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German Pages 546 [548] Year 2006
Birgit Nübel Robert Musil ⫺ Essayismus als Selbstreflexion der Moderne
Birgit Nübel
Robert Musil ⫺ Essayismus als Selbstreflexion der Moderne
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Walter de Gruyter · Berlin · New York
앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN-13: 978-3-11-018405-1 ISBN-10: 3-11-018405-2 Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der DeutschenNationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2006 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin
Gespaltener Eindruck: Was ich lese, ist mir sehr unsympathisch, aber ich möchte es nicht ändern. Gedanke u. Ausdruck leiden im einzelnen an einer inneren Überkombination […]. Ich bin mir völlig fremd u. könnte mich kritisieren wie auch kommentieren. Konsequenz: Überarbeitung unmöglich. Aber ganz verleugnen möchte ich diese Arbeiten auch nicht. Man müßte sie herausgeben, wie sie sind. Und dann: Was macht man mit einem Gedankenversuch, der nicht befriedigt? Man denkt weiter! Neue Aufsätze anschließen, über dasselbe Thema, über hervorgehende Themen: Das ist die positive Lösung. (Robert Musil) Motto (Jacques Derrida)
Vorwort Die vorliegende Studie wurde im Juli 2003 unter dem Titel Essayismus als Metatext – Querschnitte zu Robert Musil vom Fachbereich Germanistik der Universität Kassel als schriftliche Habilitationsleistung angenommen. Dass sie überhaupt entstehen konnte, ist der beständigen Gesprächsbereitschaft, liebevollen Unterstützung und unablässigen Ermunterung von Prof. Dr. Helmut Scheuer (Kassel) zu verdanken. Prof. Dr. Peter Seibert (Kassel) und Prof. Dr. Matthias Luserke-Jaqui (Darmstadt) danke ich für viele wichtige Hinweise und den konstruktiven Dialog vor allem in der Endphase des Projektes. Zu einer Drucklegung wäre es ohne die unermüdliche Hilfe von Patrick Pfannkuche sowie die kritischen Lektüren von Dr. Anne Fleig, Dr. Stefanie Kreuzer und Susanne Lämmer nicht gekommen. Ihre jetzige Erscheinungsform aber verdankt sie Dr. Heiko Hartmann und Angelika Hermann vom de Gruyter Verlag, die mit viel Geduld und freundlicher Unterstützung die Drucklegung betreut haben. Hannover, im Juni 2006
Birgit Nübel
Inhalt I.
Vorbemerkungen oder literaturwissenschaftliche Erkenntnisskizze ....................... 1
II.
Forschungsstand und Perspektiven .............................................. 13 1. Der Essay – eine Gattung ohne Eigenschaften? ........................ 13 2. Robert Musil – der Autor als Vertextungsprinzip mit Eigenschaften? ................................................................................. 29
III.
Analysekriterien oder die Konstruktion des Gegenstandes .................................. 41 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Intertextualität oder das große Text-Fressen .............................. 41 Metatextualität oder der Essay als (Selbst-)Kritik der Kritik .... 46 Dialogizität oder der Essay als polyphoner Text ....................... 52 Gedankenexperiment oder perspektivische Variation .............. 58 Selbstreflexivität und (ironische) Selbstrelativierung ................. 64 Dynamische Konfiguration und Entzeitlichung ........................ 69 Essayistische (Subjekt-)Figuration und Fiktionsstatus .............. 77
IV.
Georg Simmel oder Essayismus als Kokettieren mit den Dingen ................... 86
V.
Georg Lukács oder Essayismus als Form des modernen Intellektualismus .......................................................... 100 1. Das „lebendige Leben“ und der sentimentale Essay ............... 108 2. Das ‚problematische Individuum‘ und sein essayistischer Text .................................................................................................. 115 3. Ironie als Form der essayistischen Selbstreflexion .................. 125 4. Robert Musil und Georg Lukács oder der Essay als „relative Totale“ ............................................................................ 130
X
VI.
Inhalt
Robert Musil oder Essayismus als andere Vernunft ........................................ 146 1. „Essayistisches Denken“ als Fortsetzung der Wissenschaft mit anderen Mitteln ....................................................................... 146 a) Form und Inhalt [um 1910] oder der Essayist als Wissenschaftler auf senti-mentalem Gebiet ........................ 148 b) Über den Essay [1911/12?] oder die „Umbildung“ des Saulus zum Paulus ................................................................... 152 c) Essaybücher (1913) oder Essayismus als ‚lebendes Denken‘ ..................................................................................... 156 d) Das Geistliche, der Modernismus und die Metaphysik (1912) oder die ‚Romantik des Irrationalen‘ und die essayistische „Entzauberung der Welt“ ............................... 159 e) Der mathematische Mensch (1913) als Paradigma moderner Existenz .................................................................. 165 f) Analyse und Synthese (1913) oder der Dichter als der mathematische Mensch auf sentimentalem Gebiet ........... 168 g) Skizze der Erkenntnis des Dichters (1918) – eine erkenntnistheoretische Unschärferelation ........................... 170 2. Über Robert Musil’s Bücher (1913) oder Reflexion und Narration ........................................................................................ 182 3. Das essayistische Ich oder der „sachliche Zusammenhang der Gefühle und Gedanken“ ....................................................... 196 a) Essayistische Textfigurationen oder das essayistische Ich als Parlograph des Autors ............................................... 196 b) „Dieses Ich bin nicht ich“ oder das essayistische Ich als diskursive Inszenierung des Autors ................................ 202
VII. Essayismus als Kritik des Kunstwerks oder „immer gleichzeitig im Erlebnis und in der Reflexion“ 217 1. Wege zur Kunstbetrachtung (1921) oder Kritik als ,lebendige Ordnung‘ ..................................................................... 220 2. Der „Untergang“ des Theaters (1924) oder die Voraussetzungslosigkeit zeitgenössischer Theaterkritik ......... 225 3. Ansätze zu neuer Ästhetik. Bemerkungen über eine Dramaturgie des Films (1925) oder Béla Balázs als Paradigma der Kunstkritik ...................................................................................... 229 4. Bücher und Literatur (1926) oder Kritik als Funktion von Selbstreflexivität – Welt-Anschauung und Ideologie-Kritik .. 250 5. Die Alfred Kerr-Essays (1927/28) oder die Hebamme als „Anthropoetaphage“ mit erzieherischer Vernunft .................. 255
Inhalt
XI
VIII. Essayismus als Intertext – Robert Musil und Franz Blei ........................................................ 274 1. „mit Puderquaste und Weihwedel“ – Franz Blei als Prototyp perspektivischer Polyvalenz ........................................ 279 2. Der Prinz und sein Hypertext – Hippolyth als RokokoGalant oder moderner Sentimentaler? ....................................... 292 3. Vom Losen Vogel (1912/13) auf den Hund gekommen: Vereinigungen (1911) ....................................................................... 299 4. Kriegsgeschichten, Liebesgeschichten und andere Wertgefühle: Summa (1917/18) ................................................... 305 5. Franz Blei (1918) oder was ist ein Essayist? ............................... 314 6. Dialogizität und Textassimilation: Das große Bestiarium der Literatur (1924) ............................................................................... 321 7. Essayistisch leben oder Leben als Essay – Bleis Erzählung eines Lebens (1930) und Musils Der Mann ohne Eigenschaften (1930) ............................................................................................... 344 8. „ad majorem Geburtstagskindli gloriam“ – Musils BleiEssays: Franz Blei – 60 Jahre (1931) und Literat und Literatur. Randbemerkungen dazu (1931) ........................................................ 354 9. Der Dichter und sein Kritiker oder das Ende einer Freundschaft: die „Blei-Affaire“ ................................................. 377
IX.
Methodologische Zwischenbemerkung .................................... 389
X.
Essayismus als Metatext – Fremd- und Selbstkommentare ................................................... 397 1. Der Schwärmerskandal (1929) oder Metakritik als Selbstapologie ................................................................................ 398 2. Der Fall Hauptmann und der Fall Brociner: satanische Perversion und „Leichenschändung“ ........................................ 400 3. „Gleichzeitigkeit bedeutet immer Abschreiben“ oder das Fremde im Eigenen ....................................................................... 404 4. „Der faktische Grundsatz der Literatur ist Wiederholung“ – „Mimetische Wirkungen“ und „gestaltendes Denken“ .......... 410 5. Das „typisch Nicht=neue“: Wildgans und Werfel oder der Dichter als Symptom ............................................................. 421 6. Robert Musil und Hermann Broch: der Plagiatvorwurf oder Essayismus als „absolute Verkitschung“ ................................... 430 a) Hermann Broch: Das Weltbild des Romans (1933) und Das Böse im Wertsystem der Kunst (1933) ................................. 433
XII
Inhalt
b) Brochs Der Schriftsteller Franz Blei (1921) und Bleis Kritische Prolegomena (1912) ...................................................... 453 c) Interferenzen: ‚weiße Mauer‘ und ‚schwarze Erde‘ ............ 461
XI.
Essayismus als „Gedankenexperiment“ – Gläser und Türen im Nachlaß zu Lebzeiten (1936) ................... 469 1. Triëdere (1926/36) – „Isolation“ oder die „glashelle Einsamkeit“ des Beobachters ...................................................... 475 2. Türen und Tore (1928/36) – „Variation“ oder wie kommt ein Hund durch einen festen Rahmen? ..................................... 488
XII. Schlussbemerkung ............................................................................ 496 XIII. Siglen .................................................................................................... 498 XIV. Verzeichnis der zitierten Literatur .............................................. 499 XV. Personenregister ............................................................................... 528
I. Vorbemerkungen oder literaturwissenschaftliche Erkenntnisskizze Wir sehen, daß in dem Maße, als, in der organischen Welt, die Reflexion dunkler und schwächer wird, die Grazie darin immer strahlender und herrschender hervortritt. – Doch so, wie sich der Durchschnitt zweier Linien, auf der einen Seite eines Punkts, nach dem Durchgang durch das Unendliche, plötzlich wieder auf der andern Seite einfindet, oder das Bild des Hohlspiegels, nachdem es sich in das Unendliche entfernt hat, plötzlich wieder dicht vor uns tritt: so findet sich auch, wenn die Erkenntnis gleichsam durch ein Unendliches gegangen ist, die Grazie wieder ein […].1 (Heinrich von Kleist) Kritik in diesem Sinn ist nichts über der Dichtung, sondern etwas mit ihr Verwobenes.2 (Robert Musil)
Gegenstand der vorliegenden Studie zum Essayismus als Selbstreflexion der Moderne ist nicht der moderne essayistische Roman, sondern ‚Essayismus‘ selbst, allerdings weniger als Methode der Erkenntnis, sondern vielmehr als Methode der Darstellung. Essayismus wird hier verstanden als einzeltext-, gattungs- wie diskursüberschreitendes Vertextungsprinzip, welches die Verfahren der interdiskursiven Traversion selbstreflexiv kommentiert. Essayismus ist kein Textmerkmal, das sich auf der Grundlage von inhaltlichen oder formalen Kriterien festschreiben ließe. Essayismus ist ein Modus (selbst-)kritischer Reflexion, der in der Darstellung/Vertextung seine eigenen Voraussetzungen, Verfahren und Grenzen thematisiert. Dabei schließen sich theoretischer Anspruch wie Abstraktion, beispielsweise einer Erkenntniskritik bzw. Epistemologie des Geschmacksurteils (Ursprung des Trauerspiels),3 und sinnliche Konkretion („Ursprung des Schwei_____________ 1 2 3
H. v. Kleist: Über das Marionettentheater (1810). In: ders.: Sämtliche Werke und Briefe. Hrsg. v. H. Sembdner. 8. Aufl. München 1985. Bd. 2. S. 338–345, hier S. 345. R. Musil: Bücher und Literatur [I]. In: Die Literarische Welt, 15., 22., 29. Oktober 1926 (GW II, 1160-1170, hier 1169). Vgl. W. Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels (1925). Hrsg. v. R. Tiedemann. Frankfurt a. M. 1978.
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I. Vorbemerkungen oder literaturwissenschaftliche Erkenntnisskizze
nebratens“)4 nicht aus. Ausgehend von der Denkfigur des Herrn C… in Kleists Essay Über das Marionettentheater (1810), nach welcher sich die Grazie wieder einstellt, nachdem die Erkenntnis „durch ein Unendliches“ an Reflexion gegangen ist,5 entfaltet sich das sinnliche Moment des Essays erst im Durchgang durch die Reflexion. Das Denken wird hier nicht nur gedacht, sondern zugleich auch fühlbar, sinnlich konkret gemacht. Kennzeichnend hierfür ist eine Denkbewegung bzw. Vertextungsstrategie, die zwar mit kulturellen Leitdifferenzen (‚Natur‘ – ‚Kultur‘, ‚Körper‘ – ‚Geist‘, ‚Weiblich‘ – ‚Männlich‘ etc.) arbeitet, aber weder bei bloßen Gegenüberstellungen noch bei Synthetisierungsversuchen stehen bleibt. Vielmehr wird im Hindurchgehen durch die dichotomischen Konstruktionen, in deren metaphorischer wie begrifflicher Überkreuzung, eine neue ‚Einheit‘ sichtbar, sei es nun eine metaphysisch oder eine funktional begründete, sei es die zwischen göttlicher Transzendenz und mechanischer Gliederpuppe, Grazie und Reflexion oder Sinnlichkeit und Intellekt. Essayismus als Metakritik der Moderne ist nichts jenseits bzw. über dieser Stehendes, sondern etwas in deren Aporien, Interferenzen und Paradoxien Verwobenes. Als Dazwischenliegendes, als Zwischen-denDiskursen-Seiendes ist sie weder das Mediokre einer populärwissenschaftlichen „Wissenschaft in Pantoffeln“6 noch das Mittlere im Sinne eines Vermittelnden. Sie steht zwischen (nicht über) den verschiedenen Diskursfeldern (Alltag, Kunst, Wissenschaft) sowie zwischen den einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen (Naturwissenschaft, Philosophie etc.). Dabei übt sie im Zeitalter von Kontingenz und perspektivischem Relationismus ihr Ordnungs- und Richteramt nicht von einem quasi-archimedischen Punkt aus, sondern aus der Position einer ebenso teilnehmenden wie flanierendtraversierenden Beobachtung. Das heißt, sie ist weder vollkommen zwischen den Dingen des Lebens noch versucht sie, wissenschaftlich von diesen zu abstrahieren. Ihre Leistung ist nicht die der Synthese von Leben und Wissenschaft, Sinnlichkeit und Rationalität, Sinnlichkeit und Reflexion im Sinne einer ‚Aufhebung‘, sondern im Sinne eines ‚In-der-SchwebeLassens‘, einer ‚Durchstreichung‘ des Identitätsdenkens im Modus Potentialis eines ‚Es könnte auch anders sein‘. Zu Beginn der frühen Neuzeit geht die Entdeckung der Zentralperspektive mit einer narrativen, diskursiven und figurativen Darstellung der menschlichen Selbstbeobachtung einher. Bereits an der Epochenschwelle _____________ 4 5 6
Vgl. M. Hamburger: Essay über den Essay. In: Akzente 12 (1965). S. 290–293, hier S. 291. H. v. Kleist: Über das Marionettentheater (1810). S. 345. R. Musil: Literat und Literatur. Randbemerkungen dazu. In: Die Neue Rundschau, September 1931 (GW II, 1223).
I. Vorbemerkungen oder literaturwissenschaftliche Erkenntnisskizze
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um 1800 werden Roman und Essay im Kontext der sich konstituierenden wissenschaftlichen Disziplinen Geschichtsphilosophie, Anthropologie und Ästhetik zum Medium menschlicher Selbstbeobachtung und -beschreibung. Die inhaltliche Thematisierung des Verhältnisses von Wirklichkeit und Möglichkeit7 verbindet sich formal mit einer narrativen Relationierung der Erzähler- und Protagonisten-Perspektive. Bei den Frühromantikern schließlich kommt es zu einer programmatischen Entgrenzung von wissenschaftlich-philosophischem und ästhetischem Diskurs. Um 1900 geht die Auflösung oder Dezentrierung der Wahrnehmungs- und Darstellungsperspektiven in der Literatur, die als ‚die Moderne‘ in engerem Sinn bezeichnet wird,8 einher mit der Konzeptionalisierung eines Beobachters zweiter Ordnung, das heißt eines Beobachters, der sich wiederum als Beobachter selbst beobachtet.9 Lässt sich ‚Kultur‘ aus konstruktivistischer Perspektive als Programm der Selbstbeschreibung moderner Gesellschaften, als Metadiskurs des Beobachtens von Beobachtungen, des Beschreibens von Beschreibungen kennzeichnen, so ist ‚Kritik‘, sei es innerhalb der philosophischen Wissenschaft, innerhalb journalistischer Publikationskontexte oder innerhalb der Gattung Essay, diejenige literarische Form, an der sich die jeweiligen kulturellen Selbstthematisierungen und -reflexionen ablesen lassen. Essayismus als poetologische Selbstreflexion der modernen Literatur – so die heuristische Ausgangsthese – verhält sich zur epischen Funktion wie ein Beobachter zweiter Ordnung. Essayismus als Kritik ist gleichermaßen Kritik der Wissenschaft wie des Lebens und der Literatur: Kulturkritik. Die Ausdifferenzierung der gesellschaftlichen Lebens- und Wertsphären und das damit einhergehende ‚Unbehagen‘, welches die ‚Krise‘ zur „strukturellen Signatur der Neuzeit“10 und zum „zeitlich elastischen Oberbegriff der Moderne“11 werden lässt, bildet als Literatur- und Kultur- bzw. Lebenskritik den kleinsten gemein_____________ 7
Vgl. H. Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans. In: Nachahmung und Illusion. Hrsg. v. H. R. Jauß. München 1964. S. 9–28. 8 Vgl. hierzu S. Vietta: Der Begriff der Moderne. In: ders.: Die literarische Moderne. Eine problemgeschichtliche Darstellung der deutschsprachigen Literatur von Hölderlin bis Thomas Bernhard. Stuttgart 1992. S. 17–38, hier S. 33ff. 9 Vgl. N. Luhmann: Beobachtung. In: ders.: Die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1990. S. 68–122 und ders.: Beobachtungen der Moderne. Opladen 1992; H. U. Gumbrecht: Epistemologie/Fragmente (1991). S. 841f. sowie ders.: Kaskaden der Modernisierung. In: Mehrdeutigkeiten der Moderne. Hrsg. v. J. Weiß. Kassel 1998. S. 17–43, hier S. 23ff. 10 R. Koselleck: Art. ‚Krise‘. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hrsg. v. O. Brunner/W. Conze/R. K. Stuttgart 1982. Bd. 3. S. 617–651, hier S. 627. 11 Ebd. S. 631.
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I. Vorbemerkungen oder literaturwissenschaftliche Erkenntnisskizze
samen Nenner der thematischen Vielfalt des essayistischen Materials. Zugleich wird der Essay mit dem ausgehenden 18. Jahrhundert zum literarischen Paradigma der Verschränkung ästhetischer und wissenschaftlicher Erkenntnisformen. Die Problematisierung des Verhältnisses von Wirklichkeit und Möglichkeit, Subjektivität und Objektivität, Intellekt und Phantasie, Einzelnem und Allgemeinem, Konkretem und Abstraktem, Bild und Begriff, naturwissenschaftlich-technischen und dichterischen Erkenntnisformen, ‚Ratioïdem‘ und ‚Nicht-Ratioïdem‘12 liefert zugleich die zentralen Aspekte einer Soziologie und Poetologie der Moderne. In Georg Simmels philosophischem Hauptwerk Philosophie des Geldes (1900) wird die spezifische ‚Charakterlosigkeit‘, das heißt der Funktionswert des Geldes gegenüber der Annahme eines Substanz- bzw. Eigenwertes, zum entscheidenden Analysekriterium der Moderne. Seine Essays über das Großstadtleben, über die Tragödie der modernen Kultur und ihre (rettenden) ‚weiblich‘-synthetisierenden Momente, verbinden sich im Essay über Die Koketterie (1911) mit einer poetologischen Selbstreflexion, welche zentrale Elemente der Metaessays von Georg Lukács, Max Bense und Theodor W. Adorno vorwegnimmt. Als Selbstreflexionen der Gattung umreißen die Essays über den Essay eine Konzeption der Moderne, welche mit der Methode der philosophischen Reflexion wie deren Vertextungspraxis korreliert. Das heißt, das Verschwinden einer zentralen Sinnbzw. Deutungsperspektive sowie der Verlust von ‚Totalität‘ im Bereich der Lebenswelt (Verdinglichung), Ästhetik (Auflösung der Form) und Wissenschaft (Relativität) sowie die Selbstreflexivität der eigenen Denk- und Schreibmethode werden als das Moderne bzw. die Moderne hypostasiert. Kontingenzerfahrung sowie Intellektualismus als senti-mentales13 „Reflektierenmüssen“ (Georg Lukács) auf eine verloren geglaubte Einheit14 und Essayismus als selbstreflexives Vertextungsverfahren stehen in einer semantischen und strukturellen Konfiguration miteinander. Das Konzept von Essayismus als poetologische Selbstreflexion der Moderne geht weder von einem einheitlichen Kulturbegriff noch von _____________ 12 Vgl. R. Musil: Skizze der Erkenntnis des Dichters. In: Summa 1918 (GW II, 10251030, hier 1026ff. 13 Vgl. R. Musil: Tagebücher. Heft 11 (1905–1908?) (TB I, 139) sowie ders.: Analyse und Synthese. In: Revolution, 15. November 1913 (GW II, 1008-1009, hier 1008.), ders.: [Über den Essay] [1911/12?] (GW II, 1336), ders.: Brief an Franz Blei 1917/18 (BR I, 133), Brief an A. Frisé, Januar 1931 (BR I, 495) und ders.: Der Mann ohne Eigenschaften (Nachlass) (MoE II, 1901) etc. 14 G. Lukács: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik (1916/20). Darmstadt/Neuwied 1971. S. 74.
I. Vorbemerkungen oder literaturwissenschaftliche Erkenntnisskizze
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einer epochalen Einheit der Moderne aus,15 sondern von einer Pluralität der gesellschaftlichen Diskurse,16 die ihren literarischen Ausdruck in der Mischung von Reflexion und Narration, der Überschreitung bestehender Gattungsformen und der Relativierung erzähltechnischer Perspektiven findet. Essayismus als selbstreflexives Struktur- und Funktionselement moderner Literatur wird verstanden als Medium der Darstellung, Verschränkung und Reflexion ästhetischer und wissenschaftlicher Erkenntnisformen. Essayismus als Methode wie Methodologie der Kritik kann aus soziologischer bzw. kulturtheoretischer Perspektive als Ausdruck modernen Krisenbewusstseins verstanden werden. Die generelle These einer Korrelation zwischen gattungsgeschichtlicher Entwicklung und gesellschaftlichen Krisen- bzw. Übergangszeiten ist dahingehend zu präzisieren, dass der Essay nicht (nur) als Krisen-Symptom zu verstehen ist, sondern vielmehr als Medium kultureller Selbstreflexion. Sozialgeschichtlich ist die Genese und Institutionalisierung der literarischen Formen Essay und Roman als Ausdruck bürgerlichen Selbstverständnisses, Selbstbewusstseins und bürgerlicher Weltvergewisserung lesbar. Das Mittlere, die soziale Mittellage, wird sich hier selbst zum Gegenstand und Programm. Innerhalb des europäischen Rationalisierungsprozesses steht der Essay in der Tradition Michel de Montaignes zugleich auch für ein ‚wildes‘ bzw. unsystematisches Denken, in welchem sich Subjektivität und Induktivität als Hinwendung zum Lebensweltlichen, Alltäglichen, Ephemeren verbinden. Der Essay ist Medium der Lebens- wie Wissens(chafts)kritik zugleich. _____________ 15 Vgl. H. U. Gumbrecht: Art. ‚Modern, Modernität, Moderne‘. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hrsg. v. O. Brunner/W. Conze/R. Koselleck. Bd. 4. Stuttgart 1978. S. 93–132 und ders.: Kaskaden der Modernisierung (1998). S. 17–43; J. Schönert: Gesellschaftliche Modernisierung und Literatur der Moderne. In: Zur Terminologie der Literaturwissenschaft. Akten des IX. Germanistischen Symposions der DFG. Hrsg. v. C. Wagenknecht. Würzburg 1986. S. 393–414; S. Vietta: Der Begriff der Moderne (1992). S. 17–38; K. Lichtblau: Die Selbstunterscheidungen der Moderne. In: Mehrdeutigkeiten der Moderne. Hrsg. v. J. Weiß. Kassel 1998. S. 43–89; G. v. Graevenitz (Hrsg.): Konzepte der Moderne. Stuttgart/Weimar 1999 u. a. 16 ‚Diskurs‘ i. w. S. wird hier zum einen verstanden als satz- wie einzeltextübergreifende schriftliche, medial vermittelte Äußerung (im Unterschied zum mündlichen Gespräch) zur Kommunikation von Wissen, die einerseits sozio-kulturell, historisch wie gesellschaftlich bedingt ist, jedoch als Faktum/Generativ bestehender institutioneller Rahmenbedingungen und Regeln situativ relativ unabhängig ist. Zum anderen wird ‚Diskurs‘ i. e. S. als Kategorie der Textanalyse verwendet, welche die Vertextungsverfahren auf der Ebene des ‚Diskurses‘ als ‚Text der Geschichte‘ bzw. Ebene des Erzählens im Unterschied zur ‚Geschichte‘ bezeichnet; vgl. K. Stierle: Geschehen, Geschichte, Text der Geschichte. In: ders.: Text als Handlung. Perspektiven einer systematischen Literaturwissenschaft. München 1975. S. 49–56.
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I. Vorbemerkungen oder literaturwissenschaftliche Erkenntnisskizze
In der Aufklärung wird der Essay mit Gotthold Ephraim Lessing und Johann Gottfried Herder zum Ort der Funktionsbestimmung der Kunst im Allgemeinen und des Literarischen im Besonderen. Parallel hierzu vollzieht sich die Entwicklung des deutschsprachigen Romans zwischen den Diskursen Literatur und Philosophie (Christoph Martin Wieland) bzw. Literatur und Psychologie/Anthropologie (Karl Philipp Moritz) mit den essayistischen Elementen des Vorwortes, den Noten des fiktiven Herausgebers, der Erzähler-Digression und dem theoretischen Gespräch der Romanfiguren über Geschichtsphilosophie, Anthropologie, Gattungstheorie und allgemeine Fragen der Ästhetik. Um 1800 schließlich gehen im klassischen und romantischen Literaturprogramm mit Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96) und Friedrich Schlegels Lucinde (1799) Roman und Essay eine untrennbare Verbindung ein. Es lassen sich vom frühromantischen Konzept der Universalpoesie bis hin zur Auflösung des Episch-Narrativen durch das Essayistisch-Reflexive in Thomas Manns Zauberberg (1924), Hermann Brochs Schlafwandler (1931/32) und Robert Musils Mann ohne Eigenschaften (1930/32) im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts Verbindungslinien ziehen.17 Formexperiment und Formreflexion, immanente Romanpoetologie und zunehmende Diskursivierung bzw. ‚Essayfizierung‘ der modernen Romanform18 gehen eine Allianz ein, die sich weniger durch politisch-poetologischen Avantgardismus als durch einen hohen Grad an Selbstreflexivität und den Anspruch auf literarisch-diskursive Vermittlung auszeichnet. So lässt sich an Musils essayistischem Romanfragment Der Mann ohne Eigenschaften eine Poetologie des modernen Romans herausarbeiten, die Essayismus als konstitutives Element auf mehreren Ebenen ausmacht: Essayismus ist hier gleichermaßen a) utopischer Entwurf des Protagonisten Ulrich, b) Figurenreflexion bzw. -diskurs, c) Erzählerkommentar zur Figuren- bzw. Handlungsebene, d) narratologisches Konzept, e) Romantheorie und f) Metakritik moderner Poetologie. Mit Ausnahme der frühen und grundlegenden Untersuchung von Marie-Louise Roth19 gibt es bislang jedoch keine Monographie zu den Essays Robert Musils, obgleich dessen Bedeutung als Essayist sowie die Relevanz des Essayismus in Der Mann _____________ 17 Vgl. G. Haas: Studien zur Form des Essays und zu seinen Vorformen im Roman. Tübingen 1966 und ders.: Essay. Stuttgart 1969. 18 Vgl. R. Exner: Roman und Essay bei Thomas Mann. Probleme und Beispiele. In: Schweizer Monatshefte 44 (1964/65). S. 243–258, hier S. 244; in der Textvorlage kursiv und G. Haas: Essay (1969). S. 72 sowie D. Goltschnigg: Art. ‚Essay‘. In: Moderne Literatur in Grundbegriffen. Hrsg. v. D. Borchmeyer/V. Žmegaÿ. Tübingen 1994. S. 118–123. 19 M.-L. Roth: Robert Musil. Ethik und Ästhetik. Zum theoretischen Werk des Dichters. München 1972.
I. Vorbemerkungen oder literaturwissenschaftliche Erkenntnisskizze
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ohne Eigenschaften (1930/32) innerhalb der modernen Romantheorie unbestritten ist. In der vorliegenden Studie liegt der Untersuchungsschwerpunkt jedoch nicht auf dem von der Forschung viel beachteten ‚Haupt‘-Werk, sondern auf den essayistischen ‚Neben‘-Texten.20 Musil hat im Zeitraum von 1911 bis 1931 neben Theater- und Literaturkritiken, Rezensionen und kleineren journalistischen Beiträgen ca. 45 Essays und Reden veröffentlicht, die sich mit den Themenbereichen Politik, Kulturkritik, Literatur, Ästhetik, dem Verhältnis von Wissenschaft und Dichtung, einzelnen Dichtern, Essayisten und Kritikern sowie dem sich wandelnden Geschlechterverhältnis auseinandersetzen. Darüber hinaus liegen zahlreiche Essayfragmente vor, bei denen sich ein thematischer Schwerpunkt im Bereich von Dichtungstheorie und essayistischer Selbstreflexion ausmachen lässt. Eine systematische Theorie hat Musil weder zur Gattung Essay noch zum Essayismus als Vertextungsprinzip vorgelegt. Die Untersuchung zum Essayismus als Selbstreflexion der Moderne konzentriert sich auf diejenigen Texte Musils, welche in intra- wie intertextueller Hinsicht als Metatexte zur Gattung Essay im engeren Sinn wie zum Essayismus als Vertextungsstruktur im weiteren Sinn gelesen werden können. Textgrundlage sind dabei in erster Linie die zu Lebzeiten veröffentlichten Essays und Essayfragmente sowie eine Auswahl von Kritiken, welche die Gattung Essay oder Essayismus als Vertextungszusammenhang thematisieren. Somit wird das Textkonvolut Der Mann ohne Eigenschaften als essayistischer Roman bzw. Essayroman, welcher den Essayismus als Lebensform wie -philosophie auf der Ebene der Geschichte, des Erzählten (Handlungs- bzw. Figurenebene) ebenso darstellt wie er ihn auf der Ebene des Diskurses, des Erzählens kritisch reflektiert, zugunsten der Prä-, Para-, Parallel- und Metatexte – den Essays – vom Zentrum der Fragestellung an den Rand gerückt. Einem Verständnis von Essayismus als Metatext bzw. einzeltext- wie gattungsübergreifendes Vertextungsprinzip folgend, wird dabei nicht immer streng zwischen den Rubriken ‚Prosa‘21 einerseits und _____________ 20 Dabei geht es weniger um die Entstehungsgeschichte der Musil’schen Essays; der Musil’sche Nachlass steht der Forschung als CD-Rom-Edition R. Musil: Der literarische Nachlaß. Hrsg. v. F. Aspektsberger/K. Eibl/A. Frisé. Reinbek bei Hamburg 1992) zur Verfügung. Gegenstand dieser Studie sind vielmehr in erster Linie die autorisierten, zu Lebzeiten des Autors publizierten und in Buchform edierten Texte unter Einbeziehung der unveröffentlichten Textvarianten und Nachlassdokumente, Tagebuchnotizen und Brief(entwürf)e, ohne dass das Verhältnis zwischen diesen Textformen jedoch selbst einer historisch-kritischen Untersuchung unterworfen wird. 21 Hierunter fallen in der von Adolf Frisé herausgegebenen Werkausgabe auch die Briefe Susannens (1925), der Nachlaß zu Lebzeiten (1936) wie die unter ‚Glossen‘ eingeordneten Texte.
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den ‚Essays‘ und ‚Kritiken‘ andererseits unterschieden. Vielmehr wird von einer den Texten – vom ersten publizierten Essay Das Unanständige und Kranke in der Kunst (1911) bis zu Der Mann ohne Eigenschaften (1930/32) – gemeinsamen essayistischen Struktur ausgegangen. Diese ließe sich auf einer Skala verorten, welche das jeweilige Mischungs- bzw. Reflexionsverhältnis von Narration und Reflexion, Emotion und Ratio, Bild und Begriff verzeichnet. Am frühen Essay Über Robert Musil’s Bücher (1913) lässt sich aufzeigen, wie Musil sein Literaturprogramm nicht nur reflektiert, sondern in Form eines figurativ inszenierten dialogischen Gedankensspiels ebenso diskutiert wie literarisch umsetzt. Bei der Darstellung von Essayismus als Vertextungsprinzip, Poetologie und Metakritik der Moderne geht es zunächst einmal um den Nachweis von intertextuellen Relationen zwischen den essayistischen (Prä-)Texten verschiedener, durch Zeitgenossenschaft, Lebens- und Publikationskontext verbundener Autoren und den Metatexten Musils, aber auch um die Herausarbeitung von intra-, inter- und metatextuellen Bezügen in den zu untersuchenden ,Musil-Texten‘ selbst. Die vorliegende Studie arbeitet zum einen die in den einzelnen Text(fragmenten) enthaltenen Selbstreflexionen der essayistischen Textstruktur heraus. Zum anderen werden anhand einer exemplarischen Auswahl der Essays und Essayfragmente Robert Musils Analysekriterien zur Bestimmung des Essayistischen entwickelt. Auf der Grundlage des aus der bisherigen theoretischen Diskussion weitgehend ausgeklammerten Konzepts von Metatextualität22 wird das Verhältnis von Literatur (Narration) und Kritik (Reflexion) als essayistische Poetologie der Moderne bestimmt und an der untersuchten Textbasis entwickelt und überprüft. Die Methode der vorliegenden Studie ist weder im strengen Sinne hermeneutisch, da sie Autor- und Textgrenzen auflöst, noch diskursanalytisch, da sie die Frage nach der Poetologie ins Zentrum stellt. Sie verfährt weder ausschließlich analysierend noch ‚nur‘ interpretierend. Sie ist interdisziplinär, insofern inhaltliche und methodologische Aspekte der sich um 1900 konstituierenden Wissenschaft der Soziologie (in Bezug auf das Verhältnis von Natur- und Geisteswissenschaft bzw. Kunst und Wissenschaft, wissenschaftliche vs. literarische Erkenntnis- und Darstellungsmethoden etc.) zum Ausgangs- und Vergleichspunkt für die untersuchten literari_____________ 22 Vgl. die Tagung des Gießener Graduiertenzentrums Kulturwissenschaften (GGK) und des Internationalen Promotionsprogramms „Literatur und Kulturwissenschaft“ (IPP): „Metaisierung in der Literatur und anderen Medien. Gattungstheorie, Poetik und Funktionen“ am 14./15. Mai 2005 an der Universität Gießen. Der Tagungsband erscheint 2006 bei de Gruyter.
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schen Texte werden. Verfahren wird dabei weder (text)immanent, noch (text)transzendierend, sondern (text)traversierend. Der Untersuchungszeitraum erstreckt sich vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis zum Ende der dreißiger Jahre und deckt sich auf den ersten Blick weitgehend mit den Publikationsdaten Robert Musils, wobei zwei Publikationen Franz Bleis’ – Prinz Hypolit (1901) und Zeitgenössische Bildnisse (1940) – die genauere Zäsur setzen. Der literatur- bzw. texthistorische Längsschnitt ist somit auf ungefähr vierzig Jahre begrenzt, eine Geschichte der Gattung Essay ist allerdings in der Beschränkung auf diesen Zeitraum und die genannten Autoren nicht zu erwarten. Ein Anspruch auf epochale Vollständigkeit wird ebenso wenig erhoben wie ein sicherlich wünschenswerter Überblick zum ungarischen, englischen, spanischen oder französischen Sprachraum.23 Hier sind umfangreiche Einzeluntersuchungen und ergänzende Überblicksdarstellungen gefragt. Der Schwerpunkt liegt vielmehr darauf, an einer Auswahl von Autoren, die für den Befund einer ‚zweiten‘, selbstreflexiven Moderne24 exemplarisch sind, die intra-, interund metatextuellen wie interauktorialen25 Querbindungen um so deutlicher hervortreten zu lassen. So wird deutlich, wie der Essayismus als Modus (selbst-)kritischer Reflexion seine eigenen Voraussetzungen, Vertextungsverfahren und Grenzen thematisiert. Diese textanalytische Präferenz, bei der aus dem verzweigten Vertextungszusammenhang (im Sinne eines Produktions- wie Lebenszusammenhangs) zunächst einzelne Fäden und ihre Verstrickungen herausgezogen werden, geht zunächst mit einer methodisch notwendigen Reduktion der sozialgeschichtlichen und komparatistischen Kontextuierungen einher. So lässt die Beschränkung auf eine poetologisch relevante Auswahl der Musil’schen Essays und ihre vergleichend-traversierende Analyse mit Texten von Georg Simmel, Georg Lukács, Béla Balázs, Franz Blei und Hermann Broch andere für das Untersuchungsthema relevante Autoren unberück_____________ 23 Würde nicht der relativ sprachunkundige Musil, sondern das Sprachgenie Franz Blei im Mittelpunkt dieser Untersuchung stehen, so wäre im Hinblick auf dessen Vermittlungs-, Übersetzungs- und Transferfunktionen eine komparatistische Vorgehensweise eine unerlässliche Voraussetzung zur Untersuchung des Essayismus im Kontext der europäischen Moderne. 24 Vgl. E. Kiss: Franz Blei als Repräsentant der europäischen Moderne. In: InternetZeitschrift für Kulturwissenschaften Nr. 4, Oktober 1999. 25 I. Schaberts Begriff der ‚Interauktorialität‘ erscheint mir für den hier gemeinten Sachverhalt aufgrund seiner ethischen Implikationen nicht geeignet; vgl. dies.: Interauktorialität. In: Deutsche Viertelsjahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 57 (1983). S. 679–701). ‚Interauktoriell‘ bezeichnet hier vielmehr das Moment persönlicher Begegnung wie lebensweltlicher Kontextuierung in Bezug auf den miteinander verflochtenen Vertextungsprozess zweier Autoren, während ‚bitextuell‘ sich auf das Phänomen doppelter Autorschaft beschränkt.
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sichtigt. Die Fortsetzung der vorliegenden Untersuchung selbst wird allerdings die Befunde eines essayistischen Metatextes nicht um weitere Autoren bzw. Texte ergänzen, sondern vielmehr die Frage nach der poetologischen Selbstreflexion der Moderne auf eine erweiterte kulturwissenschaftliche Basis stellen und – wiederum ausgehend von den (Inter-) Texten Bleis und Musils – eine Sichtung des essayistischen Materials unter den Aspekten Natur/Kultur, Gender, Mode, Sport und Pornographie vornehmen. In der vorliegenden Studie wird die Geschichte einer (Männer-) Freundschaft zwischen Robert Musil und Franz Blei als essayistischer Vertextungszusammenhang konstruiert, in welchem das Prinzip der Dialogizität untrennbar mit dem Aspekt der Inter-Subjektivität26 verbunden ist. Ein Autor wird dem anderem zur textuellen wie figurativen Verkörperung des Essayistischen, indem der eine den anderen zum Paradigma des Essayismus in persona erklärt und an dessen Beispiel – gleichsam im „Doppelporträt“27 – eine Funktionsbestimmung moderner Literatur entwirft. Im Dienste der Sache wie der Vermarktung wird das wechselseitige ‚Textfressen‘ hier bis zur Auflösung der Grenzen zwischen Literatur und Kritik, bis zur Überschreitung der Textgrenzen, ja bis zur NichtApplizierbarkeit des jeweiligen Autornamens zu einem bestimmten Text im Sinne einer Bi-Textualiät28 bzw. eines kooperativen Text-Vampirismus getrieben. Die vergleichenden Textanalysen verstehen sich als Querschnitte weniger in expliziter oder gar exklusiver Bezugnahme auf die Foucault’sche Diskursanalyse29 als in bewusster Anlehnung an eine zeitgenössische bzw. objektsprachliche Selbstbeschreibung des essayistischen Vertextungsprinzips. In einem Nachruf auf seinen Lehrer kennzeichnet Siegfried Kracauer 1920 die essayistische Methode Simmels als methodische Unsystematik. Denn bei Simmel habe „das Unsystematische […] geradezu System“: „Es liegt daran, daß die Phänomene größtenteils in ihrer Eigenschaft als Komplexe von Verknüpfungen auftreten. Sie sind vielfach nicht mehr als bloße _____________ 26 Vgl. J. Kristeva: Bachtin, Das Wort, der Dialog und der Roman (1967/72). In: Zur Struktur des Romans. Hrsg. v. B. Hillebrand. Darmstadt 1978. S. 388–408, hier S. 395: „So bezeichnet der bachtinsche Dialogismus die Schreibweise zugleich als Subjektivität und als Kommunikativität, oder besser als ‚Intertextualität‘.“ 27 Vgl. B. Schaff/S. Schütting/A. Heitmann/S. Nieberle: Einleitung. In: Bi-Textualität. Inszenierungen des Paares. Ein Buch für Ina Schabert. Hrsg. v. A. Heitmann [u. a.]. Berlin 2001. S. 11–21, hier S. 19; der Terminus ‚Doppelporträt‘ geht auf Ludwig Harig (Rousseau: Der Roman vom Ursprung der Natur im Gehirn. München/Wien 1978. S. 18) zurück. 28 Ebd. 29 Vgl. M. Foucault: Archäologie des Wissens. 4. Aufl. Frankfurt a. M. 1990.
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Knoten- und Durchgangspunkte für die Struktur des Gesamtmannigfaltigen, aus dessen Geflecht sie herausgelöst sind“. Das Konzept eines Nebeneinanderliegens der Phänomene, einer Verflechtung der Momente auf der Textoberfläche, welche das einzelne Ornament, Bild, Zeichen und deren Relationen als kulturellen Bedeutungsträger liest, lässt eine chronologische Lesart (Längsschnitt) in den Hintergrund treten. Die Geschichte (Narration), die einen Anfang, eine Mitte und ein Ende hat, wird in der Reflexion (Diskurs) zum Endlosen, Fragmentarischen wie Unabschließbaren: „Dieses Wandern von Beziehung zu Beziehung, dieses Ausschwärmen in Ferne und Nähe, die Kreuz und Quer, es gewährt dem Geist, der ein Ganzes umgreifen möchte, keinen Halt, es verliert sich im Endlosen.“30 Im Abschnitt Kritik, so gesehen von Musils Essay Bücher und Literatur (1926) heißt es, wiederum in expliziter Entgegensetzung der Kategorien des Festen und Flüssigen sowie in impliziter Referenz auf Friedrich Schlegel,31 Kritik besitze „ein System […], welches zugleich wandelbar und fest ist.“32 Kritik entstehe „durch ein Kreuz und Quer, […] letzten Endes durch die kritisierten Bücher selbst“.33 Diese zwischen den Phänomenen und ihrer Vertextung „angesponnenen Fäden“,34 diese Verflechtungen zwischen den Texten sollen hier in der Querrichtung verfolgt und wieder aufgeschnitten werden. Das Erkenntnisinteresse besteht weder darin, eine textextern gewonnene Theorie des Essayismus zu eruieren, die quasi-deduktiv an den Gegenstand heranzutragen wäre, noch umgekehrt einen systematischen Theoriezusammenhang aus den einzelnen Textbeispielen herauszudestillieren. Angestrebt ist vielmehr etwas Mittleres: ein Wechselspiel zwischen Objekt- und Metaebene, Objekt- und Metasprache, theoretischem Erkenntnisinteresse und Textanalyse. Dabei wird nicht erwartet, dass die Metaphorisierungen ‚das große Textfressen‘, das ‚Prinzip Regenwurm‘, ‚Anthropoetaphagentum‘ und ‚Textpiraterie‘ in die literaturwissenschaftliche Begriffsgeschichte eingehen. Vielmehr werden diese vor-begrifflichen Konstruktionen dem objektsprachlichen Bereich entnommen und auf der Beschreibungsebene fortgeführt, um das ebenso gewaltsame wie auch lustbetonte Verfahren der Inkorporation eigener wie fremder Texte in _____________ 30 S. Kracauer: Georg Simmel. In: Logos IX (1920). H. 3. S. 307-338, hier S. 332. 31 R. Musil: Form und Inhalt] [um 1910] (GW II, 1302); Hervorhebung v. B. N. 32 Ders.: Bücher und Literatur (1926) (GW II, 1169); vgl. F. Schlegel: Fragmente. In: Athenaeum. Hrsg. v. B. Sorg. Reprint der Ausgaben Berlin 1798/99/1800. Dortmund 1989. I. Teil. S. 207: „Es ist gleich tödtlich für den Geist, ein System zu haben, und keins zu haben. Er wird sich also wohl entschließen müßen, beydes zu verbinden.“ 33 R. Musil: Bücher und Literatur (1926) (GW II, 1170). 34 S. Kracauer: Georg Simmel. In: Logos IX, 3 (1920). S. 307-338, hier S. 332.
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sinnlich-begrifflichen Synthetisierungsversuchen zu veranschaulichen. Dies leitet sich zum einen aus der gesuchten Textnähe ab, zum anderen aber auch aus der heuristischen Konstruktion des Essayistischen als Untersuchungsgebiet, in dem selbst viel zitiert wird. Essayismus als inter- und metatextuelles Verkettungs-, Referenz- und Reflexionsprinzip – so die These – ist etwas zwischen den Texten, konstituiert sich über Zitate, Techniken der Zitation. Es wird also auch in dieser Arbeit viel zitiert.35 Die untersuchten Texte werden dabei allerdings nicht als „Zitatenteich“36 genutzt, aus dem zum illustrativen Beleg der jeweiligen Argumentationszusammenhänge beliebig geschöpft bzw. gefischt werden kann, ohne den jeweiligen zeitlichen, textuellen und kontextuellen Bezug zu berücksichtigen. Dieser Anspruch mag die auf den ersten Blick etwas umständliche Zitierweise sowie die zahlreichen Textdatierungen erklären und entschuldigen. Da es vielfach um die Herausarbeitung markierter wie unmarkierter Textreferenzen bei zeitlich aufeinander folgenden, parallel oder auch gemeinsam verfassten Texten geht, erschien mir das in der Musil-Forschung übliche Zitierfahren nach dem von Adolf Frisé herausgegeben zweiten Teil der Gesammelten Werke (GW II) wie die Sigle MoE für Der Mann ohne Eigenschaften, unabhängig davon, ob es sich um einen zu Lebzeiten publizierten Romanabschnitt, um korrigierte Druckfahnen oder aber Nachlasstexte handelt, nicht differenziert genug, um die feinmaschigen Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Textvarianten herauszuarbeiten. Ebenso widerspricht einem Verständnis von Essayismus als Metatext im Sinne einer wechselseitigen kritischen Kommentierung und Fortschreibung von Texten eine strenge Scheidung zwischen einer sogenannten Primär- (als Gegenstandsbereich) und Sekundärliteratur (im Sinne von Forschungsliteratur), da diese einen Binarismus von Literatur und Wissenschaft voraussetzt, der vom essayistischen Vertextungsprinzip transgrediert wird.
_____________ 35 Vgl. M.-L. Roth: Robert Musil. Ethik und Ästhetik (1972). S. 5. 36 R. Musil: Literat und Literatur (1931) (GW II, 1206).
II. Forschungsstand und Perspektiven 1. Der Essay – eine Gattung ohne Eigenschaften? „Haben Sie schon je einen Hund gesehen?“ fragte er. „Das glauben Sie bloß! Sie haben immer nur etwas gesehen, das Ihnen mit mehr oder weniger Recht als ein Hund vorkam. Es hat nicht alle Hundeeigenschaften, und irgendetwas Persönliches hat es, das kein anderer Hund hat. […]“1 (Robert Musil) […] er mag alle diese Eigenschaften haben. Denn er hat sie doch nicht! […] Immer wird für ihn erst ein möglicher Zusammenhang entscheiden, wofür er eine Sache hält. Nichts ist für ihn fest. Alles ist verwandlungsfähig, Teil in einem Ganzen, in unzähligen Ganzen, die vermutlich zu einem Überganzen gehören, das er aber nicht im geringsten kennt. So ist jede seiner Antworten eine Teilantwort, jedes seiner Gefühle nur eine Ansicht, und es kommt ihm bei nichts darauf an, was es ist, sondern nur auf irgendein danebenlaufendes ‚wie es ist‘, irgendeine Zutat, kommt es ihm immer an.2 (Robert Musil) Es ist ohne praktische Bedeutung und macht keinen wesentlichen Unterschied, ob dieser Essay in der überlieferten Form der Novelle und des lyrischen Gedichts vorgetragen wird, oder ob man ihn gesprächsweise von Schauspielern vortragen läßt. 3 (Josef Nadler)
Beim Essay als Gegenstand der germanistischen Forschung4 scheint es sich um eine Gattung zu handeln, der alle möglichen Merkmale und Eigenschaften zugeschrieben werden, ohne dass zum einen der Merkmalska-
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Ders.: Der Mann ohne Eigenschaften. 1. Buch (1930) (MoE I, 572). So die Romanfigur Walter im 17. Kapitel: Wirkung eines Mannes ohne Eigenschaften auf einen Mann mit Eigenschaften. In: R. Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. 1. Buch (1930) zu Clarisse über Ulrich (MoE I, 65). J. Nadler: „Der Mann ohne Eigenschaften“ oder Der Essayist Robert Musil. In: Wort und Wahrheit 5 (1950). S. 688–697, hier S. 688. Die nachfolgende Forschungsübersicht ist problemorientiert und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit; vgl. zur Forschungslage auch: G. Stanitzek: Abweichung als Norm? Über Klassiker der Essayistik und Klassik im Essay. In: Klassik im Vergleich. Normativität und Historizität europäischer Klassiken. DFG-Symposion 1990. Hrsg. v. W. Voßkamp. Stuttgart/Weimar 1993. S. 594–616.
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II. Forschungsstand und Perspektiven
talog ganz abzuschließen wäre oder zum anderen auch nur eine dieser Eigenschaften ausreichte, um ihn als literarische Form hinreichend zu bestimmen und von anderen zu unterscheiden. Immerhin hat der Essay trotz aller Tendenzen einer vermeintlichen ‚Feuilletonisierung‘ (im Sinne von Geistlosigkeit)5 einerseits bzw. ‚Intellektualisierung‘ (im Sinne von Abstrahiertheit)6 andererseits nach wie vor Konjunktur, sei es nun in der Wochenendbeilage großer Zeitschriften7 oder aber als Untertitel zu entsprechenden Reihen oder Sammelbänden, die sich ihrem Publikum zwischen wissenschaftlichem und literarischem Anspruch präsentieren. Zur Jahrtausendwende wurde dieser Gattung, deren Anfänge sich im deutschen Sprachraum über die Frühromantiker bis zu Lessing und Herder zurückverfolgen lassen und der für die Zeit um 1900 eine ihrer Höhepunkte zugeschrieben wird,8 sogar eine besondere Aktualität zugesprochen.9 Etymologisch leitet sich das Wort ,Essay‘ (franz. ,essai‘, engl. ‚essay‘) aus dem nachklassischen ,exagium‘ her und bedeutet ,wägen‘, ,Gewicht‘, ,Gewichtmaß‘ sowie übertragen ,erwägen‘, ,überlegen‘. Die sinnlicherotische Komponente entstammt der Liebeskunst der Troubadoure: ‚asag‘, ‚assays‘ oder ‚essai‘ ist „die Probe, welche die Dame ihrem Verehrer auferlegt“.10 Im Französischen des 16. Jahrhunderts wird die Verbform ,essaier‘ verwendet für „,betasten‘, ,prüfen‘, ,schmecken‘, ,erfahren‘, ,in Versuchung führen‘, ,unternehmen‘, ,sich in Gefahr begeben‘, ,ein Risiko
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Vgl. H. Hesse: Das Glasperlenspiel. Versuch einer allgemeinverständlichen Einführung in seine Geschichte. In: ders.: Sämtliche Werke. Hrsg. v. V. Michels. Bd. 5: Das Glasperlenspiel (1943). Frankfurt a. M. 2001. S. 14–21. 6 Vgl. hierzu L. Rohner (Der deutsche Essay. Materialien zur Geschichte und Ästhetik einer literarischen Gattung. Neuwied/Berlin 1966. S. 128), der die Essayistik Adornos als Beispiel für die „Rückbildung des Essays zum Traktat, sinnlicher Sprache zu theoretisierender Prosa“ anführt; vgl. auch H. Schlaffer: Art. ‚Essay‘. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hrsg. v. K. Weimar. Bd. I. Berlin/New York 1997. S. 522–526, hier S. 524, der dem George-Kreis wie der Frankfurter Schule „die Lust an intellektueller Isolation, an extremen Positionen und wilden Paradoxien“ bescheinigt. 7 Vgl. M. Rutschky: Von der Illegitimität einer Form. Stets in großen Schwierigkeiten: der Essayist. In: Frankfurter Rundschau, 29. 4. 2000. S. 19. 8 I. Schweikle: Art. ‚Essay‘. In: Metzler Literatur Lexikon. Hrsg. v. G. Schweikle/I. S. 2. überarb. Aufl. Stuttgart 1990. S. 139f. 9 Vgl. C. Schärf: Geschichte des Essays. Von Montaigne bis Adorno. Göttingen 1999. S. 15. 10 Denis de Rougement: L’Amour et l’occident. Paris 1972. S. 277f.; zit. nach W. MüllerFunk: Erfahrung und Experiment. Studien zu Theorie und Geschichte des Essayismus. Berlin 1995. Anm. 748. S. 287.
1. Der Essay – eine Gattung ohne Eigenschaften?
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eingehen‘, ,wägen‘, ,abwägen‘, ,einen Anlauf nehmen‘“11 und das Substantiv ,essai‘ für ,Kostprobe‘, das ,Vorkosten von Speisen und Getränken‘, das kulinarische ‚Versucherle‘,12 ,Übung‘, ,Vorspiel‘, ,Probe‘, ,Versuch‘, ,Versuchung‘.13 Seit Michel de Montaignes Essais (1580–95),14 in welchen das Wort ‚essai‘ nicht in gattungstypologischem, sondern denkmethodischem Sinn, als Prinzip der Erkenntnissuche wie des Schreibprozesses Anwendung findet, wird das Substantiv auch für ‚Abhandlung‘ gebraucht. Im englischen Sprachraum hat sich gegenüber den Anfängen von Francis Bacons Essays (1597) der Begriff ‚essay‘ als „catch-all term for non-fictional prose works of limited length“15 durchgesetzt. Dagegen ist in Deutschland seit 1859, dem Jahr der Einführung der expliziten Textklassifikation ‚Essay‘ durch Herman Grimm (1828–1901), der Wortgebrauch ebenso inflationär wie umstritten. In der literaturwissenschaftlichen Diskussion wird der Essay als „kritische Form par excellence“16 aufgrund seines ,Unbestimmtheitscharakters‘17 bzw. seiner ,Inkommensurabilität‘18 zwischen den Bereichen Kunst und Wissenschaft, Literatur als Dichtung und politischer bzw. kultur- und gesellschaftlicher Publizistik, Ästhetik und Ethik gehandelt. Schon Ludwig Rohner verweist darauf, dass „Bezeichnungen wie ,Mischprodukt‘, ,unselbständige, unreine Gattung‘, ,zwitterhaft von Wesen‘, ,abhängiger Geselle‘, ,literarisches Kuckucksei‘, ,Bastard aus der Verbin-
_____________ 11 G. Haas: Essay. Stuttgart 1969. S. 1. 12 Vgl. H. Schlaffer: Art. ‚Essay‘ (1997). S. 523. 13 Vgl. H. Friedrich: Montaigne. 2. neubearb. Aufl. Bern/München 1967. S. 318 und L. Rohner: Der deutsche Essay (1966). S. 66f. 14 Michel Eyquem Seigneur de Montaignes (1533–1592) Essais erschienen 1580 in zwei Büchern und 1588 um ein drittes Buch ergänzt; eine dritte Fassung, welche die von Montaigne selbst bis zu seinem Tod vorgenommenen Korrekturen, Anmerkungen und Fortschreibungen enthält, erschien posthum 1595. 15 R. Scholes/C. H. Klaus: Elements of the Essay. New York/London/Toronto 1969. S. 46; vgl. R. M. Chadbourne: A Puzzling Literary Genre. Comparative Views of the Essay. In: Comparative Literature Studies 20 (1983). Nr. 1. S. 133–154, hier S. 133. 16 T. W. Adorno: Der Essay als Form (1958). In: Gesammelte Schriften. Hrsg. v. R. Tiedemann. Bd. 11: Noten zur Literatur. Frankfurt a. M. 1974. S. 9–34, hier S. 27; vgl. G. Stanitzek: Abweichung als Norm? (1993) S. 605 („Essay als Organ von Kritik“) u. a. 17 H. Bude (Der Essay als Form der Darstellung sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 41 (1989). S. 526–540, hier S. 534) spricht von der „kontrollierten Unbestimmtheit“ und H. Schlaffer (Art. ‚Essay‘ (1997). S. 523) von der „absichtsvollen Unbestimmtheit“ des Essays. 18 K. Weissenberger: Der Essay. In: Prosakunst ohne Erzählen. Die Gattungen der nicht-fiktionalen Kunstprosa. Hrsg. v. K. W. Tübingen 1985. S. 105–125, hier S. 112.
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II. Forschungsstand und Perspektiven
dung legitimer Formen‘, ,aus vielerlei Herkunft gemischt‘, ,Chamäleon unter den Kunstformen‘, ,Epizykel, Derivat der eigentlichen Literatur‘, ,Fremdkörper‘, ,halb wissenschaftliche, halb literarische Gattung‘“ u. s. f. den Essay in ein „ästhetisches Niemandsland“ verweisen: „sie diskreditieren ihn als literarische Gattung.“19 Als problematische Mischform bzw. Mischgenre,20 als „unglückliche[r] Bastard der Wissenschaft und der Musen“,21 fällt der Essay aus der triadischen Struktur der herkömmlichen Gattungspoetik heraus und wird der sog. vierten Gattung (semi-)literarischer Gebrauchsformen zugeordnet.22 Das macht ihn wiederum als Untersuchungsgegenstand produktiv und hier setzt die vorliegende Studie im Blick auf die bislang stark vernachlässigte terra incognita zwischen literarischem und pragmatischem Diskurs (Wissenschaft, Journalismus, Alltagsleben) an. Bislang hat sich allerdings der Essay sowohl in diachron/literarhistorischer23 wie in synchron/systematischer Hinsicht24 aufgrund seiner phänomenologischen Vielfalt jeder noch so umfangreichen deskriptiven An-
_____________ 19 L. Rohner: Der deutsche Essay (1966). S. 619f. 20 R. L. Kauffmann: The Theory of the Essay: Lukács, Adorno, and Benjamin. Diss. (microfilm) Univ. of California. San Diego 1981. S. 5 und H. Kähler: Von Hofmannsthal bis Benjamin. Ein Streifzug durch die Essayistik der zwanziger Jahre. Berlin/Weimar 1982. S. 38. 21 H. Bosse: Die vierte Gattung. In: Sprache im technischen Zeitalter 33 (1970). S. 78– 83, hier S. 78. 22 Vgl. hierzu H. Hennecke: Die vierte literarische Gattung. Reflexionen über den Essay (1953). In: ders.: Kritik. Gesammelte Essays zur modernen Literatur. Gütersloh 1958. S. 7–10; L. Rohner: Der deutsche Essay (1966); F. Sengle: Die literarische Formenlehre. Vorschläge zu ihrer Reform. Stuttgart 1969 und K. Weissenberger: Einleitung. In: Prosakunst ohne Erzählen (1985). S. 1–7, hier S. 5. 23 Vgl. hierzu die älteren Untersuchungen von K. G. Just: Die Geschichte des Essays in der europäischen Literatur. In: Anstöße. Berichte aus der Arbeit der evangelischen Akademie Hofgeismar 3 (1960). S. 83–94 sowie ders.: Versuch und Versuchung. Zur Geschichte des europäischen Essays. In: ders.: Übergänge. Probleme und Gestalten der Literatur. Bern 1966. S. 7–25; B. Berger: Der Essay. Form und Geschichte. Bern/München 1964; G. Haas: Zur Geschichte und Kunstform des Essays. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik VII (1975). H. 1. S. 11–40 und zuletzt: C. Schärf: Geschichte des Essays. Von Montaigne bis Adorno. Göttingen 1999; etwas vorsichtiger im Titel dagegen L. Rohner: Der deutsche Essay. Materialien zur Geschichte und Ästhetik einer literarischen Gattung. Neuwied/Berlin 1966 sowie W. Müller-Funk: Erfahrung und Experiment. Studien zu Theorie und Geschichte des Essayismus (1995). 24 Vgl. zuletzt R. Pfammatters (Essay – Anspruch und Möglichkeit: Plädoyer für die Erkenntniskraft einer unwissenschaftlichen Darstellungsform. Hamburg 2002) Versuch einer gattungstheoretischen Bestimmung des Essays.
1. Der Essay – eine Gattung ohne Eigenschaften?
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strengung25 wie jedem definitorischen Zugriff entzogen.26 Dabei verbleiben die Definitionsversuche zur Bestimmung der Gattung Essay stark im Allgemeinen und sind eher metaphorisch als distinktiv und disjunktiv zu nennen. Immer wieder wird der ältere „differentialdiagnostisch[e]“ Definitionsversuch Ludwig Rohners angeführt, der den Essay als „eine eigenständige literarische Gattung“ beschreibt: „Der (deutsche) Essay […] ist ein kürzeres, geschlossenes, verhältnismäßig locker komponiertes Stück betrachtsamer Prosa, das in ästhetisch anspruchsvoller Form einen einzigen, inkommensurablen Gegenstand meist kritisch deutend umspielt, dabei am liebsten synthetisch, assoziativ, anschauungsbildend verfährt, den fiktiven Partner im geistigen Gespräch virtuos unterhält und dessen Bildung, kombinatorisches Denken, Phantasie erlebnishaft einsetzt.“27 René Pfammatter nimmt in seiner gattungstheoretischen Bestimmung des Essays die begriffliche Anstrengung eines Definitionsversuches, von dem sich die Mehrzahl der Forschungsarbeiten bereits verabschiedet hat, noch einmal auf sich und kommt zu einer Formel mit zahlreichen Variablen: „Essays sind Texte, die sich durch ein bestimmtes kommunikatives Angebot (nichtfiktional, hoher Grad an Leserbezug), eine ästhetische Funktion (Diktion), bestimmte spezifische Modi (Voraussetzungen und Qualitäten des Denkens), bestimmte heuristische Strategien bzw. Verfahren und bestimmte Argumentationsweisen auszeichnen.“28 Auf der Grundlage der Fricke’schen Definitionsformel („Ein Text gehört dann und nur dann einer Textsorte X an, wenn er sowohl A als auch B ist und zusätzlich wenigstens eine der folgenden Bedingungen erfüllt: er ist C oder auch D oder auch E oder auch […]“)29 wird ein logisch formalisierter „Explikationsvorschlag“ der „Textsorte Essay“ vorgenommen, dessen „logische Struktur“, so Pfammatter, zwar „klar und einfach“ sein mag, dessen Reichweite
_____________ 25 Hinzuweisen ist hier vor allem auf die ältere Arbeit von L. Rohner: Der deutsche Essay (1966). 26 Vgl. hierzu bereits R. Exner: Zum Problem einer Definition und einer Methodik des Essays als dichterischer Kunstform. In: Neophilologus 46 (1962). S. 169–182, hier S. 169: „Die Genre-Bestimmung ist erstens sehr schwierig und lohnt sich, solange sie in der Definition steckenbleibt, nicht mehr und nicht weniger als irgendeine Festlegung einer literarischen Form auf ihre veränderlichen Qualitäten.“ Grundlegend zur Forschungslage ist G. Stanitzek: Abweichung als Norm? (1993). S. 594–616. 27 Vgl. z. B. L. Rohner: Der deutsche Essay (1966). S. 672. 28 R. Pfammatter: Essay (2002). S. 44. 29 H. Fricke: Norm und Abweichung. Eine Philosophie der Literatur. München 1981. S. 146; zit. nach: R. Pfammatter: Essay (2002). S. 160.
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II. Forschungsstand und Perspektiven
praktisch-textanalytischer Umsetzbarkeit zugleich jedoch nur allzu begrenzt ist.30 Die metaphorischen Umschreibungsversuche zeigen jedoch ebenso wie die formalistischen Abstraktionen, dass es ist offenbar schwierig ist, über die Minimalformel ‚Essay = ein nicht-fiktionales Prosastück mittlerer Länge‘,31 vielfach verbunden mit dem Zusatzprädikat ‚ästhetisch anspruchsvoll‘, hinauszukommen. Wobei das jeweilige Zeit- und Qualitätsmaß wiederum stark differiert. So gibt Klaus Günther Just das performative Zeitmaß eines ca. einstündigen Vortrags an,32 Bruno Berger das Rezeptionsmaß einer Zugfahrt von maximal drei bis vier Stunden,33 Ludwig Rohner das publikationstechnische Maß eines Zeitungsbogens,34 Dieter Bachmann eine „Länge zwischen fünf und dreißig Seiten“,35 Heinz Schlaffer zählt durchschnittlich „20–30 Seiten“36 und René Pfammatter bemisst: „Ein Essay ist ein Text, der in einer Sitzung gelesen werden kann“.37 Die Frage der literarischen Wertung (subjektbezogen) bzw. Wertigkeit (objektbezogen) selbst – grundlegend für jede Reflexion über den Essay –
_____________ 30 Ebd. S. 160–162: „(1) Der Text ist nicht global fiktionalisiert. / (2) Der Text ist in Prosa gehalten. / (3) Der Text ist kein einzelner Satz. Der Text kann in einer Sitzung gelesen werden. / (4) Der Text ist mit einer Überschrift versehen. / (5) Der Text läßt einen subjektiv reflektierenden Sprecher erkennen.“ Dagegen könne von einer „essayistische[n] Schreibweise“ gesprochen werden, wenn die Bedingungen (5) bis (10) erfüllt seien, das sind u. a. „eine sorgfältige sprachlich-stilistische Ausgestaltung“, „eine spezifische kommunikative Situation“, „[h]euristische, argumentative und darstellerische Strategien“, Mechanismen der „Reflexion und Erkenntnissuche“ sowie alternativ die Verfahren der Konvergenz/Divergenz, Analogie, Kombination, Koordination, Variation, Approximation, Perspektivität, des gedanklichen Umwegs, der Improvisation, des Experiments und Spiels. 31 Vgl. W. Adam: Der Essay. In: Formen der Literatur in Einzeldarstellungen. Hrsg. v. O. Knörrich. Stuttgart 1981. S. 88–99, hier S. 94: „Der Essay ist ein gekonnt geschriebenes Prosastück mittlerer Länge, in dem der Autor einen Stoff seiner Wahl völlig unabhängig von anderen Formmustern behandeln kann.“ u. a. 32 K. G. Just: Der Essay. In: Deutsche Philologie im Aufriß. 2. überarb. Aufl. Hrsg. v. W. Stammler. Bd. II. Berlin 1960. Sp. 1897–1949, hier Sp. 1909: „Im allgemeinen muß man einen Essay in einer Sitzung lesen können, meist hat er die Länge eines einstündigen Vortrags […].“ 33 Vgl. B. Berger: Der Essay (1964). S. 189. 34 L. Rohner: Der deutsche Essay (1966). S. 348: „Der Umfang erklärt sich also publikationstechnisch. Die meisten Essays sind ursprünglich in Zeitschriften erschienen.“ 35 D. Bachmann: Essay und Essayismus. Stuttgart [u. a.] 1969. S. 152. 36 H. Schlaffer: Art. ‚Essay‘ (1997). S. 522. 37 R. Pfammatter: Essay (2002). S. 70; vgl. schon K. G. Just (1960). Sp. 1909: „Im allgemeinen muß man einen Essay in einer Sitzung lesen können“; L. Rohner: Der deutsche Essay (1966). S. 348 (Hervorhebung in der Textvorlage): man lese den Essay „auf einen Sitz“ bzw. „in einem Zug“ sowie H. Schlaffer: Art. ‚Essay‘ (1997). S. 522.
1. Der Essay – eine Gattung ohne Eigenschaften?
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bleibt jedoch nach wie vor unbegründet/unbegründbar.38 Die jeweiligen Qualitätsaussagen haben voluntaristischen Charakter und scheinen mehr über das Subjekt als über das Objekt der Aussage zu verraten. So nimmt beispielsweise Klaus Günther Just, der in der deutschen Essayistik seit Heinrich Heine „ein[en] gefährdende[n] Andrang aus […] plebejischen Bezirken“ sieht,39 eine unmittelbare Korrelation zwischen soziologischen und ästhetischen Kriterien vor: „Erstens ist die gesellschaftliche Höhenlage der Essayistik wichtig. Der Essay ist ein ausgesprochenes Produkt der Oberschicht, oder sagen wir besser: der Elite. Essays in mittlerer oder niederer Lage gibt es nicht (auch heute nicht).“40 Die Gattungsfrage fällt hier „mit der Wertfrage in eins“.41 Und bei Ludwig Rohner heißt es ebenso lapidar wie di/in/stinktiv: „Ein Essay ist entweder sprachlich hervorragend oder er ist keiner.“42 Nun könnte eingewandt werden, dieses magere Ergebnis – der Definitionsanstrengungen – resultiere aus der Qualität des proteusartigen Untersuchungsgegenstandes selbst. Auch ließe sich gegenüber dem inkommensurablen Einzelphänomen und dessen grenzüberschreitender Qualität der (literatur)wissenschaftliche Anspruch auf Erfassung des vorhandenen Materials, dessen Beschreibung, Kategorisierung und Deutung grundsätzlich in Frage stellen. Am weitesten geht hierbei Bernd Scheffer, der aus konstruktivistischer Perspektive vorschlägt, die Interpretation literarischer Texte nicht mehr als wissenschaftliche, sondern vielmehr als eine rein essayistische Tätigkeit zu verstehen.43 Zunächst wird jedoch dieser Anspruch selbst, nämlich den Essay als literarische Gattung zu definieren, vielfach ganz aufgegeben. Bei Ralph-Rainer Wuthenow heißt es dementsprechend kurz und prägnant: „Der Essay […] ist schlechthin nicht zu definieren.“44 Oder aber der Essay wird nicht als selbstständige Gattung,
_____________ 38 Vgl. M. Kienecker: Prinzipien literarischer Wertung. Sprachanalytische und historische Untersuchungen. Göttingen 1989. S. 80: „Literarische Werturteile sind niemals in dem Sinne begründungsfähig, daß wir logisch notwendige und hinreichende Bedingungen für ein Werturteil fixieren könnten.“ 39 K. G. Just: Der Essay (1960). Sp. 1927. 40 Ders.: Versuch und Versuchung (1966). S. 9; vgl. auch R. Exner: Zum Problem einer Definition und einer Methodik des Essays (1962). S. 171. 41 K. G. Just: Der Essay (1960). Sp. 1901. 42 L. Rohner: Der deutsche Essay (1966). S. 638. 43 B. Scheffer: Interpretation und Essay. In: Interpretation und Lebensroman. Zu einer konstruktivistischen Literaturtheorie. Frankfurt a. M. 1992. S. 281–343, hier S. 314; vgl. dagegen R. Pfammatter: Essay (2002). S. 187, der im Essay eine „geeignete Darstellungsform“ für die „nicht-wissenschaftliche Interpretation“ sieht. 44 R.-R. Wuthenow: Literaturkritik, Tradition und Politik. Zum deutschen Essay in der Zeit der Weimarer Republik. In: Die deutsche Literatur in der Weimarer Republik.
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II. Forschungsstand und Perspektiven
sondern als essayistische Methode (Hugo Friedrich),45 als essayistischer Stil (Michael Hamburger)46 oder essayistische Schreibart (Hermann Kähler)47 bestimmt. Nach Georg Stanitzek gehört es „seit geraumer Zeit zu den Topoi der Essayforschung, diesen Befund, daß nämlich eine Gattungsbestimmung außergewöhnlich schwierig sei und daher noch ausstehe, seinerseits als Topos zu bezeichnen. […] Ihre Pointe besteht im Versuch, den Gattungsbegriff jenseits solcher ordnungs- und orientierungsstiftenden Redundanz gerade in der Überschreitung von Ordnung, gerade im Durchbrechen von Erfahrungen zu fundieren.“48 Der Essay wird zum Exemplum der Paradoxie literaturwissenschaftlicher Ordnungsbegriffe, die allenfalls heuristisch-pragmatischen Wert haben. Die meisten Forschungsarbeiten zum Essay umgehen allerdings das Definitionsproblem von vorneherein, indem sie sich in einer additiven Aufzählung von Merkmalen und Klassifikationsvorschlägen erschöpfen.49 Bisher sind vor allem Einteilungen nach dem Inhalt50 oder der Haltung des Autors,51 kaum jedoch nach formalen oder stilistischen Kriterien vorgelegt worden.52 In den meisten Fällen werden thematische (z. B. Politik, Reise, Kunst, Mode etc.), gattungs- bzw. genrespezifische (lyrisch, episch,
_____________
45 46 47 48 49 50 51
52
Hrsg. v. W. Rothe. Stuttgart 1974. S. 434–458, hier S. 444: „Doch man kann ihn [den Essay] charakterisieren, wie das immer wieder geschehen ist.“ Vgl. K. A. Horst: Figuren des Essays. In: ders.: Kritischer Führer durch die deutsche Literatur der Gegenwart. Roman, Lyrik, Essay. München 1962. S. 279–505. S. 398: „Der Essay ist eine Gattung wider Willen.“ Vgl. auch D. Bachmann: Essay und Essayismus (1969). S. 9 („Den Essay als Abstraktum gibt es nicht. Es gibt nur einzelne Essays.“) und C. Schärf: Geschichte des Essays (1999). S. 7: „Essay […] bedeutet ganz einfach, sich an einem Thema zu versuchen und sich dabei zu seiner eigenen Subjektivität zu bekennen.“ Vgl. H. Friedrich: Montaigne (1967). S. 318. M. Hamburger: Essay über den Essay. In: Akzente 12 (1965). S. 290–293, hier S. 291: „Der Essay ist keine Form, sondern vor allem ein Stil.“ Vgl. H. Kähler: Von Hofmannsthal bis Benjamin (1982). S. 24. G. Stanitzek: Abweichung als Norm? (1993). S. 595. Kritisch zu den Klassifikationsbemühungen der germanistischen Essayforschung: H. Träger: Der moderne englische Essay. Eine Studie zur Geschichte und Theorie der Gattung. Würzburg 1983. S. 11ff. Vgl. hierzu G. Good: The Observing Self. Rediscovering the Essay. London/New York 1988. S. XII: „The most useful classification is based on content […]: the travel essay, the moral essay, the critical essay, and the autobiographical essay.“ Vgl. hierzu B. Berger: Der Essay (1964). S. 101f., der „von der inneren Form und von der Haltung des Essayisten her“ vier Gruppen („typische Geisteshaltungen“) unterscheidet: 1. darstellender bzw. berichtender, 2. kritischer, 3. meditativer und 4. ironischer Essay. Ebd. S. 100: „Da aber doch die Essayform unbestritten eine literarische Kunstform ist, läge es eigentlich nahe, eine Gliederung nach formalen Prinzipien zu versuchen.“
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epistoral, dialogisch, biographisch), stilistische (ironisch, pathetisch, sachlich) und funktionale (programmatisch, didaktisch) Aspekte mit Unterscheidungen nach der weltanschaulichen Einstellung des Autors (konservativ, radikal), Publikationskontexten (wissenschaftlich, feuilletonistisch) oder Diskursfeldern (Wissenschaft, Philosophie, Religion, Literatur, Kunst) vermischt: so zum Beispiel in Klaus Günther Justs Unterscheidung zwischen dem ‚begrifflichen‘, ‚kulturkritischen‘, ‚biographischen‘, ‚literaturkritischen‘, ‚gegenständlichen‘ und ‚ironischen‘ Essay53 sowie in Ludwig Rohners Einteilungsversuch: ‚begrifflich‘, ‚ironisch‘, ‚kritisch‘, ‚persönlich‘ bzw. ‚familiär‘, ‚didaktisch‘, ‚erzählend‘, ‚polemisch‘, ‚biographisch‘, ‚kulturkritisch‘, ‚gesellig-dialogisch‘‚ ‚sachlich-verhalten‘, ‚pathetisch‘.54 Konsequenter verfährt hier Ralph-Rainer Wuthenow, der in seinem Überblicksartikel über Essayismus in der Weimarer Republik und dem Dritten Reich ausschließlich nach Diskurskontexten klassifiziert und neben dem ‚persönlichen‘ Essay den ‚historischen‘, ‚philosophischen‘, ‚wissenschaftlichen‘ und ‚literaturkritischen‘ Essay unterscheidet.55 Die zahlreichen Klassifikationsvorschläge zur Unterteilung des essayistischen Gegenstandsbereiches56 werden oftmals ergänzt durch phäno-
_____________ 53 K. G. Just: Der Essay (1960). Sp. 1902–1907. 54 L. Rohner: Versuch über den Essay. In: Deutsche Essays. Prosa aus zwei Jahrhunderten. Hrsg. v. L. R. Bd. 1: Essays avant la lettre. München 1972. S. 85. 55 R.-R. Wuthenow: Essayismus. In: Deutsche Literatur eine Sozialgeschichte. Bd. 9: Weimarer Republik – Drittes Reich: Avantgardismus, Parteilichkeit, Exil (1918–1945). Hrsg. v. A. v. Bormann/H. A. Glaser. Reinbek bei Hamburg 1983. S. 80–92, hier S. 81; vgl. jedoch die thematisch orientierte Auflistung der „Spielarten des Essays“ bei ders.: Der Essay in der modernen Literatur. In: Die literarische Moderne in Europa. Bd. 2: Formationen der literarischen Avantgarde. Hrsg. v. H. J. Piechotta [u. a.]. Opladen 1994. S. 146–164. S. 149f.: „philosophisch, literarisch-kritisch, historischbiographisch, psychologisch porträtierend, wozu noch die Städte- und Landschaftsbilder treten, der politische wie nicht zuletzt der kulturkritische Essay, wobei auch der naturhistorische Essay nicht vergessen werden sollte.“ 56 Vgl. hierzu G. Lukács: Über Wesen und Form des Essays. Ein Brief an Leo Popper. In: ders.: Die Seele und die Formen. Essays (1911). Neuwied/Berlin 1971. S. 7–32, hier S. 8, der zwischen „wahrhaftige[m]“ und „nützliche[m]“ Essay unterscheidet; M. Bense: Über den Essay und seine Prosa. In: ders.: Plakatwelt. Vier Essays. Stuttgart 1952. S. 9–38, hier S. 33, der zwischen ‚schöngeistiger‘, ‚feingeistiger‘ und ‚polemischer‘ Essayistik differenziert; K. A. Horsts Einteilung (Das literarische Kuckucksei. Deutscher Geist zwischen Gestern und Morgen. Bilanz der kulturellen Entwicklung seit 1945. Hrsg. v. J. Moras/H. Paeschke. Stuttgart 1954 S. 371–382) zwischen ‚konservativem‘, ‚radikalem‘ (S. 373ff.), ‚feuilletonistischem‘ (S. 376), ‚magischem‘ (S. 377) und ‚beobachtendem‘ bzw. ‚liebhaberischem‘ Essay (S. 378); H. Kähler (Zum Essay. Probleme literarischer Subjektivität in Essayistik und Publizistik der frühen zwanziger Jahre. In: Weimarer Beiträge. Zeitschrift für Literaturwissenschaft, Ästhetik und Kulturtheorie 26 (1980), H. 12. S. 92–114, hier S. 110) benennt für die zwanziger Jahre „drei Hauptformen“: „kulturkritischer Aktions-Essay“, ‚revolutionär-programmati-
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II. Forschungsstand und Perspektiven
menologische Beschreibungen, wie zum Beispiel Möglichkeitsform, Spielqualität, Experimental- bzw. Versuchscharakter sowie durch Paraphrasierungen der vielzitierten Metaessays von Georg Lukács, Max Bense, Theodor W. Adorno und/oder einschlägiger Passagen aus Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften. Nicht selten findet die vielfach wiederholte Unterscheidung zwischen Essay als literarischer Form und Essayismus als Erkenntnismethode und experimentierendes, Gattungsgrenzen durchdringendes Gestaltungsprinzip57 zudem Ergänzung in einer ebenso einleuchtenden wie wenig aussagekräftigen Typologisierung des essayistischen Materials nach den beiden Urahnen Montaigne oder Bacon.58 So verkörpern Montaigne und Bacon für Ludwig Rohner „bereits in den Anfängen der Gattung, zwei entgegengesetzte Möglichkeiten des Essays. Vereinfachend läßt sich sagen: auf Montaigne geht das ‚Essayistische‘ als schriftstellerische Haltung, auf Bacon der ‚Essay‘ als geschlossene literarische Kunstform zurück.“59 Und noch 33 Jahre später bleibt Christian Schärf nur die „Tatsache“ festzustellen, „daß mit Montaigne und Bacon zwei diametral entgegengesetzte
_____________ scher‘ Essay und ‚parabolisch-kombattanter‘ Essay und D. Goltschnigg (Art. ‚Essay‘. In: Moderne Literatur in Grundbegriffen. Hrsg. v. D. Borchmeyer/V. Žmegaÿ. Tübingen 1994. S. 118–123, hier S. 119f.) unterscheidet eine ‚kulturkonservative‘ und eine ‚gegenwarts‘- und ‚zukunftsbezogene‘ Essayistik. 57 Vgl. L. Rohner: Der deutsche Essay (1966). S. 355: „Es ist gut, den Essay als geschlossene Kunstform und das Essayistische als einen eigentümlichen Denkstil, als experimentierendes Schreiben auseinanderzuhalten […]: das Essayistische ist zwar vorzugsweise im Essay anzutreffen, aber es greift weit über diese literarische Form hinaus, hinüber in die benachbarten Gattungen: Brief, Tagebuch, Autobiographie, Lebenserinnerungen.“ Vgl. auch G. Haas: Essay (1969). S. 4 („Essayismus meint ein durchwaltendes, andere Formen durchdringendes Gestaltungsprinzip.“) und D. Bachmann: Essay und Essayismus (1969). S. 118 u. a. 58 Vgl. hierzu auch K. Theml: Fortgesetzter Versuch. Zu einer Poetik des Essays in der Gegenwartsliteratur am Beispiel von Texten Christa Wolfs. Frankfurt a. M. 2003. S. 19, die mit J. Haefner (Unfathering the Essay: Resistance and Intergenreality in the Essay Genre. In: Prose Studies: History, Theory, Criticism 12 (1989). S. 258–273, hier S. 262) den „männliche[n] Diskurs innerhalb der Essay-Theoriebildung“ in einer „dualistic fathering theory“ gespiegelt sieht. 59 L. Rohner: Der deutsche Essay (1966). S. 60 sowie ders.: Versuch über den Essay (1972). S. 11; vgl. auch L. Cerný: Art. ‚Essay‘. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. v. J. Ritter [u. a.]. Bd. 2. Basel/Stuttgart 1972. S. 746–749, hier S. 746; A. Auer: Die kritischen Wälder. Ein Essay über den Essay. Halle 1974, Anm. 26. S. 127 („Auf Montaigne geht als seine ureigenste Erfindung das Essayistische als schriftstellerische Haltung zurück; auf Francis Bacon, der das schon Vorhandene ausmünzt, der Essay als geschlossene literarische Form.“); K. Weissenberger: Der Essay als Schöpfungspoetologie – Zur Typologie einer literarischen Gattung. In: Sinn und Symbol. Festschrift für Joseph P. Strelka zum 60. Geburtstag. Hrsg. v. K. K. Pohlheim. Bern [u. a.] 1987. S. 559–577, hier S. 560 u. a.
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Konzepte des Essays entstanden sind, die das Spektrum der Schreibweisen, die man unter dem Begriff des Essayistischen zusammenfassen kann, vorgeprägt haben.“ Und so vermag er in diesen beiden Essaykonzepten – für die die beiden Autornamen Montaigne und Bacon stehen – „irreduzible Prinzipien einer Modernität […], für die die Begriffe Essay und Essayismus stehen“, zu erkennen.60 Auch die Geschichte des Essays bleibt nach wie vor ein dringliches Forschungsdesiderat. Dabei lässt sich kaum eine andere Gattung so gut über die Aufklärung (als Medium der bürgerlichen Öffentlichkeit) und Romantik (im Kontext der Universalpoesie), den kulturkonservativen Essay des 19. Jahrhunderts61 bis zum ‚Problematischwerden‘ der Form zur Zeit der Jahrhundertwende62 und ihrer Vermischung mit anderen Gattungen (Roman, Drama, Lyrik) und Medien (Film) im 20. Jahrhundert verfolgen.63 Während noch Bruno Berger fordert, dass „zuerst einmal das gesamte vorliegende essayistische Schrifttum literaturgeschichtlich gesammelt und formanalytisch untersucht werden“ müsse64 und nach Ludwig Rohner eine „erschöpfende Geschichte des deutschen Essays […] erst möglich [wird], wenn die weißen Flächen auf der topographischen Karte mit Spezialuntersuchungen besetzt sind“,65 gibt die neuere Arbeit von Christian Schärf den Anspruch einer „vollständigen historischen Aufarbeitung der essayistischen Produktion“ gänzlich auf: „von einer einheitlich zu beschreibenden Geschichte des Essays“ könne nicht die Rede sein.66 Bislang stehen nicht nur Studien zur Geschichte des Essays aus, sondern auch zu dessen Theorie und Ästhetik,67 Stilistik,68 Sprache und Struk-
_____________ 60 C. Schärf: Geschichte des Essays (1999). S. 74; vgl. R. Pfammatter: Essay (2002). S. 73: „Blickt man auf die Anfänge des Essays zurück, so stehen sich zwei Prototypen gegenüber. Auf der einen Seite der von Montaigne geschaffene […]; auf der anderen Seite der englische Essay baconscher Provenienz […].“ 61 Vgl. H. Schlaffer: Der kulturkonservative Essay im 20. Jahrhundert. In: H. S./H. Schlaffer: Studien zum ästhetischen Historismus. Frankfurt a. M. 1975. S. 140–174. 62 D. Bachmann: Essay und Essayismus (1969). S. 8. 63 Vgl. G. Haas: Essay (1969). S. 30. 64 B. Berger: Der Essay (1964). S. 101. 65 L. Rohner: Der deutsche Essay (1966). S. 782. 66 C. Schärf: Geschichte des Essays (1999). S. 11 und S. 186. 67 Vgl. hierzu bereits H. Hennecke: Die vierte literarische Gattung (1958). S. 7–10, hier S. 8: „Es gibt noch keine Ästhetik des Essays […], während es doch seit langem eine Ästhetik der Lyrik, der Epik, des Dramas gibt.“ 68 Vgl. H. Bleckwenn: Stichwort ‚Essay‘. In: Handlexikon zur Literaturwissenschaft. Hrsg. v. D. Krywalski. München 1974. S. 121–127, hier S. 124.
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tur69 sowie zum Verhältnis von Essay und Moderne.70 Denn obwohl bereits dokumentarisch,71 exemplarisch72 und gattungsgeschichtlich73 ausgerichtete Überblicksdarstellungen aus den sechziger Jahren sowie Einzeluntersuchungen zu Autoren des 18. und 20. Jahrhunderts vorliegen, fehlt nach wie vor eine vergleichende Studie zu der literarischen Form des Essays sowie zu dessen gattungstheoretischen Verortung im Kontext von ästhetischen und pragmatischen Textsorten. Darüber hinaus stellt die Entwicklung von textanalytischen Kriterien für konstitutive Sprach-, Stil-, Form-, Kompositions- und Funktionselemente des Essays74 ein dringliches Forschungsdesiderat dar. Neuere Untersuchungen zum Essay vernachlässigen vielfach die literaturwissenschaftlichen Methoden der konkreten Textanalyse und sind eher literaturtheoretisch und philosophisch ausgerichtet. So setzt sich Robert Lane Kauffmann in seiner Dissertation The Theory of the Essay (1981) ausschließlich mit den Essaytheorien von Lukács, Adorno und Benjamin auseinander und sieht in der französischen Texttheorie (Jacques Derrida, Michel Foucault, Roland Barthes und Jean-François Lyotard) „the most interesting attempt to formulate an alternative poetics of the critical essay“.75 Diese haben allerdings – wie auch Walter Benjamin – keine explizite Theorie des Essays vorgelegt. Der blinde Fleck der Poststrukturalisten wie Dekonstruktivisten wird, wenn auch nur in Parenthese, den Essayisten als Aufgabe zurückverwiesen: „(Who, if not the essayist, will deconstruct the deconstructors?)“.76 So kann der theoretische Anspruch auch nur auf einen Mangel verweisen, ohne diesen jedoch selbst zu beheben: „What is needed is a descriptive and historical poetics of the essay, a theory which
_____________ 69 Vgl. schon G. Haas: Essay (1969). S. 22: „Eine solche textnahe Prüfung ist bisher erstaunlich selten versucht worden.“ 70 Vgl. M. Baßler [u. a.]: Essayismus. In: M. B. [u. a.]: Historismus und literarische Moderne. Tübingen 1996. S. 281–293, hier Anm. 3. S. 281. 71 L. Rohner: Der deutsche Essay (1966). 72 Vgl. D. Bachmann: Essay und Essayismus (1969) und G. Haas: Studien zur Form des Essays und zu seinen Vorformen im Roman. Tübingen 1966 sowie ders.: Essay. Stuttgart 1969 und R. Pfammatter: Essay (2002). S. 72ff., der anhand von zwei Karl Kraus-Texten, Heine und die Folgen und Nestroy und die Nachwelt, deren „sprachlichstilistische Ausgestaltung“ exemplarisch untersucht. 73 K. G. Just: Der Essay (1960). 74 Vgl. hierzu K. Theml: Fortgesetzter Versuch (2003). S 19, die versucht, „mit Hilfe poststrukturalistischer Literaturtheorien Analysekriterien für den Essay der Gegenwartsliteratur zu finden“ und „neue Beschreibungsmöglichkeiten und methodische Ansätze für die Analyse von Essays vorzuschlagen.“ (ebd. S. 26) 75 R. L. Kauffmann: The Theory of the Essay (1981). S. 355. 76 Ders.: The Skewed Path: Essaying as Unmethodical Method. In: Essays on the Essay. Redefining the Genre. Ed. by A. J. Butrym. Athens/London 1989. p. 221–241. p. 237.
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would attend both to the form and to the function of essays, to the relationship between the essay and other genres within specifical historical periods, as well as to the ideological dimensions of individual essays. Such a historical poetics does not exist“.77 Thomas Harrison dagegen macht Nietzsche zum „theoretical center“78 seiner beiden Studien zum Essayismus:79 „This study […] is not interested in shared literary mechanics or figures of thought, in what themes a writer took over from another, in when and how he was influenced, in what common conceptual structures two writers base themselves on.“80 Unter Aufgabe konkreter textanalytischer Ambitionen wird Nietzsche zum „definitive thinker“ erklärt81 und dieser wie Robert Musil und Joseph Conrad als Dekonstruktivisten gelesen, deren Projekt die „reconstruction of truth and value“ sei.82 In Bernd Scheffers Überlegungen zu Interpretation und Essay (1992) bilden zunächst die Verfahren der Textinterpretation wie des Essays „die Ausgangs- und Endsituation […] jeden empirisch-wissenschaftlichen Arbeitens: Theorie-Bildung, Hypothesen-Generierung oder DatenInterpretation.“83 Aus konstruktivistischer Perspektive wird zugleich auch der Wissenschaftsanspruch hermeneutischer Textexegese infrage gestellt und vorgeschlagen, die „Interpretation literarischer Texte als eine essayistische, indessen nicht mehr als eine wissenschaftliche Tätigkeit“84 zu verstehen. Christian Schärf verzichtet in seiner Geschichte des Essays (1999) nicht nur auf den Anspruch einer „vollständigen historische[n] Aufarbeitung der essayistischen Produktion“ bzw. einer „einheitlich zu beschreibenden Geschichte des Essays“,85 sondern auch auf jegliche theoretische Ambition, den Essay zu definieren. „Essay […] bedeutet ganz einfach, sich an einem Thema zu versuchen“. Dabei sieht er ganz allgemein in „Essay, Essayistik und Essayismus […] Ausdrucksmomente einer produktivexistentiellen Grundproblematik in der Neuzeit seit dem 16. Jahrhundert“:
_____________ 77 Ders.: The Theory of the Essay (1981). S. 11. 78 T. Harrison: Existence as Essay. Nietzsche, Musil und Conrad. Diss. (microfilm) Univ. of New York 1984. S. 1. 79 Vgl. auch die überarbeitete Buchfassung der Dissertation: ders.: Essayism. Conrad, Musil, and Pirandello. Baltimore/London 1992. 80 Ders.: Existence as Essay (1984). S. 3. 81 Ebd. S. 6. 82 Ebd. S. 265. 83 B. Scheffer: Interpretation und Essay (1992). S. 309. 84 Ebd. S. 314. 85 C. Schärf: Geschichte des Essays (1999). S. 11 und S. 186.
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„Essay bezeichnet auf diesem Terrain den immer wieder offenen, immerfort schwierigen Raum, in dem das Subjekt und der Wille zum Ausdruck aufeinanderstoßen.“86 Seine Darstellung reiht historische Untersuchungen, angefangen mit Montaigne und Bacon, über die Aufklärung, Romantik, Emerson und Nietzsche in episodisch-darstellender Manier aneinander, wobei sich vor allem die den Autoren des 20. Jahrhunderts gewidmeten Abschnitte durch einen stark voluntaristisch-wertenden Charakter auszeichnen.87 Wolfgang Müller-Funk versucht in seinen Studien zu Theorie und Geschichte des Essayismus (1995), in einer repräsentativen Auswahl, die über Montaigne, Bacon, Lichtenberg, Novalis – das gesamte 19. Jahrhundert überspringend – bis zu Robert Musil und Theodor W. Adorno reicht, „ein Muster, ein Netz“ zu schaffen, um „die wichtigsten Phänomene“ der essayistischen Haltung „in ihrem historischen Fortgang zu verstehen“.88 Dabei wird das Kriterium der Metareflexivität implizit zum Ausgangspunkt des modernen Erfahrungsbegriffs: „Der Essayismus […] ist gewiß – neben Malerei, Autobiographie, Literatur, Film – nur eine Form, in der sich moderne Selbst- und Welterfahrung thematisiert; aber er thematisiert dieses Neue nicht nur, sondern spiegelt, reflektiert es […].“89 Der Kontingenzerfahrung moderner Gesellschaften entspreche, so Wolfgang MüllerFunk im Rückgriff auf Luhmann,90 ein Essayismus, welcher zum einen zwischen Wissenschaft und Gesellschaft vermittelt und zum anderen im Kontext von Philosophie und Wissenschaft ‚reflektorisch interveniert‘:91 „Über seine traditionelle soziale Funktion der Vermittlung von Lebenskunst hinaus eröffnet er [der Essayismus] der menschlichen Sozietät völlig neue Möglichkeiten der Selbstreflexion und des Selbstbezugs und darüber hinaus auch die der Selbstbild-Reflexion. Insofern ist der Essayismus Teil jener Dynamik der modernen Gesellschaft, die er zugleich interpretiert.“92 Vom Essay als „Medium von Zeitdiagnose und Kulturkritik“ wie der „poetologischen Selbstthematisierung“ geht auch Barbara Neymeyr in
_____________ 86 Ebd. S. 7 und S. 9. 87 Vgl. ebd. S. 205: in Kassner, den er als „selbstverliebten, mythentiefen Rauner“ kennzeichnet, erlebe „ein falsch verstandener Essayismus seinen einsamen Höhepunkt“, in Thomas Manns Betrachtungen eines Unpolitischen gerate der Essay zur „Un-Form“ (ebd. S. 206) und Musil gerate der „Monumentalroman letztlich aus den Fugen“ (ebd. S. 208). 88 W. Müller-Funk: Erfahrung und Experiment (1995). S. 16. 89 Ebd. S. 39. 90 Vgl. ebd. S. 281. 91 Ebd. S. 285. 92 Ebd. S. 286.
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ihrem Aufsatz Utopie und Experiment (2000) aus, die „einige interessante Übereinstimmungen“ zwischen den „poetologischen Aussagen Musils“ und „Adornos Thesen“ herausstellt93 und „Musils Essays als Realisation dessen“ liest, „was Adorno (etliche Jahre später) postulierte“.94 Für die vorliegende Studie sind vor allem jene „Merkmale des Essayistischen“ anregend, welche Wolfgang Müller-Funk im Schlusskapitel Der Essayismus als Denken dritter Ordnung? in essayistischer Manier angeführt.95 Neben aphoristischen Bonmots,96 allgemeinen Kennzeichnungen des Essayismus – wie parasitärer Status,97 ubiquitäres Vorkommen, Zweifelcharakter, Krisensymptom, Taktik ohne Strategie, intellektuelles Abenteuer, utopisches und ästhetisches Moment u.s.f. – sind hier auch die Auflistung einzelner essayistischer Merkmale zu nennen.98 Diese ausblickhaften Überlegungen sind jedoch von Wolfgang Müller-Funk selbst nicht zur Grundlage seiner Untersuchung gemacht worden. Im Folgenden wird bei der Frage einer essayistischen Poetologie der Moderne angesetzt. Es geht darum, das theoretische Konzept der Metatextualität, das bislang aus der theoretischen Diskussion von Dialogizität bzw. Intertextualität weitgehend ausgeklammert geblieben ist, mit konkreten Textanalysen zu verbinden. Gesucht wird eine Methode, mit welcher dem Gegenstand anders als in philosophisch-abstrakter Vogelschau oder bloß mit essayistischen Mitteln umkreisend beizukommen ist. Festzuhalten bleibt zunächst, dass die Aufstellung von rein additiven Merkmalskatalogen und Klassifikationssystemen ohne Explikation der zu Grunde gelegten Kriterien weder Untersuchungsgegenstand noch Erkenntnisanspruch gerecht werden kann. Angestrebt wird daher in der vorliegenden Untersuchung, die textanalytischen Kriterien auf texttheore-
_____________ 93 B. Neymeyr: Utopie und Experiment. Zur Konzeption des Essays bei Musil und Adorno. In: Euphorion 94 (2000). S. 79–113, hier S. 80f.; ebd. S. 93–101: „TexturMetaphorik“, „assoziative Gedankenführung“, „Einsatz von Ironie, Provokation und paradoxer Pointierung“. 94 Ebd. S. 80. 95 W. Müller-Funk: Erfahrung und Experiment (1995). S. 269–293, hier S. 280ff. 96 Ebd. S. 282: „Essayisten sind philosophische Denker, die beim Systembau gescheitert sind und daraus Einsichten beziehen.“ etc. 97 Vgl. hierzu das Verständnis von ‚Metatext‘ als parasitäre textuelle Struktur bei A. Popoviÿ; s. Z. Kravar: Art. ‚Metatextualität‘. In: Moderne Literatur in Grundbegriffen. Hrsg. v. D. Borchmeyer/V. Žmegaÿ. 2. neu bearb. Aufl. Tübingen 1994. S. 274– 277. 98 W. Müller-Funk: Erfahrung und Experiment (1995). S. 282: „Primat des Konjunktivs, kreisende Bewegung, uneigentliches Sprechen, Paradoxie, der Griff zur Metapher, das spanische Fragezeichen, das am Anfang und am Ende eines (vermeintlichen) Aussagesatzes steht, sind seine [des Essays] wichtigsten Merkmale.“
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II. Forschungsstand und Perspektiven
tischer Grundlage herauszuarbeiten und zu explizieren und zugleich anhand von exemplarischen Textanalysen nachvollziehbar und überprüfbar zu machen. Mehr noch als bei jeder anderen literarischen Gattung ist beim Essay die Annahme einer quasi-gattungsimmanenten Genealogie infrage zu stellen. Fest steht: in der ausschließlichen Berücksichtigung textinterner Merkmale können keine hinreichenden Abgrenzungskriterien zwischen dem Essay und verwandten literarischen Formen – Aphorismus, Abhandlung, Traktat, Feuilleton, Brief, Rede, Tagebuchaufzeichnung und Roman – entwickelt werden.99 Angesichts einer Erkenntnis- und Darstellungsform, die sich in der Schnittmenge von literarischen und wissenschaftlichen Diskursfeldern bewegt, kann der Untersuchungskorpus nicht auf rein literarische Texte beschränkt bleiben. Es stellt sich die Frage, wie sich der Essay gegenüber wissenschaftlichen, soziologisch-philosophischen und journalistisch-publizistischen Diskursformen (Abhandlung, Feuilleton etc.) auf der einen Seite und literarischen Formen (Novelle, Roman etc.) auf der anderen Seite verhält. Wie lässt sich seine diskursive Zwischen- bzw. Mittlerfunktion beschreiben und wie kann das jeweilige Verhältnis von Literatur (Narration) und Kritik (Reflexion) bestimmt werden? Die Beantwortung dieser Fragen macht es erforderlich, die historische, das heißt literaturgeschichtliche und diskursanalytische Untersuchungsperspektive mit synchronen Querschnitten durch die zeitgenössischen Diskurskontexte zu verbinden. Am Beispiel der Essayistik Robert Musils soll auf der Grundlage von zu entwickelnden Analysekriterien und konkreten Textanalysen versucht werden, das ‚ubiquitäre‘ Phänomen des Essayismus als metatextuelle Selbstreflexion der Moderne beschreibbar zu machen. Im Folgenden werden anhand verschiedener Fragekomplexe (Intertextualität, Metatextualität, Dialogizität, Selbstreflexivität, experimentale Variation, dynamische Konfiguration und Fiktionsstatus) Schwerpunkte der Textarbeit umrissen, die in den konkreten Textanalysen Überprüfung, Bestätigung, Differenzierung und – soweit nötig – Revision erfahren.
2. Robert Musil – der Autor als Vertextungsprinzip mit Eigenschaften?
_____________ 99 Vgl. R. Pfammatter: Essay (2002). S. 32.
2. Robert Musil – der Autor als Vertextungsprinzip mit Eigenschaften?
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2. Robert Musil – der Autor als Vertextungsprinzip mit Eigenschaften? Ich suche den Dichter, den ich beschreibe.100 (Ralph Waldo Emerson) Der Dichter Titel des Buchs. Auf der Suche nach etwas sehr Unbekanntem.101 (Robert Musil)
Dass die Forschungsarbeiten zu Robert Musil kaum noch zu überschauen, geschweige denn zu verarbeiten sind, ist innerhalb der Sekundärliteratur zu diesem Autor mittlerweile zum Topos avanciert.102 So scheint gerade eine Untersuchung, die den Namen Musil und das Schlagwort Essayismus im Titel führt, nicht unbedingt auf ein Forschungsdesiderat hinzuweisen. Doch auch nach über fünfzig Jahren Musil-Forschung gilt Robert Musil immer noch und in erster Linie als Autor seines unvollendeten, schwer verständlichen,103 wenn nicht gar unlesbaren Romans Der Mann ohne Eigenschaften (1930/32). Erst seit neuerer Zeit gewinnen auch Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906) sowie die beiden Novellenbände Vereinigungen (1911) und Drei Frauen (1924), die bislang als bloße Vorstufen bzw. Prätexte zu der vom Autor selbst so deklarierten „Hauptarbeit“104 gelesen worden sind, zunehmend Beachtung und somit auch Eigenwert bzw. eigenständige Wertung. Am Rande des Forschungsinteresses stehen dagegen nach wie vor die beiden (Dramen-)Stücke Die Schwärmer (1921) und
_____________ 100 R. W. Emerson: Der Dichter. In: ders.: Essays. 1. Reihe. Jena 1905. S. 68. 101 R. Musil: Tagebücher. Heft 31 (1930–36) (TB I, 826). 102 Vgl. M. Luserke (Robert Musil. Stuttgart/Weimar 1995. S. 1f.), welcher der „Forschung […] einige Zeit eine Musil-Enthaltsamkeit“ empfiehlt: „Die Literatur über Musil ist fast unübersehbar geworden, und doch fällt es nachgerade ins Auge: Die Themen der Monographien und fleißigen Dissertationen gleichen sich.“ Im Folgenden ist kein Forschungsbericht intendiert, der dem Anspruch auf Vollständigkeit genügen könnte, sondern eine kurze Skizze, die in wenigen Strichen die für die Fragestellung der vorliegenden Studie relevanten Forschungsarbeiten darstellt. 103 Vgl. J. F. Peyret: Von jenen, die auszogen, den „Mann ohne Eigenschaften“ zu verstehen. Zu Musils fragwürdiger Aktualität. In: Robert Musil. Untersuchungen. Hrsg. v. U. Baur/E. Castex. Königstein/Ts. 1980. S. 31–46, hier S. 31: „Gewiß ist der ‚MoE‘ eine Foltermaschine. Man braucht nur daran zu denken, was er seinem Schöpfer angetan hat, und in welchem unangenehmen Gefühl der Unbefriedigtheit er den Leser zurückläßt. Unbefriedigtheit ist ein noch zu schwaches Wort: Der ‚MoE‘ lädt zu einer Lektüre ein, die ein Selbstmord, ein Selbstmord beim Lesen ist.“ 104 R. Musil: Curriculum vitae [etwa 1938] (GW II, 949–951, hier 949).
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II. Forschungsstand und Perspektiven
Vinzenz und die Freundin bedeutender Männer (1923)105 sowie der Nachlaß zu Lebzeiten (1936).106 Eine zeit- wie gattungsgeschichtliche Einordnung nicht nur des Essayisten, sondern auch des Dramatikers und Theaterkritikers Musil steht noch aus.107 Die Musil’schen Essays, Essayfragmente und Kritiken wurden bislang ebenso wie die Tagebücher, Briefe, und Interviews in erster Linie als ‚Paratexte‘, genauer ,auktoriale Epitexte‘ (Gérard Genette),108 zum Roman Der Mann ohne Eigenschaften verstanden und als „Zitatenteich[e]“109 genutzt:110 als Textreservoire, deren man sich zum illustrativen Beleg der jeweiligen Untersuchungsthesen oder aber auch als Paraphrasen bedienen kann; vielfach ohne den jeweiligen zeitlichen, textuellen und kontextuellen Bezug zu berücksichtigen. Eine Monographie zu den Essays Robert Musils stellt nach wie vor ein Forschungsdesiderat dar,111 obgleich dessen Bedeutung als Essayist sowie die Relevanz des essayistischen Programms – innerhalb des Romans Der Mann ohne Eigenschaften von der Ulrich-Figur vertreten – für die moderne Romantheorie unbestritten ist. So gibt es kaum eine Untersuchung zum Roman, in welcher der Themenkomplex ‚Essayismus‘ unbehandelt bleibt, wobei in der Musil- wie auch in der Essay-Forschung immer wieder auf das 62. Kapitel Auch die Erde, namentlich aber Ulrich, huldigt der Utopie des
_____________ 105 Vgl. jedoch S. Bauer: Wahrhaftigkeitsproblematik (in den „Schwärmern“) (1966). In: Robert Musil. Hrsg. v. R. v. Heydebrand. Darmstadt 1982. S. 333–380; G. Schneider: Untersuchungen zum dramatischen Werk Robert Musils. Bern [u.a.] 1973; W. Braun: Ferdinand Stader, „Die Schwärmer“ und die konstruktive Ironie. In: Robert Musil. Essayismus und Ironie. Hrsg. v. G. Brokoph-Mauch. Tübingen 1992. S. 115–123; B. C. Marinoni: Essayistisches Drama. Die Entstehung von Robert Musils Stück „Die Schwärmer“. München 1992 u. a. 106 G. Brokoph-Mauch: Robert Musils „Nachlaß zu Lebzeiten“. New York [u. a.] 1985, T. Hake: „Gefühlserkenntnisse und Denkerschütterungen“. Robert Musils „Nachlaß zu Lebzeiten“. Bielefeld 1998 u. a. 107 Vgl. jedoch R. Zeller: Robert Musil und das Theater seiner Zeit. In: Robert Musil and the Literary Landscape of his Time. Hrsg. v. H. Hickman. Univers. of Salford 1991. S. 134–151 und U. Tiebel: Theater von aussen. Robert Musil als Kritiker 2. Aufl. Rheinfelden/Berlin 1993 u. a. 108 Vgl. G. Genette: Paratexte: das Buch vom Beiwerk des Buches. Frankfurt/New York 1989. S. 12 und S. 328ff. 109 R. Musil: Literat und Literatur. Randbemerkungen dazu (1931) (GW II, 1206). 110 Vgl. hierzu kritisch M. Wagner-Egelhaaf („Anders ich“ oder: Vom Leben zum Text. Robert Musils Tagebuch-Heft 33. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 65 (1991). S. 152–174, hier S. 152), welche „Musils Tagebücher, von der Forschung als Archiv für Belege und Zitate benützt, […] als Text sui generis“ liest. 111 Vgl. jedoch M. L. Roth: Robert Musil. Ethik und Ästhetik. Zum theoretischen Werk des Dichters. München 1972.
2. Robert Musil – der Autor als Vertextungsprinzip mit Eigenschaften?
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Essayismus zurückgegriffen wird. In zahlreichen Forschungsarbeiten zu Musils Romanprojekt, die sich im Titel nicht auf die Problematik des Essays bzw. Essayismus beziehen, fungiert ‚Essayismus‘, vielfach in den Überschriften zu den einzelnen Kapiteln, wenigstens aber in Einleitung oder Zusammenfassung, als Schlüssel-, wenn nicht gar Zauberwort zur Interpretation eines Textkomplexes, der sich dem Autornamen Robert Musil zuschreiben lässt. Der catch-all-term ‚Essayismus‘, der normativ entweder Exzellenz oder aber dichterisches Unvermögen zugesprochen bekommt, wird geradezu zur Eigenschaft des Autors und seines Vertextungsprinzips (v)erklärt. In der Forschung zur Romantheorie im Allgemeinen und der Sekundärliteratur zu Robert Musil im Besonderen haben vor allem die Versuche, Formen und Strukturen des modernen Romans im Vergleich von Musils Der Mann ohne Eigenschaften (1930/32) mit den Romanen Thomas Manns und Hermann Brochs oder auch Franz Kafkas festzumachen, Tradition.112 Schon in den frühen Arbeiten zu Musils Romanbegriff113 und der dem Mann ohne Eigenschaften impliziten Romantheorie114 wurde im Essayismus das „Formprinzip des Romans“115 gesehen. Bemerkenswert ist dabei, dass über die Frage, was denn nun ‚Essayismus‘ eigentlich sei, und über die ausführliche Wiedergabe einschlägiger Zitate (wessen nun: Ulrichs? des
_____________ 112 Vgl. J. Strelka: Kafka, Musil, Broch und die Entwicklung des modernen Romans. 3. unveränd. Aufl. Wien [u. a.] 1959; H. Arntzen: Der moderne deutsche Roman. Voraussetzungen, Strukturen, Gehalte. Heidelberg 1962; F. Trommler: Roman und Wirklichkeit. Eine Ortsbestimmung am Beispiel von Musil, Broch, Roth, Doderer und Gütersloh. Stuttgart [u. a.] 1966; M. Sera: Utopie und Parodie bei Musil, Broch und Thomas Mann. „Der Mann ohne Eigenschaften“, „Die Schlafwandler“, „Der Zauberberg“. Bonn 1969; E. Kunne-Ibsch: Erzählformen des Relativierens im Modernismus, dargestellt an Thomas Manns „Joseph und seine Brüder“ und Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“. In: Wissen aus Erfahrungen. Werkbegriff und Interpretation heute. Festschrift für Herman Meyer zum 65. Geburtstag. Hrsg. v. Alexander von Bormann [u. a.]. Tübingen 1976. S. 760–780; A. G. P. Hannon: Der essayistische Roman in Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“, Thomas Manns „Der Zauberberg“ und Brochs „Die Schlafwandler“. Diss. (Microf.) Univ. of Houston Texas 1979; P.-A. Alt: Ironie und Krise. Ironisches Erzählen als Form ästhetischer Wahrnehmung in Thomas Manns „Der Zauberberg“ und Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“. Frankfurt a. M. [u. a.] 1985; J. H. Petersen: Der deutsche Roman der Moderne. Grundlegung – Typologie – Entwicklung. Stuttgart 1991; D. Kremer: Die endlose Schrift. Franz Kafka und Robert Musil. In: Funkkolleg Studienbrief 6: Literarische Moderne. Europäische Literatur im 19. und 20. Jahrhundert. Hrsg. v. R. Grimminger [u. a.]. Tübingen 1994. S. 4–35 und S. 46 u. a. 113 D. Kimpel: „Beiträge zur geistigen Bewältigung der Welt…“. Über den Romanbegriff Robert Musils. In: Deutsche Romantheorien. Hrsg. v. R. Grimm. Frankfurt a. M. 1974. S. 418–440. 114 Vgl. H.-G. Pott: Robert Musil. München 1984. S. 163. 115 P. Nusser: Musils Romantheorie. The Hague/Paris 1967. S. 105.
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II. Forschungsstand und Perspektiven
Erzählers? oder Autors?) hinaus nach wie vor Unklarheit herrscht und dies nicht nur wegen der schwebenden auktorial-personalen Erzählhaltung. Selten fehlt in diesem Zusammenhang die Bemerkung, dass dieser Themenkomplex schon vielfach untersucht worden sei sowie der Hinweis auf die ältere unveröffentlichte Dissertation von Wilfried Berghahn zur Essayistischen Erzähltechnik Robert Musils (1956), die der morphologischen Methode Günther Müllers verpflichtet ist. 116 So vermag auch Peter C. Pfeiffer in seiner Studie zum Verhältnis von Aphorismus und Romanstruktur (1990) selbst auf Grundlage Fricke’scher Definitionsformeln117 nicht zwischen „Aphoristischem Element und essayistischen Passagen“ zu unterscheiden.118 Die Arbeitshypothese lautet, dass die „Funktion der Aphoristischen Elemente“ noch bis 1933 darin bestanden habe, „den anomischen Zustand der Gesellschaft ästhetisch zu gestalten“.119 Die „Erfahrung des Nationalsozialismus“ aber habe den „entscheidenden Bruch in Musils poetologischen Reflexionen“ und eine damit einhergehende „Neubewertung des Aphorismus“ mit sich gebracht.120 Pfeiffer hebt den „konservative[n] Grundton“121 und „geistesaristokratischen Elitismus“122 der Musil’schen Essays hervor und stellt die These auf, dass Musil „eine realistische Tradition […] auf der Grundlage der modernen wissenschaftlichen Methodenlehre“ neu begründen wolle.123 Dagegen spricht sich Philian Joung in Essayismus und essayistisches Verfahren in Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“ (1996) gegen diese ‚Realismusthese‘ bzw. gegen die Übertragung geschichtsphilosophischer
_____________ 116 W. Berghahn: Die essayistische Erzähltechnik Robert Musils. Eine morphologische Untersuchung zur Organisation und Integration des Romans „Der Mann ohne Eigenschaften“. Diss. (masch.) Univ. Bonn 1956; vgl. G. Müller: Die Bedeutung der Zeit in der Erzählkunst. Bonn 1947 und ders.: Erzählzeit und erzählte Zeit. In: Festschrift für P. Kluckhohn und H. Schneider. Tübingen 1948. S. 195–212. 117 P. C. Pfeiffer: Aphorismus und Romanstruktur. Zu Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“. Bonn 1990. S. 10: „Ein Aphoristisches Element ist ein a) Prosatext, der innerhalb eines Großtextes b) vereinzelt steht, c) keine Fiktionssignale enthält und d) konzis formuliert und sprachlich bzw. sachlich pointiert ist.“ 118 Ebd. S. 21. 119 Ebd. S. 60. 120 Ebd. S. 2. 121 Ebd. S. 50. 122 Ebd. S. 53. 123 Ebd. S. 89: „Anders als Thomas Mann, der bewußt mit der literarischen Tradition spielt und sich doch von ihr distanziert, wollte Musil eine realistische Tradition neu begründen, und zwar in dem Sinne, daß er auf der Grundlage der modernen wissenschaftlichen Methodenlehre einen Realismus aufbauen wollte, der über das Poetische hinausdrängend ein Essentielles festhalten und die Distanz zwischen Subjekt und Objekt aufheben sollte.“
2. Robert Musil – der Autor als Vertextungsprinzip mit Eigenschaften?
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Prämissen und Krisentheoreme auf den Roman aus124 und deutet Musils „Poetik reiner Aktualität und Erregung“125 im Rekurs auf Rilke, die französische Moderne126 und die „Formexperimente[ ] zeitgenössischer FilmAvantgarde“.127 Bei der erklärten Methode einer immanenten Herausarbeitung der „methodische[n] sowie stilistische[n] Dignität“ des Essays „im Kontext seiner [Musils] romanpoetologischen Reflexionen“128 werden die Begriffe ‚Essayismus‘, ‚essayistisches Verfahren‘ und ‚essayistischer Stil‘ allerdings weitgehend voraussetzungslos, das heißt ohne begriffliche oder inhaltliche Klärung, eingeführt und verwendet. Auch Hans-Joachim Pieper, der Musils Philosophie (2002) des Essayismus „im Spannungsfeld der Theorien Nietzsches und Machs“ entwickelt, sieht diese „nicht in theoretischen Schriften, sondern in Musils Dichtung realisiert“.129 Dabei differenziert er zwischen dem (scheiternden) „induktiven Essayismus“ der Romanfigur Ulrichs einerseits und dem (gelingenden) „performativen Essayismus“ der Romankomposition andererseits: „Indem Musil Ulrich als eine Art Statthalter des Essayismus in den Roman hineinversetzt und an ihm seine eigene Grundhaltung reflektiert, gelingt ihm literarisch, was theoretisch stets mißlingt: der relativistische Perspektivismus wird seinerseits perspektivistisch relativiert. Der induktive Essayismus wird im performativen Essayismus essayistisch in Frage gestellt.“130 Auch ältere Studien zur „ästhetischen Theorie“ (Renate M. Marschner)131 oder „systematischen Literaturtheorie“ Robert Musils (Roger Willemsen)132 haben bereits das Verhältnis von Selbstreflexivität133 und Diskursivität134 als Konstituens der literarischen Moderne hervorgehoben.135
_____________ 124 P. Joung: Passion der Indifferenz. Essayismus und essayistisches Verfahren in Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“. Münster 1997. S. 12. 125 Ebd. S. 25, 71 u. a. 126 Ebd. S. 65. 127 Ebd. S. 73. 128 Ebd. S. 18f. 129 H.-J. Pieper: Musils Philosophie. Essayismus und Dichtung im Spannungsfeld der Theorien Nietzsches und Machs. Würzburg 2002. S. 9. 130 Ebd. S. 150. 131 R. M. Marschner: Utopie der Möglichkeit. Ästhetische Theorie dargestellt am „Mann ohne Eigenschaften“ von Robert Musil. Stuttgart 1981. 132 R. Willemsen: Das Existenzrecht der Dichtung. Zur Rekonstruktion einer systematischen Literaturtheorie im Werk Robert Musils. München 1984. 133 J. Schramke: Zur Theorie des modernen Romans. München 1974; D. Scheunemann: Romankrise. Die Entstehungsgeschichte der modernen Romanpoetik in Deutschland. Heidelberg 1978. 134 U. Eisele: Die Struktur des modernen deutschen Romans. Tübingen 1984; P. Bürger: Prosa der Moderne. Frankfurt a. M. 1992; J. H. Petersen: Der deutsche Roman der Moderne. Grundlegung, Typologie, Entwicklung. Stuttgart 1991.
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II. Forschungsstand und Perspektiven
Zusammenfassend sei hier aus der neueren Untersuchung Alice Bolterauers zitiert, nach welcher „die Modernität des Musilschen Werks“ nicht nur „in der Thematisierung bestimmter Inhalts- und Formelemente zu suchen ist, die als konstitutiv für die literarische Moderne erachtet werden (Krise des Erzählens, Essayismus im Roman, Krise der Identität, Zerfall der Werte, Rationalitätskritik)“, sondern zuerst und vor allem in der „ästhetischen Reflexion“: „Darin besteht ein Merkmal aller Literatur der Moderne: daß sie ihren Texten eine immanente Poetik oder Programmatik moderner Literatur stets mitreflektiert und mitschreibt. Moderne Literatur ist selbstreferentiell, autopoietisch und selbstreflexiv.“136 Bolterauers These, dass sich „die Modernität der Wiener Moderne“ an der „literarischen Selbstreflexion“ festmachen lasse, die sie vor dem Hintergrund ihrer Musilforschungen und im Kontext des Sonderforschungsbereichs Moderne. Wien und Zentraleuropa um 1900 (Universität Graz) entwickelt, kann als Parallelprojekt zu der vorliegenden Studie gelesen werden.137 Andere Forschungsarbeiten schlagen postmoderne Lesarten des Musil’schen Romans vor:138 Musil wird als Vorläufer von Poststrukturalis-
_____________ 135 Zur Situierung von Autor und Roman im Kontext der Moderne vgl. G. Bauer: Die „Auflösung des anthropozentrischen Verhaltens“ im modernen Roman. Dargestellt an Musils „Mann ohne Eigenschaften“. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 42 (1968). S. 677–702; A. Venturelli: Robert Musil und das Projekt der Moderne. Frankfurt a. M. [u. a.] 1988; S. Vietta: Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“. In: ders.: Die literarische Moderne. Eine problemgeschichtliche Darstellung der deutschsprachigen Literatur von Hölderlin bis Thomas Bernhard. Stuttgart 1992. S. 89–103; P. V. Zima: Robert Musil und die Moderne. In: Die literarische Moderne in Europa. Hrsg. v. H. J. Piechotta [u. a.]. Bd. 1: Erscheinungsformen literarischer Prosa um die Jahrhundertwende. Opladen 1994. S. 430– 452; U. Karthaus: Robert Musil und der moderne deutsche Roman. In: Hommage à Musil. Genfer Kolloquium zum 50. Todestag von Robert Musil. Hrsg. v. B. Böschenstein/M.-L. Roth. Bern [u. a.] 1995. S. 205–228; W. H. Sokel: Historismus und Avantgarde. Zur zwiespältigen Bewertung der Moderne im „Mann ohne Eigenschaften“. In: Hommage à Musil (1995). S. 145–159; A. M. Kochs: Chaos und Individuum. Robert Musils philosophischer Roman als Vision der Moderne. Freiburg/München 1996; H. Haslmayr: Die Zeit ohne Eigenschaften. Geschichtsphilosophie und Modernebegriff im Werk Robert Musils. Wien/Köln/Weimar 1997 u. a. 136 A. Bolterauer: Rahmen und Riss. Robert Musil und die Moderne. Wien 1999. S. 13. 137 Dies.: Selbstvorstellung. Die literarische Selbstreflexion der Wiener Moderne. Freiburg 2003. S. 9. 138 Vgl. hierzu M. Moser: Zwischen Wissenschaft und Literatur. Zu Robert Musils Essayismus. In: Verabschiedung der (Post-)Moderne? Eine interdisziplinäre Debatte. Hrsg. v. J. Le Rider/G. Raulet. Tübingen 1987. S. 167–197; U. Zeuch: „Eine Gerechtigkeit mit Flammen statt mit Logik“. Zur Gerechtigkeitsdiskussion in der Postmoderne und Musils Moral des anderen Zustands. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 114 (1995). S. 264–285 u. a.
2. Robert Musil – der Autor als Vertextungsprinzip mit Eigenschaften?
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mus139 und Posthistoire140 bzw. Metahistorismus,141 Subjekt- und Logozentrismuskritik, Foucault’scher Diskursanalyse sowie Baudrillard’scher Simulakren gewürdigt, Der Mann ohne Eigenschaften wird als Antizipation von Bachtins Polyphonie-Konzept142 und Derridas Dekonstruktivismus,143 als Meta-Diskurs144 und „Diskursexperiment“145 gelesen. Die Applikation aktuell diskutierter Theoreme und das relativ hohe Abstraktionsniveau korrelieren allerdings vielfach mit begrifflicher Unschärfe und fehlenden Textanalysen. In Bezug auf das hier vertretene Verständnis von Essayismus als Metatext bleibt anzumerken, dass innerhalb der MusilForschung neben dem Stichwort ‚Selbstreflexivität‘146 bzw. ‚Metareflexivi-
_____________ 139 Vgl. R. G. Renner: Transformatives Erzählen. Musils Grenzgang im „Mann ohne Eigenschaften“. In: The Germanic Review 66 (1991). S. 70–81. 140 Differenziert hierzu: H. Böhme: Die Zeit ohne Eigenschaften. Robert Musil und die Posthistoire. In: ders.: Natur und Subjekt. Frankfurt a. M. 1988. S. 308–334, hier S. 312ff. und H. Haslmayr: Die Zeit ohne Eigenschaften (1997). S. 29f. 141 B. Wagner: Musils Metahistorismus. Zur Konkurrenz von Zeitdiagnostik und Modernem Roman. In: Intellektuelle in der Weimarer Republik. Hrsg. v. W. Bialas/ G. G. Iggers. Frankfurt a. M. [u. a.] 1996. 142 P. V. Zima: Robert Musils Sprachkritik. Ambivalenz, Polyphonie und Dekonstruktion. In: Robert Musil – Theater, Bildung, Kritik. Hrsg. v. J. Strutz/J. Strutz. München 1985. S. 185–204, hier S. 194; R. D. Precht: Die gleitende Logik der Seele. Ästhetische Selbstreflexivität in Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“. Stuttgart 1996. 143 Vgl. D. Heyd: Musil-Lektüre: der Text, das Unbewußte. Psychosemiologische Studien zu Robert Musils theoretischem Werk und zum Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“. Frankfurt a. M. [u. a.] 1980, Anm. 35. S. 16; P. V. Zima: Robert Musils Sprachkritik (1985). S. 185–204; H. J. Völse: Im Labyrinth des Wissens. Zu Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“. Wiesbaden 1990; vgl. dagegen R. D. Precht: Die gleitende Logik der Seele (1996). S. 68f., welcher der „dekonstruktivistischen ‚Methodik‘, etwa jener im Sinne Paul de Mans […] enge Grenzen gesetzt“ sieht: „denn das Scheitern der Denomination ist so offensichtlich, so explizit thematisch, daß es nicht erst in einer dekonstruktivistischen Lektüre […] herausgearbeitet werden muß. […] Allem Anschein nach produzieren solch avanciert dekonstruktivistische Texte wie das Eingangskapitel des MoE das interessante Paradox, daß sie sich kaum noch dekonstruktivistisch lesen lassen.“ 144 H. Böhme: Die Zeit ohne Eigenschaften (1988). S. 308–334. 145 W. Moser: Diskursexperimente im Romantext. Zu Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“. In: Robert Musil. Untersuchungen. Hrsg. v. U. Baur/E. Castex. Königstein/Ts. 1980. S. 170–198 und ders.: Zwischen Wissenschaft und Literatur (1987). S. 167–197. 146 Vgl. J. Hörisch: Selbstbeziehung und ästhetische Autonomie. Versuch über ein Thema der frühromantischen Poetologie und Musils „Mann ohne Eigenschaften“. In: Euphorion 69 (1975). S. 350–362; M. Frank: Auf der Suche nach einem Grund. Über den Umschlag von Erkenntniskritik in Mythologie bei Musil. In: Mythos und Moderne. Begriff und Rekonstruktion. Hrsg. v. K. H. Bohrer. Frankfurt a. M. 1983. S. 318– 363; R. Pietsch: Fragment und Schrift. Selbstimplikative Strukturen bei Robert Musil. Frankfurt a. M [u. a.] 1988; A. Böhn: Vollendete Mimesis. Wirklichkeitsdarstellung
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II. Forschungsstand und Perspektiven
tät‘147 zunehmend auch die Begriffe ‚Metafiktionalität‘,148 ‚Metanarrativität‘,149 ‚Intertextualität‘150 und ‚Interdiskursivität‘151 Verwendung finden. Dabei wird der jeweilige theoretische und methodologische Anspruch oftmals dem Erkenntnis- bzw. Untersuchungsgegenstand selbst zugesprochen.152 Auch hier gilt: alles Erkennen ist Wieder-Erkennen und das Erkenntnisinteresse wie die jeweiligen epistemologischen Voraussetzungen konstituieren den Gegenstand. Abgesehen von dieser methodologischen Aporie fehlt bislang der Versuch, die theoretischen Konzepte einer internen Differenzierung oder aber einer konkreten Textanalyse zu unterziehen. Textintensiv erforscht worden sind dagegen in älteren Studien zu Musils Der Mann ohne Eigenschaften der Zusammenhang zwischen dem „zeitgenössischen Denken“ und den Reflexionen Ulrichs (Renate von Heydebrand)153 und, auf der Grundlage von Herman Meyer,154 das Paradigma
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und Selbstbezüglichkeit in Theorie und literarischer Praxis. Berlin 1992. S. 162–190; R. D. Precht: Die gleitende Logik der Seele (1996) u. a. Vgl. D. Fuder: Analogiedenken und anthropologische Differenz. Zu Form und Funktion der poetischen Logik in Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“. München 1979. A. Rußegger: „Isis und Osiris“. Zur Metafiktionalität in Musils Ästhetik-Theorie. In: Sprachkunst XIX (1988). S. 1–21 und ders.: „Denn jede Kunst bedeutet ein eigenes Verhältnis des Menschen zur Welt, eine eigene Dimension der Seele.“ – Béla Balázs’ Filmtheorie als Paradigma für eine meta-fiktionale Poetik bei Robert Musil. In: Kinoschriften. Jahrbuch 2 der Gesellschaft für Filmtheorie. Wien 1990. S. 131–145. Vgl. I. Honnef-Becker: „Ulrich lächelte“. Techniken der Relativierung in Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“. Frankfurt a. M. [u. a.] 1991 und dies.: Selbstreferentielle Strukturen in Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“. In: Wirkendes Wort 44 (1994). S. 72–88. Vgl. D. Heyd: Musil-Lektüre (1980); G. Meisel: Liebe im Zeitalter der Wissenschaften vom Menschen. Das Prosawerk Robert Musils. Opladen 1991; R. D. Precht: Die gleitende Logik der Seele (1996) u. a. Vgl. A. Honold: Die Stadt und der Krieg. Raum- und Zeitkonstruktion in Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“. München 1995. Vgl. S. Hajduk: Die Figur des Erhabenen. Robert Musils ästhetische Transgression der Moderne. Würzburg 2000. S. 447, der „den modernen Dichter Musil“ ausdrücklich nicht als „postmodernen Dekonstruktivisten avant la lettre […] porträtieren will“, zugleich aber auf die „Affinität zwischen poststrukturaler Semiotik“ und den „für Musil charakteristischen ästhetischen Verfahren“ hinweist. R. v. Heydebrand: Die Reflexionen Ulrichs in Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“. Ihr Zusammenhang mit dem zeitgenössischen Denken. Münster 1966 (zu Nietzsche, Mach, Simmel, Buber, Klages u. a.). H. Meyer: Das Zitat in der Erzählkunst. Zur Geschichte und Poetik des Europäischen Romans (1961/67). Frankfurt a. M. 1988.
2. Robert Musil – der Autor als Vertextungsprinzip mit Eigenschaften?
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des Zitats am Mann ohne Eigenschaften (Gerhard R. Kaiser)155 sowie die Textübernahmen aus den von Martin Buber herausgegebenen Ekstatischen Konfessionen (Dietmar Goltschnigg).156 Die akribischen Herausarbeitungen von Einflüssen, zeittypischen Analogien, Paraphrasen und Zitaten vertreten jedoch mit Ausnahme von Götz Müller, der den Zitatcharakter der Musil’schen Romanfiguren unter den wissenssoziologischen Aspekten von Ideologiekritik und Metasprache (1972) analysiert,157 keinen (text-)theoretisch relevanten Erkenntnisanspruch. So bleibt es bei einer Koexistenz von weitgehend ‚induktiv‘ verfahrenden Textinterpretationen und -analysen auf der einen und überwiegend ‚deduktiv‘ verfahrenden Theorieableitungen auf der anderen Seite. Der älteren Arbeit Albrecht Schönes Zum Gebrauch des Konjunktivs bei Robert Musil (1960/61)158 sowie den neueren Untersuchungen Irmgard HonnefBeckers zu den Techniken der Relativierung (1991) bzw. Selbstreferentiellen Strukturen (1994)159 in Musils Roman gelingt es dagegen überzeugend, beide Ebenen der Textanalyse, das heißt theoretischen Anspruch und textanalytische Praxis, miteinander zu verbinden. Im Gegensatz zur intensiven Auseinandersetzung mit dem Romanfragment Der Mann ohne Eigenschaften stehen Untersuchungen zum Essayismus auf der Textgrundlage der Musil’schen Essays noch weitgehend aus, auch wenn sich hier in den letzten Jahren ein Umdenken abzuzeichnen scheint.160 Zwei von Gudrun Brokoph-Mauch und Hans-Georg Pott herausgegebene Sammelbände führen zwar sowohl den Namen des Autors wie den Wortstamm ‚Essay-‘ im Titel,161 tragen jedoch trotz der Beleuchtung zahlreicher Einzelaspekte weder zur Klärung gattungstheoretischer Fragen noch zur Entwicklung textanalytischer Modelle bei. Marie-Louise
_____________ 155 G. R. Kaiser: Proust, Musil, Joyce. Vom Verhältnis von Literatur und Gesellschaft am Paradigma des Zitats. Frankfurt a. M. 1972 (zu Hölderlin, Eichendorff, Goethe, Emerson, Buber und Maeterlinck). 156 D. Goltschnigg: Mystische Tradition im Roman Robert Musils. Martin Bubers „Ekstatische Konfessionen“ im „Mann ohne Eigenschaften“. Heidelberg 1974. 157 G. Müller: Ideologiekritik und Metasprache in Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“. München/Salzburg 1972. 158 A. Schöne: Zum Gebrauch des Konjunktivs bei Robert Musil (1961/66). In: Robert Musil. Hrsg. v. R. v. Heydebrand. Darmstadt 1982. S. 19–54. 159 I. Honnef-Becker: „Ulrich lächelte“ (1991) und dies.: Selbstreferentielle Strukturen in Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“ (1994). S. 72–88. 160 Vgl. A. Classen: Art. ‚Robert Musil‘. In: Encyklopedia of the Essay. Ed. by T. Chevalier. London/Chicago 1997. p. 586f. 161 G. Brokoph-Mauch (Hrsg.): Robert Musil. Essayismus und Ironie. Tübingen 1992 und H.-G. Pott (Hrsg.): Robert Musil – Dichter, Essayist, Wissenschaftler. München 1993.
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II. Forschungsstand und Perspektiven
Roth ordnet in ihrer grundlegenden Arbeit Ethik und Ästhetik (1972) „Musils Aufsätze“ dezidiert nicht der Textsorte ‚Essays‘, sondern der ‚Abhandlung‘ zu.162 Auch Helmut Arntzen spricht in seinem biobibliographischen Überblick nicht von ‚Essays‘, sondern nur von ‚Aufsätzen‘, ‚Bemerkungen’ und ‚Besprechungen.163 Die literatursoziologisch ausgerichtete Analyse Hartmut Böhmes Anomie und Entfremdung (1974),164 die modaltheoretische Studie Matthias Luserkes Wirklichkeit und Möglichkeit (1987)165 sowie die diskursanalytische Untersuchung Alexander Honolds zu Die Stadt und der Krieg (1995)166 beziehen zwar neben dem Mann ohne Eigenschaften auch die Essays Robert Musils in ihre Fragestellung mit ein, ohne diese jedoch zum eigentlichen Gegenstand von Gattungs-, Form- bzw. Struktur- und Stilanalysen zu machen. In den letzten Jahren ist eine Reihe von Einzeldarstellungen zu den Essays Robert Musils erschienen, die jedoch überwiegend sichtenddeskriptiv verfahren.167 Übergreifende text- oder gattungstheoretische Probleme werden nicht angegangen. Stattdessen überwiegt die Beschrän-
_____________ 162 Vgl. M.-L. Roth: Der Essay. In: Robert Musil. Ethik und Ästhetik. Zum theoretischen Werk des Dichters. München 1972. S. 281–288, hier S. 281: „Aber Musils Aufsätze sind nicht im formellen Sinne Essays. Der Essayismus ist eher eine Angelegenheit des Inhalts, eine innere Haltung, die ihren ausgeprägtesten Ausdruck im ‚Mann ohne Eigenschaften‘ gefunden hat. Die Aufsätze haben eher den Charakter von Abhandlungen und kritischen Schriften als von Essays, wenn man sie mit anderen Essays von Emerson, Nietzsche, Benjamin oder Blei vergleicht.“ 163 H. Arntzen: Einleitung: Robert Musil – Geschichte seines Schaffens. In: ders.: MusilKommentar sämtlicher zu Lebzeiten erschienener Schriften außer seinem Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“. München 1980. S. 13–77. 164 H. Böhme: Anomie und Entfremdung. Literatursoziologische Untersuchungen zu den Essays Robert Musils und seinem Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“. Kronberg/Ts. 1974. 165 M. Luserke: Wirklichkeit und Möglichkeit. Modaltheoretische Untersuchung zum Werk Robert Musils. Frankfurt a. M. [u. a.] 1987. 166 A. Honold: Die Stadt und der Krieg (1995). Vgl. auch H. Brüggemann: Architekturen des Augenblicks. Raum-Bilder und Bild-Räume einer urbanen Moderne in Literatur, Kunst und Architektur des 20. Jahrhundert. Hannover 2002. 167 J. Nadler: „Der Mann ohne Eigenschaften“ oder Der Essayist Robert Musil. In: Wort und Wahrheit 5 (1950). S. 688–697; S. Reinhardt: Jahre ohne Synthese. Anmerkungen zu den Essays Robert Musils. In: Text und Kritik 21/22 (1972). S. 40–49; M.-L. Roth: Robert Musil. Ethik und Ästhetik (1972) und dies.: Essay und Essayismus bei Robert Musil. In: Probleme der Moderne. Studien zur deutschen Literatur von Nietzsche bis Brecht. Festschrift für W. Sokel. Hrsg. v. B. Bennett [u. a.]. Tübingen 1983. S. 117– 132; A. Obermayer: Robert Musil als Journalist und Essayist. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik 8 (1976). H. 1. S. 34–47; B. Neymeyr: Musils skeptischer Fortschrittsoptimismus. Zur Ambivalenz der Gesellschaftskritik in seinen Essays. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 115 (1996). S. 576–608.
2. Robert Musil – der Autor als Vertextungsprinzip mit Eigenschaften?
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kung auf einzelne thematische Aspekte.168 Dietmar Goltschnigg169 und die „gattungstheoretische Analyse“ Aloisa Bolterauers170 kommen in der vergleichenden Betrachtung der Essays von Robert Musil und Hermann Broch zu dem kaum noch überraschenden Ergebnis, dass die Musil’schen Essays dem Gattungs-Urahnen Montaigne, diejenigen Brochs dagegen Bacons zuzuordnen seien. Neben vereinzelten Darstellungen zu dem frühen Essayfragment Über den Essay (Lalli Mannarini),171 zur Emerson-Rezeption (Hannah Hickman)172 und zum Essay über Das Unanständige und Kranke in der Kunst (Susan Erickson),173 neuerdings und grundlegend auch zu Die Frau gestern und heute (Emanuela Veronica Fanelli),174 konzentriert oder besser streut sich das Interesse vor allem auf die Skizze der Erkenntnis des Dichters (Claudia Monti),175 die frühen politischen und kulturkritischen Essays (Annette Daigger),176 Das hilflose Europa oder die Reise vom Hundertsten ins Tausendste (Marie-Louise Roth, David R. Midgley, H.-G. Pott),177 den Spengler-Essay
_____________ 168 P. Zöchbauer: Der Krieg in den Essays und Tagebüchern Robert Musils. Stuttgart 1996. 169 D. Goltschnigg: Zur Poetik des Essays und des Essayismus bei Robert Musil und Hermann Broch. In: Poetik und Geschichte. V. Žmegaÿ zum 60. Geburtstag. Hrsg. v. D. Borchmeyer. Tübingen 1989. S. 412–450 und ders.: Robert Musil und Hermann Broch als Essayisten: „Literat und Literatur. Randbemerkungen dazu“ (1931) und „Das Böse im Wertsystem der Kunst“ (1933). In: Robert Musil. Essayismus und Ironie. Hrsg. v. G. Brokoph-Mauch (1992). S. 161–173. 170 A. Bolterauer: Die literarischen Essays Robert Musils und Hermann Brochs. Eine gattungstheoretische Analyse. Diss. (masch.) Univ. Graz 1991. 171 L. Mannarini: Über den Essay. Analyse eines Fragments Musils. In: Musil-Forum 10 (1984). S. 233–238. 172 H. Hickman: „Lebende Gedanken“ und Emersons „Kreise“ In: Robert Musil. Untersuchungen. Hrsg. v. U. Baur/E. Castex. Königstein/Ts. 1980. S. 139–152. 173 S. Erickson: Essay/Body/Fiction. The Repression of an Interpretative Context in an Essay of Robert Musil. In: The German Quaterly 56 (1983). Nr. 4. S. 580–593. 174 E. V. Fanelli: „Die Frau gestern und morgen“. Anamnese und Diagnose eines aktuellen Phänomens. In: Neue Ansätze zur Robert-Musil-Forschung. Hrsg. v. M.-L. Roth. Bern [u. a.] 1999. S. 137-195. 175 C. Monti: Musils ‚Ratioïd‘, oder Wissenschaft als Analogie der Ratio. In: Philologie und Kritik. Klagenfurter Vorträge zur Musilforschung. Hrsg. v. W. Freese. München/Salzburg 1981. S. 195–223. 176 A. Daigger: Musils politische Haltung in seinen frühen Essays. In: Robert Musil. Essayismus und Ironie. Hrsg. v. G. Brokoph-Mauch (1992). S. 75–91. 177 M.-L. Roth: Das hilflose Europa oder Reise vom Hundertsten ins Tausendste. Versuch einer Interpretation. In: Robert Musil. Ein Mitteleuropäer. Hrsg. v. J. Munzar/ F. Herman. Brünn 1994. S. 11–25, D. R. Midgley: „Das hilflose Europa“: Eine Aufforderung, die politischen Essays von Robert Musil neu zu lesen. In: German Quaterly 67 (1994), Nr. 1. S. 16–27 und H.-G. Pott: Geist und Macht im essayistischen Werk Robert Musils. In: Geist und Macht. Schriftsteller und Staat im Mitteleuropa des „kur-
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II. Forschungsstand und Perspektiven
Geist und Erfahrung (Primus-Heinz Kucher),178 die kunst- bzw. literaturtheoretischen Essays, Ansätze zu neuer Ästhetik (Paul Stefanek)179 und Literat und Literatur (Hannah Hickman, Silvia Bonacchi)180 und Musils Rede vor dem Internationalen Schriftsteller-Kongress in Paris (Dieter Schiller, Bernd Hüppauf, Michael Rohrwasser).181 Dieser kurze Abriss, der nicht mehr als skizzenhaft und summarisch genannt werden kann, zeigt, dass neben weiteren Einzeluntersuchungen zu den Essays, deren biographischer, zeit- und literaturgeschichtlicher Verortung, noch der Versuch aussteht, diese literarische Vertextungs- bzw. Publikationsform in ihrer jeweiligen relativen Eigenständigkeit wie in ihrem Zusammenhang untereinander zu untersuchen. Die vorliegende Studie, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, eine den Musil’schen Essays ‚immanente‘ oder vielmehr intra- und intertextuell vernetzte Poetologie der Moderne – auf der Ebene der Darstellung wie der Reflexion – herauszuarbeiten, konzentriert sich auf die Explikation der essayistischen Theorie und der essayistischen Vertextungsverfahren. Im Folgenden werden Analysekriterien zur Bestimmung des Essayistischen herausgearbeitet.
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zen Jahrhunderts“ 1914–1991. Hrsg. v. M. Zybura u. Mitw. v. K Wóycicki. Dresden 2002. S. 217–227, bes. S. 221ff. P.-H. Kucher: Die Auseinandersetzung mit Spenglers „Untergang des Abendlandes“ bei R. Musil und O. Neurath: Kritik des Irrationalismus. In: Robert Musil. Literatur, Philosophie und Psychologie. Hrsg. v. J. Strutz/J. Strutz. München 1984. S. 124–143. P. Stefanek: Illusion, Ekstase, Erfahrung. Zu Robert Musils Essay „Ansätze zu neuer Ästhetik“. In: Modern Austrian Literature 9 (1976), Nr. 3/4. S. 155–168. H. Hickman: Musils Essay „Literat und Literatur“. Form und Gestalt in Wissenschaft und Kunst. In: Kunst, Wissenschaft und Politik von Robert Musil bis Ingeborg Bachmann. Hrsg. v. J. Strutz/J. Strutz. München/Salzburg 1986. S. 34–51, S. Bonacchi: Die Gestalt der Dichtung. Der Einfluss der Gestalttheorie auf das Werk Robert Musils. Bern [u. a.] 1998. S. 261–291 und dies.: Was man alles in einem Aufsatz nicht liest: Die Textentwicklung des Aufsatzes „Literat und Literatur“ – von der Laudatio zur poetologischen Schrift. In: Neue Ansätze zur Robert-Musil-Forschung. Hrsg. v. M.-L. Roth (1999). S. 51–79. D. Schiller: „Die Grenze der Kultur gegen die Politik“. Zu Robert Musils Rede auf dem Pariser Kongreß 1935. In: Zeitschrift für Germanistik 9 (1988). H. 3. S. 286–291, B. Hüppauf: Musil in Paris. Robert Musils Rede auf dem Kongreß zur Verteidigung der Kultur (1935) im Zusammenhang seines Werkes. In: Zeitschrift für Germanistik. N. F. I (1991). H. 1. S. 55–70, M. Rohrwasser: Robert Musil auf dem Pariser Schriftsteller-Kongreß (1935). In: Geist und Macht (2002). S. 227–241.
III. Analysekriterien oder die Konstruktion des Gegenstandes 1. Intertextualität oder das große Text-Fressen Ich stibitze mir hier und da aus anderen Büchern die mir gefallenden Sentenzen, nicht um sie im Gedächtnis zu speichern, denn ich habe keinen Gedächtnisspeicher, sondern um sie in mein Werk einzubringen, wo sie mir wahrhaftig kein bißchen mehr gehören als an ihrem ersten Platz.1 (Michel de Montaigne) 2 Arten geistiger Ernährung wichtig zu unterscheiden: Aufnahme durch persönliche Verarbeitung (Studium, Originalstudium) und in Emulsion. Dazwischen die Abstufungen der Aufnahme aus (zweiter, dritter, hundertster Hand. Selbst im Universitätsstudium)2 (Robert Musil)
Der Essay ist eine Textform, die als hochgradig intertextuell bezeichnet werden kann. Er stellt keine genuine literarische Schöpfung dar, sondern bezieht sich als Form der Kunst- oder Literaturkritik im engeren Sinn auf bereits vorhandene Kunst- bzw. Literaturwerke, deren Elemente er anders ordnet bzw. dekomponiert und neu mischt. Er stellt andere Bezüge zwischen ihnen her (inter-textuell), ordnet sie in neue Zusammenhänge ein (sozio-kulturell bzw. kontextuell). Auch als Form der Kulturkritik im wei-
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M. de Montaigne: Über die Schulmeisterei. In: ders.: Essais (1580–95). Frankfurt a. M. 1998. S. 74; vgl. ders.: Über die Physiognomie. S. 533: „Angesichts so vieler Anleihen bin ich froh, hier und da etliche tarnen zu können, indem ich sie zu neuer Verwendung umforme und verkleide. […] / Für jede Quelle, die ich nenne, verschweige ich zwei. Mir macht es einfach Spaß, die Zitate nicht nur in einem anderen als dem ursprünglichen, sondern oft sogar im entgegengesetzen Sinn zu verwenden, und zuweilen füge ich sie meinem Argumentationsgang so nahtlos ein, daß man schon einen guten Blick braucht und sie oft im Original gelesen haben muß, um sie wiederzuerkennen.“ R. Musil: Tagebücher. Heft 19 (1919–1921) (TB I, 540); kein abschließendes Satzzeichen in der Textvorlage; Hervorhebung v. B. N.
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III. Analysekriterien oder die Konstruktion des Gegenstandes
teren Sinn greift der Essay stets auf Vorhandenes,3 Phänomene des alltäglichen wie kulturellen Lebens zurück, die bereits in anderen literarischen Texten oder semiotischen Zeichensystemen vorliegen. Ein Essay kann sich auf eine literarische Neuerscheinung beziehen, auf eine aktuelle Mode oder spezielle Sportart, auf einen Gegenstand des Alltagslebens, auf eine gesetzliche Regelung oder politische Institution, er kann ein Werk der bildenden Kunst zum Gegenstand haben, einen anderen Essay oder Essayisten, eine wissenschaftliche Neuentdeckung ebenso wie eine kulinarische Spezialität: „Beim echten Essay ist es gleichgültig“, so die prägnante Formulierung Michael Hamburgers, „ob sein Titel auf ein literarisches Thema deutet oder nicht, ob auf den Ursprung des Trauerspiels oder den Ursprung des Schweinebratens.“4 Seine Funktion ist eine zwischen den verschiedenen Diskursfeldern (Alltag, Kunst, Wissenschaft) sowie zwischen den einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen (Naturwissenschaft, Philosophie) stehende, traversierende. Doch der Bezug auf andere Texte, Textsorten und Diskursformen vollzieht sich nur in den seltensten Fällen über eine Apparatur von Fußnoten, Anmerkungen und dokumentarischen Anhängen, wie es bei der Textsorte der wissenschaftlichen Abhandlung allgemein gebräuchlich ist. Der andere Text, der Prätext oder aber eine Sentenz aus diesem, ist vielmehr – beispielsweise bei der literarischen Kritik oder Rezension – der Anlass, der Gegenstand, die Rechtfertigung, das Konstituens des Folgetextes. Die Referenz erfolgt explizit, das heißt als Zitat markiert, wenn auch nicht immer getreu der Textvorlage,5 durch doppelte Anführungszeichen gekennzeichnet. Weiterhin kann der Autor, der entsprechende Werktitels, der Name einer literarischen Figur oder je nachdem, einer mathematischen Formel oder chemischen Gleichung genannt werden. Die Bezugnahme kann aber auch unmarkiert erfolgen, durch ein nicht gekenn-
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Vgl. G. Lukács: Über Wesen und Form des Essays. Ein Brief an Leo Popper. In: ders.: Die Seele und die Formen. Essays (1911). Neuwied/Berlin 1971. S. 7–32, hier S. 20 („[…] der Essay spricht immer von etwas bereits Geformten […]“) und T. W. Adorno: Der Essay als Form (1958). In: Gesammelte Schriften. Hrsg. v. R. Tiedemann. Bd. 11: Noten zur Literatur. Frankfurt a. M. 1974. S. 9–34, hier S. 28. M. Hamburger: Essay über den Essay. In: Akzente 12 (1965). S. 290–293; hier S. 291. Vgl. G. Good: The Observing Self. Rediscovering the Essay. London/New York 1988. S. 6: „There are often quotations in the essay, but rarely footnotes. The modern ‚article‘ is required to have an apparatus of citations and referenences which bind it into the ‚textuality‘ of its discipline. In contrast the essayist often quotes from memory (Montaigne began the essayistic tradition of doing so fallibly), and in any case the reader ist not expected to want to find or verify the quotation as if he were a discipulus. Quoting in the essay introduces an element of dialogue; disciplinary prose quotes to provide authority for its statements through an accepted doctor of its discipline.”
1. Intertextualität oder das große Text-Fressen
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zeichnetes Zitat oder eine Paraphrase, eine bloße Anspielung oder eine strukturelle Übernahme. Somit scheint der Essay als literarische Form, die zwischen den Texten steht und die aufgrund ihrer expliziten und impliziten Verweisstruktur als hochgradig intertextuell bezeichnet werden kann, in besonderer Weise Julia Kristevas Bild vom Text als „Mosaik von Zitaten“6 zu entsprechen. Und doch ist der Essay bislang noch nicht zum Gegenstand der Intertextualitätsforschung erkoren worden. Warum? Das seit den siebziger Jahren innerhalb der Literaturwissenschaften zunehmend an Terrain gewinnende Forschungsparadigma lässt sich grob in zwei Richtungen differenzieren: erstens in einen texttheoretische und zweitens in einen textanalytische: Der erste, poststrukturalistische bzw. dekonstruktivistische Ansatz geht auf der Grundlage der Subjektivitätsund Logozentrismuskritik Derridas und der Textkritik Kristevas von einem entgrenzten Textbegriff aus, der fiktionale wie nicht-fiktionale, literarische und diskursive Texte, sprachliche und andere semiotische Zeichensysteme umfasst. Wird hier Intertextualität als genereller, gesellschaftlich-semiotischer Tatbestand gefasst, der keiner spezifischen Textbefunde mehr bedarf, so wird im zweiten, eher hermeneutisch bzw. strukturalistisch ausgerichteten Ansatz Intertextualität als spezifische Qualität ausschließlich literarischer Texte gewertet.7 Hier wird Intertextualität als Beobachtungs- bzw. Beschreibungskategorie auf Formen bewusster und markierter Textreferenz,8 auf den Werkbegriff im Besonderen oder literarische Texte im Allgemeinen9 sowie auf Einzeltextreferenzen statt Systemreferenzen (Gattungen, Diskurse)10 beschränkt. Diese Einengung des Intertextualitätsbegriffs zugunsten deskriptiver, analysepraktischer Opera-
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J. Kristeva: Bachtin, Das Wort, der Dialog und der Roman (1967/72). In: Zur Struktur des Romans. Hrsg. v. B. Hillebrand. Darmstadt 1978. S. 388–408, hier S. 391: „[…] das Wort (der Text) ist Überschneidung von Wörtern (von Texten), in der sich zumindest ein anderes Wort (ein anderer Text) lesen läßt. […] jeder Text baut sich als Mosaik von Zitaten auf, jeder Text ist Absorption und Transformation eines anderen Textes.“ Vgl. hierzu T. W. Adorno: Der Essay als Form (1958), hier S. 25, der von einem „mosaikhafte[m] Verhältnis zu anderen Essays“ spricht. 7 Vgl. M. Pfister: Konzepte der Intertextualität. In: Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Hrsg. v. U. Broich/M. Pfister. Tübingen 1985. S. 25 und H.-P. Mai: Bypassing Intertextuality. Hermeneutics, Textual Practice, Hypertext. In: Intertextuality. Ed. by H. F. Plett. Berlin/New York 1991. p. 31. 8 U. Broich: Formen der Markierung von Intertextualität. In: Intertextualität (1985). S. 31–48. 9 K. Stierle: Werk und Intertextualität. In: Dialog der Texte. Hrsg. v. W. Schmid/W.D. Stempel. Wien 1983. S. 7–27. 10 R. Kloepfer: Grundlagen des „dialogischen Prinzips“ in der Literatur. In: Dialogizität. Hrsg. v. R. Lachmann. München 1982. S. 85–107.
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III. Analysekriterien oder die Konstruktion des Gegenstandes
tionalisierungen liegt auch dem Sammelband Intertextualität von Ulrich Broich und Manfred Pfister zugrunde.11 Allerdings führt die forschungspragmatisch sinnvolle Restriktion zur Ausgrenzung eines Gegenstandsbereichs: des Essays bzw. der essayistischen Vertextungsstrukturen innerhalb der Intertextualitäts-Forschung. Der Verweis auf kulturelle Phänomene, gesellschaftliche Diskurse, literarische und nicht-literarische Texte aber ist für die Gattung Essay und das essayistische Vertextungsprinzip konstitutiv. So zählt Hermann Kähler den Befund, „daß die Essayisten nicht nur auf der Grundlage der Tradition des Essays schreiben, sondern ebensosehr auf der Grundlage anderer literarischer Formtraditionen“ zu den „wichtigsten Eigenarten“ des Essays.12 Es stellt sich somit die Frage nach den textuellen Verarbeitungsmechanismen und literaturwissenschaftlichen Beschreibungsmöglichkeiten von fiktionalen (Roman) in nicht-fiktionalen Texten (Essay) und umgekehrt, von nicht-fiktionalen in fiktionalen Texten.13 Dabei eignet sich gerade der Essay in besonderer Weise dazu, die texttheoretischen, textdeskriptiven und literatur- bzw. kulturkritischen Dimensionen von Intertextualität aufeinander zu beziehen.14 Die Erforschung der literarischen Form des Essays könnte somit hilfreich sein, die Ansätze von Intertextualität und Interdiskursivität zu verbinden. Hierfür ist ein theoretisches und methodologisches Konzept zu entwickeln, das nicht nur in diachroner Hinsicht intertextuelle Reihenbildungen bzw. Sequenzierungen literarischer Texte/Textsorten vornimmt, sondern auch in synchroner Hinsicht Phänomene der Gattungsmischung und -entgrenzung zwischen literarischen und nicht-literarischen Texten sowie gesellschaftlichen Diskursen beschreibbar macht. Angesichts der um 1900 feststellbaren Tendenz von Gattungsexperimenten einerseits sowie deren (Selbst-)Reflexion ist das Essayistische in seiner experimentellen, formauflösenden und gattungsübergreifenden
_____________ 11 U. Broich/M. Pfister (Hrsg.): Intertextualität (1985). 12 H. Kähler: Von Hofmannsthal bis Benjamin. Ein Streifzug durch die Essayistik der zwanziger Jahre. Berlin/Weimar 1982. S. 27f. 13 Vgl. O. Ette: Intertextualität. Ein Forschungsbericht mit literatursoziologischen Anmerkungen. In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 9 (1985). S. 497– 520, P. V. Zima: Robert Musils Sprachkritik. Ambivalenz, Polyphonie und Dekonstruktion. In: Robert Musil – Theater, Bildung, Kritik. Hrsg. v. J. Strutz/J. Strutz. München 1985. S. 185–204 sowie S. Holthuis: Intertextualität. Aspekte einer rezeptionsorientierten Konzeption. Tübingen 1993. S. 30. 14 Vgl. R. Lachmann: Ebenen des Intertextualitätsbegriffs. In: Das Gespräch. Hrsg. v. K. Stierle/R. Warning. München 1984. S. 133–139, hier S. 133.
2. Metatextualität oder der Essay als (Selbst-)Kritik der Kritik
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Qualität die literarische Form, welche den neuen, sprich ,modernen‘ Inhalten (Großstadt Geschwindigkeit, Wissenschaft etc.), Modi (Auflösung von Raum, Zeit und Subjekt) und Methoden (Empiriokritizismus, Montage etc.) am prägnantesten Ausdruck verleiht. Sicherlich kann diese Entwicklung nicht isoliert betrachtet werden. Nach Kai Kauffmann dominieren um 1900 nicht die kritischen, sondern vielmehr die prophetisch-fundamentalistischen Aspekte und Tendenzen des Essayismus um 1900: „Überall geht es […] um die Überwindung jener ‚Zerrissenheit‘, die als Kennzeichen der modernen Welt erkannt wird, und zwar in Form einer neuen Lebens- und ‚Weltanschauung‘.“15 Als Interdiskurs ist der Essay jedoch selbst Funktion „der für die Moderne grundlegenden Dialektik zwischen Diskursspezialisierung und interdiskursiver Reintegration“.16 Einer (Natur-)„Wissenschaft in Pantoffeln“17 steht mit Robert Musil, Karl Mannheim u. a. der Versuch gegenüber, gesellschaftliche Differenzierungen und Synthetisierungsversuche ebenso beschreibbar wie kritisch analysierbar zu machen.18 Der Essayismus als Vertextungsverfahren in Der Mann ohne Eigenschaften beschreibt die Dialektik von Differenzierung und Integration u. a. als Zitat auf der Figurenebene, bietet aber gerade nicht eine Syntheseformel an, sondern eine komplexe Vielfalt einander relationierender Perspektiven.19 Intertextualität wird hier zum literarischen Modus reflektierter Interdiskursivität.
_____________ 15 K. Kauffmann: Naturwissenschaft und Weltanschauung um 1900. Essayistische Diskursformen in den populärwissenschaftlichen Schriften Ernst Haeckels. In: Zeitschrift für Germanistik. N. F. XV (2005). S. 61–75, hier S. 62; vgl. ebd. S. 69. 16 J. Link: Literaturanalyse als Interdiskursanalyse. Am Beispiel des Ursprungs literarischer Symbolik in der Kollektivsymbolik. In: Diskurstheorien und Literaturwissenschaft. Hrsg. v. J. Fohrmann/H. Müller. Frankfurt a. M. 1988. S. 284–311, hier S. 285. 17 Vgl. R. Musil: Literat und Literatur. Randbemerkungen dazu (1931) (GW II, 1223). 18 Vgl. B. Nübel: Relationismus und Perspektivismus. Karl Mannheim und Robert Musil. In: „Alle Welt ist medial geworden.“ Literatur, Technik, Naturwissenschaft in der klassischen Moderne. Hrsg. v. M. Luserke-Jaqui. Tübingen 2005. S. 141–161. 19 Karl Mannheim (Wissenssoziologie. In: Ideologie und Utopie (1929). 4. Aufl. Frankfurt a. M. 1965. S. 227–269, hier S. 242) verwendet den Relationismusbegriff, um sich vom Vorwurf des Relativismus abgrenzen zu können: „Dieses Relationieren des einzelnen geistigen Gebildes auf die Gesamtstruktur eines bestimmten historischen und sozialen Subjektes mit einem philosophischen Relativismus (als Lehre von einer Maßstabs- und Ordnungslosigkeit der Welt) zu verwechseln, ist ebenso abwegig wie die Anwendung des Begriffes ‚Relativismus‘ (im Sinne einer puren Beliebigkeit) […].“
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III. Analysekriterien oder die Konstruktion des Gegenstandes
2. Metatextualität oder der Essay als (Selbst-)Kritik der Kritik Kritik ist die Literatur der Literatur. Oder deutlicher: Kritik ist die Form der Literatur, deren Gegenstand die Literatur ist.20 (Ernst Robert Curtius) Als Gegengewicht zur Kategorie der Literarizität stellt der Roman in der zweiten Linie die Kritik des literarischen Wortes als solchem, zumal des Romanwortes, heraus.21 (Michail M. Bachtin)
Geradezu ein blinder Fleck innerhalb der Diskussion über die Beobachtungskategorie Intertextualität stellt – eben wegen der Ausgrenzung nichtliterarischer Texte – das für die Gattung Essay und die essayistische Narration relevante Metatextualitätskonzept dar. Anton Popoviÿ hat den Begriff ‚Metatext‘ als „parasitäre[ ] textuelle[ ] Struktur“ in die Diskussion eingeführt.22 Er unterscheidet dabei zwischen einer Sphäre primärer Kommunikation (Autor – Text – Empfänger1) und den Typen der Metakommunikation (Metatext – Empfänger2): „the term ,meta-communication‘ refers to all types of processing (manipulation) of the original literary text, whether it is done by other authors, readers, critics, translators, etc.“ Anton Popoviÿ differerenziert zwischen dem ,Prototext‘ als „text which serves as an object of inter-textual continuity“ und dem ,Metatext‘ als „model of the prototext; the way in which two texts are linked“:23 „Quotation, transcription, translation, parody, and so forth are models of their prototexts. A metatext is a meta-sign of a work which is already in existence. In metatexts, textual ontology has priority over extratextual ontology.“24 Das Verhältnis zwischen ,Prototext‘ und ,Metatext‘ wird als Relation von „intertextual invariants“ zu „meaning variants“ beschrieben25 und auf einer Skala eingeordnet, die von der größtdenkbaren Imitation (Transkription, Plagiat etc.) bis zur größtmögli-
_____________ 20 E. R. Curtius: Goethe als Kritiker. In: ders.: Kritische Essays zur europäischen Literatur (1950). 2. erw. Bern 1957. S. 31–57, hier S. 32f. 21 M. M. Bachtin: Die Ästhetik des Wortes. Hrsg. v. R. Grübel. Frankfurt a. M. 1979. S. 291. 22 Vgl. Z. Kravar: Art. ‚Metatextualität‘. In: Moderne Literatur in Grundbegriffen. Hrsg. v. D. Borchmeyer/V. Žmegaÿ. 2. neu bearb. Aufl. Tübingen 1994. S. 274–278, hier S. 274. 23 A. Popoviÿ: Aspects of Metatext. In: Canadian Review of Comparative Literature 3 (1976) S. 225–236, hier S. 226. 24 Ebd. S. 233. 25 Ebd. S. 227.
2. Metatextualität oder der Essay als (Selbst-)Kritik der Kritik
47
chen Abweichung (Parodie) rangiert. Dabei können sich die Transformationen, die der Metatext am Prototext vornimmt, sowohl auf Teile desselben wie auf dessen gesamte Struktur beziehen.26 In der aktuellen Diskussion ist dieses weite Konzept von Metatextualität durch den Oberbegriff ‚Intertextualität‘ bzw. ‚Transtextualität‘ (Julia Kristeva) abgelöst worden. ‚Metatextualität‘ als Unterbegriff bezeichnet nunmehr die Verfahren textueller Selbstthematisierung, -kommentierung und -reflexion.27 So bestimmt Heinrich F. Plett ‚Metatext‘ schlicht als Kommentar eines anderen Textes: „A metatext is a text commenting on another text. Hence every learned article or book dealing with literary texts belongs to this category but also the prefaces, notes, and reviews […].“28 Auch bei Gérard Genette bezeichnet ‚Metatextualität‘ als „kritische Beziehung par excellence“ zunächst den Kommentar. Dabei braucht die Relation zwischen Kommentar, Interpretation, Kritik und Prätext(en) nicht notwendig explizit bzw. markiert zu sein: ‚Metatextualität‘ ist die „als ‚Kommentar‘ apostrophierte Beziehung zwischen einem Text und einem anderen, der sich mit ihm auseinandersetzt, ohne ihn unbedingt zu zitieren (anzuführen) oder auch nur zu erwähnen“.29 In seinem Modell transtextueller Beziehungen unterscheidet Genette die folgenden Typen: 1. ,Intertextualität‘ als „Beziehung der Kopräsenz zweier oder mehrerer Texte“ bzw. als „effektive Präsenz eines Textes in einem anderen Text“ (z. B. Zitat, Anspielung etc.) 2. ‚Paratextualität‘ als Beziehung zwischen literarischem Text und seinen Begleittexten (Titel, Untertitel, Zwischentitel, Vorworte, Nachworte, Einleitungen, Fußnoten, Anmerkungen, Motti, Illustrationen etc.) 3. ,Metatextualität‘ als nicht-fiktionaler kritischer Kommentar eines Textes auf einen anderen 4. ‚Hypertextualität‘ als Bezugnahme eines fiktiven Textes B (= ‚Hypertext‘) auf einen Text A (= ‚Hypotext‘) 5. ‚Architextualität‘ als Zugehörigkeit zu literarischen Gattungen, Äußerungsmodi und Diskurstypen.30
_____________ 26 Ebd. S. 228ff. 27 Vgl. R. Lachmann: Intertextualität und Dialogizität. In: dies.: Gedächtnis und Literatur: Intertextualität in der russischen Moderne. Frankfurt a. M. 1990. S. 51–200, hier S. 114. 28 H. F. Plett: Intertextualities. In: Intertextuality. Ed. by H. F. P. Berlin/New York 1991. p. 3–30. p. 22. 29 G. Genette: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Frankfurt a. M. 1993. S. 13. 30 Ebd. S. 10–15.
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III. Analysekriterien oder die Konstruktion des Gegenstandes
Zwar kann in diesem Modell ein Text sämtliche genannten Formen der ‚Transtextualität‘ zugleich realisieren, dennoch bleibt die Unterscheidung zwischen ‚Metatext‘ und ‚Hypertext‘ problematisch. Beim Hypertext handelt es sich nach Genette um ein literarisches Werk, um eine Form der littérature au second degré. Text A werde von Text B auf eine Weise überlagert, die nicht die des Kommentars, sondern die des (Bastel-)Spiels sei.31 Der Hypertext als eine aus einer anderen Fiktion oder aus der Schilderung einer tatsächlichen Begebenheit abgeleitete Fiktion stelle „nach wie vor ein Werk der Fiktion“ dar,32 sei also – so Genette – „fast immer fiktional“.33 Im Prozess der Textgenese funktioniere „[j]ede Fassung der Niederschrift […] in bezug auf die vorangegangene wie ein Hypertext und in bezug auf die folgende wie ein Hypotext. Die Entstehung eines Textes ist vom ersten Entwurf bis zur letzten Korrektur eine Sache der AutoHypertextualität.“34 Literarhistorisch gesehen entspreche Hypertextualität somit „einer zugleich klassischen und modernen ästhetischen Haltung“, „mit denen eine gewisse Moderne oder Postmoderne […] an eine ‚vormoderne‘ Epoche anknüpft“.35 Der ‚Metatext‘ wird dagegen von Genette als nicht-fiktionaler Kommentar eines Prätextes definiert, da dieser „im Prinzip nie in den Bereich der narrativen oder dramatischen Fiktion fällt“.36 Der fiktionale Hypertext „sprengt den Rahmen“ des nichtfiktionalen Metatextes.37 Hinsichtlich der Fiktionalität bzw. des Fiktionsstatus des jeweiligen Textes (Hypertext = fiktional vs. Metatext = nicht-fiktional), welche auf dem Differenzkriterium der textinternen Referenz auf eine textexterne Wirklichkeit („Schilderung einer tatsächlichen Begebenheit“)38 zu beruhen scheinen, verschwimmen dann allerdings die Abgrenzungen:39 „Der Hy-
_____________ 31 32 33 34 35 36 37 38
Vgl. ebd. S. 532. Ebd. S. 15. Ebd. S. 530. Ebd. S. 526. Ebd. S. 529f. Ebd. S. 530. Ebd. S. 531. Ebd. S. 530; vgl. ders.: Fiktion und Diktion. München 1992. S. 31f.: „Fiktionsliteratur ist die, die wesentlich durch den imaginären Charakter ihrer Gegenstände gekennzeichnet ist, während Diktionsliteratur wesentlich durch ihre formalen Qualitäten beeindruckt – wieder ungeachtet der Amalgame und Mischformen.“ 39 Vgl. auch T. Morgan: The Space of Intertextuality. In: Intertextuality and Contemporary American Fiction. Ed. by P. O’Donnell/R. C. Davis. Baltimore/London 1989. p. 239–279. p. 268 zu G. Genettes Unterscheidung zwischen Hyper- und Metatext: „[…] the difference between structural hypertext and critical metatext will be hard to maintain.“
2. Metatextualität oder der Essay als (Selbst-)Kritik der Kritik
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pertext kann nicht-fiktional sein, insbesondere wenn er sich von einem nicht-fiktionalen Werk herleitet. Ein Kant-Pastiche oder eine Versifikation der Kritik der reinen Vernunft wäre sicherlich ein nicht-fiktionaler Hypertext. Der Metatext hingegen ist seinem Wesen nach nicht-fiktional. Andererseits besitzt der Hypertext […] immer mehr oder weniger den Wert eines Metatextes“.40 Die Festlegung des Metatextes als nicht-fiktionaler Kommentar auf der Grundlage des Referenzkriteriums ist jedoch ebenso zu befragen wie der Fiktionsstatus des Essays generell.41 Hinzuweisen bleibt darüber hinaus auf einen auktorialen Peritext,42 eine Fußnote Genettes zu den auktorialen Varianten im Prozess der Textgenese: „Natürlich schließt dieser hypertextuelle Aspekt der Entstehungsbeziehung […] andere transtextuelle Aspekte nicht aus: der Vortext fungiert auch als Paratext, dessen (unter anderem) kommentierender und somit metatextueller Wert“ hervorgehoben wird.43 Es stellt sich die Frage nach der metatextuellen Funktion der Paratexte wie nach dem Verhältnis von ‚Begleittexten‘ und ‚Haupttext‘. So sind in der Forschungsliteratur zu Robert Musil die essayistischen Texte bislang überwiegend als das ‚Hauptwerk‘, den Mann ohne Eigenschaften, begleitende Texte gelesen worden. Sinnvoller als das begrifflich-hierarchisierende Festhalten an einer Vorstellung von ‚Haupt‘- und ‚Nebentexten‘, ist der relationale Aspekt der textanalytischen Kategorien ‚Paratextualität‘ und ‚Metatextualität“. Manfred Pfister definiert ,Metatextualität‘ als „a text about texts or textuality, an auto-reflective and auto-referential text, which thematizes its own textual status and the devices on which it is based.“44 Sein Modell der „Intensität intertextueller Verweise“ sieht sechs Skalierungskriterien vor: 1.) Referentialität, 2.) Kommunikativität, 3.) Autoreflexivität, 4.) Strukturalität, 5.) Selektivität und 6.) Dialogizität.45 Der Kriterienkatalog ist nicht disjunktiv zu verstehen, sondern eher als Bündel von Merkmalen, das durchaus auch gemeinsame Schnittmengen enthalten kann. Metatextualität stellt in diesem Analysemodell eine Art Schnitt- bzw. gemeinsame Untermenge zwischen den Aspekten ‚Referentialität‘, ‚Autoreflexivität‘ und ‚Dialogizität‘ dar. Zunächst kann der Metatext ganz all-
_____________ 40 G. Genette: Palimpseste (1993). S. 530f. 41 Vgl. das Kapitel III. 7 Essayistische Subjektfiguration und Fiktionsstatus der vorliegenden Arbeit. 42 Vgl. G. Genette: Paratexte: das Buch vom Beiwerk des Buches. Frankfurt/New York 1989. S. 329. 43 Ders.: Palimpseste (1993), Anm. 2. S. 527. 44 M. Pfister: How Postmodern is Intertextuality? In: Intertextuality. Ed. by H. F. Plett (1991). p. 207–225. p. 215. 45 Ders.: Konzepte der Intertextualität (1985). S. 26–29.
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III. Analysekriterien oder die Konstruktion des Gegenstandes
gemein dem Kriterium ‚Referentialität‘ zugeordnet werden. Diese bezeichnet die Thematisierung eines Textes durch einen anderen, beispielsweise durch explizite Zitation und/oder Nennung des Autornamens. In dieser Hinsicht ist der Folgetext nach Manfred Pfister stets Metatext des Prätextes: „So treibt Intertextualität immer auch zu einem gewissen Grad Metatextualität hervor, eine Metatextualität, die den Prätext kommentiert, perspektiviert und interpretiert […].“46 Zugleich wird die metakommunikative Dimension gerade der modernen und postmodernen Literatur, welche als Paradigma für Intertextualität überhaupt verstanden wird, unter der Kategorie ‚Autoreflexivität‘ betrachtet. Diese kennzeichnet einen intertextuellen Verweis, der selbstreflexiv ist, „d. h. die Intertextualität nicht nur markiert, sondern sie thematisiert, ihre Voraussetzungen und Leistungen rechtfertigt oder problematisiert.“47 Weiterhin ist Metatextualität aber auch dem Kriterium der ‚Dialogizität‘ zuzuordnen. Denn die textuelle Selbstkommentierung kann, so Manfred Pfister, eine „semantische[ ] und ideologische[ ] Spannung“ der Texte, eine „Textverarbeitung gegen den Strich des Originals“, eine ironische Relativierung, ein „distanzierendes Ausspielen der Differenz zwischen dem alten Kontext des fremden Worts und seiner neuen Kontextualisierung“ erzielen.48 Im Pfister’schen Modell ist der Metatext eine Art selbstreflexiver Kommentar, der in einer dialogisch-spielerischen Distanz zu einem vorgängigen Text steht. Renate Lachmann definiert ‚Metatextualität‘ als „textuelle Selbstreflexion“.49 Metatextualität wird hier zu einer generellen Textqualität,50 wenn es heißt: „Der implizite Text ist der Ort der Überschneidung von präsentem und absentem Text, der Ort der Interferenz von Texten, die kulturelle Erfahrungen als kommunikative vermittelt und kodiert haben. Als Summe der Intertexte verweist der implizite Text im Verweis auf die fremden Texte auf sich selbst und konstituiert so seinen eigenen Metatext.“51 Zugleich unterscheidet Renate Lachmann ‚Intertextualität‘ „[i]n dem Sinne, daß der Text auf andere Texte als Allusion, Parodie, Zitat, Plagiat referiert“ von ‚Metatextualität‘ „in dem Sinne, daß der Text die Reflexion auf seine Konstitution abbildet“.52 Indem ‚Metatextualität‘ jedoch auch als
_____________ 46 47 48 49 50
Ebd. S. 26f. Ebd. S. 27. Ebd. S. 29. R. Lachmann: Ebenen des Intertextualitätsbegriffs (1984). S. 138. Diese wird von Kristeva als quasi-ontologische, von Lachmann jedoch als textanalytische Kategorie verstanden. 51 R. Lachmann: Ebenen des Intertextualitätsbegriffs (1984). S. 137. 52 Dies.: Intertextualität und Dialogizität (1990). S. 152.
2. Metatextualität oder der Essay als (Selbst-)Kritik der Kritik
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„Selbstkommentierung, ja Selbstthematisierung des Romans“ gelesen wird,53 ist es auf dieser Basis kaum noch möglich, zwischen den Konzepten von ‚Metatextualität‘ einerseits und ‚Metafiktionalität‘ andererseits zu unterscheiden.54 Während der Terminus der Metafiktion zur Zeit geradezu boomt,55 ist die Kategorie der Metatextualität, die für die Textsorten Essay, Kritik und Kommentar gleichermaßen konstitutiv ist, erstaunlicherweise noch keiner speziellen Untersuchung für wert erachtet worden. Und dies, obwohl der Metatext, der als nicht-literarischer Text aus dem Gegenstandsgebiet der Intertextualitätsforschung ausgeklammert wird,56 nicht nur hochgradig intertextuell intensiv ist, sondern über die signalisierte bzw. markierte Intertextualität hinaus auch das einzige intertextuelle Verfahren darstellt, das neben der markierten bzw. signalisierten Textinterferenz überhaupt Anspruch auf Analysierbarkeit erheben kann.57 Definieren wir ‚Metafiktion‘ als (Auto-)Reflexion der eigenen Fiktionalität und ‚Metanarration‘ als „Thematisierung des Erzählens bzw. des Erzählvorgangs“,58 so bezeichnet ‚Metatext‘ die Kommentierung von (Inter-)Textualität.59 ‚Metatextualität‘
_____________ 53 Ebd. S. 114. 54 Vgl. hierzu auch W. Wolf (Formen literarischer Selbstreferenz in der Erzählkunst. In: Erzählen und Erzähltheorie im 20. Jahrhundert. Hrsg. v. J. Helbig. Heidelberg 2001. S. 49–85, bes. S. 50 und S. 70), der auf das „terminologische[ ] Dickicht“ zur Beschreibung des Phänomens literarischer Selbstreferenzialität hinweist (ebd. S. 50). 55 Vgl. L. Hutcheon: Narcissistic Narrative. The metafictional Paradox (1980). New York/London 1984; P. Waugh: Metafiction. The Theory and Practice of SelfConscious Fiction. London 1984; M. Ahlers: Die Stimme des Menelaos. Intertextualität und Metakommunikation in Texten der Metafiction. Würzburg 1993; A. Nünning: Von der historischen Fiktion zu historiographischer Metafiktion. Bd. 1: Theorie, Typologie und Poetik des historischen Romans. Trier 1995; D. Frank: Narrative Gedankenspiele. Der metafiktionale Roman zwischen Modernismus und Postmodernismus. Wiesbaden 2001 u. a. 56 M. Lindner: Integrationsformen der Intertextualität. In: Intertextualität. Hrsg. v. U. Broich/M. Pfister (1985). S. 116–135, hier S. 119. 57 R. Lachmann: Ebenen des Intertextualitätsbegriffs (1984). S. 138. 58 A. Nünning: Metanarration als Lakune der Erzähltheorie: Definition, Typologie und Grundriss einer Funktionsgeschichte metanarrativer Erzähleräußerungen. In: Arbeiten aus Anglistik und Amerikanistik. 26/2 (2001). S. 125–165, hier S. 129f. Vgl. ebd. S. 130: „Während Metafiktion […] per definitionem nur im Kontext der Fiktion auftreten kann, finden sich Spielarten von Metanarration auch in vielen nichtfiktionalen narrativen Genres und Medien.“ Vgl. auch W. Wolf: Formen literarischer Selbstreferenz in der Erzählkunst (2001). S. 69f. Metanarration ist – in Bezug auf den Essay – jedoch nur ein Aspekt von Metatextualität. 59 Dabei kann mit S. Holthuis (Intertextualität. Aspekte einer rezeptionsorientierten Konzeption. Tübingen 1993. S. 44) unterschieden werden zwischen: a) AutoIntertextualität (als Bezüge zwischen Texten eines Autors) und b) HeteroIntertextualität (als Bezüge zwischen Texten verschiedener Autoren); vgl. hierzu auch
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III. Analysekriterien oder die Konstruktion des Gegenstandes
als der gemeinsame Oberbegriff von ‚Metafiktion‘ und ‚Metanarration‘ operiert selbst nicht notwendig auf der Basis der Leitdichotomie ‚fiktiv‘– ‚nicht-fiktiv‘. Der Gegenstandsbereich von Metatextualität beschränkt sich somit nicht auf literarische (im Sinn von ‚fiktive‘) Prätexte, sondern kann auch auf Gattungsmuster (‚Architexte‘) und soziokulturellen Wissenssegmente, Zeichensysteme und deren Formatierung (Interdiskursivität) referieren. Für die (manifeste oder latente) Interferenz der Texte ist es dabei nicht entscheidend, ob es sich um fiktive oder nicht-fiktive Texte handelt. Metafiktionalität ist folglich ein (Unter-)Aspekt von Metatextualität, nicht deren (fiktionales) Gegenstück.
3. Dialogizität oder der Essay als polyphoner Text Die ‚Rede‘ des Anderen muß sich transformieren in meine ‚Eigenfremdheit‘ (oder meine ‚Fremdeigenheit‘).60 (Michail M. Bachtin) Das Kritisch-Reflexive, das Fragmentarische und Utopische gilt es […] in solcher Kunst zu verorten, die immer schon durch Selbstreflexion, Gattungsverstöße, Selbstaufhebung und das respektlose Betreten fremder Textdomänen den Bestand der offizialisierten Literatur zu dementieren versucht – das hieße also in einer Karnevalskunst im Bachtinschen Sinne.61 (Renate Lachmann)
‚Dialogizität‘ bezeichnet ein theoretisches Konzept, das der russische Sprach- und Literaturwissenschaftler Michail M. Bachtin (1895–1975) während der Kulturrevolution in den zwanziger Jahren entwickelt hat.62 Julia Kristeva hat den Bachtin’schen Dialogismus in ihrem programmatischen Aufsatz Bachtin, Das Wort, der Dialog und der Roman (1967/72) in ein Konzept von ‚Intertextualität‘ (später ‚Transtextualität‘) als Schreibweise,
_____________ G. Genettes (Paratexte (1989). S. 329) Differenzierung zwischen ,auktorialem Epitext‘ und ,allographem Epitext‘. 60 M. Bakhtin: Esthétique de la création verbale. Paris 1984. S. 365; zit. nach: R. Kloepfer: Intertextualität und Intermedialität oder die Rückkehr zum dialogischen Prinzip. Bachtins Theoreme als Grundlage für Literatur- und Filmtheorie. In: Kino/(Ro)Mania. Intermedialität zwischen Film und Literatur. Hrsg. v. J. Mecke/V. Roloff. Tübingen 1999. S. 23–47, hier S. 41. 61 R. Lachmann: Intertextualität und Dialogizität (1990). S. 72. 62 M. Pfister: Intertextualität. In: Moderne Literatur in Grundbegriffen. Hrsg. v. D. Borchmeyer/V. Žmegaÿ (1994). S. 215–219, hier S. 215.
3. Dialogizität oder der Essay als polyphoner Text
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die zugleich Intersubjektivität wie Kommunikativität bezeichnet, überführt.63 Als dynamisches Konzept einer „Überlagerung von Text-Ebenen“64 stehen die drei Dimensionen des textuellen Raumes miteinander in einem Dialog: „horizontal“: „das Subjekt der Schreibweise“ und der Adressat; „vertikal“: die anderen Texte des „vorangegangenen oder synchronen literarischen Korpus“.65 Auch Rolf Kloepfer, der Kristevas ‚reduktionistische Lesart‘ kritisiert, unterscheidet in Bachtins Dialogmodell „zwei Dimensionen […], die im Text eins werden“: „Horizontal im Bezug zwischen Autor und Leser, vertikal zwischen Wort/Rede als Text und anderen Texten.“66 Dialogizität beschreibt dabei sowohl den Dialog der Stimmen sowie deren Mehrstimmigkeit (Polyphonie) innerhalb eines Textes im engeren Sinn wie innerhalb einer bestimmten Kulturform im weiteren Sinn. Das heißt, der textinterne Dialog ist immer auch ein Dialog mit textexternen Stimmen, Wörtern, Reden und Diskursformen.67 Das Prinzip der Dialogizität innerhalb eines Textes umfasst also sowohl die Auseinandersetzung mit anderen Texten wie mit den Ideologemen der Zeit und das Konstruktionsprinzip des Textes selbst.68 Im polyphonen Text, der die Struktur des Karnevals einbezieht, sind – so Bachtin – „alle sozioideologischen Stimmen der Epoche vertreten […], der Roman muß ein Mikrokosmos der Redevielfalt sein.“69 Dialogizität wird zur Schnittfläche von textinterner Diskursivität bzw. Relativierung und gesellschaftlicher Interdiskursivität.
_____________ 63 J. Kristeva: Bachtin, Das Wort, der Dialog und der Roman (1967/72). S. 395: „So bezeichnet der bachtinsche Dialogismus die Schreibweise zugleich als Subjektivität und als Kommunikativität, oder besser als ‚Intertextualität‘.“ Zur Kritik an Kristevas Bachtin-Lesart vgl. R. Kloepfer: Intertextualität und Intermedialität oder die Rückkehr zum dialogischen Prinzip (1999). S. 27ff. sowie K. Städtke: Interkulturelle Mystifikationen von Theorie. Michail Bachtin und die Bachtionologie. In: Theorie als kulturelles Ereignis. Hrsg. v. K. L. Pfeiffer/R. Kray/K. Städtke. Berlin/New York 2001. S. 134: „Die von Kristeva unter Berufung auf Bachtin in der Literaturwissenschaft eingeleitete Wende vom Dialog der Autoren zum Dialog der Texte wurde der russischen Quelle zwar nicht gerecht, zumal Bachtin der individuellen Autorschaft in seinem DialogKonzept […] eine zentrale, wenn auch besonders definierte Rolle zuweist.“ 64 J. Kristeva: Bachtin, Das Wort, der Dialog und der Roman (1967/72). S. 389: Bachtin stellt „den Text in die Geschichte und die Gesellschaft, welche wiederum als Texte angesehen werden, die der Schriftsteller liest, in die er sich einfügt, wenn er schreibt.“ 65 Ebd. S. 391. 66 R. Kloepfer: Intertextualität und Intermedialität oder die Rückkehr zum dialogischen Prinzip (1999). S. 28. 67 Vgl. M. Pfister: Intertextualität (1994). S. 215. 68 Vgl. R. Lachmann: Intertextualität und Dialogizität (1990). S. 127. 69 M. M. Bachtin: Die Ästhetik des Wortes (1979). S. 290; vgl. hierzu M. Pfister: Konzepte der Intertextualität (1985). S. 4 sowie ders.: Intertextualität (1994). S. 215.
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III. Analysekriterien oder die Konstruktion des Gegenstandes
Beim polyphonen Roman bzw. dialogischen Text kann sich der Dialog sowohl auf den Ebenen des Erzählten („Geschichte“) wie des Erzählens („Diskurs“) vollziehen, das heißt der Autor bezieht sich selbst in die Erzählung mit ein und die beiden Koordinaten (diachron/synchron) bzw. Ebenen der Rede (Geschichte/Diskurs) werden nicht auf einen quasiabsoluten Standpunkt des Erzählers beschränkt, dessen Position zu fluktuieren beginnt von „der Geschichte zum Diskurs und vom Diskurs zur Geschichte.“70 Dagegen äußere sich das konträre Prinzip der Monologizität in der Lyrik,71 im historischen wie im wissenschaftlichen Diskurs und im „darstellenden Modus der Beschreibung“ sowie der epischen Erzählung,72 die den Dialog nur auf der Ebene des Erzählten, nicht aber auf der des Erzählens realisiere.73 ‚Dialogisch‘ heißt bei Michail M. Bachtin aber auch, so zusammenfassend Susanne Holthuis, „daß der Roman die ‚herrschafts‘- bzw. ‚ideologietragenden‘ Werte des gesellschaftlichen Systems relativiert, suspendiert oder unterläuft, indem er divergierende Standpunkte in die Erzähler- und Figurenrede einfließen läßt […]. Polyphonie konstituiert sich in der Ambivalenz und Dissonanz der Stimmen, der Text ist damit offen, als potentiell nicht abschließbarer Dialog bezieht er sich auf die außertextlichen Normen- und Wertesysteme, Ideologeme etc.“74 Bereits Kristeva weist darauf hin, dass Bachtin nicht immer klar zwischen „Dialog“ = „horizontale Achse (Subjekt Adressat)“ und „Ambivalenz“ = „vertikale Achse (Text – Kontext)“ unterscheidet.75 Der Terminus ‚Ambivalenz‘ wird von ihr verstanden als Effekt der Relativierung bzw. als „Resultat der Verknüpfung
_____________ 70 J. Kristeva: Bachtin, Das Wort, der Dialog und der Roman (1967/72). S. 403: „Der Autor – das Subjekt der Erzählung – wird dadurch verwandelt, dass er sich in das System der Erzählung einbezieht, er ist nichts und niemand, sondern die Möglichkeit einer Permutation […].“ 71 R. Lachmann: Dialogizität und poetische Sprache. In: Dialogizität. Hrsg. v. R. Lachmann. München 1982. S. 51. 72 J. Kristeva: Bachtin, Das Wort, der Dialog und der Roman (1967/72). S. 406. 73 Zur „Wiederentdeckung der Beschreibung in der Literatur der Moderne als ästhetische Opposition gegen das Erzählen“ vgl. K. R. Scherpe: Beschreiben, nicht Erzählen! Beispiele zu einer ästhetischen Opposition: von Döblin und Musil bis zu Darstellungen des Holocaust. Antrittsvorlesung Humboldt-Univ. Berlin 1994. S. 3–29, hier: S. 9. 74 S. Holthuis: Intertextualität (1993). S. 12f. 75 J. Kristeva: Bachtin, Das Wort, der Dialog und der Roman (1967/72). S. 391; vgl. auch J. Lehmann (Ambivalenz und Dialogizität. Zur Theorie der Rede bei Michail Bachtin. In: Urszenen. Literaturwissenschaft als Diskursanalyse und Diskurskritik. Hrsg. v. F. A. Kittler/H. Turk. Frankfurt a. M. 1977. S. 370f.), der ‚Ambivalenz‘ als Funktion von Dialogizität versteht.
3. Dialogizität oder der Essay als polyphoner Text
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zweier Zeichensysteme“,76 der „das Eindringen der Geschichte (der Gesellschaft) in den Text“ und umgekehrt impliziert.77 Wenn das polyvalente Prinzip der Dialogizität laut Kristeva „eine Logik der Distanz und der Relation“ (statt monologischer Substanz), „eine Logik der Analogie und der nichtausschließenden Opposition“ (statt monologischer Kausalität) sowie „eine Logik des ‚Transfiniten‘“ umfasst,78 sind damit zugleich auch die drei wichtigsten essayistischen Vertextungsprinzipien benannt: Perspektivismus und Relativismus, Analogie und Metapher sowie Fragmentcharakter. Nach Kristeva realisiert sich der dialogische Diskurs einer (gesellschaftlichen und politischen) Gegenrede bei Bachtin in der menippeischen Satire, im Schelmenroman und im polyphonen Roman.79 Michail M. Bachtin selbst nennt als Beispiele für Autoren des polyphonen Romans Rabelais, Swift, Dostojewski, die von Julia Kristeva um den modernen Roman (Joyce, Proust, Kafka) ergänzt werden – Robert Musil wäre in diese Reihe einzufügen.80 Festzuhalten bleibt an dieser Stelle, dass ‚Roman‘ bzw. ‚Epos‘ von Bachtin selbst nicht mit bestimmten Gattungen gleichgesetzt werden. „Der polyphone Roman“, so Jürgen Lehmann, ist für Bachtin „nicht nur eine bestimmte Romangattung, sondern eine über den Bereich der Literatur zur Erscheinung kommende Manifestation des Denkens, das in seiner Geprägtheit durch Ambivalenz, Dialogizität, Relation einem spätestens seit Aristoteles der Kausalität und Identität verpflichteten monologischen Denken gegenübersteht, dessen Diskurs von daher an der Rede des einen Subjekts orientiert ist.“81 So kann Dialogizität – ähnlich wie auch Essayismus in Unterscheidung zum Essay – als textübergreifendes Prinzip verstanden werden. Michail M. Bachtin hat die Bezeichnung ‚Roman‘ neben Ciceros Brief-
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J. Kristeva: Bachtin, Das Wort, der Dialog und der Roman (1967/72). S. 401. Ebd. S. 396. Ebd. S. 399f. Ebd. S. 406. Vgl. hierzu J. –F. Peyret: Von jenen, die auszogen, den „Mann ohne Eigenschaften“ zu verstehen. Zu Musils fragwürdiger Aktualität. In: Robert Musil. Untersuchungen. Hrsg. v. U. Baur/E. Castex. Königstein/Ts. 1980. S. 31–46, hier S. 42; P. V. Zima (Robert Musils Sprachkritik (1985). S. 185–204, hier S. 194 liest den Mann ohne Eigenschaften als „der polyphone Roman par excellence, als Roman im Sinne von Bachtin“ (vgl. auch schon ders.: Textsoziologie. Stuttgart 1980. S. 14); R. D. Precht (Die gleitende Logik der Seele. Ästhetische Selbstreflexivität in Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“. Stuttgart 1996. S. 10 und S. 72) spricht vom „polyphonen Erzählen“ Musils. 81 J. Lehmann: Ambivalenz und Dialogizität (1977). S. 374.
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III. Analysekriterien oder die Konstruktion des Gegenstandes
wechsel auch auf den sokratischen Dialog anwendet:82 „Bakhtin has pointed out how Plato’s Dialogues are in fact plural, ambiguous and multifaceted rather than monologic. While Socrates mocks poets because they divide the mind […] and stimulate ,womanish‘ behaviour […], Bakhtin praises the Dialogues, against univocal poetry, because they represent a multiplicity of voices.“83 Die dialogische Grundstruktur des Essays kann somit in Weiterführung der Form des Dialogs i. e. S. wie Bachtins Dialogizitätskonzept i. w. S. als Gespräch, als wechselnde Rede, Frage und Antwort, Kommentar und Widerrede in schriftlicher Kommunikation bestimmt werden. Zum einen tritt der Essay in einen Dialog mit den Autoren, Texten, Gattungen und Kulturformen, die er benennt, zitiert oder aber einfach in sich aufnimmt (‚assimiliert‘). Zum anderen findet der Dialog i. e. S. als Rede und Gegenrede zweier oder mehrerer Personen, neben der des Porträts, der Rede, des Briefes oder Tagebuchs als Form bzw. dialogisches Bauelement Verwendung. Als Beispiele für die textinterne Dialogform bzw. dialogische Struktur des Essays84 können Georg Lukács’ Reichtum, Chaos und Form: Ein Zwiegespräch über Lawrence Sterne (1909/11) und Von der Armut am Geiste (1900) sowie Robert Musils Über Robert Musil’s Bücher (1913) angeführt werden.85 Hinzuweisen bleibt in diesem Zusammenhang auch auf das rhetorische Stilmittel der direkten textinternen Adressatenanrede, wenn zum Beispiel das essayistische Ich in einem fingierten Dialog auf die Einwände und
_____________ 82 Vgl. M. Gasparov: Michail Bachtins Stellung in der russischen Kultur des 20. Jahrhunderts. In: Dialogizität. Hrsg. v. R. Lachmann (1982). S. 258. 83 J. Still/M. Worton: Introduction. In: Intertextuality. Theories and Practices. Ed. by M. W./J. S. Manchester 1990. p. 1–45. p. 31f. 84 Vgl. hierzu K. G. Just: : Der Essay. In: Deutsche Philologie im Aufriss. 2. überarb. Aufl. Hrsg. v. W. Stammler. Bd. II. Berlin 1960. Sp. 1897–1949, hier Sp. 1907f. G. Haas: Essay. Stuttgart 1969. S. 48–50 sowie H. Schlaffer: Der kulturkonservative Essay im 20. Jahrhundert. In: H. S./H. Schlaffer: Studien zum ästhetischen Historismus. Frankfurt a. M. 1975. S. 140–174; vgl. dagegen H. Schlaffer (Art. ‚Essay‘. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hrsg. v. K. Weimar. Bd. I. Berlin/New York 1997. S. 522–526, hier S. 522), der dem Essay einen „monologische[n] Charakter“ zusagt. 85 G. Lukács: Reichtum, Chaos und Form. Ein Zwiegespräch über Lawrence Sterne (1909/11). In: ders.: Die Seele und die Formen. Essays (1911). Neuwied/Berlin 1971. S. 179–218 sowie ders.: Von der Armut am Geiste. Ein Gespräch und ein Brief. In: Neue Blätter (1912). H. 5/6. S. 66–93 und R. Musil: Über Robert Musil’s Bücher. In: Der lose Vogel. Nr. 7, Januar 1913 (GW II, 995–1002).
3. Dialogizität oder der Essay als polyphoner Text
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Fragen eines fingierten Lesers eingeht, so zum Beispiel in Georg Lukács Über Wesen und Form des Essays. Ein Brief an Leo Popper (1911).86 Neben der textinternen Dialogisierung des Essays überwiegt bei diesem gegenüber der wissenschaftlichen Abhandlung auf der einen Seite sowie gegenüber der künstlerisch-literarischen Gestaltung auf der anderen Seite auch auf der textexternen Ebene das Moment des Kommunikativen gegenüber dem Inhalt und der Form der Darstellung.87 Heinz Bude spricht im Anschluss an Wolfgang Iser88 von der „essayistischen Appellstruktur“.89 Aufgrund seines Unbestimmtheitscharakters und seines offenen bis paradoxalen Schlusses werde der Rezipient vor die Frage nach dem Wahrheits- bzw. Wirklichkeitsgehalt gestellt: „Aber er enthält vom Text keine Antwort“,90 sondern muss sich – in Analogie zu dem in der essayistischen Denkbewegung und Darstellung hin und her bewegten Gegenstand und der Selbstbewegung des Essays – „ständig drehen und wenden“: „Die Textstruktur zwingt den Leser gewissermaßen dazu, sich selbst dabei zu beobachten, wie er die geschilderten Beobachtungen beobachtet. […] der essayistische Text ist so konstruiert, daß er keine der vom Leser zugeschriebenen Bedeutungen restlos bestätigt, obwohl er ihn durch seine Struktur ständig zu solchen Sinngebungen verleitet.“91
_____________ 86 G. Lukács: Über Wesen und Form des Essays. Ein Brief an Leo Popper. In: ders.: Die Seele und die Formen (1911). S. 7–32. 87 Vgl. T. W. Adorno: Der Essay als Form (1958). In: Gesammelte Schriften. Hrsg. v. R. Tiedemann. Bd. 11: Noten zur Literatur. Frankfurt a. M. 1974. S. 9–34, hier S. 30: „Der Essay nun bewahrt gerade in der Autonomie der Darstellung, durch die er von wissenschaftlicher Mitteilung sich unterscheidet, Spuren des Kommunikativen, deren jene enträt.“ 88 Vgl. W. Iser: Die Appellstruktur der Texte. Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa. Konstanz 1971. 89 H. Bude: Der Essay als Form der Darstellung sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 41 (1989). S. 526–540, hier S. 533; vgl. M. Bense: Über den Essay und seine Prosa. In: ders.: Plakatwelt. Vier Essays. Stuttgart 1952. S. 9–38, hier S. 59 : „Erst wird der Gegenstand herausexperimentiert im Glanz der Kombinatorik von Begriffen und Ideen, Bildern und Vergleichen, dann schimmert langsam die Tendenz durch das Gespinst der literarischen Essayistik, und schließlich wird vom Standpunkt der Tendenz aus appelliert […].“ 90 H. Bude: Der Essay als Form der Darstellung sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse (1989). S. 533; vgl. G. Lukács: Über Wesen und Form des Essays (1911). S. 25f.: „Eine Frage wird aufgeworfen und so vertieft, daß die Frage aller Fragen aus ihr wird, dann aber bleibt alles offen […].“ 91 H. Bude: Der Essay als Form der Darstellung sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse (1989). S. 533f.
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III. Analysekriterien oder die Konstruktion des Gegenstandes
4. Gedankenexperiment oder perspektivische Variation Ist es sehr wol möglich und wäre sogar ein interessantes künstlerisch-psychologisches Experiment irgend ein bekanntes Bild, speziell Portrait, in verschiedenen Beleuchtungen und bei verschiedenem Ausdruck – es wie ein selbständiges Wesen behandelnd, abermals zu porträtiren. […] Dieses Beispiel zeigt allein schon das Fließende der Beurtheilung im Wechsel des Standpunktes.92 (Robert Musil) Das Prinzip der Kunst ist unaufhörliche Variation. Summe der Variation = Bewegungsgröße.93 (Robert Musil)
Die Möglichkeit, sich von den Ideen, Bildern und Gedanken eines Essays – anders als bei der Lektüre einer wissenschaftlichen Abhandlung und ähnlich der Rezeption eines literarischen Kunstwerkes – affiziert zu fühlen,94 hängt mit der spezifischen Erfahrungsqualität des Essays sowie mit dessen Darstellungsmodus einer „literarischen ‚ars combinatoria‘95 zusammen. Das ‚cogito‘ bzw. ‚scribo ergo sum‘ wird zu einem ‚es denkt‘ bzw. ‚ich werde gedacht, indem ich schreibe/lese‘. Das Subjekt wird sich nicht nur zum Objekt, sondern auch zum Ort eines Denkens, an dem die Grenzen zwischen Subjekt und Objekt, Erkenntnis und Erlebnis oszillieren: „Eigentlich denkt der Denkende gar nicht, sondern macht sich zum Schauplatz geistiger Erfahrung“.96 Zur Sprache gebracht werden, so Theodor W. Adorno in seinem Metaessay über den Essay als Form (1958),97
_____________ 92 R. Musil; Tagebücher. Heft 4 (1899?–1904?) (TB I, 37); vgl. Claude Monet (1840– 1926), der ab 1892 insg. 28 Versionen der Fassade von Die Kathedrale von Rouen bei wechselnden Beleuchtungen, zu verschiedenen Tageszeiten und aus unterschiedlichen Blickwinkeln malte. 93 R. Musil: Motive – Überlegungen (Nachlass) (GW II, 865-915, hier 868). 94 M. Bense: Über den Essay und seine Prosa (1952). S. 29 spricht von einem „höhere[n] Grad konkreter Affizierung“. 95 Ebd. S. 34. 96 T. W. Adorno: Der Essay als Form (1958). S. 21. 97 G. Gabriel (Zwischen Logik und Literatur. Erkenntnisformen von Dichtung, Philosophie und Wissenschaft. Stuttgart 1991. S. 41) liest Adornos Essay über den Essay „nicht im Sinne einer wirklichen Gattungstheorie des Essays […], aber doch als vorgreifenden Kommentar zur literarischen Form der ‚Ästhetischen Theorie‘.“ Vgl. auch P. Zima: Textsoziologie. Eine kritische Einführung. Stuttgart 1980. S. 184: „Die parataktische und zugleich paradigmatische Anordnung der ‚Ästhetische Theorie‘ kann zugleich als Selbstkritik (als Reflexivität) des Adornoschen Diskurses aufgefaßt werden: Das ‚Denken in Modellen‘, das dem Autor der ‚Negativen Dialektik‘ noch als eine mögliche Lösung der diskursiven Problematik vorschwebte […], bleibt zu sehr
4. Gedankenexperiment oder perspektivische Variation
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welcher dem Essay eine „Affinität zur offenen geistigen Erfahrung“ attestiert,98 „Erkenntnisse über Menschen und soziale Zusammenhänge“, die sich mit Methoden der (Natur-)Wissenschaft nicht einholen lassen, denn das Maß ihrer „Objektivität ist nicht die Verifizierung […], sondern die […] einzelmenschliche Erfahrung.“99 „Die Beziehung auf Erfahrung“100 (experentia) sowohl auf der Produktions- wie auf der Rezeptionsseite ist dabei ebenso entscheidend wie der Versuchscharakter des Essays (experimentum),101 den Max Bense als „das mehr oder weniger versuchsweise Herauspräparieren einer Idee, eines Gedankens, eines subsumierenden Bildes aus einer gewissen Menge von Erfahrungen“ beschrieben hat.102 Es handelt sich beim Essay – für Autor wie Leser – allerdings nicht nur um ein „Experimentieren mit einem Gedanken“, sondern auch um einen „Modus experimenteller Mitteilung“ (inter-individuell) überhaupt, um ein „Mittel der rationalen und emotionalen Konstruktion“ (intra-individuell).103 In Über den Essay und seine Prosa (1952) bestimmt Max Bense den Essay als „Ausdruck experimentierender Methode des Denkens und Schreibens“104: „Essayistisch schreibt, wer experimentierend verfaßt, wer seinen Gegenstand nicht nur hin und her wendet, sondern diesen Gegenstand während des Schreibens, während der Bildung und während der Mitteilung seiner Gedanken findet oder erfindet, befragt, betastet, prüft, durchreflektiert“.105 Der Gegenstand ist hier nicht das Vorausliegende, das bereits Vorhandene, Vorgeformte bzw. Gefundene,106 der Gegenstand ist das, was das essayistische Experiment konstruiert („findet oder erfindet“): hier
_____________ 98 99 100 101 102 103 104 105 106
dem kausalen Ablauf des ‚Erst-Nachher‘ verhaftet […], um als Alternative für den hierarchischen, hypotaktischen Diskurs in Frage zu kommen.“ T. W. Adorno: Der Essay als Form (1958). S. 21. Ebd. S. 15 hier zu Proust; ein Indiz dafür, dass es Adorno weniger um eine Gattungstheorie des Essays als um eine Ästhetik der modernen Literatur geht. Ebd. S. 17. Vgl. W. Müller-Funk: Erfahrung und Experiment. Studien zu Theorie und Geschichte des Essayismus. Berlin 1995. S. 97. M. Bense: Über den Essay und seine Prosa (1952). S. 28. Ebd. S. 29. Ebd. S. 27. Ebd. S. 28 ; Hervorhebung v. B. N. Vgl. G. Lukács: Die Seele und die Formen (1911). S. 29: „[…] der Essay spricht immer von etwas bereits Geformten, oder bestenfalls von etwas schon einmal Dagewesenem; es gehört zu seinem Wesen, dass er nicht neue Dinge aus dem Nichts heraushebt, sondern bloß solche, die schon irgendwann lebendig waren, aufs neue ordnet […].“
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III. Analysekriterien oder die Konstruktion des Gegenstandes
verfertigt sich nicht nur der Gedanke beim Reden/Schreiben,107, sondern der Gegenstand selbst wird zum Effekt des experimentellen Schreibaktes. Bense geht gar so weit, das „essayistische Experiment“ als unabhängig von seinem Gegenstand zu bestimmen.108 Der Essay verhält sich nicht unselbstständig zu der ihm vorausliegenden Realität,109 er erfindet zwar keine neuen Welten, aber er schafft selbst Realitäten bzw. neue Konfigurationen von Gegenständen: „Der Essay ist ein selbständiges Stück Realität in Prosa“.110 Das heißt, der Kritiker, von der „Lust am Experimentieren“111 erfasst, erschafft nach dem „Gesetz der Erhaltung minimaler Variation des Gegenstandes“ bzw. nach dem „Gesetz der minimalen Veränderung (Verrückung)“ Bedingungen, unter denen der Gegenstand erneut sichtbar wird.112 Es werden „kleine Modelle einer anderen Art und Weise die Dinge zu sehen“ – so Bense in Referenz auf Ernst Jünger113 – entworfen, eine Verrückung der gewohnten und alltäglichen Sehweise, eine Fiktivierung sowohl des Gegenstandes wie der Perspektive, somit des gesamten experimentellen/kommunikativen Settings erzielt. Die essayistischen Gestaltungsprinzipien der „perspektivische[n] Optik und montierende[n] Me-
_____________ 107 Vgl. Kleist: Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden. In: ders.: Sämtliche Werke und Briefe. Hrsg. v. H. Sembdner. 8. Aufl. München 1985. Bd. 2. S. 319–324. 108 M. Bense: Der Essay und seine Prosa (1952). S. 32: „Das essayistische Experiment ist sogar im Prinzip unabhängig von der Substanz, vom Gegenstand.“ Vgl. auch T. W. Adorno: Der Essay als Form (1958). S. 30, der von der „Idee des Glücks einer Freiheit des Gegenstandes gegenüber“ spricht. 109 Vgl. G. Lukács: Über Wesen und Form des Essays (1911): „Die Form des Essays hat bis jetzt noch immer nicht den Weg des Selbständigwerdens zurückgelegt, den ihre Schwester, die Dichtung, schon längst durchlaufen hat […].“ 110 M. Bense: Über den Essay und seine Prosa (1952). S. 27. 111 Ebd. S. 31. 112 Ebd. S. 32. 113 Ebd. S. 35; vgl. Ernst Jünger: Das abenteuerliche Herz, 1. Fassung, Berlin 1929 (2. Fassung mit dem Untertitel Figuren und Capriccios. Hamburg 1938). Bense entwirft am Beispiel Ernst Jüngers, „dessen Essays ehedem in der gelassenen, halb zynischen, halb skeptischen Weise Montaignes mit den Dingen experimentieren“ (ebd. S. 31) ein Beispiel des „Versucher[s]“ (S. 35): „absichtsvoll geht es scheinbar vom Hundertsten ins Tausendste. Und doch steht ein Gedanke blitzsauber und ein Mann in seiner wirklichen Meinung vor uns.“ Vgl. auch K. G. Just: Versuch und Versuchung. Zur Geschichte des europäischen Essays. In: ders.: Übergänge. Probleme und Gestalten der Literatur. Bern 1966. S. 7–25, hier S. 22ff., der Jüngers Essays „eine erregende Zeitnähe über Kassner und selbst über Benjamin hinaus“ attestiert. „Die männliche Verhaltenheit des Stils“ mache die Jünger’sche Essayistik „zu einer lebensprägenden Macht“: „Der Essay, der Versuch tritt damit aus dem Raum der Versuchung hinaus und in die Welt der Werte ein.“
4. Gedankenexperiment oder perspektivische Variation
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chanik“114 heben also die „zum Leben selbst“ gehörende „,perspektivische Verkürzung des Verstandes‘“115 wieder auf. Das essayistische Experiment verspricht nicht nur neue Erkenntnisse bzw. ein ‚neues Sehen‘, welches allerdings weniger emphatisch verklärt als vielmehr auf die Bedingungen und Möglichkeiten menschlicher Wahrnehmung/Erkenntnis zurückgeführt wird, sondern auch ein kommunikatives, ideologiekritisches116 bis revolutionäres Interesse:117 der Essay hat eine ethische Tendenz.118 Der Essay als „Form experimenteller Literatur“119 steht zwischen „Schöpfung“ (Ästhetik) und „Tendenz“ (Ethik). Dabei kommt im Argumentationsverlauf Benses der spezifische Grenzgang zum Ausdruck, welcher die ‚Ambivalenz‘ des Gegenstandes gerade nicht aufheben, sondern zur Anschauung bringen will. Bense, der zunächst zwischen dem ästhetischen Stil der Poesie und der ethischen Tendenz der Prosa unterscheidet, konstatiert zugleich „Übergänge“, um schließlich in der „ästhetischen Tendenz“ die polare Ausgangskonstruktion, „daß es ein merkwürdiges Konfinium gibt, das sich zwischen Poesie und Prosa, zwischen dem ästhetischen Stadium der Schöpfung und dem ethischen Stadium der Tendenz ausbildet“, wieder in der „koinzidierende[n]“ Tendenz zusammenzuführen.120 Die dialogische Struktur des Essays und dessen experimentierendsokratische Methode werden dabei von Max Bense aufeinander bezogen: „Der Essay ersetzt gleichsam das dramatische Zwiegespräch. Er ist eine Art reflektierender Monolog und damit selbst eine dramatische Form. […] Das formale und inhaltliche Wesen des Essays besteht in nichts anderem, als eine Absicht sokratisch, also experimentierend durchzusetzen oder einen Gegenstand experimentierend hervorzubringen.“121 Perspektivität der Erkenntnis und die Frage nach dem ‚rechten Leben‘ schließen sich hier – und dies macht den Essay zu dem Experimentalmodus der literarischen Moderne – nicht aus, sie verbinden und bedingen sich wechselseitig. Das essayistische Experiment ist weder selbstzwecklich (‚Kunst‘) noch
_____________ 114 115 116 117 118 119 120
Ebd. S. 29. R. Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. 1. Buch (1930) (MoE I, 650). T. W. Adorno: Der Essay als Form (1958). S. 27. M. Bense: Über den Essay und seine Prosa (1952). S. 24. Ebd. S. 35. Ebd. S. 28. Ebd. S. 26f.; vgl. ebd. S. 32: „So wird […] offenbar, daß der Kritiker im Konfinium zwischen dem schöpferischen und ästhetischen Stadium einerseits und dem ethischen Stadium der Tendenz andererseits beheimatet ist.“ 121 Ebd. S. 36.
