 0 - 8 0 Herausgabe der Zeitschrift »Prawitelstwennyj westnik«, trat mit historischen Romanen hervor, starb 1890. NIKOLAI ALEXANDROWITSCH DOBROLIUBOW -

geb.

1836

in N i s h n i

Now-

gorod als Sohn eines Geistlichen; 1 8 4 8 - 5 3 im Priesterseminar, 1 8 5 3 57 Pädagogisches Institut Petersburg; leitete bis zu seinem Tode ( 1 8 6 1 ) das Feuilleton des »Sowremennik«, wurde einer der führenden Kritiker der Zeit. FJODOR

MICHAILOWITSCH

DOSTOJEWSKI

-

geb.

1821

in

Moskau

als

Sohn eines Arztes; 1 8 3 8 - 4 3 Studium an der Petersburger Militäringenieurschule; zunächst im Ingenieur-Departement, trat jedoch bald als Schriftsteller hervor. E r nahm an Zusammenkünften des Petraschewzen-Kreises teil, wurde 1849 verhaftet und zum Tode verurteilt, kurz vor der Erschießung begnadigt und nach Sibirien verbannt. A b 1854 Soldat in einem Linienbataillon; 1859 Rückkehr nach Petersburg. Herausgabe von Zeitschriften (»Wremja«, «Epocha»); Auslandsreisen; Publikation der bekanntesten Werke: »Aufzeichnungen aus einem Totenhause« ( 1 8 6 1 / 6 2 ) , »Schuld und Sühne« (1866), 149

»Der Idiot« (1868/69), »Die Dämonen« ( 1 8 7 1 / 7 2 ) , »Die Brüder K a ramasow« ( 1 8 7 9 / 8 0 ) etc. E r starb 1 8 8 1 in Petersburg. AFANASI

AFANASJEWITSCH

FET-SCHENSCHIN

-

geb.

1820

in

Nowosjolki

( G o u v . Orjol), mütterlicherseits deutscher Abstammung; 1 8 3 8 - 4 4 Studium an der Moskauer Universität, darnach Militärdienst, Teilnahme am Krimkrieg, später Gutsbesitzer. V o r allem als L y r i k e r hervorgetreten, starb 1892 in Moskau. WSEWOLOD

MICHAILOWITSCH

GARSCHIN

-

geb.

1855

in

Prijatnaja

Do-

lina ( G o u v . Jekaterinoslaw) als Sohn eines O f f i z i e r s ; Studium an der Petersburger Bergbauschule; 1877 im Russisch-Türkischen Krieg verwundet. Mitarbeiter der »Otetschestwennyje sapiski«, schrieb Antikriegsnovellen und Erzählungen. 1888 Selbstmord in Petersburg. NIKOLAI

WASILJEWITSCH

GOGOL

-

geb.

1809

in

Sorotschinzy

als

Sohn

eines Gutsbesitzers; 1 8 2 1 - 2 8 Gymnasium in Neshin; seit 1828 in Petersburg; 1829 erscheint eine Idylle (»Hans Küchelgarten«), später verschiedene Bände Erzählungen. 1 8 3 4 - 3 5 L e h r a u f t r a g (Geschichte) an der Petersburger Universität, ab 1835 freier Schriftsteller, gilt als Begründer des kritischen Realismus in der russ. Literatur. N a c h A u f f ü h r u n g der K o m ö d i e »Der Revisor« ( 1 8 3 6 ) vorwiegend im Ausland. 1 8 4 1 / 4 2 Publikation des Romans »Tote Seelen«; 1848 Pilgerfahrt nach Jerusalem, starb 1852 in Moskau. IWAN

ALEXANDROWITSCH

GONTSCHAROW

-

geb.

1812

in

Simbirsk

als Sohn eines K a u f m a n n e s ; 1 8 3 1 - 3 4 Studium an der Moskauer U n i versität, darnach im Staatsdienst. Reisen nach Westeuropa; Teilnahme an einer Weltumsegelung (»Fregatte Pallas«, 1 8 5 5 / 5 7 ) . Sein bedeutendstes Werk ist der R o m a n »Oblomow« ( 1 8 5 9 ) ; die Untätigkeit des Titelhelden wurde zu einem literarischen B e g r i f f : O b l o m o w tum. E r starb 1 8 9 1 in Petersburg. MAXIM

GORKI

(eigentl.

ALEXEI

MAXIMOWITSCH

PESCHKOW)

-

geb.

1868 in Nishni N o w g o r o d als Sohn eines Tischlers; früh verwaist, arbeitet als Laufbursche, Tellerwäscher, Bäckergehilfe etc. Seit 1892 literarisch tätig; Wegbereiter der Revolution, wurde zum bedeutendsten Schriftsteller der radikalen Linken (zahlreiche Erzählungen). 1899 Veröffentlichung des Romans »Foma G o r d e j e w « ; Hinwendung zur D r a m a t i k : u. a. »Das Nachtasyl« (1902). Wegen revolutionärer Umtriebe 1905 verhaftet, freigelassen unter dem Druck öffentlicher Proteste. 1906 Amerikareise; 1 9 0 6 - 1 3 vorwiegend in Italien. 1 9 1 3 wieder in Rußland, intensive kulturpolitische Tätigkeit. 1 9 2 1 ins Ausland, 1928 R ü c k k e h r nach R u ß l a n d , starb 1936 in Moskau. DMITRI

WASILJEWITSCH

GRIGOROWITSCH

-

geb.