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III. Analysekriterien oder die Konstruktion des Gegenstandes
dient es ausschließlich dem Erkenntnisinteresse (‚Wissenschaft‘): der essayistische Versuch hat einen ethischen, auf Mitteilung wie auf Gestaltung des Lebens, textübergreifenden drängenden Impuls, einen „Drang zum Angriff auf das Leben“.122 So hat u. a. Klaus Günther Just den „dialogischen Prozeß“ zwischen Autor und Leser als Lebenshilfe beschrieben: „Der echte Essay ist nicht nur Deutung des Daseins in allen seinen Formen, sondern zugleich geistige Hilfe zur Bewältigung eben dieses Daseins. Indem er es dem Leser ermöglicht, unmittelbar an den Gedanken und Gesprächen des Autors teilzunehmen, trägt er entscheidend dazu bei, dessen eigene Lebenshaltung zu klären.“123 Gegenüber diesem naiven Kommunikationsmodell ist zum einen mit Adorno einzuwenden, dass der Essay nicht auf der Ebene der Unmittelbarkeit, sondern der Vermitteltheit agiert.124 Zum anderen hat die therapeutische bzw. ‚lebensbewältigende‘ Funktion des Essays nicht nur stabilisierende, sondern durchaus auch destabilisierende Effekte. So ist der Essay, der „ein Klima erzeugt, in dem seinen Lesern und Ausbeutern etwas einfällt“, wie Bense lapidarer formuliert,125 immer auch ein Experiment mit den eigenen Grenzen, welches im Modus von Bildlichkeit und Sprunghaftigkeit die „Herrschaft der diskursiven Logik“,126 die logischrationalen Diskursgrenzen (Kausalität, Eindeutigkeit, Widerspruchsfreiheit) assoziativ unterläuft. Im Unterschied zum naturwissenschaftlichen Experiment (experimentum) – kann der Essay auf der Produktions- wie Rezeptionsseite – zur Erfahrung (experentia)127 werden. Das heißt, der Essay ist immer auch ein
_____________ 122 R. Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. 1. Buch (1930) (MoE I, 592); vgl. auch ebd.: „Und alles, was Ulrich im Lauf der Zeit Essayismus und Möglichkeitssinn und phantastische, im Gegensatz zur pedantischen Genauigkeit genannt hatte, die Forderungen, daß man Geschichte erfinden müßte, daß man Ideen-, statt Weltgeschichte leben sollte, daß man sich dessen, was sich nie ganz verwirklichen läßt, zu bemächtigen und am Ende vielleicht so zu leben hätte, als wenn man kein Mensch, sondern bloß eine Gestalt in einem Buch […] – alle diese, in ihrer ungewöhnlichen Zuspitzung wirklichkeitsfeindlichen Fassungen, die seine Gedanken angenommen hatten, besaßen das Gemeinsame, daß sie auf die Wirklichkeit mit einer unverkennbaren schonungslosen Leidenschaftlichkeit einwirken wollten.“ 123 J. K. Just: Versuch und Versuchung (1966). S. 17; vgl. I. Schabert: Interauktorialität. In: Deutsche Viertelsjahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 57 (1983). S. 679–702, hier S. 679, die ‚Interauktorialität‘ als „Teilhabe des lesenden Bewußtseins an einer anderen menschlichen Existenz“ beschreibt. 124 Vgl. T. W. Adorno: Der Essay als Form (1958). S. 28. 125 M. Bense: Über den Essay und seine Prosa (1952). S. 37. 126 T. W. Adorno: Der Essay als Form (1958). S. 31. 127 Vgl. W. Müller-Funk: Erfahrung und Experiment (1995). S. 97.
4. Gedankenexperiment oder perspektivische Variation
63
Selbstversuch,128 wobei sich der Essayist (wie textextern sein Leser) als Subjekt und Objekt des von ihm durchgeführten Experimentes in eine Mittellage zwischen wissenschaftlicher Distanz und persönlichem Engagement bringt,129 in eine Haltung, die als teilnehmende Beobachtung ebenso selbst- wie metareflexiv ist. Hat es der Essay „mit dem Blinden an seinen Gegenständen zu tun“,130 so kann allerdings der blinde Fleck der Beobachtungsperspektive des Experimentators wiederum nur in dem Folge-, dem Metatext, der Kritik der Kritik aufgedeckt werden. Max Bense sieht in dem von ihm beschriebenen experimentellen Idealtypus des Essays weniger eine Übernahme (natur-)wissenschaftlicher Methodik im Bereich literarischer Formen als ein Funktionsäquivalent der zeitgenössischen Wissenssoziologie Mannheim’scher Prägung: „Es gibt natürlich eine Soziologie des menschlichen Geistes, seiner Gedanken, Ideen, Meinungen, Theorien, Ansichten usw. Diese Soziologie, deren Kenntnis Voraussetzung ist, um über intellektuelle Substrate und ihre Wirksamkeit in der Zeit, in der Geschichte urteilen zu können, gehört zu den allgemeinen Absichten des Essays.“131 Für das experimentelle Moment des Essays, sprich die methodische Variation oder auch Verrückung des Gegenstandes, welche das Problem der Relativität der Beobachterposition wie der Ungenauigkeit des Beobachtungs- bzw. Messinstrumentes impliziert, verwendet Max Bense auch das Bild einer „Konfiguration im Kaleidoskop“:132 „Der Essayist ist ein Kombinatoriker, ein unermüdlicher Erzeuger von Konfigurationen um einen bestimmten Gegenstand. […] Die Verwandlung der Konfiguration, der jener Gegenstand innewohnt, ist der Sinn des Experiments, und weniger die definitorische Offenbarung des Gegenstandes selbst ist das Ziel des Essays als vielmehr die Summe der Umstände, die Summe der Konfigurationen, unter denen er möglich wird.“133 An die Stelle der dichterischen Schöpfung (‚Fiktion‘) wie der „reinen Erkenntnis“ (‚Wahrheit‘) tritt
_____________ 128 M. Bense: Über den Essay und seine Prosa (1952). S. 36: „Lichtenberg, der ein Meister der Gattung war, betonte einmal, daß man sich gleichsam selbst in den Versuch mit einbeziehen müsse.“ 129 Vgl. N. Elias: Engagement und Distanzierung. Arbeiten zur Wissenssoziologie I. Hrsg. v. M. Schröter, Frankfurt a. M. 1987. 130 T. W. Adorno: Der Essay als Form (1958). S. 32. 131 M. Bense: Über den Essay und seine Prosa (1952). S. 37. 132 Ebd. S. 36; vgl. N. Bolz: Art. ‚Essay‘. In: Literatur Lexikon. Hrsg. v. W. Killy. Bd. 13: Begriffe, Realien, Methoden. Hrsg. v. V. Meid. München 1992. S. 269–272; hier S. 272. 133 M. Bense: Über den Essay und seine Prosa (1952). S. 34.
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III. Analysekriterien oder die Konstruktion des Gegenstandes
die erkenntnistheoretische Kategorie der Einbildungskraft, welche „nicht neue Gegenstände erzeugt, sondern Konfigurationen für Gegenstände“.134
5. Selbstreflexivität und (ironische) Selbstrelativierung Es wird demgemäß das Denken des Denkens zum Denken des Denkens des Denkens (und so fort), und es ist damit die dritte Reflexionsstufe erreicht.135 (Walter Benjamin) Sofern Kritik Erkenntnis des Kunstwerks ist, ist sie dessen Selbsterkenntnis; sofern sie es beurteilt, geschieht es aus dessen Selbstbeurteilung.136 (Walter Benjamin) In der Selbsterkenntnis des Geistes als mit sich entzweiter Natur ruft wie in der Vorzeit Natur sich selber an […].137 (Max Horkheimer/Theodor W. Adorno) Die verwegene Reflexion will dem Gedanken anschaffen, was vorsichtige Reflexion ihm austrieb, Naivetät. 138 (Theodor W. Adorno)
Das Moment der Selbstreflexivität des essayistischen Diskurses hängt eng mit dessen experimenteller Methode des Denkens und Schreibens zusammen. Dabei ist das Verhältnis von Beobachter, Gegenstand und Versuchsanordnung so zu bestimmen, „daß die schreibende Subjektivität […] in die Kombinatorik hineingenommen wird“, das heißt sich selbst in den Versuch einbezieht.139 Es kommt zu einer Art „Schwebeverhältnis von Subjektivität und Objektivität“,140 welche für die essayistische Form und Methode konstitutiv ist.
_____________ 134 Ebd.; Hervorhebung v. B. N. 135 W. Benjamin: Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik (1919/20). Hrsg. v. H. Schweppenhäuser. Frankfurt a. M. 1973. S. 25. 136 Ebd. S. 60. 137 M. Horkheimer/T. W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente (1947). Frankfurt a. M. 1982. S. 39. 138 T. W. Adorno: Henkel, Krug und frühe Erfahrung (1965). In: ders.: Gesammelte Schriften. Hrsg. v. R. Tiedemann. Bd. 11: Noten zur Literatur. Frankfurt a. M. 1974. S. 565. 139 M. Bense: Über den Essay und seine Prosa (1952). S. 35. 140 G. Haas: Studien zur Form des Essays und zu seinen Vorformen im Roman (1966). S. 21.
5. Selbstreflexivität und (ironische) Selbstrelativierung
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Kennzeichnet Bense den Essay als „Form experimenteller Literatur“,141 so bestimmt Theodor W. Adorno ihn als „reflektierte Form“:142 Der Essay reflektiert nicht nur seine Gegenstände (Phänomene der Lebenswelt wie vorgängige Texte), sondern auch „in jedem Augenblick auf sich selber“.143 Dabei nimmt er sowohl den Gedanken, die essayistische Methode, wie den Denkenden, den Essayisten, „reflektierend ins eigene Verfahren“ hinein.144 So ist der essayistischen Form „deren eigene Relativierung immanent“.145 Die reflexive Selbstrelativierung des Essays als eigenständige literarische Form sowie die Relativierung der Romanform durch einzelne essayistische Elemente bzw. eine essayistische (Gesamt-) Struktur lässt sich in Anlehnung an eine – wiederum Harald Bloom entlehnten – Formulierung Ferruccio Masinis als „Vagabundieren zwischen der [essayistischen] Form und ihrer ironischen Selbstüberwindung“146 beschreiben. Dabei scheinen mir die Positionen, dass es sich bei dem Kriterium der Selbstreflexivität um eine Quasi-Universalie der Literatur oder aber um eine spezifische historische Ausprägung handelt, nicht unüberwindlich, sondern vielmehr eine Frage der – typologischen oder aber historischen – Perspektive. Sie korrespondiert mit der Unterscheidung zwischen einer (Post-)Moderne als zeitlich begrenztes Epochenkonstrukt und als transgressive Bewusstseins- und Darstellungsform. Ist bei Adorno die Selbstreflexivität der künstlerischen Formen im Sinne einer normativen Moderne-Konzeption unverzichtbares Konstituens derselben, so verweist Michael Scheffel in seinen „exemplarischen Analysen“ zu den Formen selbstreflexiven Erzählens (1997) am Beispiel Christoph Martin Wielands auf „das Phänomen der Selbstreflexion von Literatur“ in der deutschsprachigen Literatur seit Mitte des 18. Jahrhunderts.147 Auch Moritz Baßler et altero haben unter Hinweis auf die essayistischen Romane Laurence Sternes und Jean Pauls herausgestellt, dass es sich weder beim selbstreflexiven noch beim selbstreferentiellen Erzählen um ein „spezifisch modernes Phänomen“ handele und vermuten, dass „dieses selbstreferentielle Poten-
_____________ 141 142 143 144 145 146
M. Bense: Über den Essay und seine Prosa (1952). S. 28. T. W. Adorno: Der Essay als Form (1958). S. 21. Ebd. S. 32. Ebd. S. 27. Ebd. S. 25. F. Masini: Beitrag zu einer Philosophie des Essays. In: Neuere Studien zur Aphoristik und Essayistik. Mit einer Handvoll zeitgenössischer Aphorismen. Hrsg. v. G. Cantarutti/H. Schumacher. Frankfurt a. M. [u. a.] 1986. S. 250–257, hier S. 250. 147 M. Scheffel: Formen selbstreflexiven Erzählens. Eine Typologie und sechs exemplarische Analysen. Tübingen 1997. S. 2ff.
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III. Analysekriterien oder die Konstruktion des Gegenstandes
tial zu den Grundbedingungen von Literatur überhaupt“ gehört.148 Mit der Literatur der Jahrhundertwende um 1900 als Differenzkriterium ‚zweier Modernen‘ wird dagegen erst die „Autonomie der Lexeme“149 bzw. die „Textuierung qua Lexemautonomie“150 als aufgebrochenes Referenzsystem zwischen Signifikant und Signifikat angesetzt.151 Die Annahme einer teleologischen Entwicklung (in Richtung auf zunehmende Selbstreflexivität) ist ebenso in Frage zu stellen wie die Konstruktion eines Entweder-Oder (‚modern‘ oder ‚nicht‘- bzw. ‚vor‘- oder ‚postmodern‘), das mehr als der ordnenden Heuristik dient. Gesucht sind dynamische und textnahe Beschreibungsmodelle für Formen der Ungleichzeitigkeit und der Übergänge, welche Metafiktionalität im Besonderen wie Metatextualität im Allgemeinen in die Analyse sich wandelnder ‚interdiskursiver Konfigurationen‘ (Michel Foucault)152 einfügen. Dennoch kann – so die Ausgangsthese der vorliegenden Untersuchung – von einer gemeinsamen Schnittmenge zwischen den beobachtbaren und beschreibbaren Phänomenen literarischer Selbstreflexivität und essayistischer Darstellungsform in der Moderne im engeren Sinn ausgegangen werden. Dabei geht es jedoch nicht wie bei dem literarhistorischen Längsschnitt um die Frage nach einem Anfang und/oder einem Ende, sondern um Verdichtungen, Knotenpunkte, die im Querschnittsverfahren sichtbar werden. Nach Roland Barthes verschmilzt spätestens seit Mallarmé „die doppelte Funktion der Schreibweise, die poetische und kritische“, in eine.153 In literarhistorischer Perspektive ist der moderne Essayismus, in dem sich die poetische und die kritische Funktion der Literatur verbindet, wiederum auf Formen der Literaturkritik (Lessing, Herder) und literarischen Metafiktion (Wieland) in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wie auf das frühromantische Konzept der Universalpoesie um 1800 und deren Verständnis von Wissenschaft, Literatur, Philosophie und Kritik zurückzuführen. Im Essayismus verbinden sich zum einen die (selbst-)kritische Funktion innerhalb der Literatur und zum anderen die Kritik der Literatur, welche dieselbe weiterschreibend vollendet.
_____________ 148 M. Baßler/C. Brecht/D. Niefanger/G. Wunberg: Erzählen. In: dies.: Historismus und literarische Moderne. Tübingen 1996. S. 265–281, hier S. 266f. 149 Dies.: Einleitung. In: dies: ebd. S. 1–15, hier S. 2; in der Textvorlage kursiv. 150 Dies.: Erzählen. In: ebd. S. 267. 151 Dies.: Einleitung. In: dies: ebd. S. 2 152 M. Foucault: Archäologie des Wissens. 4. Aufl. Frankfurt a. M. 1990. S. 226. 153 R. Barthes: Kritik und Wahrheit. Frankfurt a. M. 1967. S. 57.
5. Selbstreflexivität und (ironische) Selbstrelativierung
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Walter Benjamin greift in seiner Dissertation Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik (1919/20) zur Bestimmung der literarischen Selbstreflexivität auf eine diskursive Formation der vorausgegangenen Jahrhundertwende zurück, die Jenaer Frühromantik, welche die Transgredierung der Grenzen von Wissenschaft, Kunst und Kritik, Fragment und Unendlichem in der Selbstreflexion programmatisch eingefordert hat.154 „Kritik“, so Benjamin, „ist also gleichsam ein Experiment am Kunstwerk, durch welches dessen Reflexion wachgerufen, durch das es zum Bewußtsein und zur Erkenntnis seiner selbst gebracht wird.“155 Diese Form der frühromantischen (Selbst-)Kritik wird zugleich formal als auch methodisch immanent bestimmt: „Das Subjekt der Reflexion ist im Grunde das Kunstgebilde selbst, und das Experiment besteht nicht in der Reflexion über ein Gebilde, welche dieses nicht, wie es im Sinn der romantischen Kunstkritik liegt, wesentlich alterieren könnte, sondern in der Entfaltung der Reflexion, d. h. für den Romantiker: des Geistes, in einem Gebilde.“156 Der Essay als „immanente Kritik geistiger Gebilde“157 – und diese Formulierung Adornos ist nicht allein auf literarische Texte, sondern auf kulturelle Formationen generell zu beziehen – „denkt in Brüchen, so wie die Realität brüchig ist“.158 Adorno führt die Forderung nach einer systematischen Ordnung der Begriffe auf der einen Seite und den „geläufige[n] Einwand, er [der Essay] sei stückhaft und zufällig“159, auf der anderen Seite auf ein Denken zurück, das eine Totalität als Identität von ordo idearum und ordo rerum160 bzw. als Identität von Subjekt und Objekt voraussetzt.161 Dagegen zeuge der Essay mit seinem „antisystematischen Impuls“,162 mit seiner methodischen Unmethode163 von einem „Bewußtsein der Nichtidentität von Darstellung und Sache“.164 Denn der Essay reflektiert, so Adorno „den Ge-
_____________ 154 T. W. Adorno: Der Essay als Form (1958). S. 24: „Die romantische Konzeption des Fragments als eines nicht vollständigen sondern durch Selbstreflexion ins Unendliche weiterschreitenden Gebildes […].“ 155 W. Benjamin: Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik (1919/20). S. 60. 156 Ebd. 157 T. W. Adorno: Der Essay als Form (1958). S. 27. 158 Ebd. S. 25. 159 Ebd. S. 18. 160 Ebd. S. 17. 161 Ebd. S. 18. 162 Ebd. S. 20. 163 Vgl. ebd. S. 21. 164 Ebd. S. 26; vgl. ebd. S. 17.
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III. Analysekriterien oder die Konstruktion des Gegenstandes
genstand gleichsam gewaltlos“.165 „Die Gewalttat, die […] Bild und Begriff wechselseitig aneinander verüben“,166 wird hier nicht durch begriffliche Subordination geleugnet, sondern gerade in narrativ-bildlicher Koordination zur Darstellung gebracht.167 Durch seinen „Anspruch auf Wahrheit“ und sein „Medium, die Begriffe“ unterscheide sich – so Adorno gegen Lukács’ Ausgangsthese gewendet168 – der Essay von der „Kunstform“.169 Indem der Essay jedoch die Begriffe ins ‚Spiel‘ bringt bzw. sie gegenüber ihrem Gegenstand in ‚Freiheit‘ setzt,170 unterläuft er die „vorkritischen Verpflichtung zu definieren“171 und erfüllt das Modernitätsgebot eines unendlichen ‚Reflektierenmüssens‘. Im Durchgehen durch die Reflexion aber, nicht im bloßen Rückgriff auf das ‚Leben‘, die ‚Natur‘, die ‚Ursprünglichkeit‘, die ‚Unmittelbarkeit‘, sondern indem der Essay sich – anders als eine begrifflos anschauliche[ ] Kunst“172 – der Illusion verweigert, „das Leben lebte noch“,173 kann, so Adorno, ein Voraus- oder Dahinterliegendes sichtbar werden:174 „Unterm Blick des Essays wird die zweite Natur ihrer selbst inne als erste.“175 Anders als der methodische Leerlauf einer ‚negativen Dialektik‘176 ist der Essay im Versuch, die Natur
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169 170 171 172 173 174
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Ebd. S. 31. Ebd. S. 14. Ebd. S. 31f. G. Lukács: Über Wesen und Form des Essays (1911). S. 7; vgl. ebd. S. 8: „Ich versuche den Essay so scharf wie überhaupt möglich zu isolieren eben dadurch, dass ich ihn jetzt als Kunstwerk bezeichne.“ Am Ende des Essays wird die Frage, ob der Essay ein Kunstwerk sei, jedoch von Lukács nicht widerspruchsfrei beantwortet, sondern vielmehr in der Schwebe gelassen: „Jetzt erst dürfen wir die Anfangsworte niederschreiben: der Essay ist eine Kunstart, eine eigene restlose Gestaltung eines eigenen, vollständigen Lebens. […]: er steht dem Leben mit der gleichen Gebärde gegenüber wie das Kunstwerk, […] sonst gibt es zwischen ihnen keine Berührung.“ T. W. Adorno: Der Essay als Form (1958). S. 11. Ebd. S. 19. Ebd. S. 19f. Ebd. S. 15. Ebd. S. 19. In der Negativen Dialektik bestimmt Adorno die „Anstrengung, über den Begriff durch den Begriff hinauszulangen“, als Aufgabe der Philosophie, vgl. ders.: Gesammelte Schriften. Hrsg. v. R. Tiedemann. Bd. 6: Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit. Frankfurt a. M. 1977. S. 7–413, hier S. 27. Ebd. S. 29. Nach R. L. Kauffmann (The Theory of the Essay: Lukács, Adorno, and Benjamin. Diss. (microfilm) Univ. of California, San Diego 1981. S. 25) ist Adornos „theory of the essay […] essentially the formal-aesthetic counterpart of his philosophy of negative dialectics.“ Vgl. dagegen ders.: The Skewed Path: Essaying as Unmethodical Method. In: Essays on the Essay. Redefining the Genre. Ed. by A. J. Butrym. Athens/London 1989. p. 221–241. p. 231: „Without using the label, his theory tacitly
6. Dynamische Konfiguration und Entzeitlichung
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in der n-ten Reflexion des Vermittelten durchscheinen zu lassen, eben nicht dem Prinzip der Abstraktion, dem Licht der ‚reinen‘ Erkenntnis, sondern der Konkretheit, der Sinnlichkeit, der „Farbe“177 verpflichtet. Angesichts der Behauptung einer verlorenen Totalität des modernen Erfahrungszusammenhanges sowie angesichts der Hypothese einer universellen Kontingenzerfahrung in der Moderne erfüllt der Essay die Funktion von System-178 bzw. Ideologiekritik.179 Denn er leugnet die Identität von Subjekt und Objekt, Fühlen und Denken, die er gleichzeitig doch in einer methodischen Suchbewegung literarisch wieder herzustellen sucht. So liegt für Adorno die „utopische Intention“180 des Essays in der „Befreiung vom Identitätszwang“, die durch die Konfigurierung der Begriffe ermöglicht wird.181 Seine Position ist die der ‚Uneigentlichkeit‘.
6. Dynamische Konfiguration und Entzeitlichung Das gelebte Leben gleicht – mit allen Vorbehalten des Gleichnisses – einem Teppich, von dessen vielen Fäden jeder einzelne nur kurze Strecken weit zutage liegt, während sein Uebriges an der Unterfläche läuft […]; so erst zeichnet das Nebeneinander der Stücke das Muster, das in keinem einzelnen pro rata aufzufinden ist. Die Geschichte aber zieht den einen Faden ganz heraus, macht ihn, als kennte er keine Unterbrechung, sichtbar, und bringt dadurch eine Kontinuität, aber kein Muster zustande.182 (Georg Simmel)
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identifies the essay with his agenda of ‚negative dialectic‘, or dialectics without synthesis or identity […].“ T. W. Adorno: Der Essay als Form (1958). S. 26; vgl. G. Lukács: Über Wesen und Form des Essays (1911). S. 15: „[…]: wenn man die verschiedenen Formen der Dichtung mit dem vom Prisma gebrochenen Sonnenlicht vergleichen würde, so wären die Schriften der Essayisten die ultravioletten Strahlen.“ Vgl. ebd. S. 16. Vgl. ebd. S. 27; vgl. hierzu P. Zima: Textsoziologie (1980). S. 14: „Die Polyphonie als Bedingung der Ideologiekritik, wie sie z. B. Bachtin und Kristeva auffassen, wird von Adorno nicht thematisiert; seine Darstellung des Essays aber, den er als offene (dialogische) Struktur denkt, läßt auf eine Verwandtschaft mit Bachtins Modell schließen […].“ Ebd. S. 21. T. W. Adorno: Der Essay als Form (1958). S. 26; M. Bense (Über den Essay und seine Prosa (1952) S. 37) dagegen führt die utopische Dimension des Essays auf die anthropologische Annahme des Menschen als Mängelwesen zurück: „Aber es ist leicht einzusehen, dass der experimentelle Stil dem essentiell utopischen Sein des Menschen entspricht.“ G. Simmel: Die historische Formung. In: Logos. Internationale Zeitschrift für Philosophie der Kultur. Bd. 7 (1917/18). H. 2. S. 113–152; abgedr. in: ders.: Gesamtausga-
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III. Analysekriterien oder die Konstruktion des Gegenstandes
Farben, Töne, Wärmen, Drücke, Räume, Zeiten u. s. w. sind in mannigfaltiger Weise miteinander verknüpft, und an dieselben sind Stimmungen, Gefühle und Willen gebunden. […] Als relativ beständiger zeigen sich zunächst räumlich und zeitlich (funktional) verknüpfte Komplexe von Farben, Tönen, Drücken u. s. w., die deshalb besondere Namen erhalten und als Körper bezeichnet werden. Absolut beständig sind solche Komplexe keineswegs.183 (Ernst Mach) Bei ihm [Rilke] sind die Dinge wie in einem Teppich verwoben; wenn man sie betrachtet, sind sie getrennt, aber wenn man auf den Untergrund achtet, sind sie durch ihn verbunden.184 (Robert Musil)
Theodor W. Adorno greift in Der Essay als Form (1958) den Konfigurations-Begriff Benses auf. Er spricht – in impliziter Referenz auf Georg Simmel185 wie auch Ernst Mach186 – von einer ‚teppichhaften‘ Verflechtung187 und „Querverbindung der Elemente“188 und kennzeichnet die spezifische Logik des Essays als eine musikalische: „der Essay befindet sich nicht im einfachen Gegensatz zum diskursiven Verfahren. Er ist nicht unlogisch […]. Nur entwickelt er seine Gedanken anders als nach der diskursiven Logik. Weder leitet er aus einem Prinzip ab noch folgert er aus kohärenten Einzelbeobachtungen. Er koordiniert die Elemente, anstatt sie zu subordinieren“.189 Die Kennzeichnung der essayistischen Textur durch den Begriff der Konfiguration verweist, angelehnt an das chemische Molekülmodell, nicht auf eine Substanz, ein Wesen oder eine feststehende Struktur, sondern auf eine sich zeitlich und räumlich verändernde Anordnung von Elementen. Die Konfiguration als „erkenntnistheoretische Kategorie“ ist, so Max Bense, anders als in den (Natur)Wissenschaften weder axiomatischdeduktiv noch qua Induktion zu erreichen, sondern allein durch eine „literarische ‚ars combinatoria‘“.190
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be. Bd. 13: Aufsätze und Abhandlungen 1909–1918. Bd. II. Hrsg. v. K. Latzel. Frankfurt a. M. 2000. S. 321–370, hier S. 330. E. Mach: Antimetaphysische Vorbemerkungen. In: ders.: Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen (1886). Nachdr. d. 9. Aufl. (Jena 1922). Darmstadt 1991. S. 1–31, hier S. 1f. Ders.: Rede zur Rilke-Feier (1927) (GW II, 1238). Vgl. G. Simmel: Die historische Formung. In: Logos. Internationale Zeitschrift für Philosophie der Kultur. Bd. 7 (1917/18). S. 321–370. Vgl. E. Mach: Antimetaphysische Vorbemerkungen (1922). S. 1–31. T. W. Adorno: Der Essay als Form (1958). S. 21 „[…] der Gedanke schreitet nicht einsinnig fort, sondern die Momente verflechten sich teppichhaft.“ Ebd. S. 31. Vgl. ebd. S. 31f. M. Bense: Über den Essay und seine Prosa (1952). S. 34.
6. Dynamische Konfiguration und Entzeitlichung
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Sprach dieser bereits ausdrücklich auch von einer „Konfiguration aus Worten“,191 so benutzt auch Adorno das Konfigurationsmodell zur Veranschaulichung der im Essay verwendeten Begrifflichkeit.192 Diese wird nicht aus ihrer Verwendung im Wissenschaftsbetrieb, sondern aus ihrem Gebrauch im Alltagsleben hergeleitet: der Essay, „selbst wesentlich Sprache“, verfahre als Sprachkritik dabei ebenso immanent wie metareflexiv, er möchte der Sprache „in ihrem Verhältnis zu den Begriffen helfen, sie reflektierend so nehmen, wie sie bewußtlos in der Sprache schon genannt sind.“193 Weder verzichte der Essay – wie die ‚reine‘ Narration als Abstraktum – gänzlich auf Begriffe, noch versuche er diese – wie beispielsweise die wissenschaftliche Abhandlung – zu definieren: „Der Essay […] führt Begriffe umstandslos, ‚unmittelbar‘ so ein, wie er sie empfängt. Präzisiert werden sie erst durch ihr Verhältnis zueinander.“194 Die Begriffe des Essays werden weder „von einem Ersten her konstruiert noch runden sie sich zu einem Letzten“,195 ihnen mangele sowohl das Moment des Ursprungs wie das des Telos. Das Moment des Prozesshaften, Dynamischen bringt das dreidimensionale räumliche Denkmodell aus seiner Statik, die Zeit wird als vierte Dimension des Raumes,196 als Bewegung im Raum konzeptionalisiert: „Alle seine [des Essays] Begriffe sind so darzustellen, daß sie einander tragen, daß ein jeglicher sich artikuliert je nach den Konfigurationen mit anderen. In ihm treten diskret gegeneinander abgesetzte Elemente zu einem Lesbaren zusammen; er erstellt kein Gerüst und keinen Bau. Als Konfiguration aber kristallisieren sich die Elemente durch ihre Bewegung.“197 Die Konfiguration der Begriffe und Bilder als dynamisch-reflexive Bewegung der essayistischen Textur ersetzt den temporär konstituierten Handlungsverlauf eines narrativen ‚Zuerst‘ und ‚Danach‘. Der Spaziergang der Gedanken – ein weiterer Topos der Textform Essay und ihrer Erfor-
_____________ 191 Ebd. S. 26. 192 Vgl. auch W. Benjamin: Erkenntniskritische Vorrede. In: ders.: Ursprung des deutschen Trauerspiels (1925). Hrsg. v. R. Tiedemann. Frankfurt a. M. 1978. S. 9–40, hier S. 16, der von einer „Vermittlerrolle“ der Begriffe zwischen den Phänomenen und den Ideen spricht: „Der Stab von Begriffen, welcher dem Darstellen einer Idee dient, vergegenwärtigt sie als Konfiguration von jenen.“ 193 T. W. Adorno: Der Essay als Form (1958). S. 20. 194 Ebd. 195 Ebd. S. 10. 196 Vgl. M. M. Bachtin: Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik (1937/38). Hrsg. v. E. Kowalski/M. Wegner. Frankfurt a. M 1989. S. 7. 197 T. W. Adorno: Der Essay als Form (1958). S. 21f.
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III. Analysekriterien oder die Konstruktion des Gegenstandes
schung198 – kennt nicht wie die traditionelle Narration Anfang, Mitte und Ende, sondern ist gegenüber seinem Gegenstand und dessen zeitlicher Anordnung indifferent. Weder das Bild des statischen Tableaus noch das des Weges zu einem Ziel hin scheinen hier zu greifen. Es handelt sich vielmehr um eine (Such-)Bewegung zwischen verschiedenen Punkten, die sich im Kreis, aber auch von Innen nach Außen und umgekehrt vollziehen kann. Es geht dabei weniger – wie beim modernen Roman, beispielsweise Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit oder Thomas Manns Der Zauberberg – um die modernen Techniken der Zeitmontage, der Komplexität von temporalen Strukturen und der Gegenüberstellung von inneren und äußeren Zeitdimensionen, sondern allenfalls um die Reflexion des Zeitbegriffs, dessen Nichtung, Aufhebung, kurz: die Überführung der zeitlichen Koordinate in ein vierdimensionales Konfigurationsmodell. Die räumliche, parataktische Anordnung ist nicht bestimmt durch die, sei es nun realen oder fiktiven Ereignisse und deren narrative Konstruktion, sondern durch einen Akt der Voluntarität, in welchem das essayistische Subjekt das Zentrale oder auch Periphere, das Wesentliche oder aber Ephemere vorhergehender Texte sowie gleichzeitiger Diskurs(Kon)Texte herausgreift. Die vernünftige, logisch-lineare und zeitlich als ‚Geschichte‘ konzeptionalisierte Ordnung der Dinge ist abgelöst von einer achronen Kontingenz der ‚Tatsachen‘, des ‚Geschehens‘. Der Essay, der stets in einem „mosaikhaften Verhältnis zu anderen Essays“ steht,199 fängt, so Adorno, „nicht bei Adam und Eva an sondern mit dem, worüber er reden will; er sagt, was ihm daran aufgeht, bricht ab, wo er selber am Ende sich fühlt und nicht dort, wo kein Rest mehr bleibe“.200
_____________ 198 Jüngst gekrönt durch die Metaphorik des Wasserwandelns; vgl. hierzu M. P. M. Caimi: Essay als Form der Philosophie. Wolznach 2001, der in einem an der Universität Eichstätt gehaltenen Gastvortrag mit dem Titel Theodor W. Adorno wandelt auf dem Meer (S. 25) Adornos Metaessay das Matthäus-Evangelium (Mt 14, 22–33) unterlegt und den Essay als „eine besondere Art des Wandelns auf dem Wasser“ (S. 11) umschreibt: „Demjenigen, der zur literarischen Tätigkeit berufen ist, bietet sich der Essay als eine besondere Art, auf dem Wasser zu wandeln. Der aber, der den Essay als ein Werkzeug des Denkens verwendet, gesteht damit implizit schon, dass der erkennende Verstand wesentlich unfähig ist, an jene endgültige Erkenntnis zu gelangen, die paradoxerweise das ureigenste Ziel seines Strebens darstellt. Schon dadurch, dass er den Essay als Vehikel wählt, leistet er Verzicht auf den faustischen Anspruch nach Objektivität […].“ (S. 22). 199 T. W. Adorno: Der Essay als Form (1958). S. 25; vgl. hierzu J. Kristevas (Bachtin, Das Wort, der Dialog und der Roman (1967/72). In: Zur Struktur des Romans. Hrsg. v. B. Hillebrand. Darmstadt 1978. S. 388–408, hier S. 391) Bild vom Text als „Mosaik von Zitaten“. 200 T. W. Adorno: Der Essay als Form (1958). S. 10.
6. Dynamische Konfiguration und Entzeitlichung
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Die zeitliche Verkettung des Nacheinanders der Geschehnisse, welche die Narration konstituiert, ist beim Essay aufgelöst (‚genichtet‘) und überführt in eine Diskontinuität,201 eine räumliche Anordnung der Elemente, einem Nebeneinander verschiedenster, auch narrativer, dramatischer und lyrischer Elemente: Gedanken, Assoziationen, Zitate, Analogien, Metaphern, Vergleiche, Aphorismen, Anekdoten und Dialoge. Der Darstellungsmodus der Verflechtung ist dem Prinzip der zeitlichen Sukzession übergelagert. Diese gerinnt in der essayistischen Konfiguration des Peripheren, Kontingenten und Ephemeren, welche das Zeitliche weder leugnet noch aufhebt, sondern annulliert und dabei als „Vergängliches verewig[t]“.202 Die ‚motivierte‘203 bzw. konstruierte Verflechtung des BildhaftNarrativen und Diskursiv-Reflexiven folgt weder den Regeln der Kausalität noch der logischen Deduktion, sondern kann sprunghaft, assoziativ wie figurativ verfahren. Das spazierengehende, umherlaufende, ‚diskursive‘ Denken verläuft dabei nicht notwendig zielgerichtet nach vorn. „Raum und Zeit sind nicht a priori. […] Raum ist eine abgeleitete Vorstellung und Zeit ist kein Continuum“, ist in einer Tagebuchnotiz Robert Musils um 1904/05 zu lesen: „Wir denken überhaupt nicht discursiv sondern sprungweise. Die Täuschung ist dieselbe wie bei einem Kinematographen.“204 Weder in der Realität noch in der Fiktion bzw. der technisch produzierten Täuschung eines cinematographischen Rücklaufs der Bilder lässt sich das Geschehene rückgängig machen, das heißt kein „erschossene[r] Hirsch wieder auf die Beine […] bringen“: „[W]enn man eine Melodie von hinten nach vorn spielt, so ist es keine Melodie mehr“, ist im Essay Das hilflose Europa oder Reise vom Hundertsten ins Tausendste (1922) zu lesen.205 Der mathematische Mensch, der Ingenieur, der Essayist und Kinogänger Robert Musil versucht – wenn die Gesetze der Schwerkraft schon nicht außer Kraft zu setzen, zu erschüttern bzw. ‚umzukehren‘ sind206 – auf der Höhe der zeitgenössischen Relativitäts- und Filmtheorie
_____________ 201 Vgl. ebd. S. 25: „Diskontinuität ist dem Essay wesentlich […].“ 202 Ebd. S. 18: „Der Essay aber will nicht das Ewige im Vergänglichen aufsuchen und abdestillieren, sondern eher das Vergängliche verewigen.“ 203 R. Musil expliziert wiederholt den Anspruch, die Konzepte von zeitlicher Linearität, logischer Kausalität und psychologischer Determination durch den der ‚Motivation‘, d. h. durch das Verstehen ethischer Motivation zu ersetzen; vgl. ders.: Tagebücher. Heft 5 (1910–1911?) (TB I, 232) und ders.: Geist und Erfahrung. Anmerkungen für Leser, welche dem ‚Untergang‘ des Abendlandes entronnen sind (1921) (GW II, 1052). 204 R. Musil: Tagebücher. Heft 24 (1904/5) (TB I, 117). 205 Ders.: Das hilflose Europa oder Reise vom Hundertsten ins Tausendste (1922) (GW II, 1078). 206 Vgl. ebd.: „[…] man müsste Zeit und Raum erschüttern, damit es anders würde.“
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III. Analysekriterien oder die Konstruktion des Gegenstandes
die Dinge, Tatsachen, Elemente neu zu konfigurieren. Das lineare und kausale Nacheinander in der Zeit wird abgelöst durch ein relationales und perspektivisches Verknüpfungsprinzip, das die Körper, Formen, Gestalten, Empfindungen zu Elementenkomplexen im Raum ordnet. Diese Konstruktion sagt nicht aus, was ist (Referenz- bzw. Faktizitätsanspruch), noch fingiert sie ein ‚Es war einmal‘ oder ein ‚Morgen war Weihnachten‘.207 Vielmehr ordnet sie die Elemente, genauer ihre Aussagen über diese, zu einem „Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein.“208 Ihr Modus ist der Konjunktiv bzw. der Imperativ des ‚Stell’ dir vor‘ bzw. „Triëdere!“.209 Der Frage, welche temporalen Strukturen, welche stilistischen und erzähltechnischen Besonderheiten den essayistischen Diskurs prägen, sind bislang nur wenige Forschungsarbeiten nachgegangen. Hinzuweisen bleibt in diesem Zusammenhang nach wie vor auf die ältere Untersuchung von Gerhard Haas.210 Nach Haas sind das Präsens im Unterschied zum epischen Präteritum der Narration sowie der Konjunktiv oder das konjunktivische Futur die Zeitformen des Essays, sein Modus ist die „Möglichkeitsaussage“.211 In syntaktischer Hinsicht überwiege die Parataxe, welche die Zirkel- bzw. Kreisstruktur des essayistischen Gedankenspaziergangs und jenes „methodisch unmethodisch[e]“ Verfahren212 unterstreicht, das jenseits von Deduktion und Induktion liegt. Die relative Häufigkeit der Parenthese zeuge von der assoziativen, sprunghaften Gedanken- und Argumentationsführung und sei oftmals mit direkten Leseransprachen oder rhetorischen Fragen verbunden, welche den dialogischen Charakter des Essays betonen. Die relative Offenheit der essayistischen Rede gibt sich, so Gerhard Haas, durch relativierende Abwägungen und Unbestimmtheitsformeln wie ,einerseits – andererseits‘, ,vielleicht‘, ,gleichsam‘, ,gewissermaßen‘, ,etwa‘, ,eigentlich‘, ,möglicherweise‘, ,könnte man
_____________ 207 Vgl. K. Hamburger: Die Logik der Dichtung (1957/68), München 1987. S. 64–78; hier S. 71. 208 R. Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. 1. Buch (1930) (MoE I, 16). 209 Vgl. ders.: Triëdere! In: Berliner Tageblatt, 15. Oktober 1926; Der Tag (Wien), 21. November 1926; Prager Presse, 9. Januar 1927 (GW II, 578–582). 210 G. Haas: Studien zur Form des Essays und zu seinen Vorformen im Roman. Tübingen 1966 und ders.: Essay. Stuttgart 1969; vgl. auch I. Honnef-Becker: „Ulrich lächelte“. Techniken der Relativierung in Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“. Frankfurt a. M. [u. a.] 1991 sowie dies.: Selbstreferentielle Strukturen in Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“. In: Wirkendes Wort 44 (1994). S. 72–87. 211 G. Haas: Studien zur Form des Essays und zu seinen Vorformen im Roman (1966). S. 19 (in der Textvorlage hervorgeh.) und ders.: Essay. Stuttgart 1969. S. 42. 212 T. W. Adorno: Der Essay als Form (1958). S. 21.
6. Dynamische Konfiguration und Entzeitlichung
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meinen, denken, sagen‘ u. s. f. zu erkennen. Dabei werde der kommunikativ-hypothetische Aspekt des essayistischen Diskurses durch die Verwendung von Verben des Denkens und Fühlens zum Ausdruck gebracht, welchen die Funktion von Leitwörtern zukomme.213 Der kognitiv-emotive Sprechstil ist zugleich aber auch Ausdruck eines spezifischen Erkenntnis- und Darstellungsmodus, welcher die Elemente von Narration und Reflexion, Bild und Bedeutung214 miteinander verschränkt. Der Charakter eines „,intellektuellen Gedichtes‘“ (Georg Lukács),215 eines ‚Denkbildes‘ (Walter Benjamin)216 oder ‚Sprachbildes‘ (Robert Müller),217 eines ‚fabelnden Denkens‘ (Ernst Bloch),218 einer „Denkerzählung“219 bzw. eines ‚Erzählens von Gedanken‘220 wird durch die Kombination von poetischen (bzw. bildlich-narrativen) Momenten mit argumentativen (bzw. diskursiv-reflexiven) Mustern erzeugt. Zu untersuchen ist die Bildkonfiguration der jeweiligen Essays in ihrem Verhältnis zu rhetorischen Darstellungsformen und Argumentationsmustern, das heißt die Verwendung von Metapher, Analogie, Gleichnis und Vergleich. Hierbei ist zu klären, ob das Bildelement vorwiegend im Dienste der jeweiligen
_____________ 213 G. Haas: Studien zur Form des Essays und zu seinen Vorformen im Roman (1966). S. 72. 214 Vgl. hierzu die Unterscheidung G. Lukács’ (Über Wesen und Form des Essays (1911). S. 12) zwischen „Bilder-Schaffende[m]“ und „Bedeutungen-Setzende[m]“ Prinzip des Essays; vgl. jedoch auch deren umgehende Relativierung (ebd. S. 13): Ich gehe weiter: die Trennung von Bild und Bedeutung ist auch eine Abstraktion […].“ 215 Vgl. ebd. S. 31. 216 Vgl. W. Benjamin: Denkbilder. In: ders.: Illuminationen. Ausgewählte Schriften. Frankfurt a. M. 1977. S. 308–313 und ders.: Denkbilder. Frankfurt a. M. 1994 sowie auch E. W. Schulz: Zum Wort ‚Denkbild‘. In: ders.: Wort und Zeit. Aufsätze und Vorträge zur Literaturgeschichte. Neumünster 1968. S. 218–253; H. Schlaffer: Denkbilder. Eine kleine Prosaform zwischen Dichtung und Gesellschaftstheorie. In: Die Parabel. Parabolische Formen in der deutschen Dichtung des 20. Jahrhunderts. Hrsg. v. T. Elm/H. H. Hiebel. Frankfurt a. M. 1986. S. 174–195; Denkbilder. Wandlungen literarischen und ästhetischen Sprechens in der Moderne. Hrsg. v. R. Köhnen. Frankfurt a. M. [u. a.] 1996; H. Müller-Michaels: Denkbilder. Zu Geschichte und didaktischem Nutzen einer literarischen Kategorie. In: Deutschunterricht. Berlin 49 (1996). S. 114–122; B. Leifeld: Das Denkbild bei Walter Benjamin. Die unsagbare Moderne als denkbares Bild. Frankfurt a. M. [u. a.] 2000 etc. 217 R. Müller: Ein Beginner (Robert Musil). In: Der Neue Merkur 4 (1920/21), H.12. S. 860–862, hier S. 861: „Es wird also die Seele nicht zerlegt, nicht erklärt, sondern in den Bewegungen von Sprachbildern gezeigt […].“ 218 E. Bloch: Das Merke. In: ders.: Spuren. Frankfurt a. M. 1983. S. 16. 219 L. Rohner: Der deutsche Essay. Materialien zur Geschichte und Ästhetik einer literarischen Gattung. Neuwied/Berlin 1966. S. 348. 220 Vgl. H. Kähler: Von Hofmannsthal bis Benjamin. Ein Streifzug durch die Essayistik der zwanziger Jahre. Berlin/Weimar 1982. S. 32: „Der Essayist entwickelt nicht Gedanken, er erzählt sie.“
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III. Analysekriterien oder die Konstruktion des Gegenstandes
Textaussage steht oder aber eine poetische Eigenständigkeit von der diskursiven Textstruktur erlangt. Stoßen in der modernen Lyrik Bild und Konzept in der absoluten Metapher zusammen, so scheint die essayistische Bildlichkeit in Aphorismen, den „Elementarsätzen eines Essays“,221 sowie paradoxen Antithesen zu kulminieren. Der Zusammenhang von Bild und Reflexion in der essayistischen Textstruktur lässt sich mit einem Reflexionsbild Robert Musils aus der wieder verworfenen „nachgestellte[n] Vorrede“ zu seinem Roman Der Mann ohne Eigenschaften verdeutlichen. Musil spricht hier von Linien („Hauptlinien oder nur Lieblingslinien“) als dem „ideelle[n] Gerüst, an dem die Gobelins hängen, wenn ich diese Erzählungen wegen ihrer flachen Darstellungsart so nennen darf“.222 Das ‚ideelle Gerüst‘ bezeichnet hier auf der Grundlage einer Unterscheidung zwischen ‚Geschichte‘ und ‚Diskurs‘ bzw. ,Text der Geschichte‘223 nicht den Handlungsverlauf,224 den „Gang“ der Geschichte, sondern deren „Struktur“. Denn, so Musil, „[d]ie Geschichte dieses Romans kommt darauf hinaus, daß die Geschichte, die in ihm erzählt werden sollte, nicht erzählt wird.“225 Die flachen Teppiche mit den eingewirkten Bildern erzählen innerhalb der räumlichen Anordnung ihres Nebeneinanders zwar noch ein Nacheinander von Geschichten oder besser, sie verweisen auf die Möglichkeit einer chronologisch organisierten narrativen Konstruktion. Die „textilen Simultanfragmente[ ]“226 sind jedoch nicht an einer zeitlich geraden Linie aufgehängt, sondern an
_____________ 221 M. Bense: Über den Essay und seine Prosa (1952). S. 29; Bense schlägt eine doppelte Lesart „beide[r] Sprachen“ des essayistischen Textes vor: der „Folge von Aphorismen“ („Bruchstücke eines pointierten Gedankens“) wie der „Folge ganz verdichteter Bilder“ („Bruchstücke einer ‚vollkommenen sinnlichen Rede‘“). 222 R. Musil: Der Mann ohne Eigenschaften (Nachlass) (MoE II, 1938). 223 K. Stierle: Geschehen, Geschichte, Text der Geschichte. In: ders.: Text als Handlung. Perspektiven einer systematischen Literaturwissenschaft. München 1975. S. 49–56. 224 Vgl. dagegen D. Bachmann: Essay und Essayismus. Stuttgart [u. a.] 1969. S. 186, der das „ideelle Gerüst“ als „Gerüst der Handlung“ und die „Gobelins“ als „Erzählungen“ bzw. „Denkbilder, die sich um die Figuren gruppieren“, deutet: „die Handlung ist nur das Gerüst für die Reflexion“. 225 R. Musil: Der Mann ohne Eigenschaften (Nachlass) (MoE II, 1937); vgl. zu diesem impliziten textuellen Verweis auf den Autor Laurence Sterne und die Gattung des essayistischen Romans Musils Briefentwurf an Franz Blei [Anfang Juli 1911]: „Lassen Sie mich voraus schicken, daß ich von Sterne nur den Tristam Shandy kenne […].“ (BR I, 82); und ders.: Tagebücher. Heft 21 (1920–1926): „Satyr.[ische] Erz.[ähl] Technik. Läßt sich auf die Formel bringen: Sich dumm stellen. Mit angenommener Naivität erzählen. (Auch Sternes mit der Vorbereitung der Erzählung nie fertig werden gehört hierzu.).“ (TB I, 584) 226 E. Schütz: „Du brauchst bloß in die Zeitung hineinzusehen“. Der große Roman im „feuilletonistischen Zeitalter“: Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“ im Kontext. In: Zeitschrift für Germanistik. N. F. VII (1997). S. 278–292, hier S. 289.
7. Essayistische (Subjekt-)Figuration und Fiktionsstatus
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einem dreidimensionalen, aus Gedankenlinien bestehenden Ideengerüst. Das Bild ist in eine essayistische Textur eingewebt, das Gerüst als dynamische Konfiguration von Begriffen konzeptualisiert. Nicht das, was die Teppiche erzählen, sondern die räumliche Konstruktion, in die sie sich fügen, ist ausschlaggebend.
7. Essayistische (Subjekt-)Figuration und Fiktionsstatus Aber da mir der Zusammenhang meiner Person nie wichtig war, sondern doch nur der meiner Gedanken und Gefühle. […] Dieses Ich bin nicht ich, wie man wohl sieht, aber es wird auch keine Figur sein, denn ich will fiktiv biografisch nur soviel unterlegen als dienlich ist um gewisse Gedanken auf kürzerem Wege verständlich zu machen. Man stelle sich den Helden dieser Gedanken als einen Mann vor […].227 (Robert Musil)
Hinsichtlich des Fiktionsstatus, der Frage nach den realen oder aber imaginären Pfeilern, die das dynamische Gerüst der Bilder und Begriffe tragen,228 ist festzuhalten, dass der Gestus des ‚ich fühle‘, ‚ich denke‘ und ,ich meine‘ immer auch mehr oder weniger explizit auf ein essayistisches Subjekt als Ort der Aussage verweist. Dabei ist mit der Behauptung, dass dieses essayistische Subjekt innerhalb des Textes mit dem Autor des Essays identisch sei, der Fiktionsstatus des Essays angesprochen. Denn trotz seines vielfach bescheinigten literarischen Charakters wird der Essay bisher in der Forschungsliteratur ausnahmslos dem Bereich der nichtfiktionalen Zweckformen zugeordnet,229 textexternes Subjekt der Aussage (Autor) und textinternes Subjekt der Aussage (essayistisches Ich) gleichge-
_____________ 227 R. Musil: Tagebücher. Heft 25 (1921–1923?) (TB I, 644); es handelt sich hierbei nicht um ein Zitat aus einem wieder verworfenen Vorwort zu Der Mann ohne Eigenschaften, sondern zu dem geplanten, aber nicht realisierten Essayband mit dem Arbeitstitel Versuche einen andren Mensch zu finden (TB I, 643). 228 Ders.: Der Mann ohne Eigenschaften (Nachlass) (MoE II, 1938). 229 K. Weissenberger: Einleitung. In: Prosakunst ohne Erzählen. Die Gattungen der nicht-fiktionalen Kunstprosa. Hrsg. v. K. Weissenberger. Tübingen 1985. S. 1–7; hier S. 5 sowie ders.: Der Essay als Schöpfungspoetologie – Zur Typologie einer literarischen Gattung. In: Sinn und Symbol. Festschrift für J. P. Strelka zum 60. Geburtstag. Hrsg. v. K. K. Pohlheim. Bern [u. a.] 1987. S. 559–577, hier S. 559: „[…] der Essay dagegen zählt per definitionem bereits zur nicht-fiktionalen Kunstprosa […].“ Vgl. auch R. Pfammatter: Essay – Anspruch und Möglichkeit: Plädoyer für die Erkenntniskraft einer unwissenschaftlichen Darstellungsform. Hamburg 2002. S. 44: „Essays sind Texte nichtfiktionaler Kunstprosa.“
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III. Analysekriterien oder die Konstruktion des Gegenstandes
setzt.230 So bestimmt Heinz Schlaffer den Essay als „schriftliche[n] Diskurs eines empirischen (d. h. nicht-fiktionalen) Ich“. Im nächsten Schritt werden Literarizität und Fiktionalität gleichgesetzt und der Essay trotz seines „ästhetischen Reize[es]“ „nicht zu den literarischen Formen im engeren Sinne [ge]zählt, die durch Fiktionalität gekennzeichnet sind.“231 Diese erzähltheoretische Grundannahme, die sich von Käte Hamburger bis Gérard Genette et altero232 nachweisen lässt, ist jedoch zu hinterfragen. Zweifelsohne wirkt sich zunächst der jeweilige Publikationskontext, zum Beispiel die Veröffentlichung in einer Wochen- oder Monatszeitschrift, der angegebene Autorname wie die explizite Textklassifikation durch Titel und/oder Untertitel hinsichtlich der Lesererwartung eines fiktionalen oder nicht-fiktionalen Textes rezeptionslenkend aus. Wobei – in Anlehnung an Genette – die auf Umschlag, Titelseite oder im Impressum stehende Gattungsangabe „Essay“ nicht als definitorische Setzung ‚dieser Text ist ein Essay‘ gelesen werden muss, sondern auch als Bitte, als Vorschlag an den Rezipienten verstanden werden kann: ‚Betrachten Sie bitte diesen Text als Essay‘.233 Greift man auf eine pragmatische Definition von Fiktionalität zurück, so lässt sich der Essay nicht mehr umstandslos dem Bereich des NichtFiktionalen zuordnen. Die Entgegensetzung von ‚Fiktivität‘ und ‚Wirklichkeit‘ bzw. ‚Nicht-Fiktivität‘ wird mittels eines Verständnisses dieser Kategorien als diachrone und diatopische Variablen, die sich in verschiedenen institutionellen, situativen, individuellen, aber auch textuellen Kontexten je wechselseitig bestimmen, überwunden und gegenüber der Frage nach möglichen Übergängen und Transformationen geöffnet.234 So kann nach Jürgen Landwehr das fiktivierende Moment einer mündlichen und/oder schriftlichen Kommunikationssituation sowohl in der kommunikativen Rolle des Produzenten, des Rezipienten wie des Dargestellten
_____________ 230 Vgl. dagegen M. Wagner-Egelhaaf: „Anders ich“ oder: Vom Leben zum Text. Robert Musils Tagebuch-Heft 33. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 65 (1991). S. 152–174, hier S. 167, die in Bezug auf Musils Tagebücher ausdrücklich von einem „Ich-Erzähler“ spricht. 231 H. Schlaffer, Heinz: Art. ‚Essay‘. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hrsg. v. K. Weimar. Bd. I. Berlin/New York 1997. S. 522–526, hier S. 522f. 232 Vgl. M. Martinez/M. Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. 4. Aufl. München 2003. S. 13. 233 Vgl. G. Genette: Paratexte: das Buch vom Beiwerk des Buches. Frankfurt/New York 1989. S. 17 (hier in Bezug auf den Roman). 234 Vgl. B. Nübel: Autobiographische Kommunikationsformen um 1800. Studien zu Rousseau, Wieland, Herder und Moritz. Tübingen 1994. S. 56f.
7. Essayistische (Subjekt-)Figuration und Fiktionsstatus
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liegen.235 Fiktionalität ist demnach kein Differenzmerkmal literarischer Texte, sondern vielmehr eine Art von Teil- bzw. Untermenge der pragmatischen und ästhetischen Kommunikation und somit auch „in jeder Kommunikationssituation potentiell aktualisierbar“.236 Somit lässt sich die Fiktivität bzw. deren Materialisierung, die Fiktionalität eines literarischen Textes, als pragmatisch determiniertes Resultat einer Kommunikationssituation definieren, die von den Kommunikationsteilnehmern innerhalb bestimmter Gattungskonventionen als Rollen- bzw. Handlungsspiel gedeutet werden.237 Nach Rainer Warning vollzieht sich das Rollenspiel zwischen Autor und Lesern auf zweifacher Grundlage: Zum einen besteht bei der fiktionalen Kommunikation eine Simultaneität von interner Sprechsituation und externer Rezeptionssituation (mit deren jeweiligen deiktischen Systemen).238 Zum anderen lässt sich die kommunikative Funktion eines gleichsam spielerischen Als-Ob-Handelns als Merkmal des ‚inszenierten Diskurses‘ angeben. Es handelt sich demnach um einen ‚inszenierten Diskurs‘, wenn das Gedankenspiel (eines Als-Ob- bzw. Möglichkeitsdenkens) figurativ inszeniert wird. Übertragen auf den Essay könnte von einem figurativen Gedankenspiel gesprochen werden. Die Fiktionalität eines literarischen Textes kann auf kommunikationspragmatischer Grundlage als kommunikative (‚figurative‘) und referentielle Doppelstruktur bestimmt werden.239 Bei der kommunikativen Doppelstruktur des fiktionalen Textes liegt eine Verdoppelung bzw. Vervielfachung der Rollen des Autors, des Lesers sowie der Kommunikationsgegenstände vor.240 Eine Fiktivierung der gesamten Kommunikationssitua-
_____________ 235 Vgl. J. Landwehr: Text und Fiktion. Zu einigen literaturwissenschaftlichen und kommunikationstheoretischen Grundbegriffen. München 1975. S. 181. 236 Ebd. 237 Vgl. B. Nübel: Fiktionalität. In: dies.: Autobiographische Kommunikationsformen um 1800 (1994). S. 58–82, hier S. 68. 238 Vgl. R. Warning: Der inszenierte Diskurs. Bemerkungen zur pragmatischen Relation der Fiktion. In: Funktionen des Fiktiven. Hrsg. v. D. Henrich/W. Iser. München 1983. S. 183–207, hier S. 193. 239 Vgl. B. Nübel: Fiktionalität (1994). S. 68–72. 240 Vgl. dagegen R. Pfammatter: Essay – Anspruch und Möglichkeit: Plädoyer für die Erkenntniskraft einer unwissenschaftlichen Darstellungsform, Hamburg 2002. S. 48f.: „Im Essay spricht der Autor als er selbst. […] Der Autor entläßt sich im Essay nicht – wie das für andere Gattungen gelten mag – durch einen ästhetisierenden und/oder fiktionalisierenden Anspruch aus seiner Verantwortung gegenüber dem Gesagten und gegenüber den Kommunikationspartnern. […] Essays sind keine anonymen Texte, sondern tragen das Signum des Urhebers. […] / Betrachtet man den Verlauf und die Ergebnisse von Kommunikation via Essay, so scheint es denn auch keinerlei Mißverständnisse oder Unsicherheiten in bezug auf die Frage: ‚Wer spricht?‘ zu geben.“
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III. Analysekriterien oder die Konstruktion des Gegenstandes
tion kann beispielsweise durch die Einführung eines fiktiven essayistischen Subjektes oder fiktiver Figuren, welche „eine spezifische Meinung im Bild eines Dritten figurieren“, erzielt werden.241 Ebenso wird durch die Ausgestaltung einer fiktiven Leserfigur, an welche sich das essayistische Subjekt wendet, eine Verdoppelung der textexternen und textinternen Leserfunktion erzielt. Die vorliegende Studie nutzt für die Analyse von essayistischen Textbeispielen den Begriff der Subjektfiguration, um die verschiedenen textexternen und textinternen Ebenen des Sprechens unterscheidbar zu machen.242 Die denkbare Hypostasierung eines in Anlehnung an Philippe Lejeunes Gattungskonvention des ‚pacte autobiographique‘ gewonnenen ‚pacte essayistique‘, welcher sich über die Namensidentität von Autor und essayistischem Ich konstituiert,243 wird der Komplexität der essayistischen Rollenspiele dagegen nicht gerecht. Die Kommunikationssituation, der Dialog zwischen Autor und Leser, so meine These, beruht nicht auf einem ‚pacte essayistique‘ bzw. einem Identitätsverhältnis zwischen textexternem Autor und textinternem essayistischen Ich. Das ‚essayistische Ich‘ als Subjekt der Aussage wird vielmehr als textinterne Funktion einer essayistischen Denkbewegung verstanden, die mit der Gleichzeitigkeit von Nähe und Distanz, Identität und Dissoziation spielt und somit zur Fiktivierung der gesamten Kommunikationssituation beiträgt. So ist beispielsweise die Identitätssetzung von textexternem Autor des Essays und textinternem Subjekt der Aussage in jenem Brief (1902)244 Hugo von Hofmannsthals zu problematisieren, welchen Lord Chandos nicht von ungefähr an einen gewissen Francis Bacon, jenen Stammvater des englischen Empirismus wie Essayismus, richtet, ein Fiktionsspiel, das in der neueren Forschungsliteratur stärkere Beachtung erfährt. Oder aber
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244
Sowie ebd. S. 49: „Die Dinge, auf die im Essay referiert wird, sind real – sind Gegenstände und Gegebenheiten der Wirklichkeit […].“ H. Schlaffer: Der kulturkonservative Essay im 20. Jahrhundert. In: H. S./H. Schlaffer: Studien zum ästhetischen Historismus, Frankfurt a. M. 1975. S. 142. Vgl. B. Nübel: Fiktionalität (1994). S. 76ff. Vgl. P. Lejeune: Der autobiographische Pakt (1973/5). In: Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung. Hrsg. v. G. Niggl. Darmstadt 1989. S. 214–257, hier S. 228: „Die Autobiographie (Erzählung, die das Leben des Autors berichtet) unterstellt, daß eine Namensidentität besteht zwischen dem Autor (so wie er durch seinen Namen auf dem Umschlag erscheint), dem Erzähler des Berichtes und der Figur, von der die Rede ist.“ H. v. Hofmannsthal: Ein Brief. In: Der Tag (Berlin). Nr. 489/491, 18./19. Oktober 1902; abgedr. in: ders.: Der Brief des Lord Chandos. Schriften zur Literatur, Kultur und Geschichte. Hrsg. v. M. Mayer. Stuttgart 2000. S. 46–60.
7. Essayistische (Subjekt-)Figuration und Fiktionsstatus
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wenn wir an Georg Lukács’ Essay Von der Armut am Geiste (1912)245 denken, in welchem eine fiktive Figur, Martha, einen Brief schreibt, der den Selbstmord einer Figur thematisiert, die deutliche Parallelen zu den Tagebucheintragungen und Briefäußerungen des Autors selbst aufweist. Auch in Musils Essay Über Robert Musil’s Bücher (1913)246 geht die Ineinssetzung von Autor und essayistischem Subjekt nicht auf, weil die essayistische Aussage aufgesplittert ist auf verschiedene textinterne Figuren – ein essayistisches Ich, einen Literaturgeologen, einen gesunden Schriftstellerkollegen und schließlich Robert Musil selbst, dessen Gehirn sich ebenfalls in das Gespräch einmischt.247 Wegen der Verwendung eines textinternen essayistischen Aussagesubjekts sowie fiktiver Figuren und Adressaten erweist sich die generelle Zuteilung der Textsorte Essay zu dem Bereich des Nicht-Fiktionalen als problematisch. Zu fragen bleibt darüber hinaus, ob nicht auch das zweite Kriterium der fiktionalen Kommunikationssituation, die referentielle Doppelstrukturiertheit, auch für essayistische Texte geltend gemacht werden kann. Gegenüber referentiellen bzw. pragmatischen Texten (Gebrauchsanweisung, Nachrichten etc.), die als realitätsbehauptend bestimmt werden können, erheben fiktionale Texte keinen Anspruch auf direkte, unmittelbare Referenzialisierbarkeit, das heißt, sie spielen mit verschiedenen Referenzbezügen. Wie verhält es sich damit beim Essay? Wenden wir uns zur Klärung dieser Frage einer Untergattung des Essays, dem biographischen Porträt zu, das im Brennpunkt der Konvergenz von Referenzialisierbarkeit und Literarizität, von realitätsbehauptendem und fiktionssetzendem Anspruch steht. Lässt sich auch beim Essay von einer Art ‚Zwillingstum‘248 zwischen fiktiven Personen, Orten, Zeitpunkten und fiktiven Texten innerhalb essayistischer Texte und deren textexternen Äquivalenten sprechen?
_____________ 245 G. v. Lukács: Von der Armut am Geiste. Ein Gespräch und ein Brief. In: Neue Blätter (1912). H. 5/6. S. 66–93. 246 R. Musil: Über Robert Musil’s Bücher (1913) (GW II, 995–1002). 247 Vgl. hierzu B. Nübel: „Gefühlserkenntnisse und Denkerschütterungen“. Für eine essayistische Didaktik. In: Wozu Kultur? Zur Funktion von Sprache, Literatur und Unterricht. Hrsg. v. G. Rupp. Frankfurt a. M. 1997. S. 103–117 sowie das Kapitel VI. 3: Das essayistische Ich oder der ‚sachliche Zusammenhang der Gefühle und Gedanken‘ in der vorliegenden Studie. 248 R. Harweg: Sind Richardsons Pamela und Fieldings Shamela ein und dieselbe Person? Ein Beitrag zum Problem der Anzahl fiktionaler Welten. In: Poetica 11 (1979). S. 343–369, hier S. 360.
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III. Analysekriterien oder die Konstruktion des Gegenstandes
Dieser Frage geht bereits Georg Lukács in seinem Metaessay Über Wesen und Form des Essays (1911) nach: „Die Kritik also, der Essay spricht zumeist von Bildern, Büchern und Gedanken. Wie ist sein Verhältnis zum Dargestellten?“ Zunächst scheint Lukács mit der Rede vom Wahrheitswert der dichterischen bzw. essayistischen Aussage an den ästhetischen Diskurs über das Verhältnis von Wahrheit, Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit ebenso anzuschließen wie das Aufrichtigkeitsgebot der Sprechakttheoretiker zu antizipieren: „Man sagt immer: der Kritiker müsse die Wahrheit über die Dinge aussprechen, der Dichter aber sei seinem Stoff gegenüber an keine Wahrheit gebunden“.249 Warum? Ist der Essay qua Gattungskonvention sowohl auf der Autorwie auf der Leser- und Gegenstandsseite als realitätsbehauptend und somit als nicht-fiktional zu bestimmen? Die Problematisierung des MimesisPostulats über den Wahrheits- statt über den Handlungsbegriff zielt hier auf eine Unterscheidung zwischen Referenzialisierbarkeit (ontologisch: Text – Welt) einerseits und Bedeutung ‚für mich‘ (rezeptionsästhetisch: Text – Leser) andererseits. So handelt es sich im Falle eines Essays über Goethe um ein Porträt, das gewisse Übereinstimmungen mit dem historischen Goethe aufweist und nicht notwendig oder nur bedingt um eine überprüfbare Wirklichkeitsaussage. Es gibt nach Lukács kein „objektives, äußeres Maß der Lebendigkeit und der Wahrheit“.250 Einerseits spricht der Essay, so Lukács, „immer von etwas bereits Geformtem, oder bestenfalls von etwas schon einmal Dagewesenem; es gehört also zu seinem Wesen, daß er nicht neue Dinge aus dem leeren Nichts heraushebt, sondern bloß solche, die schon irgendwann lebendig waren, aufs neue ordnet.“251 Das heißt, beim essayistischen Porträt wird zwar auf die historische Figur Goethe rekurriert, aber kein neuer Goethe geschaffen, sondern die rekonstruierbaren biographischen Daten wie das vorhandene Material fiktionaler und nicht-fiktionaler Texte ausgewählt (Selektion), neu angeordnet (Kombination) und kommentiert (Kommentierung).252 Andererseits aber seien selbst Gedichte „nicht darnach [!] zu unterscheiden, ob sie ihre Stoffe aus dem Leben oder von andersher ha-
_____________ 249 250 251 252
G. Lukács: Über Wesen und Form des Essays (1911). S. 20. Ebd. S. 22. Ebd. Vgl. hierzu die Unterscheidung W. Isers (Akte des Fingierens. Oder: Was ist das Fiktive im fiktionalen Text? In: Funktionen des Fiktiven. Hrsg. v. D. Henrich/W. I. München 1983. S. 121–153, hier S. 125ff.) zwischen 1. ‚Selektion‘, 2. ‚Kombination‘ und 3. ‚Selbstentblößung als Fiktion‘ als entscheidendes Differenzkriterium von literarisch Fiktivem und lebensweltlichen Fiktionen.
7. Essayistische (Subjekt-)Figuration und Fiktionsstatus
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ben“.253 Das Differenzkriterium ist hier also nicht die Fiktionalität in Bezug auf eine textexterne Referenzialisierbarkeit, sondern das Verhältnis von „lebendige[m] Leben“254 und Form bzw. die zwischen beiden liegenden Grade der Vermitteltheit. Die „formschaffende Kraft der Poesie“ zerbreche – so die unmarkierte Referenz auf die Schiller’sche Ästhetik – das ‚Leben‘ wie das „schon einmal Geformte“, da alles „zu einem ungeformten Rohstoff in ihren Händen“ werde.255 Die Form aber ist bei Lukács, „eine Weltanschauung, ein Standpunkt, eine Stellungnahme dem Leben gegenüber, […]: eine Möglichkeit, es selbst umzuformen und neu zu schaffen.“256 Hier verläuft die Grenze nicht zwischen Kunst (Dichtung) und Nicht-Kunst (Essay). Beide sind gegenüber dem ‚lebendigen Leben‘, der Materie, ihrem Gegenstand gegenüber Form: „Denn beide Arten der Weltbetrachtung sind nur Stellungnahmen den Dingen gegenüber“.257 An dem „‚wirklichen‘ Goethe“ lasse sich folglich nicht „die Wahrheit der Goethe von Grimm, Dilthey oder Schlegel“ messen: „Es ist also nicht möglich, daß zwei Essays einander widersprechen: jeder erschafft ja eine andere Welt“.258 Worin aber, wenn nicht in der Erschaffung anderer, neuer Welten liegt das Element des Schöpferischen, der Fiktion im Sinne neuer, möglicher Welten? Damit ist aber der Behauptung, dass sich der Essay nur ordnend und kommentierend zur Welt in erster Potenz (Kategorie des ‚lebendigen Lebens‘ bzw. der ‚Unmittelbarkeit‘) bzw. ihrer literarischen Formung in zweiter Potenz verhält, die argumentative Grundlage entzogen. Wie bei einem Porträt erschafft der Essay in Referenz auf den historischen Goethe einen neuen, fiktiven im Sinne von möglichen Goethe, geht also schöpferisch bzw. mit Referenzbezügen – auf den historischrealen Goethe wie auf die verschiedenen historischen, literarischen, essayistischen Goethebilder – spielend mit dem jeweiligen Bildern bzw. TextVorlagen um. Die „Paradoxie des Essays“ ist dabei nach Lukács „beinahe dieselbe wie die des Porträts“,259 das uns „das Leben eines Menschen, der einmal wirklich gelebt hat“,260 gibt: „Die Dichtung gibt uns die Lebensillusion dessen, den sie darstellt; nirgends ist jemand oder etwas denkbar, woran
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Ebd. S. 18. Ebd. S. 24. Ebd. S. 18. Ebd. S. 16f. Ebd. Ebd. S. 22. Ebd. S. 20. Ebd. S. 21.
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III. Analysekriterien oder die Konstruktion des Gegenstandes
das Gestaltete gemessen werden könnte. Der Held des Essays lebte schon irgendwann, sein Leben muß also gestaltet werden; nur ist auch dieses Leben gerade so innerhalb des Werkes, wie alles in der Poesie.“261 Das heißt, ohne den Anspruch auf Referenzialisierbarkeit notwendig aufzugeben, leitet sich der Wahrheitsanspruch der Aussage nicht von dem realen Vorhandensein des Ausgesagten, sondern aus der referentiellen Verdoppelung, das heißt der perspektivischen Relationierung von Subjekt der Aussage, Objekt des Ausgesagten und Rezeptionsvorgang ab. Entscheidend ist dabei nicht die Relation der „Ähnlichkeit“ zwischen Essay bzw. Porträt und der jeweiligen historisch-realen Vorlage,262 also der Anspruch auf Referenzialisierbarkeit mit einem dem Text vorausliegenden ‚realen Objekt‘, sondern die Frage nach der rezeptionsästhetischen Relevanz, der Bedeutung ‚für mich‘, in Lukács’ Worten: die „Intensität der Arbeit und der Vision […], ob wir aus einem Geschriebenen eine Suggestion dieses eines Lebens erhalten.“263 Denn die Wahrheit des Essays (wie des Porträts und der Biographie264) ist immer nur die „Wahrheit, die Verkörperung des Lebens, das jemand aus einem Menschen, einem Zeitalter, einer Form herausgelesen hat“.265 Sie ist somit zuerst und vor allem eine Frage der Interpretation, der jeweiligen Perspektive bzw. Relation zwischen dem Subjekt und dem Objekt der Erkenntnis oder – im Fall des biographischen Essays – der Konstruktion eines Lebens zum Text.
_____________ 261 Ebd. S. 21f. 262 Im Zeitalter des expressionistischen Porträts ohnehin eine überholte Kategorie; vgl. hierzu B. Balázs (Nicht der Maler, der Gemalte ist schuldig! Abgedr. in: E. Karádi: Der „Sonntagskreis“ und die Weimarer Kultur. In. WechselWirkungen. Ungarische Avantgarde in der Weimarer Republik. [Ausstellungskatalog]. Hrsg. v. H. Gaßner, Marburg 1986. S. 535f.) über die Kategorie der Ähnlichkeit angesichts des zeitgenössischen expressionistischen Porträts, bei welchem der „radikale Wille zum Stil“ das Gesicht ‚zerreiße‘ und das Bild (=Porträt) bei dieser ‚Destruktionsart‘ „von der konkreten Person des Gemalten […] abstrahiert“: „Es sind nicht einzelne, verirrte, unbegabte oder überspannte Sonderlinge, es ist die ganze, internationale, junge Malergeneration, die uns so porträtiert, daß wir uns nicht erkennen.“ 263 Ebd. S. 21. 264 Vgl. H. Scheuer: Biographie. Studien zur Funktion und zum Wandel einer literarischen Gattung vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Stuttgart 1979 sowie ders.: Biographik und Literaturwissenschaft: Konstruktion und Dekonstruktion. Anna Seghers und ihre Biographen. In: Argonautenschiff. Jahrbuch der Anna-SeghersGesellschaft 4 (1995). S. 245–263. 265 G. Lukács: Über Wesen und Form des Essays (1911). S. 21.
7. Essayistische (Subjekt-)Figuration und Fiktionsstatus
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In dieser anderen, möglichen Welt, in welcher die „Realitätsvokabeln“266 der wirklichen Welt neu angeordnet sind, verweisen die Namen (‚Goethe‘, ‚Napoleon‘ etc.) zwar auf die Dinge und Menschen außerhalb des Textes, jedoch nicht im Sinne einer Identitätssetzung, sondern als Differenz, als Spiel mit den Identitäten wie mit den Differenzen zwischen dem realen Vorbild (der historischen Person Goethe), den GoetheEntwürfen der literarischen Prätexte und dem essayistischen Lebensentwurf. Die „Verdoppelung der für nichtfiktionale Texte gültigen Kommunikationsstruktur“,267 also das ,Zwillingstum‘268 zwischen textinternen Personen, Orten, Zeitpunkten und deren textexternen Äquivalenten, ließe sich somit auch beim Essay auf die zur Darstellung kommenden Kommunikationsgegenstände, Sachverhalte, Personen und Texte übertragen. Wie beim Roman so fällt auch beim Essay „[d]ie dargestellte Welt, wie realistisch und wahrheitsgetreu sie auch sein mag, […] niemals chronotypisch mit der darstellenden realen Welt“ zusammen, „in der sich der Autor und Schöpfer dieser Darstellung befindet.“269 Erfüllt der Essay das Kriterium der kommunikativen Doppel- bzw. Multistruktur auf der Ebene der Subjektfigurationen und/oder das Kriterium der referentiellen Doppel- bzw. Mehrfachstrukturiertheit, so lässt er sich nicht mehr generell dem Bereich der nicht-fiktionalen literarischen Formen zuordnen. Als figuratives und referentielles Gedankenspiel – im Unterschied zum Handlungsspiel der Novelle – kann der jeweilige Text vielmehr auf einer Skala, die von den Polen des Fiktionalen bis NichtFiktionalen reicht, als mehr oder weniger fiktional bestimmt werden.
_____________ 266 H. Broch: Das Weltbild des Romans (1933). In: ders.: Kommentierte Werkausgabe. Hrsg. v. P. M. Lützeler. Bd. 9/2: Schriften zur Literatur 2: Theorie. Frankfurt a. M. 1975. S. 89–119, hier S. 106. 267 R. Harweg: Inhaltsentwurf, Erzählung, Inhaltswiedergabe. Zum fiktionstheoretischen Doppelstatus fiktionaler Erzählungen. In: Grundfragen der Textwissenschaft. Linguistische und literaturwissenschaftliche Aspekte. Hrsg. v. W. Frier/G. Labroisse, Amsterdam 1979. S. 111–131, hier Anm. 1. S. 112. 268 Ders.: Sind Richardsons Pamela und Fieldings Shamela ein und dieselbe Person? (1979). S. 360. 269 M. M. Bachtin: Schlußbemerkungen (1973). In: ders.: Formen der Zeit im Roman (1937/38). S. 207f.
IV. Georg Simmel oder Essayismus als Kokettieren mit den Dingen Wie der Chemiker einen ihm unbekannten Stoff Verbindungen mit sämtlichen anderen Stoffen eingehen läßt, damit er ein Bild von dem Wesen und den Eigenschaften des fraglichen Körpers von seinen Reaktionen auf die Summe der übrigen chemischen Substanzen gewinnt, so stellt Simmel Experimente mit dem Begriff an, bringt ihn in die mannigfachsten Situationen und richtet Frage um Frage an ihn.1 (Siegfried Kracauer) Hätte Rembrandt so viel über sich gedacht wie Simmel über Rembrandt in seinem Buche, der Maler hätte sicher kein Bild gemalt. Eher schon ein Buch über Simmel geschrieben.2 (Franz Blei)
Georg Simmel (1858–1918) gilt mittlerweile nicht nur in der sich um 1900 als universitäre Disziplin konstituierenden Soziologie als ‚Klassiker‘.3 Das von Simmel in der Philosophie des Geldes (1900) und dem Essay Die Großstädte und das Geistesleben (1903) sowie in seinen kulturphilosophischen Schriften entworfene Modernekonzept und die darin verwendete essayistische Methode, welche soziologischen Relationismus4 und ästhetischen Pan-
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S. Kracauer: Georg Simmel. In: Logos IX (1920). H. 3. S. 307–339, hier S. 323f. F. Blei: Erzählung eines Lebens. Leipzig 1930. S. 10f. Vgl. P.-E. Schnabel: Georg Simmel. In: Klassiker des soziologischen Denkens. Hrsg. v. Dirk Käsler. Bd. 1: Von Comte bis Durkheim. München 1976. S. 267–312; H. J. Dahme/O. Rammstedt: Vorwort. In: Georg Simmel und die Moderne. Neue Interpretationen und Materialien. Hrsg. v. H.-J. D./O. R. Frankfurt a. M. 1984. S. 7–9, hier S. 7: „Simmel ist nicht nur der große Klassiker der Soziologie, sondern auch Kulturphilosoph, Analytiker der Moderne, Ästhetiker und Lebensmetaphysiker“ sowie K. Lichtblau: Kulturkrise und Soziologie um die Jahrhundertwende. Zur Genealogie der Kultursoziologie in Deutschland. Frankfurt a. M. 1996 u. a. Vgl. G. Simmel: Gesamtausgabe. Bd. 11: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung (1908). Hrsg. v. O. Rammstedt. Frankfurt a. M. 1992. S. 36: „Es ist immer eine Wirklichkeit, die wir in ihrer Unmittelbarkeit und Totalität nicht wissenschaftlich erfassen können, sondern von einer Reihe gesonderter Standpunkte her aufnehmen müssen und damit zu einer Mehrzahl voneinander unabhängiger Wissenschaftsobjekte ausgestalten.“
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theismus5 vereint, lässt Simmel in der Forschungsliteratur mittlerweile zu einem Prototyp der Moderne mutieren. Der „erste Soziologe der Moderne“6 wird zu einem soziologischen „Flaneur“,7 zu einem philosophischen Spaziergänger8 und „Dandy“9 stilisiert. Darüber hinaus erfährt Simmel zunehmend auch als Essayist Anerkennung und Würdigung.10 Sowohl gewisse Merkmale seiner Person und Lebensführung („eine bestimmte geistige Attitüde zu Welt und Leben“)11
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Vgl. ders.: Soziologische Aesthetik. In: Die Zukunft 17 (1896). S. 204–216; abgedr. in: ders.: Gesamtausgabe. Bd. 5: Aufsätze und Abhandlungen 1894 bis 1900. Hrsg. v. H.J. Dahme/D. P. Frisby. Frankfurt a. M. 1992. S. 197–215, hier S. 199: „Wenn wir diese Möglichkeit ästhetischer Vertiefung zu Ende denken, so giebt es in den Schönheitswerthen der Dinge keine Unterschiede mehr. Die Weltanschauung wird ästhetischer Pantheismus, jeder Punkt birgt die Möglichkeit der Erlösung zu absoluter ästhetischer Bedeutsamkeit, aus jedem leuchtet für den hinreichend geschärften Blick die ganze Schönheit, der ganze Sinn des Weltganzen hervor.“ 6 D. Frisby: Soziologie und Moderne: Ferdinand Tönnies, Georg Simmel und Max Weber. In: Simmel und die frühen Soziologen. Nähe und Distanz zu Durkheim, Tönnies und Max Weber. Hrsg. v. O. Rammstedt. Frankfurt a. M. 1988. S. 196–222, hier S. 212 und ders.: Fragmente der Moderne. Georg Simmel, Siegfried Kracauer, Walter Benjamin. Rheda-Wiedenbrück 1989. S. 10f. 7 Ders.: Georg Simmels Theorie der Moderne. In: Georg Simmel und die Moderne. Hrsg. v. H. J. Dahme/O. Rammstedt (1984). S. 9–80, hier S. 31; vgl. auch U. Luckhardt: „Aus dem Tempel der Sehnsucht“. Georg Simmel und Georg Lukács: Wege in und aus der Moderne. Butzbach 1994. S. 129; vgl. ebd. S. 131, die in Simmel einen Flaneur im Sinne W. Benjamins sieht: „Der Flaneur verkörpert […] eine intellektuelle Haltung, die gestisch beobachtend, nicht handelnd und verändernd auf die Gesellschaft einwirkt.“ 8 Vgl. E. Bloch: Weisen des „Vielleicht“ bei Simmel (Zum 100. Geburtstag) (1958). In: ders.: Philosophische Aufsätze zur objektiven Phantasie. Frankfurt a. M. 1969. S. 57– 69, der ebd. S. 59 von Simmels „Kunst des philosophischen Spaziergangs“ spricht. 9 E. Lenk: Wie Georg Simmel die Mode überlistet hat. In: Die Listen der Mode. Hrsg. v. S. Bovenschen. Frankfurt a. M. 1986. S. 415–438, hier S. 428: „Auf seinem Terrain, auf dem Gebiet der Philosophie, hat er [Simmel] eine Attitüde entwickelt, die der des literarischen Dandy vergleichbar ist. Der ostentativen Oberflächlichkeit entspricht bei Simmel eine Philosophie der Oberfläche, dem Kult der individuellen Vorlieben und Idiosynkrasien seine Versenkung ins Detail.“ 10 Vgl. hierzu W. Goetschel: Art. ‚Georg Simmel‘. In: Encyklopedia of the Essay. Ed. by T. Chevalier. London/Chicago 1997. p. 773f. und M. Christen: Essayistik und Modernität. Literarische Theoriebildung in Georg Simmels „Philosophischer Kultur“. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 66 (1992). H. 1. S. 129–160; hier S. 129, der Simmels Essays „als programmatische Texte der ästhetischen Moderne“ liest. 11 G. Simmel: Einleitung. In: ders.: Philosophische Kultur. Über das Abenteuer, die Geschlechter und die Krise der Moderne. Gesammelte Essais (1911). Mit e. Nachw. v. J. Habermas. Berlin 1983. S. 7–13, hier S. 7; der Nachdruck folgt laut Impressum der „Originalausgabe“ (d. i. die 3. Aufl.) von 1923 im Gustav Piepenheuer Verlag Potsdam; die 1. Aufl. erschien 1911 bei W. Klinkhardt in Leipzig , die „2., um einige Zusätze verm. Aufl.“ 1919 bei Kröner, ebenfalls Leipzig.
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wie Inhalt und Form seiner Schriften („eine funktionelle Form und Art, die Dinge aufzunehmen und innerlich mit ihnen zu verfahren“)12 lassen Simmel geradezu zum personalen Paradigma des Essayistischen werden. Dabei erfolgt in der zeitgenössischen wie posthumen Rezeption die Zuschreibung des Essayistischen über die Attribute des Unsystematischen,13 Experimentellen und Fragmentarischen,14 des ‚Vielleicht‘,15 des „methodologischen Pluralismus“,16 der Standpunktlosigkeit, des Relativismus17 bzw. Relationismus,18 des philosophischen oder soziologischen Impressionismus,19 des Ornamentalen, der Oberfläche20 wie des Frivolen.21
_____________ 12 G. Simmel: Einleitung. In: ders.: Philosophische Kultur (1911). S. 7. 13 Vgl. S. Kracauer: Georg Simmel (1920). S. 313: „[…] und Simmel gehört durchaus zu den unsystematischen Denkern […].“ 14 Vgl. G. Lukács: Georg Simmel. In: Pester Lloyd, 2. Oktober 1918. Abgedr. in: Buch des Dankes an Georg Simmel. Briefe, Erinnerungen, Bibliographie. Hrsg. v. K. Gassen/M. Landmann. Berlin 1958. S. 171–176, hier S. 175: „Freilich: auch diese Soziologie Simmels ist nur ein ‚Experiment‘ und kein Abschluß; seine ‚Soziologie‘ trägt den Stempel seines Impressionismus noch stärker an sich als der große Essay über das Geld; und seine Versuche in der Geschichtsphilosophie sind in noch offenkundigerer Weise schon als Fragmente konzipiert.“ 15 Vgl. E. Bloch: Weisen des ‚Vielleicht‘ bei Simmel (1958). S. 57: „Simmel war ein Vielleichtdenker wie wenige vorher.“ Vgl. auch R. Hamann/J. Hermand: Impressionismus. München 1972. S. 86: „Man denke daran, wie häufig Simmel die Wendungen ‚vielleicht‘, ‚man könnte sagen‘ oder ‚es dürfte wohl sein‘ benutzt, anstatt apodiktisch den wahren Sachverhalt zu beschreiben.“ 16 G. Lukács: Georg Simmel (1918). S. 174. 17 Vgl. ebd. S. 174ff. und E. Bloch: Weisen des ‚Vielleicht‘ bei Simmel (1958). S. 57f., der „Simmels ständige Lustwerbung ums Wahre und eifrige Abwendung von ihm, sobald es sich zeigt“, als „prinzipiellen Relativismus“ kennzeichnet, der sich selbst „nochmals relativiert“. 18 Vgl. K. Lichtblau (Georg Simmel. Frankfurt a. M./New York 1997. S. 27), der von Simmels „Denken in Relationen“ spricht, sowie R. Hamann/J. Hermand: Impressionismus (1972). S. 85: „Das beste Beispiel für diese assoziierende Art des Denkens ist seine [Simmels] ‚Philosophie des Geldes‘ (1900), in der gerade das Prinzip der Relation zum philosophischen Grundgedanken erhoben wird.“ 19 Vgl. G. Lukács: Georg Simmel (1918). S. 172: „[…] er [Simmel] ist der wahre Philosoph des Impressionismus.“ Vgl. auch D. Frisby: Fragmente der Moderne (1989). S. 75. 20 Vgl. S. Kracauer: Georg Simmel (1920). S. 333: „Simmel dagegen ist der geborene Mittler zwischen der Erscheinung und den Ideen. Von der Oberfläche der Dinge dringt er allenthalben mit Hilfe eines Netzes von Beziehungen der Analogie und der Wesenszusammengehörigkeit zu ihren geistigen Untergründen vor und zeigt, daß jene Oberfläche Symbolcharakter besitzt […].“ 21 Vgl. G. Lukács: Gelebtes Denken. Eine Autobiographie im Dialog (1971). Hrsg. v. I. Eörsi. Frankfurt a. M. 1981. S. 58f., der „bei Simmel eine gewisse Frivolität“ konstatiert, sowie R. Hamann/J. Hermand: Impressionismus (1972). S. 87: „Das Ergebnis dieser Wandlung ins Unverbindliche ist eine geistige Halbverhülltheit, die fast ans Frivole grenzt.“
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Im Folgenden wird Simmel nicht als ‚Diskursbegründer‘ – in diesem Falle des essayistischen Vertextungsprinzips und seiner Metareflexion – gelesen, sondern als Multiplikator bzw. Verteiler, der sich in die essayistischen Vertextungszusammenhänge der Autoren, die hier exemplarisch untersucht werden (Georg Lukács, Robert Musil, Béla Balázs, Franz Blei, Hermann Broch u. a.) als markierte Referenz oder auch als impliziter Subtext eingeschrieben hat22 und wie eine Art Knotenpunkt bzw. diskursives Schnittfeld fungiert. Zeit seines Lebens blieb dem Abkömmling des mittel- bzw. osteuropäischen Judentums zwar weder wissenschaftliche Reputation noch Rezeption verwehrt, wohl aber die entsprechende akademische Bestallung. Simmel hatte neben Völkerpsychologie (bei Steinthal und Lazarus) und Philosophie auch Kunstgeschichte bei Herman Grimm studiert, jenem Sohn Wilhelms und Neffen Jakob Grimms, der mit seinen 1859 erschienenen Essays als erster in Deutschland eine Textklassifikation verwendet hat, die auch auf die Mehrzahl der Simmel’schen Publikationen angewendet werden kann. Hierzu zählen – lässt man die frühe Einleitung in die Moralwissenschaft (1892/93), das Hauptwerk Philosophie des Geldes (1900), die Soziologie (1908), die Studien zu Kant (1906), Goethe (1906) und Rembrandt (1916) etc. einmal unberücksichtigt – unzählige Publikationen im Kontext der zeitgenössischen Wissenschafts- und Tagespresse. Behandelt wird ein Themenspektrum, das neben philosophischen, psychologischen, soziologischen, literaturwissenschaftlichen und kunsthistorischen Fragestellungen vor allem lebensphilosophische und kulturkritische Beiträge umfasst und thematisch von der Frauenfrage bzw. dem Verhältnis der Geschlechter über das Abenteuer, den Schauspieler, die Alpen bis zum Henkel reicht.23
_____________ 22 Vgl. R. Lachmann: Ebenen des Intertextualitätsbegriffs. In: Das Gespräch. Hrsg. v. K. Stierle/R. Warning. München 1984. S. 138, die u. a. unterscheidet: 1. „Die Abbildung der Interferenz der Texte, d. h. die signalisierte, markierte Intertextualität, 2. die textuelle Selbstreflexion, d. h. die Metatextualität, 3. die Implikativität, das Mitverstandene, d. h. der Subtext, 4. die Vorläufigkeit, Implizierbarkeit, d. h. Prätextualiät (eigentlich Subtextualität in futuro), 5. die Selbstüberschreitbarkeit, d. h. die Transtextualität.“ – Das Verhältnis von manifest-markiertem (Haupt-)Text und implizitunmarkiertem Subtext wird hier weder als Unterscheidung ‚bewusst‘ vs. ‚unbewusst‘ gedacht noch als verborgen-latenter Sinngehalt, sondern als Textrelation im Sinne eines Palimpsests, bei dem der überschriebene Text nur fragmentarisch zwischen dem Überschreibungstext sichtbar bleibt. Beim ‚Subtext‘ handelt es sich um eine (Beobachter-)Konstruktion auf der Ebene der Textanalyse, gewissermaßen also um eine Zuschreibung, nicht um eine Eigenschaft des Textes ‚an sich‘. 23 Vgl. T. W. Adorno: Henkel, Krug und frühe Erfahrung (1965). In: ders.: Gesammelte Schriften. Hrsg. v. R. Tiedemann. Bd. 11: Noten zur Literatur. Frankfurt a. M. S. 556– 567, hier S. 564, der Simmels Denkmethode polemisch als „Wald- und Wiesenmeta-
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In der Einleitung zur Philosophischen Kultur (1911), welche als Metareflexion seines Essaybuches wie seiner essayistischen Methode überhaupt gelesen werden kann, leitet Simmel die Kontingenz, Isoliertheit, Vielfalt und Unbegrenztheit seiner Erkenntnisgegenstände von einer Methode des Denkens ab. Dabei wird „das Funktionelle, die Einstellung, Tiefenrichtung und Rhythmik des Denkprozesses als das, was diesen zum philosophischen macht“, begriffen.24 Es ist eine Denkbewegung, welche von außen nach innen und – so das methodologische Paradoxon – ebenso metaphysisch wie induktiv vorgeht. Der metaphysische Monotheismus wie der erkenntnistheoretische Relativismus wird dabei aufgelöst in der „ganzen Fülle möglicher metaphysischer Absolutheiten“.25 Die Einheit seines Essaybuches sieht Simmel programmatisch im Titel Philosophische Kultur vorgegeben, welche er als „intellektuelle[ ] Bewegteit“26 bzw. „formale[ ] Bewegtheit des philosophierenden Geistes“27 versteht. Die „Bewegtheit des Geistes“ aber ist nicht eine der beweglichen Begriffe (,Konfiguration‘) jenseits der „dogmatischen Kristallisierung“, sondern die „Bewegtheit des philosophischen Lebens selbst“.28 Diese versucht sowohl die dichotomische Trennung von „lebendige[m] Vorgang“ und „begriffiche[m] Erlebnis“29 zu überwinden wie jene „räumliche[ ] Analogie[ ]“ von Weg und Ziel30 in „unbegrenzt viele[ ] Richtungen“ aufzulösen.31
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physik“ abwertet; vgl. ebd. S. 559: „Die Vermittlung, über die er meditiert, bleibt ihnen [den Kunstwerken] so äußerlich wie nun einmal der Henkel der Vase. […] Sie werden vorweg zu Gegenständen betrachtenden Genusses neutralisiert“. Zur Denkmethode E. Blochs heißt es dagegen ebd. S. 565: „Der Krug Blochs bin ich selber […]“. Vgl. hierzu auch H. Scheible: Die Tragödie der Kultur. Georg Simmel. In: ders.: Wahrheit und Subjekt. Ästhetik im bürgerlichen Zeitalter. Reinbek bei Hamburg 1988. S. 373–397, hier S. 374: „Darüber hinaus pflegte Adorno Simmels Neigung, mit der philosophischen Reflexion an Gegenständen der Alltagswelt anzusetzen, als ‚Simmelei‘ bzw. als ‚Philosophie der Teetasse‘ zu ironisieren.“ G. Simmel: Einleitung. In: ders.: Philosophische Kultur (1911). S. 8. Ebd.; vgl. hierzu S. Kracauer: Georg Simmel (1920). S. 320: „Sein Ziel zu erreichen, schlägt er [Simmel] zwei Wege ein: den erkenntnistheoretischen und den metaphysischen. Jener führt ihn zur echt relativistischen Leugnung des Absoluten, zum Verzicht auf ein selbsteigenes Begreifen der Totalität […]; dieser führt ihn zu einer Metaphysik des Lebens, zu einem groß angelegten Versuch, das Erscheinende aus einem absoluten Prinzip heraus zu verstehen.“ G. Simmel: Einleitung. In: ders.: Philosophische Kultur (1911). S. 10. Ebd. S. 7. Ebd. S. 9. Ebd. S. 7. Ebd. S. 9: „Die Forderung des metaphysischen Triebes wird nicht erst am Ende dieser Wege eingelöst, ja der ganze Begriff von Weg und Ziel, der die Illusion eines notwenig einheitlichen Schlusspunktes mit sich bringt, ist hier unzutreffend und nur ein Mißbrauch räumlicher Analogien.“
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Der (,auszugrabende‘) Sinn32 des Lebens ist ihm dagegen weder Weg noch Ziel, sondern die Bewegung zwischen zwei Punkten, den „flüchtigsten und isoliertesten Oberflächenerscheinungen des Lebens“ einerseits und einer „philosophischen Tiefenschicht“ andererseits. Entscheidend ist hierbei das Ziehen von Verbindungslinien zwischen den einzelnen Punkten, nicht die metaphysische Konstruktion als solche: „zu keinem einzelnen metaphysischen Grundbegriff scheint eine Richtlinie von jedem derartigen Phänomen herabzuführen.“33 Der metaphysische Geist selbst ist nur metaphysisch zu begründen, er ist selbstreflexiv: die „Bewegtheit des Geistes“ ist „in sich selbst metaphysisch“. Die „Einheit der Denkbewegung“ liegt demnach nicht im Inhalt des Denkens, sondern in der Form ihrer Bewegung/Bewegtheit. Und der Philosoph des ‚Vielleicht‘ formuliert sein Erkenntnisparadigma selbstbewusst und ohne Wenn-undAber: Es handelt sich, so Simmel, „um die ganz prinzipielle Wendung von der Metaphysik als Dogma sozusagen zu der Metaphysik als Leben oder als Funktion, nicht um die Inhalte der Philosophie, sondern um die Art ihrer Form“.34 Hinzuweisen ist vor allem auf die multiplikatorische Funktion seines Denkens. Bis zu seiner späten Berufung nach Straßburg im Jahr 1914 lebte Simmel in Berlin, wo er viele Jahre als Privatdozent und später als außerplanmäßiger Professor, Vorlesungen über Philosophie, hier vor allem über Kant, Ethik, Soziologie und Psychologie,35 vor einer großen Zuhörerschaft hielt:36 neben Ernst Cassirer auch Ernst Bloch, Georg Lukács, Leo Popper, Béla Balázs und Siegfried Kracauer, vermutlich auch Robert Musil. In Musils Nachlass findet sich unter dem Stichwort „sittliche Erleuchtung“ zwar ein Hinweis auf den ersten Band von Simmels Kritik der ethischen Grundbegriffe aus der Einleitung in die Moralwissenschaft (1892/92)37 sowie eine bibliographische Notiz zu Simmels Soziologie. Untersuchungen über die
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Ebd. S. 8. Ebd. S. 10f. Ebd. S. 8. Ebd. S. 9; Hervorhebung v. B. N. Vgl. hierzu die Aufstellung der Simmel’schen Vorlesungen in: Buch des Dankes an Georg Simmel. Hrsg. v. K. Gassen/M. Landmann (1958). S. 345–349. 36 Vgl. hierzu H. Simmel: Auszüge aus den Lebenserinnerungen. In: Ästhetik und Soziologie um die Jahrhundertwende: Georg Simmel. Hrsg. v. H. Böhringer/K. Gründer. Frankfurt a. M. 1976. S. 247–269, hier S. 256 und D. Frisby: Fragmente der Moderne (1989). S. 16 u. a. 37 Vgl. A. Frisé (TB II, 851).
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Formen der Vergesellschaftung (1908).38 Bislang ließ sich jedoch nicht der unmittelbare Nachweis erbringen, dass Musil, der von 1903 bis 1908 in Berlin Philosophie und Psychologie studierte, auch Simmels Vorlesungen besucht hat.39 Während Claudia Blasberg davon ausgeht, dass Musil Simmels Schriften „nur […] flüchtig kannte“,40 sieht Michiko Mae Gemeinsamkeiten in der Liebeskonzeption beider Autoren41 und Klaus Laermann,42 Michael Makropouluos,43 Wolfgang Müller-Funk44 und Richard David Precht45 stellen einen Zusammenhang her zwischen der Eigenschafts- bzw. Charakterlosigkeit des Großstädters Ulrich und Simmels Analysen in Philosophie des Geldes (1900) und Die Großstädte und das Geistesleben (1903). In der Forschungsliteratur zu Simmel sind vielfach Bezüge zu Robert Musil, speziell zur Romanfigur Ulrich aus Der Mann ohne Eigenschaften hergestellt worden.46 Elisabeth Lenk spricht von einer unverkennbaren „Affinität Musils zu Simmel“:47 „Simmel ist wie Musils Ulrich (der ja ebenfalls Züge des Dandys trägt) ein Möglichkeitsdenker.“48 Klaus Christian Köhnke, der eine Nähe zwischen Simmels Ich-Konzeption, dessen Kritik der Begriffe von Egoismus und Altruismus und Ernst Machs Analyse der Empfindungen (1886) konstatiert, sieht „Simmels ‚Auflösung‘ oder ‚Aufhebung‘
_____________ 38 Vgl. ders. (TB II, 1137). 39 Vgl. K. Corino: Robert Musil. Eine Biographie. Reinbek bei Hamburg 2003. S. 222. 40 C. Blasberg: Krise und Utopie der Intellektuellen. Kulturkritische Aspekte in Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“. Stuttgart 1984. S. 348. 41 M. Mae: Motivation und Liebe. Zum Strukturprinzip der Vereinigung bei Robert Musil. München 1988. 42 K. Laermann: Eigenschaftslosigkeit. Reflexionen zu Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“. Stuttgart 1970. S. 22. 43 M. Makropouluos: Modernität als Indifferenz? Ein Versuch zu Walter Benjamins Urteil über Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“. In: Konkursbuch 19: Normen. Hrsg. v. G. Kimmerle/U. Konnertz, Tübingen 1987. S. 142–159, hier S. 149. 44 W. Müller-Funk: Krieg in Mitteleuropa. Robert Musil als Kronzeuge der europäischen Katastrophe. In: Robert Musil. Ein Mitteleuropäer. Hrsg. v. J. Munzar/H. František, Brünn 1994. S. 73–83, hier S. 74 und S. 79. 45 R. D. Precht: Die gleitende Logik der Seele. Ästhetische Selbstreflexion in Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“. Stuttgart 1996. S. 110–115. 46 Vgl. hierzu D. Frisby: Sociological Impressionism. A Reassessment of Georg Simmel’s Social Theory. London 1981. S. 157–165, der sich wiederum stark an G. Müller: Ideologiekritik und Metasprache in Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“. München/Salzburg 1972 anlehnt. 47 E. Lenk: Wie Georg Simmel die Mode überlistet hat (1986), Anm. 17. S. 434. 48 Ebd. S. 428; vgl. ebd. S. 430: „Jenes große Terrain, das unter dem Despotismus einer rationalen Moral verwildert war – das Aufspüren von Reflexion der Roheit in Bereichen, die von Gesetz und Moral gar nicht berührt wurden, ist übrigens wieder ein Zug, den Simmel mit Musil teilt […].“
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des Ich – literarisch gefaßt – gleichsam als ‚Mann ohne Eigenschaften‘ wiederkehr[en]“:49 „es handelt sich ja hier um ‚Gesammelte Essais‘, oder genauer sogar um einen ‚Essayismus‘, wie ihn dann Robert Musil im ‚Mann ohne Eigenschaften‘ – anspielungsreich und ganz offensichtlich in Interpretation Simmels – in einer unübertrefflichen Passage schildert, die deshalb ausführlich wiedergegeben sei […].“50 Der vielzitierte romanimmanente Diskurs über den Essay aus dem 62. Kapitel Auch die Erde, namentlich aber Ulrich, huldigt der Utopie des Essayismus wird hier als Metatext zu Simmels Essaybuch Philosophische Kultur (1911) gelesen. In der Wochenendbeilage zum Berliner Der Tag erschien am 11./ 12. Mai 1909 der Essay Psychologie der Koketterie, den Simmel 1911 für seine Gesammelten Essais mit dem Titel Philosophische Kultur erweiterte und überarbeitete. Dieser Die Koketterie betitelte Essay geht einher mit einer poetologischen Selbstreflexion des Essayismus, welche zentrale Elemente der Essaytheorien bzw. Essays über den Essay von Georg Lukács, Max Bense und Theodor W. Adorno vorwegnimmt.51 Ausgehend von Platons Bestimmung der Liebe im Phaidros als „mittlerer Zustand zwischen Haben und Nichthaben“52 wird die Koketterie weniger als werbendes Verhalten der Frau dem Manne gegenüber, sondern vielmehr als wechselseitig, wenn auch nicht reziprokes Verhältnis der Geschlechter gedeutet. Koketterie als Gleichzeitigkeit von Entgegenkommen und Versagen, Geben (auf Seiten der Frau) und Haben (auf Seiten des Mannes) bzw. (Nicht-)Geben und (Nicht-)Haben53 ist nach Simmel eine „Spielform der Liebe“.54 Es ist ein „Spiel zwischen Ja und Nein“55 und somit ein Spiel mit Wirklichkeit und Möglichkeit. Das Spiel der Koketterie teile – wie übrigens auch das Abenteuer56 – mit der Kunst das „Abgeschnittensein von
_____________ 49 K. C. Köhnke: Der junge Simmel – in Theoriebeziehungen und sozialen Bewegungen. Frankfurt a. M. 1997. S. 239f. 50 Ebd. S. 469f. 51 Vgl. M. Christen: Essayistik und Modernität (1992), H. 1. S. 145. 52 G. Simmel: Die Koketterie. In: ders.: Philosophische Kultur (1911). S. 81–99, hier S. 81. 53 Ebd. S. 82. 54 Ebd. S. 92. 55 Ebd. S. 83. 56 Vgl. hierzu auch ders.: Das Abenteuer (1911). In: ders.: Die Philosophische Kultur (1911). S. 13–26: vgl. ders.: Philosophie des Abenteuers. In: Der Tag (Berlin), 7. /8. 6. 1910 sowie M. Christen: Essayistik und Modernität (1992). S. 141f., der die „Strukturanalogie von Abenteuer und Essay“ betont; vgl. auch ebd. S. 145: „Die durchgängige Analogie von Abenteuer und Essay verleiht dem Text seine eigentümliche Ambiguität: er läßt sich lesen als lebensphilosophische Überlegung zum Abenteu-
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der Kontinuität der Lebensreihe“.57 Im Unterschied jedoch zur Kunst, die jenseits bzw. über der Wirklichkeit als Dualismus von Haben und Nichthaben stehe, befinde sich der Ort der Koketterie zwischen Haben und Nichthaben. Die Koketterie spiele mit der Wirklichkeit und nicht wie der Künstler bloß mit deren Schein. Dennoch unterliege sie wie die Kunst der kantischen Bestimmung einer „‚Zweckmäßigkeit ohne Zweck‘“58 und teile mit dieser eine gewisse Gleichgültigkeit ihrem Objekt, der Dingwelt, dem Material gegenüber. Als „Kunst des Gefallens“ statt „Kunst des Gefallens“ ist die Koketterie nicht Mittel, sondern Selbstzweck.59 Als Spiel mit Wirklichkeit und Möglichkeit endet sie jedoch, so Simmel, am Definitivum der Entscheidung.60 Mit der Entscheidung findet sie keine Bestimmung oder gar Erfüllung. Sie kommt als Koketterie an ihr Ende. Das Beziehungsspiel der Koketterie ist nicht durch ein Ja oder Nein, ein Entweder-Oder bestimmt. Sie ist ein Funktionswert zweier Modi: des Sowohl-als-auch, des Vielleicht. Simmel bescheinigt der Koketterie Selbstreflexivität, da sie die Gegensätze, allgemein die Dualität von Haben und Nichthaben, zwischen denen sie steht, zwar nicht vermittele, jedoch in ihrer Ineinanderverschränktheit bewusst werden lasse.61 Auf der Ebene des Diskurses selbst aber, wo das essayistische Ich seinen Text als „Versuch“ kennzeichnet und den Argumentationsverlauf durch Vor- und Rückverweise unterbricht,62 scheint zunächst jeder explizite Hinweis auf den Umstand, dass Simmels Essay über Die Koketterie mit seinem Gegenstand nicht nur spielt, sondern metatextuell auf den Essay, genauer die essayistische Methode, referiert, zu fehlen. Die Phänomenologie der koketten Geste wird beschrieben als „der Blick aus dem Augenwinkel heraus, mit halbabgewandtem Kopfe […]. In
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er, die dieses Phänomen von mehreren Seiten her beleuchtet. Zugleich stellt er unter der Textoberfläche eine poetologische Reflexion über den Essay als Form dar. Von Anfang an bietet der Text dem Leser zwei völlig unterschiedliche und doch raffiniert miteinander verflochtene Lesarten an.“ G. Simmel: Die Koketterie. In: ders.: Die Philosophische Kultur (1911). S. 92. Ebd. S. 91. Ebd. Ebd. S. 83f. Ebd. S. 96. Vgl. ebd. S. 82: „Ich wende diese Deutung der Koketterie zunächst auf einige Tatsachen der Erfahrung an.“ Vgl. ebd. S. 85: „Das Wesen dieser Einheit betrachte ich später und ziehe aus ihr, indem ich sie hier voraussetze, nur den Schluß […]“ sowie ebd. S. 87: „[…] trotz eines am Schluß dieser Seiten anzudeutenden Vorbehaltes […]“; ebd. S. 93: „An den platonischen Begriffen gemessen, mit denen dieser Versuch begann […]“ und ebd. S. 94: „Ich habe früher erwähnt […]“.
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derselben Oberschicht koketter Effekte liegt das Wiegen und Drehen in den Hüften, der ‚schwänzelnde‘ Gang.“63 Bereits Ernst Bloch hatte in diesem „weibliche[m] Cachet“, dem „Bild einer Frau mit zugewandtem Blick, doch abgewandtem Kopf und Leib“, eine Selbstbeschreibung des Simmel’schen Philosophierens, den Modus des „Vielleicht“ bzw. „Nein im Ja“ erkannt.64 Im Simmel’schen Prätext selbst scheint, spätestens wenn der Koketterie „das Cachet des Vorläufigen, des Schwebens und Schwankens“ bescheinigt wird,65 die textuelle Doppelstrategie durch: Das Spiel der Koketterie mit Wirklichkeit und Möglichkeit beschreibt zugleich die Erkenntnismethode des Essays. Dabei figuriert sich der männliche Essayist nicht selbst als Kokotte, sondern vergleicht vielmehr Prozess und Struktur seiner Erkenntnisbewegung mit dem Verhältnis der Geschlechter im Allgemeinen, dem Liebesspiel im Besonderen. Entspricht bei der Koketterie jenem mittleren Zustand zwischen Haben und Nichthaben ein Zustand des Habenwollens, dessen Subjekt der Mann ist und dessen Gegenstand die kokettierende Frau66 oder besser, das Versprechen, das sie verkörpert, aber niemals erfüllt, so kann auch im Essay die Erkenntnis der Wahrheit nur umkreist, nie aber endgültig in Besitz genommen, festgeschrieben werden. Das kokette Spiel ist wie die essayistische Erkenntnismethode nicht an den Wert ihres antizipierten Gegenstandes – das einzulösende Versprechen der körperlichen Vereinigung, im Fall des Essays, die zu erringende Wahrheit – gebunden, sondern vielmehr Effekt der Preispolitik als Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage.67 Der Mann bzw. der Leser des Essays kann mitspielen, indem er den Reiz des Spielverlaufs, den Weg, dessen Gewinn bzw. Endzweck vorzieht, und auf diese Weise der „verzweiflungsvolle[n] Preisgegebenheit an ein Vielleicht“ entgehen. Es handelt sich hierbei um jenen „formreinen Fall“68 der Koketterie,69 der zugleich ein neues Verhältnis der Geschlechter konstituiert.70
_____________ 63 Vgl. ebd. S. 82f. 64 E. Bloch: Weisen des ‚Vielleicht‘ bei Simmel (1958). S. 57. 65 G. Simmel: Die Koketterie. In: ders.: Die Philosophische Kultur. Über das Abenteuer, die Geschlechter und die Krise der Moderne. Gesammelte Essais (1911). Hrsg. v. J. Habermas. Berlin 1983. S. 90f. 66 Ebd. S. 81. 67 Ebd. S. 82; vgl. ders.: Philosophie des Geldes (1900). 68 Ebd. S. 89ff. 69 Ebd. S. 91. 70 Zur Konstruktion von Weiblichkeit und Geschlechterverhältnis bei Simmel vgl. L. A. Coser: Georg Simmels vernachlässigter Beitrag zur Soziologie der Frau (1977).
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In seinen Fragmenten zur Philosophie der Geschlechter bestimmt Simmel den Dualismus und dessen Grundform des Männlichen und Weiblichen als „Formel des menschlichen Wesens“.71 Im Essay über Die Koketterie wird die Differenz der Geschlechter zum Ausdruck des Fremdseins in der Welt: „Ja, daß der Mensch überhaupt ein dualistisches Wesen ist, sein Leben und Denken sich in der Form der Polarität bewegt, […] geht vielleicht auf jene letztinstanzliche Gespaltenheit der menschlichen Gattung zurück, deren Elemente sich ewig suchen, sich einander ergänzen und doch nie ihren Gegensatz überwinden.“72 Der Mythos des Kugelmenschen, auf den auch Georg Lukács und Robert Musil referieren, berichte von der „tiefe[n] metaphysische[n] Einsamkeit des Individuums, zu deren Überwindung alles Hinwollen des einen zum anderen nur ein ins Unendliche verlaufender Weg“ sei.73 Doch aus der Metaphysik der Geschlechter wird ins Soziologische gewendet deren Methodologie: „Hier wie sonst gibt dies Verhältnis der Geschlechter das Prototyp für unzählige Relationen innerhalb des indivi-
_____________ In: Georg Simmel und die Moderne (1984). S. 80–91; H. Bennent: Die ontologische Verselbständigung des Weiblichen und das Problem weiblicher Kultur bei Georg Simmel. In: dies.: Galanterie und Verachtung. Frankfurt a. M./New York 1985. S. 206–217; A. Wolfer-Melior: Weiblichkeit als Kritik. Über die Konzeption eines Gegensatzes der Geschlechter bei Georg Simmel. In: Feministische Studien (1985) H. 2. S. 62–79; H.-J. Dahme: Frauen- und Geschlechterfrage bei Herbert Spencer und Georg Simmel. Ein Kapitel aus der Geschichte der ,Soziologie der Frauen‘. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 38 (1986). S. 490–510; C. Klinger: Georg Simmels „Weibliche Kultur“ wiedergelesen – aus Anlass des Nachdenkens über feministische Wissenschaftskritik. In: Studia Philosophica 47 (1988). S. 141–167; I. Mülder-Bach: „Weibliche Kultur“ und „stahlhartes Gehäuse“. Zur Thematisierung des Geschlechterverhältnisses in den Soziologien Georg Simmels und Max Webers. In: Triumph und Scheitern in der Metropole. Zur Rolle der Weiblichkeit in der Geschichte Berlins. Hrsg. v. S. Anselm/B. Beck. Berlin 1987. S. 115–141; U. Menzer: Subjektive und objektive Kultur. Georg Simmels Philosophie der Geschlechter vor dem Hintergrund seines Kultur-Begriffs, Pfaffenweiler 1992; G. Oakes: The Problem of Women in Simmel’s Theory of Culture. In: Georg Simmel, On Women, Sexuality, and Love. Ed. by G. O. New Haven/London 1984. p. 3–63 und ders.: Eros and Modernity: Georg Simmel on Love. In: The Sociology of Emotions. Hrsg. v. D. Franks/E. D. McCarthy. Greenwich 1989. p. 229–248; M. L. P. Cavana: Der Konflikt zwischen dem Begriff des Individuums und der Geschlechtertheorie bei Georg Simmel und José Ortega y Gasset. Pfaffenweiler 1991 u. a. 71 G. Simmel: Gesamtausgabe. Hrsg. v. O. Rammstedt. Bd. 8: Aufsätze und Abhandlungen 1901–1908. Bd. II. Hrsg. v. A. Cavalli/V. Krech. Frankfurt a. M. 1993. S. 74–82, hier S. 74. 72 Ders.: Die Koketterie. In: ders.: Die Philosophische Kultur (1911). S. 96f. 73 Ebd. S. 95.
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duellen und des interindividuellen Lebens ab. Es tritt als das reinste Beispiel so vieler Vorgänge auf“.74 Der letzte Abschnitt des Simmel’schen Essays ließe sich mit ‚Koketterie als Lebenshaltung‘ überschreiben. Die Koketterie als Geschlechterrelation, die mit dem Mythos des Kugelmenschen spielt, wird zu einer „Form, in der die Unentschiedenheit des Lebens“ – hier ließe sich wiederum ergänzen, des Denkens – „zu einem ganz positiven Verhalten kristallisiert ist, und die aus dieser Not zwar keine Tugend, aber eine Lust macht.“ Koketterie als formales Verhalten beschreibt nicht nur die eigene philosophisch-essayistische Methode, sondern zugleich auch den Essayismus als Lebenshaltung: „Sieht man nämlich die Arten an, wie der Mensch sich zu den Dingen und anderen Menschen stellt, so steht unter ihnen die Koketterie als ein ganz allgemeines, keinen Inhalt von sich ablehnendes formales Verhalten. Das Ja oder Nein, mit dem wir Entscheidungen gewichtiger oder alltäglichere Art gegenüberstehen […] – wandelt sich unzähligemal in ein Ja und Nein, oder auch in einen Wechsel zwischen beiden, der den Charakter einer Gleichzeitigkeit trägt, weil hinter jeder jeweiligen Entscheidung die andere als Möglichkeit oder als Versuchung steht.“75 In seiner Einleitung zur Philosophischen Kultur (1911) hat Simmel die „Trennung zwischen der Funktion und dem Inhalt, dem lebendigen Vorgang und seinem begrifflichen Ergebnis“ als „eine ganz allgemeine Richtung des modernen Geistes“ gekennzeichnet.76 Die Koketterie bzw. der Essayismus als Lebenshaltung entspricht somit einerseits dem modernen Perspektivismus und Relationismus als „Problematik des Lebens“.77 Andererseits bietet sich im selbstzwecklichen Liebesspiel (als profane, diesseitige Variante des platonischen Kugelmythos) die Möglichkeit einer Synthese jenseits der Identität von Versprechen, Begehren und Erfüllung in einer philosophischen Denkbewegung, welche die Differenz von ‚lebendigem Vorgang‘ und ‚begrifflichem Ergebnis‘ in ihre Denkbewegung aufnimmt. Das Leben mit seinen unaufhebbar tragischen Momenten besitzt, so Simmel, „keinen eindeutigen, von vorneherein festen Standort“, aber es birgt die Chance, sich in die „spielende, schwankende, zu nichts engagierte Form“ zu kleiden, die als das „Kokettieren mit den Dingen“ bezeichnet
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Ebd. Ebd. S. 97. Ders.: Einleitung. In: ders.: Die Philosophische Kultur (1911). S. 7. Ders.: Die Koketterie. In: ders.: Die Philosophische Kultur (1911). S. 97.
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wird. Steht die Kunst über der als tragisch bestimmten Dualität von Haben und Nichthaben, weil sie die Gegenstände nur in der Form hat, so „hat die Seele die adäquate Form für ihr Verhältnis zu unzähligen Dingen“ in der essayistischen Methode des „Kokettierens mit den Dingen“ gefunden: in „jenem spielenden, obgleich keineswegs immer von der Stimmung des ,Spieles‘ begleiteten Sich-Nähern und Entfernen, Ergreifen, um wieder Fallen zu lassen, Fallenlassen um wieder zu ergreifen, dem gleichsam probeweise Sich-Hinwenden, in das schon der Schatten seines eigenen Dementis fällt“.78 Die essayistische Methode auf dem Gebiet des (Lebens-)Philosophen stellt somit ein Analogon zu jener Auflösung der Formen durch die Bewegung der Seele dar, in welcher Simmel das Signum der modernen – das ist hier impressionistischen – Kunst sieht. In seinem ebenfalls in Philosophische Kultur (1911) aufgenommenen Rodin-Essay, legt Simmel eine Beschreibung der Moderne für die bildende Kunst, Musik und Malerei vor, welche die Verinnerlichung des Äußeren mit einer Auflösung der herkömmlichen Form-Inhalt-Beziehung durch die Bewegung der Seele verbindet: „Denn das Wesen der Moderne überhaupt ist Psychologismus, das Erleben und Deuten der Welt gemäß den Reaktionen unseres Inneren und eigentlich als einer Innenwelt, die Auflösung der festen Inhalte in das flüssige Element der Seele, aus der alle Substanz herausgeläutert ist, und deren Formen nur Formen von Bewegung sind.“79 In der modernen Kultur, welche sentimentalisch als tragische konzeptualisiert wird,80 ist die Formwerdung der modernen Seele ebenso aufgegeben, wie die Bedingungen der Möglichkeit dieser Formwerdung entzogen. Das ‚Wesen‘ der modernen Seele hat keine ‚Substanz‘ mehr, sie lässt sich nur als Funktion erfassen. Ihr Ort ist das ‚Dazwischen‘, die Verbindung, die Relation, die Bewegung. Die essayistische Form gerinnt zum Inkarnat der modernen Seele. Deren Haltung ist eine des Beobachtens und Experimentierens, ihr Modus jedoch nicht Objektivität, Teilnahmslosigkeit und Distanzierung, sondern Verführbarkeit, Versuchung. Ihr wissenschaftlicher wie ethischer Imperativ ist das ‚Als ob‘ der Kokotten, ihr ‚Stelle dir vor …‘.
_____________ 78 Ebd.; Hervorhebung v. B. N. 79 Ders.: Rodin. In: ders.: Die Philosophische Kultur (1911). Hrsg. v. J. Habermas. Berlin 1983. S. 139–154, hier S. 152; Hervorhebung v. B. N.; vgl. auch ders.: Die Kunst Rodins und das Bewegungsmotiv in der Plastik. In: Nord und Süd Bd. 129 Jg. 33 (1909). S. 189–196. 80 Vgl. ders.: Der Begriff und die Tragödie der Kultur. In: ders.: Die Philosophische Kultur (1911). S. 183–207.
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In Simmels Essay Über Koketterie bleibt die Selbstreflexivität des Essayistischen an das Liebesspiel der Körper und ihrer Gesten gebunden. Die Modernität liegt hier nicht in der Heilserwartung, sondern allein im Versprechen, das sich zwischen den Wunsch nach Erfüllung, nach Ganzheit, nach Einheit schiebt, und seinem unendlichen Aufschub. In der Geste der Koketten wird die Verführung des essayistischen Textes zum Bild.
V. Georg Lukács oder Essayismus als Form des modernen Intellektualismus V. Georg Lukács oder Essayismus als Form des modernen Intellektualismus Dadurch, dass das Lebendige stirbt, […] bekommt sein Leben eine Form.1 (Georg Simmel) Leiden: immer aus Jehovaischen Motiven: darum aufhebbar […] – aber bei jedem tieferen Menschen: essaistisch, man leidet nicht wegen, sondern bei Gelegenheit von etwas. Dieses Essayistische ist die Ahnung des wahren, Messias-rufenden Leides […].2 (Georg Lukács) Daß Deine Essays lyrisch sind, wissen die Leute schon daher, daß sie sie nicht verstehen. Warum soll also das einzige, was sie endlich mitbekommen, soviel sein, daß das ganze Mysterium der Verfasser selbst ist? Du hast ja zutiefst recht: Der Essay ist eine lyrische Form, weil der Essayist, genau wie es der Dichter mit den Dingen tut, den Dichter zum Symbol seiner selbst macht. Doch darf man aus den Menschen nicht die Frage herauskitzeln, wie der Kassner dazukommt, den Georg Lukács zu symbolisieren.3 (Leo Popper) Aber die Schriften von György Lukács erfordern diese Scheidung. Denn in ihnen trennt sich der Kritiker der Form von dem des Lebens mit seltener Deutlichkeit. Seine Entwicklung führt von der Lebenskritik zur Formkritik.4 (Leo Popper)
1911, im selben Jahr als Simmel seine Essaysammlung Philosophische Kultur herausgibt, erscheint in Berlin in deutscher Übersetzung ein Essayband
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G. Simmel: Tod und Unsterblichkeit. In: ders.: Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel. München/Leipzig 1918. S. 99–154, hier S. 99. G. Lukács: Notizen zum geplanten Dostojewski-Buch (1914–1917). Abgedr. in: Georg Lukács, Karl Mannheim und der Sonntagskreis. Hrsg. v. É. Karádi/E. Vezér. Frankfurt a. M. 1985. S. 193–205, hier S. 203. L. Popper: Brief an Georg Lukács vom 7. 7. 1909. In: G. Lukács: Briefwechsel 1902– 1917. Hrsg. v. É. Karádi/É. Fekete. Stuttgart 1982. S. 73. Ders.: Die Erkenntnis und die Erlösung [= Rezension der ungarischen Fassung von Lukács: A lélek és a formák (Die Seele und die Formen). Budapest 1910]. In: Magyar Hirlap, 27. April 1910. S. 1–2; abgedr. in: ders.: Schwere und Abstraktion. Versuche. Hrsg. v. P. Despoix/L. Müller. Berlin 1987. S. 43–48, hier S. 46f.
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mit dem Titel Die Seele und die Formen – sein Autor: Georg von Lukács.5 Sieben Jahre später bezeichnet Lukács in seinem Nachruf im Pester Lloyd vom 2. Oktober 1918 Georg Simmel als „die bedeutendste und interessanteste Übergangserscheinung in der ganzen modernen Philosophie“.6 Simmel sei „der wahre Philosoph des Impressionismus“7 und seine experimentell-essayistische Philosophie im Kleinen, was die „impressionistische Bewegung“ im Großen ist: „der Protest des Lebens gegen die Formen“.8 Georg Lukács (1885–1971), der 1909/10 die Vorlesungen Georg Simmels an der Berliner Universität besuchte,9 hatte sich schon während seiner Budapester Zeit mit den Schriften Simmels auseinandergesetzt.10 Aus Lukács’ Curriculum vitae erfahren wir: „Während meiner Budapester
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G. v. Lukács: Die Seele und die Formen. Essays (Berlin 1911) war ein Jahr zuvor in ungarischer Sprache erschienen; erst zwischen der Erstveröffentlichung seiner Theorie des Romans in Max Dessoirs Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft von 1916 und der Buchfassung bei Paul Cassirer von 1920 wird Georg Lukács das ‚von‘ vor seinem Namen ablegen. 6 G. Lukács: Georg Simmel (1918). In: Buch des Dankes an Georg Simmel. Briefe, Erinnerungen, Bibliographie. Hrsg. v. K. Gassen/M. Landmann. Berlin 1958. S. 171– 177, hier S. 172f. 7 Ebd. S. 172; vgl. ebd.: „[…] er [der Impressionismus] ist immer ein Verherrlicher des Lebens und stellt jede Form in seinen Dienst. Damit aber ist das Wesen der Form problematisch geworden.“ Nach H. Scheible (Die Tragödie der Kultur. Georg Simmel. In: ders.: Wahrheit und Subjekt. Ästhetik im bürgerlichen Zeitalter. Reinbek bei Hamburg 1988. S. 373–397, hier S. 373) „ist der Ansatz des jungen Lukács in der Essaysammlung ‚Die Seele und die Formen‘ ohne Simmel (der nicht genannt wird) überhaupt nicht denkbar […].“ 8 Ebd. S. 173; Hervorhebung v. B. N. 9 Die Angaben über die Zeiten seines Berliner Aufenthaltes schwanken; Lukács selbst gibt in seinem Lebenslauf vom 1. Mai 1914 an, dass er die Jahre 1909–1910 in Berlin verbracht habe. Dagegen kann er sich in ders.: Gelebtes Denken. Eine Autobiographie im Dialog (1971). Hrsg. v. I. Eörsi. Frankfurt a. M. 1981. S. 57 nur noch an ein Studiensemester in Berlin erinnern; É. Fekete/É. Karádi (Georg Lukács. Sein Leben in Bildern, Selbstzeugnissen und Dokumenten. Stuttgart 1981. S. 30) geben an, dass Lukács die Vorlesungen Simmels von 1906 an regelmäßig belegte; vgl. dagegen U. Luckhardt: „Aus dem Tempel der Sehnsucht“. Georg Simmel und Georg Lukács: Wege in und aus der Moderne. Butzbach 1994. S. 29, die anhand der Briefdatierungen die Berlinaufenthalte Lukács’ (26. 11. 1906; 21. 7–7. 9. 1908, April bis 29. 7. 1910, 7. 11. 1910–Februar 1911) rekonstruiert und ein Studium in Berlin vor 1910 für unwahrscheinlich hält. 10 Vgl. G. Lukács: Gelebtes Denken (1971). S. 50: „Mit einem Wort, es begann eine umfassende Studienperiode, verbunden mit Lektüre und Aneignung theoretischer Werke. Als Ergebnis davon trat an die Stelle bloßer impressionistischer Kritik [Lukács hatte bislang literarische Kritiken im Stile Alfred Kerrs verfasst; vgl. ebd. S. 48f.] eine durch die deutsche Philosophie fundierte und zur Ästhetik tendierende Kritik. In dieser Zeit lernte ich unter den Philosophen Kant kennen und dann in der zeitgenössischen deutschen Philosophie die Werke Diltheys und Simmels.“
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Universitätszeit hat keiner der dortigen Professoren einen wesentlichen Einfluß auf meine Entwicklung gehabt, um so entscheidender war die Anregung und Förderung, die mir das Hören der Vorlesungen der Professoren Dilthey und Simmel bot. Der Einfluß Diltheys bestand hauptsächlich in der Erweckung des Interesses für kulturhistorische Zusammenhänge, der Simmels in dem Aufzeigen der Möglichkeit der soziologischen Behandlungen und Kulturobjektivationen. Daneben wirkten die methodologischen Arbeiten Max Webers klärend und fördernd auf mich.“11 Lukács, der später in Heidelberg auch an Max Webers Sonntagskreisen teilnahm, bezeichnet sich als „persönlicher Schüler“ Georg Simmels.12 Auch Arnold Hauser zählt Lukács „zu dessen Lieblingsschülern […]; er war Mitglied des in der Wohnung des Meisters gehaltenen Privatissimum“.13 Doch das Verhältnis von Lehrer und ,Meisterschüler‘ ist nicht immer ungetrübt und wird spätestens an der unterschiedlichen Haltung der beiden Intellektuellen gegenüber dem Ersten Weltkrieg, auf den Lukács kritisch und ablehnend,14 Simmel zunächst äußerst enthusiastisch reagiert,15 zerbrechen.16 Lukács selbst wird den Prozess der Emanzipation immer
_____________ 11 Ders.: Curriculum vitae. In: Revolutionäres Denken: Georg Lukács. Eine Einführung in Leben und Werk. Hrsg. v. F. Benseler. Darmstadt/Neuwied 1984. S. 72–75, hier S. 72f. 12 G. Lukács: Mein Weg zu Marx (1933). In: ders.: Werkauswahl Bd. 2: Schriften zur Ideologie und Politik. Hrsg. v. P. Ludz. 2. Aufl. Neuwied/Berlin 1973. S. 323–330, hier S. 324. 13 A. Hauser: Im Gespräch mit Georg Lukács. Hrsg. v. P. C. Ludz. München 1978. S. 53. Neben Lukács sind auch Béla Balázs, Ernst Bloch, Wilhelm Worringer, Bernhard Groethuysen u. a. als Simmel-‚Schüler‘ zu bezeichen; vgl. H. Loewy: Béla Balázs – Märchen, Ritual und Film. Berlin 2003. S. 63; vgl. dagegen G. Lukács: Simmel (1918). S. 171: „Simmel hat keine ‚Schüler‘ gehabt wie Cohen, Rickert oder Husserl […]“ sowie Simmels Tagebuchnotiz (zit. nach: M. Landmann: Einleitung. In: G. Simmel: Das individuelle Gesetz. Philosophische Exkurse. Hrsg. u. eingel. v. M. Landmann. Neuausgabe mit einem Nachw. v. K. C. Köhnke. Frankfurt a. M. 1987. S. 7–30, hier S. 23): „Ich weiß, daß ich ohne geistigen Erben sterben werde (und es ist gut so). Meine Hinterlassenschaft ist wie eine in barem Gelde, das an viele Erben verteilt wird, und jeder setzt sein Teil in irgendeinen Erwerb um, der seiner Natur entspricht: dem die Provenienz aus jener Hinterlassenschaft nicht anzusehen ist.“ 14 Vgl. G. Lukács: Die deutschen Intellektuellen und der Krieg (1915). In: Text und Kritik Bd. 39/40: Georg Lukács. München 1973. S. 65–70. 15 Vgl. G. Simmel: Der Krieg und die geistigen Entscheidungen. Reden und Aufsätze. München/Leipzig 1917. 16 Vgl. U. Luckhardt: „Aus dem Tempel der Sehnsucht“ (1994). S. 14–19 und K. Lichtblau: Georg Simmel. Frankfurt/New York 1997. S. 121: „Denn daß gerade er, der sein ganzes Leben lang sich vor einer wirklichen ‚Entscheidung‘ drückte und einen allgemeinen weltanschaulichen Relativismus predigte, nun ausgerechnet in den Schützengräben das ‚metaphysische Absolute‘ zu sehen vermochte, war nicht nur ein
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wieder selbstbewusst markieren. So heißt es in einem Brief an die Verlobte seines Freundes Leo Popper (1886–1911) bereits Ende Dezember 1910: „Simmel, der nie so nett zu mir war wie jetzt (zuletzt mußte ich über zwei Stunden bei ihm bleiben), bietet mir sehr wenig; was ich von ihm lernen konnte, habe ich schon gelernt.“17 Kurz vor seinem Tod fasst Lukács den Einfluss seines einstigen Lehrers in einem autobiographischen Interview folgendermaßen zusammen: Simmel habe „den gesellschaftlichen Charakter der Kunst ins Gespräch gebracht […], womit er mir einen Gesichtspunkt vermittelt hat, auf dessen Grundlage ich – weit über Simmel hinausgehend – die Literatur abhandelte. Die eigentliche Philosophie des Dramenbuches ist die Philosophie Simmels.“18 Für die Entwicklungsgeschichte des modernen Dramas, das 1911 in ungarischer Sprache erschien, erhielt Lukács im Februar 1908 den KrisztinaPreis der Kisfaludy-Gesellschaft und die Anerkennung seines Vaters, der zu Lukács’ „Maecen“ wird.19 Meister Simmel selbst jedoch lehnt es ab, das Erstlingswerk seines Schülers öffentlich zu würdigen.20 Er schreibt Lukács, dass ihm das Dramenbuch „der Methode nach sehr sympathisch“ sei, lehnt es aber ebenso freundlich wie bestimmt ab, die ersten zwei Manuskriptkapitel kritisch zu rezensieren: „Als ich Ihnen sagte, daß ihre Probleme mich interessieren u. ich Ihre Arbeit gern lesen würde, meinte ich damit, daß ich dies zu meiner eignen Belehrung u.[nd] um für meine eignen Studien davon zu profitieren tun würde. Es im kritischen Sinne zu tun u.[nd] Ihnen ein Urteil darüber abzugeben, habe ich sicher nicht versprochen, denn das liegt mir völlig fern.“21 Dieser Auszug markiert eine Anerkennung inter pares und ein Assimilationsversprechen gleichermaßen.
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Umstand, an dem seine ursprünglich enge Beziehung zu Ernst Bloch und Georg Lukács zerbrach […].“ G. Lukács: Brief an Beatrice de Waard [23. 12. 1910]. In: ders.: Briefwechsel (1982). S. 188. Ders.: Gelebtes Denken (1971). S. 58. Bei Simmel hatte das Vermögen des Onkels die wenig einträgliche universitäre Laufbahn ermöglicht; vor diesem Hintergrund gewinnt Lukács’ später erhobener Vorwurf (Die Lebensphilosophie der Vorkriegszeit (Simmel). In: ders.: Die Zerstörung der Vernunft (1954). Bd. 2: Irrationalismus und Imperialismus. 3. Aufl. Darmstadt/Neuwied 1983. S. 123–138, hier S. 137), Simmel sei „Ideologe des imperialistischen Rentnerparasitismus“ – last but not least im Hinblick auf Lukács selbst – eine besondere Note. G. Lukács hatte Die Seelen und die Formen nicht nur an Georg Simmel, sondern auch an Max und Alfred Weber, Martin Buber, Franz Blei, Ernst Bloch, Karl Mannheim u. a. verschickt; vgl. H. Loewy: Béla Balázs (2003), Anm. 63. S. 81. G. Simmel: Brief an Georg Lukács vom 22. 7. 1909. In: G. Lukács: Briefwechsel (1982). S. 77.
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Zu diesem Zeitpunkt sieht Lukács keine Möglichkeit mehr, sich in Berlin auf der Grundlage seines Dramenbuches zu habilitieren: „Ich war schon oft ungeduldig und daher Simmel gegenüber ohne ‚Haltung‘. Das hat vielleicht das ganze Verhältnis zugrunde gerichtet. (Jetzt zumindest habe ich diesen Eindruck. Nebenbei: das wäre nicht allzu arg.)“22 Auch der Bitte, die Publikation des Stefan George-Essays zu vermitteln, den der Freund Leo Popper ins Deutsche übersetzt hat, kommt Simmel nicht nach.23 Von der Reaktion Simmels auf seinen 1911 in Berlin bei Egon Fleischel erschienenen Essayband Die Seele und die Formen scheint Lukács in erster Linie über dritte erfahren zu haben. So erfahren wir aus einem Brief seines Freundes Béla Balázs: „Da fällt mir ein: ich war bei Simmel. Er sprach über Dein Buch, er hatte es vor kurzem gelesen […]. Er sagte (was wir sowieso wissen), es sei ‚ungleich‘ […]. Die Metaphysik der Tragödie gefiel ihm ganz besonders. […] Er beanstandete die Einmischung ‚dichterischer Elemente‘, etwa im Sterne-Dialog. Ansonsten machte er auf mich den Eindruck eines Dummkopfs und Affen“.24 Und von Paul Ernst, dem gemeinsamen Freund Simmels und Lukács’, dessen dramatisches Werk im Essay Metaphysik der Tragödie behandelt wird, hatte Lukács bereits über Simmels Rezeption seines Essaybandes erfahren: „Simmel sprach sich im Allgemeinen mit großer Achtung aus, fand am Gelungensten den Ersten Theil von L. Philippe und den letzten von St. George, hatte aber im Grundsatz Etwas auszustellen, das mir sehr merkwürdig war, gerade von ihm: es sei intellektualistisch.“25 Simmel, der von einem Zeitgenossen selbst als „intellektueller Neurastheniker“ bezeichnet worden war,26 hatte in seiner Philosophie des Geldes (1900) und in seinem Essay Die Großstädte und das Geistesleben (1903) einen Zusammenhang zwischen dem Großstadtmenschen, der Versachlichung des modernen Lebensstils, der Geldwirtschaft und dem Intellektualismus hergestellt: „Der Intellekt, seinem reinen Begriff nach, ist absolut charakter-
_____________ 22 G. Lukács: Eintragung vom 27. 4. 1910. In: ders.: Tagebuch (1991). S. 8. 23 Vgl. G. Simmel: Brief an Georg Lukács vom 22. 7. 1909. In: G. Lukács: Briefwechsel (1982). S. 78; Franz Baumgarten hatte Lukács vorgeschlagen, sich wegen der Publikation des George-Essays an Simmel zu wenden; vgl. F. Baumgarten: Brief an Georg Lukács vom 27. 5. 1909 (ebd. S. 71). 24 B. Balázs: Brief an Georg Lukács vom Mai 1912. In: ebd. S. 286f. 25 P. Ernst: Brief an Georg Lukács vom 23. 3. 1912; zit. nach: É. Karádi/É. Fekete: Einleitung in: G. Lukács: Briefwechsel (1982). S. 13. 26 Vgl. hierzu D. Frisby: Georg Simmels Theorie der Moderne. In: Georg Simmel und die Moderne. Hrsg. v. H. J. Dahme/O. Rammstedt. Frankfurt a. M. 1984. S. 9-80, hier S. 35 sowie ders.: Fragmente der Moderne. Georg Simmel, Siegfried Kracauer, Walter Benjamin. Rheda-Wiedenbrück 1989. S. 75.
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los, nicht im Sinne eines Mangels einer eigentlich erforderlichen Qualität, sondern weil er ganz jenseits der auswählenden Einseitigkeit steht, die den Charakter ausmacht. Eben dies ist ersichtlich auch die Charakterlosigkeit des Geldes“.27 Wie Simmel so geht auch Lukács in eben jenen Einleitungskapiteln zu seiner Entwicklungsgeschichte des modernen Dramas von einem „fortgesetzte[n] Intellektualisierungsprozeß“ aus.28 Die Kultur, die das neue Drama hervorgebracht habe, sei „intellektueller […], als jede vorangegangene“.29 Aus dem modernen Leben verschwände „das sinnliche Element, das Sichtbare und Hörbare, das Greifbare und nicht zu Definierende immer mehr“. Die Tendenz auf Rationalisierung, das heißt der „Wunsch, alles auf Ziffern und Formen zu reduzieren“, führe „von der unmittelbaren sinnlichen Art der Apperzeption zur mittelbaren, intellektuellen; die Kategorie des Qualitativen wird verdrängt von der des Quantitativen, oder – in der Sprache der Kunst gesprochen – das Symbol durch die Definition, die Analyse.“30 Der moderne Intellektualismus gebe den Geschehnissen eine Form, welche mit dem Stoff des modernen Lebens, der „in bezug auf das Drama ohnhin von episierender, lyrisierender, formzersetzender Wirkung“ sei, korrespondiere.31 Der Essayismus als Form, oder besser: formzersetzendes Element der Kunst, entspricht somit einer allgemeinen Tendenz des modernen Intellektualismus. Auch in seinem Die Seele und die Formen einleitenden Brief „über die Form des ‚Versuchs‘, mit einer wissenschaftlichen, psychologischen und formalen Begründung seiner lyrischen Beschaffenheit“,32 geht Lukács von
_____________ 27 G. Simmel: Gesamtausgabe. Bd. 6: Philosophie des Geldes (1900). Hrsg. v. D. P. Frisby/K. C. Köhnke. Frankfurt a. M. 1989. S. 595 (Hervorhebung v. B. N.). Zu Simmels Diagnose der Charakterlosigkeit des modernen Menschen in Philosophie des Geldes vgl. H. Böhringer: Die „Philosophie des Geldes“ als ästhetische Theorie. In: Georg Simmel und die Moderne. Hrsg. v. H. –J. Dahme/O. Rammstedt. Frankfurt a. M 1984, hier S. 178–183. S. 182; E. Lenk: Wie Georg Simmel die Mode überlistet hat. In: Die Listen der Mode. Hrsg. v. S. Bovenschen. Frankfurt a. M. 1986. S. 415– 438, hier S. 417 und K. Lichtblau: Georg Simmel. Frankfurt/New York 1997 u. a. Zum Vergleich zwischen Simmels Theorie der Moderne und Musils Konzept der ‚Eigenschaftslosigkeit‘ s. auch W. Müller-Funk: Krieg in Mitteleuropa. Robert Musil als Kronzeuge der europäischen Katastrophe. In: Robert Musil. Ein Mitteleuropäer. Hrsg. v. J. Munzar/H. František. Brünn 1994. S. 73–83, hier S. 74. 28 G. Lukács: Zur Soziologie des modernen Dramas [= Einleitungskapitel von: A modern dráma fejlödésének története (1909/12)]. In: ders.: Schriften zur Literatursoziologie. Hrsg. v. P. Ludz. Frankfurt a. M. [u. a.] 1985. S. 261–296, hier S. 268. 29 Ebd. S. 270. 30 Ebd. S. 271. 31 Ebd. S. 270. 32 Ders.: Brief an Leo Popper vom 22. Mai 1909. In: ders.: Briefwechsel (1982). S. 69.
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V. Georg Lukács oder Essayismus als Form des modernen Intellektualismus
einem Zusammenhang zwischen modernem Intellektualismus und Essayismus aus. Dieser bringe jene moderne Intellektualität zum Ausdruck, die „als sentimentales Erlebnis, als unmittelbare Wirklichkeit, als spontanes Daseinsprinzip“ gekennzeichnet wird.33 Als „Bedeutungen-Setzendes“ statt „Bilder-Schaffendes“ Prinzip34 stellt der Essay die einzige adäquate, wenn nicht gar die einzig überhaupt noch mögliche Erkenntnisform des Lebens dar, aus dem sich das Moment des Anschaulich-Sinnlichen zum Abstrakt-Intellektuellen verflüchtigt hat. Der Essay wird zum sehnsüchtigen Ausdruck der „Frage: was ist das Leben, der Mensch, das Schicksal?“, ohne sich jedoch wie die Wissenschaft und Philosophie in Antworten bzw. Lösungen zu versuchen. Die Frage selbst sei im essayistischen Diskurs nicht nur Form, sondern – wie in jeder Art Poesie – auch Inhalt: „Symbol und Schicksal und Tragik.“35 Nicht mehr im Schöpfen von Bildern, sondern im Setzen von Bedeutungen findet die moderne Seele ihre Form. Von der Preisverleihung für sein Dramenbuch bis zur Konzeption seiner Ästhetik im Winter 1911/12 datiert Lukács seine eigentliche „Essayperiode“.36 In einem Brief an Leo Popper vom 28. Oktober 1910 heißt es: „Das Leben stelle ich mir jetzt nur noch schriftlich und in Anführungszeichen vor: ich glaube der Philippe war der letzte Die Seele und die Formen-Essay. Jetzt kommt ‚Wissenschaft‘.“37 Doch die Arbeit an der Heidelberger Ästhetik38 wird wiederum durch einen ‚großen Essay‘ unterbrochen: Die Theorie des Romans.39 Simmels Ver-
_____________ 33 Ders.: Über Wesen und Form des Essays. Ein Brief an Leo Popper. In: ders.: Die Seele und die Formen. Essays (1911). Neuwied/Berlin 1971. S. 7–32, hier S. 15. 34 Ebd. S. 12. 35 Ebd. S. 15; zur Frage Kants „Was ist der Mensch?“ vgl. auch M. Foucault: Der anthropologische Schlaf. In: ders.: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. 7. Aufl. Frankfurt 1988. S. 410–413. 36 G. Lukács: Gelebtes Denken (1971). S. 251: „Wende von Essay zur Ästhetik.“ Vgl. ebd. S. 249: „Wichtiger: Zusammen mit Preis: Periode der Essays beginnt.“ 37 Ders.: Brief an Leo Popper vom 28. 10. 1910. In: ders.: Briefwechsel (1982). S. 153. 38 Vgl. ders.: Werke. Bd. 16: Frühe Schriften zur Ästhetik I: Heidelberger Philosophie der Kunst (1912–1914). Aus dem Nachlaß hrsg. v. G. Márkus/F. Benseler. Darmstadt/Neuwied 1974. 39 Lukács’ Romantheorie wird 1916 zunächst in Max Dessoirs Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft und erst 1920 bei Paul Cassirer in Berlin in Buchform veröffentlicht; vgl. ders.: Brief an Paul Ernst vom 2. 8. 1915. In: ders.: Briefwechsel (1982). S. 358: „Ich habe das Dostojewski-Buch, das zu groß war, abgebrochen. Es ist (ein) großer Essay daraus fertig geworden: Die Ästhetik des Romans.“ M. M. Bachtin hat in den frühen zwanziger Jahren eine – nie erschienene – Übersetzung von Lukács’ Theorie des Romans angefertigt.
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such, sich für Lukács’ Habilitation in Heidelberg einzusetzen,40 scheitert ebenso wie seine eigene Berufung nach dort an den Vorbehalten der ‚Etablierten‘, die das Postulat des systematischen wissenschaftlichen Arbeitens gegenüber der essayistischen Methode der beiden ‚Außenseiter‘ jüdischer Abstammung vertreten.41 Durch Max Weber erfährt Lukács von der Reaktion Wilhelm Windelbands auf seine ‚uncongenialen‘ Essays42 und den Zweifeln Emil Lasks, ob Lukács als „geborener Essayist“ überhaupt für die Hochschule geeignet sei.43 Max Weber, der zunächst – gegenüber Windelband – die Position vertritt, „daß Sie Ihrem Wesen nach Systematiker seien, diese essayistische Periode hinter Ihnen liege etc.“,44 schließt sich bald darauf der Ansicht Lasks an: „lassen Sie die Habilitation“.45 Lukács’ ‚Essayperiode‘ im engeren Sinn endet mit dem erfolglosen Versuch, sich in Heidelberg zu habilitieren.46 Zuvor hat sich das Scheitern
_____________ 40 Georg Lukács erwägt in einem Brief an Max Weber vom 30. 12. 1915. In: ders.: Briefwechsel (1982). S. 366 die Möglichkeit, ob Simmel, falls er nach Heidelberg berufen werden sollte, ihn „auf Grund der bereits vorhandenen Teile der Ästhetik habilitieren“ könne. 41 Zu den formalen Aspekten des Habilitationsverfahrens sowie den persönlichen und „politischen Bedenken“ gegenüber dem „Nichtreichsdeutsche[n]“ bzw. „Reichsausländer“ Georg Lukács vgl. G. Sauder: Von Formalitäten zur Politik: Georg Lukács’ Heidelberger Habilitationsversuch. In: LiLi. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik. Heft 53/54: Wissenschaftsgeschichte der Philologien. Hrsg. v. W. Haubrichs/G. S. Göttingen 1984. S. 79–108, hier S. 91–95; vgl. das Habilitationsgutachten (abgedr. ebd. S. 103) Heinrich Maiers vom 24. 11. 1918, welcher die von Lukács eingereichte Habilitationsarbeit einerseits positiv von den bisher vorgelegten essayistischen Schriften abhebt („Sie zeigt, daß der Verf. mehr kann als geistreiche Paradoxien, halb- oder viertels-richtige Behauptungen in geistreichem Spiel hin- und herzuwenden.“), zugleich aber auch auf deren Fragment-Charakter hinweist. H. Maier begründet abschließend seine Ablehnung mit dem Hinweis: „Allein ich glaube, unter den gegenwärtigen Umständen können wir nicht daran denken, einen Ausländer, zumal einen ungarischen Staatsangehörigen, zur Privatdozentur zuzulassen.“ 42 M. Weber: Brief an Georg Lukács vom 22. 7. 1912. In: G. Lukács: Briefwechsel (1982). S. 290. 43 Ders.: Brief an Georg Lukács vom 14. 8. 1916. In: G. Lukács: Briefwechsel. S. 372: „Lask – war der Ansicht: er [Lukács] ist ein geborener Essayist, er wird nicht bei systematischer (zünftiger) Arbeit bleiben; er sollte sich deshalb nicht habilitieren.“ Vgl. auch ders.: Brief an Georg Lukács vom 23. 8. 1916. In: ebd. S. 376; Georg Simmel hatte den Kontakt zu Emil Lask (1875–1915) durch ein Empfehlungsschreiben vermittelt und Lukács davon abgeraten, Windelband zu kontaktieren; vgl. G. Simmel an Georg Lukács vom 25. 5. 1912. In: ebd. S. 288. 44 M. Weber: Brief an Georg Lukács vom 22. 7. 1912. In: ebd. S. 290. 45 Ders.: Brief an Georg Lukács vom 14. 8. 1916. In: ebd. S. 372. 46 Vgl. hierzu G. Sauder: Von Formalitäten zur Politik (1984). S. 81: „Von 1910 bis 1918 war es das Ziel von Lukács’ Lebensplan, sich zu habilitieren und eine akademische Laufbahn einzuschlagen.“ Vgl. auch J. Bendl: Zwischen Heirat und Habilitation. In:
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des Liebenden vollzogen. Die in der Seele und die Formen (1911) versammelten Essays sind „Irma-Essay[s]“.47 Sie stehen für Stationen einer unglücklichen Liebe, die im Tod Irma Seidlers, deren Andenken das Essaybuch gewidmet ist,48 und in den Selbstmordfiktionen des Autors ihren Abschluss finden.49
1. Das „lebendige Leben“ und der sentimentale Essay Die Sehnsucht ist immer sentimental – gibt es aber sentimentale Formen?50 (Georg Lukács) Ad I.[rma]: es sieht nicht gut aus, wenn man coram publico in die Quelle zurückpißt, was man aus ihr getrunken hat: ich bin gegen dieses Dank-Pipibedürfnis.51 (Leo Popper) Leben ist leben: […].52 (Robert Musil) Das Leben ist an allem schuld. / Aber um Gottes willen: was ist leben?53 (Robert Musil)
Am 18. Mai 1911 nimmt sich Irma Seidler das Leben. Am 21. Oktober desselben Jahres stirbt Lukács’ bester Freund, Leo Popper, an den der Die Seele und die Formen einleitende Brief gerichtet ist, an Tuberkulose. Kurz
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Lukács 1997. Jahrbuch der Internationalen Georg-Lukács-Gesellschaft. Hrsg. v. F. Benseler/W. Jung. Bern 1998. S. 17–47. Vgl. G. Lukács: Tagebuch (1991). S. 16, S. 20 u. a. vom 20. und 29. 5. 1910 etc.; in der Eintragung vom 29. Mai 1910 anlässlich der Abfassung des Essays über Paul Ernst ist zu lesen: „darüber [über den „Unterschied zwischen dem Leben und dem Leben“] nachdenkend gelangte ich zu den letzten Unterschieden zwischen epischen und dramatischen Formen, zum Kernpunkt des Essays. Somit führt also auch diese ganz abstrakte Formmetaphysik zurück zum Zentrum von allem: zu Irma.“ (ebd. S. 27) Der von Irma Seidler entworfene Buchumschlag für Die Seele und die Formen fand keine Verwendung (vgl. É. Karádi/É. Fekete. In: G. Lukács: Briefwechsel (1982), Anm. 1. S. 211). Seidlers Entwurf ist abgedr. in: Georg Lukács. Sein Leben in Bildern. Hrsg. v. É. Fekete/É. Karádi (1981). S. 53. Vgl. hierzu G. v. Lukács: Von der Armut am Geiste. Ein Gespräch und ein Brief. In: Neue Blätter (1912). H. 5/6. S. 66–93; vgl. hierzu auch ders.: Tagebuch (1991). S. 41. S. 47 und S. 51, wo Lukács von seinen „Selbstmordgedanken“ spricht. G. Lukács: Sehnsucht und Form: Charles Louis Philippe. In: ders.: Die Seele und die Formen (1911). S. 133–155, hier S. 149. L. Popper: Brief an Georg Lukács vom 13. 6. 1910. In: G. Lukács: Briefwechsel (1982). S. 131. R. Musil: Schwarze Magie. In: ders.: Nachlaß zu Lebzeiten (1936) (GW II, 503). Ebd.
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darauf erscheint die deutsche Ausgabe des Essaybuches. Die Bedeutung der beiden Freunde für Lukács wird aus einer Tagebucheintragung vom 29. Mai 1910 deutlich: „Es wäre gut, wenn es jemanden gäbe – doch wen? Jemanden, der stark genug ist, um Spiegel zu sein […]. Ich sehe immer kräftiger, daß mir sehr starke und interessante Intellektuelle (Simmel, Bloch) fast überhaupt nichts geben. Ich entwickle mich nicht durch Kämpfe, sondern vollends pflanzenhaft. […] / Woher kam es, daß […] Irma und Leo […] mir sosehr genützt haben? […] Ihr Seelenleben dagegen ist sinnlicher und somit wendiger als meines, sie fanden daher in der Ebene meines Gedankenganges Dinge, oder sie ließen mich Dinge finden, zu denen mein – im wesentlichen – asensueller, asexueller, rationalistischer Erlebnisverlauf nicht gelangt wäre.“54 Irma Seidler ist die sinnliche Seele, das Leben,55 das dem intellektuellen Geist zum Spiegel und zur Form seiner essayistischen Selbstdarstellung wird. In einer Tagebucheintragung synchronisiert Lukács anlässlich der Entstehung des Philippe-Essays die Genese seiner Essays mit dem Anfang und Ende seiner Liebesbeziehung zu Irma Seidler: „Er wird, wie es scheint, der echteste Irma-Essay sein. Die Lyrik des aktuellen Stadiums. […] Nun wird es also die wirkliche, große lyrische Reihe geben: George, Beer-Hofmann, Kierkegaard, Philippe. Denn der Zusammenhang mit den anderen ist weitaus lockerer; Novalis: Die Stimmung der Begegnung; Kassner: Florenz, Ravenna; Storm: Briefe aus Nagybánya. Noch weiter entfernt: Sterne: die Vergeblichkeit, die ,liederlichen‘ Stimmungen des Winters nach dem Bruch: Ernst: die Stunden der Abrechnung.“56 Im Dezember 1907 sind sich Georg Lukács und Irma Seidler zum ersten Mal auf einer Budapester Gesellschaft begegnet, im Mai 1908 geht Irma Seidler nach Florenz, um Malerei zu studieren. Georg Lukács und sein Freund Béla Balázs reisen ihr nach. Nach ihrer Rückkehr nach Budapest fährt Irma Seidler am 1. Juli in die Malerkolonie von Nagybánya.57 Am 25. Oktober 1908 schreibt sie Lukács einen Abschiedsbrief: „Gyuri,
_____________ 54 G. Lukács: Tagebuch (1991). S. 19. 55 Vgl. hierzu die Eintragung vom 8. 5. 1910 (ebd. S. 10): „Nachts spürte ich wieder: Irma ist das Leben.“ Ebenso unter dem 29. 9. 1910 (ebd. S. 34); vgl. auch G. Lukács: Brief an Leo Popper vom 10. 12. 1910. In: ders.: Briefwechsel (1982). S. 174f.: „Der Fall Irma war für mich von lebensentscheidender Bedeutung: daß es jemanden gab, der zu meinem Mittelpunkt wurde, der mir ‚das‘ Leben bedeutete, der mit allen meinen Gedanken und Gefühlen verwoben war.“ 56 Ders.: Eintragung vom 20. 5. 1910. In: ders.: Tagebuch (1991). S. 16. 57 Vgl. hierzu A. Heller: Das Zerschellen des Lebens an der Form. György Lukács und Irma Seidler. In: Die Seele und das Leben. Studien zum frühen Lukács. Hrsg. v. A. H. Frankfurt a. M. 1977. S. 54–99, hier S. 59ff.
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V. Georg Lukács oder Essayismus als Form des modernen Intellektualismus
wir waren viel zusammen. Zusammen im wahren Sinn des Wortes; ich machte in Ihrem Leben, in Ihrer Entwicklung eine große Etappe mit Ihnen zusammen durch, und Sie schenkten mir seelische Erlebnisse – insbesondere über das Geistige. Doch wir waren nicht zusammen mit allen Teilen unseres Wesens. Wir waren nicht zusammen, wo sich mein entsetzlich menschliches, aus Blut und pulsierendem Stoff bestehendes, in handgreiflichen Dingen lebendiges Leben abspielt.“58 Lukács droht Irma Seidler in einem vermutlich nie abgeschickten Briefkonzept mit Selbstmord59 und schreibt die erst posthum veröffentlichte Erzählung Die Legende des König Midas, der „das Mädchen, das er liebt, nicht anzufassen wagt“, und stirbt.60 Im März 1910 schickt Georg Lukács Irma Seidler die ungarische Ausgabe seines Essaybuches zu, und am 11. Januar 1911 bittet er darum, ihr die deutsche Ausgabe von Die Seele und die Formen widmen zu dürfen.61 Erst im März 1911 werden sie sich wiedersehen. Irma ist unglücklich mit dem Maler Károly Réthy verheiratet. Nach einigen Begegnungen reist Lukács nach Florenz, Irma Seidler beginnt eine Liebes-„Affaire“ mit Béla Balázs.62 Am 18. Mai 1911 nimmt sich Irma Seidler das Leben, einen Brief ihres Geliebten Balázs in der Handtasche.63
_____________ 58 I. Seidler: Brief an Georg Lukács vom 25. 10. 1908. In: G. Lukács: Briefwechsel (1982). S. 44; Hervorhebung v. B. N. 59 G. Lukács: Brief an Irma Seidler [Budapest, November 1908]. In: ebd. S. 46: „[…] jetzt, da Sie diese Zeilen mit meiner Todesnachricht zugleich erhalten werden […].“ 60 H. Loewy: Béla Balázs (2003). S. 91. 61 Vgl. G. Lukács: Brief an Irma Seidler vom 2. 2. 1911. In: ders.: Briefwechsel (1982). S. 198f.; vgl. hierzu auch die zahlreiche Widmungsentwürfe Georg Lukács’ in: ders.: Tagebuch (1991). S. 15, S. 24, S. 25 und S. 33. Das Lukács’sche Tagebuch, das Eintragungen aus dem Zeitraum vom 25. April 1910 bis zum 16. Dezember 1911 enthält, öffnet und schließt mit der Widmungsfrage. Vgl. unter 27. 4. 1910 (ebd. S. 8): „Und doch: muß der deutsche Essay-Band ihr gewidmet werden.“ Und unter dem 11. 2. 1911 (ebd. S. 35): „Das Tagebuch sei abgeschlossen […]. Heute akzeptierte Irma die Widmung meines Buches: das sei das letzte, was ich eintrage.“ Es folgen am 24. 5. und 22. 10. 1911 die Eintragungen anlässlich des Todes von Irma Seidler und Leo Popper. 62 Balázs hatte bereits 1908 seinen Budapester Freund auf seiner Reise nach Florenz zu Irma Seidler begleitet, mit der er 1911 ein kurzes Verhältnis unterhielt. In Balázs’ Tagebuch (Napló 1903–1914. Hrsg. v. A. Fábri. Budapest 1982. S. 518–520; zit. nach H. Loewy: Béla Balázs (2003). S. 84; vgl. auch ebd. S. 97) findet sich die folgende Eintragung: „Ich fürchte, er [Georg Lukács] könnte von meiner Affaire mit Irma etwas erfahren haben, aber Gott sei dank hatte er das nicht.“ Mit Béla Balázs’ (alias Herbert Bauers) Schwester Hilda Bauer wiederum war Lukács nach der endgültigen Trennung von Irma Seidler im Sommer 1909 zusammen; vgl. Georg Lukács. Hrsg. v. É. Fekete/ É. Karádi (1981). S. 45. H. Loewy: Béla Balázs (2003). S. 97, der vom „Frauentausch“ zwischen Lukács und Balázs spricht, gibt an, dass russische Revolutionärin Helena Andrejewna Grabenko im Winter 1911/12, also bevor sie Lukács 1913 kennenlernte,
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Am 26. Mai 1911 schreibt Georg Lukács an Leo Popper: „Das Alleinsein, das ich wollte, stürzte jetzt auf mich ein als Urteil des Lebens. Wenn irgend jemand sie hätte retten können, wäre ich es gewesen… und ich wollte und konnte es nicht: ich war ihr ‚guter Freund‘, ich weiß – doch nicht dies hatte sie nötig. Anderes. Mehr. Und die Bereitschaft zu handeln war nicht in mir vorhanden. Und damit ist das Urteil gefällt.“64 Lukács, der moderne Hamlet, der sich gegen das Leben, das ihm Irma verkörperte, und für die Arbeit entschieden hatte,65 vollstreckt dieses Urteil in einem Essay, den er selbst als „Versuch einer ethischen Abrechnung mit meiner Mitschuld am Selbstmord“66 bezeichnet. In dem einleitenden Brief zu Die Seele und die Formen hatte Lukács den Essay als Gericht charakterisiert: „Der Essay ist ein Gericht, doch nicht das Urteil ist das Wesentliche und Wertentscheidende an ihm (wie im System), sondern der Prozeß des Richtens.“67 In den Neuen Blättern erscheint 1912 Von der Armut am Geiste. Ein
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„eine kurze Affaire“ mit Balázs hatte. 1913 heiratet sie Lukács, verliebt sich zugleich in Balázs’ Bruder Ervin und lebt ab Sommer 1916 in Heidelberg einige Monate mit ihrem Ehemann und dem Pianisten Bruno Steinbach in einer ménage à trois (ebd. S. 98f. und S. 159f.). Balázs sieht laut einer Tagebucheintragung vom Frühjahr 1915 in Jelena Grabenko die „Inkarnation von Gyuris [Georg Lukács’] Ethik“ (ebd. S. 159). Vgl. H. Loewy: Béla Balázs (2003). S. 85. G. Lukács: Brief an Leo Popper vom 26. 5. 1911. In: ders.: Briefwechsel (1982). S. 226, Hervorhebung v. B. N.; vgl. ders.: Tagebuch (1991). S. 36f.: „[…] das Todesurteil über meine Existenz [ist] gefällt. […] / Ich hätte sie aber vielleicht retten können, hätte ich sie bei der Hand gefaßt und geführt. Und daraus folgte alles. Und wen ich das getan hätte – wäre auch dann dasselbe geschehen: das Urteil bliebe unverändert […].“ Vgl. hierzu auch B. Balázs’ Tagebucheintragung (Napló 1903–1914. Hrsg. v. A. Fábri. Budapest 1982. S. 617f.; zit. nach H. Loewy: Béla Balázs (2003). S. 99): „Und ich werde Gyuri frei in die Augen schauen können, dem einzigen Menschen, dem gegenüber ich mich wegen Irma verantwortlich und auch schuldig fühlte. Ich weiß nur deshalb, was Schuld sei, aber das wirklich.“ Lukács wiederum – hierauf verweist H. Loewy ebenfalls – hat mit Das Gericht. Ein Dialog, nur in der posthumen ungarischen Ausgabe seiner Tagebücher publiziert ist, „seine eigene Version dieser Aussprache ‚gedichtet‘“ und Ljena Grabenko gewidmet (ebd. S. 99). Vgl. G. Lukács: Brief an Leo Popper vom 10. 12. 1910. In: ders.: Briefwechsel (1982). S. 174: „Was ich im Frühjahr anfing, ist, wie es scheint, gelungen: Die Ausschaltung des ‚Lebens‘. Das bedeutet nicht unbedingte Askese. Das bedeutet lediglich, daß der Schwerpunkt von allem endgültig und nunmehr unerschütterlich in der Arbeit liegt.“ Vgl. auch Lukács’ Eintragungen vom 3. 7. 1910 in: ders.: Tagebuch (1991). S. 29: „Mein Leben ‚steht und fällt‘ mit den Arbeitsräuschen.“ Und unter dem 25. 11. 1911, ebd. S. 48: „Mein alter Ruf: Arbeit! Arbeit! nützt hier gar nichts. Ich bin am Intellekt zu Grunde gegangen; zu lange und ausschließlich mußte das rein Intellektuelle, der Arbeitsrausch alles ersetzen: jetzt bin ich wie ein Morphinist, dessen Nerven schon auf das stärkste Gift kaum mehr reagieren.“ Ders.: Gelebtes Denken (1971). S. 250. Ders.: Über Wesen und Form des Essays (1911). S. 31.
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V. Georg Lukács oder Essayismus als Form des modernen Intellektualismus
Gespräch und ein Brief.68 Im narrativen Rahmendiskurs des Essays gibt Martha, deren Schwester Selbstmord begangen hat, ein Gespräch mit dem Sohn des Briefadressaten, einem Freund der verstorbenen Schwester, der sich wiederum selbst zwei Tage nach diesem Gespräch erschießen wird, wieder. Soviel zum tragischen Plot. Zur sentimentalen Form: das Urteil, der Selbstmord des jungen Mannes,69 folgt auf eine Selbstanklage, die ebenso gut dem Tagebuch Georg Lukács’ oder einem seiner Briefe an Leo Popper entnommen sein könnte: „Ja! ich trage die Schuld an ihrem Tod; vor Gott versteht sich. Nach den Satzungen menschlicher Sittlichkeit habe ich nichts verschuldet“.70 Die Selbstanklage oder besser Selbstrechtfertigung des essayistischen Gesprächpartners baut sich auf den folgenden Dichotomien auf: ‚unlebendiges‘ vs. ‚lebendiges Leben‘, ‚lebendiges Leben‘ vs. ‚Form‘, ‚unreines Leben‘ vs. ‚Reinheit des Werks‘. Das ‚unlebendige‘ bzw. das ‚unreine Leben‘71 ist das Leben der meisten Menschen und wird von
_____________ 68 G. v. Lukács: Von der Armut am Geiste. Ein Gespräch und ein Brief. In: Neue Blätter (1912). H. 5/6. S. 66–93; zuerst ungarisch in der zweiten Nummer der als ungarischer Logos konzipierten Zeitschrift A Szellem (Der Geist) vom Dezember 1911; vgl. hierzu auch: A. Heller: Von der Armut am Geiste (1974). Der Titel referiert auf eine gleichlautende Predigt Meister Eckharts (vgl. hierzu U. Luckhardt: „Aus dem Tempel der Sehnsucht“ (1994). S. 151ff.). Hinzuweisen ist auch auf die interne Referenz der essayistischen Martha-Figur auf die biblische Martha (Luk 10. 38–42) und auf die Auslegung Meister Eckhardts; vgl. hierzu P. Por: Lukács und sein Sonntagskreis: ein unbekanntes Kapitel aus der Geschichte des europäischen Denkens. In: LiLi. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik. Heft 53/54: Wissenschaftsgeschichte der Philologien. Hrsg. v. W. Haubrichs/G. Sauder. Göttingen 1984. S. 111: „(der ‚wesenhaft‘ gewordene Mensch, die biblische Martha, so Meister Eckhardt, kann Gott unvermittelt, nicht durch das Gebet, wie Maria, sondern in wahrer Heiligkeit, durch ihr Leben, durch das ‚Gewerbe‘, das ‚Werk‘, erfahren)“. H. Loewy: Béla Balázs (2003). S. 116f. sieht im Vornamen der weiblichen Protagonistin eine intertextuelle wie intersubjektive Referenz auf Balázs’ Dialog über den Dialog (ungar. 1913). 69 Vgl. hierzu auch F. Féher: Das Bündnis von Georg Lukács und Béla Balázs bis zur ungarischen Revolution 1918. In: Die Seele und das Leben. Studien zum frühen Lukács. Hrsg. v. A. Heller [u. a.]. Frankfurt a. M. 1977. S. 131–177, hier S. 155, der den Selbstmord in Lukács’ Essay Von der Armut am Geiste (1912) als „Suspendierung des Urteils“ liest. 70 G. v. Lukács: Von der Armut am Geiste (1912). S. 69f.; vgl. hierzu auch ders.: Metaphysik der Tragödie: Paul Ernst. In: ders.: Die Seele und die Formen (1911). S. 218– 251, hier S. 237f.: „Der Mensch weiß um sein Schicksal, und dies sein Wissen nennt er: Schuld. […] er schafft Grenzen um sich; er schafft sich. Denn von außen gesehen gibt es keine Schuld, kann es keine geben; jeder sieht die Schuld des anderen als Verstrickung und Zufall an, als etwas, das jede kleinste Anders-gewesen-sein eines Windhauches anders hätte gestalten können. Durch die Schuld aber sagt der Mensch Ja zu allem, was ihm geschehen ist […] und formt sein Leben […].“ 71 Ders.: Von der Anmut am Geiste (1912). S. 73.
1. Das „lebendige Leben“ und der sentimentale Essay
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der konventionellen Ethik bestimmt,72 das ‚wahre Leben‘, das ‚lebendige Leben‘, liegt dagegen jenseits dieser Ethik.73 Das Denken, die „intellektuelle Anschauung“ jenseits der diskursiven Erkenntnis, für welche Kierkegaard und die Helden Dostojewskis als „Gnostiker der Tat“ stehen,74 wird in mystischen Formeln der Illumination umschrieben: „eine alles durchleuchtende Erkenntnis der Menschen, eine Erkenntnis, wo Objekt und Subjekt zusammenfallen“, ein „Herunterstiegen des Himmelreiches auf die Erde“.75 Es ist die Immanenz der Transzendenz. Die „Erlösung“ ist aber nicht vom Leben selbst zu erwarten, das „nie rein werden“ kann, sondern nur von der Formwerdung durch das Werk:76 „An Stelle der Konventionen regulierenden formalen Ethik vermag die Metaethik des Dialogs ‚Von der Armut am Geiste‘“, so der Lukács-Schüler Ferenc Fehér, „nur die Ethik des Werkes zu setzen.“77 Und gemäß der traditionellen Geschlechterstereotypik der Jahrhundertwende muss das Leben, die Frau, welche weder die geforderte Einheit von Werk und Leben noch die Selbstaufgabe für das Werk kenne,78 für das Werk des Mannes sterben: „Sie mußte sterben, damit mein Werk vollendet werde, damit nichts in der Welt bleibe, als mein Werk“.79 Der essayistische Gesprächspartner hat sich
_____________ 72 Ebd. S. 71f. 73 In seinen Notizen zum geplanten Dostojewski-Buch (1914–1917). S. 195 unterscheidet Lukács zwischen einer ersten und ‚zweiten Ethik‘: „Zweite Ethik als Wirklichkeit: bei D.[ostojewski] als Leben (lebendiges Leben). […] In der deutschen Romantik als Gedanke: Ironie. Frivolität darin.“ Vgl. hierzu auch: C. E. J. Machado: Die Formen und das Leben. In: Lukács 1996. Jahrbuch der Internationalen Georg-Lukács-Gesellschaft. Hrsg. v. F. Benseler/W. Jung. Bern 1997. S. 51–79, hier S. 70ff. 74 G. v. Lukács: Von der Anmut am Geiste (1912). S. 74. 75 Ebd. 76 Ebd. S. 79; zur Thematik Opfer für die Kunst/Wissenschaft im Allgemeinen vgl. H. Scheuer: Heinrich Mann: „Pippo Spano“. In: Interpretationen: Erzählungen des 20. Jahrhunderts. Bd. 1. Stuttgart 1996. S. 75–99 und im Besonderen, d. h. zu Balázs’ und Thomas Manns Tonio Kröger-Figur: F. Fehér: Das Bündnis von Georg Lukács und Béla Balázs (1977). S. 158. 77 F. Fehér: Das Bündnis von Georg Lukács und Béla Balázs (1977). S. 157; vgl. auch unter dem 4./5. 11. 1920 die folgende Eintragung H. Brochs in: ders.: Das Teesdorfer Tagebuch für Ea von Allesch. Hrsg. v. P. M. Lützeler. Frankfurt a. M. 1995. S. 128: „M. e. W.: Ethik mit der Forderung, daß die objektive Arbeit der einzige Wert ist. – Der widerlichste Verstoß gegen diese Ethik erschien mir immer die ‚Liebe‘, in der das Individuum seine zufällige sexuelle Funktion nicht in aller Ernsthaftigkeit zum ‚Wert‘ hinaufschraubt […]. Eigentlich hätte für mich, sowenig es für mich ‚Menschen‘ gibt, auch keine ‚Frau‘ existieren dürfen.“ 78 G. v. Lukács: Von der Anmut am Geiste (1912). S. 85f. 79 Ebd. S. 81; vgl. hierzu auch Lukács’ Eintragungen vom 27. 4. 1910. In: ders.: Tagebuch (1991). S. 8: „‚Die Frau‘ ist, wie ich fühle, bereits verschwunden“ und vom 27. 7. 1910 (S. 31) zum ‚Verschwinden‘ der Geliebten in seinem Text: „seit Wochen habe ich das Gefühl, daß es mit allen Irma-Emotionen wirklich zu Ende ist. Nie den-
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demnach weniger vor der Frau oder vor Gott schuldig gemacht, sondern vielmehr vor seinem Werk, da er der Gefahr unterlag, durch die Kontamination des Lebens „unrein“ zu werden.80 Sein Leben ist wertlos, da er die „Formen verwischt und durcheinandergeworfen“81 hat und somit der „Erlösung“, der Formwerdung des Werkes nicht würdig ist. Deren Paradoxie, von der essayistischen Figur als „das Einswerden der Versuchung und des Versuchten, des Schicksals und der Seele, des Teufels und des Göttlichen im Menschen“ beschrieben,82 liegt auf der Ebene des Textes nicht zuletzt auch darin, dass traditionelle Weiblichkeitsmetaphern und Symbole des christlichen Abendmahls zusammengeführt werden: der Mann, der sich dem Imperativ der jungfraulichen Reinheit unterwirft, versteht sich selbst als Gefäß des Geistes, in welches „der Wein seiner Offenbarung geschüttet werden“ kann.83 Nur so – im Ritual der heiligen Kommunion – ist das Leben zu rechtfertigen. Die Liebenden können sich nur begegnen, wenn ihr „entsetzlich menschliches, aus Blut und pulsierendem Stoff bestehendes, in handgreiflichen Dingen lebendiges Leben“84 in den Zustand von Oblaten, von Texten, übergegangen ist. „Zwei Tage später hat er sich erschossen“,85 lesen wir am Schluss des Essays. Die sentimentale Form des Essays steht zwischen den Gefühlen des ‚lebendigen Lebens‘ und dem ‚reinen Geist‘ des Werkes. Als immanente Transzendenz ist er immer auch Hoffnung auf Transsubstantiation.
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ke ich an sie. Auf meinem Schreibtisch steht – aus Stil-Gründen, dem Philippe-Essay zuliebe – ihr Bild. Aber ich schaue es fast nie an und es ist mir unendlich fremd, wenn ich es betrachte. Und nie fällt sie mir ein. Sie ist verschwunden. – Obwohl jetzt ein wenig Sehnsucht und Traurigkeit nach ihr gar nicht schaden würde – dem Philippe zuliebe.“ Hervorhebung v. B. N. Ders.: Von der Anmut am Geiste (1912) S. 80; vgl. auch Lukács’ Eintragung vom 29. 5. 1910 in: ders.: Tagebuch (1991). S. 20: „[…] sie [Irma] hat sich beschmutzt, und ich sehe sie daher tatsächlich schmutzig.“ Ders.: Von der Anmut am Geiste. S. 81. Ebd. S. 86f.; Hervorhebung v. B. N. Ebd. S. 88. I. Seidler: Brief an Georg Lukács vom 25. 10. 1908. In: G. Lukács: Briefwechsel (1982). S. 44. G. v. Lukács: Von der Armut am Geiste (1912). S. 91.
2. Das ‚problematische Individuum‘ und sein essayistischer Text
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2. Das ‚problematische Individuum‘ und sein essayistischer Text Das typisch männliche Verhalten: in der Beziehung zu der Frau im letzten Grunde nur an sich, aber nicht an die Frau zu denken – auch wenn er sich ihretwegen totschießt und gerade dann ganz besonders – […].86 (Georg Simmel) Als Irma geheiratet hat, lagen Selbstmordgedanken nahe: es wäre aber lächerlich und inadäquat gewesen, wegen einer Frau zu sterben.87 (Georg Lukács)
Um die Frage des Lebens, genauer noch „die Frage: wie kann und muß man heute leben?“,88 geht es auch in Lukács’ Essaybuch Die Seele und die Formen: „die Fragen, von denen hier die Rede ist, sind aus meinem Leben herausgewachsen“, heißt es in einem Brief an Leo Popper vom 27. Oktober 1909.89 Dass seinem Freund „Literatur […] nur eine Gelegenheit zum Selbstporträtieren ist“, vermutete Leo Popper bereits,90 als ihm sein Freund den Plan zum Essaybuch mitgeteilt hatte.91 Lukács selbst weist die Selbstreflexivität, die seine eigenen Essays kennzeichnet, als allgemeine Eigenschaft der essayistischen Form aus: „Der Dichter spricht immer über sich, gleichgültig, was er besingt; der Platoniker [d. i. der Essayist] wagt es nie, laut über sich nachzudenken, nur durch die Werke der anderen kann er sein eigenes Leben erleben, durch das Verständnis der anderen nähert er sich seinem Selbst.“92 Es handelt sich demnach beim Essay um eine Selbsterkundung und Selbstdarstellung in zweiter Potenz, auch wenn es in ironischer Anspielung auf Montaignes Vorrede zu seinen
_____________ 86 G. Simmel: Fragment über die Liebe (Aus dem Nachlaß). In: ders.: Schriften zur Philosophie und Soziologie der Geschlechter. Hrsg. v. H.-J. Dahme/K. C. Köhnke. Frankfurt a. M. 1985. S. 224–283, hier S. 243. 87 G. Lukács: Eintragung vom 24. 11. 1911. In: ders.: Tagebuch (1991). S. 47. 88 Ders.: Zur romantischen Lebensphilosophie: Novalis. In: ders.: Die Seele und die Formen (1911). S. 64–82, hier S. 69. 89 Ders.: Brief an Leo Popper vom 27. 10. 1909. In: ders.: Briefwechsel (1982). S. 92; vgl. H. Loewy: Béla Balázs (2003). S. 85: die Texte aus Die Seele und die Formen lassen „sich als Versuchsanordnungen, als Erprobungen des Verhältnisses von Leben und Werk lesen“. 90 L. Popper: Brief an Georg Lukács vom 7. 6. 1909. In: ebd. S. 73. 91 G. Lukács: Brief an Leo Popper vom 22. 5. 1909. In: ebd. S. 69. 92 Ders.: Platonismus, Poesie und Formen: Rudolf Kassner. In: ders.: Die Seele und die Formen (1911). S. 32–44, hier S. 35.
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V. Georg Lukács oder Essayismus als Form des modernen Intellektualismus
Essais – „Ich selber, Leser, bin also der Inhalt meines Buchs“93 – bei Lukács heißt: „denn nicht von mir und meinem Buch sei hier die Rede“.94 In einem Brief an den ‚Mittler der Literaturen‘, den Essayisten, Herausgeber und Übersetzer Franz Blei,95 bestimmt Georg Lukács die immanente Einheit seines Essaybuches folgendermaßen: „Die Einheit des Buches ist das Formproblem: seine verschiedenen Möglichkeiten werden an scheinbar disparaten und willkürlich gewählten Punkten des Lebens und der Kunst erörtert. Das Ganze wird aber (hoffe ich) doch eine Totalität: es umspannt das ganze Gebiet der Literatur in ihren wichtigsten Formproblemen; und behandelt zugleich das Problem der Lebenskunst; das Verhältnis von Form und Leben.“96 Jeder der Essays, sei es nun zu einzelnen Autoren (Kassner, Kierkegaard, Storm, George, Philippe, BeerHofmann, Sterne, Paul Ernst) oder zu Darstellungsformen (Essay, Philosophie, Lyrik, Roman, Novelle, Tragödie), spiegelt in Inhalt und Form (Brief, Dialog) die Auseinandersetzung des Essayisten mit dieser philosophischen Frage, die zugleich sein eigenes Lebensproblem ist. In dem einleitenden Brief Über Wesen und Form des Essays wird die Frage nach der Einheit der versammelten Texte mit der Frage nach der formalen Eigenständigkeit des Essays, das heißt nach dem Verhältnis zwischen Essay und Wissenschaft einerseits bzw. Essay und Kunst andererseits, verbunden. Zur Abgrenzung der Bereiche Wissenschaft und Kunst heißt es: die Werke der Wissenschaft seien ‚endlich‘, ‚geschlossen‘, bloßes Mittel, die Werke der Kunst dagegen ‚unendlich‘, ‚offen‘ und selbstzwecklich.97 Als Abgrenzungskriterium zwischen Wissenschaft und Essay wird angeführt, dass „eine Hypothese der Naturwissenschaft, wie eine neue Konstruktion eines Maschinenteils in dem Augenblick all ihren Wert verloren haben, da eine neue, bessere vorhanden ist.“98 Dagegen sei
_____________ 93 M. de Montaigne: An den Leser. In: ders.: Essais (1580–95). Hrsg. v. H. Stilett. Frankfurt a. M. 1998. S. 5. 94 G. Lukács: Über Wesen und Form des Essays (1911). S. 7; vgl. dagegen A. Kadarkay: Art. ‚Georg Lukács‘. In: Encyklopedia of the Essay. Ed. by T. Chevalier. London/Chicago 1997. p. 499: „The objekt of these essays in Lukács himself: engaging, ingenious, elusive, a virtuoso in flirting with roles […].“ 95 Vgl. Franz Blei. Mittler der Literaturen. Hrsg. v. D. Harth. Hamburg 1997 und H. Mitterbauer: Die Netzwerke des Franz Blei. Kulturvermittlung im frühen 20. Jahrhundert. Tübingen/Basel 2003. 96 G. Lukács: Brief an Franz Blei, Ende Dez. 1910. In: ders.: Briefwechsel (1982). S. 190. 97 Ders.: Bürgerlichkeit und l’art pour l’art: Theodor Storm. In: ders.: Die Seele und die Formen (1911). S. 82–117, hier S. 109. 98 G. Lukács: Über Wesen und Form des Essays. S. 9.
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es „nicht möglich, daß zwei Essays einander widersprechen; jeder erschafft ja eine andere Welt“.99 Die Ausgangsthese, „daß Kritik eine Kunst und keine Wissenschaft sei“,100 wird gegen Ende des Essays zunächst bekräftigt,101 schließlich aber in eine paradoxe Bestimmung überführt: „er [der Essay] steht dem Leben mit der gleichen Gebärde gegenüber wie das Kunstwerk, doch nur die Gebärde, die Souveränität dieser Stellungnahme kann die gleiche sein, sonst gibt es zwischen ihnen keine Berührung.“102 Wie ist dies zu verstehen? Betrachten wir die Inhaltsseite, so besteht nach Lukács zwischen Essay und Dichtung keine Wesensdifferenz, sondern vielmehr ein unterschiedlicher Grad an Selbstständigkeit und Differenziertheit: „Die Form des Essays hat bis jetzt noch immer nicht den Weg des Selbständigwerdens zurückgelegt, den ihre Schwester, die Dichtung, schon längst durchlaufen hat: den der Entwickelung aus einer primitiven, undifferenzierten Einheit mit Wissenschaft, Moral und Kunst.“103 Zwischen Wissenschaft und Kunst dagegen gebe es „keine Übergänge“: „In der Wissenschaft wirken auf uns die Inhalte, in der Kunst die Formen; die Wissenschaft bietet uns Tatsachen und ihre Zusammenhänge, die Kunst aber Seelen und Schicksale.“104 Übersetzen wir vereinfachend „Seelen und Schicksale‘ mit ,Leben‘, so lässt sich eine weitere Paradoxie auflösen: „die Dichtung erhält vom Schicksal ihr Profil, ihre Form, die Form erscheint dort immer nur als Schicksal; in den Schriften der Essayisten wird die Form [= Dichtung] zum Schicksal, zum schicksalschaffenden Prinzip.“ Die Dichtung erhält vom Leben ihre Form, sie ist eine Bild-Schöpfung nach dem Leben, im Essay dagegen, der jeder „Neigung und Möglichkeit einer Verdichtung zur Form“ entbehre,105 „gibt es kein Leben der Dinge, keine Bilder, nur
_____________ 99 Ebd. S. 22. 100 Ebd. S. 8. 101 Ebd. S. 31: „[…] der Essay ist eine Kunstart, eine eigene restlose Gestaltung eines eigenen, vollständigen Lebens.“ 102 Ebd.; vgl. ders.: Das Zerschellen der Form am Leben: Sören Kierkegaard und Regine Olsen. In: ders.: Die Seele und die Formen (1911). S. 44–64, hier S. 45: „Aber gibt es in Wahrheit dem Leben gegenüber eine Geste?“ 103 Ders.: Über Wesen und Form des Essays. S. 24. 104 Ebd. S. 9; F. Vollhardt (Literaturkritik und philosophische Ästhetik an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert: Problemkonstellationen im Frühwerk von Georg Lukács (1910–1918). In: Literaturkritik – Anspruch und Wirklichkeit. DFG-Symposion 1989. Hrsg. v. W. Barner. Stuttgart 1990. S. 302–318, hier S. 305f. und ebd. S. 310) weist auf die Übernahme von Termini sowie die Nähe und Differenz zur Lebensphilosophie Simmels hin. 105 G. Lukács: Über Wesen und Form des Essays (1911). S. 16.
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Transparenz“.106 Hier wird die Form selbst zum Leben: „Deshalb sprechen diese Schriften von den Formen. „Der Kritiker ist der, der das Schicksalhafte in den Formen erblickt“,107 das heißt dem Leben eine Bedeutung gibt. Der Essay zielt auf Zusammenhänge, Begriffe und Werte, er macht die Dinge des Lebens transparent.108 Er greift hinter die Bilder des Lebens, die in der Dichtung geschaffen werden.109 Das Leben selbst jedoch ist im Essay, der „immer von bereits Geformtem“ spricht,110 nur in zweiter Potenz, in Form der Dichtung vorhanden. Es ist nicht mehr das Leiden, die Sinnlichkeit des ‚lebendigen Lebens‘, sondern bereits das geformte, verdichtete Leben, das dem Essay zum Gegenstand seiner Reflexion wird. Betrachten wir auch die Formseite bzw. Ebene des Diskurses, so wird deutlich, dass Lukács mit der hypothetischen Setzung des Essays als „Kunstform“ er zu Beginn seines Metaessays und an dessen paradoxaler Beantwortung am Ende des Essays zugleich die Bestimmung des ironischen Schlusses erfüllt: „Eine Frage wird aufgeworfen, und so vertieft, dass die Frage aller Fragen aus ihr wird, dann aber bleibt alles offen“.111 Die Schwebehaltung wird am Ende des Essays wie des sokratischen Dialoges eben nicht in einem Punkt, einer Setzung, einem ‚Ja, so ist es‘ aufgehoben, sondern verbleibt im Modus des ‚Es könnte aber auch anders sein‘. Dem Relativismusverdacht entgeht Lukács in Die Seele und die Formen, indem er die Kategorie des „lebendigen Lebens“ in Verbindung mit der grundlegenden Dichotomie von dem Leben als empirische Erfahrung und dem eigentlichen, ‚wahren‘ bzw. ‚wirklichen‘ Leben als die grundlegende,
_____________ 106 Ebd. S. 12f. 107 Ebd. S. 16. 108 Ebd. S. 13; vgl. ders.: Georg Simmel (1918). In: Buch des Dankes an Georg Simmel (1958). S. 172 (Hervorhebung v. B. N.) zu Simmels „philosophische[m] Geist“: „die Fähigkeit, die kleinste und unwesentlichste Erscheinung des alltäglichen Lebens so stark sub specie philosophiae zu sehen, daß sie durchsichtig wird und in ihrer Transparenz ein ewiger Formzusammenhang des philosophischen Sinnes sichtbar wird.“ Vgl. auch S. Kracauer: Georg Simmel. In: Logos IX (1920). H. 3. S. 307–339, hier S. 333 (Hervorhebung v. B. N.): „Ein Licht von innen her macht so die Erscheinungen bei Simmel aufglühen wie Tuch und Geschmeide auf manchen Bildern Rembrandts. Alle Stumpfheit und Armseligkeit weicht von der Außenseite der Welt; es ist als sei sie plötzlich durchsichtig wie Glas geworden.“ 109 G. Lukács: Über Wesen und Form des Essays. In: ders.: Die Seelen und die Formen (1911). S. 13f. 110 Ebd. S. 20. 111 Ebd. S. 25f.
2. Das ‚problematische Individuum‘ und sein essayistischer Text
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wertsetzende Idee112 setzt: „Leben: das ist, etwas ausleben können. Das Leben: nie wird etwas ganz und vollkommen ausgelebt.“113 Die Entsprechung zu der Schiller’schen Unterscheidung von ‚naiv‘ und ‚sentimentalisch‘114 ist ebenso offensichtlich wie jene zwischen ‚naivem‘ Dichter und ‚sentimentalem‘ Essayisten. Auch wenn beide vielleicht „gleich heimatlos und außerhalb des Lebens“ stehen mögen:115 „Der wirklich typische Dichter […] ist nie problematisch, der wirkliche Platoniker ist es immer“.116 Doch wie schon in Kassners Prätext, so werden auch hier jenseits der „Antithesen“117 zwei Lösungsmöglichkeiten gesehen: zum einen die Synthese in einem ‚Dritten‘, der Kunst bzw. dem Künstler,118 zum anderen die Auflösung der Antithetik von Dichter und Platoniker zu polaren Gegensätzen auf einer „Gradskala“119 zwischen Drama und Essay und deren
_____________ 112 Ebd. S. 28. 113 Ders.: Metaphysik der Tragödie. In: ebd. S. 21; vgl. auch die Eintragung vom 29. 5. 1910. In: ders.: Tagebuch (1991). S. 21: „Sondern das ist, jawohl, der Unterschied zwischen dem Leben und dem Leben. Das Leben verwäscht alles: die Zeit, die Entwicklung, die Augenblicke führen dort Menschen zusammen […]. Das Leben ‚rechnet‘ nie etwas ‚ab‘. Es ist außerhalb von Raum und Zeit. Kein Vergessen, kein Verzeihen, keine Stimmung. Wesenheiten verkehren mit Wesenheiten.“ 114 Wie schon bei Schiller (vgl. B. Nübel: Schillers ästhetische Theorie. In: Der Deutschunterricht. Heft 6 (2004): Schiller. Hrsg. v. H. Scheuer. S. 50–62) wird die Dichotomie ‚naiv‘/‚sentimentalisch‘ – kongruent verwendet zu ‚weiblich‘/‚männlich‘; vgl. G. Lukács: Sehnsucht und Form: Charles Louis Philippe. S. 138: „Die Liebe der Frau ist der Natur näher und mit dem Wesen der Liebe tiefer verbunden: […] Das liebende Weib ist immer sehnsuchtsvoll, aber seine Sehnsucht ist immer praktisch. Nur der Mann kennt die reine Sehnsucht […].“ Vgl. ebd. S. 149: „Die Sehnsucht ist immer sentimental […].“ 115 Ders.: Platonismus, Poesie und die Formen (1911). S. 34; vgl. ders.: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik (1916/20). Darmstadt/Neuwied 1971. S. 32, wo die Rede von der „transzendentalen Obdachlosigkeit“ bzw. „transzendentalen Heimatlosigkeit“ (S. 52) moderner Epik ist. 116 Ders.: Platonismus, Poesie und Formen (1911). S. 35; vgl. ders.: Über Wesen und Form des Essays. S. 27: „Wenn etwas erst einmal problematisch geworden ist – und diese Denkungsart und ihre Darstellung [= Essay] wurde es nicht, sondern war es immer – so kann das Heil nur aus der äußersten Zuspitzung der Fragwürdigkeit, aus einem radikalen Bis-zu-Ende-gehen in jeder Problematik entspringen. Der moderne Essay hat den Lebenshintergrund verloren.“ 117 R. Kassner: Der Dichter und der Platoniker. In: ders.: Sämtliche Werke. Hrsg. v. Ernst Zinn. Bd. 1: Über englische Dichter und Maler im 19. Jahrhundert. Accorde. (1900). Pfullingen 1969. S. 9–23, hier S. 18. 118 G. Lukács: Platonismus, Poesie und die Formen (1911). S. 37: „[…] der Mensch, der formen kann, der Künstler, in dessen Form Dichter und Platoniker einander gleich werden.“ Vgl. R. Kassner: Der Dichter und der Platoniker (1900). S. 20: „[…] der Künstler im besonderen ist nichts anderes, als die Vereinigung des Dichters und des Platonikers.“ 119 G. Lukács: Platonismus, Poesie und die Formen (1911). S. 40.
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Bestimmung als Mischungsverhältnis: „Vielleicht ist das Leben nur ein Wort und bedeutet für den Platoniker seine Möglichkeit Dichter zu sein, für den Poeten aber den Platonismus, der verborgen in seiner Seele liegt.“120 Und weiter heißt es im Modus des essayistischen ‚Vielleicht‘: „vielleicht ist in einem mystisch-mathematischen Sinn die Summe von Platonismus und Dichtung in den beiden immer konstant“.121 Die Kennzeichnung des Lebens als „eine Anarchie des Helldunkels“, als Fließendes,122 Singuläres, Relatives, nicht Systemhaftes, nicht Systematisierbares,123 als Potential von Möglichkeiten,124 verweist wiederum auf den Essay: „Der einzig wesentliche Unterschied zwischen Leben und Leben besteht darin, ob eines absolut ist oder bloß relativ […]. Dies ist der Unterschied, ob die Lebensprobleme in der Form von ‚entweder – oder‘ aufgeworfen sind, oder ob ‚sowohl als auch‘ der wirkliche Ausdruck dafür ist“.125 Doch trotz dieser offenkundigen Analogien ist eine voreilige Ineinssetzung zu vermeiden, denn nicht der Essay ist das Leben, sondern er erreicht es quasi nur aus zweiter Hand, das heißt, nachdem es sich in der Dichtung, im Kunstwerk zur Form verdichtet hat. Die Vermitteltheit des Lebens in der künstlerischen Form wird dem Essayisten zu seiner unmittelbaren Wirklichkeit: „Die Form ist sein großes Erlebnis, sie ist als unmittelbare Wirklichkeit das Bildhafte, das wirklich Lebendige in seinen Schriften.“126 Die Beziehung zwischen Essay und Leben entspricht also jenem Kleist’schen Paradox aus dem Marionettentheater, nach welchem sich die Unschuld der Grazie wieder einstellt, wenn „die Erkenntnis gleichsam durch ein Unendliches gegangen ist“.127 Auf der Suche nach Wahrheit als Erkenntnis des Lebens trifft der Essay auf das Leben selbst, in der Lukács’schen Variante des Neuen Testamentes (1 Sam 9–10,16): „Es ist richtig, nach der Wahrheit strebt der Essay: doch wie Saul, der da ausging, die
_____________ 120 Ebd. S. 38. 121 Ebd. S. 42f.; vgl. R. Kassner: Der Dichter und der Platoniker (1900). S. 21: „Die mystische Tugend ist immer die Summe von dem, was ein Ding – der Mensch oder sein Werk – besitzt und dem, was ihm fehlt. […] Das Leben selbst ist die mystische Tugend, die Summe der Dichterthaten und Gedanken der Platoniker […].“ 122 G. Lukács: Metaphysik der Tragödie (1911). S. 219. 123 Ders.: Das Zerschellen des Lebens an der Form (1911). S. 49. 124 Ebd. S. 62. 125 Ebd. S. 48. 126 Ders.: Über Wesen und Form des Essays (1911). S. 16f. 127 H. v. Kleist: Über das Marionettentheater (1810). In: ders.: Sämtliche Werke und Briefe in 2 Bde. Hrsg. v. H. Semdner. 8. Aufl. München 1985. Bd. 2. S. 338–345; hier S. 345.
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Eselinnen seines Vaters zu suchen und ein Königreich fand, so wird der Essayist, der die Wahrheit wirklich zu suchen imstande ist, am Ende seines Weges das nicht gesuchte Ziel erreichen, das Leben.“128 Nicht mehr ein Königreich, sondern das Leben selbst als Ziel und höchstes Gut zugleich gilt es hier über die essayistischen Umwege zu gewinnen. Die Suche nach dem Kleinen, Ephemeren („Eselinnen“) führt zum Gewinn des Großen („Königreich“). Hieraus erwächst zugleich das Utopiepotential des Essays: gemäß der „trivialen Erkenntnis“, dass im Verlauf des Lebens „jedes Wirklichwerden einer Möglichkeit eben nur auf Grund der Vernichtung aller anderen Möglichkeiten denkbar ist“,129 verkündet der Essay: „alles, was ist, könnte auch anders sein“.130 Das heißt, die Realitäten des Lebens können „nie restlos und unzweifelhaft“ umgewertet werden, „nur die Ansichten darüber, nur die Werte.“131 In der Reflexion auf die Dichtung, in welcher das Leben zur Form geworden ist, wird dem Essay diese Form selbst „eine Weltanschauung, ein Standpunkt, eine Stellungnahme dem Leben gegenüber, aus dem sie [die Dichtung] entstand; eine Möglichkeit, es selbst umzuformen und neu zu schaffen“.132 Gerät der biblische Saul noch in Verzückung und verwandelt sich in einen anderen Menschen, als der Geist des Herrn über ihn kommt (1. Sam 10,6), so ist dem sentimentalen Modernen allein noch der Weg des ‚Reflektierenmüssens‘ die Bedingung der Möglichkeit der Poiesis. Als Beispiel für die Relation von Leben und Form, von Naivem (Saul) und Sentimentalischem (Essayist) dient Lukács auch das Verhältnis von Sokrates und Platon. Lukács kennzeichnet letzteren als „den größten Essayisten, der je gelebt und geschrieben hat“, da er seine Fragen nicht an das in der Dichtung geformte Leben gerichtet hat, sondern an das „lebendige Leben“ selbst anknüpfen konnte: „der Mensch lebte in seiner unmittelbaren Nähe, dessen Wesen und Schicksal das paradigmatische Wesen und Schicksal für seine Form war.“ Das Leben des Sokrates ist das Paradigma für die Form des Essays, wie der Mythos des Ödipus für die der tragischen Dichtkunst.133 „Du siehst“, heißt es an den fiktiven Briefpartner Leo Popper gerichtet: „selbst Platon war ein ‚Kritiker‘“.134
_____________ 128 129 130 131 132 133 134
G. Lukács: Über Wesen und Form des Essays (1911). S. 22. Ders.: Metaphysik der Tragödie. S. 232. Ebd. S. 225; Hervorhebung v. B. N. Ders.: Das Zerschellen der Form am Leben (1911). S. 57. Ders.: Über Wesen und Form des Essays (1911). S. 16f.; Hervorhebung v. B. N. Ebd. S. 24f. Ebd. S. 27.
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In einem Brief an Sári Ferenczi dagegen hatte Lukács Platon noch Anfang Januar 1909 als Künstler bestimmt und Sokrates mittelbar das essayistische Attribut des Sentimentalen zugeschrieben: „Platon hatte Form, Sokrates hatte keine, weil die reine Dialektik Gegensatz der Form ist, die absolute Formlosigkeit, nur Maske, hinter der man manches verbergen kann. Sokrates war sentimental – ich meine das in einem höheren und tieferen Sinn – Platon aber war Künstler, und es gibt keinen tieferen Gegensatz als Formgebung und Sentimentalität.“135 Sokrates ist sentimental, so ist hier zu lesen, weil er der „ErosDeutung des Aristophanes, laut welcher wir einzelne Teile eines entzweiten Leibes sind und die verlorene andere Hälfte suchen“, das Wissen um die „ewige Dualität“ entgegensetzt: „Sokrates wusste“, so Lukács, „daß, wonach wir uns sehnen, für immer fremd ist, daß es für unser Sehnen nie eine Erfüllung gehen kann.“136 Die Verwendung des karnevalistischen Attributs der Maske im selben Brief deutet darauf hin, dass sich der junge Lukács in dieser Lebensphase mit Sokrates identifiziert zu haben scheint.137 Das Bild der Maske, die der
_____________ 135 G. Lukács: Brief an Sári Ferenczi, Januar 1909. In: ders.: Briefwechsel (1982). S. 58; vgl. hierzu auch: J. Still/M. Worton: Introduction. In: Intertextuality. Theories and Practices. Ed. by M. W./J. S. Manchester 1990. p. 1–45. p. 3: „[…] Plato is himself a poet and the dialogues enact much of what has later been defined as the essence of intertextuality. […] Bakhtin locates in the Socratic dialoges one of the earliest forms of what he terms variously the novel, heteroglossia, dialogism – what Kristeva will christen intertextuality.“ 136 G. Lukács: Brief an Sári Ferenczi, Januar 1909. In: ders.: Briefwechsel (1982). S. 57f.; vgl. G. Simmel: Die Koketterie. In: ders.: Philosophische Kultur. Über das Abenteuer, die Geschlechter und die Krise der Moderne. Gesammelte Essais (1911). Mit e. Nachw. v. J. Habermas. Berlin 1983. S. 81–99, hier S. 96: „Ja, daß der Mensch überhaupt ein dualistisches Wesen ist, sein Leben und Denken sich in der Form der Polarität bewegt, jeder Seinsinhalt erst an seinem Gegensatz sich selber findet und bestimmt, geht vielleicht auf jene letztinstanzliche Gespaltenheit der menschlichen Gattung zurück, deren Elemente sich ewig suchen, sich einander ergänzen und doch nie ihren Gegensatz überwinden. Daß der Mensch mit leidenschaftlichsten Bedürfnissen an das Wesen gewiesen ist, von dem er vielleicht durch die tiefste metaphysische Kluft getrennt ist – auch das ist das reinste Bild, vielleicht aber auch die entscheidend wirksame Urform für jene Einsamkeit, mit der der Mensch schließlich ein Fremdling, nicht nur unter den Dingen der Welt, sondern auch unter denen ist, die für jeden die Nächsten sind.“ 137 G. Lukács: Brief an Sári Ferenczi, Januar 1909. In: ders.: Briefwechsel (1982). S. 58: „Sokrates aber hatte keine Form. Seine Maske ist und bleibt eine starre Maske. Seine Sehnsucht […] / Meine Maske liegt in Trümmern vor mir, und meine Sehnsüchte […].“ Vgl. H. Scheuer: Heinrich Mann: „Pippo Spano“ (1996). S. 75–99 sowie U. Helduser: „Maskarade“ als „weibliche Natur“. Literatur und Geschlechterdiskurs um 1900. In: Der Deutschunterricht 52 (2000). H. 2: 1900: Jahrhundertende – Jahrhundertwende. Hrsg. v. H. Scheuer. S. 15–27.
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einsame Lukács vor sein nacktes, lebendiges Gesicht hält, durchzieht den gesamten Text. Doch schon drei Monate später finden wir in einem Brief an Leo Popper die Zuordnung, die wir aus Die Seele und das Leben kennen: „Der Platoniker ist der Mensch ohne Schicksal, der Mensch, mit dem nichts geschieht; seine Form ist der Essay“.138 Aus Sokrates ist Platon geworden, derjenige, der das Leben eines anderen zur Form macht. Der Essayist, der zum Platoniker geworden ist, so Lukács in Über Wesen und Form des Essays „rettet sich aus dem Relativen und Wesenlosen“ nur durch die „richtende Kraft der geschauten Idee“: Die Werte, das Maß des Richtens, erschafft der, mit dem selbst nichts mehr geschieht, der vielmehr beobachtet und aufschreibt, was anderen geschieht, aus sich selbst.139 Dieses Wertschaffen und Bedeutungsetzen jenseits des Auseinanderfallens von Signifikant und Signifikat macht die Lage des Essayisten ebenso problematisch wie messianisch:140 „er ist ein Täufer, der auszieht, um in der Wüste zu predigen von einem, der da kommen soll“,141 predigen von einem, mit welchem die Werte, die er verkündet, erst ihre Begründung erfahren. Das Bild von Johannes dem Täufer und Jesus Christus wird wiederum durch den Bezug des ,vorläufigen‘ Essays gegenüber der „Erfüllung“ einer wissenschaftlichen Ästhetik ins Autobiographische gewendet, wenn es heißt: „Ruhig und stolz darf der Essay sein Fragmentarisches den kleinen Vollendungen wissenschaftlicher Exaktheit und impressionistischer Frische entgegen stellen, kraftlos aber wird seine reinste Erfüllung, sein stärkstes Erreichen, wenn die große Ästhetik gekommen ist.“142 Die ,kleine Form‘ des Essays ist eine problematische, das heißt zugleich letztlich unbegründete wie meta- und selbstreflexive Denk- und Darstellungsart, welche das „Problematische der Lage“, die „sich fast zu einer notwen-
_____________ 138 G. Lukács: Brief an Leo Popper vom 25. April 1909. In: ders.: Briefwechsel (1982). S. 66. 139 Ders.: Über Wesen und Form des Essays (1911). S. 28f. 140 Vgl. hierzu auch H. Broch: Leben ohne platonische Idee (1932). In: ders.: Kommentierte Werkausgabe. Hrsg. v. P. M. Lützeler. Bd. 10/1: Philosophische Schriften 1: Kritik. Frankfurt a. M. 1977. S. 46–53, hier S. 46, der den „Typus des intellektuellen Menschen“ als „Symptom für den Verfall des platonischen Weltgedankens“ versteht; dessen „Tragik“ liege im „Erlösergedanken“: „Er hält sich zumeist wirklich für den Vertreter der platonischen Idee“ (ebd. S. 51), „jede Zeitkritik aber – will sie fundiert sein – auf einer fundierten Wert- und Geschichtsphilosophie basiert sein muß, und es eine solche Philosophie nicht mehr gibt.“ (ebd. S. 49) 141 G. Lukács: Über Wesen und Form des Essays (1911). S. 29. 142 Ebd.
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digen Frivolität im Denken und im Ausdruck zugespitzt“ hat,143 zum Ausdruck bringt: „Kontingente Welt und problematisches Individuum sind einander wechselseitig bedingende Wirklichkeiten.“144 Ihnen entspricht die essayistische Form als Möglichkeit der Darstellung wie (Selbst-) Reflexion. Im 1962 geschriebenen Vorwort zur 1914 entworfenen Theorie des Romans heißt es zur essayistischen Tendenz der modernen Romanform: „Deshalb ist Philosophie als Lebensform sowohl wie als das Formbestimmende und das Inhaltgebende der Dichtung immer ein Symptom des Risses zwischen Innen und Außen, ein Zeichen der Wesensverschiedenheit von Ich und Welt, der Inkongruenz von Seele und Tat.“145 Das Lebensziel einer ‚großen Ästhetik‘ jenseits des bislang von Lukács beschrittenen essayistischen Weges, welche die durch den Essay gesetzten Werte in einem System begründen soll, verweist wiederum selbst auf die Sehnsucht nach Erlösung,146 auf die Sehnsucht nach einer unwiderruflich verloren gegangenen Totalität der Selbst- und Welterfahrung. Der Essayismus als Lebensform ist für Lukács nur ein – wenngleich selbstbewusstes – Eingeständnis des persönlichen Scheiterns:147 „Ich sehe Möglichkeiten zur Geduld. Und sogar dies: auch das innerliche Nichtgelingen wäre vielleicht keine Katastrophe. Das heißt: wenn es sich herausstellte, daß das, was ich anstrebe, als Endzweck unerreichbar ist (einerlei, ob mir oder überhaupt; dieses Ziel steht nur vor mir; erst wenn es erreicht ist, ist es diskutabel als eine mögliche Stufe einer wissenschaftlichen Entwicklung); selbst dann glaube ich, den Weg wollen zu können. Und mich –
_____________ 143 Ebd. S. 27f.; die Auseinandersetzung mit dem Selbstvorwurf der Frivolität durchzieht das Tagebuch G. Lukács’; vgl. ders.: Tagebuch (1991). S. 10. S. 14. S. 17. S. 39. S. 40 („Ich lebe in einer frivolen Zurückgezogenheit auf rein intellektuelle Probleme […].“), S. 44. S. 49 („[…] Arbeit oder Verkommen in Frivolität.“) und S. 51 („[…] diese nervöse Angst vor Frivolität und die nervöse Strenge ihr gegenüber, das ebenfalls nervöse seelische Reinheitsgefühl […] – liegt nicht in allem diesem meine Unfähigkeit zur Religion, zur Existenz?“); vgl. auch ders.: Gelebtes Denken. S. 59, wo Lukács die „frivolen Seiten“ Simmels kritisiert. 144 Ders.: Die Theorie des Romans (1916/20). S. 67. 145 Ebd. S. 21. 146 Vgl. P. Por: Lukács und sein Sonntagskreis (1984). S. 112: „Jedes Werk, je jede Deutung, wie auch das Lebens selbst, soll nicht Erörterung eines Problems oder Lösung einer Aufgabe sein, sondern die Antwort auf die eine metaphysische Frage: Erlösung“. 147 Vgl. hierzu auch Lukács’ Eintragung vom 2. 6. 1910. In: ders.: Tagebuch (1991). S. 23f.: „Und aus dieser Anschauung und Bewertung könnte sogar eine Lebensform werden. Vielleicht die mir einzig mögliche Lebensform. Wie eigentümlich: die Form meiner Essays ist sowieso diese: ein selbstbewußtes Neigen des Hauptes vor dem Höheren; ein Hörigkeitsgefühl, die Gefühlswelt des Hagen. Es fragt sich: ob und wie daraus ein Lebensgefühl werden kann […].“
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nach außen hin – mit den ‚Beiprodukten‘ zu begnügen; das heißt: Essayist sein.“148 Folgen wir Lukács in Über Wesen und Form des Essays (1911) sowie in Die Theorie des Romans (1916/20), so ist der moderne ‚Held‘ der auf essayistischen Wegen nach Sinn Suchende. Der Sinn149 aber – die Frage nach dem rechten Leben150 – ist angesichts der modernen Kontingenzerfahrung sowie der unhintergehbaren Nicht-Identität von Zeichen und Inhalt kein gegebener, sondern ein qua Reflexion erst zu schaffender. Dieser essayistische Saulus (= Lukács) jedoch sucht den direkten Weg zum Königreich der Wahrheit und keine lebenden Eselinnen.151
3. Ironie als Form der essayistischen Selbstreflexion Die Mystiker des Mittelalters sind die einzigen ohne innere Ironie – […].152 (Georg Lukács) Mystiker lachen nicht.153 (Robert Musil)
Doch trotz der klaren Prioritätensetzung von (innerem) Ziel (‚Hauptwerk‘ der Ästhetik) und (äußerem) Weg (essayistische ‚Beiprodukte‘) ist auch bei Lukács der Essay und nicht das System Medium der (Selbst-)Ironie. In einem Brief an Leopold von Ziegler vom 1. Januar 1912 spricht Lukács dem Essay generell, speziell aber seinen eigenen Essays, „einen ironischen Dogmatismus“, eine „Apodiktik mit Vorbehalten“ zu: „Er kann mithin […] nur ein ‚Moment‘ sein: denn der Einzelfall, den er behandelt, gibt seinem – vorläufig nur intuitiven – Aphorismus Leben und Fundament. Das ist aber in einem System unmöglich.“154 Die Ironie als „Selbstkorrek-
_____________ 148 G. Lukács: Eintragung vom 25. Mai 1910. In: ders.: Tagebuch (1991). S. 17. 149 Etymologisch läßt sich das Substantiv ‚Sinn‘ auf das starke Verb ‚sinnen‘ beziehen, das die sprachgeschichtlichen Komponenten ‚streben‘, ‚begehren‘ wie ‚gehen‘, ‚reisen‘ enthält. Die Grundbedeutung ‚Gang‘, ‚Reise‘, ‚Weg‘ beruht auf der indogermanischen Wurzel *sent- ‚gehen‘, ‚reisen‘, ‚fahren‘, aus der sich weiterhin lat. ‚sentire‘ (‚fühlen‘, ‚wahrnehmen‘) ableitet. 150 Vgl. die „Frage: was ist das Leben, der Mensch, das Schicksal?“ (G. Lukács: Über Wesen und Form des Essays (1911). S. 15) sowie die „Frage: wie kann und muß man heute leben?“ (ders.: Zur romantischen Lebensphilosophie (1911). S. 69). 151 Vgl. ders.: Über Wesen und Form des Essays. S. 22. 152 Ebd. S. 20. 153 R. Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Nachlass (MoE II, 1840). 154 G. Lukács: Brief an Leopold Ziegler vom 1. 1. 1912. In: ders.: Briefwechsel (1982). S. 268.