1822

in

Simbirsk

als Sohn eines Gutsbesitzers, mit Dostojewski auf der Militäringenieurschule in Petersburg, später Maler und Prosaschriftsteller, starb 1899 in Petersburg. IJO

LJUBOW

JAKOWLEWIMA

GUREWITSCH

w e r n y westnik« ( 1 8 9 1 / 9 8 ) , » R u s s k a j a mysl«.

-

geb.

später

1866;

Herausgabe

Mitarbeit

an

der

des

»Se-

Zeitschrift

A L E X A N D E R IWANOWITSCH H E R Z E N ( P s e u d . ISKANDER) - g e b . 1 8 1 2 in M o s -

k a u als Sohn des Generals I. A . J a k o w l e w und einer Deutschen; 1 8 2 9 - 3 3 Studium an der Moskauer Universität. 1 8 3 4 wegen politischer U m triebe in die P r o v i n z v e r s c h i c k t . In den 40er J a h r e n w i e d e r in Moskau, emigrierte 1 8 4 7 nach Westeuropa. Seit 1 8 5 4 H e r a u s g a b e der russ. Zeitung » K o l o k o l « in L o n d o n ; er starb 1 8 7 0 in Paris. SINAIDA N I K O L A J E W N A HIPPIUS ( M e r e s h k o w s k a j a ) -

geb. 1869,

deutscher

A b s t a m m u n g , verheiratet mit dem Schriftsteller D . S. M e r e s h k o w s k i . H e r a u s g a b e verschiedener Zeitschriften, bedeutendste L y r i k e r i n des Symbolismus. Seit 1 9 1 9 in P a r i s ; sie starb 1 9 4 5 . NIKOLAI

MICHAILOWITSCH

KARAMSIN

-

geb.

1766

in

Michailowka

( G o u v . Simbirsk) als Sohn eines Gutsbesitzers; Schulbesuch im M o s kauer deutschen Pensionat. 1 7 8 9 - 9 1 Reise durch Westeuropa (»Briefe eines russ. Reisenden«, 1 7 9 1 / 9 2 ) ; bedeutendster Vertreter des russ. Sentimentalismus. 1 7 9 1 - 9 2 Herausgabe des » M o s k o w s k i shurnal«, 1 8 0 2 - 0 4 des »Westnik J e w r o p y « . Seit 1 8 0 3 als H i s t o r i o g r a p h tätig; er starb 1 8 2 6 in Z a r s k o j e Selo. WLADIMIR

GALAKTIONOWITSCH

KOROLENKO

-

geb.

1853

in

Shitomir

als Sohn eines R i c h t e r s ; S t u d i u m am Technologischen Institut in Petersburg und an der L a n d w i r t s c h a f t l i c h e n Hochschule in M o s kau. 1 8 7 9 wegen Beteiligung an Protestaktionen nach Sibirien v e r b a n n t ; 1 8 8 5 - 9 6 in Nishni N o w g o r o d als Prosaschriftsteller; 1896— 1900 R e d a k t i o n der Z e i t s c h r i f t »Russkoje bogatstwo« in Petersburg, darnach bis zu seinem T o d e ( 1 9 2 1 ) in P o l t a w a . NESTOR

WASILJEWITSCH

KUKOLNIK

-

geb.

1809;

arbeitete

in

verschie-

denen Ministerien; trat 1 8 3 3 mit einer dramatischen Phantasie ( » T o r q u a t o Tasso«) hervor, schrieb patriotische Werke, starb 1868. IWAN

IWANOWITSCH

LASHETSCHNIKOW

-

geb.

1794

als

Sohn

eines

K a u f m a n n e s ; nahm am napoleonischen K r i e g teil; darnach Lehrer und E r z i e h e r ; 1 8 5 6 - 5 8 Zensor in Petersburg, schrieb historische R o mane, starb 1869. MICHAIL

JURJEWITSCH

LERMONTOW

-

geb.

1814

in

Moskau

als

Sohn

eines schottischen O f f i z i e r s (George L e a r m o n t ) ; 1 8 3 0 - 3 2 Studium an der Moskauer Universität, darnach auf der Petersburger J u n k e r schule, 1 8 3 4 O f f i z i e r . 1 8 3 7 wegen eines Gedichts auf den T o d Puschkins in den K a u k a s u s versetzt. Neben L y r i k und Verserzählungen ist sein bedeutendstes W e r k der N o v e l l e n - R o m a n »Ein H e l d unserer Zeit« ( 1 8 3 8 / 3 9 ) . 1840 nochmals in den K a u k a s u s versetzt, 1 8 4 1 in einem D u e l l in Pjatigorsk tödlich v e r w u n d e t . WLADIMIR

PETROWITSCH MESCHTSCHERSKI -

geb.

1839,

entstammt

einer

fürstlichen F a m i l i e ; zuerst Staatsdienst, dann publizistische Tätigkeit. IJI

V o n 1882 bis zu seinem Tode »Grashdanin«. WASILI

TROFIMOWITSCH

(1914)

NARJESHNY

-

Herausgabe geb.

1780

der

in

Zeitschrift

Ustiwizy

als

Sohn eines Beamten; Erziehung im Priesterseminar; in verschiedenen Ministerien tätig; Prosaschriftsteller, gilt als V o r l ä u f e r G o g o l s ; er starb 1 8 2 $ . NIKOLAI

ALEXEJEWITSCH

NEKRASOW

-

geb.