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tur der Brüchigkeit“155 – innerhalb des problematischen Individuums selbst wie angesichts einer kontingenten Welt156 – zwingt das essayistische Subjekt, sich selbst zum Objekt der Reflexion zu machen. Anders als jene Musil’schen Ingenieure, die „den Vorschlag, die Kühnheit ihrer Gedanken statt auf ihre Maschinen auf sich selbst anzuwenden […] ähnlich empfunden haben [würden] wie die Zumutung, von einem Hammer den widernatürlichen Gebrauch eines Mörders zu machen“,157 ist es gezwungen, „seine Welterkenntnis auf sich selbst anzuwenden“.158 Die ironische Selbstreflexivität der essayistischen Form ist dabei eng mit jenem Sprechen verbunden, das Lukács als Schreiben „bei Gelegenheit von …“ kennzeichnet.159 Sie ist weniger explizit als vielmehr impressionistisch: „Die Ironie meine ich hier, daß der Kritiker immer von den letzten Fragen des Lebens spricht, aber doch immer in dem Ton, als ob nur von Bildern und Büchern, nur von den wesenlosen und hübschen Ornamenten des großen Lebens die Rede wäre; und auch hier nicht vom Innersten des Innern, sondern bloß von einer schönen und nutzlosen Oberfläche.“160 Lukács scheint hier geradezu den essayistischen Stil Simmels zu beschreiben.161
_____________ 155 Ders.: Die Theorie des Romans (1916/20). S. 65. 156 In ebd. S. 64 wird die Ironie mit den „Ästhetikern der Frühromantik“ als „Selbsterkenntnis und damit […] Selbstaufhebung der Subjektivität“ gekennzeichnet, als innere Spaltung in eine „Subjektivität als Innerlichkeit“, die zugleich aber „die Abstraktheit und mithin die Beschränktheit der einander fremden Subjekts- und Objektswelten durchschaut […] und durch dieses Durchschauen die Zweiheit der Welt zwar bestehen läßt, aber zugleich in der wechselseitigen Bedingtheit der einander wesensfremden Elemente eine einheitliche Welt erblickt und gestaltet.“ 157 R. Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. 1. Buch (1930) (MoE I, 38). 158 G. Lukács: Die Theorie des Romans (1916/20). S. 65. 159 Ders.: Über Wesen und Form des Essays (1911). S. 27: „[…] jeder Essay schreibt mit unsichtbaren Buchstaben neben seinen Titel die Worte: bei Gelegenheit von …“; vgl. hierzu auch R. Musil: Tagebücher. Heft 26 (1921–1923?): „Andre Möglichkeit: Essays lassen wie sie sind und kommentieren. / Man hat mich oft aufgefordert diese Essays herauszugeben, aber ich habe mich immer geweigert. Ich mag den Mann eigentlich nicht, der sie schrieb. Er macht mir den Eindruck eines Mannes, der immer etwas andres schrieb und trieb, als er wollte. Alle seine Aufsätze haben etwas Gelegentliches und Ungelegenes. Es scheint, da hat man ihn aufgefordert, über eine Rockhose zu schreiben und er, der sich sonst nie entschließen könnte, zu schreiben, tut es, weil man ihn dazu eingeladen hat; aber er benützt es, um irgendetwas von den Dingen einfließen zu lassen, über die zu schreiben, er sich nie entschließen kann. Nicht anders geschieht es aber auch, wenn er über eine so wichtige Frage wie das Schicksal seiner Nation schreibt.“ (TB I, 666); Hervorbebg. v. B. N. 160 G. Lukács: Über Wesen und Form des Essays (1911). S. 18f.; vgl. G. Simmel: Aus dem nachgelassenen Tagebuche. In: ders.: Fragmente und Aufsätze. Aus dem Nachlaß und Veröffentlichungen der letzten Jahre. Hrsg. v. G. Kantorowicz. München 1967. S. 1–47; hier S. 15: „Für den tieferen Menschen gibt es überhaupt nur eine
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Jene „Mischung von Zufällig- und Notwendig-Sein“, die Lukács als den Ursprung der essayistischen Ironie kennzeichnet,162 findet sich auch in dem Zwiegespräch über Laurence Sterne,163 welches Lukács gegenüber seinem Freund Leo Popper ein „Satyrspiel“ nennt: „Verstehst Du jetzt, warum dies[er Essay] eben so viel tiefer ist als alle meine Arbeiten? Denn seine Form ist die Kritik aller meiner Schriften, eine Kritik meiner ganzen Lebensform.“164 Bei Lukács’ Sterne-Essay, einem Dialog zweier befreundeter Studenten, handelt es sich um eine Kritik und Verteidigung der essayistischen Schreibweise allgemein, speziell der Empfindsamen Reise Laurence Sternes. Zugleich enthält es aber auch die (Selbst-)Kritik der Lukács’schen (Lebens-)Philosophie im Allgemeinen wie eine Verteidigung seines Essaybuches im Besonderen. Während der eine Dialogpartner, Vincenz, „die Exkurse Sternes, seine scheinbar gar nicht zur Sache gehörenden Episoden, […] seine grotesk philosophischen Einlagen“,165 „Digressionen und Abschweifungen“166 als Lebensphilosophie verteidigt und gleichsam die Position Lukács’ des Täufers vertritt, wirft der andere, Joachim,167 dem formlos Fragmentarischen
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Möglichkeit das Leben zu ertragen: ein gewisses Maß von Oberflächlichkeit. Denn wenn er die gegensätzlichen unversöhnlichen Impulse, Pflichten, Bestrebungen, Sehnsüchte alle so tief hinunter denken würde, so absolut bis ans Ende empfinden, wie ihre und seine Natur es eigentlich fordert – so müßte er zerspringen, wahnsinnig werden, aus dem Leben laufen. Jenseits einer gewissen Tiefengrenze kollidieren die Seins,Wollens- und Sollenslinien so radikal und gewaltsam, daß sie uns zerreißen müßten. Nur indem man sie nicht unter jene Grenze hinuntergelangen läßt, kann man sie soweit auseinanderhalten, daß das Leben möglich ist.“ Vgl. den Nachruf Georg Lukács’ auf Simmel (in: Pester Lloyd, 2. Oktober 1918. Abgedr. in: Buch des Dankes an Georg Simmel. Briefe, Erinnerungen, Bibliographie. Hrsg. v. K. Gassen/M. Landmann. Berlin 1958. S. 171–177, hier S. 172), wo Lukács Simmel als „der wahre Philosoph des Impressionismus“ würdigt. Ders.: Über Wesen und Form des Essays (1911). S. 18. Ders.: Reichtum, Chaos und Form: Ein Zwiegespräch über Lawrence Sterne. In: ders.: Die Seele und die Formen (1911). S. 179–218; G. Simmel hatte nach Auskunft Béla Balázs’ die dichterischen Elemente des Dialogs über Sterne beklagt; vgl. hierzu: B. Balázs: Brief an Georg Lukács, Mai 1912. In: G. Lukács: Briefwechsel (1982). S. 287. Ders.: Brief an Leo Popper vom 27. 10. 1909. In: ders.: Briefwechsel. S. 90. Ders.: Reichtum, Chaos und Form (1911). S. 192. Ebd. S. 212. C. Schneider: Essay, Moral. Utopie. Ein Kommentar zur essayistischen Periode Georg Lukács’. Diss. (masch.) Universität Hannover (1979) interpretiert die beiden Dialogpartner einerseits als philosophische Figurationen des Verhältnisses von ‚intelligiblen Ich‘ (Joachim) und ‚empirischen Ich‘ (Vincenz) (ebd. S. 178) und andererseits als psychologische Projektionen des Autors Lukács: „In der Tat ist Vincenz nichts anderes als das alter ego von Joachim. Anders gesagt: Vincenz und Joachim sind die identische
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der Sterne’schen Schriften168 – und mittelbar dem Autor des Sterne-Essays – „Unfähigkeit“169 und „Impotenz“ vor.170 Joachim, der Messias einer neuen Ästhetik, will mittels der Form bzw. Ethik „fürs Leben fixe Punkte bestimmen“:171 „Denn nur das Werten-können gibt Kraft zum Wachsen und zur Entwicklung, das Ordnung-schaffen-können, das Anfang- und Ende-machen-können“.172 Die Poiesis, die Schaffung eines Ganzen, das „Anfang, Mitte und Ende hat“,173 wird hier zur Folge des UrteilendOrdnend-Abwägenden: die Narration hat das Urteil, die Reflexion, zur Voraussetzung und zum Ziel gleichermaßen. Der Dialog über den Essay als ironische Selbstreflexion des Lukács’schen Essaybuches ist eingebettet in eine Rahmenerzählung. Die beiden Studenten scheitern daran, einer anwesenden Kommilitonin mit ihrem intellektuellen Disput über Sterne zu imponieren. Am Ende jedoch darf Vincenz, dessen Position im Streitgespräch über Reichtum, Chaos und Form auf der Ebene der ‚Form‘ unterliegt,174 die junge Frau („das Mädchen“) küssen,175 den Sieg der Sinnlichkeit wie der essayistischen Lebenshaltung gleichermaßen veranschaulichend: „Daß das Leben nur ein Weg
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Person Lukács, nach dem Mechanismen der Projektion aufgespalten in ‚gut‘ und ‚böse‘, Anerkanntes und Verleugnetes.“ (ebd. S. 171) Ebd. S. 205. Ebd. S. 214. Ebd. S. 196; vgl. hierzu auch ders.: Georg Simmel (1918). S. 172f. Ders.: Reichtum, Chaos und Form (1911). S. 214. Ebd. S. 215. Aristoteles: Poetik. Hrsg. v. M. Fuhrmann. Stuttgart 1982. S. 25. Vgl. C. Schneider: Essay, Moral, Utopie (1979). S. 178: „Natuerlich ist Joachim auf der Ebene des intellektuellen Diskurses der Ueberlegene […]. Vgl. auch H. Loewy: Béla Balázs (2003). S. 114: „Joachims Forderung nach der großen Epik, die alles zur Form werden läßt, alle Kontingenz aufhebt, bleibt am Ende bestehen.“ Zum Motiv des Kusses zwischen Sehnsucht und Erfüllung sowie der Unterscheidung zwischen geschlossenen und offen-fragmentarischen Kunstwerken vgl. auch L. Popper: Dialog über Kunst (1906). S. 7–14. Vgl. auch ders.: Brief an Georg Lukács vom 25. 10. 1909. In: G. Lukács: Briefwechsel (1982). S. 82: „Der Sterne-Aufsatz gefällt mir nicht. […] es wird zu viel debattiert über die Art und Weise der Debatte, das stört das Tempo und wirkt jedenfalls nicht erotisch. Später sinkt das Mädchen immer mehr zum Requisit herab […]. Du verstehst, nicht wahr, dass die ganze Liebesform nur dann tief und gut wäre, wenn zu Beginn nur im Namen des coitus geredet und am Ende nur im Namen der Rede coitiert würde.“ Vgl. auch ders.: Brief an Georg Lukács vom 26. 10. 1909. In: ebd. S. 88: „Nur das Mädchen ist fehl am Platz. Denn ganz blutig ernst wäre ihre Präsenz nur, wenn der Kern alles Geredes ein Pro domo fürs Vögeln wäre; wirklich höllisch wäre die Sache, wenn es sich von Fall zu Fall (von Phall zu Phall) herausstellte, dass das Zentrum jeder – der konstruktiven wie der eruptiven – Kunst ‚dort‘ zu suchen sei, und die zwei am Ende ebenso im Namen des Redens vögelten, wie die drei zuvor im Namen des Vögelns redeten.“
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ist; was wissen wir, wohin er führt und was wissen wir von seinem Warum? Doch der Weg selbst ist der Wert, der Weg ist das Glück, der Weg ist schön und gut“.176 – Sie aber, so die szenische Regieanweisung, „drückt durch ihr verklärtes Gesicht ihre Erleichterung aus, dass endlich geschehen ist, wozu die ganze lange Debatte nur eine höchst überflüssige Vorbereitung war, und erwidert seinen Kuß“.177 Hier wird im Disput über offene und geschlossene Kunstwerke das Königreich der Wahrheit/Form gesucht und wenn schon keine biblischen Eselinnen, so doch immerhin das Leben (ein kussbereites Mädchen) gefunden.178 Mit diesem Schluss – dem Kuss – erfährt die essayistische Einheit von Weg und Ziel eine Ironisierung. Der Sterne-Essay reflektiert nicht nur mit dichterischen Mitteln eine Form der Dichtung, die durch essayistische Elemente gekennzeichnet ist, er ist zugleich Selbst- und Metakritik des Autors,179 dessen Leben wie Texte durch die Ambivalenz von essayistischen Wegen und messianischem Ziel – von der ménage à trois bis zur Askese – gezeichnet sind.
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G. Lukács: Reichtum, Chaos und Form (1911). S. 212. Ebd. S. 217. Ders.: Über Wesen und Form des Essays (1911). S. 22. Vgl. hierzu auch Lukács’ Eintragung vom 30. 11. 1911. In: ders.: Tagebuch (1991). S. 49: „Meine Ethik war (das sehe ich heute) ein unbewußter Versuch, aus der Klarheit ein Surrogat für die Realität zu schaffen […]. Jetzt sehe ich das ‚Lukács’-ische‘ in mir: ich sehe es aber als Lebensunfähigkeit […].“
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4. Robert Musil und Georg Lukács oder der Essay als „relative Totale“180 4. Robert Musil und Georg Lukács oder der Essay als „relative Totale“
Die Totallösung wäre die Ruhe Gottes.181 (Robert Musil) So gibt Gott Teillösungen, das sind die schöpferischen Menschen; sie widersprechen einander; wir sind verurteilt, immer wieder daraus eine relative Totale zu bilden, die keinem entspricht!182 (Robert Musil)
Dass Robert Musil Die Seele und die Formen von Georg Lukács gelesen hat, kann nur als wahrscheinlich angenommen, nicht jedoch durch Texte, bibliographische Notizen, Tagebucheintragungen oder Briefstellen, eindeutig belegt werden. Dennoch lassen sich die folgenden Indizien zusammentragen: Oskar Maurus Fontana (1889–1969), der Robert Musil im April 1914 in Berlin kennenlernte, gibt Lukács’ Essaybuch als Musil-Lektüre an.183 Nach dem Ersten Weltkrieg waren Fontana wie auch Musil, Franz Blei und Robert Müller ständige Teilnehmer des sogenannten ‚Mokka-Symposions‘, das montags nachmittags im Wiener Café Central stattfand.184 Nach Auskunft Soma Morgensterns (1890–1976) lernte Musil, der in den zwanziger Jahren in den Kreisen der linken ungarischen Emigranten in Wien verkehrte, Georg Lukács spätestens 1922 über Béla Balázs kennen.185 Franz Theodor
_____________ 180 Es handelt sich bei diesem Kapitel um eine überarbeitete Version von B. Nübel: „Totalität“ und „relative Totale“. Randbemerkungen zu Georg Lukács und Robert Musil. In: Literatur und Leben. Anthropologische Aspekte in der Kultur der Moderne. Hrsg. v. G. Helmes/A. Martin/B. N./G.-M. Schulz. Tübingen 2002. S. 213–233. 181 R. Musil: Der literarische Nachlaß. Hrsg. v. F. Aspektsberger/K. Eibl/ A. Frisé. Reinbek bei Hamburg 1992 (I/1/44). 182 R. Musil: Der Mann ohne Eigenschaften (Nachlass) (MoE II, 1649). 183 M –L. Roth: Robert Musil. Ethik und Ästhetik. Zum theoretischen Werk des Dichters. München 1972. S. 262 gibt an, dass Musil Die Seele und die Formen gekannt habe; vgl. hierzu A. Frisé (TB II, 287): „Sie [M.-L. Roth] vermerkt […]: ‚Dieses Buch wird von Musil in seinem Tagebuch Heft 10: Über Bücher zitiert.‘ Auf eine entsprechende Rückfrage berichtigte sie (29. Oktober 1973): Das Buch von Lukacs [!] ist nicht im Tagebuch 10 vermerkt, sondern wurde mir von Oskar Maurus Fontana als Musillektüre angegeben.‘“ 184 Vgl. O. M. Fontana: Erinnerungen an Robert Musil. In: Robert Musil. Leben, Werk, Wirkung. Hrsg. v. K. Dinklage. Reinbek 1960. S. 326f. 185 K. Corino: Robert Musil. Leben und Werk in Bildern und Texten. Reinbek 1992. S. 266f.; vgl. S. Morgenstern: Über Robert Musil. Aus Briefen an Karl Corino (1973/74). In: ders.: Kritiken, Berichte, Tagebücher. Hrsg. v. I. Schulte. Lüneburg 2001. S. 551ff. sowie ders.: Robert Musil – György Lukács: eine Begegnung. In: Studi Tedeschi. Annali. Sezione Germanica 23 (1980). S. 315–322.
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Csokor datiert die persönliche Bekanntschaft zwischen Musil und Lukács bereits auf die Zeit der von Blei herausgegebenen Zeitschrift Summa (1917/18).186 Béla Balázs, alias Herbert Bauer (1884–1949), dessen schriftstellerische Produktion neben Lyrik, Märchen, Novellen, Dramen, Romanen, Mysterienspielen, Opern- und Ballettlibretti, Dreh- und Kinderbüchern auch Kritiken und Essays umfasst,187 war zu der in Rede stehenden Zeit Theater- und Filmkritiker des Wiener Tag,188 für den auch Robert Musil zahlreiche Artikel geschrieben hat.189 Lukács kannte Balázs, dem er freundschaftlich eng verbunden war,190 bereits aus Budapester Studienzeiten; er hatte gemeinsam mit Lukács 1904 das Thália-Theater, später den ,Sonntagskreis‘ und die Freie Akademie der Geisteswissenschaften gegründet,191 weiterhin Lukács’ Die Metaphysik der Tragödie und den Essay Von der Armut am Geiste sowie weitere Beiträge für die Zeitschrift A Szellem (Der Geist) – eine Art ungarisches Parallelprojekt zu Simmels Logos – ins Deutsche übersetzt. Georg Lukács, der im Dezember 1918 in die Kommunistische Partei Ungarns eingetreten war, fungierte 1919 als Volkskommissar für das Unterrichtswesen in der Räteregierung Béla Kun. Béla Balázs war ihm zugeordnet als Leiter der Theater- und Literaturabteilung im Kommissariat für Kultur- und Volksaufklärung. 1919, nach dem Sturz der Ungarischen Räteregierung, flüchteten beide nach Wien.
_____________ 186 F. T. Csokor: Robert Musil (1880–1942). In: Der Monat 3 (1950). Nr. 25. S. 185–190, hier S. 187: „[…] bildete sich auch sein [Musils] Kreis, zu dem in jener Zeit Georg Lukacz [!] zählte, dessen ‚Theorie des Romanes‘ er schätzte […].“ 187 H. Loewy: Béla Balázs (2003). S. 10 spricht von Balázs’ „Experimentierwut“, die „sich in unterschiedlichen Medien, Gattungen und Genres erprobt.“ 188 Vgl. M. Locatelli: Béla Balázs. Die Physiognomie des Films. Berlin 1999. S. 41: „Balázs schrieb in seiner zweijährigen Tätigkeit als Filmkritiker für ‚Der Tag‘ mehr als zweihundert Rezensionen.“ 189 Schwarze Magie (1923), Der Malsteller (1923), Die Zeit der Sommerpossen (1923), Die Sturmflut auf Sylt (1923), Sittenämter (1923), Wie hilft man Dichtern? (1923), Stilgeneration oder Generationsstil (1924), Unter lauter Dichtern und Denkern (1926), Triëdere! (1926), Eine Geschichte aus drei Jahrhunderten (1927), Geschwindigkeit ist eine Hexerei (1927), Hier ist es schön (1927), Intentismus (Aus einem unveröffentlichten Kunsthandbuch für reichgewordene Leute (1927), Tagebuchblatt (1927), Kunstjubiläum (1928), Heute spricht Alfred Kerr. Ein Porträt des berühmten deutschen Kritikers (1928), Wer hat dich, du schöner Wald …? (1928), Franz Blei – 60 Jahre (1931), Der bedrohte Ödipus (1932). 190 Vgl. F. Fehér: Das Bündnis von Georg Lukács und Béla Balázs (1977). S. 131–177; H. Loewy: Béla Balázs (2003). S. 83ff. und ebd. S. 122 kennzeichnet die Freundschaft zwischen Lukács und Balázs als „Waffenbrüderschaft“. 191 Nach H. Loewy: Béla Balázs (2003). S. 25 sind sich Lukács und Balázs zwar bereits im Umfeld der Thalia begegnet, den Beginn ihre Freundschaft datiert er jedoch erst auf 1908/09.
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Überliefert ist ein Nachmittagstee im Hause Balázs’, zu dem neben Georg Lukács auch Robert Musil und Soma Morgenstern geladen waren.192 Diese – in dieser Besetzung möglicherweise einmalige – Zusammenkunft193 könnte in der Tradition des Budapester ,Sonntagskreises‘ gesehen werden,194 der nach den Vorbildern des Simmel-Seminars und des Weber-Zirkels in Heidelberg195 vom Herbst 1915 (als Lukács aus Heidelberg zum militärischen Hilfsdienst nach Ungarn zurückberufen wurde) bis 1918 (Lukács’ Eintritt in die Kommunistische Partei Ungarn) regelmäßig „jeden Sonntag, meist von 5 Uhr nachmittags bis 5 Uhr früh“196 im Hause Béla Balázs’ zusammenkam.197 Zum engeren Kreis der Teilnehmer gehörten damals u. a. Georg Lukács, Karl Mannheim und Arnold Hauser.198 Der Gastgeber Béla Balázs, der sich in seinem Tagebuch schon damals gegenüber Lukács, dem „Mit-
_____________ 192 S. Morgenstern: Über Robert Musil (1973). S. 551–556; vgl. auch Ferenczy Béni: Könyvekröl. In: Írás és kép [Über Bücher. Schrift und Bild]. Budapest 1961. S. 39–48, hier S. 43. Im Juni 1925 vermittelte der Alban Berg-Schüler Soma Morgenstern den Kontakt zwischen Lukács und T. W. Adorno; vgl. Rolf Wiggershaus: Die Frankfurter Schule. Geschichte. Theorietische Entwicklung. Politische Bedeutung. Frankfurt a. M. 1988; S. 92. 193 Vgl. S. Morgenstern: Über Robert Musil (1973). S. 552: „Wie waren also vier Männer beisammen, drei berühmte und ein völlig Unbekannter: ich.“ Von 1928 bis 1934 war S. Morgenstern – nach eigener Auskunft vermittelt durch T. W. Adorno – Wiener Kulturkorrespondent der Frankfurter Zeitung; vgl. hierzu auch ders.: Brief an Karl Corino vom 12. 4. 1974. S. 558–560 zum Gebrauch des Konjunktivs in Wenn-Sätzen bei Robert Musil und Theodor W. Adorno. 194 Der ‚Wiener Sonntagskreis‘ traf sich bis 1926 in Wien; vgl. hierzu: A. Wessely: Der Diskurs über die Kunst im Sonntagskreis. In: WechselWirkungen. Ungarische Avantgarde in der Weimarer Republik. [Ausstellungskatalog]. Hrsg. v. Hubertus Gaßner. Marburg 1986. S. 541–554, hier S. 544; vgl. die Abbildung „Mitglieder des Sonntagskreises in der Wiener Emigration, 1920“ (ebd. S. 549). 195 Vgl. P. Por: Lukács und sein Sonntagskreis (1984). S. 124 und W. Jung: Georg Lukács. Stuttgart 1989. S. 60. 196 É. Karádi/E. Vezér: Einleitung. In: Georg Lukács, Karl Mannheim und der Sonntagskreis (1985). S. 8. 197 Vgl. auch A. Hauser (zit. nach: ebd. S. 97f.): „[…] man traf sich, gewöhnte sich daran, sich zu treffen, wöchentlich einmal, Sonntag nachmittags, in der Ofner Wohnung des Dichters Béla Balázs’. Die Gruppe bestand fast von Anfang bis Ende aus etwa fünfzehn Leuten und bildete einen literarischen Zirkel, der später den Namen ‚Sonntagskreis’ erhielt. Mittelpunkt des Kreises war von Anfang an selbstverständlich Georg Lukács, und er blieb es.“ Nach Auskunft von É. Fekete/É. Karádi (Hrsg.): Georg Lukács (1981). S. 123 fanden die „Wiener ‚Sonntage‘“ im Atelier Béni Ferenczys statt. 198 Weiterhin gehörten dem Sonntagskreis an: Edith Hajós, Anna Schlamadinger, Julia Láng, Anna Lesznai, Lajos Fülep, Emma Ritoók, Béla Fogasi u. a. vgl. H. Loewy: Béla Balázs (2003). S. 227.
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telpunkt des Kreises“,199 in die Rolle von Goethes Eckermann stilisiert,200 hörte diesem auch bei jenem Nachmittagstee, der uns durch Soma Morgenstern überliefert ist, zu „wie ein Kind einem Märchenerzähler“. Musil aber, so Morgenstern weiter, „hörte zu mit dem Respekt vor dem Erzähler, aber mit kühler Distanz gegen das Erzählte.“201 Diskutiert wurde immerhin Lukács’ „Meinung, daß in Rußland eine Wandzeitung in einer Fabrik wichtiger sei als Literatur“,202 sowie Balázs’ Überlegungen zur „Rolle der Zeit im Film“, die er 1924 in Der sichtbare Mensch oder Die Kultur des Films publizieren wird. Robert Musil wiederum wurde Balázs’ Filmtheorie zum Anlass seines Essays Ansätze zu neuer Ästhetik. Bemerkungen über eine Dramaturgie des Films, der im März 1925 im Neuen Merkur erschien.203 Und Musil empfiehlt dem Herausgeber Efraim Frisch Balázs („bekannter ungarischer Dichter, Emigrant, Autor einer vorzüglichen Filmdramaturgie“) „sehr als Mitarbeiter.204 Auch seinem Freund und „promotion manager“205 Franz Blei (1871–1942) schlägt Musil zu dieser Zeit nicht nur Oskar Maurus Fontana, sondern wiederholt auch Béla Balázs als „vorzüglichen und vielseitigen
_____________ 199 A. Hauser: Im Gespräch mit Georg Lukács (1978). S. 49. 200 Vgl. hierzu auch eine Tagebuchaufzeichnung Béla Balázs’ vom Dezember 1915 (abgedr. in: Georg Lukács, Karl Mannheim und der Sonntagskreis (1985). S. 108): „Man müßte es [d. i. „die Ergebnisse dieser Gespräche notieren“] schon deshalb machen, sagt Gyuri [d. i. Georg Lukács], damit den Leuten nach hundert Jahren der Speichel im Munde zusammenläuft, wie uns, wenn wir an die alten Weimarer Gesellschaften denken. Wie notwendig brauchten wir einen Eckermann oder gar zwei!“ Auf die Rolle Eckermanns hat sich Béla Balázs gegenüber Georg Lukács jedoch nicht beschränkt, beide Simmel-Schüler haben dessen Theorie vom Verhältnis der Geschlechter als Tauschverkehr wohl allzu wörtlich genommen. 201 S. Morgenstern: Über Robert Musil (1973) S. 552; vgl. ebd.: „Aber der Respekt und das Interesse, das Robert Musil für ihn [Georg Lukács] bezeugte, ließ mich vermuten, daß Lukács mehr sein mußte als eben ein Minister einer kommunistischen Regierung.“ 202 Vgl. ebd. S. 552: „‚Sie teilen doch nicht diese Ansicht, Dr. Lukács?‘ fragte in allem Ernst Robert Musil.“ 203 Zu Musils Balázs-Rezeption vgl. A. Rußegger: Kinema mundi. Studien zur Theorie des „Bildes“ bei Robert Musil. Wien [u. a.] 1996. S. 37–95. 204 R. Musil: Brief an Efraim Frisch vom 8. 6. 1924 (BR I, 351); vgl. auch ders.: Brief an den Chefredakteur der Prager Presse Arne Laurin vom 30. 4. 1922. In: ders.: Briefe nach Prag. Hrsg. v. B. Köpplová/K. Krolop. Reinbek bei Hamburg 1971. S. 30, wo Balázs von Musil als „sehr wertvoller Autor“ empfohlen wird. 205 M. G. Hall: Der unbekannte Tausendsassa. Franz Blei und der Etikettenschwindel 1918. In: Jahrbuch der Grillparzer Gesellschaft. 3. F. Bd. 15 (1983). S. 129–141. S. 131.
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Mitarbeiter“ für das Berliner Wochenmagazin Roland vor.206 Für dieses hatte Musil selbst „eine kleine Reiseskizze mit dem Kennwort Koketterie“,207 den ‚feuilletonoiden‘ „Brief Susannens“ verfasst, von dessen Form – einer Mittellage „zwischen Plauderei und ernster Ironie“ – er behauptet, „[s]eine ganze Essayistik und auch Teile des Romans“ bringen zu können.208 Die Zusammenarbeit und Freundschaft von Franz Blei und Robert Musil lässt sich bis auf das Jahr 1908 zurückverfolgen.209 Damals hatte Franz Blei als Herausgeber des renommierten Hyperion210 Musils Erzählung Das verzauberte Haus veröffentlicht.211 An eben diesen Franz Blei wendet sich nun auch Georg Lukács im Dezember 1910 mit der Bitte, den bislang nur in ungarischer Sprache vorliegenden Sammelband Die Seele und die Formen im Hyperion-Verlag zu veröffentlichen: „Es ist also ein Buch; keine ‚Sammlung‘ von Essays. Es soll aber zugleich ein Essay-Buch sein; der Zusammenhang, die Einheit soll bloß immanent sein; die Oberfläche kann und soll willkürlich, ja selbst manchmal widerspruchsvoll erscheinen.“212
_____________ 206 R. Musil: Briefe an Franz Blei vom 19. 2. 1925 (BR I, 378) sowie bereits vom 12. 12. 1924 (BR I, 372). In der von Blei herausgegebenen Zeitschrift Roland erschien Balázs’ autobiographischer Essay Junge Armut. In: Roland 23 (1925). S. 12–17, der ausgehend von einer Schilderung des Pariser Bohèmelebens um die Jahrhundertwende die „Armut einer bürgerlichen Jugend“ als Form des Abenteuers (ebd. S. 15f.) beschreibt, welches die Frage nach dem rechten Leben lebt bzw. existentiell erfährt: „Armut heißt, jede Minute fühlbar und bewußt in Gottes Hand leben, und in jeder Sekunde dem ganzen Schicksal gegenüber, mit jeder Lebensfrage, die Frage des Lebens, des überhaupt Weiterlebens stellen.“ 207 R. Musil: Brief an Franz Blei vom 8. 12. 1924 (BR I, 370). 208 Ders.: Brief an Franz Blei vom 12. 12. 1924 (BR I, 371). 209 Vgl. ders.: Brief an Franz Blei vom 12. 4. 1908 (BR I, 53). 210 Hyperion. Eine Zweimonatszeitschrift. München Jg. 1/2 (1908–1910). Hrsg. v. Franz Blei und Carl Sternheim; vgl. G. Eisenhauer: Der Literat. Franz Blei – Ein biographischer Essay. Tübingen 1993. S. 61f.: „Das Konzept hatte er [Franz Blei] mitsamt den besseren Beiträgern von der ‚Insel‘ übernommen. Ziel war es, einem handverlesenen Publikum gemäßigt avantgardistische Literatur in künstlerisch und buchtechnisch anspruchsvollster Weise darzubieten. […] Zu den Mitarbeitern zählten u. a. Musil, Hofmannsthal, Borchardt, Rilke und Heinrich Mann. Texte von André Gide, Paul Claudel, Benedetto Croce, G. K. Chesterton wurden hier – meist von Blei selbst übersetzt – erstmals dem deutschen Publikum vorgestellt.“ 211 Zuvor hatte Franz Blei bereits in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Die Opale (1. 1907. S. 213) Musils Verwirrungen des Zöglings Törleß rezensiert. 212 G. Lukács: Brief an Franz Blei, Ende Dezember 1910. In: ders.: Briefwechsel (1982). S. 190.
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Seine Nachfrage wird von Franz Blei in einem Brief vom 26. Dezember 1910213 abschlägig beschieden. Franz Blei ist nicht mehr Herausgeber des Hyperion und vertröstet Lukács auf sein nächstes Zeitschriftenprojekt.214 Lukács berichtet seinem Freund, Kritiker und Übersetzer Leo Popper: „Blei ist entzückt von meinen Essays, ist aber schon nicht mehr beim Hyperion. Ist das nicht peinlich?“215 Anfang Dezember 1911 sendet Georg Lukács Franz Blei seinen Essay Von der Armut am Geiste zu und dankt diesem für die angekündigte Besprechung seines Essaybuches.216 1912, im ersten Heft von Bleis Zeitschrift Der Lose Vogel,217 in welchem Musil mit insgesamt sieben Beiträgen der häufigst vertretene Autor sein wird, hat Franz Blei den im November 1911 im Berliner FleischelVerlag erschienenen Essayband Die Seele und die Formen unter der Rubrik Bücher, die empfohlen seien rezensiert: „Der Essayist ist ein Vorläufer, ein Wartender, ein Johannes in der Wüste […]. Er wird seine Gattung des ‚intellektuellen Gedichtes‘ behaupten. […] Zu den ganz wenigen Essayisten, die wir in Deutschland besitzen, ist ein vollwertiger neuer gekommen: Georg von Lukásc [!] mit dem Buche ‚Die Seele und die Formen‘“.218 In derselben Sammelbesprechung weist Franz Blei auch auf Robert Musil als Autor der 1911 beim Georg Müller Verlag in München erschienenen Vereinigungen hin.219 Und in Franz Bleis Metakritik der Kritik, den Kritischen Prolegomena (1912) wird unter Berufung auf Lukács’ Metaessay den „kritischen Arbeiten von Robert Musil“ neben „Borchardts Arbeiten oder H. Manns Studie über Flaubert“ die „Einsicht der Notwendigkeit wie Verkündigung einer sich bereitenden Ästhetik“ zugesprochen: „,der Essayist‘, sagt G. v. Lukasc [!], ,ist ein Täufer, der auszieht, um in der Wüste
_____________ 213 An eben diesem Tag werden übrigens Lukács und sein Freund Béla Balázs, der im Winter 1906/07 als Stipendiat Simmels Vorlesungen in Berlin gehört und auch an dessen Privatkolleg für ‚Kunstphilosophie‘ teilgenommen hatte, von Georg Simmel zum Tee geladen; vgl. G. Simmel: Brief an Georg Lukács vom 26. 12. 1910. In: G. Lukács: Briefwechsel (1982). S. 189. 214 F. Blei: Brief an Georg Lukács vom 26. 12. 1910. In: G. Lukács: Briefwechsel (1982). S. 189. 215 G. Lukács: Brief an Leo Popper vom 10. 1. 1911. In: ders.: Briefwechsel. S. 197; Franz Blei hatte 1910 noch den Hyperion-Almanach auf das Jahr 1911 herausgegeben, dessen Erscheinen mit dem Doppelheft 11/12 im März 1910 eingestellt wurde. 216 G. Lukács: Brief an Franz Blei vom 9. 12. 1911. In: ders.: Briefwechsel. S. 261. 217 Der Lose Vogel. Eine Monatsschrift. Hrsg. v. F. Blei. Leipzig. Jg. 1 (1912/13). 12 Hefte. (Buchausgabe. Leipzig 1913). 218 F. Blei: Bücher, die empfohlen seien. In: Der Lose Vogel (1912). H. 1. S. 36f. 219 Ebd. S. 37; vgl. F. T. Csokor: Robert Musil (1950). S. 187, der Franz Blei als Musils „Johannes“ bezeichnen wird: „ein Johannes, der freilich älter als sein Meister war, aber deshalb nicht weniger entbrannt für ihn.“
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zu predigen von einem, der da kommen soll‘. Erst eine Ästhetik“, so Bleis Fortschreibung des Lukács’schen Prätextes, „wird dem Kritiker die Möglichkeit geben, seine Ergebnisse voll zu rechtfertigen und Urteile zu sprechen, gegen die es in der Zeit keine Berufung gibt.“220 Im Frühjahr 1914 entschuldigt sich Lukács, vermutlich auf eine Aufforderung Bleis hin, er sei „zu sehr mit größeren Arbeiten“ – der Ästhetik221 – beschäftigt, „um Essays schreiben zu können“. Gleichzeitig erklärt er sich jedoch dazu bereit, „eventuell einen Anführenden Essay“ über seinen ungarischen Freund Béla Balázs zu verfassen, den er Franz Blei als „einen der bedeutendsten jetzt lebenden Dramatiker“ empfiehlt222 – genau zehn Jahre, bevor wiederum Robert Musil Franz Blei auf den Essayisten und Filmtheoretiker hinweisen wird.223 Zugegeben, all diese Querverbindungen haben keinen Beweis-, sondern allenfalls Indiziencharakter, welche die Annahme, dass Robert Musil Die Seele und die Formen über die beiden ,Verbindungsmänner‘ Béla Balázs und/oder Franz Blei, wenn nicht gar angeregt durch die persönliche Bekanntschaft mit Georg Lukács selbst, kennengelernt hat, plausibel erscheinen lassen. Zugleich wird deutlich, in welchem engen Netzwerk diese Autoren und ihre Texte zueinander stehen. Im Tagebuchheft 10 (1918–1921), das den tintengeschriebenen Vermerk „Über Bücher“ trägt, entwirft Musil eine Reihe von „Aufsatzthemen“ für den Berliner S. Fischer Verlag: u. a. „Kritik oder Aesthetik?“ und „Dichtung – Essay – Philosophie“.224 Hier finden sich auch Anmerkungen und Fragen zum Verhältnis von wissenschaftlicher Ästhetik und den „Grundlagen der literarischen Kritik“:225 „Ist eine wissenschaftliche Ästhetik möglich? […] ist mit wissenschaftlicher Eindeutigkeit festzustellen, ob ein Kunstwerk gut oder schlecht ist?“226 An die Möglichkeit, die Ästhetik wissenschaftlich zu begründen bzw. den „Universalziegel“ zu finden, „aus dem sich das Gebäude der Ästhetik errichten ließe“, scheint Musil nicht geglaubt zu haben. Auch hier gilt die
_____________ 220 F. Blei: Kritische Prolegomena. In: ders.: Vermischte Schriften. Bd. 6: Der Dichter und das Leben. Ein Buch Kritik. München/Leipzig 1912. S. 7–84, hier S. 13f. 221 Vgl. G. Lukacs: Werke. Bd. 16: Frühe Schriften zur Ästhetik I: Heidelberger Philosophie der Kunst (1912–1914). Aus dem Nachlaß hrsg. v. G. Márkus/F. Benseler. Darmstadt/Neuwied 1974. 222 G. Lukács: Brief an Franz Blei vom März 1914. In: ders.: Briefwechsel (1982). S. 333f. 223 Vgl. R. Musil: Brief an Franz Blei vom 12. 12. 1924 (BR I, 372) und vom 19. 2. 1925 (BR I, 378). 224 R. Musil: Tagebücher. Heft 10 (1918–1921) (TB I, 471); vgl. ebd. S. 459. 225 Ebd. S. 445f. 226 Ebd. S. 447.
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wissenschaftstheoretische Grundannahme: Kunst als zentraler Gegenstandsbereich der Ästhetik lässt sich nicht in ihrem Wesen bzw. auf der Basis von Universalien begründen, sondern nur als Funktion: „Für uns ist Kunst das, was wir unter diesem Namen vorfinden. Etwas, das ist und gar nicht nach Gesetzen zu sein braucht, ein kompliziertes soziales Produkt.“227 Musil entscheidet sich also hier ganz pragmatisch gegen das messianische Ideal einer grundlegenden Ästhetik und für das johannitische Täufermodell des Essays: „Die Streitfrage, ob die Ästhetik Werte setzen kann oder nur deskriptiv sein soll, liegt für uns in der Ferne. Kritik soll Werte setzen und Wertvolles von Wertlosem unterscheiden lehren.“228 Der von Musil geplante Essayband ist nicht erschienen. Es gibt keinen expliziten Hinweis auf Name, Person oder Werk Georg Lukács’ bei Musil. Auch eine der Naphta-Figur in Thomas Manns Zauberberg-Roman vergleichbare Figur hat Robert Musil nicht geschaffen. Georg Lukács dagegen setzt sich im ersten Teil seiner Ästhetik von 1963 explizit mit Musils Unterscheidung zwischen dem bloß Philosophisch-Fesselnden des modernen Romans gegenüber der dichterischspannenden Wirkung des realistisch-humoristischen Romans auseinander229 und deutet diese wirkungsästhetische Verschiebung des „Herausfallen[s] aus dem Ästhetischen in die Wirkungen des Essayistischen“230 als „Gefahr“, welcher ein großer Teil der zeitgenössischen Epik unterliege:231 Am Beispiel Musils und im Rückgriff auf die Dichotomie ‚klassisch‘ vs. ‚romantisch‘ wird der moderne philosophisch-essayistische Roman vom
_____________ 227 Ebd. S. 449. 228 Ebd. S. 446; hier liegt für Musil auch der Unterschied zwischen Kritik und Literaturgeschichte, vgl. ebd. S. 450: „Die Literaturgeschichte sucht alles zu verstehn und abzuleiten. Wir aber müssen versuchen zu Bewertungen zu kommen.“ 229 Vgl. R. Musil: Tagebücher. Heft 3 (1899–1905/06): „Zur Technik: Etwas das ältere Romanschreiber gut konnten, haben wir heute fast ganz verlernt: Spannen! / Wir fesseln nur unsere Hörer. Das heißt wir suchen geistreich zu schreiben und langweilige Stellen zu vermeiden. Wir ziehen auf allen Wegen den Hörer mit. / Spannen heißt aber den Hörer das Kommende erwarten machen. Ihn mit denken lassen, ihn auf dem gezeigten Weg allein gehen lassen. Ein gewisses Gefühl der Behaglichkeit, mit dabei zu sein. Der humoristische Roman lebt von diesem Gefühle. Man deutet eine kommende Situation an u. der Gedanke entsteht: was wird dann unser guter X. jetzt wieder machen? / Es erfordert viel Kleinmalerei in den Typen. Aber so antiquiert es aussieht, so ist es doch ein Stück künstlerischer Wirkung im Gegensatz zu den Wirkungen des Philosophen und Essayisten.“ (TB I, 99f.) Diese Stelle wird von Lukács (Werke. Bd. 11: Ästhetik I: Die Eigenart des Ästhetischen. 1. Halbbd. Neuwied/Berlin 1963. S. 695) als „selbstkritische Anmerkung“ komplett zitiert. 230 G. Lukács: Werke. Bd. 11: Die Eigenart des Ästhetischen (1963). 1. Halbbd. S. 726. 231 Ebd. Bd. 12. 2. Halbbd. S. 191.
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realistischen Roman negativ abgehoben: „Das Erreichen des Musilschen Fesselns könnte also bestenfalls eine Permanenz der Interessiertheit erzielen, nicht die evokative Kontinuität der echt künstlerischen Wirkung.“232 Musil unterscheide sich allerdings, so Lukács, „von der Mehrzahl der avantgardistischen Schriftsteller durch eine oft unerschrockene Aufrichtigkeit der eigenen Persönlichkeit und der eigenen Produktion gegenüber vorteilhaft“.233 Und als Beleg wird wiederum eine Arbeitsnotiz Musils angeführt, die zugleich auf den archimedischen Punkt der Lukács’schen Musil-Kritik verweist: „Zarathustra der Einsame in den Bergen widerspricht irgendwie meiner Gesinnung. Wie muß man sich aber stellen, um in einer Welt fertig zu werden, die keinen festen Punkt hat? Ich begreife sie nicht, das ist es.“234 Das Konzept von Perspektivität (im Sinne von Relationismus) ist von dem der Perspektive (im Sinne von Tendenz) nicht assimilierbar. In seinem Essay Der Totentanz der Weltanschauungen (1933), dem Lukács das Musil-Zitat „Von allem, was wir sagen, stimmt überhaupt nichts!“ voranstellt, liest er die beiden vorliegenden Bücher von Der Mann ohne Eigenschaften (1930/32) als „ein Paradigma für die […] Ideologie der intellektuellen Elite Deutschlands“.235 Auch hier hebt Lukács zunächst lobend hervor, dass Musil „keinerlei Konzessionen an den Geschmack des breiten Publikums, an die herrschenden Modeströmungen“ mache; vielmehr schreibe dieser „einen an den Klassikern geschulten klaren, einfachen, ausbalancierten, trotz großer Anschaulichkeit seiner Bilder und Beschreibungen beinahe wissenschaftlich durchsichtigen Stil.“ Musil sei „ein genauer Experimentator, ein rationalisierender Ingenieur für die verfeinerten seelischen Regungen der intellektuellen Elite der Gegenwart.“236 Lukács lobt die „stellenweise glänzende Satire“,237 wirft Musil jedoch zugleich die Immanenz seiner Ideologiekritik vor:238 „Denn Musil scheint geistig über allen seinen Gestalten zu stehen.
_____________ 232 Ebd. Bd. 11. 1. Halbbd. S. 726. 233 Ebd. S. 788. 234 Ebd.; vgl. R. Musil: Tagebücher. Heft 28 (1928–1930). Lukács zitiert nach der Ausgabe R. Musil: Tagebücher, Aphorismen, Essays und Reden (1953); die Textstelle steht in der Ausgabe der Tagebücher von 1983 unter der Überschrift Dünkelshausen oder Zeitgenosse und endet mit einem Ausrufezeichen. 235 G. Lukács: Totentanz der Weltanschauungen (1933). In: Helikon. Sondernummer: Literatur und Literaturgeschichte in Österreich. Hrsg. v. I. T. Erdély. Budapest/Wien 1979. S. 297. 236 Ebd. 237 Ebd. S. 300. 238 Ebd. S. 298; vgl. auch G. Müller: Ideologiekritik und Metasprache in Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“. München/Salzburg 1972 und H. Böhme:
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Er ist imstande, jeder Weltanschauungsnuance der heutigen bürgerlichen Intelligenz ihren gedanklichen wie gefühlsmäßig höchsten Ausdruck zu verleihen“.239 Jedoch bleibe der Autor wie sein Held, den Lukács als „sehr weitgehend mit ihm identisch“ betrachtet, „in einem all-relativistischen, radikal-skeptischen Schwebezustand.“240 Die „,kosmische Tragödie‘ der Gegenwart“, die Musil in seinem Roman darstelle, sei „objektiv zu einem [!] intellektuellen Jazz-Band des Grand Hotel ‚Abgrund‘ geworden“.241 Musils Ironie sei daher auch nur „der Witz eines mitten in der Sache drinn [!] Stehenden, eines Menschen, dessen Horizont ebenfalls nicht weiter reicht, als der von ihm Verspotteten.“242 In der Theorie des Romans (1916/20), die laut Lukács’ Selbstauskunft im Vorwort von 1962 aus „einer Stimmung der permanenten Verzweiflung über den Weltzustand“ zu Beginn des Ersten Weltkrieges hervorgegangen ist,243 also jenem „,Zeitalter der vollendeten Sündhaftigkeit‘“ entstammt,244 welche sowohl „Grundidee“ wie Zielgerade des Musil’schen Romans ausmacht,245 hat Lukács das selbstreflexive wie selbstrelativierende IronieKonzept, das auch dem Mann ohne Eigenschaften zugrunde liegt, noch positiv bestimmt. Dort definiert er nämlich in Anlehnung an die Frühromantiker die Ironie als „Selbsterkenntnis und […] Selbstaufhebung der Subjektivität“ bzw. „Selbstkorrektur der Brüchigkeit: […] wo alles von vielen Seiten gesehen wird.“ Das Subjekt der Erkenntnis (der Autor) sei „geradeso ein empirisches, also weltbefangenes und in der Innerlichkeit beschränktes“ wie seine Objekte. Dieses perspektivische „Durchschauen“ erblicke und gestalte „eine einheitliche Welt“, lasse aber gleichzeitig „die
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239 240 241 242 243 244
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Anomie und Entfremdung. Literatursoziologische Untersuchungen zu den Essays Robert Musils und seinem Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“. Kronberg/Ts. 1974. G. Lukács: Totentanz der Weltanschauungen (1933). S. 301. Ebd. S. 299. Ebd. S. 305. Ebd. S. 302. G. Lukács: Vorwort (1962). In: ders.: Die Theorie des Romans (1916/20). S. 6.; Lukács gehörte im Gegensatz zu Georg Simmel, Béla Balázs u. a. zu den wenigen entschiedenen Kriegsgegnern. Vgl. ebd. S. 12; es handelt sich hier um ein markiertes Fichte-Zitat; vgl. ebd. S. 5f. zur ursprünglichen Novellenkonzeption des ‚großen Essays‘ über den Roman: „Ursprünglich sollte daraus eine Kette von Dialogen werden: eine Gruppe junger Leute zieht sich vor der Kriegspsychose ihrer Umgebung ebenso zurück wie der Novellenerzähler im ‚Dekameron‘ vor der Pest; sie führen Gespräche der Selbstverständigung, die allmählich zu den im Buch behandelten Problemen, zu dem Ausblick auf eine Dostojewskijsche Welt überleiten.“ R. Musil: Der Mann ohne Eigenschaften (Nachlass): „Grundidee: Krieg. Alle Linien münden in den Krieg.“ (MoE II, 1851)
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Zweiheit der Welt“ bestehen. Hierdurch aber, so die Folgerung Lukács, werde „der Ironie jede kalte und abstrakte Überlegenheit“ genommen.246 Auch das Problem einer zunehmenden ‚Essayfizierung‘ des modernen Romans hat Lukács bereits in der Theorie des Romans (1916/20) benannt. Die „Strukturdifferenz“ zwischen Narration („homogen-organische Stetigkeit“) und Reflexion („heterogen-kontingente[s] Diskretum“)247 resultiere aus der „romantischen Anforderung an den Roman, daß er alle Formen in sich vereinigend reine Lyrik und reinen Gedanken“, also „an und für sich teils der Epik, teils der Dichtung überhaupt wesensfremder Elemente“, „in seinen Aufbau aufnehmen soll“:248 „Die Komposition des Romans ist ein paradoxes Verschmelzen heterogener und diskreter Bestandteile zu einer immer wieder gekündigten Organik.“249 Als Gegengewichte zur Sprengung des „homogen-organischen“ Romanganzen (Narration) durch ein „heterogen-kontingente[s] Diskretum“250 (Reflexion) gibt Lukács zum einen die biographische Romanform251 und zum anderen die „ethische Selbstkorrektur“ der Ironie an.252 Die Ironie des Dichters ist dabei, so Lukács, eine „doppelte“:253 sie reflektiert das dargestellte Schicksal und verdoppelt sich, indem ihr diese Reflexion „nochmals zum Gegenstand des Nachdenkens“ wird. „Die Naivität des Dichters“ aber werde durch „das freischwebende Gleichgewicht von einander aufhebenden Reflexionen“ „vergewaltigt“ und in einer „zweite[n] Naivität“, der „Objektivität des Romandichters“ aufgehoben. Ausdruck der Vergewaltigung des naiven Erzählens durch das sentimentale „Reflektierenmüssen ist die tiefste Melancholie“: „die zweite Naivität, die Objektivität des Romandichters: sie ermöglicht die Gestaltung und schließt die Form, aber die Art des Schließens selbst weist mit beredter Gebäurde [!] auf das Opfer hin, das gebracht werden mußte“. Die Narration, die ‚erste Naivität‘ des Dichters ist hier das „Opfer“, „das ewig verlorene Paradies, das gesucht und nicht gefunden wurde“, das mit dem Sündenfall der Erkenntnis (Reflexion) verlassen werden musste. Der mo-
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G. Lukács: Die Theorie des Romans (1916/20). S. 64f. Ebd. Ebd. S. 69. Ebd. S. 73. Ebd. S. 65. Ebd. S. 70. Ebd. S. 73; vgl. hierzu G. Lukács: Notizen zum geplanten Dostojewski-Buch (191417). S. 195: „Zweite Ethik als Wirklichkeit: bei D.[ostojewski] als Leben (lebendiges Leben). […] – In der deutschen Romantik als Gedanke: Ironie.“ 253 G. Lukács: Die Theorie des Romans (1916/20). S. 73.
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derne Mensch ist ein heimatloser, zum „Reflektierenmüssen“254 verdammter Sentimentaler. Allein die Ironie des Dichters als „negative Mystik der gottlosen Zeiten“ oder, in einer anderen Formulierung Lukács’, „docta ignorantia dem Sinn gegenüber“, verbürgt die „Objektivität des Romans“.255 Ähnliche Überlegungen zur Funktion der Ironie finden wir – sicherlich auch über die durch Ricarda Huch vermittelte Rezeption der Frühromantiker – bei Robert Musil.256 Die Ironie des modernen Autors, welcher im Gegensatz zu jenen Musil’schen Ingenieuren257 zum Reflektierenmüssen verdammt und somit gezwungen ist, „seine Welterkenntnis auf sich selbst anzuwenden“,258 enthält, so heißt es in einer Tagebuchnotiz zu Der Mann ohne Eigenschaften, ,„etwas Leidendes […]. (Sonst ist sie Besserwisserei) Feindschaft u[nd] Mitgefühl“.259 Gegenüber der bloß subjektivfeindlichen Ironie, dem Spott oder Bespötteln bezieht die „konstruktive Ironie“, so Musil, den Autor mit in ihre Darstellung ein.260 In einem am 30. April 1926 in Die literarische Welt abgedruckten Interview Was arbeiten Sie? antwortet Robert Musil auf eine Frage Oskar Maurus Fontanas, ob er das Essayistische in seinem Roman, damals noch mit dem Arbeitstitel „Die Zwillingsschwester“ versehen,261 nicht fürchte: „Ich fürchte es schon. Ebendarum habe ich es durch zwei Mittel bekämpft. Zuerst durch eine ironische Grundhaltung, wobei ich Wert darauf lege,
_____________ 254 Ebd. S. 74. 255 Ebd. S. 79. 256 Zu den Formen und Funktionen der Ironie bei R. Musil vgl. B. Allemann: Ironie als literarisches Prinzip. In: ders.: Ironie und Dichtung. Sechs Essays. Pfullingen 1956. S. 11–39; P.-A. Alt: Ironie und Krise. Ironisches Erzählen als Form ästhetischer Wahrnehmung in Thomas Manns „Der Zauberberg“ und Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“. Frankfurt a. M. [u. a.] 1985; G. Brokoph-Mauch (Hrsg.): Robert Musil. Essayismus und Ironie. Tübingen 1992; vgl. auch R. D. Precht: Die gleitende Logik der Seele. Ästhetische Selbstreflexion in Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“. Stuttgart 1996. S. 189, der von „Musils ‚Ironie der différance‘“ spricht. 257 R. Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. 1. Buch (1930): „[…] aber den Vorschlag, die Kühnheit ihrer Gedanken statt auf ihre Maschinen auf sich selbst anzuwenden, würden sie ähnlich empfunden haben wie die Zumutung, von einem Hammer den widernatürlichen Gebrauch eines Mörders zu machen.“ (MoE I, 38). 258 G. Lukács: Die Theorie des Romans (1916/20). S. 65. 259 R. Musil: Tagebücher. Heft 32 (1939–1941) (TB I, 973). 260 Ders.: Vermächtnis. Notizen. In: ders.: Der Mann ohne Eigenschaften (Nachlass): „Ironie ist: einen Klerikalen so darzustellen, daß neben ihm auch ein Bolschewik getroffen ist. Einen Trottel so darstellen, daß der Autor plötzlich fühlt: das bin ich ja zum Teil selbst. Diese Art Ironie die konstruktive Ironie ist im heutigen Deutschl.[and] ziemlich unbekannt. Es ist der Zusammenhang der Dinge, aus dem sie nackt hervorgeht. Man hält Ironie für Spott u. Bespötteln.“ (MoE II, 1939) 261 O. M. Fontana: Was arbeiten Sie? Gespräch mit Robert Musil (1926) (GW II, 939).
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daß mir Ironie nicht eine Geste der Überlegenheit ist, sondern eine Form des Kampfes. Zweitens habe ich meiner Meinung nach allem Essayistischen gegenüber ein Gegengewicht in der Herausarbeitung lebendiger Szenen, phantastischer Leidenschaftlichkeit.“262 Georg Lukács hatte in Die Theorie des Romans als Gegengewicht zum Essayistischen neben der ironischen im Sinne einer ethisch-reflektierten Selbstkorrektur263 die biographische Form angegeben.264 Durch diese werde innerhalb des modernen Romans, der von Lukács als „Ausdruck der transzendentalen Obdachlosigkeit“ beschrieben wird,265 „paradoxerweise“ ein „vollendetes und immanent sinnvolles Leben“ gestaltet: „das Leben des problematischen Individuums.“266 Nun ließe sich Der Mann ohne Eigenschaften – wenn auch nicht hinreichend – durchaus als „Wanderung des problematischen Individuums zu sich selbst“ beschreiben.267 Auch wenn im Heimweg-Kapitel sowohl in erkenntnistheoretischer wie erzähltechnischer Hinsicht angezweifelt wird, dass die herkömmliche biographische Form und somit „die Entwicklung eines Menschen der Faden ist, auf den die ganze Welt aufgeknüpft und durch den sie abgerollt wird“.268 Durch die Ulrich-Figur als „Repräsentant jenes Systems von Ideen und erlebten Idealen […], das die Innen- und Außenwelt des Romans regulativ bestimmt“,269 wird „der Umfang der
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Ebd. S. 941. G. Lukács: Die Theorie des Romans (1916/20). S. 73. Ebd. S. 67. Ebd. S. 32. Ebd. S. 67; vgl. W. Schraml: Relativismus und Anthropologie. Studien zum Werk Robert Musils und zur Literatur der 20er Jahre. München 1994. S. 48: „Ulrichs Überzeugung, ‚daß nur eine Frage das Denken wirklich lohne, und das sei die des rechten Lebens‘ (MoE 255), stellt ihn in eine Reihe mit anderen Helden des modernen Romans, die, wie Georg Lukács gleichzeitig mit Musil definierte, als ‚problematische Individuen‘ bereits im Bewußtsein einer ,transzendentalen Obdachlosigkeit‘ leben und trotzdem danach streben, ein ‚vollendetes und immanent sinnvolles Leben‘ zu führen.“ Anzumerken bleibt, dass Lukács Die Theorie des Romans zwar erst 1920 in Buchform veröffentlicht, jedoch bereits 1914/15 niedergeschrieben hatte. Von einer ‚Gleichzeitigkeit‘ kann daher nur bedingt, und zwar auf der Ebene der erzählten Romanzeit, die Rede sein. Zudem streben nicht die problematischen Individuen unmittelbar nach einem „vollendete[n] und immanent sinnvolle[n] Leben“, sondern dieses wird nach Lukács erst durch die biographische Form konstituiert bzw. ‚vermittelt‘. 267 G. Lukács: Die Theorie des Romans (1916/20). S. 70. 268 Ebd. S. 71; vgl. R. Musil: Der Mann ohne Eigenschaften (1930): „Und Ulrich bemerkte nun, daß ihm dieses primitiv Epische abhanden gekommen sei, woran das private Leben noch festhält, obgleich öffentlich alles schon unerzählerisch geworden ist und nicht einem ‚Faden‘ mehr folgt, sondern sich in einer unendlich verwobenen Fläche ausbreitet.“ (MoE I, 650) 269 G. Lukács: Die Theorie des Romans (1916/20). S. 71.
4. Robert Musil und Georg Lukács oder der Essay als „relative Totale“
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Welt durch den Umfang der möglichen Erlebnisse des Helden begrenzt und ihre Masse durch die Richtung, die sein Werdegang auf das Finden des Lebenssinnes in der Selbsterkenntnis nimmt, organisiert“.270 Auch ist Ulrich, der als Ingenieur und Mathematiker jahrelang versucht hat, gemäß der „Utopie des exakten Lebens“ zu leben,271 ein ,Suchender‘ im Lukács’schen Sinne:272 „Wann immer man ihn bei der Abfassung mathematischer und mathematisch-logischer Abhandlungen oder bei der Beschäftigung mit den Naturwissenschaften gefragt haben würde, welches Ziel ihm vorschwebte, so würde er geantwortet haben, daß nur eine Frage das Denken wirklich lohne, und das sei die des rechten Lebens.“273 Diese lebensphilosophische Hauptfrage einer „Ethik als Reflexionstheorie der Moral“274 findet sich auch beim frühen Lukács in den Notizen und Entwürfen zum geplanten Dostojewski-Buch, die in den ersten theoretischen Teil der Theorie des Romans eingegangen sind.275 Es handelt sich um stichwortartige Überlegungen zu einer „Geschichtsphilosophie der 2-ten Ethik“.276 Gegenüber der „1-ten Ethik (wo alles geregelt ist)“277 hat die „Luciferische Ethik“278 „keine engeren Inhalte […]. Alles muß zerschlagen werden.“279 Die Wirklichkeit der 2-ten Ethik erscheine bei Dostojewski, dessen Romanwelt von Lukács als „Chaos des ethischen Solipsismus“ beschrieben wird, als „lebendiges Leben“ und in der deutschen Romantik als Ironie-Gedanke.280 Ironie wird hier noch als eine Art Metaethik verstanden, die weder auf das Werk (wie in Von der Armut am Geiste) noch auf eine Ethik der normativen Objektivität bzw. Totalität der Ideen (wie in der Theorie des Romans) verengt ist, sondern vielmehr als Reflexion und
_____________ 270 Ebd. S. 70f. 271 R. Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. 1. Buch (1930) (MoE I, 244); vgl. G. Lukács: Die Theorie des Romans (1916/20). S. 21: „Die Philosophie als Lebensform“ ist „immer ein Symptom des Risses zwischen Innen und Außen, ein Zeichen der Wesensverschiedenheit von Ich und Welt, der Inkongruenz von Seele und Tat.“ 272 G. Lukács: Die Theorie des Romans (1916/20). S. 51. 273 R. Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. 1. Buch (1930) (MoE I, 255). 274 Vgl. N. Luhmann: Ethik als Reflexionstheorie der Moral. In: ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Bd. 3: Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1989. S. 358–449. 275 Vgl. G. Lukács: Brief an Paul Ernst vom 2. 8. 1915. In: ders.: Briefwechsel (1982). S. 357. 276 Ders.: Notizen zum geplanten Dostojewski-Buch (1914–1917). S. 193. 277 Ebd. S. 196. 278 Ebd. S. 202. 279 Ebd. S. 193. 280 Ebd. S. 195.
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V. Georg Lukács oder Essayismus als Form des modernen Intellektualismus
Kritik einer Moral der 1-ten Ethik. Es ist der Versuch „die Frage: wie kann und muß man heute leben?“281 zu beantworten. Wir halten fest: beide, Lukács wie Musil, schreiben der Ironie sowohl selbst- wie metareflexive Qualitäten zu. Bei Lukács finden sich Formulierungen, die an Bachtins Polyphonie des modernen Romans erinnern, die dieser wiederum auch am Beispiel der Romane Dostojewskis entwickelt hat: „das freischwebende Gleichgewicht von einander aufhebenden Reflexionen“,282 der essayistisch-fragmentarische sowie multiperspektivische Charakter des Romans, die „Brüchigkeit: […] wo alles von vielen Seiten gesehen wird“ etc.283 Allerdings werden diese ‚polyphonen‘ Momente bei Lukács von der „normative[n] Objektivität“ des Autors und der „normativen Gesinnung des Romans“284 aufgehoben, die neukantianisch aus einem „die Totalität konstituierende[n] System der regulativen Ideen“ hergeleitet wird.285 In der Theorie des Romans bestimmt Lukács bekanntlich den modernen Roman als „die Epopöe eines Zeitalters, für das die extensive Totalität des Lebens nicht mehr sinnfällig gegeben ist, für das die Lebensimmanenz des Sinnes zum Problem geworden ist, und das dennoch die Gesinnung zur Totalität hat.“286 Musil möchte dagegen mit seinem Roman „Beiträge zur geistigen Bewältigung der Welt geben.“287 Dem metaphysischen Konzept von ‚Erlösung‘ steht das der mathematischen ‚Lösung‘ (im Sinne der Wahrscheinlichkeitsrechnung) entgegen.288 Als Teil- bzw. Partiallösung vermag
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Ders.: Zur romantischen Lebensphilosophie (1911). S. 69. Ders.: Die Theorie des Romans (1916/20). S. 74. Ebd. S. 65. Ebd. S. 73. Ebd. S. 69; in Über Wesen und Form des Essays (1911). S. 28f. argumentiert Lukács dagegen auf platonistischer Grundlage: „Die Idee ist der Maßstab alles Seienden“, „der Kritiker“ offenbare „‚bei Gelegenheit‘ von etwas Geschaffenem dessen Idee“ und ebd.: „nur durch die richtende Kraft der geschauten Idee rettet er [der Essayist] sich aus dem Relativen und Wesenlosen […].“ Vgl. auch C. Schneider: Essay, Moral. Utopie (1979), der Lukács’ Essaybuch als „Synthese von Kantianismus und Lebensphilosophie“ (ebd. S. 67) Simmel’scher und Dilthey’scher Prägung (ebd. S. 93) liest. 286 G. Lukács: Die Theorie des Romans (1916/20). S. 47. 287 O. M. Fontana: Was arbeiten Sie? Gespräch mit Robert Musil (1926) (GW II, 942). 288 Vgl. R. Musil: Der Mann ohne Eigenschaften 1. Buch (1930): „Er [Ulrich] hätte etwa sagen wollen: Gott meint die Welt keineswegs wörtlich; sie ist ein Bild, eine Analogie, eine Redewendung […]. Wir dürfen ihn nicht beim Wort nehmen, wir müssen selbst die Lösung herausbekommen, die er uns aufgibt. […] / Aber er hatte noch etwas anderes auf der Zunge gehabt; etwas von mathematischen Aufgaben, die keine allgemeine Lösung zulassen, wohl aber Einzellösungen, durch deren Kombination man sich der allgemeinen Lösung nähert. […] würde dann ungefähr so viel bedeuten wie ein planloses Nacheinander von ungenügenden und einzeln genommen falschen Lö-
4. Robert Musil und Georg Lukács oder der Essay als „relative Totale“
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letztere – Musil wählt hier eine filmtechnische bzw. perspektivische Kategorie – allenfalls eine „relative Totale“, nicht jedoch eine ontologische Totalität im Sinne Lukács’ zu bilden: „Es gibt in der Mathematik Aufgaben, welche keine allgemeine, sondern nur fallweise Lösungen zulassen. Aber unter bestimmten Bedingungen werden diese Lösungen zu relativen Teillösungen zusammengefaßt: So gibt Gott Teillösungen, das sind die schöpferischen Menschen; sie widersprechen einander; wir sind verurteilt, immer wieder daraus eine relative Totale zu bilden, die keinem entspricht!“ 289
_____________ sungsversuchen, aus denen, erst wenn die Menschheit sie zusammenzufassen verstünde, die richtige und totale Lösung hervorgehen könnte.“ (MoE I, 357f.) 289 Ders.: Der Mann ohne Eigenschaften (Nachlass): (MoE II, 1659); vgl. ebd. S. 1481: „Diese Welt ist nur einer von … Versuchen. Gott gibt Teillösungen, d.[as] s.[ind] die schöpferischen Menschen, sie widersprechen einander, die Welt bildet daraus immer wieder eine relative Totale, die keiner Lösung entspricht.“ (MoE II, 1481; Hervorhebung v. B. N.). Die Abweichung zwischen den Subjekten ‚Welt‘ und ‚Menschen‘ entspricht der Unterscheidung zwischen dem Essayismus der Weltgeschichte und dem bewußten menschlichen Essayismus in ders.: Der Mann ohne Eigenschaften. 1. Buch (1930) (MoE I, 251).
VI. Robert Musil oder Essayismus als andere Vernunft 1. „Essayistisches Denken“ als Fortsetzung der Wissenschaft mit anderen Mitteln 1. „Essayistisches Denken“ als Fortsetzung der Wissenschaft mit anderen Mitteln
Das Ziel des wissenschaftlichen Denkens ist das eindeutige Aussprechen und Verknüpfen von Tatsächlichen. […] Das essayistische Denken darf kein Gegensatz dazu, sondern soll eine Fortsetzung sein.1 (Robert Musil)
Der naturwissenschaftliche Verstand mit seinem strengen Gewissen, seiner Vorurteilslosigkeit und Entschlossenheit, jedes Ergebnis von neuem in Frage zu stellen, sobald der geringste geistige Vorteil dadurch möglich ist, tut auf einem Interessengebiet zweiten Ranges das, was wir in den Fragen des Lebens tun sollten.2 (Robert Musil)
Robert Musil hat parallel zu seiner im engeren Sinne literarischen Produktion, also seit seinem Studium des Maschinenbaus an der Technischen Hochschule in Brünn3 bis in die Mitte der dreißiger Jahre, stets Essays und Kritiken geschrieben. Neben den zu Lebzeiten publizierten Texten liegen uns zahlreiche Fragmente vor. Im Roman Der Mann ohne Eigenschaften (1930/32) wird nicht nur ein essayistisches Lebensprogramm auf der Figurenebene, sondern auch eine essayistische Romankomposition entworfen, die sich schließlich inhaltlich wie formal in Rapiale auflöst.4 Von
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Vgl. R. Musil: Essaybücher. In: Die Neue Rundschau, September 1913 (GW II, 1450– 1457, hier 1450f.). Ders.: Politisches Bekenntnis eines jungen Mannes. Ein Fragment. In: Die Weißen Blätter, November 1913 (GW II, 1009–1015, hier 1011). Vgl. G. Donath: Aus Robert Musils Jugendzeit. In: Neue Zürcher Zeitung Nr. 253, 31. Oktober 1980. S. 38: „Gleichzeitig [um 1900] zogen uns alle und auch ihn [Musil] die literarischen Ereignisse, die ‚moderne Literatur‘, mächtig an und bewogen ihn zu eigener schriftstellerischer Tätigkeit. Es ist damals eine Folge kurzgefasster Essays entstanden. Ich weiss nicht, ob sie erhalten geblieben sind. Während der nachmittäglichen Siestastunden las er mir die jeweils entstandenen vor. Lyrisch subtile Stimmungen, schon durchsetzt von psychologischen Seitenblicken, waren da eingefangen.“ Die Aus einem Rapial benannte dritte Aphorismen-Sammlung Musils wurde 1937 im Bermann-Fischer-Jahrbuch Die Rappen veröffentlicht; zuvor waren bereits die Notizen
1. „Essayistisches Denken“ als Fortsetzung der Wissenschaft mit anderen Mitteln
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Anfang an ist die literarische Tätigkeit untrennbar verbunden mit einer theoretischen Auseinandersetzung mit der Gattung Essay im Besonderen wie dem Phänomen des Essayismus im Allgemeinen. Dennoch versucht Robert Musil immer wieder, zwischen seiner dichterisch-literarischen Arbeit einerseits und der Produktion und Vermarktung seiner Essays im Dienste des Broterwerbs andererseits zu unterscheiden. Er versteht sich weder als Essayist noch als Philosoph, sondern als Dichter – allerdings als ein Dichter, „der kein Dichter ist“.5 Obgleich Reflexionen über den Essay als Gattung, über das Essayistische als objektives Zeitsymptom, subjektive Lebenshaltung sowie moderne Erkenntnismethode und Schreibpraxis sein gesamtes Schaffen durchziehen, hat Musil keine eigenständige Essaytheorie entwickelt. Wir sind auch hier auf Fragmente, Bruchstücke aus den Essays sowie den Romantorso6 angewiesen. Dabei kann es nicht darum gehen, der „alten Statue, der die Nase fehlt“, vorschnell „eine aus neuem Marmor auf[zu]setzen“.7 Noch soll das Verfahren jenes Literaturgeologen aus dem Essay Über Robert Musil’s Bücher (1913) Anwendung finden, der im Musil’schen Großhirn „mit seinem Hämmerchen ein Stück Gehirn ausbrach, es auf der Hand zermahlte, ernsthaft anblickte und dann wegblies“.8 Die einzelnen Teile können weder zu einem Ganzen zusammengestückelt noch einfach weg-
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(1935) in der Basler Nationalzeitung und Allerhand Fragliches (1936) in Der Tag (Wien) erschienen (vgl. GW II, 1774ff.). Die auf einer öffentlichen Lesung seiner Aphorismen ungestellt gebliebene Frage „Was ist ein Rapial?“ beantwortet Musil in einer Nachlassnotiz ausführlich mit „Konzept- oder Schmierbuch“, „Kladde“, „Klütterbuch“ (GW II, 935); vgl. auch ders. zur „geeignetste[n] Form Rapial“: „Es ist ein Symbol für meine Konstitution u. ebenso für die Gegenwart. (Fragmente u. ihre dringende Synthese.)“ (GW II, 920). In einer Nachlassnotiz U[lrich]’s. Nachwort, Schlusswort zu Der Mann ohne Eigenschaften heißt es: „Einfall entstanden Mitte Jänner 42. / Gedacht an weltpolitische Situation. […] – Auch der M o E. kann daran nicht vorbeisehen. Das wäre aber ein historischer, philosophischer usw. Essayband, oder der letzte der Aphorismenbände. […] Die Arbeit am Rapial ist gleichbedeutend mit der Liquidierung von Bd. I“ (MoE II, 1943). Vgl. ebd. Heft 26 (1921–1923?): „Ich bin kein Philosoph, ich bin nicht einmal ein Essayist, sondern ich bin ein Dichter […]“. (TB I, 665) Vgl. auch den Anhang zum Tagebuch. Heft 34 (1930–1938): „Mein instinktiver Standpunkt: ich will ein Dichter sein, der kein Dichter ist.“ (TB II, 837) Vgl. Martha Musil: Brief an Valerie und Franz Zeis [nach 15. April 1942]: „Im ganzen könnte also ein Buch von 400–500 Seiten daraus werden, aber doch ein Torso […].“ (BR I, 1426) sowie H. Böhme (Die Ästhetik der Ruinen. In: Der Schein des Schönen. Hrsg. v. D. Kamper/C. Wulf. Göttingen 1989. S. 287–305, hier S. 298), der den Mann ohne Eigenschaften als „Riesentorso“ bezeichnet. R. Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. 2. Buch (1932) (MoE I, 704f.). Ders.: Über Robert Musil’s Bücher. In: Der Lose Vogel. Nr. 7, Januar 1913 (GW II, 995–1002, hier 997).
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VI. Robert Musil oder Essayismus als andere Vernunft
geblasen werden. Zunächst einmal, bevor sie miteinander verglichen, verbunden und neu zusammengesetzt werden können, geht es um die Inventarisierung, Beschreibung, Auswertung und Zuordnung der vorhandenen Bausteine. Dabei sollen neben den zu Lebzeiten erschienenen Essays auch die Essayfragmente herangezogen werden. Passagen aus dem Mann ohne Eigenschaften, Tagebuchnotizen und weitere Fragmente aus dem Nachlass werden allenfalls am Rande, das heißt kommentierend und ergänzend, angeführt. Als Ergebnis ist nicht die Konstruktion eines patchworkartig aus verschiedenen Einzelteilen zusammengesetzen Ganzen zu erwarten, sondern ein offenes und dynamisches Modell, das der Essayproduktion sowie den essayistischen Theoremen Musils einen Maßstab, einen Anhaltspunkt der immanenten Kritik bietet. a) Form und Inhalt [um 1910] oder der Essayist als Wissenschaftler auf senti-mentalem Gebiet Kunst ist Kontemplation. Der Künstler operirt mit Gedanken, Gefühlen u[nd] Empfindungen. […] Der Künstler spielt nicht, er treibt Wissenschaft. – Freilich kommt er zu keinen Wahrheiten, Allgemeinverbindlichkeiten, Objectivitäten. Das ist aber der Gegenstand u.[nd] nicht er. Er ist nicht Pacificator sondern Eroberer, er bricht auf Linien in das Land herein, gibt Profile, Querschnitte eines Fließenden, keinen Kataster.9 (Robert Musil)
Die vermutlich früheste explizite Äußerung Robert Musils über den Essay findet sich in einem zu Lebzeiten unveröffentlichten Fragment, das Adolf Frisé auf „um 1910“ datiert und mit dem Titel Form und Inhalt versehen hat. Die nicht besonders originelle These, dass Form und Inhalt eine Einheit bilden, die sich „nicht trennen, aber unterscheiden“ lässt,10 wird im ersten Abschnitt bereits in der Überschrift Man kann Form u[nd] Inhalt nicht auseinanderhalten vorgestellt und in den folgenden drei Abschnitten an den Beispielen Wissenschaftliche Prosa, Essay, Roman, Novelle, Drama sowie „Huysmans, d’Annunzio“ schulmäßig durchgeführt, um schließlich im fünften und letzten Abschnitt in die conclusio zu münden: Für die Kunst gelten keine anderen Wertgesetze wie für unser Leben.11 Die Argumentationsskala reicht von einer größtmöglichen Einheit, wenn auch nie Deckungsgleich-
_____________ 9 Ders.: [Form und Inhalt] [um 1910] (GW II, 1299–1303, hier 1302). 10 Ebd. S. 1303. 11 Ebd. S. 1302.
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heit, von Form und Inhalt in der Lyrik über ein partielles Auseinandertreten im Essay bis zur „Lockerung zw.[ischen] Form und Inhalt“ in der wissenschaftlichen Prosa.12 Ungefähr zwanzig Jahre später – am Schluss von Literat und Literatur. Randbemerkungen dazu, der als letzter seiner großen Essays 1931 in der Neuen Rundschau erscheinen wird – kommt Musil noch einmal auf das Verhältnis von Form und Inhalt zurück: „Schon im Essay aber, in der ,Betrachtung‘, im ,Sinnen‘, ist der Gedanke ganz von seiner Form abhängig, und es wurde bereits darauf hingewiesen, daß dies mit dem Inhalt zusammenhänge, der in einem echten Essay, der nicht bloß Wissenschaft in Pantoffeln ist, zur Darstellung gelangt. Im Gedicht vollends ist das Auszudrückende nur in der Form seines Ausdrucks das, was es ist.“13 Auch hier befindet sich der Essay, der eine gemeinsame Schnittmenge einerseits mit der Wissenschaft und andererseits mit der Kunst aufweist, hinsichtlich des Form-Inhalt-Kriteriums im mittleren Skalenbereich, ist also nicht durch eine qualitative Differenz von den beiden anderen Bereichen getrennt. In Form und Inhalt wird der Essay von der wissenschaftlichen Prosa durch die Entfernung des jeweiligen Erkenntnisgegenstandes von der „wissenschaftlichen Bearbeitbarkeit“ unterschieden. Der Verschiebung von der cognitio clara et distincta im Bereich der wissenschaftlichen Logik zur cognitio clara et confusa in der ästhetischen Erfahrung bis hin zur cognitio confusa des Lebens entspricht jene von der „Klarheit ins Halbdunkel der Worte“: „Bei dem Betreten des religiösen, des ästhet.[ischen] des eth.[ischen] Gebiets u.[nd] dem des Individuums entsteht das. Anstelle der Beschreibung tritt die Umschreibung. Die Rundherumschreibung“.14 Dem Objekt der Erkenntnis, jenem Gebiet der „fließende[n] Gegenstände“15 jenseits der nomenklatorischen Anstrengungen, auf das Musil später den Begriff des ‚Nicht-Ratioïden‘ anwenden wird,16 entspricht das Subjekt als ‚gemischtes‘. Dieses besteht aus einem „complexe[n]“ Mischungsverhältnis von Gedanken, die „nichts rein Intellektuelles sind sondern ein Intellektu-
_____________ 12 Ebd. S. 1300. 13 Ders.: Literat und Literatur. Randbemerkungen dazu. In: Die Neue Rundschau, September 1931 (GW II, 1203–1227, hier 1223). 14 Ders.: [Form und Inhalt] [um 1910] (GW II, 1300). 15 Ebd. S. 1302. 16 Vgl. ders.: Skizze der Erkenntnis des Dichters. In: Summa 1918 (GW II, 1025–1030); vgl. hierzu M. Luserke: Wirklichkeit und Möglichkeit. Moraltheoretische Untersuchung zum Werk Robert Musils. Frankfurt a. M. [u. a.] 1987. S. 56–62.
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VI. Robert Musil oder Essayismus als andere Vernunft
elles verflochten mit Emotionalem“ und Gefühlen, in denen sich „Emotionales, sensorielles, motorisches, Intellektuelles verkreuzen“.17 Roman, Novelle und Drama auf der einen wie Essay auf der anderen Seite stellen nun formale Lösungsversuche von Fragen bzw. Problemen dar, die sich wissenschaftlich bzw. in Sachprosa nicht behandeln lassen. Dabei erfährt der Essay, der auf der Seite des „Intellektuellen“ angesiedelt wird, in dem frühen Fragment Form und Inhalt eine starke Abwertung gegenüber der Kunstprosa: „Das Problem im Essay behandelt wäre ermüdend, schleppend. Es ist der Augenblick der gedanklichen Unheiligkeit, des Handwerks, wenn man sich zu einer Vivisicirung entschließt. Es ist der Augenblick der großen Heiligkeit, wenn es einem gelingt ein ‚aber sagte er‘ an seiner Stelle als Bereicherung, Klärung des Lebens zu empfinden.“18 Und weiter: Es sei „mächtiger“, suggestiver, Gedanken nicht auszusprechen, sondern nur anklingen zu lassen, in Handlungen zu verkörpern: „Die Suggestivkraft der Handlung ist stärker als die des Gedankens.“19 Einerseits korrespondiert die Heiligsprechung des Dichters mit der Profanisierung des Essayisten. Andererseits unterscheidet sich der moderne Dichter vom homerischen weniger durch den Verlust der Totalität oder den Prozess der zunehmenden Intellektualisierung als durch Attribute des Essayistischen. Denn der Künstler, so lesen wir, ist ein Kombinato-
_____________ 17 R. Musill: [Form und Inhalt] [um 1910] (GW II, 1301f.). 18 Ebd. S. 1301; vgl. hierzu auch das Nachtbuch des monsieur le vivisecteur (Tb I, 1–3) aus dem Tagebuch Heft 4 (1899?–1904?), das Reminiszenzen an Friedrich Nietzsches Jenseits von Gut und Böse (1886) enthält. 19 Ders.: [Form und Inhalt] [um 1910] (GW II, 1301); in einer Tagebuchnotiz in Heft 11 (1905–1908?) wird die „Norm, daß im Roman der Dichter nicht selbst das Wort ergreift“ – gegen die bereits Sterne, Wieland und Goethe mit ihren essayistischen Romanen verstoßen haben – als „Grenze für das Erlaubte“ und zugleich „Scheidung gegen das Essay“ bestimmt: „Nichts wirkt nämlich hölzerner als wenn man seinen Personen lange Tiraden in den Mund legt; sie zu Phonographen macht, in die vorher der Autor hineingesprochen hat.“ (TB I, 143); vgl. hierzu auch ders.: Literat und Literatur (1931): „Dagegen tritt in Roman und Drama (und in den Mischformen zwischen Essay und Abhandlung; denn der ‚reine Essay‘ ist eine Abstraktion, für die es beinahe keine Beispiel gibt) der Gedanke, die diskursive Ideenverbindung auch nackt hervor. Dennoch haftete an solchen Stellen einer Erzählung immer ein unangenehmer Eindruck des Extemporierens, des Aus-der-Rolle-Fallens und der Verwechslung des Darstellungsraums mit dem privaten Lebensraum des Verfassers, wenn sie nicht auch die Natur eines Formteils haben. Gerade im Roman, der wie keine andere Kunstform dazu berufen ist, den intellektuellen Gehalt einer Zeit aufzunehmen, lassen sich darum die Schwierigkeiten der Gestaltung und der Versuche zu ihrer Lösung beobachten, […].“ (GW II, 1223)
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riker „unseres Innenlebens“,20 er ist Experimentator, er „operirt mit Gedanken, Gefühlen u[nd] Empfindungen“. Er „spielt nicht“, er treibt keine Kunst, „er treibt Wissenschaft“. Anders als bei Lukács, der hypothetisch (‚versuchsweise‘) von dem Essay als „Kunstform“ spricht,21 steht der Essay hier auf der Seite des Lebens und der Wissenschaft, nicht der Kunst. In Literat und Literatur (1931) wird Musil den Kunst- bzw. Dichtungsbegriff unter den allgemeineren der ‚Literatur‘, welcher Dichtung und Essay zugleich umfasst, stellen. Bereits im frühen Fragment wird dem Objekt- bzw. Gegenstandskriterium gegenüber dem Subjektkriterium Priorität eingeräumt. Gelangt dieses, also das Subjekt der Erkenntnis, weder zu Wahrheiten, noch zu allgemeinen Gesetzen oder zu „Objectivitäten“, so liegt dies am Gegenstand, nicht aber am Künstler.22 Dieser sei, so Musil, Forscher, Entdecker, Abenteurer23 und Eroberer zugleich: „Er ist nicht Pacificator sondern Eroberer, er bricht auf Linien in das Land ein, gibt Profile, Querschnitte eines Fließenden, keinen Kataster“.24 Er ist nicht Sänger, sondern „ein Entwicklungsprodukt im Kampf um die Beherrschung der Welt“, das heißt Krieger und Techniker wie Robert Musil selbst, der zu diesem Zeitpunkt noch vor jenem „zufälligen Punkt“ „im Leben jedes großen Dichters od.[er] Kritikers“ stehen zu glauben scheint, „wo er das eine oder andere würde.“25
_____________ 20 Ders.: [Form und Inhalt] [um 1910]: „Er [der Dichter] drückt Farben nicht in den Mikromillimetern der Wellenlänge aus, obgleich das viel genauer ist. Er beschreibt nicht die Verhältnisse eines Gesichts, sondern er sagt: es ist wie…das abc unseres Innenlebens ist begrenzt die Kombinatorik unerschöpflich.“ (GW II, 1302) 21 G. Lukács: Über Wesen und Form des Essays. Ein Brief an Leo Popper. In: ders.: Die Seele und die Formen. Essays (1911). Neuwied/Berlin 1971. S. 7–32, hier S. 8; vgl. zur Selbstrelativierung der Lukás’schen Ausgangsthese in dieser Studie das Kap. V. 2. 22 R. Musil: [Form und Inhalt] [um 1910]. S. 1302. 23 Vgl. G. Simmel: Das Abenteuer. In: ders.: Philosophische Kultur. Über das Abenteuer, die Geschlechter und die Krise der Moderne. Gesammelte Essais (1911). Hrsg. v. J. Habermas. Berlin 1983. S. 13–26; vgl. R. Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. 1. Buch (1930): „Es hat nicht wenige solcher Essayisten und Meister des innerlich schwebenden Lebens gegeben, […] sie sind Heilige mit und ohne Religion, und manchmal sind sie auch einfach Männer, die sich in einem Abenteuer verirrt haben.“ (MoE I, 253f.) 24 R. Musil: [Form und Inhalt] [um 1910] (GW II, 1302); vgl. auch ders.: Skizze der Erkenntnis des Dichters (1918): „Auch auf moralischem Gebiet wird heute nach dem Prinzip der Pilotierung vorgegangen und werden in das Unbestimmte die erstarrenden Caissons der Begriffe gesenkt, zwischen denen sich ein Raster von Gesetzen, Regeln und Formen spannt.“ (GW II, 1027) 25 Ders.: [Form und Inhalt] [um 1910] (GW II, 1301).
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VI. Robert Musil oder Essayismus als andere Vernunft
b) [Über den Essay] [1911/12?] oder die „Umbildung“ des Saulus zum Paulus Auch in einem Fragment, das Adolf Frisé auf „etwa 1914?“ datiert und Über den Essay betitelt hat,26 wird der Essay zunächst zwischen dem Gebiet der Wissenschaft auf der einen Seite, das von den Kriterien der Wahrheit und Objektivität bestimmt ist, und dem der Kunst auf der anderen Seite verortet: „Zwischen diesen beiden Gebieten liegt der Essay. Er hat von der Wissenschaft die Form u.[nd] Methode. Von der Kunst die Materie“, das Leben.27 Musil operiert hier zwar mit dem Gegensatz von Form und Leben. Gibt es bei Lukács jedoch „keine Übergänge“ zwischen den Inhalten bzw. den „Tatsachen und ihre[n] Zusammenhänge[n]“ (Wissenschaft) und den Formen bzw. „Seelen und Schicksale[n]“ (Kunst),28 so verortet Musil den Essay zwischen Wissenschaft und Kunst und verkreuzt zugleich die Attributierungen von Wissenschaft (hier Form) und Kunst (hier Leben). Der Essay als „das Strengste des Erreichbaren auf einem Gebiet, wo man eben nicht genau arbeiten kann“, ist,29 so ließe sich folgern, die auf die Materie des Lebens angewandte Methode der Wissenschaft. Wie schon im Essayfragment Form und Inhalt (um 1910) wird auch diesmal der Unterschied zwischen der Wissenschaft und dem Essay nicht in der Methode, sondern im Gebiet selbst, in der „Natur der Gegenstände“ liegend, gesehen.30 Der Essay gehe wie die Naturwissenschaft „von Tatsachen aus, […] die er in Beziehung setzt. Nur sind diese Tatsachen nicht allgemein beobachtbar und auch ihre Verknüpfung ist in vielen Fällen nur eine singuläre“.31
_____________ 26 Zur Vordatierung des Essayfragments Über den Essay auf 1911/12 vgl. in der vorliegenden Studie das Kapitel VIII. 6. 27 R. Musil: [Über den Essay] [1911/12?] (GW II, 1334–1338, hier 1335). 28 G. Lukács: Über Wesen und Form des Essays (1911). S. 9: „In der Wissenschaft wirken auf uns die Inhalte, in der Kunst die Formen; die Wissenschaft bietet uns Tatsachen und ihre Zusammenhänge, die Kunst aber Seelen und Schicksale. Hier scheiden sich die Wege; hier gibt es keinen Ersatz und keine Übergänge.“ 29 R. Musil: [Über den Essay] [1911/12?] (GW II, 1334); Hervorhebung v. B. N. 30 Ebd. S. 1335; vgl. ebd. S. 1337: „Da der Unterschied nicht in der Funktion liegt, so kann er nur in der Natur des Gebiets begründet sein“; vgl. auch ders.: Profil eines Programms [1912] (GW II, 1919–1323, hier 1322): „Es handelt sich nicht um eine andere Methode, sondern um ein anderes Gebiet. Ein solches Gebiet ist aber jene Zone zwischen Verstand u[nd] Gefühl, wo sich die eigentlichen Erweiterungen der Seele abspielen. Eine Verflechtung von Intellektuellem u[nd] Emotionalem.“ Hervorhebung jeweils v. B. N. 31 Ders.: [Über den Essay] [1911/12?] (GW II, 1335).
1. „Essayistisches Denken“ als Fortsetzung der Wissenschaft mit anderen Mitteln
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Der Intuitions-Begriff sei dagegen nicht hilfreich, um zwischen naturwissenschaftlicher einerseits und lebensweltlicher Erkenntnis andererseits zu unterscheiden, denn „Intuition gibt es auch im rein rationalen Bezirke“.32 Auf der Rezeptionsseite des Essays gelangt Musil jedoch zu einer „Neuteilung der geistigen Tätigkeit“, welche zu der Dilthey’schen Unterscheidung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften, Erklären und Verstehen, quer verläuft: „Solche die auf Erkenntnis u.[nd] solche, die auf Umbildung des Menschen gerichtet ist.“33 Dabei werden bei der Subjekt-Objekt-Interaktion zwei Funktionen (‚mystisch‘ vs. ‚rational‘) als verschiedene Mischungsverhältnisse von Rationalität und Emotionalität unterschieden: 1) „rein rationale Gedanken ohne Beteiligung des Gefühls oder Willens“ als „revolutionierende Erkenntnis“ „auf dem rein rationalen“ Gebiet der Logik34 und 2) eine „intuitive Erkenntnis im mystischen Sinn“35 auf „senti-mentale[m] Gebiet“.36 Das ‚senti-mentale Gebiet‘, das ab der Skizze der Erkenntnis des Dichters (1918) in die begriffliche (Hilfs-)Konstruktion des ‚Nicht-Ratioïden‘ überführt werden wird, bezeichnet nicht den Bereich des rührselig Gefühlvollen, sondern jenes Mischungsverhältnis von gefühlsmäßigen (sensus) und gedanklichen (mens) Komplexen, die den Erkenntnisprozess auf der Subjekt- wie auf der Objektseite konstituieren. „Die Tiefe seiner [des lebendigen Gedankens] Wirkung ist ein Zeichen wie große Gefühlsmassen in Mitleidenschaft gezogen sind. Massen; denn hier handelt es sich nicht um Gefühle im engeren Sinn des terminus, sondern um Grundgefühle, Gefühlsdispositionen, wie sie die Individualität ausmachen. Es ist das ein noch wenig untersuchtes Gebiet.“37 Die intuitiv-mystische Erkenntnis auf senti-mentalen bzw. nichtratioïden Gebiet wird in Art einer chemischen Umreaktion („das große innere Umreagieren“) der „ganzen Person“38 verstanden, nämlich als „Umschmelzen eines großen sentimentalen Komplexes“. Mystik jedoch prätendiere aufgrund ihres rein metaphysischen Gegenstandes Erkenntnis
_____________ 32 33 34 35 36 37 38
Ebd. S. 1336. Ebd. S. 1337; Hervorhebung v. B. N. Ebd. S. 1336. Ebd. S. 1337. Ebd. S. 1336. Ebd. Ders.: Geist und Erfahrung. Anmerkungen für Leser, welche dem Untergang des Abendlandes entronnen sind. In: Der Neue Merkur, März 1921 (GW II, 1042-1059, hier 1054).
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VI. Robert Musil oder Essayismus als andere Vernunft
nur, da sie sich letztlich dem Kriterium der wissenschaftlichen Überprüfbarkeit entziehe. So kommt Musil zu folgender „Neueinteilung der geistigen Tätigkeit: „menschliche Umbildung“ bzw. „Umbildung des Menschen“ auf dem senti-mentalen Gebiet des Essays und eine mit objektivierbaren Wahrheitsanspruch verbundene Erkenntnis auf dem Gebiet des Rationalen. Das wissenschaftliche Kriterium der Wahrheit auf dem Gebiet des Rationalen wird auf dem Gebiet des ‚Senti-Mentalen‘ durch das der ‚Lebendigkeit‘ ersetzt: „Wenn uns ein Gedanke ergreift, umstürzt usw. so tut er auf dem senti-mentalen Gebiet das, was eine revolutionierende Erkenntnis auf dem rein rationalen tut.“39 Im nächsten Schritt analogisiert Musil im Wirkungsbereich der ‚lebendigen Gedanken‘40 die mystische Quasi-Erkenntnis, deren Gegenstand metaphysisch ist, mit der des Essays, für die Musil nicht mehr und nicht weniger als „nur [!] menschliche Umbildung“ beansprucht:41 „Dieses plötzliche Lebendigwerden eines Gedankens, dieses blitzartige Umschmelzen eines großen sentimentalen Komplexes (eindringlichst versinnbildlicht in der Pauluswerdung des Saulus) durch ihn, so daß man mit einemmal sich selbst und die Welt anders versteht: Das ist die intuitive Erkenntnis im mystischen Sinn. / In kleinerem Maße ist es die ständige Bewegung des essayistischen Denkens.“42 Die essayistische Gedankenbewegung – im Unterschied zu der im Ergebnisprotokoll objektivierbaren wissenschaftlichen Erkenntnis – kann die Umstrukturierung („Umbildung“) der von ihm ergriffenen, aus sentimentalen Komplexen bestehenden Individualität bewirken. Die intraindividuelle Umschmelzung kann – so das utopische Potential – mit einer
_____________ 39 Ders.: [Über den Essay] [1911/12?] (GW II, 1336). 40 Vgl. hierzu ders.: Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906): „Ja, es gibt tote und lebendige Gedanken. Das Denken, das sich an der beschienenen Oberfläche bewegt, das jederzeit an dem Faden der Kausalität nachgezählt werden kann, braucht noch nicht das lebendige zu sein. […] Eine große Erkenntnis vollzieht sich nur zur Hälfte im Lichtkreise des Gehirns, zur andern Hälfte in dem dunklen Boden des Innersten, und sie ist vor allem ein Seelenzustand, auf dessen äußerster Spitze der Gedanke nur wie eine Blüte sitzt.“ (GW II, 136f.) sowie die folgende Notiz über „Tote und lebende Gedanken!“ in: ders.: Tagebücher. Heft 24 (1904/05): „Der Gedanke ist nicht etwas das ein innerlich Geschehenes betrachtet sondern er ist dieses innerlich Geschehene selbst. / Wir denken nicht über etwas nach, sondern etwas denkt sich in uns herauf. Der Gedanke besteht nicht darin, daß wir etwas klar sehen, das sich in uns entwickelt hat, sondern daß sich eine innere Entwicklung bis in diesen hellen Bezirk hinein erstreckt. Darin ruht das Leben des Gedankens; er selbst ist zufällig, ein Symbol, d. h. er kann so oft tot sein, nur wie er das Endglied einer inneren Entwicklung ist, begleitet ihn das Gefühl der Vollendung und Sicherheit.“ (TB I, 117f.) 41 Ders.: [Über den Essay] [1911/12?] (GW II, 1337). 42 Ebd. S. 1336f.
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interindividuellen einhergehen: „Neue Beziehungen zwischen Menschen tauchen auf.“43 Das essayistische Denken ist in eine dynamische Konfiguration verwebt, in eine Textur, die aus miteinander verschlungenen Gedankenfäden besteht. Die argumentative, funktionale, logische Komponente des Gedankens, einsinnig und auf ein Ziel gerichtet, versinnlicht im Bild des dis-kursiven Gedankenfadens, wird von seiner konnotativ, assoziativen, senti-mentalen Dimension überlagert. Wird „der Faden eines Gedankens“ berührt, das heißt auf der Produktions- wie Rezeptionsseite ‚lebendig‘, so reißt er „die andren aus ihrer Lage und ihre – wenn selbst nur virtuellen – Umlagerungen bedingen das Verständnis, das Klingen, die zweite Dimension des Gedankens.“44 Keine ,objektive‘ bzw. wissenschaftlich objektivierbare Wahrheit wird über den jeweiligen (Text-)Inhalt transportiert, sondern die Möglichkeit einer intra- wie interindividuellen Verständigung, geschaffen im Medium eines dynamischen Gefüges, welches in seiner Beweglichkeit und senti-mentalen Komplexität die ‚Lebendigkeit des Gedankens‘ erfahrbar und mitteilbar werden lässt. Im Bereich der „intuitive[n] Erkenntnis im mystischen Sinn“45 auf „senti-mentale[m] Gebiet“46 kann mit Hilfe des Kriteriums der Kommunizierbarkeit zwischen der essayistischen Erkenntnis und der mystischen unterschieden werden. Der Dialog mit dem eigenen Ich bzw. mit Gott ist hier in einen Dialog zwischen Menschen bzw. Texten überführt.47 Die Frage ist nicht, ob Gefühle am Erkenntnis- bzw. Umbildungsprozess beteiligt sind, sondern erstens „wie große Gefühlsmassen [i. e. „Grundgefühle, Gefühlsdispositionen, wie sie die Individualität ausmachen“] in Mitleidenschaft gezogen sind“48 und zweitens, ob und wie die verschiedenen
_____________ 43 Ebd. S. 1337; vgl. hierzu auch B. Neymeyr: Utopie und Experiment. Zur Konzeption des Essays bei Musil und Adorno. In: Euphorion 94 (2000). S. 79–113, hier S. 93, die feststellt, dass es „in Adornos Reflexionen [zum Essay] kein Analogon“ zu „Musils Konzept ‚senti-mentaler‘ Synthesen“ und der „Umschmelzungen“ bzw. „Umbildung des Menschen“ gibt. 44 R. Musil: Ders.: [Über den Essay] [1911/12?] (GW II, 1337). 45 Ebd. S. 1337. 46 Ebd. S. 1336. 47 M. Buber: Ich und Du (1923. Nachw. v. B. Casper. Stuttgart 1996) kann Musil zu der Zeit noch nicht gekannt haben; die von Buber herausgegeben Ekstatische Konfessionen lagen jedoch bereits seit 1909 vor und haben möglicherweise die Essaykonzeption Musils – entweder durch eigene Lektüre oder aber über die Vermittlung Lukács’ und/oder Franz Bleis entscheidend beeinflusst. So entwickelt Lukács sein Essaykonzept nicht nur am Beispiel Platons, sondern auch in Auseinandersetzung mit der mystischen Erfahrung. Zur Bedeutung Martin Bubers für die Praxis und Theorie des essayistischen Vertextungsprinzips von der Jahrhundertwende bis Ende der zwanziger, Anfang der dreißiger Jahre steht eine eigene Untersuchung noch aus. 48 R. Musil: Ders.: [Über den Essay] [1911/12?] (GW II, 1336).
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VI. Robert Musil oder Essayismus als andere Vernunft
(Erkenntnis-)Resultate rational verarbeitet werden. Die innerhalb der soziologischen Werturteilsdebatte vertretene Position Max Webers wird hier auf das ‚senti-mentale‘ Gebiet des Essays übertragen. c) Essaybücher (1913) oder Essayismus als ‚lebendiges Denken‘ Im September 1913 erscheint die Sammelrezension Essaybücher in der Neuen Rundschau. In der Einleitung, die vom essayistischen Ich selbst als ,schulhaft‘ gekennzeichnet wird,49 greift Robert Musil das Konzept der ,lebendigen Gedanken‘ im Sinne eines individuellen Transformationsprozesses auf: „Seine Gedanken [des Essays] sitzen unablösbar in einem Mutterboden fest aus Gefühl, Willen, persönlichen Erfahrungen und solchen Verbindungen von Ideenkomplexen, die nur in der seelischen Atmosphäre einer einzigen inneren Situation volles Licht empfangen und geben.“50 Dabei wird das den Wissenschaftsdiskurs konstituierende Wahrheitskriterium durch die Leitdichotomie ‚tot‘ vs. ‚lebendig‘ ersetzt. Ein essayistischer Gedanke – so Musil – kann wahr oder falsch sein, er darf logische Widersprüche enthalten oder nicht.51 Das wirkungsästhetisch wie ethisch entscheidende Moment des Essays ist das der persönlichen bzw. dialogischen Affizierung – die Gedanken des Essays sprechen uns an oder nicht: „Sie beanspruchen gar nicht Allgemeingültigkeit, sondern wirken wie Menschen, die uns ergreifen und entgleiten, ohne daß wir sie rational fixieren könnten, und die uns geistig mit etwas anstecken, das sich nicht beweisen läßt.“52 In seinem Spengler-Essay Geist und Erfahrung von 1921, der den ironischen Untertitel Anmerkungen für Leser, welche dem Untergang des Abendlandes entronnen sind, trägt, ordnet Musil den Komplex des ‚lebendigen Denkens‘ jenen Geistesgebieten zu, „wo der Satz gilt: Erkennen ist Wiederer-
_____________ 49 Ders.: Essaybücher (1913) (GW II, 1451). 50 Ebd. S. 1450. 51 Vgl. ders.: Motive – Überlegungen (Nachlass): „Analogik: Widersprechendes kann nicht wahr, widersprechendes kann aber lebendig sein. Wir haben die Lebenswidersprüche in uns. Gegensatz zu Nietzsche, der darin eine décadence sah: man muß sie mit Hilfe einer mathematischen Moral ordnen. Zwei bedeutende Menschen können einander nicht widersprechen.“ (GW II, 901) Vgl. ders.: Tagebücher. Heft 4 (1899?– 1904?): „Es giebt [sic!] Wahrheiten aber keine Wahrheit. Ich kann ganz gut zwei einander völlig entgegengesetzte Dinge behaupten und in beiden Fällen Recht haben.“ (TB I, 12). 52 Ders.: Essaybücher (1913) (GW II, 1450).
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innern“.53 Der essayistische Text und die darin enthaltene „‚Meinung‘“ bzw. „‚persönliche‘ Überzeugung“ beruhe, wie alle „Vorstellungen“, „individuelle[n] Erlebnisse“ und „Äußerungen des praktischen Lebens“ im „nicht-ratioȓde[n] Gebiet“ auf „Imponderabilien“, „die man nur soweit versteht, als man sich ähnlicher erinnert. Sie müssen jeweils wiedererlebt werden, werden immer nur teilweise wiedererlebt und keineswegs ein für allemal verstanden.“54 Bei der Lektüre von Essays – Musil nennt hier als Beispiele Emerson, Maeterlinck, Novalis, Nietzsche und Rudolf Kassner55 – „erfährt man stärkste geistige Bewegung: aber erkennen kann man dies nicht heißen.“56 Das heißt, es werden keine eindeutigen und verwertbaren Inhalte transportiert, sondern durch die Schaffung von neuen „Denkdispositionen“ und einer „diffuse[n] Beweglichkeit“ wird vielmehr eine ‚Diffusion‘, eine Transformation des Empfängers bewirkt.57 Dieses erlebnishafte Moment der Bewegung („Umbildung“58) ist jedoch nicht in den Bereich der Wissenschaft, der logischen Methode oder rationalen Erkenntnis übersetzbar.59 Es handelt sich beim Essay vielmehr, so Musil, um „intellektuelle Umschreibungen von etwas, das man sich menschlich aneignen, aber nur in intellektuellen Umschreibungen wieder ausdrücken kann.“60 Kommen wir auf das frühe Fragment Über den Essay (1911/12?) zurück. Schon hier bedingt das Moment des Unverständlichen im Sinne
_____________ 53 Ders.: Geist und Erfahrung. Anmerkungen für Leser, welche dem Untergang des Abendlandes entronnen sind. In: Der Neue Merkur, März 1921 (GW II, 1042–1059, hier 1051); vgl. auch ders.: Tagebücher. Heft 11 (1905–1908?) zu „Platos: Erkennen – Wieder erkennen“: „Alles, was von der ‚Seele‘ ausgesagt wird, versteht man nicht mit dem Verstande, so wie man wissenschaftliche Philosophie mit der nötigen Aufmerksamkeit immer versteht. Die bezüglichen Gedanken sind halbe Gefühle; man versteht sie, wenn das betreffende Gefühl selbst in einem wach wird.“ (TB I, 148) 54 Ders.: Geist und Erfahrung (1921) (GW II, 1049). 55 Vgl. auch ders.: [Über den Essay] [1911/12?]: „Maeterlinck, Emerson, Nietzsche zum Teil Epikur, die Stoiker, unter Abstraktion vom Transzendenten die Mystiker, aber auch Dilthey, Taine, die nomothetische Geschichtsforschung gehören in den Kreis des Essays.“ (GW II, 1337) 56 R. Musil: Geist und Erfahrung (1921) (GW II, 1049). 57 Ebd. S. 1050. 58 Ders.: [Über den Essay] [1911/12?] (GW II, 1337). 59 Vgl. ders.: Geist und Erfahrung (1921): „Sowie man dieses Gebiet betritt, erweist sich logische Methodik als entthront. Je höher in dieser Reihe ein Gedanke steht, desto mehr tritt der Anteil des Verstandes gegenüber dem des Erlebnisses zurück.“ (GW II, 1049) 60 Ebd.
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eines nicht bis ins Letzte Rationalisierbaren, Analogischen,61 nicht Verallgemeinerbaren, das der Essay mit anderen Formen der Alltagskommunikation gemein hat,62 die Unübersetzbarkeit des Essays in einen Diskurs, der Anspruch auf Objektivität, Eindeutigkeit und Widerspruchsfreiheit erhebt. Das Kriterium der Unübersetzbarkeit ermöglicht es somit, den Essay vom wissenschaftlichen Diskurs abzugrenzen: Es ist „das Kennzeichen eines Essays, daß sein Innerstes in begriffliches Denken so wenig übersetzbar sei wie ein Gedicht in Prosa.“63 Deshalb müssen auch die philosophischen Versuche, die Begriffe, das „wissenschaftlich Systematisierbare aus Essayisten“, genauer aus essayistischen Texten zu destillieren, notwendig scheitern: „Sie baggern mit großem Apparat nach dem Boden dieses Strömens und fördern einen zerrissenen alten Schuh, ein weggeworfenes Denkgewebe, irgendeine Lächerlichkeit herauf.“64 An dieser Stelle führt Musil die Unübersetzbarkeit des essayistischen in den wissenschaftlichen Diskurs auf die den beiden Gebieten jeweils
_____________ 61 Vgl. ders.: Essaybücher (1913): „Sie [die Gedanken des Essays] dürfen auch Widersprüche enthalten; denn was im Essay die Form eines Urteils hat, ist nur eine Momentaufnahme des nicht anders als in Momentaufnahmen Faßbaren. Sie stehen unter einer biegsameren, dennoch unter keiner weniger strengen Logik.“ (GW II, 1450) 62 Vgl. ders.: [Über den Essay] [1911/12?]: „Ein rationaler Gedankengang nun kann wahr oder falsch sein, ein sentimentaler auch, aber er ‚spricht‘ außerdem ‚an‘ oder spricht nicht an. Und es gibt Gedanken, die eigentlich nur durch das zweite wirken. Sie sind für einen Menschen ohne Resonnanz [sic!] völlig wirr und unverständlich. Ersichtlich handelt es sich hier aber trotzdem um ein ganz legitimes Verständigungsmittel, wenn auch nicht von bindender Allgemeinheit. Die Zahl solcher Verständigungsarten zwischen Menschen ist überdies größer als angenommen wird (Ehepaare– Schimpansen, Suggestivwirkung des Führers usw.).“ (GW II, 1336) 63 Die zitierte Textstelle aus ders.: Essaybücher (1913) lautet weiter: „Das hebt ihn über das Populärwissenschaftliche, die blumige Rektoratsrede, über vermischte und kleine und nachgelassene Professorenschriften.“ (GW II, 1450) 64 Ebd. S. 1451; vgl. hierzu auch das Motto aus Maurice Maeterlincks Schatz der Armen (1896), das den Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906) vorangestellt ist: „Sobald wir etwas aussprechen, entwerten wir es seltsam. Wir glauben in die Tiefe der Abgründe hinabgetaucht zu sein, und wenn wir wieder an die Oberfläche kommen, gleicht der Wassertropfen an unseren bleichen Fingerspitzen nicht mehr dem Meere, dem er entstammt. Wir wähnen eine Schatzgrube wunderbarer Schätze entdeckt zu haben, und wenn wir wieder ans Tageslicht kommen, haben wir nur falsche Steine und Glasscherben mitgebracht; und trotzdem schimmert der Schatz im Finstern unverändert.“ (GW II, 7) Vgl. auch R. Musil: Tagebücher. Heft 4 (1899?–1904?): „Wir können eine großartige Erkenntnis nicht in uns festhalten, sie welkt dahin, verknöchert und unversehens bleibt uns nichts in Händen, als das armselige, logische Gerüste der Idee.“ (TB I, 17) Vgl. auch ders.: Der Mann ohne Eigenschaften. 1. Buch (1930): „Nichts ist übrigens bezeichnender als die unfreiwillige Erfahrung, die man mit gelehrten und vernünftigen Versuchen macht, solche großen Essayisten auszulegen […]; es bleibt von alledem ungefähr so wenig übrig wie von dem zarten Farbenleib einer Meduse, nachdem man sie aus dem Wasser gehoben und in Sand gelegt hat.“ (MoE I, 254)
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spezifische „Denkmethodik“ zurück, deren Grenzen bis dato nicht oder kaum befragt worden seien.65 Der Frage nach der dem Gegenstand (dem Bereich der Dichtung, der Ethik) angemessenen Methode versucht Musil in immer wieder neuen Ansätzen und Lösungsversuchen nachzugehen, indem er verschiedene Arten der Erkenntnis unterscheidet und auf die beiden Hauptgebiete, Kunst und Wissenschaft mitsamt ihrer essayistischen Schnittmenge bezieht. Dieser Suchbewegung seines ‚essayistischen Denkens‘ wollen wir bis einschließlich der Skizze der Erkenntnis des Dichters von 1918 folgen. Jene andere Vernunft – jenseits der rationalen, mathematischen, technischen, ökonomischen – wird dabei von Musil noch nicht explizit als essayistische bestimmt. Vielmehr versieht er umgekehrt das Andere der Vernunft, das er dem ‚nicht-ratioïden‘ Gebiet der Mystik,66 der Religion, vor allem aber der Kunst zuschreibt, mit Attributen des Essayistischen. d) Das Geistliche, der Modernismus und die Metaphysik (1912) oder die ‚Romantik des Irrationalen‘67 und die essayistische „Entzauberung der Welt“ Die zunehmende Intellektualisierung und Rationalisierung bedeutet also nicht eine zunehmende allgemeine Kenntnis der Lebensbedingungen, unter denen man steht. Sondern sie bedeutet etwas anderes: das Wissen davon oder den Glauben daran: daß man, wenn man nur wollte, es jederzeit erfahren könnte, daß es also prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenbaren Mächte
_____________ 65 Vgl. ders.: Essaybücher (1913): „Wenig erforschte Grenzen der Denkmethodik bestehen da […]. Ich habe selten gehört, daß man so, nach dem Recht auf die Methode, fragt.“ (GW II, 1451) 66 Zur Mystik-Rezeption von Robert Musil vgl. R. v. Heydebrand: Zum Thema Sprache und Mystik in Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 82 (1963). S. 249–271; E. Albertsen: Ratio und „Mystik“ im Werk Robert Musils. München 1968; B.-R. Hüppauf: Von sozialer Utopie zur Mystik. Zu Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“. München 1971; D. Goltschnigg: Mystische Tradition im Roman Robert Musils. Martin Bubers „Ekstatische Konfessionen“ im „Mann ohne Eigenschaften“. Heidelberg 1974; J. Schmidt: Ohne Eigenschaften. Eine Erläuterung zu Musils Grundbegriff. Tübingen 1975; M. WagnerEgelhaaf: Red-Seligkeit: Robert Musil, „Der Mann ohne Eigenschaften“ (1930–1952). In: dies.: Mystik der Moderne. Die visionäre Ästhetik der deutschen Literatur im 20. Jahrhundert. Stuttgart 1989. S. 108–148; M. Fick: Sinnenwelt und Weltenseele. Der psychophysische Monismus in der Literatur der Jahrhundertwende. Tübingen 1993 u. a. 67 M. Weber: Wissenschaft als Beruf (1919). In: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Hrsg. v. J. Winckelmann. 4. Aufl. Tübingen 1973. S. 582–614, hier S. 598: „[…] die moderne intellektualistische Romantik des Irrationalen […].“
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gebe, die da hineinspielen, daß man vielmehr alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen könnte. Das aber bedeutet: die Entzauberung der Welt.68 (Max Weber) Die einfachste Antwort hat Tolstoj gegeben mit den Worten: „Sie [die Wissenschaft] ist sinnlos, weil sie auf die allein für uns wichtige Frage: ‚Was sollen wir tun? Wie sollen wir leben?‘ keine Antwort gibt.‘“ Die Tatsache, daß sie diese Antwort nicht gibt, ist schlechthin unbestreitbar. Die Frage ist nur, in welchem Sinne sie ‚keine‘ Antwort gibt, und ob sie statt dessen nicht doch vielleicht dem, der die Frage richtig stellt, etwas leisten könnte.69 (Max Weber) Die katholische Kirche hat einen schweren Fehler begangen, indem sie diesen Mann [Galilei] mit dem Tode bedrohte und zum Widerruf zwang, statt ihn ohne viel Federlesens umzubringen; denn aus seiner und seiner Geistesverwandten Art, die Dinge anzusehen, sind danach – binnen kürzester Zeit, wenn man historische Zeitmaße anlegt, – die Eisenbahnfahrpläne, die Arbeitsmaschinen, die physiologische Psychologie und die moralische Verderbnis der Gegenwart entstanden, gegen die sie nicht mehr aufkommen kann.70 (Robert Musil)
Die Schwierigkeit jene andere Vernunft, ihre Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen zu bestimmen, wird an der aphoristischen Zirkeldefinition im Essay Das Geistliche, der Modernismus und die Metaphysik deutlich, den Musil 1912 anonym in Bleis Zeitschrift Der Lose Vogel veröffentlicht.71 Hier wird die Frage nach einer Erkenntnis im Sinne einer ‚menschlichen Umbildung‘ nicht am Verhältnis von Kunst und Wissenschaft, sondern von Wissenschaft und Kirche diskutiert. Das gesetzte Problem, die Suche nach der Möglichkeit einer anderen Vernunft jenseits von bürgerlicher Rationalität, kirchlicher Geistigkeit und Metaphysik ist bereits im Anfangssatz enthalten, der auf die Max Webers Protestantische Ethik (1905) referiert:72 „Der Modernismus ist […] ein Protestantismus – der Versuch, die Religion mit der bürgerlichen Vernunft zu durchdringen“. Allerdings wird dieser argumentative Einsatz in medias res sowohl durch den langen verschachtelten Satzbau wie durch die dialektische Konstruktion zumindest teilweise wieder aufgehoben. Denn der Modernismus als „Versuch,
_____________ 68 69 70 71
Ebd. S. 594. Ebd. S. 598. R. Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. 1. Buch (1930) (MoE I, 302). Ders.: Das Geistliche, der Modernismus und die Metaphysik. In: Der Lose Vogel. Nr. 2, Februar 1912 (GW II, 987–992); Musils Auseinandersetzung mit der Geistigkeit bzw. der katholischen Kirche ist als impliziter Dialog mit Franz Blei, seinem Freund und Herausgeber des Losen Vogel (1912/13), zu lesen. 72 M. Weber: Die Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. Tübingen 1905.
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die Religion mit der bürgerlichen Vernunft zu durchdringen“, richte sich „wider die Vernunft gleichwie gegen das Religiöse“.73 Implizit wird hier also eine Unterscheidung zwischen bürgerlicher bzw. rationaler – im Sprachgebrauch Max Horkheimers und Theodor W. Adornos instrumenteller – Vernunft74 und einer anderen, die an dieser Stelle unbenannt bleibt, getroffen. Das „Andere der Vernunft“75 ist hier nicht die Unvernunft, die Dummheit,76 oder Nichtvernunft, sondern ihr Eingedenken als selbstreflexives Moment, indem sie sich als Vernunft gegen sich selbst richtet. Diese dialektische Gegenbewegung wird in einer semantischen Verschränkung weitergeführt, die in einem paradoxal anmutenden Vergleich ausklingt. Denn den Verfechtern des Modernismus werden eben die Attribute des Religiösen, das sie überwinden wollen, zugeschrieben: „an den Leiden wie Entzückungen seiner Märtyrer haftet etwas von jenem geistigen Geruch, der aus dem hingerissenen Theaterspiel des bürgerlichen Amateurs aufsteigt, ein Gemisch des Atems der Leidenschaft mit dem schwächlicher Zähne.“77 Das heißt, die leidenschaftliche Rationalität der Modernisten ist nicht durch wissenschaftliche Genauigkeit und methodische Exaktheit geprägt, sondern durch eine (zumal dilettantisch-schlecht) gespielte theatralische Inszenierung, die den impliziten Zuschauer bzw. Beobachter mit dem Atem schlechter Zähne – medizinisches Symptom einer „organische[n] Krankheit“78 und literarisches Symbol des Todes79 gleichermaßen – infiziert. Die gesuchte Vernunft, die ihrer eigenen Unvernunft eingedenk bleibt und somit die Bedingung der Möglichkeit einer anderen Vernunft ist, habe ihren Ort weder in der Kirche, die „vor langem das Buch ihrer Lebensessays“ schloss,80 noch in der Wissenschaft.
_____________ 73 R. Musil: Das Geistliche, der Modernismus und die Metaphysik (1912) (GW II, 987). 74 Vgl. M. Horkheimer: Zur Kritik der instrumentellen Vernunft (1946; dtsch. 1967). 5. Aufl. Frankfurt a. M. 1997. 75 Vgl. H. Böhme/G. Böhme: Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants. Frankfurt a. M. 1985. 76 Vgl. R. Musil: Über die Dummheit. Vortrag auf Einladung des österreichischen Werkbundes gehalten in Wien am 11. und wiederholt am 17. März 1937 (GW II, 1270–1293). 77 Ders.: Das Geistliche, der Modernismus und die Metaphysik (1912) (GW II, 987f.). 78 Ebd. S. 988. 79 Vgl. hierzu Thomas Manns Novelle Der Tod in Venedig, die ein halbes Jahr später in der Neuen Rundschau erschien. 80 R. Musil: Das Geistliche, der Modernismus und die Metaphysik (1912) (GW II, 992); unter „Lebensessays“ könnte eine Antizipation der Versuche, die „taghelle[ ] Mystik“ zu leben, verstanden werden; vgl. ders.: Der Mann ohne Eigenschaften (Nachlass) (MoE II, 1089 und 1091).
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Wider die „Vernunft der verstaatlichten bürgerlichen Gesellschaft“, von der sie bereits selbst ein Teil ist, halte die Kirche nur noch „in seniler Weise“ an ihrer Geistigkeit fest, „längst ohne Verständnis für den ungeheuren noch unausgelebten Wert ihrer Unvernunft.“81 Aber auch die Vernunft des vorherrschenden positivistischen Wissenschaftsbetriebs sei eine „feige“, die „sich vom Boden der gesicherten Erfahrung“ nur ungern zu als gewagt geltenden Hypothesen erhebe. Ihre „verifizierte[n] Erkenntnisse“ – das sind „solche, durch die man Eisen walzen, in der Luft fliegen und Nahrung gewinnen kann“ – finden zwar technische wie ökonomische Verwertung. Die Suche nach Wahrheit beschränkt sich jedoch auf den formal-logischen Aspekt und klammert in der Ersetzung des Qualitativen durch das Quantifizierbare die ethische Funktion des Erkenntnisprozesses aus: „man kann sagen, daß der Begriff des Wertes einer Wahrheit unter der Herrschaft ihres uniformen Schätzens degeneriert und fast unverständlich geworden sei.“82 Aber auch der zeitgenössische Wissenschaftsbetrieb sei nur scheinbar durch die allgemeine Fortschrittsmanie gerechtfertigt, seine eigentliche Legitimierung stehe noch aus, da „[d]er eigentliche – nicht Wahrheits-, aber Wichtigkeitsbeweis für die Wissenschaft […] dabei nie erbracht worden“ sei. Die Beherrschung der Natur durch Technik gehöre jedoch in den Bereich der bloßen „Vorbereitungen zum leben“83 und führe in der entscheidenden ethischen Frage „wie soll ich leben?“84 bzw. „Wie soll sich ein geistiger Mensch zur Realität verhalten?“,85 nicht weiter. Kehrseite des eingeschränkten Rationalitätskonzeptes sei ein „gestaltloser Gefühlsüberschuß, aus dessen Gallerte neben anderen Formen des Gesundbetens, -tanzens und der korsettlosen Menschenwürde auch der Modernismus seine Nahrung zieht.“86 Auch hier entwickelt die Polemik des Essays eine dialektische Gegenbewegung, indem sie sich nicht nur gegen den modernistischen Glauben einer vollkommenen Rationalisierbarkeit wendet, sondern zugleich auch
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Ders.: Das Geistliche, der Modernismus und die Metaphysik (1912) (GW II, 988). Ebd. S. 988f. Vgl. ebd. S. 990. Vgl. Ulrich in: ders.: Der Mann ohne Eigenschaften. 2. Buch (1932): „Liebe Agathe, es gibt einen Kreis von Fragen, der einen großen Umfang und keinen Mittelpunkt hat: und diese Fragen heißen alle ‚wie soll ich leben?‘“ (MoE II, 895) 85 Vgl. O. M. Fontana: Was arbeiten Sie? Gespräch mit Robert Musil. In: Die Literarische Welt, 30. April 1926 (GW II, 939–942, hier 940). 86 R. Musil: Das Geistliche, der Modernismus und die Metaphysik (1912) (GW II, 989); zum „Theorem der menschlichen Gestaltlosigkeit“ vgl. auch das Essayfragment: Der deutsche Mensch als Symptom [1923] (GW II, 1353–1400, besonders 1368–1375).
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gegen den zeitgenössischen Antiintellektualismus, welcher zugunsten „einer angeblichen ‚Gefühlserkenntnis‘“ auf die „Exaktheit des Denkens“87 verzichten zu können glaubt. Denn der Antirationalismus jener, die schlechte Mathematiker waren bzw. sind,88 wird ebenso kritisiert wie das positivistische Rationalitätskonzept, das alles wissenschaftlich nicht Machbare in den Bereich des Irrationalen verweist. „Es gibt nur eine Erkenntnis“89 – dieses empiriokritizistische Axiom scheint Musil mit Richard Avenarius zu teilen, in dessen Vorwort zur Kritik der reinen Erfahrung (1907) zu lesen ist: „Das wissenschaftliche Erkennen hat keine wesentlich anderen Formen oder Mittel als das nichtwissenschaftliche“.90 Diese wissenschaftstheoretische Grundannahme wird vom essayistischen Ich zu dem Umkehrschluss geführt: „es gibt keine Gefühls- und keine sonstige zweite Art Erkenntnis, die, gegen die wissenschaftliche gerichtet, bestehen könnte. Innerhalb eines bestimmten Rahmens schließt diese alle anderen Möglichkeiten aus, nur der Rahmen selbst – die Wahl der Fragestellung […] kann über-, oder wenn man so lieber sagt, unterschritten werden.“91 Damit ist auch die Rückkehr zur vorkantianischen Metaphysik versperrt, da diese den Rahmen der Fragestellung, welche den Menschen und sein Leben betreffen, zwar transzendiert, aber nur indem sie ihren Verstand darauf verwendet, die Wirklichkeit des Jenseits zu erweisen, anstatt nach den Bedingungen seiner Möglichkeit im Diesseits zu fragen.92 Es verbleibt nur die Alternative, den gesetzten Rahmen selbst in Frage zu stellen und mit den Mitteln der Wissenschaft, und das ist zuerst und vor allem die Ratio, zu erweitern. Innerhalb des bestehenden Wissenschaftsbetriebs aber lassen sich weder Türen noch Rahmen versetzen. Es verbleiben nur, so Musil, vereinzelte, „verlorne[ ] Winkel“ im „Erkenntnisgebäude[ ]“: dazu gehören die „letzten und ersten Aporien“, die „Enden der Kausalketten“, die „Giltigkeitsgrenzen [sic!] der Gesetze“, der „Einfluß praktischer Bedürfnisse noch auf die Gestalt der
_____________ 87 Ders.: Das Geistliche, der Modernismus und die Metaphysik (1912) (GW II, 989). 88 Vgl. ders.: Der Mann ohne Eigenschaften. 1. Buch (1930): „Und so hat es auch schon damals, als Ulrich Mathematiker wurde, Leute gegeben, die den Zusammenbruch der europäischen Kultur voraussagten, weil kein Glaube, keine Liebe, keine Einfalt, keine Güte mehr im Menschen wohne, und bezeichnenderweise sind sie alle in ihre Jugendund Schulzeit schlechte Mathematiker gewesen.“ (MoE I, 40) 89 Ders.: Das Geistliche, der Modernismus und die Metaphysik (1912) (GW II, 990). 90 R. Avenarius: Kritik der reinen Erfahrung. 2. Aufl. Leipzig 1907. S. XV. 91 R. Musil: Das Geistliche, der Modernismus und die Metaphysik (1912) (GW II, 989f.); vgl. ebd. S. 991: „[…] sowie man die Grenzen überschreitet, die die Wissenschaft sich selbst gezogen hat, wird man wenig Erkenntnis erzielen […].“ 92 Ebd. S. 991.
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Theorie“, die „Schwierigkeiten, das System widerspruchslos zu schließen“ etc. Diese Winkel, Risse und Bruchstellen des rationalen (Wissenschafts-) Gebäudes allein ermöglichten es, „ohne Verblödung unwissenschaftlich [zu] sein“.93 Einzig in diesen versteckten Nischen eröffnet sich dem nietzscheanisch anmutenden „Erkenntnisheilige[n]“, jener semantischen Kreuzung zwischen dem Erkenntnishungrigen und dem heiligen Antonius, der Blick in „die unbegrenzt visionäre Wüste“, die terra incognita der „Einsamkeit der bloßen Tatsachen, der Zufälle, dessen, was nichts als Ereignis ist“.94 Dieser Blick, gerichtet auf das Erkenntnisgebiet des Menschen, auf das Leben, genauer auf die Frage des ‚rechten Lebens‘, weist in die Richtung einer anderen Vernunft, die dem Text als Leerstelle, als Suchbegriff eingeschrieben ist. Diese andere Vernunft – so heißt es im Konjunktiv Potentialis – strebte nach Erkenntnissen, „welche dem Gefühl neue und kühne Richtungen gäben, auch wenn sie selbst vielleicht nur bloße Plausibilitäten blieben“. Gesucht wird also „eine Vernunft […], für die das Denken nur dazu da wäre, um irgendwelchen noch ungewissen Weisen Mensch zu sein ein intellektuelles Stützgerüst zu geben“.95 Eine andere, nicht-instrumentelle Vernunft kann demnach nicht auf dem Boden oder besser Sumpf des Irrationalen, sondern nur innerhalb des Bereiches der Rationalität entwickelt werden. Es geht dabei, so die vielzitierte Formel aus der Skizze der Erkenntnis des Dichters (1918), um „die Aufgabe“: „immer neue Lösungen, Zusammenhänge, Konstellationen, Variable zu entdecken, Prototypen von Geschehensabläufen hinzustellen, lockende Vorbilder, wie man Mensch sein kann, den inneren Menschen erfinden.“96 Bei diesen „Versuche[n,] einen andren Menschen zu finden“,97 ist der Gegenstand der Erkenntnis bzw. der essayistischen Versuchsanordnung nicht der einzelne Mensch und dessen „multipolaren Relationen“.98 Vielmehr geht es um die Frage nach experimentellen Konfigurationen,
_____________ 93 Ebd. S. 900. Vgl. hierzu auch M. Fick: Sinnenwelt und Weltenseele (1993). S. 282f., die in Musils Das Geistliche, der Modernismus und die Metaphysik (1912) eine „gedankliche Zusammenfassung der Auseinandersetzung mit Mach“ sieht. 94 R. Musil: Das Geistliche, der Modernismus und die Metaphysik (1912) (GW II, 991). 95 Ebd. S. 989. 96 Ders.: Skizze der Erkenntnis des Dichters (1918) (GW II, 1029). 97 Für den Essayband, den Musil Anfang der Zwanzigerjahre herausgeben wollte, war der Titel „Versuche einen andren Menschen zu finden“, vorgesehen. Vgl. ders.: Tagebücher. Heft 25 (1921–1923?) (TB I, 643) und ebd. Heft 26 (1921–1923?) (TB I, 663). 98 Ders.: Penthesileiade. In: Der Lose Vogel. Nr. 2, Februar 1912 (GW II, 985–987, hier 987); vgl. G. Simmel: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Leipzig 1908.
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welche die Bedingungen der Möglichkeit seines Menschseins erst zu schaffen vermögen. e) Der mathematische Mensch (1913) als Paradigma moderner Existenz Wenn man ein Rechteck in vier Rechtecke zerlegt, so gewinnt man bei gleichem Inhalt den vierfachen Umfang; wenn es aber ein bedrucktes Rechteck ist, so gewinnt man bei gleichem Umfang den vierfachen Inhalt.99 (Robert Musil) Aber alle Gebiete des modernen Denkens nach der Mathematik auszurichten, heißt, die Frage nach der Positivität der verschiedenen Gebiete des Wissens, ihrer Seinsweisen, ihre Verwurzelung in den Bedingungen ihrer Möglichkeit, die in der Geschichte ihnen zugleich ihren Gegenstand und ihre Form gibt, allein dem Gesichtspunkt der Objektivität der Erkenntnis zu unterwerfen.100 (Michel Foucault)
Ebenfalls in Bleis Losem Vogel veröffentlicht Musil 1913 den Essay Der mathematische Mensch. Hier wird nach dem möglichen Subjekt dieses anderen Denkens gefragt. Der Essay beginnt – wie so oft bei Musil – mit einem Vergleich, der ins Absurde weitergeführt wird. Die euphemistische Kennzeichnung des Feldherrn als „Mathematiker des Schlachtfelds“ verkenne, so erfahren wir, das Wesen der Mathematik, deren Schnelligkeit und Entschlussfreude auf die vier Grundrechenarten beschränkt bleibe. Deswegen forderte bereits ein Vorgang wie die Auflösung einer einfachen Differentialrechnung Tausende von Toten. – Ob aus Gründen des dazu nötigen Zeitaufwandes oder aber der Unverhältnismäßigkeit, sprich Wirkungslosigkeit des eingesetzten Mittels, wird dabei offen gelassen. Diese gleichsam in der Schwebe gehaltene Pointe nun nochmals ironisch gewendet: „Das spricht nicht gegen das Feldherrningenium, wohl aber für die eigentümliche Natur der Mathematik.“101 Denn diese wird als „geistige Idealapparatur“ bezeichnet, um „alle überhaupt möglichen Fälle prinzipiell vorzudenken.“102 Auch die der Ma-
_____________ 99 Ders.: Zu Kerrs 60. Geburtstag. In: Die Literarische Welt, 22. Dezember 1927 (GW II, 1180–1186). 100 M. Foucault: Das Triȍder des Wissens. In: ders.: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, 7. Aufl. Frankfurt 1988. S. 413–418, hier S. 416. 101 R. Musil: Der mathematische Mensch. In: Der Lose Vogel. Nr. 10–11, April–Juni 1913 (1913) (GW II, 1004–1008), hier 1004. 102 Ebd. S. 1005.
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thematik zugeschriebene „Ökonomie des Denkens“103 erfährt in zweierlei Hinsicht eine ironische Relativierung: zum einen angesichts des Umstands, dass das Denken selbst „eine weitläufige und unsichere Sache“ ist,104 und zum anderen angesichts der Schwerfälligkeit und Umständlichkeit eines (Denk-)„Apparat[s]“, der nur jene Bedürfnisse befriedigt, denen er dient.105 In dieser Hinsicht sei der mathematische Mensch als Subjekt der Erkenntnis kein Abenteurer, der in neues Gebiet eindringt, durch das nur eine alte, vor den zufälligen Ereignissen eines Unwetters wie eines Räuberüberfalls ungesicherte Landstraße führt. Vielmehr fahre dieser Erkenntnistypus sicher und bequem in einem Schlafwagenabteil auf erschlossenen und regelmäßig gewarteten Erkenntnisgleisen.106 Allerdings verlaufen auch diese Bahnen nur scheinbar auf sicherem Grund. In der fünf Jahre später veröffentlichten Skizze der Erkenntnis des Dichters (1918) heißt es zu den Grundlagen dieses nur scheinbar behaglichen Reisekomforts: „Zu unterst schwankt auch hier der Boden, die tiefsten Grundlagen der Mathematik sind logisch ungesichert, die Gesetze der Physik gelten nur angenähert, und die Gestirne bewegen sich in einem Koordinatensystem, das nirgends einen Ort hat.“107 Erst auf den zweiten Blick offenbart sich also der ökonomisch und bequem Reisende bzw. Erkennende als Abenteurer. Ebenso beispielhaft wie beispielgebend ange-
_____________ 103 Ebd. S. 1004; vgl. E. Mach: Die ökonomische Natur der physikalischen Forschung. In: ders.: Populär-wissenschaftliche Vorlesungen (1896), 4. verm. u. durchges. Aufl. Leipzig 1910. S. 217–245, hier S. 226: „Am meisten ausgebildet ist die Gedankenökonomie in jener Wissenschaft, welche die höchste formelle Entwicklung erlangt hat, welche auch die Naturwissenschaft so häufig zur Hilfe heranzieht, in der Mathematik. So sonderbar es klingen mag, die Stärke der Mathematik beruht auf der Vermeidung aller unnötigen Gedanken, auf der größten Sparsamkeit der Denkoperationen.“ Vgl. hierzu auch R. Musil: Beitrag zur Beurteilung der Lehren Machs (1908) und Studien zur Technik und Psychotechnik. Reinbek bei Hamburg 1980. S. 9–135, hier S. 29. 104 R. Musil: Der mathematische Mensch (1913) (GW II, 1004). 105 Ebd. S. 1005. 106 Vgl. ebd.: „Das ist die alte geistige Landstraße mit Wettergefahr und Räuberunsicherheit ersetzt durch Schlafwagenlinien. Das ist erkenntnis-theoretisch betrachtet Ökonomie.“ 107 Ders.: Skizze der Erkenntnis des Dichters (1918) (GW II, 1027); vgl. ders.: Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906) zu dem Problem der imaginären bzw. irrationalen Zahlen: „‚Aber das Merkwürdige ist ja gerade, daß man trotzdem mit solchen imaginären oder sonstwie unmöglichen Werten ganz wirklich rechnen kann und zum Schlusse ein greifbares Resultat vorhanden ist!‘“ (GW II, 73f.) und ebd. S. 74: „Ist das nicht wie eine Brücke, von der nur die Anfangs- und Endpfeiler vorhanden sind und die man dennoch so sicher überschreitet, als ob sie ganz dastünde?“ (GW II, 73f.) Zu den Grundlagen der modernen Physik s. E. Emter: Literatur und Quantentheorie. Die Rezeption der modernen Physik in Schriften zur Literatur und Philosophie deutschsprachiger Autoren (1925–1970). Berlin/New York 1995, bes. S. 25ff.
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führt werden jene Naturwissenschaften, die „mit einemmal wild […] das Vorhandensein des Raums oder der Zeit“ leugnen,108 also die zeitgenössische Relativitätstheorie. Denn die leidenschaftliche Exaktheit jener Mathematiker, die durch ihre ‚Herumgrübeleien‘ auf den Befund gekommen sind, dass das wissenschaftliche Koordinatensystem „nirgends einen Ort hat“, also folglich gleichsam „in der Luft“ steht,109 legt, so Musil, die utopische Dimension eines „phantastischen Gefühls“110 innerhalb der Mathematik frei. Das utopische Potential der Mathematik als „Tapferkeitsluxus der reinen Ratio“111 liegt weder in ihrer inneren, quasi schlafwandlerischen Ökonomie noch in ihrem äußeren praktischen Nutzen,112 sondern in ihrem „andere[n] und eigentliche[n] Gesicht“, das „unökonomisch und leidenschaftlich“ ist.113 Der Relativitätstheoretiker wie der Mathematiker wird angesichts der Erkenntnis, dass die mathematischen Grundlagen der ganzen Zivilisation bei fortlaufenden Maschinen in der Luft stehen, zum modernen Menschen stilisiert, der den „intellektuellen Skandal“, die Paradoxie dieser Erkenntnistragödie, in vorbildlicher Weise und gleichsam stellvertretend für den Rest der Menschheit trägt. Gegenüber der allgemeinen Gefühlsduselei des zeitgenössischen Antiintellektualismus sei der mathematische Mensch daher Exemplum, Analogie „für den geistigen Menschen, der kommen wird“: Denn die Mathematiker „tun auf ihrem Gebiet das, was wir auf unsrem tun sollten“.114 Das heißt, der Mathematiker hat zwar die richtige Erkenntnishaltung, aber er arbeitet auf falschem Gebiet,115 sprich: Er soll in Gebiete eindringen, die außerhalb des „erkenntnis-theoretisch[en]“116 Schienennetzes liegen.
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R. Musil: Der mathematische Mensch (1913) (GW II, 1007). Ebd. S. 1006. Ebd. Ebd. Vgl. ebd.: „Auch manche Philologen treiben Dinge, deren Nutzen sie wohl selbst nicht einsehen, und die Briefmarken- und Krawattensammler noch mehr.“ Ebd. S. 1005. Ebd. S. 1007; vgl. die analoge Konstruktion in ders.: [Über den Essay] [1911/12?]: „Wenn uns ein Gedanke ergreift, umstürzt usw. so tut er auf dem senti-mentalen Gebiet das, was eine revolutionierende Erkenntnis auf dem rein rationalen tut.“ (GW II, 1336). Vgl. auch ders.: Der Mann ohne Eigenschaften (Nachlass) als Metatext zu Kap. 62: Auch die Erde, namentlich aber Ulrich, huldigt der Utopie des Essayismus. In: ders.: Der Mann ohne Eigenschaften. 1. Buch (1930): „Es wird festgestellt, daß dieser (utopische) Mensch als Tatmensch heute schon vorhanden ist; aber exakte Menschen kümmern sich nicht um die in ihnen angelegten Utopien.“ (MoE II, 1878) Ders.: Der mathematische Mensch (1913) (GW II, 1005).
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An dieser Stelle verwandelt sich der „Spaß“, das heißt die bisher durchgängige Stillage der Ironisierung, auf der Ebene des essayistischen Diskurses explizit in „Ernst“, indem ein neues Denken, eine Synthese (hier im Bild der ,feindlichen Übernahme‘) von Gedanken und Gefühlen proklamiert wird: „Mit seinen Ansprüchen auf Tiefe, Kühnheit und Neuheit beschränkt es [das mathematische Denken] sich vorläufig noch auf das ausschließlich Rationale und Wissenschaftliche. Aber dieser Verstand frißt um sich und sobald er das Gefühl erfaßt, wird er Geist.“117 Mit der Aufgabe, die Methode des mathematischen und technischen, allgemein naturwissenschaftlichen Denkens auf das Gebiet des Gefühls zu übertragen, wird allerdings nicht der Mathematiker selbst betraut: „Diesen Schritt zu tun, ist Sache der Dichter“.118 f) Analyse und Synthese (1913) oder der Dichter als der mathematische Mensch auf senti-mentalem Gebiet Mathematischen Wagemut, Seelen in Elemente auflösen, unbeschränkte Permutation dieser Elemente, alles hängt dort mit allem zusammen und läßt sich darauf aufbauen. Der Aufbau beweist aber nicht: daraus besteht’s, sondern damit hängt es zusammen.119 (Robert Musil) Bei fortgesetzter Ausübung von Partialanalysen oder -synthesen (das ist bei fortgesetztem Denken) wird schließlich alles mit allem verwandt, aus allem ableitbar, das Geschehen zerfällt in Ähnlichkeiten und schrankenlose Kombinationsmöglichkeiten.120 (Robert Musil)
Um die Aufgabe einer möglichen Übertragung der mathematischen Erkenntnishaltung auf das senti-mentale Gebiet geht es auch in einer kleinen Skizze, die Robert Musil 1913 – neben Texten von Hugo Ball, Kurt Hiller, Erich Mühsam, Johannes R. Becher, Franz Blei u. a. – im expressio-
_____________ 117 Ebd. S. 1007f.; vgl. ders.: Franz Blei (1918). In: Der Friede, 7. Juni 1918 (GW II, 1022–1025, hier 1024): „Die Artikulation des Gefühls durch den Verstand, die Wegwendung des Verstands von den belanglosen Wissensaufgaben zu den Aufgaben des Gefühls, das ist das Ziel des Essayisten, mit dem ferneren Ziel der menschlichen Seligkeit […].“ 118 Ders.: Der mathematische Mensch (1913) (GW II, 1008). 119 Ders.: Profil eines Programms [1912] (GW II, 1315–1319, hier 1318). 120 Ders.: Analyse und Synthese. In: Revolution, 15. November 1913 (GW II, 1008–1009, hier 1008).
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nistischen Kontext der Revolution publiziert und im Rekurs auf den gleichlautenden Goethe’schen Prätext Analyse und Synthese benannt hat. Zunächst wird der Dichter hier qua Syllogismus als denkender Mensch bestimmt. Der Text setzt ein mit einem logischen Zweisatz, der die herkömmliche Dichotomie von natur- und geisteswissenschaftlicher Methodik, Erklären und Verstehen, in Frage stellt: „Nachdenkende Menschen sind immer analytisch. Dichter sind analytisch.“ Und wie jedes dichterische Gleichnis sowohl analytisches wie synthetisches Denken beinhalte, so seien auch Verstehen und Erklären untrennbar miteinander verbunden: „man versteht eine Erscheinung, indem man erkennt, wie sie entsteht oder wie sie zusammengesetzt ist, verwandt, verbindbar mit andren ist.“121 Das Denken des Dichters, das Analyse und Synthese, Infinitesimalrechnung und Verstehen vereint, schafft zwar – in bewusster Abgrenzung zum expressionistischen O-Mensch-Pathos – keinen „Neue[n] Mensch[en]“, aber gleichwohl die Bedingung der Möglichkeit, „neue Menschen zu erzeugen.“122 In seinem Plädoyer „gegen alle Wünsche nach Entkomplizierung der Literatur und des Lebens, nach homerischer oder nach religiöser Stimmung, nach Einheitlichkeit und Ganzheit“,123 verteidigt Musil seinen Entwurf eines dichterischen Denkens bzw. eines denkenden Dichtens sowohl gegen den Vorwurf des Rationalismus wie gegen den des Relativismus. Zum einen sei ein Denken bzw. Dichten, das Analyse und Synthese vereint, kein rein rationales, sondern vielmehr „ein emotio-rationales und senti-mentales Denken“. Zum anderen handele es sich nicht um ein „Spiel“ (im Sinne eines relativistischen ‚alles ist mit allem beliebig kombinierbar‘), sondern um eine Kunst, die das „Denken“ wie die „moralische Phantasie“ zur unentbehrlichen Voraussetzung habe.124 Bei dem kurzen Essay handelt es sich um den Entwurf eines Literaturprogramms, der sich ebenso als Prolegomenon zu Musils figurativem Metaessay Über Robert Musil’s Bücher (1913) lesen lässt wie als Antizipation der Mannheim’schen Wissenssoziologie im Bereich der Dichtung(stheorie).
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Ebd. Ebd. S. 1009. Ebd. Ebd. S. 1008.
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g) Skizze der Erkenntnis des Dichters (1918) – eine erkenntnistheoretische Unschärferelation Was wollen wir? Das Paradies. Wer erringt es? Der Geist.125 (Kurt Hiller) Wir haben nicht zuviel Verstand und zuwenig Seele, sondern wir haben zuwenig Verstand in den Fragen der Seele.126 (Robert Musil) Was habe ich aber gemeint mit: Das Ratioȓde nicht rational begreifen?127 (Robert Musil)
Die Skizze der Erkenntnis des Dichters, 1918 in der von Franz Blei herausgegebenen Zeitschrift Summa erschienen, stellt eine Art Zwischen-Summe von Musils metareflexiven ,Umschreibungen‘ jener anderen, nichtratioïden bzw. transrationalen oder besser selbstreflexiven Vernunft dar, welche er in immer neuen Ansätzen zu bestimmen versucht. In der methodologischen Vorbemerkung zu dem „Versuch einer erkenntnistheoretischen Prüfung“128 wird die „emotio-rationale und senti-mentale“129 Komplexität des dichterischen Erkenntnisvorgangs ausdrücklich auf „die Betrachtung der Intellektualität“ beschränkt.130 Auch hier wird die Suche nach einer anderen Vernunft auf die Frage nach dem erkennenden Subjekt und seinem Verhältnis zum Objekt der Erkenntnis zugespitzt: was ist ein Dichter? – Dieser sei, so lautet die vorläufige Antwort: der „in einer bestimmten Weise und auf bestimmtem Gebiet Erkennende[ ]“.131 Nach einer Aufzählung von einzelnen Merkmalen und Kennzeichen, die den Suchbegriff selbst wieder mit semipoetischen Mitteln umkreisen,132 wird ein erneuter Definitionsversuch qua
_____________ 125 K. Hiller: Philosophie des Ziels. In: Das Ziel. Aufrufe zu tätigem Geist. Hrsg. v. K. H. München/Berlin 1916. S. 187–219, hier S. 203. 126 R. Musil: Das hilflose Europa oder Reise vom Hundertsten ins Tausendste. In: Ganymed 1922 (GW II, 1075–1094, hier 1092). 127 Ders.: Tagebücher. Heft 25 (1921–1923?) (TB I, 658). 128 Ders.: Skizze der Erkenntnis des Dichters (1918) (GW II, 1026). 129 Ders.: Analyse und Synthese (1913) (GW II, 1008). 130 Ders.: Skizze der Erkenntnis des Dichters (1918) (GW II, 1026). 131 Ebd. S. 1026. 132 Vgl. ebd.: „Man könnte ihn [den Dichter] beschreiben als den Menschen, dem die rettungslose Einsamkeit des Ich in der Welt und zwischen den Menschen am stärksten zu Bewußtsein kommt. Als den Empfindlichen, für den nie Recht gesprochen zu werden vermag. Dessen Gemüt auf die imponderablen Gründe viel mehr reagiert als auf gewichtige. Der die Charaktere verabscheut […]. Der noch in der Freundschaft und in der Liebe den Hauch von Antipathie empfindet, der jedes Wesen von den an-
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Negation vorgenommen. Das Gegenteil des Dichters und seines Verhältnisses zur Welt sei „der rationale Mensch auf ratioïdem Gebiet.“ Das ratioïde Gebiet, ein „Wortversuch“, für dessen „Scheußlichkeit“ um Verzeihung gebeten wird,133 umfasst „alles wissenschaftlich Systematisierbare, in Gesetze und Regeln zusammenfaßbare, vor allem also die physische Natur; die moralische aber nur in wenigen Ausnahmefällen des Gelingens. Es ist gekennzeichnet durch eine gewisse Monotonie der Tatsachen, durch das Vorwiegen der Wiederholung, durch eine relative Unabhängigkeit der Tatsachen voneinander“. Letztere lassen sich sowohl in „Gesetze, Regeln und Begriffe […] einfügen“ als auch „eindeutig beschreiben und vermitteln“. Es ist das Gebiet des nomothetischen Denkens, das vom „Begriff des Festen“134 und der Regel über die Ausnahmen bestimmt ist.135 Es ist das Gebiet der Naturwissenschaften, genauer des zeitgenössischen Verständnisses von Naturwissenschaft. Das nicht-ratioïde Gebiet als „das Heimatgebiet des Dichters, das Herrschaftsgebiet seiner Vernunft“136 ist dagegen das Gebiet „der Herrschaft der Ausnahmen über die Regel“. Es ist das Gebiet des idiographischen Denkens, „das Gebiet der Reaktivität des Individuums gegen die Welt und die anderen Individuen“, „der Werte und Bewertungen“, „der ethischen und ästhetischen Beziehungen, das Gebiet der Idee.“137 Die „Sendung“,138 oder etwas weniger pathetisch, die Aufgabe des Dichters, ergibt sich nach Musil weniger aus spezifischen Anlagen des Dichters, der über „keine andre Art und Fähigkeit des Erkennens als der
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deren fernhält und das schmerzlich-nichtige Geheimnis der Individualität ausmacht. Der seine eignen Ideale zu hassen vermag, weil sie ihm nicht als Ziele, sondern als die Verwesungsprodukte seines Idealismus erscheinen.“ Bei dieser Auflistung von „einzelne[n] Beispiele[n] und Einzelbeispiele[n]“ handelt es sich in weiten Teilen auch um eine Selbstbeschreibung Musils. Ebd.; M. Luserke (Wirklichkeit und Möglichkeit (1987). Anm. 1. S. 56f.) verweist darauf, „daß die oid-Suffixbildung sowohl für Musil als auch für die Sprache der Wissenschaft seiner Zeit ein Spezifikum darstellt“, welches traditionelle Antinomien (rational vs. irrational, gesund vs. krank etc.) zu überwinden strebt. R. Musil: Skizze der Erkenntnis des Dichters (1918) (GW II, 1026f.). Ebd. S. 1028. Ebd. S. 1029. Ebd. S. 1028. Vgl. ders.: Symptomen-Theater I. In: Der Neue Merkur, Juni 1922 (GW II, 1094– 1103, hier 1097): „Vor die Wahl zwischen Impressionismus und Expressionismus gestellt, würde ich mich für den zwischen Deutschen von heute so wunderlich wirkenden toten Dilthey entscheiden, der die Sendung des großen Dichters in einer Linie mit der der Propheten, Denker, Weisen, Religionsbildner und andren großen Gestalter des Menschengeistes sah.“
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rationale Mensch“ verfüge, sondern aus der „Struktur der Welt“.139 Es gehe deshalb – auf ratioïdem wie auf nicht-ratioïdem – Gebiet darum, die „größte Tatsachenkenntnis und die größte ratio“ zu verbinden: „Nur findet der eine die Tatsachen außer sich und der andre in sich.“140 Was ist hier gemeint? Impliziert die immer wieder behauptete Einheit der Erkenntnis und der Methode eine Einheit der Vernunft bei einer Zweiheit der Welten,141 die in eine der inneren und eine der äußeren Tatsachen auseinanderfällt? Eine ontologische Differenzierung zwischen einer Innen- und Außenwelt würde den empiriokritizistische Grundannahmen Ernst Machs widersprechen.142 Gleichwohl erinnert die Unterschei-
_____________ 139 Ders.: Skizze der Erkenntnis des Dichters (1918) (GW II, 1029); vgl. dagegen F. Blei: Kritische Prolegomena. In: ders.: Vermischte Schriften. Bd. 6: Der Dichter und das Leben. Ein Buch Kritik. München/Leipzig 1912. S. 7–84, hier S. 70: „Er [der Künstler] ist genau wie jeder andere Mensch, der das tut was er tun muß. Er unterscheidet sich von den andern nur dadurch, daß er seinen Auftrag nicht von außen bekam sondern von sich selber […].“ 140 R. Musil: Skizze der Erkenntnis des Dichters (1918) (GW II, 1029). 141 Vgl. hierzu ders.: Der Mann ohne Eigenschaften. 2. Buch (1932) zum „Verhältnis zwischen Dingen und Gefühl im ausgereiften Weltbild des zivilisierten Menschen“: „[…] in jedem Kopf macht sich neben dem logischen Denken mit seinem strengen und einfachen Ordnungssinn, der das Spiegelbild der äußeren Verhältnisse ist, ein affektives gelten, denn Logik, soweit man überhaupt von einer solchen reden darf, den Eigenheiten der Gefühle, Leidenschaften und Stimmungen entspricht, so dass sich die Gesetze dieser beiden ungefähr so zueinander verhalten, wie die eines Holzplatzes, wo Klötze rechteckig behauen und versandbereit aufgestellt werden, zu den dunkel verschlungenen Gesetzen des Waldes mit ihrem Treiben und Rauschen. Und da die Gegenstände unseres Denkens keineswegs ganz unabhängig von seinen Zuständen sind, vermengen sich nicht nur in jedem Menschen diese beiden Denkweisen, sondern sie können ihm bis zu einem gewissen Grad auch zwei Welten gegenüberstellen […].“ (MoE I, 857) 142 Zur Rezeption Ernst Machs in der österreichischen Literatur im Allgemeinen sowie bei R. Musil im Besonderen vgl. Y. Desportes: Vergleichende Untersuchung eines Stils und einer Philosophie: Ein Werk Musils aus der Sicht Machs (1974). In: Robert Musil. Hrsg. v. R. v. Heydebrand. Darmstadt 1982. S. 281–296; M. Diersch: Ernst Mach: Eine Philosophie des „unrettbaren Ich“. In: ders.: Empiriokritizismus und Impressionismus. Über Beziehungen zwischen Philosophie, Ästhetik und Literatur um 1900 in Wien. Berlin (DDR) 1977. S. 13–46 und ders.: Draußen, Drinnen und Ich. Ernst Machs ‚Spiegel der Erkenntnis‘ als Anregung für österreichische Erzählkunst des 20. Jahrhunderts. In: Genauigkeit und Seele. Zur Österreichischen Literatur seit dem Fin de siècle. Hrsg. v. J. Strutz/E. Kiss. München 1990. S. 29–43; C. Monti: Funktion und Fiktion. Die Mach-Diskussion Robert Musils in den Jahren zwischen den „Verwirrungen des Zöglings Törleß“ und den Essays. In: Musil-Forum 5 (1979). S. 38–67 und 154–183 und dies.: Die Mach-Rezeption bei Hermann Bahr und Robert Musil. In: Musil-Forum 10. Jg. 1/2 (1984). S. 201–214; J. Ryan: Die andere Psychologie. Ernst Mach und die Folgen. In: Österreichische Gegenwart. Die moderne Literatur und ihr Verhältnis zur Tradition. Hrsg. v. W. Paulsen. Bern/München 1980. S. 11–25; G. Müller: Die Philosophierezeption Robert Musils. In: Literatur und Philosophie. Hrsg. v. B. Ekmann/B. Kristiansen/F. Schmöe. Kopenhagen/München 1983.
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dung zwischen inneren und äußeren Tatsachen sehr an „das verzweifelte Problem des Verhältnisses zwischen Psychischem und Physischem“.143 Schließlich liegt der Unterschied zwischen Physik und Psychologie und damit „der scheinbare Gegensatz der wirklichen und der empfundenen Welt“ laut Ernst Machs Analyse der Empfindungen (1886) in erster Linie in der „Betrachtungsweise“,144 in der Perspektivierung145 und Verknüpfung auf der Ebene der Beobachtung und nicht in der Qualität der monotonen, sich wiederholenden,146 „singularen Tatsachen“147 begründet. Das Ratioȓde ist dabei keine ausschließlich dem Erkenntnissubjekt zukommende Eigenschaft, sondern auch eine des Objekts: das Ratioȓde ist eine Subjekt-Objekt-Relation. Wird sich in der Dialektik der Aufklärung von Horkheimer und Adorno das menschliche Subjekt in der Beherrschung der Natur zum Objekt, so spricht Musil der Natur selbst als Objekt Subjektqualität zu, da sie sich als subjectum der Erkenntnis unterwerfe: „denn nicht hat sich die Natur nach der ratio gerichtet, sondern diese nach der Natur; aber ich finde kein Wort, das nicht nur die Methode, sondern auch das Gelingen gebührend ausdrückte, nicht bloß die Unterwerfung, sondern auch die Unterwürfigkeit der Tatsachen“.148 Vor dem Hintergrund dieser Selbstreflexion der Subjekt/ObjektDichotomie als „historische Vertäuschung“149 müssen die „paradoxen, ja paralogischen“150 Aspekte des Textes nicht auf die mangelnde philosophi-
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143 144 145
146 147 148 149 150
S. 76–101; M. Fick: Sinnenwelt und Weltenseele (1993). S. 276–284; J. Czaja: Psychophysische Grundperspektive und Essayismus. Untersuchungen zu Robert Musils Werk mit besonderem Blick auf Gustav Theodor Fechner und Ernst Mach. Diss. (masch.) Tübingen 1993; C. Hoffmann: „Der Dichter am Apparat“. Medientechnik, Experimentalpsychologie und Texte Robert Musils 1899–1942. München 1997; T. Mehigan: Robert Musil, Ernst Mach und das Problem der Kausalität. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 71 (1997). S. 264– 288; H.-J. Pieper: Musils Philosophie. Essayismus und Dichtung im Spannungsfeld der Theorien Nietzsches und Machs. Würzburg 2002 u. a. Vgl. R. Musil: Beitrag zur Beurteilung der Lehren Machs (1908). S. 17. E. Mach: Antimetaphysische Bemerkungen. In: ders.: Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen (1886). Mit e. Vorw. zum Neudr. v. G. Wolters. Nachdr. d. 9. Aufl. (Jena 1922). Darmstadt 1991. S.1–31, hier S. 22. Vgl. R. Musil: Beitrag zur Beurteilung der Lehren Machs (1908). S. 122: „Diese Scheidung [zwischen Außenwelt und Wahrnehmung] bekämpft Mach. Nach ihm sind Rot, Ausgedehnt u. dgl. sozusagen schon die Elemente an sich, und ihre vermeintliche Doppelstellung zwischen Physischem und Psychischem beruht nur auf einem Wechsel und einer Verwechslung der Perspektive.“ Vgl. ders.: Skizze der Erkenntnis des Dichters (1918) (GW II, 1027). Ders.: Tagebücher. Heft 10 (1918–1921) (TB I, 479). Ders.: Skizze der Erkenntnis des Dichters (1918) (GW II, 1026). Ebd. Vgl. M. Luserke: Robert Musil. Stuttgart/Weimar 1995. S. 71.
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VI. Robert Musil oder Essayismus als andere Vernunft
sche Kompetenz oder die naive Wissenschaftsgläubigkeit des Autors zurückgeführt werden. Sie lassen sich vielmehr als essayistischer bzw. „erkenntnis-theoretische[r]“151 Versuch lesen, die Komplexität des verhandelten Sachverhalts wie die Nichtidentität von Sache und Begriff in der fehlenden Disjunktion von Subjekt, Methode und Objekt der Erkenntnis nicht nur zu reflektieren, sondern zugleich auch zur Darstellung zu bringen. Eine Unterscheidung zwischen Gebiet, Methode und Erkenntnisart lässt sich auf Grundlage von Skizze der Erkenntnis des Dichters (1918) nicht genau ausmachen. So wird beispielsweise die auf dem Gebiet der inneren Tatsachen arbeitende Psychologie dem ratioïden Gebiet der Naturwissenschaft zugeordnet, die Beschäftigung mit den „seelischen Motive[n]“ jedoch dem nicht-ratioïden Gebiet der Dichtung.152 In einer Tagebuchnotiz aus dem Zeitraum der Veröffentlichung von Skizze der Erkenntnis des Dichters greift Musil die hier getroffenene Unterscheidung zwischen Psychologie und Literatur in ihrem jeweiligen Verhältnis zum ratioïden Gebiet wieder auf: „Wir können nun allerdings individuelle Entscheidungen typisiert auffassen. […] Wir können sie aber auch aus Motiven versuchsweise superponieren. Das ist nicht-rat.[ioïde] Methode.“ Allerdings gelangt er an dieser Stelle zu einem anderen Ergebnis: „Prinzipiell gibt es vielleicht gar kein ratioïdes Gebiet, vorsichtiger gesagt, können wir uns keines vorstellen. / Aber es bleibt der Unterschied der Methode oder des Verhaltens.“153 Auch in dem Tagebuch Heft 25 (1921–1923?) kommt Robert Musil auf die in der Skizze der Erkenntnis des Dichters nicht ganz widerspruchsfrei getroffene Unterscheidung zwischen zwei Erkenntnisgebieten bei Einheit der Methode zurück und revidiert: „Also 2 Gebiete und 2 Methoden. / Ich kann das n[icht-]r.[atioïde] ,lebendig‘ betrachten und vergleichend, kausal
_____________ 151 Ders.: Skizze der Erkenntnis des Dichters (1918) (GW II, 1026). 152 Ebd. S. 1029; vgl. ebd.: „Psychologie gehört in das ratioȓde Gebiet und die Mannigfaltigkeit ihrer Tatsachen ist auch gar nicht unendlich, wie die Existenzmöglichkeit der Psychologie als Erfahrungswissenschaft lehrt. Was unberechenbar mannigfaltig ist, sind nur die seelischen Motive und mit ihnen hat die Psychologie nichts zu tun.“ (GW II, 1029) Vgl. hierzu auch ders.: Geist und Erfahrung (1921). S. 1052: „[…] ich habe es einmal [in Skizze der Erkenntnis des Dichters] Kausalität und Motivation genannt. Kausalität sucht die Regel durch die Regelmäßigkeit, konstatiert das, was sich immer gebunden findet; Motivation macht das Motiv verstehen, indem sie den Impuls zu ähnlichem Handeln, Fühlen oder Denken auslöst. Das fundiert schon die erwähnte Unterscheidung von wissenschaftlicher Erfahrung und Lebenserfahrung. Ich möchte aber erwähnen, daß auf dieser Linie auch die Verwechslung von gelehrter und dichterischer Psychologie liegt, die so oft begangen wird.“ 153 Ders.: Tagebücher. Heft 10 (1918–1921) (TB I, 479).
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erklärend .. also rational.“154 Demnach gibt es keinen kategoriellen Unterschied zwischen einem ‚ratioïden‘ und einem ‚nicht-ratioïden‘ Gebiet, sondern nur einen zwischen der jeweiligen – in den Worten Machs – ‚physischen‘ (auf äußere Tatsachen gerichtet) oder ‚psychischen‘ (auf innere Tatsachen gerichtet) Beobachtungsperspektive. In seinem letzten publizierten Essay Literat und Literatur. Randbemerkungen dazu (1931) schließlich schlägt Musil anstelle der normativen Dichotomisierung von Literatur und Dichtung ein kommunikatives Konzept von Literatur vor.155 Literatur wird hier als mengentheoretischer Oberbegriff von Lyrik, Drama, Kritik, Essay etc. verstanden.156 Zugleich überträgt er den in der Skizze der Erkenntnis des Dichters vorgeschlagenen Terminus des Nicht-Ratioïden vom Gebiet des zu Erkennenden auf diesem äquivalenten Erkenntnisformen bzw. Denkmethoden: „In einem vor langem erschienenen Aufsatz habe ich das einstmals das nicht-ratioïde Denken genannt, sowohl in der Absicht, es vom wissenschaftlichen als dem ratioïden zu unterscheiden“.157 Der Begriff des Nicht-Ratioïden, welcher in der Skizze der Erkenntnis des Dichters (1918) noch dem Gebiet der Moral und der Dichtung zugeschrieben worden ist, wird in Literat und Literatur (1931) nun explizit auch auf das „Gebiet des Essays“ bezogen.158 Der „Geist der Literatur“ als „der Geist des Meinens, Glaubens, Ahnens, Fühlens“ sei, so Musil, keine bloße Vor- oder „Unterstufe der wissenden Sicherheit“, sondern gedanklich selbstständig, da „diesen beiden Arten von Geist“ – also Wissenschaft auf der einen und Kunst und Essay auf der anderen Seite – „zwei autonome Gegenstandsgebiete des Erlebens und Erkennens zugrunde liegen, deren Logik nicht ganz die gleiche ist.“159 Es kann und soll an dieser Stelle nicht darum gehen, die hier anhand der Essays und Textfragmente aufgezeigten Widersprüche der immanenten Essaytheorie Robert Musils aufzulösen. Deren Komplexität, Offen-
_____________ 154 Ebd. Heft 25 (1921–1923?) (TB I, 658). 155 Vgl. ders.: Literat und Literatur (1931): „[…] der innerste Brunnen einer Literatur [ist] ihre Lyrik, auch wenn man es für falsch hält, daraus eine künstlerische Rangfrage zu machen.“ (GW II, 1211) Vgl. ebd. S. 1212: „Auch die Sprache des Gedichts ist ja schließlich eine Sprache, also vor allem eine Mitteilung […].“ 156 Ebd. S. 1204: „Denn Literat im richtigen Sinn, das ist der noch nicht spezifizierte Funktionär der Literatur, das Grundgebilde, woraus alle anderen entstehen. Der junge Mensch beginnt als Literat und nicht als Dichter oder gleich als Dramatiker, Historiker, Kritiker, Essayist und so weiter […].“ 157 Ebd. S. 1214. 158 Ebd.; vgl. ders.: Der Mann ohne Eigenschaften (Nachlass): „das Nicht-ratioïde der Moral (wie des Essays)“ (MoE II, 1880). 159 Ders.: Literat und Literatur (1931) (GW II, 1214).
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heit, Widersprüchlichkeit und Unabgeschlossenheit zwingt uns vielmehr dazu, selbst „Profile, Querschnitte eines Fließenden“ und „keinen Kataster“160 zu geben. Deshalb ist die folgende Gegenüberstellung nur als vorläufiges Zwischenergebnis der bisherigen Ausführungen zu verstehen. Übertragen wir die Unterscheidung zwischen Erkenntnissubjekt, -methode und -gebiet auf die Vielfalt der essayistischen Textproduktion, so kann im Hinblick auf die jeweilige Autorposition unterschieden werden zwischen: 1.) dem Naturwissenschaftler, der mit ratioïdem Methoden auf ratioïdem Gebiet arbeitet, 2.) dem zeitgenössischen Dichtertypus, der mit nicht-ratioïden Methoden auf nicht-ratioïdem Gebiet agiert, 3.) dem literarischen Essayisten bzw. essayistisch arbeitenden Dichter, der mit ratioïden (experimentelle Laboratoriumstechnik, Variation, Vergleich, Typisierung etc.) und nicht-ratioïden Methoden (Analogie, Gleichnis, Motivation etc.) auf nicht-ratioïdem Gebiet arbeitet und 4.) dessen Äquivalent in ,Pantoffeln‘, dem (populär-)wissenschaftlichen Essayisten, der sich mit (schein-)rationalen, das heißt irrationalen Methoden auf nicht-ratioïdem Gebiet bewegt. Während sich Musils kritische Polemik in Anmerkung zu einer Metapsychik (1914)161 und Geist und Erfahrung. Anmerkungen für Leser, welche dem Untergang des Abendlandes entronnen sind (1921) am Beispiel Walther Rathenaus und Oswald Spenglers gegen den zeitgenössischen, mit (schein-)wissenschaftlichem Anspruch auftretenden Essayisten richtet,162 ist der literarische Essayist bzw. essayistische Dichter ebenso Selbstbeschreibung der Musil’schen Schreibweise wie Programm einer modernen Textproduktion. Essayismus beinhaltet sowohl die „Rationalisierung des ‚NichtRatioȓden‘“,163 das heißt den „Versuch, empirisch-wissenschaftliche Methoden auf die Erarbeitung nicht-ratioȓder Gebiete […] anzuwenden“164 als ‚appetitive‘ Variante der Erkenntnis wie auch deren selbst-reflexive Komponente: den sich selbst als Natur eingedenk bleibenden Geist. Wird im frühen Fragment Inhalt und Form [1910] die essayistische gegenüber der im engeren Sinne dichterischen Darstellungstechnik noch deutlich abgewertet, so ist für die folgenden Jahre eine deutliche Akzent-
_____________ 160 Ders.: [Form und Inhalt] [um 1910] (GW II, 1302). 161 Ders.: Anmerkung zu einer Metapsychik: In: Die Neue Rundschau, April 1914 (GW II, 1015–1020). 162 Vgl. ders.: [Über den Essay] [1911/12?]: „Rathenau ist das Beispiel der Entartung eines Essayisten in einen philosoph. Dilettanten“ (GW II, 1337). 163 G. Müller: Ideologiekritik und Metasprache in Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“. München/Salzburg 1972. S. 93. 164 H.-J. Pieper: Musils Philosophie. Essayismus und Dichtung im Spannungsfeld der Theorien Nietzsches und Machs. Würzburg 2002. S. 32.
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verschiebung zugunsten des Essayismus zu beobachten. Die literarische Praxis selbst wird zunehmend als eine essayistische bestimmt, welche „ihr schönes Fleisch und das des Homerischen“ (Narration) der Methode der „Variationen“ (Experiment) unterwirft.165 Die moderne Kunst, die Analyse und Synthese, Reflexion und Narration vereint, wird zur experimentellen ars combinatoria:166 „Sie [die Kunst] ermöglicht uns“ – so ist im Politischen Bekenntnis eines jungen Mannes zu lesen, das 1913 in den Weißen Blättern erschienen ist – „jene außerordentliche Beweglichkeit des Standpunkts, durch die wir das Gute im Bösen und das Häßliche im Schönen erkennen. Die starren Schätzungen (welche wir vorgefunden haben) auflösen und ihre Elemente zu neuen Gebilden unsrer moralischen und künstlerischen Phantasie zusammensetzen.“167 Sie schafft neue experimentelle Konfigurationen für – innere wie äußere, fiktive wie nicht-fiktive – Gegenstände („Elemente“), das heißt neue perspektivische Relationierungen auf der Ebene der Beobachtung und Beschreibung/literarischen Darstellung. Die gesellschaftliche Wirkungslosigkeit der modernen Kunst168 im Gesamtprozess der Modernisierung aber wird auf den „künstlerischen Partikularismus“ und die „Hemmungslosigkeit im Umsturz und Erfinden von Neuem“,169 dem rasanten Wechsel der ,-ismen‘, wie es an anderer Stelle heißt,170 zurückgeführt. Dieser zentrifugalen Tendenz steht auf der Produktions- wie auf der Reflexionsseite die sentimentale Sehnsucht nach einer verloren geglaubten dichterischen Naivität wie kulturellen Einheit gegenüber: „dieser sinnlose, täuschende allgemeine Hunger nach einer künstlerischen Erlösung […], nach einer homerischen Einfalt, in die wir verschiedenen alle einmal vereint zurücksinken könnten.“171 Gegenüber diesen beiden sich wechselseitig bedingenden Komplementen des zeitgenössischen Literatur- und Kunstmarktes gelte es, so die Position Musils,
_____________ 165 R. Musil: Skizze der Erkenntnis des Dichters (1918) (GW II, 1030). 166 Vgl. M. Bense: Über den Essay und seine Prosa. In: ders.: Plakatwelt. Vier Essays. Stuttgart 1952. S. 9–38, hier S. 34. 167 R. Musil: Politisches Bekenntnis eines jungen Mannes (1913) (GW II, 1012). 168 Vgl. ebd. die Erkenntnis des essayistischen Tagebuch-Ich: „[…] daß wir mit diesen Leistungen nicht durchdringen […]“ sowie K. Hiller: Philosophie des Ziels (1916). S. 203: „Wir (wenn es erlaubt ist, ‚wir‘ zu sagen), warum haben wir bisher nichts, aber auch garnichts erreicht? Warum blieb jeder geistige Schritt wirkungslos?“ 169 R. Musil: Politisches Bekenntnis eines jungen Mannes (1913) (GW II, 1012). 170 Vgl. R. Musil: Intentismus. (Aus einem unveröffentlichten Kunsthandbuch für reichgewordene Leute). In: Berliner Tageblatt, 5. Dezember 1926 (GW II, 681–683). 171 Ders.: Politisches Bekenntnis eines jungen Mannes (1913) (GW II, 1012); diese Funktion wird für Musil wie für viele andere Intellektuelle der Ausbruch des Ersten Weltkrieges erfüllen.
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die Momente der Reflexivität, Perspektivität und Relationierung weiterzuentwickeln, von der Überzeugung getragen, „daß wir gewinnen werden, wenn wir die Entwicklung, die bisher geführt hat, noch übertreiben.“172 Es ist das paradoxale Konstrukt eines „Überrationalismus“,173 einer Selbstreflexivität der Rationalität, welche diese an ihre sinnlichen wie sentimentalen Bedingungen und Voraussetzungen rückbindet. Das Konzept eines „Überrationalismus“ setzt Robert Musil in seinem 1921 im Neuen Merkur erschienenen Essay Geist und Erfahrung. Anmerkungen für Leser, welche dem Untergang des Abendlandes entronnen sind, dem zeitgenössischen „Geschreibe von Rationalismus und Irrationalismus“, das die „menschlich wesentlichen Fragen“ nur verwirre, entgegen.174 Es erfordert vom ratioïden Verstand auf nicht-ratioïdem Gebiet, „dort, wo er sozusagen aller Bequemlichkeiten beraubt ist“175 und die Schlafwagenabteile der mathematisch-logischen Erkenntnismethode entbehren muss, „desto elastischer [zu] sein und dort, wo alles fließt, desto schärfer [zu] unterscheiden“.176 Das Konzept eines Über- bzw. Trans- oder Metarationalismus, das heißt eines Rationalismus, der das Nicht-Rationale weder ins Exterritoriale, in den Bereich der Un-Vernunft, des Irrationalismus, verweist noch den starren Prinzipien der „Pilotierung“177 (Eindeutigkeit, Widerspruchsfreiheit u.s.f.) unterwirft, sondern vielmehr seine eigenen Methoden reflektiert und angesichts des fließenden Gegenstandes revidiert, liegt auch Musils Funktionsbestimmung moderner Literatur zugrunde. Die Formel ‚Dichtung + Essayismus = Literatur‘ steht für ein Literaturprogramm, das Essayismus als Funktion des modernen Lebens und seiner Erkenntnisaporien versteht. Fast zehn Jahre vor der Heisenberg’schen Theorie der Unschärferelation kommt Musil in Skizze der Erkenntnis des Dichters zu der Feststellung, dass es nicht nur im Bereich der subatomaren Quantenme-
_____________ 172 Ebd. S. 1013. 173 Ders.: Geist und Erfahrung (1921) (GW II, 1050); vgl. hierzu auch D. Heyd: MusilLektüre: der Text, das Unbewußte. Psychosemiologische Studien zu Robert Musils theoretischem Werk und zum Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“. Frankfurt a. M. [u. a.] 1980, Anm. 35. S. 16, der J. Derridas De la grammatologie (1967) „stellenweise als Exemplifikation Musils (Metarationalität als jenseits von ratioȓd/nicht-ratioȓd; Eigenschaftslosigkeit als Ende des Menschen im Sinne des Subjekts; die Metawissenschaftlichkeit Ulrichs in seiner Verbindung von Genauigkeit und Seele; Translinearität als Überschreitung der metaphysischen Konzepte von Kausalität, Zeit und Geschichte)“ liest. 174 R. Musil: Geist und Erfahrung (1921) (GW II, 1050). 175 Vgl. ders.: Der mathematische Mensch (1913) (GW II, 1005). 176 Ders.: Geist und Erfahrung (1921) (GW II, 1050). 177 Vgl. ders.: Skizze der Erkenntnis des Dichters (1918) (GW II, 1027).
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chanik, sondern auch im Bereich des Nicht-Ratioïden keine genauen Messergebnisse geben kann, da die Methode, das heißt der Beobachtungsund Messvorgang selbst, Auswirkungen auf das Ergebnis hat.178 Die beiden denkbaren Optionen, entweder nur beobachtbare, messbare, mithin aussagbare Forschungsfelder überhaupt zuzulassen oder aber eine Kausalität nicht deshalb auszuschließen, da sie in bestimmten Bereichen nicht feststellbar ist, bleiben jedoch ungewählt. Vielmehr wird auch hier gemäß der Musil’schen Relativierungsstrategie das Verhältnis von Objekt und Subjekt, Ratioïdem und Nicht-Ratioïdem, Gebiet und Methode in eine begriffliche Un-Gleichung bzw. Kommutationsrelation gebracht. Der Frage nach der Funktion der Literatur und dem Verhältnis von Dichtung und Erkenntnis aber hat sich Musil in immer wieder neuen, zum Teil widersprechenden Umschreibungen zu nähern versucht. Dichtung, die Wissen und Erkenntnis benutzt – so können die Überlegungen an dieser Stelle zusammengeführt werden – vermittelt ein Erlebnis, keine wissenschaftlich objektivierbare Erkenntnis.179 Es handelt sich vielmehr um eine Erkenntnis, die auf den Menschen und die Fragen seines Lebens, um eine Erkenntnis, die auf „Umbildung“180 des Menschen gerichtet ist. Die Funktion des Apollon von Belvedere, nach welcher der Novize Ulrich in den Lehrsälen der Mechanik fragt, richtet sich, wie das „tausendjährige Gerede darüber, was gut und bös sei“,181 auf jenes „Du mußt dein Leben ändern“,182 das aus dem zeitgenössischen Wissenschaftsbetrieb ausgeschlossen bleibt. Und so ist auch jene Funktionsbestimmung der Moral nicht im Sinne einer ‚postmodernen Beliebigkeit‘ zu verstehen, sondern als Aktualisierung oder auch bzw. Modernisierung im Sinne einer Anpassung
_____________ 178 Hier könnte auch ein Grund für die Widersprüchlichkeit der Argumentationsstruktur von Skizze der Erkenntnis des Dichters liegen. Musil gibt – wie schon in seiner Dissertation über Ernst Mach – die Überzeugung von einer unabhängig existierenden und funktional beschreibbaren Außenwelt nicht auf; vgl. E. Emter: Literatur und Quantentheorie (1995). S. 60. Emter (ebd. S. 105) weist darauf hin, dass eine Auseinandersetzung Musils mit der Quantentheorie seit 1923 belegbar ist. 179 Vgl. R. Musil: Vorwort IV. Vorbemerkungen zu: ders.: Nachlaß zu Lebzeiten [1935] (GW II, 965–974), hier S. 967: „Dichtung vermittelt nicht Wissen und Erkenntnis. / Aber: Dichtung benutzt Wissen u.[nd] Erkenntnis. Uzw. von der inneren Welt genau so wie von der äußeren.“ Vgl. auch ders.: Literat und Literatur (1931): „Indem die Dichtung Erlebnis vermittelt, vermittelt sie Erkenntnis; diese Erkenntnis ist zwar durchaus nicht die rationale der Wahrheit […], aber beide sind das Ergebnis gleichgerichteter Vorgänge […].“ (GW II, 1224) 180 Ders.: [Über den Essay] [1911/12?] (GW II, 1337). 181 Ders.: Der Mann ohne Eigenschaften. 1. Buch (1930) (MoE I, 37). 182 R. M. Rilke: Archaïscher Torso Apollos. In: ders.: Werke. Kommentierte Ausgabe in 4 Bde. Bd. 1: Gedichte 1895 bis 1910. Hrsg. v. M. Engel/U. Fülleborn. Frankfurt a. M. 1996. S. 513.
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einer Erkenntnismethode an die neuesten Wissenschaftsstandards, welcher das Ziel (‚das rechte Leben‘) nicht inhaltlich, sondern ethisch und erkenntnistheoretisch vorgegeben ist. Dieses kann nicht vorgeschrieben, sondern nur als permanente Suchbewegung konstituiert werden. In dem unveröffentlichten Fragment Theoretisches zu dem Leben eines Dichters aus den Vorbemerkungen zum Nachlaß zu Lebzeiten (etwa 1935), wird die ästhetische Erfahrung mit dem mystischen Erweckungserlebnis verglichen: „wir werden aufgerührt, werden erweckt (dh. in ganz neue Gefühls u[nd] Gedankenzustände geworfen), wir lernen uns selbst gegenüber u[nd] dem Leben gegenüber um.“183 Literatur ist also Spiegel, Medium der Erkenntnis und Didaxe. Literatur gibt „Fragmente“ einer „Lebenslehre in Beispielen“:184 „Die Dichtung hat nicht die Aufgabe das zu schildern, was ist, sondern das was sein soll; oder das, was sein könnte, als eine Teillösung dessen, was sein soll. // Mit anderen Worten: Dichtung gibt Sinnbilder. Sie ist Sinngebung. Sie ist Ausdeutung des Lebens. Die Realität ist für sie Material. (Aber: Sie gibt auch Vorbilder. Und sie macht Teilvorschläge)“.185 Die spezifische Erkenntnisleistung der modernen Literatur wird in einem unveröffentlichten Fragment, das Adolf Frisé auf „vermutlich vor 1914“ datiert und Von der Möglichkeit einer Ästhetik benannt hat, ausdrücklich als Fortsetzung der Wissenschaft mit anderen Mitteln bestimmt: „Sie [die Dichtung] setzt nicht nur Erkenntnis voraus, sondern setzt die Erkenntnis über sich hinaus fort, in das Grenzgebiet der Ahnung, Mehrdeutigkeit, der Singularitäten, das bloß mit den Mitteln des Verstandes nicht mehr zu fassen ist.“186 Die moderne Literatur auf der Grundlage der Formel ‚Literatur = Dichtung + Essayismus‘ ist „die Darstellungsform einer Erkenntnisweise, die sich dem Inkommensurablen öffnet, das heißt etwas beschreibt, wofür klare und sichere Beschreibungsregeln fehlen.“187 Literatur, die als Funktion einer Wirklichkeit weder als „Phantasie, Spiel, Schein“ einerseits noch als bloßes Abbild, als „Photographie“ einer Realität andererseits verstanden wird,188 entwickelt aus dem Material der inneren wie äußeren Realität ihre eigenen Möglichkeiten: „Sie [die Dich-
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R. Musil: Vorwort IV [1935] (GW II, 971). Ebd. Ebd. S. 970. Ders.: [Von der Möglichkeit einer Ästhetik] [vor 1914?] (GW II, 1327–1330, hier 1327). 187 H. Bude: Der Essay als Form der Darstellung sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 41 (1989). S. 526–540, hier S. 537. 188 Vgl. R. Musil: Vorwort IV [1935] (GW II, 970).
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tung] beschreibt keine Realität, sondern sie schafft eine Idealität; sie hat ihr Ziel im Jenseits. Sie schafft eine Gütertafel. Sie schafft schlechtweg das Gute.“189 Die Alternative ist hier nicht ‚Beschreiben‘ oder ‚Erzählen‘190, die Option lautet hier: „Ethik und Ästhetik“.191 Dieses ‚Gute‘ ist allerdings nicht inhaltlich vorgegeben, sondern vielmehr als Funktionsäquivalent für ein „lebendiges Ethos“ zu verstehen, wie ihn die Dichtung verkörpert.192 Ihr Erkenntnisziel – der mögliche Mensch unter der Bedingung der Möglichkeit des ‚rechten Lebens‘ – liegt im Jenseits (‚Transzendenz‘). Der Weg jedoch ist durch eine Darstellungsmethode vorgegeben, welche sich in Herkunft und Wirkung auf ein Diesseits (‚Immanenz‘) bezieht. Einer Erkenntnisfunktion aber, die sich auf den Menschen und auf die Frage des ‚rechten Lebens‘ richtet, werde die moderne Literatur, so führt Musil in Literat und Literatur (1931) aus, weder mit dem Anspruch auf mimetische Darstellung – sei es als realistische, naturalistische oder „Reportierende Kunst“ – noch mit Hilfe von modernen avantgardistischen Erzähltechniken gerecht. Musil grenzt sich hier explizit gegenüber James Joyce und Marcel Proust ab, welche die „logisch geschlossene[ ] Erzählungsform bis zum logisch, ja psychisch beinahe Asyntaktischen“ auflösten.193 Dieser „Art des freien Assoziierens“ fehlt jedoch die ethische – im Sinne der Frankfurter Schule utopische – Dimension, da auf diese Weise (wie bei der Reportagekunst eines Egon Erwin Kisch) der „heutige[ ] aufgelöste Zustand“ bloß „reproduziert“ werde.194 Im modernen Roman soll vielmehr – so das Musil’sche Literaturprogramm – das Verhältnis von Narration und Konstruktion neu gewichtet (‚ver-kehrt‘), das Erzählen durch die metanarrative195 Selbstreflexion auf-
_____________ 189 Ders.: [Von der Möglichkeit einer Ästhetik] [vor 1914?] (GW II, 1327). 190 Vgl. K. R. Scherpe: Beschreiben, nicht Erzählen! Beispiele zu einer ästhetischen Opposition: von Döblin und Musil bis zu Darstellungen des Holocaust. Antrittsvorlesung Humboldt-Univ. Berlin 1994. S. 3–29. 191 Vgl. R. Musil: [Über den Essay] [1911/12?]: „Für mich knüpfen sich an das Wort Essay Ethik und Ästhetik.“ (GW II, 1334) 192 Vgl. ders.: Vorwort IV [1935] (GW II, 971). 193 Ders.: Literat und Literatur (1931) (GW II, 1210f.). 194 Ders.: Aus einem Rapial (Nachlass) (GW II, 824–865, hier 858). 195 Vgl. A. Nünning: Metanarration als Lakune der Erzähltheorie: Definition, Typologie und Grundriss einer Funktionsgeschichte metanarrativer Erzähleräußerungen. In: Arbeiten aus Anglistik und Amerikanistik. 26/2 (2001). S. 125–165, der zwischen ‚Metanarration‘ als „Thematisierung des Erzählens bzw. des Erzählvorgangs“ und ‚Metafiktion‘ als „Thematisierung der Fiktionalität des Erzählten oder auch des Erzählens“ unterscheidet (ebd. S. 129f.).
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gelöst werden.196 Die Erkenntnisziel und Erkenntnisgebiet adäquate Erkenntnis- und Darstellungsmethode ist demzufolge die essayistische. Denn diese vereint eine „experimentelle Weltanschauung“197 mit einer experimentellen Textkonstitution auf hohem Analyse- wie Syntheseniveau und sucht, in der Verbindung von narrativen und reflexiven Techniken zugleich ästhetische wie ethische Ansprüche zu erfüllen. Um die Grazie der Narration wiederzuerlangen, muss die der Moderne adäquate Erkenntnisform durch ein Unendliches der Reflexion gegangen sein. So verstanden ist Essayismus Verstehen des Verstehens198 und damit: Metareflexion.
2. Über Robert Musil’s Bücher (1913) oder Reflexion und Narration Doch so, wie sich der Durchschnitt zweier Linien, auf der einen Seite eines Punkts, nach dem Durchgang durch das Unendliche, plötzlich wieder auf der andern Seite einfindet, oder das Bild des Hohlspiegels, nachdem es sich in das Unendliche entfernt hat, plötzlich wieder dicht vor uns tritt: so findet sich auch, wenn die Erkenntnis gleichsam durch ein Unendliches gegangen ist, die Grazie wieder ein […].199 (Heinrich von Kleist) Musils Auge…: das ist ein umgekehrtes Periskop. (Durch das Periskop sieht man aus der Tiefe, was oben vorgeht. Indes Musil anastigmatisch von oben sieht, was in der Tiefe vorgeht.)200 (Alfred Kerr)
_____________ 196 Vgl. R. Musil.: Motive – Überlegungen (Nachlass) (GW II, 865–915, hier 906): „Die Fortsetzung [zum psychologischen oder Milieuroman] ist: auch das auflösen. Überhaupt nicht mehr erzählen, nicht versuchen, in eine gewisse Scheinwirklichkeit (an einem schönen Tag ging…) hineinzuziehen. Es hat seinen Sinn nicht mehr, ‚am Helden teilnehmen‘ zu lassen. Irgend einen gewünschten Zustand des Lesers herstellen, mit welchen passendsten Mitteln immer, ist das Ziel.“ (GW II, 906); Vgl. hierzu auch die erzähltechnische Durchführung im Eingangskapitel von ders.: Der Mann ohne Eigenschaften. 1. Buch (1930): 1. Teil: Eine Art Einleitung. 1. Kapitel: Woraus bemerkenswerter Weise nichts hervorgeht (MoE I, 9–11). 197 Ders.: Dichter oder Schriftsteller (S. Blei, Vorschlag zur Güte) [1924?]. In: ders.: Motive – Überlegungen (Nachlass) (GW II, 912). 198 S. Lämmer: Dichten/Denken. Skizze der Erkenntnis des Dichters Robert Musil. (Unveröffentl. Manuskript.) Kassel 2005. 199 H. v. Kleist: Über das Marionettentheater (1810). In: ders.: Sämtliche Werke und Briefe in 2 Bde. Hrsg. v. H. Sembdner. 8. Aufl. München 1985. Bd. 2. S. 338–345, hier S. 345. 200 A. Kerr: Robert Musil: „Die Schwärmer“ (1929); abgedr. in: K. Corino: Robert Musil und Alfred Kerr. Der Dichter und sein Kritiker. In: Robert Musil. Studien zu seinem
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In dem essayistischen Fragment, das Adolf Frisé Über den Essay betitelt und auf „etwa 1914?“ datiert hat,201 heißt es, der Essay „gibt keine Figuren, sondern eine Gedankenverknüpfung“.202 Im gleichen Zeitraum publiziert Musil einen Essay, in welchem die Verknüpfungen der Gedanken über (Sprech-)Figuren vermittelt werden. Der frühe programmatische Essay Über Robert Musil’s Bücher (1913) steht als figuratives Gedankenspiel für eine Verbindung von metatextueller Reflexion und Fiktionalisierung (und mithin für etwas, das in der Unterscheidung Genettes zwischen Metatext und Hypertext nicht vorgesehen ist). Es handelt sich um einen Metatext in Bezug auf 1.) Musils Essays und sein Literaturprogramm, 2.) Hofmannsthals Ein Brief (1902) und 3.) das Verhältnis von Reflexion und Narration in der Literatur der Moderne. Im Januar 1913 erscheint in der siebten Nummer des Losen Vogel ein auf mehrere Figuren verteiltes anonymes Gespräch Über Robert Musil’s Bücher. Bei dem fiktiven ‚literarischen Quartett‘ handelt es sich um zwei Selbst- und zwei Fremdimagines des Autors Robert Musil, die dessen bisherigen Buchpublikationen – den Erstlingsroman Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906) und den Novellenband Vereinigungen (1911) – kritisch würdigen. Der Essay könnte aber auch als ein figurativ inszenierter Monolog, eine Rechtfertigung des Autor-Ichs in eigener Sache mit verteilten Rollen gelesen werden. Szenario dieser Buchbesprechung ist das ins Groteske gesteigerte Musil’sche Gehirn, das nicht als eine Art Bühnenkulisse dekorativ im Hintergrund steht, sondern als gigantische dreidimensionale Plastik modelliert ist, auf dem das essayistische Ich herumrutscht. Und dieses Gehirn mischt sich durch sein Medium, das essayistische Ich, gleichsam aus dem Off in den Gesprächsverlauf ein. Die figurative Form der essayistischen Selbstdarstellung reflektiert das für die Musil’schen Essays konstitutive Verhältnis zwischen Autor- und Essay- bzw. Text-Origo. Als Selbstapologie präsentiert sie ein Erzählkonzept, welches das Verhältnis von Narration und Reflexion in der modernen Literatur neu entwirft und zugleich darstellungstechnisch einzulösen versucht.
_____________ Werk. Hrsg. v. K. Dinklage zus. mit E. Albertsen u. K. C. Reinbek bei Hamburg 1970. S. 236–284, hier S. 259. 201 Vgl. hierzu in Kapitel VIII. 6 meinen Vorschlag, das Essayfragment Über den Essay auf 1911/12? vorzudatieren. 202 R. Musil: [Über den Essay] [1911/12?] (GW II, 1335).
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Der stakkatoartige Einsatz „Gehirn dieses Dichters“ enthält einen unmittelbaren deiktischen Bezug auf den Titel und erinnert zunächst an die lakonische Regieanweisung eines Drehbuchs zu einem zeitgenössischen Schwarz-Weiß- und Stumm-Film. Da ansonsten aber durchgängig das epische Präteritum beibehalten wird und die Eingangsszene von Farben und Tönen bestimmt ist, fühlen wir uns in eine Traumsequenz versetzt. Der ausgeprägt visuelle Charakter des Prologs setzt mit einem Naturvergleich ein („wie fremde Gebirge am Abend“), der zu lyrisch anmutenden Synästhesie-Metaphern gesteigert wird: „Edelsteinfarben, Kolibrifarben, leuchtende Blumen, verstreute Wohlgerüche, Laute ohne Zusammenhang.“203 Doch der Eindruck der wie ‚verzauberten‘ oder besser durch den Darstellungsfilter der zeitgenössischen expressionistischen Malerei gesehenen Gebirgslandschaft kontrastiert mit der biologistisch-alltagssprachlichen Redewendung vom Gehirn als „verlängerte[m] Mark“ und der Eile des zur Miniatur verkleinerten essayistischen Ich („Die Zeit drängte“). Vor dem Hintergrund der Phänomenalität der geschilderten Gehirnlandschaft bei Sonnenuntergang erweckt die Gehetztheit des essayistischen Ich Assoziationen an Simmels Typologie des modernen Großstadtmenschen.204 Das Subjekt der textinternen Aussage sieht sich selbst, die eigene Sprecherrolle metatextuell kommentierend, in einem Verhältnis der „Indiskretion“ zum Musil’schen Hirn stehend.205 Denn es bricht mit seinem Versuch der (Selbst-)Verteidigung und (Selbst-)Rechtfertigung die gängige Konvention der Verschwiegenheit, die gar nicht „üble Gepflogenheit in unserem Beruf, eine Art Geschäftsordnung“ des Literaturmarktes: „daß man auf eine Kritik nicht unmittelbar erwidern soll.“206 Schließlich lässt sich das essayistische Ich zwischen den beiden Musil’schen Büchern nieder, „um [s]eine Eindrücke zusammenzufassen“. Es handelt sich um die „schon eingesunken[en] und mit grauer Rinde überwachsen[en]“ Verwirrungen des Zöglings Törleß“ auf der einen Seite und den „Vereinigungen“ auf der anderen.207 Und es befindet sich vorab, das heißt, bevor überhaupt ein Einwand geäußert wird, in einem Rechtferti-
_____________ 203 Ders.: Über Robert Musil’s Bücher (1913) (GW II, 995f.). 204 Vgl. G. Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben (1903). In: ders.: Brücke und Tür. Essays des Philosophen zur Geschichte, Religion, Kunst und Gesellschaft. Im Verein mit M. Susman hrsg. v. M. Landmann. Stuttgart 1957. S. 227–243, hier S. 228. 205 R. Musil: Über Robert Musil’s Bücher (1913) (GW II, 995f.). 206 Vgl. hierzu ders.: Der Schwärmerskandal. In: Das Tagebuch, 20. April 1929 (GW II, 1189–1193, hier 1189); es handelt sich um einen Selbstkommentar anlässlich der nicht-autorisierten Uraufführung der Musil’schen Schauspiels Die Schwärmer (1921). 207 Ders.: Über Robert Musil’s Bücher (1913) (GW II, 996).
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gungsverhältnis gegenüber den Musil’schen Publikationen: „Europäische Kunst ist das nicht, gab ich zu, aber was täte es. –“ Die enigmatische Inschrift der Doppelpyramide208 jedoch enthält das Musil’sche Selbstbeschreibungsprogramm in nuce und verweist zugleich auf jene essayistische „Bilderschrift der Empfindungen“, mit welcher Schiller in Über Anmut und Würde (1793) das Verhältnis von Schönheit und Anmut ins Bild gesetzt hat.209 Mit dem ägyptisch-fremdartigen Bild der „kleine[n], seltsam intarsierte[n] Doppelpyramide der Vereinigungen“,210 „von einer engen Bilderschrift bedeckt, dem Mal einer unbekannten Gottheit, in dem ein unverständliches Volk die Erinnerungszeichen an unverständliche Gefühle zusammengetragen und aufgeschichtet hat“,211 verwandelt sich das Szenario der Gebirgslandschaft in das einer von Touristen besuchten antiken Ausgrabungsstätte.212 Die beiden Gesprächspartner des essayistischen Ich werden eingeführt: ein Literaturgeologe, „der – von der Ermüdung des enttäuschten Touristen befallen – das Gesicht mit dem Taschentuch kühlte“ und ein „Schriftstellerkollege unseres Gastherrn“. Es handelt sich hier um eine doppelte Ironisierung, die zum einen die herkömmlich humoristische Referenz von ‚unserem Helden‘ auf das Ich des Autors richtet, zum anderen aber im unmittelbaren Kontext zur Äußerung des Literaturgeologen steht, der das Musil’sche Hirn als „[u]nerfreuliche Gegend“ bezeichnet. Der Schriftstellerkollege nun, eine Art nichtintellektuelles Alter-Ego Robert Musils, dem Attribute aus einer Mischung von Boxchampion und Textpotenz („in Hemdsärmeln“, „krachend“, „ein glückliches Lächeln in einem faustgeschützten Gesicht“, „ein Anblick tintenfrischer Gesundheit und Kraft“) zugeschrieben werden, eröffnet die Debatte mit einer Beoder besser Verurteilung der beiden Bücher Robert Musils, denen er
_____________ 208 Der Novellenband umfasst Die Vollendung der Liebe und Die Versuchung der stillen Veronika. 209 F. Schiller: Über Anmut und Würde. In: ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 8: Theoretische Schriften. Hrsg. v. R. –P. Janz. Frankfurt a. M. 1992. S. 330–395, hier S. 331; vgl. hierzu B. Nübel: Schillers ästhetische Theorie. In: Der Deutschunterricht 56 (2004). H. 6: Schiller. Hrsg. v. H. Scheuer. S. 50–62. 210 R. Musil: Über Robert Musil’s Bücher (1913) (GW II, 996). 211 Ebd.; Hervorhebung v. B. N. Vgl. auch R. Müller (Ein Beginner (Robert Musil). In: Der Neue Merkur 4 (1920/21), H.12. S. 860–862, hier S. 862), der „die Kunst Musils […] vielleicht nicht Expressionismus, aber Imaginismus, eine Hieroglyphenart, eine Bilderkunst“ nennt. 212 Vgl. hierzu auch das archäologische Szenarium von Wilhelm Jensen: Gradiva. Ein pompejanisches Phantasiestück (1903) und den Metakommentar S. Freuds: Der Wahn und die Träume in W. Jensens ‚Gradiva‘ (1907). 2. Aufl. Leipzig/Wien 1912.
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Psychologismus213 und Dekadenz214 vorwirft, sekundiert vom Literaturgeologen, der „wenig Schilderungskraft“ diagnostiziert.215 Das essayistische Ich aber beginnt aus einer Art Déjà-vu- oder besser Déjà-lu-Erlebnis heraus („Mir war, als müsse ich diesen Einwand schon kennen, vielleicht mochte ich ihn irgendwo gelesen haben“),216 diese Kritik verbal abzuwehren. Der Leser aber erfährt die Verletzlichkeit des Musil’ schen Gehirns als körperliche Übergriffe der beiden Kritiker. Während der Schriftstellerkollege mit dem Fuß seinen Auswurf zerreibt, den er von Zeit zu Zeit „in eine kleine, zarte Falte der Musilschen Hirnrinde“ spuckt,217 bricht der Literaturgeologe beiläufig „mit seinem Hämmerchen ein Stück Gehirn“ aus, das er „auf der Hand zermahlte, ernsthaft anblickte und dann wegblies“.218 Kontrovers diskutiert wird das Verhältnis von Reflexion und Narration, in der Formulierung des Literaturgeologen: „Spekulation“ und „Lebendigkeit“.219 Dieser vertritt die Priorität des Narrativen vor dem Reflexiven, wie es sich nicht nur in der deutschen Romantheorie seit Blanckenburg, sondern immer wieder als kritische Selbstreflexion auch in anderen Texten Robert Musils findet:220 „die Meinung, das Denken des Künstlers drängt sich nirgends zwischen das Geschehen selbst, liegt sozusagen nicht in der Bildebene, sondern wird bloß als deren perspektivischer Fluchtpunkt fühlbar.“221 Diesem narratologischen Imperativ entgegen formuliert das essayistische Ich ein modernes, essayistisches Erzählkonzept, welches das „seit dem Beginn des Romans“222 herrschende Paradigma der magischen Reali-
_____________ 213 R. Musil: Über Robert Musil’s Bücher (1913) (GW II, 996). 214 Ebd. S. 998: „Sie [die beiden Bücher Musils] wenden sich an einen kleinen Kreis von Hypersensiblen, die keine Realitätsgefühle mehr – nicht einmal perverse – haben, sondern nur literarische Vorstellungen davon.“ 215 Ebd. S. 997. 216 Ebd. S. 996; vgl. hierzu die folgende Notiz in ders.: Tagebücher. Heft 33 (1937–1941) anlässlich einer Rezension der Vereinigungen (1911) von Otto Soessl: „Ein Schriftsteller, Epigone im besten Sinn […] schrieb eine Kritik: Ich hätte kein Verständnis für das Wesen der Novelle, daß man im Gleichnis des Falken ausdrücke. […] Er hatte keine Ahnung von der Abneigung gegen das Erzählen, die hinter diesen zwei Novellen war. Gegen das Erzählen, gegen die Scheinkausalität u[nd] Scheinpsychologie.“ (TB I, 934) 217 Ders.: Über Robert Musil’s Bücher (1913) (GW II, 996). 218 Ebd. S. 997. 219 Ebd. 220 Vgl. ders.: Tagebücher. Heft 11 (1905–1908?) (TB I, 143), ders.: [Form und Inhalt] [um 1910] (GW II, 1301), ders.: Literat und Literatur (1931) (GW II, 1223) u. a. 221 Ders.: Über Robert Musil’s Bücher (1913) (GW II, 998). 222 Ebd. S. 997.
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tätsschilderung durch experimentelle Konstruktionen ablösen soll: „Kunst ist ein Mittleres zwischen Begrifflichkeit und Konkretheit. Gewöhnlich erzählt man in Handlungen und die Bedeutungen liegen neblig am Horizont. […] Kann man da nicht versuchen, ungeduldig einmal mehr den sachlichen Zusammenhang der Gefühle und Gedanken, um die es sich handelt, auszubreiten und nur das, was sich nicht mehr mit Worten allein sagen läßt, durch jenen vibrierenden Dunst fremder Leiber anzudeuten, der über einer Handlung lagert? Ich meine, man hat damit bloß das Verhältnis einer technischen Mischung verkehrt und man müßte das ansehen wie ein Ingenieur.“223 Der Ingenieur, der das Verhältnis von Handlung und Bedeutung, Narration und Reflexion ‚ver-kehrt‘ und somit „die Vorzüge einer vorurteilslosen Laboratoriumstechnik […] aus den Naturwissenschaften“224 auf die Produktion, Rezeption und Kritik von Literatur überträgt, argumentiert auf empiriokritizistischer Grundlage. Demnach lässt sich die herkömmliche dichotomische Redeweise, so Ernst Mach in seinen Antimetaphysischen Bemerkungen (1886), die „eine Tatsache der andern gegenüber für Wirklichkeit“ erklärt, nicht länger aufrechterhalten. Mach verweist in diesem Zusammenhang auf folgende empirische Beobachtung: „Das Bild im Hohloder Planspiegel ist nur sichtbar, während unter andern (gewöhnlichen) Umständen dem sichtbaren Bild auch ein tastbarer Körper entspricht.“225 Die Differenz zwischen Wirklichkeits-Bild und Spiegel-Bild, ist demnach keine ontische oder eine der Idee, sondern eine zweier – hier der visuellen und taktischen – Empfindungen.226 Entfällt auf konstruktivistischer Grundlage der Abbildcharakter der Erkenntnis, so kann auch die spezifische Erkenntnisleistung der Kunst nicht mehr in der Abbildung einer als gegeben vorausgesetzten Realität gesehen werden. Entscheidend ist die Funktion der Kunst, ihr Funktionieren, ihre Wirkung. Und diese zielt nicht auf das Gefühl, sondern auf einen komplexen Zusammenhang von Gefühlen und Gedanken.
_____________ 223 Ebd. S. 998 (Hervorhebung v. B. N.); vgl. ders.: Novelleterlchen [1912] (GW II, 1323–1327, hier 1323): „Das Gestalten des Erzählers hat nur Platz als ein Mittleres zwischen Begrifflichkeit und Konkretheit.“ 224 Ders.: Politisches Bekenntnis eines jungen Mannes (1913) (GW II, 1011). 225 E. Mach: Antimetaphysische Bemerkungen (1886). S. 8. 226 Vgl. R. Musil: Der Mann ohne Eigenschaften (Nachlass): „Sie [die Wirklichkeit] zeigt sich in unseren Erlebnissen und Forschungen nie anders wie durch ein Glas, das teils den Blick durchläßt, teils den Hineinblickenden widerspiegelt. Wenn ich das zartgerötete Weiß auf deiner [Agathes] Hand betrachte oder die widergesetzliche Innigkeit deines Fleisches in meinen Fingern fühle, habe ich Wirkliches vor mir, aber nicht so, wie es wirklich ist; und ebenso wenig, wenn ich es bis auf die letzten Atome und Formeln zurückführe!“ (MoE II, 1342)
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Novelleterlchen, ein von Adolf Frisé auf 1912 datiertes essayistisches Fragment, das die den Vereinigungen zugrundeliegende neue Erzählkonzeption erläutert, ist bis hin zu textidentischen Übernahmen einzelner Sätze und Teilabschnitte in den Essay Über Robert Musil’s Bücher (1913) eingegangen.227 Der Diskurs des essayistischen Ich entwickelt sich in diesem Prätext nicht dialogisch, im Kontext eines figurativ besetzten Gesprächs, sondern monologisch. Das hier – wie fast wortgleich im Essay – postulierte neue Erzählparadigma entspricht der soziologischen Annahme einer zunehmenden Intellektualisierung des modernen Menschen: „Irgendwann mag ja vielleicht das Erzählen einfach eines starken begriffsarmen Menschen reaktives Nocheinmalbetasten guter und schrecklicher Geister von Erlebnissen gewesen sein, unter deren Erinnerung sein Gedächtnis sich noch krümmte – Zauber des Aussprechens, Wiederholens, ,Besprechens‘ und dadurch Entkräftens –; heute ist es das dienende Mittel des begriffsstarken Menschen“.228 Die Schilderung der Realität ist demnach nicht länger (Selbst-)Zweck, sondern allenfalls künstlerisches Mittel bzw. „Vorwand“ des Erzählens.229 Inhalt wie Zweck der Literatur sei aber nach wie vor ein ‚menschlicher‘. Worin besteht nun der „menschliche Inhalt“, der „menschliche Zweck“, die menschliche Wirkung des Kunstwerks? In der ästhetischen Erfahrung entstehe, so erfahren wir, ein gegenüber der „praktischen Wirklichkeit“ verändertes, „seltsames Intermundium des Geistes voll einer beweglicheren Luft des Denkens und Fühlens“.230 Musil nimmt hier in Bezug auf das Verhältnis von affektiven und reflexiven Komponenten beim Rezeptionsakt Positionen der Rezeptionsästhetik (Hans-Robert Jauß) und Wirkungstheorie (Wolfgang Iser) der siebziger Jahre vorweg. Da die Begriffe und Denkmodelle der ästhetischen Wissenschaft nicht
_____________ 227 A. Frisé (TB II, 143) gibt an, dass die Entsprechung ungefähr ein Drittel des Textes ausmacht. 228 R. Musil: Novelleterlchen [1912] (GW II, 1324); vgl. hierzu die Endfassung in Über Robert Musil’s Bücher (1913): „Irgendwann mag ja vielleicht das Erzählen einfach eines starken begriffsarmen Menschen reaktives Nocheinmalbetasten guter und schrecklicher Geister von Erlebnissen gewesen sein, unter deren Erinnerung sein Gedächtnis sich noch krümmte, Zauber des Aussprechens, Wiederholens, Besprechens und dadurch Entkräftens. Aber seit Beginn des Romans halten wir nun schon bei einem Begriff des Erzählens, der daher kommt. Und die Entwicklung will, daß die Schilderung der Realität endlich zum dienenden Mittel des begriffsstarken Menschen werde […].“ (GW II, 997) 229 Ders.: Über Robert Musil’s Bücher (1913) (GW II, 997); vgl. ders.: Novelleterlchen [1912] (GW II, 1324). 230 Ders.: Novelleterlchen [1912] (GW II, 1324).
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hinreichten, um diesen Wirkungszusammenhang der Kunst zu erfassen,231 behilft er sich mit jenen der Naturwissenschaften. Das Kunstwerk wird hier nicht als eine in sich abgeschlossene Ganzheit, sondern als offenes, dynamisches Gebilde konzeptualisiert. Es besteht aus Konfigurationen geistiger Elemente, aus Partikeln von Gefühl und Verstand. Diese agieren in „unendlich gebrochne[n]“ und ineinandergreifenden „Vieleck[en]“ von „Gefühls- und Gedankenkette[n]“232 miteinander und gehen dabei neue chemische Verbindungen ein. Der „Zusammenhang der Elemente“,233 oder mit Musils Worten: der „sachliche[ ] Zusammenhang der Gefühle und Gedanken“,234 ist als Molekülmodell vorzustellen, in welchem die einzelnen Gefühls- und Gedanken-Elemente jeweils durch mindestens zwei Valenzen („intellektuell-emotionale Nachbarschaft und die Verbindungswege“)235 miteinander verbunden sind. Diese komplexen (Text-)Strukturen stellen – wie übrigens auch das Ich des Autors oder Lesers – „ideelle denkökonomische, keine reelle[n] Einheit[en]“ dar.236 Sie bilden Körper, welche intrafigural stärker und interfigural schwächer zusammenhängen237 und „in bald flüchtigerer, bald festerer Verbindung“ miteinander stehen.238 Auf der Grundlage dieses molekularen Modells beschreibt der essayistische Ingenieur das Kunsterlebnis als „asymptotische[n] Abbau“, „durch den allein wir die seelischen Kraftstoffe dauernd unserm Geist assimilieren“:239 Wenn uns in der Realität „ein Mensch erschüttert und beeinflußt, geschieht es dadurch, daß sich uns die Gedankengruppen eröffnen, unter
_____________ 231 Vgl. hierzu auch ders.: Der Dichter in dieser Zeit. Vortrag in Wien zur Feier des zwanzigjährigen Bestehens des Schutzverbandes deutscher Schriftsteller in Österreich, 16. Dezember 1934 (GW II, 1243–1259, hier 1252): „Unsere Begriffe leisten uns dabei noch keine verläßliche Hilfe. Es gibt ästhetische und kritische Begriffe“, doch weder Wesen der Schönheit noch der Wahrheit seien bislang beschrieben. 232 Ders.: Über Robert Musil’s Bücher (1913) (GW II, 1000). 233 E. Mach: Antimetaphysische Bemerkungen (1886). S. 5. 234 R. Musil: Über Robert Musil’s Bücher (1913) (GW II, 998). 235 Ebd. S. 1000; vgl. ders.: Novelleterlchen [1912] (GW II, 1325). 236 E. Mach: Antimetaphysische Bemerkungen (1886). S. 19. 237 Ebd. S. 23; vgl. ebd. S. 19: „Die Bewußtseinselemente eines Individuums hängen unter einander stark, mit jenen eines andern Individuums aber schwach und nur gelegentlich merklich zusammen.“ 238 Ebd. S. 17. 239 R. Musil: Über Robert Musil’s Bücher (1913) (GW II, 1000); vgl. ders.: Vom „Untergang“ des Theaters (1924): „[…] wenn eine andere Person das Persönliche des Künstlers oder Werks in sich aufnimmt, so geht es nicht anders zu als bei der Nahrungsaufnahme: Abbau in Elemente und deren Assimilation. Jedes menschliche Werk besteht aus Elementen, die auch in unzähligen anderen Verbindungen vorkommen […].“ (GW II, 1130)
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denen er seine Erlebnisse zusammenfaßt, und die Gefühle, wie sie in dieser komplizierten wechselwirkenden Synthese eine überraschende Bedeutung gewinnen.“240 Nicht anders aber ist es im Bereich der Kunst. Die sich im ästhetischen Erlebnis vollziehende Verschmelzung der miteinander interagierenden Komplexe von Gefühlen und Gedanken versucht das essayistische Ich mit der chiastischen Konstruktion „Gefühlserkenntnisse und Denkerschütterungen“ zu umschreiben.241 In dieser „zentrale[n] Persönlichkeitsarbeit“,242 von Musil an anderer Stelle auch als menschliche „Umbildung“ bezeichnet,243 die im ‚Heranschleichen‘,244 das heißt im Erleben und Erfassen, dieser komplexen Zusammenhänge liegt, sei der „menschliche Zweck des Kunstwerks“ zu sehen.245 Selbst das „psychologische Innerliche“ sei dagegen „nur ein zweiter Grad von außen“. 246 Es gehe im Bereich der Kunst nicht darum, psychologische und/oder moralische Fragen zu behandeln oder gar zu beantworten. Die Aufgabe liegt vielmehr darin, zu erkennen, dass es in einem Gebiet, „wo man mit rein rationalen Überlegungen nicht mehr zu einem entscheidenden ja noch nein kommen kann,“ keine eindeutigen Antworten gibt. Das „Gedankliche in der Kunst“ liege nicht darin, „Lebensfragen“ im Sinne eines Entweder/Oder zu beantworten. Das Problem sei nicht die Alternative Ja/Nein, Entweder/Oder, sondern die Frage, das Leben, die Moral selbst: „Es ist vieldeutig, mit unendlich vielen Lösungen, keine ist die richtige, aber jede muß richtig sein“.247 Die individuelle Wahrheit der Kunstwerke lasse sich folglich auch „nie restlos in angebbare Bedeutungen“ auflösen, das heißt, nicht objektivieren bzw. in jenen Rationalismus, der die Kriterien des bestehenden Wissenschaftsbetriebes ebenso konstituiert wie erfüllt, übersetzten, sondern nur essayistisch fortschreiben bzw. umkreisen: „wenn man ihren [der Kunstwerke] Inhalt beschreibt, geschieht dies wieder nur durch neue Verbindungen des Rationalen mit Arten des Sagens, mit Vorstellungen der Situation und anderen irrationalen Momenten.“248 In Novelleterlchen wird das „Problematische des Erzählens“249 bzw. das zu lösende „technische Grundproblem“ der Narration, das bei der Novel-
_____________ 240 241 242 243 244 245 246 247 248 249
Ders.: Über Robert Musil’s Bücher (1913) (GW II, 1000f.). Ebd. S. 997; vgl. ders.: Novelleterlchen [1912] (GW II, 1324). Ders.: Über Robert Musil’s Bücher (1913) (GW II, 1001). Vgl. ders.: [Über den Essay] [1911/12?] (GW II, 1337). Ders.: Über Robert Musil’s Bücher (1913) (GW II, 997). Ebd. S. 1000. Ebd. S. 1001. Ders.: Novelleterlchen [1912] (GW II, 1325). Ders.: Über Robert Musil’s Bücher (1913) (GW II, 1000). Ders.: Novelleterlchen [1912] (GW II, 1323).
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le aufgrund ihrer relativen Kürze deutlicher hervortrete als beim Roman, als „Antagonismus des Darstellens gegen das eigentlich Darzustellende“, beschrieben.250 Dabei geht es allerdings um etwas anderes als das herkömmliche Verhältnis von Form und Inhalt. Denn das ‚Was‘, das Darzustellende, ist hier nicht der narrative Plot, das Geschehen oder die Handlung auf der Figurenebene, sondern die Bedeutung. In den nachgelassenen Notizen zum Vermächtnis unterscheidet Robert Musil „3 Stufen“ des Erzählens: „Man erzählt um des Erzählens willen, um der Bedeutung der Geschichte willen, um der Bedeutung willen“.251 Mittels der herkömmlichen narrativen Techniken könnten „nur Teile der Peripherie, nicht aber das Zentrum und das Konstruktionsgesetz“ des Darzustellenden, beispielsweise „einer bedeutenden eigenartigen Liebe“ erfasst werden: „man kommt auf diesem Wege nicht einmal an die Bedeutung der schon erzählten Handlung heran.“252 Das heißt, es wird noch nicht einmal die ‚zweite Stufe‘ des Erzählens erreicht. Gesucht wird folglich eine „neue Technik“,253 welche das Verhältnis von Narration und Diskurs ver-kehrt und die metanarrative Konstruktion zu einem Moment des Darzustellenden umfunktioniert. Das Narrative im herkömmlichen Sinn – das Geschehen, die Figuren, die Handlung – wird also nicht zu einer bloßen Funktion des Reflexiven, sondern das Reflexive – die Gedanken, die Bedeutung – verdichten sich zu Bildern, welche die beiden Textebenen von Narration und Reflexion miteinander verschalten. Die Lukács’sche Dichotomie von ‚Bilder-schaffendem‘ vs. ‚Bedeutung-setzendem Prinzip‘254 wird somit bei Musil aufgelöst in ein ‚Bilder-für-Bedeutung-setzendes‘-Konstruktionsprinzip. So sind die von Robert Musil an anderer Stelle auch als „Gedankenlyrik“255 oder „Gedankenmosaik“256 bezeichneten Vereinigungen (1911) Resultat einer „asketischen Energie“257 oder „fast mathematischen Strenge“,
_____________ 250 251 252 253 254 255 256 257
Ebd. S. 1327. Ders.: Der Mann ohne Eigenschaften (Nachlass) (MoE II, 1940). Ders.: Novelleterlchen [1912] (GW II, 1326); Hervorhebung v. B. N. Ebd. S. 1327. G. Lukács: Über Wesen und Form des Essays (1911). S. 12. R. Musil: Aus einem Rapial (Nachlass) (GW II, 830). Ders.: Vorwort zu Novellen [1911] (GW II, 1313–1314, hier 1314). Ders.: Vorwort zu den Novellen [1911] (GW II, 1312–1313, hier 1313); vgl. ebd.: „Der Kopf eines so Arbeitenden ist wie eine kahle Zelle, nackte Wände, die immer in den gleichen engen Raum hineinstarren, ein Fenster durch das man nichts als den leeren Himmel sieht. Aus solcher verbissenen Wut und In-brunst mögen mittelalterlich-scholastische Gedankensysteme entstanden sein, die sich selbst mit der Zahl der Haare der Engel befassten.“
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VI. Robert Musil oder Essayismus als andere Vernunft
die „[a]lles Erzählende ins Beiwerk, Bild, Satz“ nimmt. In einem der wieder verworfenen Vorworte zu den Novellen [1911] äußert sich Musil zur „technischen Frage“ des „‚Fabulierens‘“ ähnlich wie Gottsched im Versuch einer critischen Dichtkunst (1730) zum Handwerklichen der Tragödie, auch wenn hier die ‚Moral der Geschicht‘ keine vorgegebene, sondern eine zu suchende ist: „Steht das ideelle Gerüst fest, ist es mit Szenen zu verkleiden“.258 Den Ingenieur interessiert allein die Konstruktion des Gerüstes, nicht die daran aufzuhängenden Gobelins.259 Zwar möchte der Autor Robert Musil nicht, oder vielmehr nicht nur, das ideelle Gerüst der Gedanken errichten, das heißt, Mathematiker und (Bau-)Ingenieur sein, sondern zugleich auch Feldherr und Maurer. Doch der „Sehnsucht“, „Figuren aufmarschieren zu lassen, mit der Mauerkelle das Leben aufs Papier zu werfen, Probleme mit Fleisch u[nd] Bein hinzustellen“,260 steht „die leidenschaftliche Energie des Gedankens“ gegenüber,261 welche die Figuren der Novelle als bloßen „Durchgangspunkt von Reflexionen“ konstruiert.262 In einer Tagebuchnotiz vom 13. August 1910 reflektiert Robert Musil „[s]eine Art zu arbeiten (bei den Novellen)“. Er unterscheidet zwei Arten des Denkens. Beim rationalen bzw. „exakten Denken“ im Bereich der Wissenschaft werde der Gedanke „durch das Ziel der Arbeit, die Beschränkung auf das Beweisbare, die Trennung in Wahrscheinliches u.[nd] Gewisses usw. kurz durch die aus dem Gegenstand kommenden methodischen Forderungen verschnürt, begrenzt, artikuliert.“263 Beim „‚gestaltende[n] Denken‘“264 im Bereich der Kunst aber seien diese Selektionsprinzipien der notwendigen Verkürzung des Verstandes ersetzt durch „die Bilder, den Stil, die Stimmung des Ganzen.“ Im reflexiven, „Gedanklichen Teil der Kunst“ liege ein „dissipatives“, assoziatives und bildhaftes Moment: „Der Gedanke geht nach allen Richtungen sofort immer weiter, die Einfälle wachsen an allen Seiten auseinander heraus, das Resultat ist ein
_____________ 258 Ebd. 259 Vgl. ders.: Der Mann ohne Eigenschaften (Nachlass): „Es treten schließlich Hauptlinien oder nur Lieblingslinien hervor, ein ideelles Gerüst, an dem die Gobelins hängen, wenn ich diese Erzählungen wegen ihrer flachen Darstellungsart so nennen darf.“ (MoE II, 1938) Vgl. ders.: Tagebücher. Heft 3 (1899?–1905/06): „Das Übrige ist Gobelinhaft-hintergrundartig zu behandeln“ (TB I, 109). 260 Ders.: Vorwort zu den Novellen [1911] (GW II, 1313). 261 Ders.: Tagebücher. Heft 5 (1910–1911?) (TB I, 214). 262 Ders.: Novellen [1911] (GW II, 1314–1315, hier 1314). 263 Ders.: Tagebücher. Heft 5 (1910–1911?) (TV I, 214). 264 Ebd. Heft 33 (1937–1941) (TB I, 914); Hervorhebung v. B. N.
2. Über Robert Musil’s Bücher (1913) oder Reflexion und Narration
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ungegliederter, amorpher Komplex.“265 Auszubalancieren seien somit, so die qua Selbstbeobachtung und -diagnose gewonnene Erkenntnis, „zwei antagonistische Kräfte“: „das dissipirende, formlose gedankliche u.[nd] das einengende, leicht leere u[nd] formale der rhetorischen Erfindung.“266 Dabei komme der formalen Bildlichkeit, von Musil mit dem Rhetorischen gleichgesetzt, ein „prius“267 gegenüber dem gedanklichen Inhalt zu. Erst wenn das Element des Inhalts (Gedanken) und der Form (Bilder) in ein Gleichgewicht, eine „Einheit“ gebracht sind, so das programmatische Arbeitsprotokoll, folgt im dritten und letzten Schritt eine gedankliche Überarbeiten (das „Zusammenschnüren auf die größte intellektuelle Dichtigkeit“), die jetzt nicht mehr „dissipativ“, sondern „stringierend“ wirkt.268 In zwei Briefentwürfen an Paul Scheffer und Franz Blei vom Juli 1911 bestimmt Musil das bildliche Element der Vereinigungen, das „mehr Begriffliches in sich [hat] als normal ist“, als „Bedeutungsträger“.269 Es sei daher nicht der ornamentalen narrativen Textoberfläche, sondern vielmehr dem Gerüst, dem „Knochenbau des Buchs“ zugeordnet: von dem „Ausdruck, der Art des Sagens, insonders dem Bildlichen u[nd] Parabolischen [wird] ein von der Norm abweichender Gebrauch gemacht […]. Es ist nicht sekundär, Zierrat u.[nd] bloßer ergänzender Beitrag zu dem, was erzählt wird, sondern ein primärer, integrierender u.[nd] ganz wesentlicher Bestandteil dessen selbst“.270 Die „Bilderschrift“271 des Novellenbandes wird somit als technische Konstruktion lesbar, welche im Bild-Element die Prinzipien des Begrifflichen (‚Spekulation‘) und Konkreten (‚Lebendigkeit‘) zusammenführt: „Der Vorgang, der sonst .. in einer Reflexion od.[er] in einem Geschehen zuhause ist, wird hiebei in einer exakten Verkürzung in ein Bild gedrängt.“272 Das „Konstruierte“ der Vereinigungen, das heißt die technische Umkehrung des Verhältnisses von Narration und Reflexion, umschreibt Robert Musil wiederum in einem Brief an Franz Blei auch mit der Textilmetapher als „Gewebe der Bedeutungen“: „Sonst: eine ungefähre Nahebringung der Bedeutungen, hier ein Gewebe der Bedeutungen / Sonst wandert man in der Ebene des Fleisches u[nd] die Bedeutungen liegen unklar am Hori-
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Ebd. Heft 5 (1910–1911?) (TB I, 214). Ebd. S. 215. Ebd. S. 214. Ebd. S. 215. Ders.: Brief an Paul Scheffer vom 15. 7. 1911 (BR I, 86); Paul Scheffer gehörte zu den Mitarbeitern von Bleis Losem Vogel. 270 Ders.: Brief an Franz Blei [nach 15. 7. 1911] (BR I, 87). 271 Ders.: Über Robert Musil’s Bücher (1913) (GW II, 996). 272 Ders.: Brief an Franz Blei [nach 15. 7. 1911] (BR I, 87).
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VI. Robert Musil oder Essayismus als andere Vernunft
zont, hier in der Ebene der Bedeutungen über der ein dünner Dunst fremden Leibes liegen soll.“273 Es handelt sich demnach bei den beiden Novellen weder um ein Erzählen „um des Erzählens willen“ noch um ein Erzählen „um der Bedeutung der Geschichte willen“, sondern um ein Erzählen „um der Bedeutung willen“. Diese dritte und letzte ‚Stufe‘ des Erzählens274 liegt nicht „wie ein perspektivischer Fluchtpunkt“ über der sinnfällige[n] seelische[n] Oberfläche“ des Narrativen,275 sondern sie ist selbst als Pluralität der Perspektiven in die Textoberfläche verwoben und konstituiert sich textextern als ‚menschliche‘ Bedeutung für den Leser.276 „Der point de vue liegt nicht beim Autor u.[nd] nicht in der fertigen Person, er ist überhaupt kein point de vue, die Erzählungen haben keinen perspektivischen Zentralpunkt“,277 so erläutert Musil gegenüber seinem Freund die erzähltechnische Konstruktion seines Novellenbandes. Das „Lebendige“ aber – der Ehebruch als narrativer Plot in der Vollendung der Liebe, ist „von der Oberfläche gestrichen“278 und jene „innerste[ ] Sphäre, wo Liebende sich in Nichtigkeiten auflösen, in Dinge, die sogut sie wie andere sind“,279 nach außen gekehrt. Das „Rhetorische“,280 der „Stil“, die „Vergleiche, Bilder“, Reflexionen und Empfindungen, sie werden nicht vom Autor „diktiert“, das heißt als zentrale (Be-)Deutungs-Perspektive gesetzt bzw. ‚über‘ die Handlung gelegt, „sondern sie sind psychische Konstituenten der Personen, deren Gefühlskreis sich in ihnen um-
_____________ 273 Ders.: Brief an Franz Blei, Anfang Juli 1911 (BR I, 84); vgl. die Übereinstimmung mit Musil: Über Robert Musil’s Bücher (1913): „Gewöhnlich erzählt man in Handlungen und die Bedeutungen liegen nebelig am Horizont. […] Kann man da nicht versuchen, […] nur das, was sich nicht mehr mit Worten allein sagen läßt, durch jenen vibrierenden Dunst fremder Leiber anzudeuten, der über der Handlung lagert?“ (GW II, 998) 274 Ders.: Der Mann ohne Eigenschaften (Nachlass) (MoE II, 1940). 275 Ders.: Novelleterlchen [1912] (GW II, 1326). 276 Vgl. ders.: Über Robert Musil’s Bücher (1913) (GW II, 1000). 277 Ders.: Brief an Franz Blei [nach 15. 7. 1911] (BR I, 88). 278 Ders.: Brief an Franz Blei [Anfang Juli 1911] (BR I, 85). 279 Vgl. ders.: Novellen [1911]: „Ganz an der Oberfläche gibt es Temperamente, Charaktere. Ein wenig tiefer haben die Ehrlichen Flecke von Schuftigkeit, die Schufte Flecken von Ehrlichkeit, die Großen Augenblicke der Dummheit usw. In dieser Sphäre lebt die große Epik, u.[nd] die große Menschenschilderung im Drama. Hier sind Meister Tolst.[oi] Dostoj.[ewski] Hauptm.[ann] Thackeray[.] Noch etwas tiefer lösen sich die Menschen in Nichtigkeiten auf. Es ist die Sphäre, wo man mitten in einem Leidenschaftsausbruch abbricht. Man fühlt, daß hier gar nichts mehr von einem ist, es sind dort nur Gedanken, allgemeine Relationen, die nicht die Tendenz u[nd] Fähigkeit haben ein Individuum zu bilden. In dieser Sphäre spielen die Novellen, aus dieser Sphäre, aus der Existenz dieser Sphäre holen sie ihren Konflikt.“ (GW II, 1314) 280 Ders.: Tagebücher. Heft 5 (1910–1911) (TB I, 214).
3. Das essayistische Ich
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schreibt.“281 Der Subjektstatus der Handelnden erfährt dabei ebenso eine Auflösung wie die textinterne Erzählinstanz. Es handelt sich demnach um an Sprech- bzw. Reflexionskörper gebundene „Komplex[e] von Erinnerungen, Stimmungen, Gefühlen“ im Mach’schen Sinn.282 Jeder ihrer Schritte wird „durch eine Welt von Reflexionen gehemmt.“ Ihre Haut hält nicht mehr den Gefühls- und Gedankenkörper zusammen, ist nicht mehr Grenze zwischen Innen und Außen, Figurenperspektive und Autorperspektive, sie ist durchsichtig, „zerrissen“.283 Die Figuren sind bloßer „Durchgangspunkt der Reflexionen“284 bzw. der dargestellten Empfindungs- oder ‚Elementenkomplexe‘. In Die Vollendung der Liebe (1911) lösen sich mit der Zentralperspektive der Autor- bzw. Erzähler-Origo auch die Koordinaten von Raum und Zeit auf. Wir blicken nicht auf die Eingangsszenerie der Novelle ( – ein Mann rauchend, „in der Ecke des Zimmers in dem hellgeblümten Lehnstuhl“ sitzend, eine Frau Tee einschenkend – ) aus einer bestimmten Blickrichtung, sondern werden in eine kubistisch anmutende Bildfläche von ineinanderfließenden grünen, grauen, blauen und gelben Farben geführt, wobei die Körper der Menschen und Gegenstände geometrische Winkel miteinander bilden, auf deren Gefühls-Achse bzw. EmpfindungsKoordinate das ganze Zimmer hängt. Mit dem Tee, der „aus einer matten silbernen Kanne jetzt in die Tassen fiel“, bleibt auch der „endlos glitzernde[ ] Faden“ der Zeit, der mitten durch das Zimmer geht („wie wenn sich plötzlich Flächen ordnen und ein Kristall sich bildet …“), im Blick der beiden Menschen stehen, die sich „wie durch Tausende spiegelnder Flächen ansahen und wieder so ansahen, als ob sie einander zum ersten Mal erblickten ….“285
_____________ 281 Ders.: Brief an Franz Blei [nach 15. 7. 1911] (BR I, 87). 282 E. Mach: Antimetaphysische Bemerkungen (1886). S. 2. 283 R. Musil: Brief an Franz Blei [nach 15. 7. 1911]: „Sie schrieben: wer sieht hier zu? Der Autor? Wie ist das möglich? Die handelnde Person? Und Sie wandten ein, daß deren Haut allzu zerrissen würde und jeder Schritt durch eine Welt von Reflexionen gehemmt.“ (BR I, 87) 284 Ders.: Novellen [1911] (GW II, 1314). 285 Ders.: Die Vollendung der Liebe. In: ders.: Vereinigungen (1911) (GW II, 156f.).
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VI. Robert Musil oder Essayismus als andere Vernunft
3. Das essayistische Ich oder der „sachliche Zusammenhang der Gefühle und Gedanken“ Wir haben gesehen, wie sich das die Vereinigungen kennzeichnende Verhältnis von Narration und Reflexion im Dialog vor allem mit Franz Blei, in den Tagebuchnotizen Musils, im essayistischen Entwurf Novelleterlchen [1912], in den fragmentarischen Vorworten zum Novellenband und im Essay Über Robert Musil’s Bücher (1913) als ebenso metareflexiver wie metanarrativer Vertextungszusammenhang konstituiert. Im Folgenden wird versucht, die Musil’schen Essays unter dem Gesichtspunkt des essayistischen Ich als Vertextungszusammenhang zu lesen, welcher das Ich als Subjekt der Aussage als textinterne Funktion ebenso figuriert wie de-figuriert, das heißt, als feste, personal-zentrierende Einheit auflöst. Dabei geht es um den Nachweis von Manifestationen bzw. Sprechrollen einer Textinstanz, welche den essayistischen „Zusammenhang der Gefühle und Gedanken“286 begründet. Die Kommunikationssituation, der Dialog zwischen Autor und Leser, so die Hypothese, beruht nicht auf einer Art ‚pacte essayistique‘287 oder gar einem Identitätsverhältnis zwischen textinternem essayistischem Ich und textexternem Autor. Das essayistische Ich wird vielmehr als textinterne Funktion einer essayistischen Denkbewegung verstanden, die mit der Gleichzeitigkeit von Nähe und Distanz, Identität und Differenz spielt und somit zur Fiktivierung der gesamten Kommunikationssituation beiträgt.288 a) Essayistische Textfigurationen in Über Robert Musil’s Bücher (1913) oder das essayistische Ich als Parlograph des Autors Es zerfiel mir alles in Teile, die Teile wieder in Teile, und nichts mehr ließ sich mit einem Begriff umspannen. Die einzelnen Worte schwammen um mich; sie gerannen zu Augen,
_____________ 286 Ders.: Über Robert Musil’s Bücher (1913) (GW II, 998). 287 Vgl. P. Lejeune: Der autobiographische Pakt (1973/5). In: Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung. Hrsg. v. G. Niggl. Darmstadt 1989. S. 214–258. 288 Vgl. B. Nübel: Verflechtung von Subjektfigurationen. In: dies.: Autobiographische Kommunikationsformen um 1800. Studien zu Rousseau, Wieland, Herder und Moritz. Tübingen 1994. S. 76–82.
3. Das essayistische Ich
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die mich anstarrten und in die ich wieder hineinstarren muß […].289 (Hugo von Hofmannsthal). Und nur an der Seite des Leibs, in der Gegend des Beinansatzes, haben sie irgend ein ganz kleines, flimmerndes Organ, das lebt noch lange. Es geht auf und zu, man kann es ohne Vergrößerung nicht bezeichnen, es sieht wie ein winziges Menschenauge aus, das sich unaufhörlich öffnet und schließt.290 (Robert Musil) Ein Auge, so klein und schwarz wie ein Spennadelknopf richtete sich dahin. Und man hatte einen Augenblick lang ein so sonderbar verkehrtes Gefühl, daß man wirklich nicht mehr recht wußte, ob sich dieses kleine, lebendige, schwarze Auge drehe oder ob sich die unendliche Unbeweglichkeit der Berge rühre.291 (Robert Musil)
Inhaltlich erinnert die essayistische Funktionsbestimmung der modernen Literatur in Über Robert Musil’s Bücher (1913) und in dessen Prätext Novelleterlchen (1912) bis in die Formulierungen hinein an die bereits untersuchten Essays und Fragmente. Der Essay Über Robert Musil’s Bücher ist allerdings nicht nur in inhaltlicher, sondern auch in darstellungstechnischer Hinsicht hochgradig metareflexiv. Denn der Autor Robert Musil avanciert auf der Ebene des Textes zum Objekt des Ausgesagten, während das Subjekt der Aussage, das essayistische Ich, nicht selbst denkt bzw. spricht, sondern vielmehr durch jenes (textinterne)Gehirn des Autors gedacht und gesprochen wird, als dessen figurative Abspaltung es zu verstehen ist. Somit wird in dem Essay Über Robert Musil’s Bücher die figurative Grundkonstellation der Musil’schen Essays, das heißt die Identität und Differenz zwischen textexternem Autor-Ich und textinternem essayistischen Ich, reflektiert und zugleich narrativ inszeniert. Während das essayistische Ich sich wiederholt vornimmt, zu schweigen292 und vom Autor-Ich zu distanzieren,293 flüstert das (textinterne) Musil’sche Gehirn, das sich „für unser Gespräch interessiert zu haben“ schien, dem essayistischen Ich durch dessen Wirbelsäule „ins Kreuzbein“
_____________ 289 H. v. Hofmannsthal: Ein Brief. In: Der Tag (Berlin) Nr. 489 u. 492 (1902). In: ders.: Der Brief des Lord Chandos. Schriften zur Literatur, Kultur und Geschichte. Hrsg. v. M. Mayer. Stuttgart 2000. S. 46–60, hier S. 52. 290 R. Musil: Das Fliegenpapier. In: ders.: Nachlaß zu Lebzeiten (1936) (GW II, 476–477, hier 477). 291 Ders.: Die Maus. In: ders.: Nachlaß zu Lebzeiten (1936) (GW II, 488–489, hier 489). 292 Vgl. ders.: Über Robert Musil’s Bücher (1913): „Ich wollte schweigen.“ (GW II, 997) „Ich glaubte jetzt schweigen zu müssen.“ (GW II, 999) 293 Ebd. S. 997: „[…] soll er [Musil] selbst damit fertig werden.“
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VI. Robert Musil oder Essayismus als andere Vernunft
einen Text ein, den dieses, „solcherart [d. h. am Becken] geschoben“, aussprechen „mußte“.294 Der locus („auf dem wir saßen“) wird hier zum logos, der Raum (die Musil’sche Gehirnlandschaft) zum Ort und Ursprung der Sprache. Subjekt und Objekt des Sprechens sind zugleich eins und viele. Während das Gehirn, das für sich die Autorschaft der Musil’schen Bücher beansprucht, zu dem essayistischen Ich in einem eher distanzierten Siez-Verhältnis steht und es ausdrücklich für den quasi erbrochenen („Einzelne Worte und kurze Sätze kamen ziemlich heftig zu mir herauf“) Wort-Text lobt, beginnen sich die Grenzen des essayistischen Ich aufzulösen: „Ich hatte ein Gefühl, als sei mein Gehirn verdoppelt und während sein eines Exemplar langsam hinter dem musc.[ulus] longissimus dorsi auf und abschwebe, schwimme das andere geschwächt und schattenhaft wie der Mond in meinem Schädel. Bisweilen näherten sie sich einander und schienen zu zerfließen. Dann verlor ich meinen Körper in einem seltsamen Mittelgefühl von Ich und Fremdheit.“295 Auch der Körper Lord Chandos’, der in seinem Brief an Francis Bacon vom 22. August 1603 wortgewaltig den Zustand seiner Sprachlosigkeit beschreibt, löst sich auf und fließt in die „stummen und manchmal unbelebten Kreaturen“296 hinüber: „Eine Gießkanne, eine auf dem Felde verlassene Egge, ein Hund in der Sonne, ein ärmlicher Kirchhof, ein Krüppel, ein kleines Bauernhaus […]. Jeder dieser Gegenstände […] kann für mich plötzlich in irgendeinem Moment […] ein erhabenes und rührendes Gepräge annehmen, das auszudrücken mir alle Worte zu arm erscheinen.“297 Es handelt sich um jenen anderen Zustand, den Musil in seinem Essay Ansätze zu neuer Ästhetik (1925) auf die begriffliche Formel einer „plötzlich erblickten Physiognomik der Dinge“ zu bringen versucht.298 Bei diesem magisch-mystischen Hinüberfließen in „gegeneinander spielende Materien“,299 die nicht mehr als pantheistische Zeichen einer göttlichen Transzendenz, sondern als animistische Projektionen der erlebenden Immanenz selbst gelesen werden können, weisen „die Empfin-
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Ebd.; Hervorhebung v. B. N. Ebd. S. 999. H. v. Hofmannsthal: Ein Brief (1902). S. 55. Ebd. S. 53; vgl. ebd. S. 55: „In diesem Augenblicken wird eine nichtige Kreatur, ein Hund, eine Ratte, ein Käfer, ein verkümmerter Apfelbaum, ein sich über den Hügel schlängelnder Karrenweg, ein moosbewachsener Stein mir mehr als die schönste, hingebendste Geliebte der glücklichsten Nacht mir je gewesen ist.“ 298 R. Musil: Ansätze zu neuer Ästhetik. Bemerkungen über eine Dramaturgie des Films. In: Der Neue Merkur, März 1925 (GW II, 1137–1154, hier 1145). 299 H. v. Hofmannsthal: Ein Brief (1902). S. 56.
3. Das essayistische Ich
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dungen“ – so Musils Analyse des anderen Zustands – „nicht auf Dinge außerhalb des Ichs, sondern bedeuten innere Zustände; die Welt wird nicht mehr als ein Zusammenhang dinglicher Beziehungen erlebt, sondern als eine Folge ichhafter Erlebnisse.“300 Der menschliche Körper selbst gewinnt Zeichencharakter ( – „Es ist mir dann, als bestünde mein Körper aus lauter Chiffren“ – )301 und scheint mit der Natur der Dinge, mit den Dingen der Natur unmittelbar, das heißt jenseits der Dichotomien von Geist und Körper, Subjekt und Objekt, zu kommunizieren. Jenem mystischen Erlebnis der „Bezauberung“302 in Hofmannsthals Ein Brief (1902) entspricht in Über Robert Musil’s Bücher (1913) eine Art hypnotischer Zustand des essayistischen Ich, dessen körperliche Sprechorgane zur Funktion, zur phonographischen Sprechapparatur des AutorHirns mediatisiert werden. Zerfallen Chandos „die abstrakten Worte […] im Munde wie modrige Pilze“,303 so kommen die Worte hier „pelzig wie unausgereifte Früchte […] heraus“.304 Die sprachkritische bzw. erkenntnistheoretische Idiosynkrasie zielt bei Musil nicht auf ein im Zustand des Vermoderns versinnbildlichtes, sentimentales bzw. dekadentes NichtMehr, sondern auf ein unreifes, unfertiges Noch-Nicht im Verhältnis von Gesagtem und Gemeinten, Worten und Gedanken. Doch auch hier gilt die Kleist’sche Transformation des „l’appétit vient en mangeant“ in ein „l’idée vient en parlant“.305 Denn die pelzig-unreifen, noch ungedacht bzw. nur halbgedachten Wortfrüchte, „schienen erst […] in der fremden Atmosphäre“, das heißt in der Vermittlung, in der Medialisierung, im Kontext des Gesprächs wie des essayistischen Textes, „zu dem zu werden, was sie sagten.“306 Das essayistische Ich, das nicht spricht, sondern ge- bzw. besprochen wird,307 folgt in seinem nur von wenigen
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Musil: Ansätze zu neuer Ästhetik (1925) (GW II, 1153). H. v. Hofmannsthal: Ein Brief (1902). S. 56. Ebd. Ebd. S. 51. R. Musil: Über Robert Musil’s Bücher (1913) (GW II, 999). Vgl. H. v. Kleist: Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden (1805/06). In: ders.: Sämtliche Werke und Briefe (1985). Bd. 2. S. 319. 306 R. Musil: Über Robert Musil’s Bücher (1913) (GW II, 999); vgl. ders.: Tagebücher. Heft 10 (1918–1921): „Eher richtig, daß das Bewußtsein etwas assessorisches ist (richtiger: das Denken), das sich zugleich mit den Mitteilungen entwickelt.“ (TB I, 453) 307 S. Lämmer: Dichten/Denken (2005) verweist darauf, dass es „für Musil, der zeitlebens unter Schreibhemmungen litt, eine verlockende Vorstellung gewesen sein mag, als ‚Inkarnation‘, ‚Mundstück‘ oder ‚Medium übermächtiger Gewalten‘ zu fungieren, dem das Sein in der authentischen ‚Inspiration‘ ‚sichtbar‘, ‚hörbar‘ wird. Aus dem impliziten Kommentar von Hofmannsthals ‚Chandos-Brief‘ spricht ein gebrochenes Verhältnis zu einer derartigen, religiös-mystischen Sprachauffassung.“
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VI. Robert Musil oder Essayismus als andere Vernunft
Einwänden der beiden Gesprächspartner unterbrochenen Monolog der Vorgabe des Gehirns, dass „das Erzählen vom Kinderfrauenberuf zu emanzipieren“ sei.308 Dieser Monolog, dessen Inhalt weitgehend dem Textfragment Novelleterlchen (1912) entspricht, wird zunächst ebenso abstrakt wie leidenschaftlich weitergeführt, um sich am Anfang des letzten Textabschnittes in essayistische Ironie, als kritische Selbstreflexion der erzählprogrammatischen Voraussetzungen und Bedingungen aufzulösen. Denn das essayistische Ich wacht schließlich aus seinem Zustand der hypnotisierten Trance (‚double conscience‘) auf: „Die Gefährten schliefen. Das Gehirn unter mir gähnte. ‚Nehmen Sie es mir nicht übel, flüsterte es in der Tiefe, ‚aber ich kann die Augen nicht mehr offen halten‘.“309 Zunächst ergießt sich der Wortschwall des wie verzweifelt ins Leere schreienden Ich weiter in die gähnende Leere, bis schließlich ein letzter, gleichermaßen abstrakt wie tautologisch formulierter Satzbeginn „kalt und vor der Dunkelheit schaudernd in [s]eine Kehle zurück[glitt].“310 Das Gehirn des Dichters ist endgültig eingeschlafen und entzieht dem essayistischen Ich seine Stimme und seine Worte. Hatte Schehrezâd in Die Erzählungen aus den Tausendundein Nächten noch durch ihre Geschichten den König Schehrijâr vom Schlaf abhalten und sich selbst das Leben bewahren können, so kann die Problematik des neuen Erzählkonzeptes, welches das Primat des Reflexiven gegenüber dem Narrativen fordert, sinnfälliger kaum als durch das Einschlafen aller beteiligten Gesprächspartner dargestellt werden.311 Der implizite wie textexterne Leser jedoch, der im Interesse der Extrapolation einer immanenten Essaytheorie Robert Musils bislang angestrengt den Gedankenverknüpfungen der essayistischen Figur in Über Robert Musil’s Bücher (1913) zu folgen versucht hat, erwägt wohl nicht unberechtigter Weise, vom Autor auf den Arm genommen worden zu sein. Das essayistische Ich aber fühlt sich von der generellen Selbstironisierung ausgenommen und geht wie vormals der Bildungsbürger nach dem Theaterbesuch „zu [s]einer vollen Menschlichkeit angeschwollen, befriedigt, wenn auch ein wenig benommen und nachdenklich nach Hause.“312
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Ders.: Über Robert Musil’s Bücher (1913) (GW II, 999). Ebd. S. 1001. Ebd. Vgl. hierzu auch ders.: Vorwort zu Novellen [1911]: „Wenn ich es [das Buch Vereinigungen] als Ganzes lese bin ich ermüdet u[nd] ein wenig böse.“ (GW II, 1314). 312 Ders.: Über Robert Musil’s Bücher (1913) (GW II, 1001).
3. Das essayistische Ich
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In der Schlusssequenz des Essays wird die Eingangsszenerie wiederaufgenommen: ein stark verkleinertes Ich, das in Eile auf einem ins Überdimensionale vergrößerten Gehirn herumrutscht: „Ich traf hastig einige nötige Anstalten und sauste, von der Stille gehetzt, die nächste Spalte hinunter.“313 Die Naturmetaphorik ist hier allerdings durch Begriffe der medizinischen ‚Vivisicirung‘314 („Fasern des Optikus“, „Sklera“),315 also die Sprache der diagnostischen Entzauberung, abgelöst. Das essayistische Ich, in das sich das Gehirn des Dichters verdoppelt, ist jedoch weder Arzt316 noch Vivisecteur.317 Es ist der ‚blinde Fleck‘ des Autors. Denn das TextIch verlässt das „Gehirn dieses Dichters“318 nicht durch das Sprechorgan des textinternen Autor-Ich, sondern durch dessen Augenöffnung. Der Essay Über Robert Musil’s Bücher inszeniert eine Textfunktion, die das Innere („Gehirn dieses Dichters“) nach Außen (bzw. vor das innere Auge des Lesers) kehrt. Und dieses schaut sich selbst beim Sprechen zu. Im Auge des Dichters – und zwar genau in dem Moment, in dem die Textfunktion des essayistischen Ich den fiktiven Text-Topos, das „Gehirn dieses Dichters“, durch dessen Augenöffnung verlässt – fallen die Instanzen des Autornamens, des Autorgehirns und des essayistischen Ich zusammen. Die Worte gerinnen hier im Versuch, die auseinanderfallenden Teile (‚Musil‘, ‚Dichter‘, ‚Gehirn‘, ‚Ich‘) mit einem Begriff zu umspannen, nicht mehr zu Augen, die das essayistische Ich anstarren.319 Dieses verlässt vielmehr den essayistischen Diskurs des Nichtidentischen auf der Ebene des Ausgesagten wie der Aussage durch das Auge. Der blinde Fleck wird zum Ort der Reflexion. Die im Kontext der Vereinigungen (1911) entwickelte Frage nach der aufgelösten Zentralperspektive („wer sieht hier zu?“)320 bleibt hier ebenso
_____________ 313 314 315 316 317
318 319
320
Ebd. Ders.: [Form und Inhalt] [um 1910] (GW II, 1301). Ders.: Über Robert Musil’s Bücher (1913) (GW II, 1001). Vgl. ders.: Tagebücher. Heft 34 (1930–1938): „Zur Krisis des Romans: Wir sollen erzählen, wie es der Kranke dem Arzt tut. (Dann haben wir Erfolg). Warum nicht, wie Ärzte miteinander oder wenigstens wie der Arzt den Kranken aufklärt!“ (TB I, 862). Vgl. ders.: „Blätter [aus] dem Nachtbuche des monsieur le vivisecteur“. In: ders.: Tagebücher. Heft 4 (1899?–1904?): „So sehe ich auch jetzt von außen nach innen und Summa Summarum giebt mir dieses von außen nach innen und von innen nach außen die beschauliche Ruhe des Philosophen.“ (TB I, 1) Ders.: Über Robert Musil’s Bücher (1913) (GW II, 995). H. v. Hofmannsthal: Ein Brief (1902). S. 52: „Es zerfiel mir alles in Teile, die Teile wieder in Teile, und nichts mehr ließ sich mit einem Begriff umspannen. Die einzelnen Worte schwammen um mich; sie gerannen zu Augen, die mich anstarrten und in die ich wieder hineinstarren muß […].“ R. Musil: Brief an Franz Blei [nach 15. 7. 1911] (BR I, 87).
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VI. Robert Musil oder Essayismus als andere Vernunft
unbeantwortet wie die nach der dissoziierten Subjektstruktur der essayistischen Aussage: Wer spricht?321 b) „Dieses Ich bin nicht ich“ oder das essayistische Ich als diskursive Inszenierung des Autors In seinen philosophischen Bemerkungen sagt Lichtenberg: „[…] Es denkt, sollte man sagen, so wie man sagt: es blitzt. Zu sagen cogito, ist schon zu viel, sobald man es durch Ich denke übersetzt. Das Ich anzunehmen, zu postulieren, ist praktisches Bedürfnis“.322 (Ernst Mach) […] es geht der Gewohnheitsweg unsrer Gedanken unter Ausschaltung des Ich von Gedanke zu Gedanke und Tatsache zu Tatsache, wir denken und handeln nicht über unser Ich. Darin liegt ja das Wesen unserer Objektivität, sie verbindet die Dinge untereinander, und selbst wo sie uns zu ihnen in Beziehung setzt oder – wie in der Psychologie – uns selbst zum Gegenstand hat, tut sie es unter Ausschluß der Persönlichkeit. Es gibt die Objektivität gewissermaßen das Innerliche an den Dingen preis […]. Objektivität stiftet daher keine menschliche Ordnung, sondern nur eine sachliche.323 (Robert Musil)
In den Tagebüchern Heft 25 und 26 (1921–1923?) entwirft Robert Musil eine Art Vorwort zu einem geplanten, aber nie realisierten Essayband „Versuche einen andren Menschen zu finden“.324 Dieser Arbeitstitel, so befindet Musil, „[k]önnte eigentlich über meinem Gesamtwerk stehn“.325 In diesem Zusammenhang äußert sich Musil auch explizit zu der Textfunktion des essayistischen Ich. Dieses „Ich“ bedeute „weder den Verfasser“, noch „eine von ihm erfundene Person, sondern ein wechselndes Gemisch von Beidem“:326 „Dieses Ich bin nicht ich, […] aber es wird auch keine Figur sein“.327
_____________ 321 M. Foucault: Was ist ein Autor? (1969) In: ders.: Schriften zur Literatur, München 1993. S. 7–32, hier S. 7: „[…] wer spricht?“ Vgl. ebd. S. 31. 322 Vgl. hierzu E. Mach: Antimetaphysische Bemerkungen (1886). S. 23. 323 Vgl. R. Musil: Das hilflose Europa oder Reise vom Hundertsten ins Tausendste. In: Ganymed 1922 (GW II, 1075–1094, hier 1092). 324 Ders.: Tagebücher. Heft 25 (1921–1923?) (TB I, 643); vgl. auch ebd. Heft 21 (1920– 1926 (TB I, 608). 325 Ebd. Heft 26 (1921–1923?) (TB I, 667). 326 Ebd. Heft 25 (1921–1923?) (TB I, 643). 327 Ebd. S. 644; vgl. ders.: Heft 26 (1921–1923?): „[…] so meint sich damit nicht die private Person des Verfassers; es ist auch kein fingiertes Ich gemeint wie in einem Roman […].“ (TB I, 663).
3. Das essayistische Ich
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Das Ich der Tagebuchnotizen, das sich als Autor bzw. Herausgeber des Essaybuches ausgibt,328 behauptet von sich, es sei „kein Philosoph, […] nicht einmal ein Essayist, sondern […] ein Dichter“329 und sagt über das essayistische Ich aus, dieses sei „Ingenieur“, möchte aber „eigentlich ein Philosoph oder Dichter sein“. Auch dieser Ingenieur scheint im Verlauf seiner nebenher betriebenen „philosophische[n] Studie[n]“ bei Ernst Mach in die Schule gegangen zu sein.330 Denn es gehe in den Essays, so ist in den Tagebuchnotizen zu lesen, weniger um den „Zusammenhang der zum Vortrag gelangenden Gedanken und Gefühle in einer Person“ als um den gegenständlichen Zusammenhang der Gedanken und Gefühle untereinander.331 Schon bei Montaigne war das Ich „keine unveränderliche, bestimmte, scharf begrenzte Einheit“,332 sondern ein (ver)suchendes, tastendes, schmeckendes,333 schwankendes.334 Nun soll selbst dieses Ich nicht länger der einzige Inhalt des Buches sein,335 sondern eine bloße Textfunktion. „Dieser Inhalt“ – also der sachliche Zusammenhang der Gedanken und Gefühle untereinander – „und nicht das Ich ist die Hauptsache.“336 Das
_____________ 328 Vgl. ebd. S. 667: „Ich brauche kaum zu sagen, daß ich das Werk eines Toten herausgebe. Man wird sehen, daß er nach seiner eigenen Definition schon tot war, als er manche seiner Ideen niederschrieb.“ 329 Ebd. S. 665; vgl. ders.: Heft 25 (1921–1923?): „[…] ich, der ich weder Gelehrter, noch ein Charakter bin noch in diesem Fall Dichter sein will […].“ (TB I, 643) 330 Ebd. Heft 25 (1921–1923?) (TB I, 644); die partielle Nicht-Identität von Ich, das sich im Tagebuch über das Ich des geplanten Essaybandes äußert, und textexternem Autor ergibt sich auch aus dem Vergleich mit den biographischen Daten Robert Musils, der nicht das Gymnasium, sondern von 1891–1897 zunächst die (Militär-)Realschule durchlaufen und die Reifeprüfung erst 1904, das heißt parallel zu seinem Berliner Philosophie-Studium, nachgeholt hat. 331 Ebd. Heft 26 (1021–1923?) (TB I, 663). 332 E. Mach: Antimetaphysische Bemerkungen (1886). S. 19. 333 Vgl. M. de Montaigne: Über den Dünkel. In: ders.: Essais (1580–95). Hrsg. v. H. Stilett. Frankfurt a. M. 1998. S. 327: „Jeder schaut vor sich, ich in mich. Nur mit mir habe ich es zu tun. Ich beobachte mich ohne Unterlaß, prüfe mich, verkoste mich.“ 334 Vgl. ders.: Über das Bereuen. In: ders.: Essais (1580–95). S. 398: „Obwohl die Züge meines Porträts wechseln und sich vielfach wandeln, bleiben sie doch stets wahrheitsgetreu. Die Welt ist nichts als ein ewiges Auf und Ab. Alles darin wankt und schwankt ohne Unterlaß. Die Erde, die Felsen des Kaukasus und die Pyramiden Ägyptens schaukeln mit dem Ganzen und in sich. Selbst die Beständigkeit ist bloß ein verlangsamtes Schaukeln. / So vermag ich auch den Gegenstand meiner Darstellung nicht festzuhalten, denn auch er wankt und schwankt in natürlicher Trunkenheit einher.“ 335 Vgl. ders.: An den Leser. In: ders.: Essais (1580–95). S. 5: „Ich selber, Leser, bin also der Inhalt meines Buchs […].“ 336 E. Mach: Antimetaphysische Bemerkungen (1886). S. 19.
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VI. Robert Musil oder Essayismus als andere Vernunft
Selbststudium wird nicht länger als Metaphysik, sondern als Antimetaphysik, als Physik betrieben.337 Die Antwort auf die Frage nach der Legitimität der Dichtung im physikalischen Zeitalter – „Aber warum schreibt man denn Kunst? […] Warum beschäftigt man sich nicht mit dem physikalischen Relativitätsprinzip“? – lautet: „Weil es Dinge gibt, die sich nicht wissenschaftlich erledigen lassen, die auch nicht mit den Zwitterreizen des Essays zu fangen sind“.338 Physikalisch gesehen sind Gefühle und Gedanken zwar immer „unpersönlich u[nd] unkünstlerisch“, doch gerade „die Art ihrer Verflechtung“ macht das Persönliche und Dichterische aus, mit Musils Worten: „ist die Persönlichkeit u.[nd] ist die Kunst“.339 Der Verzicht auf Systematik und logische Beweisführung in der essayistischen „Gedankenverknüpfung“340 ist somit immer ein „[S]agen, was ich denke und deutlich machen, warum ich es denke“.341 Das Ich des ‚cogito‘, das Denken wie Text konstituiert, ist ein skeptisches. Dem physikalischen Entropiesatz („Es gibt keinen Fortschritt“) wie negativen Dogmatismus der Ethik („es gibt keinen letzten Wert“) hält es die Suche nach einer neuen Zielsetzung bzw. ‚Gerichtetheit‘ entgegen: „Die ganze Aufgabe ist: Leben ohne Systematik aber doch mit Ordnung. Selbstschöpferische Ordnung. Generative O.[rdnung.] Eine nicht von a bis z festgelegte Ordnung, sondern eine im Schritt von n auf n + 1“.342 Diese Ordnung, die nicht auf zeitlicher Linearität und logischer Kausalität, sondern auf Motivation, einem wissenschaftlich wie dichterisch neu zu beschreibenden, neu zu konstruierenden Zusammenhang von Innen und Außen, Subjekt und Objekt beruht, sucht der Essay zu schaffen.343
_____________ 337 Vgl. M. de Montaigne: Über die Erfahrung. In: ders.: Essais (1580–95). S. 541: „Ich studiere mich mehr als irgend etwas andres – das ist meine Metaphysik, das ist meine Physik.“ 338 R. Musil: Profil eines Programms [1912] (GW II, 1317); vgl. ders.: Vorwort IV. Vorbemerkungen zu: Nachlaß zu Lebzeiten [1935]: „Warum gibt es überhaupt Dichtung (u.[nd] nicht bloß Essay)?“ (GW II, 971) 339 Ders.: Profil eines Programms [1912] (GW II, 1317). 340 Ders.: [Über den Essay] [1911/12?] (GW II, 1335). 341 Ders.: Tagebücher. Heft 19 (1919–1921): „Ich verzichte auf Systematik und genauen Beweis. Ich will nur sagen, was ich denke, und deutlich machen, warum ich es denke. Ich tröste mich damit, daß sogar bedeutende Werke aus solcher Not geboren sind, daß Lockes…… [Essays concerning human understanding] eigentlich Reisebriefe sind.“ (TB I, 527) 342 Ebd. Heft 25 (1921–1923?) (TB I, 652f.). 343 Vgl. ders.: [Über den Essay] [1911/12?] (GW II, 1335).
3. Das essayistische Ich
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Der Aufbau des Essays, die mithilfe der Textfunktion des essayistischen Ich hergestellte Verknüpfung der Gedanken und Gefühle, so Musil, ist „nicht mehr systematisch, sondern schöpferisch.“344 Die Mediatisierung durch den persönlichen bzw. „Ich-Zusammenhang“345 der Gedanken und Gefühle ergibt sich im Essay zum einen darstellungstechnisch aus Gründen der besseren Verständlichkeit, zum anderen aber auch aus der erkenntnistheoretischen Prämisse, dass sich die Wirklichkeit „in unseren Erlebnissen und Forschungen nie anders wie durch ein Glas, das teils den Blick durchläßt, teils den Hineinblickenden widerspiegelt“, zeigt.346 Folglich kann der in den Essays zur Darstellung kommende Zusammenhang der Gedanken und Gefühle (noch?) nicht wissenschaftlich begriffen und definiert oder gar in Form von einfachen Protokollsätzen festgehalten werden. Und der Autor bzw. das Tagebuch-Ich sieht sich außerstande, „eine Philosophie daraus zu machen. Das Material, das ich vor mir habe, sind Bruchstücke. Vielleicht läßt sich das Ganze fühlen“.347 In jedem Fall aber geht das Spiegelbild des ‚schauenden‘, erlebenden und forschenden Ich in die Aussage über das Erlebte und Erforschte mit ein: „und deshalb spreche ich und nicht die Sache“.348 Doch gemäß der sprach- bzw. kommunikationstheoretischen Einsicht, dass die Prädikation des Satzes, den Peter über Paul äußert, ebensoviel über Paul wie über Peter aussagt, verschwimmen auch hier die Grenzen zwischen Subjekt und Objekt der Aussage: „,Ich liebe etwas‘ enthält ebensoviel von der Subjektivität des Ich wie von der Objektivität des etwas!“ Dieses Denken ist nicht persönlich, aber auch nicht – im Sinne des Wahrheitskriteriums oder der Wirklichkeitstreue – unpersönlich: „Mit solchen Gedanken werden meiner Ansicht nach Essays geschrieben“:349 „Wenn aber der Zusammenhang der Ideen unter sich kein ganz genügender ist, und der Zusammenhang in der Person des Autors […] verschmäht wird, so bleibt ein weder subjektiver, noch objektiver Zusammenhang übrig, wohl aber einer, der beides sein könnte, ein mögliches Weltbild, eine mögliche Person, und diese beiden suche ich.“350
_____________ 344 Ders.: Geist und Erfahrung (1921) (GW II, 1050). 345 Ders.: Tagebücher. Heft 25 (1921–1923?) (TB I, 643f). 346 Ders.: Der Mann ohne Eigenschaften (Nachlass) (MoE II, 1342); vgl. B. Nübel: „Hinter der Sperre des Glases“. Gedankenexperimente in Robert Musils „Nachlaß zu Lebzeiten“. In: Lust am Kanon. Denkbilder in Literatur und Unterricht. Hrsg. v. S. Knoche/L. Koch/R. Köhnen. Frankfurt a. M. 2003. S. 237–256. 347 R. Musil: Tagebücher. Heft 26 (1921–1923?) (TB I, 664). 348 Ebd. 349 Ebd. S. 665. 350 Ebd. S. 664.
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VI. Robert Musil oder Essayismus als andere Vernunft
Der dem ,Dazwischenliegenden‘ gemäße Darstellungsmodus ist weder ein subjektiv-dichterischer noch ein objektiv-wissenschaftlicher. Es könne, so Musil, daher in den Essays „nicht real“, das heißt als Wirklichkeitssaussage, sondern „nur imaginativ“ gesprochen werden.351 Indem der Autor des Essays aber nicht, oder zumindest nicht unmittelbar, in eigener Sache und ohne den Anspruch auf ‚Wirklichkeitstreue‘ spricht,352 sondern ein textinternes Ich, mit dem er nur teilweise identisch ist, für sich sprechen lässt, gewinnt die gesamte Kommunikationssituation einen fiktiven Status. In einer Tagebucheintragung vom 20. April 1905 hatte Robert Musil in der „Norm, daß im Roman der Dichter nicht das Wort ergreift“, noch „[d]ie Grenze für das Erlaubte“ wie die „Scheidung gegen das Essay“ gesehen: „Nichts wirkt nämlich hölzerner als wenn man seinen Personen lange Tiraden in den Mund legt; sie zu Phonographen macht, in die vorher der Autor hineingesprochen hat.“353 Es gehe, so Musil wiederum fünfundzwanzig Jahre später in seinem Essay Literat und Literatur. Randmerkungen dazu (1931), um „die richtige Mischung zwischen Untersuchung durch den Verstand und gläubigem Erzählen, dessen Reiz in seiner Ungebrochenheit besteht.“354 Hier werden die in den frühen unveröffentlichten Fragmenten Form und Inhalt [um 1910] und Über den Essay [1911/12?] getroffenen Unterscheidungen zwischen dem Essay auf der einen Seite und der Dichtung auf der anderen wieder aufgenommen, relativiert und im gemeinsamen Oberbegriff der ,Literatur‘ zusammengeführt: „der Gedanke, die diskursive Ideenverknüpfung“ könne, so heißt es hier, nicht nur im Essay, sondern auch im Roman und Drama „nackt“ hervortreten: „Dennoch haftet an solchen Stellen einer Erzählung immer ein unangenehmer Eindruck des Extemporierens, des Aus-der-Rolle-Fallens und der Verwechslung des Darstellungsraums mit dem privaten Lebensraum des Verfassers, wenn sie nicht auch die Natur eines Formteils haben.“355 Im Abwälzen der Verantwortung vom Autor auf die Figuren, in deren „ministeriellen Kleidungsstücken“ er sich zeigt, liegt dagegen, laut einer die Produktion der Vereinigungen metatextuell kommentierenden Tagebucheintragung vom 5. September 1910,356 das Einfallstor des Episch-
_____________ 351 Ebd. 352 Vgl. hierzu ders.: Literat und Literatur (1931): Dabei ist es, wie bekannt, die Eigentümlichkeit und Aufgabe des wissenschaftlichen oder logischen oder diskursiven oder, weil man hier im Gegensatz zur Dichtung auch sagen könnte, wirklichkeitstreuen Denkens […].“ (GW II, 1213) 353 R. Musil: Tagebücher. Heft 11 (1905–1908?) (TB I, 143). 354 Ders.: Literat und Literatur (1931) (GW II, 1221). 355 Ebd. S. 1223. 356 Ders.: Tagebücher. Heft 5 (1910–1911?) (TB I, 226).
3. Das essayistische Ich
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Narrativen. Der Autor, der sich der Souveränität seiner Gedanken nicht mehr gewiss ist, versteckt sich hinter den Kleidungsstücken seiner ,Minister‘ (Textfiguren), die er für sich an der Gedankenbörse spekulieren lässt: „So wie ein schlechter Mensch mit fremdem Geld kühner spielt als mit eigenem, will ich meinem Gedanken auch über die Grenze dessen nachhängen, was ich unter allen Umständen verantworten könnte; das nenne ich Essay, Versuch.“357 Die vom „Gelehrten“ bzw. „Dichter“ in Umlauf gebrachten geprägten Münzen („Charakter[e]“)358 bleiben gleichwohl weisungsgebunden. Sie sind farblos und gewinnen keine poetische Eigenständigkeit. Die Minister, hinter deren Kleidungsstücken sich der Autor verstecken will, sind nackt. Sie tragen weder Frack noch Stehkragen. Es sind reine Sprechkörper. Sie gehören also nicht zu jenen, „deren Gedanken niemals ohne Hut auf die Straße rennen“,359 noch scheinen sie – mit Ausnahme jenes essayistischen Ich aus Über Robert Musil’s Bücher – überhaupt Beine zu haben, mit denen sie (spazieren) gehen, geschweige denn rennen oder herumrutschen könnten. Sie empfinden,360 glauben,361 meinen362 und es dünkt ihnen.363 Sie wissen und behaupten dagegen nur in Verbindung mit Negationen. Manche ihrer Formulierungen lesen sich wie Vorwegnahmen aus Adornos Negativer Dialektik (1966): „Ich weiß es nicht. Auch darin zeigt sich aber der Zusammenhang mit dem Ganzen“.364 Sie sprechen im Konjunktiv365 und
_____________ 357 Ebd. Heft 25 (1921–1923?) (TB I, 643). 358 Vgl. ebd.: „[…] ich, der ich weder Gelehrter, noch ein Charakter bin noch in diesem Fall Dichter sein will […].“ (TB I, 643) 359 Ders.: Robert Müller. In: Arbeiter-Zeitung (Wien)/Prager Presse, 3. November 1924 (GW II, 1131–1137, hier 1133). 360 Vgl. ders.: Geist und Erfahrung (1921): „[…] ein Werk mit Bedeutung und eignem Leben – als ein solches empfinde auch ich Spenglers Buch – […]“ (GW II, 1047) etc. 361 Vgl. ebd. S. 1057: „Ich glaube, wenn man unterscheiden will […].“ Vgl. ders.: Das hilflose Europa oder die Reise vom Hundertsten ins Tausendste (1922) (GW II, 1076): „Darauf gibt es, glaube ich, nur eine Antwort.“ etc. 362 Vgl. ders.: Die Nation als Ideal und als Wirklichkeit (1921) (GW II, 1060), ders.: Symptomen-Theater II (1922/23) (GW II, 1110) etc. 363 Vgl. ders.: Der „Untergang“ des Theaters. In: Der Neue Merkur, Juli 1924 (GW II, 1116–1131, hier 1123): „In jeder Bildung steckt, wie mich dünkt […].“ etc. 364 Ebd. S. 1131 u. a. 365 Vgl. ders.: Geist und Erfahrung (1921): „Wäre es […] nicht vermessen, so würde ich sagen, daß der Verstand dort, wo er sozusagen all seiner Bequemlichkeiten beraubt ist, desto elastischer sein und dort, wo alles fließt, desto schärfer unterscheiden und fassen muß.“ (GW II, 1050). Vgl. ders.: Zu Kerrs 60. Geburtstag (1927). S. 1185: „Und ich würde da gerne noch einen Aufsatz anfügen, aber es würde ein neuer Aufsatz werden.“ (GW II, 1185) Vgl. hierzu auch A. Schöne: Zum Gebrauch des Konjunktivs bei Robert Musil (1961/66). In: Robert Musil. Hrsg. v. R. v. Heydebrand. Darmstadt 1982. S. 19–54.
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VI. Robert Musil oder Essayismus als andere Vernunft
in Verbindung mit Unbestimmtheitsformeln.366 So plant das essayistische Ich im Porträt Zu Kerrs 60. Geburtstag (1927) schon den nächsten Essay (mit dem Arbeitstitel „Von Sudermann zu Sudermann“)367 bis in die Formulierungen: „Und ich würde einen solchen Aufsatz, wenn ich ihn schriebe, dann mit ungefähr folgenden Worten schließen: Kerr war […].“368 Aber sie sagen aus und untersuchen:369 sie stellen Fragen,370 geben Antworten,371 verstehen,372 erzählen,373 erklären374 und empfehlen Bücher.375 Das essayistische Ich in den Essays Robert Musils hat keine persönlichen Eigenschaften. Als unpersönliche Funktion des Textes tritt es hinter den dargestellten Inhalt, die „Gedankenverknüpfung“376 bzw. den „sachli-
_____________ 366 Vgl. hierzu auch I. Honnef-Becker: „Ulrich lächelte“. Techniken der Relativierung in Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“. Frankfurt a. M. [u. a.] 1991. 367 Vgl. A. Kerr: Herr Sudermann. Der D.. Di.. Dichter. Berlin 1903. 368 R. Musil: Zu Kerrs 60. Geburtstag (1927). S. 1185. 369 Vgl. ders.: [Über den Essay] [1911/12?]: „Er [der Essay] sucht eine Ordnung zu schaffen. Er gibt keine Figuren, sondern eine Gedankenverknüpfung also eine logische u.[n]d geht von Tatsachen aus, wie die Naturwissenschaft, die er in Beziehung setzt. Nur sind diese Tatsachen nicht allgemein beobachtbar und auch ihre Verknüpfung ist in vielen Fällen nur eine singuläre. Es gibt keine Totallösung, sondern nur eine Reihe von partikularen. Aber er sagt aus und untersucht.“ (GW II, 1335) 370 Vgl. ders.: Der „Untergang“ des Theaters (1924): „…ich habe eine ganz zufällige Probe herausgegriffen, vermittelt sie einen Eindruck? Beschreibt sie ein Erlebnis? Bezieht sie sich auf einen menschlichen Wert?“ (GW II, 1130) etc. 371 Vgl. ders.: Geist und Erfahrung (1921): „Bevor ich antworte, will ich aber sagen […]“ (GW II, 1047); ders.: Die Nation als Ideal und als Wirklichkeit. In: Die Neue Rundschau, Dezember 1921 (GW II, 1059–1075, hier 1059): „[…] ich tue es, weil ich eine neue Antwort weiß und mich der Prophet treibt, sie zu verkünden. Ich kenne in der Tat nur Teilantworten oder Antworten, die nur zum Teil befriedigen.“ Ders.: Bücher und Literatur [II]. In: Die Literarische Welt, 26. November, 10./17. Dezember 1926 (GW II, 1170–1180, hier 1076): „Darauf gibt es, glaube ich, nur eine Antwort […].“ etc. 372 Vgl. ders.: Essaybücher (1913): „Ich verstehe eine solche Skepsis.“ (GW II, 1451) etc. 373 Vgl. ders.: Heute spricht Alfred Kerr. Ein Porträt des berühmten Kritikers: In: Der Tag (Wien), 31. März 1928 (GW II, 1186–1189, hier 1187): „[…] aber ich habe davon erzählt, weil […].“ Ders.: Die Frau gestern und morgen. In: Die Frau von Morgen wie wir sie wünschen. Hrsg. v. Friedrich M. Huebner. Leipzig 1929 (GW II, 1193–1199, hier 1194): „Von dieser Sinnlosigkeit möchte ich allerdings noch gerne ein Beispiel wiedererzählen […].“ etc. 374 Vgl. ders.: Geist und Erfahrung (1921): „Und Oswald Spengler erkläre ich öffentlich und als Zeichen meiner Liebe […].“ (GW II, 1059) etc. 375 Vgl. ders.: Das hilflose Europa oder Reise vom Hundertsten ins Tausendste (1922): „(Wer ein Beispiel haben will, lese das zurückhaltend als naturphilosophischer Versuch bezeichnete Buch ‚Die physikalischen Gestalten in Ruhe und im stationären Zustand‘ des jungen Berliner Philosophen Wolfgang Köhler […].)“ (GW II, 1085) sowie ebd. S. 1089: „(Robert Curtius unter Berufung auf andre in dem sehr lesenswerten Heft: Der Syndikalismus der geistigen Arbeiter in Frankreich)“ u. a. 376 Ders.: [Über den Essay] [1911/12?] (GW II, 1335).
3. Das essayistische Ich
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chen Zusammenhang der Gefühle und Gedanken“ zurück.377 Als Subjekt der Aussage ist es vielfach nur implizit im Text vorhanden und weist sich nicht immer explizit in der ersten Person Singular an der Textoberfläche aus. Selten wird es wie in Anschluß an Deutschland (1919) explizit als schreibendes Ich eingeführt.378 In Musils Essay Politisches Bekenntnis eines jungen Mannes, der Ende 1913 in Die Weißen Blätter erscheint, dient ein bislang nicht belegtes GoetheZitat379 dem essayistischen Ich als Vorwand des Schreibens: „Möge es entschuldigen, was ich in diesen Wochen niederzuschreiben versuchen werde.“380 Der Essay, im Untertitel als Ein Fragment gekennzeichnet, erinnert durch die gewählte Ich-Form und das Unfertige, Nicht-Durchgestaltete in Stil und Aufbau an Tagebuchaufzeichnungen. Hervorzuheben ist auch der für die Musil’schen Essays untypische bekenntnishafte Ton.381 Die Zeitstruktur ist bestimmt vom Hier und Jetzt des Präsens, das auf einen vergangenen Zustand des Schreibenden (‚Damals‘) zurückblickt. Doch auch die monologische Struktur des Tagebuchfragmentes erfährt eine Dialogisierung. Zum einen lässt das essayistische Ich seine Gedanken in der Du-Form mit sich sprechen.382 Zum anderen spricht es sich selbst wiederholt mit Du an.383 Es ist ein Du, das – ebenso wie die Fra-
_____________ 377 Ders.: Über Robert Musil’s Bücher (1913) (GW II, 998). 378 Vgl. ders.: Der Anschluß an Deutschland. In: Die Neue Rundschau, März 1919 (GW II, 1033–1042, hier 1033): „Im Augenblick, wo ich schreibe […].“ 379 Ders.: Politisches Bekenntnis eines jungen Mannes (1913): „Ich erinnere ein Wort Goethes, das mich vor Jahren absonderlich ergriffen hat. Es sagt: man könne nur über solche Fragen schreiben, von denen man nicht zuviel wüsste. –“ (GW II, 1009) Es könnte sich bei diesem Zitat, das ausdrücklich der Struktur der Erinnerung und nicht dem Prinzip des philologischen Texttreue folgt, sowohl um eine Ironisierung des zeitgenössischen Goethe-Kultes („absonderlich ergriffen“) wie um die Transformation eines Wittgenstein-Zitats handeln; vgl. hierzu L. Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus (1921/22). In: Ludwig Wittgenstein. Ein Reader. Hrsg. v. A. Kenny. Stuttgart 1996. S. 36: „Was wir nicht denken können, das können wir nicht denken; wir können also auch nicht sagen, was wir nicht denken können.“ Ebd. S. 45: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.“ 380 R. Musil: Politisches Bekenntnis eines jungen Mannes (1913) (GW II, 1009). 381 Vgl. ebd. S. 1010: „Ich habe mich nie früher für Politik interessiert.“ Ebd. S. 1011: „[…] ein konservativer Anarchist war ich.“ 382 Vgl. ebd. S. 1011: „Du selbst bist schon – sagte er [der Gedanke] mir – in dem, was du willst, ein Geschöpf der Demokratie […].“ (GW II, 1011) 383 Vgl. ebd. S. 1009 die nur durch zwei iterative Einschübe („[S]eien wir ehrlich“) unterbrochene Textpassage von „Und es gibt ein Denken, das glücklich macht. Das ungeduldig in dich hineinfährt, so daß deine Beine zittern […]“ bis „Aber du mußt dein Denken von Zeit zu Zeit immer wieder auf dieses zurückschrauben, mußt es daran prüfen, mußt es ihm unterwerfen, darfst dich nie zuweit davon entfernen, wenn du nicht ins Maßlose und das ist zugleich ins Bedeutungslose geraten willst.“ (GW II, 1009)
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VI. Robert Musil oder Essayismus als andere Vernunft
gen384 – sowohl als Selbstansprache als auch als Leseransprache gelesen werden kann. Die Fragen aber ( – „Sind Umwege nötig? Rucke, Zuckungen, Planloses, Andersgeplantes? Ist es ein Unsinn, ein Teil zu nehmen und einen Weg zu brechen? Wird alles von selbst, irgendwann, nebenbei? Und nie durch Erkenntnis und geradlinigen Willen?“385 – ) sind nicht nur auf den Besuch in einer römisch-katholischen Kirche, welcher das Tagebuch-Ich auf die Zeitebene des Hier und Jetzt zurückführt,386 zu beziehen, sondern gleichermaßen auch Metareflexion auf die angewandte essayistische Methode. Auch in den anderen Essays erscheint das Ich als Instanz der Aussage explizit auf der Ebene der textinternen Metasprache, dem essayistischen Diskurs. Es fügt Bemerkungen an, hebt etwas heraus,387 zählt auf,388 führt Beispiele an,389 gibt Erklärungsversuche,390 übergeht ausdrücklich etwas,391 bezieht sich auf das bereits Gesagte392 und fasst dieses noch einmal zusammen.393 An manchen Stellen wachsen dem essayistischen Ich sogar metaphorisch-diskursive ‚Beine‘, so zum Beispiel in Ansätze zu neuer Ästhetik (1925), wenn es heißt: „Es sei nun der Versuch gemacht, nach beiden Seiten gegen das Ende zu gehen.“394 Immer wieder entschuldigt sich das essayistische Ich für den fragmentarischen Charakter seiner Überlegungen oder relativiert das bisher Gesagte. So heißt es in Literat und Literatur (1931): „Es würde nur irreführen, wenn diese Teilbetrachtungen Geschlossenheit und Vollständigkeit vortäuschen wollten; soweit er vor-
_____________ 384 Vgl. ebd. S. 1013: „Und ich frage mich ganz naiv: wer wird meine Schuhe putzen, meine Exkremente fortkarren, nachts für mich in ein Bergwerk kriechen?“ 385 Ebd. S. 1015. 386 Ebd. S. 1014: „Ich war vor einer Stunde zu Besuch im römischen Irrenhaus und dann in der Kirche.“ 387 Vgl. ders.: Bücher und Literatur [II] (1926): „[…] möchte ich es herausheben.“ (GW II, 1173) etc. 388 Vgl. ders.: Der „Untergang“ des Theaters (1924): „Ich möchte hier nur drei davon berühren […].“ (GW II, 1126) etc. 389 Vgl. ders.: Symptomen-Theater II. In: Der Neue Merkur, Dezember 1922/Februar 1923 (GW II, 1103–1112, hier 1104: „Ich könnte vieler solcher Beispiele anführen […].“ etc. 390 Vgl. ders.: Franz Blei – 60 Jahre. In: Der Tag (Wien), 17. Januar 1931 (GW II, 1199– 1203, hier 1199): „[…] ich will versuchen, es zu erklären.“ etc. 391 Vgl. ders.: Geist und Erfahrung (1921): „Ich übergehe die analogen Betrachtungen über die Zeit […].“ (GW II, 1047) etc. 392 Vgl. ebd. S. 1057: „Wie schon gesagt, halte ich das Wachstum der Anzahl daran beteiligter Menschen für die Hauptursache des Übergangs von Kultur in Zivilisation.“ etc. 393 Vgl. ebd. S. 1058: „Ich fasse mich zusammen; noch nie in meinem Leben habe ich nötig gehabt, es hinterdrein zu tun.“ 394 Ders.: Ansätze zu neuer Ästhetik (1925) (GW II, 1151).
3. Das essayistische Ich
211
handen ist, mag ihr Zusammenhang locker, wie er ist, für sich selbst sprechen“.395 Einerseits verweist die Textfunktion des essayistischen Ich, die an diesen Textnahtstellen expliziert wird, auf das Technisch-Mechanische, das ‚Gemachte‘ bzw. Konstruierte der Verknüpfungen und hergestellten Zusammenhänge. Andererseits wird so zugleich auch der dialogische Charakter des Essays konstituiert, da an diesen Stellen Fragen, Einwände, Gegenargumente des Lesers ebenso aufgerufen wie vorab entkräftet werden können.396 Vor allem aber hat das essayistische Ich die Funktion inne, intertextuelle Verweise, teils sogar inklusive Publikationsnachweis, auf bereits vorliegende397 oder noch unveröffentlichte Texte398 zu geben. Hier ist der hergestellte Zusammenhang nicht einer der Gedanken innerhalb eines Textes, sondern zwischen verschiedenen Texten desselben Autors. In Geist und Erfahrung (1921) oder in Der „Untergang“ des Theaters (1924) meldet sich das essayistische Ich vergleichsweise häufig explizit zu Wort, in Literat und Literatur (1931) dagegen nur an einer einzigen Stelle. Und hier wiederum, um ausdrücklich an die frühe Skizze der Erkenntnis des Dichters (1918) zu erinnern.399 Gegenüber der unbestimmteren Form des ‚man könnte sagen‘, das im Namen des ‚Seinesgleichen‘ mitunter auch als argumentativer Widerpart fungiert, versteckt sich das essayistische Ich manchmal auch in der Konstruktion eines Rollen-Wir. So schlägt es sich zum Beispiel in Der mathematische Mensch“ (1913) nicht zu den Mathematikern, sondern stellt sich auf die Seite der Gefühlsmenschen, die „für das Gefühl gegen den Intellekt“
_____________ 395 Ders.: Literat und Literatur (1931) (GW II, 1218). 396 Vgl. ders.: Der Anschluß an Deutschland (1919): „Es gibt allerdings Leute, welche das leugnen.“ (GW II, 1036). Ders.: Interview mit Alfred Polgar. In: Die Literarische Welt, 5. März 1926 (GW II, 1154–1160, hier 1157): „Natürlich läßt sich daran auch ein Einwand knüpfen.“ etc. 397 Vgl. ders.: Geist und Erfahrung (1921): „Ich habe es deshalb einst das nicht-ratioïde Gebiet genannt (im 4. Band der Zeitschrift Summa, wo man einige Gelegenheitsbemerkungen mehr darüber finden kann) […].“ (GW II, 1049f.) Vgl. auch ders.: Heute spricht Alfred Kerr (1928): „Ich habe das in einer deutschen Zeitschrift (Dezemberheft der ,Literarischen Welt‘) für Leute, die es bequem haben wollen, dokumentarisch nachgewiesen.“ (GW II, 1186) etc. 398 Ders.: Ansätze zu neuer Ästhetik (1925): „[…] wie ich es in noch nicht veröffentlichten Studien versucht habe […].“ (GW II, 1149) etc. 399 Vgl. ders.: Literat und Literatur (1931): „In einem vor langem erschienenen Aufsatz habe ich das einstmals das nicht-ratioïde Denken genannt, sowohl in der Absicht, es vom wissenschaftlichen als dem ratioïden zu unterscheiden […] wie in dem Wunsch, damit dem Gebiet des Essays und weiterhin dem der Kunst gedankliche Selbständigkeit zu geben.“ (GW II, 1214)
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VI. Robert Musil oder Essayismus als andere Vernunft
plärren.400 In Buridans Österreicher (1919) ist das „Wir“, das sich über die „österreichische Kultur“ herleitet, in doppelte Anführungszeichen gesetzt.401 Im Essay Die Nation als Ideal und als Wirklichkeit (1921) wird die Nation weder als Ideal („Rasse“) noch als Wirklichkeit („Geist“) bestimmt, sondern als Denkkonstruktion und gesellschaftliche Funktion, nicht als ‚Einbildung‘, sondern „als etwas zu Bildendes“.402 Das essayistische Ich, das behauptet, keine Antworten zu wissen, sondern nur Teilantworten zu präsentieren, hebt an, die „Frage des Nationalgefühls als eine Frage zu behandeln“.403 Dieses ‚Anheben‘ aber parodiert wiederum im impliziten Bild der geschwollenen Rednerbrust den zeitgenössischen Diskurs über die Nation. Bei der Anführung „jenes bekannte[n] Sommererlebnis[ses] im Jahre 1914“ heißt es ebenso ausdrücklich wie vieldeutig: „ich meine das durchaus nicht nur ironisch.“ Die Kennzeichnung des Krieges als „ein seltsames, dem religiösen verwandtes Erlebnis“ wird dagegen „unzweifelhaft“ in den Bereich der „Tatsache[n]“ bzw. deren Beschreibung verwiesen.404 In Europäertum, Krieg, Deutschtum (1914) ist der Erste Weltkrieg405 noch ohne jede Spur von Ironie nicht als zu lösendes Problem, sondern als Antwort deklariert worden. In diesem nicht reflexiv-‚kontemplativen‘, sondern vielmehr agitatorisch-‚appetitiven‘ Text,406 lässt die emphatische Haltung des Gefühls weder kritische Reflexion noch Argumentation oder gar ein Abwägen von Möglichkeiten, Denkalternativen zu. Das Erlebnis
_____________ 400 Ders.: Der mathematische Mensch (1913): „Wir plärren für das Gefühl gegen den Intellekt und vergessen, daß Gefühl ohne diesen […] eine Sache so dick wie ein Mops ist.“ (GW II, 1007) 401 Ders.: Buridans Österreicher. In: Der Friede, 14. Februar 1919 (GW II, 1030-1033, hier 1031): „‚Wir‘ schreiben uns nämlich bis aufs Barock zurück, welch ein Emporkömmling ist daneben das Berliner Reich!“ 402 Ders.: Die Nation als Ideal und als Wirklichkeit (1921) (GW II, 1071f.). 403 Ebd. S. 1059; vgl. hierzu auch: ders.: Bücher und Literatur [I]. In: Die Literarische Welt, 15., 22., 29. Oktober 1926 (GW II, 1160–1170, hier 1161): „Wir wollen sehr vorsichtig an diese Frage gehen, um nicht den Anschein zu erwecken, daß wir eine ausreichende Antwort wissen […].“ 404 Ders.: Die Nation als Ideal und als Wirklichkeit (1921) (GW II, 1060). 405 Zum Thema Musil und der Erste Weltkrieg vgl. R. Willemsen: Das Existenzrecht der Dichtung. Zur Rekonstruktion einer systematischen Literaturtheorie im Werk Robert Musils. München 1984. S. 169–173; P. C. Pfeiffer: Aphorismus und Romanstruktur. Zu Robert Musils ‚Der Mann ohne Eigenschaften“. Bonn 1990. S. 49; P. Zöchbauer: Der Krieg in den Essays und Tagebüchern Robert Musils. Stuttgart 1992 und A. Honold: Die Stadt und der Krieg. Raum- und Zeitkonstruktion in Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“. München 1995. S. 207. 406 Vgl. R. Willemsen: Das Existenzrecht der Dichtung (1984). S. 169: „Der Text [Europäertum, Krieg, Deutschtum] versammelt einen Katalog affektiv besetzter Topoi der populären Kriegsapologetik, ohne irgendeine kritische Perspektive anzubieten.“
3. Das essayistische Ich
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des Krieges wie der Mystik, die Robert Musil wiederholt miteinander vergleicht, haben miteinander gemein, dass sie sowohl das karnevalistische Lachen wie das ironische Lächeln der Distanz ausschließen.407 Der Übergang vom essayistischen Ich zum Wir – hier ohne Anführungszeichen – der „letzte[n] Europäer“408 und zum Wir als „das Volk im Herzen Europas und mit dem Herzen Europas“,409 vollzieht dabei jenen Zustand der ‚Einschmelzung‘ von Einzelnem und Allgemeinem, Intellektuellen und Volk zu Beginn des Ersten Weltkrieges nach. Das „Gehirn dieses Dichters“410 scheint ausgeschaltet. Sein Gefühl ist „so dick wie ein Mops“.411 Sein Herz ist durch „die betäubende Zugehörigkeit“ der Kriegspolarisierung „aus den Händen“ gerissen, die es „vielleicht noch für einen Augenblick des Nachdenkens festhalten wollten.“412 Außer den politischen Statements in Politisches Bekenntnis eines jungen Mannes (1913) und Europäertum, Krieg, Deutschtum (1914), die einen mehr oder weniger verdeckten autobiographischen Charakter aufweisen,413 erfahren wir vom essayistischen Ich kaum Persönliches. In der Würdigung Franz Blei – 60 Jahre (1931) weist sich das Text-Ich zwar als Freund des Jubilars aus.414 Ausdrücklich Position bezieht es jedoch eigentlich nur am Ende des jenem Freund gewidmeten Essays Die Frau gestern und morgen (1929): „Ich stehe nicht auf seiten derer, die über die Nüchternheit der
_____________ 407 Vgl. R. Musil: Der Mann ohne Eigenschaften (Nachlass) (MoE II, 1840): „Es [der „aZ“ = andere Zustand] ist der Zustand ohne Lachen; Mystiker lachen nicht“; vgl. I. Honnef-Becker: „Ulrich lächelte“ (1991). S. 137: „Ulrich lächelt häufig. Neben der flektierten Form kommt das Partizip Präsens in adverbialer Funktion sehr oft vor: ‚dachte lächelnd‘, ‚fragte lächelnd‘, ‚setzte lächelnd hinzu‘. Das Lächeln ist meist Ausdruck einer ironischen Haltung […].“ 408 R. Musil: Europäertum, Krieg, Deutschtum. In: Die Neue Rundschau, September 1914 (GW II, 1020–1022, hier 1020). 409 Ebd. S. 1021. 410 Ders.: Über Robert Musil’s Bücher (1913) (GW II, 995). 411 Ders.: Der mathematische Mensch (1913) (GW II, 1007). 412 Ders.: Europäertum, Krieg, Deutschtum (1914) (GW II, 1021); vgl. H. v. Kleist: Von der Überlegung. Eine Paradoxe (1810). In: ders.: Sämtliche Werke und Briefe (1985). Bd. 2. S. 337f.: „Die Überlegung, wisse, findet ihren Zeitpunkt weit schicklicher nach als vor der Tat. Wenn sie vorher, oder in dem Augenblick der Entscheidung selbst, ins Spiel tritt: so scheint sie nur die zum Handeln nötige Kraft, die aus dem herrlichen Gefühl quillt, zu verwirren, zu hemmen und zu unterdrücken […].“ 413 M. Wagner-Egelhaaf („Anders ich“ oder: Vom Leben zum Text. Robert Musils Tagebuch-Heft 33. In: Musils: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 65 (1991). S. 152–174, hier S. 154) verweist darauf, dass in der „Forschung „das Thema der autobiographischen Referenz bei Musil noch nicht systematisch reflektiert“ worden ist. 414 R. Musil: Franz Blei – 60 Jahre (1931) (GW II, 1199).
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VI. Robert Musil oder Essayismus als andere Vernunft
jungen Frauen klagen.“415 Hier wird auch eine Anekdote mit verdeckter autobiographischer Tendenz eingeführt, die als Sozio- wie Psychogramm des überwundenen Frauenideals der Femme fragile gelesen werden kann. Diese Anekdote verdanke sich „einem Mann“, in der Folge „der Erzähler“ genannt,416 der seine „Jugend, die Zeit an der Grenze des Knaben- und Jünglingsalters, in einem Institut verbracht“ habe.417 Die imaginierte Länge des männlichen Schnurrbarts, den Robert Musil selbst noch nicht zu seiner Zeit als Militär-Oberrealschüler in Mährisch Weißkirchen (Hranice), sondern erst während seines Studiums an der technischen Hochschule in Brünn und als Leutnant tragen wird,418 verhält sich hier komplementär zum Verschwinden des weiblichen Körpers in der zeitgenössischen von Männern verfassten Literatur und verweist auf die „Auflösung“ des „bis dahin gültige[n] Liebesbegriffs[s]“ zwischen den Geschlechtern. Vom essayistischen Ich selbst erfahren wir aber nicht, ob es nun das Merkmal Bart trägt und sich somit – vor dem Hintergrund des Adler’schen Theorems über den männlichen Minderwertigkeitskomplexes – als „Neurotiker[ ]“ ausweist oder nicht.419 Gleichwohl imaginieren wir es schnurrbartlos. Das essayistische Ich gibt sich durch kein äußeres Merkmal zu erkennen, sondern allenfalls durch die innere Haltung der Selbstrelativierung und -ironisierung. Es handelt sich mit Ausnahme jener beiden Briefe Susannens (1925), die aus weiblicher Perspektive geschrieben sind, eindeutig um „ein Männerlächeln“, aber es ist kein „Bart dabei, geschaffen für die männliche Tätigkeit des In den Bart Lächelns“. Schließlich ist das essayistische Ich ja kein „Universitätsprofessor“ oder sonstiger „Berufsideologe“.420 Auch wenn sich bei Robert Musil – in den Tagebüchern, den Essays und in Der Mann ohne Eigenschaften – immer wieder der Hinweis auf die Bedeutung des Berufs für den modernen Menschen findet (vielfach im intertextuellen Verweis auf Hölderlin),421 bleibt das Ich in den Essays
_____________ 415 416 417 418
Ders.: Die Frau gestern und morgen (1929) (GW II, 1198). Ebd. S. 1195. Ebd. S. 1194. Vgl. hierzu die entsprechenden Abbildungen Musils in: K. Corino: Robert Musil. Leben und Werk in Bildern und Texten. Reinbek 1988. S. 65. S. 81 und S. 91. 419 R. Musil: Die Frau gestern und morgen (1929) (GW II, 1195). 420 Vgl. ders.: Kapitel 72: Das in den Bart Lächeln der Wissenschaft oder Erste ausführliche Begegnung mit dem Bösen. In: ders.: Der Mann ohne Eigenschaften. 1. Buch (1930) (MoE I, 301). 421 Vgl. ders.: Tagebücher. Heft 8 (1920): „Hölderlin: Es gibt in Deutschland keine Menschen, sondern nur Berufe. Ausnützen. Berufstypen zeichnen.“ (TB I, 364) Ebd. Heft 26 (1921–1923?): „Titel: Hölderlin: In Deutschland gibt es keine Charaktere mehr, sondern nur noch Berufe.“ (TB I, 668) Vgl. auch ebd. S. 671 und S. 675) sowie ders.:
3. Das essayistische Ich
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ohne konkrete Berufsbezeichnung. Diese erfolgt allenfalls ex negativo. So erfahren wir in Der „Untergang“ des Theaters (1921) immerhin: „Ich bin kein Soziologe“.422 Die spöttische Ironie des essayistischen Ich in Das hilflose Europa oder Reise vom Hundertsten ins Tausendste (1922), das vorgibt, „in einer so seriösen Zeit“ „nicht Philosophie treiben“ zu wollen,423 lässt nur vermuten, dass es sich beim Subjekt der Aussage nicht um einen Vertreter der philosophischen Fachdisziplin handelt, gegen die ähnliche Vorbehalte geäußert werden wie sonst nur gegen Philologen. Im Interview mit Alfred Polgar (1926), das als essayistisches Porträt eines Essayisten zugleich die Textsorte Interview parodiert, wendet sich der Interviewer, der von sich selbst angibt, dass er gegen Interviews sei,424 direkt an die Leser: „Ich hoffe, man wird von selbst bemerkt haben, daß ich für ein Interview trotz schöner Vorsätze völlig ungeeignet bin.“425 Nur an einer Stelle, im Symptomen-Theater II (1923), spricht das essayistische Ich ausdrücklich in eigener Sache von „uns paar Dichter[n], welche neue Inhalte mit dem Instrument der Bühne verwirklichen wollen“.426 Der 1926 in Die literarische Welt erschienene Essay Bücher und Literatur wird mit einer Vorbemerkung des Herausgebers eingeleitet: „Unter diesem Titel wird der Dichter Robert Musil bei uns eine Serie literaturkritischer Essays veröffentlichen.“427 Das essayistische Ich aber, das der Frage nachgeht, warum „[w]ir deutsche Leser […] heute einen unerklärlichen grundsätzlichen Widerstand gegen unsere Bücher“ empfinden“,428 gibt im ersten, Ankündigung benannten Abschnitt an, nichts vom „literarische[n] Flurschützenamt
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422 423 424 425 426 427 428
Der deutsche Mensch als Symptom [1923] (GW II, 1381) und ders.: Der Mann ohne Eigenschaften. 1. Buch (1930) (MoE I, 200). Die Referenzstelle im Hyperion-Prätext, den S. Vietta (Die literarische Moderne. Eine problemgeschichtliche Darstellung der deutschsprachigen Literatur von Hölderlin bis Thomas Bernhard. Stuttgart 1992. S. 55) als „das erste große Romanprojekt der literarischen Moderne in Deutschland“ kennzeichnet, lautet (F. Hölderlin: Sämtliche Werke und Briefe in 3 Bde. Hrsg. v. J. Schmidt. Bd. 2: Hyperion. Empedokles. Aufsätze. Übersetzungen. Frankfurt a. M. 1994. S. 168): „Handwerker siehst du, aber keine Menschen, Denker, aber keine Menschen, Priester, aber keine Menschen.“ Vgl. A. Frisé (TB II, 226f.). R. Musil: Der „Untergang“ des Theaters (1921) (GW II, 1116). Ders.: Das hilflose Europa oder Reise vom Hundertsten ins Tausendste (1922) (GW II, 1077). Ders.: Interview mit Alfred Polgar. In: Die Literarische Welt, 5. März 1926 (GW II, 1154–1160, hier 1154f.). Ebd. S. 1159. Ders.: Symptomen-Theater II (1923) (GW II, 1107). Vgl. den Kommentar A. Frisés (GW II, 1820). R. Musil: Bücher und Literatur [I] (1926) (GW II, 1161).
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VI. Robert Musil oder Essayismus als andere Vernunft
des Kritikers“ zu verstehen: „und um gleich noch etwas zu sagen, was meine Eignung zum Kritiker beleuchtet: Ich mag nicht Bücher lesen.“429 Die Rolle des essayistischen Ich ist nur einer der Vertreter des Autors, der mit eigenem wie mit fremden, geliehenen Geld an der Gedankenbörse spielt. Die Gleichzeitigkeit von Identität und Differenz zwischen dem Subjekt der Aussage (Autor) und dem Subjekt des Ausgesagten (essayistisches Ich) bringt eine Selbstironisierung und Selbstrelativierung hervor, die das essayistische Gedankenspiel als inszenierten Diskurs konstituiert.
_____________ 429 Ebd. S. 1160.
VII. Essayismus als Kritik des Kunstwerks oder „immer gleichzeitig im Erlebnis und in der Reflexion“ VII. Essayismus als Kritik des Kunstwerks
Die wahre Kritik ein Autor in der 2t Potenz.1 (Friedrich Schlegel) Kritik ist also gleichsam ein Experiment am Kunstwerk, durch welches dessen Reflexion wachgerufen, durch das es zum Bewußtsein und zur Erkenntnis seiner selbst gebracht wird. […] Das Subjekt der Reflexion ist im Grunde das Kunstgebilde selbst, und das Experiment besteht nicht in der Reflexion über ein Gebilde, […] sondern in der Entfaltung der Reflexion, d. h. für den Romantiker: des Geistes, in einem Gebilde.2 (Walter Benjamin) Denn es hat ja der Kritiker nur peremtorisch erklärt, daß er der Dichter sei, der Schöpferische, der Erfinder. Und das Merkwürdigste ist: es stimmt.3 (Franz Blei)
Immer wieder wertet Robert Musil seine journalistische Tätigkeit im weiteren Sinn als „Geldverlegenheiten“4 und als bloße Nebentätigkeit in Bezug auf das dichterischen ‚Hauptwerk‘ ab. Im nachgelassenen Curriculum vitae – gegen Ende 1938 Otto Pächt für den Einwanderungsantrag nach England zugeschickt – verweist Musil in der 3. Person Singular auf die ökonomische Bedingtheit seiner essayistischen Texte: „Nach dem Krieg, den er als Offizier an der Front mitmacht, verliert Musil […] durch die
_____________ 1 2 3 4
F. Schlegel: Philosophische Fragmente Nr. 927. In: ders.: Kritische Friedrich-SchlegelAusgabe. Hrsg. v. Ernst Behler [u. a.]. II. Abt. Bd. 18: Schriften aus dem Nachlass. Hrsg. v. H. B. München/Paderborn [u. a.] 1963. S. 106. W. Benjamin: Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik (1919/20). Hrsg. v. H. Schweppenhäuser. Frankfurt a. M. 1973. S. 60. F. Blei: Erzählung eines Lebens. Leipzig 1930. S. 413. R. Musil: Brief an Arne Laurin vom 1. 4. 1926: „ps. Wenn Sie aber in Zukunft etwas von mir in Zeitungen sehen sollten, dann beten Sie ein Vaterunser für mich, denn es ist immer ein Zeichen, daß ich mich in Geldverlegenheiten befinde.“ (BR I, 397)
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VII. Essayismus als Kritik des Kunstwerks
Inflation das gesamte Vermögen. Er wird, neben seiner Hauptarbeit, Theaterkritiker, schreibt Essays u. a.“5 Musils essayistischen Publikationen setzen jedoch nicht erst Ende der zwanziger Jahre, sondern bereits vor dem Ersten Weltkrieg ein. Der erste Essay Das Unanständige und Kranke in der Kunst wird bereits 1911 in der Zeitschrift Pan veröffentlicht; weiterhin arbeitet Musil für die Zeitschriften Der Lose Vogel, Die Aktion, Die Weißen Blätter sowie Die Neue Rundschau,6 deren Redakteur er 1914 wird. Nach seinen Tätigkeiten bei der (Tiroler) Soldaten-Zeitung und der Heimat während des Krieges und 1919/20 beim Pressedienst des Österreichischen Bundesministeriums für Äußeres wirkt Musil im Jahrzehnt von 1920/21 bis 1931 parallel zu seiner Arbeit am Roman Der Mann ohne Eigenschaften als Theaterkritiker, Essayist und freier Schriftsteller.7 Die laut Selbstauskunft des Autors ausschließlich oder zumindest in erster Linie ökonomisch bedingten essayistischen Neben-Texte haben also seine dichterische Produktion im engeren Sinn, die „Hauptarbeit“ am Roman Der Mann ohne Eigenschaften,8 mehr als zwanzig Jahre lang begleitet. Allein aus dem Jahrzehnt von 1920/21 bis 1931 sind neben den Essays über hundert Kritiken nachgewiesen. Karl Corino hat die Bedeutung des „Theaterkritikers Musil“ herausgestellt: „Auch wenn er diese Tätigkeit nur ein paar Jahre und auf den Schauplatz Wien beschränkt ausübte – es ist wohl nicht zu bestreiten, dass er mit diesen Beiträgen zu den bedeutendsten Schauspiel-Rezensenten der Nachkriegszeit zählte, sowohl in sprachlicher als auch in gedanklicher Hinsicht, in einem Atemzug zu nennen mit Kerr oder Polgar.“9 Bei der Mehrzahl dieser Kritiken handelt es sich um Sammelrezensionen. Ihr Gegenstand sind zeitgenössische Theaterinszenierungen, Kunstausstellungen, belletristische Literatur, hier vor allem Romane, außerdem soziologische, ökonomische und psychologische Fachliteratur. Gegenüber den Essays im engeren Sinne weisen die Kritiken einen weniger allgemeinen Charakter auf. Sie sind kürzer und verständlicher sowie in inhaltlicher und stilistischer Hinsicht weniger komplex. Zum
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Ders.: Curriculum Vitae [etwa 1938] (GW II, 949–951, hier 949). Vgl. ders.: Brief an Josef Nadler vom 1. 12. 1924: „Zeitschriften an denen ich öfters mitgearbeitet habe sind der lose Vogel, die Neue Rundschau, die weißen Blätter und der Neue Merkur; in einem andren als dem gelegentlichen Besuchsverhältnis stand ich aber zu keiner, mit Ausnahme der aus verschiedenen Gründen verunglückten Rundschau episode.“ (BR I, 368) Vgl. W. Berghahn: Robert Musil mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. 17. Aufl. Reinbek bei Hamburg 1993. S. 160. R. Musil: Curriculum Vitae [etwa 1938] (GW II, 949). K. Corino: Robert Musil. Eine Biographie. Reinbek bei Hamburg 2003. S. 622.
VII. Essayismus als Kritik des Kunstwerks
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Teil enthalten sie essayistische Elemente,10 so zum Beispiel in allgemeiner gehaltenen Einleitungen,11 in eingeschobenen Exkursen oder in textidentischen auto-intertextuellen Übernahmen aus den parallel veröffentlichten Essays. Grundsätzlich und zusammenhängend hat sich Robert Musil nie mit der Frage der Kritik auseinandergesetzt. Die in den Tagebüchern notierten Aufsatzthemen „Kritik oder Aesthetik?“12 oder eine Untersuchung mit dem erklärten Ziel „Grundlagen der Kritik zu schaffen“,13 bleiben Entwurf. Reflexionen über das Verhältnis von Kritik und Ästhetik sowie Kritik, Leben und Literatur, also eine Metakritik der Kritik, findet sich weniger in den Kritiken als in den Essays: in Wege zur Kunstbetrachtung (1921), in Der „Untergang“ des Theaters (1924), vor allem aber in Ansätze zu neuer Ästhetik (1925), in den beiden Essays Bücher und Literatur (1926) sowie den Alfred Kerr-Porträts (1927/28).
_____________ 10 Vgl. hierzu auch U. Tiebel: Theater von außen. Robert Musil als Kritiker. 2. Aufl. Rheinfelden/Berlin 1993, welche einerseits die Theaterkritiken Musils zu Essays und andererseits den Essayismus zum „Wesenszug Musils“ erklärt; vgl. ebd. S. 21: „Für die theaterkritischen und -theoretischen Schriften wählt Musil die Form des Essays.“ Ebd. S. 24: „Ein typischer essayistischer Wesenzug Musils sind seine fast täglichen Tagebucheintragungen.“ 11 Vgl. hierzu R. Musil: Essaybücher. In: Die Neue Rundschau, September (1913) (GW II, 1450–1457). 12 Ders.: Tagebücher. Heft 10 (1918–1921) (TB I, 471). 13 Ders.: [Von der Möglichkeit einer Ästhetik] [vor 1914?] (GW II, 1327–1330, hier 1328); vgl. auch ders.: Brief an Efraim Frisch vom 28. 5. 1921: „Ich glaube am ehesten könnte ich einen Aufsatz über Grundfragen der Kritik fertig machen“ (BR I, 231).
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VII. Essayismus als Kritik des Kunstwerks
1. Wege zur Kunstbetrachtung (1921) oder Kritik als ,lebendige Ordnung‘ 1. Wege zur Kunstbetrachtung (1921) oder Kritik als ,lebendige Ordnung‘
Die Ästhetik […] hat mit dieser Frage anzufangen: ‚es gibt Kunstwerke – wie sind sie möglich‘?14 (Georg Lukács) Ist eine wissenschaftliche Ästhetik möglich? Von dieser Frage darf uns zunächst nur interessieren: ist mit wissenschaftlicher Eindeutigkeit festzustellen, ob ein Kunstwerk gut oder schlecht ist?15 (Robert Musil) […] wie wird Kritik überhaupt möglich?16 (Robert Musil) Der Inhalt des Gedichtes ist: das Gedicht.17 (Franz Blei) Das Kunstwerk meint nichts als sich selbst, und diese Meinung kann nur in der Sprache des Kunstwerks gesagt werden, wenn wir auch allerlei anschleichende Worte haben und es uns damit auch oder oft fast gelingen mag, Künste der Töne oder des Lichtes in Worten zu beschreiben.18 (Franz Blei)
1921 veröffentlicht Robert Musil in der Prager Presse und 1922 unter gleichlautendem Titel im Neuen Merkur eine Besprechung von Gustav Johannes von Alleschs Wege zur Kunstbetrachtung (1921).19 Vom Herausgeber Efraim Frisch auf Wunsch von Musil in der „Anmerkungsrubrik Menschen –
_____________ 14 G. Lukács: Die Kunst als ‚Ausdruck‘ und die Mitteilungsform der Erlebniswirklichkeit. In: ders.: Werke. Bd. 16: Frühe Schriften zur Ästhetik I: Heidelberger Philosophie der Kunst (1912–1914). Aus dem Nachlaß hrsg. v. G. Márkus/F. Benseler. Darmstadt/Neuwied 1974. S. 9; vgl. G. Simmel: Gesamtausgabe. Bd. 11: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung (1908). Hrsg. v. O. Rammstedt. Frankfurt a. M. 1992. S. 42–61: Exkurs über das Problem: Wie ist Gesellschaft möglich? sowie M. Weber: Wissenschaft als Beruf (1919). In: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Hrsg. v. J. Winckelmann. 4. Aufl. Tübingen 1973. S. 682–613, hier S. 610, der in seinem Vortrag Lukács’ Frage zitiert. 15 R. Musil: Tagebücher. Heft 10 (1918–1921) (TB I, 447). 16 Ders.: Wege zur Kunstbetrachtung (1921). In: Prager Presse, 16. Oktober 1921 (GW II, 1517–1521, hier 1517). 17 F. Blei: Kritische Prolegomena. In: ders.: Vermischte Schriften. Bd. 6: Der Dichter und das Leben. Ein Buch Kritik. München und Leipzig 1912. S. 7–84, hier S. 43. 18 Ebd. S. 47; Hervorhebung v. B. N. 19 G. J. v. Allesch: Wege zur Kunstbetrachtung. Dresden 1921; Johannes Gustav von Allesch (1882–1967) war seit 1912/13 Assistent am Psychologischen Institut der Universität Berlin und Musils Studienfreund; er habilitierte sich 1923 über Die ästhetische Erscheinungsweise der Farben; vgl. A. Frisé (TB II, 54) und K. Corino: Robert Musil (2003), Anm. 53. S. 1665.
1. Wege zur Kunstbetrachtung (1921) oder Kritik als ,lebendige Ordnung‘
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Ereignisse – Stimmen“ platziert, ist der Text von Adolf Frisé der Rubrik Kritiken zugeordnet worden. Nach Selbsteinschätzung des Autors handelt es sich bei der „Anzeige des Buches von Allesch“ allerdings „dem Umfange und vielleicht auch der prinzipiellen Wichtigkeit des Gegenstandes nach“, um einen „Aufsatz“,20 also im Sprachgebrauch Musils um einen Essay und nicht bloß um eine Buch-Rezension.21 In Musils Text geht es um das Verhältnis von Bild und Reflexion, von Kunst und Kritik. Dabei wird die Frage nach der Bedeutung als Verhältnis von Selbstaussage (Kunstwerk) und Fremdaussage (Kritik) ins Zentrum der Überlegungen gerückt: „Die Grundfrage vor einem Bild, auf deren naive Aufrichtigkeit sich alle andren reduzieren lassen, lautet: Was will, meint, bedeutet es?“22 Die Frage nach der Bedeutung des Kunstwerks weist auf dieses selbst zurück, kann allenfalls dessen formalen, selbstreflexiven Charakter beschreiben: „die Meinung des Bildes ist es selbst, ist seine Gestalt, und auch einen andren Inhalt hat das Bild nicht, sonst könnte man Bilder reden.“23 Der Selbstreflexivität des Kunstwerks entspricht die Unübersetzbarkeit der Bildersprache in die der kritischkommentierenden Rede. Auch lässt sich die Bedeutung des Kunstwerks nach Musil nicht mit der „Meinung“ bzw. Intention des Künstlers identifizieren.24 Dessen Be-
_____________ 20 R. Musil: Brief an Efraim Frisch vom 17. 9. 1921 (GW II, 1861). 21 Was im Einzelnen nicht immer eindeutig zu unterscheiden ist; vgl. hierzu M. Luserke: „Gut und glückselig?“ Ein unbekanntes Textfragment von Robert Musil. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 31 (1987). S. 53–72, hier S. 53f. 22 R. Musil: Wege zur Kunstbetrachtung (1921) (GW II, 1517). 23 Ebd.; vgl. ders.: Nachwort zum Moskauer Künstlertheater. In: Prager Presse, 25. November 1921: „Man kann das Wesentliche einer Dichtung niemals anders wiedergeben als durch sie selbst in ihrer ganzen Totalität, sonst wäre sie nichts Lebendiges, sondern ein Produkt jener ausgekühlten Vernunft, mit der wir Mathematik oder Psychologie studieren, niemand ist anders imstande, sie zu erklären, als indem er anhebt, einen Weg von Gedanken und Gefühlen zu folgen, der immer plötzlich irgendwo nicht mehr weiter führt, so dass man stets von neuem anderswo anheben muß.“ (GW II, 1528) Zu Musils Wege der Kunstbetrachtung (1921) vor dem Hintergrund von Musils Rezeption der Gestalttheorie vgl. M. Luserke: Gestalt- und gegenstandstheoretische Implikate im Denken Robert Musils. In: Gestalt Theory 10/4 (1988). S. 274– 290, bes. S. 277–280 und S. Bonacchi: Die Gestalt der Dichtung. Der Einfluss der Gestalttheorie auf das Werk Robert Musils. Bern [u. a.] 1998 und M. Luserke: Gestaltund gegenstandstheoretische Implikate im Denken Robert Musils. In: Gestalt Theory 10/4 (1988). S. 274–290, bes. S. 277–280. 24 Vgl. auch F. Blei: Kritische Prolegomena (1912). S. 47: „Dem [Dichter] sagt auch erst sein Gedicht, was er ‚meinte‘. Wüßte er das so vollkommen zuvor, er hätte keinen Grund mehr, das Gedicht zu schreiben. Das Kunstwerk meint nichts als sich selbst, und diese Meinung kann nur in der Sprache des Kunstwerks gesagt werden, wenn wir auch allerlei anschleichende Worte haben […]“.
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VII. Essayismus als Kritik des Kunstwerks
deutung, so die essayistische Kernthese, welche Grundannahmen der Rezeptionsästhetik der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts vorwegnimmt, konstituiert sich vielmehr im historischen Prozess seiner Deutung bzw. Rezeption. Sie ist eine Funktion des Kunstwerks: „Ich glaube nicht einmal, daß ein Künstler sein eigenes Werk versteht, wenn es fertig ist. Es kommt vielleicht für die menschliche Entwicklung auch gar nicht darauf an, was der wirkliche Inhalt eines Kunstwerks ist, sondern nur auf das, was dafür gehalten wird; jeder Einzelne, jede Epoche tritt mit andren Schlüsseln heran und erschließt sich etwas anderes, das Kunstwerk ist in dieser Hinsicht ein Ästhetikum an sich, das es so wenig gibt wie das Ding an sich in der Welt der Wirklichkeit.“25 Dabei lässt sich das Verhältnis von Subjekt und Objekt der Kunstbetrachtung weder in das Bild des Zirkels, noch der Spirale oder der asymptotischen Annäherung zweier Geraden fassen. Das „Verstehen des Kunstwerks“ erscheint auch „nicht als ein unendlicher Prozeß, der sich scheinbar mit kleineren Abweichungen einem adäquaten Erfassen nähert, sondern als Mehrheit solcher Prozesse mit ganz verschiedenem Ergebnis.“26 Damit wird die Beschreibung der Rezeption vom überholten Konzept einer aufklärerischen Teleologie auf das Niveau der zeitgenössischen Wissenssoziologie gebracht.27 Das Kunstwerk als Gegenstand der kritischen wissenschaftlichen Betrachtung behält gegenüber dem Versuch, es mit Mitteln, im Medium der Sprache zu übersetzen, einen nicht-rationalisierbaren ‚Überschuss‘. Das Ergebnis der vielfältigen Rezeptionsprozesse umfasst, so Musil, immer auch „eine wortlose Affektion, ein Erlebnis“, also „etwas, das sich nur schwer artikulieren läßt, […] das mit Wort und Gedanke nicht einzuschließen“, etwas das in keinen „restlos rationale[n] Satz“ zu übersetzten ist. Das Grundproblem der Kritik laute daher: „Wie bekommt man also dieses alogisch Erlebte in die Fassung von Begriffen? Mit anderen Worten heißt das: wie wird Kritik überhaupt möglich?“28 Die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Kritik und der damit verbundene Anspruch auf Verwissenschaftlichung, Verobjektivierung des ästhetischen Diskurses zielt auf die gleichermaßen erkenntnis- wie gattungs- und text-
_____________ 25 R. Musil: Wege zur Kunstbetrachtung (1921) (GW II, 1520f.). 26 Ebd. S. 1521. 27 Vgl. B. Nübel: Relationismus und Perspektivismus. Karl Mannheim und Robert Musil. In: „Alle Welt ist medial geworden.“ Literatur, Technik, Naturwissenschaft in der klassischen Moderne. Hrsg. v. M. Luserke-Jaqui. Tübingen 2005. S. 141–161. 28 R. Musil: Wege zur Kunstbetrachtung (1921) (GW II, 1517).
1. Wege zur Kunstbetrachtung (1921) oder Kritik als ,lebendige Ordnung‘
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theoretische Frage nach dem Verhältnis von Nicht-Ratioïdem (ästhetisches Erleben) und wissenschaftlichen Pilotierungsanspruch (Begriffe).29 Kritik, so die Antwort auf empiriokritizistischer, genauer experimentalpsychologischer Grundlage, kann nach Beispiel der exakten Wissenschaften nur analytisch-induktiv verfahren, „auf das Feste und Einfache“ zurückgehen und den Gegenstand, hier das Bild, „schichtenweise“ in seine einzelnen Elemente zerlegen.30 Kritik kann weder die Bilder selbst reden lassen noch ihre Bedeutung für den Rezipienten, das Kunsterlebnis, auf die Formel von Begriffen bringen. Diesem Dilemma versuche Allesch dadurch zu entkommen, indem er die wissenschaftlich erforderte begriffliche Identität der Worte, ihre Gleichsetzung mit dem zu bezeichnenden (Kunst-)Gegenstand, durch die der Poetik entlehnte Technik der umschreibenden Analogie ersetze.31 Die verwendeten Be- bzw. Umschreibungskriterien entsprechen damit dem Gestaltcharakter des Kunstwerks32 wie der essayistischen Metareflexion Theodor W. Adornos gleichermaßen:33 „die einzelne Farbfläche, Linie, Raumform ist vieldeutig, ihre Meinung steht noch nicht fest, sondern wird erst durch die Nachbarschaft und Kombination induziert […]. Die Bestimmungsstücke bestimmen sich also gegenseitig“: „in dem ganzen Komplex“ gibt es „nur wechselseitige Abhängigkeiten“ und „nicht eine einzige unabhängige Variable“.34 Dem Verständnis vom Kunstwerk nicht als Entität („Ästhetikum“, „Ding an sich“ etc.35), sondern als ästheti-
_____________ 29 Vgl. ders.: Skizze der Erkenntnis des Dichters. In: Summa 1918 (GW II, 1025–1030, hier 1027): „Auch auf moralischem Gebiet wird heute nach dem Gebiet der Pilotierung vorgegangen und werden in das Unbestimmte die erstarrenden Caissons der Begriffe gesenkt […].“ 30 Ders.: Wege zur Kunstbetrachtung (1921) (GW II, 1519). 31 Vgl. ders.: Nachwort zum Moskauer Künstlertheater (1921): „Man kann […] das Wesen von Dichtungen nur umschreiben wollen, allerdings in immer enger sich darum legenden Kreisen.“ (GW II, 1528) 32 Vgl. M. Luserke: Gestalt- und gegenstandstheoretische Implikate im Denken Robert Musils (1988). S. 279: „Dieser Aufsatz ist in der Tat von großer Wichtigkeit, da sich hier erstmals MUSILs Bemühen, gestalttheoretische Fragestellungen und Theoreme auf das Gebiet der Dichtkunst bzw. allgemeiner auf das Gebiet der Ästhetik übertragen, dingfest machen läßt.“ 33 Vgl. T. W. Adorno: Der Essay als Form (1958). In: Gesammelte Schriften. Hrsg. v. R. Tiedemann. Bd. 11: Noten zur Literatur. Frankfurt a. M. 1974. S. 9–34, hier S. 21f.: „Alle seine [des Essays] Begriffe sind so darzustellen, daß sie einander tragen, daß ein jeglicher sich artikuliert je nach den Konfigurationen mit anderen. In ihm treten diskret gegeneinander abgesetzte Elemente zu einem Lesbaren zusammen; er erstellt kein Gerüst und keinen Bau. Als Konfiguration aber kristallisieren sich die Elemente durch ihre Bewegung.“ 34 R. Musil: Wege zur Kunstbetrachtung (1921) (GW II, 1520). 35 Ebd. S. 1520f.
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VII. Essayismus als Kritik des Kunstwerks
sche bzw. experimentelle Erfahrung entspricht das Konzept der Konfiguration auf der Ebene der Konstitution des Gegenstandes wie seiner Metasprache. Die dem Kunstwerk selbst zugesprochene Bedeutung („Meinung“) ist hier also kein Substanzbegriff, sondern ein auf den jeweiligen Rezeptionsakt bezogener Relationsbegriff. Der essayistische Metatext greift somit selbst in die Bild- bzw. Textfiguration ein, schreibt die Meinung/Bedeutung des Kunstwerks als Element von dessen Selbstreflexivität fort. Kritik tritt somit, so ist in den Notizen aus dem Nachlass zu lesen, in ein „variationsfähigeres Verhältnis zum Kunstwerk“, in ein „Verhältnis mit Spielraum“, das eine „Gelenkigkeit in einzelnen festen Punkten“ aufweist.36 Aufgabe der Kritik als Metasprache der Kunst ist es dabei, auf dem Gebiet der Kunst eine „lebendige und doch dauerhafte Ordnung“ zu schaffen.37 Die von Allesch entwickelten Analysekategorien der Kritik entsprechen, so Musil, dem offenen Charakter des Kunstwerks, welches nicht mehr geometrisch als Zentrum und Peripherie, sondern als Gestaltkonzept bzw. dynamisches Molekülmodell konzeptionalisiert ist. Zugleich wird das Kriterium der Verifikation bzw. Falsifikation als Grundlage des objektiven wissenschaftlichen Wahrheitskriteriums durch das der intersubjektiven Plausibilität und Stimmigkeit, durch „eine gewisse hohe, sozusagen in sich selbst balancierende Wahrscheinlichkeit“ bzw. eine „Art optimales Mißverstehen“38 aller am Rezeptionsprozess Beteiligten, ersetzt. Das dialogische Verhältnis zwischen Kunstwerk und Kritiker kann jedoch – sei es nun bloß additiv als Summe gefasst oder qualitativ als Ganzes oder gar Konsens – aufgrund des nicht rationalisierbaren Überschusses auf Seiten des Kunstwerks nicht auf ein 1:1-Verhältnis zielen. Das Konzept einer variablen, offenen Struktur des Kunstwerks entspricht dem offenen Prozess ihrer Deutung. Die Haltung der Kritik als Erkenntnismethode gegenüber ihrem Gegenstand, der Kunst, antizipiert so gewisserma-
_____________ 36 Ders.: Motive – Überlegungen (Nachlass) (GW II, 865–915, hier 874). 37 Ders.: Wege zur Kunstbetrachtung (1921) (GW II, 1517); Hervorhebung v. B. N. 38 Ebd. S. 1520; vgl. ders.: Geist und Erfahrung. Anmerkungen für Leser, welche dem Untergang des Abendlandes entronnen sind. In: Der Neue Merkur, März 1921 (GW II, 1042–1059, hier 1040): „Sowie man dieses Gebiet [das Nicht-Ratioïde] betritt, erweist sich die logische Methodik als entthront. […] Anstelle des starren Begriffs tritt die pulsierende Vorstellung, anstelle von Gleichsetzung treten Analogien, an die der Wahrheit tritt Wahrscheinlichkeit, der wesentliche Aufbau ist nicht systematisch, sondern schöpferisch.“ (GW II, 1049f.)
2. Der „Untergang“ des Theaters (1924)
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ßen die wissenschaftlich-selbstreflexiven Methoden Karl R. Poppers39 und Paul Feyerabends.40
2. Der „Untergang“ des Theaters (1924) oder die Voraussetzungslosigkeit zeitgenössischer Theaterkritik Die heutige Kritik fördert weder eine ästhetische, noch eine ethische Einsicht.41 (Franz Blei) Eine Zeit, die Wert darauf legt, genau zu erfahren, wie, warum, wieso eine Königin ein Kind kriegt – mit Photographien – und daß und weshalb sich ein reicher Amerikaner den Fuß verstaucht hat, einer solchen Zeit entspricht eine Kritik, die von nichts als von einem Magengeschwür oder einer sexuellen Funktionsstörung das Zustandekommen eines Dichtwerkes ableitet.42 (Franz Blei) Die Kritik tendiert, eine Ordnung, einen Kanon der Ideen zu errichten, eine intellektuelle Situation zu schaffen, in welcher die schöpferische Kraft des Dichters die für ihre Äußerung günstige Atmosphäre findet.43 (Franz Blei) Würde man nach Aussonderung von ein paar hervorragenden u.[…] einigen ehrlich bemühten Kritikern beliebige 50 Kilogramme deutscher Buchbesprechungen vermahlen, so käme eine absolut homogene Masse heraus, in der jedes zu jedem paßt.44 (Robert Musil)
In seiner Polemik gegen den Typus des zeitgenössischen Wiener Theaterkritikers, die 1924 im Neuen Merkur veröffentlicht wird, bezieht Musil das Verhältnis von Gesellschaft und (Kultur-)Kritik mit in die Betrachtung ein. Schon der Titel des Essays – Der „Untergang“ des Theaters – bezieht sich
_____________ 39 K. R. Popper: Logik der Forschung (1935). 9. überarb. Aufl. Tübingen 1989. S. A. Döring (Ästhetische Erfahrung als Erkenntnis des Ethischen. Die Kunsttheorie Robert Musils und die analytische Philosophie. Paderborn 1999. S. 77, S. 125–138 und S. 168) weist auf Übereinstimmungen zwischen der Erkenntnistheorie Musils und Wissenschaftstheorie Poppers hin. 40 P. Feyerabend: Wider den Methodenzwang (1975). Frankfurt a. M. 1986. 41 F. Blei: Kritische Prolegomena (1912). S. 24. 42 Ebd. S. 30. 43 Ders.: Marginalien zur Literatur (1935–1937). In: ders.: Zwischen Orpheus und Don Juan. Hrsg. v. E. Schönwiese. Graz/Wien 1965. S. 98–109, hier S. 99. 44 R. Musil: Motive – Überlegungen (Nachlass) (GW II, 875).
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VII. Essayismus als Kritik des Kunstwerks
parodistisch auf Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes.45 Allerdings wird hier der ‚Untergang‘, wenn schon nicht der gesamten Kultur, so doch einer ihrer tragenden Institutionen, von der Ebene des Geschehens auf die des Diskurses verlagert. Denn zum einen leitet Musil die Rede von der „Krisis“ des Theaters im Besonderen wie der Kultur im Allgemeinen wissenstheoretisch bzw. ideologiekritisch aus jenen ,seinsverbundenen‘ (Karl Mannheim) „Hausse- und Baisseerlebnisse[n] einer verhältnismäßig kleinen Schicht“ von Intellektuellen ab, die selbst Teil des Wiener Theaterbetriebes seien: in erster Linie also die Theaterdirektoren, aber auch die Schauspieler, das Publikum und die Kritiker.46 Zum anderen versucht Musil aus der vermeintlichen ‚Krankheit‘ des Theaters Aufschlüsse, ‚Diagnosen‘ über eine „Pathologie unserer Zeit“ zu gewinnen.47 Das „Kulturinstitut“ Theater,48 so der soziologische Ansatz, wird dabei nicht „als ein Wesen für sich“, sondern „als Teilerscheinung in einem größeren Vorgang“ gesehen.49 Die „Krankheit oder Agonie des Theaters, dieser latente Zustand eines Daueruntergangs, in dem es sich seit Menschengedenken häuslich eingerichtet hat,“ erweist sich, so die essayistische Kernthese, als „eine zu unserem Gesellschaftszustand gehörende symptomatische Erscheinung“.50 Das Theater als „Geschäftsunternehmen“51 habe „zur Zeit des bürgerlichen Hochkapitalismus“52 den horazischen Auftrag des ‚prodesse et delectare‘, des „Bildungsvergnügen[s]“,53 aufgegeben und sei zu einer Institution des „reinen“54 bzw. „gehandelten Vergnügens“55 degeneriert. In seine Kritik des zeitgenössischen Wiener Theaterbetriebs, die bis in die Formulierungen die Analysen der Kritischen Theorie zur Kulturindus-
_____________ 45 O. Spengler: Vom Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. Bd. 1: Gestalt und Wirklichkeit. Wien 1918. Bd. 2: Welthistorische Perspektiven. München 1922. 46 R. Musil: Der „Untergang“ des Theaters. In: Der Neue Merkur, Juli 1924 (GW II, 1116–1131 hier 1116. 47 Vgl. ders.: Tagebücher. Heft 21 (1921–1926): „Pathologie des Theaters Titel für Kritiken u[nd] Essays. / Eine Pathologie unsrer Zeit vermag ihr aus dem Theater vieles zu diagnostizieren.“ (TB I, 631) 48 Ders.: Der „Untergang“ des Theaters (1924) (GW II, 1116). 49 Ebd. S. 1117. 50 Ebd. 51 Ebd. S. 1116. 52 Ebd. S. 1118. 53 Ebd. S. 1117; Hervorhebung v. B. N. 54 Ebd. S. 1119. 55 Ebd. S. 1121.
2. Der „Untergang“ des Theaters (1924)
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trie antizipiert56 und eine „bemerkenswerte Übereinstimmung zwischen der Psychologie des Theaters und des Geschäfts“ bzw. der „Psychotechnik der Reklame“ konstatiert,57 bezieht Musil auch die öffentliche Funktion der Theaterkritik mit ein. Da dieser ein eigener, über das bloße geschäftsmäßige Funktionieren hinausgehender Maßstab fehle, fungiere die Kritik innerhalb der zeitgenössischen ‚Vergnügungsindustrie‘ nicht als Instanz der kritischen (Selbst-)Reflexion, sondern als bloße „Dramaturgie des Vergnügens“, als „Geschäftsdramaturgie“ bzw. „Dramaturgie der Ermüdung“.58 Die zeitgenössische Theaterkritik sei sowohl im Hinblick auf das fehlende ästhetische Bewertungssystem wie in Anbetracht ihrer ästhetischen und gesellschaftlichen Zwecksetzung bzw. Zielbestimmung voraussetzungslos. Analysierte man, so Musil, „die Maßstäbe der einflußreichen Durchschnittskritik, so zeigen sie sich im Grunde nur als Anweisungen, Menschen wach zu halten, die einzuschlafen drohen.“59 Musils Kritik an den fehlenden Maßstäben und inhaltslosen Begriffen der zeitgenössischen Kritik, für die sich zahlreiche Belegstellen anführen lassen,60 lautet: Diese habe sich aufgrund ihrer reflexionslosen, rein geschäftsmäßig-funktionalen Voraussetzungslosigkeit von der Funktion des Scheidens, Auswählens, Richtens und Urteilens zugunsten einer affirmativen Verdoppelung der bestehenden narrativen Spaßkultur verabschiedet. Während der Dramatiker als Ingenieur des Theaterbetriebs das Bühnengeschehen gemäß der „Forderung der dramatischer Anschaulichkeit, nach der möglichst alles Handlung sein muß, […] auf die einprägsame Einfach-
_____________ 56 Vgl. M. Horkheimer/T. W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente (1947). Frankfurt a. M. 1982. S. 128f., die von einer „Fusion von Kultur und Unterhaltung“ sowie von einer „ursprünglichen Affinität […] von Geschäft und Amusement“ sprechen; vgl. auch die Korrespondenz im dritten, „Bildungskrisis“ benannten Abschnitt von Musils Essay mit Adorno (Ästhetische Theorie. Hrsg. v. G. Adorno/R. Tiedemann. Frankfurt a. M. 1973. S. 16), welcher das Kunstwerk als autonomes Artefakt und fait social bestimmt. 57 R. Musil: Der „Untergang“ des Theaters (1924) (GW II, 1118). 58 Ebd. S. 1120. 59 Ebd.; vgl. ders.: Noch einmal Theaterkrisis und Theatergesundung in: Der Tag (Wien), 27. April 1924 (GW II, 1709–1714, hier S. 1712): „Analysieren Sie aber die Durchschnittsmaßstäbe der Kritik, so sind es nichts als Anweisungen, Menschen wach zu erhalten, die einzuschlafen drohen.“ 60 Vgl. hierzu ders.: [Über Kritik] [vor 1914?] (GW II, 1331–1334, hier 1332): „Es wäre eine der wichtigsten Aufgaben eines Preisausschreibens, einen feingeistigen genauen Menschen zu bewegen, daß er ein Inventar der Begriffe aufnehme, mit denen unsre Kritik operiert. Ihre völlige Inhaltslosigkeit würde vermutlich schon daraus hervorgehen […].“ (GW II, 1332) Ders.: Motive – Überlegungen (Nachlass): „Instrumentarium der heutigen Kritik: Die Maßstäbe, Begriffe usw. der heutigen Kritik inventarisieren u[nd] besprechen.“ (GW II, 874) Vgl. ebd. S. 875.
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VII. Essayismus als Kritik des Kunstwerks
heit der illustrierten Kinderfibel“ bringe, verkünde der Kritiker, von Musil auch als „Wirkwarenkritiker“ benannt, „solche Fabrikserfahrungen als dramatisches Gesetz“.61 Das „Ideal des Handelns auf der Bühne wie im Leben“62 korrespondiere dabei mit der zunehmenden ‚Entgeistigung‘ auf der Bühne wie im Parkett. Der Ort der kritischen Reflexion des Lebens wie der Kunst ist folglich, so Musil, nicht mehr das Theater selbst oder die vormals aufklärerische Institution der Theaterkritik, sondern der Roman:63 „Im Roman spielt die ,Technik‘ längst keine solche Rolle wie in der Theaterkritik (obgleich er technisch mindestens ebenso schwierig ist wie das Drama), dafür spielt er heute bei weitem eine größere Rolle im Geist der Menschheit, und beides wahrscheinlich deshalb, weil er kein so gutes Geschäft ist wie das Theater.“64 Auf die „neue oder werdende ‚Bildung‘ des Menschen“ haben, so Musil in einer Umfrage der Magdeburger Zeitung von 1926, „Roman und Essay, ja auch die Lyrik“, mehr Einfluß als das zeitgenössische Theater.65 Der Roman aber oszilliert zwischen Narration und Reflexion, zwischen Ja und Nein wie die leichte seitliche Kopfbewegung der Simmel’schen Kokotte: „Auch auf dem niedrigsten Niveau der gewöhnlichen Konversation spielt ein Romane einem anderen Menschen gegenüber mit seiner Person, wie eine Frau mit dem Fächer; er wirbt für sich und seine Gedanken, indem er spricht“.66 In der Geste der Kokotten,67 die zwischen
_____________ 61 Ders.: Der „Untergang“ des Theaters (1924) (GW II, 1120f.). 62 Ebd. S. 1131. 63 Vgl. ders.: Symptomen-Theater II. In: Der Neue Merkur, Dezember 1922/Februar 1923 (GW II, 1103–1112, hier 1099): „Bloß frägt man zu selten, warum der Roman in den letzten hundert Jahren aus formlosen Geschwätz in die Höhe einer großen Kunst wuchs, in der heute fast alles steckt, was wir seelisch zu geben haben, während das Theater verkümmert […].“ (GW II, 1099) Ders.: Noch einmal Theaterkrisis und Gesundung (1924): „[…] es ist also kein Wunder, daß für die Kunst fast nur die Debilen übrig bleiben, die nicht anders können, weil sie nichts anders können, und subalterne Geschäftsritter. Wendet sich aber ein wertvoller Mensch ihr zu, so wählt er gewöhnlich den Roman und nicht das Theater. Es ist eine unserer komischen Lügen, daß in der Dichtung die Dramatik sozusagen offiziell immer noch die erste Stelle innehat, obgleich seit fast hundert Jahren der Schwerpunkt der europäischen Dichtung im Roman liegt.“ (GW II, 1713) etc. 64 Ders.: Der „Untergang“ des Theaters (1924) (GW II, 1121). 65 Ders.: Kino oder Theater / Das neue Drama und das neue Theater. In: Magdeburger Zeitung, 25. Dezember 1926 (GW II, 1717–1719, hier 1717). 66 Ders.: Der „Untergang“ des Theaters (1924) (GW II, 1131). 67 G. Simmel: Die Koketterie. In: ders.: Die Philosophische Kultur. Über das Abenteuer, die Geschlechter und die Krise der Moderne. Gesammelte Essais (1911). Hrsg. v. J. Habermas. Berlin 1983. S. 81–99, hier S. 82.
3. Ansätze zu neuer Ästhetik. Bemerkungen über eine Dramaturgie des Films (1925) 229
Versprechen und Versagen schwankend mit den Gedanken, vorzugsweise einem Gedanken, mit dem, „was sich nicht mehr mit Worten allein sagen läßt“, 68 spielt, wird das geschäftsmäßige Interesse von dem Versprechen auf Lust dominiert. Und wie das, „was mit dem Wort Versuch oder auch Essay gemeint ist“, bleibt auch sie „wesentlich etwas ohne Erfüllung.“69
3. Ansätze zu neuer Ästhetik. Bemerkungen über eine Dramaturgie des Films (1925) oder Béla Balázs als Paradigma der Kunstkritik ‚Alles ist möglich‘: das ist die Weltanschauung des ‚Kino‘, und weil seine Technik in jedem einzelnen Moment die absolute (wenn auch nur empirische) Wirklichkeit dieses Moments ausdrückt, wird das Gelten der ‚Möglichkeit‘ als einer der ‚Wirklichkeit‘ entgegengesetzen Kategorie aufgehoben; die beiden Kategorien werden einander gleichgesetzt, sie werden zu einer Identität. ‚Alles ist wahr und wirklich, alles ist gleich wahr und gleich wirklich‘: das lehren die Bilderfolgen des ‚Kino‘.70 (Georg Lukács) Der Mensch hat seine Seele verloren, er gewinnt aber dafür seinen Körper […].71 (Georg Lukács) Aber ins Kino geht man nicht, um zu denken, sondern um zu sehen.72 (Béla Balázs)
Der 1925 in Der Neue Merkur erschienene Beitrag Ansätze zu neuer Ästhetik. Bemerkungen über eine Dramaturgie des Films ist nicht nur, wie immer wieder hervorgehoben wird, grundlegend für die Konzeption des ‚anderen Zustands‘, sondern auch für das Verhältnis von Kunst und Kritik bei Robert Musil. Denn dieser Essay führt die in Skizze der Erkenntnis des Dichters (1918) und Wege zur Kunstbetrachtung (1921) entwickelten Überlegungen zum Verhältnis von ästhetischem Erleben im Bereich des Nicht-
_____________ 68 R. Musil: Über Robert Musil’s Bücher. In: Der Lose Vogel Nr. 7, Januar 1913 (GW II, 995–1002, hier 998). 69 Ders.: [Was ich zu sein glaube] [etwa 1921/22] (GW II, 1352–1353, hier 1352). 70 G. Lukács: Gedanken zu einer Ästhetik des Kinos (1913). In: ders.: Schriften zur Literatursoziologie. Hrsg. v. P. Ludz. Frankfurt a. M. [u. a.] 1985. S. 75–81, hier S. 77. 71 Ebd. S. 78. 72 B. Balázs: Prostitution. In: Der Tag (Wien), 19. Januar 1923. Abgedr. in: ders.: Schriften zum Film. Hrsg. v. H. H. Diederichs/W. Geruch/M. Nagy. Bd. 1: Der sichtbare Mensch (1924). Kritiken und Aufsätze 1922–1926. Hrsg. v. H. H. D. München/Berlin/Budapest 1982. S. 165.
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VII. Essayismus als Kritik des Kunstwerks
Ratioïdem und wissenschaftlich-begrifflichem Erfassen im Bereich der Naturwissenschaften fort. Ursprünglich mit dem Arbeitstitel „Der Film als Kunst“73 bzw. „Film und Kunst“ versehen, war er zunächst als Rezension zu Béla Balázs’ Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films (1924) geplant: „aber unter der Arbeit ist mir ein Essay daraus geworden, der nur noch dem Vorwand nach eine Besprechung ist und in Wirklichkeit eine Abhandlung wichtiger Kunstfragen“, so Robert Musil in einem Brief an den Herausgeber des Neuen Merkur Efraim Frisch.74 Der von Balázs in Der sichtbare Mensch (1924) vorlegte Entwurf einer Filmästhetik versucht, den Film als eine eigenständige Kunst zu etablieren.75 Musil führt in seinem Essay Ansätze zu neuer Ästhetik (1925) die Balázs’sche Filmdramaturgie weiter zu der grundlegenden Frage: ‚Was ist Kunst?‘ bzw. ‚Wie wirkt Kunst?‘ – Das heißt, die Musil’sche „Abhandlung“ erläutert bzw. kommentiert nicht bloß die essayistische Vorlage, sondern setzt sie fort, schreibt sie um, ja teilweise sogar neu. Geht es Balázs immer wieder darum, wie der zeitgenössische Film ästhetisch bzw. technisch – diese beiden Aspekte sind bei ihm untrennbar miteinander verwoben – gemacht ist bzw. wie er besser gemacht werden kann, so konzentrieren sich Musils Überlegungen auf den Akt der Wahrnehmung/Rezeption, allerdings weniger des Films, sondern der Kunst im Allgemeinen wie der Literatur im Besonderen: „Im Bewußstein der neuen
_____________ 73 Diesen Titel wird 1932 der Gestaltpsychologe und Filmtheoretiker Rudolf Arnheim für sich reklamieren; vgl. hierzu A. Rußegger: Kinema mundi. Studien zur Theorie des „Bildes“ bei Robert Musil. Wien [u. a.] 1996. S. 58. 74 R. Musil: Brief an Efraim Frisch vom 10. 12. 1924 (BR I, 371); vgl. hierzu auch die Textvariante, die den von Efraim Frisch geforderten Kürzungen zum Opfer gefallen ist: „Die Bemerkungen, die ich im Folgenden anfüge, […] hätten ursprünglich eine Besprechung von Balázs[’] Buch werden sollen, aber so wie sie geworden sind, geben sie weder seinen Inhalt wieder, noch sind sie eine Kritik.“ (GW II, 1818) Zur Korrespondenz zwischen Robert Musil und Efraim Frisch vgl. auch G. Stern: Musil über seine Essays; ein Bericht über eine unveröffentlichte Korrespondenz. In: Germanic Review 49 (1974). S. 60–83. 75 Es handelt sich laut H. B. Heller (Literarische Intelligenz und Film. Zu Veränderungen der ästhetischen Theorie und Praxis unter dem Eindruck des Films 1910–1930 in Deutschland. Tübingen 1985. S. 201) – neben Otto Stindt: Das Lichtspiel als Kunstform (1924), Otto Foulon: Die Kunst des Lichtspiels (1924), Rudolf Kurtz: Expressionismus und Film (1926) und Rudolf Harms: Philosophie des Films (1926) – um den umfassendsten „der in den mittzwanziger Jahren von literarisch-intellektueller Seite unternommenen Versuche, eine kunsttheoretisch fundierte Ästhetik des Films zu formulieren“ (ebd. S. 231).
3. Ansätze zu neuer Ästhetik. Bemerkungen über eine Dramaturgie des Films (1925) 231
technischen Bedingungen der Wahrnehmung“, so Klaus R. Scherpe, „benutzt Musil den Film als ästhetisches Reflexionsmedium der Literatur.“76 Der Balázs’sche Prätext besteht aus drei Vorreden, welche den Film als neue, vom Theater, der Literatur und der Malerei verschiedene Kunst77 und als „soziale Tatsache“78 charakterisieren, aus zwei Hauptteilen (Der sichtbare Mensch und Skizzen zu einer Dramaturgie des Films) sowie einem Anhang (zwei Porträts von Charlie Chaplin und Asta Nielsen). Der erste Teil Der sichtbare Mensch ist – so der Anspruch Balázs’ – nicht mehr und nicht weniger als der „Versuch einer Kunstphilosophie“.79 Nicht als Theorie mit begrifflich-systematischen Anspruch, sondern vielmehr aphoristisch-essayistisch wird hier der folgende Gedankengang entwickelt: Der Film als angewandte Kunst, welche nicht „die Schönheit der Statuen in den Galerien, sondern Gang und Gebärde der Menschen auf der Straße des Alltags, während ihrer Arbeit“ behandele, sei ein Beitrag zur „visuelle[n] Kultur“, welche „den Menschen in ihrem gewöhnlichen Verkehr miteinander andere und neue Ausdruckformen“ gebe.80 Jede Kunst eröffne dem Menschen ein spezifisches, von anderen Künsten unterschiedenes „eigenes Verhältnis […] zur Welt, eine eigene Dimension der Seele.“81 Und so gebe auch der Film als „Kunst des Sehens“82 dem Menschen „ein neues Sinnesorgan“.83 Denn die neue kinema-
_____________ 76 K. R. Scherpe: Beschreiben, nicht Erzählen! Beispiele zu einer ästhetischen Opposition: von Döblin und Musil bis zu Darstellungen des Holocaust. Antrittsvorlesung Humboldt-Univ. Berlin 1994. S. 3–29, hier S. 15. 77 B. Balázs: Der sichtbare Mensch oder Die Kultur des Films. Wien/Leipzig 1924. S. 13; vgl. auch ders.: Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films. Mit e. Nachw. v. H. H. Diederichs und zeitgenössischen Rezensionen von Robert Musil, Andor Kraszna-Krausz, Siegfried Kracauer und Erich Kästner. Frankfurt a. M. 2001. Im Folgenden wird nach der ersten Ausgabe von 1924 zitiert, welche im Gegensatz zur Neuherausgabe den essayistischen Charakter auch drucktechnisch wiedergibt. 78 Vgl. ebd. S. 12; vgl. hierzu auch ebd. S. 11: „Der Film ist eine Tatsache, eine so allgemeine, sozial und psychisch so tiefwirkende Tatsache geworden, daß wir, gerne oder nicht, uns mit ihr auseinandersetzen müssen. Denn der Film ist die Volkskunst unseres Jahrhunderts. Nicht in dem Sinn, leider, daß sie aus dem Volksgeist entsteht, sondern daß der Volksgeist aus ihr entsteht.“ 79 Ebd. S. 9. 80 Ebd. S. 30. 81 Ebd. S. 13. 82 B. Balázs: Der Geist des Films. Halle (Saale) 1930. S. 216; vgl. auch ders.: Schriften zum Film. Bd. 2: Der Geist des Films (1930). Artikel und Aufsätze 1926–1931. Hrsg. v. W. Gersch. München/Berlin/Budapest 1984 sowie ders.: Der Geist des Films. Mit e. Nachw. v. H. Loewy und zeitgenössischen Rezensionen von Siegfried Kracauer und Rudolf Arnheim. Frankfurt a. M. 2001. Im Folgenden wird nach der Erstausgabe zitiert. 83 Ders.: Der sichtbare Mensch (1924). S. 13.
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tographische Maschine lasse das Gesicht der Menschen, welches seit der Erfindung der Buchdruckerkunst unleserlich geworden sei, wieder sichtbar und somit lesbar werden. Durch die neue „Technik zur Vervielfältigung und Vertreibung geistiger Produktion“84 werde die „begriffliche“,85 „entmaterialisierte, abstrakte, verintellektualisierte Kultur“86 in eine visuelle überführt:87 „Er [„der Mensch der visuellen Kultur“] denkt keine Worte […]. Seine Gebärden bedeuten überhaupt keine Begriffe, sondern unmittelbar sein irrationales Selbst, und was sich auf seinem Gesicht und in seinen Bewegungen ausdrückt, kommt von einer Schichte der Seele, die Worte niemals ans Licht fördern können. Hier wird der Geist unmittelbar zum Körper, wortelos, sichtbar.“88 Der unmittelbar zum Körper gewordene Geist bzw. die „unmittelbar verkörperte[ ] Seele“89 meint dabei nicht den „bloßen biologischen Organismus“, sondern „den unter Begriffen und Worten verschütteten“, „verstummten, vergessenen, unsichtbar gewordenen leiblichen Menschen.“90 Robert Musil nun nimmt die Balázs’sche Theorie einer medial erzeugten Unmittelbarkeit des unter den Bedingungen der modernen BegriffsKultur ‚unsichtbaren‘ Menschen zum Anlass, um „zwei Geisteszustände“ zu unterscheiden, an deren Grenze sich die Kunst bewege. Der eine ist der sogenannte „Normalzustand unserer Beziehungen zu Welt, Menschen und dem eigenen Ich“. Es ist der vorwiegend ‚appetitive‘ Geist der Jagd, des Krieges, der quantitative Geist, bestimmt durch das „Messen, Rechnen, Spüren, das positive, kausale, mechanische Denken“. Ihm entspreche in soziologischer Hinsicht „die beherrschende Rolle des Geldes als Regu-
_____________ 84 Ebd. S. 23; vgl. die Übereinstimmung mit W. Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936/55). Frankfurt a. M. 1977. Nach G. Wagner (Walter Benjamin. Die Medien der Moderne. Berlin 1992, Anm. 10. S. 109) hatte W. Benjamin zunächst vor, Balázs’ Der sichtbare Mensch (1924) für die Frankfurter Zeitung rezensieren; schließlich bespricht S. Kracauer (Bücher vom Film. In: Frankfurter Zeitung. Literaturblatt, 10. 7. 1927) die zweite Auflage von 1926. Zu den intertextuellen Referenzen von Benjamin, der Balázs an keiner Stelle (markiert) zitiert, auf Balázs vgl. auch H. Loewy: Béla Balázs – Märchen, Ritual und Film. Berlin 2003. S. 333f. 85 B. Balázs: Der sichtbare Mensch (1924). S. 23. 86 Ebd. S. 27; die Übereinstimmung mit der Kulturtheorie G. Simmels und des frühen G. Lukács’ ist unüberlesbar. 87 Ebd. S. 23. 88 Ebd. S. 24; in der Hoffnung auf ‚Unmittelbarkeit‘ liegt die Differenz zu der Kulturdiagnostik Simmels wie Lukács’. 89 Ebd. S. 25. 90 Ebd. S. 27.
3. Ansätze zu neuer Ästhetik. Bemerkungen über eine Dramaturgie des Films (1925) 233
lator“.91 Es ist, mit den Worten Horkheimers/Adornos, der Geist der instrumentellen Vernunft, welcher sowohl die Erfahrung wie die Bedingung ihrer Möglichkeit, das Erlebnis nichtet. Der andere Zustand des Geistes aber ist, so Musil, der „Zustand der Liebe […], der Güte, der Weltabgekehrtheit, der Kontemplation, des Schauens, der Annäherung an Gott, der Entrückung, der Willenlosigkeit, der Einkehr“ u. s. f., der den Bereichen von Religion, Mystik, Ethik, Erotik zugehört, ohne sich jedoch mit diesen zu decken.92 Es ist ein Zustand höchster Erlebnisqualität, ein Zustand „reine[r] Aktualität und Erregung“,93 der sich allenfalls gemeinsam erleben,94 nicht jedoch adäquat beschreiben, geschweige denn in den „Normalzustand“ übersetzen lässt. Die Kunst nun, so Robert Musil, vermittelt zwischen diesen beiden Geisteszuständen, da das Erlebnis qua ästhetischer Form im Akt der Rezeption zur kommunizierbaren Erfahrung wird. Mit dieser Position wendet sich Musil ebenso gegen die klassische Ästhetik der Jahrhundertwende um 1800 wie gegen den Ästhetizismus der Jahrhundertwende um 1900. Bereits in den kantisch-schillerschen „Begriffe[n] der zwecklosen Schönheit oder des schönen Scheins“ sei die Kunst „in ein Leben zweiten Ranges geflüchtet“.95 Jene Auffassung, welche das Kunsterlebnis als „Bruchstück einer anderen Totalität“96 gänzlich in das Gebiet des „anderen Zustands“ verweise, nehme ihre Wirkungs- bzw. Funktionslosigkeit in Bezug auf die Welt des „wirklichen Lebens“, in der sie zum bloßen Ornament, zum „Schnörkel“ degeneriere,97 vollends in Kauf. Die Funktion der Kunst, die auf „eine außerbegriffliche Korrespondenz des Menschen mit der Welt“98 verweise, liege jedoch nicht im Eskapismus, im Vergessen oder bloßen Verschönern der Wirklichkeit,99 sondern in der „Verneinung des wirklichen Lebens“:100 „scheinbar eine
_____________ 91 R. Musil: Ansätze zu neuer Ästhetik. Bemerkungen über eine Dramaturgie des Films. In: Der Neue Merkur, März 1925 (GW II, 1137–1154, hier 1143); vgl. G. Simmel: Philosophie des Geldes. Leipzig 1900. 92 R. Musil: Ansätze zu neuer Ästhetik (1925) (GW II, 1144). 93 Ebd. S. 1154. 94 Vgl. M. Buber (Hrsg.): Ekstatische Konfessionen (1909). Neuhrsg. v. P. MendesFlohr. 5. Aufl. Darmstadt 1984. S. XVIII („jenes seltsame Zeugnis einer Ekstase zu Zweien“). 95 R. Musil: Ansätze zu neuer Ästhetik (1925) (GW II, 1140). 96 Ebd. S. 1153. 97 Ebd. S. 1140. 98 Ebd. S. 1141. 99 Auch hier ist eine wichtige These der Adorno’schen Ästhetik vorweggenommen. 100 Ders.: Ansätze zu neuer Ästhetik (1925) (GW II, 1140).
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VII. Essayismus als Kritik des Kunstwerks
Welt für sich, ist die der Schönheit doch ungeschlossen, abgesprengt und im Geheimen negativ.“101 Im „Normalzustand“, der die Wissenschaft ebenso wie das Alltagsleben umfasst, besteht, so Musil, ein enges, unzertrennbares Wechselverhältnis zwischen Erfahrung und Begriff, „ein Zustand des gegenseitigen Sichformens wie zwischen Flüssigkeit und elastischem Gefäß“:102 „jede neue Erfahrung sprengt die Formel der bisher erworbenen, wird aber zugleich in ihrem Sinn gemacht.“103 Die Wahrnehmungs- wie Erlebnisfähigkeit ist hier durch „präformierte stabile Vorstellungen“, das heißt Begriffe, von vorneherein eingeschränkt: „Es ist nicht das Denken, sondern einfach schon die Notwendigkeit praktischer Orientierung, was zur Formelhaftigkeit treibt“.104 Die spezifische Erlebnisqualität der Kunst jedoch befreie den Menschen aus dieser „Formelhaftigkeit der Sinne und Begriffe“: „Die Zwischentöne, Schwingungen, Schwebungen, Lichtstufen, Raumwerte, Bewegungsachsen, in der Dichtung der irrationale Simultaneffekt sich gegenseitig bestrahlender Worte: wie in einem alten Gemälde, wenn man es firnißt, Geschehnisse hervortreten, die unsichtbar waren, so sprengen sie das stumpfe, eingeschlagene Bild und die Formelhaftigkeit des Daseins.“105 Die Kunst hat dabei, so Musil, „die Aufgabe unaufhörlicher Umformung und Erneuerung des Bildes der Welt und des Verhaltens in ihr, indem sie durch ihre Erlebnisse die Formel der Erfahrung sprengt“.106 Im Unterschied jedoch zum „anderen Zustand“, wo das Erlebnis „überhaupt keine Tendenz“ habe, „zur Erfahrung zu werden“,107 Erfahrung vielmehr „als etwas Wesensfremdes und Feindliches empfunden“ werde,108 stehe die Kunst an der „Grenze zweier Welten“,109 der Welt des „Normalzustandes“, der Wissenschaft, des Alltagslebens auf der einen und der Welt des ,anderen Zustands‘, des mystischen Erlebnisses auf der anderen Seite. So mischen sich beispielsweise bei der Rezeption von Lyrik wie guter Prosa „erkannte Bedeutung, wahrgenommene sinnliche Gestalt und Ge-
_____________ 101 Ebd. S. 1147. 102 Ebd. S. 1146. 103 Ebd. S. 1151; vgl. B. Balázs: Der sichtbare Mensch (1924). S. 28: „Psychologische und logische Analysen haben es erwiesen, daß unsere Worte nicht nur nachträgliche Abbilder unserer Gedanken sind, sondern ihre im vorhinein bestimmenden Formen.“ 104 R. Musil: Ansätze zu neuer Ästhetik (1925) (GW II, 1146). 105 Ebd. S. 1147. 106 Ebd. S. 1152. 107 Ebd. S. 1151. 108 Ebd. S. 1153. 109 Ebd. S. 1143.
3. Ansätze zu neuer Ästhetik. Bemerkungen über eine Dramaturgie des Films (1925) 235
fühlserregung“: „in der Nachwirkung wird das Erlebnis teils begrifflich assimiliert und fixiert, teils hinterläßt es eine vage, gewöhnlich unbewußte Disposition, die in irgendeiner späteren Lebenssituation plötzlich wieder lebendig werden, aber auch unmerklichen Dauereinfluß ausüben kann.“110 Die Rezeption von Kunst selbst umfasst also immer schon eine ganzheitliche, sinnliche Erlebnisqualität ebenso wie ihre Festigung zu einer begrifflichen Formel, welche das Erlebnis zumindest teilweise zur Erfahrung werden lässt. Während jedoch der andere „Zustand, außer in krankhafter Form, niemals von Dauer“ sei, „ein hypothetischer Grenzfall, dem man sich annähert, um wieder in den Normalzustand zurückzufallen“, unterscheide sich die Kunst von der Mystik dadurch, „daß sie den Anschluß an das gewöhnliche Verhalten nie ganz verliert“.111 Denn im Unterschied zur mystischen Erfahrung sei die Kunst zumindest teilweise übersetzbar, kommunizierbar, in rationale Bereiche überführbar. Denn „bei einem Entrückungszustand, wie ihn das Erlebnis der Kunst darstellt“, kommt es nun zu einer partiellen „Rückübersetzung“ in den „Normalzustand“,112 zu einer zumindest temporären Vermischung der beiden Zuständlichkeiten des menschlichen Geistes. Das Potential der Transformation in die Gegenwelt des „anderen Zustands“ aber ist wie dasjenige der „Rückübersetzung“113 des Erlebten durch das Formelement der Kunst gegeben. Die „formale Seite“114 bzw. „sinnliche Oberfläche“115 der Kunst sei der „vorzivilisatorische[n] Phase der Menschheit“ entsprungen und habe ihre „Wurzel […] in sehr alten Kulturzuständen“. Musil nennt hier in Anlehnung an die Terminologie der psychoanalytischen Traumdeutung die Techniken der „Verdichtung und Verschiebung“, weiterhin „Rhythmik und Monotonie“116 bzw. „Farb-, Flächen-, Klang-, Rhythmus usw. Beziehungen“.117 Der „Sinn der Formen in der Kunst“ liege dabei nicht nur in der „Inszenierung“ der „Lebensinhalt[e]“118 der Menschen einer bestimmten Kultur- bzw. Zivilisationsstufe, sondern auch in deren „produktive[r] Begrenzung“119 (Selektion) und
_____________ 110 111 112 113 114 115 116 117 118 119
Ebd. S. 1150. Ebd. S. 1154. Ebd. S. 1151. Ebd. Ebd. S. 1140 Ebd. S. 1139. Ebd. S. 1141. Ebd. S. 1139f. Ebd. S. 1147. Ebd. S. 1149.
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VII. Essayismus als Kritik des Kunstwerks
„Gruppierung“120 (Kombination) – das heißt: der (Wieder)Herstellung einer ‚lebendigen Ordnung‘121 auf neuer Komplexitätsstufe. Kunst ist traumhafter, nicht- bzw. halbbewusster Inhalt und Form zugleich. So berührt sie nicht nur eine frühe, ‚un-bewusste‘ bzw. vor-begriffliche Stufe der onto- wie phylogenetischen Entwicklung, sondern ermöglicht vielmehr den intrapsychischen Dialog dieser ‚anderen‘ Geisteszustände und Bewusstseinsschichten mit jenem ‚normalen‘. Kunst wird somit zum intrapsychischen Kommunikationsmedium und psychoanalytischen Funktionsäquivalent zugleich. Doch kommen wir auf den Balázs’schen Prätext zurück: Im zweiten Teil von Der sichtbare Mensch, den Skizzen zu einer Dramaturgie des Films, entwirft Balázs „eine Art Grammatik“ der Filmsprache, eine „Stilistik und eine Poetik vielleicht“.122 Balázs entwickelt hier anhand des zeitgenössischen Schwarz-Weiß- und Stumm–Films seine fragmentarische Theorie der Physiognomie. Die der Erscheinungswelt inhärente „lebendige Physiognomie“ wird,123 so Balázs, im „Normalzustand“ des Alltagslebens nicht, oder nur auf das Zweckrationale beschränkt, wahrgenommen, da „wir alle Dinge in unserer Umgebung halbverschwommen im Nebel einer gewohnheitsmäßigen Verallgemeinerung und einer schematischen Begriffsbildung sehen.“124 Mittels der kinematographischen Techniken der Großaufnahme, der Kameraeinstellung und der Montage entwickelt der Film, so Balázs, eine eigene, spezifische Sprache,125 welche die „lebendige[ ] Physiognomie, die alle Dinge haben“,126 zum Ausdruck bringt. Heinz-B. Heller spricht in Bezug auf Musils Balázs-Rezeption in Ansätze zu neuer Ästhetik (1925) von einem produktiven „Missverständnis, das Musil […] zu gänzlich anderen Schlussfolgerungen gelangen ließ.“ Balázs habe „die Idee der beseelten Physiognomie aller Dinge […] als objektive Qualität gedeutet“.127 Hierzu ist anzumerken, dass der von Balázs so bezeichnete „Pansymbolismus“ trotz aller Widersprüchlichkeit letztlich keine Qualität beschreibt, die den Dingen an sich zukommt, sondern vielmehr
_____________ 120 Ebd. S. 1147: „Doch Kunst als Form ist wohl eine besondre Begrenzung und Gruppierung des gewöhnlichen Lebensinhalts […]“. 121 Vgl. R. Musil: Wege zur Kunstbetrachtung (1921) (GW II, 1517). 122 B. Balázs: Der Geist des Films (1930). S. 7. 123 Ders.: Der sichtbare Mensch (1924). S. 87. 124 Ebd. S. 111. 125 Vgl. ders.: Der Geist des Films (1930). S. 55: „Wodurch wird der Film zu einer besonderen eigenen Sprache? / Durch die Großaufnahme. / Durch die Einstellung. / Durch die Montage.“ 126 Ders.: Der sichtbare Mensch (1924). S. 87. 127 H. B. Heller: Literarische Intelligenz und Film (1985). S. 242.
3. Ansätze zu neuer Ästhetik. Bemerkungen über eine Dramaturgie des Films (1925) 237
eine „Kategorie unserer Wahrnehmung“, genauer eine Beziehungsform zwischen den Dingen und der menschlichen Wahrnehmung: „Das Entscheidende dabei für den Film ist, daß alle Dinge notwendigerweise symbolisch sind. Denn alle Dinge machen auf uns […] einen physiognomischen Eindruck.“128 Somit ist Hanno Loewy zuzustimmen, der in Musils Konzept des ‚anderen Zustands‘ vor allem eine Weiterführung von Balázs’ „Theorien über Physiognomie und Pansymbolismus der Dinge und Menschen“ sieht.129 Wird in Der sichtbare Mensch (1924) noch etwas missverständlich davon gesprochen, dass die Dinge auch ohne Zutun des Regisseurs symbolisch seien,130 so präzisiert Balázs diesen Zusammenhang in Der Geist des Films (1930) wie folgt: „[D]er Blick des Künstlers sieht Sinn. Seine Bilder bekommen durch die Einstellung symbolische Bedeutung. Sie werden zu Metaphern und Gleichnissen.“131 Die Dinge, die Balázs immer nur als Bilder, das heißt als Wahrgenommenes konzeptualisiert, sind demnach mit einer metonymischen „Bedeutungstendenz geladen, die sich im Augenblick ihrer Berührung mit einem anderen Bild (gleich ob gesehen oder gedacht) auslöst.“132 Gerade die Medialisierung des menschlichen Blicks durch das Kamera- bzw. „Kinoauge“,133 durch „die Lupe des Kinematographs“, lässt uns jenseits der zunehmenden Intellektualisierungs- und Abstraktionstendenzen der modernen Lebenswelten „wieder Stoff und Substanz des konkreten Lebens fühlen.“134 Dabei geht Balázs von einer Entsprechung der „polyphone[n] Physiognomie“,135 welche auf dem Gesicht des Schauspielers wie auf der Kinoleinwand künstlerischen Ausdruck erlangt, mit der des Lebens aus. Die Simultaneität verschiedener Stimmen (‚Polyphonie‘) ergibt beim Simmelschüler Balázs jedoch keine bloße Kakophonie, sondern eine Symphonie: „Der gute Film wird dich aber durch seine Großaufnahmen lehren, die Partitur des vielstimmigen Lebens zu lesen, die einzelnen Lebens-
_____________ 128 B. Balázs: Der sichtbare Mensch (1924). S. 103. 129 H. Loewy: Béla Balázs – Märchen, Ritual und Film. Berlin 2003. S. 12: „Er [Balázs] hält […] an der romantischen Figur eines Pansymbolismus fest, der Menschen und Dinge in Beziehungsformen verwandelt (und umgekehrt), in denen Transzendenz und Immanenz nicht voneinander geschieden sind.“ 130 Ebd. S. 104. 131 B. Balázs: Der Geist des Films (1930). S. 35. 132 Ebd. S. 47. 133 Ebd. S. 94. 134 B. Balázs: Der sichtbare Mensch (1924). S. 73. 135 Ebd. S. 69.
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stimmen aller Dinge zu merken, aus denen sich die große Symphonie zusammensetzt.“136 In Der Geist des Films (1930) bestimmt Balázs den Film als „Kunst des Sehens“ bzw. als „Kunst der Konkretion“: „Der Film sträubt sich, seiner inneren Bestimmung nach, gegen die mörderische Abstraktion“137 des Lebens. Zu „Kunst der Konkretion“ wird der (Stumm-)Film aber gerade wegen seiner wahrnehmungstechnischen Abstraktion. Denn, so die Argumentation Balázs, die Abstraktion vom Hören einer Melodie, das heißt die Reduktion des Akustischen auf das Optische der Mundbewegungen beim Sprechen und der sich dabei verändernden Gesichtszüge, mache die Partitur der Töne erst lesbar.138 Der auf die Kinoleinwand projizierte Film wird somit wie die (Gesichts-)Landschaft in Großaufnahme selbst zu einer Physiognomie,139 zu einer Gebärde, zu einer Gesichtsfläche, in deren Mimik wir lesen können.140 Dabei ersetze das Prinzip der Simultaneität das „Nacheinander der Worte […] wie das Nacheinander der Töne einer Melodie“,141 denn in der „polyphonen Physiognomie“142 des auf die Kinoleinwand projizierten Gesichts „können die verschiedensten Dinge gleichzeitig erscheinen wie in einem Akkord“.143 Wie die Melodie, so verdeutlicht Balázs unter Rückgriff auf Henri Bergson,144 habe die Sprache des Films
_____________ 136 Ebd. S. 74. 137 Ders.: Der Geist des Films (1930). S. 216. 138 Vgl. ders.: Der sichtbare Mensch (1924). S. 51: „Wer das Sprechen sieht, erfährt ganz andere Dinge als jener, der die Worte hört.“ 139 Vgl. ebd. S. 99: „Landschaft ist eine Physiognomie, ein Gesicht, das uns plötzlich an einer Stelle der Gegend wie aus den wirren Linien eines Vexierbildes anblickt.“ 140 Vgl. G. Simmel: Die ästhetische Bedeutung des Gesichts. In: ders.: Brücke und Tür. Essays des Philosophen zur Geschichte, Religion, Kunst und Gesellschaft. Im Verein mit M. Susman hrsg. v. M. Landmann. Stuttgart 1957. S. 153–160. 141 B. Balázs: Der sichtbare Mensch (1924). S. 69. 142 Ebd. S. 67. 143 Ebd. 144 Vgl. ders.: Physiognomie und Melodie. In: ders.: Der Geist des Films (1930). S. 58: „Henri Bergsons Analyse der ‚Dauer‘ (durée) und der Zeit werden uns zum Verständnis dieser neuen Dimension verhelfen. Eine Melodie, sagt Bergson, besteht sowohl aus einzelnen Tönen, die zeitlich hintereinander folgen, aber die Melodie hat trotzdem keine Ausdehnung in der Zeit. Denn im Sinn des ersten Tones ist der letzte bereits zugegen, und beim letzten Ton ist der erste noch deutend gegenwärtig. Das eben macht jeden Ton zum Teil einer Melodie, die als Form wohl eine Dauer, einen Ablauf hat, aber nicht in der Zeit allmählich entsteht, sondern von vornherein als Ganzes da ist. Denn nicht die Töne sind es, sondern ihre (hörbare) Beziehung ist die Melodie. Die Beziehung aber ist nicht zeitlich. Sie ist in einer anderen, einer geistigen Dimension.“ H. Loewy: Béla Balázs (2003). S. 33 geht davon aus, dass Balázs Henri Bergson während seines zweiten Parisaufenthaltes im Winter 1911/12 persönlich kennengelernt hat.
3. Ansätze zu neuer Ästhetik. Bemerkungen über eine Dramaturgie des Films (1925) 239
trotz der geforderten einheitlichen Zeitperspektive145 und trotz des Nacheinanders der einzelnen Töne bzw. Bilder keine Ausdehnung in der Zeit. Ihre Beziehung untereinander sei nicht die der zeitlichen Linearität, sondern der gestalthaften, räumlichen Komplexität. So sei beispielsweise in Luis Buñuels Film Un chien andalou (Frankreich 1928)146 die logische Abfolge der Bilder durch eine psychologische – in Musils Worten: eine ‚motivierte‘147 – ersetzt. Der innere, thematische Zusammenhang der Bilder konstituiere sich hier nur noch gedanklich, assoziativ. Doch im Unterschied zur psychoanalytischen Beichte verweise die Frage „Was fällt ihnen dazu ein?“ nicht paradigmatisch auf eine Latenz, einen dahinterliegenden Sinn. Das „dazu“ sei vielmehr selbst der Inhalt:148 „Das alles hat gar keinen Sinn. Nur Bedeutung. Bedeutungen, die man auch nicht versteht, bloß zu fühlen bekommt. (Denn Sinn, das wäre schon etwas Konstruiertes.)“149 Die Technik der freien Assoziation, das metonymische Gleiten der Bedeutung schaffenden Bilder erfährt in Balázs’ Filmtheorie gegenüber der zeitgenössischen Psychoanalyse als Theorie und Therapie ihre ästhetische Autonomisierung. Auch gegenüber der Literatur betont Balázs die Selbstständigkeit der neuen Kunst des Films: Der Film habe „nichts mit der Literatur zu schaffen“,150 so resümiert Balázs die zeitgenössische Kino-Debatte.151 Die filmischen Bildersequenzen illustrieren nicht die Worte der Literatur, so Balázs,
_____________ 145 B. Balázs: Der sichtbare Mensch (1924). S. 76f. 146 Ders.: Der absolute Film. In: ders.: Geist des Films (1930). S. 105–135, hier 113: „Berlin gibt es, und die Inflation gab es auch als Wirklichkeit. Bloß die kausale Kontinuität der Wirklichkeit und die logische Folge der Erscheinungen fehlen vollends in diesen Filmen. Die Bilder sind nicht logisch, sondern psychologisch miteinander verbunden.“ 147 Vgl. R. Musil: Geist und Erfahrung (1921): „[…] ich habe es einmal den Unterschied zwischen Kausalität und Motivation genannt. Kausalität sucht die Regel durch die Regelmäßigkeit, konstatiert das, was sich immer gebunden findet; Motivation macht das Motiv verstehen, indem sie den Impuls zu ähnlichem Handeln, Fühlen und Denken auslöst.“ (GW II, 1052) 148 B. Balázs: Der Geist des Films (1930). S. 115: „Das Thema ist nicht Inhalt, sondern ein erster Anstoß für diese Bilderfolgen. Wie bei der Beichte des Psychoanalysierten, wenn der Analytiker fragt: ‚Was fällt Ihnen dazu ein?‘ Dieses ‚dazu‘ ist der Inhalt. Und in dieser Dazugehörigkeit liegt auch der innere Zusammenhang der Bilder.“ 149 Ebd. S. 133; vgl. ders.: Der sichtbare Mensch (1924). S. 11: „Die Sinngebung ist unsere Selbstabwehr gegen das Chaos.“ 150 Ders.: Der sichtbare Mensch (1924). S. 40; vgl. A. Rußegger: Kinema mundi (1996). S. 29: „Balázs’ Theorie [präsentiert] ein pointiert anti-literarisches Filmmodell […].“ 151 Vgl. Die Kino-Debatte. Hrsg. v. A. Kaes. Tübingen 1978 sowie H. Loewy: Die KinoDebatte 1909–1914. In: ders.: Béla Balázs (2003). S. 142–155.
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sie ersetzen sie:152 „Denn der Text des Films besteht aus seiner Textur, aus jener Sprache der Bilder, wo jede Gruppierung, jede Gebärde, jede Perspektive, jede Beleuchtung jene poetische Stimmung und Schönheit auszustrahlen hat, die sonst die Worte eines Dichters enthalten.“153 Gegenüber dem literarischen Prätext wirkt die kinematographische Maschine wie ein Röntgenapparat: „Vor dem Kinoapparat werden literarische Werke durchsichtig wie vor den Röntgenstrahlen. Das Knochengerüst der Fabel bleibt, das schöne Fleisch der Gedankentiefe, die zarte Haut des lyrischen Tönens verschwindet auf der Leinwand.“ Das „andere[ ] Fleisch“ und die „andere Epidermis“, die das „Skelett“ der Fabel,154 welche von Balázs in Der Geist des Films (1930) auch als „konstruierter Lebensstoff“ bezeichnet wird,155 in der filmischen Realisation erhält, ist allerdings nicht die bloße Verpackung („Schale“) eines Bedeutungsinhalts („Kern“): „Ein guter Film hat überhaupt keinen ,Inhalt‘. Denn er ist ‚Kern und Schale in einem Male‘. Er hat so wenig einen Inhalt wie ein Gemälde oder eine Musik oder wie eben – ein Gesichtsausdruck. Der Film ist eine Flächenkunst, und ‚was innen ist, ist außen‘ bei ihm.“156 „Jeder Eindruck, im Bilde festgehalten, wird zu einem Ausdruck“.157 Seine „Psychologie“, sein „Sinn“ oder seine „‚tiefere Bedeutung‘ in Gedanken“ liegen beim Film „in der sinnfälligen Erscheinung restlos an der Oberfläche“.158 Bei Balázs
_____________ 152 Vgl. B. Balázs: Der Geist des Films (1930). S. 84: „Die Kamera will überhaupt von einer ganz anderen Seite an das Leben heran. Sie will nicht Romane illustrieren, sondern selber dichten auf ihre eigene Art.“ 153 Ders.: Der sichtbare Mensch (1924). S. 40; vgl. hierzu auch Musils Metatext zu Balázs’ Filmtheorie, Ansätze zu neuer Ästhetik (1925), wo die poetischen Umschreibung der Filmtextur auf die Worte der Dichtung zurückbezogen werden: „Die Zwischentöne, Schwingungen, Schwebungen, Lichtstufen, Raumwerte, Bewegungsachsen, in der Dichtung der irrationale Simultaneffekt sich gegenseitig bestrahlender Worte: wie in einem alten Gemälde, wenn man es firnißt, Geschehnisse hervortreten, die unsichtbar waren […].“ (GW II, 1147). 154 B. Balázs: Der sichtbare Mensch (1924). S. 48; vgl. auch R. Musil: Ernst Tollers Hinkemann. In: Deutsche Allgemeine Zeitung (Berlin), 23. Februar 1924 (GW II, 1637– 1640, hier 1639): „ […] insgesamt ist mehr überhauchende Seele da als dramatischer Knochen […]“. 155 Ders.: Der Geist des Films (1930). S. 85: „Fabel ist konstruierter Lebensstoff. Die Flucht vor der Fabel führt nach zwei Richtungen, deren Endpunkte sind: auf der einen Seite unkonstruierter, roher Lebensstoff, auf der anderen Seite reine Konstruktionen ohne Lebensinhalte. Auf der einen Seite bloße Reportage, Natur- und Sachfilme. Auf der anderen Seite Bildspiele von Impressionen und die Formspiele der abstrakten Filme.“ 156 Ders.: Der sichtbare Mensch (1924). S. 41. 157 Ders.: Der Geist des Films (1930). S. 71. 158 Ders.: Der sichtbare Mensch (1924). S. 41.
3. Ansätze zu neuer Ästhetik. Bemerkungen über eine Dramaturgie des Films (1925) 241
bleibt der technisch bereits überholte expressionistische Stummfilm das Paradigma einer allgemeinen Filmtheorie.159 Robert Musil nimmt in Ansätze zu neuer Ästhetik (1925) die Frage nach der Eigenständigkeit von Film und Literatur auf. Trotz ihrer grundsätzlichen „Inkommensurabilität“ seien die verschiedenen Künste „irgendwie ineinander übersetzbar und durcheinander ersetzbar“, „da sie ja nichts als verschiedene Ausdrucksformen des gleichen Menschen sind“.160 Doch das Kunstwerk ist nicht nur fait social, sondern auch autonom.161 Denn die Feststellung, dass die Übersetzungsarbeit nie völlig gelinge,162 der Prätext nicht restlos in den Folgetext aufgehe, bezieht sich nicht nur auf das Verhältnis von Kunstwerk und Kritik, sondern auch auf das Verhältnis zwischen den Künsten. Die intermediale Übersetzbarkeit des Inkommensurablen aber beruhe auf der, so Musil, unausweichlichen Frage nach der Bedeutung,163 der Erfahrung, im Verhältnis zur Sinnlichkeit des Erlebnisses. Dabei unterscheide sich die Literatur von der Musik oder Malerei nur durch ein anderes Mischungs- bzw. „Gewichtsverhältnis“ von „Sinnlichkeit und Bedeutung“,164 Erlebnis und Reflexion. Denn als Meta-Sprache des Lebens ist die Literatur im Verhältnis zu sich selbst immer schon mittelbar, reflexiv, da „sie unmittelbar mit dem Material der Formulierung selbst arbeitet.“165 Der Film wird daher, so resümiert Robert Musil sich gegenüber der Position Balázs’ abgrenzend seine Überlegungen, „immer in einem festen Abstand unter dem Niveau der gleichzeitigen Literatur
_____________ 159 Vgl. hierzu auch H. B. Heller: Literarische Intelligenz und Film (1985). S. 17, der darauf verweist, dass „die Ablösung des Stummfilms vom Tonfilm“ allgemein „von der deutschen Intelligenz zwiespältig erfahren wurde.“ 160 R. Musil: Ansätze zu neuer Ästhetik (1925) (GW II, 1149). 161 Vgl. T. W. Adorno: Ästhetische Theorie (1973). S. 334ff. 162 Vgl. R. Musil: Nachwort zum Moskauer Künstlertheater (1921): „Eine Dichtung enthält einen solchen Reichtum von aufeinander bezogenen, durchaus nicht immer eindeutigen Gedanken und Gefühlen, daß sie immer mehr ist als ihre Interpretation, und gerade dieses nicht mehr Zurückübersetztwerdenkönnen, das Nichtumkehrbare des Prozesses ist es, was dem Kunstwerk sein eigenes Leben gibt, das Organische, Gewordene, Unausdrückbare und die Unerschöpflichkeit seiner Wirkungen.“ (GW II, 1528f.) 163 Ders.: Ansätze zu neuer Ästhetik (1925): „Aber selbst wenn eine Kunst so in sich gekehrt ist wie die Musik, voll gegenstandsloser Gestalt, abnorm gesteigerten Gefühls und unaussprechlicher Bedeutung: irgendwann fragt man sich, was es bedeutet hat, setzt es in Beziehung zur Gesamtperson, ordnet es sich auf irgendeine Weise ein.“ (GW II, 1149) 164 Ebd. S. 1150. 165 Ebd. S. 1152.
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VII. Essayismus als Kritik des Kunstwerks
liegen, und sein Schicksal vollzieht sich nicht als Erlösung von ihr, sondern gemeinsam mit dem ihren.“166 Hervorzuheben bleibt, dass im Verhältnis von Erlebnis und Reflexion nicht die Kunst auf der einen und die Kritik auf der anderen Seite steht. Vielmehr ist für die Kunst das ‚Mischungs‘-Verhältnis von Erlebnis und Reflexion ebenso konstitutiv wie für ihre Kritik. Béla Balázs’ Filmbuch schaffe, und hier führt Robert Musil seine ‚parasitären‘ Überlegungen zum Verhältnis von ‚anderem Zustand‘ und Kritik zusammen, „ein unerwartetes Paradigma auch für die Kritik der Literatur“. Denn Balázs’ Filmkritik, berühre – gleichsam zwischen unmittelbarem (Kino-)Erlebnis und verarbeitender, reflektierender Erfahrung oszillierend – die Grenze zwischen ‚anderem Zustand‘ und ‚Normalzustand‘. Balázs, der „immer gleichzeitig im Erlebnis und in der Reflexion“ sei, „erzählt wie ein Jäger, der sich herangeschlichen hat, vom Leben der Filmstücke, die in endlosen Rudeln durch unsere Kinos ziehn, aber beschreibt sie gleichzeitig als erster Anatom und Biologe.“167 Der Vergleich der seriellen kinematographischen Produktionen mit dem Wildwechsel in freier Natur enthält einen hetero-intertextuellen168 Verweis auf Balázs’ Artikel Mann – Weib – Ehe, der Ende 1923 im Wiener Tag erschienen war. Balázs hatte hier den Film mit Rudeltieren verglichen und eine Ablösung der „Gattung der Lasterfilme“ durch den „Schwarm der Mutterfilme“ konstatiert: „Denn mit diesen Serien ist es so, daß der Film ein Tier ist, das in Rudeln lebt und einzeln sehr selten vorkommt. Er zieht immer mit seiner Sippschaft umher.“169 Das Bild, dass sich der Jäger an seinen Gegenstand – in diesem Fall die (Film-)Rudel – ‚heranzuschleichen‘ habe, kann wiederum als auto-intertextuelle Referenz170 auf Über Robert Musil’s Bücher (1913) gelesen werden, wo das essayistische Literaturpro-
_____________ 166 Ebd. S. 1149. 167 Ebd. S. 1138; Hervorhebung v. B. N.; vgl. T. Hake: „Gefühlserkenntnisse und Denkerschütterungen“. Robert Musils „Nachlaß zu Lebzeiten“. Bielefeld 1998. Anm. 6. S. 126: „Es kann […] keinem Zweifel unterliegen, daß Musil hier mutatis mutandis sein eigenes Stil-Desiderat formuliert.“ – Vgl. auch A. Kerr: Robert Musil: „Die Schwärmer“ (1929). In: ders.: Werke in Einzelbänden. Bd. VII. 2: „So liegt der Fall“ (2001). S. 480–484, hier S. 484: „Immer zwischen Beobachtung und Ahnung. Zwischen Exaktheit und Versonnenheit. Zwischen Bohrgeräusch … und Klängen.“ 168 Vgl. S. Holthuis: Intertextualität. Aspekte einer rezeptionsorientierten Konzeption. Tübingen 1993. S. 44. 169 B. Balázs: „Mann – Weib – Ehe. In: Der Tag (Wien), 4. Dezember 1923. In: ders.: Schriften zum Film. Bd. 1: Der sichtbare Mensch (1924). S. 251f., hier S. 251. 170 Vgl. S. Holthuis: Intertextualität (1993). S. 44.
3. Ansätze zu neuer Ästhetik. Bemerkungen über eine Dramaturgie des Films (1925) 243
gramm als ‚Heranschleichen‘ des „begriffsstarken Menschen […] an Gefühlserkenntnisse und Denkerschütterungen“ umschrieben worden ist.171 Im Kritiker, dessen Idealtypus Musil hier vom Beispiel Belá Balázs’ abzieht, vereinen sich traditionelles Erzählen (Narration) und wissenschaftliches Beobachtungs- und Erkenntnisinteresse (Reflexion). Das bloße Abbilden der auf einer Waldlichtung wiederkäuenden Rehe ist Heimatkunst. Der Versuch, den cinematographischen Bildrücklauf vom erschossenen Hirschen172 narratologisch umzusetzen, kann dagegen als Funktion der Reflexion auf die Bedingungen von Raum und Zeit verstanden werden, welche Gegenstand wie Darstellung konstituieren. In soziologischer Hinsicht korrespondiert die Balázs zugeschriebene Fähigkeit, sich in einen erlebenden („Jäger“) und in einen reflektierenden Teil („Anatom“) zu verdoppeln, mit der zunehmenden, Verstand wie Sinne umfassenden Intellektualisierung des Menschen unter den Bedingungen der Moderne.173 Einerseits sei, so Musil, den „Klagen über die Intellektualisierung der Kunst“ weder durch Antiintellektualismus noch durch ‚mehr Gefühl‘ beizukommen. Da die „Entleerung des Lebens“ nicht nur das Denken, sondern auch das Fühlen, das heißt, nicht nur die Erfahrungs-, sondern auch die Erlebnisqualität des Menschen betreffe, gehe die Intellektualisierung der Kunst einher mit der Tendenz ihrer zunehmenden Verkitschung, von Musil als „moralische Engstirnigkeit“ und „formelhafte Verkürzung des Verstandes“ bezeichnet.174
_____________ 171 R. Musil: Über Robert Musil’s Bücher (1913): „[…] daß die Schilderung der Realität endlich zum dienenden Mittel des bergriffsstarken Menschen werde, mit dessen Hilfe er sich an Gefühlserkenntnisse und Denkerschütterungen heranschleicht […].“ (GW II, 997); Hervorhebung v. B. N. 172 Vgl. ders.: Das hilflose Europa oder Reise vom Hundertsten ins Tausendste. In: Ganymed 1922 (GW II, 1075–1094, hier 1078): „Ein grüner Jäger schießt im grünen Wald einen braunen Hirsch. Versuchen wir das rückgängig zu machen. Die Kugel fuhr aus dem Gewehr, der Blitz folgte, der Donner kam nach, der Hirsch brach ein, fiel zur Seite, sein Geweih prallte auf, dann lag er da. Rückfahrt: Der Hirsch richtet sich auf […].“ Auf den Rücklauf der Bilder bzw. ‚Umdrehen‘ der Filme hatte sich bereits Lukács in seinen Gedanken zu einer Ästhetik des Kinos (1913) (in: ders.: Schriften zur Literatursoziologie. Hrsg. v. P. Ludz. Frankfurt a. M. [u. a.] 1985. S. 75–81, hier S. 77) als Beispiel für Phantastik im Sinne einer aufgehobenen Kausalität bezogen: „wenn die Filme in umgekehrter Reihenfolge gedreht werden und Menschen unter den sausenden Autos aufstehen, wenn der Zigarrenstummel durch das Rauchen größer wird, bis schließlich im Moment des Anzündens die unberührte Zigarre in die Schachtel zurückgelegt wird.“ (ebd. S. 79) 173 R. Musil: Ansätze zu neuer Ästhetik (1925): „Vor allem muß festgehalten werden, daß nicht nur unser Verstand, sondern auch schon unsere Sinne ‚intellektuell‘ sind.“ (GW II, 1146) 174 Ebd. S. 1152; vgl. hierzu auch B. Balázs: Kitsch. In: ders.: Schriften zum Film. Bd. 2: Der Geist des Films (1930). S. 198–200.
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Andererseits wird die Annahme bestritten, „daß das Begriffliche, Intellektuelle“ – das ‚Reflektierenmüssen‘ (Georg Lukács) – „ein später Sündenfall der Kunst und das Formale, Sinnliche ihr Paradieszustand sei“.175 Schon die Kunst der Kinder und Wilden, so führt Musil auf der Grundlage von Lucien Lévy-Bruhl aus,176 richte sich nicht nur auf das SinnlichKonkrete, auf das als Wirklichkeit Wahrgenommene, sondern auf dessen Schatten, das „Gewusste[ ] und Gedachte[ ]“.177 Der Film als Kunst aber, so die „paradox[e]“ Definition zu Beginn des zweiten Abschnittes, sei „ein auf bewegte Schatten reduziertes Geschehen, das dennoch eine Illusion des Lebens erzeugt.“178 Kunst – hier der zeitgenössische Schwarz-Weißund Stumm-Film – wie Theorie sind ‚Abstraktionen‘, Abspaltungen vom Leben,179 wobei sich bei der Kunst die Reduktion des Konkreten180 mit einem „Zuwachs an Eindrücken“, einer „Zusammenfassung zu einem neuen Zusammenhang“,181 verbinde. Musil definiert dabei Kunst als „geistige[n] Besitz“, als „seelische[s] ‚Niveau‘ von Menschen unsrer Zeit“.182 Der „Geist des Menschen“, so sein zentraler Einwand gegenüber Balázs, sei entgegen aller „zeitgenössischen Anstrengungen“ – „im Tanz, auf der Bühne, durch Gegenstandsfreiheit der Darstellung in Malerei, Skulptur, Lyrik, durch intuitives Besinnen, Erziehung der Sinne, religiöse Renaissance und dergleichen mehr“ – nicht mehr „vom Verstand zu befrein und wieder in ein unmittelbares Verhältnis zur Schöpfung“ zu setzen.183 Und er widerspricht an dieser Stelle der Balázs’schen Grundthese einer medial durch das Kamera-Auge erzeugten visuell-körperlichen Unmittelbarkeit: „Es gibt neue Erlebnisse, aber keine neue Art des Erlebens.“184 Quantität
_____________ 175 R. Musil: Ansätze zu neuer Ästhetik (1925) (GW II, 1151). 176 In ebd. S. 1141 wird in zwei Fußnoten auf L. Lévy-Bruhl (Das Denken der Naturvölker“ (1910). Wien 1921) sowie E. Kretschmer (Medizinische Psychologie. Leipzig 1922) verwiesen. 177 Ebd. S. 1151. 178 Ebd. S. 1138. 179 Ebd. S. 1138f.: „Denn jede Kunst ist eine solche Abspaltung. Stumm wie ein Fisch und bleich wie Unterirdisches schwimmt der Fisch im Teich des Nursichtbaren […].“ Vgl. ebd. S. 1145: „Man würde sich irren, wollte man in der plötzlich erblickten Physiognomik der Dinge bloß die Überraschung durch das isolierte optische Erlebnis bemerken; die ist nur Mittel, es handelt sich auch da um die Sprengung des normalen Totalerlebnisses. Und diese ist ein Grundvermögen jeder Kunst.“ 180 Vgl. B. Balázs: Der sichtbare Mensch (1924). S. 142: „In der Reduktion besteht ja eigentlich die Kunst.“ 181 R. Musil: Ansätze zu neuer Ästhetik (1925) (GW II, 1139). 182 Ebd. S. 1149. 183 Ebd. S. 1145. 184 Ebd. S. 1148.
3. Ansätze zu neuer Ästhetik. Bemerkungen über eine Dramaturgie des Films (1925) 245
(das Sichtbarwerden des Unsichtbaren) schlägt hier nicht automatisch in Qualität (Erkenntnis) um. Erst durch den Anteil von Geist in der Kunst wird das ästhetische Erlebnis zur Erkenntnis. Die Differenz der ästhetischen Konzeptionen wird in der gewählten Metaphorik zum Bild: Lässt der Röntgenblick des Balázs’schen „Kinoapparat[s]“ das „schöne Fleisch der Gedankentiefe“ verschwinden und das „Knochengerüst“, das „Skelett“ der Fabel sichtbar werden,185 so ist in der Musil’schen Erzähltheorie die „Ebene des Fleisches“, die Fabel bzw. das, „[w]as dargestellt wird“,186 das Abstrahierbare, während die bedeutungsvollen ‚Gedankenbilder‘ selbst zum „Knochenbau“187 gehören. Diese Knochen aber – und nicht etwa das Herz, die Seele, das Gehirn oder andere anthropomorphe Topologien – sind der Ort des Lebens, der Leidenschaft. Der Weg zur Unmittelbarkeit führt hier nicht in das Dunkel des Lichtkinos und dessen Leinwandprojektionen, sondern allein durch die taghelle Reflexion im Unschärfebereich des Nicht-Ratioïden. Bei Balázs entspricht der Film als „Kunst der Konkretion“, die sich gegen den Intellektualismus, „gegen die mörderische Abstraktion“ des modernen Lebens sträubt,188 der „schmerzliche[n] Sehnsucht des Menschen einer verintellektualisierten und abstrakt gewordenen Kultur nach dem Erleben konkreter, unmittelbarer Wirklichkeit, die nicht erst durch das Sieb der Begriffe und Worte filtriert wird.“189 Musil ist anderer Auffassung: „Er [der Film] macht die Seele wohl scheinbar unmittelbar sichtbar und den Gedanken zum Erlebnis, in Wahrheit hängt dabei die Interpretation jeder einzelnen Gebärde aber von dem Reichtum an Interpretationshilfen ab, den der Beschauer mitbringt“.190 Und wenn Musil am Anfang seines Essays Balázs’ „ausgezeichnete[ ] Eingangsworte“ zustimmend zitiert, dann handelt es sich zugleich um den Versuch, Balázs mit Balázs zu widerlegen: „Doch kommt es darauf an, auf welchem Bewußtseinsniveau des Geistes einer ‚unbewußt‘ schafft …“191 Nicht der sentimentale Blick Balázs’ auf eine medial konstruierte ‚Neue Unmittelbarkeit‘, sondern dessen Methode wird Musil zum Paradigma für die Kritik der Kunst im Allgemeinen wie der Literatur im Besonderen. Balázs, selbst Dichter aus Leidenschaft wie Essayist und Kritiker
_____________ 185 186 187 188 189 190 191
B. Balázs.: Der sichtbare Mensch (1924). S. 48. R. Musil: Brief an Franz Blei [Anfang Juli 1911] (BR I, 84). Ders.: Brief an Franz Blei [nach 15. 7. 1911] (BR I, 87). B. Balázs: Der Geist des Films (1930). S. 216. Ders.: Der sichtbare Mensch (1924). S. 152. R. Musil: Ansätze zu neuer Ästhetik (1925). S. 1137. Ebd.; vgl. B. Balázs: Der sichtbare Mensch (1924). S. 10.
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aus Notwendigkeit,192 verbindet Theorie und Praxis miteinander: die Perspektiven der Ästhetik und Literaturgeschichte als wissenschaftlichbestallte Universitätsdisziplinen mit jener der nicht nach dem Leben, nach der Natur, sondern „in Atelier und Kaffeehaus schaffenden Künstler[ ]“.193 Unter Balázs’ Worten, so Hartmut Bitomsky in seiner Einleitung zu Der Geist des Films, „ist das Geräusch des Projektors zu hören“, denn dessen Theorie verlasse „nie das Stadium der Rezeption“: „Balázs macht uns keinen Augenblick vergessen, woher sein Wissen kommt: aus der Betrachtung von Filmen und nicht allein aus der Lektüre von Texten über Filme. Er löst sein theoretisches System nicht aus der Verkettung mit den Filmen heraus“.194 Der Blick des kritischen Beobachters Balázs ist dabei, so das Urteil Musils, „nicht nur scharf, sondern auch zärtlich“.195 Es ist ein Blick zwischen ‚Engagement und Distanzierung‘,196 ‚Appetit‘ und ‚Kontemplation‘, der an die liebevolle Zurichtung des Säuglings durch den Kannibalen in Walter Benjamins zehnter These zur Technik des Kritikers in der Einbahnstraße (1928) erinnert.197 Denn schließlich ist der Jäger nicht nur der „Freund der Tiere“, sondern auch der „Fleischer des Waldes“.198 Seine Lust ist nicht nur das Beobachten, sondern auch das Fangen199 bzw. Schießen. Der Jäger liebt sein Wild so sehr,200 daß er auch bereit ist, es ggf. zu töten. Die Pirsch selbst, das ‚Heranschleichen‘ und ,Belauschen‘, bein-
_____________ 192 R. Musil: Ansätze zu neuer Ästhetik (1925). S. 1138: „Er [Balázs] ist – in Ungarn ein Dichter von Namen, unter uns ein Fremder, da die Beziehungen zwischen der ungarischen und der deutschen Literatur sehr dürftig sind – nach Wien gekommen, […] mußte sein Brot als Journalist suchen und wurde so unter anderem Filmkritiker […].“ 193 Ebd. S. 1137f. 194 Vgl. H. Bitomsky: Einleitung. In: Béla Balázs: Der Geist des Films (1930). Frankfurt a. M. 1972. S. 10f. 195 R. Musil: Ansätze zu neuer Ästhetik (1925) (GW II, 1138). 196 N. Elias: Engagement und Distanzierung. Arbeiten zur Wissenssoziologie I. Hrsg. v. M. Schröter. Frankfurt a. M. 1987. 197 Vgl. W. Benjamin: Die Technik des Kritikers in dreizehn Thesen. In: ders.: Einbahnstraße (1928). Frankfurt a. M. 1955. S. 52. 198 Ders.: Der Mann ohne Eigenschaften. 1. Buch (1930): „Aber alle Berufsideologien sind edel, und die Jäger zum Beispiel sind weit davon entfernt, sich die Fleischer des Waldes zu nennen, nennen sich vielmehr den weidgerechten Freund der Tiere […].“ (MoE I, 301) 199 Vgl. ders.: Der Mann ohne Eigenschaften. 2. Buch (1930): „Und weil er [Ulrich] seinen Einfluß auf Frauen zu oft mit der Lust des Jägers am Fangen und Beobachten ausgenutzt und mißbraucht hatte […].“ (MoE I, 683f.) 200 Vgl. ders.: Robert Müller. In: Arbeiter-Zeitung (Wien)/Prager Presse, 3. September 1924 (GW II, 1131–1137, hier 1132): „Robert Müller hat alles Lebendige geliebt wie der Jäger sein Wild.“
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haltet laut Balázs „eine besondere Attitüde der Natur gegenüber, die immer mit einer ganz eigenen Erregung verbunden ist und die Stimmung eines seltenen Abenteuers hat.“ Aber auch das Erlebnis des Jägers ist keines der Natur, des Lebens: „Denn die Natur aus der Nähe zu sehen und gar sie unbemerkt zu sehen – ist gar nicht natürlich.“201 Es ist immer schon das Erlebnis des Beobachters. Es ist nicht ein Erlebnis der Jetztzeit, sondern ein bereits vergangenes, erzähltes. Es ist das Erlebnis des Beobachters, der sich beim Beobachten des Wildes beobachtet. Das Phänomen einer „absoluten Evidenz der Wirklichkeit“ beim Genre des Naturfilms konstituiert sich nach Balázs erst durch die mediale Apparatur des Kameraobjektivs, da sie den Beobachter auf „[m]ärchenhafte“ Weise für den Beobachtungsgegenstand „unsichtbar“ werden lässt: „Denn was wir sehen, mag Natur sein, aber daß wir es sehen, ist ganz und gar unnatürlich. Daß wir bei der Liebesidylle des Stachelschweins oder bei dem grauenhaften Drama des Schlangenkampfes so ganz nahe und unbemerkt dabei sind, ist erregend wie das Eindringen in ein für den Menschen verbotenes Reich.“202 Es ist die Wiederkehr des Heiligen im Tierfilm. Das Leben des Wildes aber, das beobachtet, erzählt und beschrieben wird, ist immer nur in der Großaufnahme der Kamera, im Fadenkreuz des Fernglases oder auf der Strecke, auf dem Seziertisch des Anatomen,203 zu sehen. Da es sich beim Gegenstand von Balázs’ Buch nicht um das Leben von Tieren, sondern von „Filmstücken“ handelt, deren Geschehen kein wirkliches, lebendiges ist, sondern eine durch die „lebendige Kamera“204 auf Schatten205 reduzierte Funktion, so eröffnet die kinematographisch erzeugte Unmittelbarkeit eine weitere Ebene der Vermitteltheit. Erstens gibt es, so Balázs, keine „objektive“, „natürliche Natur“,206 sondern immer nur eine mit dem bloßen Auge oder mit dem Objektiv wahrgenommene. Die Physiognomie, die mit der „Seele der Natur“ gleichgesetzt wird, ist
_____________ 201 B. Balázs: Der sichtbare Mensch (1924). S. 111. 202 Ders.; Der Geist des Films (1930). S. 123; vgl. auch ders.: Der sichtbare Mensch (1924): „[…] dann erscheint uns plötzlich ein ungewohntes, geheimnisvolles, unnatürliches Bild der Natur. Wir haben manchmal das Gefühl, ein tiefes, heiliges Geheimnis belauscht, ein verborgenes Leben ertappt zu haben, das oft die Heimlichkeit von etwas Verbotenem hat.“ 203 Vgl. B. Balázs’ iterative Rede vom „Filmoperateur“; so z. B. in ders.: Der sichtbare Mensch (1924): „Wir sehen das nah und deutlich wie der Operateur, der das zuckende Herz in der Hand hält und die letzten Schläge zählt.“ Vgl. auch W. Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936/55). S. 31f. 204 B. Balázs: Der Geist des Films (1930). S. 44. 205 Vgl. R. Musil: Ansätze zu neuer Ästhetik (1925) (GW II, 1138). 206 B. Balázs: Der sichtbare Mensch (1924). S. 99.
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daher „nicht etwas von vorneherein Gegebenes, daß man ‚einfach‘ photographieren kann“, vielmehr „bedeutet die Seele der Natur immer nur unsere eigene Seele, die sich in jener reflektiert. Diese Spiegelung geschieht aber durch die Kunst.“207 Zweitens ist erst „die Stilisierung der Natur“ mit den Mitteln der Großaufnahme, der Kameraeinstellung oder des Montageschnitts „die Bedingung dafür […], daß ein Film zum Kunstwerk werde.“208 Drittens aber, und das ist entscheidend, habe das Publikum immer auch „ein Bewußtsein des Technischen dem Film gegenüber“.209 Den Verlust der „Aura“, die Walter Benjamin in Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1935/36) als „einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag“210 kennzeichnen wird, konstatiert Balázs bereits 1930 in Der Geist des Films: „Es liegt im Wesen seiner Technik, daß der Film die Distanz zwischen Zuschauer und einer in sich abgeschlossenen Welt der Kunst aufgehoben hat. Es liegt eine unabwendbare revolutionäre Tendenz in dieser Zerstörung der feierlichen Ferne jener kultischen Repräsentation, die das Theater umgeben hat.“211 Mit dem „Kinoauge“ werden Dinge wie „Szenen unseres Alltags“ aus weiter Ferne in eine „unbekannte“ Nähe gerückt: „Wir gucken gewissermaßen immer durchs Schlüsselloch, und eine Erregung der Intimität ist dabei, Dinge zu sehen, die auf uns nicht vorbereitet sind.“212 Der Blick durch das „Schlüsselloch“, sei es nun das enge Objektiv der Kamera oder die breite Fläche der Kinoleinwand, wird wieder auf den Beobachter zurückreflektiert. Im Blick des Kameramanns wie des Kino-
_____________ 207 Ebd. S. 100. 208 Ebd. S. 97; vgl. W. Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936/55). S. 31: „Dessen [des Films] illusionäre Natur ist eine Natur zweiten Grades; sie ist Ergebnis eines Schnitts. Das heißt: Im Filmatelier ist die Apparatur derart tief in die Wirklichkeit eingedrungen, daß deren reiner, vom Fremdkörper der Apparatur freier Aspekt das Ergebnis einer besonderen Prozedur, nämlich der Aufnahme durch der eigens eingestellten photographischen Apparat und ihrer Montierung mit anderen Aufnahmen von der gleichen Art ist. Der apparatfreie Aspekt der Realität ist hier zu ihrem künstlichsten geworden und der Anblick der unmittelbaren Wirklichkeit zur blauen Blume im Land der Technik.“ Vgl. ebd. S. 32: „So ist die filmische Darstellung der Realität für den heutigen Menschen darum die unvergleichlich bedeutungsvollere, weil sie den apparatfreien Aspekt der Wirklichkeit, den er vom Kunstwerk zu fordern berechtigt ist, gerade auf Grund ihrer intensivsten Durchdringung mit der Apparatur gewährt.“ Die umfangreichen Kursivierungen in der Textvorlage werden in beiden Zitaten nicht wiedergegeben, B. N. 209 B. Balázs: Der sichtbare Mensch (1924). S. 107. 210 W. Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936/55). S. 15. 211 B. Balázs: Der Geist des Films (1930). S. 215f. 212 Ebd. S. 94.
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zuschauers verbinden sich emotionale Nähe und reflexive Distanz: „Der Blick des Films ist der nahe Blick des Beteiligten. Für den Blick des Films gibt es auch keinen absoluten und ewig gültigen Standpunkt. Denn der Film kennt die Bedeutung der wechselnden Einstellung und daher die Relativität der Bedeutung.“213 Zunächst ist der Blick auf die Kinoleinwand gekennzeichnet durch eine personale Perspektive des Miterlebens, der Affektion und Identifikation mit den handelnden Personen. Im Fokus des Kameraobjektivs werden die Augen von Rezipienten und Schauspieler miteinander verschmolzen: „Mein Blick und mit ihm mein Bewußtsein identifiziert sich mit den Personen des Films. Ich sehe das, wie sie von ihrem Standpunkt aus sehen. Ich selber habe keinen. Ich gehe in der Menge mit, ich fliege, ich tauche, ich reite mit. Und wenn einer dem anderen im Film in die Augen sieht, so blickt er von der Leinwand mir in die Augen. Denn die Kamera hat meine Augen und identifiziert sie mit den Augen der handelnden Personen. Sie schauen mit meinem Blick.“214 Gleichzeitig ist es jedoch immer auch eine Perspektive der sich selbst reflektierenden Distanz: „Daß jedes Ding eine bestimmte, einmalige Gestalt hat, ist eine Konstruktion des Denkens oder eine Erfahrung des Tastgefühls. Für das Auge haben die Dinge nur Erscheinung, also nur das Bild ihrer Gestalt. Und darum nicht eines, sondern hundert verschiedene Bilder aus verschiedenen Perspektiven gesehen. / Wir sehen im Bilde zugleich unsere Stellung, d. h. unsere Beziehung zum Gegenstand.“215 Doch nicht nur der Beobachter erlebt sich im Akt der Filmrezeption als Beobachter. Denn in der Kameraeinstellung spiegelt sich nicht nur – gemäß dem Motto „es gibt nichts Subjektiveres als das Objektiv“ – die „innere Einstellung des Menschen“,216 sondern auch das Trans-Subjektive, der „Geist der Zeit“: „Wenn der Geist der Zeit sich in den Formen unseres Lebens und unserer Künste spiegelt, so spiegelt sich in der Kamera diese Spiegelung und wird so bewußt.“217 Das Faszinosum der Gleichzeitigkeit von (scheinbarer) Unmittelbarkeit und technischer Vermitteltheit, Nähe und Distanz, das bei Balázs durch die modernen Kameratechniken erzeugt wird, spricht Musil dem Dichter und Filmkritiker Balázs ad personam zu wie der neu zu entwickelnden Kunst- und Literaturkritik programmatisch ad genre. Am Beispiel Ba-
_____________ 213 214 215 216 217
Ebd. S. 216. Ebd. S. 10. Ebd. S. 30. Ebd. S. 71. Ebd. S. 45.
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VII. Essayismus als Kritik des Kunstwerks
lázs entwickelt Musil das Paradigma einer Literatur, die Narration und Reflexion, mystisches Erlebnis und Kritik, Heranschleichen und sectio miteinander verbindet.
4. Bücher und Literatur (1926) oder Kritik als Funktion von Selbstreflexivität – Welt-Anschauung und Ideologiekritik Es ist gleich tödtlich für den Geist, ein System zu haben, und keins zu haben. Er wird sich also wohl entschließen müßten, beydes zu verbinden.218 (Friedrich Schlegel) Wie Thierry de Duve treffend bemerkt, lautet die ästhetische Frage der Moderne nicht: Was ist schön? Sondern: Was macht Kunst zu Kunst (und Literatur zur Literatur)?219 (Jean–François Lyotard)
Vor allem im ersten der beiden 1926 in Die Literarische Welt erschienenen Essays Bücher und Literatur 220 entwickelt Musil eine Vorstellung von Kritik weiter, die in Anlehnung an das frühromantische Konzept der progressiven Universalpoesie als der Literatur immanente selbstreflexive Funktion verstanden werden kann. Es handelt sich bei Bücher und Literatur, so die Vorbemerkung des Herausgebers, um eine „Serie“,221 das heißt eine Art Fortsetzungsessay in sechsteiliger Folge. In Formulierungen, die deutliche Referenzen auf die Herder’sche Preisschrift Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele aufweisen,222 polemisiert Musil gegen die zeitgenössische „Genieliteratur“, die sich durch „Moralkitsch“ und „Sentimentalität“
_____________ 218 F. Schlegel: Fragmente. In: Athenaeum. Hrsg. v. B. Sorg. Reprint der Ausgaben Berlin 1798/99/1800. Dortmund 1989. II. Teil. S. 207. 219 J.-F. Lyotard: Beantwortung der Frage: Was ist postmodern? In: Postmoderne und Dekonstruktion. Texte französischer Philosophen der Gegenwart. Hrsg. v. P. Engelmann. Stuttgart 1990. S. 33–49, hier S. 39. 220 Vgl. R. Musil: Bücher und Literatur [I]. In: Die Literarische Welt, 15., 22., 29. Oktober 1926 (GW II, 1160–1170) und ders.: Bücher und Literatur [II]. In: Die Literarische Welt, 26. November, 10./17. Dezember 1926 (GW II, 1170–1180). 221 Vgl. den Kommentar A. Frisés (GW II, 1820). 222 J. G. Herder: Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele (1778); eine direkte Herder-Rezeption lässt sich zwar nicht nachweisen (vgl. hierzu auch B. Nübel: „Gefühlserkenntnisse und Denkerschütterungen“. Für eine essayistische Didaktik. In: Wozu Kultur? Zur Funktion von Sprache, Literatur und Unterricht. Hrsg. v. G. Rupp. Frankfurt a. M. [u. a.] 1997. S. 103–117), eine über Franz Blei vermittelte erscheint dagegen durchaus möglich; vgl. F. Blei: Erzählung eines Lebens. Leipzig 1930. S. 93.
4. Bücher und Literatur (1926)
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auszeichne.223 Zugleich greift er jedoch auch die zeitgenössische, „impressionistische oder deskriptive Kritik“,224 „die Mein-Eindrucks-Kritik und die Kritik der Vokabelraketen, die Kritik des Mitschwingens und des Darauflosschwingens“, an.225 Der kongenialen Dichtermythologie wird ein funktionales Konzept von Literatur als „Synthese“ bzw. als „System“ entgegen gestellt.226 Literatur wird weder als Oberbegriff, als „Summe“ der Bücher, noch – in Abkehr von Vorstellungen der normativen Klassizität – als „Museum der Werke“ verstanden, sondern als deren „Funktion“, das heißt „das Wirken, das Leben der Bücher, ihre Zusammenfassung zu einer fortdauernden und sich steigernden Wirkung.“227 Dabei wird das Rezeptionserlebnis gleichzeitig als Oszillation von Subjekt und Objekt beschrieben wie als Wechselwirkung von Gefühlen und Gedanken. Diese komplexen Interaktionen beschränken sich nicht auf das Hier und Jetzt im Akt der Lektüre, der Bildbetrachtung, des Zuhörens, sondern wirken fort: „Man übernimmt gedankliche Elemente […]; man selbst erlebt Einfälle, Klarstellungen, Ausblicke, welche durch das Lesen angeregt wurden und bestehen bleiben, wenn der Anlaß auch längst vergessen ist; man gerät ins Fühlen und faßt die Empfindungen, von denen man angesteckt wurde, entweder als Erfahrung in Worte oder als Vorsätze in eine feste Einstellung zusammen oder überläßt sie sich selbst, die dann, ihre Energie langsam und verstreuend abgebend, in den übrigen Gefühlen verschwimmen; man bewahrt auch das Ungewisse und Unbeschreibliche der Werke – den Rhythmus, die Gestalt, den Gang, das Physiognomische des Ganzen – entweder eine Weile rein mimetisch, so wie man von eindrucksvollen Menschen nachahmend angesteckt wird, als innere Gebärde sozusagen, oder man macht den Versuch, es in Worte zu fassen“.228 Hierin, in dem Versuch einer „Übersetzung des teilweise Irrationalen ins Rationale“,229 in der Transformation der Objekt- in eine Metasprache, liegt, so Musil, die Aufgabe der Kritik. Die ,lebendige Ordnung‘, welche in
_____________ 223 224 225 226
R. Musil: Bücher und Literatur [I] (GW II, 1161). Ders.: Motive – Überlegungen (Nachlass) (GW II, 875). Ders.: Bücher und Literatur [I] (1926) (GW II, 1169). Vgl. ebd. S. 1167: „In einem solchen Zeitpunkt darf man daran erinnern, daß es ein System, eine Synthese gibt, die wichtiger als Dichter, umfassender und dauernder als Strömungen ist: die Literatur.“ 227 Ebd. 228 Ebd. S. 1168; Hervorhebung v. B. N.; vgl. B. Balázs’ Theorie der Physiognomie in ders.: Der sichtbare Mensch (1924). 229 R. Musil: Bücher und Literatur [I] (1926) (GW II, 1170).
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VII. Essayismus als Kritik des Kunstwerks
Wege der Kunstbetrachtung (1922) die Kritik gegenüber, oder vielmehr aus der Kunst zu schaffen hatte, wird hier – in impliziter Referenz auf Friedrich Schlegel – umschrieben als „ein System […], welches zugleich wandelbar und fest ist“.230 Dessen Koordinaten allerdings, die Maßstäbe der Kritik, stehen dabei ebenso wenig fest wie die der Moral.231 Weder sind sie apriorisch gegeben noch deduktiv zu gewinnen, sondern allenfalls immanent zu generieren: Denn das System der Kritik ist kein der Literatur äußerliches, sondern dieser immanent: „Kritik in diesem Sinn ist nichts über der Dichtung, sondern etwas mit ihr Verwobenes.“232 Kritik, so gesehen, so die Zwischenüberschrift des letzten Abschnitts, ist nicht das Andere der Literatur, sondern schreibt den Text der Literatur fort. Sie entsteht „durch ein Kreuz und Quer, durch die Bemühungen vieler, durch einen endlosen Prozeß von Revisionen, ja, […] letzten Endes durch die kritisierten Bücher selbst“.233 Da der Kunst ihre eigene Kritik immanent ist und sie zugleich den unendlichen Prozess ihrer kritischen Rezensionen richtet, werden Subjekt und Objekt der Kritik, wenn schon nicht austauschbar, so doch zumindest teilweise reversibel. Sie sind beide Elemente eines als offene, dynamische Gestalt konzeptualisierten Zusammenhangs, der mehr ist als die Summe seiner Teile: „Wenn man aber unter Literatur die Summe der Dichtungen versteht, ist auch sie kein Ganzes […]. Ein solches Aggregat von Lesern und Büchern wird erst dann zur Literatur, wenn zu der Summe der Werke der Inbegriff der verarbeiteten Leseerfahrung hinzukommt. Oder mit anderen Worten: die Kritik.“234 Das ‚Ganze‘ ist hier allerdings nicht die verloren geglaubte Totalität von Ding und Wort, Bild und Begriff, sondern vielmehr die qua Erlebnis und Reflexion gleichzeitig verlaufende Poiesis wie Aisthesis. Zugleich verlässt Kritik als „verarbeitetete[ ] Leseerfahrung“ das Schattenreich der Kunst. Denn als „Ausdeutung der Literatur“ ist sie zugleich immer auch „Ausdeutung des Lebens“,235 also deren Theorie im Sinne von Welt-Anschauung. Sie, die Kritik ist es, die die Bilder zum Sprechen bringt und somit das ‚negative‘ bzw. Möglichkeiten entwerfende Potential der Kunst mit den Wirklichkeiten des Lebens konfrontiert.
_____________ 230 Ebd.; vgl. F. Schlegel: Fragmente (1798/99/1800). II. Teil. S. 207. 231 Vgl. R. Musil: Bücher und Literatur [I] (1926): „Die Lage der Kritik ist indes keine schwierigere als die der Moral.“ (GW II, 1169) 232 Ebd. 233 Ebd. S. 1170. 234 Ebd. S. 1169. 235 Ebd. S. 1169f.
4. Bücher und Literatur (1926)
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Im zweiten der 1926 in Die literarische Welt unter dem Titel Bücher und Literatur publizierten Essays setzt sich Musil am Beispiel von Paula Groggers Das Grimmingtor (1926) kritisch mit einem Genre auseinander, dessen Stärke nicht gerade in der Funktion der immanenten Selbstreflexion anzusiedeln ist: dem Heimatroman. Die Grenze, an die hier die Kritik stößt, so Musil, ist weniger eine ihrer ästhetischen Maßstäbe oder aber der Literatur selbst, hier des österreichischen Bauernromans, sondern eine des Lebens, oder genauer, seiner Ideologien: „das Leben besteht zum großen Teil aus Büchern, am Ende wird also auch literarische Kritik, wenn sie bloß ihren Geschäften im engern Sinn schärfer nachgeht, ohne große Debatten von selbst dazu kommen, den Weltanschauungswucherungen Kräfte zu entziehen, die sie ihnen bisher sorglos gewährt hat.“236 Kritik als „Ausdeutung der Literatur, die in Ausdeutung des Lebens übergeht“,237 ist somit nicht nur Teil der literarischen Wirkung, die wiederum auf Literatur zurückwirkt. Als Literaturkritik ist sie immer auch Lebens- bzw. Ideologiekritik. Sie zielt nicht rein philologisch auf die Herstellung einer als ursprünglich bzw. authentisch angenommenen Textgestalt noch auf die eines vermeintlich intendierten, immanenten Textsinnes, sondern richtet sich auf die historische Realität selbst: auf Menschen, Texte, Bücher, Kommunikationsformen, Institutionen. Die als Lebens- bzw. Ideologiekritik verstandene Literaturkritik aber greift auf die Position der Aufklärung zurück, welche mit den Maßstäben der Vernunft nicht nur auf die Qualität der Literatur, sondern zugleich auch auf die ihrer Rezipienten einwirken wollte und die Funktion der Kritik als „Erzieheramt“238 verstand. Kritik als „Ausdeutung des Lebens“,239 als Welt-Anschauung wie als Ideologie- bzw. Wissenskritik, verbindet die Funktion des Erziehers mit der des Richters. Dabei wird die Dimension des Ästhetischen, die Frage ‚was ist schön?‘, dem Ethos, der Frage nach dem rechten Leben, untergeordnet. In einer frühen Tagebuchnotiz geht Robert Musil der Frage nach der Funktion und den Maßstäben der Kritik nach: „Was ist schön? Vielleicht gibt es heute nichts mehr, das im früheren Sinn schön ist. – Oder
_____________ 236 Ders.: Bücher und Kritik [II] (1926). S. 1177. 237 Ders.: Bücher und Kritik [I]. (1926). S. 1169f. 238 Ders.: Tagebücher. Heft 3 (1899?–1905/06) (TB II, 52); vgl. hierzu auch das Selbstverständnis der Kritischen Theorie als Gesellschaftslehre bei M. Horkheimer (Traditionelle und Kritische Theorie (1937). Frankfurt a. M. 1986), die programmatisch von einem traditionellen Theorieverständnis abgehoben wird, das sich an den Postulaten der strikten Trennung von Subjekt und Objekt, der Wertfreiheit und der Praxisabstinenz orientiert. 239 R. Musil: Bücher und Literatur (1926) (GW II, 1170).
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VII. Essayismus als Kritik des Kunstwerks
vielleicht brauchen wir keine solche Schönheit mehr. Oder darf man die Kunst zu solchen Erziehungszwecken gebrauchen.“240 Das seit den Querelles des Anciens et des Modernes bekannte Problem des auf ein je ne sais quoi gegründeten Kunsturteils, das sich nicht rational ableiten, sondern nur subjektiv gewinnen und inter- bzw. transsubjektiv vertreten lässt, wird auch hier wieder aufgeworfen: „Kritik kann nur subjectiv sein.“241 Eine zu schaffende „neue Objectivität“ aber kann sich Musil „nur synthetisch erreichbar vorstellen.“ Voraussetzung einer Kritik, welche das „heute so gründlich verekelte Erzieheramt“ wieder aufnähme und somit ethische wie ästhetische Ansprüche verbände, wäre sowohl eine neue Soziologie („Man müßte unsre heutigen Lebensbedingungen genau untersuchen“) wie eine „neue Ästhetik“, welche stärker als bisher auch die Technik, das Gemachte der Künste, zu berücksichtigen hätte.242 „Kritik soll“, heißt es in einer späteren Tagebuchnotiz, „Werte setzen und Wertvolles von Wertlosem unterscheiden lehren.“243 So erklärt sich auch, warum Musil, der sich zu seinem eigenen Bedauern nie eingehender mit ästhetischen Fragen auseinandergesetzt hat,244 das Verhältnis von „Kritik u[nd] Ästhetik“ in den Notizen aus dem Nachlass wie folgt bestimmt: „Ästhetik als Hilfswissenschaft der Kritik. Nicht Kritik Vorstadium der Ästhetik.“245 Kritik steht hier nicht in einem Verhältnis des Nicht-Ganz oder Noch-Nicht zum Wissenschaftsanspruch der Ästhetik. Das Urteil liegt vielmehr seiner Begründung voraus. Dieser essayistische Johannes verkündet keinen Messias einer neuen Ästhetik.
_____________ 240 241 242 243 244
Ders.: Tagebücher. Heft 3 (1899?–1905/06) (TB I, 52). Ebd. S. 51. Ebd. S. 52. Ders.: Tagebücher. Heft 10 (1918–1921) (TB I, 446). Vgl. hierzu u. a. ders.: Tagebücher. Heft 33 (1937–1941): „Zu meinen ‚ästhetischen‘ Grundsätzen gehört seit je dieser: Von jeder Kunstregel ist auch das Gegenteil möglich. Keine Kunsterkenntnis hat Anspruch auf volle Wahrheit. Od. ähnl. / Da ich nichts weniger als ein Skeptiker bin, bin ich von da auf Versuche der Begriffsbildung wie Ratioïd und Nicht-Ratioïd gekommen und späterhin auf das mannigfaltige Verhältnis von Gefühl u[nd] Wahrheit, wie es im M. oE. angedeutet ist. Ja. ich habe eine ganze Lebensphilosophie angebaut. / Die Auseinandersetzung mit der wiss. Ästhetik fehlt aber noch in meinem Leben, zb. mit dem Begriff Geschmacksurteil.“ (TB I, 929) 245 Ders.: Motive – Überlegungen (Nachlass) (GW II, 874).
5. Die Alfred Kerr-Essays (1927/28)
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5. Die Alfred Kerr-Essays (1927/28) oder die Hebamme als „Anthropoetaphage“ mit erzieherischer Vernunft Von meiner Hebammenkunst nun gilt übrigens alles, was von der ihrigen [der Hebammen]; sie unterscheidet sich aber dadurch, daß sie Männern die Geburtshilfe leistet und nicht Frauen, und daß sie für ihre gebärenden Seelen Sorge trägt, und nicht für Leiber. 246 (Sokrates) Der Schwerpunkt dieser Dinge liegt mir so fern wie die Menschenesserei in der Südsee […].247 (Alfred Kerr) Irgendwann ohne daß sie [die Sklaven] im geringsten den Zeitpunkt ahnen – denn man handelt geheim u[nd] mit List um ihrem Fleisch nicht zu schaden – erhalten sie plötzlich einen Schlag ins Genick. Nur manche, die man bei Zeremonien braucht, werden mit Wissen getötet.248 (Robert Musil) Es drang Ulrich, während er mit vollem Verständnis für die architektonische Feinheit das heilige Bauwerk betrachtete, überraschend lebhaft ins Bewußtsein, daß man genau so leicht Menschen fressen könnte, wie solche Sehenswürdigkeiten zu bauen oder stehen zu lassen.249 (Robert Musil) Denn das menschliche Wesen ist ebenso leicht der Menschenfresserei fähig wie der Kritik der reinen Vernunft […].250 (Robert Musil) Echte Polemik nimmt sich ein Buch so liebevoll vor, wie ein Kannibale sich einen Säugling zurüstet.251 (Walter Benjamin)
Am Beispiel des Kritikers Alfred Kerr alias Alfred Kempner (1867–1948) befragt Robert Musil das paradoxale Verhältnis von Subjektivität und Wertsetzung einer Kritik, „welche alle Entscheidungen aus den Grundregeln ihrer eigenen Einsetzung hernimmt“,252 und bestimmt die erzieheri-
_____________ 246 Platon: Theaitetos 150a. In: ders.: Werke in 8 Bde. Hrsg. v. G. Eigler. Bd. 6: Theaitetos. Der Sophist. Der Staatsmann. Darmstadt 1970. S. 27. 247 A. Kerr: Robert Musil. In: Der Tag (Berlin). Nr. 647, 21. Dezember 1906. Abgedr. in: K. Corino: Robert Musil und Alfred Kerr. Der Dichter und sein Kritiker. In: Robert Musil. Studien zu seinem Werk. Hrsg. v. K. Dinklage zus. mit E. Albertsen u. K. C. Reinbek bei Hamburg 1970. S. 236–284, hier S. 244. 248 R. Musil: [Menschenfressergeschichte] [1922/23?] (GW II, 780–783; hier 782). 249 Ders.: Der Mann ohne Eigenschaften. 1. Buch (1930) (MoE I, 130). 250 Ebd. S. 361; vgl. auch ebd. S. 414 sowie ders.: Das hilflose Europa oder Reise vom Hundertsten ins Tausendste (1922) (GW II, 1081). 251 W. Benjamin: Die Technik des Kritikers in dreizehn Thesen. In: ders.: Einbahnstraße (1928). S. 52. 252 I. Kant: Kritik der reinen Vernunft. Hrsg. v. B. Erdmann. 5. Aufl. Berlin 1900. S. 549.