1821

in

Nemirowo

( G o u v . Kamenez-Podolsk); 1 8 3 9 - 4 1 Gasthörer an der Petersburger Universität. E r trat als Lyriker hervor, leitete ab 1847 die Zeitschrift »Sowremennik«, ab 1868 die »Otetschestwennyje sapiski«. Sein H a u p t w e r k ist das Versepos »Wer lebt glücklich in Rußland?« ( 1 8 6 3 / 7 7 ) ; er starb 1878 in Petersburg. ALEXANDER

NIKOLAJEWITSCH

OSTROWSKI

-

geb.

1823

in

Moskau

als

Sohn eines N o t a r s ; 1 8 4 0 - 4 3 Studium an der Moskauer Universität; 1 8 4 3 - 4 j Gerichtsbeamter; schrieb gesellschaftskritische Dramen ( u . a . »Das Gewitter«, 1860); von 1 8 8 j bis zu seinem Tode (1886) Direktor beim Moskauer Kaiserlichen Theater. DMITRI

IWANOWITSCH

PISAREW

-

geb.

1840

in

Snamenskoje

als

Sohn eines Gutsbesitzers; 1 8 5 6 - 6 1 Studium an der Petersburger Universität. Mitarbeiter verschiedener Zeitschriften; 1 8 6 2 - 6 6 Festungsh a f t wegen revolutionärer Äußerungen. 1868 in Dubbeln bei R i g a ertrunken. ALEXEI

FEOFILAKTOWITSCH

PISEMSKI

-

geb.

1821

in

Ramenje

(Gouv.

Kostroma) als Sohn eines O f f i z i e r s ; Studium an der Moskauer U n i versität, darnach im Staatsdienst, trat als Prosaschriftsteller hervor, schrieb auch Schauspiele, starb 1 8 8 1 in Moskau. NIKOLAI

GERASIMOWITSCH

POMJALOTPSKI

-

geb.

1835

in

Petersburg

als Sohn eines Geistlichen, durchlief verschiedene Stadien geistlicher Ausbildung, wurde Lehrer und Schriftsteller, starb 1863 in Petersburg. IGNATI

NIKOLAJEWITSCH

POTAPENKO

-

geb.

1856

als

Sohn

eines

Geistlichen; Erziehung im Priesterseminar, Studium in Noworossijsk, absolvierte das Petersburger Konservatorium, trat in der Literatur bes. als Erzähler hervor, starb 1929. ALEXANDER SERGEJEWITSCH PUSCHKIN - geb. 1 7 9 9 in M o s k a u ; ein U r g r o ß -

vater w a r abessinischer Fürstensohn (Abram H a n n i b a l ) ; 1 8 1 1 - 1 7 > m Lyzeum in Zarskoje Selo, anschließend im Kollegium f ü r Auswärtige Angelegenheiten in Petersburg. 1 8 2 0 - 2 4 wegen revolutionär gestimmter Verse nach Südrußland versetzt. Während dieser Zeit entstehen seine romantischen H a u p t w e r k e . Im Sommer 1824 wegen atheistischer Äußerungen vom Dienst suspendiert, nach Michailowskoje (Landgut seiner Eltern) verbannt; hier entstehen u. a. das D r a m a »Boris G o d u n o w « ( 1 8 2 5 ) und Teile des Versromans »Eugen Oncgin« ( 1 8 2 3 / 3 1 ) . 1826 begnadigt, aber unter Polizeiaufsicht, lebt als IJ*

freier Schriftsteller in Moskau und Petersburg. Seit 1 8 3 1 Historiograph; 1 8 3 6 Gründung der Zeitschrift »Sowremennik«; 1837 in einem Duell in Petersburg tödlich verwundet. ALEXANDER

NIKOLAJEWITSCH

PYPIN

-

geb.

1833;

1849-53

Studium

an den Universitäten Kasan und Petersburg, 1857 Magister, f ü r kurze Zeit Professor an der Petersburger Universität, dann vorwiegend literarwissenschaftliche und journalistische Tätigkeit. 1898 Mitglied der Akademie der Wissenschaften; er starb 1904. MICHAIL

NIKOLAJEWITSCH

SAGOSKIN

-

geb.

1789

als

Sohn

eines

Gutsbesitzers; w a r Theaterintendant, schrieb Komödien und Romane im Stil Walter Scotts, starb 1852. JEWGENI

1840,

ent-

stammt einer gräflichen Familie; schrieb historische Romane, 1908.

starb

MICHAIL

ANDREJEWITSCH

SALIAS

JEWGRAFOWITSCH

DE

TOURNEMIR

-

geb.

SALTYKOW-SCHTSCHEDRIN

-

geb.

1816

in

Spas-Ugol ( G o u v . T w e r ) als Sohn eines Gutsbesitzers; 1 8 3 8 - 4 4 im Lyzeum in Zarskoje Selo, seit 1844 im Staatsdienst in Petersburg. 1848 wegen der gesellschaftskritischen N o v e l l e »Eine verwickelte A n gelegenheit« in die P r o v i n z versetzt; 1855 wieder in Petersburg. Seit i860 Mitarbeit an verschiedenen Zeitschriften, zog sich 1868 aus dem Verwaltungsdienst zurück, starb 1889 in Petersburg. ALEXANDER

KONSTANTINOWITSCH

SCHELLER

(Pseud.