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VII. Essayismus als Kritik des Kunstwerks
sche Funktion bzw. ethische Tendenz der Kritik als eine der immanenten Selbstreflexion. Anlässlich eines Lessing-Vortrags in Wien, bei welchem sich der ‚Poetenfresser‘ Alfred Kerr, der „größte[ ] Kannibale[ ] (Anthropoetaphage[ ]) aus Berlin West“ von seiner „niedlich[en]“ Seite gezeigt hat, zeichnet Musil in einem posthumen Nachtrag zu einem Vortrag253 ein „Bild aus dem Gedächtnis“.254 Mehr noch als die beiden kurz zuvor veröffentlichten Texte über Alfred Kerr bringt das Fragment ein „Verhältnis der Bewunderung u.[nd] des Widerspruchs“ gegenüber seinem einstigen Mentor zum Ausdruck.255 Bei Gelegenheit seiner in der Literarischen Welt publizierten Laudatio Zu Kerrs 60. Geburtstag (1927)256 hatte Musil die essayistische Kernthese entwickelt: „Kritik und fragmentarisch-aphoristische Form hängen in ihrem Wesen zusammen.“257 Abgeleitet wird diese aus einem auf den ersten Blick ebenso formalem wie bloß ephemerem Element, einer „Kleinigkeit“258 der Kerr’schen Kritiken: deren römische Ziffern werden als „das sinnfälligste physiognomische Kennzeichen eines Stils“ gelesen,259 welchen Musil als vorbildlich260 und ebenso nachahmenswert wie unnachahmlich bestimmt.261 Mit den „unpoetisch[en]“, da eher an eine wissenschaftliche Abhandlung erinnernden, „römischen Erstens, Zweitens, Drittens…“262 habe Kerr das Prinzip der Ökonomie, genauer das „Taylor-
_____________ 253 R. Musil: Nachtrag zu einem Vortrag. In: ders.: Alfred Kerr [1928?] (GW II, 1405– 1408, hier 1405). 254 Ebd. S. 1406. 255 Ebd. S. 1405. 256 Vgl. hierzu auch ders.: Brief an Alfred Kerr vom 30. 9. 1927: „Da Fischer das Geburtstagsbuch schon anzeigt, spreche ich ja wohl von keinem Weihnachtsgeheimnis mehr. Es hat mir sehr leid getan, daß ich darin nicht vertreten sein konnte […]. Ich hoffe, daß ich Ihnen meine Verehrung auch als Einzelgänger werde bezeugen können.“ (BR I, 425f.) 257 Ders.: Zu Kerrs 60. Geburtstag. In: Die Literarische Welt, 22. Dezember 1927 (GW II, 1180–1186, hier 1181). 258 Ebd. S. 1180. 259 Ebd. S. 1181. 260 Das Beispiel Kerr scheint, soviel ist Musils Tagebuchnotizen zu entnehmen, bereits vor dessen Törleß-Rezension stil- wie urteilsbildend auf den jungen Autor gewirkt zu haben; vgl. ders.: Tagebücher. Heft 24 (1904/05) zu Kerrs Bemerkungen über die Schauspielkunst (1904): „Ich weiß nun, worin Stil zu suchen ist, und was literar. Impressionismus bedeutet.“ (TB I, 123) 261 Vgl. ders.: Zu Kerrs 60. Geburtstag (1927) (GW II, 1181) sowie ders.: Alfred Kerr [1928?]: „[…] Satzbau und Wortschatz ist rasch gestohlen, aber diesen Bogen des Odysseus auch spannen konnte noch keiner der Freier.“ (GW II, 1407). 262 Ders.: Zu Kerrs 60. Geburtstag (1927) (GW II, 1182).
5. Die Alfred Kerr-Essays (1927/28)
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System“263 in die Kritik eingeführt und somit das „scheinbar Launenhafte zugleich [als] unübertrefflich vernünftig“ erwiesen.264 Vernünftig ist hier allerdings nicht die Ordnung der Gedanken im Sinne einer hypotaktisch gegliederten Abfolge der Argumente, sondern deren Organisation nach dem Prinzip der wissenschaftlich-funktionalen Betriebsführung. Die „aphoristische Schreibweise“ löse das Ganze, so zum Beispiel eine aus Anfang, Mitte und Ende bestehende ‚Geschichte‘, zu einem „Ganzen aus Fragmenten“ auf. Die Zerlegung folge dabei nicht dem vernunftgemäß-schulphilosophischen Prinzipien der Deduktion, sondern einer anderen, nur scheinbar ‚launenhaften‘ Vernunft, nicht einem logischen Denksystem, sondern der Gedankenökonomie des Fragments: „Ein Gedanken- und Gefühlsfaden, nicht nach der ganzen Länge abgespult, sondern in vier Fäden zerschnitten, hat die vierfache Kraft, durch Anziehung luftiger Materie seinen Gegenstand zu bilden. Er verhält sich, um es weniger schön auszudrücken, wie ein Regenwurm, dem Köpfe und Schwänze nachwachsen.“265 Alfred Döblin hatte 1917 im Märzheft der Neuen Rundschau mit der Metapher des zerschnittenen Regenwurms dem kausal-mechanistisch konstruierten psychologischen Entwicklungsroman ein modernes Romanprogramm entgegengehalten: „Wenn ein Roman nicht wie ein Regenwurm in zehn Stücke geschnitten werden kann und jeder Teil bewegt sich selbst, dann taugt er nicht.“266 Diese gewissermaßen dezentrierte, ‚zerstückte‘ organologische Metaphorik, das Bild des Regenwurms, welche die Kerr’sche „Kunst des Fragments“267 kennzeichnet, wird um zwei geometrische, das Verhältnis von Umfang und Inhalt umschreibende Formen ergänzt: das Rechteck268 und den Kreis. Die Figur des Kreises, die in der Forschungsliteratur immer wieder als charakteristisches Strukturmerkmal des Essays genannt wird,269 ist schon
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Ebd. S. 1180. Ebd. S. 1181. Ebd. S. 1181. A. Döblin: Bemerkungen zum Roman. In. Die neue Rundschau 28. Bd. 1 (1917). S. 410–413. Abgedr. in: ders.: Ausgewählte Werke in Einzelbänden: Schriften zu Ästhetik, Poetik und Literatur. Hrsg. v. E. Kleinschmidt. Olten/Freiburg 1989. S. 123– 127, hier S. 126. 267 Ders.: Zu Kerrs 60. Geburtstag (1927) (GW II, 1182). 268 Ebd. S. 1181: „Wenn man ein Rechteck in vier Rechtecke zerlegt, so gewinnt man bei gleichem Inhalt den vierfachen Umfang; wenn es aber ein bedrucktes Rechteck ist, so gewinnt man bei gleichem Umfang den vierfachen Inhalt.“ 269 Vgl. G. Haas: Studien zur Form des Essays und zu seinen Vorformen im Roman. Tübingen 1966. S. 25; L. Rohner: Der deutsche Essay. Materialien zur Geschichte und Ästhetik einer literarischen Gattung, Neuwied/Berlin 1966. S. 42f.; W. Müller-Funk:
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VII. Essayismus als Kritik des Kunstwerks
bei Walter Benjamin in Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik (1919/20) mit einem Zitat aus Friedrich Schlegels Philosophischen Vorlesungen als methodologischer Ausgangspunkt einer „zyklischen Philosophie“ beschrieben worden: „Daher muß die Philosophie wie das epische Gedicht in der Mitte anfangen, und es ist unmöglich dieselbe so vorzutragen und Stück für Stück hinzuzählen, daß gleich das Erste für sich vollkommen begründet und erklärt wäre. Es ist ein Ganzes, und der Weg es zu erkennen, ist also keine grade Linie, sondern ein Kreis.“270 Auch Musil vergleicht in seinem ‚steckengebliebenen‘ Fragment271 die Sprache des Essayisten Kerr mit der Kreisform. Diese entspricht allerdings nicht dem klassizistischen Ideal der Hogarth’schen Schönheitslinie. Vielmehr wird sie als „die bizarrste Prosa unter uns Deutschen“ gekennzeichnet und mit der modernen Malerei verglichen: „ihr Wesen ist der Kreis, die Linie, welche den kleinsten Umfang mit dem größten Inhalt umspannt, aber diese Kreisform sieht bei ihm [Kerr] manchmal so aus, als sei sie von Klee gezeichnet, so scheinbar kraus schieben, stoßen und heben sich zuweilen ihre Worte“.272 Die Vorstellung einer (organischen) Linie („Regenwurm“) bzw. einer Kreisform wird ebenso aufgerufen wie wieder demontiert durch ein Prinzip der Zerlegung und Zerstückelung, welches Abstraktion mit Sinnlichkeit und Anschaulichkeit verbindet. Der festgestellte Zusammenhang von „Kritik und fragmentarischaphoristische[r] Form“273 verweist nicht auf etwas bloß Formales, Äußerliches, sondern zugleich auf etwas ‚Wesentliches‘: den schwankenden Boden, das fehlende Zentrum der Urteilsbegründung. Die „kritische Kraft“ ist, so Musil, ebenso eine „Kraft des Erkennens“ wie des Abbrechens. Das dabei entstehende fragmentarische Ganze bzw. „Ganze aus Fragmenten“ ist Ausdruck der modernen Kontingenzerfahrung und somit Ausdruck eines „Gefühls des Ungenügens, daß auf jede Antwort eine neue Frage möglich ist, daß jeder Standpunkt nur eine Ecke in einem Po-
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Erfahrung und Experiment. Studien zu Theorie und Geschichte des Essayismus. Berlin 1995. S. 282 u. a. F. Schlegel: Zur Logik und Philosophie (1796). In: ders.: Philosophische Vorlesungen aus den Jahren 1804 bis 1806. Nebst Fragmenten vorzüglich philosophischtheologischen Inhalts. Hrsg. v. C. J. H. Windischmann. Bonn 1837. Bd. 2. S. 407; vgl. W. Benjamin: Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik (1919/20). S. 38. Vgl. R. Musil: Alfred Kerr [1928?] über die „Tendenz zum Steckenbleiben“ (GW II, 1405). Ebd. S. 1407. Ders.: Zu Kerrs 60. Geburtstag (1927) (GW II, 1181).
5. Die Alfred Kerr-Essays (1927/28)
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lygon von Standpunkten ist, jeder Grund seine Gegengründe hat“.274 Das, was Kerr zum Kritiker macht, ist aber, so Musil in seiner Ankündigung von Kerrs Lessing-Vortrag Heute spricht Alfred Kerr. Ein Porträt des berühmten deutschen Kritikers (1928), die „Fähigkeit“, selbst auf unsicherem, sich stetig verändernden Terrain „recht zu behalten!“275 Diese „kritische Fähigkeit“ par excellence beanspruche keine „[o]bjektive Giltigkeit“, sondern gründe sich allein auf „Subjektivitäten“.276 Diese – genannt werden beispielsweise Kerrs „Angriffe gegen die Dichtung“ – seien jedoch nicht bloßer „Ausfluß einer Persönlichkeit […], sondern Ergebnis einer Sache.“277 Im Essayfragment Alfred Kerr erwägt Musil im Modus des „vielleicht“, ob sich die Subjektivität des Kritikers als Fähigkeit bestimmen lässt, „den vielfältigen Eindrücken das Rückgrat herauszuziehn, die ideelle Axe [sic!] des Werks“.278 Auch wenn Musil Kerr immer wieder zum „Dichter“279 erklärt und diesem neben der Vorliebe für „eine neue Sorte Spickaal oder englischen Tabaks“280 auch Seele und Schicksal zuschreibt, so „‚formt‘“281 Kerr doch nicht, sondern er baut „um seinen zentralen Axeneindruck“ neu auf,282 „er entdeckt“.283 Der Kritiker Kerr ist kein Schöpfer, jemand, der einem Gegenstand einen Körper aus Lehm und eine Seele gibt: Er ist ein Anthropoetaphage, der sich seinen Gegenstand einverleibt, ihn zersetzt, demontiert, seziert. Aber er baut ein Werk quasi aus der herausgezogenen ideellen Achse, „aus Wesens- und oft auch Unwesensmomenten“,284 auch wieder auf. Die ars critica als „Kunst des Fragments“285 zeichnet sich aus durch iudicium und nicht durch fictio. Ihre Aufgabe ist nicht das Erfinden, sondern das Finden (inventio), das Entdecken, Zerstücken (consectio) und Neuordnen (dispositio) eines Gegebenen, bereits Vorhandenen.
_____________ 274 Ebd. 275 Ders.: Heute spricht Alfred Kerr. Ein Porträt des berühmten Kritikers: In: Der Tag. Wien, 31. März 1928 (GW II, 1186–1189, hier 1188). 276 Ders.: Alfred Kerr [1928?] (GW II, 1406). 277 Ebd. S. 1408. 278 Ebd. S. 1406f. 279 Vgl. Ders.: Heute spricht Alfred Kerr (1928): „In der Tat ist Kerr Dichter.“ „[…] aber er ist auch ein bedeutender Lyriker […].“ (GW II, 1188). Vgl. auch ders.: Alfred Kerr [April 1928?]: „Kerr ist Dichter.“ (GW II, 1405) 280 Ders Interview mit Alfred Polgar. In: Die Literarische Welt, 5. März 1926 (GW II, 1154–1160, hier 1157). 281 Ders.: Alfred Kerr [1928?] (GW II, 1408) 282 Ebd. S. 1407. 283 Ebd. S. 1408. 284 Ebd. S. 1407. 285 Ders.: Zu Kerrs 60. Geburtstag (1927) (GW II, 1182).
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VII. Essayismus als Kritik des Kunstwerks
Kommen wir auf die Laudatio Zu Kerrs 60. Geburtstag (1928) zurück. Gegenüber der Beliebigkeit der durchschnittlichen zeitgenössischen Tageskritik zeichnen sich die Essays Alfred Kerrs, so Musil, durch ihre „Zeitbeständigkeit“ aus: „denn es steht kaum ein Wort in ihnen, das seither seine Gültigkeit verloren hätte.“286 Und am Beispiel von Kerrs Ibsen-Kritik hebt Musil die Aktualität der Kerr’schen Kritiken noch einmal hervor: „Das sind Fragen, Formen, Inhalte des Lebens, die heute genau so der Untersuchung bedürfen wie einst.“ Der „Unterschied zwischen der Kritik des Kunstwerks und der Kritik als Kunstwerk“287 liege jedoch nicht nur in der Abgrenzung vom „Tagesschrifttum“288, das heißt in der „Unabhängigkeit“289 vom Tagesgeschehen bei gleichzeitiger Aktualität der besprochenen Sachverhalte wie der angewandten Methode,290 sondern auch in ihrem Vergleichsmaßstab. Kerr habe, so heißt es bei Gelegenheit von dessen Lessing-Vortrag, „niemals die Literatur an der Literatur geprüft, sondern tat es immer am Urmaß des Lebens.“291 Kerrs Kritiken seien daher nicht nur „Kritiken des Theaters, der Literatur“, sondern immer auch Kritiken des Lebens.292 Das Leben, bei Lukács die Seele und das Schicksal,293 wird hier nicht einer Literatur im engeren Sinn von Dichtung (bei Lukács: Form) gegenübergestellt. „Was wir Leben und was wir Literatur nennen, sind zwei verschiedene wie verwandte geistige Gestaltungen des gleichen Materials“, wobei sich das Leben – so Musil – gegenüber der Literatur durch ein Minus an „sentimentale[r] Konvenienz“ auszeichne.294 Dem Kritiker Kerr
_____________ 286 Ders.: Heute spricht Alfred Kerr (1928) (GW II, 1186); vgl. ders.: Alfred Kerr [1928]: Kerrs Bücher würden, „nach 1500 Jahren philologisch ausgegraben, das Aroma unsrer Epoche köstlich ausströmen“ (GW II, 1406) sowie ders.: Tagebücher. Heft 30 unter dem 28. 2. 1930: „Ich gebrauchte die etwas unglückliche Unterscheidung zw.[ischen] Literatur und Journalismus, etwa in dem Sinn zweier Kategorien, die trotz aller Übergänge nichts miteinander zu tun hätten. (Dabei fällt mir jetzt ein Kriterium ein: Was man gesammelt und nach zwei Jahren noch lesen kann, ist nicht nur Journalismus)“ (TB I, 706). 287 Ders.: Zu Kerrs 60. Geburtstag (1927) (GW II, 1184); Hervorhebung v. B. N. 288 Ders.: [Über den Essay] [1911/12?] (GW II, 1337). 289 Ders.: Zu Kerrs 60. Geburtstag (1927) (GW II, 1184). 290 Vgl. ebd. S. 1185. 291 Ders.: Heute spricht Alfred Kerr (1928) (GW II, 1187). 292 Ders.: Zu Kerrs 60. Geburtstag (1927) (GW II, 1182). 293 Vgl. G. Lukács: Gelebtes Denken. Eine Autobiographie im Dialog (1971). Hrsg. v. I. Eörsi. Frankfurt a. M. 1981. S. 48: „Der impressionistische Stil Alfred Kerrs machte großen Eindruck auf mich. […] Ich schrieb dann [als Oberprimaner] monatlich im ‚Magyar Szalon‘ im Stil Alfred Kerrs Theaterrezensionen.“ 294 R. Musil: Heute spricht Alfred Kerr (1928) (GW II, 1187f.).
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wird von ‚seinem Dichter‘ Musil eine „Seele“ zugesprochen.295 Er wird als unsentimentale, das heißt „lebenslustige“, im Leben stehende, dem Leben zugewandte Persönlichkeit gekennzeichnet, die, laut Musils Interview mit Alfred Polgar (1926), „allezeit eine neue Sorte Spickaal oder englischen Tabaks jeder neuen Sorte deutscher Philosophie oder Dichtung“ vorziehe.296 Der literarische Zögling Musil hat sich an seinem kritischen Mentor Kerr abgearbeitet. Nach dem Prinzip des Zerlegens bzw. Fragmentarisierens („Regenwurm“), nämlich in fünf mit römischen Ziffern versehene Absätze gegliedert, war bereits jene Besprechung der Verwirrungen des Zöglings Törleß organisiert, die Alfred Kerr am 21. Dezember 1906 im Berliner Tag veröffentlicht hatte.297 Das derart zerstückte Ganze – der Musil’sche Erstlingsroman wie auch dessen Autor – wird mit dem Kerr’schen Qualitätsgütesiegel versehen gut auf dem Literaturmarkt platziert und der literarische Zögling weiß sich seinem kritischen Mentor „unendlich zu Dank verpflichtet.“298 Noch 1942 wird sich der Ältere in seinem Londoner Nekrolog auf den im Genfer Exil verstorbenen Jüngeren erinnern: „Musil und ich, wir haben jede Zeile dieses Buches [des Törleß], im M[anu]sc[ri]pt, nicht nur zusammen durchgegangen – sondern zusammen durchgearbeitet.“299 Der Text hat demnach zwei Väter – einen Autor-Dichter und einen KritikerDichter – bzw. eine leibliche Mutter (Robert Musil) und eine geistige Amme (Alfred Kerr). In seiner Kritik der Musil’schen Posse Vinzenz und die Freundin bedeutender Männer (1923) wird Kerr von „Musils große[r] Novelle ‚Die Verwirrungen des Zöglings Törleß‘ (bei der ich einst Hebamme war)“, sprechen.300
_____________ 295 Vgl. ders.: Alfred Kerr [April 1928?]: „Dieser Mensch hat eine Seele, das ist alles, man weiß nicht, was das ist.“ (GW II, 1405) 296 R. Musil: Interview mit Alfred Polgar (1926) (GW II, 1157). 297 A. Kerr: Robert Musil (1906). Abgedr. in: K. Corino: Robert Musil und Alfred Kerr (1970). S. 240–242. 298 R. Musil: Brief an Paul Wiegler vom 21. 12. 1906 (BR I, 23). 299 A. Kerr: [Londoner Nekrolog] (1942). Abgedr. in: K. Corino: Robert Musil und Alfred Kerr (1970). S. 276f.; vgl. auch Kerrs Artikel zu Musils 50. Geburtstag, der am 11. 11. 1930 im Berliner Tagblatt erschien (K. Corino: Robert Musil (2003), Anm. 20. S. 1535); R. Schröder-Werle (Erläuterungen und Dokumente: Robert Musil: Die Verwirrungen des Zöglings Törleß. Stuttgart 2001. S. 58) wendet bezüglich einer engen Zusammenarbeit Musils und Kerrs ein, dass „[v]iel Zeit […] für die Satzkorrektur nicht geblieben sein [dürfte].“ 300 Vgl. A. Kerr: Robert Musil „Vinzenz und die Freundin bedeutender Männer“ (1923). In: ders.: „So liegt der Fall“ (2001). S. 198–201, hier S. 200.
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VII. Essayismus als Kritik des Kunstwerks
Musil hatte 1906, nachdem das Romanmanuskript bereits von mehreren Verlagen abgelehnt worden war, „eine Autorität um ihr Urteil“ gebeten: Rückblickend wird er in seinen Tagebuchnotizen das Urteil Alfred Kerrs, genauer dessen Beurteilung des Törleß, die er als einen der „beiden schönsten Augenblicke in meiner Schriftstellerlaufbahn“301 bezeichnet, für jene (Lebens-)Entscheidung verantwortlich machen, die er 1908 am heraklidischen Scheideweg zwischen der „Habilitation für Philosophie“ und der Existenz als „Dichter“ zugunsten der letzteren getroffen hat.302 Und „der kleine polytechnische Student von damals“303 erinnert sich dreißig Jahre später: Bereits als Student des Maschinenbaus sei er mit Alfred Kerr, genauer „seines Büchleins über die Duse“304 – so die retrospektive Selbststilisierung – auf der Brünner ‚Esplanade‘ flaniert: „wahrscheinlich hatte ich das Buch unter dem Arm mitgenommen, um interessanter junger Mann zu sein. Auf diese Weise bin ich zu Alfred Kerr gekommen.“305 Nachhaltig, das heißt stil- und urteilsbildend gewirkt306 und sein „‚Zugehörigkeitsgefühl‘ geweckt“ habe allerdings, so Musils rückblickende Relativierung, „bloß eine kleine Gruppe von zwei bis vier Sätzen.“307 Diese selbst bleiben jedoch unzitiert und somit unbestimmt, sie können allenfalls aus den fast leitmotivisch in den Arbeitsnotizen zu den Vereinigungen (1911) wiederkehrenden Formulierungen zum Verhältnis von Tatsachen und ihrer Darstellung erschlossen werden. Kerrs am Törleß gewonnenes Urteil wird Musil zum uneinholbaren Stilideal und zukünftigen Maßstab seiner Produktion. Der Kritiker wird am 5. September 1910 in einer Tagebuchnotiz von dem von ihm entdeckten Dichter zitiert: „Kerrs Rezension über Törleß wieder gelesen, gab mir einen Stoß. Es heißt: ‚Musils Erzählung ist ohne Weichlichkeit. Es steckt darin keine, sozusagen, Lyrik. Er ist ein Mensch, der in Tatsachen sieht, – nur aus ihrer Sachgestaltung erwächst ihm dasjenige Maß von ‚Lyrik‘, das in den Din-
_____________ 301 R. Musil: Tagebücher. Heft 33 (1937–1941) (TB I, 912); über den ungenannten zweiten „schönsten Augenblick“ in Musils „Schriftstellerlaufbahn“ kann bislang nur gemutmaßt werden: vielleicht ist die zweite Törleß-Rezension von Franz Blei gemeint? 302 Ebd.; 1908 wurde Musil eine Assistentenstelle für Psychologie bei Prof. Alexius Meinong an der Universität Graz angeboten. 303 A. Kerr: [Londoner Nekrolog] (1942). Abgedr. in: K. Corino: Robert Musil und Alfred Kerr (1970). S. 277. 304 R. Musil: Tagebücher. Heft 33 (1937–1941) (TB I, 912); gemeint ist der 9. Band der von Georg Brandes herausgegebenen Sammlung Die Literatur: A. Kerr: Die Schauspielkunst. Berlin 1904, welcher „Der Venezianerin Duse gewidmet“ war. 305 R. Musil: Tagebücher. Heft 33 (1937–1941) (TB I, 913). 306 Ebd. S. 923: „Zweiter Einfluß: Kerrs vorsichtige Ausstellungen bei der Korrektur des Törleß.“ 307 Ebd. S. 912f.
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gen etwa steckt … Frei von Empfindsamkeit. Tatsachendarstellung. Nicht ‚gemalt‘ ist die Stimmung, sondern das Dargestellte wirft sie ab.“308 Eine apriorische oder posteriorische Zugabe lyrischer Metaphysik oder metaphysischer Lyrik ist dagegen unerwünscht: „Es sind hier [im Törleß] nur die Tatsachen gegeben, das Aussehen der Straße, des Stationsgebäudes, des Gesprächs usw. Es ist nicht gesagt, diese Dinge hatten die u[nd] die Stimmung, aber sie haben sie.“309 „Frei von Empfindsamkeit“,310 so lautet das Urteil Alfred Kerrs über einen Roman, der im Durchschnitt fast einmal pro Seite die Substantiv- bzw. Verbform ‚Gefühl‘/‚fühlen‘ aufweist, auf weniger als 140 Textseiten insgesamt 137mal. Wenn „empfinden + Stammverwandte“ mitgezählt werden, so Lars W. Freij in seinen Mikroanalysen, „erhält man die Gesamtzahl 165“.311 Das Senti-Mentale, das Verhältnis von Fühlen und Denken, von Empfindungen und Erkenntnissen, das sowohl Inhalt wie Form bestimmt, ist in Musils Törleß-Roman in eine literarische „Analyse der Empfindungen“ (Ernst Mach) überführt worden.312 Das extrahierte Stilideal einer dichterischen Gestaltung von Tatsachen, welche weder auf Realismus noch auf Naturalismus zielt und die Atmosphäre, die Stimmung, die Empfindungen den Dingen selbst zuspricht,
_____________ 308 Ders.: Tagebücher. Heft 5 (1910–1911?) (TB II, 226); s. auch ebd. in Bezug auf die Vereinigungen (1911): „Es darf in Claudine nicht heißen: irgendwo begann eine Uhr mit sich selbst von der Zeit zu sprechen, Schritte gingen usw. – Das ist Lyrik. Es muß heißen: eine Uhr schlug, Claudine empfand es als begänne irgendwo … Schritte gingen usw.“ Vgl. auch ebd. unter dem 10. 9. 1910: „Maxime aus Törleß: wenn man etwas erzählt, immer eine Szene erzählen, die das illustriert.“ (TB I, 227) Vgl. auch die Eintragung vom 31. 12. 1910: „Kerr sagt […] Man darf Stimmung nicht malen sondern aus der Sachgestaltung der Tatsachen muß das erstrebte Maß von Lyrik erwachsen.“ (TB I, 231) Die entsprechende Passage in der Vollendung der Liebe (1911) lautet: „Gleichmütig begann einstweilen eine Uhr mit sich selbst irgendwo zu sprechen, Schritte gingen unter ihrem Fenster vorbei und verklangen, ruhige Stimmen …“ (GW II, 172). 309 Ebd.: Tagebücher. Heft 5 (1910–1911?). S. 233f.; die Musil’sche Arbeitsnotiz geht allerdings an dieser Stelle noch weiter: „In mir war die Einstellung: rußige, erdrosselte Traurigkeit od.[er] dgl. u.[nd] ich stellte mir jetzt Dinge so vor.“ Vgl. auch Musils Notiz von Ende Dezember 1910. Ebd. S. 231: „Wieder stark betroffen durch Kerrs Aufsatz in der N.[euen] R.[undschau] Hier liegt die Sicherheit in der Person. Wenn ich ihn recht verstehe, sagt er übrigens auch diesmal: man muß Vorgänge geben, Dinge usw. nicht Stimmungen. Die Lyrik darf nicht extra noch dazukommen.“ 310 A. Kerr: Robert Musil (1906). Abgedr. in: K. Corino: Robert Musil und Alfred Kerr (1970). S. 241. 311 L. W. Freij: ‚Türlosigkeit‘. Robert Musils „Törless“ in Mikroanalysen mit Ausblicken auf andere Texte des Dichters. Stockholm 1972. S. 37. 312 Vgl. B. Nübel: : „Empfindsame Erkenntnisse“ in Robert Musil: „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“. In: Der Deutschunterricht 48 (1996). H. 2: Literatur und Lebenswelt: Inszenierte Gefühle. Hrsg. v. Helmut Scheuer. S. 50–62, hier S. 50.
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erinnert an zentrale erkenntnistheoretische Prämissen des Empiriokritizismus. Auch hier sind Tatsachendarstellungen, Wahrnehmungsprotokolle ohne Metaphysik gefragt. In den Vereinigungen (1911) geht Musil gegenüber den Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906) allerdings noch einen Schritt weiter, indem er die sensualistische Aufhebung des Ding- bzw. Substanzbegriffs mit der Auflösung der (mono-)kausalen bzw. monoperspektivischen Erklärungsmuster in ein Erzählexperiment der kleinsten motivierten Schritte überführt.313 Im Törleß habe er noch, so Musil in einer Tagebuchnotiz vom 19. Januar 1911, „[s]eine Gedanken […] zu Verbindungen, Erklärungen udgl. benutzt“ und so „das Unbegreifliche, Ahnungsvolle, nur ungefähr Vorstellbare, wo es auftritt überall begreiflich zu machen gesucht, genetisch, psychologisch.“314 Die Vereinigungen dagegen stellen den Versuch, genauer das erzähltechnische Experiment „einer nicht causal deskriptiven sondern seelisch schöpferischen Kunst“ dar: „Das selektive Prinzip war also: eine Verknüpfung von Schritten, in der jedes Glied nicht in erster Linie begründet sondern legitimiert ist.“315 Das narrative Experiment der kleinsten motivierten Schritte als „Aufstellung funktionaler Beziehungen“ zwischen Empfindungen bzw. Elementen316 kehrt das Verhältnis von Tatsachen/Geschehen und Bedeutungen/Reflexionen um und baut das Erzählte aus den Gedanken selbst auf,317 allerdings nicht als explizite Erzählerkommentare, sondern als „psychische Konstituenten der Personen“.318 In seiner immanenten Kritik319 der Lehren Ernst Machs hatte Musil 1908 aus Machs Geschichte und die Wurzel des Satzes der Erhaltung der Arbeit (1872) zitiert: „Erklären heißt Zurückführen komplizierter Tatsachen auf möglichst wenige und einfache. Diese einfachsten Tatsachen sind an sich immer unverständlich, d. h. nicht weiter zerlegbar […]. Man täuscht sich gewöhnlich darin, daß man meint, Unverständliches auf Verständliches zurückzuführen. Allein das Verstehen besteht eben im Zerlegen. Man führt un-
_____________ 313 Vgl. R. Musil: Tagebücher. Heft 5 (1910–1911?): „Ich suchte in der letzten Zeit das Ziel in einer maximalen Stringenz der Darstellung und die Tiefe Treiben des Problems. Ich suche die wahren (ethischen nicht bloß psychologischen) Determinanten des Handelns.“ (TB I, 232) 314 Ebd. S. 235. 315 Ders.: Brief an Franz Blei [Anfang Juli 1911] (BR I, 83). 316 Ders.: Beitrag zur Beurteilung der Lehren Machs (1908) und Studien zur Technik und Psychotechnik. Reinbek bei Hamburg 1980. S. 16. 317 Ders.: Tagebücher. Heft 5 (1910–1911?) (TB I, 234). 318 Ders.: Brief an Franz Blei [nach 15. 7. 1911] (BR I, 87). 319 Vgl. hierzu das Gutachten von Professor Carl Stumpf vom 9. 2. 1908. In: R. Musil: Beitrag zur Beurteilung der Lehren Machs“ (1908). S. 136: „Die Kritik ist dabei überall eine immanente.“
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gewöhnliche Unverständlichkeiten auf gewöhnliche Unverständlichkeiten zurück.“320 In den Vereinigungen jedoch wird nicht erklärt, das heißt, auf ein Bekanntes zurückgeführt, in ein Einfaches zerlegt,321 sondern, so Musil in einem Brief an Franz Blei, gerade umgekehrt ein „seelisch Einfache[s] ins Kompliziertere“ aufgelöst.322 Das Konstruktionsprinzip der Vereinigungen ist mit dem Kerr’schen, am Törleß explizierten, Stilideal jedoch nicht mehr zu vereinbaren. Es bleibt bei der „aperspektivischen Fassung“323 der Novellen, die trotz und gerade wegen des mittlerweile wohl recht persönlichen Umgangs zwischen dem Kritiker und seinem Dichter324 von Kerr nicht rezensiert werden.325 In seinem Fragment zu Kerrs Lessing-Vortrag kritisiert nun der Dichter seinen Kritiker. In Antizipation der Positivismuskritik aus der Dialektik der Aufklärung (1947) wird die Entzauberung der Dinge durch das Kritikersubjekt als Anverwandlung desselben an die dingliche Objektwelt bestimmt. Der „Desillusionär“ Kerr, der die Dinge so sieht, „wie sie sind“, deckt zwar einerseits im Sinne der Aufklärung auf.326 Andererseits schlägt die Aufklärung aber auch auf sich selbst zurück. Denn der „Tatsachenmensch“ ist laut Musil „nicht nur der mit allen geistigen Konvergenzmitteln ins Gesetzmäßige, oft Kleine arbeitende Forscher mit Tatsachensinn, sondern auch der Matter of facts-Mensch, der Cecil Rhodes mit seinen Abstufungen bis zum Warenhausbesitzer hinab. In diese Gruppe würde ich K.[err] einreihen.“327 Das Taylor-System schlägt gegen seinen Entdecker zurück.
_____________ 320 E. Mach: Die Geschichte und die Wurzel des Satzes der Erhaltung der Arbeit. Prag 1872. S. 31f.; zit. nach: R. Musil: Beitrag zur Beurteilung der Lehre Machs (1908). S. 92; Hervorhebung v. B. N. 321 Vgl. ders.: Beitrag zur Beurteilung der Lehre Machs (1908). S. 92f. 322 Ders.: Brief an Franz Blei [Mitte Juli 1911] (BR I, 83). 323 K. Corino: Robert Musil und Alfred Kerr (1970). S. 250; vgl. R. Musil: Brief an Franz Blei [nach 15. 7. 1911]: „Sie schrieben: wer sieht hier zu? Der Autor? Wie ist das möglich? Die handelnde Person?“ (BR I, 87) und „Der point de vue liegt nicht im Autor u.[nd] nicht in der fertigen Person, er ist überhaupt kein point de vue, die Erzählungen haben keinen perspektivischen Zentralpunkt.“ (BR I, 88) 324 Vgl. hierzu R. Musil: Tagebücher. Heft 15. Eintragung vom 15. 1. 1908: „Letztes Mal bei Kerr sprachen wir über den Fall Lynar.“ (TB I, 182) Ebd. unter dem 6. 3. 1911: „Mit Kerr Wohnungen gesucht“ (TB I, 209) sowie rückblickend im Tagebuch Heft 33 (1937–1941): „In einer Zeit um das Erscheinen des Törleß, oder erst später, jedenfalls in der Zeit, wo er sich um mich kümmerte, hat mir Kerr einmal gesagt […].“ (TB I, 922) 325 Vgl. K. Corino: Robert Musil und Alfred Kerr (1970). S. 250. 326 R. Musil: Alfred Kerr [1928?]: „Er [Kerr] treibt nicht Medisance, sondern er deckt auf; er ‚formt‘ nicht, sondern er entdeckt.“ (GW II, 1408) 327 R. Musil: Alfred Kerr [1928?] (GW II, 1408).
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Robert Musil grenzt sich gegen seinen „größten kritischen Lehrer“328 nicht nur in Bezug auf das am Törleß exemplifizierte Stilideal, sondern auch hinsichtlich des Verhältnisses von Tatsachen (Wirklichkeit) und Reflexion (Möglichkeit) einerseits wie von Leben und Literatur andererseits zunehmend ab. Der Zögling versteht sich selbst gegenüber seinem Mentor, der als Wirklichkeitsmensch gesehen wird, als Möglichkeitsmensch. Kurz vor Abschluss der Vollendung der Liebe findet sich die folgende Entgegensetzung in Musils Tage- bzw. Arbeitsbüchern: „Kerr: Die Literatur füllt in meinem Leben nur eine Ecke aus. Dagegen: Literatur ist ein kühner, logischer kombiniertes Leben. Ein Erzeugen oder Herausanalysieren von Möglichkeiten usw. Sie ist bis auf die Knochen abmagern machende Inbrunst für ein intellektuell emotionales Ziel. Das andere ist Propaganda.“329 Kerr, das einstige Vorbild in Sachen Stil- und Urteilssicherheit, bleibt für Musil Maßstab und wird ihm zugleich zum „Antipode[n]“: „Der einzige Antipode“, so räumt Musil in einer Tagebuchnotiz vom 30. Januar 1911 ein, „vor dem ich manchmal Angst für meine Richtigkeit habe.“330 Musil arbeitet zu diesem Zeitpunkt gerade an seinem ersten großen Essay, Das Unanständige und Kranke in der Kunst, der am 1. März 1911 in der von Kerr redaktionell betreuten Zeitschrift Pan erscheint. Auch projektierte Musil parallel „eine, liebevolle, Satyre auf den Pan“ für den von Franz Blei herausgegebenen Losen Vogel.331 Und so wie das Verhältnis zwischen Musil und Kerr zu dieser Zeit zwischen Abbruch und Wiederaufnahme schwankt,332 so schwankt auch Musil zwischen dem Bedürfnis, „Kerr in mir zu sichern333 und dem „Ekel“ vor dem „Feuilletonismus, selbst der in der Neuen Rundsch.[au] oder im Pan“.334 Die geplante Satire auf den Pan
_____________ 328 Ders.: Brief an Alfred Kerr vom 8. 12. 1923 (BR I, 327). 329 Ders.: Tagebücher. Heft 5 (1910–1911?) (TB I, 230); mit „Propaganda“ ist vermutlich „die sozialistische Richtung des Pan“ gemeint; vgl. hierzu ebd. S. 235. 330 Ebd. 235; vgl. auch ders.: Brief an Alfred Kerr vom 8. 12. 1923: „Ich scheine jetzt im Begriff zu sein, mich gegen die Widerstände des obenaufschwimmenden Dummheitsschaums durchzusetzen; aber da habe ich – oft Sehnsucht nach Ihrem korrigierenden Widerstand.“ (BR I, 327f.) 331 Ders.: Tagebücher. Heft 5 (30. 1. 1910) (TB I, 234). 332 Vgl. ebd. (Ostern 1911): „Mit Kerr Beziehungen so gut wie abgebrochen. Ich fand das Honorar vom Pan gering, war beleidigt, schrieb ihm, keine Antwort.“ (TB I, 236) Vgl. ebd. (23. 5. 1911): „Mit Kerr als Mißverständnis herausgestellt.“ (TB I, 237). 333 Ebd. S. 235. 334 Ebd. S. 230 (Anfang Dezember 1910): „Im Streben nach Verdienst nach Möglichkeit gesucht, für Zeitungen zu schreiben. Der Feuilletonismus, selbst in der Neuen Rundsch.[au] oder im Pan ist mir zu ekelhaft.“ Ebd. S. 235 (11. 2. 1911): „Karte von Kerr inzwischen gekommen mit Aufforderung für Pan zu schreiben, zu dessen Rekaktion er gehört. […] ich konnte plötzlich vor Ekel nicht weiter.“
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wird Musil nicht schreiben – das hat inzwischen Karl Kraus gründlich, wenngleich weniger liebevoll erledigt.335 Stattdessen erscheint in der Nr. 7 des Losen Vogel jener Essay Über Robert Musil’s Bücher, in welchem der Verfasser der Vereinigungen einerseits sein intellektuell-emotionales Erzählkonzept formuliert und andererseits seine Dichter- und Kritikerkollegen richtet. Am 8. Dezember 1923 bedankt sich Musil bei Kerr für dessen Theaterkritik über Vinzenz und die Freundin bedeutender Männer.336 Während „fast alle andren Kritiken daneben gingen“, habe Kerrs „Kritik sofort das Wesentliche“ ergriffen: „Die Laune […] des doppelten Nichternstnehmens, weder der Welt noch des Theaters“. Und der Dichter, der immer noch „Sehnsucht“ nach dem „korrigierenden Widerstand“ seines Kritikers fühlt, ist gleichzeitig doch „berührt“, dass der Kritiker „mit mir als Ganzem nie mehr so recht zufrieden gewesen“ ist, „wie damals mit dem Törleß“. Die Huldigung an den Mentor wird hier abermals mit der Markierung der Differenz verbunden: „Ich verehre in Ihnen meinen größten kritischen Lehrer, dem ich aber in einer Hauptsache nicht gefolgt bin. Sie besteht, glaube ich in meiner Neigung zur Reflexion, wobei mir das Tatsachenmaterial fast nur als Mittel zum Zweck recht ist, wogegen Sie diese beiden Bestandteile im ungefähr umgekehrten Verhältnis fordern. Ich liebe Ideenzusammenhänge“.337 Vor dem Hintergrund seiner Auseinandersetzung mit Alfred Kerr lässt sich auch die folgende Passage aus dem 1913 erschienenen Essay Über Robert Musil’s Bücher (1913) anführen: „Kunst ist ein Mittleres zwischen Begrifflichkeit und Konkretheit. Gewöhnlich erzählt man in Handlungen und die Bedeutungen liegen neblig am Horizont. […] Kann man da nicht versuchen, ungeduldig einmal mehr den sachlichen Zusammen-
_____________ 335 Vgl. hierzu: K. Corino: Robert Musil und Alfred Kerr (1970). S. 251–284, bes. S. 253; vgl. hierzu auch R. A. Berman: Literaturkritik zwischen Reichsgründung und 1933. In: Geschichte der deutschen Literaturkritik (1730–1980). Hrsg. v. P. U. Hohendahl. Stuttgart 1985. S. 205–275, hier S. 230 sowie L. Schöne: Neuigkeiten vom Mittelpunkt der Welt. Der Kampf ums Theater in der Weimarer Republik. Darmstadt 1995. S. 70: „Auf den Streit zwischen Karl Kraus und Alfred Kerr lohnt es sich nicht einzugehen. Er gehört zu den unangenehmsten und sachlich belanglosesten in der deutschen Literaturgeschichte, eine einzige Beleidigungssuada. Kraus verhöhnte Kerr von Wien aus in der ‚Fackel‘ als ‚Feuilletonschlampe‘ und ‚Kreuzung zwischen einem Schulbuben und einem Schandjournalisten‘; Kerr antwortete ebenso.“ 336 A. Kerr: Robert Musil: „Vinzenz oder [!] die Freundin bedeutender Männer. In: Berliner Tageblatt. Morgen-Ausgabe. Jg. 52. Nr. 560, 5. Dezember 1923 sowie AbendAusgabe. Nr. 561; beide abgedr. bei: K. Corino: Robert Musil und Alfred Kerr. S. 264–267. Dagegen wurde in A. Kerr: „So liegt der Fall“ (2001). S. 198–201 nur die ausführlichere Besprechung aus der Abend-Ausgabe abgedruckt. 337 R. Musil: Brief an Alfred Kerr vom 8. 12. 1923 (BR I, 327).
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hang der Gefühle und Gedanken, um die es sich handelt, auszubreiten und nur das, was sich nicht mehr mit Worten allein sagen läßt, durch jenen vibrierenden Dunst fremder Leiber anzudeuten, der über einer Handlung lagert? Ich meine, man hat damit bloß das Verhältnis einer technischen Mischung verkehrt und man müßte das ansehen wie ein Ingenieur.“338 Das Musil’sche Gehirn nötigt hier das essayistische Ich, gegenüber dem Literaturgeologen und dem ‚gesunden‘ Schriftstellerkollegen das reflexive Erzählkonzept der Vereinigungen zu verteidigen: Es ginge darum, „das Erzählen vom Kinderfrauenberuf zu emanzipieren!“339 Hier emanzipiert sich der Ingenieur-Dichter Musil von seinem Dichter-Kritiker Kerr. Fünfzehn Jahre später hebt Robert Musil in seinem unveröffentlichten Nachtrag zu einem Vortrag (1928)340 „[s]einen größten kritischen Lehrer“341 und seine einstige „Hebamme“342 von jenen „als Kinderfrauen ausgediente[n] alte[n] Ammen“ ab, „die einen riesigen Busen haben, um das, was sie lieben, daran zu drücken, aber wenig erzieherische Vernunft.“ Im Gegensatz zu Kerr hätten diese „nie die Dinge, worüber sie schreib[en], im eigenen Hirn wachsen gefühlt“, daher ließen sie „ihre kritischen Fähigkeiten ebenso als Dichter vermissen […] wie als Kritiker“.343 Dasjenige aber, was den „Kritikerdichter“ – so die Kerr’sche Selbstbezeichnung344 – bzw. „Dichter-Kritiker“ – so die Musil’sche Fremdbezeichnung Kerrs – vom selbsternannten Dichter, der Kritiken über andere Dichter schreibt, unterscheide, sei die „kritische Fähigkeit“,345 die Fähigkeit zu richten, zu urteilen, zu entscheiden, Maßstäbe zu setzen: „Die Fähigkeit, recht zu behalten!“346
_____________ 338 339 340 341 342 343 344 345 346
Ders.: Über Robert Musil’s Bücher (1913) (GW II, 998); Hervorhebung v. B. N. Ebd. S. 999. So eine Zwischenüberschrift zum Essayfragment Alfred Kerr [1928?] (GW II, 1406f.). Ders.: Brief an Alfred Kerr vom 8. 12. 1923 (BR I, 327). A. Kerr: Robert Musil: „Vinzenz und die Freundin bedeutender Männer“ (1923). In: ders.: „So liegt der Fall“ (2001). S. 200. R. Musil: Alfred Kerr [1928?] (GW II, 1406). Vgl. ders.: Heute spricht Alfred Kerr (1928) (GW II, 1188). Ders.: Alfred Kerr [1928?] (GW II, 1406). Ders.: Heute spricht Alfred Kerr (1928) (GW II, 1188); vgl. ders.: Brief an Karl Baedeker vom 4. 12. 1935 zur Antinomie zwischen Perspektivität und Urteilsbegründung: „Ich glaube nämlich, […] dass – zumal auf dem Gebiet des im weitesten Sinn ‚Essayistischen‘! – auch mehrere Meinungen zugleich recht haben müssen; dieses Rechthaben, in seinem eigentümlichen Verhältnis zur Wahrheit und Subjektivität, ist also das Hauptproblem des Essays, es ist aber zugleich auch eines des persönlichen Werdens […].“ (BR I, 683)
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Kritik ist eine „pervertierte Dichtung“347 nicht in dem Sinne, dass jemand, der eigentlich lieber Gedichte oder Dramen schreiben möchte, aber nicht kann, nunmehr Kritiken schreibt und die Dichter mit „DschingisKhan-Gebärde“ reitet, sondern eine Funktion der Literatur, die diese selbst reflektiert und fortschreibt. Auch wenn Kerr mit mongolischer Herrschergeste auf seinem Dichter-Pferdchen herumreiten und schreien mag: „Hopp hopp mein Pferdchen“ – die notwendige „Naivität“,348 das „Quantum Dummheit“,349 sich für mehr als das kritische Ich, für das kritische Über-Ich des Dichters oder gar der Dichtung selbst zu halten, wird ihm von Musil nicht zugeschrieben. Dichtung und Kritik – so Musil in biologischer Plattitüde und in metatextueller Hinsicht durchaus korrekt – seien „nacheinander geborene Geschwister.“350 Und in seiner Ankündigung Heute spricht Alfred Kerr (1928) wird der Kritiker-Dichter ebenso lakonisch wie paradoxal definiert: „Das ist der Mensch, der aus Dichtung wieder Dichtung, gedichtete Kritik macht.“351 Dichtung und Kritik stehen sich nicht als Narration („Lebendigkeit“) und Reflexion („Spekulation“) polar gegenüber. Sie sind beide Teile eines unendlichen Prozesses, Elemente einer sich wechselseitig fortschreibenden Wirkung. Dabei kommt das Verhältnis der „nacheinander geborene[n] Geschwister“352 dem von zweieiigen Zwillingen ziemlich nahe, wenn es weiter heißt: Es gibt „bei allen Unterschieden keine bedeutende Kritik […], die nicht Dichtung wäre, und von reiner Lyrik abgesehen, keine bedeutende Dichtung, die nicht Kritik wäre.“353 Ein „Dichter-Kritiker“354 wäre demnach der Mensch, der aus Kritik wieder Dichtung macht, und zwar kritische Dichtung. Dabei kommt der
_____________ 347 Ders.: Alfred Kerr [1928?] (GW II, 1408). 348 Ebd. S. 1407. 349 Ebd. S. 1408; das Thomas-Zitat aus ders.: Die Schwärmer. Schauspiel (1921) (GW II, 318), auf das sich Musil an dieser Stelle ausdrücklich bezieht („mit eines Dichters Wort gesagt“), lautet: „Es kommt eben auf die Verwandlungsfähigkeit des Gefühls an; ein abgerissener Strick war die Nabelschnur vieler großer Werke und nur ein dummer Mensch hängt sich einfach wirklich auf.“ (GW II, 318) 350 Ders.: Heute spricht Alfred Kerr (1928) (GW II, 1188); vgl. G. Lukács: Über Wesen und Form des Essays. Ein Brief an Leo Popper. In: ders.: Die Seele und die Formen. Essays (1911). Neuwied/Berlin 1971. S. 7–32, hier S. 24: „Die Form des Essays hat bis jetzt noch immer nicht den Weg des Selbständigwerdens zurückgelegt, den ihre Schwester, die Dichtung, schon längst durchlaufen hat: den der Entwicklung aus einer primitiven, undifferenzierten Einheit mit Wissenschaft, Moral und Kunst.“ 351 R. Musil: Heute spricht Alfred Kerr (1928) (GW II, 1188). 352 Ebd. 353 Ebd. 354 Ders.: Alfred Kerr [1928?] (GW II, 1406).
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VII. Essayismus als Kritik des Kunstwerks
Kritik des Kunstwerks, die zugleich Kritik als Kunstwerk wie Kritik des Lebens ist, nach Musil keine der Dichtung übergeordnete Funktion zu: „Der Anspruch, Dichter zu sein, und als Kritiker eine neue Form dieses, der Ver-dichter von Dichtung, der scheint also fest gegründet, nicht so ohneweiters die zuweilen daraus gezogene Folgerung, deshalb eine Art Überdichter zu sein“.355 Und er scheint Kerr geradezu vor seinem eigenen Missverständnis bewahren zu wollen, wenn er klarstellt: Der Kritik kommt nicht „eine der Dichtung übergeordnete Funktion“ zu, „welche die Dichtung und den Dichter als Rohmaterial benützt“.356 Der literarische Kritiker ist also kein Meta- bzw. Überdichter in dem Sinn, dass die Maßstäbe seines Werturteils seinem Gegenstand, dem Kunstwerk, apriorisch vorausliegen. Der Kritiker verleibt sich die Dichtung vielmehr ‚anthropoetaphagisch‘ ein. Kritik ist keine außerhalb oder oberhalb stehende Metakritik der Dichtung, sondern dieser selbst immanent. Gemeinsam arbeiten sie, Dichtung wie Kritik, an einem Text, der Literatur. Deren „Experiment“ besteht – mit den Worten Walter Benjamins – „nicht in der Reflexion über ein Gebilde […], sondern in der Entfaltung der Reflexion […] in einem Gebilde“.357 Denn Kritik ist – mit den Worten Musils – „nichts über der Dichtung, sondern etwas mit ihr Verwobenes.“358 Kritik aber, die als immanente Selbstreflexion der Dichtung erst ‚Literatur‘359 erzeugt und diese über sich selbst hinaus fortschreibt, ist eine „pervertierte Dichtung“,360 eine Dichtung, die das Verhältnis von Reflexion und Narration umkehrt (‚ver-kehrt‘). In der Synthese von kritisch sich selbst reflektierender Narration wie narrativ fortgeschriebener Reflexion liegt für Musil die Bedingung der Möglichkeit moderner Literatur und ihrer Kritik. Das Verhältnis von Metatextualität (als heterointertextuelle Referenz) und Selbstreflexivität (als auto-intertextuelle Referenz) entspricht dem von externer und interner Textkritik:361 Erst wenn
_____________ 355 Ebd. S. 1407. 356 Ders.: Heute spricht Alfred Kerr (1928) (GW II, 1188). 357 W. Benjamin: Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik (1919/20). S. 60. 358 R. Musil: Bücher und Literatur [I] (1926) (GW II, 1169). 359 ‚Literatur‘ wird hier als Oberbegriff zu ‚Dichtung‘ und ihrer Kritik verstanden. 360 Ders.: Alfred Kerr [1928?] (GW 1408). 361 Die Verf. ist sich bewusst, dass es sich bei ‚Textkritik‘ um eine Methode der Textphilologie handelt, die sich mit der Rekonstruktion eines Text-Originals nach den Prinzipien von Authentizität, Autorintention und Autorisierung befasst. Hier geht es jedoch nicht – zumindest nicht in erster Linie – um die Aporien der Editionsphilologie, sondern um die Beschreibung eines Sachverhaltes, bei dem die Unterscheidung zwischen vermeintlich ursprünglichem Text, dessen editorischer Herstellung (als Textkritik im engeren, d. h. philologischen Sinn) und nachträglicher Kommentierung sich nur als
5. Die Alfred Kerr-Essays (1927/28)
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der fremde Text in den eigenen assimiliert wird, ist die Bedingung der Möglichkeit einer immanenten, selbstreflexiven Kritik gegeben. Nachtrag zu einem Nachtrag zu einem Vortrag Robert Musil scheint sich – dies hat Karl Corino herausgestellt362 – gegenüber Alfred Kerr öffentlich stets loyal verhalten zu haben: bei der JagowAffäre ebenso wie beim Kraus-Verriss wie in dem „Wirbel Rowohlt-KerrLiterarische Welt“,363 der Musil unmittelbar nach seiner Kerr-Laudatio zu „[s]einem großen Unbehagen einzuschlucken“ drohte.364 Noch im letzten erhaltenen und im Zusammenhang mit Kerrs Lessing-Vortrag entstandenen Brief vom 16. Februar 1928 bittet ein „stets ergebener / Robert Musil“ Alfred Kerr dringend um Aussprache „über die schwebende Affaire“.365 Danach scheint der Briefwechsel und somit auch der persönliche Kontakt abzubrechen. Was ist geschehen? Wiederum nach dem ‚Prinzip Regenwurm‘ organisiert erscheint am 4. April 1929 im Berliner Tageblatt eine Rezension Kerrs der nach „communis opinio völlig missglückte[n] Aufführung“366 von Musils bislang unaufgeführten Schwärmern (1921). Das Stück, das laut Morgenausgabe „kaum ein Stück ist“,367 wird in der Abendausgabe in zwölf, jeweils mit römischen Ziffern versehene Abschnitten weniger „zerschnitten“368 als vielmehr zerrissen. Gelobt wird ( – von der ein oder anderen „Fehlbesetzung“369 abgesehen – ) die gute Leistung einzelner Schauspieler. Die
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heuristische durchführen lässt, da das Spezifikum der Vertextungsbeziehung gerade in der Vermischung bzw. Gleichzeitigkeit von Textgenese und Prozess der Verarbeitung (Kritik und Kommentierung) liegt. K. Corino: Robert Musil und Alfred Kerr (1970). S. 236–284. R. Musil: Brief an Franz Blei vom 2. 2. 1928 (BR I, 435); vgl. zu den Hintergründen K. Corino: Robert Musil (2003). S. 952ff. R. Musil: Brief an Franz Blei vom 2. 2. 1928 (BR I, 435). Ders.: Brief an Alfred Kerr vom 16. 2. 1928 (BR I, 437). K. Corino: Robert Musil und Alfred Kerr (1970). S. 258; vgl. auch ders.: Robert Musil (2003). S. 649f. zu der Reaktion A. Kerrs auf den 1921 im Sybillen-Verlag veröffentlichten Schwärmer-Dramentext. A. Kerr: Robert Musil: „Die Schwärmer“. In: Berliner Tageblatt. Morgen-Ausgabe. Jg. 58. Nr. 158, 4. April 1929. Abgedr. in: K. Corino: Robert Musil und Alfred Kerr (1970). S. 258; vgl. hierzu auch ders.: Robert Musil: „Vinzenz oder [!] die Freundin bedeutender Männer“. In: Berliner Tagblatt. Abend-Ausgabe. Jg. 52. Nr. 561, 5. Dezember 1923. Abgedr. ebd. S. 265: „Dies Stück (das kein ‚Stück‘ ist […])“. Vgl. R. Musil: Zu Kerrs 60. Geburtstag (1927) (GW II, 1181). A. Kerr: Robert Musil: „Die Schwärmer“ (1929). In: ders.: „So liegt der Fall“ (2001). S. 483.
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VII. Essayismus als Kritik des Kunstwerks
„Riesenarbeit“370 des Regisseurs und „vielfach vorbestrafte[n] Kleinkriminelle[n]“371 Jo Lherman, „Musils Werk auf den fünfzehnten Teil zusammenzuhauen“,372 wird als „künstlerisch[e]“373 Leistung gewürdigt. Und Alfred Kerr zitiert sich selbst in Auszügen aus seiner nunmehr fast fünfzehn Jahre zurückliegenden Rezension des Törleß: dessen „Meisterstecken“ („Voll Abseitigkeit. Voll Ungewöhnlichkeiten des physiologischen Empfindens. […] Tatsachendarstellung. Visionär … und real.“)374 werden Die Schwärmer allerdings als ein „Gipfelbeispiel von Selbstverfaserung heutiger Menschen“ gegenübergestellt:375 „Ein Klimakterium: worin die Leute sich pausenlos zerfasern, sich beklopfen, sich belauschen, sich zergrübeln, sich belauern, sich zerspalten, sich zerlegen, sich zerlähmen. Hamletteratur.“376 Werden die Dramen-Figuren als „staniolempfindliche Gespenster[ ]“ gekennzeichnet, als „heutige Liebeshamlets in Leid und Sigmund Freud“, so der Dichter-„Schwärmer“ Musil selbst als „[e]in Pionier … fern von Ingolstadt.“377 Musils Versuch, die narrative Konstruktion der kleinsten motivierten Schritte von dem Novellenband Vereinigungen auf das Drama zu übertragen, wird von Kerr allenfalls als literarische Transformation der Psychoanalyse378 (ver-)erkannt und als „seelisch […] merkwürdiges ‚Remis‘“ (miss-)verstanden,379 dem er mit der leitmotivischen Referenz auf Marieluise Fleißers Pioniere in Ingolstadt (1929) implizit ein Konzept von Neuer Sachlichkeit entgegenstellt.380 Alfred Kerr nimmt hier jene „kriegsgeschichtlich[e]“ Position ein, die Musil in Heute spricht Alfred Kerr (1928) als „Kampf mit verkehrten Fronten“ bestimmt hat: „er [Kerr] stellt[ ] sich
_____________ 370 Ebd. S. 484. 371 K. Corino: Robert Musil (2003). S. 1910. 372 A. Kerr: Robert Musil: „Die Schwärmer“ (1929). In: ders.: „So liegt der Fall“ (2001). S. 484. 373 Ebd. S. 483. 374 Ebd. S. 482. 375 Ders.: Robert Musil: „Die Schwärmer“. In: Berliner Tageblatt. Morgen-Ausgabe. Jg. 58, Nr. 158, 4. April 1929; zit. nach K. Corino: Robert Musil und Alfred Kerr (1970). S. 258. 376 Ders.: Robert Musil: „Die Schwärmer“ (1929). In: ders.: „So liegt der Fall“ (2001). S. 480. 377 Ebd. S. 481. Kerrs Fleißer-Kritik (2. April 1929) und seine Musil-Kritik (4. April 1929) erschienen im Abstand von nur zwei Tagen im Berliner Tagblatt. 378 Ders.: Robert Musil: „Die Schwärmer“ (1929). In: ders.: „So liegt der Fall“ (2001). S. 481: Durchleuchtung des „Unbewußtsein[s] – bis es Bewußtsein wird“, ebd. S. 482: Darstellung des „halb Bewußtlose[n]“ etc. 379 Ebd. S. 482. 380 Vgl. ders.: Marieluise Fleißer: „Pioniere in Ingolstadt“ (1929). In: ders.: „So liegt der Fall“ (2001). S. 474–480.
5. Die Alfred Kerr-Essays (1927/28)
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nicht schützend vor das Bestehende, benützte vielmehr seinen Rücken, um ihn dem Neuen zuzuwenden, indes er selbst seinen Marsch in die Zukunft richtete.“381 Hatte Musil Kerr 1928 als Vertreter des ‚Lebens‘ von der „sentimentale[n] Konvenienz“ der ‚Literatur‘ freigesprochen,382 so bestätigt auch der Kritiker Kerr seinem schwärmerisch-sezierenden Dichter ein Jahr später: „Musil bleibt ein unkitschiger Mensch. Ein Poet, bei grüblerischer Kälte. Fühlsam: bei abgerückter Sachlichkeit.“383 Im Übrigen gibt sich der Anthropoetaphage wenig Mühe, seinen ehemaligen Säugling erst liebevoll zuzurüsten. Musil scheint auf diesen Verriss seiner Schwärmer durch Kerr nicht persönlich reagiert zu haben, zumindest ist kein Briefdokument erhalten. Am 20. April 1929 distanziert sich Musil in einem Essay Der Schwärmerskandal in einer Art Sammelrezension der Theaterkritiken von der nichtautorisierten Schwärmer-Inszenierung. Er grüßt am Anfang alle, „die gepfiffen und gezischt haben“,384 unterscheidet zwischen dem herkömmlichen, bloß „illustrativen“ und einem neuen, „schöpferischen“ Theater385 und vergisst am Schluss nicht, seinen Kritikern für ihre (Geburts-)„Hilfe“ zu danken: „Man kann den Halt wahrhaftig gebrauchen, in solcher schweren Stunde, wo ein anderer für einen kreißt.“386 Der Dichter-Schöpfer, hier im Bild der Gebärenden, verweist seine Kritiker-Amme auf ihre sokratischmäeutische Funktion.
_____________ 381 R. Musil: Heute spricht Alfred Kerr (1928) (GW II, 1187). 382 Ebd. S. 1188. 383 A. Kerr: Robert Musil: „Die Schwärmer“ (1929). In: ders.: „So liegt der Fall“ (2001). S. 482. 384 R. Musil: Der Schwärmerskandal. In: Das Tagebuch, 20. April 1929 (GW II, 1189– 1193, hier 1189). 385 Ebd. S. 1192; R. Zeller: Robert Musil und das Theater seiner Zeit. In: Robert Musil and the Literary Landscape of his Time. Hrsg. v. H. Hickman. Univers. of Salford 1991. S. 134–151, hier S. 147 u. S. 149 zeigt, dass das parodistische „AntiDreieckstück“ der Schwärmer eine programmatische „Abkehr von jeder Art realistischen Theaters“ wie vom „Illusionstheater“ gleichermaßen darstellt. 386 R. Musil: Der Schwärmerskandal (1929) (GW II, 1192).
VIII. Essayismus als Intertext – Robert Musil und Franz Blei
VIII. Essayismus als Intertext – Robert Musil und Franz Blei Der ästhetische Witz, oder der Witz im engsten Sinne, der verkleidete Priester, der jedes Paar kopulirt […].1 (Jean Paul) Ich habe viel für diese Aufhebung der ‚Namen‘, die in der Wirkung immer falsch mitspielen.2 (Franz Blei) Sie sind in der Tat die einzige Kraft der Welt, die mich fast unter allen Umständen zum arbeiten bringt.3 (Robert Musil)
Robert Musil führt, wenn er über die literarische Gattung Essay spricht, selten einzelne Textbeispiele an, sondern fast ausschließlich die Namen „große[r] Essayisten“: immer wieder Emerson, Nietzsche und Maeterlinck,4 im Umkreis der deutschen Romantik auch Novalis.5 Als zeitgenössisches Beispiel wird, neben den Würdigungen Alfred Kerrs, Franz Bleis, Alfred Polgars6 und Robert Müllers,7 auch Rudolf Kassner genannt.8 Es
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Jean Paul: Werke. Hrsg. v. N. Miller. Bd. 5: Vorschule der Ästhetik (1804). München 1967. S. 173. F. Blei: Brief an Carl Schmitt vom 8. 10. 1924. In: ders.: Briefe an Carl Schmitt 1917– 1933. Hrsg. v. A. Reinthal. Heidelberg 1995. S. 63. R. Musil: Brief an Franz Blei vom 9. 12. 1924 (BR I, 369). Ders.: Essaybücher. In: Die Neue Rundschau, September 1913 (GW II, 1450–1457, hier 1451); s. auch ders.: [Über den Essay] [1911/12?] (GW II, 1334–1338, hier 1337); vgl. D. Barnouw: Literat und Literatur. Robert Musils Beziehung zu Franz Blei. In: Modern Austrian Literature 9 (1976). Nr. 3/4. S. 168–200, hier S. 185. Vgl. R. Musil: Geist und Erfahrung. Anmerkungen für Leser, welche dem Untergang des Abendlandes entronnen sind. In: Der Neue Merkur, März 1921 (GW II, 1042– 1059, hier 1049). Vgl. ders.: Interview mit Alfred Polgar. In: Die Literarische Welt, 5. März 1926 (GW II, 1154–1160). Vgl. ders.: Robert Müller. In: Arbeiter-Zeitung (Wien)/Prager Presse, 3. September 1924 (GW II, 1131–1137); vgl. R. Willemsen: Die sentimentale Gesellschaft. Zur Begründung einer aktivistischen Literaturtheorie im Werk Robert Musils und Robert Müllers. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 58 (1984). S. 289–317 sowie G. Helmes: Robert Müller: Themen und Tendenzen seiner publizistischen Schriften. Mit Exkursen zur Biographie und zur Interpretation der fiktionalen Texte. Frankfurt a. M. [u. a.] 1986.
VIII. Essayismus als Intertext – Robert Musil und Franz Blei
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geht bei diesen Namen, die gleichsam als Markenzeichen für eine selbst im Unbestimmten bleibende literarische Gattung fungieren, nicht nur um eine spezifische Verbindung von Literatur und Leben,9 sondern auch um ein bestimmtes Vertextungsprinzip. Veranschaulicht Musil an der Filmästhetik Béla Balázs’ das Prinzip der Gleichzeitigkeit von Erlebnis und Reflexion und dient ihm Alfred Kerr als Beispiel eines „Dichterkritikers“ bzw. „Kritikerdichters“, so wird ihm sein Freund,10 „promotion manager“11 und „Popularisator“,12 Franz Blei geradezu zum personalen Paradigma der essayistischen Textproduktion. In der intra- wie intertextuellen Schreibtechnik Bleis und Musils sind die beiden grundlegenden essayistischen Vertextungsmechnismen enthalten: das Prinzip der Zerstückelung bzw. Fragmentarisierung (Stichwort ‚Regenwurm‘) und das ‚anthropoetaphagische‘ Element der Textassimilation. Dabei werden ‚Anthropoetaphagentum‘ (‚Poetenfresserei‘) wie ‚Assimilation‘ (‚Textfresserei‘) von Robert Musil zur Voraussetzung von Literatur, Rezeption und literarischer Traditionsbildung überhaupt erklärt. Der kannibalistische Textumgang setzt jedoch den Vorgang der Zerstückelung voraus. Bezogen auf den Literaturbetrieb wie das Vertextungsprojekt einer
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Vgl. R. Musil: Geist und Erfahrung (1921) (GW II, 1049); im frühen Fragment Über den Essay [1911/12?] zieht Musil „den Kreis des Essays“ weiterhin um „Epikur, die Stoiker, unter Abstraktion vom Transzendenten die Mystiker, aber auch Dilthey, Taine, die nomothetische Geschichtsforschung […].“ (GW II, 1337) 9 Vgl. auch F. Bleis gleichlautenden literaturtheoretischen Essay: Literatur und Leben. In: Der Lose Vogel. Nr. 7, Januar 1913. S. 235–239. 10 Vgl. K. Corino: Robert Musil. Eine Biographie. Reinbek bei Hamburg 2003. S. 53: „Robert Musil schloß überhaupt schwer Freundschaften. Außer Johannes von Allesch und Franz Blei konnte sich niemand rühmen, mit ihm enger befreundet gewesen zu sein […].“ Die Einschätzungen darüber, ob das Verhältnis zwischen Franz Blei und Robert Musil als freundschaftliches zu kennzeichnen sei, gehen in der Forschungsliteratur auseinander. So verweist R. Willemsen („Man nimmt Franz Blei zu leicht!“ – Robert Musil und „Das große Bestiarium der Literatur“. In: Robert Musil und die kulturellen Tendenzen seiner Zeit. Hrsg. v. J. Strutz. München/Salzburg 1983. S. 120– 130, hier S. 120) auf B. Pike (Robert Musil. An Introduction to His Work. Ithaca/New York 1961. S. 8) und dieser wiederum auf Annina Rosenthal (1903–1957), geb. Marcovaldi: „Nach Angaben von Musils Stieftochter Annina war Blei Musils einziger Freund.“ Vgl. dagegen G. Eisenhauer: Der Literat. Franz Blei – Ein biographischer Essay. Tübingen 1993. S. 95: „Es war eine wohlkalkulierte gegenseitige Hochachtung, die zeitweise bis zur literarischen Selbstverwechslung führte, aber nie Freundschaft wurde.“ 11 M. G. Hall: Der unbekannte Tausendsassa. Franz Blei und der Etikettenschwindel 1918. In: Jahrbuch der Grillparzer Gesellschaft. F 3. Bd. 15 (1983). S. 129–141, hier S. 131. 12 H. Mitterbauer: Ein Mann mit vielen Eigenschaften. Studie zur Rolle Franz Bleis als Kulturvermittler. Diss. (masch.) Univ. Graz 2000. S. 88.
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VIII. Essayismus als Intertext – Robert Musil und Franz Blei
auto- und intertextuellen Mehrfachverwertung der essayistischen Schriften Bleis und Musils heißt das: nur selten wird ein ganzes Werk (verstanden hier als ‚Großraumtext‘),13 vielfach nur eine Wendung, ein Satz, ein Dialog, ein Textbaustein, eine Figur, ein Motiv etc. in den neuen Textkörper einverleibt und mit dem Namen des Autors überschrieben. In der Autowie Metareflexion beider Autoren wird die Frage nach den Mechanismen der Textassimilation mit der Frage nach der Funktion von Dichtung bzw. Literatur verbunden. Bereits in seinem frühen Essay Über Robert Musil’s Bücher (1913) bestimmt Musil die Aufgabe der Literatur, die er in Literat und Literatur (1931) als zu suchende Funktion offen lassen wird, ausdrücklich als Vorgang der Assimilation: „Dieser asymptotische Abbau, durch den allein wir die seelischen Kraftstoffe dauernd unserm Geist assimilieren, ist der menschliche Zweck des Kunstwerks, seine Möglichkeit dessen Kriterium.“14 Auch in Literat und Literatur kennzeichnet Musil den Vorgang der literarischen Traditionsbildung explizit als Assimilationsvorgang: „So könnte man wahrscheinlich welchen Schriftsteller immer ‚zerlegen‘ (und zwar sowohl formal wie gegenständlich oder auch dem angestrebten Sinn nach) und würde nichts in ihm finden als seine zerstückelten Vorgänger, die keineswegs völlig ‚abgebaut‘ und ,neu assimiliert‘ sind, sondern in unregelmäßigen Brocken erhalten geblieben.“15 Bereits in einer Tagebuchnotiz von Ende 1919 unterscheidet Musil „2 Arten geistiger Ernährung“: „Aufnahme durch persönliche Verarbeitung (Studium, Originalstudium) und in Emulsion. Dazwischen die Abstufungen der Aufnahme aus (zweiter, dritter, hundertster Hand. Selbst im Universitätsstudium)“.16 Die „persönliche Verarbeitung“ ist ein Vorgang, der sich nicht auf den Dialog der Texte begrenzen lässt, sondern von Musil immer wieder auch als Interaktion zwischen der Person/dem Persönlichen von Autor und Leser im Medium der Texte gekennzeichnet wird. Die Emulgation als kolloide Verteilung zweier (oder mehrerer) nicht miteinander mischbarer Flüssigkeiten, die sich in einer Eprouvette, einem Glasröhrchen für (chemische) Versuche, einem (Text)Korpus im Zustand
_____________ 13 R. Harweg: Pronomina und Textkonstitution. 2. Aufl. München 1979. S. VIIIf. 14 R. Musil: Über Robert Musil’s Bücher. In: Der Lose Vogel Nr. 7, Januar 1913 (GW II, 995–1002, hier 1000); Hervorhebung v. B. N.; textidentisch (abgesehen von Genitiv‚e‘ bei „Kunstwerkes“) mit F. Blei: Robert Musil. In: ders.: Erzählung eines Lebens. Leipzig 1930. S. 449–457, hier S. 454. 15 R. Musil: Literat und Literatur. Randbemerkungen dazu. In: Die Neue Rundschau, September 1931 (GW II, 1203–1227, hier 1206f.); Hervorhebung v. B. N. 16 Ders.: Tagebücher. Heft 19 (1919–1921) (TB I, 540).
VIII. Essayismus als Intertext – Robert Musil und Franz Blei
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des wieder trennbar Unvereinten befinden,17 wird unterschieden vom Vorgang der Assimilation. Diese bezeichnet eine Reaktion der Verschmelzung, der Transformation des Eigenen in ein Anderes, das heißt eine Übernahme in den eigenen Vertextungszusammenhang bei gleichzeitiger Umwandlung des eigenen (Text-)Systems. Der Vorgang der Rezeption eines „schöne[n] Gedichte[s]“ wird in Ansätze zu neuer Ästhetik (1925) wie folgt beschrieben: Es „mischen sich erkannte Bedeutung, wahrgenommene sinnliche Gestalt und Gefühlserregung; in der Nachwirkung wird das Erlebnis teils begrifflich assimiliert und fixiert, teils hinterläßt es eine vage, gewöhnlich unbewußte Disposition, die in irgendeiner späteren Lebenssituation plötzlich wieder lebendig werden, aber auch unmerkbaren Dauereinfluß ausüben kann.“18 Der Rezeptionsvorgang als Prozess der Umwandlung (text)körperfremder in (text)körpereigene Elemente ist zugleich immer auch – ob bewusst oder nicht-bewusst, markiert oder nicht markiert19 – eine Verschmelzung, nicht nur der äußeren Wortverkettungen, sondern auch der inneren Vorstellungszusammenhänge. Im Hinblick auf den Rezeptionsvorgang setzt Musil auch Der „Untergang“ des Theaters (1924) den Ideen von Ganzheit, Werk und Totalität jene der Auflösung, Fragmentarisierung, Zerstückelung und Assimilierung entgegen. Das überholte „sentimentale“, an einer Vorstellung von Ganzheit orientierte Dichter-Konzept der „überwältigende[n] Persönlichkeit […], die wir als Totalität schlucken möchten wie eine Auster“, wird mit einem Konzept von „Sachlichkeit“, der Vorgang des kongenialen Ausund Herunterschlürfens mit dem Zerkauen, kontrastiert: „[W]enn eine andere Person das Persönliche des Künstlers oder Werks in sich aufnimmt, so geht es nicht anders zu als bei der Nahrungsaufnahme: Abbau in Elemente und deren Assimilation. Jedes menschliche Werk besteht aus Elementen, die auch in unzähligen andern Verbindungen vorkommen, und indem man es so versteht, löst es sich in die fließenden Reihen der
_____________ 17 Vgl. hierzu ders.: Der Mann ohne Eigenschaften (Nachlass) zum Zustand der „Ungetrennten und Nichtvereinten“, i. e. hier Ulrich und Agathe (MoE II, 1350). 18 Ders.: Ansätze zu neuer Ästhetik. Bemerkungen über eine Dramaturgie des Films. In: Der Neue Merkur, März 1925 (GW II, 1137–1154, hier 1150). 19 Im Unterschied zur ‚Bewusstheit‘ hält U. Broich (Formen der Markierung von Intertextualität. In: Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Hrsg. v. U. B./M. Pfister. Tübingen 1985. S. 31–48, hier S. 32) die Markierung nicht für ein notwendiges Konstituens von Intertextualität; bewusste, intendierte und markierte Intertextualität mit Bezug auf einen bestimmten, individuellen Prätext wird dagegen als Kernbereich der Intertextualität bestimmt; vgl. ders.: Bezugsfelder der Intertextualität. Zur Einzeltextreferenz. In: Intertextualität. Hrsg. v. U. B./M. Pfister (1985). S. 48–52, hier S. 48.
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VIII. Essayismus als Intertext – Robert Musil und Franz Blei
Seele auf, welche von Anbeginn bis heute laufen, und wird eine Auslegung des Lebens.“20 Mit den „fließenden Reihen der Seelen […], welche von Anbeginn bis heute laufen“, scheint sich ein neuplatonischer Subtext21 – genauer eine implizite Referenz auf Georg Lukács’ Die Seele und die Formen (1911)22 – in die empiriokritizistischen bzw. anti-metaphysischen Grundannahmen eingeschrieben zu haben. Wird die Welt als Zusammenhang bzw. Komplex von Elementen gedacht, der sich nur in gewissen Grenzen in (Natur-) Gesetzen, Ursache-Wirkungs-Verhältnissen und logischen Zeichensystemen erfassen lässt, über diesen (rational) beschränkten Radius hinaus jedoch nach dem Prinzip von Auflösung („Abbau“) und Verbindung („Assimilation“) dieser Elemente organisiert ist, löst sich die Form des jeweiligen Textes, der dieses Leben zum Gegenstand hat, in das ‚Leben‘, in „die fließenden Reihen der Seele“ auf. Der Schwerpunkt liegt bei Musil allerdings im Unterschied zu Lukács nicht auf der Verfestigung in der Form („Werk“), sondern auf deren Auflösung in das Leben. Das, was das Kunstwerk vom Leben (der Seele und ihrem Schicksal)23 unterscheidbar macht, ist nicht die Werkqualität, sondern die Qualität des Erlebens. Diese kann als Gleichzeitigkeit von Sinnlichkeit und Reflexion, Bild und Begriff, in die ‚plötzliche Erfahrung‘ eines ‚lebendigen Gedankens‘, in das plötzliche Lebendigwerden eines intellektuell-begrifflich oder aber gefühlshaftbildlichen Zusammenhangs umschlagen. „Das Ich ist“ auch hier – wie der Substanzbegriff und die Werkidee – „unrettbar.“24 Es ist nicht mehr als (Seelen-)Substanz oder (Autor-)Subjekt konzeptionalisiert, sondern als assimilierende, zwischen den Texten agierende Funktion, als Rezeptionsund Verarbeitungs-Modus.
_____________ 20 R. Musil: Der „Untergang“ des Theaters. In: Der Neue Merkur, Juli 1924 (GW II, 1116–1131, hier 1130). 21 Vgl. R. Lachmann: Ebenen des Intertextualitätsbegriffs. In: Das Gespräch. Hrsg. v. K. Stierle/R. Warning. München 1984. S. 133–139, hier S. 138. 22 Vgl. hierzu auch F. Masini: Beitrag zu einer Philosophie des Essays. In: Neuere Studien zur Aphoristik und Essayistik. Mit einer Handvoll zeitgenössischer Aphorismen. Hrsg. v. G. Cantarutti/H. Schumacher. Frankfurt a. M. [u. a.] 1986. S. 250–257, hier S. 253f.: „Es ist merkwürdig, daß im Kapitel des ersten Teils des Mannes ohne Eigenschaften, wo Musil von der Utopie des Essayismus spricht, die essayistische Haltung Ulrichs in fast den gleichen Ausdrücken wie denen von Lukács vorgeführt wird.“ 23 Vgl. G. Lukács: Über Wesen und Form des Essays. Ein Brief an Leo Popper. In: ders.: Die Seele und die Formen. Essays (1911). Neuwied/Berlin 1971. S. 7–32, hier S. 9. 24 E. Mach: Antimetaphysische Bemerkungen. In: ders.: Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen (1886). Nachdr. d. 9. Aufl. (Jena 1922). Darmstadt 1991. S. 1–31, hier S. 20.
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In der literarischen Zusammenarbeit von Musil und Blei wird der Vorgang der wechselseitigen Textassimilation als Spiel mit dem Autornamen praktiziert: von der anonymen Publikation über die Verwendung von fremden Namen für eigene Texte bis hin zur Überschreibung fremder Texte mit dem eigenen Namen. Dieses Spiel bzw. „diese Aufhebung der ‚Namen‘“25 kann als radikale Konsequenz eines Verständnisses von Literatur als (Selbst-)Kritik der Kritik im Sinne einer Metakritik gelesen werden.
1. „mit Puderquaste und Weihwedel“ – Franz Blei als Prototyp perspektivischer Polyvalenz Man muss heute mit einem ganz irrationalen Enthusiasmus vernünftig sein, was schwerer ist, als lauhwarm irrational-romantisch-gefühlig-religiös.26 (Franz Blei) Dieses Licht, das Franz Blei unserer Literatur geschenkt hat, gehört zu ihren Kostbarkeiten.27 (Robert Musil) Aber die Tiefe (theoretisch unendlich) wird erst ein Wert durch das Licht der Intelligenz. Die Tiefe: bis wohin das Licht reicht. Musils Tiefe: sein Licht reicht weiter hinunter als irgend eines.28 (Franz Blei)
Gilt Kerr bis Anfang der dreißiger Jahre als der „einflußreichste“ Kritiker Berlins,29 so genießt Franz Blei (1871–1942) bis in die zwanziger Jahre das zweifelhafte Renommee, der berühmt-berüchtigste Berlins, Münchens
_____________ 25 F. Blei: Brief an Carl Schmitt vom 8. 10. 1924. In: ders.: Briefe an Carl Schmitt 1917– 1933 (1995). S. 63. 26 Ders.: Brief an Carl Schmitt vom 28. 19. 1921. In: ebd. S. 25. 27 R. Musil: Franz Blei – 60 Jahre. In: Der Wiener Tag, 17. Januar 1931 (GW II, 1199– 1203, hier 1200). 28 F. Blei: Marginalien zur Literatur (1935–37) in: ders.: Zwischen Orpheus und Don Juan. Hrsg. v. E. Schönwiese. Graz/Wien 1965. S. 98–109, hier S. 100; vgl. ders.: Robert Musil. In: ders.: Zeitgenössische Bildnisse. Amsterdam 1940. S. 222–229, hier S. 226: „Die Intelligenz ist das alleinige Maß der Tiefe, die an sich keine Dimension ist. Aber die Tiefe, theoretisch unendlich, wird erst ein Wert durch das Licht der Intelligenz. Tiefe ist: bis wohin das Licht reicht.“ 29 H. Markgraf: Art. ‚Alfred Kerr‘. In: Literatur Lexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Hrsg. v. W. Killy. Gütersloh/München 1990. Bd. 6. S. 302f., hier S. 302: „K.[err] schrieb von 1900 an Kritiken für die Zeitung ‚Der Tag‘ u.[nd] war bis 1930 der einflußreichste Kritiker Berlins.“
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und Wiens zugleich zu sein.30 Der germanistischen Literaturwissenschaft lange Zeit allenfalls als Randfigur bekannt,31 wird Franz Blei heute als „eine der Schlüsselfiguren im dt. Literaturbetrieb des ersten Jahrhundertdrittels“32 gehandelt. Helga Mitterbauer resümiert: „Als Kritiker, Herausgeber von Zeitschriften und von zahlreichen Werkausgaben, als Verlagslektor, Übersetzer und Anreger von Übersetzungen sowie durch seine vielen Kontakte zu Persönlichkeiten des Kulturbetriebs (Verleger, Intendanten, Regisseure, Politiker etc.) […] übt Franz Blei in den ersten dreißig Jahren des 20. Jahrhunderts einen wesentlichen Einfluß auf das kulturelle Leben aus.“33 Und für Endre Kiss ist Franz Blei gar der „Repräsentant“, „Organisator und […] die bestimmende Gestalt der ‚zweiten‘ Welle der europäischen Moderne“.34 Schon Paul Raabe hatte Franz Blei als „typische[n] Repräsentant[en] des literarischen Jugendstils in den Jahren zwischen 1900 und 1910“ im „Umbruch von der Neuromantik und dem Symbolismus zum Expressionismus und einer neuen Sachlichkeit“ situiert:35 „der gebildete, kultivierte Schriftsteller, Dichter und Literat war im Vorkriegseuropa der Vermittler französischen Geistes in Deutschland, Vertreter eines neuen Rokoko am Ende des bürgerlichen Zeitalters, Verfasser zahlreicher geistreicher, ge-
_____________ 30 Vgl. R. Musil: Franz Blei – 60 Jahre (1931), der von seinem „berühmte[n] und berüchtigte[n] Freund“ spricht (GW II, 1199) sowie R.-P. Baacke: Nachwort: „Enzyklopädist der Randbemerkungen“. Marginalien zu Leben und Werk des Franz Blei. In: Franz Blei: Der Montblanc sei höher als der stille Ozean. Essays. Hrsg. v. R.-P. B. Hamburg 1994. S. 220–235, hier S. 224: „Franz Blei war in seiner Zeit ein vielbeachteter Literat und Essayist, ein Kritiker und Übersetzer, er war eine bahnbrechende Kulturinstanz.“ 31 Vgl. jedoch H. Kreuzer: Franz Blei: Schriften in Auswahl. In: Germanistik 2 (1961). S. 277f. sowie die Monographie von D. Steffen: Franz Blei (1871–1942) als Literat und Kritiker der Zeit. Diss. (masch.) Univ. Göttingen 1966. 32 U. Weyrer: Art. ‚Franz Blei‘. In: Literatur Lexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Hrsg. v. W. Killy. Gütersloh/München 1990. Bd. 2. S. 14f., hier S. 15; vgl. bereits H. Kreuzers Rezension: Franz Blei: Schriften in Auswahl. In: Germanistik 2 (1961). S. 277f., hier S. 278. 33 H. Mitterbauer: Ein Mann mit vielen Eigenschaften (2001). S. 167; vgl. dies.: Die Netzwerke des Franz Blei. Kulturvermittlung im frühen 20. Jahrhundert. Tübingen/Basel 2003. S. 1f. und S. 15. 34 E. Kiss: Franz Blei als Repräsentant der europäischen Moderne. In: InternetZeitschrift für Kulturwissenschaften. Nr. 4, Oktober 1999. S. 1–15, hier S. 1; zum ‚Wellen‘-Konzept der Moderne vgl. ebd. S. 6ff. 35 P. Raabe: Franz Kafka und Franz Blei. Samt einer wiederentdeckten Buchbesprechung Kafkas. In: Kafka-Symposium. Hrsg. v. J. Born [u. a.]. Berlin 1965. S. 1–21, hier S. 15; vgl. E. Schönwiese: Einleitung. In: Franz Blei: Zwischen Orpheus und Don Juan (1965). S. 7, der Franz Blei als „Wortführer der sogenannten Neuromantik, vor allem des Dreigestirns Hofmannsthal-Borchardt-Schröder“ kennzeichnet.
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schliffener Essays und Erzählungen“.36 Murray G. Hall skizziert die vielfältigen Aktivitäten des „unbekannte[n] Tausendsassa[s]“ wie folgt: „Er war Verlagslektor, etwa bei Georg Müller in München, er schrieb Literaturkritik, Buchbesprechungen im Fließbandstil, Lyrik, Biographien, Bühnenstücke, Essays. Er war ein fleißiger Übersetzer: er übertrug weit mehr als ein Dutzend Werke aus dem Französischen ins Deutsche, darunter André Gide, Paul Claudel, Charles Baudelaire und Félicien Rops und – teilweise zusammen mit Martha Musil – die Werke Stendhals. Er bearbeitete gleich viele Werke, gab Baudelaire heraus. Er war auch mit dem jungen Filmwesen verbunden, führte gerne Regie und betätigte sich auch als Schauspieler. Seine bekannteste Rolle war die in Carl Sternheims Die Hose […]. Zusammen mit Anton Kuh trat er in einer Verfilmung von Maria Stuart auf […]. Die Zahl der Zeitschriften, an denen Blei maßgeblich beteiligt war bzw. die er herausgab, ist Legion und an sich ein interessantes Kapitel deutscher Literaturgeschichte. Zu nennen wären etwa: Der Amethyst […], Die Opale, Hyperion, Roland, Neue Revue, Die Rettung, Summa, Uhu, Der Querschnitt, Die Dame, Die Bühne, Der Zwiebelfisch usw.“37 Die Bewertung von Bleis Verdiensten um die deutsche Literatur geht zumindest für die Zeit nach den zwanziger Jahren weit auseinander. Dabei scheint Leben wie Werk des ‚Literaten‘ und Literaturagenten, ‚Mittlers der Literaturen‘38 (als Übersetzer, Herausgeber und Lektor) und Literaten (als Entdecker nicht nur Robert Musils, sondern auch Robert Walsers, Franz Kafkas, Hermann Brochs und zahlreicher anderer)39 in der posthumen Rezeption ebenso polarisierend zu wirken wie in der zeitgenössischen Auseinandersetzung. Im Fokus steht dabei vor allem Bleis Reputation als „Professor der Erotik“40 bzw. „zynischer Erotiker“41 oder „emeritierte[r]
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P. Raabe: Franz Kafka und Franz Blei (1965). S. 7. M. G. Hall: Der unbekannte Tausendsassa (1983). S. 130f. Vgl. Franz Blei. Mittler der Literaturen: Hrsg. v. D. Harth. Hamburg 1997. Vgl. H. Mitterbauer: Ein Mann mit vielen Eigenschaften (2001). S. 88 sowie dies.: Die Netzwerke des Franz Blei (2003). S. 74, die weiterhin nennt: „Carl Sternheim, Annette Kolb, Carl Einstein, Albert Paris Gütersloh, Gina Kaus, Max Brod, Franz Werfel und viele andere […]. Auf die von Blei geförderten Bildenden Künstler, Musiker und Denker wäre dabei noch nicht hingewiesen.“ E. Kiss: Franz Blei als Repräsentant der europäischen Moderne (1999). S. 8 geht sogar so weit, „Hermann Broch und Robert Musil […] geradezu als Schüler Franz Bleis“ anzusehen; vgl. ebd.: „Blei-Schüler Robert Musil“ sowie ebd. S. 10: Bleis „langjährige sokratisch-erzieherische Tätigkeit bei Autoren, aus denen im späteren ein Hermann Broch oder ein Robert Musil geworden ist […].“ 40 A. Polgar: Ja und Nein. Darstellungen von Darstellungen. Hrsg. v. Wolfgang Drews. Hamburg 1956. S. 80: „Doktor Franz Blei, der bekannte Professor der Erotik mit ambulanter Lehrkanzel […].“
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VIII. Essayismus als Intertext – Robert Musil und Franz Blei
Pornograph[ ]“42 in Literatur und Leben. „Die Fackelkraus“43 alias Karl Kraus schildert im 514.–518. Stück der Fackel von Ende Juli 1919 den Facettenreichtum seines publizistischen Konkurrenten wie folgt: „Zum Lever der Pompadour ihr von der einen Seite die Beicht abzunehmen, von der andern die neuesten Mots aus dem Café Herrenhof zu erzählen, dazu ein deutscher Romantiker vom Ende des 18. Jahrhunderts zu sein, womöglich die beiden Schlegel auf einmal vorzustellen, philosophierend und lorgnettierend, mit Puderquaste und Weihwedel, fromm und aufgeklärt, Skeptiker und Enthusiast, sentimentalisch und verrucht, burlesk wie Gozzi und stürmisch wie Lenz – das soll einer dem Franz Blei nachmachen.“44 Albert Paris Gütersloh ventiliert noch im Nachwort der von ihm besorgten Schriften in Auswahl mit seiner Behauptung, sein Freund Blei sei selbst auf dem Sterbelager „von jungen Mädchen umgeben gewesen“,45 das Arom des nicht nach Bock riechenden männlichen Mannes.46 Und Gregor Eisenhauer bescheinigt in seinem Biographischen Essay über den biographischen Essayisten unter Berufung auf Gina Kaus (1893–1985), eine seiner
_____________ 41 H. Broch: Der Schriftsteller Franz Blei. (Zum fünfzigsten Geburtstag). In: Prager Presse, 20. April 1921. Abgedr. in: ders.: Kommentierte Werkausgabe. Hrsg. v. P. M. Lützeler. Bd. 9/1: Schriften zur Literatur 1: Kritik. Frankfurt a. M. 1975. S. 53– 59, hier S. 56. 42 K. Kraus: Die Fackel 24 (1922). Nr. 601–607. S. 85. 43 F. Blei: Das große Bestiarium der Literatur (1924). Frankfurt a. M. 1982. S. 33f.: „Die Fackelkraus“ ernährt sich im Unterschied zum Süßwasserfisch nicht von Trüffeln, sondern von den Exkrementen ihrer Feinde: „sie [ist] aus dem Kote dessen geboren […], den sie vernichten will.“ Der „auf Spezialstudien gegründete[ ] Beitrag“ über die „Fakelkraus“ wird im Vorwort zur ersten Auflage des Bestiariums (ebd. S. 14) von Dr. Peregrin Steinhövel (i. e. Franz Blei) seinem Freund Dr. Negelinus (i. e. Carl Schmitt) zugeschrieben. Carl Schmitts Schattenrisse waren 1913 unter dem Pseudonym „Johannes Negelinus, Mox Doctor“ erschienen. Es handelt sich um den einzigen nichtfingierten bibliographischen Hinweis aus den Quellenschriften des Bestiariums in: F. Blei: Das große Bestiarium der Literatur (1924). S. 379; vgl. I. Villinger: Carl Schmitts Kulturkritik der Moderne. Text, Kommentar und Analyse der „Schattenrisse“ des Johannes Negelinus. Berlin 1995. Mit den „Spezialstudien“ wird auf C. Schmitts in der Summa Bd. 1 (1917/18). S. 89–106) veröffentlichte Satire Die Buribunken. Ein geschichtsphilosophischer Versuch verwiesen; vgl. hierzu A. Reinthal (Hrsg.): Franz Blei: Briefe an Carl Schmitt 1917–1933 (1995). S. 143, die vermutet, dass Bleis Bestiarium auch noch andere Schmitt-Texte enthalten könnte. 44 K. Kraus: Die Fackel 21 (1919). Nr. 514–518. S. 18. 45 A. P. Gütersloh: Nachwort. In: Franz Blei: Schriften in Auswahl. Hrsg. v. A. P. G. München 1960. S. 639–671, hier S. 648. 46 Vgl. ebd. S. 641: „Er war ein männlicher Mann. Ohne nach Bock zu riechen. Und bis ins späte Alter besaß er keinen Bauch.“ Vgl. hierzu auch F. Blei: Das große Bestiarium der Literatur (1924). S. 37f.: „Das Güterloh ist ein animal, von dem nur feststeht, dass es ewig ante coitum triste; woraus man erkennt, dass es nur in der männlichen Art vorkommt.“
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ehemaligen Geliebten, die sich allerdings ihrerseits zu diesem Punkt nicht explizit äußert, Franz Blei noch 50 Jahre nach dessen Tod die Qualitäten eines guten Liebhabers.47 Dabei erweist sich nicht nur Bleis Selbststilisierung als galanter Abbé,48 der es sich leisten konnte, „unmaskiert auf einem Bohemeball zu erscheinen“,49 als überaus produktiv für posthum fortgeschriebene Mystifikationen.50 Hinzuweisen bleibt noch auf die programmatisch vertretene Allianz von Kommunismus und Katholizismus („Es lebe der Kommunismus und die katholische Kirche!“)51 in der Zeitschrift Die Rettung52 wie auf die Prozesse und öffentlichen Verurteilungen, die sein privates wie publizistisches Leben begleiteten: das Verbot der unter Pornographie-
_____________ 47 So G. Eisenhauer: Der Literat (1993). S. 39 unter Berufung auf G. Kaus: Von Wien nach Hollywood. Erinnerungen. Hrsg. v. S. Mulot. Frankfurt a. M. 1990; zuerst veröffentlicht unter dem Titel „Und was für ein Leben … mit Liebe und Literatur, Theater und Film“ (1979). 48 Vgl. hierzu K. Edschmid: Lebendiger Expressionismus. Auseinandersetzungen, Gestalten, Erinnerungen. Wien/München/Basel 1961. S. 162: „Er war Abbé des Rokoko, Sataniker, der junge Mädchen in Gesellschaft bei voller Publizität auszog […].“ Vgl. auch M. Krell: Das alles gab es einmal. Frankfurt a. M. 1961. S. 22f.: „In einer Ecke [im Café des Westens], gleich neben dem Glasgehäuse der Türe, stand ein ausnahmsweise länglicher Tisch und dahinter ein von Sprungfedern zerstochenes Plüschsofa undefinierbarer Färbung. Franz Blei, Talententdecker, eleganter Debattierer, in allen Stilsätteln gerecht, den wir den Abbé nannten und der sich in der Geste eines Jesuitenpaters gefiel, erläuterte die ‚civitas dei‘ des heiligen Augustinus, was ihn nicht daran hinderte, durch seine schwarz geränderte Brille nach hübschen Mädchenbeinen Ausschau zu halten.“ Vgl. auch F. Werfel: Barbara oder die Frömmigkeit. Berlin/Wien/ Leipzig 1929. S. 584, der von der „galante[n] Priestermaske“ Basils (d. i. textextern Blei) spricht. 49 G. Eisenhauer: Der Literat (1993). S. 31; es handelt sich hier unter Umständen um eine Identifizierung von der fiktiven Figur des Prinzen Hippolyt mit ihrem Autor; vgl. F. Blei: Prinz Hippolyt. In: ders.: Männer und Masken. Berlin 1930. S. 223–257, hier S. 229: „Vielleicht ging der Prinz ohne Maske und galt daher einer Maskenwelt als der allein Maskierte.“ 50 Vgl. C. Magris: Franz Blei und die bloße Oberfläche. In: ders.: Der Ring der Clarisse. Großer Stil und Nihilismus in der modernen Literatur. Frankfurt a. M. 1987. S. 162– 191, hier S. 173: „Wie der Abbé Galiani, den Blei liebt und dem er einen Essay widmet, versteckt sich Blei in seinen Schriften, porträtiert und maskiert sich auf hundertlei Arten und in hunderterlei Formen […].“ 51 Vgl. hierzu K. Kraus: Die Fackel 21 (1919). Nr. 514–518. S. 17f.: „Seine [Bleis] Beziehungen zum Spiritus sind mit Herrn Kranz wie mit der katholischen Kirche so unerforschlich verknüpft, wie die Interessen des Herrn Kranz mit dem Kommunismus […].“ Vgl. auch C. Magris: Franz Blei und die bloße Oberfläche (1987). S. 168, für den Blei „eine Art katholisch-kommunistischer Karl Kraus“ darstellt. 52 Die Rettung. Blätter zur Erkenntnis der Zeit. Hrsg. v. F. Blei/A. P. Gütersloh. Wien Jg. 1 (1918/19). H. 12/14, Jg. 2 (1919/20). H. 4/5; vgl. hierzu auch F. Blei: Der Antichrist. In: ders.: Erzählung eines Lebens (1930). S. 487–490.
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Verdacht stehenden Zeitschrift Der Amethyst,53 Bleis deutschnationale Tätigkeit als publizistischer „Damenschneider“ bzw. „Zuschneider […] für Damengarderobe“54 bzw. „Kleiderkastenarrangeur“55 und „schreibender Modephilosoph“56 während des Ersten Weltkrieges, der Vorwurf der Kriegsgewinnlerei in der defätistischen Doppelfunktion als persönlicher Sekretär des Heereslieferanten Dr. Josef Kranz und Geliebter von dessen ‚Adoptivtochter‘ Gina Kaus sowie die ihm in Verbund mit Egon Erwin Kisch, Franz Werfel und Albert Paris Gütersloh zugeschriebene geistige Vaterschaft an der Wiener ‚Roten Garde‘.57
_____________ 53 Der Amethyst. Blätter für seltsame Literatur und Kunst. Hrsg. v. F. Blei. Wien Jg. 1 (1905/06), 12 H. Vgl. hierzu F. Blei: Erzählung eines Lebens. Leipzig 1930. S. 430ff.; H. Mitterbauer: Die Netzwerke des Franz Blei (2003). S. 119 listet mehr als 25 Publikationen Bleis auf, „die sich im weitesten Sinn mit dem Themenkreis der Erotik beschäftigen […].“ 54 T. Haecker: Der Krieg und die Führer des Geistes (1915). In: ders.: Satire und Polemik. Der Geist des Menschen und die Wahrheit. München 1961. S. 71–196, hier S. 98 und S. 100 sowie Bleis Entgegnung: Der Krieg und die Führer des Geistes. In: Die Aktion 5 (1915). S. 428–430. 55 K. Kraus: Die Fackel 24 (1922). Nr. 601–607. S. 88; vgl. auch die Monatsschrift Der Kleiderkasten (Berlin 1915), bei der Blei mitgearbeitet hat und T. Haecker: Der Krieg und die Führer des Geistes (1915). S. 101: „Der Schriftsteller Dr. Franz Blei ist der Propagandist und künstlerische Berater der neuen Modefirma, die sich bezeichnenderweise ‚Kleiderkasten‘ nennt […]“ und ebd.: „Er sollte nur damenschneidern. Er sollte nicht Wiederverkäufer von Werten der Literatur sein, sondern nur mit Wiederverkäufern von Damenkleidern reellen Handel treiben.“ (Zur Hervorhebung im Text vgl. ebd. Fußnote S. 174: „Die in diesem Abschnitt kursiv gedruckten Stellen wurden bei dem ersten Erscheinen […] im Brenner-Jahr-Buch Sommer 1915 von der k. k. Zensur unterdrückt.“) 56 T. Haecker: Der Krieg und die Führer des Geistes (1915). S. 177. 57 Vgl. Georg Bittner: Die Wiener ‚Rote Garde‘. Eine Gründung der Prager Kaffeehausliteraten. In: Neues 8 Uhr Blatt, 16. November 1918; zit. nach: M. G. Hall: Der unbekannte Tausendsassa (1983). S. 134; vgl. auch A. Mahler-Werfel: Mein Leben (1963). Frankfurt a. M. 1989. S. 122 und G. Kaus: Von Wien nach Hollywood (1979). S. 62: „Als wir erfuhren, daß sich schräg gegenüber dem Landtagsgebäude eine Menschenansammlung gebildet hatte – eine gewaltige Menge – , beschlossen Werfel, Milena und ich, auf die Straße zu gehen und herauszufinden, was dort los sei. […] / Plötzlich riß sich Werfel, der neben mir stand, den Hut vom Kopf und schrei: ‚Nieder mit Habsburg! Es lebe die Republik!‘“ Vgl. auch F. Blei: Revolution in Wien. In: ders.: Erzählung eines Lebens (1930). S. 472–480, hier S. 473: „Immer marschierte wo ein Zug mit roten Fahnen, hielt wo, einer gestikulierte, Werfel oder Kisch“. Und ebd. S. 478f.: „Ein paar Schüsse beim Parlament. Sie riefen mich und den Freund, der bei mir weilte, ans Fenster, denn meine Wohnung war nah dem Platz. Menschen liefen die Gasse herauf, die wir bis zum Ring übersehen konnten, liefen vor Schüssen davon, deren einer zu Tode traf. Und ein Bub wurde zertreten. Zwei Opfer, nicht mehr, dem Umfang und der Tiefe der Revolution als ein Zufall entsprechend. Andern Tages lasen wir in der Zeitung, groß aufgemacht, daß wir, Gütersloh und ich, die Kugel wohl nicht aus dem Lauf gelassen, aber das Gewehr gehalten hätten. […] Diesen zweien, man konnte nicht wissen, was sie noch vorhatten mit ihrer Rettung, mußte rasch der
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Während Bleis Verdienste als Entdecker und Förderer bislang unbekannter Autoren unbestritten bleiben,58 scheinen seine zahlreichen Wiederentdeckungen erotischer Literaturen59 auch heute noch vom Vorwurf der Pornographie freigesprochen werden zu müssen. Nicht nur sein unkonventioneller Lebensstil, der das Geistige mit dem Sinnlichen und Ökonomischen zu verbinden sucht, Bleis Vorliebe für schöne Frauen wie für schöne Bücher, ist dabei Gegenstand der Kritik. Bestenfalls wird sein Witz in Anlehnung an den Sprachgebrauch des 18. Jahrhunderts gekennzeichnet als die „ingeniöse Kunst, Querverbindungen herzustellen zwischen den entlegensten Wissensgebieten“.60 So könnte Blei mit Friedrich Schlegel Witz im Sinne von „unbedingt geselliger Geist, oder fragmentarische Genialität“ zugesprochen werden.61 Und mit Jean Paul, dessen sämtliche Werke in 65 Bänden der Knabe Blei antiquarisch erstanden und Seite um Seite verschlungen hat,62 ließe er sich in die Reihe der „weibliche[n]“, „passive[n] Genies“ bzw. „Grenz-Genies“ stellen.63 Nicht als Dichter, als Schöpfer, sondern allenfalls als Literat, als Verwerter von Literatur – als Kritiker, Lektor, Übersetzer, Herausgeber – wird er gewürdigt. Franz Blei,
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öffentliche Kredit genommen werden, am besten indem man ihnen Blutschuld gab an einem zwölfjährigen Buben und einem alten Mann.“ Vgl. hierzu auch R. Musil: Revolutionstagebuch vom 2.11.1918 (TB I, 342f.) Vgl. hierzu G. Eisenhauer: Der Literat (1993). S. 56: Bleis „Hauptaugenmerk galt all jenen, die von der Geschichte übergangen worden waren, den Abenteurern und Kokotten, deren Ruhm nur eine Saison währte, den Totgeschwiegenen und Verketzerten, den literarischen Außenseitern […]. Kein anderer deutscher Autor hat so viele Vergessene wieder in Erinnerung gebracht. Seine ‚Deutsche Literaturpasquille‘, sein ‚Kuriositätenkabinett der Literatur‘, seine vielzähligen Porträtsammlungen sind ihrer eigentlichen Funktion nach Nekrologe, die mit feuilletonistischer Beiläufigkeit einige wenige aus der Heerschar jener rehabilitieren, die unverdient ins historische Abseits geraten sind […].“ Vgl. K. Riha: Zur Entdeckung des Erotischen um die Jahrhundertwende – am Beispiel von Eduard Fuchs und Franz Blei. In: Annäherungsversuche. Zur Geschichte und Ästhetik des Erotischen in der Literatur. Hrsg. v. H. A. Glaser. Bern/Stuttgart/Wien 1993. S. 301–321, hier S. 319, der Franz Blei als „Entdecker bzw. Wiederentdecker erotischer Kunst und Literatur um die Jahrhundertwende“ würdigt. G. Eisenhauer: Der Literat (1993). S. 5. F. Schlegel: Lyceum. Kritische Fragmente (1997). In: ders.: Kritische FriedrichSchlegel-Ausgabe. Hrsg. v. E. Behler [u. a.]. I. Abt. 2. Bd.: Charakteristiken und Kritiken I (1796–1801). Hrsg. v. H. Eichner. München/Paderborn [u. a.] 1967. S. 148. R. Blei: Erzählung eines Lebens (1930). S. 106; vgl. G. Eisenhauer: Der Literat (1993). S. 5. Jean Paul: Werke. Bd. 5: Vorschule der Ästhetik (1804). S. 51f.
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VIII. Essayismus als Intertext – Robert Musil und Franz Blei
so Anne Gabrisch, „wurde produktiv eigentlich nur in der Begegnung mit Literatur.“64 Aber auch hier gehen die Urteile wieder auseinander: Gregor Eisenhauer kennzeichnet Bleis Übersetzertätigkeit – unter Hinweis auf dessen eher dem Verfahren der produktiven Rezeption als dem Prinzip der Texttreue folgende Dickens-Übersetzung – als ‚skrupellos‘.65 Gilt der „vielbeachtete[ ] Literat und Essayist, […] Kritiker und Übersetzer“ Rolf-Peter Baacke als „bahnbrechende Kulturinstanz“,66 so hat Blei bei Anne Gabrisch allenfalls als Herausgeber, nicht aber als Kritiker „stilbildend gewirkt“.67 Bleis literarischer Existenz wird die pyramidale Struktur des tektonisch gebauten Dramas unterlegt und eine gebrochene Linie – zunächst von der Jahrhundertwende (Mitarbeit an der Insel und der Neuen Rundschau, Prinz Hypolit) aufsteigend, über einen kurzgipfligen Höhepunkt im Jahr 191368 und dann abfallend mit dem Ende des Ersten Weltkrieges bzw. dem Beginn der zwanziger Jahre – gezeichnet: „Er, dem früher alle Redaktionen und Lektorate offengestanden waren, mußte antichambrieren.“69 Nach 1920 war „Bleis Zeit“, so Anne Gabrisch, „ganz eindeutig vorüber“.70 Kurt Hiller hatte in seiner Philosophie des Ziels bereits 1916 Franz Blei und dem von ihm vertretenen „psychologische[n] Zeitalter“ Lynchmord angedroht: „Elegantes Polyhistorenwesen, untermischt mit preziöser Erotik (die ‚philosophisch‘ tut), Dandygeschwätz, Bibliophilie und Raffiniertenkoketterie – auch im sehr Hirnlichen –, die hochmütige Analysis und die
_____________ 64 A. Gabrisch: Nachwort. In: Franz Blei: Porträts. Hrsg. v. A. G. Wien [u. a.] 1987. S. 535–577, hier S. 546. 65 G. Eisenhauer: Der Literat (1993). S. 74. Vgl. auch K. Edschmid: Lebendiger Expressionismus (1961). S. 162: „[…] einige Studienräte, die gelehrt und nicht einfach Publikum waren, prüften Bleis Übersetzung und beschwerten sich bei Kurt Wolff. Blei hatte offenbar eine sehr alte und wenig bekannte Übersetzung von Dickens genommen und neue Schlüsse dazu gemacht. Von Kurt Wolff um eine Erklärung gebeten, sagte er, die Original-Enden der Romane seien zu langweilig gewesen.“ 66 R.-P. Baacke: Nachwort (1994). S. 224. 67 A. Gabrisch: Nachwort (1987). S. 552. 68 1913 werden Nikodemus Schuster alias Franz Blei ein Autorenabend im Salon Paul Cassirers und zwei Sondernummern der Aktion gewidmet; vgl. A. Gabrisch: Zeittafel. In: dies.: Franz Blei (1987). S. 608–630, hier S. 617. 69 G. Eisenhauer: Der Literat (1993). S. 126. 70 A. Gabrisch: Nachwort (1987). S. 564; vgl. H. Mitterbauer: Ein Mann mit vielen Eigenschaften (2001). S. 130f.: „Tatsächlich nimmt der Einfluß Bleis auf den Literaturbetrieb im Verlauf des Ersten Weltkriegs ab, und der zwischen 1905 und 1915 hochgeschätzte Autor, dem alle Medien offenstehen und auf dessen Rat die deutschen Verleger und Regisseure hören, muss sich immer häufiger sorgen, wo er seine Artikel und Bücher unterbringt.“
1. „mit Puderquaste und Weihwedel“
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spitz-lyreske Emphase, Theater-Massenmystik, Ballettmetaphysik, das Ernstnehmen von Décor, Kostüm, Gestus, Mittelalter, Shakespearepossen, Pritzelpuppen, Solotänzern, Tenören, der affige Musikkult, Holzschnitt- und Antiquitätenpflege, der Inhalt dessen, was man mit der Vorstellung ‚Hofmannsthal‘ verknüpft, sämtliche Gewebe ‚niveau‘haften Zartsinns und jene jüngste Frechheit, auf eine mondäne Art ‚katholisch‘ zu sein – all dies darf sich nicht mehr spreizen. Fährt uns nochmal einer mit der Puderquaste ins Gesicht, so wird er gelyncht!“71 „Der Typ der exquisiten bibliophilen Zeitschrift, den er entscheidend mitgeprägt hatte, des kleinen Verlages mit individueller Physiognomie war im Verschwinden. Das, was Musil treffend und grämlich die ‚Ullsteinisierung‘ nannte, hatte begonnen.“72 Der Viel- und „Abschreiber“, so Gabrisch weiter,73 wiederhole sich zunehmend selbst: „Betrachtet man die Fülle der übrigen Veröffentlichungen“ Franz Bleis in jenen Jahren, „so ermüden die ewigen Wiederholungen, ermüdet das jetzt manchmal auch Zähflüssige seines Stils. Die Vielzahl der Themen entpuppt sich bei näherem Hinsehen als eine Vielfalt der Variationen, der erweiterten und veränderten Neuauflagen.“74 Gesellschaftlich satisfaktionsfähig ist der unkonventionelle Privatgelehrte, promovierte Nationalökonom und Sohn eines Analphabeten ohnehin nie gewesen.75 Und so erscheint auch sein von Vereinsamung und Armut gezeichneter Tod im amerikanischen Exil in den biographischen Lesarten schon nicht mehr als Katastrophe, sondern vielmehr als Konsequenz seines Lebens. Seit Hans Wolffheim 1955 den Essay mit dem Chamäleon verglichen hat,76 dient dieser Tiervergleich der Essayforschung geradezu als Topos. Der Zeitgenosse Kasimir Edschmid wiederum, von Blei selbst als
_____________ 71 K. Hiller: Philosophie des Ziels. In: Das Ziel. Aufrufe zu tätigem Geist. Hrsg. v. K. H. München/Berlin 1916. S. 187–219, hier S. 202f. 72 A. Gabrisch: Nachwort (1987). S. 564. 73 Ebd. 74 Ebd. S. 563f. 75 Vgl. G. Eisenhauer: Der Literat (1993). S. 104f., der behauptet, „daß man ihn [Blei], den Bauarbeitersohn und literarischen Parvenü, gesellschaftlich nie ernst genommen hat.“ 76 H. Wolffheim: Der Essay als Kunstform. Thesen zu einer neuen Forschungsaufgabe. In: Festgruß für H. Pyritz. Euphorion Sonderheft 1955. S. 27–30, hier S. 28; vgl. auch B. Berger: Der Essay. Form und Geschichte. Bern/München 1964. S. 108; H. Schumacher: Der deutsche Essay im 20. Jahrhundert. In: Deutsche Literatur im 20. Jahrhundert. Strukturen und Gestalten. Hrsg. v. O. Mann/W. Rothe. Bern/München 1967. 5. veränd. u. erw. Aufl. Bd. 1. S. 267–285, hier S. 271; L. Rohner: Der deutsche Essay. Materialien zur Geschichte und Ästhetik einer literarischen Gattung. Neuwied/Berlin 1966. S. 619 u. a.
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VIII. Essayismus als Intertext – Robert Musil und Franz Blei
„Schmarotzer“- und „Schwindeltierchen“ gebrandmarkt,77 bezieht den terminus zoologicus nicht auf die literarische Gattung, sondern auf den Essayisten Franz Blei: „Ein seltsames Chamäleon der Literatur, das jedermann zu erfreuen imstande war, weil seine Tugend die Fähigkeit des Wechselns war.“78 Der Name eines Mannes steht hier für eine literarische Gattung wie für eine Lebenshaltung gleichermaßen. Franz Blei selbst verwendet zu seiner Selbstcharakterisierung im Großen Bestiarium der Literatur allerdings nicht die schuppige, baumbewohnende Echse, Sinnbild der Unbeständigkeit wie Falschheit, sondern den „Süßwasserfisch, der sich geschmeidig in allen frischen Wassern tummelt und seinen Namen – mhd. blî, ahd. blîo = licht, klar – von der außerordentlich glatten und dünnen Haut trägt, durch welche die jeweilige Nahrung mit ihrer Farbe deutlich sichtbar wird.“79 Der Farbwechsel dient hier nicht der Tarnung bzw. Anpassung einer als ursprünglich bzw. eigentlich angenommen Naturfarbe an eine jeweils wechselnde Umgebung (‚Fälschung‘), sondern ist vielmehr anschaulicher Ausdruck der das Blei’sche Vertextungsverfahren kennzeichnenden Assimilation bei gleichzeitiger Transparenz: „Unser Fisch ißt sehr mannigfaltig, aber gewählt, weshalb er auch, in Analogie zu jenem Schweine, der Trüffelfisch genannt wird wegen seiner Fähigkeit, Leckerbissen aufzuspüren.“80 Im Folgenden soll der „merkwürdige[n] Freundschaft“ bzw. ungleichen Beziehung zwischen dem „Trüffelfisch“ Franz Blei81 und dem der Unterfamilie der Echthirsche (Cervinae) zugehörenden „Damhirsche[n]“ (Robert Musil) nachgegangen werden. Von diesem wiederkäuenden Pflanzenfresser erfahren wir aus dem Bestiarium, dass er „ein edles, in schönen Proportionen kräftig gebautes Tier“ mit extremen Schlafbedürfnis sei: „Seine ungeheure Kraft der Muskeln nicht nur, sondern auch die hohe Sensibilität seines nervösen Lebens, welche der Musil in seinem wachen Jahr zeigt, scheinen den auffallend langen Winterschlaf nötig zu machen.“82 Einen denkbaren Hinweis auf den ebenfalls zur Familie der Schlauchpilze gehörenden, wenngleich völlig ungenießbaren und allenfalls als Brunstmittel für Rinder und Schweine verwendbaren Hirschtrüffel
_____________ 77 F. Blei: Das große Bestiarium der Literatur (1924). S. 31. 78 K. Edschmid: Lebendiger Expressionismus (1961). S. 163; vgl. auch C. Magris (Franz Blei und die bloße Oberfläche (1987). S. 165); dieser sieht in Franz Blei „eine geniale und exzentrische Stimme dieser österreichischen Negativität, die er mit ironischer Leidenschaft durchlebte und die er hinter chamäleonhaften Verstellungen verbarg.“ 79 F. Blei: Das große Bestiarium der Literatur (1924). S. 25. 80 Ebd. 81 Ebd. 82 Ebd. S. 53.
1. „mit Puderquaste und Weihwedel“
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suchen wir hier vergeblich. Im Vorwort zur vierten Auflage von 1922 findet allerdings ein gewisser Dr. Maturin Melas (alias Robert Musil) Erwähnung, dem Dr. Peregrin Steinhövel,83 der Verfasser der „Fauna literaria“,84 ausdrücklich für seine „Mithilfe“ dankt.85 In seiner 1930 erschienenen Autobiographie Erzählung eines Lebens wird Franz Blei Robert Musil – wie auch einem gewissen Baron Albrecht Peyronnet alias Albert Paris Gütersloh, der im Vorwort zum Großen Bestiarium gleichfalls als Beiträger genannt wird86 – als „Glücksfall meines spirituellen Lebens“ bezeichnen.87 Die Geschichte dieser ‚merkwürdigen‘ und überaus textproduktiven Freundschaft beginnt mit einem Trüffel, den der Süßwasserfisch Blei Ende 1906 entdeckt: die soeben im Wiener Verlag erschienenen Verwirrungen des Zöglings Törleß, die er zu Beginn des Jahres 1907 – also unmittelbar folgend auf Alfred Kerrs Rezension in Der Tag vom 21. Dezember 1906 – im 2. Band der von ihm herausgegeben Opale besprechen wird.88 Blei gelingt es mit der ihm eigenen „seigneuralen Gleichgültigkeit“, die ihm zwanzig Jahre später Robert Musil im Interview mit Alfred Polgar (1926) bescheinigen wird,89 ins Zentrum der Musil’schen Schreibweise zu stoßen. Denn der Avenarius-Schüler kennzeichnet den Törleß-Roman als „Versuch“, eine bestimmte „Beobachtung“ und „persönliches Interesse“ verbindende „Form des heutigen Intellektualismus“ so zu gestalten, dass die Gefühls- und Erkenntnismodi auch auf der Ebene der Darstellung zum Ausdruck gebracht und miteinander verbunden werden: „Die Weise, in der Geistiges und Sinnliches merkwürdig ineinandergreifen, eins vom andern die Farbe bekommt, wie sich oft rein geistige Absichten und intellektuelle Dinge im Verfolg und unvermerkt vom Sinnlichen ablösen lassen
_____________ 83 Vgl. BESTIARIUM LITERARICUM / das ist / Genaue Beschreibung / Derer Tiere / Des Literarischen / Deutschlands / verfertigt / von / Dr. Peregrin Steinhövel. Gedruckt für Tierfreunde zu München in diesem Jahr (Privatdruck in eintausend nummerierten Exemplaren). München 1920; s. R.-P. Baacke: Fundstellen und Wegweiser. In: Franz Blei: Das große Bestiarium der Literatur (1924). Hrsg. v. R.-P. B. Hamburg 1995. S. 393–411, hier S. 402. 84 F. Blei: Das große Bestiarium der Literatur (1924). S. 14. 85 Ebd. S. 18. 86 Ebd. 87 F. Blei: Erzählung eines Lebens (1930). S. 457. 88 Die Opale. Blätter für Kunst und Litteratur. Hrsg. v. F. Blei. Leipzig 1907. Jg. 1 (1907). S. 213: „gedruckt für Subscribenten … in einer einmaligen Auflage von 850 Exemplaren auf englisch Velin und von 40 Exemplaren auf Kaiserlich Japan“; zit. nach: D. Steffen: Franz Blei (1966). S. 115. 89 R. Musil: Interview mit Alfred Polgar (1926) (GW II, 1157).
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VIII. Essayismus als Intertext – Robert Musil und Franz Blei
und umgekehrt – das hat der Verfasser mit allerfeinsten Mitteln der erlebenden Beobachtung dargestellt.“90 Damit wird dem jungen literarischen Debütanten gleich zu Beginn seiner literarischen Laufbahn jene Gleichzeitigkeit von Erlebnis und Reflexion zuerkannt, die Musil 1925 in seinem Essay Ansätze einer neuen Ästhetik der Filmästhetik Béla Balázs zusprechen und zum Paradigma der Literaturkritik erheben wird. Noch in Bleis 1929 erschienenen Sammelband Ungewöhnliche Menschen und Schicksale wird ein gewisser Klemens von Disemberg Musils Törleß-Roman vom zeitgenössischen Mittelmaß der „mehr oder weniger unterhaltende[n] Romanciers“ – genannt werden „Heinrich, Thomas, Haupt-, Keller-, Suder- und Wassermann“ – abgehoben.91 Zwischen Robert Musil und dem fast zehn Jahre älteren Franz Blei entwickelt sich – je nachdem ob der Beginn der wechselseitigen Textinterferenzen mit dem Erscheinen der Verwirrungen des Zöglings Törleß oder dem Musil’schen Nachlassfragment Tagebuch Hippolyte angesetzt wird – ein ungefähr dreißig Jahre währender Prozess literarischer Zusammenarbeit,92 wechselseitiger Textassimilation, gemeinsamer Textproduktion, reziproker Kommentierung, zitierender Fortschreibung und fortschreibender Zitierung, kritischer Reflexion und füreinander werbender PR-Arbeit. Roger Willemsen hebt hervor: „Kein Zeitgenosse wird in Musils Werk so oft genannt wie Blei, an keine Person sind so viele Brief erhalten“.93 Bemerkenswert erscheint allerdings nicht nur deren Quantität, sondern auch die, vor allem im Zusammenhang mit der Genese der Vereinigungen (1911), intensive Auseinandersetzung zu Fragen der Erzählperspektive wie zum Verhältnis von novellistischer (Narration) und essayistischer Schreibweise (Reflexion) sowie der – bis zur Emigration und der sich hierdurch verschlechternden finanziellen Situation Musils – auffallend heitere Tonfall und die beständige Thematisierung körperlicher und psychischer Leiden (vom Schnupfen94 und Schwitzen95 bis hin zu „neurasthenia cordis“,96
_____________ 90 F. Blei: Robert Musil. Die Verwirrungen des Zöglings Törless. In: Die Opale 1 (1907). S. 213; Hervorhebung v. B. N. 91 Ders.: Klemens von Disemberg. In: ders.: Ungewöhnliche Menschen und Schicksale. Berlin 1929. S. 279–301, hier S. 289; vgl. ebd. S. 290: „Es gibt Romane vom Unten Eurer Frau Mahler her bis hinauf zu den Verwirrungen des Zöglings Törles [!] […].“ 92 Vgl. hierzu auch: B. Plachta (Hrsg.): Literarische Zusammenarbeit. Tübingen 2001; das Autorenteam Blei-Musil findet hier allerdings keine Berücksichtigung. 93 R. Willemsen: „Man nimmt Franz Blei zu leicht!“ (1983). S. 120. 94 R. Musil: Brief an Franz Blei vom 21. 2. 1911 (BR I, 74). 95 Ders.: Brief an Franz Blei vom 31. 5. 1931 und 18. 6. 1931 (BR I, 519). 96 Ders.: Brief an Franz Blei vom 13. 2. 1929 (BR I, 441).
2. Der Prinz und sein Hypertext
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Arbeitshemmung und „Depression“97 sowie „Gallenreizung“98). „Unzählig sind die Plädoyers des einen für den anderen, die gegenseitigen Widmungen und Würdigungen – Bleis Formen der Liebe sind ,Robert Musil in Freundschaft und Verehrung‘ gewidmet, Musil widmete Franz Blei den Aufsatz Die Frau gestern und morgen (1929); immer wieder wurde das eine oder andere Werk des Freundes zum ,Buch des Jahres‘ erklärt.“99 Dabei geht die literarische Zusammenarbeit, die wechselseitige Textassimilation beider Autoren so weit, dass Roger Willemsen anregt, Musil zuschreibbare Exkurse aus dem Großen Bestiarium als Ausgabe letzter Hand bzw. Textvarianten für die Edition der Musil’schen Essays zu berücksichtigen.100 Gregor Eisenhauer spricht von „literarische[r] Selbstverwechslung“101 und das Autorinnenteam Silvia Bonacchi und Emanuela Veronica Fanelli kennzeichnen „[d]as enge Verhältnis zwischen Blei und Musil“ als „intellektuelle[s] ‚Osmosephänomen‘“.102
_____________ 97 Ders.: Brief an Franz Blei vom 31. 7. 1929 (BR I, 449). 98 Ders.: Brief an Franz Blei vom 13. 4. 1933 (BR I, 567). 99 S. Bonacchi/E. V. Fanelli: „Ein nie gesättigtes Verlangen nach Geist …“: Zur Beziehung zwischen Franz Blei und Robert Musil. In: Franz Blei. Mittler der Literaturen (1997). S. 108. Musil empfiehlt Bleis Formen der Liebe und dessen Autobiographie Erzählung eines Lebens – neben Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz u. a. – in der Rubrik Die besten Bücher des Jahres vom 13. Dezember 1930 im Tagebuch: „Man nimmt Blei zu leicht! Die Spannbreite seiner Betrachtung, die Bedeutung seiner Schlüsse und die Schärfe seiner Formulierungen machen ihn wertvoll für alle, die eine Begründung und Vertiefung ihres Geschmacks, ihrer Gefühle und ihres Urteils suchen.“ (GW II, 1722). 100 R. Willemsen: „Man nimmt Franz Blei zu leicht!“ (1983). S. 125. 101 G. Eisenhauer: Der Literat (1993). S. 95. 102 S. Bonacchi/E. V. Fanelli: „Ein nie gesättigtes Verlangen nach Geist …“ (1997). S. 130.
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2. Der Prinz und sein Hypertext103 – Hippolyt als Rokoko-Galant oder moderner Sentimentaler? Vielleicht ging der Prinz ohne Maske und galt daher einer Maskenwelt als der allein Maskierte.104 (Franz Blei)
1901 erscheint in der Insel 105 Prinz Hypolit in drei Teilen,106 zwei Jahre später als Sammelband ebenfalls im Leipziger Insel-Verlag107 und 1909 unter dem Titel Die Puderquaste. Ein Damenbrevier. Aus den Papieren des Prinzen Hippolyt.108 Mochte sich auch Alfred Walter Heymel, Gründer der Monatsschrift Die Insel und Mitbesitzer des Insel-Verlags, zumindest „in Einzelheiten“ porträtiert finden109 – in der Forschung gilt der Prinz Hippolyt (neben Klemens von Disemberg)110 als ‚Selbstbildnis‘,111 „Selbstfigu-
_____________ 103 Nach G. Genette (Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Frankfurt a. M. 1993. S. 14f.) ist ‚Hypertext‘ der Text B (in diesem Falls Musils Tagebuch Hippolyte), der sich auf Text A (hier Bleis Prinz Hypolite) bezieht, wobei Text B als Text zweiten Grades Text A auf eine Weise überlagert, die nicht die des Kommentars ist: der Hypertext wird „weit häufiger als der Metatext als ‚eigentlich literarisches‘ Werk angesehen – unter anderem aus jenem einfachen Grund, weil er als Ableitung von einem Werk narrativer oder dramatischer Fiktion nach wie vor ein Werk der Fiktion darstellt und deshalb in den Augen des Publikums automatisch dem Feld der Literatur zugeschlagen wird […].“ 104 F. Blei: Prinz Hippolyt. In: ders.: Männer und Masken (1930). S. 229. 105 Blei war bereits 1899 von Otto Julius Bierbaum zur Mitarbeit an der neu gegründeten Zeitschrift aufgefordert worden. 106 Ders.: Prinz Hypolit. In: Die Insel 3 (1901). 1. Quartal: H. 1. S. 57–63; H. 2. S. 107– 113. H. 3. S. 215–221. 107 Ders.: Prinz Hypolit. Ein imaginäres Porträt. In: ders.: Prinz Hypolit und andere Essays. Leipzig 1903. A. Gabrisch: Erläuterungen zu den Texten. In: Franz Blei (1987). S. 587 macht auf die intertextuelle Referenz des Untertitels auf Walter Praters Imaginäre Porträts aufmerksam, die ebenfalls 1903 in deutscher Übersetzung im InselVerlag erschienen. 108 F. Blei: Die Puderquaste. Ein Damen-Brevier. Aus den Papieren des Prinzen Hippolyt. München 1909; ab der dritten Auflage (1912) bei Georg Müller (1917; 1920). 1911 wird Prinz Hippolyt (1910) in ders.: Vermischte Schriften. Bd. 1: Erdachte Geschehnisse. Zehn Studien. München/Leipzig 1911. S. 9–52 aufgenommen. Es handelt sich in bei zahlreichen Neuausgaben nicht um Wiederveröffentlichungen des immer gleichen Textes, sondern um Textvariationen, Ergänzungen, Umstellungen und Modifikationen. 109 Vgl. A. Gabrisch: Erläuterungen zu den Texten (1987). S. 587. 110 F. Blei: Die Frivolitäten des Herrn von Disemberg. Berlin 1925 und ders.: Klemens von Disemberg. In: ders.: Ungewöhnliche Menschen und Schicksale (1929). S. 279– 301. 111 E. Schönwiese: Einleitung (1965). S. 16.
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ration“112 bzw. „fiktives alter ego“113 Franz Bleis, ohne dass jedoch im Einzelnen zwischen Figur/en und Text/en unterschieden wird. Nach Silvia Bonacchi und Emanuela Veronica Fanelli zeugt das frühe Musilfragment Tagebuch Hippolyte, das Adolf Frisé auf 1903 datiert,114 „von der Lektüre und der kritischen Reflexion von Bleis Prinz Hypolit.“115 Dem kurzen Nachlasstext des Anfang Zwanzigjährigen ist ein Personenverzeichnis vorangestellt, in dem die dramatis personae Hippolyte, Madelaine und Marguérite angeführt werden. Aus der Perspektive der männlichen Hauptfigur, in der Ich-Form und überwiegend im Präteritum, werden die Empfindungen und Reflexionen eines zwischen zwei Frauen (Marguérite und Madelaine)116 sowie zwischen den Stimmungen des Frivolen und „Heilige[n]“,117 der „Culmination“ und „Depression“,118 „galante[n] Frechheiten“119 bzw. „Raffinement“ und „Feigheit“120 Schwankenden wiedergegeben. Weder dargestellte Situation noch Stil der Darstellung sind frei von Sentimentalismen.121 Der männliche Narziss und „Herr Pierrot“122 küsst
_____________ 112 A. Gabrisch: Erläuterungen zu den Texten (1987). S. 587. 113 G. Eisenhauer: Der Literat (1993). S. 56. 114 S. Bonacchi/E. V. Fanelli: „Ein nie gesättigtes Verlangen nach Geist …“ (1997). S. 113f. und K. Corino: Robert Musil (2003). Anm. 11/12. S. 1540f. datieren Musils Text auf 1906/07. 115 S. Bonacchi/E. V. Fanelli: „Ein nie gesättigtes Verlangen nach Geist …“ (1997). S. 110; auch bei A. Frisé (GW II, 1760) und D. Barnouw: Literat und Literatur (1976). S. 188 findet sich bereits der Hinweis auf eine mögliche Beeinflussung. 116 Deren Rollen sind von der Musilforschung als Herma Dietz und Aenna Griewisch identifiziert worden; vgl. S. Bonacchi/E. V. Fanelli: „Ein nie gesättigtes Verlangen nach Geist …“ (1997). S. 113; vgl. auch A. Frisé (GW II, 1760) sowie K. Corino: Robert Musil (2003). S. 275ff., der zwischen Aenna und Anna differenziert (ebd. Anm. 6. S. 1540). 117 R. Musil: Tagebuch Hippolyte [1906/07?; den Datierungsvorschlägen von S. Bonacchi/E. V. Fanelli: „Ein nie gesättigtes Verlangen nach Geist …“ (1997). S. 113f. und K. Corino: Robert Musil (2003). Anm. 11/12. S. 1540f. folgend] (GW II, 701– 707, hier 704). 118 R. Musil: Tagebuch Hippolyte [1906/07?] (GW II, 705). 119 Ebd. S. 701. 120 Ebd. S. 703. 121 Hiervor bewahrt auch der explizit geäußerte Selbstvorwurf nicht; vgl. ebd. S. 703: „Ich war wohl in der letzten Zeit zu sentimental.“ 122 Vgl. die Titelfigur aus dem Gedichtzyklus Pierrot Lunaire (1884) von Albert Giraud, der 1911 von Franz Blei bei Georg Müller in München herausgegeben wurde sowie die von F. Blei und Max Brod besorgte Auswahl von Jules Laforgue: Pierrot der Spaßvogel. Berlin [u. a.] 1909 sowie die bereits vorab in Der Amethyst (1. 1905/06. S. 33–41) veröffentlichten Auszüge.
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nicht gern,123 hört sich aber offensichtlich selbst gern sprechen124 und liest Madelaine zwar nicht in wertheriadischer Manier Klopstocks Oden, aber immerhin doch Rilkes Gedichte vor: „Ich lag in einem hohen Stuhl und psalmodirte. Meine Stimme hatte etwas Priesterliches, Rauhes und Erregtes – zögernde Inbrunst eines Mariengebetes. Dazu die Pracht R.[ilkes]. Ohne die Stimmung zu verletzen erklärte ich. Ich celebrirte gewissermaßen meine Meinung von der Liebe. / Es griff mich bis zur Erschöpfung an. Auch sie. Es war wirklich gelungen unsere persönliche Beziehung aufs äußerste zu steigern. Und die Gemeinsamkeit war so, als ob wir eine Nacht zusammen geschlafen hätten.“125 Bereits kurz darauf befürchtet der sentimentalisch Liebende schon wieder „durch [s]eine Künstelei den Augenblick versäumt zu haben“,126 hält um die Hand Madelaines an127 und vermag erst dann wieder in seine gesucht kapriziös-mondäne Stimmung zurückzufinden, das heißt, „frei von Leidenschaft und so viel glücklicher“ zu sein, als er glaubt, diese sei unmittelbar vor ihm mit einem anderen Mann zusammengewesen: „Ich küßte sie endlich“.128 Silvia Bonacchi und Emanuela Veronica Fanelli interpretieren die Kussszene mit den zentralen Topoi aus der Literatur der Jahrhundertwende sowie der Robert Musil-Forschung und verhelfen dem kleinen Nachlasstext somit zu posthumen Würden: „Es handelt sich um den Grundkonflikt zwischen den Anforderungen der Wirklichkeit und dem Bedürfnis nach geistiger Erlesenheit, zwischen Leben und Kunst […]. Die Schlußszene des Kusses zwischen dem Protagonisten und Madelaine soll die Überwindung der Spaltung besiegeln. Die Ferngeliebte wird zur wirklichen Liebhaberin […]. Die ganze Erzählung kann als Gleichnis für den
_____________ 123 Vgl. R. Musil: Tagebuch Hippolyte [1906/07?]: „Marguérite erscheint mir hübscher als vorher, aber ich vermag sie kaum zu küssen. Denn nicht mehr in ihr küsse ich mich.“ (GW II, 703) Vgl. auch ebd. S. 706: „Sie [Madelaine] küßt nicht gut, wie ich bemerke. Beim Loslassen der Lippen verursacht sie Geräusch.“ 124 Vgl. ebd. S. 701: „Ich entwickelte ihr [Madelaine] eine Theorie des Flirt und sprach überhaupt viel von Mann und Weib.“ 125 Ebd. S. 702; in gewisser Weise wird hier bereits der Diskurs über die Liebe zwischen Ulrich und Agathe aus dem 2. Buch von Der Mann ohne Eigenschaften (1932) vorweggenommen. 126 Ders.: Tagebuch Hippolyte [1906/07?] (GW II, 703), vgl. auch ebd. S. 701: „Aber wenn auch meine Sätze nicht geistlos waren; sie reuten mich […]. Diese Gunst des Augenblicks hatte ich nicht ergriffen.“ 127 Ebd. S. 704. 128 Ebd. S. 706.
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Versuch gelten, die Isolierung des Künstlers zu überwinden und eine Brücke zur Wirklichkeit zu schlagen.“129 Die Banalität des erotischen Sujets wird dabei ebenso in Kauf genommen wie jenes Begehren aus zweiter Hand, welches dem Text eingeschrieben ist, übergangen. Festzuhalten bleibt, dass Figur wie Text des Musil’schen Hippolyte stark gegenüber dem Blei’schen Prätext abfallen. Gegenüber Musils modernem Hamlet der Erotik, der sein ‚Heirate-ich-sieoder-nicht?‘ minuziös in Tagebuchform festhält und sich so im Prozess der Niederschrift wie des Sich-selbst-Wiederlesens immer nur selbst küsst und begehrt, gewinnt die Titelfigur aus dem gleichnamigen Essay Franz Bleis geradezu Züge des Naiven. Gemeinsam ist beiden Helden allenfalls der Status des Junggesellen und die Attitüde der Blasiertheit.130 Jedoch konzentriert sich der diarische Text des jungen Musil, der auf der Ebene der Geschichte wie der des Diskurses eine sentimentalische Ich-Ich-Struktur des (erotischen) Erlebens wie Beobachtens aufweist, auf eine zeitlich eng begrenzbare novelleske Entscheidungssituation. Der Text des dreißigjährigen Franz Blei dagegen beginnt mit einer Reflexion des sechzigjährigen Prinzen131 über das Verhältnis von Alter und Jugend und greift bis in dessen Kindheit zurück. Erzählt werden Life and Opinions eines mit „naive[r] Sicherheit“132 jede Stunde seines Lebens glücklich Genießenden.133 Und anders als der fiktive Franz Blei in der autobiographischen Erzählung eines Lebens (1930) des sechzigjährigen Franz Blei nimmt der Prinz am Ende seines
_____________ 129 S. Bonacchi/E. V. Fanelli: „Ein nie gesättigtes Verlangen nach Geist … (1997). S. 112. 130 F. Blei: Prinz Hippolyt (1903). In: ders.: Porträts. Hrsg. v. A. Gabrisch. Wien [u. a.] 1987. S. 335–353, hier S. 337 und R. Musil: Tagebuch Hippolyte [1906/07?] (GW II, 701); vgl. auch G. Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben (1903). In: ders.: Brücke und Tür. Essays des Philosophen zur Geschichte, Religion, Kunst und Gesellschaft. Im Verein mit M. Susman hrsg. v. M. Landmann. Stuttgart 1957. S. 227–243, bes. S. 232 sowie K. Corino: Robert Musil (2003). Anm. 4. S. 1539, der neben der „Blasiertheit“, auch den „häufige[n] Wechsel der Tätigkeiten“ und das „Faible für Mystik“ als Parallelen „zwischen dem Bleischen und dem Musilschen Helden“ bestimmt. 131 F. Blei: Prinz Hippolyt (1903). S. 335f.; in der von F. Blei in Männer und Masken (1930. S. 223–257) veröffentlichten Textvariante erst auf S. 228, d. h. nach dem ersten Sechstel des ungefähr um das Doppelte ergänzten Textkorpus. Vgl. hierzu auch F. Blei: Interessante Begegnung. In: ders.: Erzählung eines Lebens (1930). S. 284–291, in welchem der sechzigjährige (fiktive) Blei auf sein dreißig Jahre jüngeres Ich trifft. 132 Ders.: Prinz Hippolyt (1903). S. 337. 133 Vgl. ebd. S. 336: „Glück aber ist Freude an jeder Stunde. Und solches Glück wurde dem Prinzen zuteil, und um dieses Glückes willen wäre sein Leben schon erzählenswert […].“
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VIII. Essayismus als Intertext – Robert Musil und Franz Blei
Lebens auf dem Sterbebett nicht wieder alles zurück,134 sondern wird vielmehr vom Erzähler mit der Aussage zitiert, „er würde es nie anders zu leben wünschen, wenn es ihm auch noch zehnmal gegeben würde.“135 Der Prinz, der wie Blei selbst die schönen Bücher136 und die schönen Frauen liebt, spricht im Unterschied zu Musils allzu geschwätzigen Hippolyte „weder in der Jugend noch in späteren Jahren über seine Verhältnisse mit den Frauen. Wohl nicht nur aus natürlichem Feingefühl, sondern auch aus jener zynischen Gleichgültigkeit heraus, die jenem eigen ist, dessen Liebe Sentiments nicht kennt.“137 Wir können davon ausgehen, dass dieser Don Juan kein Herbarium seiner Liebschaften und Reflexionen angelegt hat,138 zumindest sind in seinem Nachlass „nichts weiter als einige ‚Notizen zur Kunst des Tanzes‘“ gefunden worden.139 Ein distanziertes essayistisches Ich, das im sentenziösen Tonfall an den alten Goethe erinnert, zeichnet das Porträt des Prinzen Hippolyt in der Er-Form: Die „Studie“ wird als Versuch gekennzeichnet, „von der beiläufigen Art eines Menschen der neuen Kultur nichts weiter als eine Silhouette aus dem Papiere zu schneiden“.140 Ihr „Zweck[ ]“ sei es, „die Zeit in der wir leben, eindringlich an eine Persönlichkeit zu erinnern, die es vermochte, in der Ausbildung eigener Art und Natur auch der Artung ihrer Zeit zu helfen. Dieses ist das Höchsterreichbare des menschlichen Tuns, daß sich stärkstes Leben der Persönlichkeit nicht gegen die Umgebung, sondern mit ihr und sie durchaus fördernd entfalte.“141 Eingeflochten in den biographischen Essay ist der Versuch einer Beschreibung und Analyse des Zeitgeistes um 1900:142 jener Zeit der Mode, des Neuen, der
_____________ 134 135 136 137 138 139 140 141
Vgl. ders.: Erzählung eines Lebens (1930). S. 492. Ders.: Prinz Hippolyt (1903). S. 352. Ebd. S. 340. Ebd. S. 338. Prinz Hippolyt stellt vielmehr „mit eigenen Pressen“ Bücher her; vgl. ebd. S. 340. Ebd. S. 340. Ebd. S. 352. Ebd. S. 336; vgl. Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bde. Hrsg. v. E. Trunz. Bd. 9: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. 10. Aufl. München 1982. S. 9: „Denn dieses scheint die Hauptaufgabe der Biographie zu sein, den Menschen in seinen Zeitverhältnissen darzustellen, und zu zeigen, inwiefern im das Ganze widerstrebt, inwiefern es ihn begünstigt, wie er sich eine Welt- und Menschenansicht daraus gebildet, und wie er sie, wenn er Künstler, Dichter, Schriftsteller ist, wieder nach außen abgespiegelt.“ 142 Vgl. E. Kiss: Franz Blei als Repräsentant der europäischen Moderne (1999). S. 11 sieht wiederum in der Figur des Prinzen „die idealtypische Gestalt (sowohl Franz Bleis wie auch der ganzen zweiten Welle der europäischen Moderne)“; die Hervorhebung in der Textvorlage bleibt unberücksichtigt.
2. Der Prinz und sein Hypertext
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Formlosigkeit,143 der Perversion, der „hysterische[n] Langeweile“, jener Zeit, der die Kunst nicht mehr geselliger „Genuß“, sondern „Kultus“ war,144 jener Zeit des Dilettantismus und der Dilettanten, „als man so viel schrieb und nicht schreiben konnte“.145 Prinz Hippolyt ist einer von ihnen, „ein Dilettant“:146 „Es war aber die Art des Prinzen mehr diese, in den Künsten zu empfangen und aufzunehmen als zu geben“.147 Er ist zwar „keines Gottes und keines Genies Eckermann“,148 aber er ist eben auch kein Goethe: „er konnte Menschliches zu Menschlichem erwerben und zu Höchsten bilden, aber das Göttliche war ihm versagt“. Seine „impressionable Natur“149 bestimmt ihn nicht zum Schöpfer, und sei es auch nur einer der zahllosen zeitgenössischen Ismen, sondern zum Essayisten. In seinen fiktiven Notizen aus dem Nachlass führt Hippolyt den „Verfall der Kunst des Tanzens“ – gleichsam im Vorgriff auf die von Balázs in Der sichtbare Mensch oder Die Kultur des Films (1924) entwickelte Kulturtheorie – darauf zurück, „daß die Sprache unserer Gebärden, mit der wir Emotionen begleiten, verkümmerte durch die starke Ausbildung der Sprache der Worte und der Musik“.150 Doch wird hier nicht die neue Kunstform des (Stumm-)Films visioniert, sondern die unzeitgemäße Lebens- und Kunstform der Geselligkeit, wobei das Bemühen, das überholte individuelle wie gesellschaftliche Rokoko-Ideal gegen die Zeitläufte zu konservieren, auf der Ebene des essayistischen Diskurses kritisch reflektiert wird.151
_____________ 143 Vgl. C. Magris: Franz Blei und die bloße Oberfläche (1987). S. 171: „Wie vielen anderen Verkündern der finis Austriae, so verleiht die bewahrende Liebe zur Form auch Blei die äußerste diagnostische Scharfsicht gegenüber der Auflösung der modernen Welt und ihrer Phänomenologie.“ 144 F. Blei: Prinz Hippolyt (1903). S. 345. 145 Ebd. S. 344. 146 Ebd. S. 339. 147 Ebd. S. 341. 148 Ders.: Erzählung eines Lebens (1930). S. 20. 149 Ders.: Prinz Hippolyt (1903). S. 341. 150 Ebd. S. 348. 151 Das Unzeitgemäße des Prinzen wird auf der Ebene des essayistischen Diskurses gleichsam vom Standpunkt des Abbé aus J. W. Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96) kommentiert; vgl. F. Blei: Prinz Hippolyt (1903). S. 348: „[…] die Absicht selber ist ja nichts weiter als eine solche vom Lebendigen isolierte Idee, die von außen stoßen und bilden möchte, was Trieb und Bildung von innen sein muß, soll es zu guter Frucht werden. Doch ist es in Zeiten der Neubildung und Änderung glücklichen Naturen gegeben, daß sie durch ihre Lebensführung wie ein Vorbild wirken, daß sich Zögerndes an ihrem Beispiel entschließt, Schwankendes festigt und Suchendes den guten Fund begrüßt.“
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VIII. Essayismus als Intertext – Robert Musil und Franz Blei
Summa summarum: Auch wenn eine Lektüre des Blei-Textes schon wegen der gleichnamigen Titelgestalt nicht auszuschließen ist, so kann von einer „kritischen Rezeption“ seitens Robert Musils wohl kaum gesprochen werden.152 Musils Hippolyte ist vielmehr nur einer jener zahlreichen ‚ewig neugeborenen‘ Dandys um 1900, denen „die Lust nach der andern Sensation […] die Erregbarkeit zu einer Sensibilität gesteigert“ hatte.153 Einen Hinweis auf die Geistesverwandtschaft der beiden Autoren gibt allerdings bereits die Lektüreliste des Prinzen Hippolyt, die gleichsam einen Extrakt aus der des Bibliophilen Franz Bleis darstellt: Diese enthält neben den „deutschen Mystiker[n]“ und den „kleinen erotischen Liederdichter[n] des achtzehnten Jahrhunderts“ – wen wundert es – „Goethesche Prosa“ sowie Kierkegaard und „manche der Franzosen, wie Mallarmé, Gide, Régnier“ und last but not least: „[v]on den Philosophen Richard Avenarius“.154 1890 hatte sich Franz Blei an der Universität Zürich für politische Ökonomie immatrikuliert und u. a. bei Richard Avenarius (1843–1896) studiert.155 Avenarius gilt mit seinem Hauptwerk, der Kritik der reinen Erfahrung (1888–90), als Begründer des kritischen Empiriokritizismus. 1908 hat Robert Musil sein Studium der Philosophie und experimentellen Psychologie in Berlin mit einer Dissertation über Ernst Mach (1838–1916) abgeschlossen, der wiederum sein bedeutendstes Werk Erkenntnis und Irrtum (1905) dem Andenken Richard Avenarius’ gewidmet hat.156 Franz Blei und der fast zehn Jahre jüngere Robert Musil teilen – vermittelt über ihre beiden philosophischen Lehrer – den Abschied von der metaphysischen Subjektkategorie, das erkenntnistheoretische Interesse an der Leiblichkeit der Erkenntnis, das heißt an dem Verhältnis von Leib und Seele, Gefühlen und Gedanken, sowie eine Reihe von Bekannten (u. a. Alfred Kerr, Max Scheler und Hermann Broch), die Vorliebe für erotische Sujets sowie die Notwendigkeit, sich und ihre Familie durch das Publizieren zu finanzieren. Ihre literarische Zusammenarbeit, die im Jahr 1908 beginnt und sich ebenso durch kritische Auseinandersetzung wie durch
_____________ 152 Vgl. S. Bonacchi/E. V. Fanelli: „Ein nie gesättigtes Verlangen nach Geist …“ (1997). S. 110; treffender erscheint es hier an die von G. Genette: Palimpseste (1993). S. 18 innerhalb des Bereichs der ‚Hypertextualität‘ getroffene Unterscheidung zwischen ‚Nachahmung‘ und ‚Transformation‘ anzuschließen. 153 F. Blei: Prinz Hippolyt (1903). S. 344. 154 Vgl. ebd. S. 351. 155 Vgl. ders.: Erzählung eines Lebens (1930). S. 208: „Denn wie die Dinge lagen, war dieses hier die Endstation seiner [Avenarius’] Hochschulkarriere, da auf den Universitäten des Reiches jede Stelle mit einem Wundtschüler besetzt war oder wurde.“ 156 Vgl. D. Barnouw: Literat und Literatur (1976). Anm. 18. S. 194.
3. Vom Losen Vogel (1912/13) auf den Hund gekommen: Vereinigungen (1911)
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wohlwollendes ‚promotion‘ auszeichnet, endet in einem bislang nicht ganz aufklärbaren Zerwürfnis 1937 bzw. in den Jahren der Emigration, die für beide Autoren durch mangelnde Publikationsmöglichkeit, zunehmende Geldnot und Vereinsamung geprägt war.
3. Vom Losen Vogel (1912/13) auf den Hund gekommen: Vereinigungen (1911) Zwei ehrliche Hühnerhunde, die, in der Schule des Hungers zu Schlauköpfen gemacht, alles griffen, was sich auf der Erde blicken ließ, stießen auf einen Vogel. Der Vogel, verlegen, weil er sich nicht in seinem Element befand, wich hüpfend bald hier, bald dorthin aus, und seine Gegner triumphierten schon; doch bald darauf, zu hitzig gedrängt, regte er die Flügel und schwang sich in die Luft: da standen sie, wie Austern, die Helden der Triften, und klemmten den Schwanz ein, und gafften ihm nach.// Witz, wenn du dich in die Luft erhebst: wie stehen die Weisen und blicken dir nach!157 (Heinrich von Kleist) Diese eine Frau wird ihrem Mann untreu, aus irgendeinem konstruierten Einfall heraus, daß dies die Vollendung ihrer Liebe bedeuten müsse, und jene andre schwankt neurophatisch zwischen einem Mann, einem Priester und der Erinnerung an einen Hund, der ihr bald wie der eine, bald wie der andere erscheint.158 (Robert Musil)
1908 veröffentlicht Robert Musil im sechsten Heft der von Franz Blei (zunächst gemeinsam mit Carl Sternheim) herausgegebenen Zeitschrift Hyperion159 die Erzählung Das verzauberte Haus. Der Hyperion erschien vom März 1908 bis März 1910 mit der erklärten „Absicht, […] eine Zeitschrift zu schaffen, welche, wie für ihre Zeit Pan und Insel, die schriftstellerischen und künstlerischen Kräfte dieser Zeit in ihren stärksten Formungen vorstellt und späteren Zeiten ein Dokument unseres Wollens und Kön-
_____________ 157 H. v. Kleist: Die Hunde und der Vogel (1808). In: ders.: Sämtliche Werke und Briefe in 2 Bde. Hrsg. v. H. Sembdner. 8. Aufl. München 1985. Bd. 2. S. 324f. 158 R. Musil: Über Robert Musil’s Bücher (1913) (GW II, 999); es handelt sich hier um eine Einschätzung der textinternen Schriftsteller-Figur, also nicht des essayistischen Ich bzw. des textinternen Dichter-Hirns. 159 Hyperion. Eine Zweimonatsschrift (München) Heft 1 (März 1908) bis Heft 11/12 (März 1910).
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VIII. Essayismus als Intertext – Robert Musil und Franz Blei
nens ist“.160 Und aus dem Hyperion-Almanach für das Jahr 1910 ist zu erfahren, dass sich die „[a]us einem erwählten Kreise Schaffender gebildet[e] […] Zeitschrift an gleich erwählte Leser“ wende. Veröffentlicht werden bereits etablierte, bekannte wie (noch) unbekannte, avantgardistische Autoren: Hermann Bahr, Franz Blei, Max Brod, Carl Einstein, Hugo von Hofmannsthal, Franz Kafka,161 Rudolf Kassner, Heinrich Mann, Robert Musil, Rainer Maria Rilke, René Schickele, Paul Wiegler, Arnold Zweig. In Übersetzung erschienen – zum Teil erstmalig – Texte von Maurice Barrès, Hilaire Belloc, Gilbert Keith Chesterton, Paul Claudel, Benedetto Croce, André Gide, André Suares. Dem ‚erwählten‘ Inhalt entspricht die erlesene Form: „jeder Nummer war ein Bildteil mit zehn bis fünfzehn Kunstdrucken beigefügt, darunter Originalgraphiken von Gauguin, Manet, Rodin, Toulouse-Lautrec.“162 Am 22./23. Dezember 1910, also kurz bevor Musil die Überarbeitungen des Verzauberten Hauses abschließt, treffen sich Musil und Blei in Florenz.163 Aus der geplanten „galante[n] Erzählung ein wenig im Sinn irgendwelcher Gedanken, die mich gerade beschäftigten, zu spiritualisiern“, deren Zeitaufwand der junge Autor ursprünglich mit „8 bis 14 Tage[n]“ veranschlagt hatte, wurde – so Musil rückblickend – „ein 2½jähriges verzweifeltes Arbeiten, währenddessen ich mir zu nichts anderem Zeit gönnte. / […] Was schließlich entstand: Eine sorgfältig ausgeführte Schrift, die unter dem Vergrößerungsglas […] das Mehrfache ihres scheinbaren Inhalts enthielt.“164 Die Rede ist hier von der Erzählung Vollendung der Liebe, die 1911 zusammen mit einer überarbeiteten Version von Das verzauberte Haus (jetzt: Die Versuchung der stillen Veronika) im Novellenband Vereinigungen beim Georg Müller-Verlag in München erscheint, für den Franz Blei als Lektor arbeitete. Bleis Gedanke, „daß das Wertbildende in unserer Kunst die Leidenschaft des Denkens sei (involviert auch
_____________ 160 Katalog des Hyperion-Verlages Hans von Weber. Berlin 1909. S. 21ff.; zit. nach: D. Steffen: Franz Blei (1966). S. 126f. 161 Vgl. G. Eisenhauer: Der Literat (1993). S. 63; vgl. ebd.: „1908 erschienen im ersten Heft des Hyperion unter dem Titel Betrachtung 8 Prosastücke des jungen Prager Autors Franz Kafka“; dieser rezensierte im Gegenzug im Februar 1909 in Der neue Weg (Jg. 1. H. 2. S. 62) Franz Bleis Damenbrevier; abgedr. in P. Raabe: Franz Kafka und Franz Blei (1965). S. 11f. 162 G. Eisenhauer: Der Literat (1993). S. 62. 163 Vgl. R. Musil: Heft 5 (1910–1911?) (TB I, 231). 164 Ders.: Vorwort IV. Vorbemerkungen zu: ders.: Nachlaß zu Lebzeiten [1935] (GW II, 965–974, hier 969).
3. Vom Losen Vogel (1912/13) auf den Hund gekommen: Vereinigungen (1911)
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in der des Fühlens)“, habe ihm, so Musil in einem Briefentwurf an Blei, „in der Beschwernis des Buchs […] als Pilgerstab“ gedient.165 Den Höhepunkt ihrer literarischen Zusammenarbeit jedoch bezeichnet die von Blei herausgegebene Monatsschrift Der Lose Vogel, die ab dem 7. Heft in Leipzig bei Kurt Wolff erscheint.166 Bereits am 21. Februar 1911 fragt Musil Franz Blei per Ansichtspostkarte: „Lebt der lose Vogel?“ und bietet diesem „ein kleines weibliches Tagebuchfragment mit Verulkung einiger literarischer und erotischer Erscheinungen“ an.167 Ende 1911 erbittet Franz Blei von Robert Musil Beiträge für den Losen Vogel und schlägt die folgenden Themen vor: „Erinnerungen an Bismarck“ oder etwas „über die Politik des Papstes […] oder über Freud“.168 Das erste Heft der Monatsschrift kommt im Januar 1912 heraus. Es bestand, darauf hat bereits Dagmar Barnouw hingewiesen, „vor allem aus Beiträgen, die sich auf sehr interessante Weise mit der Frauenfrage beschäftigen“.169 Weiterhin enthält das Programm des Losen Vogel:170 Gedichte, Glossen, kurze Erzählungen und Essays zur Kunst, Politik, Ethik, Philosophie und Literatur.171 Ludwig Dietz bezeichnet Bleis Zeitschrift als „Monatsschrift für Essays“,172 zugleich sei der Essay aber auch „Programm des ‚Losen Vogels‘“.173 Die Beiträger seien, so Blei in seinem Vorwort aus dem 1913 veröffentlichten Sammelband der unverkauft gebliebenen Einzelhefte,174 ebenso
_____________ 165 Ders.: Brief an Franz Blei [Anfang Juli 1911] (BR I, 82); vgl. S. Bonacchi/ E. V. Fanelli: „Ein nie gesättigtes Verlangen nach Geist … (1997). S. 114 zu den Briefentwürfen Musils zur Zeit der Vereinigungen (1911): „Blei ist für ihn wie ein Spiegel, der ihm die Möglichkeit der Selbstreflexion und der Konfrontation bietet […].“ 166 Vgl. L. Dietz: Unbekannte Essays von Robert Musil. Versuch einer Zuweisung anonymer Beiträge im „Losen Vogel“. In: Hofmannsthal-Jahrbuch zur europäischen Moderne 9 (2001). S. 33–137, hier S. 38. 167 R. Musil: Brief an Franz Blei vom 21. 2. 1911 (BR I, 74). 168 F. Blei: Brief an Robert Musil [Ende 1911?] (BR I, 89); die Musil vorgeschlagenen Projekte scheint Blei selbst in die Hand bzw. Schreibmaschine genommen zu haben: vgl. ders. [anonym]: Aus unbekannten Erinnerungen an Bismarck. In: Roland 23 (1925). S. 18–20; vgl. ders.: Pius X. In: Die neue Rundschau 25 (1914). S. 1463 sowie ders.: Menschliche Betrachtungen zur Politik. München 1916. S. 246–253 sowie ders.: Der Freud. In: ders.: Das große Bestiarium der Literatur (1924). S. 97–102 u. a. 169 D. Barnouw: Blei ohne Folgen. In: Österreichische Gegenwart. Die moderne Literatur und ihr Verhältnis zur Tradition. Hrsg. v. W. Paulsen. Bern/München 1980. S. 153–171, hier S. 163. 170 Der Lose Vogel. Eine Monatschrift (München). H. 1. (Jan. 1912) bis H. 6 (Dez. 1919). Nr. 10/12 (April–Juni 1913). 171 Vgl. A. Gabrisch: Nachwort (1987). S. 554. 172 L. Dietz: Unbekannte Essays von Robert Musil (2001). S. 44. 173 Vgl. ebd. S. 52. 174 Ebd. S. 38 u. S. 47.
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VIII. Essayismus als Intertext – Robert Musil und Franz Blei
„reaktionär“ wie „revolutionär“, ihre Texte sollen den „Gegenlauf“ des „Zeitlauf[es]“ dokumentieren und sie stellen die Sache vor die Person: sie wählen die Anonymität. Das Vorwort des bei Kurt Wolff in Leipzig erschienenen Sammelbandes zitiert dabei aus der im Zwiebelfisch veröffentlichten Ankündigung: „Eine ganz kleine Gruppe von Schriftstellern, die mit der Anonymität ihrer Beiträge die Sachlichkeit betonen möchte gegenüber der heute so beliebten Betonung des Persönlichen, schreibt diese Hefte, in der vielleicht nicht ganz aussichtslosen Hoffnung, dass dieser sogenannte ‚moderne‘ Mensch auf sein Epitheton verzichten lerne und ein Mensch werde“. Und erst in dieser nachträglichen Ausgabe werden die Namen der Beiträger genannt, ohne jedoch einzelne Zuordnungen vorzunehmen. Vielmehr werden die „Gedichte“ allgemein Max Brod, Franz Werfel, Robert Walser zugeschrieben und die „Aufsätze“ u. a. Franz Blei, Annette Kolb, Robert Musil und Max Scheler.175 Die meisten Beiträge stammen von Franz Blei selbst,176 direkt gefolgt von Robert Musil, der im Losen Vogel allein acht seiner frühen Essays bzw. Kritiken veröffentlicht: Erinnerung an eine Mode, Penthesileade; Das Geistliche, der Modernismus und die Metaphysik, Gabriel Schillings Flucht in die Öffentlichkeit; Politik in Österreich, Über Robert Musil’s Bücher, Moralische Fruchtbarkeit und Der mathematische Mensch.177 Ludwig Dietz, der Musil darüber hinaus weite-
_____________ 175 Vgl. F. Blei: Vorwort. In: Der Lose Vogel. [Buchausgabe]. Leipzig 1913. S. Vf.; L. Dietz: Unbekannte Essays von Robert Musil (2001). S. 53 nennt als weitere ungenannt gebliebende Beiträger Rudolf Borchardt und Gilbert Keith Chesterton. – Zwölf Jahre später, am 8. 10. 1924 schlägt Blei Carl Schmitt (in: F. Blei: Briefe an Carl Schmitt 1917–1933 (1995). S. 62f.) ein neues Zeitschriften-Projekt mit dem Titel Auf, auf, ihr Christen mit den Mitarbeitern Schmitt, Gütersloh, Musil u. a. vor: „Wenn es ginge, würden die Hefte nur von den Genannten zu schreiben seien. Keine ‚Mitarbeiter‘ der Gelegenheit. Keine Redaktion, die das dumme Eingesandte liest. Gedruckt wird ungelesen was die Genannten schreiben. Kann man auf die Nennung der Verfassernamen verzichten, wie seinerzeit im Losen Vogel, um so besser. Ich habe viel für diese Aufhebung der ‚Namen‘, die in der Wirkung immer falsch mitspielen.“ Vgl. auch ders.: Brief an Carl Schmitt vom 28. 11. 1924 (ebd. S. 64): „Ich will die Verfassernamen nicht unter die Beiträge setzen, sondern in eine Bemerkung am Schluss des jeweiligen Heftes: hierin haben veröffentlicht .. folgen die Namen. Das ist Ersatz für die in Deutschland beliebte Rätselecke.“ 176 Vgl. D. Steffen: Franz Blei (1966). S. 501 sowie H. Mitterbauer: Ein Mann mit vielen Eigenschaften (2001). S. 219. 177 Bislang beschränkten sich Musils Publikationen neben dem Roman Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906) und den Novellenband Vereinigungen (1911) auf zwei mit „Ingenieur Robert Musil“ gezeichnete Beiträge in Natur und Kultur. Zeitschrift für Kultur und Leben: Die Kraftmaschinen des Kleingewerbes (1904) und Die Beheizung der Wohnräume (1904/05; beide abgedr. in: ders.: Beitrag zur Beurteilung der Lehren Machs (1908) und Studien zur Technik und Psychotechnik. Reinbek bei Hamburg 1980. S. 141–177) sowie den Essay Das Unanständige und Kranke in der Kunst im Pan vom 1. März 1911 (GW II, 977–983).
3. Vom Losen Vogel (1912/13) auf den Hund gekommen: Vereinigungen (1911)
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re Texte zuordnet,178 kommt sogar zu folgendem Ergebnis: „Soviel bis jetzt festzustellen ist, stammt wohl fast die Hälfte aller Originalbeiträge im Losen Vogel von Blei, Musil und Borchardt; die Übersetzungen eingeschlossen (die wohl überwiegend von Blei stammen?), sind diese drei für etwa zwei Drittel der Zeitschrift verantwortlich.“179 Karl Corino dagegen weist Dietz’ Attributierungen mit überzeugenden Argumenten (u. a. dem Hinweis auf die Verwendung der Possessivpronomen sowie Musils unzureichende Fremdsprachenkenntnisse zurück) und hält eine Verfasserschaft Bleis für wahrscheinlicher.180 Aufschlussreich ist hier allerdings weniger das philologische Rätselraten bzw. die Zweifelhaftigkeit seines Resultats, nämlich der Zuschreibung eines Autornamens, sondern vielmehr die hartnäckige Leugnung einer Koautorschaft bzw. Bi-Textualität trotz eindeutiger Diagnose auf Polyphonie. Es fehlten Belege, so Dietz, um „zu belegen oder zu widerlegen […], was ein aufmerksames und empfindliches Ohr gerade im Falle Musils meint wahrnehmen zu müssen: dass hin und wieder in seinen Tonfall sich ein Klang mische, der von Blei herrühre; und dass auch in Bleis Äußerungen gelegentlich Musils Stimme hörbar sei“.181 Philologische Attribuitierungsversuche scheinen angesichts eines Vertextungszusammenhangs, der sich grundlegend durch Maskerade (auch der Geschlechtsidentität), Spiel mit dem Autornamen und Dialogizität auszeichnet, nur die zweifelhafte „Sicherheit eines doppelten Papas“182 zu erlangen. Belege für markierte wie unmarkierte Referenzen des einen auf den anderen Textes wie Autors lassen sich dagegen sowohl innerhalb der einzelnen Beiträge des Losen Vogel wie in den Paratexten (Briefe, Tagebücher) und Folgepublikationen beider Autoren zahlreich finden. So wird in der Rubrik Bücher, die empfohlen seien nicht nur auf Georg Lukács’ Essaybuch Die Seele und die Formen (1911), sondern auch auf Robert Musils Novellenbuch Vereinigungen (1911) hingewiesen.183 Und im Essay Literatur und Leben
_____________ 178 Die Wahlparole, Man spricht vom Krieg, Romane der Technik, Die Zensur, Statisten und Männer, General von Bernhardi und sein Buch: Deutschland und der nächste Krieg sowie zwei Übersetzungen Alains: Die politische Gleichgültigkeit und Die fröhliche Wissenschaft. 179 L. Dietz: Unbekannte Essays von Robert Musil (2001). S. 105. 180 K. Corino: Robert Musil (2003). S. 1578f. u. S. 1580. 181 L. Dietz: Unbekannte Essays von Robert Musil (2001). S. 96f. 182 [Anonym]: General von Bernhardi und sein Buch: Deutschland und der nächste Krieg. In: Der Lose Vogel. Nr. 5 (1912). S. 158–166; hier S. 163. 183 F. Blei: Bücher, die empfohlen seien. In: Der Lose Vogel. Nr. 1 (1912). S. 36–38, hier S. 37 empfiehlt hier Musils Vereinigungen als ‚Männerbuch‘ bzw. den „paar Männer[n], die bei dem schlimmen Stande unserer Literatur die Lektüre von Romanen und Novellen nicht prinzipiell aufgegeben haben“.
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VIII. Essayismus als Intertext – Robert Musil und Franz Blei
leitet Franz Blei einerseits das Leben von der Literatur ab184 und bestimmt zum anderen – ebenso herderisch wie avenariusisch – die Gefühle als das „Preexistente“, „das sich ein gedankliches Komplement schafft in der Idee oder im Bilde“. Blei zitiert bei dieser Gelegenheit aus dem in der vorausgegangenen Nr. 6 des Losen Vogel vom Dezember 1912 erschienenen Essay Robert Musils Politik in Österreich, der einen Zusammenhang herstellt zwischen den gesellschaftlichen Verhältnissen des Massenzeitalters („die Auflösung durch eine unübersehbare Zahl“), dem neuen Individualitätsbewusstsein („das Alleinsein und Anonymwerden des einzelnen“) und dem „Beginn einer neuen Funktion“ der Kultur.185 Der von Musil diagnostizierten Unfähigkeit der „ernste[n] Kunst […], zugleich gut und vielen gefällig zu sein“,186 setzt Blei die Renaissance seines Rokokoideals einer heiteren Literatur als „Funktion“ eines „leichten Lebens“ entgegen, das „sich selber noch nicht nennen“ kann:187 „Die Moral dieses leichten Lebens ist zu bestimmen“.188 Robert Musil wiederum nimmt im Februar/März 1913 in der achten und neunten Nummer des Losen Vogel die Frage der Moral auf, um am Beispiel von Egoismus und Altruismus die Dichotomie von Gut und Böse in „parallele Erscheinungen“ zu überführen.189 Noch zehn Jahre später wird Musil gerne auf die gemeinsame Textarbeit für den Losen Vogel zurückblicken: Er sei bei dem Versuch, sich „beim Abend als Theaterkritiker und Glossist zu verdingen“, so ist in einem Brief an Franz Blei vom 22. Dezember 1923 zu lesen, „geistig auf einen Hund gekommen, der meinen Kopf als sein Strohlager fordert. Besonders das Glossenschreiben, wenn es nicht aus dem Übermut einer Gemeinschaft hervorgeht wie eins-
_____________ 184 Vgl. F. Blei: Literatur und Leben. In: Der Lose Vogel. Nr. 7, Januar 1913. S. 235–239, hier S. 235f.: „Was wir Leben nennen, ist eine Summa künstlerischen Schaffens und Namengebens.“ 185 Ebd. S. 236; vgl. R. Musil: Politik in Österreich. In: Der Lose Vogel. Nr. 6, Dezember 1912 (GW 992–995, hier 994). 186 R. Musil: Politik in Österreich (1912). S. 994; vgl. F. Blei: Literatur und Leben (1913). S. 236. 187 F. Blei: Literatur und Leben (1913). S. 238. 188 Ebd. S. 239: vgl. ebd. S. 238: „[…] eine ganz unpathetische Literatur einer leichteren Zirkulation des Blutes, einer freien Geste, eines gemesseneren Geistes, der voll des Affirmativen ist, weder den Zweifel, noch die Ironie, noch alles dieses psychologisierte Undeutliche und Ungenaue kennt, wie es die inferioren Menschen mit der seditiösen Seele lieben.“ Vgl. ders.: Kritische Prolegomena. In: ders.: Vermischte Schriften. Bd. 6: Der Dichter und das Leben. Ein Buch Kritik. München und Leipzig 1912. S. 9– 84, hier S. 82f.: „Die Literatur als eine Funktion dieses leichten Lebens ist zu bestimmen.“ 189 R. Musil: Moralische Fruchtbarkeit. In: Der Lose Vogel Nr. 8/9, Februar/März 1913 (GW II, 1002–1004, hier 1002f.).
4. Kriegsgeschichten, Liebesgeschichten und andere Wertgefühle: Summa (1917/18) 305
tens unser Loser Vogel, ist blödestes Pfotensaugen.“190 Musil nimmt hier gegenüber seinem Briefpartner Blei die Zusammenarbeit beim Losen Vogel von der generellen Abwertung der überwiegend ökonomisch bedingten Essayproduktionen aus. Franz Blei aber beginnt nicht nur mit dem Autornamen versehene Musil-Zitate in seine Publikationen einzuflechten, sondern darüber hinaus auch ungekennzeichnet oder nur mit versteckten Anspielungen markiert, Texte bzw. Textbausteine des Freundes in seine eigenen Publikationen zu ‚assimilieren‘. So taucht beispielsweise der Essay Über Robert Musil’s Bücher im Robert Musil-Kapitel seiner Erzählung eines Lebens (1930) wieder auf, nicht als ganzer, sondern gleichsam als um die szenisch-narrativen Elemente gekürztes Gedankendestillat, Extrakt ihres persönlichen und schriftlichen Austausches im Kontext der Vereinigungen (1911).
4. Kriegsgeschichten, Liebesgeschichten und andere Wertgefühle: Summa (1917/18) […] auch unsere von allen Vorteils- und Nutzungserwägungen freieste denkerische Einstellung wird […] nicht in der Vorteil- und Nutzlosigkeit verharren wollen, sondern dienend in den Zweck unseres Daseins sich stellen, als welcher die Behauptung erkannter Werte der Erhaltung ist oder die Schaffung neuer solcher Werte, wobei uns eine Erkenntnis ihres diktiven Charakters nicht kümmert und nichts eine Einsicht, daß wir es mit so Irrationalem zu tun haben wie dem Leben. Oder dem Kriege.191 (Franz Blei) Der Tod hat keine Schrecken mehr, die Lebensziele keine Lockung. Die, welche sterben müssen oder ihren Besitz opfern, haben das Leben und sind reich: das ist heute keine Übertreibung, sondern ein Erlebnis, unüberblickbar aber so fest zu fühlen wie ein Ding, eine Urmacht, von der höchstens Liebe ein kleines Splitterchen war.192 (Robert Musil) Der Krieg wirkte mehr karnevalisch als dionysisch […].193 (Robert Musil)
_____________ 190 Ders.: Brief an Franz Blei vom 22. 12. 1923 (BR I, 329f.) 191 F. Blei: Aus dieser Zeit. In: Die Neue Rundschau 15 (1914). Bd. 2. S. 1421–2429, hier S. 1428. 192 R. Musil: Europäertum, Krieg, Deutschtum. In: Die Neue Rundschau 15, September 1914 (GW II, 1020–1022, hier 1022). 193 Ders.: Das hilflose Europa oder Reise vom Hundertsten ins Tausendste. In: Ganymed 1922 (GW II, 1075–1094, hier 1075).
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VIII. Essayismus als Intertext – Robert Musil und Franz Blei
Blei’s hatten ein Kaninchen, das Peter sehr liebte, er spielte immer mit ihm. Schließlich haben sie es aber gegessen. Doch Peter hat nichts davon gewollt, hat sich nur die Zunge geben lassen ‚weil es ihn immer damit geleckt hatte‘.194 (Martha Musil)
Als Franz Blei 1913 die Redaktion der Monatschrift Die Weißen Blätter übernimmt,195 ist der von ihm geschriebene Leitartikel der ersten Nummer Vom Charakter der kommenden Literatur überschrieben.196 Mitarbeiter sind auch diesmal: Carl Sternheim, Max Brod, Franz Kafka, Robert Walser, Franz Werfel – und Robert Musil, der zu der Novemberausgabe seinen im Untertitel als Fragment bezeichneten Essay Politisches Bekenntnis eines jungen Mannes (1913) beiträgt.197 Sowohl Musil wie Blei stellen eine innere Verwandtschaft zwischen Krieg und Dichtung einerseits sowie Krieg und Liebe andererseits her.198 Musils essayistischem Ich, dem im durchaus zeittypischen (anti-)intellektuellen Grundgefühl „einer betäubende[n] Zugehörigkeit […] das Herz aus den Händen, die es vielleicht noch für einen Augenblick des Nachdenkens festhalten wollten“, gerissen wird,199 beschwört in der „plötzlich erwiesene[n] Möglichkeit eines Krieges“200 eine Neubestimmung des moralischen Lebens herauf, „in der der Einzelne plötzlich wieder nichts ist außerhalb
_____________ 194 Martha Musil: Brief an Annina Marcovaldi vom 28. 12. 1918 (BR I, 167); Peter Maria Blei (1905–1959) ist der Sohn von Franz und Maria Franziska Blei, geb. Lehmann (1867–1943); zu Maria Lehmann vgl. G. Einsele: „Dieser Kreis – sagen wir – um Maria Lehmann“. In: Franz Blei. Mittler der Literaturen. Hrsg. v. D. Harth. Hamburg 1997. S. 223–242. 195 Die Weißen Blätter. Eine Monatsschrift. Leipzig. Jg. 1 (1913/14). Hrsg. v. F. Blei/E.E. Schwabach; Blei war nur bis zum Ausbruch des 1. Weltkrieges der Herausgeber, seit Januar 1915 gab dann René Schickele Die Weißen Blätter heraus. 196 [F. Blei]: Vom Charakter der kommenden Literatur. In: Die Weißen Blätter. Nr. 1, September 1913. S. 1–5. 197 Vgl. hierzu auch L. Dietz: Unbekannte Essays von Robert Musil (2001). S. 51, der davon ausgeht, dass Musils Politisches Bekenntnis eine jungen Mannes (GW II, 1009–1015) noch für den Losen Vogel geplant war und ihn als eine Antwort auf den Essay Ein Wort für die jungen Deutschen im 5. Heft des Losen Vogel liest: „immer hatte Blei ja darauf gesehen, hier [in Der Lose Vogel] Aufsätze nicht nur zu sammeln, sondern insgesamt Verknüpfungen zu schaffen, Erweiterungen und Fortsetzungen […].“ 198 Vgl. R. Musil: Europäertum, Krieg, Deutschtum (1914) (GW II, 1020–1022) und hierzu A. Honold: Die Stadt und der Krieg. Raum- und Zeitkonstruktion in Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“. München 1995. S. 207: „Mit Europäertum, Krieg, Deutschtum vom September 1914 beginnt Musils Kriegspublizistik, die er 1916 nach einer Erkrankung als Redakteur der Soldaten-Zeitung in Bozen, später im Kriegspressequartier in Wien fortsetzt.“ Vgl. F. Blei: Menschliche Betrachtungen zur Politik. München 1916. 199 R. Musil: Europäertum, Krieg, Deutschtum (1914) (GW II, 1021). 200 Ebd. S. 1020.
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seiner elementaren Leistung, den Stamm zu schützen.“ Dichtung sei „im Innersten der Kampf um eine höhere menschliche Artung“, sie sei „von dem gleichen kriegerischen und erobernden Geist belebt, den wir heute in seiner Unart verwundert und beglückt in uns und um uns fühlen.“201 Die Gleichung Dichtung = Krieg = Liebe ist eine irrationale. Franz Blei hatte bereits im Losen Vogel prophetisch geahnt: Die „letzten Fragen im Leben der Völker löst keine Vernunft – die Unvernunft, die heilige, hat sich das Mittel des Krieges zur Lösung geschaffen.“202 Und im Eingangskapitel Die Mechanik der Wahrheiten aus Menschliche Betrachtungen zur Politik (1916), stellt er die präexistierende Leidenschaft über die Vernunft: „Man sagt, dass die Leidenschaft verblende. Aber sie verblendet nur die Vernunft, weil sie stärker und urtümlicher ist als sie, und das Wort im wörtlichen Sinne gebraucht, richtiger, richtender. Die Vernunft ist gegen das Leben, gegen die Liebe, gegen den Krieg – die Leidenschaft ist für Leben, Krieg und Liebe“.203 Allerdings lässt sich diese Textstelle nicht umstandslos als Beleg für Bleis Kriegsenthusiasmus heranziehen.204 Denn es geht im epistemologischen Vorspann des Buches unter expliziter Referenz auf Avenarius’ Kritik der reinen Erfahrung (1888)205 um die Bestimmung des „affektive[n] Gehalt[s]“ der Wahrheit206 bzw. um die Sentimentalisierung von Ideen:207
_____________ 201 Ebd. S. 1021. 202 F. Blei: Kleine Anmerkungen. Der Krieg mit England. In: Der Lose Vogel. Nr. 3 (1912). S. 113f., hier S. 113; vgl. hierzu auch ders.: Aus dieser Zeit (1914). S. 1423: „Denn das, was wir den Frieden nennen, das muß von Zeit zu Zeit wieder anständig gemacht, von krämerischen Berechnungen befreit, unter Gottes Hand gestellt werden, aus dem Kalkül unseres Verstandes hinaus.“ Vgl. ebd.: „Die fünfzehn Jahre ‚Frieden‘ vor diesem Kriege waren eine überall obstipierte, verärgerte, verschachernde Zeit schlechtester Nerven: dieser Krieg endet diese Zeit, damit sie frisch daraus hervorgehe.“ Vgl. auch rückblickend ders.: Erzählung eines Lebens (1930). S. 470: „Jeder hoffte durch den Krieg in ein besseres als das bisher gekannte und geführte Leben zu kommen, besser nur deshalb, weil es ein Grund auf anderes Leben war.“ 203 Ders.: Die Mechanik der Wahrheiten. In: ders.: Menschliche Betrachtungen zur Politik. München 1916. S. 13–35, hier S. 15. 204 Vgl. dagegen G. Eisenhauer: Der Literat (1993). S. 77: „Blei verfiel dem Wahn vom auserwählten Volk. Auch er hing, in willentlicher Verkennung der tatsächlichen Machtverhältnisse einem wilhelminischen Messianismus an […].“ Vgl. dagegen F. Blei: Brief an Annette Kolb, undat. [November 1914] (Monacensia, Archiv A. Kolb), aus dem H. Mitterbauer (Die Netzwerke des Franz Blei (2003). S. 132) zitiert: Blei „könne sich ‚nicht aufschwingen, im Krieg mehr zu sehn als Abschlachterei. […] Ich habe keine Ideale, die sich nur durch aufgeschlitzte Bäuche behaupten.‘“ 205 Vgl. F. Blei: Die Mechanik der Wahrheiten (1916). S. 22. 206 Ebd. S. 16; vgl. ebd. S. 20: „Ideen und Erkenntnisse moralischen und politischen Charakters […] werden nicht um ihres vernunftmässigen Charakters willen als ‚wahr‘ von den Menschen angenommen oder als ‚falsch‘ von ihnen abgelehnt, sondern allein
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„Nicht die Wahrheit oder Wahrscheinlichkeit einer Idee an sich […] entscheidet für ihre Annahme durch die Menschen, sondern ihr affektiver Gehalt. Ideen werden angenommen, deren Wahrscheinlichkeit null ist, andere wieder zusammen und gleichzeitig mit anderen, die der ersteren Gegenteil sind. Man denke an die Verschiedenheit des ‚Du sollst nicht töten‘“.208 Auf der Grundlage des Tönnies’schen Begriffspaars ‚Gemeinschaft‘ und ‚Gesellschaft‘209 stellt Blei der ‚Einsicht‘ (als Kategorie der Gemeinschaft) die bloße ‚Ansicht‘ (als Kategorie der Gesellschaft) gegenüber und bestimmt Perspektivismus wie standortgebundenes Denken sentimentalisch als Merkmal der ‚Gesellschaft‘: „Unsere aus der Gemeinschaft in die Gesellschaft verfallene Menschheit lebt nicht nur wirtschaftlich, sondern auch geistig in einem anarchischen Gegeneinander, und so sind unsere Einsichten bestenfalls immer nur ‚Ansichten‘“.210 Dem Denken des ‚draußen‘, welches von den dazu abgestellten bzw. bestallten Philosophen in der ‚Gesellschaft‘ geschäftsmäßig betrieben wird, stellt Blei ein Denken des ‚drinnen‘ gegenüber: „das in ein geselliges Verhalten der Menschen miteingeschlossene Miteinander-Denken.“211 Das Wort ‚Gemeinschaft‘ wird als ‚Vorlaut‘ (im Unterschied zum Bloch’schen ‚Vorschein‘) einer ‚neuen‘ Zeit in ebenso wilder wie euphemistischer Gebärmetaphorik als in die Zukunft projizierte Vergangenheitskonstruktion beschworen: „Aber
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wegen ihres affektiven Gehaltes. ‚Wahre‘ Ideen, ‚richtige‘ Gedanken usw. sind für die Menschen immer jene denen der intensivste und einem Gefühlsbedürfnis zupassendste affektive Gehalt innewohnt oder ein solcher oft mit leichten Modifikationen der Idee, des Gedankens usw., zu erpressen ist.“ Ebd. S. 20 und S. 25. Ebd. S. 24; vgl. hierzu auch R. Musil: Skizze der Erkenntnis des Dichters. In: Summa 1918 (GW II, 1025–1030, hier 1028): „Man denke an das populäre Beispiel ‚Du sollst nicht töten‘, von Mord über Totschlag, Tötung des Ehebrechers, Duell, Hinrichtung bis zum Krieg, und sucht man die einheitliche rationale Formel dafür, so wird man finden, daß sie einem Sieb gleicht, bei dessen Anwendung die Löcher nicht weniger wichtig sind als das fechte Geflecht.“ Vgl. auch die Reflexionen über das 5. Gebot Moses („Du sollst nicht töten“) im Kapitel: Auch die Erde, namentlich aber Ulrich, huldigt der Utopie des Essayismus. In ders.: Der Mann ohne Eigenschaften. 1. Buch (1930) (MoE I, 254f.) sowie dessen (als Zitat markierte) Wiederaufnahme in F. Blei: Robert Musil. In: ders.: Zeitgenössische Bildnisse (1940). S. 223. Vgl. F. Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie, 2. Aufl. Berlin 1912. S. 28. F. Blei: Die Mechanik der Wahrheiten (1916). S. 29; vgl. auch ebd. S. 31: „Das Denken der Welt wurde Wählen und Fixieren und Behaupten des Standpunktes, der im Nicht-Vorhandensein einer tragenden und umschliessenden Gemeinschaft, wohl aber im Vorhandensein einer wogenden, unstabilen Gesellschaft von größter Wichtigkeit werden musste.“ Ebd. S. 33.
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diese gebährenden Kräfte ziehen uns in ihr Kreisen und flüstern in unser inneres Ohr, was wird. Und wir sprechen es nur aus: Gemeinschaft. Sprachen es schon vor dieser Tage Ereignis, dass plötzlich einbrechende grosse Not ein Volk Gesellschaftliches bereite werfen machte, noch nicht Gemeinschaft schuf, aber ihre Herrlichkeit ahndete.“212 Diese „Philosophie einer vorausgesetzten Gemeinschaft“ unter Bedingung der Gesellschaft jedoch beruht trotz der beschworenen Geselligkeit des „MiteinanderDenkens“213 unausgesprochen auf dem Ausschluss, der Tötung, der Vernichtung des Anderen. Im Schlusskapitel Der gerechte Krieg seiner 1916 publizierten Betrachtungen jener „allzu menschlichen Ereignisse der Weltgeschichte […], die einigen Millionen Menschen das Leben kosteten“,214 diskutiert Blei den Gedanken der Volkssouveränität am Beispiel der Kriegserklärung im Sinne sowohl einer individuellen und schriftlich erklärten Kriegsdienstverweigerung wie eines Volksentscheides. Die Teilnahme am Krieg wird hier in unüberbietbarem Zynismus zu einer persönlichen Gewissensentscheidung gemacht: „Ich kann mich nicht entschliessen, einem Menschen einzureden, wie gut und nötig es für unseren Geist und unseren Glauben ist, dass er sich nun mit dem rechten Fuß rasiert und mit dem linken sein Bierglas hält. Ich muss es aus Gewissenhaftigkeit diesem Menschen selber überlassen, sich aus ganz freien Stücken einzureden, wenn er, der Wehrpflichtige, durch sein Bleiben im Staate sagt, dass er als Krieger den von seinem Staate gewünschten Krieg mitmachen will.“215 Laut Karl Corino rückte Robert Musil „am 20. August 1914 zum Landsturmbezirkskommando in Linz ein und übernahm als Landsturmleutnant die 1. Kompanie des 24. Landsturm-Marschbataillons.“216 Nach einer Verwundung fungiert er ab 1916 als (verantwortlicher) Redakteur der Soldaten-Zeitung, zu der er eine Reihe anonymer Artikel beiträgt.217 Franz Blei wird nach den Recherchen Murray G. Halls am 24. März 1916 zum Landsturmdienst ohne Waffe einberufen und landet, „[n]ach sechswöchiger militärischer Ausbildung ‚wegen schweren Herzleidens‘ […] nur für Kanzleiarbeiten tauglich erklärt“, schließlich „beim Auskunftsbüro des
_____________ 212 Ebd. S. 34; vgl. ebd.: „Das Vordenken einer Zeit zwingt diese noch nicht, Erscheinung zu werden.“ 213 Ebd. S. 33f. 214 Ders.: Der gerechte Krieg. In: Menschliche Betrachtungen zur Politik (1916). S. 363f. 215 Ebd. S. 365. 216 K. Corino: Robert Musil. Leben und Werk in Bildern und Texten. Reinbek bei Rowohlt 1992. S. 222. 217 Vgl. ebd. S. 245f.
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VIII. Essayismus als Intertext – Robert Musil und Franz Blei
Roten Kreuzes in Wien“.218 Gina Kaus, die den am Kriegsbeschaffungsamt in Berlin arbeitenden Franz Blei und seinen Freund Carl Sternheim bereits im Januar 1915 im Café des Westens kennen gelernt hatte,219 stellt auf einer Berlinreise Blei ihrem ‚Adoptivvater‘ Dr. Josef Kranz, Präsident der Wiener Depositenbank und des Spirituskartells, vor.220 Dieser lässt Blei, der fortan als sein persönlicher Sekretär fungieren wird, Anfang Juni 1916 von seinem „zivilen Ersatzdienst“221 nach Wien ins Palais Kranz abkommandieren, wo Blei zugleich auch die Funktion des Geliebten der ‚Adoptivtochter‘ übernimmt.222 Die dramatis personae dieser ménage à trois bzw. dieses „erotische[n] Polygon[s]“223 begegnen uns in Musils Posse Vinzenz und die Freundin berühmter Männer (1923) wieder: Gina Kaus gibt eine der historischen Vorlagen für die Figur der Alpha, Josef Kranz für die des Bärli und Franz Blei für die des Vinzenz ab.224
_____________ 218 M. G. Hall: Der unbekannte Tausendsassa (1983). S. 132. 219 G. Kaus: Von Wien nach Hollywood (1979). S. 10f. 220 Ebd. S. 30f.; vgl. hierzu F. Blei: Die Schriftstellerin. In: Der Querschnitt 12 (1932). H. 4: Junge Mädchen heute. S. 305: „1915 saß im alten Café des Westens eine ganz junge Witwe; ihr Mann war in Rußland gefallen. Sie war sehr arm und konnte der Armut nichts abgewinnen. Ein Jahr später wohnte dieselbe junge Witwe mit ihrem Adoptivvater im Hotel Bristol. Sie war, weil sie jung und hübsch war, entzückt über ihre schöne Wäsche, ihre elegante Garderobe, weil sie das lang hatte entbehren müssen. Ein halbes Jahr später bewohnte sie in Wien ein Palais. Sie war sehr reich und konnte dem Reichtum nichts abgewinnen.“ Hinter dem „Freund“, der Gina Kaus die „Exerzitien“ gelesen habe, verbirgt sich die autobiographische Selbstreferenz des Rezensenten von Kaus’ Roman Morgen um Neun. 221 G. Eisenhauer: Der Literat (1993). S. 36. 222 Vgl. hierzu G. Kaus: Von Wien nach Hollywood. Erinnerungen (1979). S. 42: „Unsere Beziehung war höchst seltsam. Sie war zweifellos ein Liebesverhältnis, aber er erzählte mir öfter, daß er gerade mit dieser oder jener Frau eine Nacht verbracht habe, und daß ich Kranzens Geliebte war, stand für ihn außer Zweifel.“ Für die folgende Behauptung G. Eisenhauers: Der Literat (1993). S. 38 lassen sich allerdings keine Belege finden: „Nach den Briefen an Gina schrieb er [F. Blei] der Stieftochter Liebesbriefe, ohne Scheu erzählte er von neuen Eroberungen: er war seiner Geliebten ebenso untreu wie seiner Frau.“ 223 Vgl. K. Corino: Robert Musil (2003). S. 674; hier in Bezug auf Otto Kaus, dem späteren Ehemann Gina Kaus’, und May Török. 224 Ders.: Robert Musil (1992). S. 304; vgl. auch ebd. S. 308. Vgl. ders.: Geistesverwandtschaft und Rivalität. Ein Nachtrag zu den Beziehungen zwischen Robert Musil und Hermann Broch. In: Literatur und Kritik 51 (1971). S. 242–253, hier S. 242, wo Corino unter Berufung auf E. Albertsen (Ea oder die Freundin bedeutender Männer. Das Biogramm einer Wiener Kaffeehaus-Muse, Funk-Manuskript; vgl. dies Ea oder die Freundin bedeutender Männer. Porträt einer Wiener Kaffeehaus-Muse. In: MusilForum 5. 1. (1979). S. 21–37 und 5. 2. (1979). S. 135–154) noch davon ausgeht, dass „sich Musil selbst als Vinzenz karikiert[ ]“ habe. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang noch darauf, dass F. Blei (Brief an Carl Schmitt vom 24. 7. 1922. In: ders.: Briefe an Carl Schmitt 1917–1933 (1995). S. 51) im Falle einer Bühnenrealisation von
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Bald hatte Blei, so Gina Kaus in ihren autobiographischen Aufzeichnungen, „im Café Herrenhof einen geistigen Kreis um sich versammelt“,225 darunter u. a. Robert Musil226 und Hermann Broch,227 der in Musils Vinzenz in die Figur des Marek, des jungen Mannes aus der Textilbranche eingegangen ist.228 Franz Theodor Csokor zentriert diesen Kreis dagegen um Robert Musil: „sein Kreis, zu dem in jener Zeit Georg Lukácz [!] zählte, dessen Theorie des Romans er schätzte, Gina und Otto Kaus, der Kunsthistoriker Allesch mit seiner Frau und andere Mitarbeiter der Zeitschrift ‚Summa‘, die nach dem ersten Weltkrieg sein Johannes, Franz Blei, in Wien herausgab“.229 Blei, der nach seiner autobiographischen Selbstauskunft „keines Gottes und keines Goethes Eckermann“ war,230 wird hier zu Johannes, dem Täufer, stilisiert: Der Essayist und Kritiker Blei verkündet den Dichter Musil als Messias. Die von Gina Kaus, der „Muse des Blei-Kreises“,231 angemietete (und von Dr. Josef Kranz finanzierte) Atelierwohnung diente zugleich als Salon
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Musils Schwärmern vorhatte, selbst eine Rolle (vermutlich die des Anselm) zu übernehmen. G. Kaus: Von Wien nach Hollywood (1979). S. 33f. Vgl. Martha Musil: Brief an Annina Marcovaldi vom 18. 9. 1918: „Wir wollen jetzt wirklich nicht mehr regelmäßig ins Café gehen, es ist jetzt gar nicht mehr verlockend, der Kaffee ist schlecht, im Central ist niemand Nettes und im Herrenhof Werfel mit der Kranz und der Summa Gesellschaft […].“ (BR I, 160) Vgl. allerdings kurz darauf dies.: Brief an Annina Marcovaldi vom 28. 12. 1918: „Wir sind jetzt wieder regelmäßig mittags im Central, mit Blei, Gütersloh Allesch’s u. a., abends öfters im Herrenhof“ (BR I, 166). Hermann Boch war mit Bleis Tochter Maria Eva Sibylla (Billy) Blei (1897–1968?) befreundet; Broch steuerte nach eigener Auskunft „bloß zum Spaß für meinen Freund Blei“ zur Summa die Methodologische Novelle (1918) bei und kündigte im ersten Viertel von Bleis Zeitschrift den Band Zur Theorie der Werte für die Summa-Bibliothek an; vgl. M. Durzak: Hermann Broch. Überarb. Neuausg. Reinbek 2001. S. 57ff. sowie P. M. Lützeler: Hermann Broch. Eine Biographie. Frankfurt a. M. 1985. S. 67ff. Vgl. hierzu auch: G. Brokoph-Mauch: Robert Musils und Hermann Brochs persönliches Verhältnis in ihrem Briefwechsel. In: Robert Musil. Essayismus und Ironie. Hrsg. v. G. B.-M. Tübingen 1992. S. 173–186, hier S. 174 sowie P. M. Lützeler: Ea von Allesch: Von der ‚femme fatale‘ zur ‚femme emancipée‘. In: H. Broch: Das Teesdorfer Tagebuch für Ea von Allesch. Hrsg. v. P. M. L. Frankfurt a. M. 1995. S. 190–223, hier S. 209 und ders.: Hermann Broch (1985). S. 82, der auf die Ea von Allesch-Anteile der Alpha-Figur verweist; vgl. zuletzt und am ausführlichsten: K. Corino: „Ein Seitensprung ins Verantwortungslose“? „Vinzenz und die Freundin bedeutender Männer“. In: ders.: Robert Musil (2003). S. 653–695. F. T. Csokor: Robert Musil (1880–1942). In: Der Monat 3 (1950). Nr. 25. S. 187; Hervorhebung v. B. N. K. Corino: Robert Musil (2003). S. 675 zentriert im Zusammenhang mit Musils Vinzenz besagten „Kreis um Ea von Allesch und Gina Kaus“. Vgl. F. Blei: Erzählung eines Lebens (1930). S. 20. P. M. Lützeler: Hermann Broch (1985). S. 66.
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VIII. Essayismus als Intertext – Robert Musil und Franz Blei
für die „literarischen Freunde“232 wie als offizielle Redaktion der Summa,233 für die auch Gina Kaus – neben dem Herausgeber Franz Blei, Robert Musil, Hermann Broch und anderen – redaktionell tätig war und unter dem Pseudonym Andreas Eckbrecht publizierte.234 Anfang 1917 fällt der Heereslieferant Kranz wegen Preistreiberei öffentlich in Ungnade. In Wien kommt es zu einem Prozess wegen des Vorwurfs der Preistreiberei bei Heereslieferungen. Gina Kaus „durfte nicht länger einen Bubikopf tragen“ und Blei wird von seinen Diensten suspendiert.235 Blei, der zunächst der Auslandsredaktion und dann der volkswirtschaftlichen Abteilung des Kriegspressequartiers (K. P. Q) zugeteilt wird, verfasst zunächst „Werbesprüche für Kriegsanleihen“.236 Am 18. März 1918 wird Franz Blei der Wochenzeitschrift Heimat zugeordnet, die den Auftrag hatte, „Wochenberichte über die gute militärische Lage, die materiellen Leistungen der Monarchie während des Krieges“ etc. zu verfassen.237 Chefredakteur238
_____________ 232 G. Kaus: Von Wien nach Hollywood (1979). S. 42. Zu diesem Kreis gehörten u. a. Franz Werfel, Otto Gross, Hermann Broch, Egon Kisch, Arne Laurin, Ernst Pollak und seine Frau Milena, zu dieser Zeit für einige Monate die Geliebte Hermann Brochs und spätere Briefpartnerin Franz Kafkas; vgl. hierzu auch die Darstellung Franz Werfels im II. bis IV. Kapitel Der Aufruhr in Gott aus dem Dritten Lebensfragment von ders.: Barbara oder die Frömmigkeit (1929). S. 422–508. Hermann Broch wird gegenüber Ea von Allesch zwei Jahre später seine Affäre mit Gina Kaus („Die Sache mit Kaus“) als „ausgleichende Gerechtigkeit“ bzw. als „‚quitt‘ […] sein“ für die eigene Eifersucht in Bezug auf Johannes von Allesch, Eas Ehemann und Jugendfreund Musils, bezeichnen; vgl. H. Broch: Teesdorfer Tagebuch für Ea von Allesch (1995). S. 138. 233 Summa. Eine Vierteljahresschrift. Hrsg. v. F. Blei. Hellerau Jg. 1 (1917/18). 4 Hefte. 234 Vgl. M. G. Hall: Der unbekannte Tausendsassa (1983). S. 132 sowie H. Vollmer: Zeittafel. In: G. Kaus: Die Unwiderstehlichen. Kleine Prosa. Hrsg. v. H. Vollmer. Paderborn 2000. S.249–255, hier S. 250. 235 Vgl. G. Kaus: Von Wien nach Hollywood (1979). S. 51: „Blei wurde kurzerhand entlassen. Er fand unschwer eine Stellung beim Kriegspressequartier, aber die Bezahlung reichte nicht aus, um ihn und seine Familie zu erhalten. Ich mußte aus meinem kleinen Bankguthaben für sie mitsorgen.“ Vgl. auch Martha Musil: Brief an Annina Marcovaldi vom 5. 4. 1917: „Das Urteil im Kranzprozess ist für Bl.[ei] sehr unangenehm, denn er hatte eine sehr gute Stellung bei K.[ranz]“ (BR I, 115). 236 Vgl. M. G. Hall: Der unbekannte Tausendsassa (1983). S. 133: Blei liefert einerseits „einige ernstzunehmende Zeilen für die Werbekampagne“ und verfasst zugleich „einige ironisch gemeinte Sprüche und Verse, durch die er […] seine Mitarbeit an der ‚Kriegsverlängerung‘ parodiert: „Bleis offensichtlich mangelnder Patriotismus spricht sich unter Kriegsfanatikern herum.“ Vgl. hierzu auch G. Eisenhauer: Der Literat (1993). S. 79 und K. Corino: Robert Musil (2003). Anm. 74. S. 1667. 237 B. Köpplová/K. Krolop: Zur Einführung. In: Robert Musil: Briefe nach Prag. Hrsg. v. B. K./K. K. Reinbek bei Hamburg 1971. S. 5–11, hier S. 6. 238 Vgl. Martha Musil: Brief an Annina Marcovaldi vom 29. 3. 1918: „Morgen schicke ich Dir die Zeitung. Der Leitartikel ist von Robert. Man sieht ihr nicht an, daß sie vom K. P. Q. herausgegeben wird, es soll auch nicht bekannt werden. Offiziell ist Robert der Besitzer der Zeitung.“ (BR I, 146)
4. Kriegsgeschichten, Liebesgeschichten und andere Wertgefühle: Summa (1917/18) 313
war der Landsturmhauptmann und Ritterkreuzträger „des Franz Josephsordens mit der Kriegsdekoration“239 Robert Edler von Musil.240 Zum K. P. Q., „das sozusagen ein zusammengedrängtes AltÖsterreich war“,241 waren außer Robert Musil und Franz Blei noch Arne Laurin, Paris Gütersloh,242 Egon Erwin Kisch, Otto Pick und Franz Werfel243 abkommandiert. Letzterer wird sich 1934 erinnern: „dieses Zusammensein im letzten Kriegsjahre in Wien [war] eine Fortsetzung jener freundschaftlichen Beziehungen, die man schon vor dem Krieg angeknüpft hatte.“244 Zum Jahreswechsel 1917/18 erscheint die erste Nummer der Summa – „in Quartformat, auf edelstem Büttenpapier gedruckt, weiß gebunden“245 – ihr Programm: „Steigerung und Vertiefung des Wertgefühles“.246
_____________ 239 Dies.: Brief an Annina Marcovaldi vom 30. 4. 1917 (BR I, 117); weitere Militärauszeichnungen Musils sind die Bronzene Militärverdienstmedaille und das Kaiser-KarlTruppenkreuz; vgl. K. Corino: Robert Musil (1992). S. 253 sowie die dort abgedr. Abbildung des Hauptmanns Robert Musil (ca. 1918) mit seinen Auszeichnungen; vgl. R. Musil: Brief an Martha Musil vom 30. 4. 1917: „Heute Glückwünsche von Eltern, Donath, Heinr. erhalten; Papa ist ganz weg, wirklich Herzenstöne des Stolzes und Glücks, so dass ich verblüfft bin, wie schlecht die Menschheit noch aufrecht gehen kann. Es fällt mir außerordentlich schwer, dem guten Menschen zu danken und meine Indignation dabei zu verbergen. – Was sind das für Bändchen, die Du mir geschickt hast? Truppenkreuz?“ (BR I, 118.) 240 Am 22. Oktober 1917 war seinem Vater Alfred Musil der erbliche Adel zugesprochen worden; vgl. hierzu Alfred von Musil: Brief an Robert Musil vom 13. 1. 1918: „Du scheinst von meiner Standeserhöhung noch keine Anzeige an betreffender Stelle gemacht zu haben, da auf dem Verordnungsblatte nur steht: ‚Dor phil. Robert Musil‘; die Adelsverleihung ist ja vollkommen formal erfolgt […]. Du bist somit derzeit voll berechtigt, den Adel zu führen. Ferner bist Du voll berechtigt, als Titel, sowie bei allen offiziellen Nennungen Deines Namens die gesetzlich geschützte Bezeichnung ‚Ingenieur‘ (abgekürzt Ing) nach dem Dor zu führen […].“ (BR I, 138). 241 F. Werfel: Der gemeinsame Raum. In: Die Kritik. Nr. 10/I (Mai 1934). S. 2; zit. nach: B. Köpplová/K. Krolop: Zur Einführung (1971). S. 8. 242 Zu Albert Conrad Kiehtreiber (1887–1973), der sich ab 1921 Paris von Gütersloh nannte, vgl. A. Reinthal: Kommentar. In: Franz Blei: Briefe an Carl Schmitt 1917– 1933 (1995). S. 95: „Auf Vermittlung Robert Musils kam Gütersloh nach einer schweren Erkrankung im Ersten Weltkrieg ins Kriegspressequartier, wo er Bekanntschaft mit Franz Blei machte […].“ 243 Franz Werfel (1890–1945), war von 1911–1914 Lektor des Kurt Wolff Verlags und hatte bereits in Bleis Losem Vogel ein Gedicht publiziert (Das Unvergängliche. In: Der Lose Vogel 1 (1912/13). S. 276). Der über den Verleger Jakob Hegner im Herbst 1917 bei Alma Mahlers eingeführte Franz Blei brachte wiederum den „aus dem Felde“ zurückgekommenen Franz Werfel mit; vgl. hierzu A. Mahler-Werfel: Mein Leben (1963) S. 85f. Zum Zerwürfnis zwischen Franz Blei und Franz Werfel vgl. ebd. S. 92. 244 F. Werfel: Der gemeinsame Raum (1934). S. 2.; zit. nach: B. Köpplová/K. Krolop: Zur Einführung (1971). S. 8. 245 G. Kaus: Von Wien nach Hollywood (1979). S. 51. 246 F. Blei: Brief an Robert Musil [etwa August 1918] (BR I, 158).
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VIII. Essayismus als Intertext – Robert Musil und Franz Blei
5. Franz Blei (1918) oder was ist ein Essayist? […] ich fühle mich im Essay formal unsicher, habe aber viel, was ich schreiben möchte […]. Den Bleiaufsatz hätte ich wahrscheinlich wirklich nicht veröffentlicht, wenn es sich nicht um B.[lei] gehandelt hätte; da Sie ihn angreifen, habe ich aber gewisse Mutter-Schutzinstinkte.247 (Robert Musil) […] der Essayist, der dem Gelehrten als eine Art Windbeutel gilt, der seine Wesenheit aus dem bestreitet, was für die gelehrte Produktion nur Abfall ist, gilt auf der anderen Seite den Dichtern meist nur als ein Kompromiß, als eine Brechung ihres strahlenderen Wesens im Dunst der gemeinen Rationalität. Eines ist so beschränkt wie das andere.248 (Robert Musil) Der Dichter ist Schriftsteller, der Philosoph ist Schriftsteller, der Romancier ist es und der Journalist auch. Was aber ist ein Schriftsteller?249 (Hermann Broch) Ein Mann, der die Wahrheit will, wird Gelehrter; ein Mann, der seine Subjektivität spielen lassen will, wird vielleicht Schriftsteller; was aber soll ein Mann tun, der etwas will, das dazwischen liegt?250 (Robert Musil) Dichtung ist der Ausgleich im Geiste zwischen den Gegensätzen der nichts als sinnlichen diesseitigen Welt und der nichts als jenseitigen, geahnten, geglaubten und gefühlten Welt. Dem Sinnlichen durch ihre Materie, dem Übersinnlichen durch ihr Menschentum verhaftet ist die Dichtung nicht die Überwindung dieser Gegensätze durch ein Drittes, sondern die transzendierende Bindung dieser Gegensätze durch ein Drittes, das vom Geiste ist.251 (Franz Blei)
In einem Brief an Franz Blei entwickelt Robert Musil die Grundgedanken seines im 4. Band der Summa publizierten Essays Skizze der Erkenntnis des Dichters (1918): „Was rein rational ist eignet sich zur wissenschaftl.[ichen] Behandlung. Was senti-mental ist zur dichterischen. Essays von Maeter-
_____________ 247 R. Musil: Brief an Egon Erwin Kisch vom 14. 7. 1918 (BR I, 156f.). 248 Ders.: Franz Blei (1918) (GW II, 1024). 249 H. Broch: Der Schriftsteller Franz Blei (1921). In: H. Broch: Kommentierte Werkausgabe. Bd. 9/1: Schriften zur Kultur 1: Kritik. Frankfurt a. M. 1975. S. 53–59, hier S. 53. 250 R. Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. 1. Buch (1930) (MoE I, 254). 251 F. Blei: Marginalien zur Literatur (1935–1937). S. 98.
5. Franz Blei (1918) oder was ist ein Essayist?
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linck, manche von Emerson gehören zur Dichtung.“252 Musil unterscheidet hier nicht zwischen fiktionalen und nicht-fiktionalen bzw. faktualen Texten, sondern zwischen zwei Behandlungsmethoden (dichterisch vs. wissenschaftlich) und zwei Gebieten, dem ratioïdem und dem nichtratioïdem. Und er erläutert in seinem Brief an Franz Blei, der als Paratext bzw. auktorialer Epitext zur Skizze der Erkenntnis des Dichters (1918) gelesen werden kann, den Bereich des Nicht-Ratioïden wie folgt: „Im Menschen sind Dinge, die sich nicht in wissenschaftliche Zusammenhänge ordnen lassen, sondern nur in Gefühlszusammenhänge, Geschehensabläufe, vage Relationen, für die es noch keine Systematik gibt (Siehe das Überraschende des Versuchs: Psychoanalyse) Sie sind Gegenstand der Dichtung […]. Das Resultat ihrer Verarbeitung ist ein Dichtwerk. Die Art ihrer Verarbeitung hat mit allen Kräften des Rationalen (wie des Erfühlens u[nd] Erschauens) zu erfolgen. Dichtung steht im Gegensatz zu rationalem Denken, aber der Grad der Mentalität bestimmt im sénti-mentálen Kunstwerk das Gewicht.“253 Senti-mentale Dichtung ist eine ‚Theorie‘ im Sinne des beobachtenden bzw. betrachtenden Vorgangs, sie ist Wiedergabe eines Anblicks wie persönliche Meinung: Weltanschauung;254 sie ist eine allein subjektiv generierbare Wertung mit Anspruch auf Objektivität. Der Grad an Mentalität innerhalb eines senti-mentalen Kunstwerks aber sind dessen essayistischselbstreflexiven Elemente. Der Essay habe von der Dichtung die Materie (das Gebiet des Nicht-Ratioïden) und von der Wissenschaft die ratioïde Methode, er versucht auf dem Gebiet des Nicht-Ratioïden eine neue Ordnung zu schaffen.255 Das heißt, er ist gesteigerte Mentalität auf dem Gebiet des Senti-Mentalen.
_____________ 252 Ders.: Brief an Franz Blei 1917/18 (BR I, 133). 253 Ebd.; zu Musils Verhältnis zur Psychoanalyse vgl. u. a. K. Corino: Ödipus oder Orest? Robert Musil und die Psychoanalyse. In: Vom „Törleß“ zum „Mann ohne Eigenschaften“. Hrsg. v. U. Baur/D. Goltschnigg. München-Salzburg 1973. S. 123–236 und O. Pohlmann: Eine finster drohende und lockende Nachbarmacht? Untersuchungen zu psychoanalytischen Literaturdeutungen am Beispiel von Robert Musil. München 2003. 254 Vgl. F. Blei: Menschliche Betrachtungen zur Politik (1916). S. 30: „Das Philosophieren ist Anschauen der Welt – um mit dem falsch gebrauchten Wort ‚Weltanschauung‘ nicht missverstanden zu werden […].“ Von der sentimentalischen und mittels des Krieges wiederherstellbaren Konstruktion der ‚Gemeinschaft‘ erhofft sich Blei ein Denken des „Drinnen“ gegenüber dem „einzeldenkerischen Draussen“ (ebd. S. 30); vgl. ebd. S. 33: „[…] wenn mit und in der Gemeinschaft das Philosophieren nicht mehr ein lehr- und lernbarer Beruf wissenschaftlicher Art ist, sondern das in ein geselliges Verhalten der Menschen eingeschlossene Miteinander-Denken.“ 255 Vgl. R. Musil: [Über den Essay] [1911/12?] (GW II, 1335).