Michajlow)

-

geb. 1838 in Petersburg, estnischer Abstammung; Mitarbeit an verschiedenen Zeitschriften, übersetzte aus dem Deutschen, starb 1900. NIKOLAI

NIKOLAJEWITSCH

SLATOWRATSKI

-

geb.

1845

in

Wladimir

als Sohn eines Beamten; Studium an der Moskauer Universität und am Technologischen Institut in Petersburg. Seit 1866 literarisch tätig, zählt zu den Volkstümler-Schriftstellern; er starb 1 9 1 1 . FJODOR

KUSMITSCH

SOLOGUB

(eigentl.

Teternikow)

-

geb.

1863

in

Petersburg als Sohn eines H a n d w e r k e r s ; wurde Lehrer, w a r als Schulinspektor tätig. Seit 1894 Mitarbeit am »Sewerny westnik«, gehört zu den »Dekadenten«. E r wollte emigrieren, erhielt keine E r laubnis, starb 1927 in Leningrad. RAFAIL

MICHAILOWITSCH

SOTOW

-

geb.

1796;

in

der

Theaterverwal-

tung in Petersburg tätig, leitete eine Schauspielertruppe, schrieb Bühnenstücke, starb 1 8 7 1 . PJOTR

JAKOWLEWITSCH

TSCHAADAJEW

-

geb.

1794

in

Nishni

Now-

gorod; nahm am napoleonischen Krieg teil. 1 8 2 3 - 2 6 Reise nach Westeuropa, publizierte später die »Philosophischen Briefe«, setzte sich f ü r die Annäherung an den Westen ein, wurde daraufhin f ü r geisteskrank erklärt, starb 1856 in Moskau. ANTON PAWLOWITSCH TSCHECHOW - geb. i860 in Taganrog als Sohn eines K a u f m a n n e s ; 1 8 7 9 - 8 4 Medizinstudium in Moskau, 1884 Promotion zum D r . med. Seit 1880 literarisch tätig (vornehmlich KurzgeIJ3

schichten und Erzählungen). 1890 Reise zur Insel Sachalin, 1891 nach Westeuropa. 1 8 9 2 - 9 9 als Landarzt und Schriftsteller in Mclichowo; 1899 Übersiedlung nach J a l t a . 1900 Ehrenmitglied der Akademie der Wissenschaften, 1902 Austritt aus Protest wegen der unwürdigen Behandlung Gorkis. Besonders bekannt als Dramatiker (u. a. »Die M ö w e « , 1 8 9 3 ; »Drei Schwestern«, 1 9 0 1 ; »Der Kirschgarten«, 1904); er starb 1904 in Badenweiler. NIKOLAI

GAWRILOWITSCH

TSCHERNYSCHEWSKI

-

geb.

1828

in

Saratow

als Sohn eines Geistlichen; 1 8 4 2 - 4 6 im Priesterseminar; 1 8 4 5 - 5 0 Studium an der Petersburger Universität, darnach als Lehrer tätig. Seit 1 8 5 3 Mitarbeit an der Zeitschrift »Sowremennik«; 1862 wegen revolutionärer Äußerungen nach Sibirien verbannt. Sein H a u p t w e r k ist der R o m a n »Was tun?« (1863). 1883 R ü c k k e h r aus Sibirien; er starb 1889 in S a r a t o w . LEW NIKOLAJEWITSCH TOLSTOI - geb. 1828 in J a s n a j a Poljana, entstammt einer gräflichen Familie; 1 8 4 4 - 4 7 Jurastudium in Kasan, darnach Reformversuche in J a s n a j a Poljana. 1 8 5 1 - 5 4 Dienst in der Kaukasusarmee, 1 8 5 4 - 5 5 ¡ m K r i m k r i e g , 1856 Abschied vom Militär. Auslandsreien ( 1 8 5 7 , 1 8 6 0 - 6 1 ) . Seit 1862 wieder in J a s n a j a P o l j a n a ; umfassende pädagogische und soziale Tätigkeit. Literarische Bemühungen seit 1 8 5 1 (zuerst autobiographische Werke, dann Erzählungen); Höhepunkte seines literarischen S c h a f f e n s sind die Romane »Krieg und Frieden« (1864/69) und »Anna Karenina« ( 1 8 7 3 / 7 6 ) . Aus der Spätphase sind hervorzuheben: »Die Kreutzersonate« ( 1 8 8 7 / 1889) und »Auferstehung« (1899). 1 9 0 1 Ausschluß aus der orthodoxen Kirche, darnach stärkere H i n w e n d u n g zum politischen Geschehen; er starb 1 9 1 0 in Astapowo. IVAN SERGEJEWITSCH TURGENJEW - geb. 1 8 1 8 in Orjol als Sohn eines Gutsbesitzers; Studium in Moskau ( 1 8 3 3 ) , Petersburg ( 1 8 3 4 - 3 6 ) und Berlin ( 1 8 3 8 - 4 1 ) . E r legte die Magisterprüfung ab, w a r dann im Staatsdienst tätig, wurde schließlich freier Schriftsteller. In den späten 40er Jahren Reisen nach Westeuropa. Zuerst Gedichte, dann K o mödien und vornehmlich N o v e l l e n ; 1 8 5 2 wegen der Publikation eines Nekrologs auf G o g o l verhaftet und auf sein G u t (Spasskoje) verschickt. 1853 R ü c k k e h r nach Petersburg; Mitarbeit am »Sowremennik«. Seit 1856 in Deutschland und Frankreich. Während dieser Zeit erscheinen seine Romane ( u . a . »Väter und Söhne«, 1 8 6 1 ) . E r starb 1883 in B o u g i v a l bei Paris. GLEB IWANOWITSCH USPENSKI - geb. 1843 in T u l a als Sohn eines Beamten; 1 8 6 1 an der Universität in Petersburg. E r trat mit Erzählungen hervor, entwickelte sich zum Meister der literarischen Skizze. Ausgedehnte journalistische Tätigkeit. Seit 1889 Anzeichen von Geistesgestörtheit; er starb 1902.

154

SINAIDA

AFANASJEWA

WENGEROWA

-

geb.

1867;

Studium

bonne und in Deutschland, als Literaturkritikerin »Westnik J e w r o p y « ) , publizierte auch im Ausland.

an

tätig

der

(bes.

ISS

Sor-

im

Weiterführende Bibliographie

I. Literatur von 1 8 8 0 bis 1909 a)1880-1889 B., Ein idealistischer Roman [Tschernyschewski], in: N Z , 3(1885), S- 3 7 1 - 3 7 3 K . Bleibtreu, Der russische Nationalgeist in Litteratur und Kunst, in: Mag., 55(1886), N r . 33, S. 5 4 8 - 5 5 3 ; N r . 36, S. 566-570. Russische Literatur, in: Ges., 5(1889), 2. Qtl., S. 9 1 5 - 9 1 7 . O. Brahm, Iwan Turgenjew, in: WM, 57(1884), S. 588-614. E. Brausewetter, »Der Idiot« von Dostojewski, in: Geg., 36(1889), N r . 3 1 , S. 7 1 - 7 3 . - , »Der Spieler« [Dostojewski], in: Mag., 58(1889), N r . 39, S. 6 1 6 - 6 1 7 . P. Dobert, Russische Novellen von N . Gogol, in: Mag., 50(1881), N r . 4 1 , S. 600-602. P. Ernst, »Des Lebens Kleinigkeiten« von Schtschedrin, in: N Z , 7(1889), s . 475-476. A . Fellin, M. E. Saltykows jüngste Schriften, in: Mag. 50(1881), N r . 27, S. 407-409; N r . 28, S. 4 2 1 - 4 2 4 . W. Goldschmidt, Der russische Dichter Iwan Nikitin, in: Mag., 52(1883), N r . 8, S. 1 1 5 - 1 1 7 . F. Hammer, Polikuschka. Erzählung von L. Tolstoi, in: Ges., 5(1889), 1. Qtl., S. 1 1 2 . M. Harden, Russische Erzähler, in: Nat., 5(1887/88), S. 5 1 5 - 5 1 6 . - , Dostojewsky, in: Nat., 6(1888/89), S. 703-706. M. Harden, Der Dichter der Finsternis, in: Nat., 7(1889/90), S. 1 0 - 1 3 . W. Henckel, Die heutige russische Literatur, in: Mag., 57(1888), N r . 17, S. 2 5 9 - 2 6 1 . - , Wsewolod Garschin, in: Mag., 57(1888), N r . 2 1 , S. 3 2 1 - 3 2 3 . - , G r a f Leo Tolstojs Glaubenslehre, in: Mag., 58(1889), N r . 5, S. 74-76. - , Ein unbekannter russischer Dichter [A. Poleshajew], in: Geg., 35 (1889), N r . 14, S. 2 1 5 - 2 1 7 . O. Heyfelder, Literaturbericht aus Rußland. I I I . G r a f Leo Tolstoi als Romancier und Volksschriftsteller, in: Mag., 56(1887), N r . 1 3 , S. 1 8 5 - 1 8 7 . A . Hingst, Briefe über russische Literatur, in: Mag., 49(1880), N r . 14, S. 1 9 9 - 2 0 1 . 156

J . J . Honcggcr, Russische Literatur und Cultur, Leipzig 1880. O. Kämmel, Leo Tolstoj als Kriegsdarsteller in seinem Roman »Krieg und Frieden«, in: Mag., 57(1888), N r . 29, S. 4 4 5 - 4 5 1 ; N r . 3 0 , 8 . 4 6 8 4 7 2 ; N r . 3 1 , S. 485-489. H . Köcher, Ein russischer Dichter [ N e k r a s o w ] , in: W M , 54(1883), S. 6 6 8 - 6 7 1 . A . Leist, R e v u e des litterarischen Rußland, in: Mag., 53(1884), N r . 8, S. 1 2 3 - 1 2 4 . - , Simon Nadson, in: Ges. (Literarisch-kritische Rundschau), 4(1888), H . 1 - 6 , S. 2 3 - 2 6 . G . M a l k o w s k y , »Die Besessenen« von Dostojewski, in: Geg., 33(1888), N r . 3, S. 4 2 - 4 4 . - , »Der Hahnrei« [Dostojewski], in: Geg., 33(1888), N r . 26, S. 4 0 7 4 9 ° ' L.