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VIII. Essayismus als Intertext – Robert Musil und Franz Blei
Die Methode des Mentalen angewandt auf das Gebiet des Sentimentalen, dient allerdings nicht der Suche nach Wahrheit. Denn die Wahrheit ist, so Musil, eine Kategorie des Ratioïden, keine der Dichtung. Sie ist ein „gegenständliches Kriterium“,256 eine „Eigenschaft der Dinge“, die sich nur mathematisch-arithmetisch bzw. logisch beschreiben lässt. Die Kategorie der Dichtung ist dagegen die Perspektivität: „Die Dichtung ist – oder der Dichter – nie eine Wahrheit, sondern – ein Moment einer Bewegung, eine Ansicht (im Doppelsinn)“. Und in expliziter Referenz auf den Briefadressaten heißt es: „Ich schätze so sehr an Ihnen die Bemühungen, immer neue Ansichten – die durchaus nicht Willkür sind – schlimmstenfalls einseitig (einseitig objektiv und durchaus nicht subjektiv) zu geben oder zu fördern.“257 Am Ende seines Essays Der mathematische Mensch, mit dem auch die Essaysammlung Ungewöhnliche Menschen und Schicksale (1929) abschließt, zitiert Franz Blei in markierter Referenz aus Robert Musils gleichnamigem Essay Der mathematische Mensch (1913).258 In Bleis essayistischem Porträt des französischen Physikers und Mathematikers Henri Poincaré wird das Musil’sche Konstrukt des mathematischen Wahrheitsbegriffs gleichsam mit den Erkenntnissen der Relativitätstheorie, genauer Musil via Blei, durch sich selbst widerlegt: „Die mathematische Wahrheit ist, als absolut von uns konzipiert, relativ zu ‚unserer‘ Wissenschaft.“ Das heißt, sie „hängt von der Struktur des menschlichen Geistes ab“. Blei wählt zur Veranschaulichung das folgende Beispiel: „Wir sind verpflichtet, zuzugeben, daß die kürzeste Linie zwischen zwei Punkten die Gerade ist. Aber stellt man sich den menschlichen Geist unter der Form einer flachen Wanze vor und daß er sich auf einer vollkommenen Kugel bewegt, so wäre für diesen Geist der kürzeste Weg von einem Punkt zum andern nicht die Gerade, sondern der Kreisbogen. Und alle Ableitungen von der Geraden als der kürzesten Linie hätten nur einen menschlichen, also relativen Wert.“ Die Methode der Mathematik sei „Kunst ebensosehr wie Wissenschaft, und reines Räsonnement ist ebenso daran beteiligt wie Phantasie und Gefühl.“
_____________ 256 Vgl. ebd. S. 1334: „Es [das Gebiet der Wissenschaft] ist von dem Kriterium der Wahrheit beherrscht. Dieses ist ein gegenständliches Kriterium, es liegt in der Natur des Gebiets. Es gibt mathematische und logische Wahrheiten.“ (GW II, 1334) 257 Ders.: Brief an Franz Blei [1917/18] (BR I, 132); Hervorhebung v. B. N. 258 Musils Essay Der mathematische Mensch (1913) war zuerst in Der lose Vogel (Nr. 10–12, April–Juni 1913. S. 310–314) erschienen, Bleis Poincaré (S. 291–297) in derselben Nummer, hier allerdings noch ohne das Musil-Zitat; vgl. F. Blei: Der mathematische Mensch (Henri Poincaré). In: ders.: Ungewöhnliche Menschen und Schicksale (1929). S. 301–310, hier S. 309f., mit dem der Essay schließt.
5. Franz Blei (1918) oder was ist ein Essayist?
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Die absolute Konstruktion einer mathematischen Wahrheit ist somit als relative, als „eine Meinung“ relativiert.259 Auch in seinem am 7. Juni 1918 in Der Friede erschienenen Essay Franz Blei, der in unmittelbarer zeitlicher und gedanklicher Nachbarschaft zur Skizze der Erkenntnis des Dichters steht,260 spielt Musil mit dem Doppelsinn von ‚Ansicht‘ als Meinung und Perspektive. Blei wird als ein in die Theorie verliebter Essayist bestimmt, der „mit seiner Liebe“ vieles umfasse, „das sich nach gemeiner Ansicht nicht miteinander vertragen darf“: „Ein nie gesättigtes Verlangen nach Geist“ lasse ihn die Theorien wechseln „und wo er die Ansicht wechselt, ist es nicht seine, sondern die des Dinges.“261 Musil veranschaulicht am Beispiel Blei ein Prinzip, das er im Unterschied zur bloß subjektiven Meinungsänderung die „aktive Wandelbarkeit der Anschauungen eines Essayisten“ nennt.262 Der Essayist Blei wird als „leidenschaftlich intellektueller Künstler“ gekennzeichnet, der „etwas gänzlich und dem Grunde nach anderes“ sei als „eine Mischung aus Ausleger und Wiederbeleber“. Dabei werden Bleis Liebe zur Theorie wie seine intellektuelle Leidenschaft als ebenso subjektive wie objektive Qualitäten gekennzeichnet. Blei sei subjektiv, wenn er „aus der Verschiedenheit der Rede nur das an seine Anklingende heraushört.“263 Allerdings geht es hier weniger um eine ‚Heimkehr‘ des Fremden ins Eigene, welche aus dem Anderssein immer wieder nur zu sich selbst zurückkehrt.264 Denn Blei suche „nicht die Übereinstimmung“, die eine Identität von Darstellung und Sache, und sei es auch nur die im intersubjektiven Konsens gewonnene, voraussetzt, sondern die Ähnlichkeit, die „Analogie“. Grundlage der geistigen Bewegung ist hier nicht die Einheit der Rede, sondern die Differenz, welche das Fremde einerseits zwar assimiliert, gleichzeitig aber als Vielfalt der Stimmen bestehen lässt: wie auch „die jeweilige Nahrung mit ihrer Farbe“ am ,Franz Blei‘ genannten Haut- bzw.
_____________ 259 F. Blei: Der mathematische Mensch (Henri Poincaré) (1929). S. 308f.; vgl. ders.: Poincaré. In: Der Lose Vogel. Nr. 10–12 (1913). S. 296. 260 Vgl. S. Bonacchi/E. V. Fanelli: „Ein nie gesättigtes Verlangen nach Geist … (1997). S. 120. 261 R. Musil: Franz Blei (1918). In: Der Friede, 7. Juni 1918 (GW II, 1022–1025, hier 1023). 262 Ebd. S. 1024. 263 Ebd. S. 1022f. 264 Vgl. H.-G. Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. 2. erw. Aufl. Tübingen 1965. S. 11: „Im Fremden das Eigene zu erkennen, in ihm heimisch zu werden, ist die Grundbewegung des Geistes, dessen Sein nur Rückkehr zu sich selbst aus dem Anderssein ist.“
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VIII. Essayismus als Intertext – Robert Musil und Franz Blei
Textsack „deutlich sichtbar“ bleibt.265 Die Suche und Setzung der einen Wahrheit bzw. die Übersetzung des Fremden ins Eigene ist abgelöst von der Vielzahl von Ansichten auf ein und dieselbe Sache: das Ding, das hinund hergewendet wird. Die aktive Wandelbarkeit des Objekts geht mit der des Subjekts einher. Schon bei Montaigne ist nicht sicher auszumachen, ob die „Trunkenheit“ einen Zustand des betrachteten, hin und her schwankenden Gegenstands bezeichnet oder ein zumindest temporäres Unvermögen des essayistischen Subjekts. Nicht das „Sein“ des Gegenstandes wird geschildert, sondern das „Unterwegssein“ als Übergang, als Wechsel verschiedener Perspektiven, welche jeweils Relationen zwischen dem Ich-Hier-Jetzt des Betrachters und dem beweglichen Beobachtungsobjekt festgehalten: „Dies hier ist also das Protokoll unterschiedlicher und wechselhafter Geschehnisse sowie unfertiger und mitunter gegensätzlicher Gedanken, sei es, weil ich selbst ein andrer geworden, sei es, weil ich die Dinge unter andern Voraussetzungen und andern Gesichtspunkten betrachte. Daher mag ich mir zwar zuweilen widersprechen, aber der Wahrheit, wie Demedes sagte, widerspreche ich nie.“266 Die intellektuelle Liebe des Essayisten Blei gilt weder der inneren Wesens-Schau, noch der Abstraktion von dem betrachteten Ding, sondern den verschiedenen Ansichten, Perspektiven desselben. Diese sind aber nicht mehr bloß subjektiv, sondern objektiv, als verschiedene Seiten der Sache selbst gegeben. Während Wissenschaft Wahrheitssuche betreibe und „sich nach ihr [der Wahrheit] und Tatsachen“ richte, haben die „Werke[ ] des Geistes […] etwas Unabschließbares und eigentlich nie ein erreichbares Ziel.“267 Auch hier unterscheidet Musil nicht zwischen Dichtung (‚Werk‘) und Literatur (Essay). Die „Einheit“ herkömmlicher Werke des Geistes bzw. geisteswissenschaftlicher Werke – Musil spricht in diesem Zusammenhang von „zeitgenössische[r] Scheinmethodik“ – sei entweder eine bloß „von außen geborgt[e]“ der Tatsachen oder eine von innen „durch die Persönlichkeit des Autors“ untergeschobene.268 Dagegen seien Bleis Schriften nicht nur das Prinzip der Einheit und Abgeschlossenheit organisiert, son-
_____________ 265 F. Blei: Das große Bestiarium der Literatur (1924). S. 25; vgl. ders.: Erzählung eines Lebens (1930). S. 494: „Dann legte sich das eiserne Schweigen der Jahrhunderte über das, was in eine Haut versammelt Franz Blei geheißen hatte.“ 266 M. de Montaigne: Über das Bereuen. In: ders.: Essais. Hrsg. v. H. Stilett. Frankfurt a. M. 1998. S. 398f. 267 R. Musil: Franz Blei (1918) (GW II, 1024). 268 Ebd. S. 1024f.
5. Franz Blei (1918) oder was ist ein Essayist?
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dern durch „das große Maß geistiger Bewegung und den Wert der Summe partieller Lösungen“.269 Musils Blei-Essay, der die „autonome Stellung des Essayisten“270 gegenüber dem bärtigen Stubengelehrten auf der einen und dem Typus des ‚reinen‘ Dichters à la Stefan George auf der anderen Seite behauptet, ließe sich als die Anwendung der Frage ‚Was ist Geist?‘ auf Franz Blei bzw. als die am Beispiel Bleis abgehandelte Frage ‚Was ist ein Essayist?‘ kennzeichnen. Dabei wird der verwendete Geist-Begriff271 nicht aus dem terminologischen Baukasten der philosophischen Begriffsgeschichte ab- bzw. hergeleitet, sondern in seinem alltäglichen Gebrauch als „Gelegenheitswort“ bestimmt, welches je nach Kontext ebenso „Seele, Kultur, Gefühlslage, Zeitstimmung, Gebiet der Wertungen“ bedeuten kann, „ohne daß eins dieser Worte voll das decken würde, um was es sich handelt.“ Bei dem allein durch seinen Gebrauch zu kennzeichnenden Wort ‚Geist‘ handelt es sich um einen Suchbegriff, der ein Gebiet – das des „inneren Leben[s]“, mithin „alles […] im weitesten Sinne Religiöse und Politische, alles Künstlerische, alles Menschliche, das nicht rein [r]ational und nicht reine Glaubens- oder Gefühlswillkür ist“ – umfasst.272 Geist ist das sentimentale Gebiet zwischen Ratio und Gefühl, mens und sensus. Es ist das Gebiet, das in der Skizze der Erkenntnis des Dichters (1918) als das des Nicht-Ratioïden bezeichnet wird. ‚Geist‘ meint hier nicht das Andere der Materie, weder res cogitans noch res extensa, weder reinen logos noch pure ratio. ‚Geist‘ ist weder Ebenbild noch Mittler zwischen Mensch und Gott, ‚Geist‘ ist ein Mittleres, zwischen den verschiedenen Seelen- bzw. Erkenntniskräften des Menschen Fluktuierendes. ‚Geist‘ ist kein Substanzbegriff (weder des Werkes noch der Persönlichkeit), sondern ein Relationsbegriff, ein Verhältnis von sich stetig wandelnder und wissenschaftlich beschreibbarer Vernunfterkenntnis und den sich ungleich langsamer wandelnden (relativ ‚entwicklungslosen‘)273 Gefühlserlebnissen. In
_____________ 269 Ebd. S. 1025. 270 Ebd. S. 1024. 271 Zum zeitgenössischen Hochwertbegriff ‚Geist‘ vgl. T. Anz/M. Stark (Hrsg.): Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1910–1920. Stuttgart 1982. S. 215ff. und 263ff. Zu Musils Geist-Begriff C. Blasberg: Exkurs: Musils Begriff des Geistes. In: dies.: Krise und Utopie der Intellektuellen. Kulturkritische Aspekte in Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“. Stuttgart 1984. S. 253–270, hier S. 255f.: „Folglich schillert Musils Begriff des Geistes; in der für ihn charakteristischen ‚Funktionalität‘ von Philosophie und Poetik, Erkenntnistheorie und Romantheorie entgleitet er traditionellen Bestimmungen.“ 272 R. Musil: Franz Blei (1918) (GW II, 1023f.); in der Textvorlage falsch „national“ statt richtig „rational“. 273 Vgl. ebd. S. 1023.
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VIII. Essayismus als Intertext – Robert Musil und Franz Blei
einer die Begriffe „Ideen, Geist, Intellektualität“ erläuternden Fußnote umschreibt Musil im Essay Symptomen-Theater (1922) ‚Geist‘ als „jene sowohl aus Erlebnissen wie aus ihrem Ordnen, in irgendeinem Verhältnis also sowohl aus viel Verstand wie aus viel Gefühl bestehende Mischung“.274 ‚Geist‘ ist keine eindeutig bestimmbare Qualität der Sache, sondern ein sich wandelndes Mischungsverhältnis zwischen den intra- und interindivduellen Erkenntnis- und Empfindungsvermögen. Kennzeichnend für die Musil’sche Begriffsverwendung ist die Überwindung der Dichotomie von Verstand bzw. Theorie im Sinne von Intellektualität einerseits und dem Gefühl andererseits durch die lebensphilosophischen bzw. lebenswissenschaftlichen Grundkategorien ‚lebendig‘ vs. ‚tot‘: „Geist hat ein Element in sich, das Verstand ist und an der Entwicklung teilnimmt, und ein anderes Element, das unberechenbar ist, entwicklungslos, widerspruchsvoll und von langsam wechselnden Grundgefühlen abhängt, wie sie Gedanken, die gestern tot waren, heute wieder lebendig machen, ohne daß sich an ihrer Wahrheit etwas geändert hat als wir. Kant kann wahr oder falsch sein, Epikur oder Nietzsche sind nicht wahr oder falsch, sondern lebendig oder tot.“275 ‚Geist‘ meint weder instrumentelle Rationalität noch göttliche Inspiration, sondern menschliche „Aufgabe“, dichterische „Sendung“.276 ‚Geist‘ bedeutet auch nicht Abstraktion vom Leben zu Zwecken der Begriffsbildung (Philosophie) und/oder Formgebung (Kunst), sondern eher im pneumatischen Sinn ‚Verlebendigung‘. ‚Geist‘ bezeichnet den Versuch, ratioïde Methoden auf das Gebiet des Nicht-Ratioïden zu beziehen: „Die Artikulation des Gefühls durch den Verstand, die Wegwendung des Verstands von den belanglosen Wissensaufgaben zu den Aufgaben des Gefühls, das ist das Ziel des Essayisten, mit dem ferneren Ziel der menschlichen Seligkeit“.277 Dieses „Ziel der menschlichen Seligkeit“ ist nur ein anderes Wort für ‚Geist‘, der Weg dorthin führt weder durch den Glauben noch durch das Gefühl, sondern durch die Reflexion. In ‚anthropoetaphagischer‘ bzw. ‚textassimilatorischer‘ Formulierung: Geist ist das vom
_____________ 274 R. Musil: Symptomen-Theater I. In: Der Neue Merkur, Juni 1922 (GW II, 1094–1103, hier 1098); vgl. auch ders.: Brief an Adolf Frisé, Januar 1931: „Der Sinn, in dem ich in dem Buche [Der Mann ohne Eigenschaften] das Wort Geist gebrauche, besteht aus Verstand, Gefühl und ihrer gegenseitigen Durchdringung.“ (BR I, 494) 275 Ders.: Franz Blei (1918) (GW II, 1023); vgl. auch F. Blei: Brief an Carl Schmitt vom 7. 12. 1921. In: ders.: Briefe an Carl Schmitt 1917–1933 (1995). S. 33: „(das ist eine Tautologie: denkerisch/lebendig)“. 276 R. Musil: Skizze der Erkenntnis des Dichters (1918) (GW II, 1029). 277 Ders.: Franz Blei (1918) (GW II, 1024).
6. Dialogizität und Textassimilation: Das große Bestiarium der Literatur (1924)
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Verstand gefressene Gefühl: „denn das Ziel ist längst schon das Denken. Mit seinen Ansprüchen auf Tiefe, Kühnheit und Neuheit beschränkt es sich vorläufig noch auf das ausschließlich Rationale und Wissenschaftliche. Aber dieser Verstand frißt um sich und sobald er das Gefühl erfaßt, wird er Geist. Diesen Schritt zu tun, ist Sache der Dichter.“278 Ein Essayist, der Essayist Blei, ist folglich im wörtlichen Sinn ein Textverwerter: jemand, der Texte frisst, Gefühle verdaut und Geist ausscheidet.
6. Dialogizität und Textassimilation: Das große Bestiarium der Literatur (1924) 6. Dialogizität und Textassimilation: Das große Bestiarium der Literatur (1924)
Hier möchten wir zu bemerken nicht unterlassen, daß ein ursprüngliches Interesse der Deutschen für ihre Literatur natürlich nicht besteht, dasselbe vielmehr erst durch Parasiten und Bakterien kritischer Art vermittelt werden muß. Das so erzeugte Interesse ist, wie ohne weiteres klar, ein krampf- und krankhaftes, denn es entsteht durch Bildung, als welche ein äußerst unangenehmer und penetranter Aussatz ist.279 (Franz Blei) Ganze Ketten von roten, schwarzpunktierten Blattläusen, deren eine wie die andere war, sah ich einen Baum umschlingen, ganze schwarzrote Trauben hingen an einem Ast, unbeweglich, als hätten sie eben dies und nichts anderes zu tun, und es war eigentlich eine einzige Laus, die wenn ich nicht irre die Kapuzinerlaus heißt oder doch so heißen könnte […].280 (Karl Kraus) Das parasitäre Verhältnis ist intersubjektiv. Es ist das Atom unserer Beziehungen.281 (Michel Serres)
_____________ 278 Vgl. ders.: Der mathematische Mensch (1913): „[…] denn das Ziel ist längst schon das Denken. Mit seinen Ansprüchen auf Tiefe, Kühnheit und Neuheit beschränkt es sich vorläufig noch auf das ausschließlich Rationale und Wissenschaftliche. Aber dieser Verstand frißt um sich und sobald er das Gefühl erfaßt, wird er Geist. Diesen Schritt zu tun, ist Sache der Dichter.“ (GW II, 1008) 279 F. Blei: Das Faustische Urviech. In: Zur ideologischen Morphologie der literarischen Bestiae. In: ders.: Das große Bestiarium der Literatur (1924). S. 85–87, hier S. 87. 280 K. Kraus: Die Fackel 24 (1922). Nr. 601–607. S. 84f. über Franz Blei. In ders.: Die Fackel 21 (1919). Nr. 514–518. S. 18 wird Blei noch als „der leibhafte Hecht im Karpfenteich“ gewürdigt. 281 M. Serres: Der Parasit (1980). Frankfurt a. M. 1987. S. 19.
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VIII. Essayismus als Intertext – Robert Musil und Franz Blei
1920 erscheint das Bestiarium literaricum eines gewissen Dr. Peregrin Steinhövel (alias Franz Blei),282 das auf 76 Seiten insgesamt 104 Exemplare der „Fauna literaria“283 verzeichnet und „auf alles übliche wortreiche und doch nichtssagende Beiwerk“ ausdrücklich verzichtet.284 Der Anthropoetaphage Blei gibt sich als „bescheidener Zoologe“ aus:285 „Aller Kritik unserer Viecher habe ich mich enthalten, wie man merkt. Wir müssen sie hinnehmen, wie Gott sie geschaffen. Ihm allein die Ehre und Verantwortung.“286 Es handelt sich um Bleis Beitrag zur Intellektuellendebatte der zwanziger Jahre287 aus zoologischer Perspektive, eine satirische Theodizee des homo intellectualis. Im Vorwort zur ersten Auflage setzt sich der Verfasser mit der „Streitfrage“ auseinander, „ob unsere Tiere Intelligenz besitzen oder nicht.“ Da die verzeichneten zeitgenössischen ‚Literatiere‘ aber „durchaus affektiv und gar nicht intelligent“ handelten, vielmehr geradezu stolz darauf seien, „ihren unkalten Gefühlen unbedacht zu erliegen, nichts als Gefühl zu sein und gar keinen Verstand zu haben“, seien sie, so der Befund, „nicht ‚Intellektuelle‘, sondern weit treffender ‚Affektionelle‘ oder ‚Sensibilisten‘ zu nennen“.288
_____________ 282 Vgl. BESTIARIUM LITERARICUM / das ist/Genaue Beschreibung / Derer Tiere / Des Literarischen / Deutschlands / verfertigt / von / Dr. Peregrin Steinhövel. Gedruckt für Tierfreunde zu München in diesem Jahr (Privatdruck in eintausend nummerierten Exemplaren). München 1920. 283 F. Blei: Vorwort zur ersten Auflage. In: ders.: Das große Bestiarium der Literatur (1924). S. 12–15, hier S. 14. 284 Ebd. S. 12. 285 Ders.: Der Freud. In: Zur ideologischen Morphologie der literarischen Bestiae. In: ebd. S. 97–102, hier S. 101. 286 Ders.: Vorwort zur ersten Auflage. In: ebd. S. 13. 287 Vgl. zur zeitgenössischen Intellektuellendebatte: F. K. Ringer: Die Gelehrten. Der Niedergang der deutschen Mandarine 1890–1933 (1969). München 1987; C. Blasberg: Krise und Utopie der Intellektuellen (1984); H. J. Eberhard: Intellektuelle der Kaiserzeit. Ein sozialpsychologischer Streifzug durch Naturalismus, Antinaturalismus und Frühexpressionismus. Frankfurt a. M. [u. a.] 1991; G. Hübinger/W. J. Mommsen (Hrsg.): Intellektuelle im deutschen Kaiserreich. Frankfurt a. M. 1993; M. Gangl/ G. Raulet (Hrsg.): Intellektuellendiskurse in der Weimarer Republik. Zur politischen Kultur einer Gemengelage. Frankfurt a. M./New York 1994; W. Bialas/G. G. Iggers (Hrsg.): Intellektuelle der Weimarer Republik. Frankfurt a. M. [u. a.] 1996; J. Schlich: Intellektuelle im 20. Jahrhundert in Deutschland. Ein Forschungsreferat. Tübingen 2000 u. a. 288 F. Blei: Vorwort zur ersten Auflage. In: ders.: Das große Bestiarium der Literatur (1924). S. 13.
6. Dialogizität und Textassimilation: Das große Bestiarium der Literatur (1924)
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Die zweite Ausgabe entspricht der zweiten bis vierten Auflage289 und enthält auf 254 Seiten nunmehr 181 alphabetisch geordnete satirische Tier-Porträts sowie zahlreiche essayistische Texte.290 Sie erscheint 1922 unter dem Titel Das große Bestiarium der modernen Literatur und ist mit dem Autornamen Franz Blei versehen. Die dritte Ausgabe des Blei’schen Bestiariums erscheint 1924 als erster Band von Die moderne Literatur. Eine Darstellung in der 5.–8. Auflage auf 400 Seiten und um vier weitere Textteile erweitert.291 Im Vorwort zur fingierten vierten Auflage von 1924 wird einem gewissen Dr. Maturin Melas (d. i. Robert Musil) sowie Baron Albrecht Peyronnet (d. i. Albert Paris Gütersloh) für ihre „Beiträge“ gedankt: „welche, dies wird der darauf neugierige und feinhörige Leser leicht erkennen“.292
_____________ 289 R. Willemsen: „Man nimmt Franz Blei zu leicht!“ (1983). Anm. 17. S. 122 hat darauf hingewiesen, dass „[d]ie separaten Vorworte zur zweiten und dritten Auflage […] ein humoristischer Schwindel Bleis“ sind; vgl. R.-P. Baacke: Fundstellen und Wegweiser. (1995). S. 402. – Es handelt sich um einen Scherz in Jean Paul’scher Manier, der als verkaufsfördernde Strategie den Gesetzen des literarischen Marktes ebenso gehorcht; vgl. auch F. Blei: Vorwort zur fünften bis achten Auflage. In: ders.: Das große Bestiarium der Literatur (1924). S. 9–11, hier S. 9: „Die Vortrefflichkeit dieses Buches hat es im Laufe eines halben Jahres in die fünfte Auflage gebracht […].“ 290 Die Nachträge bzw. Ergänzungen zum Bestiarium umfassen: a) Die großen Dichter deutscher Nation, b) die acht Beiträge Zur ideologischen Morphologie der literarischen Bestiae, c) zwölf Notwendige Exkurse, d) eine Kleine Grammatik für Anfänger, e) die Biographischen Belustigungen sowie d) eine Verabschiedung des Lesers. 291 Es handelt sich um a) einen weiteren der Notwendigen Exkurse (vgl. hierzu: R. Willemsen: „Man nimmt Franz Blei zu leicht!“ (1983). S. 123), b) sechs Neue Gespräche Goethes mit Eckermann, c) fünf Briefe an einen strebsamen jungen Mann und d) Theater und Schauspielkunst in 12 Absätzen. Im Vorwort zur 5.–8. Auflage des Bestiarium (1924). S. 9f. wird – wenn auch nur aus konstruktivistischer Perspektive („was sich der heutige Leser und Kenner als die moderne Literatur denkt“) und in essayistischer Ausführung – eine „Gesamtdarstellung“ der modernen Literatur in Aussicht gestellt und zugleich einem Nicht-Leser und Nicht-Kenner der modernen Literatur geraten, „weiter Vergils Bucolica zu lesen oder den Westöstlichen Diwan.“ 292 F. Blei: Vorwort zur vierten Auflage. In: ders.: Das große Bestiarium der Literatur (1924). S. 17–18, hier S. 18. Zur anagrammatischen Namensbildung vgl. R. Willemsen: „Man nimmt Franz Blei zu leicht!“ (1983). S. 123. Ein weiterer Beiträger bleibt jedoch ungenannt: Hermann Brochs Antigonus und Philaminthe findet sich in Bleis Bestiarium im Kapitel: „Ideologische Morphologie der literarischen Bestiae“ auf S. 102–115 abgedruckt. Als Methodologische Novelle wurde die metattextuelle Novelle bereits in Bleis Summa (1918. Bd. III. S. 151–159) mit den Initialien H. J. B. veröffentlicht und unter dem Titel „Methodisch konstruiert“ später von Broch in seinen Roman Die Schuldlosen (1950) aufgenommen; vgl. E. Schönwiese: Einleitung (1965). S. 14; M. Durzak: Hermann Broch (2001). S. 58 sowie P. M. Lützeler: Hermann Broch (1985). S. 70, der vermutet, dass Broch seine Novelle unter Bleis Namen habe veröffentlichen lassen, da sie als literarische „Spielerei“ gegenüber den wert- und geschichtsphilosophischen Studien für Broch „nur von sekundärem Interesse“ gewesen sei. Während P. M. Lützeler „eine Mit-Autorschaft Bleis gar nicht in Erwägung“ zieht, weist – nach
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VIII. Essayismus als Intertext – Robert Musil und Franz Blei
Zeigt die erste historische Ausgabe einen Eichkater und die zweite einen Papageien, so bildet die dritte „einen Vogel mit gespreiztem Flügelund Schwanzgefieder und weit geöffnetem Schnabel ab“, der an die Phönix-Abbildung auf dem Buchdeckel des Losen Vogel erinnert.293 Wurde dort explizit auf die Anonymität der Beiträge hingewiesen bzw. geradezu programmatisch auf die Zuschreibung Autor-Text verzichtet, so steht auch hier die Person hinter der Sache, der Verfasser hinter dem dargestellten Sachverhalt zurück. Nicht nur werden die Eigennamen in der satirischen Zusammenstellung der im deutschen Sprachraum vorkommenden Buchstabentiere (Literatiere) zu anagrammatischen Suchbegriffen, sondern darüber hinaus verschwinden auch die Autorennamen einzelner Beiträge sämtlich unter einem, sich für das Ganze der essayistischen Sammlung verantwortlich zeichnenden Verfassernamen: Franz Blei. Dabei lassen sich allein drei Texte aus dem Großem Bestiarium dem Autor Robert Musil zuschreiben: der sechste der Notwendigen Exkurse sowie die beiden Unterkapitel Von der geistigen Ernährung durch Intuition und Von der Streitfrage über die biologischen Begriffe Zivilisation und Kultur294 aus dem Abschnitt Zur ideologischen Morphologie der literarischen Bestiae. Der sechste Exkurs entspricht – von kleineren orthographischen wie stilistischen Abweichungen abgesehen – der 1918 in Bleis Summa veröffentlichten Skizze der Erkenntnis des Dichters.295 Die Änderungen betreffen: eine Streichung des den Essay einleitenden Vergleichs zwischen dem gesellschaftlichen Ansehen von Professoren und Dichtern296 sowie die Tilgung einer kir-
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L. Dietz: Unbekannte Essays von Robert Musil (2001). S. 100 vieles „darauf hin, daß er [Blei] sich als Urheber fühlte (und nicht von ungefähr steht sein [Bleis] Name sogar in der ersten Fassung).“ Vgl. R.-P. Baake: Fundstellen und Wegweiser (1995). S. 403; vgl. auch ebd. S. 395 die Abbildungen der Buchdeckel der verschiedenen Ausgaben des Bestiarium. Von R.-P. Baacke in dem von ihm herausgegebenen Sammelband: Der Montblanc sei höher als der Stille Ozean (1994). S. 93–99 als Blei-Text ausgewiesen; H. Mitterbauer: Ein Mann mit vielen Eigenschaften (2001). S. 179 dagegen führt im Verzeichnis der zitierten Literatur den Essay Von der Streitfrage über die biologischen Begriffe Zivilisation und Kultur aus Bleis Großem Bestiarium alphabetisch unter dem Autornamen Robert Musil als „[Anonym]“ an. Vgl. hierzu auch D. Barnouw: Literat und Literatur (1976). S. 182. Vgl. R. Musil: Skizze der Erkenntnis des Dichters (1918): „In dem Maße wie das von der Zeit der Paulskirche und Bismarcks her beschädigte Ansehen der Professoren im Gemeinschaftsleben gestiegen ist, ist das der Dichter gesunken; heute wo der Professorenstand die höchste praktische Geltung seit Bestehen der Welt erreicht hat, ist der Dichter bei dem gebräuchlichen Namen Literat angelangt […].“ (GW II, 1026f.); Hervorhebung v. B. N.; vgl. F. Blei: Sechster Exkurs. In: ders.: Das große Bestiarium der Literatur (1924). S. 149: „Der Dichter ist heute unter dem gebräuchlichen Namen Literat angelangt […].“
6. Dialogizität und Textassimilation: Das große Bestiarium der Literatur (1924)
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chen- bzw. religionskritischen Bemerkung.297 Wegen der Zufügung eines kausalen Nebensatzes in der Blei-Variante aber298 zu einer Haupt-/ 299 Relativsatz-Konstruktion des Musil’schen Prätextes, kommt es in der Musil-Forschungsliteratur zu gegensätzlichen Einschätzungen, wem nun der Text in Teilen oder als ganzer zugeschrieben werden könne: Blei oder Musil. So bezweifelt Roger Willemsen unter Berufung auf das Musil’sche Theorem der menschlichen Gestaltlosigkeit sowie die Untersuchungen von Hartmut Böhme und Klaus Laermann, „daß Blei den Text ohne Musils Wissen verändert hat“ und schlägt vor, die Blei’sche Textvariante als „letzte Hand“ des Musil-Essays zu berücksichtigen.300 Dagegen gehen Silvia Bonacchi und Emanuela Veronica Fanelli davon aus, dass Blei Musil „buchstäblich paraphrasiert“ habe: Beim Sechsten Exkurs handele es sich „um einen Text […], der sich zwar aus Zitaten und langen Passagen aus Skizze der Erkenntnis des Dichters“ zusammensetze, die „Hinzufügungen“ seien jedoch „fremder Hand“ und ließen nicht Musils, sondern „Bleis Vaterschaft vermuten“.301 Nicht nur, dass hier der Text gewissermaßen zum Vater des Gedankens mutiert, zugleich wird im Zeitalter von praktizierter Genreproduktion und proklamiertem Text-Universum auf eine Kategorie von Leiblichkeit zurückgegriffen, welche den Textkörper des leiblichen (Musil) von dem des bloß „adoptiven“ Vaters (Blei) unterscheidbar mache. Das zugrundeliegende Textverständnis beider Autoren wird von Bonacchi/ Fanelli nur am Rande als ‚intertextuelles‘ benannt. Bleiben wir in der bereits von Musil angewandten Metaphorik der familiären Relationen, so könnte der Gedankensamen bzw. Textanstoß Bleis auch mit der Vorstel-
_____________ 297 Vgl. R. Musil: Skizze der Erkenntnis des Dichters (1918): „Bei diesem Tun ist die geistige Solidarität der Menschheit entstanden und besser gediehen als je unter dem Einfluß eines Glaubens und einer Kirche. Nichts ist daher begreiflicher […].“ (GW II, 1027; Hervorhebung v. B. N.); vgl. F. Blei: Sechster Exkurs. In: ders.: Das große Bestiarium der Literatur (1924). S. 149: „Bei diesem Tun ist die geistige Solidarität der Menschheit entstanden. Nichts ist daher begreiflicher […].“ 298 F. Blei: Sechster Exkurs. In: ebd. S. 149f.; Hervorhebung v. B. N.: „Man könnte ihn [den Dichter] beschreiben als den Menschen, dem die rettungslose Einsamkeit des Ich in der Welt und zwischen den Menschen am stärksten zu Bewußtsein kommt, weil er in seinen ihm eingeborenen Urelementen die individuelle Anonymität der Gemeinschaft besitzt.“ 299 R. Musil: Skizze der Erkenntnis des Dichters (1918): „Man könnte ihn [den Dichter] beschreiben als den Menschen, dem die rettungslose Einsamkeit des Ich in der Welt und zwischen den Menschen am stärksten zu Bewußtsein kommt.“ (GW II, 1026) 300 R. Willemsen: „Man nimmt Franz Blei zu leicht!“ (1983). S. 124. 301 S. Bonacchi/E. V. Fanelli: „Ein nie gesättigtes Verlangen nach Geist …“ (1997). S. 122.
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VIII. Essayismus als Intertext – Robert Musil und Franz Blei
lung des austragenden Musil’schen Mutterleibes bzw. Textkörpers verbunden werden,302 der unter aktiver Beteiligung des Vaters (in seiner Funktion als Herausgeber, Lektor, Kritiker) das Licht der Öffentlichkeit erblickt. Robert Musil selbst hat in seinem Essay Franz Blei – 60 Jahre (1931) das Verhältnis zwischen Autor und Werk, die „Transsubstantiation“ zwischen Blei und seinen Schriften, nicht mit dem Bild einer Mutter gekennzeichnet, „die als Mittelpunkt einer blühenden Familie [= ihren Büchern] zu[m] alten Weiblein“ wird, sondern mit dem „Bild eines unehelichen Patriarchen, der seine Kinder um sich versammelt hat. […] Er hat ihrer Ausbildung keine große Sorgfalt angedeihen lassen, und sie lohnen es ihm damit, daß sie nicht mit jedem zweiten Wort Papa zu ihm sagen.“303 Hinzuweisen bleibt noch in Bezug auf die Textvariante der „individuelle[n] Anonymität“ der dem Dichter „eingeborenen Urelemente[ ]“ in Bleis Großen Bestiarium,304 dass das Wort ‚Gemeinschaft‘ bei Musil nicht wie bei Blei polarisierend auf den Tönnies’schen Begriff der ‚Gesellschaft‘ bezogen wird. Vielmehr taucht es wiederholt als zusammengesetztes Hauptwort im Bereich der Politik auf: als Sprachgemeinschaft in Bezug auf die Frage der Nation,305 als „Kulturgemeinschaft“,306 als „Interessengemeinschaft“,307 weiterhin als „Experimentalgemeinschaft“,308 als Zitat bzw. als Kritik am ideologischen Konstrukt einer „höheren Gemeinschaft“.309
_____________ 302 In diesem Fall ließen sich die von Musil angeführten „Mutter-Schutzinstinkte“ ebenso auf den „Bleiaufsatz“ wie auf Blei selbst in der Rolle des schutzbedürftigen Kindes beziehen; vgl. R. Musil: Brief an E. E. Kisch vom 14. 7. 1918 (BR I, 157). 303 R. Musil: Franz Blei – 60 Jahre (1931) (GW II, 1200); vgl. auch der in Bleis Großem Bestiarium der Literatur (1924. S. 73) als Mischung von „Schoßigel“ und Salon-Caruso bezeichnete Franz Werfel in seinem Roman Barbara oder die Frömmigkeit (1929). S. 504 zu den Text-Vaterschaften Basils alias Bleis: „Auf dem Boden lagen die Fetzen des Aufruhrs in Gott umhergestreut. […] Auch diese Zeitschrift war schon dem Tode verfallen, ehe sie noch lebte. Sie rückte in das Museum der Fehlgeburten und frühverstorbenen Kinder ein, denen ihr Vater so lebhafte und großartige Namen geschenkt hatte.“ Vgl. auch ebd. S. 439f. 304 F. Blei: Sechster Exkurs. In: ders.: Das große Bestiarium der Literatur (1924). S. 149f. 305 Vgl. R. Musil: Der Anschluß an Deutschland. In: Die Neue Rundschau, März 1919 (GW II, 1033–1042, hier 1035). 306 Ders.: Das Unanständige und Kranke in der Kunst (1911) (GW II, 979). 307 Ders.: Politisches Bekenntnis eines jungen Mannes. Ein Fragment. In: Die Weißen Blätter, November 1913 (GW II, 1009–1015, hier 1013). 308 In der Rede Ulrichs in ders.: Der Mann ohne Eigenschaften. 1. Buch (1930) (MoE I, 490). 309 Ders.: Der Anschluß an Deutschland (1919) (GW II, 1035).
6. Dialogizität und Textassimilation: Das große Bestiarium der Literatur (1924)
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Auch bei den „eingeborenen Urelementen“310 fühlen wir uns eher an Hermann Brochs Rede von den „Ur-Moventien der Seele“311 erinnert als an Robert Musil. Neben der Verwendung des Präfix ‚Ur-‘ in der Bedeutung von ‚sehr alt‘,312 findet die Rede von „Ursprung“ 313 bzw. „Ursprünglichkeit“314 allerdings nur als ,falsche‘ oder in uneigentlicher Weise, das heißt ironisierend – wie auch im Falle von „das Urgermanische, ja überhaupt Indogermanische und Urtümliche“ sowie „europäisches Urgut“315 und in der neologistischen Wortbildung der „inneren Urtümer[ ]“316 – Verwendung. Die attributivische Ergänzung der „eingeborenen Urelemente“ verweist wiederum auf einen Blei-Text, der Musil zum Prätext seiner Metakritik des Verhältnisses von Dichter und Kritiker geworden ist: die Kritischen Prolegomena im sechsten Band von Bleis Vermischten Schriften: Der Dichter und das Leben. Ein Buch Kritik (1911), den Musil unter dem Titel Essaybücher 1913 für die Neue Deutsche Rundschau rezensiert hat.317 Blei sieht hier nicht im Schöpfen, sondern im Ordnen der Welt die Aufgabe des Dichters: „Denn Ordnen der Welt ist nicht sein Wille oder seine Absicht oder seine Verzweiflung oder seine Eitelkeit oder sein Mitleid, sondern ist seine ihm eingeborene Leidenschaft.“318
_____________ 310 F. Blei: Sechster Exkurs. In: ders.: Das große Bestiarium der Literatur (1924). S. 149. 311 H. Broch: Brief an Daniel Brody vom 5. 8. 1931. In: Hermann Broch – Daniel Brody: Briefwechsel 1930–1951. Hrsg. v. B. Hack/M. Kleiß. Frankfurt a. M. 1971. Sp. 231: „Der Roman ist Dichtung, hat also mit den Ur-Moventien der Seele zu tun […].“ Vgl. ders.: Hofmannsthal und seine Zeit (1947/48). In: ders.: Kommentierte Werkausgabe. Bd. 9/1. S. 111–285, hier S. 121 „Ur-Symbole der Kunst“ sowie ebd. S. 128: „UrAssoziationen, Ur-Vokabeln, Ur-Symbolen“; vgl. auch ders.: Der Schriftsteller Franz Blei (Zum fünfzigsten Geburtstag) (1921). In: ebd. 1975. S. 53–59, hier S. 55, wo vom „erotischen Ur-Agens“ Franz Bleis die Rede ist. 312 Vgl. R. Musil: Tagebücher. Heft 10 (1918–1921): „der Ur-Haß zwischen Lebendigen“ (TB I, 447) sowie ders.: Alfred Döblins Epos. In: Berliner Tagblatt, 10. Juni 1927: „was Döblin schreibt, ist eine Art Urvers“ (GW II, 1679) sowie ders.: Literat und Literatur (1931): „Urformen der Dichtung“, „seit Urzeiten ziemlich unverändert“, „Erforschung des Urzustandes der Kunst“ (GW II, 1224) etc. 313 Vgl. ders.: Symptomen-Theater II. In: Der Neue Merkur, Dezember 1922/Februar 1923 (GW II, 1103–1112, hier 1108): „Ursprung unserer Schauspielerei“ etc. 314 Vgl. ders.: Literat und Literatur (1931). S. 1207. S. 1210 etc. 315 Ders.: Penthesileiade. In: Der Lose Vogel. Nr. 1. Januar 1912 (GW II, 985–987, hier 985f.). 316 Ders.: Der Mann ohne Eigenschaften. 1. Buch (1930) (MoE I, 249). 317 Ders.: Essaybücher (1913) (GW II, 1450–1457). 318 F. Blei: Kritische Prolegomena (1912). S. 37; Hervorhebung v. B. N.; vgl. ders.: Robert Musil. In: ders.: Zeitgenössische Bildnisse (1940). S. 224, wo von Musils „eingeborne[r] Tendenz“ die Rede ist. Auch in Die Wahlperiode aus der Nr. 1 des Losen Vogel vom Januar 1912, einem Text, den Dietz (Unbekannte Essays von Robert Musil (2001). S. 112) Musil zuschreibt, der aber wohl auch eher Blei zuzuordnen ist, ist auf S. 32 die Rede von der „eingeborenen Lust“ des Politikers.
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VIII. Essayismus als Intertext – Robert Musil und Franz Blei
Aufschlussreicher jedoch als die patrilineare Frage der Vaterschaft bzw. die Frage nach den Möglichkeiten der philologischen Vereindeutigung einer doppelten Vaterschaft scheint mir – neben der intra- wie intertextuellen Selbstthematisierung der freundschaftlichen Text-Übernahmen – die Erfassung der gemeinsamen Textproduktion und Vermarktungsstrategien zu sein: so zum Beispiel die Frage, ob Musil, der in Honorarangelegenheiten ebenso bestimmt wie sensibel reagierte, von Blei eine anteilsmäßige Aufwandsentschädigung für die unter seinem Namen vermarkteten Musil-Texte erhalten haben könnte. 1922, also im selben Jahr wie die zweite Ausgabe des Bestiariums, erscheint der zweite Novellenband (Die Äbtissin von Castro) der von Blei und Weigand besorgten Stendhal-Ausgabe in 14 Bänden bei Georg Müller in München, übersetzt von „Franz Blei und Robert Musil“, wie es noch in der Verlagsankündigung heißt. Musil reagiert verärgert: „Lieber Freund, was haben Sie nun wieder angestellt? […] Sie wissen, daß es mir eine Freude ist, mich neben Ihnen in der Öffentlichkeit zu zeigen, aber Sie werden zugeben, daß ich in diesem Fall überrascht sein darf; ich bringe meine Frau um ihren Verdienst und ihr Vergnügen, und ich habe weder Verdienst, noch Vergnügen davon, denn solche Unfreiwilligkeit eines Entschlusses widerspricht mir.“ Während die im selben Jahr unter Bleis Namen im Großen Bestiarium veröffentlichten Musil-Texte vom Autor offenbar nicht beanstandet worden sind, reklamiert Musil die von Blei bzw. vom Verlag vorgenommene Überschreibung eines fremden Textes (Stendhal)/einer fremden Übersetzung (Franz Blei und Martha Musil) mit seinem eignen Namen und fordert: „Öffentliche Erklärung, daß die Übersetzung von Martha ist, günstigstenfalls die selbstverständliche Forderung einer Nachzahlung.“319 Und Martha selbst berichtet über zwanzig Jahre später in einem Brief an Armin Kesser von Musils (Über)Reaktion auf eine spielerische Authorisierung eines seiner Texte durch einen fremden Schriftstellernamen, in diesem Falle den Alfred Döblins: „D.[öblin] besuchte uns einmal in einer Pension Tauenzienstrasse [!], er setzte sich an den Schreibtisch, wo das M[anu]sk[ri]pt. lag, nahm spielerisch die Feder und schrieb seinen Namen hinein. Und Robert konnte monatelang nicht über diese Stelle hinauskommen.“320
_____________ 319 R. Musil: Brief an Franz Blei vom 14. 11. 1921 (BR I, 245); vgl. hierzu auch Martha Musil: Brief an Franz Blei vom 21. 4. 1920 (BR I, 199). – Der 6. Band der Stendhal Werkausgabe, Die Äbtissin von Castro. Erzählungen, erscheint in München in der Edition Albert Langen/Georg Müller Verlag mit dem auf das Titelblatt gesetzten Hinweis: „Deutsch von M. von Musil und Franz Blei“. 320 M. Musil: Brief an Armin Kesser vom 8. 3. 1948. In: dies.: Briefwechsel mit Arnim Kesser und Philippe Jaccottet. 2 Bde. Hrsg. v. M.-L. Roth in Zusammenarb. mit
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Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch, dass in Musils Korrekturen von Bleis essayistischer Autobiographie Erzählung eines Lebens (1930), in welche im Rainer Maria Rilke benannten Kapitel wiederum Textbausteine der Musil’schen Skizze der Erkenntnis des Dichters (1918) – mitsamt der strittigen Textergänzung – unmarkiert eingegangen sind,321 jeglicher Hinweis auf eine inhaltliche oder urheberrechtliche Beanstandung seitens Musils fehlt. Vielmehr meint Musil, der sich in einem Brief an Franz Blei zu einem „fanatische[n] Anhänger von Falschschreibungen“ stilisiert,322 „[s]eine Gefühle des Dankes […] hinter nüchterner Nützlichkeit verbergen“ zu müssen. Zwar mahnt er die durchgängige Korrektur von „Der Mensch [!] ohne Eigenschaften“ in „Der Mann ohne Eigenschaften in Mann o. E.“ an und bittet auch, „die Worte ratioïd-nicht ratioïd“,323 die sich nur im 60. Kapitel Rainer Maria Rilke sowie im 58. Kapitel Das Experiment des Denkens und das Irrationale des Eros befinden, „durch Gänsefüßchen oder, da es deren schon so viele gibt, eine Bemerkung in Beziehung zu mir zu setzen […], denn diese Worte sind so häßlich und okkasionell, daß sie eigentlich nicht Anspruch erheben dürften, generell gebraucht zu werden und außerhalb ihres Zusammenhangs ihrer Entstehung, als wären sie gut gebildete Begriffe. Wenn es aber schon zu spät sein sollte, so macht natürlich auch das nichts, im Gegenteil, es wird eine Sprachsünde weniger auf mir lasten.“324 Alle anderen Text-Übernahmen werden jedoch nicht beanstandet. Die dem Essay Skizze der Erkenntnis des Dichters (1918) entnommenen Textbausteine in Bleis Autobiographie bleiben unmarkiert.325 Das heißt, als Bleis
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A. Daigger u. M. v. Walter. 2 Bde. Bern [u. a.] 1997. Bd. 1. S. 227; zu diesem Vorfall kam es 1924 kurz vor einer Gallenoperation R. Musils; vgl. hierzu auch K. Corino: Robert Musil (2003). S. 967 u. S. 1906. F. Blei: Rainer Maria Rilke. In: ders.: Erzählung eines Lebens (1930). S. 449–457, bes. S. 444: „[…] weil er in seinen ihm eingebornen Urelementen […].“ R. Musil: Brief an Franz Blei [Juli 1930?] (BR I, 470); vgl. hierzu auch R. Musil: Brief an Franz Blei vom 3. 8. 1930 zu Rowohlts Korrektor, „der recht tüchtig, aber ein preußischer Sprachverkehrsschutzmann ist, der mich mitkorrigiert und mir eine saumäßige Arbeit macht, das wieder auszustreichen.“ (BR I, 475) Ders.: Brief an Franz Blei [etwa Juli 1930?] (BR I, 469f.). Ebd., S. 470; vgl. hierzu auch ders.: Brief an Carl J. Burckhardt vom 14. 10. 1940 über drei erhaltene Erstauflagen des Törleß-Romans: „[…] sie enthalten noch vollzählig alle Sprachsünden, von denen ich für eine spätere Ausgabe die ärgsten gemildert habe, ohne sie entfernen zu können, weil die Sünde eben doch Fleisch ist.“ (BR I, 1236) Vgl. F. Blei: Rainer Maria Rilke. In: ders.: Erzählung eines Lebens (1930). S. 443 (oben) von „In der bürgerlichen Betrachtung gilt der Dichter als Ausnahmemensch […]“ bis zu S. 444 (unten): „Ihnen allen entspricht oder liegt zumindest zugrunde eine bestimmte Erkenntnishaltung und Erkenntniserfahrung wie auch die dieser entspre-
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Autobiographie 1930 erscheint, fehlen die gewünschten doppelten Anführungszeichen ebenso wie die explizite Referenz auf den Autornamen, nur das vermutlich drucktechnisch bedingte fehlende Trema (‚oï‘) könnte als versteckter Verweis auf die Differenz der beiden Autoren gelesen werden. Mit seinem Brief erteilt Musil Franz Blei somit nicht nur Absolution für eine „Sprachsünde“, sondern darüber hinaus auch für den gesamten Vorgang der Textassimilation. Auch wenn sich die zitierte Briefstelle unmittelbar nur auf das RilkeKapitel aus Bleis Erzählung eines Lebens (1930) bezieht, erscheint zum einen eine Übertragung auf den vergleichbaren Sachverhalt der Textpiraterie im Großen Bestiarium ebenso zulässig wie der Rückschluss möglich, dass es sich bei allen übrigen und nicht monierten Textübernahmen um Gedanken bzw. Formulierungen handelt, die ihren generellen Geltungsanspruch aus dem dargestellten Sachverhalt und nicht aus dem Eigennamen oder der Persönlichkeit des Verfassers beziehen. Bemerkenswert ist auch, dass das Rilke-Kapitel aus Bleis essayistischer Autobiographie – nach etwas mehr als einer Seite Text, welche Rilkes Krankheit zum Tode thematisiert – mit Textauszügen aus Musils Rede zur Rilke-Feier (1927) fortsetzt. Bei Bleis Textassimilationen handelt es sich um eine markierte Musil-Paraphrase326 und ein längeres Zitat aus dem letzten Teil der Musil-Rede,327 welche jeweils – durch Auslassungen, stilistische Eingriffe etc. – stärker vom Prätext abweichen als im Fall der unmarkierten Referenz auf die Skizze der Erkenntnis des Dichters (1918). Die Textmarkierungen bzw. expliziten Referenzen auf den Fremdtext verweisen hier auf eine Differenz der Ansichten: Blei nutzt die Auszüge aus dem Musil’schen Prätext, um das Urteil seines Freundes, auf dessen soeben erschienenen Roman Der Mann ohne Eigenschaften er auch in diesem Kontext nicht vergisst hinzuweisen, einzuschränken, zu relativieren und zu korrigieren.328 Musil hatte den Dichter Rilke von den „apollinischen
_____________ chende Objektwelt.“ Vgl. hierzu R. Musil: Skizze der Erkenntnis des Dichters (1918). S. 1028f. und S. 1026. 326 Vgl. F. Blei: Rainer Maria Rilke. In: ders.: Erzählung eines Lebens (1930). S. 446: „Robert Musil sagte in seiner Gedächtnisrede zum Tode des Dichters, daß bei Rilke die Dinge wie in einem Teppich verwoben seien […].“ Vgl. R. Musil: Rede zur RilkeFeier in Berlin am 16. Januar 1927 (GW II, 1229–1243, hier 1238). 327 Vgl. F. Blei: Rainer Maria Rilke. In: ders.: Erzählung eines Lebens (1930). S. 446 und R. Musil: Rede zur Rilke-Feier (1927) (GW II, 1239f.). 328 Vgl. R. Musil: Rede zur Rilke-Feier (1927): „Die Höhe der Dichtung ist keine Spitze, auf der es immer höher geht, sondern ein Kreis, innerhalb dessen es nur ungleich Gleiches, Einmaliges, Unersetzliches, eine edle Anarchie und Ordens-Brüderlichkeit gibt.“ (GW II, 1230) Vgl. F. Blei: Rainer Maria Rilke. In ders.: Erzählung eines Lebens (1930). S. 447: „Musils Urteil, so sehr er es auch einschränkt, indem er nichts Einzel-
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Kollegen“ der Dichterakademie329 auf der einen Seite wie von Stefan George und Rudolf Borchardt auf der anderen Seite abgehoben330 und den Zustand des Geöffnetseins, die Schönheit des Fragments über das klassizistische Ideal der Vollkommenheit und Vollendung gestellt:331 „Im Schönen haben, wie Sie wissen, auch Unvollendung und Unvollkommenheit ihre Würde.“332 Blei kontert dagegen ganz im Sinne Lukács’:333 „Rudolf Borchardt hat in seinen Ewigen Vorrat deutscher Poesie kein Gedicht von Rilke aufgenommen; er sagte von ihm einmal, er läge in unsauberen Windeln, und hat sein Urteil nicht geändert, und es ist richtig.“ Der Lyriker und Dramatiker Borchardt als „Träger eines humanistischen Kulturideals“, als „der Mensch der heroischen Evelation“, wird dem „Romancier“ Musil gegenübergestellt, das klassische Ideal der Idee des Neuen, Interessanten.334
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nes in Rilkes Büchern las, sondern alles in einem, und schon beglückt war über den Fund der seelischen Fluidität […]. Vielleicht sah er, so lesend, mehr als da war, und sah das, was zu sehn ihm an Herzen liegt […].“ R. Musil: Rede zur Rilke-Feier (1927) (GW II, 1233). Vgl. ebd. S. 1235: „Weder das ältere deutsche Gedicht, noch George oder Borchardt haben dieses freie Brennen des Feuers ohne Flackern und Dunkelheit. Das deutsche lyrische Genie wirft wie der Blitz eine Furche auf, aber das Erdreich darum häufelt es sorgsam oder nachlässig auf; es zündet wie der Blitz, aber es ritzt nur wie der Blitz; es führt auf den Berg, aber um auf den Berg führen zu können, muß man zuvor immer wieder unten sein.“ Vgl. ebd.: „Ja, so paradox es klingt […], diese innere Planheit und Faltenlosigkeit, diesen aus einem Guß geformten Charakter des Gedichts findet man oft auch in der Poesie jener Versschwätzer, die ein Gedicht so glatt hinschreiben, wie ein Barbier eine Wange rasiert. Ja, noch viel paradoxer!: man hat den Unterschied nicht immer bemerkt.“ Ebd.; vgl. F. Schiller: Über Anmut und Würde (1793). In: ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 8: Theoretische Schriften. Hrsg. v. R. –P. Janz. Frankfurt a. M. 1992. S. 330–395. Vgl. G. Lukács: Werke. Bd. 11: Ästhetik I: Die Eigenart des Ästhetischen. 1. Halbbd. Neuwied/Berlin 1963. S. 726. F. Blei: Rainer Maria Rilke. In: ders.: Erzählung eines Lebens (1930). S. 447; vgl. auch R. Musil: Tagebücher. Heft 30 (1929–1941?): „Interessant u[nd] Klassisch. (Kürzeste Linie u[nd] Partiallösung)“ (TB I, 779) sowie ebd.: Heft 33 (1937–1941?): „Früh hat bei mir eine Unterscheidung zwischen ‚Interessant‘ und ‚Klassisch‘ eine Rolle gespielt. ‚I‘ sollte wohl das Schöpfungsprinzip sein, das ich der Moderne entnahm. Ungefähr so: Alles, was interessant ist, ist daseins- u[nd] darstellungsberechtigt, u[nd]: Stelle nur dar, was interess.[ant] ist. (Vorstufe des Prinzips der kürzesten Linie). Klassisch bedeutete dann, u.[nd] entwickelte sich später zu einem Quasi=Prinzip: Abgeschlossen, ohne Überflüssiges, dem Leben das Überlebensgroße, ev. auch bloß die konsequente Einseitigkeit entgegensetzend. Es ist daraus der Gedanke der Partiallösung geworden […]. u.[nd] ich bin eigentlich uninteressant geworden.“ (TB I, 931)
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VIII. Essayismus als Intertext – Robert Musil und Franz Blei
Implizit und nicht ohne Selbstrelativierung335 wird Borchardt dem ratioȓden (Dichtungs-)System zugeordnet und Musil dem des nichtratioȓden: „Er [Borchardt] ist für das starre System, Musil für das halbstarre. Er ist ein Krieger, Musil ein Jäger.“336 Doch kommen wir auf Bleis Bestiarium zurück. Auf den sechsten der Notwendigen Exkurse wird in einem weiteren Musil zuschreibbaren Text, dem fünften Teil der essayistischen Textsammlung Zur ideologischen Morphologie der literarischen Bestiae, referiert und zwar abermals im Zusammenhang mit jener Unterscheidung zwischen einem „rein rationale[n] Denken“ und jenem Denken, „das in einer anderen biologischen Abhandlung dieses Buches das nicht-ratioïde Denken genannt worden ist“.337 Roger Willemsen hat nachgewiesen, dass es sich bei dem in Bleis Großen Bestiarium abgedruckten Text um eine Variante von Musils im Neuen Merkur publizierten Essay bzw. des ursprünglichen Textkonvoluts handelt.338 Die in Bleis bestiarischem Konvolut abgedruckte Textvariante Von der geistigen Ernährung durch Intuition, welche bereits im Titel auf den Vorgang der Textassimilation verweist,339 stimmt zu weiten Teilen mit dem X. Abschnitt von Musils Spengler-Essay Geist und Erfahrung. Anmerkungen für Leser, welche dem Untergang des Abendlandes entronnen sind (1921), überein. Bei dem einleitenden, in etwa dem Umfang einer Druckseite entsprechende Absatz handelt es sich um eine wiederauferstandene Text-„Leiche“ derjenigen Kürzungen und Streichungen, die von Musil selbst in einem Brief an den Herausgeber Efraim Frisch mit „ca ¼“ Umfang des eingereichten Textes-Korpus angegeben werden.340
_____________ 335 Vgl. F. Blei: Rainer Maria Rilke. In: ders.: Erzählung eines Lebens (1930). S. 447: „Aber ich will zwei der am schärfsten profilierten Köpfe meiner Zeit nicht an einem gequälten Vergleich verzerren.“ 336 Ebd. 337 F. Blei: Von der geistigen Ernährung durch Intuition. In: ders.: Das große Bestiarium (1924). S. 117. 338 Vgl. R. Willemsen: „Man nimmt Franz Blei zu leicht!“ S. 124ff. 339 Vgl. im ersten Absatz von F. Blei: Von der geistigen Ernährung durch Intuition. (1924). S. 116: „langsam zwischen den Zähnen gefletschert“, „hastig heruntergeschlungen“, „erzeugt […] Blähungen“, „zu einem Brei erweicht“, „Intuitionsgenusses“. 340 R. Musil: Brief an Efraim Frisch [Februar 1921] (BR I, 214): Freilich ist das Schlachtfeld mit Leichen bedeckt […].“ Vgl. auch die Schlussvariante: befindet sich am Ende des X. Abschnitts von Geist und Erfahrung (1921) im „Sammelkasten Intuition“ in Entsprechung zu jenem „andren Verhalten[ ] zu Welt und Mensch“ „vielleicht […] eine neue Welt“ (GW II, 1054), so in Von der geistigen Ernährung durch Intuition aus Bleis Bestiarium (1924). S. 118 nur die (noch) nicht vom Verstand durchdrungene „große Gruppe der religiösen Erlebnisse“ und das intuitionsgläubige „Ressentiment“ der an den Leistungen des Verstandes zweifelnden Literaten.
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Im Bestiarium verbindet sich mit der Nennung der beiden zeitgenössischen Autoren Spengler341 und Rathenau zum einen eine explizite Referenz auf zwei zeitgenössische Autoren, die, wie es in der vom veröffentlichten Prätext abweichenden Eingangspassage heißt, die „Wunderpflanze“ Intuition „langsam zwischen den Zähnen gefletschert“ haben.342 Zum anderen handelt es sich um eine implizite Referenz auf den Rathenau-Essay Anmerkungen zu einer Metapsychik (1914)343 und den SpenglerEssay Geist und Erfahrung. Anmerkungen für Leser, welche dem Untergang des Abendlandes entronnen sind (1921),344 also auf zwei Musil-Texte, welche wiederum den Zusammenhang von Essayismus und Gefühlserkenntnis (‚Intuition‘) thematisieren. In Geist und Erfahrung (1921) schließlich wird in zwei essayistischen Selbstverweisen auf die in Skizze der Erkenntnis des Dichters (1918) erstmals publizierte begriffliche Unterscheidung von ratioïd und nicht-ratioïd zurückverwiesen.345 Der sechste essayistische (Kurz-)Text aus dem Kapitel Zur ideologischen Morphologie der literarischen Bestiae mit dem Titel Von der Streitfrage über die biologischen Begriffe Zivilisation und Kultur entspricht, von einigen Umstellungen abgesehen, dem XIII. Abschnitt von Musils Spengler-Essay Geist und Erfahrung (1921). Auch hier bleibt der Prätext unmarkiert. Der Kreis der intertextuellen Referenzen scheint sich hier zu schließen, genauer noch: das Hin- und Her, die Querverweise zwischen den Texten werden bei näherer Betrachtung immer dichter, wobei im Einzelnen (zumindest auf der Grundlage des zur Verfügung stehenden Textmaterials) nicht mehr exakt zwischen intra- und intertextuellen bzw. auto- und heterointertex-
_____________ 341 Die Spengler-Zitate, die in Geist und Erfahrung (1921) durch explizite Referenzen (doppelte Anführungszeichen, inquit-Formeln und Nennung des Autornamens) ausgewiesen werden (vgl. GW II, 1054), sind in Von der geistigen Ernährung durch Intuition nur als Zitate gekennzeichnet, also in doppelte Anführungszeichen gesetzt; vgl. F. Blei: Das große Bestiarium der Literatur (1924). S. 117. 342 F. Blei: Von der geistigen Ernährung durch Intuition (1924). S. 116. 343 Vgl. R. Musil: Anmerkung zu einer Metapsychik. In: Die Neue Rundschau, April 1914 (GW II, 1015–1020, hier 1019): „Die Evidenz der Intuition entgleitet zur Unverbindlichkeit des Aperçus; was eben noch als Aphorismus, als esprithafter Einfall daherkam, gilt wenige Zeilen später als gefestetes Material für neuen Weiterbau und es entsteht eine außerordentlich merkwürdigen Pseudosystematik, eine Art erbittertes Ordnungsspiel, bei dem es aus einer Anzahl bestimmter Steine vorausbestimmte Figuren zu formen gilt.“ 344 Vgl. ders. S. 1049f.: Geist und Erfahrung (1921) zu ‚Intuition‘ den Abschnitt X (GW II, 1053–1055) und zu ‚Analogie‘ den Abschnitt II (GW II, 1043f.). 345 Vgl. ebd.: „Ich habe es deshalb einst das nicht-ratioïde Gebiet genannt (im 4. Band der Zeitschrift Summa, wo man einige Gelegenheitsbemerkungen mehr darüber finden kann) […].“ Vgl. auch ebd.: „Ich weise noch einmal auf den Unterschied von ratioïd und nicht-ratioïd hin […].“ (GW II, 1059)
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tuellen Bezügen unterschieden werden kann. So lässt sich zum Beispiel nicht ausmachen, ob der jeweilige „Zuschnitt[ ] auf den ‚zoologischen‘ Rahmen“,346 der zuerst unter dem Verfassernamen Musil publizierten Texte nun von Blei vorgenommen worden ist, der für das bestiarische Textkonvolut insgesamt als Verantwortlicher zeichnete, oder aber von Musil.347 Hinzuweisen bleibt in diesem Zusammenhang auch auf folgenden Textbefund: Sowohl in der durch den Namen Musil autorisierten wie in der mit dem Namen Blei gezeichneten Textvariante bleibt eine explizite Referenz ohne erkennbaren Bezug und verweist auf den ersten Blick ins Leere: „Wie schon gesagt, halte ich das Wachstum der Anzahl daran beteiligter Menschen für die Hauptursache des Übergangs von Kultur in Zivilisation.“348 Das „Wie schon gesagt“ Musils wie das „Wie bereits gesagt“ Bleis beziehen sich nicht, wie zunächst vermutet werden könnte, auf den jeweiligen Kontext der Publikation (Geist und Erfahrung bzw. Das große Bestiarium). Es handelt sich vielmehr um eine der vielen Federn, die Der Lose Vogel verloren hat: In der Nr. 6 vom Dezember 1912 hatte Musil in seinem (unsignierten) Essay Politik und Österreich (1912), in welchem soziologische Betrachtungen zur Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Wertsphären mit der Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit einer neuen Kultur verbunden werden, das ,Gesetz der großen Zahl‘349 eingeführt: „Es ist die Auflösung durch die unübersehbare Zahl, was den kulturellen Grundunterschied gegen jede andere Zeit bildet, das Alleinsein und Anonymwerden des einzelnen in einer immer wachsenden Menge, welches eine neue geistige Verfassung mit sich bringt, deren Konsequenzen noch unberechenbar bleiben.“350
_____________ 346 R. Willemsen: „Man nimmt Franz Blei zu leicht!“ (1983). S. 125. 347 Vgl. z. B. R. Musil: Geist und Erfahrung (1921): „Die Frage auf Leben und Tod ist: geistige Organisationspolitik. Das ist die erste Aufgabe für Aktivist wie Sozialist […].“ (GW II, 1058) Vgl. F. Blei: Von der Streitfrage über die biologischen Begriffe Zivilisation und Kultur. In: ders.: Das große Bestiarium der Literatur (1924). S. 121: „Die Frage auf Leben und Tod ist: geistige Organisationspolitik. Das ist die erste Aufgabe für alle heute lebenden Tiere.“ 348 R. Musil: Geist und Erfahrung (1921) (GW II, 1057) und F. Blei: Von der Streitfrage über die biologischen Begriffe Zivilisation und Kultur (1924). S. 120: „Wie bereits gesagt, muß man das Wachstum der Anzahl daran beteiligter Menschen für die Hauptursache des Übergangs von Kultur in Zivilisation ansehen.“ 349 Vgl. R. Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. 1. Buch (1930) (MoE I, 488). 350 Ders.: Politik in Österreich (1912) (GW II, 994); vgl. auch ders.: Politisches Bekenntnis eines jungen Mannes (1913) (GW II, 1011f.) sowie ders.: Geist und Erfahrung (1921): „Mit dem Wachstum der Zahl hält die geistige Organisation nicht Schritt: darauf sind achtundneunzig vom Hundert [im Großen Bestiarium der Literatur (1924). S. 121: „98 v. H.“] aller Zivilisationserscheinungen zurückzuführen.“ (GW II, 1058)
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Die Suchbewegung, die der explizite Textverweis aufgibt, ist also kein rhetorischer Blindgänger, sondern ein markierter Hinweis auf die intrawie intertextuelle Textfunktion der Dialogizität: Es handelt sich um einen Dialog der Texte, der sich ohne Autor vollzieht, genauer: ein Dialog, dem der Autor-Name als Markenzeichen für einen „Handelsartikel“351 zugeschrieben bleibt, weniger als Subjekt, als Schöpfer, sondern mehr als ordnende, kritische, vernetzende Funktion der essayistischen Vertextung. Die Texte, Textauszüge, Textvarianten ergänzen, kommentieren, relativieren sich wechselseitig. Entscheidender als die linear nachweisbare Vaterschaft des (rationalen) Gedankens sei vielmehr – so Musil/Blei – die „Penetranz und innere Fortpflanzungsgeschwindigkeit“ des nicht-ratioïden Denkens. Dieses aber konvergiere mit der „Vitalität der Worte“, mit „einer um den belanglosen Begriffskern gelagerten Wolke von Gedanke und Gefühl.“352 Es handelt sich demnach weniger um einen männlich konnotierten dichterischen Schöpfungs- bzw. Zeugungsakt als um eine weiblich konnotierte, intuitive „Weltempfängnis“, die sich beim künstlerischen wie beim wissenschaftlichen bzw. beim nicht-ratioïden wie beim ratioïden Denken als ein „philosophisch schöpferischer – oder aber auch philosophisch eklektischer“ Zustand der „Umreaktion“ der „Gesamtperson“ vollzieht:353 „Der Mensch ist eben nicht nur Intellekt, sondern auch Wille, Gefühl, Unbewußtheit und oft nur Tatsächlichkeit wie das Wandern der Wolken am Himmel.“354
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Vgl. auch ders.: Der Dichter in dieser Zeit. Vortrag in Wien zur Feier des zwanzigjährigen Bestehens des Schutzverbandes deutscher Schriftsteller in Österreich, 16. Dezember 1934 (GW II, 1243–1259, hier 1248): „Ich habe einmal […] einen Gedankengang niedergeschrieben, der ungefähr so lautete: das Wachstum der in einem gemeinsamen Wirkungskreis vereinigten Menschenzahl und das Wachstum der sie verbindenden Kräfte und Einrichtungen müssen miteinander Schritt halten, wenn nicht allmählich ein Zerfall beginnen soll.“ (GW II, 1248) Ders.: Literarische Chronik. In: Die Neue Rundschau, Juni 1914 (GW II, 1465-1471, hier 1465). Ders.: Geist und Erfahrung (1921) (GW II, 1053) und F. Blei: Von der geistigen Ernährung durch Intuition (1924). S. 117. F. Blei: Von der geistigen Ernährung durch Intuition (1924). S. 117f. und R. Musil: Geist und Erfahrung (1921) (GW II, 1054), hier (statt „ einen allmählich gewordenen kritischen Zustand der Gesamtperson“): „einen längst gewordenen kritischen Zustand der ganzen Person“ und (statt: „die große Umreaktion“): „das große innere Umreagieren“. R. Musil: Geist und Erfahrung (1921) (GW II, 1057) und F. Blei: Von der Streitfrage über die biologischen Begriffe Zivilisation und Kultur (1924). S. 120.
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In Musils frühem essayistischen Fragment Über den Essay (1911/12?) findet sich nicht nur bereits die Beschreibung zweier Gebiete der menschlichen Erkenntnis (hier allerdings noch ohne die Terminologie ratioïd/ nicht-ratioïd), die wir aus Skizze der Erkenntnis des Dichters (1918) kennen,355 sondern auch die Infragestellung und Aufhebung der herkömmlichen Dichotomisierung zwischen intuitiver und rationaler Erkenntnis,356 wie sie später in Geist und Erfahrung (1921) vorgenommen wird: „Das intuitive Erkennen wurde in einen Gegensatz zu dem gewöhnlichen gestellt und getrachtet, daraus die Dignität der mystischen Erkenntnis abzuleiten. Intuition gibt es auch im rein rationalen Bezirke.“357 Im Essayfragment findet sich ebenfalls bereits der dichotomische Komplex der lebendigen und toten Gedanken, der Hinweis auf das „Hegelsche 3-Schema des Begriffsaufstiegs“358 sowie auf das exemplum negativum in Sachen Intuition und Essayistik: Walther Rathenau.359 Die „intuitive Erkenntnis im mystischen Sinn“ wird hier als „Umschmelzen eines großen sentimentalen Komplexes“ bezeichnet, der im „kleineren Maße“
_____________ 355 Vgl. R. Musil: [Über den Essay] [1911/12?]: „Auf der einen Seite von ihm liegt das Gebiet der Wissens-schaft. Auf der andern Seite das Gebiet des Lebens und der Kunst.“ (GW II, 1334) 356 Vgl. hierzu auch B. Russell: Mystik und Logik. Philosophische Essays (1910). Wien/ Stuttgart 1952. S. 14: „Gibt es zwei Arten der Erkenntnis, die man Vernunft oder Intuition nennen könnte? Und wenn dies der Fall ist, ist eine der anderen vorzuziehen?“ Vgl. ebd. S. 15: „Tatsächlich ist jedoch die Gegensätzlichkeit von Instinkt und Vernunft im wesentlichen nur eine Täuschung. Es ist der Instinkt, die Intuition, die Einsicht, die zunächst zu Glaubensvorstellungen führt, die nachträglich von der Vernunft bestätigt oder widerlegt werden; doch besteht diese Bestätigung, wo dies möglich ist, letzten Endes in einer Übereinstimmung mit anderen Glaubensvorstellungen, die nicht weniger instinktiv sind. Die Vernunft übt eher eine ausgleichende, kontrollierende als schöpferische Funktion aus. Auch in den Bereichen reinster Logik ist es die Intuition, die zuerst das Neue erkennt.“ 357 R. Musil: [Über den Essay] [1911/12?] (GW II, 1336); vgl. ders.: Geist und Erfahrung (1921): „Man wird dann wohl etwas mehr beachten, was jetzt so gern übersehen wird, daß es auch rein rational eine Intuition gibt.“ (GW II, 1053) Vgl. auch die BleiVariante (Von der geistigen Ernährung durch Intuition (1924). S. 116f.) als Wortspiel von Zoologie und Sprachgeschichte: „Was die verschiedenen Varietäten der Intuition betrifft, wird ganz übersehen, daß ihre Stammform auch auf rein rationalem Boden gedeiht.“ 358 Vgl. R. Musil: [Über den Essay] [1911/12?] (GW II, 1336f.) und ders.: Geist und Erfahrung (1921). S. 1051: „(oder – worauf ich früher einmal hingewiesen habe – der Hegel’sche Dreischritt: Thesis, Antithesis, Synthesis, der gerade dort nicht gilt, wo er ihn anwandte, nämlich auf ratioïdem Gebiet)“ sowie ders.: Franz Blei (1918): „Denn auf dem Gebiet ihrer Arbeit [des Geistes] gilt weniger der Satz vom ausgeschlossenen Dritten als der Hegelsche vom Weg zur Synthesis.“ (GW II, 1023) 359 Vgl. R. Musil: [Über den Essay] [1911/12?] (GW II, 1337): „Rathenau ist das Beispiel der Entartung eines Essayisten in einen philosoph.[ischen] Dilettanten.“
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jene „menschliche Umbildung“ bzw. „Umbildung des Menschen“ entspreche, welche mit der „ständige[n] Bewegung des essayistischen Denkens“ einhergehe.360 Aufgrund der Dichte der intra- wie intertextuellen bzw. auto- wie heterotextuellen Querverweise und Übernahmen zwischen den hier sezierten Blei- und Musil-Texten sowie einer alternativen, im Kommentar Frisés verzeichneten Textvariante,361 ist zu erwägen, das Essayfragment Über den Essay auf 1911/12 (statt „[e]twa 1914?“)362 vorzudatieren. Dies ist die Zeit der Vereinigungen und des Losen Vogel, die Zeit des intensivsten Gedankenund Textaustausches und der engsten Zusammenarbeit zwischen Musil und Blei. Nun könnte das frühe Musil-Fragment im herderisch-organologischen Sinne und fortgeschriebener spenglerischer Metaphorik auch als Same verstanden werden, aus dem sich – nach der mittleren bzw. methodologischen Blüte der Skizze der Erkenntnis des Dichters (1918) – die reife Frucht des Essays Geist und Erfahrung (1921) entwickelt. Aus intertextueller Sicht erscheint das ‚zoologische‘ Beispiel des Regenwurms allerdings adäquater: statt von einem gewachsenen Ganzen wird dabei von dem Vertextungsprinzip der Zerstückelung und Assimilation, von der „geistigen Ernährung“363 durch ‚lebendige‘ Textbausteine („Gedanken- und Gefühlsf[ä]den“) ausgegangen. Denn schließlich ist ja auch der in „vier Fäden“ bzw. Scheiben zerschnittene Regenwurm nicht ‚tot‘, sondern er hat, indem ihm „wie ein[em] Regenwurm Köpfe und Schwänze nachwachsen“, sogar die „vierfache Kraft“.364 Die ‚Autopoiesis‘ der Einzelteile hat (in der Poetologie Döblins und Musils) den nicht mehr zeitgemäßen Entwicklungs- und Handlungsbegriff der Epik abgelöst. Kommen wir auf Das große Bestiarium (1924) zurück. Neben den angeführten unmarkierten Textassimilationen gibt es auch eine Reihe von
_____________ 360 Ebd. S. 1336f. 361 Vgl. die alternative Textvariante: „Die Frage, ob Claudine recht oder unrecht hat, [ihren Mann] zu verraten“ (GW II, 1836) statt: „Die Frage, ob Törless recht oder unrecht hat, Basini zu quälen […].“ (GW II, 1335) 362 Vgl. A. Frise (GW II, 1334). 363 F. Blei: Von der geistigen Ernährung durch Intuition (1924); R. Musil: Tagebücher. Heft 19 (1919–1921): „2 Arten geistiger Ernährung wichtig zu unterscheiden: Aufnahme durch persönliche Verarbeitung (Studium, Originalstudium) und in Emulsion. Dazwischen die Abstufungen der Aufnahme aus (zweiter, dritter, hundertster Hand. Selbst im Universitätsstudium)“ (TB I, 540). 364 R. Musil: Zu Kerrs 60. Geburtstag. In: Die Literarische Welt, 22. Dezember 1927 (GW II, 1180–1186, hier 1181).
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markierten Hinweisen auf Robert Musil. Dieser wird im letzten Abschnitt von Theater und Schauspielkunst – neben George, Hofmannsthal, Borchardt und Gütersloh, Bleis Freund und ebenfalls Koautor des Bestiariums – innerhalb der „letzten Periode“ der „modernen Literatur“ als Vertreter der „Dichtkunst“ im emphatischen Sinn gewürdigt.365 Im elften, mit einem markierten Solger-Zitat beginnenden Absatz („Alle heutige Kunst beruht auf dem Roman, selbst das Theater“) hatte Blei Musils Schwärmer (1921), die er selbst an den Sybillen Verlag vermittelt hatte366 und im Gegensatz zu Kerrs acht Jahre später erscheinenden Schwärmer-Kritik367 als nicht zu kürzendes und somit dramaturgisch unzerstückbares „psychologisch gänzlich orginale[s]“, eigentlich der Gattung Roman zugehöriges Dramenstück verteidigt.368 In den Neuen Gesprächen Goethes mit Eckermann hebt der für den zeitgenössischen Literaturmarkt wiederauferstandene alte Goethe gegenüber ‚seinem‘ Eckermann369 Robert Musils Stück Die Schwärmer (1921) positiv gegenüber „jenen Augenblickstücken theatralischen Gewerbes“ und der „theatralischen Manufaktur“ ab:370 „In unserm alten Sinn ist das Ganze vielleicht auch nicht mehr ‚dramatisch‘; aber vielleicht ist dieser Sinn nicht
_____________ 365 F. Blei: Theater und Schauspielkunst. In: ders.: Das große Bestiarium der Literatur (1924). S. 289–378, hier S. 373: „[…] so geschah es auch in dieser letzten Periode, daß was die Dichtkunst repräsentierte und worin sie sich bewahrte, abgeschlossen von der modernen Literatur ihr Leben führte […].“ Vgl. auch ebd. S. 376. Der promovierte Nationalökonom Blei nimmt (ebd. S. 371f.) eine Korrelation zwischen Literaturgeschichte und Kapitalismuskritik vor: „Eine Definition der modernen deutsche Literatur, die mit Hebbel beginnt, über Keller und Freytag zu Hauptmann und Sudermann, Dehmel und Bartsch führt, ist restlos in der Definition der kapitalistisch–bürgerlichen Welt gegeben, deren Geist sie auch dort noch ist, wo sie sich gegen sie aufzulehnen scheint […].“ 366 R. Willemsen: „Man nimmt Franz Blei zu leicht!“. S. 121. 367 Vgl. A. Kerr: Robert Musil: „Die Schwärmer“ (1929). In: ders.: Werke in Einzelbänden. Hrsg. v. H. Haarmann/G. Rühle. Bd. VII. 2: „So liegt der Fall“. Theaterkritiken 1919–1933 und im Exil. Hrsg. v. G. R. Frankfurt a. M. 2001. S. S. 480–484. 368 F. Blei: Theater und Schauspielkunst (1924). S. 356. 369 Vgl. ders.: Erzählung eines Lebens (1930). S. 20: „Ich war keines Gottes und keines Genies Eckermann.“ 370 Ders.: Neue Gespräche Goethes mit Eckermann. In: ders.: Das große Bestiarium der Literatur (1924). Frankfurt a. M. 1982. S. 231–261, hier S. 259; der auto-intertextuelle Prätext von 1912 (Neue Gespräche Goethes mit Eckermann. In: ders.: Vermischte Schriften. Bd. 6 (1912). S. 175–209, hier S. 206f.) schloss noch mit einem Lob bzw. hoffungsfrohen Blick des alten Goethe auf die „antike Natur“ Walther Rathenaus und dessen Zur Kritik der Zeit (1912): „Es sind in diesem Buche Seiten, die sich neben das größte Gedicht stellen können […]. Es ist in diesem Manne etwas allem Modernen ganz Fremdes: er ist unzerteilt und unzerstückt […].“ Vgl. ders.: Neue Gespräche Goethes mit Eckermann. In: ders.: Das große Bestiarium der Literatur (1924). S. 249.
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nur alt, sondern auch veraltet, gemessen am sozusagen Dramatischen des heutigen Lebens selber.“371 Und Blei liest im Namen und mit der selbstverliehenen Autorität Goethes Musils Versuch, die an den Vereinigungen (1911) entwickelte Novellenkonzeption der Motivation auf die Gattung des Dramas zu übertragen, als „Drama der Ideen“.372 Dieses wird in die Tradition Ibsens einer Bühne des „dreifache[n] Hintereinander[s]“ gestellt: „Auf dem vorderen Plane spielte man die Fabel für den Jedermann aus dem Publikum, dem sie wenig gefiel, weil sie nicht spannte. Auf dem Zwischenplane agierte man die symbolischen Beziehungen für die Nüsseknacker der Seele und die Dilettanten des ästhetischen Gruseligen. Und auf dem hinteren Plane vollzog sich das Drama der Ideen.“373 Der alte Goethe, der Musils Drama mit den Stücken Ibsens und Hauptmanns vergleicht, greift hier wiederum auf Musils Hauptmann-Kritik Gabriel Schillings Flucht in die Öffentlichkeit zurück, die im 4. Heft des Losen Vogel (1912) erschien.374 Dort heißt es über den „norwegischen Pillendreher und Giftmischer“ Ibsen:375 „Der machte Tafeln mit Aufschriften, die die Bedeutung der Menschen ersetzen mußten, und ließ sie von gut alltäglichen Emotionen hin und her bewegen. Es war das Prinzip der Shakespearebühne im Innern.“376 Musil entlarvt das Postulat der naturalistischen Wirklichkeitsdarstellung als platonische Ideologie, da die eigentlichen Agentien nicht Menschen, sondern Ideen seien: „Die Idee-Indiskretion, die Idee hinter, über dem Stück, statt in den Seelen der Personen kann aber nie distinkt, nie genau, scharf, fein gegeben werden, es bleibt ihr immer etwas von der Unbestimmtheit der Programm-Musik und einer Pantomime in Worten.“377
_____________ 371 Ders.: Neue Gespräche Goethes mit Eckermann (1924). S. 260. 372 Ebd. S. 258; vgl. auch R. Musil: Aus einem Rapial (Nachlass) (GW II, 824–865, hier 830f.): „Der Bildungsroman einer Person, das ist ein Typus des Romans. Der Bildungsroman einer Idee, das ist der Roman schlechtweg.“ 373 F. Blei: Neue Gespräche Goethes mit Eckermann (1924). S. 258; vgl. R. Musil: Vermächtnis. Notizen (Nachlass [etwa 1930–1942]): „Man erzählt um des Erzählens willen, um der Bedeutung der Geschichte willen, um der Bedeutung willen: 3 Stufen“ (MoE II, 1940). 374 R. Musil: Gabriel Schillings Flucht in die Öffentlichkeit. In: Der Lose Vogel. Nr. 4, nach März 1912 (GW II, 1441–1444, hier 1443). Das Drama Gerhart Hauptmanns wurde im Januar-Heft der Neuen Rundschau veröffentlicht, die Uraufführung fand erst am 14. 6. 1912, also nach Musils Rezension statt; vgl. A. Frisé (GW II, 1850). 375 F. Blei: Neue Gespräche Goethes mit Eckermann (1924). S. 258. 376 R. Musil: Gabriel Schillings Flucht in die Öffentlichkeit (1912) (GW II, 1443). 377 Ebd. S. 1443f.; Hervorhebung B. N.
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VIII. Essayismus als Intertext – Robert Musil und Franz Blei
Goethe alias Franz Blei stellt nun dem psychologischen Seelendrama Hauptmanns Musils Drama der Motivation gegenüber: „Herr Musil treibt das, was man das Psychologische nennt, bis an seine äußerst mögliche Grenze, in seine engste Enge, wie ich gern sagen möchte – […]. Er forciert das Seelische, daß es sein trübes Bereich verlasse, in dem Hauptmann seine Figuren beläßt“.378 Schon Hauptmanns Künstler-Drama sei, so der junge Musil in einer Rezension im Losen Vogel von 1912, kein Stück „mit Personen, die unter den Händen des Kritikers verenden wie Meerschweinchen auf der Gottesklinik“.379 Und der alte Goethe schreibt 1924 im Großen Bestiarium den Prätext fort: Während im zeitgenössischen Theater „nur durch ein Kostüm gestochen“ würde, gäbe es in Musils Drama, „wo es sich immer um Leben und Streben der Ideen handelt, […] wahrhaft Leichen, die hier als ein Begriff, eine Idee, ein Geistiges fielen: Das Drama löst keine Probleme, sondern es erledigt das Problematische.“ Das Problematische – das Psychologische ebenso wie das Begriffliche, werde von Musil aufgelöst „zu Gefühligem, Stimmungshaften“.380 Diese Elementenkomplexe im Sinne Machs werden, so Blei über Musil, nicht durch das, „was man so Charaktere nennt“, in „Ordnung oder Fortgang der Handlung“ gebracht, sondern „im Fleische von Geschöpfen gebildet“.381 Bereits 1923 hatte Franz Blei, der im selben Jahr nach Berlin übergesiedelt war und als Dramaturg an der Tribüne arbeitete, seinem Freund Albert Paris Gütersloh gemeldet: „Über das Nicht-Spielen von Musils Stück [Die Schwärmer] bin ich etwas ins Verkrachte mit Robert [Eugen Robert, seit 1920 Leiter der Tribüne in Berlin] gekommen, was zusammen mit meinem Widerwillen gegen Theater wohl dazu führt, daß es mit dieser Saison sein Bewenden hat“.382 Bald darauf wird Musil seinen Dichter- und Kritikerfreund Blei, der vorhatte, selbst eine Rolle – vermutlich die Anselms – in Musils Stück zu übernehmen,383 der „[f]ahrlässige[n] Tötung“ seiner Schwärmer bezichtigen.384 Was ist geschehen?
_____________ 378 F. Blei: Neue Gespräche Goethes mit Eckermann (1924). S. 259. 379 R. Musil: Gabriel Schillings Flucht in die Öffentlichkeit (1912) (GW II, 1443). 380 F. Blei: Neue Gespräche Goethes mit Eckermann. In: ders.: Das große Bestiarium der Literatur (1924). S. 259. 381 Ebd. 382 F. Blei: Brief an A. P. Gütersloh [1923?]. In: ders.: Zwischen Orpheus und Don Juan (1965). S. 111; Hervorhebung in der Textvorlage getilgt. 383 Vgl. hierzu auch F. Blei: Brief an Carl Schmitt vom 24. 7. 1922. In: ders.: Briefe an Carl Schmitt 1917–1933 (1995). S. 51: „[…] mir ist das Theater in Parkett wie Bühne gleich zuwider und die Leute, die damit zu tun haben, zum Kotzen. Meine Tätigkeit bei dem [Eugen] Robert ist auch nur in letzter Linie schauspielerisch für zwei Fälle
6. Dialogizität und Textassimilation: Das große Bestiarium der Literatur (1924)
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Franz Blei hatte in der Nr. 21 vom 4. Februar 1925 des von ihm herausgegebenen Roland Musils Schwärmer als einen „außerordentlich interessanten Prolog zu einem möglichen künftigen Theater“ bezeichnet, welcher – werde er vor Ablauf von Jahren gespielt – „in die dramatische Isolvenz [!] dieser Zeit“ falle. „denn ein Theaterpublikum kann ein absolut Neues nicht apperzipieren“.385 In seinem Brief vom 4. Februar 1925 reagiert Musil auf Bleis ebenso ironischen wie prophetischen Bemerkungen zu den Schwärmern ebenso verärgert wie beleidigt: „geschah es mit Absicht oder ist es Ihnen nicht bewußt gewesen, daß Sie […] mich nun nicht nur nicht auszeichnen, sondern mit-angreifen?“386 In einem Postscriptum stellt er die freundschaftliche Solidarität des Kritikers mit seinem Dichter vor journalistischen Pragmatismus und das Stilmittel der ‚konstruktiven Ironie‘:387 „Es ist nämlich auch taktisch falsch, eine Zeit nur zu negieren und ihr nicht etwas Positives entgegenzusetzen. Dabei dürfen Sie nicht vergessen, daß wir theoretisch doch grundverschiedene Ansichten vom Zweck der Sache haben. Sie gesellschaftsbestimmt, ich quasimathematisch objektiv ihn sehe. Daß ich mich also durchaus nicht mit Ihrem Ideal zu decken brauche und doch Anspruch auf Ihre volle und unabgezwickte Kameradschaft habe.“388 Am 26. Mai 1925 scheint die Verstimmung jedoch bereits wieder behoben: Musil dankt Blei, er habe sich über dessen Bemerkung über die Schwärmer sehr gefreut („Ich bin unfähig, Ihnen in einer meiner Freude entsprechenden Weise für Ihre Bemerkungen über die Schwärmer zu danken.“) und fühle sich über sein „überraschende[s] Auftreten als Ihre Novellenfigur“ sehr geschmeichelt.389 1924 erscheint Bleis Kuriositäten-Kabinett der Literatur als „Epilegomena“ der auf zwei Bände konzipierten Darstellung der neuern Literatur, wobei der erste Band der dritten Ausgabe des Bestiariums entspricht.390 Musil, der
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von mir vorgeschlagen: in Musils Stück dieses besser zu halten, wenn ich darin spiele, und in einem von mir.“ R. Musil: Brief an Franz Blei vom 4. 2. 1925 (BR I, 377). Zitiert nach A. Frisé (BR II, 221). R. Musil: Brief an Franz Blei vom 4. 2. 1925 (BR I, 377). Vgl. ders.: Der Mann ohne Eigenschaften (Nachlass) (MoE II, 1939). Ders.: Brief an Franz Blei vom 4. 2. 1925 (BR I, 378). Ders.: Brief an Franz Blei vom 26. 5. 1925 (BR I, 384); auf welche „Novellenfigur“ Bleis sich Musil hier bezieht, bleibt als Rätsel aufgegeben. 1925 erscheinen Bleis Frivolitäten des Herrn von Disemberg in Berlin; möglicherweise hat Musil sich selbst in dem fiktiven Selbstporträt seines Freundes wiedererkannt? F. Blei: Vorbemerkung. In: ders.: Das Kuriositäten-Kabinett der Literatur. Hannover 1924. S. 7–10, hier S. 10; vgl. F. Blei an Carl Schmitt vom Juli 1922. In: ders.: Briefe an Carl Schmitt 1917–1933 (1995). S. 49: „Inzwischen schreib ich den, jenen zweiten Band der Modernen Literatur, deren erster das sehr erweiterte Bestiarium ist, heisst
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VIII. Essayismus als Intertext – Robert Musil und Franz Blei
„des Ausgezeichneten kein Ende“ findet,391 empfiehlt die Essaysammlung392 im Almanach auf das Jahr 1925 der Hellerschen Buchhandlung: nicht nur „weil Franz Blei, ihr Dichter, einer der gescheitesten und belesensten europäischen Schriftsteller ist. Sondern auch, weil er einer der größten Kritiker ist, der sein Geschäft leider nie anders ausübt als im Vorübergehen mit ein paar Bemerkungen.“393 Beim Dichterkritiker bzw. Kritikerdichter Blei ist der Inhalt, das ‚Passierte‘, das Geschehen, die Handlung, die Fabel, durch den Modus des Passierens, gedanklichen Umherschweifens, Vorbeilaufens, Traversierens ersetzt. Blei seinerseits hatte – ebenfalls im Almanach auf das Jahr 1925 der Hellerschen Buchhandlung Musils Drei Frauen (1924) als „das wertvollste Buch des letzten Jahres“ empfohlen: „Keine gehobene Unterhaltungslektüre für Frauen, wie unsere ganze schöne Literatur von oben bis hinunter. Sondern für Männer, die Ingenieure sind, Mathematiker.“394 In einem Brief vom 16. November 1924 dankt Musil Blei für die Nennung der „3 Frauen“ und verspricht, beim Spazierengehen über einen Beitrag für Bleis Zeitschrift Roland nachzudenken: „Ich denke, über alles, und was mir einfällt – die Art haben Sie mir ja angegeben – Aber ich liege innen noch nicht in der Linie.“395 Ende 1924 schreibt Musil „eine kleine Reiseskizze mit dem Kennwort Koketterie“,396 den ersten Brief Susannens, der Anfang 1925 in Bleis Roland erscheint: „Diesmal ist er noch feuilletonoid, aber die Fortsetzung könnte, ohne an Leichtigkeit einzubüßen seriöser sein oder auch zwischen Plaudern und ernster Ironie wechseln, wenn Ihnen die Idee überhaupt gefällt; Material habe ich, da ich meine ganze Essayistik und auch Teile des Romans in diese Form bringen kann.“397 Für die Publikation der innerhalb
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Literarische Figuren und Landschaften. Mit diesen zwei Bänden, die zusammen wirklich eine Darstellung der modernen Literatur zu sein beanspruchen können, soll die Literatur dann für mich erledigt sein. Es gibt Wichtigeres.“ Zeitweise konzipierte Blei seine Geschichte der modernen Literatur auf insg. drei Bände vgl. F. Blei: Brief an Carl Schmitt vom 18. 10. 1923. In: ebd. S. 59. R. Musil: Brief an Franz Blei vom 12. 9. 1924 (BR I, 357). Neben O. M. Fontanas Die Insel Elephantine, E. E. Kischs Der rasende Reporter, A. Döblins Der Fall Elli Link u. a. sowie in einem Nachtrag, also last but not least auch B. Balázs’ Der sichtbare Mensch. R. Musil: [Bemerkenswerte Bücher]. In: Almanach auf das Jahr 1925 (GW II, 1714– 1716, hier 1714); Hervorhebung v. B. N. Zit. nach: A. Frisé (BR II, 213f.); vom Neuen Wiener Tagblatt wird am 1. Januar unter der Rubrik Das beste Buch nur Bleis, nicht aber Musils Antwort abgedruckt. R. Musil: Brief an Franz Blei vom 16. 11. 1924 (BR I, 366). Ders.: Brief an Franz Blei vom 8./9. 12. 1924 (BR I, 370). Ders.: Brief an Franz Blei vom 12. 12. 1924 (BR I, 371).
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von nicht mehr als vier Tagen entwickelten und ausgeführten ,feuilletonoiden‘ Skizze stellt Musil gegenüber seinem Freund zum einen eine „am Zeitungsmaßstab“ bemessene Honorarforderung von 150 M „(es darf natürlich auch mehr sein)“, da „heute kein Mensch aus purer Lust an der Sache schreiben“ könne, und erwägt in ebenso erpresserischer wie aussichtsloser Absicht als alternatives Publikationsorgan Die Dame, für die Blei selbst seit 1924 arbeitete, „denn ich finde, daß diese Beiträge auch dorthin sehr gut passen.“398 Zum einen geht mit der stilistischen Feuilletonisierung die ‚Ullsteinisierung‘ der Handelsware Essay einher. Zum anderen wählt der Autor für seinen „persönlichen Spaß“, das „billige[ ] Stimulans“ einer weiblichen „Maskerade“, ein männliches Pseudonym: „Ich will diese Briefe aber nicht als Musil, sondern als Rychtarschow zeichnen“.399 Mit Matthias bzw. Mathias Rychtarschow – Musils Großvater väterlicherseits ist in „Rychtaőow in Mähren“ geboren400 – zeichnete Musil im Zeitraum von 1921 bis 1923 verschiedene Beiträge in der Prager Presse, u. a. den erstmals in Bleis Losem Vogel veröffentlichten Essay Der mathematische Mensch. In der Prager Presse publiziert Musil weiterhin unter Matthias, dem großväterlichen Vornamen sowie mit der Chiffre „‚ma.‘ = Matthias)“.401 „Rychtarschow Aufsätze“ sollte der von Musil geplante und nie erschienene Essayband heißen.402 Der Dichterkritiker bzw. Kritikerdichter spaltet sich auf in den Dichter, der unter seinem bürgerlichem Eigennamen Robert Musil veröffentlicht, und den Essayisten und Kritiker, der seine „Handelsartikel“403 mit fremdem, wenn auch verwandtschaftlich abgeleiteten Namen zeichnet.
_____________ 398 Ebd. S. 371f.; vgl. hierzu U. Tiebel: Theater von aussen. Robert Musil als Kritiker. 2. Aufl. Rheinfelden/Berlin 1993. Anm. 52. S. 144: „Im Jahre 1924 reicht er [Musil] auf der Suche nach ‚besten Honoraren‘ ein Exposé bei der im Berliner Ullstein Verlag erschienenen Zeitschrift Die Dame ein, bei der auch Blei wiederum Mitarbeiter ist. Von Musil wird jedoch nichts veröffentlicht.“ 399 R. Musil: Brief an Franz Blei vom 8./9. 12. 1924 (BR I, 370). 400 Ders.: Tagebücher. Heft 33 (1937–1941) (TB I, 920). 401 Vgl. hierzu den Kommentar A. Frisés (TB II, 207); vgl. auch den mit „Ihr R. M. Rychtaőov“ unterzeichnete Brief R. Musils an F. Blei vom 13. 4. 1933 (BR I, 568). 402 R. Musil: Tagebücher. Heft oNr (1916–1918/19) (TB I, 346). 403 Ders.: Literarische Chronik. In: Die Neue Rundschau, Juni 1914 (GW II, 1465–1471, hier 1465 in Bezug auf die Novelle).
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VIII. Essayismus als Intertext – Robert Musil und Franz Blei
7. Essayistisch leben oder Leben als Essay – Bleis Erzählung eines Lebens (1930) und Musils Der Mann ohne Eigenschaften (1930) Musil wird jetzt ausgedruckt. Ich erhalte die Aushängebogen wie sie fertig werden und schicke sie Ihnen gleich weiter. Ebenso die der Erzählung eines Lebens sowie sie eintreffen.404 (Franz Blei) Es lebt der Mensch ja weder im kontinuierenden Fleische, noch im kontinuierenden Geiste, sondern nur in der Fiktion einer kontinuierenden Personalitas, die sich schon durch das Gestrüpp des überraschenden Lebens durchschlagen würde.405 (Franz Blei) Und Ulrich bemerkte nun, daß ihm dieses primitiv Epische abhanden gekommen sei, woran das private Leben noch festhält, obgleich öffentlich alles schon unerzählerisch geworden ist und nicht einem ‚Faden‘ mehr folgt, sondern sich in einer unendlich verwobenen Fläche ausbreitet.406 (Robert Musil)
1930 erscheint das erste Buch von Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften in zwei Teilen (Eine Art Einleitung und Seinesgleichen geschieht) bei Rowohlt in Berlin, im selben Jahr Bleis Autobiographie Erzählung eines Lebens bei Paul List in Leipzig. Handelt es sich im ersten Fall um einen essayistischen Roman bzw. Essayroman, so im zweiten um eine essayistische Autobiographie bzw. um eine Essayautobiographie, um einen „autobiographischen Versuch“, wie es in der Einleitung heißt.407 Bleis Text gliedert sich – eingerahmt von einer Einleitung und einer Verabschiedung des Lesers – in zwei Teile: in einen traditionell, also linear erzählten ersten Teil (Kapitel 1–16) und in einen essayistischen zweiten Teil (Kapitel 17–67). So wundert es nicht, dass Albert Paris Gütersloh in den von ihm herausgegebenen Schriften in Auswahl unter der Überschrift Erzählung einer Jugend nur die ersten 175 von insgesamt 494 Seiten abdruckt mit der Begründung: „Der epische Fluß der Selbstbiographie schließt nach
_____________ 404 F. Blei: Brief an Carl Schmitt vom 24. 9. 1930. In: ders.: Briefe an Carl Schmitt 1917– 1933 (1995). S. 73; vgl. auch die Auskunft Carl Schmitts von 1975 gegenüber Adolf Frisé: „Meine persönliche Begegnung mit Musil in Berlin stand allzu ausschließlich unter dem damals (1930) für mich fast ausschließlichen Interesse an der Figur Rathenaus; nur unter diesem (für Musil) verengenden Horizont habe ich damals auch die Druckfahnen des Romans gelesen, die ich von Franz Blei erhielt.“ (BR II, 336) 405 F. Blei: Erzählung eines Lebens (1930). S. 417. 406 R. Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. 1. Buch (1930) (MoE I, 650). 407 F. Blei: Erzählung eines Lebens (1930). S. 7.
7. Essayistisch leben oder Leben als Essay
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diesem Teil und löst sich in den folgenden Kapiteln, ohne zeitliches Kontinuum, in Eindrücken, Betrachtungen und Kritiken auf“.408 Die Auflösung der Form des Romans wie der Autobiographie ist jedoch Programm. Und so ist im Kapitel Das Experiment des Denkens und das Irrationale des Eros zu lesen: „Der Leser wird es gemerkt haben, daß der Verfasser dieser Erzählung eines Lebensablaufes keinerlei Plan dieses Lebens aufzudecken geneigt ist, aus dem ganz einfachen Grund, weil nichts derlei wahrnehmbar, soweit man sich als ein sozusagen naiver Realist dazu verhält.“409 Mit dem Plan des Lebens – als subjektiver Lebensentwurf auf der Ebene der Geschichte wie als ursächliche, zeitlich-kausale Konstruktion auf der Ebene des Diskurses – ist dem autobiographischen Ich aber wie auch der Romanfigur Ulrich das „primitiv Epische abhanden gekommen […], woran das private Leben noch festhält, obgleich öffentlich alles schon unerzählerisch geworden ist und nicht einem ‚Faden‘ mehr folgt, sondern sich in einer unendlich verwobenen Fläche ausbreitet.“410 Das kausale wie zeitliche Nacheinander des „Faden[s] der Erzählung“, der als ‚weil‘, ‚damit‘, „‚als‘, ‚ehe‘ und ‚nachdem‘“ in den „Faden des Lebens“ hineingeknüpft ist, löst sich auf in ein teppichartiges Nebeneinander der „Tatsachen“ und ihrer Konstruktionen.411 Der Faden der Geschichte ist aus Bleis zweitem Teil der Autobiographie herausgezogen und das „gelebte Leben gleicht“ mit seinem essayistischen Patchworkmuster, um eine Formulierung Georg Simmels miteinzuflechten, „einem Teppich, von dessen vielen Fäden jeder einzelne nur kurze Strecken weit zutage liegt“.412 Simmel hatte in Die historische Formung (1917/18) das Verhältnis von ‚Geschehen‘ und ‚Geschichte‘ als Konstruktion des Beobachters bestimmt: „Schon das Gleichnis ginge zu weit, daß hiermit aus dem vielfältigen Gewebe des Lebens ein einzelner Faden herausgelöst und den anderen
_____________ 408 A. P. Gütersloh: Anmerkungen zu den gewählten Texten. In: Franz Blei: Schriften in Auswahl (1960). S. 675; vgl. hierzu auch A. Gabrisch. In: Franz Blei: Porträts. Wien [u. a.] 1987. S. 537: „Überschaubar und in epischer Abfolge wird ihm in der Erzählung eines Lebens nur seine Jugend, ab Jahrhundertbeginn löst sich die Autobiographie in eine Folge von einzelnen Begegnungen auf, in Reaktionen“; vgl. auch ebd. S. 577 zu Bleis „Autobiographie Erzählung eines Lebens, deren fortlaufender Erzählzusammenhang sich nach der Schilderung der Kindheits- und Jugendjahre in eine lockere Folge von Einzel- und Gruppenporträts auflöst.“ 409 F. Blei: Erzählung eines Lebens (1930). S. 429. 410 R. Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. 1. Buch (1930) (MoE I, 650). 411 Ebd. 412 G. Simmel: Die historische Formung. In: Logos. Internationale Zeitschrift für Philosophie der Kultur. Bd. 7 (1917/18). H. 2. S. 113–152. Abgedr. in: ders.: Gesamtausgabe. Bd. 13: Aufsätze und Abhandlungen 1909–1918. Bd. II. Hrsg. v. K. Latzel. Frankfurt a. M. 2000. S. 321–370, hier S. 330.
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VIII. Essayismus als Intertext – Robert Musil und Franz Blei
gegenüber, in die Wirklichkeit hin, tragend und getragen, verspinnt, zu einem selbständigen Gewebe verarbeitet wird. Denn es fehlt die Ununterbrochenheit, mit der die Stücke eines Fadens in sich zusammenhängen; es handelt sich vielmehr um Stücke des Gewebes, die nur gelegentlich und nur teilweise innerhalb des Ganzen mit einander verbunden sind und erst von einem Gesichtspunkt aus, den der Betrachtende als einen allein herrschenden und Einheit erzwingenden herbeibringt, eine ‚Geschichte‘ bilden.“413 Der Chronotopos der biographischen Zeit414 wird im zweiten Teil von Bleis Autobiographie abgelöst von einem „Chronotopos der Begegnung“,415 welcher die zeitliche Dimension als Begegnung im zeitgenössischen (Kultur-)Raum, als in den Lebenstext eingeschriebenen soziokulturellen Dialog konzeptionalisiert. Schon der Titel des essayistischen Autobiographie markiert die Differenz: Es geht nicht um die ‚Geschichte‘, sondern um die ‚Erzählung‘ eines Lebens, das zwar das eigene ist, aber als fremdes, in der 3. Person Singular, konstruiert wird. Auf der Ebene der metatextuellen Selbstreflexion heißt es in der Einleitung: „So komme ich zum Schlusse, daß ich nichts weiter tue, als einiges vom Leben in einer bestimmten Zeit zu erzählen, wobei ich mich an den Erzähler als den nächsten besten wie an einen Faden halte. Es wird nur manchmal so aussehen, als ob ich das Leben um diesen Faden lege.“416 Dabei wird der autobiographische Wahrheitsanspruch ebenso als hypostasierte Textfunktion bzw. Selbstkonstruktion entlarvt417 wie die Einheit des „ungradierten“ Ich als bloß „fingierte“:418 „Denn das Ich hat Grade“.419 Das ‚Ich‘ ist immer schon ein erzähltes,
_____________ 413 Ebd. S. 325. 414 M. M. Bachtin: Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik (1937/38). Hrsg. v. E. Kowalski/M. Wegner. Frankfurt a. M. 1989. S. 199. 415 Vgl. ebd. S. 22. 416 F. Blei: Erzählung eines Lebens (1930). S. 20. 417 Vgl. ebd. S. 18: „Man kann übrigens von der Wahrheit, der ‚ungeschminkten Wahrheit‘ solcher Bücher wie diesem hier nicht gering genug denken. Mit der besten Absicht, sich zu zeigen wie man ist, und ginge dies auch bis zum Äußersten einer zynischen Selbstzerfleischung, wird man immer nur zeigen, wie man zu sein glaubt, sei es, um sich zu propagieren, sei es um sich zu entschuldigen, sei es, um zu skandalisieren oder sich zu rühmen, oder nur, um sich recht zu geben.“ 418 Vgl. ebd. S. 20: „Ich habe das, was meine Person, diese fingierte Einheit, enthält, in soundso vielen schriftlichen Äußerungen mitgeteilt […]“; vgl. ebd. S. 18: „Wer sich ein ungradiertes Ich zuschreibt, wahrhaft ‚zuschreibt‘, tut damit mehr als ihm erlaubt werden darf.“ 419 Ebd. S. 18.
7. Essayistisch leben oder Leben als Essay
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‚zugeschriebenes‘, eine narrative Konstruktion, die in der essayistischen Autobiographie ebenso inszeniert wie metatextuell reflektiert wird. Das 57. Kapitel aus Bleis Erzählung eines Lebens (1930), Der Mann ohne Eigenschaften, verweist nicht nur explizit im Titel auf das im selben Jahr erschienene erste Buch von Musils Roman. Das essayistische Ich in der mit dem Autornamen Blei überschriebenen Autobiographie kennzeichnet den „erzählte[n] Menschen“ Blei420 darüber hinaus als „versuchten wie versuchenden Menschen“,421 dem das „Führe uns in Versuchung“ der „einzige[ ] Satz seines Paternosters“ ist, dem er aus „Lust an Negation“ zustimmte.422 Weiterhin wird der erzählte Mensch Blei vom Erzähler Blei in impliziter Referenz auf Georg Simmel als „Abenteuerer[ ]“ bezeichnet,423 als jemand, der eine „Form des abenteuerlichen Daseins verkörpert“: „er blieb sozusagen immer ein Herr zwischen dreißig und x; er setzte kein Fett an; […] kurz: er hatte es zu nichts gebracht.“424 Und das essayistische Subjekt der Autobiographie erkennt sein essayistisches Objekt in einer Romangestalt wieder, in eben jenem Ulrich aus Der Mann ohne Eigenschaften, aus dessen 40. Kapitel Ein Mann mit allen Eigenschaften425 ausführlich zitiert wird.
_____________ 420 Ebd. S. 414: „die Motivation […] dieses Menschen hier, dessen Leben ich erzähle“, „dieser hier erzählte Mensch“, vgl. auch ebd. S. 415: „der erzählte Mensch“ etc. 421 Ebd. S. 411. 422 Ebd. S. 415. 423 G. Simmel: Das Abenteuer. In: Philosophische Kultur. Über das Abenteuer, die Geschlechter und die Krise der Moderne. Gesammelte Essais (1911). Hrsg. v. J. Habermas. Berlin 1983. S. 13–26; vgl. auch R. Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. 1. Buch (1930): während Ulrich sich nicht als Abenteurer sieht (MoE I, 153), wird er von Arnheim dafür gehalten (MoE I, 324 und 549); vgl. auch die Kennzeichnung der „Essayisten und Männer des innerlich schwebenden Lebens“ als „Männer, die sich in einem Abenteuer verirrt haben.“ (MoE I, 253f.). Vgl. zum impressionistischen „Wesen des Abenteurers“ bei Georg Simmel und Franz Blei auch R. Hamann/ J. Hermand: Impressionismus. München 1972. S. 59. 424 F. Blei: Erzählung eines Lebens (1930). S. 411; vgl. hierzu auch Franz Werfels (Barbara oder die Frömmigkeit (1929). S. 486) Version des Basil, einer fiktiven Romanfigur, die sich auf den historischen Blei bezieht und die in ihrem Namen Blei und Musil vereint: „Es gehörte ja zu Basils Größe, daß er kein Privatleben führte, daß er es niemals bei Frau und Familie ausgehalten, daß er’s ‚zu nichts gebracht‘ hatte und sich noch als Fünfzigjähriger in den Vorräumen des Erfolges umhertrieb […].“ Die Figur des Financiers Aschermann (ebd. S. 440) bezieht sich auf die historische Vorlage Josef Kranz, die Figur der Hedda auf Gina Kaus (ebd. S. 444ff.). 425 Die Überschrift des 40. Kapitels von R. Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. 1. Buch (1930) lautet vollständig: „Ein Mann mit allen Eigenschaften, aber sie sind ihm gleichgültig. Ein Fürst des Geistes wird verhaftet, und die Parallelaktion erhält ihren Ehrensekretär“.
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VIII. Essayismus als Intertext – Robert Musil und Franz Blei
Das Zitat erfolgt diesmal explizit: mit Nennung des Autornamens, des Titels und in doppelten Anführungszeichen fast wort- bzw. zeichenidentisch – mit Ausnahme von der Hinzufügung des einen oder anderen ‚e‘ in den Genitivendungen, der Transformation eines Dativs in einen Akkusativ, eines getrennt geschriebenen in ein zusammengeschriebenes Verb, der Weglassung von einen Relativsatz umrahmenden Kommata wie einer attributiven Ergänzung. Es handelt sich vermutlich allesamt um Übertragungsfehler oder aber durch kleine Korrekturen des Lektors Blei entstandene Textdifferenzen.426 Es geht in der zitierten Textpassage um Reflexionen des „zweiunddreißigjährigen Mann Ulrich“ über den „großen Jenachdem-Macher“ Geist. Das Personalpronomen der dritten Person ‚er‘, im Prätext durchgängig auf ‚der Geist‘ zu beziehen, wird in der Version Bleis auf Ulrich selbst bzw. seinen erzählten Menschen bezogen. Daran schließt sich eine Paraphrase zu jener fragenden Erwägung Ulrichs an, „daß der Geist selber keinen Geist habe?“,427 fortgesetzt durch eine produktive Fort- bzw. Umschreibung des Musil’schen Prätextes, indem Blei jenen zwei „Ulriche[n]“428 den Kompass der Wahrheit als „Symbol des Denkens“ und „konstruktives Hilfsmittel“ verleiht.429 Durch diese schöpferische Einfügung bzw. philosophische Ergänzung der Textvorlage scheint auch der daran anknüpfende Abschnitt zum Verhältnis von Kritik und Kunstwerk motiviert,430 nach welchem der „sich hier erzählende[ ] Mensch[ ]“ „aus einer gewissen Not des Geistes zum Selbstverrat“ den „hier erzählte[n] Mensch[en]“ weiter „schreibend manifestiert“.431 Im 58. Kapitel Das Experiment des Denkens und das Irrationale des Eros greift Blei das 62. Kapitel Auch die Erde, namentlich aber Ulrich, huldigt der Utopie des Essayismus aus dem Mann ohne Eigenschaften (1930) auf und stellt Walther Rathenau als Beispiel eines „ungenauen Menschen“432 den „in
_____________ 426 Vgl. hierzu F. Blei: Erzählung eines Lebens (1930). S. 411f. und R. Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. 1. Buch (1930). S. 153f.: „Der Geist hat erfahren […]“ bis „[…] während es sich mit den Worten verändert.“ 427 F. Blei. Erzählung eines Lebens (1930). S. 412 und R. Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. 1. Buch (1930). S. 155. 428 F. Blei. Erzählung eines Lebens (1930). S. 413; vgl. R. Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. 1. Buch (1930). S. 155: „Zwei Ulriche gingen in diesem Augenblick. Der eine sah sich lächelnd um und dachte: ‚[…]!‘ Aber während der eine mit diesen Gedanken lächelnd durch den schwebenden Abend ging, hielt der andre die Fäuste geballt […].“ 429 F. Blei. Erzählung eines Lebens (1930). S. 413. 430 Ebd. S. 413f. 431 Ebd. S. 416. 432 Ebd. S. 421; vgl. R. Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. 1. Buch (1930): „der unscharfe Typus Mensch, der die Gegenwart beherrscht“ (MoE I, 249).
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ihren gedanklichen Bereichen Genauen“, Max Scheler und Robert Musil, gegenüber.433 Im 63. Kapitel wird Blei die Thematisierung – Darstellung wie Reflexion – von Geist in Musils Roman gegenüber Schelers „Philosophieren in der Schwebe“ vorziehen.434 Die Unterscheidung zwischen phantastischer und pedantischer Genauigkeit435 aber – wie die von Ulrich gesuchte Formel einer „Verbindung von exakt und nicht-exakt, von Genauigkeit und Leidenschaft“436 – weist eine Entsprechung zur Bleis’schen Formulierung „eine[s] mit Leidenschaft genauen Geist[es]“ auf.437 Und in expliziter Referenz heißt es paraphrasierend: „Musil hat da einen trefflichen Ausdruck gefunden. Gewiß sei, denkt man an die Trompeten des Jüngsten Gerichtes, eine heutige Abhandlung über die Ameisensäure etwas lächerlich Dünnes an Stimme. Aber wer kann sagen, ob die Ameisensäure zu den Zeiten des Jüngsten Gerichtes nicht eine überragende Rolle spielen werde?!“438 Direkt an das 60. Kapitel Rainer Maria Rilke mit den Textassimilationen aus Musils Skizze der Erkenntnis des Dichters (1918) sowie dessen Rede zur Rilke-Feier (1927) schließt sich das Robert Musil überschriebene 61. Kapitel an. Hier ist der zuerst 1913 in Der Lose Vogel publizierte Essay Über Robert Musil’s Bücher eingearbeitet, nicht als ganzer, sondern gleichsam als um die szenisch-narrativen Elemente gekürztes monologisches Gedankendestillat.439 Blei gibt nur die Redeanteile des essayistischen Ich sowie des Musil’schen Gehirns wieder und muss dabei kaum von der ersten in die dritte Person Singular transformieren, da ja bereits im Musil’schen Prätext das essayistische Ich ebenso wie Musils Hirn über den Verfasser des Törleß der Vereinigungen in der 3. Person sprechen. Blei lässt deren Inquit-Formen weg, fügt sich auf den Autor beziehende neu hinzu („[d]ieses aber unterscheidet Musil“, „dies ist das Procedée Musils“, „Musils Bemü-
_____________ 433 F. Blei: Erzählung eines Lebens (1930). S. 421; im Kontext der durch doppelte Anführungszeichen gekennzeichneten Scheler-Zitate findet auch – allerdings unmarkiert – die Musil’sche Begriffsanleihe einer „ratioiden[!] Sphäre“ (ebd. S. 426) Verwendung. 434 Ebd. S. 465f. 435 R. Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. 1. Buch (1930) (MoE I. S. 247f.). 436 Ebd. S. 252; vgl. auch schon ders.: Der mathematische Mensch (1913), wo vom „leidenschaftlich[en]“ Gesicht der Mathematik die Rede ist (GW II, 1005). 437 F. Blei: Erzählung eines Lebens (1930). S. 423. 438 Ebd. S. 423; vgl. R. Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. 1. Buch (1930): „Denn was fängt man am Jüngsten Tag, wenn die menschlichen Werke gewogen werden, mit drei Abhandlungen über die Ameisensäure an, und wenn es ihrer dreißig wären?! Andererseits, was weiß man vom Jüngsten Tag, wenn man nicht einmal weiß, was alles bis dahin aus der Ameisensäure werden kann?!“ (MoE I, 248) 439 Vgl. hierzu auch R. Musil: Novelleterlchen [1912] (GW II, 1323–1327).
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hen gilt“, „Musil redet“ etc.),440 stellt hier und da den Satzbau um, lässt einen Nebensatz weg, feilt eine Formulierung nach und ergänzt die zum Teil entstehenden Textlücken in musilschem Sinn und in musilscher Formulierung und in eigenen Gleichnissen.441 Blei vollzieht somit am Musil’schen Prätext, was in diesem selbst als der „menschliche Zweck des Kunstwerks“ bezeichnet wird: einen „asymptotische[n] Abbau, durch den allein wir die seelischen Kraftstoffe dauernd unserm Geist assimilieren“. Derjenige aber, der „das unendlich gebrochene Vieleck einer Gefühls- und Gedankenkette“ hergestellt442 und mit seinem Autornamen versehen hat, tritt als bloßer „Hautsack“443 hinter seinen Text zurück. Doch anders als im Fall des „Hautsackes, der Scheler hieß“,444 dessen Philosophieren sich als asketisches „unter die Kontrolle seiner Triebe begeben mußte“,445 wird die „Stärke der synthetischen Kraft“ Robert Musils446 folgendermaßen gekennzeichnet: Musil sei nicht ‚nur Dichter‘, sondern zugleich immer auch Ingenieur, ein spezifisches intrapersonelles Gleichgewicht von Sinnlichkeit und Intellektualität, Körper und Hirn: „Dieser so beschaffne und geübte Körper verhinderte als ein Pair das Hirn, daß dieses Auswüchse bekam und entartete […]. Und dieses Hirn hinderte den Leib daran, ein bloßer Athlet zu werden.“447 Der essayisti-
_____________ 440 F. Blei: Erzählung eines Lebens (1930). S. 452f. 441 Vgl. ebd. S. 452: „Er [Musil = der „begriffsstarke[ ] Mensch“] überzieht das zu messende Feld mit einem Netz, das feine Maschen hat. Weil ihm Bedürfnis ist, genauer, ja überhaupt genau zu sein, geradezu von einer phantastischen Genauigkeit.“ Vgl. hierzu die von Blei ausgebauten bzw. fortgeschriebenen Versatzstücke in R. Musil: Über Robert Musil’s Bücher (1913) (GW II, 997) und ders.: Der Mann ohne Eigenschaften. 1. Buch (1930) (MoE I, 247f.). 442 R. Musil: Über Robert Musil’s Bücher (1913) (GW II, 1000) und F. Blei: Erzählung eines Lebens (1930). S. 454. 443 F. Blei: Erzählung eines Lebens (1930). S. 456, vgl. hierzu auch den letzten Satz des autobiographischen Textes (ebd. S. 494): „Dann legte sich das steinerne Schweigen der Jahrhunderte über das, was in eine Haut versammelt Franz Blei geheißen hatte.“ Vgl. auch R. Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. 2. Buch (1932), wo die „Totenhaut“ des aufgebahrten Leichnams von Ulrichs Vater als „Reisesack des Lebens“ gekennzeichnet wird (MoE I, 677), sowie die in Klammern gesetzte Zwischenüberschrift „(Das Hautich)“ in den Entwürfen zum Bonadea-Kapitel in ders.: Der Mann ohe Eigenschaften (Nachlass) (MoE II, 1974); zur Hautmetaphorik bei Musil s. auch C. Benthien: Im Leibe wohnen. Literarische Imagologie und historische Anthropologie der Haut. Berlin 1998. S. 238 u. 264. 444 F. Blei: Erzählung eines Lebens (1930). S. 466. 445 Ebd. S. 465. 446 Ebd. S. 457. 447 Ebd. S. 456; vgl. ebd.: „Robert Musil: ein außerordentlich begabter Körper“ sowie E. Canetti: Das Augenspiel. Lebensgeschichte 1931–1937 (1988). 13. Aufl. Frankfurt
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sche Autobiograph, der als erzählendes Ich sich als erzähltes Ich so zeigt, wie er zu sein glaubt,448 beschreibt Robert Musil „nicht wie er ist, sondern wie er […] zu sein hat.“449 Das heißt in diesem Fall: Musil wird von Blei an seinem eigenen, im Essay Über Robert Musil’s Bücher (1913) entwickelten Erzählprogramm gemessen.450 Am Schluss des Textes steht in einer ironisch-parodistischen Formvollendung des autobiographischen Diskurses der Tod des autobiographischen Subjekts und somit die Einheit von erzählendem und erzähltem Ich. Die Fiktion Franz Blei, „das, was in eine Haut versammelt Franz Blei geheißen hatte“,451 nimmt sich im letzten, mit Verabschiedung des Lesers überschriebenen Abschnitt seiner Autobiographie, nach einer ärztlich diagnostizierten „Krankheit zum Tode“452 in der Werther-Nachfolge, hier allerdings in Abweichung von der Vorlage mit einer Dosis Zyankali, das Leben. Seine letzten, auf einen Zettel geschriebenen Worte lauten: „Ich nehme alles zurück.“453 In seiner letzten Imagination werden noch einmal die Gestalten seiner Freunde „wie auf figurenreichen Tafeln von Grecco[!]“ beschworen:454 Albert Paris Gütersloh, Carl Schmitt,455 Paul Scheffer,456 Hermann Broch,457 Max Rychner, Peter Gan, Victor Plessen und
_____________
448 449 450
451 452 453 454 455
456
a. M. 2001. S. 158: „Er [Musil] hielt seinen Körper gewandt und kräftig und bestimmte in jeder Einzelheit über ihn. Er dachte auch mehr über ihn nach, als es unter den geistigen Menschen seiner Zeit üblich war.“ Vgl. F. Blei: Erzählung eines Lebens (1930). S. 18. Ebd. S. 456f. Vgl. ders.: Notwendige Exkurse. In: ders.: Das große Bestiarium der Literatur (1924). S. 125–231, hier S. 131: „Aus dem Vergleich zu gewinnende Kunsturteile sind nur dann möglich, wenn sie vom Künstler selber bestimmt dadurch provoziert werden, daß er das Maß angibt, an dem er gemessen zu sein wünscht […].“ Ders.: Erzählung eines Lebens (1930). S. 494. Ebd. S. 491. Ebd. S. 492. Ebd. S. 494. Carl Schmitt, der Franz Blei vermutlich bereits aus den Zeiten des Losen Vogel (1912/13) kannte, publizierte in Bleis Summa (1917/18): Recht und Macht (1917), Die Sichtbarkeit der Kirche (1917) und Die Buribunken. Ein geschichtsphilosophischer Versuch (1918). Am 14. Dezember 1930 waren Franz Blei, Martha und Robert Musil Gäste im Hause Schmitt; vgl. hierzu K. Corino: Robert Musil (2003). S. 1066. Der Briefwechsel zwischen Franz Blei und Carl Schmitt riss am 17. 8. 1933, also nach Schmitts Veröffentlichung von Staat, Bewegung, Volk (1933) ab; vgl. hierzu A. Reinthal: Einleitung. In: Franz Blei: Briefe an Carl Schmitt 1917–1933 (1995). S. 7–15, hier S. 11f. sowie F. Blei: Carl Schmitt. In: ders.: Zeitgenössische Bildnisse (1940). S. 21–30, hier S. 21. Paul Scheffer (1883–1963) hatte bereits in Bleis Hyperion veröffentlicht und war seit 1919 Auslandkorrespondent des Berliner Tagblatt und von 1934–37 dessen Chefredakteur; vgl. A. Reinthal: Kommentar. In: Franz Blei: Briefe an Carl Schmitt 1917–1933 (1995). S. 103.
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last but not least Robert Musil: „Und Musil: wie durch eine die brennende Intensität dieses Antlitzes verschleiernde Maske, aus einer hauchzarten Alge gebildet, blickte das halbgeschloßne Auge ihn an, öffnete sich leicht der Mund.“458 Am 23. Mai 1930 berichtet Robert Musil in einem Brief an Franz Blei von der Lektüre der Erzählung eines Lebens (1930), die er wegen der laufenden Korrekturen an den Druckfahnen des ersten Buches von Der Mann ohne Eigenschaften in „ungeduldige[r] Erwartung“ als Urlaubslektüre aufheben möchte: „Ich habe mit großer Befriedigung Ihr Buch angefangen, an dem ich noch das ganz besondere Interesse habe, daß ich es innerlich für den Roman benutze, den ich nach diesem vorhabe (eine utopische Experimentallandschaft)“.459 Beim Projekt gebliebenen „Das Land über dem Südpol – moralischer Experimentalroman“460 handelt es sich, wie das mit Südpol überschriebene Exzerpt aus Brehm’s Tierleben zeigt,461 um eine Art Fortschreibung des Blei’schen Bestiariums: Es handelt sich – gewissermaßen als Antizipation von George Orwells 1945 erschienener Animal Farm um eine „Literatenfarm“462 bzw. einen „ethische[n] Kongreß der Tiere“, der „sich über die besten derartigen Einrichtungen“ – u. a. das Begattungsverhalten von Molchen, Salamandern, Fröschen, Kröten, Fischen und Seepferdchen463 – „inbezug auf die seelische und soziale Wirkung“ „aussprechen und einigen“ soll.464 Interessant wäre es zu wissen, welche Tier- bzw. Begattungsform hier Blei, möglicherweise in der Funktion des
_____________ 457 Vgl. hierzu auch M. Durzak: Hermann Broch. Reinbek 2001. S. 58: „Als Blei 1942 in New York starb, gehörte Broch zu den wenigen, die ihn zu Grabe geleiteten.“ Vgl. auch den Kommentar P. M. Lützlers in: H. Broch: Kommentierte Werkausgabe. Bd. 13/2: Briefe 2 (1938–1945). Frankfurt a. M. 1981. Anm. 2. S. 297: „Broch hatte bei seinen Bekannten Geld für einen Grabstein zum Gedenken Franz Bleis gesammelt.“ 458 F. Blei: Erzählung eines Lebens (1930). S. 494. 459 R. Musil: Brief an Franz Blei vom 23. 5. 1930 (BR I, 466). 460 Ders.: Tagebücher. Heft 10 (1918–1921) (TB I, 445); vgl. auch ebd.: Heft 34 (1930– 1938): „Ed: Moralische Experimentallandschaft.“ (TB I, 840) 461 Vgl. ders.: AN 338. Nachlass-Mappe IV/2 (TB II, 972). 462 Ebd. AN 263. Nachlass-Mappe IV/2 (TB II, 971); Werfel zum Beispiel soll hier im „eigenen Fett“ („Gott u[nd] Pathos“) gebraten werden. 463 Vgl. hierzu auch ders.: Tagebücher. Heft 8 (1920) (TB I, 400f.): hier werden aus R. Hesse/F. Doflein Tierbau und Tierleben in ihrem Zusammenhang betrachtet (Leipzig/Berlin 1910) noch die Beispiele Gottesanbeterin („Die Gottesanbeterin beginnt das Männchen schon während des Geschlechtsakts aufzuessen, was beide nicht stört.“), Kreuzspinne sowie Tintenfisch genannt: „Dem Tintenfisch Argonauta Argo wird in der Geschlechtszeit ein Arm zum Glied umgebildet. Wird immer länger, schnürt sich ab u.[nd] schwimmt selbständig davon. Vor Kenntnis des Zusammenhangs für eigenes Tier Hectocotylus gehalten.“ 464 R.. Musil: AN 338. Nachlass-Mappe IV/2 (TB II, 972).
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Farmleiters („Leiter einer Seelefarm – des Farmwesens überhaupt“)465 zugesprochen worden wäre. Doch kommen wir auf den Brief zurück, denn Musil äußert hier noch eine – für Musil außergewöhnlich ungewöhnliche – „Bitte“ gegenüber Blei, dem, vermutlich auf Wunsch des Autors, vom Verleger Rowohlt die Druckfahnen von Der Mann ohne Eigenschaften direkt zugesandt worden sind:466 „Wenn Sie wirklich fortlaufend die Fahnen lesen sollten, legen Sie sich von einem späteren Punkt an die Frage vor, wie man das Ganze ungefähr auf 1/3 zusammenstreichen könnte!“467 Doch schon drei Tage später storniert Musil, da er fürchtet, die von Rowohlt zwecks Zeitungsvorabdruck gewünschten Kapitelkürzungen machten „Hirn mit Ei“ aus ihm: „Bitte machen Sie das mit dem Bleistift nicht!! Sie würden einen Ekel vor dem Buch bekommen, und das wäre für mich ein unersetzlicher Verlust.“468 In einem von Adolf Frisé auf „[e]twa Juli 1930?“ datierten Brief an Franz Blei verbirgt Musil ebenso ehrerbietig wie kokettierend seine „Gefühle des Dankes“ – vermutlich für die lobende Erwähnung des noch nicht erschienenen ersten Buches von Der Mann ohne Eigenschaften – „hinter nüchterner Nützlichkeit“. Als seinen Beitrag zu Bleis Erzählung eines Lebens scheint er jedoch nicht die zahlreichen Textassimilationen zu verstehen, sondern eine Anzahl von Korrekturen: u. a. die bereits erwähnte Änderung von „Mensch ohne Eigenschaften in Mann o. E.“ sowie die Kennzeichnung der „Worte ratioïd-nicht ratioïd“ als Zitat entweder durch „Gänsefüßchen“ oder durch „eine Bemerkung in Beziehung zu mir“.469 Auch in formaler bzw. gattungsästhetischer Hinsicht findet Musil, der sich immer noch in den Korrekturen seiner eigenen Druckfahnen befindet, für Bleis essayistischen Autobiographie lobende Worte: „Die Art, wie Sie sich selbst behandeln, was ja das Haupt- und schwerste Problem ist, finde ich nach den paar Andeutungen, die ich davon zu sehen bekam, sehr vielversprechend und stilistisch die Lage zwischen Sub- und Objekt lösend, worin sich der Chronist oder Rekonstrukteur des eigenen Lebens befindet.“470
_____________ 465 466 467 468 469
Ders.: AN 263. Nachlass-Mappe IV/2 (TB II, 971). Die Fahnen für Johannes von Allesch wurden von M. Musil weitergeleitet (BR I, 464). R. Musil: Brief an Franz Blei vom 23. 5. 1930 (BR I, 466). Ders.: Brief an Franz Blei vom 26. 5. 1930 (BR I, 467). Ders.: Brief an Franz Blei [etwa Juli 1930?] (BR, I, 470). Die gewünschten Korrekturen sind nicht berücksichtigt worden; vgl. hierzu A. Frisé (BR II, 281). 470 R. Musil: Brief an Franz Blei [etwa Juli 1930?] (BR I, 470).
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Am 13. November 1930 heißt es schließlich – der erste Band von Der Mann ohne Eigenschaften ist bereits erschienen, die Arbeiten für den zweiten haben bereits begonnen: „Ich habe die ‚Geschichte‘ [Erzählung eines Lebens] jetzt beinahe zu Ende gelesen. […] Das Problem der Selbstbeschreibung (wovor ich Angst hatte, weil Sie nicht recht heranwollten) ist in sehr bedeutender Form gelöst. Über die Gedanken brauche ich nichts zu sagen: ich bin immer froh, wenn Sie sich herablassen, sich über ihre Kunstkriterien zu äußern.“471 Der Dichter liest aus der essayistischen Autobiographie des Freundes, der die eigenen Texte assimiliert worden sind, die metatextuelle Selbstreflexion des Kritikers heraus.
8. „ad majorem Geburtstagskindli gloriam“472 – Musils Blei-Essays: Franz Blei – 60 Jahre (1931) und Literat und Literatur. Randbemerkungen dazu (1931) Auf der Höhe waren die drei Frauen. Ihre Stimmen waren heiser vom Schreien, und sie bissen sich schon das Fleisch aus den Schenkeln. Als sie den Orpheus erkannten, stürzten sie sich auf ihn und rissen ihm den Leib auf, um sein Herz zu suchen. Aber es war keines da, oder es war nicht dort, wo sie es suchten. Sie warfen die Leier ins Meer, und als sie auf den Wellen dahinschwamm, tönte sie, und es klang wie eine Stimme und war ein unendlicher Gesang: Denn in der Leier war das Herz.473 (Franz Blei) […] so hat die Dichtkunst doch für die seit den Tagen des Orpheus verlorene Überzeugung, daß sie die Welt auf zauberhafte Weise beeinflusse, eine zeitgemäße Umwandlung erst zu suchen.474 (Robert Musil)
_____________ 471 Ders.: Brief an Franz Blei vom 13. 11. 1939 (BR I, 484); vgl. auch F. Blei: Brief an Carl Schmitt vom 1. 1. 1927. In: ders.: Briefe an Carl Schmitt (1995). S. 72: „Da sitz ich nun und versuche meinen Vertrag mit dem Verlag P. List in Leipzig zu erfüllen, der mich engagiert hat, die Erzählung eines Lebens bis zum Juli zu schreiben, wie ich das nenne, was man mit viel Entgegenkommen auch meine Erinnerungen nennen kann. Noch plage ich mich um eine Form, durch die ich das völlige Desinteressement an meiner historischen Person, zumal der gewesenen vergangenen, überwinde. Es kostet mich sehr viel Mühe, mir den Kopf so zu drehen, dass das Gesicht im Nacken steht.“ 472 R. Musil: Brief an Franz Blei vom 16. 9. 1930 (BR I, 478). 473 F. Blei: Orpheus. In: ders.: Die Lust der Kreatur. Berlin 1931. S. 257–269, hier S. 266. 474 R. Musil: Literat und Literatur (1931) (GW II, 1225).
8. „ad majorem Geburtstagskindli gloriam“
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Schriftsteller – das Wort ist so gemein wie Zeitungsschreiber, so ridikül wie Dichter – ist der Inbegriff schlechter Manieren, lächerlicher Schulden, übelster weiblicher Beziehungen. Darüber gibt es an Gemeinheit nur noch die Bezeichnung Literat, eine strafrechtlich zugelassene Umschreibung für Zuchthäusler.475 (Franz Blei) Mein Begriff der Literatur, mein Eintreten für sie als Ganzes, ist wohl das Gegengewicht zu meiner Aggression gegen die einzelnen Dichter. […] Ich mache mir darum einen utopischen Begriff der Literatur.476 (Robert Musil)
Am 17. Januar 1931, also einen Tag vor Bleis Geburtstag, erscheint im Wiener Tag der fast ganzseitige Essay Franz Blei – 60 Jahre.477 Franz Blei wird hier zum Spaziergänger stilisiert,478 zu einer Art loser Vogel, der seine Gelegenheits-,479 Zwischen-480 und Randbemerkungen „wie Kuckuckseier […] in die Nester“ legt, „die er für den Buchmarkt baut.“481 Ähnlich wie in seinem 1918 publizierten Blei-Essay geht Musil wiederum von zeitgenössischen Außen- bzw. Fremdbildern Franz Bleis aus, den er als „Mein berühmter und berüchtigter Freund“ apostrophiert.482 Wurde dieser dort als Erotiker, Ästhet, Rationalist, Katholik eingeführt,483
_____________ 475 F. Blei: Briefe an einen strebsamen jungen Mann. In: ders.: Das große Bestiarium der Literatur (1924). S. 261–275, hier S. 264. 476 R. Musil: Tagebücher. Heft 33 (1937–1941) (TB I, 933). 477 Gleichfalls abgedruckt ist zweispaltig ein von O. M. Fontana ausgewählter Ausschnitt „Die Frau“ aus „der vor kurzem erschienenen autobiographischen Erzählung eines Lebens von Franz Blei“; vgl. R. Musil: Brief an Franz Blei vom 19. 1. 1931 (BR I, 494) sowie den Kommentar A. Frisés (BR II, 291). 478 Vgl. R. Musil: Franz Blei – 60 Jahre (1931): „Allein ich glaube, Blei hat das überhaupt niemals wichtiger genommen als die Eindrücke eines Spazierganges und den Bericht darüber […].“ (GW II, 1203) 479 Vgl. ebd. S. 1200: „[…], daß sich in Bleis Gesamtwerk manche Bücher finden, die spielerisch, wenn auch graziös sind, und allerhand Wiederholungen vorkommen, weil diese Bücher durch den äußeren Zufall irgend einer Anregung oder Gelegenheit, sie zu schreiben, entstanden sind […].“ 480 Vgl. ebd. S. 1202: „Diese Bemerkungen, seien sie nun ‚gelegentlich‘ oder Zwischenglieder in dem Aufbau eines Buches, berühren alle Erscheinungen des geistigen Lebens“. 481 Ebd.; vgl. K. A. Horst: Das literarische Kuckucksei. In: Deutscher Geist zwischen Gestern und Morgen. Bilanz der kulturellen Entwicklung seit 1945. Hrsg. v. J. Moras/ H. Paeschke. Stuttgart 1954. S. 371–382. 482 R. Musil: Franz Blei – 60 Jahre (1931) (GW II, 1199). 483 Vgl. ders.: Franz Blei (1918): „[…] über keinen heute Schreibenden sind mehr falsche Urteile verbreitet als über diesen. Er wird bald für einen Erotiker, bald für einen Ästheten, bald für einen Rationalisten, bald für einen kasuistischen Katholiken erklärt […].“ (GW II, 1022)
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so arbeitet Musil auch diesmal mit Dichotomien, welche zum einen nicht nur als Präpositionen des Objektes, sondern zugleich auch der aussagenden Subjekte gelesen werden können und zum anderen die Perspektivität der Urteilsbildung selbst zur Darstellung bringen: „ernsthafte Steuerzahler stellen sich unter ihm ein erotische Bazillen verbreitendes, gefährliches Wesen vor […]. Solide Schriftsteller […] nennen ihn gern einen Literaten. Patentierte Denker […] verübeln ihm, daß er hie und da als Schauspieler auftritt. […] Gläubige nennen ihn einen Frevler. Frevler […] meinen dagegen, er sei ein katholischer Ästhet. Und alte Stiftsdamen“ sehen in Blei einen Revolutionsführer.484 In beiden Fällen ermöglicht der Beginn des Essays, ‚Aufreißer‘ wie Versuch einer Richtigstellung gleichermaßen, die widersprüchlichen Fremdzuschreibungen zu evozieren und sich von ihnen zu distanzieren, das heißt aber auch, sie nicht gänzlich zu negieren, sondern vielmehr in der Schwebe zu lassen. Beide Essays enden konventionell, der von 1918 mit der Forderung, dem Autor Blei in Österreich die ihm gebührende Anerkennung zu erweisen,485 der von 1931 mit der konkreten Forderung, Blei „den Literaturpreis der Stadt Wien“ zu verleihen.486 Während der frühe Blei-Essay die Frage ‚Was ist ein Essay?‘ über die Frage ‚Was ist Geist?‘ zu beantworten sucht, baut sich der späte Blei-Essay über die Widersprüche auf, welche an dem Gegenstand des essayistischen Porträts aufgezeigt werden. Es ist der „Zusammenhang zwischen Person und Leistung“487 sowie der Widerspruch zwischen dem „Aphoristiker“488 auf der einen Seite, der „nach seinem Charakter zu den Zurückhaltenden, den Konzentrierten, den Feinden der schriftstellerischen Wichtigtuerei“ gehört, und seinen Veröffentlichungen auf der anderen Seite, die vom essayistischen Ich emphatisch als „eines der umfangreichsten heutigen Lebenswerke“ gekennzeichnet werden: „An einem Mann, der sogar die Dummheit zu so abwechslungsreichen Urteilen verleitet, muß Außeror-
_____________ 484 Ders.: Franz Blei – 60 Jahre (1931) (GW II, 1199); vgl. H. Broch: Der Schriftsteller Franz Blei (Zum fünfzigsten Geburtstag) (1921). S. 56: „Unentwegte Kunstbeflissene verstehen es nicht, daß Blei gescheihte, durchaus undilettantische, also unliterarische Dinge zur Politik sagen konnte, unentwegte Sozialisten begreifen nicht, daß dieser Kommunist sehr fundierte konservative Neigungen besitzt, und am allerwenigsten begreifen es die unentwegten Freigeister, daß dieser Freigeist religiöse Tendenzen verfolgen kann.“ 485 R. Musil: Franz Blei (1918) (GW II, 1025). 486 Ders.: Franz Blei – 60 Jahre (1931) (GW II, 1203). 487 Ebd. S. 1199. 488 Ebd. S. 1202.
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dentliches sein, und ich will versuchen, es zu erklären. Aber man kommt an Blei nicht heran, wenn man sein Werk Stück um Stück prüft“.489 Die nach dem Prinzip Regenwurm, das heißt nach römischen Ziffern geordneten Textsegmente,490 werden nicht vom Kritiker- und Dichterfreund einzeln viviseziert, sondern vielmehr einem Werk-Gedanken subordiniert, der sich nicht über die Kategorien von Homogenität, Einheit, Ganzheit etc. konstituiert, sondern über die Prinzipien Heterogenität, Vielheit, Dialogizität und Assimilation. Es ist das Weder-Noch von „schlemmerhafter Omnivorie“ (Allesfresserei) und Systematik, metaphorisch die Gleichzeitigkeit von „Wolken“ (als Bild des Unbestimmten, Zufälligen, Unförmigen) und „Licht“ (als Geist der Aufklärung ebenso wie als Auflösung der philosophischen Systeme),491 das begrifflich im Paradoxon „einer strengen Hedonie oder hedonistischen Strenge“ kulminiert.492 Im Bereich des Guten, Wahren und Schönen verkörpert der ‚Aphoristiker‘ Blei mit seinem ebenso redundanten wie ‚verdünnten‘ Veröffentlichungen493 den Genuss, den Geschmack und das Gute. Wie in seinen beiden Kerr-Essays von 1927 und 1928 werden auch am Beispiel Blei Merkmale genannt, die allerdings weniger dem Essay als Textsorte als vielmehr dem Essayisten selbst als Eigenschaft zugeschrieben werden: Aphorismus als (innere) Form, Literatur und Leben als Gegenstand und „Sicherheit des Urteiles“. Das „kritische[ ] Urteil[ ]“ als „Geschmacksurteil, dem objektive Bedeutung zukommt“, ist dabei ebenso unhintergehbar wie unbegründbar. Es beruht weder auf schulphilosophischer Deduktion noch auf quasi-naturwissenschaftlicher Nomothetik oder gar auf bloß subjektiver Impression. Der „objektive[ ] Faktor der Ideenbildung“ jenseits des „Persönlich-Subjektive[n]“ oder bloß inter-subjektiven Gruppen-Urteils bleibt auch hier unbestimmt, das heißt als nicht weiter objektivierbares je ne sais quoi bestehen: als Qualität der „seltenen apodiktischen Menschen, die aussagen dürfen, ohne zu begründen, weil sie das Richtige fühlen.“494
_____________ 489 490 491 492 493
Ebd. S. 1199. Vgl. ders.: Zu Kerrs 60. Geburtstag (1927) (GW II, 1181). Ders.: Franz Blei – 60 Jahre (1931) (GW II, 1200). Ebd. S. 1201. Ders.: Franz Blei (1918): „Es kann sein, daß Blei aus allzu flüssigem Temperament manchmal sich selbst verdünnt. Aber von den Gedanken, die er dabei verschwendet, statt sie durchzuführen, hat sich schon mancher seinen bürgerlichen Haushalt eingerichtet.“ (GW II, 1025) 494 Ders.: Franz Blei – 60 Jahre (1931) (GW II, 1201).
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VIII. Essayismus als Intertext – Robert Musil und Franz Blei
Es handelt sich bei Franz Blei – 60 Jahre (1931) um Prolegomena zu dem ein halbes Jahr später publizierten Essay Literat und Literatur. Randbemerkungen dazu (1931). Wie das Arbeitsprotokoll bezeugt, hat Musil seine beiden Blei-Texte parallel zu den Anfangskapiteln des zweiten Bandes seines Romans geschrieben.495 Beide Essays können als ‚Neben‘-Arbeiten, als metatextuelle Parallelaktionen zu der gleichzeitig laufenden ‚Haupt‘Arbeit am zweiten Band von Der Mann ohne Eigenschaften gelesen werden.496 Bereits am 16. September 1930 kündigt Musil seinem Freund einen Beitrag zu der anlässlich Bleis sechzigstem Geburtstag geplanten Festschrift an. Musil möchte allerdings „nicht die Begegnungen mit Franz Blei um die meine vermehren, weil ich viel zu sehr das Gefühl dauernder Gegenwart unserer Beziehung habe, um wie ein Maler zurücktreten zu können“. Nicht die Würdigung der Person Bleis steht demnach im Fokus des geplanten Beitrags, sondern einige, gleichsam an den Rand geschriebene „Bemerkungen über unser gemeinsames Metier“.497 Unmittelbar nach Erscheinen des ersten Bandes nimmt Musil die Arbeit am zweiten Band von Der Mann ohne Eigenschaften auf, von dem er hofft, „daß er erzählerischer als der erste wird und dessen geistige Kongestionen in Gebärden auflöst“. Am 13. November 1930 berichtet er Blei von seinen „Schwierigkeiten“ mit dem geplanten Geburtstags-Essay: „ich gerate mit dem Ausgangspunkt immer mehr an die Peripherie“.498 In wenigen Zügen skizziert Musil sein Vorhaben: „Ich will unter dem Prätext des Literaten – also des Kampfworts der schlechten Literaten gegen die guten – über den Literaten als (nicht zum Dichter, Kritiker, Historiker usw) spezifizierten Funktionär des Begriffes Literatur schreiben“.499
_____________ 495 Vgl. ders.: Arbeitsprotokoll des II. Bds. Nachlass-Mappe II/8 unter dem 26. 10. 1930: „Überdruß: Bleiaufsatz vorgenommen. Überdruß Aufsatz.“ (TB II, 1197), ebd. unter dem 25. 12. 1931: „Vo.[rmittag] erst mit dem Aufsatz, dann mit dem Kap. beschäftigt“ (TB II, 1200) und ebd. unter dem 15. 1. 31: „Dann 3 Tage Blei Aufsatz für Tag. Das Kapitel (7) ist nicht fertig“ (TB II, 1201); am 31. 3. 1931 findet sich die Notiz: „Essay noch einmal überarbeitet.“ (TB II, 1203) 496 Vgl. S. Bonacchi: Was man alles in einem Aufsatz alles nicht liest: Die Textentwicklung des Aufsatzes „Literat und Literatur“ – von der Laudatio zur poetologischen Schrift. In: Neue Ansätze zur Robert-Musil-Forschung. Hrsg. v. M.-L. Roth. Bern [u. a.] 1999. S. 51–79, hier S. 54, die Literat und Literatur als „theoretisches Pendant“ zu Der Mann ohne Eigenschaften liest. 497 R. Musil: Brief an Franz Blei vom 16. 9. 1931 (BR I, 478). 498 Ders.: Brief an Franz Blei vom 13. 11. 1930 (BR I, 484f.); Musil bezeichnet hier seinen Essay sowohl als „Aufsatz“ wie als „Vortrag“; vgl. hierzu auch S. Bonacchi: Was man alles in einem Aufsatz nicht liest (1999). S. 58: „Musil variiert seiner Aussageintention entsprechend die Diskursformen und die rhetorischen Mittel. Das reiche Arsenal der rhetorischen Mittel bestätigt, daß der Aufsatz als Vortrag gedacht war […].“ 499 R. Musil: Brief an Franz Blei vom 13. 11. 1930 (BR I, 484f.).
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Aus den Entwürfen zum Essay geht hervor, dass der Blei-Essay – in intertextueller wie archetypischer Referenz auf jenen Brief Georg Lukács’ an seinen Freund Leo Popper Über Wesen und Form des Essays, welcher den Essayband Die Seele und die Formen (1911) einleitet500 – zunächst als Brief und in der Ich-Form konzipiert war. Auch Georg Lukács ging es in seinem Essay über den Essay um eine „Rettung“, wenn auch nicht der modernen Literatur im Allgemeinen, so um die des „moderne[n] Essay[s]“ im Besonderen.501 Beginnt jener seinen Essay mit „Mein Freund!“,502 so dieser im fragmentarischen Prätext mit: „Lieber Freund!“ / Überlegend, was am besten in das Buch zu schreiben wäre, […] bin ich schließlich darauf verfallen, einige Bemerkungen zur Ehrenrettung des Begriffs ‚Literat‘ hier niederzulegen. Ich glaube, daß man Sie nicht selten einen Literaten genannt hat, und natürlich in beschimpfender Absicht, und wir wollen darum die Gelegenheit benutzen, um einmal dieses Wort beim Wort zu nehmen und eine Weile festzuhalten, wenn es auch zappelt.“503 Neben Literat und Literatur, dem Titel, unter welchem Musil seine „Ehrenrettung“ betreiben wird, stehen in der publizierten Endfassung jedoch nur noch mit „unsichtbaren Buchstaben“ die Worte geschrieben: „bei Gelegenheit von …“504 Franz Bleis 60. Geburtstag. Die für Blei geplante Festschrift ist Projekt geblieben und in der Endversion von Musils Essay Literat und Literatur finden sich nur noch zwei explizite Referenzen auf Franz Blei: zwei markierte, in doppelte Anführungszeichen und mit dem Autornamen versehene Zitate aus der Erzählung eines Lebens (1930), diese gar unter dem falschen Titel „Geschichte eines Lebens“. Im V. Abschnitt Der Geist des Gedichts lässt Musil das Wort ‚Sinn‘ zappeln: Es geht um die Gegensätze des „Allzu-Sinnvollen und des Allzu-Sinnlosen“ sowie die Generierung von „Sinn aus Sinnlosem“ in der Lyrik von Goethe bis Dada.505
_____________ 500 Georg Lukács (Brief an Franz Blei, Ende Dezember 1910. In: ders.: Briefwechsel 1902–1917. Hrsg. v. É. Karádi/É. Fekete. Stuttgart 1982. S. 190) hatte sich im Dezember 1910 an Franz Blei mit der Bitte gewandt, den bis dato nur in ungarischer Sprache vorliegenden Sammelband Die Seele und die Formen im Hyperion-Verlag zu veröffentlichen. Vgl. auch Bleis Referenzen auf Lukács’ Essaybuch in: Kritische Prologema. In: ders.: Vermischte Schriften. Bd. 6 (1912). S. 13f. und in ders.: Bücher, die empfohlen seien. In: Der Lose Vogel (1912). S. 37. 501 G. Lukács: Über Wesen und Form des Essays (1911). S. 27. 502 Ebd. S. 7. 503 R. Musil: Ehrenrettung eines Literaten (Nachlass) (TB II, 1197). 504 G. Lukács: Über Wesen und Form des Essays (1911). S. 27. 505 R. Musil: Literat und Literatur (1931) (GW II, 1215ff.); interessant in diesem Zusammenhang auch die Antizipation Max Bense’scher Dichtungsexperimente vgl. ebd. S. 1215: „[…] aber dann macht man den ergänzenden Versuch, über die Gedichte ei-
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Dabei wird Bleis ‚Essayfizierungs‘-These von der „Selbstbeschädigung der Dichtung durch Miterzeugung von Philosophie“, von Musil aus der Erzählung eines Lebens (1930) zitiert, als Position des „,radikale[n] Klassizismus‘“ in Frage gestellt und relativiert bzw. dynamisiert:506 „Denn auch wenn in der Dichtung die Vollendung der Gestaltung das Wichtigste wäre und bei scheinbar ganz entbundener Gestaltung und in stehender Zeit, schlösse das Gestalten der gegebenen Inhalte doch deren Veränderung ein.“507 Noch deutlicher hält Musil im Nachlass zum Rapial, in dem er zugleich auch Streichungen aus „den Fahnen des Aufsatzes“ (Literat und Literatur) notiert, fest: „Aber klar steht dieses Prinzip Bleis u[nd] vermutlich Borchardts gegen das von mir in der Rilkerede vertretene des steigerungsfähigen Inhalts.“508 In seiner Rede zur Rilke-Feier (1927) hatte Musil gegen den „deutschen Glauben[ ]“ polemisiert, „daß die Form den Inhalt adeln könne […], wenn man das Stuckornament des Verses auf die flache Idee klebt.“ In der literaturgeschichtlich autorisierten „Sammlung lyrischer Marterwerkzeuge für den Schulgebrauch“ finde sich, so Musil, „ein ganz intellektuelles, vorsätzliches Verhältnis zur Form; dafür ein sehr wenig intellektuelles zum Gedankeninhalt.“509 In Literat und Literatur (1931) nun versucht Musil, Bleis Position des ‚radikalen Klassizismus‘ mit einem längeren Zitat aus dem SwinburneKapitel seiner Autobiographie zu widerlegen.510 Im Hinblick auf das Verhältnis von Sinn und Sinnlosem beim Gedicht wird folgendes Zwischenergebnis festgehalten: „Nichts berechtigt zu der Annahme, daß die Begabung des Denkens oder die eng mit der Kunst verwachsene des Sinnens, der Kontemplation, zur sprachbildnerischen in Widerspruch stehe“.511 Und im letzten Satz dieses Kapitels wird die im Zwischentitel implizierte Frage nach dem Geist des Gedichts in einer Formulierung wieder
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nes ausdrucksvollen Lyrikers, etwa Goethes, einen Chiffrenschlüssel zu legen und auf irgendeine andere mechanische Weise bloß jedes x-te Wort oder jede x-te Zeile herauszuheben, und man wird staunen, welche starken Halbgebilde dabei etwa in acht von zehn Fällen zutage kommen.“ (GW II, 1215) Ders.: Literat und Literatur. Randbemerkungen dazu (1931) (GW II, 1216); vgl. ders.: Aus einem Rapial (Nachlass) zu Bleis Erzählung eines Lebens (1930): „Bsple. der Selbstschädigung durch Miterzeugung von Philosophie: Hölderlin, Blake. / Nennt seine Auffassung: radikalen Klassizismus.“ (GW II, 829) Ders.: Literat und Literatur (1931) (GW II, 1216). Ders.: Aus einem Rapial (Nachlass) (GW II, 830). Ders.: Rede zur Rilke-Feier (1927) (GW II, 1232). Vgl. hierzu auch S. Bonacchi/E. V. Fanelli: „Ein nie gesättigtes Verlangen nach Geist …“ (1997). S. 129. R. Musil: Literat und Literatur (1931) (GW II, 1217).
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aufgenommen, die auch Franz Blei und Hermann Broch namentlich hätten zeichnen können: „der Sinn des Gedichts“ erwächst – so Musil in einem Vorgriff auf den essayistischen ,Elementarsatz‘ (Max Bense) im letzten Abschnitt des Essays512 – „aus einer Durchdringung rationaler und irrationaler Elemente“.513 In der veröffentlichten Endfassung von Literat und Literatur (1931) gibt sich das essayistische Ich nicht mehr als gratulierender Freund zu erkennen, sondern verschwindet als ,man‘-Form und passivische Konstruktion in seinem Text. Nur an einer Stelle gibt es sich noch auf der Ebene des essayistischen Diskurses in einem expliziten Selbstverweis in der ersten Person Singular als Autor der Skizze der Erkenntnis des Dichters zu erkennen.514 Die Ehrenrettung aber, die Musil betreibt, ist eine der eigenen bzw. der gemeinsamen Sache. Literat und Literatur (1931) ist nicht nur der letztpublizierte, sondern auch der mit Abstand umfangreichste Essay Robert Musils, der zugleich sein Literaturverständnis rekapituliert. Für die Theorie des Essays wichtige Fragen aus den essayistischen Fragmenten Form und Inhalt (um 1910), Über den Essay (1911/12?), der Skizze der Erkenntnis des Dichters (1918) wie aus dem Spengler-Essay Geist und Erfahrung (1921) und dem Balázs-Essay Ansätze zu neuer Ästhetik (1925) sowie Bücher und Literatur (1926) werden hier wieder aufgenommen. Der Essay ist somit als ‚Summa‘ wie Metatext von Musils essayistischen und narrativen Selbstreflexionen zu lesen. Als essayistische Selbstklassifikation verweist der Untertitel Rand– bemerkungen dazu allerdings darauf, dass es sich auch hier nicht um eine systematische Theorie handelt,515 sondern um Versatzstücke, um eine Konfiguration von Gedanken-, Gefühls- und Bildelementen, die Fremdund Selbstassimiliertes, inter- und intratextuelle Referenzen und Textübernahmen neu ordnet und zusammenstellt. Die Offenheit der Fragestellung bzw. Suchbewegung auf dem Weg zum ‚Sinn‘ der Dichtung516 findet
_____________ 512 Vgl. ebd. S. 1224: „Indem die Dichtung Erlebnis vermittelt, vermittelt sie Erkenntnis; diese Erkenntnis ist zwar durchaus nicht die rationale der Wahrheit (wenn sie auch mit ihr vermengt ist), aber beide sind das Ergebnis gleichgerichteter Vorgänge, da es ja auch nicht eine rationale Welt und außer ihr eine irrationale, sondern nur eine Welt gibt, die beides enthält.“ 513 Ebd. S. 1217. 514 Vgl. ebd. S. 1214: „In einem vor langem erschienenen Aufsatz habe ich das einstmals das nicht-ratioïde Denken genannt […].“ 515 Vgl. ebd. S. 1203: „Diese Aufzeichnungen wollen weder eine Theorie, noch eine Entdeckung sein und stellen nichts dar als einen Überblick über einige Erscheinungen der Dichtung und des Literatentums, die untereinander zusammenhängen.“ 516 Vgl. hierzu auch Musils Notiz Dichter oder Schriftsteller zu F. Blei: Vorschlag zur Güte (in: Berliner Tagblatt, 12. September 1924). In: ders.: Motive – Überlegungen (Nach-
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auf der Ebene des essayistischen Diskurses durch die zahlreichen expliziten Fragen ihren Ausdruck,517 denen syntaktisch jedoch keine Interrogativ-, sondern Aussagesätze entsprechen. Der Essay ist in sieben mit Zwischenüberschriften versehene Abschnitte gegliedert: Die Vorbemerkung versucht die Frage nach der Bedeutung der Wortes ‚Literat‘ bzw. ‚Literatur‘ pragmatisch mit deren Gebrauch zu beantworten und verbindet zugleich die Frage nach der ‚wahren Literatur‘ mit der sozioökonomischen Herleitung der Literatur als Ware. Dabei wird zunächst eine ironische Binnendifferenzierung vorgenommen zwischen einerseits dem Nicht-Literaten (d. i. der Literaturproduzent bzw. Literaturvermarkter, also demjenigen, „der von der Literatur lebt“) und andererseits dem Nur-Literaten (d. i. derjenige, der gleichwohl er in einem Abhängigkeitsverhältnis von der Literatur steht, allein von der Literatur nicht leben kann) andererseits.518 Die herkömmliche Dichotomisierung zwischen der Abwertung des zeitgenössischen ‚Literaten‘ (Stichwort ‚Zivilisation‘) und der klassizistisch-normativen Idealisierung des ‚Dichters‘ (Stichwort ‚Kultur‘) wird genealogisch durch die Ableitung der beiden Extreme von einem umfassenden Begriff ‚Literatur‘ überwunden: „Denn Literat im richtigen Sinn, das ist der noch nicht spezifizierte Funktionär der Literatur, das Grundgebilde, woraus alle anderen entstehen. Der junge Mensch beginnt als Literat und nicht als Dichter oder gleich als Dramatiker, Historiker, Kritiker, Essayist“.519 Gleichzeitig aber wird die gegebene Problemstellung auf mengentheoretischem Lösungsweg angegangen, indem Literatur als Oberbegriff für die Gesamtheit aller literarischen Erscheinungen, als „Grundbedeutung über die ausgebildeten Formen“,520 eingeführt wird. Die objektsprachliche
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lass): „Bleis Kriterium des Dichters läuft statt dessen auf den Lyriker u[nd] Rhetor hinaus. Die Frage ist: den neuen Begriff des Dichters bestimmen.“ (GW II, 912). Vgl. R. Musil: Literat und Literatur (1931). S. 1203: „Als Beginn mag die Frage dienen […]“, S. 1204: „[…] und diese Frage wird man, wenn auch noch unvollständig und nur nach gewissen Begriffen entwickelt in den folgenden Beobachtungen klingen hören.“ S. 1205: „Ein solcher Versuch […] läßt natürlich die Frage offen […]“, S. 1207: „Damit ist wieder […] die Frage der Originalität berührt worden […]“, S. 1208: „Ästhetisch mündet das in die Frage […]“, S. 1211: „[…] und die letzte Frage, zu welcher der lockere Kreis unserer Problemabwandlung geführt hat“, „Auch diese Frage ist […]“, S. 1223: „Das ergibt natürlich die Frage […]“. Ebd. S. 1203; vgl. hierzu vor allem jene Essays Musils, die sich kritisch mit dem Verhältnis von Literat bzw. Literatur und Literaturbetrieb auseinandersetzen: Wie hilft man Dichtern? (1923), Robert Müller (1924), Eine Kulturfrage (1931) sowie Der Dichter in dieser Zeit (1934). Ders.: Literat und Literatur (1931) (GW II, 1204). Ebd.; vgl. ders.: Bücher und Literatur [I]. In: Die Literarische Welt, 15., 22., 29. Oktober 1926 (GW II, 1160–1170, hier 1167): „In einem solchen Zeitpunkt darf
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Kritik am Literaten ist somit überführt in eine Kritik der Metasprache: „Eine Literatur, die es gestattet, mit dem Wort Literat eine solche Bedeutung zu verbinden, erinnert an einen Apfelbaum, der Kirschen und Melonen tragen möchte, aber nur keine Äpfel. Was fehlt dem Baum?“521 Mag das Bild des Obstbaumes auch nur mittelbar an die Simmel’sche Herleitung des Kulturbegriffs anschließen,522 so ist mit dessen Frucht, dem Apfel, die theologisch-philosophische Implikation der Erkenntnis – wie der Erotik (Sinnlichkeit, Sünde) – assoziiert.523 Der Baum, der statt Äpfeln Kirschen und Melonen tragen möchte, ist die zeitgenössische Literatur (genauer: der zeitgenössische Literaturbetrieb), welche die Funktion der Erkenntnis aus der Fiktion ‚reiner‘ (originaler, intuitiver, formvollendeter) Dichtung austreiben möchte. Was ihr bleibt aus jenen „Tagen des Orpheus“,524 ist allenfalls „der mehr oder minder wurmstichige Held“.525 Der zweite, Der Literat als allgemeinere Erscheinung genannte Abschnitt konturiert den Typus des „Scholiasten“ und „Kommentator[s]“ und „Kompilator[s]“, der durch ein „Mißverhältnis zwischen eigener Leistung und Kenntnis fremder“ geprägt ist. Vom Famulus Wagner bis zum „Durchschnittsprofessor“ paare sich „das Unfruchtbare und Unursprüngliche“ mit einem „Ehrgeiz“, der seine Aufgabe nicht in einer „theoretischen Leistung“ sehe, sondern in der „Kompilation“, in der „lebhafte[n]
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man daran erinnern, daß es ein System, eine Synthese gibt, die wichtiger als Dichter, umfassender und dauernder als Strömungen ist: die Literatur.“ Ders.: Literat und Literatur (1931) (GW II, 1204). Zur Differenzierung zwischen Natur- und Kulturbegriff am Beispiel des Birnbaums vgl. G. Simmel: Vom Wesen der Kultur (1908). In: ders.: Brücke und Tür (1957). S. 86. Vgl. R. Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. 2. Buch (1932): „Wenn man alles zusammenfaßte, so kam es nicht weit davon hinaus, daß Ulrich an den ‚Sündenfall‘ und an die ‚Erbsünde‘ glaubte. Das heißt, er hätte geradezu annehmen mögen, daß es irgend einmal eine bis an den Grund reichende Veränderung im Verhalten des Menschen gegeben habe, die ungefähr so sein müsse, wie wenn ein Verliebter nüchtern wird: er sieht dann die ganze Wahrheit, aber etwas Größeres ist zerrissen worden, und die Wahrheit ist überall bloß wie ein Teil, der übrig geblieben und wieder zusammengeflickt worden ist. Vielleicht war es sogar wirklich der Apfel der ‚Erkenntnis‘, der diese Veränderung im Geiste anrichtete und das Menschengeschlecht aus einem ursprünglichen Zustand herausstieß, in den es erst nach unendlichen Erfahrungen und durch Sünde weise geworden, wieder zurückfinden mochte.“ (MoE I, 874) Vgl. auch ders.: Aus einem Rapial (Nachlass) unter Aber ich liebe Dich: „Es ist aber auch der Schluß aus ihm [vorangehenden Dialog] zu ziehen, daß es sich die Menschen (nach einer Weile) ohne Auflehnung gefallen ließen, wenn man ihnen den Apfel der Erkenntnis wieder verböte!“ (GW II, 840) Ders.: Literat und Literatur (1931) (GW II, 1225). Ders.: Aus einem Rapial (Nachlass) unter der Überschrift Romankrisis (GW II, 843).
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Verbindung mit der Überlieferung“.526 Die Dichotomisierung verläuft hier nicht mehr an der begrifflichen Grenzziehung von Dichtung und Essay, sondern zwischen dem „Literat[en] in üblem Sinne“ und dem „Literaten der schönen Literatur“ bzw. dem „Schönliteraten“.527 Im dritten Abschnitt Literat und Literatur wird eine Entsprechung aufgebaut zwischen dem Gebiet der schönen Literatur und dem ‚schönen Literaten‘: „denn Akt und Akteur prägen sich gegenseitig aus“. Für die schöne Literatur werden die folgenden Merkmale aufgeführt: „etwas Unendliches und Unabgeschlossenes“, „ohne Anfang und Ende“, Singularität statt Nomothetik, „keine Logik“, sondern kritisch-ästhetische „Ordnung“. Der diesem „Gebiet mit Eigentümlichkeiten“ entsprechende „Literat der schönen Literatur“ bzw. „Schönliterat“ weist, so Musil, ein senti-mentales „Doppelprofil“ auf: Es ist ein Mensch, „dessen Intellekt mit seinen Gefühlen spielt oder dessen Gefühle mit seinem Intellekt spielen, was man nicht unterscheiden kann, dessen Überzeugungen unbeständig sind, dessen logische Schlüsse wenig Verläßlichkeit haben und dessen Kenntnisse ungenau begrenzt sind“. Der ‚schöne Literat‘, hier geradezu als Zwischenbzw. Mängelwesen gezeichnet, wird allerdings nicht durch die Begriffe Ursprünglichkeit und Originalität komplettiert, sondern durch den der „scharf eindringende[n] Geistigkeit“ und „eine der schauspielerischen ähnliche Fähigkeit und Bereitschaft, sich in die Mimik fremder Lebensund Gedankenbereiche einzufühlen.“528 Nicht Dichter und Literat, Original-Genie und secondhand-Kompilator werden hier antithetisch gegenüber gestellt. Zum Differenzkriterium wird vielmehr das jeweilige Verhältnis von Sinnlichkeit und Intellektualität gesetzt: als „Geist des Gedichts“529 (Qualität des Produktes) wie als „Geistigkeit“530 (Qualität des Produzenten). Dabei konstituiert sich die „Geistigkeit“, welche die schöne Literatur wie den schönen Literaten kennzeichnet, nicht über den Begriff, sondern
_____________ 526 Ders.: Literat und Literatur (1931) (GW II, 1204f.); vgl. hierzu auch F. Blei: Brief an Carl Schmitt vom 5. 8. 1923. In: ders.: Briefe an Carl Schmitt 1917–1933 (1995). S. 57: „Dass ich immer noch nicht Universitätsprofessor bin ist eine deutsche Schande. Ich wäre es doch so gern und gut. Aber da gibts eben die Walzels. Und wenn eine Zeit mit Genuss Jauche trinkt, müssen die Quellen verdorren.“ 527 R. Musil: Literat und Literatur (1931) (GW II, 1205); nicht zu verwechseln mit M. Benses Unterscheidung (Über den Essay und seine Prosa. In: ders.: Plakatwelt. Vier Essays. Stuttgart 1952. S. 9–38, hier S. 33) zwischen der „schöngeistige[n]“ und der „feingeistige[n] Essayistik“. 528 R. Musil: Literat und Literatur (1931) (GW II, 1206). 529 Ebd. S. 1211. 530 Ebd. S. 1206.
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über die Schreibtechnik der Assimilation. Noch der vermeintlich ursprünglichste, originellste und unabhängigste Schriftsteller ist, so Musil, wiederum selbst Teil der literarischen Überlieferung: „denn man kann ersichtlich nur dort von Originalität sprechen, wo es eine Überlieferung gibt.“531 Ausgerechnet anhand des Zitats bzw. des Zitierens – „die Berufung auf das runde Wort der Meister“ – wird die Antithese von Originalität und Traditionsbildung aufgehoben. Das Zitat sei weder Bild, im Sinne von bloßer Illustration oder Ornament („rhetorisches Schmuckbedürfnis“), noch „herausgelöste[ ] Bedeutung“. Das Zitieren als syntagmatisches wie paradigmatisches Vertextungsverfahren wird vielmehr als für das Gebiet der Literatur konstitutiv bestimmt und, um jenes oft wiederholte MusilZitat hier abermals anzuführen: „wenngleich dieses Zitieren äußerlich jetzt wohl etwas aus der Mode gekommen ist, so hat es sich doch bloß ins Innere zurückgezogen, und die ganze schöne Literatur gleicht einem Zitatenteich, worin sich die Strömungen nicht nur sichtbar fortsetzen, sondern auch in die Tiefe sinken und aus ihr wieder aufsteigen.“532 In diesem „Zitatenteich“ ist nun jener „Süßwasserfisch“533 Blei keine Ausnahme mehr, sondern die Regel, das heißt ein besonders anschauliches Beispiel für den Vorgang der literarischen Textassimilation überhaupt. Doch das, was bei Blei bereits von außen, an der Haut sichtbar ist, wird bei den sogenannten Dichtern zum ‚Eigentlichen‘, ‚Innersten‘, ‚Heiligsten‘ verklärt und diesmal profan als Mageninhalt entlarvt. Trägt Blei „seinen Namen […] von der außerordentlich glatten und dünnen Haut […], durch welche die jeweilige Nahrung mit ihrer Farbe deutlich sichtbar wird“,534 so offenbart sich der Verdauungsvorgang anderer ‚Literaten‘ spätestens bei der Sektion: „So könnte man wahrscheinlich welchen Schriftsteller immer ,zerlegen‘ […] und würde nichts in ihm finden als seine zerstückelten Vorgänger, die keineswegs völlig ‚abgebaut‘ und ‚neu assimiliert‘ sind, sondern in unregelmäßigen Brocken erhalten geblieben.“535 Auch das „lyrische Gedicht“, das im Hinblick auf das Form-InhaltsKriterium im Bereich der ‚schönen Literatur‘ den Gegenpol zum Essay ausmacht, wird von dem Befund der allgemeinen Textfresserei nicht aus-
_____________ 531 Ebd. S. 1207; vgl. ebd.: „Es wird also an der schönen Literatur der sonderbare Zustand deutlich, daß das Allgemeine, Kontinuierliche und der persönliche Beitrag des einzelnen sich nicht voneinander trennen lassen […].“ 532 Ebd. S. 1206. 533 Vgl. F. Blei: Das große Bestiarium der Literatur (1924). S. 25. 534 Ebd. 535 R. Musil: Literat und Literatur (1931) (GW II, 1206f.).
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genommen. Doch es weist – in systemtheoretischer Terminologie – als System eine andere Konsistenz bzw. spezifische Dichte auf als seine Umgebung: „scheinbar grenzenlos, doch scharf begrenzt“, ist es, so Musils Bild, in den „Zitatenteich“ der schönen Literatur „eingebettet […] wie ein durchsichtiger Kristall in seine durchsichtige Mutterflüssigkeit.“536 Flüssigkeit wie Kristall, so ist auch hier anzunehmen, bestehen jeweils aus spezifischen Gefühls-und-Gedanken-Verbindungen. Doch inmitten des mütterlichen Fruchtwassers, das die Vorstellungen von Nahrungsaufnahme wie von Reproduktion (statt Zeugung) assoziieren lässt, weist der Kristall eine raumgitterartige Anordnung seiner Teile (Atome, Moleküle oder Ionen) auf. Im Unterschied zum milchig-trüben Fruchtwasser, das intratextuell auch mit jener „Mutterlauge des Gefühls“ aus einer Fußnote des Essays Symptomen-Theater (1922) verlinkt werden kann,537 zeichnet sich der qua Kristallisation entstehende geformte, begrenzte und von kleineren Baufehlern abgesehene weitgehend symmetrische Körper, so könnte das Musil’sche Bild weiterführend vermutet werden, durch die Qualität des Spiegelns bzw. Reflektierens aus.538 Im vierten, Das Bedürfnis nach Entschädigung benannten Abschnitt wird der „Begriff des Originellen“ als ein „Verhältnisbegriff“ bestimmt539 und die „Frage der Originalität“ bzw. der „Originalgenies“540 in die Frage überführt, „in welchem Verhältnis der individuelle und der kollektive Teil einer künstlerischen Leistung zueinander stehen“.541 Auch hier geht Musil
_____________ 536 Ebd. S. 1207; vgl. F. Blei: Brief an A. P. Gütersloh vom 10. 2. 1939 über sein unvollendeten Romanprojekt Trojanisches Pferd in: ders.: Zwischen Orpheus und Don Juan (1965). S. 119. „Der erste Weg ist der des reinen Kristalles. Zerschlagen ergibt er immer nur die gleichen Kristallformen. Der zweite Weg ist kristallinisch, Kristalle auf einem Muttergestein.“ 537 Vgl. R. Musil: Symptomen-Theater I (1922): „[…] und unter Ideen jene aus der Mutterlauge des Gefühls niemals ganz auszukristallisierenden Vorstellungen […].“ (GW II, 1099) Vgl. hierzu auch ders.: Der Mann ohne Eigenschaften. 1. Buch (1930): „Er [Ulrich] begriff, daß alles darin [im „Gebiet, das er betreten hatte“] schon entschieden sei und den Sinn besänftigt wie Muttermilch. Aber es war kein Denken mehr, was ihm das sagte, und auch kein Fühlen in der gewöhnlichen, wie in Stücke gebrochenen Weise; es war ein ‚ganz Begreifen‘ […].“ (MoE I, 255) 538 Vgl. hierzu auch ders.: Der Mann ohne Eigenschaften. 1. Buch (1930): „Die Wahrheit ist eben kein Kristall, den man in die Tasche stecken kann, sondern eine unendliche Flüssigkeit, in die man hineinfällt.“ (MoE I, 533f.) 539 Ders.: Literat und Literatur (1931) (GW II, 1208). 540 Vgl. ebd. S. 1207: „Es ist einstmals von der deutschen Dichtung behauptet worden, sie bestehe aus lauter Originalgenies […].“ Es handelt sich hier um eine unmarkierte Referenz auf Johann Gottfried Herders Vom Erkennen und Empfinden der Seele (1778). 541 R. Musil: Literat und Literatur (1931) (GW II, 1208); vgl. hierzu auch ders.: Tagebücher. Heft 33 (1937–1941): „[…] weil selbst das Genie mehr den andern verdankt als sich selbst.“ (TB I, 915)
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zunächst von der herkömmlichen Dichotomisierung zwischen dem intellektuellem Literaten als secondhand maker bzw. dealer auf der einen Seite, und dem qua Intuition schöpferischen Dichter als Originalgenie auf der anderen Seite aus. Letzterer ist jedoch nicht mehr derjenige, der die Natur (natura naturata) nachahmt noch derjenige, der der Natur (natura naturans) nachahmt: er wird in der sich ideologiekritisch an den geistlosen ‚Zeitgeist‘ anverwandelnden Musil’schen Metaphorik selbst zu dem, „was man mit einem Wort eine Natur nennt, eine starke und ursprüngliche, die irgendwie kraft ihrer selbst die große Natur der Menschheit erkenne und dem Leben gleichsam aus dem Euter trinke.“542 Das Bild des Fruchtwassers wird hier in das des Säugens überführt, wobei der Dichter nicht mehr, wie noch der junge Goethe,543 nur aus dem Busen der Natur trinkt: Der Dichter wird vielmehr in einem metonymischen Crossgender gleichsam selbst zum Euter, aus dem die Milch kuhwarm herausschäumt. Mit Naturalismus und Impressionismus sei „jene Vorstellung in die Literatur gekommen, daß der Dichter vor allem ein Vollmensch zu sein habe, aus dem die Kunst warm hervorschäume, ohne daß man sich den Kopf darüber zerbrach, wie es Gott eigentlich anstellen solle, einen solchen kuhwarm produzierenden Dichter zu schaffen, ohne gegen die Gesetze zu verstoßen, an die er sonst den menschlichen Geist gebunden hat.“544 Es handelt sich hier – wie schon im frühen programmatischen Essay Über Robert Musil’s Bücher (1913) – um eine metaphorische Fortschreibung jener magna charta der Bewusstseins- und Sprachkritik der Jahrhundertwende, welche die Einheit von Leben und Lesen, Natur und Geist sentimental als verlorene verklärte. In Hugo von Hofmannsthals Brief (1902) sinniert Lord Chandos: „mir erschien damals in einer Art von andauernder Trunkenheit das ganze Dasein als eine große Einheit: geistige und körperliche Welt schien mir keinen Gegensatz zu bilden […]; in allem fühlte ich Natur […]; und in aller Natur fühlte ich mich selber; wenn ich auf meiner Jagdhütte die schäumende laue Milch in mich hineintrank, die ein struppiges Mensch einer schönen, sanftäugigen Kuh aus dem Euter in einen Holzeimer niedermolk, so war mir das nichts anderes, als wenn ich,
_____________ 542 Ders.: Literat und Literatur (1931) (GW II, 1209). 543 Vgl. J. W. Goethe: Auf dem See [Apparat]. In: ders.: Werke: Weimarer Ausgabe. I. Abt. 1. Bd. S. 387: „Ich saug an meiner Nabelschnur / Nun Nahrung aus der Welt. / Und herrlich rings ist die Natur / Die mich am Busen hält.“ 544 R. Musil: Literat und Literatur (1931) (GW II, 1210).
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in der dem Fenster eingebauten Bank meines studio sitzend, aus einem Folianten süße und schäumende Nahrung des Geistes in mich sog.“545 Aber nicht nur die Ismen der Jahrhundertwende und deren Leitdifferenzen ‚Natur‘ vs. ‚Kultur‘ bzw. ‚Kultur‘ vs. ‚Zivilisation‘, auch das durch Egon Erwin Kisch mit der „Gebärde der Sachlichkeit“ vertretene „zeitungsmäßig intellektuell[e]“ Konzept der „Reportierende[n] Kunst“ wird von Musil verworfen. Ebenso jene durch James Joyce und Marcel Proust vertretene Variante, welche die „logisch geschlossenen[e] Erzählungsform bis zum logisch, ja psychisch beinahe Asyntaktischen“ auflockere.546 In einem Brief an Johannes von Allesch vom 15. März 1931 hatte Musil den Mann ohne Eigenschaften (1930) als „konstruktiv[en] und synthetisch[en]“ Gestaltungsversuch von den Romanen Prousts und Joyces abgehoben: diese gäben „einfach der Auflösung nach, durch einen assoziierenden Stil mit verschwimmenden Grenzen.“547 Der „falsch verstandene[n] Ursprünglichkeit“548 der „naive[n] Schilde549 rer“ ebenso wie der falsch verstandenen Artifizialität der „asketische[n] Formkünstler“ wird in Literat und Literatur (1931) abermals das Musil’sche Erzählprogramm einer Mischung aus Lebendigkeit und Spekulation, Narration und Reflexion gegenübergestellt, nämlich „die richtige Mischung zwischen Untersuchung durch den Verstand und gläubigem Erzählen, dessen Reiz in der Ungebrochenheit besteht.“550 Zugrunde liegt die Feststellung, „daß es in der Literatur zwei Arten des Berichts gibt, den anschaulichen und den gedanklichen, die sich immer mischen müssen, oft aber begabungsweise auseinandertreten.“ Musil, der seine Begabungstheorie explizit aus der Naturwissenschaft herleitet, „wo es experimentelle und
_____________ 545 H. v. Hofmannsthal: Ein Brief (1902). In: ders.: Der Brief des Lord Chandos. Schriften zur Literatur, Kultur und Geschichte. Hrsg. v. M. Mayer. Stuttgart 2000. S. 49; vgl. hierzu auch W. Riedel: „Homo natura“. Literarische Anthropologie um 1900. Berlin/New York 1996. S. 19, der auf die Quellen (Bacon, Hamann, Herder, Jean Paul, Goethe) von Hofmannsthals Metaphorik verweist. 546 R. Musil: Literat und Literatur (1931) (GW II, 1210f.). 547 Ders.: Brief an Johannes von Allesch vom 15. 3. 1931 (BR I, 504); vgl. hierzu auch ders.: Aus einem Rapial (Nachlass) unter der Überschrift Joyce: „Auflösung. Er [Joyce] gibt dem heutigen aufgelösten Zustand nach und reproduziert ihn durch eine Art freien Assoziierens.“ (GW II, 858) Zu einer durchweg positiven Einschätzung kommt dagegen Franz Blei – ausgerechnet im 61. Kapitel: Robert Musil. In: ders.: Die Erzählung eines Lebens (1930). S. 455: „In den heutigen Romanen fahren zwar die Menschen im Auto und im Flugzeug, aber das behauptet nur der Verfasser. Gesehen und beschrieben sind sie immer noch, als ob sie in der literarischen Postkutsche führen. In allen heutigen Romanen bis auf die Odyssee von Joyce.“ 548 R. Musil: Literat und Literatur (1931). S. 1210. 549 Ebd. S. 1209. 550 Ebd. S. 1221; vgl. ders.: Über Robert Musil’s Bücher (1913) (GW II, 998).
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theoretische Begabungen gibt“, unterscheidet zwischen „zwei Arten der Unmittelbarkeit“: „eine im Verhältnis zum Erlebnis und eine in der geistigen Verarbeitung“.551 Damit wird die Antithese von ‚Unmittelbarkeit‘ des dichtenden Originalgenies einerseits und ‚Vermitteltheit‘ des Literaten als „Mensch aus zweiter Hand, der nicht (wie es angeblich der Dichter tut) von den Tatsachen des Lebens abhänge, sondern von den Berichten über sie“552 andererseits im hegelschen Sinne553 überwunden. Der Begriff der Literatur bzw. des Literaten, der von Musil hin- und hergezappelt554 und somit neu gewendet wird, enthält „weit mehr als der des Dichters die verbindenden, vor allem also die hochrationalen Elemente des Geistes“.555 Versuchen wir die Musil’schen Überlegungen in die Lukács’sche Terminologie zu übersetzen, dann ist der durch die Vermitteltheit der modernen Lebenswirklichkeiten gegebene Zwang zum „Reflektierenmüssen“556 dem Literaten „unmittelbare Wirklichkeit“.557 Diese „unmittelbare Wirklichkeit“ ist die Unmittelbarkeit der geistigen Verarbeitung des bereits Vermittelten. Sie ist die ‚dritte Naivität‘ desjenigen, dem die ‚zweite Naivität‘ des modernen Romandichters zum Gegenstand der Reflexion wird. 558
_____________ 551 Ders.: Literat und Literatur (1931) (GW II, 1209); vgl. G. Lukács: Über Wesen und Form des Essays (1911). S. 16f.: „Die Form ist sein großes Erlebnis, sie ist als unmittelbare Wirklichkeit das Bildhafte, das wirklich Lebendige in seinen Schriften.“ 552 R. Musil: Literat und Literatur. S. 1204; noch drastischer wird dieses Verhältnis von Dichter und Kritiker bei H. Broch (Der Kunstkritiker. Dem Theaterkritiker A.[lfred] P.[olgar]. In: Die Rettung. Blätter der Erkenntnis der Zeit. Jg. 2. Nr. 6 (1920). Abgedr. in: ders.: Kommentierte Werkausgabe. Bd. 9/2: Schriften zur Literatur 2: Theorie (1975). S. 36–43. hier S. 36) dargestellt: „Die Überflüssigkeit des Kritikers soll sich in seiner Unselbständigkeit erweisen: zuerst das Urgenie plagiiert, dann Schauspieler, die das Werk konkretisieren, und erst sekundär, tertiär, quartiär, der Kritiker, ein Köter, dem Genie nachlaufend, von ihm lebend, das Genie ankläffend.“ 553 Vgl. S. Lämmer: Dichten/Denken. Skizze der Erkenntnis des Dichters Robert Musil. (Unveröffentl. Manuskript.) Kassel 2005. S. 30: „Der entscheidende Unterschied zwischen Musil und Hegel ist allerdings, dass bei Musil in der Schwebe bleibt, was bei Hegel dialektisch aufgehoben wird.“ 554 Vgl. R. Musil: Ehrenrettung eines Literaten (Nachlass): „Ich glaube, daß man Sie nicht selten einen Literaten genannt hat, und natürlich in beschimpfender Absicht, und wir wollen darum die Gelegenheit benutzen, um einmal dieses Wort beim Wort zu nehmen und es eine Weile festzuhalten, wenn es auch zappelt.“ (TB II, 1197). 555 Ders.: Literat und Literatur (1931) (GW II, 1210). 556 G. Lukács: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik (1916/20). Darmstadt/Neuwied 1971. S. 74. 557 Ders.: Über Wesen und Form des Essays (1911). S. 15. 558 Vgl. ders.: Die Theorie des Romans (1916/20). S. 74: „Dieses Reflektierenmüssen ist die tiefste Melancholie jedes echten und großen Romans. Die Naivität des Dichters – ein positiver Ausdruck bloß für das innerlichst Unkünstlerische des reinen Nachdenkens – wird hier vergewaltigt, ins Entgegengesetzte umgebogen; und der verzweifelt
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Mit der Unterscheidung zwischen den „zwei Arten der Unmittelbarkeit“559 antizipiert Musil hier gewissermaßen eine Formulierung Adornos: „Alle Stufen des Vermittelten sind dem Essay unmittelbar, ehe er zu reflektieren sich anschickt.“560 Im fünften Abschnitt von Musils Essay Literat und Literatur (1931) wird auf der Ebene des essayistischen Diskurses explizit die Betrachtungsweise gewechselt und nach dem Geist des Gedichts gefragt. Ausgangspunkt ist die pragmatische Grundannahme, dass das Gedicht als Sprache immer schon Mitteilung ist. Als kommunikativer Akt ist das Gedicht zwischen den Extremen des „Allzu-Sinnvollen“ (Lehrgedicht) und „AllzuSinnlosen“ (Dada) immer auch „Sinngestaltung“. Das „zentrale Geschehnis im Gedicht“561 sei dabei „nicht so sehr ein sinnliches Erlebnis […] wie eine der Logik entzogene Veränderung des Sinns.“562 Der Sinn des Gedichts liegt somit nicht in der Fest- bzw. Zuschreibung eines bestimmten Vorstellungsinhalts (Bedeutung), sondern in der Differenz als Abweichung bzw. Neuordnung herkömmlicher Vorstellungsinhalte und ihrer Verbindungen. Dabei sei im alltagssprachlichen Gebrauch im Unterschied zur fachsprachlichen Verwendung „[d]as Wort […] nicht gar so sehr Träger eine[s] Begriffs“, sondern „bloß das Siegel auf einem lockeren Pack von Vorstellungen.“563 Während die Funktion des „wissenschaftlichen oder logischen oder diskursiven oder […] wirklichkeitstreuen Denkens“ darin besteht, den „Vorstellungsablauf […] eindeutig und unausweichlich“ zu machen, werde in der Sprache der Dichtung „den Worten ihre Freiheit wieder[ge]geben“: „An die Stelle der begrifflichen Identität im gewöhnlichen Gebrauch tritt im dichterischen gewissermaßen die Ähnlichkeit des Worts mit sich selbst“.564 Adorno wird in Der Essay als Form (1958) das „Bewußtsein der Nichtidentität von Darstellung und Sache“ als das „Kunstähnliche des Essays“ bestimmen,565 wobei er den Essay zugleich durch dessen mit dem Begriff
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559 560 561 562 563 564 565
errungene Ausgleich, das freischwebende Gleichgewicht von einander aufhebenden Reflexionen, die zweite Naivität, die Objektivität des Romandichters ist dafür nur ein formeller Ersatz […].“ R. Musil: Literat und Literatur (1931) (GW II, 1209). T. W. Adorno: Der Essay als Form (1958). In: T. W. Adorno: Gesammelte Schriften. Hrsg. v. R. Tiedemann. Bd. 11: Noten zur Literatur. Frankfurt a. M. 1974. S. 9–34, hier S. 19. R. Musil: Literat und Literatur (1931) (GW II, 1215). Ebd. S. 1212. Ebd. S. 1212f. Ebd. S. 1213; Hervorhebung v. B. N. T. W. Adorno: Der Essay als Form (1958). S. 26 ; Hervorhebung v. B. N.
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verbundenen Wahrheitsanspruch von der Kunstform unterschieden sieht:566 „Alle seine Begriffe [des Essays] sind so darzustellen, daß sie einander tragen, daß ein jeglicher sich artikuliert je nach den Konfigurationen mit anderen. In ihm treten diskret gegeneinander abgesetzte Elemente zu einem Lesbaren zusammen; er erstellt kein Gerüst und keinen Bau. Als Konfiguration aber kristallisieren sich die Elemente durch ihre Bewegung.“567 Schon bei Musil konstituiert sich die Bedeutung als dynamische Konfiguration: „Es erhält nicht nur der Satz seine Bedeutung aus den Worten, sondern auch die Worte gewinnen die ihre aus dem Satz, und ebenso verhält es sich auch mit Seite und Satz, Ganzem und Seite; bis zu einem gewissen Grad sogar in der wissenschaftlichen Sprache, auf das weiteste aber in der nichtwissenschaftlichen, bilden das Umfassende und Umfaßte aneinander gegenseitig ihre Bedeutung heraus, und das Gefüge einer Seite guter Prosa ist, logisch analysiert, nichts Starres, sondern das Schwingen einer Brücke, das sich ändert, je weiter der Schritt gelangt.568 Musil versucht, das Wort der Anstrengung des Begriffs zu entziehen. Denn die Begriffe, die er in Ansätze zu neuer Ästhetik (1925) als „präformierte stabile Vorstellungen“ bestimmt hat,569 gehören zu jenen Methoden, mit denen man nur auf jenem Gebiet operieren kann, das in Skizze der Erkenntnis des Dichters (1918) als das ratioïde umrissen worden ist. Es sind die Pflöcke, die in das Fleisch des Lebens gepfählt werden.570 Gegenüber der wissenschaftlichen Erkenntnis mit ihrem Wahrheitsanspruch sind jedoch weder Essay noch lyrisches Gedicht restlos in Begriffe aufzulösen, wie Musil bereits in seinem frühesten publizierten Text über Franz Blei, Essaybücher (1913), herausgestellt hat: „Trotzdem ist es das Kennzeichen eines Essays, daß sein Innerstes in begriffliches Denken so wenig übersetzbar sei wie ein Gedicht in Prosa.“571 Auch in Geist und Erfahrung (1921) – wiederum unter expliziter Referenz auf Skizze der Erkenntnis des Dichters (1918) – hat Musil das nichtratioïde Gebiet als begrifflich nicht zu erfassendes gekennzeichnet: „Anstelle des starren Begriffs tritt die pulsierende Vorstellung, anstelle von Gleichsetzung treten Analogien, an die der Wahrheit Wahrscheinlich-
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Ebd. S. 11. Ebd. S. 21f. R. Musil: Literat und Literatur (1931) (GW II, 1213). Ders.: Ansätze zu neuer Ästhetik (1925) (GW II, 1146). Vgl. ders.: Die Wallfahrt nach innen. In: Die Neue Rundschau, April 1913 (GW II, 1447–1450, hier 1449) über Hetta Mayrs Gleichnisse und Legenden: „Wo man ihr Fleisch noch sieht, schimmert es; mitten durch aber sind sie vom Begriff gepfählt […].“ 571 Ders.: Essaybücher (1913) (GW II, 1450).
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keit“.572 Das befreite, das der Anstrengung des Begriffs entzogene Wort ist im Bereich des Nicht-Ratioïden – des Essays wie der Lyrik – nicht Träger eines Begriffs bzw. einer präformierten stabilen Vorstellung, nicht ‚tot‘, sondern ‚lebendig‘ und vital. Es verweist auf einen „lockeren Pack von Vorstellungen“,573 auf eine „Wolke von Gedanke und Gefühl“.574 Es ist dem Identitätszwang des ratioïden Denkens enthoben und gleichsam auf sich selbst und seine Relationen zu anderen Worten verwiesen: „denn die Worte sind dann zwar vieldeutig, aber diese Bedeutungen sind untereinander verwandt, und wenn man eine erfaßt, guckt die andere darunter hervor“.575 Der Geist des Gedichts ist der Geist jenes nicht-ratioïden Denkens, das in Literat und Literatur (1931) ausdrücklich als das Gebiet der Kunst wie des Essays gekennzeichnet wird:576 Es ist „der Geist des Meinens, Glaubens, Ahnens, Fühlens“. Es ist der „Geist der Literatur“.577 Dieser umfasst jedoch nicht nur den „Affekt“, sondern auch die „starke Arbeit des Verstandes“:578 Der „Sinn des Gedichts“ aber, und mit diesem Zwischenresümee wird das zappelnde Wort auch wieder fallengelassen, wird in der „Durchdringung rationaler und irrationaler Elemente“ gesehen.579 Der „Geist des Gedichts“ aber ist ebenso wenig wie der des Essays bloß „eine Unterstufe der wissenden Sicherheit“.580 Er ist nicht bzw. „nicht nur die erste Stufe des wissenschaftlichen Tuns […], sondern auch die letzte Stufe des künstlerischen“.581
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Ders.: Geist und Erfahrung (1921) (GW II, 1050). Ders.: Literat und Literatur (1931) (GW II, 1213). Ders.: Geist und Erfahrung (1921) (GW II, 1053). Ders.: Literat und Literatur (1931) (GW II, 1213). Vgl. ebd. S. 1214: „In einem vor langem erscheinen Aufsatz [Skizze der Erkenntnis des Dichters (1918)] habe ich das einstmals das nicht-ratioïde Denken genannt, sowohl in der Absicht, es vom wissenschaftlichen als dem ratioïden zu unterscheiden, dessen Inhalten die Fähigkeit der Ratio angemessen ist, wie dem Wunsch, damit dem Gebiet des Essays und weiterhin dem der Kunst gedankliche Selbständigkeit zu geben.“ In Skizze der Erkenntnis des Dichters wird allerdings der Essay noch nicht ausdrücklich genannt; vgl. hierzu auch G. Lukács: Über Wesen und Form des Essays (1911). S. 24: „Die Form des Essays hat bis jetzt noch immer nicht den Weg des Selbständigwerdens zurückgelegt, den ihre Schwester, die Dichtung, schon längst durchlaufen hat: die der Entwickelung aus einer primitiven, undifferenzierten Einheit mit Wissenschaft, Moral und Kunst.“ R. Musil: Literat und Literatur (1931) (GW II, 1214). Ebd. S. 1213; vgl. ebd. S. 1217: „Nichts berechtigt zu der Annahme“, so Musil, „daß die Begabung des Denkens oder die eng mit der Kunst verwachsene des Sinnens, der Kontemplation, zur sprachbildnerischen in Widerspruch stehe […].“ Ebd. S. 1217. Ebd. S. 1214. Ders.: Tagebücher. Heft 26 (1921–1923?) (TB I, 666).
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Der sechste und der letzte, Abschluß betitelte Abschnitt von Literat und Literatur (1931) beschäftigen sich mit der Bedeutung der Form und rekurrieren auf jenes frühe Fragment, das von Adolf Frisé Form und Inhalt überschrieben und auf „um 1910“ datiert worden ist. In beiden Texten wird die „unlösliche Einheit von Form u[nd] Inhalt“582 bzw. das „Amalgam[ ] aus Form und Inhalt“583 am Beispiel der Anfangsverse von Goethes St. Nepomuks Vorabend („Lichtlein schwimmen auf dem Strome, / Kinder singen auf der Brücken.“) demonstriert.584 Und in beiden Texten referiert Musil im unmittelbaren Kontext des Goethe-Zitats auf Franz Blei: jeweils durch Nennung des Autornamens und doppelte Anführungszeichen markiert, im essayistischen Fragment mit dem Blei-Zitat vom Gehalt als dem „so geformte[n] Gedanke[n]“.585 Und in beiden Texten wird hinsichtlich des Form-Inhalt-Kriteriums das lyrische Gedicht auf der einen Seite dem Essay auf der anderen Seite gegenübergestellt: „Form u[nd] Inhalt sind ‚unselbständige Gegenstände’[.] Sie lassen sich nicht trennen, aber unterscheiden. Am wenigsten bei der Lyrik“, heißt es bereits in Inhalt und Form (um 1910).586 Und in seinem letzten publizierten Essay führt Musil ungefähr zwanzig Jahre später den Gedanken weiter: „Im Gedicht vollends ist das Auszudrückende nur in der Form seines Ausdrucks das, was es ist.“587 Den Gegenpol zum Gedicht aber stellt der Essay dar, der durch eine „Lockerung zw.[ischen] Form und Inhalt“ gekennzeichnet wird: „Form u[nd] Inhalt treten hier teilweise aus einander.“588 Aber auch hier, so die Variante in Literat und Literatur (1931), „ist der Gedanke ganz von seiner Form abhängig“.589 Zugleich werden beide Pole, also das Gedicht wie der Essay, als gedankliche Fiktionen expliziert. Bereits im essayistischen Fragment ist zu erfahren: „Das ideelle Werk, in dem sich Form u.[nd] Inhalt als gedeckt erweisen könnten, ist eine Fiktion.“590 Und im Essay lesen wir: „der ‚reine Essay‘ ist eine Abstraktion, für die es beinahe keine Beispiel gibt“.591 Innerhalb des Bereichs der Literatur bzw. des Kunstwerks, wie es im frühen
_____________ 582 Ders.: [Form und Inhalt] [um 1910] (GW II, 1299). 583 Ders.: Literat und Literatur (1931) (GW II, 1218). 584 Ders.: [Form und Inhalt] [um 1910] (GW II, 1299); vgl. ders.: Literat und Literatur (1931) (GW II, 1212). 585 Ders.: [Form und Inhalt] [um 1910] (GW II, 1299). 586 Ebd. S. 1303. 587 Ders.: Literat und Literatur (1931) (GW II, 1223). 588 Ders.: [Form und Inhalt] [um 1910] (GW II, 1300). 589 Ders.: Literat und Literatur (1931) (GW II, 1223). 590 Ders.: [Form und Inhalt] [um 1910] (GW II, 1303). 591 Ders.: Literat und Literatur (1931) (GW II, 1223); vgl. jedoch ebd. die Rede vom „echten Essay, der nicht bloß Wissenschaft in Pantoffeln ist […].“
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essayistischen Fragment noch mit mehr Emphase heißt, wird keine ontologische Unterscheidung zwischen Fiktion und Nicht-Fiktion getroffen, sondern eine dichtungs- bzw. literaturimmanente Skalierung von lyrischem Gedicht einerseits und essayistischer Prosa andererseits entworfen. Die essayistischen Selbstreflexionen zum Verhältnis von Gedanke und Form in Unterscheidung zur Lyrik sowie das Wort- bzw. Gedankenspiel von „geformten Gedanken“ (Blei)592 und gedanklicher Form verweisen literaturgeschichtlich auf jenen Vorstellungszusammenhang der ‚progressive[n] Universalpoesie‘, die bei Lukács mit dem Hemsterhuis-Zitat in zweiter, bzw. Schlegel’scher Potenz des „intellektuellen Gedicht[s]“ evoziert wird.593 In Literat und Literatur (1931) wird der Formbegriff auf gestaltpsychologische Grundlage gebracht: „Die wissenschaftliche Unterlage dieser Durchdringung von Form und Inhalt bildet der Begriff ‚Gestalt‘“.594 Der Begriff der Form aber – herausgelöst aus seinen klassizistischen Axiomen im Bereich der ästhetischen Theorie595 und gewendet auf die „Formelbildung […] im intellektuellen wie gefühlhaften Verhalten“ im Besonderen bzw. auf die „Bewältigung von Lebensaufgaben“ im Allgemeinen596 – ermöglicht es, so Musil, „eine Unterlage für den Begriff des Irrationalen in der Kunst zu sichten und anzudeuten“.597
_____________ 592 Vgl. auch ders.: Motive – Überlegungen (Nachlass): „Leidenschaft gewordener Gedanke sagt Blei von der guten Lyrik.“ (GW II, 867) Vgl. hierzu: F. Blei: Kritische Prolegomena (1912). S. 28: „[…] er [der Dichter] enthält alle Gegensätze der Welt, auf die Spitze getrieben und unvermengt, denn er ist die ganze Welt, der er die Ordnung gibt durch sein Leidenschaft gewordenes Denken dieser Welt.“ Vgl. ebd. S. 64: „[…] tatsächlich erschafft er sich jedesmal Gattung und Form primär, aus seinem Leidenschaft gewordenen Denken heraus […].“ 593 G. Lukács: Über Wesen und Form des Essays (1911). S. 31; vgl. H. Broch: Der Kunstkritiker (1920). S. 39: „[…] die Kritik, wenn man sie als rationale, als philosophische Lyrik bezeichnen will.“ Vgl. auch R. Musil: Aus einem Rapial (Nachlass) im Kontext der aus Bleis Erzählung eines Lebens (1930) für Literat und Literatur (1931) entnommenen Blei-Zitate: „Die Vereinigungen sind wahrsch.[einlich] Gedankenlyrik.“ (GW II, 830) 594 R. Musil: Literat und Literatur (1931) (GW II, 1218); vgl. ebd. S. 1221: „Bei diesem Ausblick sind nun freilich die Begriffe Ganzes, Gestalt, Form, Formelung bisher so gebraucht worden, als wären sie identisch, was sie in Wahrheit nicht sind; sie stammen aus verschiedenen Forschungsgebieten und unterscheiden sich dadurch so, dass sie teilweise dieselbe Erscheinung nach verschiedenen Seiten, teilweise nah verwandte Erscheinungen bezeichnen.“ 595 Vgl. hierzu beispielsweise G. Lukács: Über Wesen und Form des Essays (1911). S. 9: „Erst wenn etwas alle seine Inhalte in Form aufgelöst hat und so reine Kunst geworden ist […].“ 596 R. Musil: Literat und Literatur (1931). S. 1219. Vgl. ebd. Die Verdeutlichung der „Formelbindung“ am Beispiel „Wurzelbehandlung“: „Man stelle sich etwa, wenn man ein drastisches Beispiel nicht scheut, einen gewöhnlichen zahnärztlichen Eingriff in seinen Teilen und Einzelheiten vor, und man wird auf die unüberwindlichen Schreck-
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Unter Zuhilfenahme psychoanalytischer Gleichnisse und Vorstellungen, auch wenn das Dementi auf dem Fuße bzw. in einer Fußnote folgt,598 wird das Bewusstsein als „Ausnahmezustand des Seelischen“ gekennzeichnet.599 Musil zeichnet ein „Bild der Dezentralisation“600 des ‚Ich‘ zwischen ‚Es‘ und ‚Über-Ich‘ nach und analogisiert „diese eigentümliche Stellung zwischen Körperlichkeit und Geist“ mit der von „Gestalt und Form“.601 Und an dieser Stelle kommt mit den ‚Formen‘ auch die ‚Seele‘ ins Spiel bzw. in die Rede: Während „sowohl die elementaren Erlebnisse der Empfindung und Wahrnehmung wie auch die abstrakten Erlebnisse des reinen Denkens […] das Seelische durch ihre Bindung an die Außenwelt beinahe“ abschalten,602 werden Seele bzw. Form zu einem psychotechnischen Konstitutions- wie Kommunikationsmedium zwischen Innen und Außen, Sinnlichkeit und Begriff.603 Das „Seelenerregende“ der Form, so Musil, liegt in dem „nicht ganz geistig gewordene[n] Körperliche[n]“.604 Hatte Lukács in Die Seele und die Formen (1911) die Dichtung als „Schwester“ des Essays bezeichnet, dessen Form gegenüber den anderen lebensweltlichen Bereichen weniger selbstständig sei,605 so wird dem „ästhetische[n] Vermögen“ von Musil wiederum „eine Geschwisterfunktion des Denkens“ zugesprochen.606
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nisse stoßen, als da sind: Aufbrechen knochenartiger Körperteile, Eindringen von spitzen Haken und giftigen Stoffen, Stiche ins Fleisch, Öffnen innerer Kanäle und schließlich das Herausreißen eines Nervs, also geradezu schon eines Stückes der Seele! Der ganze Kniff, durch den man sich dieser geistigen Folterung entzieht, besteht aber darin, dass man sie eben nicht vorstellend zerlegt, sondern mit der Gelassenheit des geübten Patienten die glatte, runde, wohlbekannte Einheit ‚Wurzelbehandlung‘ an ihre Stelle setzt, an der höchstens ein wenig Unbehagen haftet.“ (GW II, 1219f.) Vgl. R. Musil: Brief an Franz Blei vom 28. 8. 1930 (BR I, 476f.) sowie ders.: Tagebücher. Heft 30 (1929–1941?) die Eintragungen vom 27. und 30. August 1930 (TB I, 717ff.) sowie den „Rückblick“ vom 19. 9. 1930 (TB I, 719f.). Ders.: Literat und Literatur (1931) (GW II, 1221). Ebd. Ebd. S. 1214. Ebd. S. 1221. Ebd. S. 1222. Ebd. S. 1222. Vgl. G. Lukács: Über Wesen und Form des Essays. S. 17: „Das Schicksalsmoment des Kritikers ist also jenes, wo die Dinge zu Formen werden; der Augenblick, wenn alle Gefühle und Erlebnisse, die diesseits und jenseits der Form waren, eine Form bekommen, sich zur Form verschmelzen und verdichten. Es ist der mystische Augenblick der Vereinigung des Außen und Innen, der Seele und der Form.“ R. Musil: Literat und Literatur (1931). S. 1222. Vgl. G. Lukács: Über Wesen und Form des Essays (1911). S. 24. R. Musil: Literat und Literatur (1931) (GW II, 1222).
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VIII. Essayismus als Intertext – Robert Musil und Franz Blei
An diese Differenzierung bzw. Hierarchisierung der Erkenntnisvermögen, die trotz aller zeitgenössischen Anleihen an Gestalttheorie wie Psychoanalyse ihren schulphilosophischen Assimilationszusammenhang nicht verleugnen kann,607 schließt sich im letzten Abschnitt die essayistische Kernthese an: „Indem die Dichtung Erlebnis vermittelt, vermittelt sie Erkenntnis; diese Erkenntnis ist zwar durchaus nicht die rationale der Wahrheit (wenn sie auch mit ihr vermengt ist)“.608 Allerdings wird hier diesmal nicht die „menschliche Umbildung“ im Bereich der Mystik wie der Literatur der rationalen Erkenntnis im Bereich der Wissenschaft gegenüberstellt,609 sondern nach der Aufgabe, nach der Funktion der Dichtung im Allgemeinen gefragt.610 Auch wenn die Sprach- und Denkspiele hier mit viel Optimismus eine Verwandlung der Welt nahe legen könnten, so beschränkt sich das essayistische Ich darauf, der Dichtung in seiner Funktion als Kritiker die Aufgabe der Selbstreflexion zuzuweisen: Diese habe „für die seit den Tagen des Orpheus verlorene Überzeugung, daß sie die Welt auf zauberhafte Weise beeinflusse, eine zeitgemäße Umwandlung erst zu suchen.“611 In der ‚entzauberten Welt‘ Max Webers besteht die Funktion der (Dicht-)Kunst – ebenso wie die Philosophie oder Religion – als ausdifferenziertes Teilsystem der modernen Lebenswirklichkeiten entweder darin, sich zur Welt im Modus des Irrealis zu verhalten oder aber darin, die Bedingungen ihrer Möglichkeit zu reflektieren. Der Geist des Gedichts im Besonderen wie der Geist der Literatur im Allgemeinen ist der Geist, der zugleich zaubert und verzaubert ist, der Geist, der denkt, das heißt, auf sich selbst als Natur, Seele und Körper reflektiert, und der gedacht wird. Es ist die Erkenntnisform, welche das Eingedenken des Gefühls im Verstand ebenso umfasst wie das Einfühlen des Verstandes im Bereich des sinnlichen Erlebnisses: „Man kann diesen Vorgang ebenso gut als die Anpassung des Geistes an Bereiche auffassen, denen die Vernunft nicht beikommt, wie die Anpassung dieser Bereiche an die Vernunft“.612 Der Dialektik der Aufklärung als Kritik der instrumentellen Vernunft wird
_____________ 607 Ein expliziter Hinweis findet sich noch in ders.: [Form und Inhalt] [um 1910]: „Wenn die Präsenz des Gefühls auch in den Kreis der Evidenz des Cartesianischen cogito ergo sum gehört, so doch nicht sein Inhalt, das ‚was ich fühle‘.“ (GW II, 1301) 608 Ders.: Literat und Literatur (1931) (GW II, 1224). 609 Vgl. ders.: [Über den Essay] [1911/12?] (GW II, 1337). 610 Ders.: Literat und Literatur (1931) (GW II, 1223). 611 Ebd. S. 1225; vgl. auch ders.: Tagebücher. Heft 10 (1918–1921): „Spezif. ästhetische Wirkungen: Reim, Rhythmus [!], Wiederholung, Alliteration usw. (Zauberei)“ (TB I, 448). 612 Ders.: Literat und Literatur (1931) (GW II, 1223).
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hier im Bereich der Literatur, auf dem Gebiet der ästhetischen Erfahrung, die Möglichkeit eines sich selber denkenden Denkens613 entgegengestellt.