Marholm, Ein russischer Satiriker ( N . Schtschedrin), in: Geg., 33(1888), N r . 1 5 , S. 2 3 0 - 2 3 2 . Moscoviensis, N e k r a s s o f f und seine Werke, in: Mag., 49(1880), N r . 26, S. 3 6 3 - 3 6 5 . M . Necker, F. M . Dostojewski, in: G B , 44(1885), S. 3 4 2 - 3 5 3 . - , A n n a Karenina, in: G B , 44(1885), S. 5 7 0 - 5 7 5 . R . Prölß, Quelle est ma vie? [Tolstoi], in: Mag., 57(1888), N r . 46, A.

von Reinholdt, Moderne russische Erzähler, in: Mag., N r . 25, S. 3 5 7 - 3 5 9 ; N r . 36, S. 504-508. - , Kritische Phantasien über russische Belletristen, in: Mag., N r . 32, S. 4 9 8 - 5 0 2 ; N r . 33, S. 5 1 2 - 5 1 4 . - , Geschichte der russischen Literatur, Leipzig u. Berlin 1886.

52(1883),

H . Roskoschny, Apollon Nikolajewitsch M a i k o w , in: Mag.,

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170

Personenregister

Abasa 8 A c h e l i s , T h . 161 Adam, G. X X I I I , X X V I , 136,

158,

162

Alberti, C. X V I A l e x a n d e r I I . V I I I , 2, 6 A l e x a n d r o w s k i 1 1 6 , 149 A l l e r h a n d , W . 166 A l t m a n n , I . 162 A n d r e a s - S a l o m e , L . i$8 A n d r e j e w , L . N . 162, 164, 166

A n t r o p o w 160 A p u c h t i n , A . N . 160 A r a m , K . 162 A t a w a , S. 161 A w d e j e w , M . W . 1 1 , 149 A x e l r o d , L . 162 B. IJ6 B a l m o n t , K . D . 162 B a l z a c , H . de 32 B a r t e l s , A . 162 B a s e d o w , H . v . 158 B a u e r , £ . 158 B e c k , H . 158 B e d n a r z , K . 166 B e e r , L . 161 B e h r i n g e r , F . O . 136, 144 Belìnski, W . G . X I V , 11, 12,

18,

23, 31,

32,

58,

124» 149 B e n d a , K . 158 Berdrow, W . X X f., X X V I ,

B o s s e r t , O . R . 136 B o u r g e t , P . 96 B r a a k e n b u r g , J . J. X V B r a h m , O . X I X , 156, 158 Brandes, G . X , X V I f., X X V I , 29, 37, IJ8 B r a n d t , M . v . 162 B r a u n e r , A . 160 B r a u n e r , K . 136 B r a u s e w e t t e r , E . i$6 B r e h m , L . 162 B r j u s s o w , V . 164 Brückner, A . X I I , X I I I ,

125,

131,

136,

142,

148,

149,

IJO,

IJ6,

IJ7,

1 J8,

159,

160,

164,

16J,

161,

162,

166, 167,

163, 168,

169

D o s t o j e w s k i , M . M . 36 D u k m e y e r , F . IJ8, 163 D ü s e l , F. 162 D ü w e l , W . 166

162

B ü l o w , F . v . 162 B u l y g i n 1 1 6 , 149 B u n i n , I . 163 B u s s e , C . 158 Butaschewitsdi-Petraschewski, M . W X I V , 33» 36, 149 Byron, G. G . X V

Ebers, G . X E e k m a n , T h . A . 166 E i c h h o l t z , J. 166 E i s n e r , K . X V I I f . , 163 Engelhardt, A . v. X X I I , j,

C a l d e r ó n d e l a B a r c a , P . 52 C a r s t e n , F . IJ8 C e r v a n t e s , M . d e 27 C l a u s e n , E . 162 Conrad, M. G . X V f., X X V I , I J , 158 Conradi, H . X V I ,

XXVI,

17 C z i k o w s k y , E . X X I V , 166 C z u m i k o w , W . 119

IOJ

B e r e s a r k , I . 166 Berg, L., X X , X X I I I f., X X V I , 1 0 1 , 102, 1 4 1 , 158 B e r g e r , C . 2 36 B e r n e k e r , £ . 162 B e v e r n i s , M . 166 B i s m a r c k , V I I I 37 B j ö r n s o n , B . 27, 9 1 , 95, 96 B l e i b t r e u , C . X I , X V , 156 B o b o r y k i n , P . D . 1 1 6 , 149 B o d e , W . 162 B o d e n s t e d t , F. V I I , X B o n u s , A . 162

Dostojewski, F. M . , V I I I , I X , X , X I I , X I I I ff., XVIII, XXI, XXVI, 2 ff., 5 9 , 6 4 , 7 1 , 1 1 7 , 124,

D ' A n t h è s - H e e k e r e n , G . 17 D a n i l e w s k i , G . P . 1 1 , 149 D a v i d , J. J. 162 D a v i d s o n , E . 158 D e h m e l , R . 162 D e t s c h y , L . 87 D i c k , G . 166 D i c k e n s , C h . 32, 36, 48 D i e t e r t , F . 162 D o b e r t , P . IJ6 D o b r o l j u b o w , N . A . 12, 18,

149

D o s t o j e w s k i , A . M . 31, 36

X X V I , 1 1 6 , 149, 159 Ernst, P. X V I I I , X X V I , J8,

IJ6Y

IJ9,

163,

169

E ß w e i n , H . 163 E t t l i n g e r , A . 163 F e l l i n , A . 156 F e o f a n o f f , M . 136, 1 4 1 , 144 F e t - S c h e n s d i i n , A . A . 108, ijo F i e d l e r , F . 169 Fischer, H . \6y Fischer, S. X I X F l a u b e r t , G . 27 F o n t a n e , T h . 159 F o u r i e r , F . X I V , 33, 161 G a r b e l l , A . 159 G a r b o r g , A . 1J9 Garschin, W . M . X I , X I I , 19,

IJO,

IJ6,

IJ7,

161,

169

G e s e m a n n , G . 166 G e s e m a n n , W . 166 G l a s e n a p p , G . v . 159 Gleichen-Rußwurm, A . v. .«3 G o e t h e 27, 29 Gogol, N . W. XI,

XIV,

171

8, I I , S8, 1 9 , 2 5 , 3 1 , 3 2 , 124, 148, 150, 152,

154,

1 5 6 , 1 5 $ , 1 6 3 , 1 6 5 , 168

Goldschmidt, A . 163 Goldschmidt, W. 22, IJ6 Goncourt, £ . de 58 Concourt, J . de j8 Gontscharow, I. A. 11, 18, 64, 1 1 7 , 124, 150, 158, 1 5 9 , 1 6 1 , 165

Gorki, M. X I I , X X I , X X I I ff., X X V I , II6, 1 2 3 ff., 1 4 9 , IJO, I J 4 , 159, 162, 163, 164, 165,

166, 167, 1 6 8 , 169, 1 7 0 G r a f f , W. P., X I Grazie, M. £ . delle 163 Grigorowitsdi, D. W. 1 1 , 18, 31, 150

Grosberg, O. 163 Grosse, J . X , X V , 16 Grot, N. i j 9 Grottewitz, K . 159 Grotthuß, E. v. 1 J 9 Gurewitsch, L. J . 12J, 151 Gutzkow, K . 64

H . , M. 1 5 9 Haasler, O. 167 Halm, H. 167 Hammer, F. 1 $6, 159 Hammer, W. 167 Hansson, O. X X , X X V I , 90

Harden, M. X I X , IJ6, 1J9 Härder, E. 167 Harnack, O. IJ9 Hart, H . 159 Hart, J . 163 Hartmann, A . v. 163 Härtung, Th. 159 Hauff, L. A. 102 Hauptmann, G. 166, 167, 168, 169

Hauswedell, E. 167 Heilborn, E. 163 Heimann, M. 163 Heine, H . 165 Heine, Th. Th. 136 Henckel, W. X , X I I I f., X X V I , 2, IJ, 1 f6, 159 Hennequin, E. 163 Hennique, L. 96 Herrmann, P. X X V I Herzen, A. I. 32, 124, 151

172

Herzfeld, M. X X , X X V I , 9S

Heß, A . 1 5 9 Hexelschneider, E. 167 Heyfelder, O. 156 Heyse, P. V I I , V I I I , X , 15 Hillebrand, K . 19 Hingst, A. IJ6 Hippius, S. N . 125, i j i Hock 87 Hock, A. 87 Hodc, E. 167 Höber, E. X X I I , X X V I , 159. 163 Hoefert, S. 167 Hoentzsth, A. 167 Hof man, A. X , 1 6 7 Hoffmann, E . T . A . 32 Hoffmann, N . X X I I I , X X V I , 123, IJ9 Holm K . 163 Holz, A. X V I Holzschuher, H . 165 Honegger, J . J . 157 Hugo, V. 48 Ibsen, H . X I X , 27, 161 Idzikowski, I. X X I V , 166 Ignotus i j 9 Jakofleff, P. 136, 141, 144 Jellinek, A. L. IJ9 Jerogow, W. i j 9 Jilek, H . 167 Jürgens, K . 20 Jurewa, L. M. 167 Kaberlin 160 Kämmel, O. 157 Kaiser, B. 168 Kampmann, Th. 167, 168 Kant, I. 78, 110 Karamsin, N . M. 32, IJI Karpeles, G. 160 Katharina II. 124 Kauer 87 Kaus, O. 168 Keller, G. IJ Kent, M. 160 Kepler, J . 39 Kerr, A. 163 Kersten, G. 168 Kielland, A. 27 Kirsten, U. 168 Kniepf, A. 160 Kock, P. de 32

Köcher, H . 157 Kondratewa, J u . G. 168 Koni, A . 8 Korolenko, W. G . X I , xitf, 12 j , 1 3 1 , 1 5 1 , 164 Kosch, W. 168 Kraus, E. 160 Kreowsky, E. 163 Kühnemann, E. 160 Kukolnik, N . W. 1 1 , 151 Lashetschnikow, I. I., 1 1 , 151 Laube, H . 88 Lauber 87 Lehbert, H . 163 Leibniz, G. W. 107 Leist, A . i j 7 Lermontow, M. J . 18, 124, Mi Lienhard, F. 163 Ljambek, E. 163 Löns, H . 168 Löwenfeld, R . 102, 160, 163 Löwenthal, L . 168 Lorm, H . 160 Lucka, E. 168 Ludwig, N . 169 Luther, A . 163, 168 Luther, M. 84 Lykurg 39 Maikow, A. N . I J 7 , 160 Malkowsky, G. 157 Mann, Th. X , 167 Marholm, L. 157, 160 Masurin, K . 159 Maupassant, G. de X X I I , X X V I , 96, 116 Meery, H . 87 Mehring, F. 164, 168 Meier-Benfey, H . 164 Meincke, R . 164 Mereshkowskaja (s. Hippius) Mereshkowski, D. S. I J I , 164 Merker, P. 168 Meschtscherski, W. P. 17, I J I f. Meyer, F. 87 Meyer, R . M. 164 Michajlow (s. Sdieller) Michailowski, B. W. i iJi» 15* Pypin, A. N . 59, IJ3