9. Der Dichter und sein Kritiker oder das Ende einer geistreichen Freundschaft: die „Blei-Affäre“ Ich muß nur richtigstellen, daß Musil und Broch nicht meine Mitarbeiter zur rechten und linken Hand sind, aber beide willkommen. Daß sie rational sind, stimmt, aber alles Schreiben und Mitteilen ist das. Auch wenn ich über Irrationales schreibe, kann ichs und jeder nur rational.614 (Franz Blei) Jedes Schreiben ist ein rationaler Vorgang, auch wenn es sich um das gegen- oder zuständlich Irrationalste handelt, bis an die äusserste Grenze des überhaupt nicht mehr Mitteilbaren, wo das nur mehr Aufzeigbare anhebt.615 (Franz Blei) Er [Musil] ist vielleicht der exakteste Dichter, den die Weltliteratur je hervorgebracht hat. Er duldet keinerlei Unklarheit oder Verschwommenheit; er läßt das Irrationale nur in Gestalt des Unendlichen zu, nämlich in der unendlichen Vervielfältigung der Ratio […].616 (Hermann Broch)
Unter den Bedingungen von Emigration,617 Publikationsverbot,618 zunehmender Vereinsamung, materieller Not, (Herz-)Krankheit und
_____________ 613 Vgl. M. Horkheimer/T. W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente (1947). Frankfurt a. M. 1982. S. 26. 614 F. Blei: Brief an Albert Paris Gütersloh [1918?]. In: ders.: Zwischen Orpheus und Don Juan (1965). S. 109. 615 Ders.: Robert Musil. In: ders.: Zeitgenössische Bildnisse (1940). S. 225. 616 H. Broch: Robert Musil [Gutachten] (1939); abgedr. in: H. Broch: Kommentierte Werkausgabe. Bd. 9/1. S. 96–98 (unter dem Titel Robert Musil und das Exil), hier S. 96. 617 Martha und Robert Musil verlassen Berlin im Mai 1933, Mitte August 1938 emigrieren sie von Wien in die Schweiz, wo Musil am 15. 4. 1942 in Genf stirbt. Franz Blei, der bereits 1931 von Berlin nach Mallorca übergesiedelt war, kehrt nach Ausbruch des Spanischen Bürgerkrieges 1936 nach Wien zurück, das er im März 1938 in Richtung Italien wieder verlassen wird; nach den Zwischenstationen Frankreich und Portugal emigriert Blei 1941 in die USA, wo er am 10. 7. 1942 stirbt. 618 Vg. hierzu u. a. R. Musil: Brief an Franz Blei vom 11. August 1933: „Meine Meinung ist, dass Sie damals nur auf die Liste [‚unerwünschter‘ Autoren] gekommen sind, weil Sie Herr Bartels für einen Juden hielt: man dementiert heute so etwas ungern als anständiger Mensch, aber schließlich richtet sich das ja nicht gegen das Faktum, sondern gegen die Methode.“ (BR I, 577). Am 10. Mai 1933 sind nicht nur die Bücher Franz Bleis, sondern auch die Robert Musils verbrannt worden.
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VIII. Essayismus als Intertext – Robert Musil und Franz Blei
Schreibproblemen619 kommt es in der Mitte der dreißiger Jahre zu erheblichen Irritationen im freundschaftlichen Arbeits- und Publikationsverhältnis von Musil und Blei. Mit dem Jahr 1935 scheint der Briefkontakt abzureißen. In einem Brief von Martha Musil vom 25. Mai 1942, also etwas mehr als einem Monat nach dem Tode ihres Mannes, findet sich in einem Postskriptum der folgende kurze Hinweis: „Blei soll in Amerika sein; wir sind schon seit vielen Jahren außer Verbindung gewesen.“620 Musil selbst hat in einem Brief an Otto Pächt vom 23. März 1937 von der „BleiAffaire, die überpflastert, aber nicht geheilt worden ist“,621 gesprochen. Worum ging es bei der „Blei-Affaire“? Vermutlich um die 1934 durch Bruno Fürst gegründete Wiener Musil-Gesellschaft,622 die dem Autor durch regelmäßige finanzielle Unterstützungen die Fortsetzung seiner Arbeit am Mann ohne Eigenschaften ermöglichen sollte. Erna Fürst hatte mit ihrer finanziellen Hilfe dazu beigetragen, dass Musil im Sommer 1937 vom Rowohlt Verlag (Berlin) zum Bermann Fischer-Verlag (Wien) wechseln konnte. Adolf Frisé geht davon aus, dass Franz Blei Robert Musil „eine für ihn [Musil] irritierende (das rein Persönliche betreffende) Äußerung von Erna Fürst, der Gattin Bruno Fürsts, hinterbracht“ habe.623 Otto Pächt hat sich zur „Blei-Angelegenheit“ gegenüber Adolf Frisé wie folgt geäußert: „Musil argwöhnte bei Blei, der mit Fürsts verkehrte, eine Animosität gegen seine Person und sah von dieser Seite eine gewisse Gefahr für die Musilgesellschaft.“624 In Musils Tagebuchaufzeichnungen findet sich nur der vage Hinweis: „das Minieren Bleis gegen mich bei Fürst“. Ob sich die daran anschließende Notiz – „Es fällt mir sehr leicht ein, jemand
_____________ 619 Vgl. hierzu: F. Blei: Brief an Albert Paris Gütersloh vom 27. 1. 1939. In: ders.: Zwischen Orpheus und Don Juan (1965). S. 116 zu seinem Fragment gebliebenen Roman Trojanisches Pferd: „Wobei das Pferd nur ein Fragment von 170 Maschinseiten ist, dem zum Ganzen noch 150 Seiten fehlen, zu denen ich hier nicht komme, wenigstens nicht über Notizen hinaus. Nicht möglich, aus einem dieser Riesenräume ein warmes geheiztes Zimmer zu machen, und ich kann frierend nicht schreiben.“ Vgl. R. Musil: Tagebücher. Heft 33 (1937–1941) über seine „Arbeitshemmungen“: „Meine geistige Ausrüstung für den Roman war dichterisch, psychologisch, u. zT. philosophisch. In meiner jetzigen Lage bedarf es aber des Soziologischen […].“ (TB I, 963f.) 620 M. Musil: Brief an Franz Theodor Csokor vom 25. 5. 1942 (BR I, 1434). 621 R. Musil: Brief an Otto Pächt vom 23. 3. 1937 (BR I, 767). 622 Vgl. B. Fürst: Die Wiener Robert-Musil-Gesellschaft 1934–1938. In: Robert Musil. Leben, Werk, Wirkung. Hrsg. v. K. Dinklage. Reinbek 1960. S. 877–382. 623 A. Frisé (TB II, 689). 624 Ebd.; vgl. R. Musil: Brief an Otto Pächt vom 23. 3. 1937 (BR I, 767).
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zu töten, ich glaube aber, daß ich es im Alter weniger denn je täte“625 – auf Franz Blei bezieht, ist nicht eindeutig zu sagen.626 Bereits vor der „Blei-Affäre“ lässt sich jedoch eine andere konstatieren: die Broch-Affäre, auf die in diesem Zusammenhang nur kurz eingegangen werden kann.627 Anfang 1930, also noch vor der Veröffentlichung des ersten Bandes von Der Mann ohne Eigenschaften, hatte Franz Blei Robert Musil ein Exposé von Brochs Schlafwandler-Roman zugesandt.628 Dieser bewertet das „Broch’sche Exposee“, wenn auch die gemischten Gefühle bereits hier unüberlesbar sind, zu diesem Zeitpunkt noch durchaus positiv: „es verspricht ein interessantes Buch, aber das artistische Problem ist bei diesen philosophischen Ansprüchen enorm schwer zu bewältigen. Es kommt mir vor, daß zwischen den Absichten Brochs und den meinen Berührungen bestehn, die im einzelnen ziemlich weit gehen könnten, und ich bin sehr neugierig auf das Technische bei ihm.“629 Am 31. Dezember
_____________ 625 Vgl. R. Musil: Tagebücher. Heft 33 (1937–1941) (Tagebuch I, 920); vgl. hierzu auch Martha Musil: Brief an Armin Kesser vom 21. 12. 1944. In: dies.: Briefwechsel mit Armin Kesser und Philippe Jaccottet. 2 Bde. Hrsg. v. M.-L. Roth in Zusammenarb. mit A. Daigger u. M. v. Walter. 2 Bde. Bern [u. a.] 1997. Bd. 1. S. 67: „Gegen fast alle Menschen hat Blei sich – geistig – unanständig benommen und als er das gegen Ende unserer Bekanntschaft auch bei Robert versuchte, endete diese.“ 626 Zu den Hintergründen der „Blei-Affaire“ vgl. auch K. Corino: Robert Musil (2003). S. 1244f. und S. 1284, der die Irritationen im Verhältnis von Musil und Blei bzw. der Ehepaare Musil und Fürst auch auf die Rolle Martha Musils zurückführt und (ebd. S. 1284) von der „Nachwirkung der von Franz Blei geschürten ‚Satansbraten‘-Affäre um Martha“ spricht; vgl. ebd. S. 1245. In Musils Brief an Otto Pächt vom 23. März 1937 ist nur die Rede von einem „geistigen Osterbraten“ (BR I, 768). 627 Vgl. hierzu das Kapitel X. 6. der vorliegenden Untersuchung. 628 Vermutlich handelt es sich um das Exposé, das H. Broch Ende 1929 an den S. Fischer Verlag geschickt hatte; s. H. Broch: Der Roman „Die Schlafwandler“ (1929). In: ders.: Kommentierte Werkausgabe. Bd. 1: Die Schlafwandler. Eine Romantrilogie (1931/32). Frankfurt a. M. 1994. S. 719–723. Vgl. auch das Antwortschreiben Gottfried Bermann Fischers an Hermann Broch vom 27. 3. 1930 (BrochArchiv); zit. nach: M. Durzak: Hermann Broch (2001). S. 72f.: „Der erste Teil des Romans machte uns einen ungewöhnlich starken Eindruck. […] Das Durcheinander von Figuren und Reflexionen (im zweiten und dritten Teil jedoch), die mit dem ersten Band in keiner fühlbaren Beziehung stehenden, neu eingeführten Gestalten lassen den Leser immer unsicherer werden, bis er schließlich führungslos sich fragt, wo eigentlich die Beziehung zwischen den einzelnen Bänden zu suchen wäre. […] Ich muß Ihnen gestehen, daß mir trotz der Kenntnis Ihres Exposés der Sinn dieser beiden letzten Teile nicht aufgegangen ist.“ Vgl. hierzu R. Musil: Brief an Franz Blei vom 24. 3. 1930: „Ich finde das für Broch nicht ungünstig; wenn der erste Roman einigen Erfolg hat, wird Fischer die andern Teile schon noch bringen […].“ (BR I, 462) 629 R. Musil: Brief an Franz Blei vom 8. 2. 1930 (BR I, 458); zum Blei-Expose vgl. auch ders.: Tagebücher. Heft 30 (30. 1. 1930): „Blei hat mir Brochs Expose zu seinem Roman zugeschickt; Absichten, die sich teilweise mit meinen berühren.“ (TB I, 697) Vgl.
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1930 bittet er seinen Freund um eine ausführliche Besprechung des ersten Bandes von Der Mann ohne Eigenschaften.630 Bereits am 15. Oktober hatte Franz Blei Musils Roman in der Berliner Zeitschrift Neue Revue als „ersten“ der „vier großen Romane“ (also neben Brochs Die Schlafwandler, Powys Wolf Solent und Huxleys Kontrapunkt des Lebens) platziert. Und am 16. Dezember 1930 weist Blei in der Prager Presse zwar nur kurz, aber doch fulminant auf Musils Buch hin: „Der Abstand dieses Mannes ohne Eigenschaften von aller bisherigen deutschen Romanliteratur ist unermesslich.“631 Dennoch scheint sich Musil durch seinen Promoter Blei weder ausschließlich noch umfangreich genug gewürdigt zu fühlen, denn er verweist im Zuge seiner Rezensions-Forderung mit ‚konstruktivem‘ Sarkasmus auf die im selben Jahr erschienenen Schlafwandler:632 „Broch hat das Glück, daß nicht nur Sie und ich ihn für sehr begabt halten, sondern auch Frank Thiess, und das macht es aus!“633 Frank Thieß hatte am 3. Dezember 1930 in der Vorweihnachtsumfrage Die besten Bücher des Jahres der Berliner Wochenschrift Das Tagebuch als zweiten von insgesamt sechs Titeln Brochs Schlafwandler genannt: „Ich kenne kein Buch, das geistvoller, erregender, wissender in die Tiefen des bürgerlichen Schicksals leuchtete.“634 Blei liefert umgehend. Im Februarheft von Der Querschnitt erscheint 1931 in den Marginalien eine Kurzrezension Franz Bleis, die Musils Roman im wörtlichen Sinn über alle anderen zeitgenössischen Romane stellt: „Die Epigonen von Immermann und Stifters Nachsommer waren des deutschen Romanes letzte Gipfel gewesen. Dann war Niederung, aus der sich kleine
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mit einer Eintragung vom 10. 2. 1930: „Blei ein paar Worte geschrieben und das Brochexposee zurückgesandt.“ (TB I, 700) Einen Tag zuvor, am 30. 12. 1930, hatte R. Musil, der gerade mit der Überarbeitung seines Blei-Aufsatzes (Literatur und Leben) beschäftigt war, Besuch von Ea von Allesch und Hermann Broch empfangen (TB II, 1201). Vgl. A. Frisé (BR II, 290 und 294), der vermutet, dass sich Musils Dank „für den überaus kräftigen und wohlklingenden ‚Trompetenstoß‘“ (R. Musil: Brief an Franz Blei vom 17. 2. 1931, BR I, 501) auf die bis Ende 1930 vorliegenden Besprechungen Bleis bezieht. Bereits im April 1930 war die Erstfassung der Schlafwandler im Rhein-Verlag Zürich erschienen; es fehlen in dieser Ausgabe noch der Zerfall der Werte und die Geschichte des Heilsarmeemädchens sowie die Parallelerzählungen; Broch hat mit der Umarbeitung seines Romans – betroffen hiervon sind vor allem die Bertrand-Figur sowie der gesamte Huguenau-Teil – erst nach dessen Annahme durch Daniel Brody begonnen; vgl. hierzu: M. Durzak: Hermann Broch (2001). S. 70–75; in der endgültigen Fassung erschienen die drei Bände: Pasenow (Dezember 1930; als Erscheinungsjahr ist 1931 angegeben), Esch (April 1931) und Huguenau (April 1932). R. Musil: Brief an Franz Blei vom 31. 12. 1930 (BR I, 491f.). Vgl. hierzu den Kommentar A. Frisés (BR II, 289f.). Frank Thiess übernimmt für H. Broch ähnlich wie ehemals Alfred Kerr und Franz Blei für Robert Musil die Hebammen- und Promotor-Rolle; vgl. P. M. Lützeler: Hermann Broch (1985). S. 107ff.
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Hügel hoben, Fontanes Effi Briest, Th. Manns Buddenbrooks. Dann gab es die Versandung: zahllose Romane, die nur insofern ‚modern‘ waren, als man im Auto oder Flugzeug fuhr und ‚Heutiges‘ redete. Oder daß einem Heutiges passierte, wie der Krieg. Das sah von außen gesehen modern aus, von innen her war es Biedermeier. […] Da springt aus der Ebene der Romanproduktion dieser ungeheure Gipfel des Musilschen Romanes auf, unerwartet, ohne Vorgelände, voll verlockender Artikulation seiner überwältigenden Masse.“635 Und einen Monat später, im Märzheft des Querschnitt, erklärt Blei in einer Rezension des Pasenow-Romans unter Berufung auf Frank Thieß, Brochs Schlafwandler gehörten zwar „zu den interessantesten und gelungensten Meisterwerken […], die uns in den letzten vierzig Jahren unterkamen“. Über diese stellt er jedoch noch den Roman seines Freundes: „Daneben und darüber steht nur in absoluter Größe Musils Mann ohne Eigenschaften.“636 Aus dem „in absoluter Größe“ einsamen Berggipfel wird schließlich jedoch in den Rezensionen Franz Bleis die „[s]chweigende Begegnung zweier Berggipfel“.637 Denn am 1. September 1931 veröffentlicht Franz Blei in der Prager Presse eine Sammelrezension Hinweis auf fünf Bücher und widmet den beiden ersten Bänden der Schlafwandler-Trilogie insgesamt 13, Musils Roman jedoch nur 10 Zeilen.638 Musils Reaktion erfolgt postwendend: „Lieber Freund! / Das ist aber diesmal schnell gegangen, mit dem Mann oE, den Schwärmern hatten Sie Ihre Neigung länger bewahrt, ehe diese erkaltete! ich spiele auf die beiliegende Erwähnung in der PP an, wo Sie mich schon nicht mehr außerhalb stellen, ja eigentlich, für den uneingeweihten Leser, sogar eine Sprissel unter Broch, was vor ein paar Wochen noch nicht Ihre Meinung war. Sagen Sie nicht, daß es in Eile oder Ermüdung geschah: Kritik ist ein Gefahrberuf wie Lokomotivführen oder Apo-
_____________ 635 F. Blei: Robert Musil, „Der Mann ohne Eigenschaften“. In: Der Querschnitt 11 (1931). H. 2. S. 141. 636 Ders.: Hermann Broch, „Pasenow“. In: Der Querschnitt 11 (1931). H. 3. S. 213; Hervorhebung v. B. N. 637 Vgl. hierzu R. Musil: 45. Kapitel: Schweigende Begegnung zweier Berggipfel. In: ders.: Der Mann ohne Eigenschaften. 1. Buch (1930): „Aus der senkrechten Bügelfalte empor, schien Arnheims Leib in der Gotteseinsamkeit der Bergriesen dazustehn; durch die Welle des Tals mit ihm vereint, stand auf der anderen Seite einsamkeitsüberglänzt Diotima, in ihrem Kleid der damaligen Mode […].“ (MoE II, 185) 638 Als weitere „Bücher, aus deren bedeutenden Reichtum einem so etwas wie ein Zuwachs an geistigen Energien kommt“, werden von F. Blei: Hinweis auf fünf Bücher. In: Prager Presse, 1. September 1931. S. 7 genannt: Erik Regers Roman Union der starken[!] Hand, José Ortega y Gassets Essaysammlung Der Aufstand der Massen und Hugo von Hofmannsthals Die Berührung der Sphären.
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thekern, und da wird das nicht gelten gelassen!“639 Franz Blei selbst drückt in einen Brief vom 18. Mai 1932 seinem Freund Broch seine Hingerissenheit und Begeisterung über Die Schlafwandler – Huguenau, der dritte Band der Trilogie war soeben erschienen – aus: „Du hast die vielköpfige Bestie im größten Stil bezwungen, es ist ein Wundergebilde der Vollendung in jedem Satz, jeder Seite, im ganzen. Du kannst Dir vorstellen, wie groß meine Freude darüber ist. Und meine Schadenfreude, daß es zwei Österreicher, Du und Musil, sind, die dem neueren Roman seine größte Form gegeben haben.“640 Und in seiner Kurzrezension des Huguenau-Teils verkündet Blei „eine neue Epoche nicht nur des deutschen, sondern des europäischen Romans“, die er mit Der Mann ohne Eigenschaften einläutet.641 Noch am 30. März 1931 – also zwischen Erscheinen des ersten und zweiten Romans der Schlafwandler-Trilogie – erinnert Musil Blei vorwurfsvoll an den wohl zugesagten, aber bis dato nicht erschienenen Aufsatz über seinen Roman in der Schweizer Rundschau und erwägt als Ersatzrezensenten für Blei ausgerechnet Hermann Broch.642 Im April 1933 erscheint im Querschnitt eine Kurzbesprechung Franz Bleis zum dritten Teil von Brochs Trilogie. Bleis Lob bezüglich der essayistischen Passagen im Huguenau beinhaltet allerdings zugleich auch eine indirekte Kritik an der von
_____________ 639 R. Musil: Brief an Franz Blei vom 1. 9. 1931 (BR I, 524f.); Hervorhebung v. B. N. Vgl. hierzu F. Blei: Hinweis auf fünf Bücher (1931). S. 7: „Die Romane sind Robert Musils ‚Mann ohne Eigenschaften‘, 1200 kompakte Seiten des gesellschaftlichen und politischen Lebens in der Monarchie kurz vor Ausbruch des Krieges, nicht in Pointillismen aufgelöst, sondern in etlichen zwanzig Gestalten synthetisiert, deren Zusammenspiel das k.u.k. österreichische Konzert ergibt, an dem auch der Preuße Rathenau hervorragend mitwirkt.“ Ebd.: „Der dritte Roman ist von Hermann Broch und heißt ‚Die Schlafwandler‘, zwei Bände von 700 Seiten, der dritte steht noch aus. Eine um die vierte Dimension bereicherte und damit erschöpfende Darstellung des Menschen deutscher Herkunft in drei wichtigen Etappen seiner letzten 50 Jahre Geschichte: ‚Die Romantik‘ in dem Roman vom Offiziersrock 1880 der erste Band, ‚Das Chaos‘ in dem zweiten Roman des zum Kleinbürgertum strebenden Proletariers von 1900. Der dritte Band wird ein Kriegsroman ‚Die neue Sachlichkeit‘ sein.“ 640 F. Blei: Brief an Hermann Broch vom 18. 5. 1932. In: Hermann Broch – Daniel Brody. Briefwechsel (1971). Anm. 202. S. 327. 641 Ders.: Die Sachlichkeit. In: Der Querschnitt 13 (1933). H. 4. S. 301; vgl. auch ders.: Hermann Broch, Pasenow. In: Der Querschnitt 11 (1931). H. 3. S. 213: „Seltsam, daß es zwei Wiener sind, welche die fundamental ‚andern‘ Romane geschrieben haben, von denen aus man eine neue Epoche des deutschen Romanes datieren wird“. 642 Vgl. R. Musil: Brief an Franz Blei vom 30. 3. 1931 (BR I, 508f.): „Denn bisher sind von Ihrem Aufsatz für die S.[chweizer] R.[undschau] 14 Seiten fertig gewesen und 3 haben gefehlt, wo nun plötzlich […] 14 Seiten fehlen und 3 fertig sind!“ Zu den zeitgenössischen Rezensionen von Der Mann ohne Eigenschaften vgl. H. Wieczorek-Mair: Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ in der zeitgenössischen Kritik. Vergleich der Aufnahme von Band I und Band II. In: Robert Musil. Untersuchungen. Hrsg. v. U. Baur/E. Castex. Königstein/Ts. 1980. S. 10–31.
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Musil gewählten Technik der semi-auktorialen bzw. semi-personalen Einbindung des Essayistisch-Reflexiven in die Romankomposition: Brochs Figuren zeigen, so Blei, „keine Deformationen der Haut, weil ihr Finder, ihr Entdecker und Aufzeiger, der Verfasser, darunter gekrochen ist, um sie interessanter oder bedeutender zu machen.“643 Broch, so Blei weiter, „legt auch nicht, was zu sagen ihm am Herzen liegt, den Figuren als Spruchband in ihren Mund, sondern sagt es, ohne zu zögern, aus seinem eigenen.“644 Die Metaphorik des Unter-die-Figuren-Kriechens und die Kritik des essayistischen Romantextes als Parlogramm des Autors scheint das Ende einer geistreichen Freundschaft zu markieren. Die erwartete ausführliche Besprechung Franz Bleis zu Der Mann ohne Eigenschaften (1930/32) ist nie erschienen. Es bleibt bei den ‚Kuckuckseiern‘ bzw. Gelegenheits- und Randbemerkungen zu Musils Roman, die Blei in seine für den Buchmarkt gebauten Nester legt.645 Und so rekurriert Musil Mitte 1935 nur noch ironisch bzw. mit einer Ironie, die den Dichter wie den Kritiker, das heißt dessen Erwartung wie Bleis Versprechen, gleichermaßen trifft, auf seine Forderung: „Dem Schicksal entrinne ich ja doch nicht, daß Sie mit der Absicht beginnen, über mich oder den Mann o. E. zu schreiben und mich in die Freude der Ankündigung versetzen, dann aber sich am gebundenen Thema langweilen und ins freie Schreiben geraten, das nur noch durch eine NebelNabelschnur mit dem Ausgangspunkt zusammenhängt. Wenn Sie nicht am Ende das mir zu- oder von mir her Gedachte auch noch auf Gütersloh und Broch verteilen, will ich schon zufrieden sein!“646 Der gemeinsame essayistische Vertextungszusammenhang scheint durchschnitten. Der Text des Kritikers (Blei) hängt nur noch allzu locker und zudem unsichtbar („Nebel-Nabelschnur“) mit dem dichterischen Mutterboden (Musil) zusammen. Musils metakommunikative Randbemerkung ist zugleich metareflexiv in Bezug auf das Verhältnis von Gegenstand und essayistischer Methode zu bewerten. Denn er gesteht hier dem Essayisten Blei jene „Selbstständigkeit“ zu, welche er auch dem „Gebiet des Essays“ und der Kunst zuspricht.647 Und Musil schlägt Blei in diesem Zusammenhang die Mitarbeit
_____________ 643 F. Blei: Die Sachlichkeit (1933). S. 301; Hervorhebung v. B. N. Vgl. bereits Bleis Kritik an Musils Vereinigungen laut R. Musil: Brief an Franz Blei, [15. Juli 1911]: „Und Sie wandten ein, daß deren [der handelnden Personen] Haut allzu zerrissen würde und jeder Schritt durch eine Welt von Reflexionen gehemmt.“ (BR I, 87) 644 F. Blei: Die Sachlichkeit (1933). S. 301. 645 Vgl. R. Musil: Franz Blei – 60 Jahre (1931) (GW II, 1202). 646 Ders.: Brief an Franz Blei vom 4. 6. 1935 (BR I, 646). 647 Vgl. ders.: Literat und Literatur (1931) (GW II, 1214).
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VIII. Essayismus als Intertext – Robert Musil und Franz Blei
an der von Erich Schönwiese herausgegebenen Literaturzeitschrift das silberboot vor, zu welcher er selbst ein „Glied einer langen neu eingeschlungenen Kette“, nämlich Kapitel 49 des Fragment gebliebenen zweiten Bandes von Der Mann ohne Eigenschaften, beigetragen habe:648 „Ich dachte mir, Sie könnten von den ‚Prolegomena‘ etwas abdrucken lassen“.649 Es lässt sich nicht ausmachen, ob die „Prolegomena“ auf die Form der Blei’schen Randbemerkungen, Rapiale, mit arabischen Ziffern gekennzeichnete Aphorismenblöcke, ‚Parerga‘ zu einer ungeschriebenen gebliebenen ästhetischen Hauptschrift Bleis,650 auf die Bruchstücke eines Projekt gebliebenen großen Musil-Essays oder aber die Kritischen Prolegomena aus dem 1912 erschienenen sechsten Band der Vermischten Schriften zu beziehen sind. Allein in den sechsundzwanzig‚marginalen‘ Textblöcken, die Erich Schönwiese 1965 für seine Sammlung von Blei-Texten zusammengestellt hat,651 werden Robert Musil, der Roman Der Mann ohne Eigenschaften und die Romanfigur Ulrich insgesamt acht Mal genannt, Broch bzw. Die Schlafwandler vier und Gütersloh nur ein Mal. Auch hier wird Musil von Blei zwar über seine Epoche gestellt, gleichzeitig jedoch auch in eine Reihe mit anderen: „Nicht zufällig treten die vier großen Romanciers nach dem Kriege auf den Plan mit der Inventur der Epoche: Proust, Joyce, Musil, Broch. – Diese vier (und nur sie unter allen sonstigen Romanciers dieser Tage) gehen nicht mehr als deren Bestandteile in der Epoche auf, sie stehen über ihr, außer ihr, nicht in ihr.“652 Auch wenn der Dialog der Autoren, das heißt der persönliche Briefwechsel zwischen Robert Musil und Franz Blei Mitte der dreißiger Jahre abgebrochen ist: Der Dialog der Texte hat noch kein Ende gefunden.
_____________ 648 Vgl. ders.: Brief an Franz Blei vom 29. 10. 35; Musil dankt hier Blei für die „liebenswürdigen Worte!“, die dieser in seinen Marginalien zur Literatur im ersten Heft des silberbootes für ihn bzw. seinen Roman gefunden hat und schickt Blei seine letzte Publikation, den noch unveröffentlichten Nachlaß zu Lebzeiten (1936) zu; der Hinweis „Verschiedenes Essayistisches habe ich angefangen“ (GW II, 661f.) ist vermutlich auf die Aphorismensammlungen Notizen (am 17. 11. 1935 in der National-Zeitung, Basel) zu beziehen; vgl. auch ders.: Allerhand Fragliches (31. 5. 1936 in Der Wiener Tag) und Aus einem Rapial (Bermann Fischer-Jahrbuch Die Rappen von 1937) zu beziehen. 649 Ders.: Brief an Franz Blei vom 4. 6. 1935 (BR I, 646). 650 Vgl. F. Blei: Brief an Albert Paris Gütersloh vom 6. 8. 1934. Abgedr. in: F. Blei: Zwischen Orpheus und Don Juan (1965). S. 114: „ich hab wohl meinen Schreibtisch abgeräumt für ein grundsätzlich und streng gearbeitetes Buch über die Gegenstände des Ästhetischen, aber ich komme über Notizen nicht hinaus […].“ 651 E. Schönwiese: Einleitung. In: Franz Blei: Zwischen Orpheus und Don Juan (1965). S. 15 gibt an, er habe aus Bleis „‚Marginalien zur Literatur‘ […] die besten Stücke – zum Teil noch unveröffentlicht – […] für das vorliegende Buch ausgewählt“, die dieser in den Jahren 1935–1937 für das silberboot geschrieben habe. 652 F. Blei: Marginalien zur Literatur (1935–37). S. 100.
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1940 erscheinen aus dem südfranzösischen Exil die Zeitgenössischen Bildnisse beim Verlag Allert de Lange in Amsterdam. Es handelt sich bei Bleis letzter selbstständiger Publikation653 um eine Sammlung von biographischen Essays. Am Schluss des Kapitels Walter Rathenau zitiert Blei noch einmal – und durch Nennung des Autornamens und doppelte Anführungszeichen formal markiert – zustimmend aus Der Mann ohne Eigenschaften: „Ich glaube, das treffendste über Rathenau hat Robert Musil gesagt“.654 Mit dem Kapitel Robert Musil würdigt er Person und Werk seines Freundes öffentlich zum letzten Mal und beschwichtigt sogleich dessen in seinem Brief vom 4. Juni 1935 geäußerte Verärgerung über einen Vorabdruck von Bleis Zeitgenössischen Bildnissen in der Wochenendbeilage der Prager Presse. Diese waren Ende April mit einem Porträt Charles Swinburnes abgebrochen und nicht mehr wie geplant bis zu Musil fortgesetzt worden.655 Musil wird hier ebenso wie in dem bereits in Erzählung eines Lebens (1930) veröffentlichtem Porträt als Ingenieur (Geist) und Sportler (Körper) gekennzeichnet.656 Während in der essayistischen Autobiographie (1930) Textbausteine aus Musils Prätext Über Robert Musil’s Bücher (1913) unmarkiert assimiliert werden, zitiert Blei in seiner essayistischen Biographiesammlung (1940) unter Angabe des Autornamens, wenn auch nicht des Textes, und mit doppelten Anführungszeichen, wenn auch mit üblichen drucktechnischen Abweichungen, syntaktischen Änderungen und
_____________ 653 Im selben Jahr 1940, ebenfalls bei Allert de Lange in Amsterdam, erscheint auch Gina Kaus’ letzter Roman Der Teufel nebenan. 654 F. Blei: Walter Rathenau. In: ders.: Zeitgenössische Bildnisse (1940). S. 16–21, hier S. 20. Zu Walther Rathenau vgl. auch: T. P. Hughes [u. a.]: Ein Mann vieler Eigenschaften. Walter Rathenau und die Kulturen der Moderne. Berlin 1990. Die wechselseitigen Referenzen bzw. Assimilationen von Musils und Bleis RathenauVertextungen einerseits und deren Bezüge auf die historische Gestalt Walther Rathenau sowie die fiktive Arnheim-Figur andererseits erforderten eine eigene Untersuchung. 655 Vgl. R. Musil: Brief an Franz Blei vom 4. 6. 1935: „Ich sehe also leider, daß ich etwas ‚ägriert‘ war von dem Schicksal der ‚Zeitgenossen‘ in der Prager Presse, sowohl was das Zusammentreffen am Schluß anging, als auch durch Laurins Haltung, der die Fortsetzung bis zu mir überflüssig fand.“ (BR I, 647) 656 Vgl. F. Blei: Robert Musil. In: ders.: Zeitgenössische Bildnisse (1940). S. 222: „Ingenieur war das Ziel. Eine vorzügliche Körperkonstitution, die Musil in vielen Sporten funktionell spielen machte […]“, „bei dem sportlichen Musil“ sowie ders.: Robert Musil. In: ders.: Erzählung eines Lebens (1930). S. 451 zum Ingenieur, Physiker und Mathematiker Musil und ebd. S. 456: „Robert Musil: ein außerordentlich begabter Körper, an dem er sich freute und den er zu einer Zeit, wo der Sport noch nicht im Theater des Rekordbrechens bestand, sportlich übte bis in den kleinsten Muskel […].“
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VIII. Essayismus als Intertext – Robert Musil und Franz Blei
stilistischen Verbesserungen, aus dem 62. Kapitel von Der Mann ohne Eigenschaften (1930).657 Bescheinigt Blei Musil noch in Erzählung eines Lebens (1930) „Stärke der synthetischen Kraft“,658 so wird dieser auch zehn Jahre später noch als „ein überaus genauer Darsteller […] im Bereich der ungenauen Dinge, einer Zwischenwelt“ gekennzeichnet.659 Blei bestimmt Musils Methode aphoristisch nicht als Erklären von außen, sondern als Verstehen von innen, als immanentes Entziffern, als Textkonstitution qua Transluzidation: „Musil begibt sich nicht aus dem Text hinaus, um ihn zu analysieren, sondern dechiffriert den Text, indem er unsern Eindruck verstärkt und durchleuchtet. Bis in die unwägbaren Regionen des Intellekts verlängert er dessen nervöses Gewebe.“660 Als dialogische Fortschreibung von Musils Literat und Literatur (1931)661 kann Bleis Kennzeichnung der Gestaltungsweise Musils als ‚nicht-stotternd‘ gelesen werden: „Seine Prosa also nicht stottern darf, wenn sie einen Stotterer erzählt.“662 Musil hatte in seinem Essay unter dem Stichwort Erhabenheit663 die „Auflockerung der logisch geschlossenen Erzählungsform bis zum logischen, ja psychisch beinahe Asyntaktischen“ bei Joyce und Proust664 auf das Bedürfnis nach Entschädigung,665 sprich ästhetische Kompensation und Eskapismus, zurückgeführt. Gegen diese Variante moderner Narration wird Musil als Form-Konservierer bzw. ‚Konservativer‘ gehalten, der sich der „traditionellen Formen des Romans“ bedient und „in gar keiner Weise als stilistischer Neuerer auftritt“. Musil lasse, so Blei, „seine Prosa weder grammatikalisch noch syntaktisch divagieren [!] […], gerade weil ja sein Thema das Divagierende [!], Undeutli-
_____________ 657 Vgl. ders.: Robert Musil. In: Erzählung eines Lebens (1930). S. 452–455 und ders.: Robert Musil. In: Zeitgenössische Bildnisse (1940). S. 223. S. Bonacchi/E. V. Fanelli: „Ein nie gesättigtes Verlangen nach Geist …“ (1997). S. 127 sehen im Musil-Porträt der Zeitgenössischen Bildnisse (1940) nur „eine revidierte Fassung des in Erzählung eines Lebens veröffentlichten.“ 658 Vgl. F. Blei: Robert Musil. In: Erzählung eines Lebens (1930). S. 457. 659 Ders.: Robert Musil. In: Zeitgenössische Bildnisse (1940). S. 223. 660 Ders.: Marginalien zur Literatur (1935–37). S. 100; vgl. den leicht abgewandelten Aphorismus in ders.: Robert Musil. In: Zeitgenössische Bildnisse (1940). S. 226: „Auch Musil ‚erklärt‘ nicht. Er begibt sich niemals aus seiner textlichen Gebundenheit heraus, um den Text zu analysieren. Sondern er dechiffriert den Text […] nervöses Gewebe.“ 661 Vgl. S. Bonacchi/E. V. Fanelli: „Ein nie gesättigtes Verlangen nach Geist …“ (1997). S. 129. 662 F. Blei: Robert Musil. In: Zeitgenössische Bildnisse (1940). S. 224f. 663 R. Musil: Literat und Literatur (1931) (GW II, 1207). 664 Ebd. S. 1210f. 665 Ebd. S. 1207.
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che, Irisierende ist“.666 Und Blei zeigt an der „Mosbrugger“[!]-Figur, der er das unaussprechlich „Mystische konzediert“, wie der Romanautor Musil „die äusserste Grenze des überhaupt nicht mehr Mitteilbaren“ im wittgensteinschen Sinne ‚aufzeigt‘. Das ‚Irisierende‘ aber, das „gegen- oder zuständlich Irrationalste“,667 das bei Musil Thema des rationalen Schreibvorgangs sei,668 erinnert wiederum an jenes „vom Prisma gebrochene[ ] Sonnenlicht“ der „ultravioletten Strahlen“, mit denen Georg Lukács nicht die essayistische Form selbst, sondern „die Schriften der Essayisten“ verglichen hat.669 Ist in Bleis Autobiographie Erzählung eines Lebens (1930) die Person Musil im Verhältnis zum geschaffenen Werk noch mit Albert Einstein und Ludwig Wittgenstein verglichen worden,670 so stellt Blei ihn in den Zeitgenössischen Bildnissen (1940) in die Reihe der französischen Moralisten, jener „illustren Beispiele dieser Meister des innerlich schwebenden Lebens“,671 die hier – abweichend von Musils Prätext672 und die erotische und abenteuerliche Komponente betonend – auch die „Versucher“ genannt werden. Hatte Blei den Ungarn Georg Lukács 1912/13 im Losen Vogel emphatisch begrüßt: „Zu den ganz wenigen Essayisten, die wir in Deutschland besitzen, ist ein vollwertiger neuer gekommen“,673 so würdigt er nun den österreichischen Romancier: „In Robert Musil bekamen die Deutschen einen grossen Moralisten.“674 Einem erneuten ‚Ägrieren‘675 seines essayistischen Objekts jedoch scheint das essayistische Subjekt dadurch vorbeugen zu wollen, dass es dessen Unvergleichlichkeit hervorhebt: „so schliesst dieses allgemeine
_____________ 666 F. Blei: Robert Musil. In: ders.: Zeitgenössische Bildnisse (1940). S. 224f.; vgl. hierzu auch die Umkehrung in R. Musil: Brief an Johannes von Allesch vom 15. 3. 1931: „Sie [Proust und Joyce] schildern etwas Aufgelöstes, aber sie schildern eigentlich gerade so wie früher, wo man an die festen Konturen der Dinge geglaubt hat.“ (BR I, 504) 667 F. Blei: Robert Musil. In: ders.: Zeitgenössische Bildnisse (1940). S. 225; vgl. hierzu R. Musil: Literat und Literatur (1931), wo in markierter Referenz auf Ernst Kretschmers Medizinische Psychologie (1922) das Bewusstsein als „Ausnahmezustand des Seelischen“ kennzeichnet wird: „daß sich nicht nur der zuständliche, sondern auch der gegenständliche Zusammenhang unserer Vorstellungen zwischen allen Graden des ‚Sphärischen‘ und des eindeutig Begrifflichen befindet.“ (GW II, 1214) Hervorhebung v. B. N.). 668 F. Blei: Robert Musil. In: ders.: Zeitgenössische Bildnisse (1940). S. 225. 669 G. Lukács: Über Wesen und Form des Essays (1911). S. 15. 670 Vgl. F. Blei: Robert Musil. In: Erzählung eines Lebens (1930). S. 456. 671 Ders.: Robert Musil. In: Zeitgenössische Bildnisse (1940). S. 224. 672 Vgl. R. Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. 1. Buch (1930) (MoE I, 253). 673 F. Blei: Bücher, die empfohlen seien. In: Der Lose Vogel (1912). H. 1. S. 37. 674 Ders.: Robert Musil. In: Zeitgenössische Bildnisse (1940). S. 224. 675 Vgl. R. Musil: Brief an Franz Blei vom 4. 6. 1935 (BR I, 647).
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VIII. Essayismus als Intertext – Robert Musil und Franz Blei
Urteil den Vergleich mit andern Leistungen anderer Prosa ein und sagt das Bestimmte, nur Musil Zukommende eigentlich nicht aus, sozusagen die Erst- und Einmaligkeit Musils.“676 Am Ende wird allerdings wieder das Musil zu- oder von Musil „her Gedachte“ doch noch „auf Gütersloh und Broch verteil[t]“,677 wenn im unmittelbar anschließenden P. GüterslohKapitel von „Robert Musil, Gütersloh, Hermann Broch“ als den „drei repräsentativen Gestalten der neuen deutschen Dichtung“ die Rede ist.678
_____________ 676 Ebd. S. 223. 677 Vgl. R. Musil: Brief an Franz Blei vom 4. 6. 1935 (BR I, 646). 678 F. Blei: P. Gütersloh. In: ders.: Zeitgenössische Bildnisse (1940). S. 232.
IX. Methodologische Zwischenbemerkung Dieser asymptotische Abbau, durch den allein wir die seelischen Kraftstoffe dauernd unserm Geist assimilieren, ist der menschliche Zweck des Kunstwerks, seine Möglichkeit dessen Kriterium.1 (Robert Musil) […] wenn eine andere Person das Persönliche des Künstlers oder Werks in sich aufnimmt, so geht es nicht anders zu als bei der Nahrungsaufnahme: Abbau in Elemente und deren Assimilation.2 (Robert Musil) So könnte man wahrscheinlich welchen Schriftsteller immer ‚zerlegen‘ (und zwar sowohl formal wie gegenständlich oder auch dem angestrebten Sinn nach) und würde nichts in ihm finden als seine zerstückelten Vorgänger, die keineswegs völlig ‚abgebaut‘ und ,neu assimiliert‘ sind, sondern in unregelmäßigen Brocken erhalten geblieben.3 (Robert Musil)
Aus den exemplarisch an Franz Blei und Robert Musil herausgearbeiteten Vertextungs- und Publikationszusammenhängen – von der Anregung, Erläuterung, Diskussion, Widmung, Edierung, Ergänzung, Änderung, Umschreibung über die Kommentierung, Kritik und Dialogisierung bis hin zur Übernahme, Überschreibung und Fortschreibung – ergibt sich der textdeskriptive Befund der Metatextualität (und vice versa). Mit der bewusst gesuchten Nähe bzw. Hinwendung zu den (Primär-)Texten und ihren sekundären, tertiären, metatextuellen wie selbstreflexiven Folgetexten sind die in der Intertextualitätsdebatte vorgeschlagenen disjunktiven Begriffs-Nomenklaturen vielfach umgangen worden. Dabei geht es nicht – gewissermaßen als methodologische Fiktion eines Rückgriffs auf den Text – darum, die Berechtigung der literaturwissenschaftlichen Begriffsbildung generell anzuzweifeln. Vielmehr sind viele
_____________ 1 2 3
R. Musil: Über Robert Musil’s Bücher. In: Der Lose Vogel. Nr. 7, Januar 1913 (GW II, 995–1002, hier 1000). Ders.: Der „Untergang“ des Theaters. In: Der Neue Merkur, Juli 1924 (GW II, 1116– 1131, hier 1130). Ders.: Literat und Literatur. Randbemerkungen dazu. In: Die Neue Rundschau, September 1931 (GW II, 1203–1227, hier 1206f.).
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IX. Methodologische Zwischenbemerkung
der Beobachtungen gar nicht denkbar ohne ein Textbeschreibungsmodell, welches ungleich distanzierter und somit ‚wertfreier‘ – als beispielsweise die erkenntnisleitende Frage nach der jeweiligen ‚Beeinflussung‘ – Zusammenhänge zwischen Texten (bzw. deren Autoren) erkennbar und beschreibbar macht. In der vorliegenden Studie wird versucht, methodisch zwischen Skylla und Charabdis hindurchzuschiffen. Auf der einen Seite soll der Schwierigkeit, in dem ineinander verschwimmenden bzw. miteinander verketteten Gebiet der Textreferenzen (Stichwort „Zitatenteich“)4 sowohl distinktiv wie disjunktiv zu verfahren, nicht durch gesteigerte Abstraktion ausgewichen werden. Auf der anderen Seite sollten trotz der Einbeziehung eines größeren (und somit auch unschärferen) Untersuchungsbereichs die Ergebnisse nachvollziehbar an den untersuchten Texten selbst gewonnen und zugleich die Analyseinstrumentarien expliziert werden. Der Versuch, die jeweiligen Kapitel zur Theorie und Praxis des Essayismus so weit wie möglich terminologisch zu entlasten, erübrigt jedoch keineswegs die Differenzierung verschiedener Ebenen der intertextuellen Textverflechtungen – erstens zwischen Robert Musil und Franz Blei, zweitens Musil und Georg Lukács und drittens Blei und Lukács.5 Systematisch sind vier Ebenen voneinander zu unterscheiden: a) die Ebene der durch Intertextualitätssignale markierten6 Interferenz der Texte im hetero-intertextuellen Verhältnis (z. B. Musil – Blei, Blei – Musil) b) die Ebene der textuellen Selbstreflexion bzw. Metatexualität im autointertextuellen Verhältnis (z. B. Musil – Musil, Blei – Blei) c) die Ebene der ‚Implikativität‘ (als Mitgemeintes bzw. Mitgedachtes) des ‚Subtextes‘7 (z. B. Lukács)
_____________ 4 5 6 7
Ebd. S. 1206. Der Verflechtungszusammenhang der Texte komplizierte bzw. potenzierte sich entsprechend, wenn zu den hier aufgeführten Autoren (Musil, Blei, Lukács) noch Simmel, Balázs und Broch hinzugefügt würden. Vgl. hierzu U. Broich: Formen der Markierung von Intertextualität. In: Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Hrsg. v. U. B. /M. Pfister. Tübingen 1985. S. 31–48, hier S. 31. Vgl. hierzu R. Lachmann: Ebenen des Intertextualitätsbegriffs. In: Das Gespräch. Hrsg. v. K. Stierle/R. Warning. München 1984. S. 138, welche unterscheidet zwischen: 1. „Die Abbildung der Interferenz der Texte, d. h. die signalisierte, markierte Intertextualität, 2. die textuelle Selbstreflexion, d. h. die Metatextualität, 3. die die Implikativität, das Mitverstandene, d. h. der Subtext, 4. die Vorläufigkeit, Implizierbarkeit, d. h. Prätextualiät (eigentlich Subtextualität in futuro), 5. die Selbst-
IX. Methodologische Zwischenbemerkung
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d) der Ebene des ‚Architextes‘,8 das heißt der Gattungs- bzw. Systemreferenzen (z. B. Essay). Auch wenn es ebenso hilfreich wie unumgänglich ist, sich diese Unterscheidungen bei der Analyse der Texte und ihrer (Inter-)Relationen zu vergegenwärtigen: angesichts der unhintergehbaren Inkongruenz zwischen den herausgearbeiteten Textverflechtungen einerseits und ihrer begrifflichen „Pilotierung“9 andererseits wird hier gegenüber der begrifflichen Abstraktion und theoretischen Systematisierung dem Ordnen der einzelnen Textbeobachtungen sowie der Konstruktion ihres Zusammenhangs Vorrang eingeräumt. Durch diese methodische Einschränkung bzw. durch den weitgehenden Verzicht auf terminologische Binnendifferenzierungen, welche zugleich auch der Lesbarkeit bzw. Verständlichkeit dienen sollen, öffnet sich jedoch auch das Untersuchungsspektrum. So hat das Kapitel VIII. Essayismus als Intertext – Robert Musil und Franz Blei gezeigt, dass der Komplexität der essayistischen Vertextungszusammenhänge nicht durch die ausschließliche Fokussierung auf die als Intertextualität markierte bzw. mit deutlichen Intertextualitätssignalen versehene Interferenz der Texte beizukommen ist. Vielmehr lässt sich nicht mehr grundsätzlich, sondern allenfalls graduell zwischen auto-intertextuellen Referenzen (als Bezüge zwischen Texten eines Autors) und hetero-intertextuellen Referenzen (als Bezüge zwischen Texten verschiedener Autoren)10 unterscheiden. Wenn es möglich oder gar erforderlich erscheint, den unter dem anderen bzw. ‚fremden‘ Autornamen (Blei) publizierten Text als Textvariante oder gar Ausgabe letzter Hand des ‚ei(ge)nen‘ Autors (Musil) in Betracht zu zie-
_____________ überschreitbarkeit, d. h. die Transtextualität.“ Das Verhältnis von manifest-markiertem Text und implizit-unmarkiertem Subtext wird hier weder als Unterscheidung ‚bewusst‘ vs. ‚unbewusst‘ gedacht noch als verborgen-latenter Sinngehalt, sondern als Textrelation im Sinne eines Palimpsests, bei dem der überschriebene Text nur fragmentarisch zwischen dem Überschreibungstext sichtbar bleibt. Es wird hier mit C. Grivel (Serien textueller Perzeption. Eine Skizze. In: Dialog der Texte. Hrsg. v. W. Schmid/W.-D. Stempel. Wien 1983. S. 57) davon ausgegangen, dass sich „die Beziehungen der Texte untereinander […] nicht primär auf der explizierten Ebene des Diskurses“ abspielen. Beim ‚Subtext‘ handelt es sich zudem nicht um eine Eigenschaft des Textes ‚an sich‘, sondern vielmehr um eine (Beobachter-)Konstruktion auf der Ebene der Textanalyse. 8 G. Genette: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Frankfurt a. M. 1993. S. 13f. 9 R. Musil: Skizze der Erkenntnis des Dichters. In: Summa 1918 (GW II, 1025–1030, hier 1027). 10 Vgl. S. Holthuis: Intertextualität. Aspekte einer rezeptionsorientierten Konzeption. Tübingen 1993. S. 44f.
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IX. Methodologische Zwischenbemerkung
hen,11 da sich der (Prä-)Text, auf den sich die hetero-intertextuellen Referenzen bzw. ‚feindlichen‘ Text(-Teil-)Übernahmen beziehen, selbst nicht oder nur in Teilen publiziert worden ist,12 besitzt selbst das Unterscheidungskriterium der Erstpublikation hinsichtlich der Unterscheidung zwischen Prä- bzw. Referenztext und Folge- bzw. Phänotext13 kaum mehr als heuristischen Wert. Dennoch gibt diese Studie nicht den Anspruch auf, die hier aufgedeckten Textrelationen nicht nur beschreibbar, sondern zugleich auch terminologisch differenzierbar zu machen. Dabei versteht sich die Analyse der inter- bzw. metatextuellen Interferenzen als Teil einer allgemeinen Kommunikationstheorie. Intertextualität im Allgemeinen wie Metatextualität im Besonderen werden als Vertextungsverfahren (‚Schreibweisen‘) verstanden, deren Oberbegriff nicht der Systembegriff ‚Text‘, sondern der Prozessbegriff ‚Interaktion‘ bzw. ‚Kommunikation‘ ist.14 Der in Bezug auf die beiden methodischen Lager Handlungs- und Systemtheorie erfolgte Vermittlungs- bzw. Synthetisierungsversuch S. J. Schmidts ist um das der Texttheorie zu erweitern.15 Grundlegend für den hier betrachteten Zusammenhang ist nicht die Frage nach dem Subjektstatus der Kommunikation (Text vs. Autor), sondern die Frage nach deren Beobachterstatus. Im Hinblick auf den Untersuchungsgegenstand ‚Intertextualität‘ bzw. ‚Metatextualität‘ lassen sich demnach drei Kommunikationsebenen unterscheiden:
_____________ 11 Vgl. R. Willemsen: „Man nimmt Franz Blei zu leicht!“ – Robert Musil und „Das große Bestiarium der Literatur“. In: Robert Musil und die kulturellen Tendenzen seiner Zeit. Hrsg. v. J. Strutz in Verbindung mit J. Strutz. München/Salzburg 1983. S. 120–130, hier S. 125. 12 Vgl. hierzu F. Blei: Von der geistigen Ernährung durch Intuition. In: ders.: Das große Bestiarium der Literatur (1924) und R. Musil: Geist und Erfahrung. Anmerkungen für Leser, welche dem Untergang des Abendlandes entronnen sind. In: Der Neue Merkur, März 1921 (GW II, 1042–1059). 13 Zu alternativen Begriffsvorschlägen zwischen alludierendem und alludiertem Text bzw. Referenz- und Phänotext etc. vgl. R. Lachmann: Ebenen des Intertextualitätsbegriffs (1984). S. 136 sowie J. Helbig: Intertextualität und Markierung. Untersuchungen zur Systematik und Funktion der Signalisierung von Intertextualität. Heidelberg 1996. S. 76. 14 Vgl. hierzu auch J. Kristeva: Bachtin, Das Wort, der Dialog und der Roman (1967/72). In: Zur Struktur des Romans. Hrsg. v. B. Hillebrand. Darmstadt 1978. S. 388–408, hier S. 395: „So bezeichnet der bachtinsche Dialogismus die Schreibweise zugleich als Subjektivität und als Kommunikativität, oder besser gesagt, als Intertextualität.“ 15 S. J. Schmidt: Art. ‚Kommunikationstheorie‘. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Hrsg. v. A. Nünning. 3. akt. u. erw. Aufl. Stuttgart/Weimar 2004. S. 337–340.
IX. Methodologische Zwischenbemerkung
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A. Ebene der Kommunikation (= Intertextualität auf der Objektebene) = Kommunikation über ein Objekt, einen Inhalt; wobei die Präposition (der Aussageinhalt) als Teil bzw. Aspekt eines kommunikativen Aktes bekanntlich nicht nur Aussagen über das Objekt, sondern immer auch über das Subjekt der Aussage enthält. Zu unterscheiden ist auf dieser Analyseebene zwischen: 1. der ‚Intratextualität‘ = innertextuelle Referenz eines Textes auf denselben Text desselben Autors16 und 2. der ‚Intertextualität‘ = außertextuelle Referenz auf Texte desselben Autors oder anderer Autoren.17 Auf dieser Ebene kann mit S. Holthuis18 differenziert werden zwischen: a) Auto-Intertextualität (als Bezüge zwischen Texten eines Autors)19 und b) Hetero-Intertextualität (als Bezüge zwischen Texten verschiedener Autoren).20 B. Ebene der Metakommunikation I (= Metatextualität auf der Objektebene) = Kommunikation der Kommunikation bzw. kommunikativer Akt, der sich selbst zum Gegenstand wird, sich also selbst kommentiert, reflektiert u. s. f. Diese ‚Kommunikation der Kommunikation‘ kann sich vollziehen: 1. als explizite Thematisierung von Aspekten der aktuellen Kommunikation durch die Kommunikationsteilnehmer (= teilnehmende Beobachtung) und/oder
_____________ 16 Übersetzt in die Terminologie G. Genettes (Paratexte: das Buch vom Beiwerk des Buches. Frankfurt/New York 1989. S. 12) handelt es sich hier um den ‚auktorialen Peritext‘, der Titel, Vorwort, Kapitelüberschriften wie Anmerkungen umfassen kann. 17 Hierzu gehören auch die von G. Genette: Paratexte (1989). S. 328 als ‚Epitext‘ bezeichneten „paratextuelle[n] Elemente“, die „nicht materiell in ein und demselben Band als Anhang zum Text“ stehen: „Der Ort des Epitextes ist also anywhere out of the book, irgendwo außerhalb des Buches […].“ Vgl. ebd. S. 329: „Irgendwo außerhalb des Buchs, das können zum Beispiel Zeitungen und Zeitschriften sein, Rundfunk- oder Fernsehsendungen, Vorträge und Tagungen, lauter öffentliche Auftritte […]. Das können auch Zeugnisse sein, die im Briefwechsel oder im Tagebuch eines Autors enthalten und eventuell für eine nachträgliche, anthume oder posthume Veröffentlichung bestimmt sind.“ 18 S. Holthuis: Intertextualität (1993). S. 44. 19 Ebd. S. 45; in der Terminologie G. Genettes (Paratexte (1989). S. 329): ,auktorialer Epitext‘. 20 S. Holthuis: Intertextualität (1993). S. 45; in der Terminologie Genettes: Paratexte (1989). S. 329: ,allographer Epitext‘.
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IX. Methodologische Zwischenbemerkung
2. als Reflexion auf Kommunikation überhaupt (= Beobachtung des teilnehmenden Beobachters). Zu unterscheiden ist hierbei wiederum zwischen: a) Selbstreflexivität = Reflexion auf die Intertextualität innerhalb desselben Textes oder in anderen Texten desselben Autors c) Metatextualität = Reflexion auf die Intertextualität eines Textes desselben Autors oder anderer Autoren. C. Ebene der Metakommunikation II (= Metatextualität auf der Metaebene)21 = Kommunikation über die Kommunikationsebenen A und B, d. h. deren Beobachtung, Reflexion, Beschreibung und Analyse auf der Ebene des literaturwissenschaftlichen Diskurses. Durch die Unterscheidung zwischen der Referenz eines Textes auf einen anderen (Ebene A) und der Reflexion bzw. Kritik oder Kommentierung dieses Textbezuges (Ebene B) kann die Unschärfe zwischen der Bestimmung von ‚Referentialität‘ und ‚Metatextualität‘ im Pfister’schen Modell der Skalierung intertextueller Verweise vermieden werden.22 Auch wird in der vorliegenden Untersuchung weder die Bewusstheit noch die Markiertheit der jeweiligen Referenz als notwendiges Kriterium von Intertextualität gesehen. Bei der Unterscheidung zwischen bewussten und unbewussten intertextuellen Referenzen handelt es sich weder hinreichend noch notwendig um Qualitäten, die Autor oder Text auf der Analysandenebene zugesprochen werden können, sondern vielmehr um Konstruktionen bzw. Zuschreibungen auf der Meta-Ebene der Kommunikations- bzw. (Inter-)Textanalyse. Metatextualität – auf der Kommunikations- bzw. Beobachterebene B (als Metatextualität auf der Objektebene) und C (als Metatextualität auf der Metaebene) – setzt einerseits die Explikation der jeweiligen Textreferenz wie die des Kommentars voraus. Das heißt, nicht die Kommunikation selbst muss sich explizieren bzw. selbst markieren, damit sie untersucht werden kann,23 sondern der Beobachter, Textanalytiker (auf der Ebene B
_____________ 21 Da der literaturwissenschaftliche Diskurs (Ebene C) in dieser Studie selbst nicht zum Gegenstand der Untersuchung gemacht wird, werden nur die Beschreibungs- bzw. Analysekategorien für die Ebenen A und B weiter differenziert. 22 Vgl. M. Pfister: Konzepte der Intertextualität. In: Intertextualität (1985). S. 1–31, hier S. 26f. 23 Vgl. auch M. Pfisters Definition von „Autoreflexivität“ (ebd. S. 27): wenn „ein Autor in einem Text nicht nur bewußte und deutlich markierte intertextuelle Verweise setzt, sondern über die intertextuelle Bedingtheit und Bezogenheit seines Textes in diesem
IX. Methodologische Zwischenbemerkung
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und C), kann die intertextuelle Relation nur reflektieren bzw. kommentieren, wenn sie überhaupt als solche unterschieden, expliziert bzw. markiert worden ist. Ausschlaggebend für den hier verhandelten Zusammenhang ist ebenfalls nicht, ob es sich beim objektsprachlichen Metatext um einen fiktiven Hypertext oder aber einen nicht-fiktiven Metatext handelt.24 Unterscheiden lässt sich dagegen, ob es sich in Bezug auf den externen Kommunikationskontext um eine fiktive Kommunikationssituation handelt (z. B. Kommentierung eines Werther-Zitats in der Hauptversammlung einer Aktiengesellschaft)25 oder nicht (z. B. Angabe von aktuellen Aktienkursen und Analystenbewertungen in einer Theateraufführung) und welchen Fiktionsstatus eine metatextuelle Referenz innerhalb der internen Kommunikationsebene innehat (z. B. Unterhaltung zweier Romanfiguren über Kants Kritik der Urteilskraft). Ein Metatext ist ein Text, der einen anderen Text kommentiert, kritisiert, umschreibt, fortschreibt etc. Entscheidend ist hierbei nicht der quasi-textontologische Status des kommentierenden Textes (fiktiv vs. nicht-fiktiv), sondern die Funktion der kommentierten Textreferenz (Prätext bzw. Binnentext) in Bezug auf den Folge- bzw. ‚Großraumtext‘.26 Der objektsprachliche Begriff der Assimilation,27 der in dieser Studie zum Teil auch metaphorische Verwendung gefunden hat, scheint zwar zunächst gegenüber der üblichen nomenklaturischen Sprachakrobatik des Intertextualitätsbegriffes an Trennschärfe zu verlieren. Der AssimilationsBegriff verspricht jedoch zum einen größere Nähe zum Gegenstandsbe-
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selbst reflektiert, d. h. die Intertextualität nicht nur markiert, sondern sie thematisiert, ihre Voraussetzungen und Leistungen rechtfertigt oder problematisiert.“ Vgl. G. Genette: Palimpseste (1993). S. 15; vgl. ebd. S. 530: „Ein Kant-Pastiche oder eine Versifikation der Kritik der reinen Vernunft wäre sicherlich ein nicht-fiktionaler Hypertext.“ Vgl. hierzu auch R. Musil: Tagebücher Heft 10 (1918–1921): „Man könnte Kants Untersuchung über Raum und Zeit in die Form eines Dialogs auf die Bühne bringen.“ (TB I, 448) Vgl. R. Musil: Ansätze zu neuer Ästhetik. Bemerkungen über eine Dramaturgie des Films. In: Der Neue Merkur, März 1925 (GW II, 1137–1154, hier 1141f.): „Zitiere leise für dich ein Gedicht in der Generalversammlung einer Aktiengesellschaft, und diese wird augenblicklich ebenso sinnlos werden, wie das Gedicht in ihr ist.“ Vgl. auch ders.: Mann ohne Eigenschaften. 1. Buch (1930): „Er [Arnheim] war berüchtigt dafür, daß er in Verwaltungsratssitzungen die Dichter zitierte […].“ (MoE I, 192) R. Harweg: Pronomina und Textkonstitution. 2. Aufl. München 1979. S. VIIIf. Vgl. R. Musil: Über Robert Musil’s Bücher (1913), S. 1000, ders.: Der „Untergang“ des Theaters (1924), S. 1130, ders.: Literat und Literatur (1931), S. 1206f., aber auch J. Kristeva: Wort, Dialog und Roman bei Bachtin (1967/72). S. 391: „[…] jeder Text baut sich als Mosaik von Zitaten auf, jeder Text ist Absorption und Transformation eines anderen Textes.“ Hervorhebung v. B. N.
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IX. Methodologische Zwischenbemerkung
reich (er ist diesem entnommen); zum anderen ist er auf der Ebene der metatextuellen Konstruktion bzw. metasprachlichen Untersuchung offener, unbelasteter, anschlussfähiger, anschaulicher, umfassender. Er beschreibt einen Vertextungszusammenhang, der sich auf der Ebene der Relation Text – Autor(name) durch Namenlosigkeit (Anonymität), Verwendung eines fremden Namens (Pseudonymität) oder Überschreibung des fremden Textes mit dem eigenen Namen, wörtliche Zitate, gedankliche Übernahmen (Paraphrasen) und inhaltliche Differenzen auszeichnet. Er kann die Apologie des Eigenen28 wie die Rettung des Anderen29 bedeuten, ohne dass das Andere bzw. die (nicht)autorisierte Verwertung des eigenen Textes durch den Anderen wieder zum Eigenen wird. Zugleich aber wird der andere Text dem eigenen assimiliert, absorbiert, einverleibt, angeglichen, analogisiert: er kommentiert dieses Eigene, genauer die Fiktion eines ‚ursprünglichen‘ und eindeutig autorisierbaren Textes, im Prozess der Fortschreibung und Einverleibung gleichsam von innen. Der Befund der Textassimilation wie -transgression lässt sich daher nicht textimmanent, sondern nur textübergreifend, das heißt zwischen den Texten aufzeigen. Er liegt gleichermaßen vor wie jenseits der Unterscheidung zwischen einem (ratioïden) Gebiet der markierten intertextuellen Referenzen, die untersucht werden können, und jenem (nicht-ratioïden) Gebiet unmarkierter Intertextualität auf Einzeltexte wie auf Gattungsreferenzen, das sich – wie der gesamte Bereich textexterner Intertextualität (soziokulturelle Diskurse etc.)30 – den Untersuchungsmethoden wie den Erkenntnisinteressen der Literaturwissenschaft im engeren Sinn entzieht.31
_____________ 28 Zum Beispiel Musils Stück Die Schwärmer (1921) in ders.: Der Schwärmerskandal. In: Das Tagebuch, 20. April 1929 (GW II, 1189–1193); vgl. hierzu das Kapitel X. 1. „Der Schwärmerskandal“ (1929) oder Metakritik als Selbstapologie der vorliegenden Arbeit. 29 Vgl. Musils Ehrenrettung Bleis in ders.: „Literat und Literatur“ (1931). 30 Vgl. hierzu P. Zima: Intertextualität. In: ders.: Textsoziologie. Eine kritische Einführung. Stuttgart 1980. S. 82f.: „Für die Textsoziologie ist der Begriff der äußeren (externen) Intertextualität entscheidend: Er bezieht sich auf die fiktionale Verarbeitung nichtfiktionaler Texte: der Soziolekte und Diskurse, die den gesellschaftlichen Text, die sozio-linguistische Situation ausmachen.“ 31 Vgl. U. Broich: Bezugsfelder der Intertextualität. Zur Einzeltextreferenz. In: Intertextualität (1985). S. 48, der die Bezüge eines Textes auf Konventionen literarischer Gattungen, Mythen, philosophische oder rhetorischer Systeme in den Randzonenbereich der Intertextualität schiebt.
X. Essayismus als Metatext – Fremd- und Selbstkommentare Nicht nur im essayistischen Vertextungszusammenhang zwischen Musil und Blei ist der Vorgang der Textassimilation, der Einverleibung des ‚fremden‘ Textes bzw. ‚fremder‘ Textteile in den ‚eigenen‘ bzw. den mit dem eigenen Namen überschriebenen, zu beobachten. Auch in anderen Texten Musils, in seinen Essays, in den Kritiken, im Roman Der Mann ohne Eigenschaften (1930/32), in den Tagebuchaufzeichnungen und Nachlasstexten reflektiert Musil Intertextualität („Assimilation“) als Verfahren der literarischen Text- und Traditionsbildung. Die Auseinandersetzung mit den eigenen, zeitgenössischen wie literarhistorischen Texttransgressionen konzentriert sich auf die zwei Aspekte: 1.) Die Frage nach der eigenen Beeinflussung durch andere Autoren ist bei Musil eng verbunden zum einen mit dem Versuch der Antizipation möglicher, also zukünftiger Kritik der eigenen Publikationen und zum anderen mit der Reaktion auf tatsächliche Vorwürfe der literarischen Abhängigkeit durch die zeitgenössische Literaturkritik. 2.) Die Technik der Figurengestaltung in Der Mann ohne Eigenschaften im Besonderen sowie die eigene Arbeitsmethode im Allgemeinen zeichnet sich durch Übernahmen, Verflechtungen, Vernetzungen zwischen den einzelnen Texten – den Essays, den Kritiken und dem Mann ohne Eigenschaften – aus. Mit der Frage nach der eigenen Beeinflussung durch andere Autoren/Texte bzw. nach der eigenen Situierung innerhalb des literarischen Überlieferungs- und Traditionszusammenhangs hat sich Musil immer wieder auseinandergesetzt. Auch hierzu gibt es keinen einzelnen Referenztext, auf den zurückgegriffen werden könnte, sondern nur vereinzelte, meist posthume Randbemerkungen. Öffentliche Auseinandersetzungen mit diesem Aspekt seiner literarischen Produktion und Rezeption hat Musil – mit Ausnahme von Der Schwärmerskandal (1929) – vermieden.
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X. Essayismus als Metatext – Fremd- und Selbstkommentare
1. Der Schwärmerskandal (1929) oder Metakritik als Selbstapologie Der Schwärmerskandal erschien anlässlich der Uraufführung von Musils Stück Die Schwärmer am Berliner Theater unter der Regie von Jo Lherman am 20. April 1929 in Das Tagebuch. Robert Musil hat zuvor vergeblich versucht, dieses nach seiner Einschätzung „schwerste[ ] Theaterverbrechen“,1 von dem er sich öffentlich distanzierte, rechtlich zu verhindern. Es handelt sich bei diesem Essay um eine Selbstapologie Musils angesichts eines ‚fremden‘, stark gekürzten und nach Einschätzung des Autors falsch besetzten Bühnentextes. ‚Bei Gelegenheit von‘2 – hier der nicht autorisierten – Schwärmer-Inszenierung wird die allgemeine dramaturgische Unterscheidung zwischen einem „schöpferischen“, einem „wachsende[n]“3 und ‚geistreichen‘ Theater einerseits und einem sich im Kreis drehenden bzw. geistig stillstehenden, bloß „illustrativen“4 Theater andererseits getroffen. Zugleich ist der Text aber auch eine Kritik der Kritik, das heißt eine Anti- bzw. Meta-Kritik der Premieren-Kritiken. Bemerkenswert ist – im Vergleich mit den übrigen Essays Robert Musils – die Häufigkeit der Verwendung des Personalpronomens der ersten Person Singular wie die explizit selbstapologetische Tendenz. Dabei geht die Berufung auf die Textsorte Theaterkritik mit der ausdrücklichen Nichtachtung ihrer Diskursregeln einher: „Ich weiß, daß man auf eine Kritik nicht unmittelbar erwidern soll; es ist das gar keine üble Gepflogenheit in unserem Beruf, eine Art Geschäftsordnung […]. Aber diesmal befinde ich
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R. Musil: Brief an Franz Blei vom 30. 3. 1929 (BR I, 445). Musil bittet Franz Blei der Premiere beizuwohnen: „[…] gehen Sie bitte hin und beschreiben Sie mir kurz den Eindruck, der ja voraussichtlich jämmerlich sein wird.“ Vgl. auch ders.: Brief an Franz Blei vom 26. 4. 1929: „Von Ihrem Brief, worin Sie mir bestätigen, daß die Aufführung dem Stück geschadet hat, werde ich, Ihre Erlaubnis voraussetzend Gebrauch machen, wenn es, wie ich annehme, zum Prozeß gegen den D[rei] M[asken] Verlag kommt.“ (BR I, 446f.) Vgl. G. Lukács: Über Wesen und Form des Essays. Ein Brief an Leo Popper. In: ders.: Die Seele und die Formen. Essays (1911). Neuwied/Berlin 1971. S. 7–32, hier S. 27. R. Musil Der Schwärmerskandal. In: Das Tagebuch, 20. April 1929 (GW II, 11891193, hier 1192). Ebd. S. 1191: „In dieser illustrativen Kunst ist natürlich eine Menge Spielraum für persönliches Talent, Schönheit, Gesinnung usw. gegeben, aber der Geist dreht sich auf ihre Weise doch immer nur im Kreis. Es wird nicht verändert, sondern nur frisiert. Die Probleme des Lebens werden angerührt, umgerührt, aber nicht aufgerührt.“ Vgl. hierzu auch G. Lukács: Gedanken zu einer Ästhetik des Kinos (1913). In: ders.: Schriften zur Literatursoziologie. Hrsg. v. P. Ludz. Frankfurt a. M. [u. a.] 1985. S.75– 81, hier S. 79f., der vom neuen Medium Film eine katalysierende Wirkung hinsichtlich einer Polarisierung Drama des Amüsements („Unterhaltungsliteratur der Bühnen“) einerseits und dem ‚eigentlichen‘ Sprechdrama andererseits erwartet.
1. Der Schwärmerskandal (1929) oder Metakritik als Selbstapologie
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mich in einer besonderen Lage, denn es ist gar nicht mein Stück, wovon gesprochen wird, und also darf ich wohl mitreden?“5 Der Autor kann sich öffentlich in eigener Sache und mit rechtfertigender Absicht zu der Aufführung der Schwärmer äußern, da der inszenierte Folgetext nicht auf den durch ihn autorisierten Prätext, sondern auf eine intermediale Konstruktion des Regisseurs Jo Lherman referiert. Die Doppelrede des essayistischen Diskurses beruht auf der Distanzierung des Autors des Schwärmerskandals (1929) (= Robert Musil) von dem Autor des Bühnentextes der Schwärmer (1929) (= Jo Lehman) sowie einer Identifizierung des textexternen Autors der Schwärmer (1921) mit dem textinternen essayistischen Ich: „es ist ja gar nicht mein Stück, wovon gesprochen wird, und also darf ich wohl mitreden?“6 Musil bezieht sich in seinem Metatext der Schwärmer-Inszenierung bzw. in seiner Metakritik der Kritik der Theateraufführung u. a. auf den in der Berliner Börsen-Zeitung gehandelten Vorwurf der Textassimilation: „Wichtiger ist mir, daß Herr Lherman es wieder einmal an den Tag gebracht hat, daß ich von Wedekind abhänge, von Schnitzler, von Shaw.“7 Dabei spielt das essayistische Ich, das zu bedauern vorgibt, dass man den genannten erfolgreichen Bühnenautoren einen „so schlechten Schüler ‚anlastet‘ wie mich“, den Ball zunächst dem Regisseur zu („ich vermute zwar danach, daß Herr Lherman in seiner Auffassung von diesen Vorbildern abhing“), um ihn schließlich an die Kritiker zurückzuspielen: „aber ich muß hinzufügen, daß auch einige Kritiker es zu tun scheinen, denn dieser Vorwurf wird mir nicht zum ersten Mal gemacht.“8 In gespielter Naivität und uneigentlicher Rede wird der Vorwurf der literarischen Abhängigkeit von der Ebene des objektsprachlichen Diskurses (SchwärmerText) auf die Ebene der metasprachlichen Konstruktion gebracht: „Es scheint mir, daß die Ursache der vermeintlichen Ähnlichkeit eher in den Köpfen meiner Kritiker liegt. Bekanntlich nennt ein Kind alle Männer Papa.“9
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R. Musil: Der Schwärmerskandal (1929). S. 1189. Ebd. Ebd. S. 1191; Musil bezieht sich hier auf den folgenden Ausschnitt: „[…] ein verworrenes Gemisch von unverdauten Ibsen-, Strindberg-, Schnitzler-, Wedekind-Resten.“ zit. nach A. Frisé (GW II, 1824). R. Musil: Der Schwärmerskandal (1929); vgl. ders.: Brief an Josef Nadler vom 1. 12. 1924: „Daß ich je von Shaw, oder gar Wedekind, Kaiser, Sternheim beeinflußt worden sei, konnten vom Vinzenz nur solche Kritiker behaupten, welche von meinen übrigen Büchern keine Ahnung haben.“ (BR I, 368) Ders.: Der Schwärmerskandal (1929) (GW II, 1190); vgl. auch ders.: Franz Blei – 60 Jahre. In: Der Wiener Tag, 17. Januar 1931 (GW II, 1199–1203, hier 1200. Musil
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X. Essayismus als Metatext – Fremd- und Selbstkommentare
2. Der Fall Hauptmann und der Fall Brociner: Satanische Perversion und „Leichenschändung“ Musil, der sich zu seinen eigenen literarischen Vätern öffentlich kaum geäußert und eher Wert darauf gelegt hat, seine naturwissenschaftlichtechnische Abstammung zu betonen, kennzeichnet in publizierten Kurztexten, Kritiken und Glossen aus der Zeit vor dem Schwärmerskandal (1929) den Vorgang der Textassimilation wiederholt, und eher beschreibend als wertend, als allgemeines literarisches Phänomen. Bei Gelegenheit seiner am 15. Februar 1922 in der Prager Presse veröffentlichten Kritik der Wiederaufführung von Gerhart Hauptmanns Komödie Schluck und Jau geht Musil ausführlicher auf Intertextualität als Verfahren der Text- wie Traditionsbildung ein. Dabei nimmt er den „derzeit repräsentativen Dichter unserer Nation“ scheinbar, das heißt mit unverkennbarer Ironie, gegen den Vorwurf, das gespielte Drama „sei ein Werk geschwächter Schöpfungskraft, ein Zwischendurch-Erholungswerk“, in Schutz. Sowohl Handlung wie Sprachstil seien zwar von Shakespeare entlehnt, doch diese Übernahmen sprächen weder gegen die Originalität Hauptmanns noch gegen die Größe seiner Kunst: „Die Fabel […] ist bekanntlich entnommen. Shakespeare. Aber Shakespeare hat sie wahrscheinlich selbst entnommen […]. Und bei den Chinesen malt einer vom anderen ab; durch Jahrhunderte; es gibt nur die Abwandlung die Flexion; dennoch ist die Kunst manchmal erschütternd groß.“10 In seiner janusköpfigen Ehrenrettung Hauptmanns kennzeichnet der Anthropoetaphage Musil das Verhältnis von Prätext und assimilierendem Text vielmehr generell als eines der Nachahmung: „Der Succubus ahmt den Incubus nach“.11 Das doppelt transvestierte Bild des Teufels in weiblicher Gestalt, welcher den Buhlteufel der Hexe nachahmt, überführt hier den Textbefund der Assimilation aus dem Bildbereich der Nahrungs- und Verdauungskette in den der erotisch-magischen Anziehung und Kopulation. Was Hauptmann vorgeworfen wird, ist allerdings nicht in erster Linie die Reproduktion des Inhalts, sondern die Kopie des Stils, welche „für die
_____________ zeichnet hier das Blei-„Bild eines unehelichen Patriarchen, der seine Kinder um sich versammelt hat“: „Er hat ihrer Ausbildung keine große Sorgfalt angedeihen lassen, und sie lohnen es ihm damit, daß sie nicht mit jedem zweiten Wort Papa zu ihm sagen. Es herrscht ein anmutig lockeres Verhältnis zwischen Blei und seinen Werken […].“ 10 Ders.: Schluck und Jau. In: Prager Presse, 15. Februar 1922 (GW II, 1549–1551, hier 1550). 11 Ebd.
2. Der Fall Hauptmann und der Fall Brociner
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Flexion nur de[n] Platz am Rande“ lasse: „Es ist das selbstverständlich kein Abschreiben, sondern ein Nachschreiben, ein An-Denken, ein ehrendes Andenken.“ Spätestens hier schlägt mit der Supposition – „Wahrscheinlich mit der Illusion freier Erfindung“ – das Lob auf die stilbildende Kraft der Nachahmung in eine Kritik Hauptmanns um, da das im Bereich der Literatur ‚epidemisch‘ Auftretende12 sich bei diesem nicht nur unmarkiert, sondern – so die Unterstellung – auch unreflektiert äußere. In seiner Werfel-Kritik, die einen Monat später in der Prager Presse erscheint, wird wiederum am Beispiel Hauptmanns die sexuelle Konnotation des ‚Empfangens‘ mit der der flüssigen Nahrungsaufnahme sowie dem Suchtmotiv verbunden: „abgesehen von Zufällen, die hineinspielen können, hat Hauptmann nicht selten einen viel tieferen Ehrenschluck (und Jau zum Beispiel) in memoriam Shakespeare getan, und Shakespeare seinerseits war geradezu ein Gewohnheitstrinker aus italienischen Novellen; man kann dies nur sehr indirekt als Maß der Originalität verwenden und nur in Zusammenhang mit anderen als diagnostisches Merkmal.“13 Die „Frage der Grenze, des Ausmaßes“ im Verhältnis von Originalität und Nachahmung, Dichter-Original und Epigonen, scheint sich dem KritikerIch nicht zu stellen. Vielmehr bindet dieses das Verhältnis der Texte (Intertextualität) auf das der Autoren (Dialogizität) zurück: „Sich hineinversetzen ist die eine Hälfte der Dichtung; welchen Unterschied macht es dabei aus, ob man sich in fremde Menschen hineinversetzt oder in fremde Dichter? Die andere Hälfte ist das Gegenteil: In sich hineinversetzen, Wille, Sinngebung“.14 Der andere Text, die vorgängigen Texte sollen – so Musil – nicht ‚abgeschrieben‘ bzw. als „An-Denken“15 konserviert werden, sondern fortgeschrieben, gedeutet, ausgeweitet.16 Und der Kritiker, der drei Jahre später in seinem Balázs-Essay die Gleichzeitigkeit von Erlebnis und Reflexion zum Paradigma der Kunstkritik erheben wird,17 gibt den
_____________ 12 Ebd. 13 Ders.: „Bocksgesang“ von Franz Werfel: In: Prager Presse, 15. März 1922 (GW II, 1557–1561, hier 1558). 14 Ders.: Schluck und Jau (1922) (GW II, 1550); vgl. hierzu auch die fast wörtliche Übernahme in ders.: „Bocksgesang“ von Franz Werfel (1922): „Denn Sich-hineinversetzen ist die eine Hälfte der Dichtung, die andere Hälfte ist das Gegenteil: In sich hineinversetzen, Wille, Sinngebung“. 15 Ders.: Schluck und Jau (1922) (GW II, 1550). 16 Vgl. ders.: „Bocksgesang“ von Franz Werfel (1922): „Der Dichter sieht das Nicht er Seiende vor sich, in Bruchstücken, Klängen oder Anklängen: was fängt er damit an? Es beginnt die Deutung, Bindung, Ausweitung.“ (GW II, 1558). 17 Ders.: Ansätze zu neuer Ästhetik. Bemerkungen über eine Dramaturgie des Films. In: Der Neue Merkur, März 1925 (GW II, 1137–1154, hier 1138): „Er [Béla Bálazs] erzählt wie ein Jäger, der sich herangeschlichen hat, vom Leben der Filmstücke, die in
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X. Essayismus als Metatext – Fremd- und Selbstkommentare
„verliebt sein Jagdkostüm“ betrachtenden Dichter gleichsam zum Abschuss frei: „Diese Hälfte ist bei Hauptmann […] schwach entwickelt.“18 Positiver fällt das Urteil zu Gerhart Hauptmann allerdings anlässlich einer Kritik zur Aufführung von Ernst Tollers Drama Der deutsche Hinkemann im Wiener Raimundtheater aus, die Musil am 23. Februar 1924 in der Deutschen Allgemeinen Zeitung rezensiert: „zum ersten Mal seit Hauptmann bewegen sich hier überhaupt wieder Menschen auf der Bühne natürlich, die einen großen Teil unseres Volkes bilden“.19 Auch hier – also bei Toller – findet die Frage nach möglichen intertextuellen Referenzen nicht als „Maß der Originalität“ Verwendung.20 Nicht die auf der Ebene des Metatextes bzw. der Kritik nachweisbare Assimilation (Zitat, Allusion, Übernahme von literarischen Figuren, sprachlichen Wendungen, von Stil und Formen) ist ausschlaggebend, so Musil, sondern deren Zweck, ihre Funktion im Folgetext: „Daß die Figur des Schaubudenbesitzers an Wedekind erinnert (so wie die szenische Rhythmik an Fragmente von Büchner) will gar nichts sagen; solche Figuren sind Gemeingut, es kommt nur darauf an, wozu man sie gebraucht.“21 Die Nomenklatur des Intertextuellen ist um die Unterspezies des Soziotextes als literarische Referenz auf zeitgenössische Sozialtypen, Theorien, Ideologien etc. zu ergänzen. Dieser Kategorie wäre auch der „Schmocking“ tragende Theaterbesucher einzuordnen, eine produktive Wortbildung, mit welcher der Kritiker Musil einen Monat später in der Sammelrezension Stücke aus der Zeit. Wiener dramatisches Allerlei aus zweiter Hand und in literarischer Referenz auf die Figur des Schmock aus Gustav Freytags Lustspiel Die Journalisten (1852) nicht eine Bühnenfigur, sondern einen neuen Parkett-Typus bestimmt: „Ein Freudensgenosse machte den Spaß, daß um solchem Schmaus stilgerecht beizuwohnen, der Smoking
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endlosen Rudeln durch unsere Kinos ziehn, aber beschreibt sie gleichzeitig als erster Anatom und Biologe. Und indem er das tut, immer gleichzeitig im Erlebnis und in der Reflexion, schafft sein ungewöhnliches Talent auf dem wüsten Gebiet der Filmkritik ein unerwartetes Paradigma auch für die Kritik der Literatur […].“ Ders.: Schluck und Jau (1922) (GW II, 1550). Ders.: Ernst Tollers Hinkemann. In: Deutsche Allgemeine Zeitung (Berlin), 23. Februar 1924 (GW II, 1637–1640, hier 1639); vgl. hierzu auch Musils Einschätzung seiner Schwärmer-Figuren in seinem Brief vom 7. 8. 1920 an Erhard Buschbeck: „[…] es sind ja doch wirklich Menschen und Konflikte, die zum erstenmal auf der Bühne stehn […].“ (BR I, 202) Vgl. ders.: „Bockgesang“ von Franz Werfel (1922) (GW II, 1558). Ders.: Ernst Tollers Hinkemann (1924) (GW II, 1639).
2. Der Fall Hauptmann und der Fall Brociner
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nicht genüge, sondern ein neues Gesellschaftskleid erfunden werden müßte: der Schmocking.“22 Zur Eröffnung des Modernen Theaters, zum „‚vornehmen Amusement‘ […] für Menschen in Frack und Abendtoilette“ eingerichtet, wurde Marco Brociners Das Weib ist bitter gegeben. Der – in der Wiedergabe des Kritikers Musil – ebenso postmodern wie metafiktional anmutende Inszenierungstext erfährt die schärfste Ablehnung: „Aristophanes, Sokrates, Platon, Euripides, Schopenhauer, Byron usw.“ ließen sich, so das KritikerIch, „nicht nur in Liebesgeschichten verwickeln, sondern würzten diese auch noch mit Zitaten aus ihren Werken, die man gespenstischerweise am Ende nicht mehr von solchen aus Brociners Werken unterscheiden konnte.“ Die Textassimilation ist hier nicht eine ‚lebendiger Gedanken‘, sondern ein stilvoll gerahmter „Schmaus“ toter Textkörper: „Zuschauer, welche das Ansinnen, einer Leichenschändung beizuwohnen, entsetzt abweisen würden, nahmen an ihr teil, beruhigt durch vertraute Weisheit, die im feuilletönerem Gefäße dazu floß.“ Am Ort dieses „leichten, geschmackvollen und dabei üppigen Vergnügens“ vermisst das Kritiker-Ich nur noch „ein Broad casting“, das „in den Dialogpausen und Zwischenakten dem Jockeiklubpublikum die Kurse vermittelte“.23 Die Differenz zwischen Theater und Börsenkurs, Aktiengesellschaft und Gedichtrezitation24 scheint im „Bühnchen“ bzw. „Theaterchen“25 als Anstalt des „gehandelten Vergnügens“26 aufgehoben. Auch hier bleibt die Haltung des frühen Kritikers der Kulturindust27 rie problematisch. Das dichotomische Kritikerurteil (‚gut‘ vs. ‚schlecht‘, ‚schön‘ vs. ‚nicht schön‘, ‚interessant‘ vs. ,unterhaltsam‘‚ ,echte Dichtung‘ vs. ,bloßer Feuilletonismus‘, ‚Kunst‘ vs. ‚Nicht-Kunst‘ etc.) lässt sich – soviel hat der Vergleich von Musils Metatext zur Intertextualität in den Fällen Hauptmann (bzw. Toller) und Brociner gezeigt – weder durch die Feststellung der Textassimilation als solche noch durch das Zusatzkriteri-
_____________ 22 Ders.: Stücke aus der Zeit. Wiener dramatisches Allerlei. In: Deutsche Allgemeine Zeitung (Berlin), 26. März 1924 (GW II, 1646–1650, hier 1647). 23 Ebd. 24 Vgl. ders.: Ansätze zu neuer Ästhetik (1925) (GW II, 1141f.) sowie ders.: Mann ohne Eigenschaften. 1. Buch (1930) (MoE I, 192). 25 Ders.: Stücke aus der Zeit (1924) (GW II, 1647). 26 Ders.: Der „Untergang“ des Theaters. In: Der Neue Merkur, Juli 1924 (GW II, 1116– 1131, hier 1121). 27 Vgl. M. Horkheimer/T. W. Adorno: Kulturindustrie. In: dies.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente (1947). Frankfurt a. M. 1982 und M. Meister: Robert Musil als früher Kritiker der „Kulturindustrie“. In: Musil-Forum 6 (1980). S. 157–171.
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X. Essayismus als Metatext – Fremd- und Selbstkommentare
um ‚markiert‘/‚unmarkiert‘ begründen, sondern allein durch den Akt des Fortschreibens (Flexion)28 und das Kriterien der Reflektiertheit (Reflexion).
3. „Gleichzeitigkeit bedeutet immer Abschreiben“ oder das Fremde im Eigenen 3. „Gleichzeitigkeit bedeutet immer Abschreiben“ oder das Fremde im Eigenen
Als Metatext zur literarischen Intertextualität lässt sich auch die Glosse Der Malsteller lesen, die Musil 1923 parallel im Prager Tagblatt und im Wiener Der Tag veröffentlicht und später in umgearbeiteter Form unter der Zwischenüberschrift Unfreundliche Betrachtungen in seinen Nachlaß zu Lebzeiten (1936) eingefügt hat. Die Pointe besteht darin, dass am Neologismus des ‚Malstellers‘ das Verhältnis zwischen Schriftsteller und Dichter29 in eine satirische Funktionsgleichung gebracht wird: „Er [der Malsteller] verhält sich zum Maler wie der Schriftsteller zum Dichter.“ Auch hier wird das Verhältnis des Schreibenden zur literarischen Tradition in der Flexion, in der Abweichung, in der Varianz weniger Grundthemen bzw. -stoffe gesehen: „Es leben die Schriftsteller seit Beginn unserer Zeitrechnung von der Umstellung der zehn Gebote Gottes und einigen Fabeln, die ihnen die Antike überliefert hat“.30 Das Verhältnis von Wiederholung und Variation/Flexion wird zum einen mit Mitteln der Wahrscheinlichkeitsrechnung demonstriert und zugleich als literarische Traditionsbildung auf den sozio- wie psychogenetischen Vorgang der sprachlichen Überlieferung zurückgeführt.31 Im 1923 veröffentlichten gleichnamigen auto-intertextuellen Prätext heißt es unter Bezugnahme auf die Interpunktion noch ausführlicher: „niemand in aller Welt kann seine Gedanken von den Punkten, Strichpunkten und Beistrichen samt allen ihren Konsequenzen befreien, von den Worten und der Art, wie seine Zeit das Sprachkleid trägt.“32 Am Beispiel eines nicht näher bezeichneten Goethe-Gedichts – und somit zugleich auf den ‚Dichterfürs-
_____________ 28 Vgl. R. Musil: Schluck und Jau (1922) (GW II, 1550). 29 Das Thema wird in ders.: Literat und Literatur. Randbemerkungen dazu. In: Die Neue Rundschau, September 1931 (GW II, 1203–1227) wieder aufgenommen. 30 Ders.: Der Malsteller. In: ders.: Nachlaß zu Lebzeiten (1936) (GW II, 471–563, hier 509); textidentisch mit ders.: Der Malsteller. In: Prager Presse/Der Tag (Wien), 12. Juli 1923 (GW II, 570–572, hier 570). 31 Ders.: Der Malsteller. In: ders.: Nachlaß zu Lebzeiten (1936) (GW II, 510). 32 Ders.: Der Malsteller (1923) (GW II, 572).
3. „Gleichzeitigkeit bedeutet immer Abschreiben“ oder das Fremde im Eigenen
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ten‘ als Inbegriff des Dichteroriginals referierend33 – wird das vermeintlich Originale bzw. Neue ‚an sich‘ als Funktion eines ‚seinsverbundenen‘34 bzw. zeitgebundenen Rezeptionskontextes verstanden: „Genauer betrachtet, ist es aber gar nicht wahr, daß jedermann schreiben kann; im Gegenteil, niemand kann es, jeder schreibt bloß ab und mit. Es ist unmöglich, daß ein Gedicht von Goethe heute auf die Welt käme, und wenn es durch ein Wunder dennoch geschähe, so wäre das herrliche alte ein anachronistisches, unbegreifliches, ja schlechtes neues Gedicht, und zwar offenbar aus keinem anderen Grund, als weil es von keinem zeitgenössischen Gedicht abgeschrieben ist. Gleichzeitigkeit ist immer Abschreiben.“35 Der rhetorische Flug mit der Zeitmaschine macht deutlich: Auf der Grundlage der allgemeinen – das heißt paradigmatischen wie syntagmatischen – Textassimilation, die selbst das Verhältnis von Anciens et Modernes bestimmt, führt die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen – als Wiederauferstehung36 des alten Originals – nicht zur Wiedererkennung des Neuen, sondern zur Verkennung des Alten. Doch der unausgesprochene Umkehrschluss lautete: Wer nicht aus dem zeitgenössischen „Zitatenteich“37 abschreibt, wird nicht rezipiert. Hieraus folgt in einer unmarkierten Selbstreferenz, „daß der Maler und der Dichter immer der Vergangenheit oder der Zukunft anzugehören scheinen; sie werden immer erwartet oder als ausgestorben beklagt.“38 Und im auto-intertextuellen Folgetext von 1936 wird das von der paradigmatischen auf die syntagmatische Ebene verschobene Rezeptionsbeispiel durch einen eingefügten Nebensatz zur Frage verlängert: „Gibt es eine andere Erklärung für dieses Mysterium, als daß dieses Gedicht von keinem zeitgenössischen Gedicht abgeschrieben erschiene, es sei denn von solchen, die von ihm selbst abgeschrieben sind?“39
_____________ 33 Vgl. ders.: Der Geist des Gedichts. In: ders.: Literat und Literatur (1931) (GW II, 1211–1218). 34 K. Mannheim: Wissenssoziologie (1931). In: ders.: Ideologie und Utopie. 4. Aufl. Frankfurt a. M. 1965. S. 230–239. 35 R. Musil: Der Malsteller (1923) (GW II, 571); Hervorhebung v. B. N. Vgl. ders.: Der Malsteller. In: Nachlaß zu Lebzeiten (1936): „Gleichzeitigkeit bedeutet immer Abschreiben. (GW II, 510). 36 Vgl. hierzu auch ders.: Geist und Erfahrung. Anmerkungen für Leser, welche dem Untergang des Abendlandes entronnen sind. In: Der Neue Merkur, März 1921 (GW II, 1042–1059, hier 1058): „Christus könnte auf die Erde wieder niedersteigen: es ist ganz ausgeschlossen, daß er zur Wirkung käme.“ 37 Ders.: Literat und Literatur (1931) (GW II, 1206). 38 Ders.: Der Malsteller. In: ders.: Nachlaß zu Lebzeiten (1936) (GW II, 511); vgl. ders.: Der Malsteller (1923) (GW II, 572). 39 Ders.: Der Malsteller. In: ders.: Nachlaß zu Lebzeiten (1936) (GW II, 510).
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X. Essayismus als Metatext – Fremd- und Selbstkommentare
Die im Gedankenexperiment vorgenommene Einebnung der zeitlichen Differenz macht den Prätext, das Original, von seinen Folgetexten, den Reproduktionen, ununterscheidbar.40 Hatte Musil in seinem 1923 veröffentlichten Prätext noch den Dichter vom Schriftsteller als denjenigen unterschieden, dem „das Schreiben schwer fällt, weil er irgendwie bloß mit dem Abschreiben nicht auskommt“,41 so entfällt dieser Passus in der späteren Textfassung. Beide Varianten, die von 1923 wie die von 1936, kommen zu der ebenso satirisch bissigen wie larmoyanten Feststellung: „Der Unterschied stellt sich gewöhnlich erst heraus, wenn es zu spät ist.“42 Der Dichter und seine Texte sind also auch hier dasjenige, das bleibt. Das, was an Texten bleibt, ist aber wiederum in erster Linie das, was zitiert, fortgeschrieben, umgeschrieben, das heißt ‚produktiv rezipiert‘ bzw. neu generiert wird.43 Und so heißt es folgerichtig in der Vorbemerkung zum Nachlaß zu Lebzeiten (1936): „Ich habe den Mut, den ich trotzdem in die Zeitbeständigkeit dieser kleinen Satiren setze, schließlich aus einem Satz von Goethe geschöpft, der zu diesem Zweck sinngemäß verändert werden kann, ohne an Wahrheit einzubüßen“.44 Und aus einer Sentenz Jarnos45 wird in Musils Um- bzw. Fortschreibung eine negative Apologie der Kritik: „‚in dem Einen, was schlecht gethan wird, sieht man das Gleichniß von allem, was schlecht gethan wird.‘“46 Der Metatext versucht im
_____________ 40 Vgl. J. L. Borges: Pierre Menard, Autor des „Quijote“. In: ders.: Werke in 20 Bde. Hrsg. v. G. Haefs/F. Arnold. Bd. 5: Fiktionen (Ficciones). Erzählungen 1939–1940. Frankfurt a. M. 1992. S. 35–46. 41 R. Musil: Der Malsteller (1923) (GW II, 572). 42 Ders.: Der Malsteller. In: ders.: Nachlaß zu Lebzeiten (1936) (GW II, 510); vgl. ders.: Der Malsteller (1923) (GW II, 572); vgl. zur Frage der „historische[n] Gerechtigkeit“ auch ders.: Ekletizismus und historische Gerechtigkeit. In: ders.: Aus einem Rapial (1937) (GW II, 822f.). 43 Vgl. ders.: Literarische Chronik. In: Die Neue Rundschau, Juni 1914 (GW II, 1465– 1471, hier 1460): „Was bleibt uns von Büchern? Die Erinnerung.“ Und ebd. S. 1461: „Was bleibt von Kunst? Wir bleiben … Wenige und ungenaue Einzelheiten; biographische Zufälle des Lesers; Wissen um eine große Erschütterung, die so nie wiederkehrt, alles nicht das Entscheidende. Das Eigentliche: Wir, als Geänderte, bleiben.“ 44 Ders.: Vorbemerkung. In: ders.: Nachlaß zu Lebzeiten (1936) (GW II, 474f.). 45 Vgl. J. W. Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden. In: ders.: Werke (Weimarer Ausgabe). I. Abt. 24. Bd. Erster Theil. Viertes Capitel. Weimar 1894. S. 51: „Für den geringsten Kopf wird es immer ein Handwerk, für den besseren eine Kunst sein, und der beste, wenn er Eins thut, thut er alles, oder, um weniger paradox zu sein, in dem Einen, was er recht thut, sieht er das Gleichniß von allem, was recht gethan wird.“ 46 R. Musil: Vorbemerkung. In: ders.: Nachlaß zu Lebzeiten (1936) (GW II, 475); vgl. ders.: Aus einem Rapial (Nachlass): „N[ational]s[ozialismus]. Eine mögliche Form der Kritik: Ihr könnt nichts dafür, Ihr meint es gut, es hat euch etwas geschwant: aber in
3. „Gleichzeitigkeit bedeutet immer Abschreiben“ oder das Fremde im Eigenen
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Schlechten das Gute fortzuschreiben; als ‚Textkritik‘ wie als vertextete Kritik ist er zugleich auch Kritik der schlechten Zeiten wie des Schlechten überhaupt. Mit der Frage nach dem eigenen Stellenwert – im Sinne von Rangfolge, Position und Wertigkeit – innerhalb der paradigmatischen und syntagmatischen Textverkettung scheint sich Robert Musil vor allem nach dem Schwärmerskandal (1929) und im Kontext der Publikation der beiden ersten Bücher von Der Mann ohne Eigenschaften (1930/32) auseinandergesetzt zu haben. Seit dem großen literaturkritischen Essay zum Verhältnis von Originalität und Zitat, Literat und Literatur (1931), verschiebt sich die persönliche Selbstbefragung zu der Frage einer eigenen literarischen Abhängigkeit bzw. Beeinflussung allerdings zusehends in die posthumen Loseblattsammlungen, Tagebuch- und sonstigen Nachlassaufzeichnungen. Dort findet sich auch der Entwurf eines Vorworts zu Der Mann ohne Eigenschaften, der als Paratext zu Der Schwärmerskandal (1929) gelesen werden kann: „Vorwort: Dort, wo von relativer Originalität die Rede ist: / Das Phänomen, daß ein relativ-ganz originaler Schriftsteller – völlig unzugänglich den Durchschnittskritikern – von ihnen verzweifelt in lauter Partikel der Abhängigkeit zerlegt wird – wie es mir passiert ist.“47 Vor allem der Aspekt der nicht bewussten Wiederkehr des fremden Textes im eigenen scheint Musil nachhaltig beschäftigt zu haben. So notiert er beispielsweise in seinem Tagebuch bzw. Arbeitsheft Anfang Januar 1936 anlässlich der zweiten Re-Lektüre von Jens Peter Jacobsens Roman Niels Lyhne (1880), dass er sich nicht an die Handlung als Ganze erinnere, sondern nur an einzelne Szenen, die ihn „als Erinnerung immer begleitet“48 hätten. Und er erkennt im Fremden, dem Prätext, das Eigene wieder: „Als ich diese Stelle las, hatte ich deutlich das Gefühl, sie habe mir an einer bestimmten Stelle eines Buches von mir zum Vorbild gedient, ohne das ich es wusste.“49 Nicht nur zitiert er vergleichend aus beiden Texten,50
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diesem Deutschland, wo die Verleger so schlecht sind wie die Autoren u. das Publikum, nach dieser Demokratie ist es auch nicht anders möglich!“ (GW II, 851) Abgedruckt in (MoE II, 1820). R. Musil: Tagebücher. Heft 30 (1929–1941?) (TB I, 734). Ebd. S. 735. Vgl. das Musil-Zitat aus Niels Lyhne: „Sie sah so jung aus, wie sie so dalag, inmitten des gelben Scheins der Astrallampe, vom Scheitel bis zur Sohle beleuchtet, und es war ein entzückender Widerspruch zwischen dem schönen Halse, der matronenhaften Charlotte Corday-Haube u. den kindlich unschuldigen Augen, dem kleinen offenen Munde mit den milchweißen Zähnen. / Niels schaute sie bewundernd an. / Wie sonderbar es doch ist, dies Sehnen nach dem eignen Ich! Sagte sie – –“ sowie das Auto-Zitat aus Der Mann ohne Eigenschaften. 2. Buch (1932): „Ulrich erinnerte sich, daß sie in einem Kloster erzogen worden war. Sie lag in ihren langen, unten zugebundenen Hosen
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X. Essayismus als Metatext – Fremd- und Selbstkommentare
er kommentiert auch die Verschiebungen zwischen Prätext und der ebenso unmarkierten wie nicht-bewussten Assimilation in Der Mann ohne Eigenschaften:51 „ich glaube, von Abhängigkeit kann wohl kaum noch die Rede sein, weil jedes der beiden Bücher sicher u.[nd] anders gerundet ist. / Ein solches Beispiel ist aber doch recht wunderlich.“52 Bereits 30 Jahre zuvor, in einer Notiz vom 4. Mai 1905, hatte Musil anhand einer Szene aus Niels Lyhne ein Stilideal für die Arbeit am TörleßRoman extrahiert: „Man darf nicht sagen: Das u.[nd] das wird empfunden, sondern man muß irgend etwas erwähnen, etwas möglichst unbeachtetes, wie diese Geräusche in obigem Beispiel, das mit suggestiver Unfehlbarkeit assoziativ den verschwiegenen Gedanken von selbst nahe legt.“53 Bereits am 22. April 1905 hatte Musil in einer ausführlichen Notiz zu Jacobsens Roman Frau Maria Grubbe die synästhetische, ja geradezu narkotisierende Wirkung („zarte Flötenmelodie“, „eine Vision Silber in Blau“) einer Textstelle umschrieben:54 „Hier ist schon nicht mehr ein Mensch dargestellt, sondern das Bildliche an ihm. Ja mehr noch, auch dieses ist wie unter einer sehr weiten Perspektive auf einen Punkt reduziert, und man sieht gleichsam ein Stück der Kurve, nach der sich die Seele bewegt, was man in der gewöhnlichen Nähe niemals erkennt. / Es geht eine sehr seltene Wirkung von dieser einen Stelle des Buches aus. / Von ihr betäubt habe ich
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auf dem Diwan, an dessen Fußende er saß, und die Stehlampe bestrahlte sie gemeinsam, so daß am Fußboden ein großes Blatt aus Licht entstand, auf dem sie sich im Dunkeln befanden. ‚Heute macht das Schicksal eher den Eindruck der übergeordneten Bewegung der Masse‘ meinte er – – “ (TB I, 734); vgl. ders.: Der Mann ohne Eigenschaften. 2. Buch (1932) (MoE I, 722). Vgl. ders.: Tagebücher. Heft 30 (1929–1941?): „Die Situation ist im Hauptbestimmungsstück (Liegen unter einer Lampe, u. zw. ausgestrecktes Liegen – das eine Mal durch ‚vom Scheitel bis zur Sohle‘, das andremal durch ‚langen … Hosen‘ ausgedrückt) offenbar die gleiche. Das Wort ‚Astrallampe‘, mit dem ich noch dazu auch heute keine bestimmte Vorstellung verbinde, kann sich in der Phantasie recht wohl in den Ausdruck eines Raumerlebnisses umgewandelt haben: und auf einem Lichtblatt im Dunkel schwimmen, sollte ein wenig Raumschauders mitklingen lassen, wie man ihn im geläufigsten Fall in einer halbhellen Sternennacht empfindet. (Ich entsinne mich, verschiedene Variationen dieser Stelle versucht zu haben.)“ (TB I, 734) Ebd. Ders.: Tagebücher. Heft 11 (1905–1908?) (TB I, 147); vgl. ebd. S. 149: „Weiters mache ich folgende Notiz über Stil: Die Seele der Menschen soll durch deren Handlungen die Worte nur durchschimmern und nie deutlicher werden als im wirklichen Leben.“ Ebd. S. 144: „Das ist auf Seite 171: ‚Warte nur, warte nur!‘ schrie Marie, ‚ich traf Dich nicht, aber ich werde dich schon treffen,‘ und sie zog eine lange schwere Stahlnadel mit rubinverziertem Knopfe aus ihrem Haar. Diese schwang sie dann wie ein Dolch und eilte langsam trippelnden, fast hüpfenden Laufes auf das Haus zu; es war, als könne sie nicht sehen, denn sie rannte nicht gerade aus, sondern in wunderlich unsicheren Bogen zur Hausthür.‘“
3. „Gleichzeitigkeit bedeutet immer Abschreiben“ oder das Fremde im Eigenen
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für das Andere nur halbes Verständnis.“55 1938 wird Musil noch einmal – anlässlich der dritten Re-Lektüre und wiederum in einer Tagebuchaufzeichnung – auf Jacobsens Roman zurückkommen: „Ich habe gestern abend den Anfang von Niels Lyhne gelesen u.[nd] erinnerte mich schon wieder an nichts mehr!“56 Im Tagebuch Heft 33, in welchem Musil ab 1937 Material für seine (Auto-)Biographie sammelt, findet sich eine Reihe von ebenso selbstreflexiven wie metatextuellen Hinweisen zum Konnex von Eigen- und Fremdtexten. Viele der hier mit arabischen Zahlen und chronologisch, das heißt nach dem Zeitpunkt der Niederschrift geordneten Selbstkommentare lesen sich wie Metatexte zu jener konstruktiv-ironischen,57 also ebenso selbst- wie fremdbezogenen Sentenz aus Der Malsteller (1923), die Musil auch in seinen Nachlaß zu Lebzeiten (1936) wiederaufgenommen hat: „Gleichzeitigkeit bedeutet immer Abschreiben“.58 Doch Musil in seiner Selbstbestimmung als Dichter scheint mit dem bloßen Abschreiben nicht auszukommen,59 denn er setzt sich gleichsam aus der synchronen schriftstellerischen Zeitkoordinate (Abschreiben) auf Null und verortet sich ausschließlich auf der diachronen literarischen Traditionslinie: „Ich habe mich spezif.[isch] dichterisch geöffnet: Dostojewskij, Flaubert, Hamsun, d’Annunzio u. a.: Nicht ein Zeitgenosse ist darunter gewesen! 20–100 Jahre früher haben sie geschrieben!“60 Und obgleich Musil anmerkt, er habe Tolstois Krieg und Frieden gleichzeitig zu der zu Lebzeiten des Autors unpubliziert gebliebenen Fortsetzung des zweiten Bandes von Der Mann ohne Eigenschaften gelesen, wehrt er das ‚Sein‘ seines Textes gegen den Anschein der Assimilation ab: „Wer Versuche ein Scheusal zu lieben u[nd] ä.[hnliches] liest, könnte glauben, ich käme von Tolstoj. Der Schein spricht wirklich dafür.“61 Nur der Schein spricht auch, so Musil in einer anderen Notiz, für eine Beeinflussung durch Henri Bergson. Und er nimmt sich vor, Nähe und Differenz in einem Para- bzw.
_____________ 55 Ebd. S. 145. 56 Ders.: Tagebücher. Heft 33 (1937–1941) (TB I, 930). 57 Vgl. ders.: Der Mann ohne Eigenschaften (Nachlass): „Ironie ist: einen Klerikalen so darzustellen, daß neben ihm auch ein Bolschewik getroffen ist. Einen Trottel so darstellen, daß der Autor plötzlich fühlt: das bin ich ja zum Teil selbst. Diese Art Ironie die konstruktive Ironie ist im heutigen Dtschld. ziemlich unbekannt. Es ist der Zusammenhang der Dinge, aus dem sie nackt hervorgeht. Man hält Ironie für Spott u[nd] Bespötteln.“ (MoE II, 1939) 58 Ders.: Der Malsteller. In: ders.: Nachlaß zu Lebzeiten (1936) (GW II, 510); vgl. ders.: Der Malsteller (1923) (GW II, 571). 59 Ders.: Der Malsteller (1923) (GW II, 572). 60 Ders.: Tagebücher. Heft 33 (1937–1941) (TB I, 930). 61 Ebd.
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X. Essayismus als Metatext – Fremd- und Selbstkommentare
Metatext zu seinen Schriften zu entwickeln: „Wo ich scheinbar ähnliches sage wie er [Bergson], ist der Sinn doch ganz anders; u[nd] auseinandergesetzt mit ihm habe ich mich nie. Es sollte in der Weise eines Essays nachgeholt werden.“62 Auch dieser Essay ist Projekt geblieben.
4. „Der faktische Grundsatz der Literatur ist Wiederholung“ – „Mimetische Wirkungen“ und „gestaltendes Denken“ Es gab eine Zeit, wo jeder bessere junge Mann mit schwülen Augen Gedichte in der Weise Rilkes machte. Es war gar nicht schwer; eine bestimmte Art des Schreitens; ich glaube, daß Charleston schwieriger ist.63 (Robert Musil)
Während Musil in seinen metatextuellen Selbstreflexionen unmarkierte Textassimilationen bzw. (bewusste oder nicht-bewusste) hetero-intertextuelle Referenzen wiederholt auszuschließen versucht und allenfalls in auto-intertextueller Hinsicht „variierende Wiederholungen“64 eingesteht, bekennt er sich zu einem Assimilationszusammenhang, den er „Mimetische Wirkungen des Autors auf den Leser oder Persönliche W.[irkung]“ nennt.65 Bemerkenswert ist, dass Musil im Kontext der persönlichen bzw. ‚menschlichen‘ Wirkung66 – im Unterschied zur textuellen Referenz –
_____________ 62 Ebd. S. 960; vgl. ebd.: „Man wird mir nachsagen, ich sei von ihm [Bergson] beeinflußt. / Ich habe ihn aber nie lesen können, weil mich Einzelheiten aufhielten, hauptsächlich seines Begriffs der durée créatrice u.[nd] seiner Art, sie auf die Unterscheidung von Raum und Zeit zu beziehen. Ebenso widersteht mir seine Verbindung: Raum Æ Wissenschaft und Zeit Æ Philosophie.“ Zu Musil und Bergson vgl. auch R. v. Heydebrand: Die Reflexionen Ulrichs in Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“. Ihr Zusammenhang mit dem zeitgenössischen Denken Münster 1966. S. 213ff. und G. Müller: Dichtung und Wissenschaft. Studien zu Robert Musils Romanen „Die Verwirrungen des Zöglings Törless“ und „Der Mann ohne Eigenschaften“. Uppsala 1971. S. 82ff. 63 R. Musil: Rede zur Rilke-Feier in Berlin am 16. Januar 1927 (GW II, 1229–1243, hier 1235). 64 Ders.: Tagebücher. Heft 33 (1937–1941) (TB I, 930). 65 Ebd. Heft 31 (1930–1936) (TB I, 814). 66 Vgl. auch ders.: [Über den Essay] [1911/12?] (GW II, 1334–1338, hier 1337): „[…] während wir für den Essay nur menschliche Umbildung beanspruchen.“ Vgl. auch ders.: Über Robert Musil’s Bücher. In: Der Lose Vogel. Nr. 7, Januar 1913 (GW II, 995–1002, hier 1000): „Dieser asymptotische Abbau, durch den allein wir die seelischen Kraftstoffe dauernd unserm Geist assimilieren, ist der menschliche Zweck des Kunstwerks […].“
4. „Der faktische Grundsatz der Literatur ist Wiederholung“
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neben Rilke vor allem Essayisten (Emerson, Chesterton, Nietzsche) nennt. „Bei der dümmsten Gelegenheit“ – anlässlich eines Schnupfens, zu dem Musil „plötzlich“ ein halbvergessener „Vers […] aus Orpheus u[nd] Eurydike“ einfällt, reflektiert Musil seine Nähe zu Rainer Maria Rilke (1875–1926): „Besser gesagt, er fiel mir eben nicht ein, aber ich geriet in seine Nähe“. Und obgleich er den Vers („den Schritt beschränkt von langen Leichenbändern“)67 nur halb und zudem falsch erinnert, überfällt dieser ihn doch „mit seiner ganzen Schönheit“. Die Ästhetisierung des eigenen, alltäglichen Leidens (Schnupfen) – und die möglicher Weise daran anknüpfende Assoziation einer Indikation von Fuß- bzw. Wadenwickeln zwecks Fiebersenkung vollzieht sich durch den fremden Vers und dessen Schwellenbild68 zwischen Tod und Leben. Auch hier gilt: Selbstliebe und Fremdliebe sind untrennbar miteinander verwoben: Die vage Erinnerung („Nähe“) an Rilkes Vers, so Musil weiter, „genügte, mich für einen Augenblick besser zu machen u.[nd] auch ihn [den Schnupfen] zu lieben.“ Musil beschreibt die ‚persönliche Wirkung‘ des wörtlich transformierten und lebensweltlich assimilierten Rilke-Verses folgendermaßen: „Etwas in unserem Leben auf eine persönliche Art schön u.[nd] bedeutend zu machen, ist das die Funktion? Und dabei erinnere ich mich nicht einmal an den Vers!“69 Das Funktionieren der Dichtung/Literatur vollzieht sich hier nicht über die bewusste Erinnerung bzw. Erkenntnisleistung des Subjekts, sondern als ‚plötzlicher Überfall‘. Musil erlebt sich im Verhältnis zu Rilke als Empfangender, Aufnehmender, Assimilierender. Und die Sentenz „Gleichzeitigkeit bedeutet immer Abschreiben“70 kehrt hier als explizite Selbstreflexion wieder: „Ich kann mich nicht mit R.[ilke] vergleichen, denn ich habe nicht den geringsten Antrieb zu versuchen, was er gemacht hat. Ich bin in diesem Verhältnis nur aufnehmend. Es scheint mir bedeutsam für das Nebeneinander in der Literatur zu sein.“71
_____________ 67 Vgl. R. M. Rilke: Orpheus. Eurydike. Hermes. In: ders.: Werke. Kommentierte Ausgabe in 4 Bde. Bd. 1: Gedichte 1895–1910. Hrsg. v. M. Engel/U. Fülleborn. Frankfurt a. M. 1996. S. 502; vgl. hierzu die unfreiwillige Flexion Musils in ders.: Tagebücher. Heft 33 (1937–1941) (GW II, 941): „den Fuß von Wickelbändern ? verschnürt […].“ 68 Vgl. R. Musil: Tagebücher. Heft 33 (1937–1941) (GW II, 941): „[…] ich habe von meinem Schnupfen sagen wollen, dass er an der Schwelle zögere u.[nd] nicht wisse, ob er sich verabschieden oder bleiben solle […].“ 69 Ebd. S. 942. 70 Ders.: Der Malsteller. In: ders.: Nachlaß zu Lebzeiten (1936) (GW II, 510); vgl. ders.: Der Malsteller (1923) (GW II, 571). 71 Ders.: Tagebücher. Heft 33 (1937–1941) (GW II, 941f.).
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X. Essayismus als Metatext – Fremd- und Selbstkommentare
Zur Gruppe der „Mimetische[n] Wirkungen des Autors auf den Leser oder einfach der Persönliche[n] Wirkung“72 zählt Musil neben Rilke auch Gilbert Keith Chesterton (1874–1936). Während der Arbeit an den Kapiteln 61 (Das Ideal der drei Abhandlungen oder die Utopie des exakten Lebens) und 62 (Auch die Erde, namentlich aber Ulrich huldigt der Utopie des Essayismus) von Der Mann ohne Eigenschaften notiert Musil am 10. Februar 1930: „Ich lese jetzt Chesterton, Was Unrecht ist an der Welt, Essays, neben Gide und Göthe. Außerordentliche Ähnlichkeiten mit mir.“73 Und drei Tage später findet sich die folgende Lektürenotiz: „Das Lesen Chestertons hat mir gestern unmittelbar geholfen, einen lockeren, freien Ausdruck für irgend etwas zu finden. Seine schlagenden, drastischen Beispiele haben auf mich gewirkt. Der schärfste Vergleich könnte aber zwischen dem, was ich geschrieben u.[nd] dem, was ich gelesen habe, keine Ähnlichkeit entdecken. Es ist das kein inhaltlicher Einfluß, sondern einer der Gebärde, ähnlich wie ein Mensch, der sich frei und sicher benimmt, auf uns lösend wirkt, ohne daß wir ihn nachzuahmen brauchen.“74 Dabei laufen Chestertons Gedanken zu Feminismus, Suffragetten, Emanzipation und Frauenwahlrecht75 nach Musils Selbstauskunft seiner
_____________ 72 Ebd. Heft 31 (1930–1936) (TB I, 814). 73 Ebd. Heft 30 (1929–1941?) (TB I, 700); es handelt sich um die 1924 im Münchener Musarium-Verlag veröffentlichte Übersetzung von Clarisse Meithner; Musil wird jedoch Chesterton durch die Vermittlung Franz Bleis bereits früher kennengelernt haben; dieser hatte Chestertons Orthodoxie im Hyperion übersetzt und auch in den Opalen und der Summa weitere Essays von Chesterton veröffentlicht; vgl. D. Steffen: Franz Blei (1871–1942) als Literat und Kritiker der Zeit. Diss. (masch.) Univ. Göttingen 1966. S. 143 sowie H. Mitterbauer: Ein Mann mit vielen Eigenschaften. Studie zur Rolle Franz Bleis als Kulturvermittler. Diss. (masch.) Univ. Graz 2000. S. 175. 74 R. Musil: Tagebücher. Heft 31 (1930–1936) (GW II, 813f.); vgl. auch Martha Musil: Brief an A. Kesser vom 24. 12. 1944. In: dies.: Briefwechsel mit Armin Kesser und Philippe Jaccottet. 2 Bde. Hrsg. v. M.-L. Roth in Zusammenarb. mit A. Daigger u. M. v. Walter. Bern [u. a.] 1997. Bd. 1. S. 69: „Ich lese jetzt abwechselnd Robert Browning und Moby Dick. Chesterton’s Ähnlichkeit mit Robert Musil ist manchmal auffallend: Eine Bemerkung, ein Blitz, leuchtet plötzlich auf und verändert die ruhige, stilvollendete Umgebung.“ Martha hatte die Tagebuchnotiz ihres Mannes zu Chesterton abgeschrieben und vermutlich ihrem Brief an Arnim Kessler vom 19. 12. 1944 beigelegt; vgl. ebd. Bd. 2. S. 403. 75 Vgl. hierzu G. K. Chesterton: Was Unrecht ist an der Welt. Essays. München 1924; der gegen das Frauenwahlrecht argumentiert (S. 126) und fordert, die moderne Frau soll kochen und den Kindern Geschichten erzählen (S. 137). Vgl. hierzu auch Chestertons Suffragettenphobie (S. 187): „eine Pankhurst ist eine Ausnahme, aber tausend Pankhursts sind ein Alpdruck, eine bacchantische Orgie, ein Hexen-Sabbat“; die englische Ausgabe war bereits 1910 unter dem Titel What’s wrong with the world erschienen.
4. „Der faktische Grundsatz der Literatur ist Wiederholung“
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eigenen „Auffassung größtenteils“ zuwider.76 Nicht der Inhalt dieser männlichen Theodizee bzw. Theodizee der Männlichkeit, sondern die souveräne Gebärde dem Leben,77 hier vor allem den Frauen gegenüber, scheint die Affinität, die ‚persönliche Wirkung‘ der Essays Chestertons auszumachen. Es geht nicht um den Gedankeninhalt, nicht um den locker-assoziativen Ton der misogynen Männerplauderei, sondern um eine uneigentlich-perspektivische Rede, die in der überraschenden Abwendung des herkömmlich Angenommenen oder unter gewissen Prämissen Geschlossenen besteht. Diese schizoide bzw. paradoxoide Redefigur meint, wenn sie ‚ich‘ sagt, nicht das Ich des textexternen Aussagesubjekts, sondern das textimmanente essayistische Ich. Sie referiert, über etwas sprechend, nicht dessen Wirklichkeit, sondern dessen Möglichkeit: „Es wäre für mich möglich, die Stellen, die in Chestertons Aufsätzen die Orthodoxie einnimmt […], durch Demokratie zu besetzen; d. h. als Form, mich demokratisch bekennen, was wohl wahr ist, und von da aus wie ein Ketzer sprechen; also eine andere Demokratie meinen.“78 Kaum drei Wochen später, am 9. März 1930, glaubt Musil sich bereits an Chesterton nicht mehr erinnern zu können und hält inmitten der Fahnenkorrekturen für den Mann ohne Eigenschaften die folgende (Selbst-)Beobachtung fest: „Ich mußte gestern rasch die Korrekturen von 300 Seiten überprüfen u.[nd] war ganz niedergeschlagen von der Überladenheit des Romans mit Essayistischem, das zerfließt und nicht haften bleibt. Dabei fiel mir ein, daß ich mich an das Buch von Chesterton (s. Tagebuch v. 10. II.) fast gar nicht mehr erinnere, obwohl es mir persönlich so nahe steht; dagegen könnte ich aus Olaf Audunssohn der Undset die Geschehnisse seitenweise wiedererzählen.“79 Hervorzuheben ist, dass Musil in Bezug auf die „Erzählung“ keine Unterscheidung zwischen Fiktion und „Tatsachenbericht[ ]“ trifft, wenn er als Zwischenergebnis seiner Überlegungen festhält: „Wir haben mehr Gedächtnis für Faktisches“. In der Rezeption scheint nun die Erzählung
_____________ 76 R. Musil: Tagebücher. Heft 34 (1930–1938) in der ersten, auf den 17. 2. 1930 datierten Eintragung: „Ich bin durch Chestertons, meiner Auffassung größtenteils zuwiderlaufende Darstellung zum Nachdenken über ‚Die Frau‘ gekommen. Für Ag.[athe] an der Zeit.“ (TB I, 837) 77 Vgl. G. Lukács: Über Wesen und Form des Essays (1911). S. 31. 78 R. Musil: Tagebücher. Heft 31 (19. 2. 1930) (TB I, 814f.). 79 Ebd. S. 816; vgl. auch ebd. S. 815: „Bezeichnung für Sigrid Undset: Tante Homer“ sowie ebd. Heft 30 (1929–1941) unter dem 28. 2. 1930: „Gestern abend las ich in Olaf Audunssohn von Sigrid Undset […]. Ich hasse diese Frau, aber sie hat etwas Homerisches.“ (TB I, 707)
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X. Essayismus als Metatext – Fremd- und Selbstkommentare
als Narration des Faktischen und/oder Fiktiven gegenüber der Reflexion eine größere Selbstständigkeit beim Vorgang der subjektiven Textassimilation zu bewahren: „wohl, weil wir Intellektuelles nicht im objektiven Zustand bewahren, sondern es uns einordnen“. Die Notiz endet mit einer Fragenkette: „[W]oran wendet sich ein Essay? Sitzt er zwischen zwei Stühlen? Ergreift er unmittelbar die kreativen Funktionen des Lesers u.[nd] verschwindet in ihnen?“80 Es geht um den Aspekt der Nachhaltigkeit. Anders gefragt: Was bleibt vom Essay, nachdem er die ‚menschliche Umbildung‘ des Lesers bewirkt hat? Was in der Erinnerung der Leser nach der Lektüre von Der Mann ohne Eigenschaften, wenn das Intellektuelle bzw. Essayistische abgezogen wird? Es soll und kann hier nicht allen Autoren bzw. Texten nachgegangen werden, die Musil möglicherweise – bewusst oder nicht-bewusst, markiert oder nicht markiert, (selbst) reflektiert oder nicht (selbst) reflektiert, metatextuell kommentiert oder nicht metatextuell kommentiert – assimiliert hat. Die auf der Objektebene beobachteten Rezeptionserlebnisse fungieren jeweils als Beispiele für jene Funktion der Literatur, die von Musil selbst als ‚persönliche Wirkung‘ bzw. Wirkung auf seine Person gekennzeichnet worden ist. Gleichzeitig verstehen sie sich aber auch – auf der Objektebene der Metakommunikation – als Vorarbeiten, Bruchstücke zu einem größeren, unausgeführten Projekt einer Metakritik der Kritik.81 So führt eine vergleichende Bemerkung zur Chesterton-Rezeption im Tagebuch Heft 31, das den Titel „Notizen zu den Essays“ trägt, auf das mit dem Hinweis „Über Bücher“ beschriftete Tagebuch Heft 10 zurück: Chestertons Einfluss, so heißt es hier, sei „verwandt, aber nicht identisch mit der Wirkung des M. L. Brigge auf mich, die ich seinerzeit verzeichnet habe.“82 Der auto-intratextuelle (wenn wir die ‚Sudelbücher‘ Musils als Texteinheit betrachten) Verweis auf Selbstbeobachtungen zur Rezeption von Texten Dostojewskis, Rilkes, Hauptmanns, Flauberts und Heinrich Manns83 steht wiederum im unmittelbaren Kontext von Überlegungen,
_____________ 80 81 82 83
Ebd. Heft 31 (1930–1936) (TB I, 816). Ebd. Heft 10 (1918–1921) (TB I, 445ff.) Ders.: Heft 31 (1930–1936) (TB I, 814). Ders.: Heft 10 (1918–1921): „Wenn ich Raskolnikow lese, ergreifen mich Raskolnikow und Dostojewski; wenn ich die Aufzeichnungen des Malte Lauridzs [!] Brigge lese, ergreift mich nur Rilke; wenn ich Hannele sehe, ergreift mich nur Hannele; wenn ich Mdme. Bovari lese, ergreift mich Mme. Bovari und ein unkonkretes Drittes; wenn ich die Kleine Stadt lese, ergreift mich nur dieses Dritte.“ (TB I, 447) Vgl. ebd.: „Was das Dritte ist, bleibt vorläufig noch ungelöst.“
4. „Der faktische Grundsatz der Literatur ist Wiederholung“
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Gedankensplittern und Entwürfen zu den „Grundlagen der literarischen Kritik.“84 Ein in mathematische Funktionsgleichungen gegliederter Entwurf zeigt, dass 1. „Wirkungsanalysen“ einer „naive[n] Ästhetik“ zunächst eine Grundlage für die „Geschichte der Kritik“ darstellen sollen (n + 1), während die „Revision von 1. Grundbegriffe“ eine Funktion (n + 2 - 2n) der „Wissenschaftliche[n] Ästhetik“ unter Punkt 2 darstelle. Nicht die Literaturgeschichte, sondern die „Geschichte der Literaturgeschichte“ wird hier zur Voraussetzung der „Kritik“85 erklärt. Vor diesem Hintergrund – dem Projekt einer geplanten Meta-Kritik – sind also auch die wirkungsästhetischen Beobachtungsprotokolle Musils zu sehen: als Dokumente einer „naive[n] Ästhetik“ auf der ersten Beobachtungsebene, die sich als Variablen, Vorarbeiten zu einer Projekt gebliebenen „Geschichte der Kritik“86 verstehen. Nicht entscheidend für das, was Musil in seinen (Selbst-) Versuchen und Protokollsätzen bei der Lektüre von Chestertons Was Unrecht ist an der Welt oder Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge als die ‚persönliche Wirkung‘ bestimmt hat, ist jedoch, ob es sich in dem einen Fall um Essays und in dem anderen um einen Roman handelt. Das Moment der Ergriffenheit,87 das Musil in seinem frühen Fragment Über den Essay (1911/12?) als „menschliche Umbildung“ gekennzeichnet hat,88 wird auch hier als persönliche Begegnung beschrieben: „Was an einem Buch ergreift, hat mit der Bekanntschaft mit einem Menschen manches gemeinsam […]. Ich kann über die Gestalten eines Buches nachdenken, wie über Menschen, die ich kennen gelernt habe […]. Ebenso über den Dichter.“89 Als Differenzkriterium zwischen Lektüre und menschlicher Begegnung, der ästhetischen und einer alltäglichen Kommunikationssituation, erwägt Mu-
_____________ 84 Ebd. S. 445. 85 Ebd. S. 449f.; vgl. ebd. S. 450: „Die Literaturgeschichte sucht alles zu verstehn und abzuleiten. Wir aber müssen versuchen zu Bewertungen zu kommen.“ 86 Ebd. S. 449. 87 Als rezeptionsästhetisches, also textexternes Pendant zu der textimmanenten Struktur der Plötzlichkeit (vgl. K. H. Bohrer: Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins (1981). Mit e. Nachw. v. 1989. Frankfurt a. M. 2004), welche die Novellen Musils einschließlich der Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906) kennzeichnet. 88 R. Musil: [Über den Essay] [1911/12?] (GW II, 1337). 89 Ders.: Tagebücher. Heft 10 (1918–1921) (TB I, 447); vgl. ders.: Essaybücher. In: Die Neue Rundschau, September 1913 (GW II, 1450–1457, hier 1450: „Sie [die Gedanken des Essays] beanspruchen gar nicht Allgemeingültigkeit, sondern wirken wie Menschen, die uns ergreifen und entgleiten, ohne daß wir sie rational fixieren könnten, und die uns geistig mit etwas anstecken, das sich nicht beweisen läßt.“
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X. Essayismus als Metatext – Fremd- und Selbstkommentare
sil den Faktor der Entpragmatisierung. Gerade das Fehlen einer „praktische[n] Beziehung“90 ermögliche aber auch das Moment der Hingabe bei der Lektüre: „Man kann sich ihnen [den „Gestalten des Buchs“] ‚hingeben‘ während man sich im Leben zurückhält“. Man kann, so Musil weiter, ein Buch zwar ebenso hassen wie einen Menschen oder einen Gedanken,91 aber der „Ur-Haß zwischen Lebendigen ist ausgeschaltet“. Die persönliche Hingabe werde gerade durch die Mediatisierung, durch das „Medium von Sympathie“ geschaffen, welches den Tod des Autors bzw. das Verschwinden des Autors in seinem Text voraussetzt: „Die Gestalten des Buchs leben nicht und der Dichter lebt nicht. Sie sind ganz meiner Willkür ausgeliefert“.92 Neben Rilke und Chesterton beschreibt Musil die „[m]imetische Wirkungen des Autors auf den Leser oder Persönliche W.[irkung]“,93 das heißt als subjektive Rezeptionsbeispiele, auch am Beispiel Ralph Waldo Emersons (1803–1882) und Friedrich Wilhelm Nietzsches (1844–1900). Beide Autoren werden wiederholt, vielfach auch im Zusammenhang mit Maurice Maeterlinck (1862–1949), als ebenso frühe wie entscheidende literarische Begegnungen benannt. Noch kurz vor seinem Tod versucht Musil in den fragmentarischen Stichworten zu einer Selbstbiographie sein Verhältnis zur literarischen Tradition als das einer „negative[n] Originalität“ zu bestimmen, als „das Nicht sich anschließen an Vorbilder, die Nichtbenutzung vorhandener Formen.“94 Dieser voluntaristisch-bewussten Abwehrhaltung gegenüber der literarisch tradierten Form werden in der Selbstbeschreibung durch Essayisten vermittelte intellektuelle Zusammenhänge gegenübergestellt: „Am stärksten Denkeinflüsse (Nietzsche, Emerson, Maeterlinck)“.95 Am 12. August 1938 antwortet Musil auf eine Anfrage von Roy Temple House, Professor der Germanistik an der Universität of Oklaho-
_____________ 90 Ders.: Tagebücher. Heft 10 (1918–1921): „Die intellektuelle Beziehung des Lesers zu Gestalten eines Buchs ist so ziemlich die gleiche wie zu Gestalten der Wirklichkeit. Die Gefühlsbeziehung ist eine andere. Die praktische Beziehung fehlt.“ (TB I, 448). 91 Vgl. ebd. S. 447f.: „Der Haß gegen ein Buch ist aber der ganz gewöhnliche Haß gegen Menschen und Gedanken“. 92 Ebd. S. 447. 93 Ebd. Heft 31 (1930–1936) (TB I, 814). 94 Ders.: Stichworte zu den Aufzeichnungen eines Schriftstellers. Umriß einer Selbstbiographie [1940/41] (GW II, 915–937, hier 923); vgl. als Gegenpol zur „negative[n] Originalität“ die gewählte Abhängigkeit des Eklektizismus (Eklektizismus und historische Gerechtigkeit. In: ders.: Aus einem Rapial (1937) (GW II, 818–824, hier 822). 95 Ders.: Stichworte zu den Aufzeichnungen eines Schriftstellers [1940/41] (GW II, 923).
4. „Der faktische Grundsatz der Literatur ist Wiederholung“
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ma, in einem Brief, der im Frühjahr 1939 in der Zeitschrift Books Abroad abgedruckt wird. Musil gibt an, in Hinblick auf die „Bildung meines Stils und meiner Ansichten fast mehr von der Wissenschaft als von der Belletristik empfangen“ zu haben und nennt die folgenden Bücher, „die ich in meiner Jugend dazu mißbraucht habe, mich selbst zu erkennen“: „Maeterlinck, Weisheit und Schicksal; Emersons, Intentions; Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse und Genealogie der Moral; Novalis, eine Auswahl seiner Aphorismen; D’Annunzio, Piacere; Jacobsen, Niels Lyhne und Maria Grubbe; Dostojewski, Raskolnikow; Tolstoi, Auferstehung.“96 Ebenfalls initiiert durch die Nachfrage eines Germanistikprofessors, diesmal des österreichischen Literaturhistorikers Josef Nadler, wird die Erklärung in eigener Sache oder genauer Lektüre, die Robert Musil am 1. Dezember 1924 abgab: „Entscheidende geistige Einflüsse empfing ich mit ungefähr neunzehn Jahren durch Nietzsche, Dostojewsky’s Raskolnikow, Doppelgänger und Hahnrei, Emerson’s Essays, die Fragmente von Novalis und den eklektischen Vermittler Maeterlinck. Starke Eindrücke wenig später durch Rilke. Flaubert, Stendhal, Tolstoi, Balzac und Shaw lernte ich erst viel später kennen.“97 Es bleibt festzuhalten: Musil nennt immer wieder Emerson und Nietzsche als Beispiele für Essayisten,98 und er bekennt sich in seinen (ver)öffentlich(t)en wie posthumen Selbst- und Metareflexionen zum eigenen Rezeptions- und Assimilationszusammenhang wiederholt zu seinen ebenso frühen wie nachhaltig wirkenden Lektüren dieser Autoren. In Heft 4 seiner Tage- oder vielmehr Arbeitsbücher findet sich im Frühjahr 1902 die erste markierte Referenz auf Nietzsche, Emerson und Maeterlinck,99 die Lektüre ist vermutlich noch weiter zurückzudatieren. So verweist
_____________ 96 Ders.: Brief an Roy Temple House (Books Abroad) vom 12. 8. 1938 (BR I, 837). 97 Ders.: Brief an Josef Nadler vom 1. 12. 1924 (BR I, 368). 98 Vgl. ders.: Essaybücher (1913): „Man sieht es an den philosophischen Versuchen das wissenschaftlich Systematisierbare aus großen Essayisten begrifflich herauszuziehn; etwa aus Emerson oder Nietzsche. Sie baggern mit großem Apparat nach dem Boden dieses Strömens und fördern einen zerrissenen alten Schuh, ein weggeworfenes Denkgewebe, irgendeine Lächerlichkeit herauf. Wenig erforschte Grenzen der Denkmethodik bestehen da und müssen geachtet werden.“ (GW II, 1451) Vgl. ders.: [Über den Essay] [1911/12?]: „Maeterlinck, Emerson, Nietzsche und zum Teil Epikur, die Stoiker, unter Abstraktion vom Transzendenten die Mystiker, aber auch Dilthey, Taine, die nomothetische Geschichtsforschung gehören in den Kreis des Essays.“ (GW II, 1337) u. a. 99 Ders.: Tagebücher. Heft 4 (1899?–1904?): „Siehe Nietzsche“ (TB I, 12) und ebd. S. 16: „nach Emerson“ sowie ebd. S. 17: „entweder aus der Emers.[on’schen] oder Maeterl.’[inck’schen] Terminologie“.
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X. Essayismus als Metatext – Fremd- und Selbstkommentare
Adolf Frisé in seinem Kommentar zum Nachtbuch des monsieur le vivisectuer (1899?) auf Referenzen zu Nietzsches „Vivisection“ aus Jenseits von Gut und Böse hin.100 Allein die Funktionsanalyse der hetero-intertextuellen Referenzen auf Nietzsche, Emerson und Maeterlinck – nicht nur in Der Mann ohne Eigenschaften, sondern unter verstärkter Hinzuziehung der Essays, Tagebuchnotizen etc. – wäre eine eigene Untersuchung wert.101 Hier soll jedoch nur auf die selbstreflexiven bzw. metatextuellen Aspekte (auf der Ebene der objektsprachlichen Metakommunikation) von Musils assimilierenden Lektüren eingegangen werden. Aufschlussreich ist dabei vor allem das Verhältnis von Abschreiben bzw. Wiederholung und Flexion. In der Motive – Überlegungen überschriebenen Loseblattsammlung findet sich unter der Überschrift „Entwicklung nicht Fortschritt“ der folgende Dreischritt zum Verhältnis von fremden (Prä-)Text und eigenem (Folge-)Text: 1.) These bzw. Erkenntnis und Diagnose: „Es gibt Augenblicke großer Wahrhaftigkeit, wo ich mir eingestehe, alles, was ich sage, hat viel besser schon Emerson oder Nietzsche gesagt. Ich werde nicht nur davon überwältigt, wenn ich solche Stellen wiedersehe, sondern ich muß auch annehmen, daß ein tatsächlicher Einfluß im Spiel ist.“ 2.) Antithese bzw. Leugnung bzw. Vertuschung: „Nun aber […]: Bemerkt das niemand andrer“ und
_____________ 100 Vgl. A. Frisé (TB II, 4). 101 Vgl. zu Emerson und Musil: H. Hickman: „Lebende Gedanken“ und Emersons „Kreise“. In: Robert Musil. Untersuchungen. Hrsg. v. U. Baur/E. Castex. Königstein/Ts. 1980. S. 139–152, welche so weit geht (ebd. S. 148), die E-Chiffre aus dem Musil’schen Nachlass als „Emerson“-Chiffre zu lesen. Vgl. zu Nietzsche und Musil: I. Seidler: Das Nietzschebild Robert Musils. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 39 (1965). S. 329–350; R. Gahn: Musil und Nietzsche zum Problem von Kunst und Erkenntnis. Diss. (masch.) Univ. Mainz 1980; A. Venturelli: Die Kunst als fröhliche Wissenschaft. Zum Verhältnis von Musil zu Nietzsche. In: Nietzsche-Studien 9 (1980). S. 302–338; T. Harrison: Existence as Essay. Nietzsche, Musil, and Conrad. Diss. (microfilm) Univ. of New York 1984; R. Willemsen: Dionysisches Sprechen. Zur Theorie einer Sprache der Erregung bei Musil und Nietzsche. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 60 (1986). S. 104–136; C. Dresler-Brumme: Nietzsches Philosophie in Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“. Eine vergleichende Betrachtung als Beitrag zum Verständnis (1987). 2. Aufl. Wien [u. a.] 1993; E. Herity: Robert Musil und Nietzsche. In: The Modern Language Review 86 (1991). S. 911–924; W. Rzehak: Musil und Nietzsche. Beziehungen der Erkenntnisperspektiven. Frankfurt a. M. [u. a.] 1993; K. Mackowiak: Genauigkeit und Seele. Robert Musils Kunstauffassung als Kritik der instrumentellen Vernunft. Marburg 1995. S. 45–54; H. J. Pieper: Musils Philosophie. Essayismus und Dichtung im Spannungsfeld der Theorien Nietzsches und Machs. Würzburg 2002 u. a.
4. „Der faktische Grundsatz der Literatur ist Wiederholung“
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3.) Synthese bzw. Relativierung: „Kann nicht zugleich alles Wesentliche Emerson gesagt haben und Nietzsche. Denn diese beiden sind trotz mancher Verwandtschaft zu unähnlich.“102 Das Eigene bzw. spezifisch Musil’sche, ‚Musil-Wesentliche‘, so könnte hier mengentheoretisch argumentiert werden, ist also das, was aus der Emerson und Nietzsche gemeinsamen (Text)Schnittfläche herausfällt. Gleichzeitig wäre der ‚neue Musil‘ jedoch immer entweder der ‚alte Emerson‘ oder der ‚alte Nietzsche‘ – wie auch der andere, fremde Text nicht als selbstständiges Ganzes, sondern nur stückweise, als Eigenes assimiliert wird.103 Die in Motive – Überlegungen direkt darauf folgenden stichwortartigaphoristischen Notizen können als eine Art induktiver Schluss bzw. Transformation von der individuellen Selbstbeobachtung des Dichters Musil (= Ebene der „naive[n] Ästhetik“) zur allgemeinen Einsicht in das „Wesen“ der Dichtkunst bzw. des Dichters gelesen werden (= Ebene der „[w]issenschaftliche[n] Ästhetik“)104: „Gehört zum Wesen des Dichters. // Das definiert die Entwicklung. Etwas Neues, das nichts Neues ist.“105 Das Neue, das „nichts Neues ist“, ist die Wiederkehr des Alten, die Wiederkehr des Eigenen im Fremden wie des fremden Prätextes im eigenen. Wenn das zu gestaltende Neue immer schon das bereits Gestaltete, Geformte ist, dann besteht eine denkbare Folgerung darin, auf das Dichten um den damit verbundenen Anspruch des Neu-Schaffens zu verzichten und sich auf das Neuordnen des bereits Geformten zu beschränken.106 Und so ist im Tagebuch Heft 25 (1921–1923?) im autobiographischen Rückblick zu lesen: „Ich erinnere mich, schon sehr früh den Eindruck erhalten zu haben, daß die theoretisch-essayistische Äußerung in unsrer Zeit wertvoller ist als die künstlerische. Daß man gar nichts schaffen kann, was nicht irgendwo ausgesprochen wäre.“107 Auch im Tagebuch Heft 33 reflektiert Musil das Verhältnis von Wiederholung des Alten und Flexion des Neuen im Zusammenhang mit der eigenen Bio-Bibliographie bzw.
_____________ 102 R. Musil: Motive – Überlegungen (Nachlass) (GW II, 900). 103 Vgl. hierzu auch ders.: Brief an Karl Baedeker vom 4. 12. 1935: „Sie haben mich einmal nach meinem Verhältnis zu Nietzsche gefragt: es ist immer ein unklares gewesen, das in mir selbst Präformierte an mich nehmend, das Fremde beiseite lassend.“ (BR I, 683) 104 Ders.: Tagebücher. Heft 10 (1918–1921) (TB I, 449). 105 Ders.: Motive – Überlegungen (Nachlass) (GW II, 900). 106 Vgl. G. Lukács: Über Wesen und Form des Essays (1911). S. 38. 107 R. Musil: Tagebücher. Heft 25 (1921–1923?) (TB I, 652).
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X. Essayismus als Metatext – Fremd- und Selbstkommentare
Textassimilation. Die biographische Ausgangsthese geht diesmal allerdings vom Postulat des Neuen aus: „Eine große Rolle hat in privat=kritischer Anwendung bei mir stets die Überzeugung gespielt, etwas, das man schreibe, müsse ‚neu‘ sein, d. h. eine Mehrung des geistigen Besitzes. M. a. W.: wenn etwas schon gesagt ist, wozu es wiederholen!“108 Jedoch kann diese absolute (Selbst-An-)Forderung gemäß dem methodologischen Ausgangspunkt, das von allem, was behauptet wird, auch das Gegenteil behauptet werden kann, nicht aufrechterhalten werden und erfährt in der Folge durch die Infragestellung bzw. Relativierung des Fortschrittkonzeptes eine Modifikation, wenn nicht gar Umkehrung. Denn dem subjektiv-voluntaristischen Akt wird eine Art objektives Literaturgesetz entgegengestellt: „Der faktische Grundsatz der Literatur ist Wiederholung.“109 Diese geradezu nomothetische Gleichung ist gewissermaßen eine paradigmatische Modifikation der syntagmatischen Formel „Gleichzeitigkeit bedeutet immer Abschreiben“.110 In den Tagebuchaufzeichnungen greift Musil abermals auf seine eigene Rezeptions- bzw. Assimilationserfahrung zurück: „Offenbar sagt man auch unendlich seltener Neues, als man etwas neu gestaltet (Die Erfahrung mit Nietzsche, Emerson usw). Der Begriff der Neugestaltung dürfte von größter Wichtigkeit sein! Was ist die Gestalt eines Gedankens?“111 Die im Heft 33 aufgezeichneten Gedanken sind in fortlaufende und mit arabischen Ziffern durchnummerierte Blöcke gegliedert. Auf jenen hier ausführlich zitierten Gedankenblock Nr. 6 folgt Nr. 7, der den Anlass der Selbstreflexion (auf der Metaebene der Objektsprache) wiederum als Lektüreresultat, als gedankliche Assoziation bzw. Textassimilation benennt: „Übrigens bin ich zu dieser Überlegung von der Lektüre des Briefwechsels zwischen Bettine Brentano u[nd] Goethe gekommen.“112 Die
_____________ 108 Ebd. Heft 33 (1937–1941) (TB I, 913). 109 Ebd.; Hervorhebung v. B. N. Zur anschließenden Überlegung („Aber eine Wiederholung liegt schon im Gebrauch der Sprachwendungen u. im Sprachgeist.“) vgl. auch ders.: Heft 3 (1899?–1905/06): „Zwei Jahrtausende schreiben mit uns. Am meisten aber unsre Eltern und Großeltern. Punkt und Strichpunkt sind Rückschrittssymptome – Stillstandssymptome. […] Solange man in Sätzen mit Endpunkt denkt – lassen sich gewisse Dinge nicht sagen – höchstens vage fühlen.“ (TB I, 52f.) Vg. auch ders.: Der Malsteller (1923): „[…] niemand in aller Welt kann seine Gedanken von den Punkten, Strichpunkten und Beistrichen samt allen ihren Konsequenzen befreien, von den Worten und der Art, wie seine Zeit das Sprachkleid trägt.“ (GW II, 572) 110 Ders.: Der Malsteller. In: Nachlaß zu Lebzeiten (1936) (GW II, 510); vgl. ders.: Der Malsteller (1923) (GW II, 571). 111 Ders.: Tagebücher. Heft 33 (1937–1941) (TB I, 913f.). 112 Ebd. S. 914.
5. Das „typisch Nicht=neue“: Wildgans und Werfel
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Variation von ‚Wer liebt, hat recht‘ (in diesem Fall Bettine) wird im folgenden Gedankenblock Nr. 8 zu den „Kapitel[n] über Gefühl“ aus Der Mann ohne Eigenschaften über die Begriffsbildung des „‚gestaltende[n]‘ Denken[s] an Stelle des rein rationalen“ bis zum autobiographischen Funktionsäquivalent („die große Unklarheit meines Lebens“) von Klarheit und Verwirrung weitergeführt: „Mein Vater war sehr klar, meine Mutter war eigentümlich verwirrt. Wie verschlafenes Haar auf einem hübschen Gesicht.“113 Die Wiederholung des fremden Textes im eigenen kehrt hier in der genetischen Kodierung bzw. psychodynamischen Triangulierung gleichsam wieder und verweist auf ein Drittes, Aufhebendes, Synthetisches, Mögliches, Dazwischenliegendes: die cognitio clara et confusa der lyrischen amor intellectualis,114 das „Geheimnis der taghellen Mystik“115 sowie das „‚gestaltende‘ Denken“.116
5. Das „typisch Nicht=neue“: Wildgans und Werfel oder der Dichter als Symptom 5. Das „typisch Nicht=neue“: Wildgans und Werfel
Weil Weltgeschichte zweifellos ebenso entsteht wie alle anderen Geschichten. Es fällt den Autoren nichts Neues ein, und sie schreiben einer vom anderen ab.117 (Robert Musil)
Für den Literaturkritiker Musil ist für das Gebiet der Literatur – prägnant mit den beiden aphoristisch-pointierten Formeln „Gleichzeitigkeit bedeutet immer Abschreiben“118 und „Der faktische Grundsatz der Literatur ist Wiederholung“119 beschrieben – das Zitieren bzw. das Prinzip der Textassimilation konstitutiv. Dennoch versucht der Dichter Musil immer wieder,
_____________ 113 Ebd. 114 Vgl. R. Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. 1. Buch (1930): „Es hat nicht wenige solcher Essayisten und Meister des innerlich schwebenden Lebens gegeben […]; ihr Reich liegt zwischen Religion und Wissen, zwischen Beispiel und Lehre, zwischen amor intellectualis und Gedicht […].“ (MoE I, 253) 115 Vgl. ders.: Der Mann ohne Eigenschaften (Nachlass) (MoE II, 1089). 116 Vgl. ders.: Tagebücher. Heft 33 (1937–1941) (TB I, 914). 117 Ders.: Der Mann ohne Eigenschaften. 1. Buch (1930) (MoE I, 360). 118 Ders.: Der Malsteller. In: Nachlaß zu Lebzeiten (1933). (GW II, 510) und ders.: Der Malsteller (1923) (GW II, 571). 119 Ders.: Tagebücher. Heft 33 (1937–1941) (TB I, 913).
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X. Essayismus als Metatext – Fremd- und Selbstkommentare
den verschiedenen Modi literarischer Abhängigkeit eine qualitative Differenz einzuschreiben. Neben Hedwig Courths-Mahler (1867–1950), auf die Musil wiederholt verweist, um einen ‚bloß-narrativen‘ Gegenpol zu seinem narrativreflexiven bzw. essayistischen Erzählprogramm zu behaupten,120 werden vor allem zwei Autorennamen als Beispiel für einen negativ bewerteten Eklektizismus benannt: Anton Wildgans (1881–1932) und Franz Werfel (1890–1945).121 So findet sich unter arabisch 6 im Heft 33 die Notiz: „Werfel, Wildgans als typisch Nicht=neue.“122 Beide werden als Vertreter jenes ‚Eklektizismus‘ gesehen, von dem Musil in seiner Glosse Eklektizismus und historische Gerechtigkeit (1937) angibt, er enthalte „neben Abhängigkeit zweifellos auch noch den Beibegriff der Gewähltheit“.123 Ausgangspunkt ist abermals die Frage nach dem, was bleibt bzw. was den ‚guten Dichter‘ vom ‚schlechten Nachahmer‘ unterscheidet. Diese wird hier allerdings in ein „Scherzrätsel“ überführt wird: „wie kommt es, daß sich die schlechten Künstler einer jeden Zeit die guten der Vorzeit zum Muster nehmen, und nicht deren schlechte?“124 Die aphoristische Schlusspointe, welche den Eklektizismus als „ein Mittleres“ bzw. als „ein[en] Vermittler zwischen Geist und Begehren“ bestimmt, versteht die „überzeitliche[n] Kulturleistungen“ nicht als „Ausdruck ihrer Zeit“, sondern als „Inhalt ihrer Vergeßlichkeit und Zerstreutheit.“125 So gewendet könnte ein Fortschritt bzw. eine Entwicklung in der Geschichte der Literatur wie des menschlichen Bewusstseins darin gesehen werden, dass das nicht-bewusste Andere des zeitgenössischen Bewusstseins („Vergeßlichkeit und Zerstreutheit“), das die geistreichen Dichter denkend gestalten bzw. gestaltend denken, erst in der Assimilation ihrer eklektizistischen Folgetexte – wenn auch mit zeitlicher Verschiebung – ins allgemeine Bewusstsein bzw. zur (verspäteten) Wirkung käme. Das was bliebe, wären dann die assimilierten Texte und nicht ihre Dichter.
_____________ 120 Vgl. z. B. ders.: Symptomen-Theater I. In: Der Neue Merkur, Juni 1922 (GW II, 1094–1103, hier 1096). 121 Vgl. M. G. Hall: Robert Musil und Franz Werfel. In: Musil-Forum 3 (1977). H. 1. S. 20–27 und M. Reffet: Musil und Werfel. Zum Werfelismus und zu zwei Essays. In: Modern Austrian Literature 20 (1987). S. 71–81. 122 R. Musil: Tagebücher. Heft 33 (1937–1941) (TB I, 914). 123 Ders.: Eklektizismus und historische Gerechtigkeit (1937) (GW II, 822). 124 Ebd. 125 Ebd. S. 823; vgl. ders.: Der Mann ohne Eigenschaften (Nachlass): „U[lrich]: Es gibt eine leidenschaftl. Person in doppeltem Sinn. Eine sozusagen appetitive, die nach allem greift u[nd] alles in Angriff nimmt; u. eine andere, die schüchtern ist, schwer von Entschluß u[nd] voll unausdrückbarer Sehnsucht. Beide hat man wohl in sich“; vgl. auch ders.: Tagebücher. Heft 33 (1937–1941) (TB I, 918).
5. Das „typisch Nicht=neue“: Wildgans und Werfel
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Im Frühjahr 1922 hatte Musil in der Prager Presse eine Reihe von Theaterkritiken zu aktuellen Wildgans- und Werfel-Inszenierungen am Wiener Burgtheater veröffentlicht. In einer Art vorweggenommenem satirischen „Nekrolog“, In memoriam Antonii Wildgans, würdigt Musil das Talent des abtretenden Burgtheaterdirektors, das „ganz aus konventionell überkommenen Bühnenwirkungen zusammengesetzt“ sei. Wildgans wird hier zum Vertreter einer zeittypischen Spezies: der „juste-milieu-Menschen, die gereimt das aussprechen können, was sich jeder schon gedacht hat“.126 Und in der Premierenkritik zu Wildgans’ Kain-Drama nimmt das essayistische Ich, das sich gegenüber dem Dichter in die Rolle des Literaten begibt,127 drei Zeilen aus dem Wildgans-Gedicht Besinnung zum Anlass,128 um „neun Zehntel von des Meisters Wesen“ daraus abzulesen: „Ich möchte eigentlich anders beginnen, aber ein Vers des Meisters singt mit im Ohr und will sich nicht von mir trennen.“ Zugleich aber wird aus dem „Wesen“ und Erfolg dieses Dichters, ideologie- bzw. zeitkritisch „ein Stück deutscher Geistesgeschichte“ entwickelt.129 In enger Textarbeit und mit einer Reihe von markierten Zitaten – vergleichbar mit der Spengler-Kritik in Geist und Erfahrung (1921) – wird das Exemplarische, Zeitgeisttypische dieses Dichters, dem es, so Musil, an Geist mangelt, herausgearbeitet und der Dichter (Wildgans) von seinem Kritiker (Musil) als Mängelwesen gezeichnet: „Es fehlt diesem Poeten Besonderheit des Denkens. Er denkt allgemein.“130 Der geistreiche Kritiker des geistlosen Dichters vermag dagegen wie ein „Chemiker […] an einem Tropfen Bluts das Geschöpf“ zu erkennen131 und aus der Diagnose des Einzelnen auf das Allgemeine zu schließen: „So kommt man aus dem
_____________ 126 Ders.: In memoriam Antonii Wildgans. In: Prager Presse, 24. Februar 1922) (GW II, 1554–1555, hier 1554). 127 Ders.: „Kain“ von Anton Wildgans. In: Prager Presse, 9. Mai 1922 (GW II, 1576– 1580, hier 1576): „Durch solche Einwände läßt sich das deutsche Publikum jedoch keinen Dichter rauben, es erklärt sie als nur ästhetisch, auch als Literateneinwände […].“ 128 Ebd.: „Er [der Vers] lautet: ‚Es kann der Geist im Fertigen von Schuh’n / Tief’res Genügen finden und Bewenden / Als in des Denkens höchsten Gegenständen.‘“ 129 Ebd. 130 Ebd. S. 1577. 131 Ebd. S. 1576; vgl. J. v. Allesch: Robert Musil in der geistigen Bewegung seiner Zeit. In: Robert Musil. Leben, Werk, Wirkung. Hrsg. v. K. Dinklage. Reinbek bei Hamburg 1960. S. 133–143, hier S. 135: „Er [Musil] analysiert wie ein Chemiker das einzelne Ergebnis, er untersucht den Grundvorgang in den verschiedensten Einkleidungen, den verschiedensten Umweltgegebenheiten, den verschiedensten Personen, an denen und durch die er sich vollzieht. Sein Blick ist scharf und durch keine gemütvolle Anteilnahme gehemmt.“
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X. Essayismus als Metatext – Fremd- und Selbstkommentare
falschen Einzelfall einer ewigen Wahrheit zu dem, was allgemein gedacht wird.“132 Aus dem besonderen Fall der falschen Flexion des oft wiederholten Richtigen wird hier auf das allgemeine Bewusstsein des Falschen geschlossen. Doch nicht nur der „intellektuelle[ ] Mangel“, sondern auch der Mangel „auf dem Gebiete des Geschmacks“133 wird mit zahlreichen Zitaten aus dem „œuvre Wildgans“, mit „blütenlesende[n] Griff[en] ins Gesamtwerk“ belegt.134 Die „Zwitterart seines Erfolgs zwischen Gartenlaube und Dichtung“135 entspricht, so Musil, dem Wesen des Dichters als gegen die Spießer wetternder „Dichter der Spießer“.136 Die Erfolgsstory des Dichters Wildgans erweist sich in der kritischen Dekonstruktion seines Gesamtwerks als doppelte Konstruktion: 1.) bilden Wildgans Texte „den an der Familienblattliteratur großgezogenen Affekts- und Intellektsdurchschnitt des Spießbürgers“ ab und 2.) entspricht „die Vorstellung, die sich dieser Spießer vom Dichter macht“ eben der allgemeinen Erwartung der Spießer an den ihnen gemäßen Dichter-Typus.137 Die kritische Demontage des Wildgans-Bildnisses kommt am Ende des Essays noch einmal auf den Anfangssatz und somit den eigentlichen Anlass der Theaterkritik zurück, indem auch noch jenen Theaterbesuchern, die das mit großen Worten ausgefüllte Vakuum für die Bedeutung halten, Geistlosigkeit unterstellt wird.138 In der Theaterkritik „Bocksgesang“ von Franz Werfel (1922) wird der Dichter von seinem Kritiker zunächst vor dem Lob der zeitgenössischen Theaterkritiker – „Werfel sei das stärkste dramatische Talent nach Wildgans“ – gerettet: „so muß man denn doch sagen, daß es so schlimm natürlich beiweitem nicht ist.“139 Textreferenzen von Werfels Magischer Trilogie werden zwar nachgewiesen, auf Nietzsche, auf Maeterlinck und auf Fontana, zugleich wird diese dichterische „Passivität“, des (Text-)„Empfan-
_____________ 132 133 134 135 136
R. Musil: „Kain“ von Anton Wildgans (1922) (GW II, 1577). Ebd. Ebd. S. 1579. Ebd. S. 1578. Ebd. S. 1580; vgl. auch ders.: Aus einem Rapial (Nachlass): „In Deutschland suchen sie noch den Dichter, der Ausdruck der polit.[ischen] Errungenschaft ist, in Österr.[eich] hatten sie ihn schon vor dieser: A. Wildgans! der Als-ob-Dichter des zur absoluten Regentschaft gekommenen Durchschnittsmenschen. Die Spießbürger aller Parteien, die heroisch sein wollten, vereinigen sich in ihm.“ (GW II, 838) 137 Ders.: „Kain“ von Anton Wildgans (1922) (GW II, 1580). 138 Vgl. ebd.: „Ein Vakuum, von großen Worten ausgefüllt, die selbstverständlich leer sein müssen, und jene Langeweile, die der durchschnittliche Besucher ernster Theater für die Bedeutung hält.“ 139 Ders.: „Bocksgesang“ von Franz Werfel (1922) (GW II, 1560f.).
5. Das „typisch Nicht=neue“: Wildgans und Werfel
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gen[s]“ mit einer auto-intertextuellen Assimilation aus der eigenen, einen Monat zuvor veröffentlichten Theaterkritik zum Hauptmann-Drama Schluck und Jau entschuldigt:140 „man kann dies nur sehr indirekt als Maß der Originalität verwenden“.141 Am Schluss der Kritik wird dem Theaterstück Werfels allerdings trotz aller Einwände – oder gerade wegen dieser – ein Bühnenerfolg prognostiziert und das essayistische Ich hebt anerkennend hervor, dass Werfel seinen „Eklektizismus […] bewußt und artifiziell“ betreibe.142 Auch in Musils Premierenkritik „Spiegelmensch“ von Franz Werfel (1922) werden Text-Assimilationen nachgewiesen. In Bezug auf die Idee des Dramas habe Werfel „einfach eine Handvoll aus einem psychoanalytobuddhistischen oder Buddho-Schopenhauer-Freud-Großmannschen Taufbecken geschöpft […] (ein paar Tropfen christlicher Erlösungslehre gingen mit), um sein Werk damit zu besprengen.“143 Und hinsichtlich der titelgebenden Konstruktion des Spiegelmenschen erfahren wir, dass sich „die Legende von diesem zweiten Ich […] auf der einen Seite an Faust und Mephistopheles von Goethe, auf der andren an Herrn Pepinster und sein Gespenst von O. A. H. Schmitz anlehnt.“144 Diese im Metatext des Kritiker-Ich markierten intertextuellen Relationen führen jedoch auch hier nicht zur Abwertung des Dramas. Kritisiert wird vielmehr die erklärte Programmatik Werfels, der – so Musil – als Konzession an den Theaterbetrieb auf das Geistige im Drama zu verzichten müssen glaubt145 und dafür ersatzweise „theologische[ ] Unterscheidungen“ anbietet, an welche der moderne Mensch bzw. zeitgenössische Theaterbesucher nicht „mit dem gleichen Ernst schreitet wie an sein Mittagessen“.146 Anfang 1922 wird Musil von Efraim Frisch, der Musils Theaterkritiken in der Prager Presse gekannt haben wird, aufgefordert, „auch für den Neuen Merkur gelegentlich etwas Zusammenfassendes über das gleiche Thema“ zu schreiben und gefragt, ob Musil „nicht auch wieder einen größeren Aufsatz in Aussicht stellen“ könne.147 Nach der Rückfrage Mu-
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Vgl. ders.: Schluck und Jau (1922) (GW II, 1550). Ders.: „Bocksgesang“ von Franz Werfel (1922) (GW II, 1558). Ebd. S. 1561. Ders.: „Spiegelmensch“ von Franz Werfel. In: Prager Presse, 26. April 1922 (GW II, 1570–1574, hier 1571). Ebd. S. 1572. Ebd. S. 1573. Ebd. S. 1571. E. Frisch: Brief an Robert Musil vom 16. 1. 1922 (BR I, 255); zuvor hatte Musil Frisch aufgefordert, Die Schwärmer (1921) von Franz Blei im Neuen Merkur besprechen zu lassen; vgl. R. Musil: Brief an Efraim Frisch vom 23. 11. 1921 (BR I, 247).
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X. Essayismus als Metatext – Fremd- und Selbstkommentare
sils, ob ein „Aufsatz“ oder eine „Anmerkung“ gewünscht sei und der Zusage, direkt nach der Aufführung von Werfels Spiegelmensch mit dem ersten „Theaterbericht“ zu beginnen,148 erscheint im Juni 1922 der Essay Symptomen-Theater I. Es handelt sich bei diesem Essay um eine Theaterkritik, die vom inhaltlichen und stilistischen Anspruch Lessings Hamburgische Dramaturgie (1766/67) fortschreibt. Die als Fortsetzung geplante „Theaterübersicht“149 ist einerseits ein Rückblick auf die Wiener Theatersaison und andererseits eine Zeitkritik, welche „Wien als Theaterstadt“ als kulturelles Symptom des allgemeinen geistigen Zustandes liest.150 Ausgangspunkt ist die Metakritik einer Kritik zu Hermann Sudermanns Morituri-Zyklus. Von der in dieser Kritik enthaltenen lobenden Formel von „Temperament und Theater“151 wird vom kritischen Ich auf den Gegenstand zurückgeschlossen. Der Geistlosigkeit der Dichter und ihrer Zeit entspreche symptomatisch ein Theater der Sentimentalismen: „Dieses Theater ist nichts als der durch die höhere Schule der Baumeisterei gegangene Bruder des Kolportageromans.“152 Und Musil bringt eine programmatische Forderung Georg Kaisers („Geist in Bewegung umzusetzen“)153 ein wenig zum Zappeln: Die geistige Bewegung der „berühmtesten Dramatiker der Gegenwart“154 beschränke sich darauf – so Musil, den Rückblick auf die noch laufende Theatersaison zu einer allgemeinen Kritik des Impressionismus und Expressionismus ausweitend – nicht vorhandenen Geist auf der Bühne zu bewegen bzw. Geistlosigkeit auf dem Fleck umzurühren.155 Ausgenommen von dieser allgemeinen Diagnose – des Theaters wie der Zeit – werden nur drei „Dichterstücke“: Kanzlist Krehler von Georg Kaiser sowie die beiden Werfel-Dramen Bocksgesang und Der Spiegelmensch. Hatte Musil in seiner vorangegangenen Kritik des Bocksgesang die Diagnose des Eklektizismus noch mit dem (positiven) Kennzeichen „bewußt und
_____________ 148 R. Musil: Brief an Efraim Frisch vom 20. 4. 1922 (BR I, 257). 149 E. Frisch: Brief an R. Musil vom 16. 1. 1922 (BR I, 255). 150 Vgl. ders.: Symptomen-Theater I. In: Der Neue Merkur, Juni 1922 (GW II, 1094– 1103, hier 1094): „Motto: Wenn es zurückgeht, sind die Letzten vorauf. Das ist die Bedeutung, welche Wien als Theaterstadt innerhalb des geistigen Deutschland heute zukommt.“ 151 Ebd. S. 1095. 152 Ebd. S. 1096. 153 Ebd. S. 1097. 154 Ebd. S. 1096. 155 Ebd. S. 1097; vgl. auch ders.: Stücke aus der Zeit (1924): Kaiser sei nicht „der Dramatiker des Geistes“, für den man ihn halte: „es findet sich nicht ein Gedanke in diesem Stück [Gas I und II], der nicht aus der geistigen Konkursmasse unserer Literatur stammte.“ (GW II, 1650)
5. Das „typisch Nicht=neue“: Wildgans und Werfel
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artifiziell“ versehen,156 so heißt es hier ebenso widersprüchlich157 wie deutlich abwertend, dass in die „künstlerisch entzückenden Rahmenideen […] enttäuschend wenig hineingebaut“ sei: „Anklänge – gerade weil unbewußt! – an Fontane, Byron, Ibsen, Goethe, Maeterlinck“.158 Wie bereits im Fall der Hauptmann-Kritiken gezeigt, bedient sich Musil zwar einerseits der Unterscheidung ‚bewusst‘ vs. ‚nicht-bewusst‘, um intertextuelle Referenzen wertend zu spezifizieren, kommt aber andererseits beim gleichen Gegenstand (Autor, Text) zu unterschiedlichen und einander widersprechenden Ergebnissen. So fügt sich die dem Dichter (Werfel) von seinem Kritiker (Musil) unterstellte nicht-bewusste Textassimilation auf der syntagmatischen Ebene besser zu der abschließenden Zeitdiagnose: „So kann man wohl sagen, daß er [Werfel] mit einigen tiefen Ideen zu spielen glaubte, aber sie spielten mit ihm.“ Aus den Werken Werfels wird das „Gesicht der Zeit“ herausgelesen.159 Und umgekehrt: In Der Mann ohne Eigenschaften wird das „Gesicht der Zeit“ in den Zitat- und Spiegelmenschen Friedel Feuermaul hineingelesen, „dessen Namen auf karnevalistische Art das Sem ‚Krieg‘ mit dem Sem ‚Frieden‘ verbindet“.160 „[D]as Werfel“, das singt, wenn ein Krieg lärmt, der „mondäne[ ] Schoßigel empfindsamer Seelen“ und Salon-Caruso aus Bleis Großem Bestiarium (1924),161 wird gemeinsam mit Frau Melanie Drangsal alias Alma MahlerWerfel in Hermine Tuzzis Salongesellschaft Eingang finden.162 Der Essay Symptomentheater I (1922), der sich explizit nicht nur als Wiener Theater(-saison-)kritik, sondern zugleich auch als Zeit- bzw. Kulturkritik versteht, endet schließlich mit einer Analyse des zeitgenössischen Wildgans-Phänomens. Das essayistische Ich ist hier allerdings nicht mehr
_____________ 156 157 158 159 160
Ders.: „Bocksgesang“ von Franz Werfel (1922) (GW II, 1561). Vgl. ebd. S. 1561. Ders.: Symptomen-Theater I (1922) (GW II, 1099). Ebd. S. 1100. P. V. Zima: Robert Musils Sprachkritik. Ambivalenz, Polyphonie und Dekonstruktion. In: Robert Musil – Theater, Bildung, Kritik. Hrsg. v. J. Strutz. München 1985. S. 185–204, hier S. 191. 161 F. Blei: Das große Bestiarium der Literatur (1924). Frankfurt a. M. 1982. S. 72f.; in Franz Werfels Barbara oder die Frömmigkeit (Berlin/Wien/Leipzig 1929) könnte in der Charakterisierung Basils alias Franz Bleis als Kaffeehaus- und parasitärer Salondichter eine intertextuelle bzw. interauktoriale Revanche gesehen werden. 162 Vgl. R. Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. 2. Buch (1932) (MoE, II, 976ff.); vgl. ebd. S. 1000f. das Gespräch zwischen Regierungsrat Meseritscher und Diotima über das Genie Feuermaul und S. 1018f. das Gespräch zwischen Ulrich und Graf Leinsdorf über Feuermauls Elternhaus und Vaterprobleme sowie S. 1032f. das Gespräch zwischen dem „junge[n] Dichter Friedel Feuermaul“, dessen „Liebesbock […] ‚der Mensch‘“ ist und „seiner Freundin Drangsal“, dieser „ihrer Heimat zur Ehre gereichende Witwe und dazu Inhaberin eines geistigen Schönheitssalons“.
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X. Essayismus als Metatext – Fremd- und Selbstkommentare
nur kritisch beobachtender Physiognomist, welcher aus den Texten zeitgenössischer Dichter das „Gesicht der Zeit“ liest, sondern es wird überdies zum Operateur. Monsieur le vivisecteur163 beschränkt sich in diesem Fall nicht auf eine Introspektion der eigenen Gehirnlandschaft,164 sondern schreitet zu einer „zeitkritischen Schädeltrepanation“.165 Die „zugreifende Hand“ ist hier nicht die des Dichter-„Raseur[s]“ (Wildgans), sondern die des Kritiker-Chirurgen (Musil),166 wenn der mit dem Autornamen Wildgans versehene Textkörper an der knöchernen Schädeldecke durchbohrt und in eine Vielzahl von markierten Zitaten zerlegt wird. Die ‚blütenlesende Hand‘ arbeitet hier mit dem Trepan: Das chirurgische Ich zerlegt nicht nur ‚die Wildgans‘,167 sondern seziert auch eine der kurz zuvor in der Prager Presse veröffentlichten Theaterkritiken Musils, die in den Essay Symptomen-Theater I (1922) eingefügt wird. Der WildgansAbschnitt im Essay besteht aus einer auto-intertextuellen Assimilation der Theaterkritik zu Wildgans’ Kain-Drama. Hier wie dort wird die Geistlosigkeit von Werk und Dichter, die sich auf die Kunst des Reimens beschränke, als Symptom für den geistigen Zustand der Nation gelesen: „Ich möchte nicht viel Worte über sein Stück Kain verlieren. Dieses biblische Stück ist leer wie eine Gießkanne, auf der einer Beethoven bläst.“168 Beide Texte, Musils Prätext („Kain“ von Anton Wildgans) wie dessen assimilierender Folgetext (Symptomen-Theater I), unterscheiden sich allein durch die Streichung von Polemiken gegen Dichter wie Publikum,169 einige Umfor-
_____________ 163 Ders.: Tagebücher. Heft 4 (1899?–1904?) (TB I, 1). 164 Vgl. ders.: Über Robert Musil’s Bücher. In: Der Lose Vogel. Nr. 7, Januar 1913 (GW II, 995–1002). 165 Ders.: Symptomen-Theater I (1922) (GW II, 1100). 166 Vgl. ebd. S. 1103: „Aus einer zugreifenden Hand kann eben ein berühmter Chirug werden, aber auch ein guter Raseur.“ Vgl. die identische Textpassage in ders.: „Kain“ von Anton Wildgans (1922) (GW II, 1579). 167 Vgl. F. Blei: Das große Bestiarium der Literatur (1924). S. 74: „Die Wildgans ist eine ganz zahme Hausgans, gern in Wiener Kleinwohnungen gehalten. Kinder binden ihr, da ihr Flügel fehlen, solche aus Papier an, worauf die Wildgans sehr stolz ist und Flugbewegungen macht.“ 168 R. Musil: Symptomen-Theater I (1922) (GW II, 1100). 169 Vgl. ders.: „Kain“ von Anton Wildgans (1922) (GW II, 1576): „aber ein Vers des Meisters singt mit im Ohr und will sich nicht von mir trennen“, „So nenne ich ihn [den Vers] als Omen und Anfang“, „des Meisters Wesen“, „Durch solche Einwände läßt sich das deutsche Publikum jedoch keinen Dichter rauben.“ Ebd. S. 1578: „Aber man muß sich schon jetzt auf das Nachdrücklichste gegen die Behauptung wehren, daß wir Deutschen Klumpfüße haben und Bier zum Frühstück essen.“ Ebd. S. 1579: „folgender blütenlesender Griff ins Gesamtwerk“, „Hier gattet sich mit einem theatralischen Wolfshunger ein Julius Wolff-Geschmack.“ „œuvre Wildgans“ etc.
5. Das „typisch Nicht=neue“: Wildgans und Werfel
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mulierungen,170 die Pointierung einiger Passagen,171 Kürzungen und Hinzufügungen172 sowie durch den jeweiligen Prolog und Epilog. In seinem Kommentar zum Symptomen-Theater I (1922) glaubt Adolf Frisé eine genrebedingte Unsicherheit bzw. Unerfahrenheit des Autors für die auto-intertextuellen Assimilationen verantwortlich machen zu können: „RM [Robert Musil] nahm seine Rezension in der PP [Prager Presse] vom 9. V. […], da er sich der Form für diese Übersichtsberichte wohl noch nicht recht sicher war, weitgehend wörtlich in den ersten Beitrag der Reihe hinein“.173 Grundsätzlich wird die editionsphilologische Differenzierung zwischen ‚Prosa‘, ‚Essays‘ und ‚Kritiken‘ von Frisé jedoch nicht in Frage gestellt: „Aber es war, auch beim Nachdruck der Wildgans-Besprechung (nach immerhin erst drei, vier Wochen), kaum mehr eine unmittelbare, eher eine zeitverschobene Aktualität.“174 Ein ‚Essay‘ ist demnach implizit etwas, das von einem Besonderem zu einem Allgemeinen führt, und eine ‚Kritik‘ ist in diesem Fall etwas, das einen aktuellen Anlass benötigt. Und dies gilt wohl auch, wenn der als Theaterkritik klassifizierte Text ebenso wie der als Essay rubrizierte am Besonderen (Anton Wildgans und sein Kain-Drama) das Allgemeine reflektiert: Diese „Arbeiten“, das Symptomen-Theater sind, so Frisé, „nicht als Teil der Tageskritik mißzuverstehen (und dort auch nicht zu placieren)“.175 Die Kategorien selbst jedoch, die vom Autor Musil beständig theoretisch reflektiert und praktisch transgrediert werden – sei es in der „Gedankenlyrik“ der Vereinigungen,176 im essayistisch-motivierten Schwär-
_____________ 170 Vgl. ebd. S. 1577: „Sie wird das gleichgültig antworten oder verliebt oder selig, oder wie immer“ sowie ders.: Symptomen-Theater I (1922): „Hundert verschiedene Menschen werden diese Antwort in vielleicht zehn verschiednen Gemütslagen geben […].“ (GW I, 1101) 171 Vgl. ders.: Symptomen-Theater I (1922): „Dieses gewisse Ungewisse der Beobachtung des Lebens und ungefähre Verknüpfen der Beobachtung mit bereitstehenden Redensarten ist die bekannte Psychologie dessen, was allgemein gedacht wird und – allgemein gern mit den ewigen Wahrheiten verwechselt wird […].“ (GW II, 1001). Vgl. ders.: „Kain“ von Anton Wildgans (1922): „Es fehlt diesem Poeten an Besonderheit des Denkens. Er denkt allgemein. So kommt man aus dem falschen Einzelfall einer ewigen Wahrheit zu dem, was allgemein gedacht wird.“ (GW II, 1577) etc. 172 Vgl. ders.: Symptomen-Theater I (1922): „[…] jene Menschenart mit dem Kalendergefühl ist die gleiche wie die der Sylvesternachdenklichkeit und der sonstigen tiefen Stunden des Bürgertiers […].“ (GW II, 1101) 173 A. Frisé (GW II, 1811). 174 Ebd. 175 Ebd. 176 R. Musil: Aus einem Rapial (Nachlass) (GW II, 830).
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X. Essayismus als Metatext – Fremd- und Selbstkommentare
mer-Drama177 und, last but not least, im Essayroman Mann ohne Eigenschaften – bleiben bei Frisé jedoch unhinterfragt. „[D]er engen Verflechtung innerhalb des Musil’schen Werks, der sich wieder und wieder bestätigenden Wechselwirkung zwischen dem poetischen und dem theoretischen Werk, zwischen den Romanen, Erzählungen hier, den Aufzeichnungen, Aphorismen, Essays dort“,178 die Frisé selbst hervorhebt, entspräche allerdings konsequenter Weise eine andere Editionsweise. Diese ordnete die zu Lebzeiten veröffentlichten Texte nicht nach den Kriterien ‚literarisch‘ vs. ‚nicht-literarisch‘ bzw. ‚fiktiv‘ vs. ‚nicht-fiktiv‘, sondern chronologisch und verwiese im Kommentar auf das Nachlasskonvolut wie auf die auto- und hetero-intertextuellen Assimilationen, die für dem Musil’schen Vertextungszusammenhang konstitutiv sind.
6. Robert Musil und Hermann Broch: der Plagiatvorwurf oder Essayismus als „absolute Verkitschung“ Es ergeben sich zwei Syllogismen: Die Kunst blättert den Kitsch vom Leben. Der Kitsch blättert das Leben von den Begriffen. Und: Je abstrakter die Kunst wird, desto mehr wird sie Kunst. Je abstrakter der Kitsch wird, desto mehr wird er Kitsch. Das sind zwei herrliche Syllogismen. Wer sie auflösen könnte! Nach dem zweiten scheint es, daß Kitsch = Kunst ist. Nach dem ersten aber ist Kitsch = Begriff - Leben. Kunst = Leben Kitsch = Leben - Begriff + Leben = zwei Leben - Begriff. Nun ist aber, nach II, Leben = 3 x Kitsch und daher Kunst = 6 x Kitsch - Begriff. Also was ist Kunst?179 (Robert Musil) Zitate in meiner Arbeit sind wie Räuber am Weg, die bewaffnet hervorbrechen und dem Müßiggänger die Überzeugung abnehmen.180 (Walter Benjamin)
_____________ 177 Vgl. B. C. Marinoni: Essayistisches Drama. Die Entstehung von Robert Musils Stück „Die Schwärmer“. München 1992. 178 A. Frisé: Nachwort (GW II, 1950). 179 R. Musil: Schwarze Magie. In: ders.: Nachlaß zu Lebzeiten (1936) (GW II, 501–504, hier 503). 180 W. Benjamin: Kurzwaren. In: ders.: Einbahnstraße (1928). Frankfurt a. M. 1955. S. 108.
6. Robert Musil und Hermann Broch: der Plagiatvorwurf
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Während zwei Aspekte der Intertextualität, nämlich ‚Assimilation‘ (als Textübernahme bzw. -einverleibung) und ‚Anthropoetaphagentum‘ (als Autoren-Kannibalismus bzw. kritische Textfortschreibung) von Musil metatextuell kommentiert werden, bleibt der Sachverhalt der Menschenräuberei (plagium) bzw. Textpiraterie (Plagiat) als mehrfache Leerstelle eingeschrieben. Dies mag daran liegen, dass der Plagiatvorwurf mit Konzepten von geistigem Eigentum (juristisch), von Wesen oder Substanz (philosophisch) sowie von dichterischer Originalität (ästhetisch) korreliert. Dagegen hat Musil in der literarischen Praxis – dies hat vor allem die Zusammenarbeit mit Blei gezeigt – und der theoretischen Reflexion dieser Praxis das Prinzip von Assimilation als Abschreiben (synchron) und Wiederholung (diachron) gesetzt. Im Tagebuchheft 30 ist der Entwurf zu einer „satirischen Behandlung des Großschriftstellerthemas“181 – Wunschprojekt einer Dichter(dynastien)synthese wie narzisstischer Albtraum gleichermaßen – zu finden. Es handelt sich bei diesem Metatext zum Plagiarismus um eine Traumnotiz. Musil notiert einen Traum Martha Musils, in dem sie den „Großschriftsteller“-Komplex ihres Mannes projiziert: Martha träumt, dass sie kurz vor der Hochzeit ihrer Tochter Annina Marcovaldi mit Dr. Otto Rosenthal in der Mittagszeitung – „für mich [Robert Musil] zurückgesetzt sich lebhaft fühlend“ – liest: „Trauung des Sohnes Thomas Manns in der ..kirche usw. mit allem Zeitungszubehör. Kein Wort aber darüber, daß er die Tochter R[obert] M[usil]s. heiratet.“ Martha versucht Fontana zu erreichen, „um der Beleidigung für mich vorzubeugen usw.“182 Musil entwickelt aus der Traumerzählung Marthas den folgenden Plot, der die mediale Konstruktion jenes Soziotypus ‚Großschriftsteller‘ aufdeckt, welcher auch als literarische Verdichtung von Walther Rathenau und Thomas Mann in die Arnheim-Figur von Der Mann ohne Eigenschaften eingegangen ist: „Ein Hochstapler gibt sich für den Sohn Th.[omas] M[ann]’s. aus. Was dann die Zeitungen mit diesem Spatzenschreck angäben (s. auch Klaus Mann) Was sie erzählen usw.“ Diesem fingierten Thomas Mann-Sohn wird nun in der Fiktion Annina Marcovaldi, die adoptierte Musil-Tochter zugeführt. Und der solcherart weniger als TextRäuber denn als Robin Hood in Sachen Literatenehre konstruierte ‚gefälschte‘ Schwiegersohn erweist seinem Schwiegervater Dank, indem er – „[u]m die Überschätzung M[anns]’s. ad absurdum zu führen, also in meinem [Musils] Interesse u.[nd] um sich bei uns als literarisch u[nd]
_____________ 181 R. Musil: Tagebücher. Heft 30 (1929–1941?) (TB I, 808). 182 Ebd. S. 807; Annina Marcovaldi und Dr. Otto Rosenthal heirateten am 23. 12. 1923, im Juni 1924 verlobten sich Klaus Mann und Pamela Wedekind.
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X. Essayismus als Metatext – Fremd- und Selbstkommentare
A[nnina]s. ebenbürtig einzuführen“ – auf „die Idee des Plagiats“ kommt.183 Soweit der Wunschtraum bzw. Plot, für den der schauspielernde Freund Franz Blei als Felix Krull avant la lettre eine ideale Besetzung dargestellt hätte. Auf der Ebene des Diskurses erwägt Musil, „das Motiv des KulkaPlagiats an Jean Paul“ hineinzuflechten.184 Der expressionistische Lyriker Georg Kulka hatte in den Blättern des Burgtheaters (1919/20) unter dem Titel Der Gott des Lachens einen Textauszug aus Jean Pauls Vorschule der Ästhetik ohne Quellenangabe veröffentlicht.185 Dem Burgtheater-Dramaturgen und Herausgeber Erhard Buschbeck gegenüber bedauert Musil zwar in einem Brief vom 7. August 1920 das von Karl Kraus entlarvte „Mißgeschick“, gibt aber gleichzeitig an, das Übersehen des literarischen Kuckuckseis186 „nicht gar so schrecklich“ zu finden. Dem Nichterkennen der unmarkierten Textreferenz bzw. -übernahme wird vielmehr die mangelnde Selbstreflexion des Plagiators Kulka in Bezug auf dessen eigene nicht-bewusste literarische Abhängigkeiten – die Bedingungen seiner textuellen Konstitution und somit die fehlende metatextuelle Referenz – entgegengesetzt: „Schlimmstenfalls wäre Ihnen passiert, daß Sie Jean Paul nicht erkannt haben, er [Georg Kulka] aber merkt die Göthekopie nicht einmal in den Gedichten, die er selbst macht.“187 Leider ist Musils literarischer Metatext zum Plagiat – bzw. ‚Hypertext‘ in der Terminologie Gérard Genettes’188 – Projekt geblieben. Um eine weitere Leerstelle in Sachen Textpiraterie handelt es sich bei einem verloren gegangenen Brief Robert Musils an Hermann Broch. Der Inhalt dieses Briefes ist nur durch einige Paratexte Musils, vor allem aber durch Hermann Brochs Antwort vom 2. September 1933 zu erschließen, der das expliziert, was Musil selbst wohl unausgesprochen gelassen hat: „Es fehlt nur noch der Verdacht des Plagiats.“189 Gérard Genette ordnet in Palimpseste das Plagiat als „eine nicht deklarierte, aber immer noch wörtliche Entlehnung“ (emprunt) wie auch das markierte Zitat und die Anspielung, dem ersten der fünf Typen transtextueller Beziehungen, der Intertextualität als „Beziehung der Kopräsenz zweier
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Ebd. S. 808. Ebd. Vgl. hierzu A. Frisé (TB II, 589). Vgl. K. A. Horst: Das literarische Kuckucksei. Deutscher Geist zwischen Gestern und Morgen. Bilanz der kulturellen Entwicklung seit 1945. Hrsg. v. J. Moras/H. Paeschke. Stuttgart 1954. S. 371–382. 187 R. Musil: Brief an Erhard Buschbeck vom 7. 8. 1920 (BR I, 203f.) 188 G. Genette: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Frankfurt a. M. 1993. S. 14f. 189 H. Broch: Brief an R. Musil vom 2. 9. 1933 (BR I, 580).
6. Robert Musil und Hermann Broch: der Plagiatvorwurf
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oder mehrerer Texte“ bzw. „Präsenz eines Textes in einem anderen Text“ zu.190 Der Plagiatvorwurf Musils findet sich in uneigentlich-metaphorischer Rede auch in einer Tagebuchnotiz unter dem Stichwort Broch vom September/Oktober desselben Jahres: „Anlehnung. Wenn man sich an eine Mauer lehnt, hat der ganze Anzug weiße Flecken. Ohne daß es Plagiat wäre.“191 Worum geht es bei dieser ‚Anlehnung‘ (Musil) bzw. ‚Entlehnung‘ (Genette)? In seinem Antwortbrief auf Musils offensichtlich nur indirekt geäußerten Plagiatvorwurf arbeitet Broch auf der Beziehungsebene mit Dichotomien, die aufgrund ihres ebenso ambivalenten wie hochgradig (selbst-)reflexiven Charakters nur auf den ersten Blick erstaunte Kollegialität bzw. kollegiales Erstaunen zum Ausdruck bringen. Auf den zweiten Blick jedoch wenden sie den Stoß des Angreifers auf diesen zurück, der mit seinen eigenen Waffen bzw. Argumenten geschlagen wird.192 Der „militante[n] Art“ Musils werden die „verehrungsvollen und freundschaftlichen Gefühle“ Brochs gegenübergestellt, Musils Verhältnis der „Konkurrenz“ der „Respekt“193 Brochs. Und Brochs „Verblüffung“ entspricht „wörtlich“ genommen194 der bluff des Adressaten. a) Hermann Broch: Das Weltbild des Romans (1933) und Das Böse im Wertsystem der Kunst (1933) Auf der Sach- bzw. Inhaltsebene bezieht sich Broch in seinem Brief an Musil vom 2. September 1933 auf seinen Vortrag, der dem im August 1933 in der Neuen Rundschau publizierten „ominösen Aufsatz“195 Das Böse im Wertsystem der Kunst vorangegangen ist. Broch hatte den Vortrag Das Weltbild des Romans im März 1933 zunächst im Budapester Cobden-Club und vier Tage später in der Sozialdemokratischen Kunststelle des Ottakringer Volksheims in Wien gehalten.196
_____________ 190 G. Genette: Palimpseste (1993). S. 10; Hervorhebung v. B. N. 191 R. Musil: Tagebücher. Heft 31 (1930–1936) (TB I, 826); Hervorhebung v. B. N. 192 Vgl. hierzu auch G. Brokoph-Mauch: Robert Musils und Hermann Brochs persönliches Verhältnis in ihrem Briefwechsel. In: Robert Musil. Essayismus und Ironie. Hrsg. v. G. B.-M. Tübingen 1992. S. 173–186, hier S. 175: „Brochs Brief ist ein Meisterwerk der epistolaren Fechtkunst“. 193 H. Broch: Brief an Robert Musil vom 2. 9. 1933 (BR I, 580). 194 Ebd. S. 581. 195 Ebd. 196 Vgl. P. M. Lützeler: Hermann Broch. Eine Biographie. Frankfurt a. M. 1985. S. 142f.
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X. Essayismus als Metatext – Fremd- und Selbstkommentare
Die Möglichkeit, dass es sich bei diesem erst 1955, also posthum veröffentlichen Vortrag197 um eine ‚Anlehnung‘ an bzw. ‚Entlehnung‘ aus Musils Essay Literat und Literatur (1931) handeln könnte, wird wiederum nicht von Musil direkt geäußert bzw. von Broch zitiert, sondern von diesem nur aus dem Nichtgesagten bzw. zwischen die Zeilen Geschriebenen vermutet bzw. geschlossen: „Was Sie mit ihrem Brief meritorisch meinten, war mir durchaus undurchschaubar. Erst später dämmerte mir, daß meine Kenntnis Ihres Œuvres eine Lücke aufweist und daß vielleicht in dieser Lücke das reale Substrat Ihrer Anwürfe stecken könnte: Sie haben vor etwa zwei Jahren einen Aufsatz in der N.[euen] Rundschau gehabt, den ich wohl zu lesen begonnen habe, aber niemals zu Ende las“.198 Dem Vorwurf der Texträuberei bzw. des gestohlenen geistigen Eigentums wird dadurch begegnet bzw. ausgewichen, dass „irgendjemand“ das materielle Substrat, den Text, „das Heft weggenommen und nicht mehr zurückgegeben hat.“199 Die Frage nach einer bewussten oder nichtbewussten Assimilation kann sich aufgrund mangelnder Textkenntnis („Lücke“) so erst gar nicht stellen.200 Der Raub geistigen Eigentums ist vorab durch den Raub des materiellen Textsubstrats, dem Septemberheft der Neuen Rundschau, vereitelt worden. Allerdings versucht Broch diese Text-„Lücke“ nachträglich zu schließen. Dies zeigt ein Brief vom 20. September 1933 an Peter Suhrkamp, der seit Anfang 1933 verantwortlicher Redakteur der Neuen Rundschau ist: „vor etwa zwei Jahren hat Robert Musil einen Aufsatz über lyrische Dichtung (den genauen Titel weiß ich nicht) in der Neuen Rundschau publiziert, und diesen Aufsatz würde ich dringend brauchen“.201 Broch scheint sich jedoch nicht ganz sicher zu sein, an welchem Text Musils er sich plagiativ vergangen haben soll, denn am Schluss seines Briefes an Musil heißt es – gleichermaßen beflissen wie auf ironische Weise „ergeben[ ]“: „Es versteht sich, daß ich mir jetzt jenen Aufsatz, der damals von Ihnen in der Rund-
_____________ 197 S. H. Broch: Das Weltbild des Romans. In: ders.: Dichten und Erkennen. Essays. Hrsg. v. H. Arendt. Zürich 1955. S. 211–239. Musil hielt sich im Frühjahr 1933 noch in Berlin auf und kommt erst – nach einem Kuraufenthalt in Karlsbad und einem Urlaubsaufenthalt bei Gräfin Dobrzensky auf Schloß Potstejn wieder nach Wien zurück; vgl. K. Corino: Robert Musil (2003). S. 1920. 198 H. Broch: Brief an Robert Musil vom 2. 9. 1933 (BR I, 581). 199 Ebd. 200 Vgl. ebd.: „Nun ist es zwar eine persönliche Blamage für mich, daß ich Ihren Aufsatz nicht kenne […].“ 201 Ders.: Brief an Peter Suhrkamp vom 20. 9. 1933. In: ders.: Kommentierte Werkausgabe. Hrsg. v. P. M. Lützeler. Bd. 13/1: Briefe 1 (1913–1938). Frankfurt a. M. 1981. S. 255.
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schau publiziert worden ist, besorgen werde. Sollten Sie aber mit Ihrem Brief nicht diesen gemeint und ich eine andere Stelle ihres Arbeitsgebietes übersehen haben, so wäre ich ihnen für einen Hinweis verbunden.“202 Zu Beginn, im Problemaufriss von Brochs Essay Das Böse im Wertsystem der Kunst (1933), wird die Frage gestellt, mit der Musils Essay Literat und Literatur (1931) geendet hatte: Es ist jene nach der Aufgabe der Dichtung.203 In beiden Texten geht es um das Verhältnis von wissenschaftlicher und ästhetischer Erkenntnis, in beiden Texten wird unter der zeitdiagnostischen Grundannahme einer Dichotomie204 von Rationalismus und Irrationalismus die spezifische Erkenntnisleistung der Dichtung in der Synthese gesehen. Die unbestimmt-offengelassene Frage am Ende des Musil-Textes jedoch wird bei Broch zur Ausgangsthese. Dieser entwickelt aus einer (unmarkierten) Referenz auf Max Webers205 soziologisches Postulat der Ausdifferenzierung verschiedener gesellschaftlicher Teilsysteme (Wirtschaft, Politik, Religion, Kunst) seit Beginn der frühen Neuzeit die ethische Frage nach dem richtigen Leben, um die er den soziologischen Befund ergänzt: „Was sollen wir tun?“206
_____________ 202 Ders.: Brief an Robert Musil vom 2. 9. 1933 (BR I, 582). 203 Vgl. R. Musil: Literat und Literatur (1931): „Das ergibt natürlich die Frage, was denn das Ziel eines solchen Wurfes sei oder, unbildlich gesprochen, welche Aufgabe die Dichtung besitze.“ (GW II, 1223) Vgl. H. Broch: Das Böse im Wertsystem der Kunst. In: Die Neue Rundschau 44. Bd. 2, August; abgedr. in: ders.: Kommentierte Werkausgabe. Bd. 9/2: Schriften zur Literatur 2: Theorie. Frankfurt a. M. 1975. S. 119–158, hier S. 119: „Bringt die Kunst all dies zum Ausdruck? Ist sie dieser Aufgabe gewachsen? / Und darüber hinaus: Ist die Kunst überhaupt noch befähigt, solche Aufgabe zu lösen?“ 204 Vgl. H. Broch: Das Böse im Wertsystem der Kunst (1933). S. 122: „Die ungeheure Spannung zwischen Gut und Böse, die bis zur Unerträglichkeit übersteigerte Polarität zwischen allen Gegensatzpaaren, die dieser Zeit eigen ist […].“ 205 Vgl. hierzu auch M. Durzak: Hermann Broch. Reinbek bei Hamburg 2001. S. 60: „Da Max Weber 1918 in Wien lehrte und Broch ihn zweifelsohne gehört hat […].“ 206 H. Broch: Das Böse im Wertsystem der Kunst (1933). S. 121; vgl. ebd. S. 143: „Und je polarer die Welt und ihre Wertsystematik wird, desto größer und quälender die Wertspannung der Welt wird, desto schwerer wird die Aufgabe und die seelische Situation des einzelnen, desto schwieriger wird er mit dem ihm auferlegten Gut und Böse fertig. Vgl. auch M. Weber: Wissenschaft als Beruf (1919). In: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Hrsg. v. J. Winckelmann. 4. Aufl. Tübingen 1973. S. 582–614, hier S. 594: „Die einfachste Antwort hat Tolstoj gegeben mit den Worten: ‚Sie [die Wissenschaft] ist sinnlos, weil sie auf die allein für uns wichtige Frage: ‚Was sollen wir tun? Wie sollen wir leben?‘ keine Antwort gibt.‘ Die Tatsache, daß sie diese Antwort nicht gibt, ist schlechthin unbestreitbar. Die Frage ist nur, in welchem Sinne sie ‚keine‘ Antwort gibt, und ob sie statt dessen nicht doch vielleicht dem, der die Frage richtig stellt, etwas leisten könnte.“ Hervorhebung v. B. N.
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Die zeitkritische Diagnose – der Aufsatz erschien ein halbes Jahr nach der nationalsozialistischen Machtübernahme – ist bei Broch auf der Beobachter-Ebene des Metadiskurses mit einer diagnostischen Wertung verbunden, die als Grundannahme sein philosophisches wie dichterisches Werk bestimmt: den „Zusammenbruch aller Werte“.207 Einer negativ bewerteten „Gegenwart, die der Wertanarchie“ verfallen ist,208 wird eine positiv bewertete „Totalität“, das „Wertorganon“ eines „christlichplatonischen Weltbild[es] des Mittelalters“, gegenübergestellt.209 Wie bei Lukács korreliert auch bei Broch die Sehnsucht nach der verloren geglaubten Totalität als quasi-archimedischer Punkt mit der zu überwindenden Zerrissenheit von Welt und menschlichem Individuum.210 Der sentimentalischen Suchbewegung211 des modernen Menschen von Arkadien bis Elysium ist auf der Grundlage der triadischen Geschichtsphilosophie auch bei Broch das „Ziel“ als „unverkennbar platonisches“ bereits vorgegeben.212 Auch dem innerhalb des Kunstsystems geltenden obersten Funktionswert,213 dem Schönen bzw. Ästhetischen, liegt – aus der exter-
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H. Broch: Das Böse im Wertsystem der Kunst (1933). S. 124. Ebd. S. 122. Ebd. S. 130. Ebd. S. 156: „[…] dann erst wird auch wieder die Spannung und der krampfhafte Streit des Artverschiedenen aus der Welt, aber auch von der Menschenseele weichen, deren Zerrissenheit mit der Wertzerrissenheit der Welt identisch ist.“ Vgl. G. Lukács: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik (1916/20). Darmstadt/Neuwied 1971. S. 21 „Deshalb ist Philosophie als Lebensform sowohl wie als das Formbestimmende und das Inhaltgebende der Dichtung immer ein Symptom des Risses zwischen Innen und Außen, ein Zeichen der Wesensverschiedenheit von Ich und Welt, der Inkongruenz von Seele und Tat.“ 211 H. Broch: Das Böse im Wertsystem der Kunst (1933). S. 121: „[…] daß das Zwischenstadium des Nicht-mehr und des Noch-nicht, daß dieses Zwischenstadium, in dem die Verwirrung des Untergangs sich mischt mit der Verwirrung des Suchens, den Ausgangspunkt zu einem neuen geistigen Zusammenschluß bilden muß.“ Hervorhebung v. B. N. 212 Ebd.; vgl. hierzu ders.: Kapitel 55: Zerfall der Werte (7) Historischer Exkurs. In: ders.: Kommentierte Werkausgabe. Bd. 1: Die Schlafwandler. Eine Romantrilogie (1931/32). Frankfurt a. M. 1994. S. 534: „[…] kein theologisches Weltsystem, das nicht deduktiv wäre, d. h. das nicht alle Erscheinungen aus einem obersten Prinzip, also aus Gott, vernunftmäßig abzuleiten sucht, und jedweder Platonismus, von hier aus gesehen, ist letzten Endes deduktive Theologie.“ 213 Vgl. ders.: Das Böse im Wertsystem der Kunst (1933). S. 140: „[…] was als Wert oder Unwert, als böse oder gut zu gelten hat, obliegt dem System; das ‚Böse‘, von dem aus sich das Wertsystem konstituieren soll, ist nicht absolut, sondern – angesichts der Relativität der Werte – Funktion des Systems.“ In seinem Vortrag Das Weltbild des Romans (1933; abgedr. in: ders.: Kommentierte Werkausgabe. Bd. 9/2. S. 90) wird noch deutlicher als im Essay die methodologische Konstruiertheit der Kategorie des ‚Abso-
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nen Beobachterposition – die platonische Idee des Guten zugrunde. Während in der „Sphäre des reinen Bewußtseins […] das Primat des Denkens über das Leben“, das „Primat der Wahrheitskategorie“ über den Wert des Guten herrsche, gebührt, so Broch im „Bereich des empirischen Lebens […] das Primat dem Leben“: „hier dominiert die Wertkategorie.“.214 Die (unmarkierte) Assimilation der kantischen Konstruktion215 von intelligiblem und empirischem Ich, die auch an Lukács’ Unterscheidung von ‚dem Leben‘ und ‚dem Leben‘ erinnert,216 zielt nicht auf die alltägliche Lebenswelt im Sinne Schütz’/Luckmanns,217 sondern auf die „platonische Idee des empirischen Menschen“,218 auf die „platonische Idee empirischen Lebens“.219 Die Unterscheidung von (idealistischer) Philosophie und Leben (als platonische Idee) wird ergänzt durch eine Synthese der beiden Wertsysteme Leben („gut“) und Kunst („schön“) in einem den einzelnen Wertsystemen externen und übergeordneten, das heißt auf der Meta-Ebene des beobachtenden Ichs gesetzten,220 „allgemeinen Wertbegriff[s]“.221 So wie
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luten‘ betont: „Das Absolute aber ist immer Konstruktion, gibt bloß die Richtung des unendlichen Weges an und ist selber als solches unerreichbar. Selbst dort, wo die Verwirklichung bereits weitgehend erreicht war, wie im christlich-platonischen Weltbild des Mittelalters […].“ Ders.: Das Böse im Wertsystem der Kunst (1933). S. 126. Vgl. hierzu ders.: Kapitel 55: Zerfall der Werte (7) Historischer Exkurs. In: Die Schlafwandler (1931/32). S. 538: „[…] rein platonisch-idealistische Theologie: denn als solche kann die Kantsche Philosophie aufgefaßt werden.“ Vgl. G. Lukács: Über Wesen und Form des Essays (1911). S. 11. Vgl. A. Schütz/T. Luckmann: Strukturen der Lebenswelt. 2 Bde. Frankfurt a. M. 1984. H. Broch: Das Böse im Wertsystem der Kunst (1933). S. 126; vgl. auch ders.: Der Kunstkritiker. Dem Theaterkritiker A.[lfred] P.[olgar]. In: Die Rettung. Jg. 2. Nr. 6 (1920). Abgedr. in: ders.: Kommentierte Werkausgabe. Bd. 9/2. S. 36–43, hier S. 37: hier wird „‚den‘ Menschen in ihrer empirischen Erbärmlichkeit“ das „unpersönliche[ ] ‚wir‘“ als „platonisches Sinnbild des Geistes, schlechthin, Idee des Menschen“ gegenübergestellt. H. Broch: Das Böse im Wertsystem der Kunst (1933). S. 125. Dieses ‚Ich‘ ist wiederum ein einsam-intelligibles: vgl. ders.: Kapitel 73: Zerfall der Werte (9) Erkenntnistheoretischer Exkurs. In: Die Schlafwandler (1931/32). S. 621: „Denn das effektive oder fiktive Wertsubjekt kann bloß in der Einsamkeit seines Ichs imaginiert werden, in jener unaufhebbaren brückenlosen und platonischen Einsamkeit […].“ Vgl. ebd. S. 622: „[…] die Welt ist Setzung des intelligiblen Ichs, denn unverloren und unverlierbar bleibt die platonische Idee.“ Ders.: Das Böse im Wertsystem der Kunst (1933). S. 129; vgl. ders.: Kapitel 73: Zerfall der Werte (9) Erkenntnistheoretischer Exkurs. In: ders.: Die Schlafwandler (1931/32). S. 620: „[…] aber diese Werte können nicht als Absoluta in die Wirklichkeit eingeführt werden, sondern können bloß im Zusammenhang mit einem ethisch handelnden wertsetzenden Wertsubjekt gedacht werden.“
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das Denken als „Spezialfall des allgemeinen Handelns“ geformtes Leben, eine Form des Lebens ist,222 ist das „Ästhetische“ – „innerhalb der empirischen Welt“ – „Verwirklichung des Ethischen.“223 Das ‚Gute‘ der Kunst liegt in ihrem „Erkenntnischarakter“, in einer „Aufdeckung neuer Erkenntnisse und neuer Seh- und Anschauungsformen“,224 ihr ‚Böses‘ aber – so die Hauptthese des Broch’schen Essays – ist der Kitsch.225 Das „Wesen des Kitsches“, so die Definition Brochs, „ist die Verwechslung der ethischen mit der ästhetischen Kategorie, er [der Kitsch] will nicht ‚gut‘, sondern ‚schön‘ arbeiten, es kommt ihm auf den schönen Effekt an.“226 Das ‚Gute‘ der Kunst antizipiert gleichsam den metaphysischen Erlösungsgedanken, die Hoffnung auf Heilung der hypostasierten Zerrissenheit von Welt und Ich, am Ende des Essays. Eindeutiger und entschiedener als bei Schiller und Lukács zusammen gibt hier die sentimentalische Konstruktion eines „übergeordnete[n] Wertsystems“, welches die „autonom gewordenen Einzelwertgebiete“ bzw. „Einzelsysteme wieder zu dienenden Gliedern der übergeordneten platonischen Idee“ werden lässt,227 dem Text sein Telos vor. Hergeleitet wird die besondere Erkenntnis- und Syntheseleistung des gesellschaftlichen Teilsystems Kunst aus einer (wiederum unmarkierten) Referenz auf die leibnizsche Monadologie und Metaphorik sowie das hieraus entwickelte klassische Autonomiepostulat der Kunst. Das Kunstwerk, so Broch, „trägt ja den Spiegel dieser Absolutheit in sich“: „in jedem einzelnen Kunstwerk spiegelt sich die Totalität, und diese Abgeschlossenheit, dieses In-sich-Ruhen des wahren Kunstwerks, diese Herausgehobenheit aus der Zeit“ bedingt „die dominierende Stellung der Kunst im historischen Geschehen“.228 Angesichts dieser skizzenhaften Rekapitulierung von Brochs Essay Das Böse im Wertsystem der Kunst (1933) mit dem Resultat einer fehlenden
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Ders.: Das Böse im Wertsystem der Kunst (1933). S. 127. Ebd. S. 129. Ebd. S. 133. Ebd. S. 123: „Das Böse in der Kunst aber ist der Kitsch.“ Ebd. S. 150. Ebd. S. 156; vgl. ders.: Kapitel 73: Zerfall der Werte (9) Erkenntnistheoretischer Exkurs. In: Die Schlafwandler (1931/32). S. 624: „[…] unangetastet bleibt die Einheit des Begriffes, unangetastet die ethische Forderung, unangetastet bleibt die Rigorosität des ethischen Wertes als reine Funktion, Pflichtwirklichkeit strengster Observanz als solche immer noch Einheit der Welt, Einheit des Menschen, aufscheinend in allen Dingen, unverloren und unverlierbar über Räume und Zeiten hinweg.“ 228 Ders.: Das Böse im Wertsystem der Kunst (1933). S. 137; vgl. hierzu die gestrichene Passage in ders.: Kommentierte Werkausgabe. Bd. 9/2. S. 284: das Kunstwerk als „Spiegel“ bzw. „Spiegelung der Totalität“.
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Übereinstimmung auf der Oberflächen- wie auf der Tiefenstruktur des Textes erscheint Brochs „Verblüffung“ hinsichtlich des Vorwurfs einer gedanklichen oder gar wörtlichen Entlehnung aus Musils Essay Literat und Literatur (1931) in der Tat nachvollziehbar.229 Betrachten wir indessen das Gesamtwerk beider Autoren – was nicht die Aufgabe der vorliegenden Untersuchung sein kann bzw. soll230 – so sind allerdings eine Reihe von Übereinstimmungen festzuhalten. Gemeinsam ist beiden Autoren der Versuch einer literarisch-essayistischen Synthese auf der Ebene der Produktion (Essays, Romane) wie der kritischen Reflexion. Hiermit eng verbunden ist die beiden Autoren gemeinsame Frage nach dem Verhältnis von ratioïdem und nicht-ratioïdem Denken, Denkerischer und dichterischer Erkenntnis,231 wie die ethische Reflexion ihres ästhetischen Schaffens. Als Unterschied sind jedoch die jeweiligen philosophischen Grundannahmen und soziologischen Folgerungen zu nennen: Während Musil die moderne Kontingenzerfahrung als ‚Gestaltlosigkeit‘ konzeptionalisiert,232
_____________ 229 Vgl. hierzu auch K. Corinos (Robert Musil (2003). S. 1032) Einschätzung, dass Brochs „[i]m August 1933, ein halbes Jahr nach dem Machtantritt Hitlers“ veröffentlichter Aufsatz „aus heutiger Sicht merkwürdig anachronistisch wirkt und in der Tat mehr die Summe der werttheoretischen Überlegungen aus dem vorangegangenen Jahrzehnt als eine Antwort auf die neue Situation in Deutschland war (wie sie Musil im Berliner Frühjahr 1933 vergeblich [s. Bedenken eines Langsamen] für die Neue Rundschau versucht hatte).“ Vgl. hierzu: R. Musil: Bedenken eines Langsamen. N.-R.-Aufsatz (1933) (GW II, 1413–1435). 230 Vgl. W. Freese: Vergleichungen. Statt eines Forschungsberichts. Über das Vergleichen Robert Musils mit Hermann Broch in der Literaturwissenschaft. In: Literatur und Kritik 6 (1971). S. 218–242; K. Corino: Geistesverwandtschaft und Rivalität. Ein Nachtrag zu den Beziehungen zwischen Robert Musil und Hermann Broch. In: Literatur und Kritik 51 (1971). S. 242–253; D. Goltschnigg: Zur Poetik des Essays und des Essayismus bei Robert Musil und Hermann Broch. In: Poetik und Geschichte. Viktor Žmegaÿ zum 60. Geburtstag. Hrsg. v. D. Borchmeyer. Tübingen 1989. S. 412–425; ders.: Robert Musil und Hermann Broch. (K)ein Vergleich unter besonderer Berücksichtigung von Elias Canettis Autobiographie. In: Romanstruktur und Menschenrecht bei Hermann Broch. Hrsg. v. H. Steinecke/J. Strelka, Bern [u. a.] 1990. S. 135–153 und ders.: Robert Musil und Hermann Broch als Essayisten: „Literat und Literatur. Randbemerkungen dazu“ (1931) und „Das Böse im Wertsystem der Kunst“ (1933). In: Robert Musil. Essayismus und Ironie. Hrsg. v. G. Brokoph-Mauch. Tübingen 1992. S. 161–173; A. Bolterauer: Die literarischen Essays Robert Musils und Hermann Brochs. Eine gattungstheoretische Analyse. Diss. (masch.) Univ. Graz 1991 sowie G. Brokoph-Mauch: Robert Musils und Hermann Brochs persönliches Verhältnis in ihrem Briefwechsel (1992). S. 173–186. 231 Vgl. H. Broch: Denkerische und dichterische Erkenntnis. In: Kölnische Zeitung. Nr. 381. 2. Sonntagsausgabe, 16. Juli 1933. Abgedr. in: ders.: Kommentierte Werkausgabe. Bd. 9/2. S. 43–53. 232 Vgl. R. Musil: Der deutsche Mensch als Symptom [1923] (GW II, 1353–1400).
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auf die er mit dem methodischen bzw. funktionsäquivalenten Entwurf einer ‚neuen Moral‘ reagiert, versucht Broch der von ihm konstatierten zeitgenössischen ‚Anarchie der Werte‘ die sentimentalische Konstruktion eines absoluten Wertsystems entgegenzuhalten. Diese Differenz der philosophischen und gesellschaftskritischen Konzepte schlägt sich in den Essays wie in den beiden essayistischen Romanen Der Mann ohne Eigenschaften (1930/32) und Die Schlafwandler-Trilogie (1930; 1931/32) nieder. Ihrer inhaltlichen wie formalen Differenzen scheinen sich Broch wie Musil jenseits aller Affinitäten bewusst zu sein. Sie werden konstatiert, markiert und wechselseitig beglaubigt. Denn nicht nur die Nicht-Kenntnis des Musil-Essays Literat und Literatur (1931) führt Broch gegen eine mögliche Entlehnung an, sondern auch die nicht-assimilierbare Differenz ihrer philosophischen Positionen, da, wie es in Brochs Brief an Musil heißt, „unsere philosophischen Anschauungen, soweit ich diese beurteilen kann – Sie konstatieren dies ja übrigens gleichfalls – diametral entgegengesetzte sein dürften.“233 Daher entbehrt auch Brochs auto-intertextuelle Referenz auf den Vortrag Das Weltbild des Romans (1933) nicht der Ironie:234 „In dem Vortrag, der dem ominösen Aufsatz vorangegangen ist und der durch sein verengtes Thema […] die gegebene Veranlassung dazu war, habe ich kein Werk der gesamten Romanliteratur so oft und so eingehend zur Illustrierung der Vortragsthese herangezogen, wie eben den Mann ohne Eigenschaften.“235 Die Vortragsthese aber lautet ähnlich der des essayistischen Folgetextes Das Böse im Wertsystem der Kunst (1933): „der Kitsch ist das Böse an sich innerhalb der Kunst“.236 Der Kitsch-Produzent wird dabei innerhalb des mit dem Autornamen Broch versehenen Denk- und Wertsystems als Antichrist verdammt: „Wer Kitsch erzeugt, ist nicht einer, der minderwertige Kunst erzeugt, […] er ist kurzerhand ein schlechter Mensch, er ist ein ethisch Verworfener, ein Verbrecher, der das radikal Böse will.“237
_____________ 233 H. Broch: Brief an Robert Musil vom 2. 9. 1933 (BR I, 581). 234 Vgl. M. Durzak: Hermann Broch (2001). S. 99; vgl. auch K. Corino: Geistesverwandtschaft und Rivalität (1971). S. 245, der von „Brochs ironische[m] Billet“ spricht. 235 H. Broch: Brief an Robert Musil vom 2. 9. 1933 (BR I, 581). 236 Ders.: Das Weltbild des Romans (1933). S. 95; vgl. ders.: Das Böse im Wertsystem der Kunst (1933). S. 123: „Das Böse in der Kunst aber ist der Kitsch.“ Vgl. P. M. Lützeler: Hermann Broch (1985). S. 143: „Der Titel des Vortrags hätte auch lauten können ‚Was ist Kitsch?‘ denn Broch bietet hier eine neue, von der Ethik her argumentierende Definition des Kitsches […].“ 237 H. Broch: Das Weltbild des Romans (1933). S. 95; Broch hatte angesichts der Novemberereignisse 1918 in einem offenen Brief an Franz Blei vom Dezember 1918 die Politik der „modernen“, „skeptisch[en]“ und „jüdisch[en]“ Masse ohne Wahrheitsgefühl, ohne Glauben, ohne Gemeinschaft als das „radikal Böse“ gekennzeichnet; vgl.