Rammelmeyer, A. 169 Reicher 87, 160 Reinholdt, A. v. 17, 29, i j 7 , 161 Reißner, E. X I I , 169 Reuter, H . H . 159 Richter, F. K. 1*9 Richter, T. 169 Rittelmeyer, F. i 6 j Roberti, R. M. 161 Rodenberg, J. V I I Rockel, M. 165 Rölünghoff, W. 165 Rollard, G . X I I I , X I V f., X X V I , II R o m a n o w , K. 160 Romein, J. M. 169 Roskosdtny, H . IJ7 Rosus (s. Schweichel) Rousseau, J. J. 30, 81, 101 Ruika, V. 169 Sade, D . A. de 49 Sagoskin, M. N . 11, 153 Saidman, M. 169 Saitsdiik, R. 161 Salias de Tournemir, J . A. Ii» 153 Saltykow-Schtschedrin, M. J. 18, 49, 117, 124, 139. 153» M*» 157» 160, 162, 164, 169 S a n d , G . 32 Sandvoss, F. 161 Samson-Himmelstjerna, H . v. 161, Sdiapire-Neurath, A. 169 Scheller, A. K. 72, 1J3 Schestakow, D . P. 165 Scheuer, H . 167 Schick, M. 165 Schiller, F. 88 Schlaf, J. X V I Schienther, P. X I X , X X V I , 83 Schley, G. X I X Schmidt, J . V I I , i J7 Schmitt, E. H . 165, 169 Scholz, A. X I , 84, 136, 141, 144, 157, 161, 165 Sdiopenhauer, A. X X I , 74, 106, 107, 108, 109, i n , 112 Schwarz, G. X X I V , 166 Schweichel, R. 157, 161, 16$ Scott, W. 32, IJ3

Seghers, A. 169 Seidel, E. 169 Servaes, F. 157, 161, 16j Shakespeare X V , 109 Slatowratski, N . N . 19. 153 Sokrates 78, 108 Sologub, F. K . X I I , i 2 j , l SÌ Solon 39 Sotow, R. M. 11, 153 Splettstößer, W. i 6 j Spielhagen, F. 15,64 Spinoza, B. 107 Stammler, W. 168, 169 Stampfer, F. 165 Stauche, I. 168, 169 Steiger, E. 165 Steiner, R. 165 Stirner, M. 105, 146 Stoeßl, O . 161 Storni, Th. V I I Strenge, E. X I Strobl, K. H . i6f Stümdce, H . 165 Stulz, C. 169 Styczynski, P. 161 Sue, E. 32 Teweles, H . 157 Tolstoi, L. N . V i l i , I X , X f., X I I , X V I , X V I I I , X X I I I , X X V I , i i , 17, 27, 28, 58 ff., 117, 119, 124, 125, 12 6, 138, 142, 1 54» 156, iJ7» 158, 159. 160, 161, 162, 163, 164, i6J, 166, 167, 168, 169, 170 Trepplin, G . 165 Tregelles 76 Troll, W. v. 161 Tschaadajew, P. J., 29, 153 Tschechow, A . P., X I I , X X I f., X X V I , 116 ff., 125, 153 f., 158, 163, 164, 16f, 166 Tschernjajew, P . N . i$7 Tschernyschewski, N . G. 72, 1J4, i j 6 , 157, 160, 166 Tsdiirikow, E. 163 Tschudnowzew, M. I . 169 Turgenjew, I. S. V I I f., X I V , X V , X V I , 3, 11, 12, 18, 29, 32, 49, 55, 71, 72, $6, i n , 117, 119,

173

124, r42» 154» i$6, i$7, 160, 164, 166, 167, 170

Ubbelohde, O. 136, 144 Uspenski, G. I. XI» 19, 12$, 136, 154, 160, 161 Usthal, A . 165

Veneta 87 Verlaine, P. 96 Vogiié, E. M. de X V I I , 52 Vogt, H. 169 Voß, R. X V , 16

174

Wald, A . v. 158 Waldmüller, R. 158 Walloth, W. X V I Wegner, M. 167, 170 Weis-Ulmenried, A . 165 Weißbach, A. 170 Weißenfels, M. 161 Wengerowa, S. A . 12$, i j j , 161 Wenzel, G. 167 Weresajew 163 Westcott-Hort 76 Widmann, J. V. 161 Wiegandt, L. M. 136, 144 Wilberforce, W. 3$ Wille, B. 161

Winokur, M 170 Witte, R. 16j Woermann, K . 158 WolfT, Th. X I X Wolfsohn, W. VII Wolkow, A. 170 Wolting, M. 161 Wolynski, A . L. I6J Zabel, E. X V , X X I , 158, 161, 165 Ziegengeist, G. 170 Zieler, G. 166 Zola, E. X V , 27, 68, 70, 126

Zschorlich, P. 166