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In der Tat: Neben Hedwig Courths-Maler,238 der pornographischen Schundliteratur, dem Kriminalroman239 und der zeitgenössischen Reportage, denen die „Vorliebe für das Romantische“ gemeinsam sei,240 wird kein Beispiel von Broch so häufig mit der Analyse des KitschPhänomens241 in Verbindung gebracht wie eben Musils Roman. Der „an Geistigkeit alles überragende Mann ohne Eigenschaften“ wird als modernes „Heldenepos“ klassifiziert, das aus der fingierten Perspektive des „naive[n] Leser[s] ‚schön‘“ sei, weil es die Möglichkeit der identifikatorischen „Triebbefriedigung“ biete. Hier könnte noch ebenso mit wie gegen Broch eingewandt werden, dass die narzisstische Selbstbefriedigung des Lesers allenfalls ein Nebenresultat darstelle, nicht aber den „Hauptzweck“ des Musil’schen Romans ausmache.242 Zumal – so Broch – „in jedem Kunstwerk ein Tropfen Kitsch enthalten ist, ja enthalten sein muß“.243 Doch was genau ist unter dem Broch’schen Kitsch-Vorwurf zu verstehen? Das Unterscheidungskriterium zwischen Kitsch und Kunst, folgen wir der Argumentation Brochs, liegt nicht in der Selektion der „Realitätsvokabeln“, sondern in deren Struktur bzw. Kombination („Syntax“). In der „Syntax des Kitsches […] werden die Realitätsvokabeln nach fertigen Rezepten, die teils von den überkommenen Kunstformen, teils von äußeren oder inneren Vorstellungen diktiert werden, verhältnismäßig einfach zusammengestellt.“244 In der Syntax der Kunst dagegen lasse sich – ver-
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ders.: Die Straße. In: Die Rettung. Blätter der Erkenntnis der Zeit 1 (1918/19). Abgedr. in: ders.: Kommentierte Werkausgabe. Bd. 13/1: Briefe 1 (1913–1938). S. 30–35, hier S. 32 und S. 34; vgl. ebd.: „Politik ist das Unabwendbare schlechthin. In ihr wird […] das Allererbärmlichste in die Welt getragen. Sie ist die letzte und böseste Verflachung des Menschen. Das radikal Böse als notwendige Folge der Dogmatisierung des Sittlichen schlechthin. Kurzum die Hölle.“ Broch verwendet hier (S. 32) – wie zur selben Zeit auch Blei – das Tönnies’sche Begriffspaar ‚Gemeinschaft‘ und ‚Gesellschaft‘ und umreißt auch das Phänomen der ‚Gestaltlosigkeit‘ (vgl. R. Musil: Der deutsche Mensch als Symptom [1923]) des modernen Menschen: „Deswegen ist es möglich, die gleiche Masse heute nationalistisch und morgen sozialistisch zu begeistern […].“ H. Broch: Das Weltbild des Romans (1933). S. 97. Ebd. S. 107. Ebd. S. 103. Vgl. ebd. S. 97: „Über die vielen kleinen Dogmatismen des Kitsches brauchen wir nicht viel zu reden; sie sind in unzähligen Fällen nachgewiesen: in der Anlehnung an bekannte Romansituationen, in der Verwendung von Klischees, in der Einschmuggelung dichtungsfremder Tendenzen usw.“ Ebd. S. 100. Ebd. S. 108. Ebd. S. 106.
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gleichbar der des Traums – „alles Unausgesprochene, letzten Endes also das Überindividuelle“ nur „erahnen“.245 Diese „Syntax des Dichterischen“ sieht Broch bei Franz Kafka, vor allem aber bei James Joyce, erfüllt: „Das unendliche, niemals erreichte Ziel der Wissenschaft, ein Totalitätsbild der Erkenntnis zu gewinnen“, finde, so Broch unter Berufung auf Goethe246 und im Einklang mit dem jungen Lukács, „in der Kosmogonie und der einheitstiftenden Syntax des Dichterischen zwar keine reale, wohl aber eine symbolhafte Erfüllung“:247 „Dichtung, oder richtiger das Dichtwerk, hat in seiner Einheit die gesamte Welt zu umfassen, sie hat in der Auswahl der Realitätsvokabeln die Kosmogonie der Welt zu spiegeln, sie hat in dem Wunschbild, das sie gibt, die Unendlichkeit des ethischen Wollens aufleuchten zu lassen.“248 Dem polyhistorischen Roman wird von Broch gegenüber den jeweiligen gesellschaftlichen Teilsystemen und ihren jeweiligen systeminternen Werten und Repräsentationen eine metakritische Funktion zugesprochen. Nicht die Welt ist sein Gegenstand, sondern die „großen Weltbilder der Zeit“ – sprich deren Ideologien und Ideologeme – sind, so Broch, die „Realitätsvokabeln“ seiner „dichterischen Syntax“. Der Roman als „Spiegel aller übrigen Weltbilder“ wird exterritorial zu den relativistischen gesellschaftlichen Einzelsystemen gesetzt. Er nimmt die (ebenfalls relativistische) Position des Beobachters zweiter Ordnung ein und wird somit „zur soziologischen Funktion der Umwelt.“249 Der „Akt des Schauens, der ja selbst einen Teil der Welt bildet“,250 ist hier nicht ausgeschaltet, sondern reflektiert. Trotz des zeitgenössischen Relativismus (Objektebene) wie des dichterischen Perspektivismus (Metareflexion auf der Objektebene) steht bei Broch, also auf der Metaebene des zweiten Beobachters, als „Setzung der
_____________ 245 Ebd. S. 109. 246 Ebd. S. 116. 247 Ebd. S. 116; vgl. ebd. S. 115f. zur „Aufgabe des Goetheisch-polyhistorischen Romans“: „Sicherlich kann vieles im modernen Roman nicht mehr als Goetheisch bezeichnet werden. Goetheisch ist bloß die Struktur und die Aufgabe.“ Vgl. hierzu R. Musil: Skizze der Erkenntnis des Dichters. In: Summa 1918 (GW II, 1025–1030, hier 1029): „[…] daß die Struktur der Welt und nicht die seiner Anlagen dem Dichter seine Aufgabe zuweist, dass er eine Sendung hat!“ (Hervorhebung v. B. N.); vgl. ebd. auch die goethische Schlusswendung in Musils Essay, ebd. S. 1030: „[…] die Frage, ob der Dichter ein Kind seiner Zeit sein soll oder ein Erzeuger der Zeiten.“ 248 H. Broch: Das Weltbild des Romans (1933). S. 115. 249 Ebd. 250 Ebd. S. 105.
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Setzung“,251 die Funktion des „obersten Wertes“ fest: „Bildung“ des Menschen zur „Persönlichkeit“.252 Bei Musil hingegen ist nicht die Bildung des Menschen zur Persönlichkeit, sondern die „menschliche Umbildung“ die Funktion des „essayistischen Denkens“: nicht als Endprodukt bzw. festes Resultat, sondern als etwas Fließend-Dynamisches (als „ständige Bewegung“), als „Umschmelzen eines großen sentimentalen Komplexes“.253 Auch ist die zu schaffende Synthese bei Broch – anders als bei Musil – weder Aufgabe des mathematischen Menschen auf nicht-ratioïdem Gebiet noch des essayistischen Dichters, sondern eine quasi-objektive Tendenz bzw. eine Art brochscher Weltgeist. Der ‚schlechten‘ anarchistischrelativistischen Gegenwart ist die eschatologische Hoffnung auf zukünftige Erlösung bereits eingeschrieben: „alles spricht dafür, daß wir einer neuen Einheit des Weltbilds entgegengehen, mag solche Einheit nun religiös oder anderswie genannt werden“.254 Der neue Roman, in dem sich diese als objektive Tendenz festgestellte Einheit manifestieren soll,255 so die idealistische Bestimmung, lässt „die Unendlichkeit des ethischen Wollens aufleuchten“.256 Seine empirische Gestalt ist die einer „rationalirrationalen Polyphonie“.257 In der Broch’schen Kritik wird Musil zwar – neben Thomas und Heinrich Mann sowie André Gide – als Vertreter des modernen „Goetheisch-polyhistorischen Romans“258 genannt. Sein „grandioser Versuch“, „mit dem Mann ohne Eigenschaften eine rein rationale, rational kontrapunk-
_____________ 251 Vgl. ders.: Kapitel 73: Zerfall der Werte (9). Erkenntnistheoretischer Exkurs. In: ders.: Die Schlafwandler (1931/32). S. 623: „Denn nicht nur, daß, methodologisch betrachtet, die ‚Setzung der Setzung‘ nichts anderes darstellt als die Introduzierung des ideellen Beobachters in das Beobachtungsfeld, wie dies von den empirischen Wissenschaften, zum Beispiel von der physikalischen Relativitätstheorie, ganz unabhängig von den erkenntnistheoretischen Ansichten längst durchgeführt worden ist […].“ 252 Ders.: Das Weltbild des Romans (1933). S. 115. 253 R. Musil: [Über den Essay] [1911/12?] (GW II, 1336f.). 254 H. Broch: Das Weltbild des Romans (1933). S. 117. 255 Ebd.; vgl. ders.: Das Böse im Wertsystem der Kunst (1933). S. 119: „[…] es müßte in der Kunst manifestiert werden, daß die Zeit mit einer seit vielen Jahrhunderten nicht erhörten Intensität nach einem neuen geistigen und damit platonischen Zusammenschluß strebt und dass sie trotzdem im positivistischen Denken festgehalten ist, in einer Tatsachenbesessenheit, die alles Platonische, alles Deduktive ablehnt […].“ Vgl. hierzu auch R. Musil: Der deutsche Mensch als Symptom [1923]: „Die Phil.[osophie] ist hinter den Tatsachen zurückgeblieben, das verführt zu dem Glauben, daß Tatsachen antiphilosophisch seien.“ (GW II, 1359) und ebd. Abschnitt V: „Die Zeit der Tatsachen“ (GW II, 1382–1986). 256 H. Broch: Das Weltbild des Romans (1933). S. 115. 257 Ebd. S. 117. 258 Ebd. S. 115f.
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tierte Dichtung“259 und somit eine direkte Übersetzung des Irrationalen ins Rationale zu schaffen, wird allerdings zugleich explizit als gescheitert gewertet.260 Beziehen wir den Zerfall der Werte aus dem Huguenau-Teil der Schlafwandler (1931/32) in unsere Überlegungen mit ein, dann erfährt das Musil’ sche Scheitern bei Broch eine Objektivierung: „die Methode des Rationalen ist immer nur die der Annäherung, sie ist eine Einkreisungsmethode, die in zwar stets kleinerem Bogen das Irrationale zu erreichen trachtet, doch nie es erreicht“. Denn der Rationalisierung wohne als Umschlagpunkt des Rationalen ins Irrationale ein „unauflösbare[r] irrationale[r] Rest“ inne, welcher das jeweilige Wertsystem vor einer „Über-Rationalität“ bewahre: „Jedes Wertsystem geht aus irrationalen Strebungen hervor, und die irrationale, ethisch ungültige, Welterfassung ins absolut Rationale umzuformen, diese eigentliche und radikale Aufgabe der ‚Formung‘, wird für jedes überpersönliche Wertsystem zum ethischen Ziel. Und jedes Wertsystem scheitert an dieser Aufgabe.“261 Diesem dialektischen Umschlagmodell entsprechend – und somit die Kitsch-Diagnostik in den Musil betreffenden Textpassagen gewissermaßen mildernd – wird in Das Weltbild des Romans (1933) eingeräumt, „daß das Lyrische auch durch die rationalste Methode nicht ausgemerzt werden kann“. Das heißt, selbst in Musils Roman unterliegen die verwendeten „Realitätsvokabeln“262 – quasi entgegen aller undichterischen Anstrengungen des Autors – noch der „Syntax des Dichterischen“.263 Doch anders als die „Dichtungen Kafkas“,264 welche die als ontisch-existentiell gesetzte Angst265 nicht nur darstelle und auslöse, sondern gleichzeitig auch von dieser befreie, konstatiert Broch im Falle Musils eine „Flucht vor der Angst“.266 Dessen „Methode des rationalen Romans“ sei, so Broch, „eine
_____________ 259 Ebd. S. 108. 260 Vgl. ebd. S. 114: „Wir sahen, daß der Roman nicht imstande ist, die Welt wirklich in ihrer Realität zu schildern, weil er niemals die Aufgabe der Wissenschaft übernehmen kann. Wir sahen, daß der Roman im Grunde nicht befugt ist, die Welt so zu schildern, wie sie sein soll, weil er nicht Tendenzdichtung sein darf […].“ 261 Ders.: Kapitel 88: Zerfall der Werte (10) Epilog. In: ders.: Die Schlafwandler (1931/32). S. 690f. 262 H. Broch: Das Weltbild des Romans (1933). S. 115. 263 Ebd. S. 116. 264 Ebd. S. 112. 265 Vgl. ders.: Brief an Robert Musil vom 2. 9. 1933 (BR I, 581f.); Broch bedauert hier, dass er sich wegen redaktioneller Streichungen nicht mit den Werttheorien Kierkegaards und Heideggers habe auseinandersetzen können. 266 Ders.: Das Weltbild des Romans (1933). S. 112.
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Flucht vor dem Irrationalen […], eine Bemühung, das Irrationale harmlos zu machen, indem man es ins rationale Netz einzufangen trachtet: es ist gewissermaßen eine Imitation des Mathematischen“.267 Musils Roman gerät damit, auch wenn diese Diagnose an keiner Stelle des Essays explizit ausgesprochen wird, sondern nur gedanklich impliziert ist, in die Nähe zum Kitsch im Broch’schen Sinn, da die Welt in Der Mann ohne Eigenschaften nicht so geschildert wird, „wie sie ist“,268 sondern wie sie – gemäß dem erkenntnistheoretischen Anspruch bzw. der „Sexualangst […] und der Angst vor dem Irrationalen und Unbewußten“269 ihres Autors – sein sollte. Nicht nur in Das Weltbild des Romans (1933), sondern auch in seinem Essay Denkerische und dichterische Erkenntnis (1933) intendiert Broch dagegen die „Fortsetzung der rationalen Erkenntnis über die rationale Grenze hinaus“.270 Der Musil unterstellten „Flucht“ vor dem Irrationalen bzw. dessen Versuch, das Irrationale mit dem „rationale[n] Netz einzufangen“, wird hier programmatisch ein „Hinabsteigen ins Irrationale und zu den Müttern“,271 der Sexual-Neurose die ozeanische Regression entgegengehalten. Soviel dürfte deutlich geworden sein: Von diesem erst 1955, das heißt nach dem Tod beider Autoren, veröffentlichten Vortrag hätte sich Musil mit doppeltem Recht ‚getroffen‘ fühlen können. Denn es handelt sich beim Vortrag Das Weltbild des Romans als Prätext von dem Essay Das Böse im Wertsystem der Kunst (1933) nicht um ein Plagiat eines Musil-Textes, sondern um eine Meta-Kritik der diesem zugrundeliegenden erzähltechnischen Programmatik. Nun ist aber weder bekannt, dass Musil den Broch’schen Vortrag gehört hat, noch dass ihm der Inhalt desselben durch dritte mitgeteilt worden sei. Essay und Vortrag, Das Weltbild des Romans wie Das Böse im Wertsystem der Kunst (1933) sind Metatexte der beiden zeitgleich erschienenen ‚philosophischen‘ bzw. ‚poly-historischen‘ Romane Der Mann ohne Eigenschaften (1930/32) und Die Schlafwandler (1930/32). Betrachtet man Plagiat- wie Kitsch-Vorwurf unter dem Musil’schen Postulat „Gleichzeitigkeit ist im-
_____________ 267 Ebd. S. 111f. 268 Vgl. ebd. S. 96 zur „ethische[n] Forderung, gut zu arbeiten“: der Roman habe die Aufgabe, „die Welt oder ein Stück der Welt so zu schildern, wie sie ist.“ 269 Ebd. S. 111. 270 Ders.: Das Weltbild des Romans (1933). S. 111f. 271 Ders.: Denkerische und dichterische Erkenntnis (1933). S. 46.
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mer Abschreiben“,272 so verändert sich die Untersuchungsperspektive. Der Blick wendet sich ab vom vermeintlichen Plagiatvorwurf, also weg vom Aspekt der individuellen Textpiraterie, hin zu der Frage nach einem den beiden Autoren gemeinsamen essayistischen Vertextungszusammenhang. Der erste Teil der Broch’schen Romantrilogie 1888 – Pasenow oder die Romantik kam Ende 1930, allerdings bereits mit der Jahresangabe 1931 versehen, heraus, der zweite Teil 1903 – Esch oder die Anarchie im Frühjahr 1931, der letzte Teil 1918 – Huguenau oder die Sachlichkeit im April 1932 bei Daniel Brody im Züricher Rhein-Verlag. Diese letzte und gegenüber dem auto-intertextuellen Prätext am weitreichendsten überarbeitete Fassung, enthält neben den Parallelgeschichten nun auch die Geschichte des Heilsarmeemädchens wie die essayistischen Texteinschübe zum Zerfall der Werte. In einem Entwurf für den Verlagsprospekt vom 17. März 1932 wird implizit das Broch’sche Gegenprogramm zu Musils „rational kontrapunktierte[r] Dichtung“273, nämlich die „Auflösung und Sprengung der Erzählkunst“ im Huguenau-Teil angekündigt: „Um den Zerfall der Werte rankt sich das Geschehen des Romans, eigentlich mehrerer Romane auf verschiedenen Bewußtseins- und Darstellungsebenen, die, aufsteigend vom rein Lyrischen bis rein Kognitiven in genauer Kontrapunktik sowohl die Motive der beiden vorhergegangenen Teile aufnehmen, als auch, ineinander verwoben, das Thema des im Wertverfall vereinsamten und von der Weltangst erfaßten Menschen abwandeln, um schließlich in gewaltiger Zusammenfassung die Ahnung des kommenden Ethos aufleuchten zu lassen.“274 Das Exposé der ersten Romanfassung, Der Roman „Die Schlafwandler“ (1929), das Broch Anfang 1930 zunächst vergeblich beim S. Fischer Verlag in Berlin eingereicht hatte, war Musil bereits durch Franz Blei zugeschickt worden. In diesem Methodologischen Prospekt Brochs heißt es, das Erkenntnis- wie Erzähl-Programm metatextuell kommentierend: „Dieser Roman hat zur Voraussetzung, daß die Literatur mit jenen menschlichen Problemen sich zu befassen hat, die einesteils von der Wissenschaft ausgeschieden werden, weil sie der rationalen Behandlung überhaupt nicht zugänglich sind und nur mehr in einem absterbenden philosophischen
_____________ 272 R. Musil: Der Malsteller (1923) (GW II, 571); vgl. ders.: Der Malsteller. In: ders.: Nachlaß zu Lebzeiten (1936) (GW II, 510). 273 H. Broch: Das Weltbild des Romans (1933). S. 108. 274 Ders.: Der Wertzerfall und die „Schlafwandler“. In: Brief an Daniel Brody vom 17. 3. 1932. Abgedr. in: ders.: Die Schlafwandler (1931/32). S. 735; Hervorhebung v. B. N.
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Feuilletonismus ein Scheinleben führen, andererseits mit jenen Problemen, deren Erfassung die Wissenschaft in ihrem langsameren, exakteren Fortschritt noch nicht erreicht hat.“275 Musil nun konstatiert in einem Brief an Franz Blei vom 8. Februar 1930 „Berührungen“ mit seinem eigenen Romanprojekt: „Ich lege das Broch’sche Exposee wieder bei; es verspricht ein interessantes Buch, aber das artistische Problem ist bei diesen philosophischen Ansprüchen enorm schwer zu bewältigen. Es kommt mir vor, daß zwischen den Absichten Brochs und den meinen Berührungen bestehn, die im einzelnen ziemlich weit gehen können, und ich bin sehr neugierig auf das Technische bei ihm.“276 Die „Berührung“ bzw. „Anlehnung“,277 die Musil zwischen seinem und dem Broch’schen Textkorpus konstatiert hat, verweist uns auf den letzten Teil von Elias Canettis autobiographischer Trilogie Das Augenspiel (1985), in welchem Musil als ebenso empfindlicher278 wie aggressiver
_____________ 275 H. Broch: Der Roman „Die Schlafwandler“ (1929). Abgedr. in: Die Schlafwandler. Eine Romantrilogie (1931/32). S. 719–722, hier S. 719. 276 R. Musil: Brief an Franz Blei vom 8. 2. 1930 (BR I, 458) Hervorhebung v. B. N. Vgl. auch Musils Tagebuchnotiz vom 30. 1. 1930: „Blei hat mir Brochs Expose zu seinem Roman geschickt; Ansichten, die sich teilweise mit meinen berühren.“ (TB I, 697) Hervorhebung v. B. N. 277 Vgl. ders.: Tagebücher. Heft 31 (1930–1936) „Broch: Anlehnung. Wenn man sich an eine Mauer lehnt, hat der ganze Anzug weiße Flecken. Ohne daß es Plagiat wäre.“ (TB I, 826) 278 Vgl. E. Canetti: Musil. In: ders.: Das Augenspiel. Lebensgeschichte 1931–1937 (1988). 13. Auf. Frankfurt a. M. 2001. S. 157–164, hier S. 159: „Das war aber nur der eine Aspekt von Musils öffentlichem Verhalten. Denn mit dieser Sicherheit Hand in Hand ging eine Empfindlichkeit, wie ich sei größer nie gekannt habe. Vgl. ebd. S. 161: „Seine [Musils] Empfindlichkeit ist oft gegen ihn gehalten worden.“ Vgl. ebd.: „Aber das Bewusstsein, dass er dieses untergegangene Österreich war, wie niemand sonst, er als einziger, gab ihm auf seine Empfindlichkeit ein sehr eigentümliches Recht […].“ Vgl. ebd.: „Die Empfindlichkeit für die eigene Person […].“ Vgl. ebd.: „Seine [Musils] Empfindlichkeit war nichts anderes als ein Schutz gegen Trübung und Vermischung.“ Vgl. ebd. S. 162: „Es geht um eine Empfindlichkeit gegen die falsche Nahrung […].“ Ebd.: „Solange ein Werk solchen Reichtums im Entstehen ist, ist der empfindliche Name der beste.“ Ebd.: „Später, wenn der durch seine Empfindlichkeit sich erhalten und sein Werk vollbracht hat, tot ist und der Name hässlich und aufgedunsen wie ein stinkender Fisch auf allen Märkten herumliegt, können die Schnüffler kommen […] und Empfindlichkeit als überdimensionierte Eitelkeit anprangern […].“ (Hervorhebung v. B. N.) Canettis Apologie der Musil’schen Empfindlichkeit weist unüberhörbare, wenn nicht unüberriechbare Anklänge an das Blei’sche Große Bestiarium der Literatur (1924), genauer auf dessen Selbstkennzeichnung als „Süßwasserfisch“ auf (ebd. S. 25), dessen durchsichtige Haut, „die jeweilige Nahrung mit ihrer Farbe deutlich sichtbar“ werden läßt.
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Körperpanzer279 geschildert wird: „Unerwünschten Berührungen wich er aus. Er wollte Herr seines Körpers bleiben.“280 Und in Anspielung auf die fiktive Arnheim-Figur bzw. ihr reales Pendant Walther Rathenau heißt es weiter: „Ein Mann, der den Arm um ihn [Musil] legte, wie um alle, die er mit diesem Mittel beschwichtigen oder gewinnen wollte, wurde zur andauerndsten seiner Figuren. Es rette ihn nicht, daß er ermordet wurde. Die unerwünschte Berührung seines Arms hielt ihn noch während zwanzig Jahren am Leben.“281
_____________ 279 Vgl. E. Canetti: Musil. In: ders.: Das Augenspiel (1988): S. 157: „Musil war – ohne daß es auffiel – immer zur Abwehr und Angriff gerüstet. Seine Haltung war seine Sicherheit. Man hätte an einen Panzer denken mögen, doch es war eher eine Schale. Was er zwischen sich und die Welt als deutliche Trennung setzte, hatte er sich nicht umgelegt, es war ihm angewachsen. […] Er war ein Mann des festen Aggregats und mied Flüssigkeiten wie Gase.“ 280 Ebd. S. 158; vgl. hierzu auch R. Musil: 2. Kap. Haus und Wohnung des Mannes ohne Eigenschaften. In: ders.: Der Mann ohne Eigenschaften. 1. Buch (1930): „Er [Ulrich] wandte sich ab wie ein Mensch, der verzichten gelernt hat, ja fast wie ein kranker Mensch, der jede starke Berührung scheut, und als er, sein angrenzendes Ankleidezimmer durchschreitend, an einem Boxball, der dort hing, vorbeikam, gab er diesem einen so schnellen und heftigen Schlag, wie es in Stimmungen der Ergebenheit oder Zuständen der Schwäche nicht gerade üblich ist.“ (MoE I, 13) Vgl. hierzu auch G. Simmel: Gesamtausgabe. Hrsg. v. O. Rammstedt. Bd. 6: Philosophie des Geldes (1900). Hrsg. v. D. P. Frisby/K. C. Köhnke. Frankfurt a. M. 1989. S. 661, der in der „sogenannte[n] ,Berührungsangst‘“ des modernen Menschen bzw. in der „Furcht, in allzu nahe Berührung mit den Objekten zu kommen, ein Resultat der Hyperästhesie, der jede unmittelbare und energische Berührung ein Schmerz ist“, sieht sowie K. Laermann: Eigenschaftslosigkeit. Reflexionen zu Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“. Stuttgart 1970. S. 24ff., der Ulrichs Eigenschaftslosigkeit und „Berührungsangst“ als (phallischen) Narzissmus deutet; vgl. auch ebd.: S. IX: „Eigenschaftslosigkeit ist ein Verhalten, das eine mächtige Faszination besitzt, weil es eine unbedingte und einheitliche Selbstbehauptung gegen die vielgestaltige Zerrissenheit der Außenwelt und des Ich zu garantieren verspricht. Sich nicht preisgeben zu müssen, nicht festgelegt zu sein, unberührbar zu sein, ist die Sehnsucht der Eigenschaftslosigkeit. […] der Selbsterhaltung, die sie betreiben, fehlt das Selbst.“ 281 E. Canetti: Musil. In: ders.: Das Augenspiel (1988). S. 158; Hervorhebung v. B. N.; vgl. R. Musil: 21. Kapitel: Die Aussprache. In: ders.: Der Mann ohne Eigenschaften. 1. Buch (1930): „Arnheim […] ging langsam auf Ulrich zu. Dieser hatte den Eindruck, sich gegen eine Unhöflichkeit vorsehen zu müssen […]; er [Arnheim] trat mit einer lächelnden Bewegung an Ulrich heran, legte ihm die Hand, ja eigentlich den Arm um die Schulter […] Arnheims Arm gab Ulrichs Schulter eine freundschaftlich leichte Bewegung. […] Dieser Arm auf seiner Schulter machte Ulrich unsicher. Es war eine lächerliche und unangenehme Empfindung, sich umarmt zu fühlen, ja man konnte sie geradezu jämmerlich nennen; aber Ulrich hatte lange Zeit keinen Freund besessen, und vielleicht war es darum auch ein wenig verwirrend. Er würde diesen Arm gerne abgestreift haben, und unwillkürlich bemühte er sich darum; aber Arnheim nahm die kleinen Zeichen von Unwillkommenheit wahr und mußte sich anstrengen, um das nicht merken zu lassen, und aus Höflichkeit, weil er Arnheims schwierige Lage mit-
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Kommen wir zu Musil und Broch zurück: Auf der Ebene der Texte weisen nicht nur die erkenntnistheoretisch-methodologischen Ausgangspositionen wie die essayistische ‚Auflösung‘ bzw. Reflexion des Erzählten (Handlungsebene) und des Erzählens (Diskursebene) – bei aller Differenz des Inhaltlichen wie Technisch-Formalen – „Berührungen“ auf: Die beiden Romane erscheinen überdies von 1930 bis 1932 als publizistische Parallelaktionen. Zu Brochs Schlafwandlern erscheinen ca. hundert Kritiken in wichtigen Blättern: Frankfurter Zeitung, Literarische Welt, Arbeiter-Zeitung, Neue Freie Presse, Querschnitt, Vossische Zeitung, Berliner Tagblatt, Neue Rundschau, Neue Zürcher Zeitung etc. Brochs Roman wird u. a. von Franz Blei, Frank Thieß, Hermann Hesse, Gabriele Reuter, Werner Richter und Soma Morgenstern besprochen, gewürdigt und protegiert282 und findet „umgehend Eingang in die Literaturgeschichte […] eines gewissen Guido K. Brand“.283 Er wird vielfach neben, teilweise gar über den „neue[n] Musil“284 gestellt. So heißt es in einem Brief des von Musil sehr geschätzten Alfred Döblin an Genia Schwarzwald vom 3. Februar 1931: „Es [Die Schlafwandler] ist ja wirklich […] ein besonderes Buch, […] es ist wirklich was Besonderes; es ist in stärkerer Weise dichterisch, – und doch spirituell – als der auch von mir sehr anerkannte selbstständige neue Robert Musil.“285 Dagegen wartet Musil, wie der Briefwechsel mit Franz Blei dokumentiert, ebenso ungeduldig wie vergeblich auf die große Besprechung seines Romans und zieht noch am 30. März 1931 Hermann Broch als Rezensenten von Der Mann ohne Eigenschaften für Die Neue Rundschau in Betracht. Broch hat allerdings zu diesem Zeitpunkt nach Einschätzung Musils nicht nur „mit sich selbst zuviel zu tun“,286 sondern auch, deutliche Vorbehalte gegen die ‚rationale Kontrapunktion‘ des literarischen Konkurrenzunternehmens.287
_____________ 282 283 284 285 286 287
fühlte, hielt Ulrich still und ertrug die Berührung […].“ (MoE I, 642f.) Hervorhebung v. B. N. Vgl. P. M. Lützeler: Hermann Broch (1985). S. 125. Vgl. ebd. S. 127. Vgl. hierzu auch den Titel einer Kritik, die Bernard Guillemin am 20. 11. 1932 im Berliner Tagblatt veröffentlicht hat: „Der neue Musil: Mann ohne Eigenschaften, zweiter Band“. A. Döblin: Brief an Genia Schwarzwald vom 3. 2. 1931. In: Hermann Broch – Daniel Brody. Briefwechsel 1930–1951. Hrsg. v. B. Hack/M. Kleiß. Frankfurt a. M. 1971. Anm. 101. Sp. 179f. Vgl. R. Musil: Brief an Franz Blei vom 30. 3. 1931 (BR I, 509). Vgl. H. Broch: Das Weltbild des Romans (1933). S. 108.
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Bereits Ende 1930 hatte Broch seinem Verleger Daniel Brody gemeldet: „ich habe jetzt den neuen Musil bekommen; die 12 Jahre Arbeit und Feilung haben das Buch zu einer wirklichen Leistung gemacht; es steht turmhoch über all den Geschwind-Romanen.“288 Und am 19. Juli 1931 schickt er Willa Muir, welche Die Schlafwandler ins Englische übersetzt, ein „sehr bedeutendes Buch“. Es handelt sich um den „Mann ohne Eigenschaften meines Freundes Robert Musil“, dem Broch mit folgendem Kommentar in England eine gute Aufnahme wünscht: „Ich muß dazu sagen, daß ich Musils Methode als abseitig empfinde – sie ist sozusagen das rationale Gegenstück zu Joyce und seiner Methode –, und daß ich wenig Perspektiven für die dichterische Ausdrucksmöglichkeit in Weiterverfolg dieser Methode sehe.“289 Die Kritik an der essayistischen Technik Musils präzisiert Broch am 3. August 1931, wiederum gegenüber seiner Übersetzerin: Mit Ausnahme von Joyce versuchten die Vertreter des polyhistorischen Romans (Gide, Thomas Mann, Huxley und „mein Freund Musil“) „,Bildungselemente‘ im Roman unterzubringen; die Wissenschaft ist ihnen wie ein kristallener Block, von dem sie das eine oder andere Stück abbrechen, um damit ihre Erzählung an zumeist ungeeignetem Ort zu garnieren oder einen Wissenschaftler als Romanfigur damit auszustatten.“290 Seine eigene Lösung des technischen bzw. „artistischen Problems“291 beschreibt Hermann Broch dagegen als „Versuch, […] lebendige Wissenschaft, d. h. hier produktive Wissenschaft […] im Roman unterzubringen, einesteils indem ich sie immanent in eine Handlung und in Figuren unterbringe, die mit ‚Bildung‘ nichts mehr zu tun haben, bei denen also die fürchterlichen Bildungsgespräche nicht geführt werden, anderseits indem ich sie nackt und geradeaus und eben nicht als Gesprächsfüllsel zum Ausdruck bringe.“292 Und deutlicher noch als im Vortrag Das Weltbild des Romans (1933), der den Kitsch-Vorwurf in Bezug auf Musil nur indirekt enthält, äußert Broch sich zwei Tage später, am 5. August 1931 in einem Brief an Daniel Brody über „die fürchterliche Einrichtung der ‚gebildeten‘ Rede“ im polyhistorischen Roman: „Es geht aber nicht an, daß man diesen Polyhistorismus in Gestalt ‚gebildeter‘ Reden im Buche unterbringt oder zu dieser Unterbrin-
_____________ 288 Ders.: Brief an Daniel Brody vom 16. 11. 1930. In: Hermann Broch – Daniel Brody. Briefwechsel 1930–1951. Sp. 114. 289 Ders.: Brief an Willa Muir vom 19. 7. 1931. In: ders.: Briefe 1 (1913–1938). S. 143; Hervorhebung v. B. N. 290 Ders.: Brief an Willa Muir vom 3. 8. 1931. In: ders.: Briefe 1 (1913–1938). S. 148. 291 Vgl. R. Musil: Brief an Franz Blei vom 8. 2. 1930 (BR I, 458). 292 H. Broch: Brief an Willa Muir vom 3. 8. 1931. In: ders.: Briefe 1 (1913–1938). S. 148.
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gung Wissenschaftler als Romanhelden präferiert. Der Roman ist Dichtung, hat also mit den Ur-Moventien der Seele zu tun, und eine ‚gebildete‘ Gesellschaftsschicht zum Romanträger zu erheben, ist eine absolute Verkitschung.“293 Inzwischen ist der ‚Freund‘ Musils angesichts des ausbleibenden Verkaufserfolgs von Die Schlafwandler (1930/32) zum ‚Konkurrenten‘ mutiert. Einen weiteren Anlass mag eine „Tratsch“-„Geschichte“ geboten haben. So berichtet Soma Morgenstern, der auch die Begegnung zwischen Musil und Georg Lukács bezeugt,294 Karl Corino Anfang der siebziger Jahre folgende „kleine Episode“: „Eines Tages rief er [Musil] mich telefonisch an und fragte mich, ob ich nichts dagegen hätte, die Bekanntschaft von Hermann Broch zu machen. Er habe sich mit ihm angefreundet und möchte uns zusammenbringen. Ich hatte von Broch nur ein Buch gelesen, nämlich seine Schlafwandler, und hatte nichts dagegen, ihn kennen zu lernen. Wir trafen uns im Café Museum. […] / Etwa zwei Jahre, nachdem Musil uns zusammengebracht hatte, erhielt ich wieder einen telefonischen Anruf von ihm, in dem er ein dringendes und erstaunliches Anliegen an mich richtete. ‚Ich weiß‘, sagte er ungefähr, ‚ich bin schuldig, Sie mit Broch zusammengebracht zu haben. Aber ich muß Sie jetzt bitten, mit ihm den Verkehr abzubrechen. Ich bin mit ihm so weit, daß ich ihn nicht mehr sehen will. Ich werde Ihnen Näheres im Café Museum erzählen.‘ / […] – Im Café erzählte mir Musil eine lange Geschichte, in der ein Ehepaar und eine Frau [Ea von Allesch] vorkamen.“295 1941 wird Musil erwägen, in die Vereinigten Staaten zu emigrieren: „Soll ich nach Amerika kommen? Unlängst hat es mir Hermann Broch, mein Konkurrent, […] sehr
_____________ 293 Ders.: Brief an Daniel Brody vom 5. 8. 1931. In: Hermann Broch – Daniel Brody. Briefwechsel 1930–1951. Sp. 231; Hervorhebung v. B. N. 294 S. Morgenstern: Über Robert Musil. Aus Briefen an Karl Corino (vom 2. 1. 1974). In: ders.: Kritiken, Berichte, Tagebücher. Hrsg. v. I. Schulte. Lüneburg 2001. S. 552ff. 295 Ebd. S. 556f.; vgl. ebd. S. 560 (Brief vom 12. 4. 1974) auf eine Nachfrage Karl Corinos (vom 7. 4. 1974) hin: „In den Tratsch betreffend Hermann Broch war tatsächlich Ea von Allesch verwickelt.“ Emma Elisabeth Allesch, Edle von Allfest (1875–1953), geb. Emma Elisabeth Täubele und verh. Rudolph, lebte seit dem Sommer 1899 im Umfeld der Wiener Kaffeehausliteraten (Peter Altenberg u. a.), 1903/04 in einer ménage à trois mit Alfred Polgar und dem englischen Pianisten Henry James Skene. Sie heirate 1916 in zweiter Ehe Musils Studienfreund Johannes von Allesch (1882– 1967) und wurde 1917 bis 1927 die Lebensgefährtin Hermann Brochs; vgl. hierzu P. M. Lützeler: Ea von Allesch: Von der ‚femme fatale‘ zur ‚femme emancipée‘. In: H. Broch: Das Teesdorfer Tagebuch für Ea von Allesch. Hrsg. v. P. M. L. Frankfurt a. M. 1998. S. 190–247 sowie K. Corino: Robert Musil (2003). S. 656ff., der sie auch als „Wiener Madonna von 1900“ (ebd. S. 662) und „antike[ ] Jagdgöttin Diana“ (ebd. S. 668) des Café Central bezeichnet.
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nahegelegt.“296 In seinem Antwortschreiben an Hermann Broch vom 11. November 1940 lesen wir vor den „herzlichen Grüßen von meiner Frau“: „Von Frau Ea höre ich manchmal auf Umwegen; ich selbst schreibe nicht, weil ich mich für unberührbar halte.“297 Anfang 1931 hatte Broch seinem Verleger als Neujahrsgruß übermittelt, „daß Musil innerhalb der vierzehn Tage vor Weihnachten 2000 Exemplare verkauft hat, Blei mit seiner Autobiographie 2700. Musil war gestern bei mir und hat mir das erzählt. Ich bin sehr begierig, wie wir mit dem Pasenow gestartet haben.“298 Und am 12. April 1932 heißt es lapidar: „Konkurrent Musil ist im siebenten Tausend“.299 Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung und der damit verbundenen zunehmenden Verschlechterung der Publikations- und Absatzmöglichkeiten für beide Autoren wird sich die Ich-Idealisierung des ‚Konkurrenten‘ Musils zusehends in eine Projektion eigener (Abstiegs-)Ängste verwandeln: Angesichts der 1934 gegründeten Musil-Gesellschaft, als dessen Mitglied Broch wohl seinen monatlichen Beitrag regelmäßig entrichtet hat,300 erwähnt Broch wiederkehrend „das schreckliche Beispiel Musils“,301 „das grausige Beispiel Musils, der sich sowohl selbst als seinem Verleger zur Last geworden ist“. Er „wittere“, so Broch in einem Brief an Daniel Brody vom 30. November 1934, „Anzeichen für solchen Musilesken Abstieg“.302 Die
_____________ 296 R. Musil: Brief an Ervin P. Hexner vom 9. 3. 1941 (BR I, 1266); Hervorhebung v. B. N.; vgl. ebd.: „[…] er [H. Broch] stammt aus einer reichen Textilfamilie […] und es ist sicher ein Jugendtraum von ihm, einmal kein Geld zu haben und nur als Genie von der Welt erhalten zu werden […]. Es war jedenfalls sehr anständig und ohne Krippenneid von ihm gefühlt.“ 297 Ders.: Brief an Hermann Broch vom 11. 11. 1940 (BR I, 1245; Hervorhebung v. B. N.); vgl. jedoch Martha und R. Musil: Brief an Ea von Allesch vom 8. 8. 1939 (BR I, 1049f.). 298 H. Broch: Brief an Georg Heinrich Meyer vom 1. 1. 1931. In: Hermann Broch – Daniel Brody. Briefwechsel 1930–1951. Sp. 154; Brochs erster Teil der Trilogie 1888 – Pasenow oder die Romantik war Ende 1930 für das Weihnachtsgeschäft 1930 zu spät erschienen und vom Verlag mit der Jahreszahl 1931 deklariert worden. Musil, der zu dieser Zeit am seinem Essay Literat und Literatur arbeitet, notiert in seinem Arbeitsprotokoll zum zweiten Buch von Der Mann ohne Eigenschaften (1932) unter dem 30. 12. 1930 und dem 31. 3. 1931 den Besuchs Brochs; vgl. (TB II, 1201 und 1203). 299 H. Broch: Brief an Daniel Brody vom 12. 4. 1932. In: Hermann Broch – Daniel Brody. Briefwechsel 1930–1951. Sp. 306; Hervorhebung v. B. N. Vgl. auch H. Broch: Brief an Robert Musil vom 2. 9. 1933: „[…] so hätte ich wahrlich niemals daran gedacht, zu Ihnen in irgend eine Konkurrenz zu treten […].“ (BR I, 580) 300 Vgl. E. Canetti: Das Augenspiel (1988). S. 164. 301 H. Broch: Brief an Daniel Brody vom 6. 6. 1934. In: Hermann Broch – Daniel Brody. Briefwechsel 1930–1951. Sp. 573. 302 Ders.: Brief an Daniel Brody vom 30. 11. 1934. In: ebd. Sp. 597.
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„Rettung“303 des Literaten vollzieht sich hier, aus der Perspektive Brochs, auf Kosten der Ehre des Dichters Musil.304 Das formale Problem, den Essayismus als inhaltliche wie formale Reflexion auf den Ebenen von histoire und discours in den Roman einzubinden, hatte Musil seinerseits bereits 1931 in seinem Essay Literat und Literatur (1931) (selbst-)kritisch reflektiert: „Dagegen tritt in Roman und Drama (und in den Mischformen zwischen Essay und Abhandlung; denn der ,reine Essay‘ ist eine Abstraktion, für die es beinahe keine Beispiel gibt) der Gedanke, die diskursive Ideenverbindung auch nackt hervor. Dennoch haftet an solchen Stellen einer Erzählung immer ein unangenehmer Eindruck des Extemporierens, des Aus-der-Rolle-Fallens und der Verwechslung des Darstellungsraums mit dem privaten Lebensraum des Verfassers, wenn sie nicht auch die Natur eines Formteils haben.“ Und der Kritiker Musil begibt sich hier gegenüber dem Dichter von Der Mann ohne Eigenschaften nicht in die Position des ‚Kunstrichters‘, sondern in die des ‚teilnehmenden Beobachters‘: „Gerade im Roman, der wie keine andere Kunstform dazu berufen ist, den intellektuellen Gehalt einer Zeit aufzunehmen, lassen sich darum die Schwierigkeiten der Eingestaltung und der Versuche zu ihrer Lösung beobachten“.305 Die Integration („Eingestaltung“) des Essayistisch-Diskursiven in das Narrative als formale Synthese von Rationalem und Irrationalem (Broch) bzw. Ratioïdem und Nicht-Ratioïdem (Musil) wird hier allerdings nicht als „Spiegel der Totalität“ (Broch),306 sondern als „Teillösungen einer Aufgabe“ (Musil)307 verstanden. b) Brochs Der Schriftsteller Franz Blei (1921) und Bleis Kritische Prolegomena (1912) Es lassen sich weitere textuelle Referenzen aufzeigen, welche das zeitlichkausale Verhältnis von Plagiiertem und Plagiat, Geformtem („Mauer“)
_____________ 303 Ders.: Brief an Daniel Brody vom 6. 6. 1934. In: ebd. Sp. 573. 304 Vgl. hierzu Musils Überschrift über den Entwurf von Literat und Literatur (1931): „Für Blei // Der Literat. / Eine Ehrenrettung.“ (GW II, 1825f.) 305 Ders.: Literat und Literatur (1933) (GW II, 1223). 306 Vgl. die gestrichene Passage aus ders. Das Böse im Wertsystem der Kunst (1933). Abgedr. in: Kommentierte Werkausgabe. Bd. 9/2. S. 284. 307 R. Musil: Der „Untergang“ des Theaters (1924) (GW II, 1124).
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und Entlehntem („Anlehnung“)308 in ein Verhältnis von gleichzeitigen Interferenzen auflöst. Denn zu Musils Essay Literat und Literatur. Randbemerkungen dazu (1931), der ursprünglich als Beitrag für eine Festschrift anlässlich Bleis 60. Geburtstag geplant war, lassen sich nicht nur autointertextuelle Prätexte ausmachen wie Über den Essay (1911/12?), Franz Blei – 60 Jahre (1931) etc., sondern auch ein hetero-intertextueller Text: In der Prager Presse erschien am 20. April 1921, also zu einer Zeit als Musil dort selbst eine Reihe von Kritiken veröffentlichte, „[z]um fünfzigsten Geburtstag“ des gemeinsamen Entdeckers, Freundes und Mentors Hermann Brochs Laudatio Der Schriftsteller Franz Blei. Die Frage lautet hier nicht ‚Was ist ein Literat?‘, sondern ähnlich wie in Musils Glosse Der Malsteller (1923): „Was aber ist ein Schriftsteller?“309 Zunächst stellt Broch den „Betrachter und Vermittler“ der Kunst und Erzieher des Publikums, den Herausgeber und Übersetzer Franz Blei in die Tradition des schriftstellerischen 18. Jahrhunderts:310 Auch Voltaire, Lessing und Wieland seien „weder Philosophen noch Dichter im eigentlichen Sinn“ gewesen311 und selbst „Goethes Größe umfasste auch die Qualität des Schriftstellerischen.“312 Der Schriftsteller Blei wird zwischen den Philosophen auf der einen Seite und dem Dichter auf der anderen gestellt und als ‚Dazwischenstehender‘ gleichzeitig auch vom Feuilletonismus abgegrenzt: „Der Philosoph introduziert ihr [der Welt] seine Beweisgründe, der Dichter sein Erlebnis, der Journalist sein Tatsacheninteresse, der Schriftsteller aber nichts als seine schlichte Meinung.“313 Jenseits von sachlicher Reportage, rationaler Beweisführung und erschütterndem Erlebnis wird hier dem Schriftsteller – im Unterschied zum Dichter – eine subjektive und nicht-rational begründbare Urteilsfähigkeit zugesprochen. Das, was der Schriftsteller (Essayist, Kritiker) vorträgt, ist „seine Meinung“ – und nicht die des Dichters. Der Jubilar selbst hatte bereits zehn Jahre zuvor in seinen Kritischen Prolegomena aus Der Dichter und das Leben. Ein Buch Kritik (1912) die These aufgestellt, dass der Dichter selbst nicht die Meinung seines Gedichts
_____________ 308 Vgl. ders.: Tagebücher. Heft 31 (1930–1936) „Broch: Anlehnung. Wenn man sich an eine Mauer lehnt, hat der ganze Anzug weiße Flecken. Ohne daß es Plagiat wäre.“ (TB I, 826) 309 H. Broch: Der Schriftsteller Franz Blei (1921). In: ders.: Kommentierte Werkausgabe. Bd. 9/1: Schriften zur Kultur 1: Kritik. Frankfurt a. M. 1975. S. 53–59, hier S. 53. 310 Ebd. S. 54f. 311 Ebd. S. 53. 312 Ebd. S. 55. 313 Ebd. S. 53.
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kenne, dass auch ihm „erst sein Gedicht“ sage, „was er ‚meinte‘“:314 „‚Was meint das Gedicht?‘ lautet immer die Frage im Gefolge der ersten falschgesetzten Antithese von Form und Inhalt. Was ein Gedicht ‚meint‘, das ist immer nur mit dem Gedicht zu beantworten“.315 Der Kritiker Blei räumt dem Dichter und seinem Werk Unabhängigkeit und absolute Priorität gegenüber dem Kritiker ein:316 „Gott schuf die Welt und erklärt sie nicht; der Dichter erschafft die Welt und erklärt sie nicht.“317 Diese Priorität des Dichters vor dem Kritiker erfährt zur gleichen Zeit bei Musil, dem Dichter der Vereinigungen, in dem Fragment Profil eines Programms (1912?) eine Umkehrung: „Gott sein u[nd] eine Theodicee schreiben, sind zwei Dinge, die sich gar nicht miteinander vergleichen lassen, u.[nd] man kann das zweite vorziehen. (aber wer eine Theodicee schreiben kann, verzichtet auf das erste)“.318 Ist der Dichter bei Blei als ‚second maker under jove‘ (Shaftesbury) konzipiert, der selbst im Zeitalter des Feuilletonismus noch die Qualitäten des Ursprünglichen und Originellen auf sich vereint, so kennzeichnet der dichtende Philosoph bzw. philosophierende Dichter Broch den „dichtende[n] Schriftsteller“ Blei mit der Formel der „originalen Nachbildung“. Wiederum bezogen auf das ‚schriftstellernde‘ 18. Jahrhundert heißt es: „Es gibt fast kein einziges philosophisches Werk […], das nicht, ernsthaft oder ironisierend, im Geiste und in der Form irgend eines ‚Vorbildes‘ erzeugt wäre.“319 Der Schriftsteller Blei, dem „sein Schreiben […] tiefe, leidenschaftlichste Lebensnotwendigkeit“ sei, behandele, so Broch, das Geschriebene, die eigene wie die fremde Schrift „trotz aller Leidenschaft“ mit einer „schönen und philosophischen Leichtigkeit“ und „kritischen Skepsis“.320 In Bleis Prätext der Kritischen Prolegomena (1912) ist nicht das Dichten (die
_____________ 314 F. Blei: Kritische Prolegomena. In: ders.: Vermischte Schriften. Bd. 6: Der Dichter und das Leben. Ein Buch Kritik. München/Leipzig 1912. S. 9–84, hier S. 47. 315 Ebd. S. 47. 316 Ders.: Nachwort In: ders.: Vermischte Schriften. Bd. 6: Der Dichter und das Leben. Ein Buch Kritik (1912). S. 349–351, hier S. 349: „Das Werk wirkt immer und durch nichts als durch sein Dasein. Es braucht keine anderen Verkünder. Es braucht keinen Kritiker. Es braucht ja nicht einmal einen Leser.“ 317 Ders.: Kritische Prolegomena (1912). S. 38. 318 R. Musil: Profil eines Programms [1912] (GW II, 1315–1319, hier 1317); vgl. ders.: Lieber Pan – ! [1911/12] (GW II, 748–750, hier 750): „Vor die Wahl gestellt, Gott in dieser Welt zu sein oder die Theodizee einer neuen bloß zu schreiben, werden Sie sich letzterem zuneigen. Nicht aus eitlem Stubenrationalismus, sondern als Lebensrettung.“ 319 H. Broch: Der Schriftsteller Franz Blei (1921). S. 55. 320 Ebd. S. 56.
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Schöpfung), sondern das Ordnen (die Ordnung der Welt) als des Dichters „eingeborene Leidenschaft“ bestimmt worden.321 Die Formulierung Bleis vom „Leidenschaft gewordene[n] Denken“ des Dichters322 wird wiederum von Musil parallel bzw. im Dialog mit Blei über die Erzähltechnik der Vereinigungen (1912) entwickelt. So findet sich bereits in seinen Tagebüchern bzw. Arbeitsheften unter dem 13. August 1910 eine Eintragung zur „leidenschaftliche[n] Energie des Gedankens“,323 die Methode und Ziel des eigenen Schreibens kennzeichnet. In einem Briefentwurf an Franz Blei von Anfang Juli 1911 greift Musil die Blei’sche Variante von der „Leidenschaft des Denkens“ auf.324 Noch in Der Mann ohne Eigenschaften (1930/32) klingt mit der Formel von „Genauigkeit und Leidenschaft“325 – ebenso wie in Brochs Wendung vom „Dichten als Ungeduld der Erkenntnis“ in Das Weltbild des Romans (1933)326 – Bleis Formulierung an, die in Erzählung eines Lebens (1930) als „mit Leidenschaft genaue[r] Geist“327 wiederkehrt. Allerdings scheint Musil bei der Konzeption der „beiden Arten des leidenschaftlichen Seins“ („appetithafte“ und „nicht-appetithafte“)328 bzw. der „zwei leidenschaftlichen Personen“ („der appetitiven u.[nd] der verinnerlichten“)329 und den zwei Arten des Erzählens (dem ‚lebendig‘narrativen und dem ‚spekulativ‘-reflexiven) die Leichtigkeit als Gegengewicht zur Kritik zusehends abhanden gekommen zu sein. So überwiegt in den späten Tagebuchaufzeichnungen die Selbstreflexion auf das Überwiegen des ‚unappetitive[n]‘ Anteils.330 Aus der magischen Syntheseformel ist nun die „Paradoxie“331 geworden: „Ich schreibe aber auch nicht gern, wiewohl leidenschaftlich. Wahrscheinlich muß man das Leben lieben, um leicht zu schreiben.“332 Der Schriftsteller, der weder Dichter noch Philo-
_____________ 321 322 323 324
325 326 327 328 329 330 331 332
F. Blei: Kritische Prolegomena (1912). S. 37. Ebd. S. 38 und S. 64. R. Musil: Tagebücher. Heft 5 (1910–1911?) (TB I, 214). Ders.: Brief an Franz Blei, [Anfang Juli 1911]: „Es diente mir in der Beschwernis des Buchs der Gedanke von Ihnen als Pilgerstab, dass das Wertbildende in unserer Kunst die Leidenschaft des Denkens sei (involviert auch in der des Fühlens) […].“ (BR I, 82); vgl. auch die unter Motive – Überlegungen abgedruckte Nachlassnotiz: „Leidenschaft gewordener Gedanke sagt Blei von der guten Lyrik.“ (GW II, 867) Ders.: Der Mann ohne Eigenschaften. 1. Buch (1930) (MoE I, 252). H. Broch: Das Weltbild des Romans (1933). S. 116. F. Blei: Erzählung eines Lebens. Leipzig 1930. S. 423. R. Musil: Der Mann ohne Eigenschaften (Nachlass) (MoE II, 1236). Ders.: Tagebücher. Heft 33 (1937–1941) (TB I, 918). Vgl. ebd. S. 943. Ebd. S. 942. Ebd. S. 943.
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soph ist, scheint mal wieder „auf einen Hund gekommen“333 zu sein: „Ich gleiche einem Hund, der seinen Knochen beiseite trägt“.334 In den Kritischen Prolegomena (1912) hatte Blei einer ‚schweren‘ Literatur, einem „Schrifttum“, das „vom Leben, von der Kritik des Lebens belastet“ ist und am „schweren Leben“ würgt,335 sein Programm einer ‚leichten Literatur‘ gegenübergestellt.336 Dabei ist ‚leichte Literatur‘ jedoch nicht als reflexionslose zu verstehen. Bleis Definition der Dichtung folgt vielmehr der Kennzeichnung, die sein philosophischer Lehrer, Richard Avenarius, dem Philosophieren gab: „Dichten ist Denken der Welt im Bilde – Gebilde – nach dem Prinzip des kleinsten Kraftmaßes.“337 Das „Paradox des blinden Sehers“338 findet bei Blei seine zeitgenössische Entsprechung: Es ist der Naive im Zeitalter des Sentimentalismus, der „Relativität der Werte“ und der „Kaufkraft, die heute jede andere Kraft abzulösen imstande ist.“339 „Dieses Eins sich wissen mit dem Ganzen der Welt, das den Dichter auszeichnet“,340 leitet sich hier nicht nur aus einem Konzept von Einheit, Totalität der Welt ab, sondern von einem symbolischen Korrespondenzverhältnis, welches im Teil das Ganze erkennt und erlebt.341 Das Erkennen und Erleben des Ganzen begründet sich hier nicht als Strukturäquivalent der Welt, sondern aus den präexistenten Gefühlen des Dichters, der sich selbst, die Welt und sich in der Welt „synoptisch“ sieht:342 übersichtlich, im geordneten Nebeneinander. Die Struktur des Dichters ist eine der Besonnenheit und Ergriffenheit, des Denkens und Fühlens, der Reflexion und des Erlebnisses zugleich. Doch auch dieser Dichter ist modern, auch er ist selbstbezüglich: „Der heutige Dichter hat Beziehung nur zu sich selber“.343 Er ist heimatlos, „nirgendhingehö-
_____________ 333 334 335 336 337 338 339 340 341 342 343
Ders.: Brief an Franz Blei vom 22. 12. 1923 (BR I, 329). Ders.: Tagebücher. Heft 33 (1937–1941) (TB I, 942). F. Blei: Kritische Prolegomena (1912). S. 78f. Ebd. S. 81ff. Ebd. S. 34; vgl. R. Avenarius: Philosophie als Denken der Welt gemäß dem Prinzip des kleinsten Kraftmaßes. Prolegomena zu einer Kritik der reinen Erfahrung (1888). 2. unv. Aufl. Leipzig 1903. F. Blei: Kritische Prolegomena (1912). S. 37. Ebd. S. 10. Ebd. S. 49. Ebd.: „Der Dichter wäre von wo fremd her. So ist er aber im Vertrauten zu Hause: nur ist er immer verwundert davon. Er ist besonnen und ergriffen, weil er in jedem Einen das Ganze erkennt und erlebt und sich als einen Teil dieses Ganzen.“ Ebd. S. 50. Ebd. S. 53.
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rig“, „er steht im Leeren“,344 aber er ist nicht fremd, weil er im „Vertrauten“ – der Sprache – „zu Hause: nur ist er immer verwundert davon.“345 Der ‚transzendentalen Obdachlosigkeit‘ (Georg Lukács) wird hier ein pragmatisches Zuhause auf sprachlich-kommunikativem Boden gegeben. Der moderne Dichter ist der essayistische Mensch, der nur in der Sprache zu Hause ist. Der ‚behauste‘ Dichter der ‚leichten Literatur‘ ist der letzte Naive im Zeitalter der (Sentimental)Ismen. Er ist der Messias, der keines Täufers bedarf: Der Kritiker bedarf des Dichters, der Dichter selbst aber „braucht keinen Kritiker“. So die radikal-klassizistische Position des Kritikers Blei im Nachwort zu Der Dichter und das Leben. Ein Buch Kritik (1912): „Das Werk wirkt immer und durch nichts als durch sein Dasein. Es braucht keine anderen Verkünder. Es braucht keinen Kritiker. Es braucht ja nicht einmal einen Leser.“346 Bleis Position kann allerdings auch als Radikalisierung der frühromantisch-modernen Kunstkritik gelesen werden: Der Dichter ist selbstbezüglich – er braucht weder Leser noch Kritiker. Das heißt, er liest und reflektiert sich selbst. Die kritische Selbstreflexion auf seine textuelle Konstitution ist Bedingung wie Konstituente seiner Textproduktion. Gleichzeitig erfährt der Begriff der Dichtung gegenüber dem Literaturprogramm der Klassik bei Blei jedoch eine essayistische Erweiterung: „Wohl aber kann ein philosophischer Dialog, kann eine Biographie ein Kunstwerk sein“.347 Und diese (essayistische) Kunst verträgt sich, so Blei weiter, „durchaus mit Tendenz, mit Nützlichkeit, mit Theorie, mit Politik.“348 Der moderne Dichter ist selbstbezüglich, aber kein Vertreter des l’art pour l’art,349 denn er weiß, dass er „eine höhere Verantwortung […] als die
_____________ 344 Vgl. ebd. S. 55: „Die Dichter dieser Zeit sind keiner moralischen Idee verpflichtet und nicht als Ereignis bezeichnet. Sie gehören niemanden zu als sich selber. Keiner gesellschaftlichen Bildung und deren Ideologie Sprache ist die ihre. Ohne Gesinnung im politischen, indifferent im christlichen Verstande, eklektisch in den Wertungen des Lebens, voraussetzungslos in den Geselligkeiten der Menschen, meist keiner irgendwelchen Gemeinschaft durch einen Beruf angegliedert, da er ohne Beruf und ‚frei‘ ist, so ist der Dichter dieser Zeit nirgendhingehörig; er steht im Leeren und seine Stimme ist ohne Bedeutung für eine Gemeinschaft, sei diese nun Nation oder Partei, Sekte oder Klasse.“ 345 Ebd. S. 49. 346 Ders.: Nachwort (1912). S. 349. 347 Ders.: Kritische Prolegomena (1912). S. 63: „[…] wie anders wollte man einen Platonischen Dialog, eine Plutarische Biographie werten?“ 348 Ebd.: „Das Kunsthafte nur in der Gattung oder in technischen Prozessen zu sehen ist Willkür.“ 349 Ebd. S. 55.
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seines gelungenen Verses“ trägt.350 Es ist der klassisch-naive Dichter unter den Bedingungen der sentimentalischen Moderne: Er ist selbstbezüglich, aber ethisch tendenziös. Aber er handelt nur in eigener Mission, er ist weder Täufer noch Messias.351 Die bloße Existenz des Kunstwerks aber, „daß das Werk überhaupt ist“,352 enthebt den Menschen vom „anthropozentrischen Dünkel“ der lebensimmanenten Beschränktheit. Die Kunst wird zum Ethos. Sie ist, so Blei, „unser immanentes gutes Gewissen“. Sie ist Stellvertreterin des Transzendenten in der Immanenz des modernen Menschen, genauer des Menschen unter den Bedingungen der Moderne. Sie „befreit“ den Menschen vielmehr nur aus der „Fiktion“ der Immanenz, genauer aus den Notwendigkeiten des Alltaglebens, sich handelnd und entscheidend verhalten zu müssen. Der Mensch im Bereich des Ästhetischen handelt, denkt und fühlt hier nicht mehr als ‚Wirklichkeitsmensch‘, sondern als ‚Möglichkeitsmensch‘ (Musil). Er handelt im Modus des ‚Als ob‘ unter den Bedingungen der „Relativität der künstlerischen Wahrheit“.353 Der ästhetische Mensch und nicht der ‚mathematische‘ (Musil) ist hier die Antizipation des essayistischen Menschen. Das Programm einer ‚leichten Literatur‘, die kritische Reflexion (Relativität) wie ethische Tendenz (Standpunkt) miteinander vereint, wird auf die Bedingungen des (modernen) Lebens übertragen. In seiner Laudatio Der Schriftsteller Franz Blei (1921) referiert Broch nicht nur auf Bleis Kritische Prolegomena aus Der Dichter und das Leben. Ein Buch Kritik (1912), sondern auf jenen ‚Architext‘ (Genette), der den modernen Essay wie dessen Metatext, den Essay über den Essay, gleichermaßen generiert: Lukács’ Essaybuch Die Seele und die Formen (1911). Bereits Blei hatte Lukács markiert (mit Nennung des Autornamens und in doppelten Anführungszeichen) zitiert: „‚der Essayist,‘ sagt G. v. Lukasc [!], ‚ist ein Täufer, der auszieht, um in der Wüste zu predigen von einem, der da kommen soll‘.“354 In seinem Nachruf von 1918 hatte Lukács den „Relativisten“,355 Fragmentisten356 und Essayisten Georg Simmel als den „wahre[n] Philo-
_____________ 350 Ebd. S. 54. 351 Vgl. ebd. S. 70: „Er [der Dichter] unterscheidet sich von den andern nur dadurch, daß er seinen Auftrag nicht von außen bekam sondern von sich selber […].“ 352 Vgl. ebd. S. 51. 353 Ebd. S. 73; bei Blei nicht zu verwechseln mit der „Relativität im Leben“. 354 Ebd. S. 14. 355 G. Lukács: Georg Simmel. In: Pester Lloyd, 2. Oktober 1918. Abgedr. in: Buch des Dankes an Georg Simmel. Briefe, Erinnerungen, Bibliographie. Hrsg. v. K. Gassen/ M. Landmann. Berlin 1958. S. 171–176, hier S. 174.
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soph[en] des Impressionismus“357 gekennzeichnet, als „Vorbereiter einer neuen Klassik“, als einen „Monet der Philosophie, auf den bis jetzt noch kein Cézanne gefolgt ist.“358 Broch nun überträgt Lukács’ Kennzeichnung Simmels auf seinen literarischen Mentor Blei. Dieser verkörpere den „impressionablen Typus“, eine Wortneuschöpfung, welche den empiriokritizistischen Sensualismus mit der Epochen-Konstruktion (Impressionismus) verbindet: „Blei aber ist geradezu der Typus des impressionablen Individuums.“359 Und Broch findet auch die Simmel’sche Methode des ‚Senkbleis‘360 bei Blei wieder: „Impressionabel jedoch heißt: in jedem Punkte der Welt die ganze Welt dahinter zu erkennen.“361 Auch die Lukács’sche (bzw. Schlegel’sche) Wendung vom Essay als ‚intellektuellem Gedicht‘362 kehrt wieder, wenn Broch dem Schriftsteller Blei eine „Zwitterstellung zwischen dem Philosophischen und dem Lyrischen“ zuspricht:363 „Der Schriftsteller ist kein Dichter, aber seine Impressionabilität ist, gleich jeder anderen Impressionabilität, die des Lyrikers.“364 Der Philosoph wie der Schriftsteller werden von Broch wie schon bei Lukács als Suchende bestimmt.365 Ist für den Philosophen der „letzte[ ] Zusammenhang“ der Welt nicht mehr eindeutig begründbar, so vermag der Schriftsteller „in jedem ihrer Punkte, vor allem aber in dem Irrationales rational gestaltenden Kunstwerke, ihre Totalität“, zwar auch nicht eindeutig zu
_____________ 356 Ebd. S. 175. 357 Ebd. S. 172. 358 Ebd. S. 173; vgl. E. Bloch: Weisen des ‚Vielleicht‘ bei Simmel (Zum 100. Geburtstag, 1958). In: ders.: Philosophische Aufsätze zur objektiven Phantasie. Frankfurt a. M. 1969. S. 58, der Simmels Denken als „Ineinander von Impressionablem und Formalem“ kennzeichnet. 359 H. Broch: Der Schriftsteller Franz Blei (1921). S. 54. 360 Vgl. G. Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben (1903). In: ders.: Brücke und Tür. Essays des Philosophen zur Geschichte, Religion, Kunst und Gesellschaft. Im Verein mit M. Susman hrsg. v. M. Landmann. Stuttgart 1957. S. 227–243, hier S. 231: „Aber auch hier tritt hervor, was überhaupt nur die ganze Aufgabe dieser Betrachtungen sein kann: daß sich von jedem Punkt an der Oberfläche des Daseins, so sehr er nur in und aus dieser erwachsen scheint, ein Senkblei in die Tiefe der Seelen schicken läßt, daß alle banalsten Äußerlichkeiten schließlich durch Richtungslinien mit den letzten Entscheidungen über den Sinn und Stil des Lebens verbunden sind.“ 361 H. Broch: Der Schriftsteller Franz Blei (1921). S. 54. 362 Vgl. G. Lukács: Über Wesen und Form des Essays (1911). S. 31: „Nur von dieser Möglichkeit des Essays wollte ich zu Dir sprechen, vom Wesen und von der Form dieser ‚intellektuellen Gedichte‘, wie der ältere Schlegel die von Hemsterhuys nannte.“ 363 H. Broch: Der Schriftsteller Franz Blei (1921). S. 56; vgl. auch ders.: Der Kunstkritiker (1920). S. 39: „Das gilt doppelt für die Kritik, wenn man sie als rationale, als philosophische Lyrik bezeichnen will.“ 364 Ders.: Der Schriftsteller Franz Blei (1921). S. 55. 365 Ebd. S. 57.
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begründen, so doch zu ahnen. Und der philosophische Dichter bzw. Dichterphilosoph Broch erhebt den Kritiker Blei zum Dichter: Als „philosophischer Geist“ bleibe der „Schriftsteller“ Blei – im Unterschied zu den „Kunstbetrieblern“ – immer „Künstler“.366 c) Interferenzen: ,weiße Mauer‘ und „schwarze Erde“ Die beiden Blei-Laudatoren Broch und Musil entwickeln am Beispiel Blei ihren Begriff vom Schriftsteller bzw. Literaten. Kunst bzw. (fiktionale) Dichtung steht hier nicht der Gegensatz zum (nicht-fiktionalen) Essay: Der Wert des Kunstwerks zeichnet sich vielmehr durch dessen Anteil an Geist aus; er liegt in der rationalen Gestaltung des Irrationalen (Broch)367 bzw. in der „Durchdringung rationaler und irrationaler Elemente“ (Musil).368 Gemeinsam ist beiden – Musil wie Broch – auch die Frage nach dem Wert des Kunstwerks, dem ästhetischen wie dem ethischen: Es ist die Frage nach dem rechten Leben unter den Bedingungen der Moderne (Kontingenz, Relativität der Werte einerseits und Heilserwartung andererseits) und die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Kritik gleichermaßen. Lukács und Broch legen den modernen „Roman in seiner rational-irrationalen Polyphonie“ (Broch)369 auf eine ethische Tendenz bzw. ein „ethisches Wollen“ und eine Art symbolische Totalitätskonzeption fest370 und verschieben ihre sentimentalische Heilserwartung somit von der Realität und ihren Vokabeln auf die dichterische Syntax als (rationale) Ordnung des Kontingenten, Relativen, Sinn- und Wertlosen. Dagegen hält der Ingenieur und Mathematiker Musil inhaltlich wie formal an einer Darstellung und Kritik der moralischen Kriterien von Gut und Böse als Funktionswerten fest. Vor diesem Hintergrund ist auch der Broch’sche Kitsch-Vorwurf zu verstehen: als Vorwurf des formalen Ästhetizismus bzw. Essayismus, welcher den kritischen Relativismus der Darstellung gleichsam gegenüber der ethischen Zielsetzung zum (rationalen) Selbstzweck der Dichtung werden lässt.
_____________ 366 367 368 369 370
Ebd. Ebd. R. Musil: Literat und Literatur (1931) (GW II, 1217). H. Broch: Das Weltbild des Romans (1933). S. 117. Vgl. ebd. S. 115: „[…] die Dichtung, oder richtiger das Dichtwerk, hat in seiner Einheit die gesamte Welt zu umfassen, sie hat in der Auswahl der Realitätsvokabeln die Kosmogonie der Welt zu spiegeln, sie hat in dem Wunschbild, das sie gibt, die Unendlichkeit des ethischen Wollens aufleuchten zu lassen.“
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In seinem Balázs-Essay Ansätze zu neuer Ästhetik (1924) hatte Robert Musil „[d]ie Klagen über die Intellektualisierung in der Kunst“ auf den Kitsch-Begriff bezogen, unter welchem er sowohl die „Entleerung des Lebens durch das Denken“ (Abstraktion) als auch die „formelhafte Verkürzung des Gefühls“ versteht.371 Und in seinem essayistischen Text Schwarze Magie, den er 1923 in verschiedenen Zeitschriften veröffentlichte und 1936 unter der Rubrik Unfreundliche Betrachtungen im Nachlaß zu Lebzeiten herausgab, lässt er den Kitsch-Begriff ‚zappeln‘372 und definiert ihn – in Auseinandersetzung mit dem fingierten „Dichter X.“ – als „eine feste, eindeutige, gleichbleibende Beziehung“ „zwischen den Gefühlen und den Worten“: „Der Kitsch […] macht also aus Gefühlen Begriffe“.373 Kitsch als Formelhaftigkeit des Gefühls, wie dessen Abstraktion zum Begriff, steht auf der Seite des Monologischen. Sein Gegensatz ist nicht die Kunst, sondern das Dialogische, das Grenzüberschreitende: der Essay. In Entsprechung zum Essay ordnet Musil im ersten seiner Syllogismen ‚Kitsch‘ zwischen den Bereichen ‚Kunst und Leben‘ versus ‚Leben und Begriff‘ ein („Die Kunst blättert den Kitsch vom Leben. / Der Kitsch blättert das Leben von den Begriffen.“). Am Beispiel des Familienblattautors und zeitgenössischen Expressionisten (besagtem „Dichter X.“) wird Kitsch jedoch in Abgrenzung zum Essay als Abwesenheit von kritischer Rationalität bzw. Selbstreflexivität gekennzeichnet. Aus dem zweiten der beiden Syllogismen („Je abstrakter die Kunst wird, desto mehr wird sie Kunst. / Je abstrakter der Kitsch wird, desto mehr wird er Kitsch.“)374 folgt also nicht im Sinne Brochs: Je abstrakter die Kunst ist, desto mehr ist sie Kitsch. Vielmehr wird die Auflösung der Aporien in einer Funktionsgleichung, welche die rationale Abstraktion von der gefühlsmäßigen Dimension des Begriffs ins Absurde führt, als „Schwarze Magie“ entlarvt. Die Fragen aber „was ist Kitsch?“, „was ist Leben?“ bzw. „was ist leben?“375 bleiben unbeantwortet und werden in ein „lebendes Bild“376
_____________ 371 372 373 374 375 376
R. Musil: Ansätze zu neuer Ästhetik (1925) (GW II, 1152). Vgl. R. Musil: Ehrenrettung eines Literaten (Nachlass) (TB II, 1197). Ders.: Schwarze Magie (1923). In: ders.: Nachlaß zu Lebzeiten (1936) (GW II, 502). Ebd. S. 503. Ebd. S. 502f. Ebd. S. 501.
6. Robert Musil und Hermann Broch: der Plagiatvorwurf
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‚verzwergter‘ Sehnsucht377 überführt, das die Gleichung Leben = Kitsch evoziert.378 Das Problem der ‚Essayfizierung‘ des modernen, polyphonen Romans, „der wie keine andere Kunstform dazu berufen ist, den intellektuellen Gehalt einer Zeit aufzunehmen“,379 hatte Musil selbst im letzten Abschnitt seines Essays Literat und Literatur (1931) benannt. Die Verbindung von narrativen und reflexiven, irrationalen und rationalen Momenten wird anders als bei Broch nicht als zyklischer Umschlagspunkt des Rationalen ins Irrationale interpretiert, sondern in dialektischer Perspektive gleichermaßen „als die Anpassung des Geistes an Bereiche“ diskutiert, „denen die Vernunft nicht beikommt, wie [als] Anpassung dieser Bereiche an die Vernunft“.380 Die Frage nach der Aufgabe der modernen Dichtung, nach ihrem Was und Wofür, wird bei Musil offen gelassen.381 Die Frage nach dem ‚rechten Leben‘ ist hier nicht auf die Ebene der Transzendenz382 oder Transzendenz der Immanenz (symbolische Ebene der Kunst) verlagert. Die sentimentalische Zwei-Welten-Lehre wird vielmehr durch eine mathematische Funktionsgleichung aufgelöst. Die Frage nach dem Verhältnis von Ethik und Ästhetik wird also nicht inhaltlich gelöst, sondern zunächst einmal
_____________ 377 Vgl. ders.: Wiener Theater. In: Deutsche Zeitung Bohemia (Prag), 19. Oktober 1922 (GW II, 1604–1607, hier 1605): „[…] in jedem Kitsch steckt eine wahre Sehnsucht, die darin bloß verborgen und verzwergt wird […].“ Vgl. ders.: Schwarze Magie (1923). In: ders.: Nachlaß zu Lebzeiten (1936) (GW II, 501). 378 Vgl. ders.: Schwarze Magie (1923). In: Nachlaß zu Lebzeiten (1936): „Wie gut hat es ein schwarzer Husar. Die schwarzen Husaren haben geschworen, zu siegen oder zu sterben, und gehen in dieser Uniform zur Freude aller Frauen spazieren. Das ist keine Kunst. Das ist das Leben!“ (GW II, 503) 379 Ders.: Literat und Literatur (1931) (GW II, 1223). 380 Ebd.; vgl. G. Simmel: Philosophie des Geldes (1900). S. 673: „[…] der Satz, daß wir die Natur beherrschen, indem wir ihr dienen, hat den fürchterlichen Revers, daß wir ihr dienen, indem wir sie beherrschen.“ 381 Vgl. R. Musil: Literat und Literatur (1931) (GW II, 1223ff.). 382 Vgl. hierzu auch die Argumentation L. Wittgensteins (Tractatus logico-philosophicus (1922). In: Ludwig Wittgenstein. Ein Reader. Hrsg. v. A. Kenny. Stuttgart 1996. S. 9– 46, hier S. 42): „6.41 Der Sinn der Welt muß außerhalb ihrer liegen. In der Welt ist alles, wie es ist, und geschieht alles, wie es geschieht; es gibt in ihr keinen Wert – und wenn es ihn gäbe, so hätte er keinen Wert. / Wenn es einen Wert gibt, der Wert hat, so muß er außerhalb alles Geschehens und So-Seins liegen. Denn alles Geschehen und So-sein ist zufällig. / Was es nichtzufällig macht, kann nicht in der Welt liegen, denn sonst wäre dies wieder zufällig. / Es muß außerhalb der Welt liegen. / 6. 42 Darum kann es auch keine Sätze der Ethik geben. Sätze können nichts Höheres ausdrücken.“
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X. Essayismus als Metatext – Fremd- und Selbstkommentare
beschreibbar (‚aussprechbar‘)383 gemacht als zwei (noch) unbestimmte Variabeln, die durch ein mathematisches Gleichheitszeichen verbunden sind. Hier sind Ethik und Ästhetik nicht „Eins“,384 nicht identisch, sondern mit dem Wort Essayistik verknüpft,385 das heißt, sie werden in eine versuchsweise Konfiguration der Begriffe gebracht. Kommen wir zum Plagiatvorwurf zurück: Es soll und kann hier nicht darum gehen, den noch nicht einmal explizit – weder in dem verloren gegangenen Brief noch in den dazu gehörenden Metatexten, Tagebuchnotizen und Nachlassfragmenten – geäußerten Plagiatvorwurf Musils gegenüber Broch als kausales sowie zeitlich nacheinander liegendes Verhältnis von Prätext und Folgetext zu verifizieren bzw. zu falsifizieren. Vielmehr wurde dem Gedanken nachgegangen, dass sich die „Berührung“ bzw. „Anlehnung“, die Musil in Bezug auf Broch markiert, nicht auf einen einzelnen Text (Literat und Literatur) beziehen könnte, wie vielfach vermutet worden ist, sondern auf einen gemeinsamen, mit dem Namen Franz Blei und Georg Lukács verbundenen Vertextungskonnex. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang noch der folgende Aspekt: Paul Michael Lützeler hat darauf hingewiesen, dass die essayistischen Texteinschübe (Zerfall der Werte) des Schlafwandler-Romans, die Prätext wie aposteriorische Meta-Kritik des Vortragstextes Das Weltbild des Romans und des Essays Das Böse im Wertsystem der Kunst (1933) darstellen, auf „Brochs zeitkritische[ ], geschichts- und werttheoretische[ ] Studien während der Jahre 1915 bis 1922 und 1925 bis 1929“ zurückgehen.386 Broch, der seit 1916/17 zu „Bleis Herrenhof-Kreis“ gehört,387 veröffentlicht in Bleis Summa (1917/18) und der Rettung (1918) Kritiken (Zum Begriff der Geisteswissenschaften), Rezensionen und Porträts (zu Zola, Christian Morgenstern, Heinrich von Stein), den metakritischen Essay Der Kunstrichter (Alfred Polgar gewidmet) sowie die Blei-Replik Die Straße und die Methodologische Novelle. Manfred Durzak weist darauf hin, dass „[e]ine An-
_____________ 383 Vgl. ebd. S. 42: „6. 421: Es ist klar, daß sich die Ethik nicht aussprechen läßt. / Die Ethik ist transzendental. (Ethik und Ästhetik sind Eins.)“ – Zum Verhältnis von Musil und Wittgenstein vgl. u. a.: P. Kampits: Musil und Wittgenstein. In: Robert Musil. Essayismus und Ironie. Hrsg. v. Gudrun Brokoph-Mauch. Tübingen 1992. S. 153161; M. Schmitz-Emans: Sprachspiel und „Unsagbares“. Zu verwandten Motiven in Robert Musils Sprachreflexion und der Sprachphilosophie Ludwig Wittgensteins. In: Musil-Forum 19/20 (1993/94/95). S. 182–208. 384 Vgl. L. Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus (1922). S. 42. 385 Vgl. R. Musil: [Über den Essay] [1911/12?] (GW II, 1334): „Für mich knüpfen sich an das Wort Essay Ethik und Ästhetik.“ 386 P. M. Lützeler: Anmerkungen des Herausgebers. In: Hermann Broch: Die Schlafwandler (1931/32). Frankfurt a. M. 1994. S. 747. 387 Ders.: Hermann Broch (1985). S. 66; vgl. M. Durzak: Hermann Broch (2001). S. 57.
6. Robert Musil und Hermann Broch: der Plagiatvorwurf
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nonce im ersten Viertel der Summa […] für die damals vorbereitete Summa-Bibliothek einen Band Brochs Zur Theorie der Werte“ ankündigte.388 Paul Michael Lützeler stellt heraus, dass Broch „damals an einer Geschichtstheorie auf werttheoretischer Grundlage [arbeitete], an einem Buch, dem er den Titel Zur Erkenntnis dieser Zeit geben will. […] Ein kleines Kapitel aus seinem entstehenden Buch veröffentlicht Broch in Bleis Summa. Es trägt die Überschrift Konstruktion der historischen Wirklichkeit […]. Bis 1922 arbeitet Broch an seinem werttheoretischen Buch, das Fragment bleibt und schließlich in kondensierter Form als Essayfolge Zerfall der Werte erst in den Schlafwandlern auftaucht.“389 Auch Hermann Broch selbst hat seine Wert- bzw. Geschichtsphilosophie aus dem 1933 veröffentlichten Huguenau-Teil seines Romanprojekt in den Entstehungs- und Diskussionskontext der Zeit gegen Ende des Ersten Weltkrieges gestellt: „Ich habe während der Dekade 1918–1928 von dieser Werttheorie die wichtigsten Partien fertiggestellt, habe jedoch hievon bloß Bruchstücke veröffentlicht; abgesehen von der Geschichtsphilosophie Wertmechanik innerhalb des historischen Geschehens, welche ich in zusammenhängender Form in meine Romantrilogie Die Schlafwandler […] eingearbeitet hatte, habe ich mich auf kurze kritische und polemische Artikel zum Thema in Zeitschriften beschränkt.“390 In seinem Brief an Robert Musil vom 2. September 1933 bezieht sich Broch auf diese frühen unveröffentlichten Fragmente und weist die Möglichkeit, „daß ich im Zuge meiner werttheoretischen Arbeiten (die übrigens seit etwa 10 Jahren abgeschlossen sind – mea culpa, daß sie nicht schon längst publiziert wurden –) jetzt Quellenmaterial in einem Aufsatz von Ihnen vermuten sollte“,391 als Zumutung zurück. Doch die Metaphorik von Quelle und Ursprung im Sinne eines zeitlich vorausliegenden Prätextes trifft den hier betrachteten Vertextungskonnex nur unzureichend. Plausibler scheint es, von einem gleichzeitigen bzw. sich zumindest partiell überschneidenden Diskussionszusammenhang auszugehen – beispielsweise einer gemeinsam, sei es nun im Café Herrenhof oder Central, sei es im Hause Béla Balázs’
_____________ 388 M. Durzak: Hermann Broch (2001). S. 59. 389 P. M. Lützeler: Hermann Broch (1985). S. 67. 390 H. Broch: Autobiographie als Arbeitsprogramm. In: ders.: Massenpsychologie. Schriften aus dem Nachlass. Hrsg. v. W. Rothe. Zürich 1959. S. 35–237, hier S. 44. 391 Ders.: Brief an R. Musil vom 2. 9. 1933 (BR I, 581); vgl. auch M. Durzak: Hermann Broch (2001). S. 60: „Darüber hinaus muss man feststellen, dass Brochs Ausgangspunkt, der Wertbegriff, damals im Mittelpunkt der philosophischen Diskussion stand, und es ist anzunehmen, dass sich Broch sich seine Argumente und Gegenargumente zum Teil auch aus den philosophischen Hörsälen der Wiener Universität holte.“
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X. Essayismus als Metatext – Fremd- und Selbstkommentare
oder Edit Rényis, eingenommenen Tasse Mokka bzw. philosophischen Nachmittagstee. So kann sich Manfred Durzak des Eindrucks nicht erwehren, dass Broch „im Blick auf den Zerfall der Werte […] der geschichtsphilosophischen Reflexion, wie sie Georg Lukács in seinem bahnbrechenden frühen Essay Die Theorie des Romans entwickelt hat, sehr nahe steht.“392 Er verweist in diesem Zusammenhang auch auf René Wellek, der Broch in Yale kennen gelernt hatte und der in seiner Studie The Literary Criticism of Hermann Broch anmerkt: „Lukács’ Theorie des Romans mit seiner ständigen Verwendung des Begriffes Totalität muß ständig in Brochs Bewußtsein gewesen sein.“393 Die ‚Anlehnung‘ bzw. ‚Entlehnung‘, die hier angedeutet wird, ist jedoch nicht nur eine zwischen Texten, ihren zentralen Begriffen (‚Totalität‘) und philosophischen Voraussetzungen (Neukantianismus). Gegen Kriegsende war Broch nicht nur mit Bleis Tochter Sibylla und Gina Kaus, sondern wie Lützeler festhält, auch mit der „Ungarin Edit Rényi“, der „Tschechin Milena Jesenská“ und der „Österreicherin Ea von Allesch“ befreundet. Edit Rényi, die bereits zu Lukács’ Budapester „Sonntagskreis“ gehörte, führte Broch in den Kreis der ungarischen Emigranten ein: „Durch Edit Rényi lernte Broch 1919/20 in Wien auch andere ungarische Emigranten kennen wie Georg Lukács, Karl Mannheim, René Spitz und Béla Balázs.“394 In seinem Teesdorfer Tagebuch für Ea von Allesch berichtet Broch unter dem 6. Juli 1920 von seiner „Angst vor Indiskretionen“ in Bezug auf sein Buchprojekt zur Wert- bzw. Geschichtsphilosophie.395 Er habe, so Broch, durch Edit Rényi „eine Einladung zu einem ‚geschichtsphilosophischen Abend‘ bei Lukacz [!] bekommen“: „Da ich nun eben leider s[einer]z[ei]t., wie ich schon erzählte, diesen Ungarn einiges zu dem Thema gesagt habe – allerdings weniger aus Eitelkeit als aus Opposition – fürchte ich, daß das auf zu fruchtbaren Boden gefallen ist. Die bekannte fruchtbare ungarische schwarze Erde.“396 Nun ist zwar – entgegen der Annahme Manfred Durzaks – gar nicht sicher, ob Broch diese Einladung überhaupt angenommen hat. Denn im Teesdorfer Tagebuch heißt es nur im Modus des Konjunktivs: „Ich hätte Lust
_____________ 392 M. Durzak: Hermann Broch (2001). S. 59. 393 René Wellek: The Literary Criticism of Hermann Broch. In: Hermann Broch. Literature, Philosophie, Politics. Ed. by. Stephen D. Dowden. Columbia 1988. S. 62; zit. nach: M. Durzak: Hermann Broch (2001). S. 60. 394 P. M. Lützeler: Hermann Broch. Eine Biographie. Frankfurt a. M. 1985. S. 71. 395 H. Broch: Das Teesdorfer Tagebuch für Ea von Allesch (1995). S. 14. 396 Ebd. S. 15.
6. Robert Musil und Hermann Broch: der Plagiatvorwurf
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zur Kontrolle hinzugehen, allerdings besteht dann die Gefahr, daß ich gereizt werde, noch mehr zu sagen.“397 Aufschlussreicher nun als die Beantwortung dieser Frage ist allerdings die Konsequenz, die Durzak aus dem Verdacht Brochs, hier nicht im Bild der ‚Anlehnung‘ eines (Männer-) Anzugs an eine weiße Mauer,398 sondern in der organologischen Metapher des aus der Hosentasche bzw. aus dem Mund auf die schwarze ungarische Muttererde fallenden Samens, zieht: „Das ist ironischerweise die Vorwegnahme des späteren Plagiatsvorwurfs Robert Musils an die Adresse von Broch, aber in diesem Fall noch absurder, da die zeitliche Priorität eine deutliche Sprache zugunsten von Lukács spricht.“399 Kommen wir auf Brochs Antwortschreiben vom 2. September 1933 zu Musils impliziten Plagiatvorwurf zurück. Denn hier wird nicht nur auf einen um mehr als zehn Jahre zurückliegenden gemeinsamen geschichtsphilosophischen Vernetzungskontext verwiesen, sondern auch auf ein Verständnis vom Dichter als Literaten bzw. Schriftsteller, das vom traditionellen wie zeitgenössischen Konzept des dichtenden Originals als einzigem und ausschließlichem Textursprung abweicht. Broch belehrt nämlich seinen zeitgenössischen Dichterkollegen Musil dahingehend, dass „geistige Erkenntnisse ihren Wert bloß aus dem Gesamtzusammenhang, in dem sie stehen, beziehen und nicht von einer patentamtlichen Priorität abhängig sind“.400 Ob nun bewusst oder nicht, markiert oder nicht: die Infragestellung der patentamtlichen Priorität geistiger Erkenntnisse kann wiederum auf den vierten Abschnitt von Musils Essay Literat und Literatur (1931) bezogen werden, wo der „Begriff des Originellen“ in einen „Verhältnisbegriff“ und das Paradigma der dichterischen Originalität in die ästhetische „Frage, in welchem Verhältnis der individuelle und der kollektive Teil einer künstlerischen Leistung zueinander stehen“, überführt wird.401 Broch hat somit möglicherweise den impliziten Plagiatvorwurf Musils mit einer nicht markierten Referenz seines vermeintlichen Prätextes gekontert und somit den
_____________ 397 Ebd. 398 Vgl. R. Musil: Tagebücher. Heft 31 (1930–1936) „Broch: Anlehnung. Wenn man sich an eine Mauer lehnt, hat der ganze Anzug weiße Flecken. Ohne daß es Plagiat wäre.“ (TB I, 826) 399 M. Durzak: Hermann Broch (2001). S. 60; vgl. hierzu G. Lukács: Vorwort (1962) zu ders.: Die Theorie des Romans (1916/20). S. 5: „Diese Studie wurde im Sommer 1914 entworfen, im Winter 1914/15 niedergeschrieben. Sie erschien zuerst in Max Dessoirs ‚Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft‘ im Jahre 1916, in Buchform bei P. Cassirer (Berlin 1920).“ 400 H. Broch: Brief an R. Musil vom 2. 9. 1033 (BR I, 581). 401 R. Musil: Literat und Literatur. Randbemerkungen dazu (1933) (GW II, 1208).
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X. Essayismus als Metatext – Fremd- und Selbstkommentare
Angreifer mit eigenen Waffen geschlagen. Musil bleibt nur, Broch in seinem Antwortschreiben vom 15. September 1933 „freundlich, aber zurückhaltend“402 bzw. „ziemlich spät[ ] (und lakonisch[ ])“403 für die „freundlichen Aufklärungen“ zu danken.404 Eine ‚Nachverbrennung‘ (Erving Goffman)405 Musils findet sich in einem Nachlassfragment Aus einem Rapial unter dem Stichwort „Broch“. Der „Verdacht des Plagiats“406 wird hier auf den essayistischen Roman selbst bezogen: „Er [Broch] macht den philosophischen Roman suspekt“. Und der Philosoph Musil fällt über den philosophischen Dichterkollegen das Urteil („Er hat nicht recht“), das er als Dichterkritiker bzw. Kritikerdichter jedoch nicht begründen kann: „Ist ein Gedankenroman schlecht, wenn seine Gedanken falsch sind? […] Ist er schlecht, wenn die Form Mängel hat?“ Angesichts der Unbegründbarkeit des eigenen Werturteils, versagen dem Kritiker seine Waffen/Mittel: „wenn ich dagegen polemisiere, ist es entweder ein philosophischer Streit oder ich müßte persönlich angreifen.“ Die Kritik an dem Schlafwandler-Roman (1930–32) wird Musil zur Kritik und Befragung der eigenen essayistischen Methode: „Kann ich diesen Roman immanent kritisieren?“407
_____________ 402 M. Durzak: Hermann Broch (2001). S. 99. 403 A. Frisé (TB II, 612); vgl. hierzu auch K. Corino: Geistesverwandtschaft und Rivalität (1971). S. 245 zu Musils „Replik“, „eilig, kraftlos und fast schizophren, halb Entschuldigung und halb die Beleidigung aufrechterhaltend“, falle „schriftstellerisch und menschlich sehr ab gegen Brochs ironisches Billet vom 2. 9. 1933.“ Corino (ebd. S. 245f.) wertet Brochs „Beitrag zum Weihnachtskatalog der Buchhandlung Martin Flinker, Wien, vom Dezember 1933“, in welchem „das Werk Robert Musils“ in einem Satz und unmittelbar hinter dem „Œuvre Thomas Manns“ gewürdigt wird, als „sublime Art der Vergeltung“. 404 R. Musil: Brief an H. Broch vom 15. 9. 1933 (BR I, 583). 405 Vgl. E. Goffman: Das Individuum im öffentlichen Austausch. Mikrostudien zur öffentlichen Ordnung. Frankfurt a. M. 1982. S. 211. Die ebenso nicht-öffentliche wie nachträgliche Reaktion Musils auf die ‚Regelübertretung‘ (das vorgeworfene plagiatum) Brochs vollzieht sich im Sinnes eines ‚korrektiven Austausches‘ gleichsam hinter dem Rücken des Kontrahenten als ‚heimlich‘ geäußerter Protest. 406 H. Broch: Brief an R. Musil vom 2. 9. 1933 (BR I, 580). 407 R. Musil: Aus einem Rapial (Nachlass) (GW II, 850).
XI. Essayismus als „Gedankenexperiment“ – Gläser und Türen im Nachlaß zu Lebzeiten (1936) So merkwürdig richtet sich die Philosophie des Hundes nach jener seines Beobachters.1 (Ernst Mach) Ich muß zuerst zeigen, warum ich anders denke. Es kommt davon, daß ich Ingenieur bin. […] Selbst ein Hund, der einen Stock im Maul nicht zwischen zwei Hindernissen durchbringt, dreht den Schädel so lang, bis er die richtige Stellung hat.2 (Robert Musil) Also sprach auch er auf Umwegen. „Haben Sie schon je einen Hund gesehen?“ fragte er. „Das glauben Sie bloß! Sie haben immer nur etwas gesehen, das Ihnen mit mehr oder weniger Recht als ein Hund vorkam. Es hat nicht alle Hundeeigenschaften, und irgendetwas Persönliches hat es, das kein anderer Hund hat. Wie sollen wir da je im Leben ‚das Richtige‘ tun? […]“3 (Robert Musil) Herausgabe meiner Essays.
Titel: Umwege.4 (Robert Musil)
1936 erscheint im Züricher Humanitas-Verlag ein Sammelband mit dem paradoxen Titel Nachlaß zu Lebzeiten.5 Es handelt sich bei dieser letzten (Buch)Publikation Robert Musils um „seine letzten Worte, auch wenn sie nur vorgespiegelt sind“,6 die in der Vorbemerkung des Herausgebers zugleich als „Zwischenveröffentlichung“ marginalisiert werden.7
_____________ 1
2 3 4 5 6
E. Mach: Erkenntnis und Irrtum. Skizzen zur Psychologie der Forschung (1905). Unveränd. Nachdr. d. 5. mit d. 4. übereinstimmenden Aufl. (Leipzig 1926). Darmstadt 1987. Anm. 3. S. 73. Es handelt sich bei diesem Kapitel um eine überarbeitete Version von B. Nübel: „Hinter der Sperre des Glases“. Gedankenexperimente in Robert Musils „Nachlaß zu Lebzeiten“. In: Lust am Kanon. Denkbilder in Literatur und Unterricht. Hrsg. v. S. Knoche/L. Koch/R. Köhnen. Frankfurt a. M. 2003. S. 237–256. R. Musil: Tagebücher. Heft 25 (1921–1923?) (TB I, 644). Ders.: Der Mann ohne Eigenschaften. 1. Buch (1930) (MoE I, 572). Ders. Tagebücher. Heft 21 (1920–1926) (TB I, 585). Die laut Impressum auf 1936 datierte Textsammlung wurde bereits 1935 ausgeliefert. R. Musil: Vorbemerkung. In: ders.: Nachlaß zu Lebzeiten (1936) (GW II, 473–476, hier 473); vgl. hierzu auch eine Tagebuchnotiz zu dem in den zwanziger Jahren projektierten, aber nie erschienenen Essayband in Heft 26 (1921–1923?): „Ich brauche kaum zu sagen, daß ich das Werk eines Toten herausgebe. Man wird sehen, daß er
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XI. Essayismus als „Gedankenexperiment“
Im Folgenden werden die Kurztexte Triëdere und Türen und Tore aus dem Nachlaß zu Lebzeiten (1936) im Rekurs auf zeitgenössische Wahrnehmungs- und Kulturtheorien (Ernst Mach, Georg Simmel und Béla Balázs) gelesen. Die beiden Essays werden als Beispiele für eine Vertextungsmethode gelesen, die sich zwischen den Bereichen des Ratioïden und NichtRatioïden situiert und programmatisch zwischen den Ansprüchen von Verstand und Gefühl vermittelt. Das Verhältnis von Bild und Begriff, Narration und Reflexion ist hier Inhalt, Form und metatextueller Kommentar gleichermaßen. Es handelt sich um Gedankenexperimente, welche die Bedingungen moderner Wahrnehmung, Erkenntnis und Literaturpraxis zur Disposition stellen8 und die Methoden von Isolation (Dekontextuierung) und Variation (Perspektivierung) ebenso narrativ umsetzen wie reflektieren. Die Technik der Isolation, Herauslösung der einzelnen Dinge und Worte aus ihrer bekannten Umgebung, wie die Variation können als Selbstbeschreibung der Musil’schen Schreibweise gelesen werden, als Technik der DesIllusionierung,9 der Ent-Täuschung,10 welche uns nicht ,ent-merkt‘,11 son-
_____________ nach seiner eigenen Definition schon tot war, als er manche seiner Ideen niederschrieb.“ (TB I, 667) 7 Ders.: Vorbemerkung (1936) (GW II, 474); in dieser Einschätzung ist ihm die Forschungsliteratur lange Zeit gefolgt; vgl. hierzu den kurzen Forschungsüberblick bei: T. Hake: „Gefühlserkenntnisse und Denkerschütterungen“. Robert Musils „Nachlaß zu Lebzeiten“. Bielefeld 1998. S. 6ff. 8 Vgl. M. Bense: Über den Essay und seine Prosa. In: ders.: Plakatwelt. Vier Essays. Stuttgart 1952. S. 9–38, hier S. 34: „Die Verwandlung der Konfiguration, der jener Gegenstand innewohnt, ist der Sinn des Experiments, und weniger die definitorische Offenbarung des Gegenstandes selbst ist das Ziel des Essays als vielmehr die Summe der Umstände, die Summe der Konfigurationen, unter denen er möglich wird.“ 9 Anders, dem Vorläufer der Ulrich-Figur, wird in den Entwürfen zu Der Mann ohne Eigenschaften (Nachlass) eine „Philosophie des Desillusionismus, d. h. also eine neue Art die Welt zu sehn“, zugeschrieben (MoE II, 1778). T. Hake: „Gefühlserkenntnisse und Denkerschütterungen“ (1998). S. 143 spricht von „Musils Sprache der Desillusionierung“; P. Joung: Passion der Indifferenz. Essayismus und essayistisches Verfahren in Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“. Münster 1996. S. 75 macht „Ulrichs ‚Philosophie des Desillusionismus‘“ zum Ausgangspunkt seiner Arbeit über „Musils Essayismus als Medium poetologischer Selbstreflexion im ‚Mann ohne Eigenschaften‘“. 10 Vgl. G. Wicht: „Gott meint die Welt keineswegs wörtlich“. Zum Gleichnisbegriff in Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“. Bern [u. a.] 1984. S. If. 11 Vgl. hierzu auch R. Musil: Denkmale. In: ders.: Nachlaß zu Lebzeiten (1936): „[…] das Auffallendste an Denkmälern ist nämlich, daß man sie nicht bemerkt.“ (GW II, 506–509, hier 506) und ebd. S. 507: „Man kann nicht sagen, wir bemerkten sie nicht; man müßte sagen, sie entmerken uns, sie entziehen sich unseren Sinnen […]. / Alles, was die Wände unseres Lebens bildet, sozusagen die Kulisse unseres Bewußtseins, verliert die Fähigkeit, in diesem Bewußtsein eine Rolle zu spielen.“
XI. Essayismus als „Gedankenexperiment“
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dern aufmerksam macht für das Unbekannte, Mögliche im Bekannten, Wirklichen. Das experimentelle Moment liegt hier auf der Ebene des Inhalts wie auf der des Diskurses. Die insgesamt dreißig Texte aus dem Nachlaß zu Lebzeiten sind eine halbe bis fast fünfzehn Seiten lang und in vier mit römischen Ziffern12 und Untertiteln versehene Abschnitte (Bilder – Unfreundliche – Betrachtungen – Geschichten, die keine sind – Die Amsel) gegliedert. Die einzelnen Texte, die sich zum Teil auf Tagebuchaufzeichnungen zurückführen lassen, stellen größtenteils Überarbeitungen von Prätexten, Varianten und Vorstufen dar, die unabhängig voneinander zwischen 1913 und 1931 in unterschiedlichen feuilletonistischen Publikationskontexten erschienen sind. Die meisten von ihnen sind jedoch in den zwanziger Jahren entstanden. Die Publikation des Nachlaß zu Lebzeiten (1936) fällt somit nicht nur zwischen die so deklarierten „Hauptarbeiten“,13 das heißt die bereits veröffentlichten Teile des Romans Der Mann ohne Eigenschaften (1930/32) und dessen posthume Editionen,14 sondern auch zwischen die herkömmlichen Gattungskategorien. Die Textsammlung ist auf einer Skala anzusiedeln, die von den vierzehn enigmatischen Bildern über die elf kulturkritischen Essays der Unfreundlichen Betrachtungen und die vier grotesk-märchenhaften Geschichten, die keine sind bis hin zur novellenartigen Struktur der Amsel-Erzählung reicht. Von der Forschung wurden diese Texte als „kleine[ ] Prosastücke, Erzählungen, Glossen“,15 als „feuilletonistische Essays“,16 als eine „eigenartige[ ] Mischung von Kurzgeschichte, Anekdote, Feuilleton, Essay und Erzählung“17 sowie als „,ekstatische‘ Kurzprosa“18 charakterisiert.
_____________ 12 Vgl. ders.: Zu Kerrs 60. Geburtstag. In: Die Literarische Welt, 22. Dezember 1927 (GW II, 1180–1186, hier 1181): „Ein Gedanken- und Gefühlsfaden, nicht nach der ganzen Länge abgespult, sondern in vier Fäden zerschnitten, hat die vierfache Kraft, durch Anziehung luftiger Materie seinen Gegenstand zu bilden. Er verhält sich, um es weniger schön auszudrücken, wie ein Regenwurm, dem Köpfe und Schwänze nachwachsen.“ 13 Ders.: Curriculum Vitae [etwa 1938] (GW II, 949–951, hier 949). 14 1930 erscheint das erste Buch, 1932 das zweite Buch von Der Mann ohne Eigenschaften bei Ernst Rowohlt in Berlin. 1943 gibt Martha Musil den fragmentarischen Nachlassteil im Selbstverlag heraus. 1952 erscheint Adolf Frisés Textausgabe bei Rowohlt in Hamburg. 15 Vgl. A. Frisé (GW II, 1745). 16 G. Brokoph-Mauch: Robert Musils „Nachlaß zu Lebzeiten“. New York [u. a.] 1985. S. 158. 17 M. Luserke: Robert Musil. Stuttgart/Weimar 1995. S. 77. 18 T. Hake: „Gefühlserkenntnisse und Denkerschütterungen“ (1998). S. V.
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XI. Essayismus als „Gedankenexperiment“
Die im Nachlaß zu Lebzeiten (1936) veröffentlichten Texte reden nicht von „Hauptsachen“, sondern von „Nebensachen“.19 Es handelt sich um Marginalien, nicht um bloße Abfall- oder Nebenprodukte, anthume Paratexte20 oder „Paraphrasen zu Themen, die auch im M.[ann] o[hne] E.[igenschaften]“ vorkommen,21 sondern um Randbemerkungen, die an der Grenze zwischen Bild und Betrachtung, Narration und Reflexion liegen. Diese rücken wiederum Grenz-Erfahrungen zwischen Unbelebtem und Belebtem, Tierischem und Menschlichem, Natur und Kunst, Leben und Tod, Männlichem und Weiblichem, Vergangenheit und Gegenwart ins Zentrum. Die Geschichten sind ebenso wie die Bilder und Betrachtungen durchgestrichen. Sie sind Variationen, nicht eines inhaltlich zu bestimmenden Themas, sondern einer das Verhältnis von Narration und Reflexion betreffenden textuellen Struktur. So sind die Betrachtungen nicht getragen vom liebevollen Blick für das realistische Detail, sondern sie spähen unfreundlich hinter die Oberfläche der Dinge. Weder werden mit Mitteln der Sprache idyllische Tier-„Bilder“ gezeichnet22 noch „Geschichten“ erzählt, welche die epische Grundstruktur von Anfang, Mitte und Ende aufweisen. So erfahren wir in Die Maus, dass „[d]iese winzige Geschichte, die eigentlich […] gar keine Geschichte“ ist,23 „inzwischen jedesmal schon zu Ende gegangen [war], ehe man noch genau sagen könnte, wo sie aufhörte.“24 Und am Ende der AmselErzählung, mit der zugleich der Nachlaß zu Lebzeiten (1936) schließt, antwortet die schizoide Erzählerfigur Azwei, die nicht weiß, wie die von ihr erzählte Geschichte enden wird, auf die Frage ihres Komplementärs Aeins nach dem Sinn bzw. Zusammenhang des Erzählten: „es hat sich eben alles so ereignet; und wenn ich den Sinn wüßte, so brauchte ich dir wohl nicht erst zu erzählen. Aber es ist, wie wenn du flüstern hörst oder bloß rauschen, ohne das unterscheiden zu können!“25
_____________ 19 R. Musil: Vorbemerkung (1936) (GW II, 473). 20 Vgl. G. Genette: Paratexte: das Buch vom Beiwerk des Buches. Frankfurt/New York 1989. S. 13. 21 R. Musil: Vorwort I zu: Nachlaß zu Lebzeiten [1935] (GW II, 959–962, hier 961). 22 Vgl. A. Rußegger: Die Skizzen „Nachlaß zu Lebzeiten“ oder „Bilder“ als Synthese von Wahrnehmung und Erinnerung. In: ders.: Kinema mundi. Studien zur Theorie des „Bildes“ bei Robert Musil. Wien [u. a.] 1996. S. 139–171, hier S. 149f. 23 R. Musil: Die Maus. In: ders.: Nachlaß zu Lebzeiten (1936) (GW II, 488–490, hier 488). 24 Ebd. S. 489. 25 Ders.: Die Amsel. In: ders.: Nachlaß zu Lebzeiten (1936) (GW II, 548–563, hier 562); vgl. M. Luserke: Robert Musil (1995). S. 81f.: „Musil macht durch diese Schlußbemerkung Azweis zweierlei deutlich: Einmal haftet dem zeitgenössischen Erzählen kein Sinn mehr an […]. Zum anderen heißt dies, daß erst das Erzählen die Möglichkeit
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Die Einheit des Textbandes konstituiert sich zum einen durch die strukturelle Verschränkung von Narration und Reflexion und zum anderen durch ihre textuelle Selbstreferenz als „Kritik“.26 In expliziter Konvertierung einer „paradox[en]“ Jarno-Sentenz aus Wilhelm Meisters Wanderjahre27 wird die „dichterische[ ] Äußerung“ im Kleinen, als kleine Textform der Kritik wie der Kritik des Kleinen, zum Gleichnis des Großen, nämlich der „unberührt“ vom „Gewicht dichterischer Äußerungen […] durch den Weltraum rasenden zweitausendsiebenhundert Millionen Kubikmeter Erde“.28 Die Vorbemerkung, die das Wort des Dichters gegen den Lauf der Zeit stellt, endet mit der „Hoffnung, daß die Kritik kleinerer Fehler auch in Zeiten wo schon viel größere gemacht werden, ihren Wert nicht verliert.“29 Neben diesem Hinweis auf die zeitkritische Funktion der Textminiaturen kehrt die „donnernde[ ] und ächzende[ ] Welt“30 und das „nahe Geräusch des Krieges“31 noch im „leise[n] Klingen“ eines Fliegerpfeils32 und in den Schüssen, die eine von der Sonne beschienene Bank unversehrt lassen, wieder.33 Das ‚Rasen der Erde‘ wird in der Großauf-
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von Sinn produziert, damit wird die kulturelle Bedeutung von Literatur unterstrichen. Erst das Erzählen sichert möglichen Sinn. Zugleich aber ist in diesen MöglichkeitsSinn die Polyvalenz modernen Erzählens eingeschrieben“. Vgl. auch H. Lethen: Eckfenster der Moderne. Wahrnehmungsexperimente bei Musil und E. T. A. Hoffmann. In: Robert Musils „Kakanien“. Subjekt und Geschichte. Hrsg. v. J. Strutz. München 1987. S. 195–230. S. 217 zur „Amsel, die von Begriffs-Hypothesen umstellt, in denen sie wie in Käfigen gefangen werden soll, […] letzten Endes als einsames, d. h. von allen Hypothesen verlassenes Ding“, erscheint. R. Musil: Vorbemerkung (1936) (GW II, 475); der fiktive Herausgeber spricht auch von „kleinen Satiren“ (GW II, 474). Ebd. S. 474f.: „Ich habe den Mut, den ich trotzdem in die Zeitbeständigkeit dieser kleinen Satiren setzte, schließlich aus einem Satz von Goethe geschöpft, der zu diesem Zweck sinngemäß verändert werden kann, ohne an Wahrheit einzubüßen; er lautet dann: ‚in dem Einen, was schlecht gethan wird, sieht man das Gleichniß von allem, was schlecht gethan wird.‘“ Vgl. J. W. Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden. In: ders.: Werke (Weimarer Ausgabe). I. Abt. 24. Bd. Erster Theil. Viertes Capitel, Weimar 1894. S. 51: „Für den geringsten Kopf wird es immer ein Handwerk, für den besseren eine Kunst sein, und der beste, wenn er Eins thut, thut er alles, oder, um weniger paradox zu sein, in dem Einen, was er recht thut, sieht er das Gleichniß von allem, was recht gethan wird.“ R. Musil: Vorbemerkung (1936) (GW II, 474). Ebd. S. 475. Ebd. S. 473. F. Schiller: Ankündigung: Die Horen, eine Monatsschrift, von einer Gesellschaft verfaßt und herausgegeben von Schiller (1794). In: ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 8: Theoretische Schriften. Hrsg. v. R.-P. Janz. Frankfurt a. M. 1992. S. 1001–1005, hier S. 1001. R. Musil: Die Amsel (1936) (GW II, 555). Vgl. ders.: Die Maus (GW II, 488).
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nahme des Fliegerpfeils, der sich ihr bzw. dem Narrations- und Reflexionsmedium Azwei nähert, wenn auch nicht gänzlich zum Stillstand gebracht, so doch auf das Tempo von „Zeitlupenaufnahmen“34 verlangsamt. Das Große wie das Kleine, das Nahe wie das Ferne sind keine Qualitäten, die den Dingen an sich zukämen, sondern Wahrnehmungsrelationen,35 welche im Nachlaß zu Lebzeiten (1936) zum Ausgangspunkt für Wahrnehmungs- und „Gedankenexperimente“36 werden. Es handelt sich um narrative (De)Konstruktionen von „Gedankenbilder[n]“,37 die das Ephemere und Periphere von Alltags- wie Extremsituationen in das perspektivische Zentrum der jeweiligen Texte wie Sammlung rücken. Der Nachlassverwalter in eigener Sache und Herausgeber seiner „letzten Worte“, der mit dem Nachlaß zu Lebzeiten (1936) der Herausgabe seines Nachlasses zuvorzukommen versucht,38 dokumentiert unter der Bedingung des modernen Literaturbetriebes wie der nationalsozialistischen Herrschaft die Tatsache seines öffentlichen, das heißt literarischpublizistischen Absterbens. Er beobachtet „das menschliche Leben […] an kleinen Zügen, wo es sich unachtsam darbietet“, gleichsam aus dem Reich der Schatten heraus. Die Rede von „Schatten, von einem Leben […], das nicht mehr ist“,39 referiert dabei nicht nur auf die zeitliche Differenz zwischen Gegenwart (Publikation des Nachlaßes) und Vergangenheit (Beobachtungen) sowie den Tod des Autors, welchen der Nachlaß zu Lebzeiten bereits im Titel antizipiert. Sie referiert auch auf das Reich der Kunst und hier vor allem auf die noch junge Kunst des Films, den Robert Musil in Ansätze zu neuer Ästhetik (1925) „als ein auf bewegte Schatten reduziertes Geschehen, das dennoch eine Illusion des Lebens erzeugt“,40 definiert hat. Das Instrument aber, die Kamera, welche das beobachtete Leben zu Schatten werden lässt, ist hier nicht versteckt, sondern als metatextuelle Selbstreflexion in das Zentrum seiner Textsammlung gestellt: Triëdere als
_____________ 34 Ders.: Triëdere. In: ders.: Nachlaß zu Lebzeiten (1936) (GW II, 518–525, hier 518). 35 Vgl. E. Mach: Wozu hat der Mensch zwei Augen? In: Populär-wissenschaftliche Vorlesungen (1896). 4. verm. u. durchges. Aufl. Leipzig 1910. S. 78–100, hier S. 80ff. 36 Vgl. ders.: Über Gedankenexperimente. In: ders.: Erkenntnis und Irrtum (1905/26). S. 183–201 sowie R. Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. 1. Buch (1930) (MoE I, 594) und ders.: Bedenken eines Langsamen [1933] (GW II, 1413–1435, hier 1414). 37 Vgl. ders.: Der Mann ohne Eigenschaften (Nachlass) (MoE II, 1191); die Rede von „Gedankenbilder[n]“ bezieht sich hier auf mentale bzw. kulturelle Konstruktionen („Weltbilder“), die wiederum Gefühle zu ihrer Voraussetzung haben. 38 Ders.: Vorbemerkung (1936) (GW II, 473). 39 Ebd. S. 474. 40 Ders.: Ansätze zu neuer Ästhetik. Bemerkungen über eine Dramaturgie des Films. In: Der Neue Merkur, März 1925 (GW II, 1137–1154, 1138).
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„Imperativ zu Musils Verb-Schöpfung ‚triëdern‘“41 lautet die – in den 1926/27 publizierten Textvarianten42 noch durch ein Ausrufezeichen verstärkte – Aufforderung an den Leser, „unter die bewegte Oberfläche“ der beschriebenen Wirklichkeiten zu tauchen und sich selbst beim Umherschwimmen „zwischen den Dingen des Lebens gleichsam mit offenen Augen unter Wasser“ zuzusehen.43
1. Triëdere (1926/36) – „Isolation“ oder die „glashelle Einsamkeit“ des Beobachters 1. Triëdere (1926/36)
Der echte Schüler lernt aus dem Bekannten das Unbekannte entwickeln, und nähert sich dem Meister.44 (Johann Wolfgang Goethe)
In Triëdere wird der „Versuch“ eines Beobachters beschrieben, der „durch ein Fernrohr etwas betrachtet, das man sonst nicht durch ein Fernrohr ansieht.“45 Beim Versuchsinstrument handelt es sich um ein Prismendoppelfernrohr, „ein binokulares Fernrohr oder Prismenglas älterer Bauart mit einem Prismenumkehrsystem, dessen zwei zusammengekittete Prismen ein Dreieck ergeben.“46 Gegenstände der Beobachtung sind ein dem Beobachtungsort, einer Wohnung im zweiten Stockwerk eines Gebäudes, gegenüberliegendes „bekanntes staatliches Institut“ sowie die Straße
_____________ 41 Vgl. T. Hake: „Gefühlserkenntnisse und Denkerschütterungen (1998). Anm. 9. S. 127. 42 R. Musil: Triëdere! In: Berliner Tageblatt, 15. Oktober 1926; Der Tag (Wien), 21. November 1926; Prager Presse, 9. Januar 1927 (GW II, 578–582). 43 Ders.: Triëdere. In: ders.: Nachlaß zu Lebzeiten (1936) (GW II, 518f.); vgl. dagegen die zeitkritisch gewendete Metaphorik des „Unterwasserschwimmen[s]“ als „verzweifelte[ ] Situation“ des Ertrinkens „in einem Meer von Realität“ in ders.: Das hilflose Europa oder Reise vom Hundertsten ins Tausendste. In: Ganymed 1922 (GW II, 1075–1094, hier 1086): „Es ist ein Unterwasserschwimmen in einem Meer von Realität, ein verbissenes Noch-etwas-länger-den-Atem-Anhalten: freilich mit der Gefahr behaftet, daß der Schwimmer nie wieder auftaucht.“ 44 J. W. Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre (7. Buch. 9. Kap). In: ders.: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bde. Hrsg. v. E. Trunz. Bd. 7: Romane und Novellen II. 12. Aufl. 1981. München 1982. S. 496f. 45 R. Musil: Triëdere (1936) (GW II, 519). 46 ABC der Optik. Hrsg. v. K. Mütze [u. a.]. 2. Aufl. Hanau a. M. 1961. S. 902; s. auch ebd. S. 278: „Die Prismenumkehrsysteme von Porro (um 1850) ermöglichten den Bau handlicher Prismenfeldstecher (Einführung mit erweitertem Objektivabstand durch Abbe). Danach wurden die langen terrestrischen F.[ernrohr]e“ fast ganz verdrängt.“
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zwischen dem Standort des Beobachters und einem alten Palais.47 Der Experimentator – auch „der Beobachter“ oder „der Späher“, „unser Beobachter“,48 „der verdutzte Augenzeuge“, „der Entdecker“49 oder „[d]er Mann hinter dem Instrument“50 genannt – ist durch ein „damals“ von einem „heute“51 als narrative bzw. reflexive Text-Origo geschieden. Dabei wird das von ihm Beobachtete nicht in protokollarischen Erfahrungssätzen festgehalten. Das Subjekt der Versuchsanleitung befindet sich auch nicht, wie es das (natur)wissenschaftliche Experiment und die aus diesem bezogene Erkenntnis der beobachteten Zusammenhänge erforderte, in einem „Nullzustand“ bzw. „Neutralisationszustand“ der Gefühle.52 Es handelt sich vielmehr um einen teilnehmenden Beobachter,53 der in der Fassung von 1926 explizit als ein sich langweilender Kriegsveteran exponiert wird.54 Dieser beobachtet zunächst die Passanten, bis sich die „kennerhafte Neugierde“ des männlichen Beobachters ( – „natürlich“55 – ) auf die vorbeigehenden Frauen richtet. Durch das Triëder gesehen werden ihre vergrößerten Körperformen sowie ihre durch modische Verhüllungen56
_____________ 47 R. Musil: Triëdere (1936) (GW II, 519); vgl. hierzu in A. Frisé (GW II, 1751): „Schauplatz ist offensichtlich die Wohnung von R[obert] M[usil] seit November 1921 Wien III Rasumofskygasse 20/II mit Blick auf das Rasumofskypalais, seit 1849 Sitz der Geologischen Bundesanstalt (früher: Reichsanstalt); die Straße verläuft, von der Landstraßer Hauptstraße her, um dieses Gebäude in einer leichten S-Kurve.“ Vgl. auch K. Corino: Robert Musil. Leben und Werk in Bildern und Texten. Reinbek 1992. S. 348: „Palais Salm, Rasumofskygasse, Wien, auf das Musil aus dem Fenster hinter seinem Schreibtisch sah. Dieses Palais schwebte ihm vor als ‚Haus und Wohnung des Mannes ohne Eigenschaften‘“. 48 R. Musil: Triëdere (1936) (GW II, 519). 49 Ebd. S. 520. 50 Ebd. S. 522. 51 Ebd. S. 520. 52 Vgl. ders.: Der Mann ohne Eigenschaften (Nachlass) (MoE II, 1192). 53 Dieser zeigt „herzlich[es]“ Verständnis für die von ihm beobachteten Beamten, „die mit den Fingern an die Scheiben trommelten und auf die Straße hinabsahen“, und bemerkt in diesem Zusammenhang – nicht ohne Selbstironie auf der Ebene der Textkonstitution – „mit Stolz“ die Wichtigkeit des Triëderns; er „erschrak“ (GW II, 519), ist ob seiner Beobachtungen „verdutzt[ ]“ (GW II, 520) etc. H. Lethen: Eckfenster der Moderne (1987). S. 202 geht davon aus, das der „Mann am Fenster“ sein Wahrnehmungsspiel mit dem Triëder „genießt“; vgl. ebd. S. 211: „Umgekehrt ließe sich aber auch sagen: die Deformationen, die Musil sehen läßt, lassen den versteckten Sadismus des szientifischen Blicks erkennen.“ 54 R. Musil: Triëdere! (1926) (GW II, 578). 55 Ders.: Triëdere (1936) (GW II, 521); Vgl. dagegen ders.: Grigia (1921/24) (GW II, 245): „[…] und man darf sich nicht darüber täuschen, daß die Natur nichts weniger als natürlich ist […].“ 56 Ders.: Triëdere (1936) (GW II, 520).
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(„öffentlich zugelassene Tüte[n]“)57 verdeckten Körperteile „wieder zu den ureinfachen Hügeln, aus denen die ewige Landschaft der Liebe besteht“. Ihre „Bedeutung“ verweist ihn jenseits aller Philosophie der Mode und Psychologie der Geschlechter58 auf den „ewigen, sich gleichbleibenden Wert[ ]“ seines Begehrens, dem die „Impulse zur Ausführung“ werden. Das ‚appetitive‘ Subjekt der Versuchsanordnung scheint sich hier geradezu mit dem Fernrohr als verlängertem phallischen Sinnesorgan zu identifizieren. Dieses verselbstständigt sich und gewinnt Subjektcharakter, wenn vom „unbestechlichen Blick des Triëders“, von der „offenbar etwas boshaften Ruhe des Triëderblicks“59 sowie von dessen Unerbittlichkeit, die sogar „die heranwachsende Zukunft im Bild erscheinen“ lässt,60 die Rede ist. An dieser Stelle wird die Darstellung der Beobachtungen, die in voyeuristische Praxis („anzüglichen Mißbrauch“) überzugehen droht, allerdings unterbrochen und in eine „Theorie“ des Triëderns überführt.61 Das „Instrument[ ]“62 der Beobachtung, das „Fernrohr“63 bzw. „Fernglas“,64 teilweise auch einfach nur das „Glas“65 genannt, avanciert in diesem Zusammenhang zu einem „weltanschaulichen Werkzeug[ ]“,66 nicht zu einem ideologischen, sondern zu einem ideologiekritischen, und zwar zu einem Medium der „Welt-an-Schauung contra Weltanschauung“.67 In Béla Balázs’ Der Geist des Films (1930) ist zu lesen: „Jede Anschauung der Welt enthält eine Weltanschauung. Darum bedeutet jede Einstellung der Kamera eine innere Einstellung des Menschen. Denn es gibt nichts Subjektiveres als das Objektiv.“68 Auch in Triëdere werden dem Ob-
_____________ 57 Ebd. S. 521. 58 Vgl. G. Simmel: Die Mode. In: ders.: Philosophische Kultur. Über das Abenteuer, die Geschlechter und die Krise der Moderne. Gesammelte Essais (1911). Mit e. Nachw. v. J. Habermas. Berlin 1983. S. 26–52 und ders.: Schriften zur Philosophie und Soziologie der Geschlechter. Hrsg. v. H. -J. Dahme/K. C. Köhnke. Frankfurt a. M. 1985. 59 Ebd. S. 520. 60 Ebd. S. 522. 61 Ebd. S. 520. 62 Ebd. S. 510 und S. 522. 63 Ebd. S. 519. 64 Ebd. S. 522. 65 Ebd. S. 520, 521 und S. 522. 66 Ebd. S. 520. 67 Vgl. ders.: Brief an Rudolf Geck vom 31. 12. 1935 (BR I, 692). 68 B. Balázs: Der Geist des Films (1930). In: Schriften zum Film. Bd. 2: „Der Geist des Films“. Artikel und Aufsätze 1926–1931. Hrsg. v. W. Gersch. München [u. a.] 1984. S. 71; in seiner Filmdramaturgie von 1924, die Musil zum Anlass seines Essays über Ansätze zu neuer Ästhetik (1925) wurde, ist die aphoristische Sentenz („Jeder Anschauung der Welt enthält eine Weltanschauung“) noch zur Unterscheidung zwischen der
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jektiv, hier dem Fernglas, Subjektqualitäten zugeschrieben. Zunächst verkehrt das Versuchsinstrument das Verhältnis von Subjekt und Objekt der Beobachtung. Die beobachteten Gegenstände erscheinen im Medium des Triëders nicht nur vergrößert und dem Auge des Betrachters nähergerückt, die Steinpfeiler, „Fenster“ und „Gesimse“ des Palais bekommen selbst Augen, mit denen sie zum Beobachter „herüberblickten“. Und dieser sieht die Redensart vom „Verschwinden der Linien […] überlebensgroß […] vor seinen eigenen Augen.“69 Das „plötzlich[e]“ Innewerden der Erkenntnis, hier in der zum Wahrnehmungsbild gewordenen sprachlichen Wendung, wird in der Versuchsbeschreibung zur Aussage nicht über die Strukturen subjektiver Wahrnehmungen bzw. optischer Täuschungen, sondern über die der objektiven Welt: „Wer es nicht glaubt, daß die Welt so ist, der triëdere die Straßenbahn.“70 Hiermit wird der Leser zur Reproduktion des Experiments aufgefordert und gleichzeitig der Forderung nach Reproduzierbarkeit der Versuchshandlung Genüge getan: „Und wer es nicht glauben will, der kann es nachprüfen.“71 Der „[u]ngezähltemal“ mit bloßem Auge gesehene immer „gleiche längliche rote Wagen“ der Straßenbahn wird, durch das Triëder betrachtet, „plötzlich“ zu einem „völlig Andere[n]“, zu einer zerdrückten „Pappschachtel“: „Das geschah nun, als er mit dem Glas zusah, alles so deutlich an dem öffentlichen Ding, und nicht etwa persönlich bloß in seinem Auge“.72 In einem weiteren Text aus dem Nachlaß zu Lebzeiten (1936) beobachtet und reflektiert der essayistische Beobachter die perspektivische Verschiebung, die das Verhältnis von Subjekt und Objekt (für einen Moment) ver-kehrt, am Auge einer Maus: „Und man hatte einen Augenblick lang ein so sonderbar verkehrtes Gefühl, daß man wirklich nicht mehr wußte,
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Literatur, die „manchmal die Möglichkeit einer jenseitigen Perspektive zu eröffnen“ scheint, und dem Film als „Produkt einer Großindustrie des Kapitalismus“ verwendet worden; vgl. B. Balázs: Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films (1924). S. 147. R. Musil: Triëdere (1936) (GW II, 519); vgl. H. Lethen: Eckfenster der Moderne (1987). S. 203: „Musils Versuchsanordnung“, die u. a. darin bestehe, „daß dem Betrachter die Konventionen der Zentralperspektive als leibhaftiges Phänomen entgegentritt“, führe uns „in ein Filmmuseum und eine Bildergalerie, in der einige, z. T. schon ältere Exemplare der Moderne zu besichtigen sind.“ R. Musil: Triëdere (1936) (GW II, 519). Ebd. S. 520. Ebd. S. 519f.
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ob sich dieses kleine, lebendige, schwarze Auge drehe oder ob sich die ungeheure Unbeweglichkeit der Berge rühre“.73 Im Medium des Triëders wird die herkömmliche „populäre Denkund Redeweise“, welche der Wirklichkeit die Täuschung eines (optischen) Scheins gegenüberstellt, in Frage gestellt und eine einfache Versuchsanordnung aus Ernst Machs Antimetaphysischen Vorbemerkungen (1886) mit komplizierteren Mitteln nachvollzogen: „Einen Bleistift, den wir in der Luft vor uns halten, sehen wir gerade; tauchen wir denselben schief ins Wasser, so sehen wir ihn geknickt[.] Man sagt nun in letzterem Falle: Der Bleistift scheint geknickt, ist aber in Wirklichkeit gerade. Was berechtigt uns aber, eine Tatsache der andern gegenüber für Wirklichkeit zu erklären und die andere zum Schein herabzudrücken?“ Es gibt – so führt Ernst Mach in einer Fußnote zum Phänomen der sogenannten „Sinnestäuschung“ aus – in diesem Bereich „weder falsch noch richtig […]. Das einzig Richtige, was man von den Sinnesorganen sagen kann, ist, daß sie unter verschiedenen Umständen verschiedene Empfindungen und Wahrnehmungen auslösen.“ So sei der „eingetauchte Bleistift […] eben wegen seiner Umgebung [dem Wasser] optisch geknickt, haptisch und metrisch aber gerade. Das Bild im Hohl- oder Planspiegel ist nur sichtbar, während unter andern (gewöhnlichen) Umständen dem sichtbaren Bild auch ein tastbarer Körper entspricht.“74 Auch in Kleists Essay Über das Marionettentheater wird der „Hohlspiegel“ zum „Bild“ für das Verhältnis der Beschaffenheit des Beobachtungsobjekts zur Wahrnehmungs- und Erkenntnisfähigkeit des Beobachtersubjekts. Tritt hier innerhalb der organischen Welt „die Grazie […] immer strahlender und herrschender“ hervor, je „dunkler und schwächer“ die Reflexion wird,75 so verliert auch der durch das Triëder betrachtete Mensch seine Grazie: „Die Anmut einer Frau ist tödlich durchschnitten, sobald sie das Glas vom Rocksaum aufwärts als einen sackartigen Raum erfaßt, aus dem zwei geknickte kurze Stelzchen hervorkommen.“76 Der Körper der Frau wird hier zur Gliederpuppe – oder zur photographischen
_____________ 73 Ders.: Die Maus (1936) (GW II, 489); vgl. ders.: Die Maus (1921): „Wirkte es die Beweglichkeit des Auges oder die Unbeweglichkeit der ungeheuren Berge?“ (GW II, 565) sowie ders.: Heft oNr (1916–1918/19): „Ist es dieses sich drehende kleine lebendige Auge oder die Unbeweglichkeit der Berge?“ (TB I, 347) 74 E. Mach: Antimetaphysische Vorbemerkungen. In: ders.: Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen (1886). Nachdr. d. 9. Aufl. (Jena 1922). Darmstadt 1991. S. 1–31. hier S. 8. 75 H. v. Kleist: Über das Marionettentheater (1810). In: ders.: Sämtliche Werke und Briefe in 2 Bde. Hrsg. v. H. Sembdner. 8. Aufl. München 1985. Bd. 2. S. 338–345, hier S. 345. 76 R. Musil: Triëdere (1936) (GW II, 521).
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Dokumentation seines (zerstückelten) Leichnams nach dem Vollzug des Lustmords.77 Wo das zeitgenössische Kino seine „Helden und Heldinnen“ nur aufgrund einer technischen Unvollkommenheit „eilig aus dem Hintergrund hervorwatscheln [lässt] wie Enten“,78 legt die Großaufnahme des Triëders das Lächerliche, Täppische und Unmenschliche der menschlichen Physiognomik in der Bewegung bloß. Sie macht die Zukunft in der Gegenwart und das Innere (Syphilis) im Äußeren (Gang) durchsichtig.79 Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang auch die Metaphorik der Jagd. Lässt der Blick durch die Kamera die Physiognomie der Dinge lebendig werden, so schneidet „das Glas“ des Triëders nicht nur „die Anmut einer Frau“ tödlich durch,80 sondern gleichsam auch deren Kehle. „[D]er Mann mit dem Glas“,81 der, wie wir aus der 1926 im Berliner Tageblatt veröffentlichten Textvariante erfahren, sein „Binokel[ ]“82 „noch aus der Kriegszeit“ besitzt,83 ‚bewaffnet‘ sein Auge84 mit dem Triëder und nimmt die vorübergehenden Passanten ausdrücklich „aufs Korn“.85 Der Blick, der diesmal „ohne alles Mitfühlen“ durch das Triëder schaut, lässt die Augen des Beobachters „empfindlich“ werden.86
_____________ 77 Vgl. auch M. Wagner-Egelhaaf: „Wirklichkeitserinnerungen“. Photographie und Text bei Robert Musil. In: Poetica 23 (1991). S. 217–257, die von einem „moosbruggerhafte[n] Beschreibungsverfahren“ (S. 242) und von Musils „sezierende[m] photographische[n] Blick“ (S. 248) spricht. 78 R. Musil: Triëdere (1936) (GW II, 522); vgl. hierzu auch B. Balázs’ Bemerkungen zu „Passagen“ in: ders.: Der sichtbare Mensch oder Die Kultur des Films. Wien/Leipzig 1924. S. 126ff. 79 R. Musil: Triëdere (1936): „Kaum hatte er einen jungen Kavalier mit Sportkappe aufs Korn genommen, dessen Socken wie der Hals einer Ringeltaube gestreift waren, als er auch schon gewahrte, wie dieser gelassen neben seinem Mädchen als Gebieter Schlendernde bei jedem seiner langsamen Schritte das Bein mit einem angestrengten winzigen Ruck aus dem Stand schlendern mußte. Kein Arzt, kein Mädchen, auch nicht er ahnte noch nicht das Grauen, das ihm bevorstand; bloß das Triëder löste die kleine Gebärde der Hilflosigkeit aus der allseitigen Harmonie der Brutalität und ließ die heranwachsende Zukunft im Bild erscheinen!“ (GW II, 522); vgl. hierzu K. Corino: Robert Musil. Eine Biographie. Reinbek bei Hamburg 2003. S. 1048: „Es waren die herannahende Rückenmarksdarre, tabes dorsalis, und die Paralyse als Spätfolge der Syphilis. Musil als selbst von der Seuche Betroffener erkannte die Symptome und sah in diesem kurzen, auf der Netzhaut gedrehten ‚Dokumentarfilm‘ aus der Tiefe der Rasumofskygasse sein mögliches eigenes Schicksal heraufscheinen.“ 80 R. Musil: Triëdere (1936) S. 521. 81 Ders.: Triëdere! (1926) (GW II, 581). 82 Ebd. S. 579. 83 Ebd. S. 578. 84 Vgl. ders.: Triëdere (1936): „[…] er entsann sich auch nicht, jemals um diese Stunde mit unbewaffnetem Auge einen gesehen zu haben.“ (GW II, 519) 85 Ebd. S. 522. 86 Ebd. S. 521.
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Es ist die Empfindlichkeit des sezierenden Pathologen. In Ansätze zu neuer Ästhetik (1925) hatte Musil Béla Balázs’ Technik, „wie ein Jäger“ das „Erlebnis nicht nur scharf, sondern auch zärtlich zu beobachten“ sowie dessen Fähigkeit, „immer gleichzeitig im Erlebnis und in der Reflexion“ zu sein, als „unerwartetes Paradigma auch für die Kritik der Literatur“ gekennzeichnet.87 Und so steht auch der Triëdernde, dessen Wahrnehmungen und Reflexionen in der Versuchsbeschreibung Triëdere aufgenommen und selbstreflexiv kommentiert werden,88 für das Paradigma einer Schreibweise, welche Bild (Wahrnehmung) und Denken (Reflexion) in unterschiedlichen Versuchskonfigurationen miteinander verknüpft. Die Theorie des „weltanschaulichen Werkzeugs“ in Musils Text aber „heißt Isolierung“: „Man sieht Dinge immer mitsamt ihrer Umgebung an und hält sie gewohnheitsmäßig für das, was sie darin bedeuten. Treten sie aber einmal heraus, so sind sie unverständlich und schrecklich“.89 Auch wenn der Beobachter hier das moderne Großstadtleben ins Visier nimmt, sind doch die Referenzen auf Béla Balázs’ Filmästhetik Der sichtbare Mensch oder Die Kultur des Films von 1924 unverkennbar. Dort geht es im Kapitel Natur und Natürlichkeit um Tiere vor der Kamera bzw. auf der Kinoleinwand: „Unser Normalzustand ist, daß wir alle Dinge unserer Umgebung halbverschwommen im Nebel einer gewohnheitsmäßigen Verallgemeinerung und einer schematischen Begriffsbildung sehen. Wir beachten nur den möglichen Nutzen und Schaden für uns – sie selber bemerken wir im seltensten Fall.“90 Die Isolierung der Beobachtungsobjekte bewirkt sowohl
_____________ 87 R. Musil: Ansätze zu neuer Ästhetik (1925) (GW II, 1138). 88 Vgl. M. Wagner-Egelhaaf: „Wirklichkeitserinnerungen“ (1991). S. 253: „Dieser Text ist Praxis und Theorie zugleich, er reflektiert, was er tut, und weist sich in der Form des permanenten Selbstkommentars als Essay aus.“ Vgl. auch H. Lethen: Eckfenster der Moderne (1987). S. 207, der vermutet, „daß das Reflexionsniveau der Skizze nicht unbedingt auf der Ebene der in ihr explizierten Theorie zu suchen ist.“ Vgl. ebd. S. 208: „In Musils Skizze treffen zwei Einstellungen aufeinander: der OffiziersHabitus der Avantgarde und die Reflexionen über die Auflösung des Subjekts.“ D. Kimmich (Kleine Dinge in Großaufnahme. Aufmerksamkeit und Dingwahrnehmung bei Robert Musil. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 44 (2000). S. 177–195, hier S. 192) führt den Begriff der „Triëdernarration“ ein: „Im Text wird allerdings unterschlagen, daß es sich schließlich nicht eigentlich um ein Wahrnehmungsexperiment, sondern in erster Linie um ein erzähltes Experiment handelt, da es eben um die sprachliche Darstellung von visueller Wahrnehmung geht. Es ist aber die Frage, ob es sich tatsächlich auch um ein erzählerisches und nicht nur um ein erzähltes Experiment handelt. Die Versuchsanordnung des Triëderns wird im Text kommentiert und von einer kritischen Stimme, die aus dem narrativen Diskurs heraustritt und eine diskursive Erörterung anschließt.“ 89 R. Musil: Triëdere (1936) (GW II, 520). 90 B. Balázs: Natur und Natürlichkeit. In: ders.: Der sichtbare Mensch oder Die Kultur des Films. Wien/Leipzig 1924. S. 97–123, hier S. 111f.
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XI. Essayismus als „Gedankenexperiment“
eine Dekontextualisierung der Dinge und Lebewesen, sei es aus ihrer natürlichen oder städtischen Umgebung, als auch deren Entpragmatisierung in Bezug auf den Betrachter. In ihrer „glashellen Einsamkeit“,91 in ihrer optischen wie akustischen Isolierung,92 werden die Erscheinungen, so Musil, nicht nur „deutlicher und größer“, sondern auch „ursprünglicher und dämonischer.“93 In Triȍdere (1936) ist das „moralische[ ] Kreditverhältnis“ zwischen den Menschen („uns“) und den äußeren Dingen („Kleidern“) aufgekündigt. Letztere werden dem handelnden wie erkennenden, dem ‚appetitiven‘ Subjekt, das sich selbst als ‚homo clausus‘94 erlebt, nicht als Eigenes bzw. Inneres, sondern nur als Objekte, als Äußeres erfahrbar. Im Näherrücken der Dinge, in der Assimilation an die Objekte aber erfährt dieses Subjekt „Bankerott“.95 Georg Simmel hatte in Philosophie des Geldes (1900) einen Zusammenhang zwischen den Aspekten von Perspektivierung (bzw. Distanzierung) und dem Kreditverhältnis hergestellt: Zwar seien „schon allein durch Mikroskop und Teleskop unendliche Distanzen zwischen uns und den Dingen überwunden worden“,96 wobei das „Distanzverringern in den mehr äußerlichen“ mit einem zunehmenden „Distanznehmen in den eigentlich innerlichen Beziehungen“ einher gehe.97 Zum Kredit im modernen Geldverkehr heißt es jedoch weiterhin: „Indem der Wechsel oder überhaupt der Begriff der Geldschuld die Werte weit abliegender Objekte vertritt, verdichtet er sie ebenso in sich, wie der Blick über eine räumliche Entfernung hin die Inhalte der Strecke in perspektivischer Verkürzung zusammendrängt.“98
_____________ 91 R. Musil: Triëdere (1936) (GW II, 521); vgl. ders.: Ansätze zu neuer Ästhetik (1925): „Ein merkwürdiges Beispiel liefert ein zum Film gehörendes Grunderlebnis, jenes in Balázs’ Buch beschriebene ungewohnte Leben, welches die Dinge in der optischen Einsamkeit gewinnen.“ (GW II, 1142) Hervorhebung v. B. N. 92 Vgl. zur narrativen Technik der akustischen Isolierung auch R. Musil: Hellhörigkeit. In: ders.: Nachlaß zu Lebzeiten (1936) (GW II, 490). 93 Ders.: Triëdere (1936) (GW II, 521). 94 Zum Menschenbild des homo clausus s. N. Elias: Einleitung (1968). In: ders.: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. 1. Bd.: Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes. Frankfurt a. M. 1976. S. VII–LXXI, hier S. LVIf. 95 R. Musil: Triëdere (1936) (GW II, 521). H. Lethen: Eckfenster der Moderne (1987). S. 201 liest den „‚Bankerott‘ alltäglicher, an Pragmatik orientierter Wahrnehmung“ als „Voraussetzung des verfremdenden Sehens.“ 96 G. Simmel: Gesamtausgabe. Bd. 6: Philosophie des Geldes (1900). Hrsg. v. D. P. Frisby/K. C. Köhnke. Frankfurt a. M. 1989. S. 662. 97 Ebd. S. 663. 98 Ebd. S. 667.
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Béla Balázs vergleicht in Der sichtbare Mensch (1924) den dämonischen Charakter der Dinge mit der „Poesie des kleinen Lebens“ im Blick des Kindes, das aufgrund seiner „näheren Perspektive […] die Welt in Großaufnahmen“ sehe.99 Das Kind kenne die „lebendige[ ] Physiognomie, die alle Dinge haben.“100 Es sehe „die Dinge noch nicht ausschließlich als Gebrauchsgegenstände, Werkzeuge, Mittel zum Zweck“ an.101 Der Film nun, von Balázs als „junge, noch unverschmockte Kunst“ bezeichnet, „arbeitet mit neuen Urformen der Menschlichkeit.“102 Denn er habe „in der Phantasie und im Gefühlsleben der städtischen Bevölkerung die Rolle übernommen, die früher einmal Mythen, Legenden und Volksmärchen gespielt haben.“103 Das Objektiv der Filmkamera redämonisiert somit den „Normalzustand“104 der menschlichen Lebenswelten unter Bedingungen der Moderne und führt den menschlichen Blick auf der Höhe des technischen Fortschritts auf eine vergangene onto- wie phylogenetische Entwicklungsstufe zurück. Die Filmkamera wird zu einem Werkzeug der „Welt-anschau-ung“, das heißt, einer neuen bzw. anderen, ‚unangenehm genauen‘105 Art zu sehen. In seinem Essay Ansätze zu neuer Ästhetik. Bemerkungen über eine Dramaturgie des Films von 1925 nimmt Robert Musil, wie gezeigt worden ist, Balázs’ fragmentarische Theorie der lebendigen Physiognomie auf, um seinerseits zwischen dem „Normalzustand“ und jenem „anderen Zustand[ ]“ des Geistes, der auch der Zustand der „Kontemplation, des Schauens“ genannt wird, zu unterscheiden.106 Denn im „ungewohnte[n] Leben, welches die Dinge in der optischen Einsamkeit“ gewinnen,107 im „‚symbolische[n] Gesicht‘ der Dinge […] im Schattenreich der lebenden
_____________ 99 B. Balázs: Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films (1924). S. 115; vgl. auch ebd. S. 78: „Die Großaufnahme ist die Poesie des Films.“ 100 Ebd. S. 87. 101 Ebd. S. 92; vgl. ebd.: „Jedes Kind kennt die Gesichter der Dinge und geht mit klopfendem Herzen durch das halbdunkle Zimmer, in dem Tisch und Schrank und Sofa wilde Grimassen schneiden und mit wunderlichem Mienenspiel etwas sagen wollen.“ 102 Ebd. S. 18. 103 Ebd. S. 12. Zur Rolle des Märchen in Balázs’ ästhetischem Panymbolismus vgl. H. Loewy: Béla Balázs – Märchen, Ritual und Film. Berlin 2003, bes. S. 204–225. 104 R. Musil: Ansätze zu neuer Ästhetik (1925) (GW II, 1143). 105 Vgl. ders.: Zu Kerrs 60. Geburtstag (1927): „Was bliebt anderes zu sagen, als daß in dem Worte Weltanschauung die Möglichkeit einer doppelten Betonung steckt. Eine Weltanschauung hat man bald, jedoch eine Welt-an-schau-ung ist eine Sache von unangenehmer Genauigkeit.“ (GW II, 1185) 106 Ders.: Ansätze zu neuer Ästhetik (GW II, 1143f.). 107 Ebd. S. 1142; vgl. ders.: Triëdere (1936): „So wird auch in der glashellen Einsamkeit alles deutlicher und größer, aber vor allem wird es ursprünglicher und dämonischer.“ (GW II, 521)
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Photographie“, liege, so Musil, „die Mystik des Films oder zumindest seine Romantik“.108 Balázs’ Buch berühre die „Grenze zweier Welten“,109 die von anderem Zustand und Normalzustand ebenso wie die von Literatur und Kritik. Die „symbolische Bedeutung“ bzw. der „physiognomische[ ] Eindruck“ ist allerdings keine Qualität, die den Dingen an sich zukäme, sondern – wie Musil Balázs ausführlich zitiert – „eine notwendige Kategorie unserer Wahrnehmung“.110 Musil spricht in diesem Zusammenhang nicht von der ‚Theorie der Isolierung‘,111 sondern von den Vorgängen der „Abstraktion und Abspaltung“.112 In Ansätze zu neuer Ästhetik (1925) wird – ausgehend vom „verstümmelte[n] Wesen“ des zeitgenössischen Schwarz-Weiß- und Stummfilms113 – die Kunst als „Abstraktion“, als „Abspaltung vom vollen Leben“ definiert. Und Musil führt seine ‚Theorie der Isolierung‘ weiter aus: „je eindrucksärmer ein der Wahrnehmung dargebotenes Material ist, desto deutlicher [werden] die darin enthaltenen Beziehungen“, so „treten an einer Statue die linearen und flächigen Zusammenhänge deutlicher hervor als am lebenden Körper.“114 Der „überwertig[e]“, polyvalente und „befremdlich[e]“ Eindruck, welche die einzelnen Dinge gewinnen, sobald sie sich „aus ihrer gewohnten Umrahmung lösen“, lasse einen „andren, apokryphen Zusammenhang“ vermuten.115 In der „plötzlich erblickten Physiognomik der Dinge“ werde mehr sichtbar als „die Überraschung durch das isolierte optische Erlebnis“:116 Durch die Lücke, die „nachgiebige Stelle in unserem […] Weltbild“,117 werde zugleich auch ein anderes „Bild dieser Welt“, ihr „schattenhafte[r] Doppelgänger“,
_____________ 108 Ders.: Ansätze zu neuer Ästhetik (1925) (GW II, 1143); in Triëdere (1936) wird dagegen ‚romantisch‘ im Sinne von ‚sentimental‘ verwendet und dabei gleichzeitig das Verhältnis von Wirklichkeit und optischer Täuschung verkehrt: „[…] wenn das Triëder seine romantischen Beziehungen zur Umwelt unterbindet und die richtigen optischen herstellt.“ (GW II, 521) 109 Ders.: Ansätze zu neuer Ästhetik (1925) (GW II, 1143). 110 Ebd. S. 1142. Hat Balázs (Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films (1924). S. 104) noch etwas missverständlich davon gesprochen, dass „[d]ie Dinge auch ohne sein [des Regisseurs] Zutun symbolisch“ seien, so präzisiert er diesen Zusammenhang in ders.: Der Geist des Films (1930). S. 74 als Konstruktion des Beobachters: „Doch der Blick des Künstlers sieht Sinn. Seine Bilder bekommen durch die Einstellung symbolische Bedeutung. Sie werden zu Metaphern und Gleichnissen.“ 111 R. Musil: Triëdere (1936) (GW II, 520). 112 Ders.: Ansätze zu neuer Ästhetik (1925) (GW II, 1142). 113 Ebd. S. 1338. 114 Ebd. S. 1139. 115 Ebd. S. 1142. Hervorhebung v. B. N. 116 Ebd. S. 1145. Hervorhebung v. B. N. 117 Ebd. S. 1142f.
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sichtbar. Im anderen Zustand, als „Zusammenfließen“ von Ich und Welt, als Oszillation von Subjekt und Objekt umschrieben, wird „das Bild jedes Gegenstandes nicht zum praktischen Ziel, sondern zu einem wortlosen Erlebnis“.118 Helmut Lethen weist darauf hin, dass es sich bei dem „stationären Beobachtungspunkt“ durch das Triëder,119 bei welchem der Beobachter im Zentrum steht und „alle Erscheinungen vom Auge des Beobachters aus“ organisiert werden,120 um einen instrumentellen wie methodischen „Anachronismus“ zu einer Zeit handelt, „in der sich die Kameras von den Stativen lösten“:121 „Der Blick aus dem Fenster […] bleibt im Zyklus des Cogito, trifft nicht auf ein substanzielles Gegenüber, vermeidet jede ‚Art von Dialog mit dem Wahrgenommenen‘ (Merleau-Ponty).“122 Hatte Musil in Ansätze zu neuer Ästhetik (1925) Balázs’ Filmdramaturgie zum Anlass genommen, über das das Verhältnis bzw. die Möglichkeit der Transformation vom Normalzustand in jenen anderen zu reflektieren, so scheint sich die auf dem „isolierte[n] optische[n] Erlebnis“ aufbauende Theorie des Triëder(n)s in dieser Hinsicht zunächst als unergiebig zu erweisen. Die „Sprengung des normalen Totalerlebnisses“ als „Grundvermögen jeder Kunst“123 wird innerhalb der Versuchsbeschreibung weder erzielt noch überhaupt beabsichtigt. Beschrieben wird ein Wahrnehmungsexperiment, bei dem das Versuchsinstrument die beobachteten Dinge zwar isoliert, dekontextualisiert, vergrößert, anders perspektiviert und sogar dämonisiert. Das Subjekt der Beobachtung aber bleibt unverrückt es selbst. Im 1926 veröffentlichten Prätext Triëdere! ist die „Einsamkeit“ noch dem Be-
_____________ 118 119 120 121
Ebd. S. 1144. H. Lethen: Eckfenster der Moderne (1987). S. 204. Ebd. S. 203. Ebd. S. 204; vgl. ebd. S. 211: „Dennoch läßt Musil seinen Beobachter am Fenster nicht zur Kamera greifen, sondern zu einem anachronistischen Instrument, mit dem schon im 19. Jahrhundert Schriftsteller Wahrnehmungsexperimente veranstaltet hatten.“ Vgl. auch A. Honold: Die Stadt und der Krieg. Raum- und Zeitkonstruktion in Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“. München 1995. S. 30: „Im Vergleich etwa zu zeitgenössischen Versuchen, das filmische Prinzip der Montage für Historiographie (Benjamin) und historische Fiktion (Kraus, Döblin, Brecht) fruchtbar zu machen, nimmt sich Musils Beharren auf kompositorischer Geschlossenheit geradezu konservativ aus.“ Vgl. auch K. Corino: Robert Musil (2003). S. 1048: „[…] die Technik der Vergrößerung und der Isolation wie beim Fernglas, wie sie Musil beim ‚Triëderblick‘ aus seinem Arbeitszimmer benutzte, blieb weiter hinter den Perspektiven zurück, die Hochgeschwindigkeitskameras boten. […] Es ist fast ein wenig rührend, wie Musil, mit dem Fernglas am Fenster seines Arbeitszimmers stehend, die Schwenks der Filmkamera zu imitieren suchte […].“ 122 H. Lethen: Eckfenster der Moderne (1987). S. 211. 123 R. Musil: Ansätze zu neuer Ästhetik (1925) (GW II, 1145).
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obachtungsinstrument selbst („in der Einsamkeit des Binokels“)124 zugeschrieben. Nicht nur die Gegenstände der Beobachtung, auch ihr Subjekt befindet sich „hinter der Sperre des Glases“.125 Der, der die Dinge hinter Glas sperrt, isoliert sich selbst, setzt sich selbst ins Glashaus, wird selbst gläsern. Das Subjekt der Beobachtung steht erhöht über den Dingen an seinem (Fenster-)Platz. Es bezieht sich nicht in die Versuchsanordnung mit ein. Das Experiment mit der (De-Automatisierung der) Wahrnehmung ist kein Selbstexperiment. Liest man den ersten wie letzten Absatz des Triëdere-Textes jedoch als Kommentar bzw. (Reflexions-)Rahmen zu dem beschriebenen Versuch, dann wird hier explizit auf die Möglichkeit referiert, „zwischen den Dingen des Lebens gleichsam mit offenen Augen unter Wasser umher[zu]schwimmen“.126 Perspektivische Isolierung und zeitliche Variation, Großaufnahme wie „Zeitlupenaufnahme[ ]“,127 heben die „Sperre des Glases“ zwischen Subjekt und Objekt sowie die Isolation, die „glashelle Einsamkeit“ des Beobachters,128 in einen Zustand des Zwischen-den-Dingen-Schwimmens auf.129 Vor diesem ästhetischen wie aisthetisch-haptischen Anspruch erfährt das beschriebene Experimentieren mit dem Triëder in den letzten vier Sätzen eine Relativierung. Zwar wird auch hier die experimentelle Erfahrung auf den Bereich der Kunst bezogen: „Indem es [das Fernglas] die gewohnten Zusammenhänge auflöst und die wirklichen entdeckt, ersetzt es eigentlich das Genie oder ist wenigstens eine Vorübung dazu.“130 Die Ironisierung einer modernen, im Sinne von avantgardistischen Wahrnehmungs- wie Beschreibungstechnik wird jedoch nicht nur im Ergebnis
_____________ 124 Ders.: Triëdere! (1926) (GW II, 579). 125 Ders.: Triëdere (1936) (GW II, 521); vgl. ders.: Blätter an dem Nachtbuche des monsieur le vivisecteur. In: Tagebücher. Heft 4 (1899?–1904?): das Ich tritt in dem kaum dreiseitig gedruckten Text allein vier Mal ans Fenster, wobei die „in einem Bergkrystall internirt[e]“ Mücke (TB I, 1) mit der „schaurige[n] Lust der Isolation“ des Beobachters (TB I, 2) korrespondiert. 126 Ders.: Triëdere (1936) (GW II, 518); Hervorhebung v. B. N. 127 Ebd. S. 518. 128 Ebd. S. 521. 129 Vgl. ders.: Ansätze zu neuer Ästhetik (1925): „Denn jede Kunst ist eine solche Abspaltung. Stumm wie ein Fisch und bleich wie Unterirdisches schwimmt der Fisch im Teich des Nursichtbaren […].“ (GW II, 1138f.) Vgl. hierzu auch R. Müller (Ein Beginner (Robert Musil). In: Der Neue Merkur 4 (1920/21), H.12. S. 860–862, hier S. 861), der Musils Erzählstil in den Vereinigungen (1911) implizit als Form des UnterWasser-Schwimmens kennzeichnet: „[…] etwas wie unterm Mikroskop im Banne Haltendes, Atemloses, Blasiges, Gurgelndes, traumweit entfernt […]“ und sich zugleich „an den tropischen Urwald erinnert“ fühlt (ebd. S. 862). 130 Ders.: Triëdere (1936) (GW II, 522).
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„einer sich vertiefenden Verständnislosigkeit für das Menschsein“,131 sondern auch – hierauf hat Helmut Lethen hingewiesen – im Rekurs auf einen Nietzsche-Prätext offensichtlich.132 Das Glas, das – als Fernglas auf die Dinge und Erscheinungen des Alltagslebens gerichtet – zu einer Irritation, zu einer Desillusionierung der gewohnten Wahrnehmungen und somit Voraussetzung einer neuen, anderen Sehweise auf die Dinge wie der ä(i)sthetischen Erfahrung werden kann, führt im Rahmen der institutionalisierten Kunst zu einer Stabilisierung bestehender Wahrnehmungsmuster, nicht zu einem neuen Sehen, sondern zu einem Wieder-Erkennen des Bekannten: „Benutzen doch die Menschen das Glas sogar im Theater dazu, die Illusion zu erhöhen, oder im Zwischenakt um nachzusehen, wer da ist, wobei sie nicht das Unbekannte suchen, sondern die Bekannten.“133 Als Ergebnis ist festzuhalten, dass in Triëdere (1936) neben der Unterscheidung von Subjekt des Versuchs (,histoire‘ bzw. experimentum) und Subjekt der Versuchsbeschreibung (,discours‘ bzw. experientia) zwei Reflexionsebenen134 des Erzählexperimentes vorliegen: eine, auf der der Versuch mit dem Triëder beschrieben, und eine weitere, auf der dieser Versuch kommentiert bzw. kritisch reflektiert wird. Das Verhältnis von Versuchsdurchführung und -beschreibung auf der einen Seite sowie Versuchsauswertung und -kommentierung auf der anderen Seite könnte somit in eine Entsprechung zu dem Verhältnis von Essayismus I – als „Utopie der in-
_____________ 131 Ebd. 132 Vgl. F. Nietzsche: Schopenhauer als Erzieher. In: ders.: Werke in drei Bänden. München 1966. S. 337ff.; zit. nach: H. Lethen: Eckfenster der Moderne (1987). S. 223: „Scharfsichtigkeit in der Nähe (ist) verbunden mit großer Myopie für die Ferne und das Allgemeine. Sein Gesichtsfeld ist gewöhnlich sehr klein, die Augen müssen dicht an den Gegenstand herangehalten werden. Will der Gelehrte von einem eben durchforschten Punkte zu einem anderen, so rückt er den ganzen Seh-Apparat nach jenem Punkte hin. Er zerlegt ein Bild in lauter Flecke, wie eine, der ein Opernglas anwendet, um die Bühne zu sehen und jetzt bald einen Kopf, bald ein Stück Kleid, aber nichts Ganzes in’s Auge faßt. Jene einzelnen Flecken sieht er nie verbunden, sondern er erschließt nur ihren Zusammenhang; deshalb hat er von allem Allgemeinem keinen starken Eindruck.“ 133 R. Musil: Triëdere (GW II, 522); vgl. ders.: Kino oder Theater/Das neue Drama und das neue Theater. In: Magdeburger Zeitung, 25. Dezember 1926 (GW II, 1717–1719, hier 1718): „Die Erlebnisse unserer Sinne sind nämlich beinahe ebenso konservativ wie die Theaterdirektoren. Was auf den Blick und Klang (selbst wenn es nicht der erste Blick ist) verstanden werden soll, darf sich vom bereits Bekannten nicht zu weit entfernen.“ 134 Vgl. H. Lethen: Eckfenster der Moderne 1987. S. 207 sowie D. Kimmich: Kleine Dinge in Großaufnahme (2000). S. 192.
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XI. Essayismus als „Gedankenexperiment“
duktiven Gesinnung“ – und Essayismus II – als „Utopie des reinen aZ.“135 – gesehen werden.
2. Türen und Tore (1928/36) – „Variation“ oder wie kommt ein Hund durch einen festen Rahmen? Wenn man Menschen aus der Perspektive der Tierpsychologie betrachtet, zb. der eines Hundes.136 (Robert Musil)
Das Bild des Glases, dem neben der Qualität der Durchsichtigkeit auch die des Reflektierens zukommt, findet sich auch in anderen Texten Robert Musils.137 Zum einen bringt es die Isolation zwischen Subjekt und Objekt der Beobachtung wie die Grenze zwischen zwei Welten zum Ausdruck. Zum anderen ‚versinnlicht‘ bzw. reflektiert es die Bedingungen moderner Erkenntnis und die ihr adäquaten Darstellungsformen. Doch nicht nur das Glas findet sich als Bild für die existentielle Grenzerfahrung sowie als Bild für das Experimentieren mit den Bedingungen und Möglichkeiten der Wahrnehmung, sondern auch die Brücke, das Fenster und die Tür.138 In Türen und Tore, einem zweieinhalb Seiten umfassenden kulturkritischen Essay aus den Unfreundlichen Betrachtungen im Nachlaß zu Lebzeiten (1936) bezeichnet Musil die „gläserne Drehtür des Hotels und des Warenhauses“ als die „einzige originelle Tür, die unsere Zeit hervorgebracht hat“.139 Die gläserne Drehtür ist Sinnbild der transzendentalen Obdach- bzw. Heimat-
_____________ 135 R. Musil: Der Mann ohne Eigenschaften (Nachlass): „Ein Hauptthema fürs Ganze ist also: Auseinandersetzung des Möglichkeitsmenschen mit der Wirklichkeit. Sie ergibt 3 Utopien: Die Utopie der induktiven Gesinnung. Die Utopie des anderen (nichtratioïden, motivierten usw) Lebens in Liebe. Auch Utopie des Ess.[ayismus] II. Die Utopie des reinen aZ. mit ihrer Mündung in oder Abzweigung zu Gott.“ (MoE II, 1881f.) 136 R. Musil: Tagebücher. Heft 34 (1930–1838) (TB I, 845). 137 Vgl. hierzu B. Nübel: „Hinter der Sperre des Glases“ (2003). S. 237–256. 138 Vgl. hierzu L. W. Freij: ,Türlosigkeit‘. Robert Musils „Törless“ in Mikroanalysen mit Ausblicken auf andere Texte des Dichters. Stockholm 1972; G. Reis: Eine Brücke ins Imaginäre. Gleichnis und Reflexion in Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“. In: Euphorion 78 (1984). S. 143–160 und C. Leitgeb: Abstrakte Mauern, Konkrete Ideologie: Zur Hausmetaphorik Robert Musils. In: Neue Ansätze zur Robert-Musil-Forschung. Hrsg. v. M.-L. Roth, Bern [u. a.] 1999. S. 109–137 u. a. 139 R. Musil: Türen und Tore. In: ders.: Nachlaß zu Lebzeiten (1936) (GW II, 504–506, hier 505); Erstveröffentlichung in: Sport im Bild, 28. September 1928 (GW II, 608– 611).
2. Türen und Tore (1928/36) – „Variation“
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losigkeit („Hotel“)140 des modernen Menschen unter Bedingungen der ‚Verdinglichung‘ („Warenhaus[ ]“).141 In seinem Essay Brücke und Tür hatte Georg Simmel „[d]as Bild der äußeren Dinge“142 als „Korrelation von Getrenntheit und Vereinigung“143 gekennzeichnet und die Technik der Selektion bzw. Isolation (Analyse) mit der perspektivischen Kombination (Synthese) verbunden: „Indem wir aus der ungestörten Lagerung der natürlichen Dinge zwei herausgreifen, um sie als ,getrennt‘ zu bezeichnen, haben wir sie schon in unserem Bewußtsein aufeinander bezogen, haben diese beiden gemeinsam gegen das Dazwischenliegende abgehoben. Und umgekehrt“.144 Der Zustand der „Ungetrennten und Nichtvereinten“ aus den Nachlasskapiteln zum Mann ohne Eigenschaften145 wird hier als methodologisches Apriori der menschlichen Wahrnehmung und Erkenntnis bestimmt. So trennt die Tür „den Raum des Menschen und alles, was außerhalb dessen ist“, zugleich hebt sie aber auch „die Trennung zwischen dem Innen und dem Außen auf“. Denn sie ist keine starre „Scheidewand“, sondern ein bewegliches „Gelenk“: Sie ist zu öffnen und der Mensch kann „sich außerhalb ihrer stellen“.146 Die Tür, die Innen und Außen, Begrenztes und Grenzenloses, Wirkliches und Mögliches147 ebenso trennt wie verbindet ist, so Simmel, „Bild[ ] des Grenzpunktes, an dem der Mensch eigentlich dauernd steht oder stehen kann.“148 Als Sinnbild des Menschen,
_____________ 140 Vgl. G. Lukács: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik (1916/20). Darmstadt/Neuwied 1971. S. 32 und S. 52. 141 Vgl. ders.: Geschichte und Klassenbewußtsein. Berlin 1923. 142 G. Simmel: Brücke und Tür (1909). In: Der Tag, 15. September 1909. Abgedr. in: ders.: Brücke und Tür. Essays des Philosophen zur Geschichte, Religion, Kunst und Gesellschaft. Im Verein mit M. Susman hrsg. v. M. Landmann. Stuttgart 1957. S. 1–8. hier S. 1. 143 Ebd. S. 3 144 Ebd. S. 1. 145 Vgl. R. Musil: Der Mann ohne Eigenschaften (Nachlass): „Das Gitter war aber auch noch in anderer Weise ein Sinnbild: es trennte und verband. […] aber der Name, den sie [Ulrich und Agathe] in jenem Zustand dem Gitter dank seiner Sinnbildlichkeit gegeben hatten, und damit auch dem ganzen Platz, worauf sie sich befanden, wegen der Vorzüge seiner Lage, ‚Die Ungetrennten und Nichtvereinten‘, dieser Name hatte seither für sie an Inhalt nur noch gewonnen. Denn ungetrennt und nichtvereint waren sie selbst und glaubten in ihrer Ahnung zu erkennen, daß auch alles andere in der Welt ungetrennt und nichtvereint wäre.“ (MoE II, 1350f.) 146 G. Simmel: Brücke und Tür (1909. S. 3f. 147 Vgl. ebd. S. 4: „[…] mit ihr [der Tür] grenzen das Begrenzte und das Grenzenlose aneinander, aber nicht in der toten geometrischen Form einer bloßen Scheidewand, sondern als die Möglichkeit dauernden Wechseltausches […].“ 148 Ebd. S. 4.
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XI. Essayismus als „Gedankenexperiment“
der als „das Grenzwesen, das keine Grenze hat“,149 bestimmt wird, steht die Tür für dessen „Möglichkeit dauernden Wechseltausches“150 und „versinnlicht“ die „Möglichkeit“ des Menschen, „aus dieser Begrenzung in jedem Augenblick in die Freiheit hinauszutreten.“151 Bei Robert Musil gehört die Tür als Sinnbild der Transzendenz ebenso wie die mit ihr verbundenen „längst undurchführbare[n] Redensarten“152 bereits „der Vergangenheit an“. Vielmehr wird sie ganz empirischdiesseitig als ein „rechteckige[r], in die Mauer eingelassene[r] Holzrahmen“ bestimmt, „an dem ein drehbares Brett befestigt ist“.153 Die Rede von der Tür und ihrem Verschwinden, in Musils Text selbst als „[d]unkelnde [!] Geschichten um ein Loch“154 bezeichnet, richtet sich nicht nur als satirische Invektive gegen die zeitgenössische Bauhausarchitektur,155 sondern auch gegen die perspektivischen Verkürzungen menschlicher Alltagswahrnehmungen. Dabei wird die Tür und ihr Verschwinden zum Gedanken- bzw. Sinnbild156 für die Möglichkeit der Grenzüberschreitung im Gedankenexperiment. Erfüllten bei Simmel die „sich allmählich zu der eigentlichen Tür hin“ verengenden Maueröffnungen der romanischen und gotischen Bauten „den Hineingehenden mit Sicherheit“,157 so erlebt in Musils Text der „bei geöffneten Türen durch eine Zimmerflucht“ Schauende „den Angsttraum eines Fußballstürmers […], dem ein Tor nach dem andern entgegentritt.“158 In Simmels Essay heißt es programmatisch, im textinternen Selbstbezug auf seine eigene Schreibweise wie auf seine Theorie der Moderne: „Die Formen, die die Dynamik unseres Lebens beherrschen, werden so durch Brücke und Tür in die feste Dauer anschaulicher Gestaltung übergeführt. Das bloß Funktionelle und Teleologische unserer Bewegun-
_____________ 149 150 151 152 153 154 155
Ebd. S. 6. Ebd. S. 4. Ebd. S. 7. R. Musil: Türen und Tore (1936) (GW II, 506). Ebd. S. 504. Ebd. S. 506. Zum Zusammenhang von moderner Architektur und „experimentelle[m], polyperspektivische[m], metareflexive[m] Erzählen“ vgl. H. Brüggemann: Architekturen des Augenblicks. Raum-Bilder und Bild-Räume einer urbanen Moderne in Literatur, Kunst und Architektur des 20. Jahrhundert. Hannover 2002. S. 538. 156 Vgl. ders.: Der Mann ohne Eigenschaften (Nachlass): „,Sinnbild, Gleichnis, Bild, es geht ineinander über‘ meinte Ulrich. […] Diese geschmeidige Grenze zwischen der Einbildung des Planens und dem Bild, das vor der Wirklichkeit bestehen bleibt, ist im Leben überall wichtig und schwer zu finden.“ (MoE II, 1345) 157 G. Simmel: Brücke und Tür (1909). S. 5. 158 R. Musil: Türen und Tore (1936) (GW II, 504).
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gen wird von ihnen nicht nur als von Werkzeugen getragen, sondern es gerinnt sozusagen in ihrer Form zu unmittelbar überzeugender Plastik.“159 In Musils Text dagegen wird die Annahme einer symbolischen Konvergenz von Funktionalität und Ästhetik ins Abstruse geführt. Sein Zugeständnis an das „drehbare[ ] Brett“, nämlich dass es „zu dem Eichen- oder Nußgehölz“ passe, „das bis vor kurzem in jedem ordentlichen Familienzimmer angepflanzt worden ist“, ist eines an den Geschmack des Seinesgleichen. Und selbst in der Kunst, so Musil, habe „dieses Brett schon das meiste von seiner Bedeutung eingebüßt“: Als Theaterrequisit, an dem man horchen konnte, sei es im Zeitalter des Hörspiels und des Rundfunkdichters verschwunden, denn die Hellhörigkeit moderner Betonwände mache die Tür ebenso technisch wie ästhetisch überflüssig.160 Am Beispiel des Türrahmens, der „[n]och viel unzeitgemäßer als die Tür selbst“ sei, wird der technische vom ästhetischen Aspekt gesondert: „Technisch ließe sich ein gutes Schließen auch ohne diese Pfähle erreichen; sie sind wahrscheinlich nur da, um das Auge zu erfreuen.“ Eine Tür ohne Rahmen aber, und hier wird nicht nur die technische, sondern auch die ästhetische Funktion des Holzrahmens in Frage gestellt, „wäre für das gebildete Auge nicht anders, als wenn zwischen Hand und Ärmel keine Stulpe hervorguckte.“ Der in Zeitraffertechnik vorgestellte Wandel der Mode von Stulpe („Röllchen“) und Kragen dient in Türen und Tore ebenso wie in Triëdere weniger der Richtigkeit der dokumentarisch-historischen Beglaubigung eines kulturellen Wandels als der pointierten Analogiebildung, und zwar der „Entdeckung, daß Holztüren Röllchen“, also ebenso unzeitgemäß wie überflüssig sind: „Schließlich baut man heute Eisenbeton- statt Ziegelwände, aber das hölzerne Rändchen, von nirgendwo kommend, angeklebt, einsam, sinnlos, nur mit dem Fensterrahmen verschwistert, muß die Sitte wahren.“161 Der Türrahmen, aus seinem alltäglichen Zusammenhang herausgelöst und isoliert, wird – ebenso wie „Kragen und Röllchen“ – zum „einsame[n] Symbol[ ] der Kultur“.162
_____________ 159 G. Simmel: Brücke und Tür (1909). S. 6. 160 R. Musil: Türen und Tore (1936) (GW II, 504). 161 Ebd. S. 504f.; auf die ‚Verwandtschaft‘ zwischen Tür und Fenster hat bereits G. Simmel: Brücke und Tür (1909). S. 4f. hingewiesen, allerdings ohne auf das tertium comparationis, den Rahmen, Bezug zu nehmen. 162 R. Musil: Türen und Tore (1936) (GW II, 505); vgl. hierzu die Simmel’sche Unterscheidung von subjektiver und objektiver Kultur sowie dessen Theorem der „Tragödie der Kultur“ in ders.: Der Begriff und die Tragödie der Kultur. In: Philosophische Kultur (1911). S. 183–207.
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XI. Essayismus als „Gedankenexperiment“
In Nicht anklopfen, einem kurzen Text aus Theodor W. Adornos Minima Moralia (1951),163 der in nuce die Grundthese von Die Dialektik der Aufklärung (1947) enthält, wird dagegen das Verhältnis von handelndem (in diesem Falle Tür öffnendem) Subjekt zum Objekt beklagt. Hier verschwindet nicht die Tür, sondern die „sachten Türklinken“, genauer: die Sanftheit des Menschen gegenüber dem Objekt (Tür) sowie gegenüber den anderen Menschen wie sich selbst gegenüber. Der Grundton ist hier nicht mehr der der Ironie, sondern der Anklage.164 Die Tür, die nicht mehr „leise, behutsam und doch fest“ verschlossen,165 sondern einfach zugeschlagen wird, ist hier Sinnbild moderner Technisierung, welche den Menschen, der die Dinge der Umwelt technisch beherrschen gelernt hat, „bis in die geheimsten Innervationen hinein“ eben diesen Dingen unterwirft:166 „Am Absterben der Erfahrung trägt Schuld nicht zum letzten, daß die Dinge unterm Gesetz ihrer reinen Zweckmäßigkeit eine Form annehmen, die den Umgang mit ihnen auf bloße Handhabung beschränkt, ohne einen Überschuß, sei’s an Freiheit des Verhaltens, sei’s an Selbständigkeit des Dinges zu dulden, der als Erfahrungskern überlebt“.167 In Der Mann ohne Eigenschaften (1930) korrespondiert das Verhältnis von Tür und Rahmen mit dem für Ulrichs Lebensphilosophie des Essayismus wie für die immanente Romantheorie zentralen Verhältnis von Möglichkeit und Wirklichkeit. Das 4. Kapitel Wenn es Wirklichkeitssinn gibt, muß es auch Möglichkeitssinn geben, wird mit dem folgenden „Grundsatz“ eingeleitet: „Wenn man gut durch geöffnete Türen kommen will, muß man die Tatsache achten, daß sie einen festen Rahmen haben“. Dieser „Forderung des Wirklichkeitssinns“, hier mittelbar durch Ulrichs Vater vertreten, wird bekanntlich die Definition des Möglichkeitssinns als „Fähigkeit […], alles, was ebensogut sein könnte, zu denken“, gegenübergestellt.168 Und in einem Kapitel, das schon in seiner Überschrift den Leser, der von der Beschäftigung mit Gedanken keine besondere Meinung hat, ausdrücklich zum Überschlagen auffordert, heißt es: „Es ist leider in der schönen Lite-
_____________ 163 T. W. Adorno: Nicht anklopfen. In: ders.: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben (1951). Frankfurt a. M. 1973. S. 42f. 164 Vgl. ebd. S. 43: „In den Bewegungen, welche die Maschinen von den sie Bedienenden verlangen, liegt schon das Gewaltsame, Zuschlagende, stoßweis Unaufhörliche der faschistischen Mißhandlungen.“ 165 Ebd. S. 42. 166 Ebd. S. 42f. 167 Ebd. S. 43. 168 R. Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. 1. Buch (1930) (MoE I, 16).
2. Türen und Tore (1928/36) – „Variation“
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ratur nichts so schwer wiederzugeben wie ein denkender Mensch.“169 Die metatextuelle Reflexion ist nicht allein auf den Erzähler zu beziehen, der den am Schreibtisch sitzenden und nachdenkenden Ulrich beobachtet und zu beschreiben versucht. Sie thematisiert das problematische Verhältnis von Narration und Reflexion essayistischer Schreibweise überhaupt. Auch hier wird erzähltechnisch die Lösung in einer Analogie gesucht, welche das Verhältnis von Bild und Begriff in der Schwebe belässt. Im Rückgriff auf Beobachtungen und Ergebnisse tierexperimenteller Versuchsreihen wird der folgende Vergleich angeführt: die „Lösung einer geistigen Aufgabe“ vollziehe „sich nicht viel anders, wie wenn ein Hund, der einen Stock im Maul trägt, durch eine schmale Tür will; er dreht dann den Kopf solange links und rechts, bis der Stock hindurchrutscht, und ähnlich tun wir’s, bloß mit dem Unterschied, daß wir nicht ganz wahllos darauf los versuchen, sondern schon durch Erfahrung ungefähr wissen, wie man es zu machen hat.“170 Auch Ernst Mach hat in seinem Kapitel Über Gedankenexperimente aus Erkenntnis und Irrtum auf tierpsychologische Experimente zurückgegriffen. Gemeinsam sei dem Gedankenexperiment – und Mach versteht hierunter das „Experimentieren in Gedanken“171 im Unterschied zur Musil’schen „ars combinatoria“172 eines Experimentierens mit Gedanken173 – und dem physischen Experiment „die Methode der Variation“. Mach spricht in diesem Zusammenhang von einer dem Menschen angeborenen, „instinktive[n] Neigung zum Experimentieren“174 und entwirft eine Skala, einen allmählichen Übergang „[v]om bloßen Prüfen durch die Sinnesorgane, dem Wenden der Körper, Wechsel des Standpunktes bis zu wesentlicher Änderung der Umstände, von der passiven Beobachtung zum Experiment“.175 Um seine These einer unscharfen, das heißt durchlässigen „Grenze zwischen dem instinktiven und dem durch Denken geleiteten Experiment“ zu belegen,176 nennt er als Beispiel „die Hunde C. Llyod Morgans, welche nach mehreren Versuchen einen Stock mit schwerem Knopf zu tragen, densel-
_____________ 169 Ebd. S. 111. 170 Ebd. S. 112; vgl. ders.: Tagebuch. Heft 26 (1921–1923?): „Ich muß zuerst zeigen, warum ich anders denke. Es kommt davon, daß ich Ingenieur bin. […] Selbst ein Hund, der einen Stock im Maul nicht zwischen zwei Hindernissen durchbringt, dreht den Schädel so lang, bis er die richtige Stellung hat.“ (TB I, 644). 171 E. Mach: Über Gedankenexperimente (1905/26). S. 195; Hervorhebung v. B. N. 172 Vgl. M. Bense: Über den Essay und seine Prosa (1952). S. 34. 173 Vgl. ebd. S. 29. 174 E. Mach: Über Gedankenexperimente (1905/26). S. 183. 175 Ebd. S. 185. 176 Ebd. S. 184.
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XI. Essayismus als „Gedankenexperiment“
ben nicht mehr in der Mitte, sondern nahe am schweren Ende (im Schwerpunkt) fassen, und ebenso nach fruchtlosen Anstrengungen den in der Mitte gefaßten Stock durch eine schmale Tür zu bringen, denselben an einem Ende packen und hindurchziehen. Diese Tiere zeigen aber dennoch wenig Fähigkeit, die Erfahrung eines Falles für den nächsten gleichartigen zu verwerten.“177 In einer Tagebuchaufzeichnung wertet Musil das auf empirischen Versuchsanordnungen basierende Hunde-Denkbild, wenn auch mit unüberlesbaren ironischen Vorbehalten, als Grundvoraussetzung menschlicher Vervollkommung: „Es scheint, dass dieses planlose Verändern und später planvolle Versuchen“ – also eben das, was den Menschen nicht prinzipiell, sondern allenfalls graduell vom Hund unterscheidet – „eine der (wenigen) Eigenschaften ist, denen die Menschheit ihren Aufstieg verdankt.“178 Maurice Blanchot umschreibt in seinem Essay Sprechen ist nicht sehen das Verhältnis von Kritik und Werk, Weg und Ziel, Suchen (‚chercher‘) und Finden (‚trouver‘) mit der kreisenden Suchbewegung eines Hundes: „Freilich ähnelt die drehende Bewegung des Suchens der Bewegung eines Hundes, der die Beute, wenn sie unbeweglich und bedrohlich ist, zu besetzen glaubt, indem er sie umkreist, während er doch lediglich unter der faszinierenden Wirkung des Zentrums steht, dessen Anziehungskraft er erfährt“. Die Suche entspricht hier dem Irrtum. Dieser ist nicht den Kategorien Wahrheit, Ziel, Zentrum entgegengesetzt. Der Irrtum ist vielmehr Medium wie Movens der Suchbewegung gleichermaßen: „Irren, das ist herumgehen und umdrehen, sich der Magie des Umwegs überlassen.“179 Im ‚um etwas herumgehen“, wird das Finden zum Suchen, der Weg zum Ziel: „Trouver, das ist tourner, drehen, wenden, faire la tour, die Runde machen, aller autour, herumgehen.“180
_____________ 177 Ebd. S. 185; vgl. auch ders.: Die Entwicklung der Individualität in der natürlichen und kulturellen Umgebung. In: ders.: Erkenntnis und Irrtum (1905/26). S. 70-88, hier (S. 71f.) geht Mach eingehender auf das L. Morgans Comperative Psychology (London 1894) entnommene Hundeexperiment ein: „Zwei junge Hunde trugen Stöcke quer im Maul, deren Enden an die Pfeiler eines engen Durchgangs für Fußgänger anstießen. Die Hunde ließen die Stöcke fallen und liefen hindurch. Zurückgesandt, faßte der eine den Stock an einem Ende und zog ihn ohne Schwierigkeit hindurch, während der andere fortfuhr, in der Mitte anzufassen, anzustoßen und fallen zu lassen. Bei der Rückkehr an denselben Ort, nach einer Stunde, hatte auch der scheinbar klügere vergessen, den Vorteil zu nützen, den ihm offenbar der Zufall dargeboten hatte.“ 178 R. Musil: Tagebuch. Heft 26 (1921–1923?) (TB I, 644). 179 M. Blanchot: Sprechen ist nicht sehen. In: ders.: Das Unzerstörbare. Ein unendliches Gespräch über Sprache, Literatur und Existenz (1955/69). München/Wien 1991. S. 83–95, hier S. 84. 180 Ebd. S. 83.
2. Türen und Tore (1928/36) – „Variation“
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Das essayistische Schreiben, das von Blanchot als fragmentarisches bestimmt wird, ist ein kreisförmiges Schreiben ohne Zentrum. Es sucht weder nach einer Mitte noch nach der Einheit, stattdessen folgt es dem Prinzip der „Zerstückelung“181 wie der Verknüpfung gleichermaßen. Essayismus ist ein Vertextungsverfahren, das ein durchgestrichenes Zentrum von den Rändern bzw. von der Peripherie her umschreibt.182 Das essayistische Umkreisen, der Umweg, das ‚konstruktive‘ Irren folgt nicht einer geraden Linie oder einer klaren Zielvorgabe, sondern der „Wendung“, die sich dem zuwendet, wovon sie sich abwendet183 und die sich vom dem abwendet, dem sie sich im selben Augenblick zuwendet.184 Es gehorcht nicht dem „princ.[ipium] ident.[atis]“,185 sondern der Differenz, nicht dem Text-Sinn, sondern der Textverknüpfung. Es steht nicht unmittelbar vor, noch über oder unter den Texten, es steht zwischen ihnen. Es spricht nicht von ihnen oder über sie, es spricht mit ihnen. Es blickt sie an, aber nicht von einem quasi-archimedischen Punkt, sondern „aus dem Augenwinkel heraus, mit halbabgewandten Kopfe“.186 Es sieht selbst beim Schreiben zu und kommentiert sich, die anderen Texte fortschreibend, fortlaufend selbst.
_____________ 181 Vgl. L. Dällenbach/C. L. Hart Nibbrig: Fragmentarisches Vorwort. In: Fragment und Totalität. Hrsg. v. L. D./C. L. H. N. Frankfurt a. M. 1984. S. 7–18, hier S. 11f. 182 Vgl. E. Schütz: „Du brauchst bloß in die Zeitung hineinzusehen“. Der große Roman im „feuilletonistischen Zeitalter“: Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“ im Kontext. In: Zeitschrift für Germanistik. N. F. VII (1997). S. 278–292, hier S. 285. 183 M. Blanchot: Sprechen ist nicht sehen (1955/69). S. 93. 184 Vgl. G. Simmel: Die Koketterie. In: ders.: Philosophische Kultur (1911). S. 81–99, hier S. 83. 185 R. Musil: Tagebücher. Heft 25 (1921–1923?) (TB I, 644). 186 G. Simmel: Die Koketterie (1911). S. 82.
XII. Schlussbemerkung Ich fürchte, man kommentiert das Werk Robert Musils mehr als daß man es wirklich liest, denn es kommt den Kritikern mit seinem ungewöhnlichen Vorsatz, seinen widersprechenden Eigenschaften, der Mühsamkeit seiner Vollendung, der Tiefgründigkeit seines Scheiterns nur allzu sehr entgegen; es steht dem Kommentar so nahe, daß es an vielen Stellen eher kommentiert als geschrieben zu sein scheint und mehr nach dem Kommentar als nach dem Lesen verlangt.1 (Maurice Blanchot) Essay ist Um=schreibung: […]2 (Robert Musil) […] wenn man zur Mitte hinblickt, wo sie sein müßte, ist alles durchgestrichen und es bleibt dort nichts […].3 (Robert Musil)
Ist Der Mann ohne Eigenschaften ein „etwas zu lang geratene[r], essayistische[r] Metakommentar des Erzählens“,4 so lässt sich das gesamte, an den Rändern ausfransende Textkonvolut Robert Musils als Metatext einer essayistischen Vertextungsstrategie lesen. Diese erhebt den Essayismus (und somit das eigene Schreiben) poetologisch zum Programm moderner Literatur. Erzähltechnisch wird damit einer lebensweltlichen wie wissenschaftstheoretischen Dezentrierung der Substanz- und Subjektkategorie sowie einer Relativierung der Raum- und Zeitkategorien entsprochen. Die narrativen wie diskursiven Konstruktionen werden nicht mehr über die Kategorien von Ursprung und Kausalität hergestellt, sondern über die Techniken von ‚Motivation‘ (Funktionalität), Perspektivierung und Relationierung. Dargestellt wird – im Roman wie in den Essays – eine Kulturund Diskursgeschichte des ‚essayistischen Zeitalters‘.5 _____________ 1 2 3 4 5
M. Blanchot: Musil. In: ders.: Der Gesang der Sirenen. Essays zur modernen Literatur (1959). München 1962. S. 184–206. Ders.: Der literarische Nachlaß. Hrsg. v. F. Aspektsberger/K. Eibl/A. Frisé. Reinbek bei Hamburg 1992 (VII/17/39). Ders.: Interview mit Alfred Polgar. In: Die Literarische Welt, 5. März 1926 (GW II, 1154-1160, hier 1159). S. Lämmer: Dichten/Denken. Skizze der Erkenntnis des Dichters Robert Musil. (Unveröffentl. Manuskript.) Kassel 2005. Vgl. K. Kauffmann: Naturwissenschaft und Weltanschauung um 1900. Essayistische Diskursformen in den populärwissenschaftlichen Schriften Ernst Haeckels. In: Zeitschrift für Germanistik. N. F. XV (2005). S. 61–75, hier Anm. 19. S. 69 sowie R. Mu-
XII. Schlussbemerkung
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Programmatisch geht es Musil nicht nur um die Beschreibung bzw. Analyse kontingenter und partikularer Lebenszusammenhänge in der Moderne, sondern auch – und das macht diesen Autor eben so modern – um die Frage nach einer möglichen Synthese, einer Überwindung der lebensweltlichen wie wissenschaftsmethodologischen Binarismen, weniger im Sinne einer Aufhebung als vielmehr in der Verkehrung des scheinbar Gegensätzlichen, im wechselseitigen Hindurchgehen durch die antinomen Pole, im Durchscheinend-Machen des getrennt und unvereinbar Scheinenden. Durch das In-der-Schwebe-Lassen des Unentscheidbaren bis hin zu dem Punkt, wo die essayistische Devise „Lesen statt Leben“6 das Lesen wie Schreiben gleichermaßen im Möglichkeitsdenken als „SpaziergangWirklichkeit“7 in eine unendliche Bewegung zweier Geraden schickt, die sich erst in der Unendlichkeit der Reflexion wieder verbinden mögen, wird in dem Versuch der gleichzeitigen Abbildung beider Enden das „Ungetrennte[ ] und Nichtvereinte[ ]“8 in jedem Moment sinnfällig. Ein wissenschaftlicher Metatext zum essayistischen Vertextungsprinzip eines Autors und seiner intra- wie intertextuellen Verstrickungen kann versuchen, diese Bewegung zu explizieren, beschreibbar zu machen. Er sollte ihr aber nicht folgen, ist also – und hier folgt die Verfasserin dem Prinzip leben statt lesen – endlich.
_____________
6 7 8
sil: Der literarische Nachlaß (1992): „In einem gewissen Sinn ist das Ganze als ein Lebensbild des essayistischen und theorein-Menschen aufzufassen. Der eine Zeitnotwendigkeit darstellt. Ein Zukunftsforderung; oder zumindest sich dafür hält.“ (II/4/1 S. 2 vgl. ebd. I/1/48) R. Musil: Der Mann ohne Eigenschaften (Nachlass) (MoE II, 1921). Ders.: Der literarische Nachlaß (I/1/11). Vgl. ders.: Der Mann ohne Eigenschaften (Nachlass) (MoE II, 1350f.).
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GW II
Robert Musil: Gesammelte Werke. Hrsg. v. Adolf Frisé. Bd. II: Prosa und Stücke, Kleine Prosa, Aphorismen, Autobiographisches, Essays und Reden, Kritik. Reinbek bei Hamburg 1978.
MoE I
Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Roman. I. Erstes und Zweites Buch. Hrsg. v. Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg 1994.
MoE II
Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Roman. II. Aus dem Nachlaß. Hrsg. v. Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg 1994.
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Robert Musil: Tagebücher. Hrsg. v. Adolf Frisé. Neu durchges. u. erg. Aufl. Reinbek bei Hamburg 1983.
TB II
Robert Musil: Tagebücher. Anmerkungen, Anhang, Register. Hrsg. v. Adolf Frisé. Neu durchges. u. erg. Aufl. Reinbek bei Hamburg 1983.
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XIV. Verzeichnis der zitierten Literatur
Simmel, Georg: Schriften zur Philosophie und Soziologie der Geschlechter. Hrsg. v. Heinz-Jürgen Dahme/Klaus Christian Köhnke. Frankfurt a. M. 1985. Simmel, Hans: Auszüge aus den Lebenserinnerungen. In: Ästhetik und Soziologie um die Jahrhundertwende: Georg Simmel. Hrsg. v. Hannes Böhringer/Karlfried Gründer. Frankfurt a. M. 1976. S. 247–269. Sokel, Walter H.: Historismus und Avantgarde. Zur zwiespältigen Bewertung der Moderne im „Mann ohne Eigenschaften“. In: Hommage à Musil. Genfer Kolloquium zum 50. Todestag von Robert Musil. Hrsg. v. Bernhard Böschenstein/Marie-Louise Roth. Bern [u. a.] 1995. S. 145–159. Spengler, Oswald: Vom Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. Bd. 1: Gestalt und Wirklichkeit. Wien 1918. Bd. 2: Welthistorische Perspektiven. München 1922. Städtke, Klaus: Interkulturelle Mystifikationen von Theorie. Michail Bachtin und die Bachtionologie. In: Theorie als kulturelles Ereignis. Hrsg. v. K. Ludwig Pfeiffer/Ralph Kray/Klaus Städtke. Berlin/New York 2001. S. 131–155. Stanitzek, Georg: Abweichung als Norm? Über Klassiker der Essayistik und Klassik im Essay. In: Klassik im Vergleich. Normativität und Historizität europäischer Klassiken. DFG-Symposion 1990. Hrsg. v. Wilhelm Voßkamp. Stuttgart/Weimar 1993. S. 494– 616. Stefanek, Paul: Illusion, Ekstase, Erfahrung. Zu Robert Musils Essay „Ansätze zu neuer Ästhetik“. In: Modern Austrian Literature 9 (1976), Nr. 3/4. S. 155–168. Steffen, Detlev: Franz Blei (1871–1942) als Literat und Kritiker der Zeit. Diss. (masch.) Univ. Göttingen 1966. Stern, Guy: Musil über seine Essays; ein Bericht über eine unveröffentlichte Korrespondenz. In: Germanic Review 49 (1974). S. 60–83. Stierle, Karlheinz: Geschehen, Geschichte, Text der Geschichte. In: ders.: Text als Handlung. Perspektiven einer systematischen Literaturwissenschaft. München 1975. S. 49– 56. Stierle, Karlheinz: Werk und Intertextualität. In: Dialog der Texte. Hamburger Kolloquium zur Intertextualität. Hrsg. v Wolf Schmid/Wolf-Dieter Stempel. Wien 1983. S. 7–27. Worton, Michael/Still, Judith (Ed.): Intertextuality. Theories and Practices. Manchester 1990. Strelka, Joseph: Kafka, Musil, Broch und die Entwicklung des modernen Romans. 3. unveränd. Aufl. Wien [u. a.] 1959. Theml, Katharina: Fortgesetzter Versuch. Zu einer Poetik des Essays in der Gegenwartsliteratur am Beispiel von Texten Christa Wolfs. Frankfurt a. M. 2003. Tiebel, Ursula: Theater von aussen. Robert Musil als Kritiker. 2. Aufl. Rheinfelden/Berlin 1993. Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft, Grundbegriffe der reinen Soziologie. 2. Aufl. Berlin 1912. Träger, Hildegard: Der moderne englische Essay. Eine Studie zur Geschichte und Theorie der Gattung. Würzburg 1983. Trommler, Frank: Roman und Wirklichkeit. Eine Ortsbestimmung am Beispiel von Musil, Broch, Roth, Doderer und Gütersloh. Stuttgart [u. a.] 1966. Venturelli, Aldo: Die Kunst als fröhliche Wissenschaft. Zum Verhältnis von Musil zu Nietzsche. In: Nietzsche-Studien 9 (1980). S. 302–338. Venturelli, Aldo: Robert Musil und das Projekt der Moderne. Frankfurt a. M [u. a.]. 1988.
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XIV. Verzeichnis der zitierten Literatur
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Zima, Peter V.: Robert Musil und die Moderne. In: Die literarische Moderne in Europa. Bd. 1: Erscheinungsformen literarischer Prosa um die Jahrhundertwende. Hrsg. v. Hans Joachim Piechotta/Ralph-Rainer Wuthenow/Rothermann, Sabine. Opladen 1994. S. 430-452. Zima, Peter V.: Robert Musil und die Moderne. In: Die literarische Moderne in Europa. Bd. 1: Erscheinungsformen literarischer Prosa um die Jahrhundertwende. Hrsg. v. Hans Joachim Piechotta/Ralph-Rainer Wuthenow/Rothemann, Sabine. Opladen 1994. S. 430–452. Zimmermann, Hans Dieter: Die zwei Bäume der Erkenntnis: Rationalität und Intuition bei Robert Musil und Max Weber. In: Sprache im technischen Zeitalter 28 (1990). S. 41– 48. Zöchbauer, Paul: Der Krieg in den Essays und Tagebüchern Robert Musils. Stuttgart 1996.
XV. Personenregister Das Register enthält ausschließlich die Namen historisch verbürgter Personen. Adorno, Theodor W. 4, 14, 22, 24, 26–27, 58–59, 62, 64–65, 67–72, 90, 93, 132, 155, 161, 173, 207, 223, 227, 233, 370, 492 Allesch, Ea von 311–12, 380, 451, 466 Allesch, Gustav Johannes 220–21, 223–224, 275, 311–312, 353, 368, 451 Aristoteles 55 Aristophanes 122, 403 Arntzen, Helmut 38 Avenarius, Richard 163, 289, 298, 304, 307, 457 Baacke, Rolf-Peter 286 Bachmann, Dieter 18, 76 Bachtin, Michail M. (auch: Bakhtin) 35, 46, 52–56, 69, 106, 122, 144, 392 Bacon, Francis 15, 22–23, 26, 39, 80, 198, 368 Bahr, Hermann 300 Balázs, Béla (= Herbert Bauer) 9, 84, 89, 91, 102, 104, 109–113, 127, 130–136, 139, 229–249, 251, 275, 290, 297, 342, 361, 390, 401, 462, 465–466, 470, 477, 480–485 Balzac, Honoré de 417 Ball, Hugo 168 Barnouw, Dagmar 301 Barrès, Maurice 300 Barthes, Roland 24, 66 Baßler, Moritz 65 Baudelaire, Charles 281 Baudrillard, Jean 35 Becher, Johannes R. 168 Beer-Hofmann, Richard 109, 116 Belloc, Hilaire 300
Benjamin, Walter 24, 38, 60, 64, 67, 75, 87, 217, 232, 246, 248, 255, 258, 270, 430, 485 Bense, Max 4, 22, 59, 60–63, 65, 70, 76, 93, 359, 361, 364 Berger, Bruno 18, 23 Berghahn, Wilfried 32 Bergson, Henri 238, 409–410 Bitomsky, Hartmut 246 Blanchot, Maurice 494–496 Blasberg, Claudia 92 Blei, Franz 9–10, 38, 76, 86, 89, 103, 116, 130–131, 133–136, 155, 160, 165, 168, 170, 193, 196, 217, 220, 225, 250, 262, 265–266, 274–391, 396–398, 400, 412, 425, 427, 431–432, 440–441, 446–447, 449–450, 452–461, 464–465 Blei, Maria Eva Sibylla 311, 466 Bloch, Ernst 75, 90–91, 95, 102–103, 109, 308 Bloom, Harald 65 Böhme, Hartmut 38, 325 Bolterauer, Alice (auch: Bolterauer, Aloisa) 34, 39 Bonacchi, Silvia 40, 291, 293–294, 325 Borchardt, Rudolf 134–135, 280, 302–303, 331–332, 338, 360 Brand, Guido K. 449 Brentano, Bettina (auch: Bettine) 420 Broch, Hermann 6, 9, 31, 39, 89, 113, 281, 298, 311–312, 314, 323, 327, 351–352, 361, 369, 377, 379–384, 388, 390, 430–468 Brociner, Marco 403 Brod, Max 281, 293, 300, 302, 306 Brody, Daniel 327, 380, 446, 450–453
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XV. Personenregister
Broich, Ulrich 44, 277 Brokoph-Mauch, Gudrun 37 Buber, Martin 36–37, 103, 155 Bude, Heinz 57 Buñuel, Luis 239 Buschbeck, Erhard 402 Byron, George Gordon 403, 427 Canetti, Elias 439, 447 Cassirer, Ernst 91 Cassirer, Paul 101, 106, 286, 467 Cézanne, Paul 460 Chaplin, Charlie 231 Chesterton, Gilbert Keith 134, 300, 302, 411–416 Cicero, Marcus Tullius 55 Claudel, Paul 134, 281, 300 Conrad, Joseph 25 Corino, Karl 132, 218, 271, 303, 309–310, 451, 476 Courths-Mahler, Hedwig 422, 441 Croce, Benedetto 134, 300 Csokor, Franz Theodor 131, 311, 378 Curtius, Ernst Robert 46, 208 D’Annunzio, Gabriele 409, 417 Daigger, Annette 39 Derrida, Jacques 24, 35, 43, 178 Dickens, Charles 286 Dietz, Ludwig 301–303, 327 Dilthey, Wilhelm 83, 101–102, 144, 153, 157, 171, 275, 417 Döblin, Alfred 257, 291, 327–328, 337, 449, 485 Dostojewski, Fjodor Michailowitsch 55, 106, 113, 139, 143–144, 409, 414, 417 Durzak, Manfred 464, 466–467 Duse, Eleonora 262 Duve, Thierry de 250 Eckermann, Johann Peter 133, 297, 311, 338 Edschmid, Kasimir 287 Einstein, Albert 387 Einstein, Carl 281, 300 Eisenhauer, Gregor 282, 286, 291 Emerson, Ralph Waldo 26, 29, 37–39, 157, 274, 315, 411, 416–420
Erickson, Susan 39 Ernst, Paul 104, 106, 108, 116, 143 Euripides 403 Fanelli, Emanuela Veronica 39, 291, 293–294, 325 Fehér, Ferenc 113 Ferenczi, Sári 122 Feyerabend, Paul 225 Flaubert, Gustav 135, 409, 414, 417 Fleischel, Egon 104, 135 Fleißer, Marieluise 272 Fischer, Bermann 146, 378–379, 384 Fontana, Oskar Maurus 130, 133, 141, 342, 355, 424, 431 Fontane, Theodor 381, 427 Foucault, Michel 10, 24, 35, 66 Freij, Lars W. 263 Freud, Sigmund 272, 301, 425 Freytag, Gustav 338, 402 Fricke, Harald 17, 32 Friedrich, Hugo 20 Frisch, Efraim 133, 219–221, 230, 332, 425–426 Frisé, Adolf 7, 12, 148, 152, 180, 183, 188, 221, 293, 320, 337, 344, 353, 373, 378, 418, 429–430, 471 Fürst, Bruno 378–379 Fürst, Erna 378–379 Gabrisch, Anne 286–287 Gan, Peter 351 Gauguin, Paul 300 Genette, Gérard 30, 47–49, 52, 78, 183, 292, 298, 393, 432–433, 459 George, Stefan 14, 104, 109, 116, 319, 331, 338 Gide, André 134, 281, 298, 300, 412, 443, 450 Goethe, Johann Wolfgang 6, 37, 82–83, 85, 89, 133, 150, 169, 209, 296–298, 311, 338–340, 359–360, 367–368, 373, 404–406, 420, 425, 427, 442–443, 454, 473, 475 Goffman, Erving 468 Goltschnigg, Dietmar 37, 39 Gottsched, Johann Christoph 192 Gozzi, Carlo 282
XV. Personenregister
Grimm, Herman 15, 89 Grimm, Jakob 83, 89 Grimm, Wilhelm 89 Grogger, Paula 253 Großmann, Stefan 425 Gütersloh, Albert Paris 281–282, 284, 289, 302, 311, 313, 323, 338, 340, 344–345, 351, 366, 377–378, 383–384, 388 Hall, Murray G. 281, 309 Hamburger, Käte 78 Hamburger, Michael 20, 42 Hamsun, Knut 409 Harrison, Thomas 25 Haas, Gerhard 74 Hauptmann, Gerhart 338–340, 400–403, 414, 425, 427 Hauser, Arnold 102, 132 Heine, Heinrich 19 Heisenberg, Werner 178 Heller, Heinz-B. 236 Hemsterhuis, Frans 374 Herder, Johann Gottfried 6, 14, 66, 78, 196, 250, 304, 337, 366, 368 Hesse, Hermann 449 Heydebrand, Renate von 36 Heymel, Alfred Walter 292 Hickman, Hannah 39–40 Hiller, Kurt 168, 170, 286 Hölderlin, Friedrich 37, 214, 360 Hofmannsthal, Hugo von 80, 134, 183, 197, 199, 280, 287, 300, 338, 367–368, 381 Hogarth, William 258 Holthuis, Susanne 51, 54, 393 Honnef-Becker, Irmgard 37 Honold, Alexander 38 Horkheimer, Max 64, 161, 173, 233, 253 House, Roy Temple 416–417 Huch, Ricarda 141 Hüppauf, Bernd 40 Huxley, Aldous 380, 450 Ibsen, Henrik 260, 339, 399, 427 Immermann, Karl Leberecht 380 Iser, Wolfgang 57, 82, 188
531
Jacobsen, Jens Peter 407–409, 417 Jagow, Traugott von 271 Jauß, Hans-Robert 188 Jean Paul 65, 274, 285, 323, 368, 432 Jesenská, Milena 466 Jesus Christus 123, 405 Johannes der Täufer 123, 135, 254, 311 Joung, Philian 32 Joyce, James 55, 181, 368, 384, 386– 387, 442, 450 Jünger, Ernst 60 Just, Klaus Günther 18–19, 21, 62 Kähler, Hermann 20, 44 Kafka, Franz 31, 55, 281, 300, 306, 312, 442, 444 Kaiser, Georg 399, 426 Kaiser, Gerhard R. 37 Kant, Immanuel 49, 89, 91, 94, 101, 106, 144, 163, 233, 320, 395, 437, 466 Kassner, Rudolf 26, 60, 100, 116, 119, 157, 274, 300 Kauffmann, Kai 45 Kauffmann, Robert Lane 24, 68 Kaus, Gina 281–282, 284, 310–312, 347, 385, 466 Kaus, Otto 310–311 Kerr, Alfred (= Alfred Kempner) 101, 182, 208, 218, 255–275, 279, 289, 298, 338, 380 Kesser, Armin 328, 379, 412 Kierkegaard, Søren 109, 113, 116, 298, 444 Kisch, Egon Erwin 181, 284, 312–314, 326, 368 Kiss, Endre 280 Kleist, Heinrich von 1–2, 120, 182, 199, 299, 479 Kloepfer, Rolf 53 Klopstock, Friedrich Gottlieb 294 Köhnke, Klaus Christian 92 Kolb, Annette 281, 302, 307 Kracauer, Siegfried 10, 86–87, 91, 231–232 Kranz, Josef 283–284, 310–312, 347 Kraus, Karl 24, 267, 271, 282–283, 321, 432, 485
532
XV. Personenregister
Kristeva, Julia 43, 47, 50, 52–55, 69, 72, 122 Kucher, Primus-Heinz 40 Kuh, Anton 281 Kulka, Georg 432 Kun, Béla 131 Lachmann, Renate 50, 52 Laermann, Klaus 92, 325 Landwehr, Jürgen 78 Lange, Allert de 385 Lask, Emil 107 Laurin, Arne 133, 218, 312–313, 385 Lazarus, Moritz 89 Lehmann, Jürgen 54–55 Lejeune, Philippe 80 Lenk, Elisabeth 92 Lenz, Jakob Michael Reinhold 282 Lessing, Gotthold Ephraim 6, 14, 66, 426, 454 Lethen, Helmut 485, 487 Lévy-Bruhl, Lucien 244 Lherman, Jo 272, 398–399 Lichtenberg, Georg Christoph 26, 63, 202 Loewy, Hanno 111, 231, 237 Lützeler, Paul Michael 323 Luhmann, Niklas 26 Lukács, Georg 4, 9, 22, 24, 56–57, 68, 75, 81–84, 89, 91, 93, 96, 100–145, 151–152, 155, 191, 220, 229, 232, 243–244, 260, 278, 303, 311, 331, 359, 369, 375, 387, 390, 436–438, 442, 451, 458–461, 464, 466–467 Luserke, Matthias 38, 171 Luckmann, Thomas 437 Lyotard, Jean-François 24, 250 Mach, Ernst 33, 36, 70, 92, 164, 172–173, 175, 179, 187, 195, 202–203, 263–264, 298, 340, 469–470, 479, 493–494 Mae, Michiko 92 Maeterlinck, Maurice 37, 157–158, 274, 314f., 416–418, 424, 427 Mahler-Werfel, Alma 427 Makropouluos, Michael 92
Mallarmé, Stephane 66, 298 Manet, Edouard 300 Mann, Heinrich 134, 300, 414, 443 Mann, Klaus 431 Mann, Thomas 6, 26, 31–32, 72, 113, 161, 381, 431, 450, 468 Mannheim, Karl 45, 63, 103, 132, 169, 226, 466 Mannarini, Lalli 39 Marcovaldi, Annina 275, 306, 311–313, 431 Marschner, Renate M. 33 Masini, Ferruccio 65 Merleau-Ponty, Maurice 485 Meyer, Herman 36, 452 Midgley, David R. 39 Mitterbauer, Helga 280, 307 Monet, Claude 58, 460 Montaigne, Michel de 5, 15, 22–23, 26, 39, 41–42, 60, 115, 203, 318 Monti, Claudia 39 Morgan, C. Lloyd 493–494 Morgenstern, Christian 464 Morgenstern, Soma 130, 132–133, 449, 451 Moritz, Karl Philipp 6 Mühsam, Erich 168 Müller, Georg 135, 281, 293, 300, 328 Müller, Götz 37 Müller, Günther 32 Müller, Robert 75, 130, 246, 274 Müller-Funk, Wolfgang 26–27, 92 Muir, Willa 450 Musil, Martha 281, 306, 313, 328, 351, 377–379, 412, 431, 471 Nadler, Josef 13, 218, 399, 417 Napoleon Bonaparte 85 Neymeyr, Barbara 26 Nielsen, Asta 231 Nietzsche, Friedrich Wilhelm 25–26, 33, 36, 38, 150, 156–157, 164, 275, 320, 411, 416–420, 424, 487 Novalis (= Friedrich von Hardenberg) 26, 109, 157, 275, 417 Orwell, George 352
XV. Personenregister
Pächt, Otto 217, 378–379 Pick, Otto 313 Pieper, Hans-Joachim 33 Pfammatter, René 17–18 Pfeiffer, Peter C. 32 Pfister, Manfred 44, 49–50, 394 Philippe, Charles-Louis 104, 106, 109, 114, 116 Platon 56, 93–94, 97, 115, 119–123, 144, 155, 278, 339, 403, 436–438, 443, 458 Plessen, Victor 351 Plett, Heinrich F. 47 Poincaré, Henri 316 Polgar, Alfred 218, 274, 451, 464 Popoviÿ, Anton 27, 46 Popper, Karl R. 225, Popper, Leo 91, 100, 103–106, 108–112, 115, 121, 123, 127, 135, 359 Pott, Hans-Georg 37, 39 Powy, John Cowper 380 Precht, Richard Daniel 55, 92 Proust, Marcel 55, 59, 72, 181, 368, 384, 386–387 Raabe, Paul 280 Rabelais, François 55 Rathenau, Walther 176, 333, 336, 338, 344, 348, 383, 385, 431, 448 Régnier, Charles 298 Rembrandt 86, 89, 118 Rényi, Edit 466 Réthy, Károly 110 Reuter, Gabriele 449 Rhodes, Cecil John 265 Richter, Werner 449 Rilke, Rainer Maria 33, 70, 134, 294, 300, 330–331, 349, 360, 410–412, 414–417 Robert, Eugen 340 Rodin, Auguste 98, 300 Rohner, Ludwig 15, 17–19, 21–23 Rohrwasser, Michael 40 Rops, Felicien 281 Rosenthal, Otto 431 Rowohlt, Ernst 271, 329, 344, 353, 378, 471 Roth, Marie-Luise 6, 37f., 39, 130 Rychner, Max 351
533
Saul (auch: Saulus und Paulus) 120–121, 125, 152, 154 Schärf, Christian 22–23, 25 Scheffel, Michael 65 Scheffer, Bernd 19, 25 Scheffer, Paul 193, 351 Scheler, Max 298, 302, 349–350 Scherpe, Klaus R. 231 Schickele, René 300, 306 Schiller, Dieter 40 Schiller, Friedrich 83, 119, 185, 233, 438 Schlaffer, Heinz 18, 56, 78 Schlegel, August Wilhelm 282, 460 Schlegel, Friedrich 6, 11, 83, 217, 250, 252, 258, 282, 285, 374 Schmidt, Siegfried J. 392 Schmitt, Carl 275, 279, 282, 302, 310, 320, 340–342, 344, 351, 354, 364 Schmitz, Oscar A. H. 425 Schnitzler, Arthur 399 Schöne, Albrecht 37 Schönwiese, Erich 384 Schopenhauer, Arthur 403, 425 Schütz, Alfred 437 Schwarzwald, Genia 449 Seidler, Irma 108–110 Serres, Michel 321 Shaftesbury 455 Shakespeare, William 287, 339, 400–401 Shaw, George Bernhard 399, 417 Simmel, Georg 4, 9–10, 36, 69–70, 86–107, 109, 115, 117–118, 124, 126–127, 131–133, 135, 139, 144, 184, 228, 232, 237, 345, 347, 363, 390, 459–460, 470, 482, 489–491 Sokrates (auch: Socrates) 56, 61, 118, 121–123, 255, 273, 281, 403 Spengler, Oswald 39, 156, 176, 207–208, 226, 332–333, 337, 361, 423 Spitz, René 466 Stanitzeck, Georg 20 Stefanek, Paul 40 Stein, Heinrich von 464 Steinbach, Bruno 111 Steinthal, Hermann (Heyman) 89 Stendhal 281, 328, 417 Sterne, Lawrence 65, 76, 104, 116, 127–129, 150
534
XV. Personenregister
Sternheim, Carl 281, 299, 306, 310, 399 Stifter, Adalbert 380 Storm, Theodor 109, 116 Suares, André 300 Sudermann, Hermann 338, 426 Swift, Jonathan 55 Swinburne, Charles 385 Thieß, Frank (auch: Thiess) 380–381, 449 Tönnies, Ferdinand 308, 326, 441 Toller, Ernst 402–403 Tolstoi, Lew Nikolajewitsch 409, 417 Toulouse-Lautrec, Henri de 300 Undset, Sigrid 413 Voltaire 454 Walser, Robert 281, 302, 306 Warning, Rainer 79
Weber, Max 102–103, 107, 132, 156, 160, 376, 435 Wedekind, Frank 399, 402 Wedekind, Pamela 431 Wellek, René 466 Werfel, Franz 281, 284, 302, 306, 311–313, 326, 347, 352, 401, 421–429 Wiegler, Paul 261, 300 Wieland, Christoph Martin 6, 65–66, 150, 196, 454 Wildgans, Anton 421–429 Willemsen, Roger 33, 275, 290–291, 325, 332 Windelband, Wilhelm 107 Wolff, Kurt 286, 301–302, 313 Wolffheim, Hans 287 Wuthenow, Ralph-Rainer 19, 21 Ziegler, Leopold von 125 Zola, Emile 464 Zweig, Arnold 300