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German Pages 623 Year 2017
E THIK UND R ECHT Band 3
Richterliche Ethik im Spannungsfeld zwischen richterlicher Unabhängigkeit und Gesetzesbindung Von
Udo Schneider
Duncker & Humblot · Berlin
UDO SCHNEIDER
Richterliche Ethik im Spannungsfeld zwischen richterlicher Unabhängigkeit und Gesetzesbindung
Ethik und Recht Herausgegeben von Wilfried Hinsch und Silja Vöneky
Band 3
Richterliche Ethik im Spannungsfeld zwischen richterlicher Unabhängigkeit und Gesetzesbindung
Von
Udo Schneider
Duncker & Humblot · Berlin
Der Fachbereich für Rechtsphilosophie, Staats- und Verwaltungsrecht der Juristischen Fakultät der Julius-Maximilians-Universität Würzburg hat diese Arbeit im Jahre 2016 als Dissertation angenommen.
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© 2017 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany
ISSN 2363-6807 ISBN 978-3-428-15202-5 (Print) ISBN 978-3-428-55202-3 (E-Book) ISBN 978-3-428-85202-4 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
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Vorwort Die hier vorgelegte Arbeit ist der erste Versuch einer umfassenden Bestandsaufnahme der Diskussion zur „Richterlichen Ethik“ in Deutschland. Sie wird hier seit mindestens 15 Jahren weitgehend durch die Richterinnen und Richter selbst geführt. In sie wurden unterschiedliche Begriffe, Ansätze und Methoden eingeführt, die einer Klärung bedürfen. Richterliche Ethik als wissenschaftliche Beschäftigung mit der Berufsmoral des Richters ist nur mit einer klaren Begrifflichkeit und einer aus der Rechtswissenschaft bzw. der allgemeinen und angewandten Ethik abgeleiteten Methode möglich. Um die Besonderheiten der deutschen Diskussion zur richterlichen Ethik herauszuarbeiten, mussten ausländische Debatten und Ethikkodizes vergleichend herangezogen sowie die normativen Verhaltensanforderungen an den Richter in ihre historische Entwicklung und in die geltende Rechtsordnung eingeordnet werden. Auf dieser Grundlage kann für Deutschland eine richterliche Tugendethik vorgeschlagen werden, die rechtsethisch abgeleitete Haltungen für verschiedene Felder richterlicher Tätigkeit näher bestimmt. Das hier entwickelte Modell einer richterlichen Ethik rührt an den Nerv richterlichen Selbstverständnisses, aber auch einer gelingenden rechtsstaatlichen Rechtsprechung. Es fordert für die Berufsmoral des Richters zwar keine konkreten Pflichten, Ge- oder Verbote, deren Übertretung moralisch sanktioniert werden müssten. Die hier rechtsethisch abgeleiteten Haltungen bewerten vielmehr richterliches Verhalten tugendethisch. Diese Bewertungen können auch anders getroffen werden und stehen gut begründetem Widerspruch offen. Sie bieten jedoch eine reflektierte Grundlage für den weiteren richterethischen Diskurs in der Zukunft. Dass die Debatte um die richterliche Ethik in immer neuen Facetten weitergeht, zeigt die Entwicklung nach Fertigstellung der Arbeit: So konnte das im Wesentlichen Ende Februar 2016 abgeschlossene Manuskript die aktuellen Diskussionen um die Medienöffentlichkeit von Gerichtsverhandlungen, um das Tragen von Kopftüchern durch Richterinnen muslimischen Glaubens oder um ein neues Bewertungsportal für Richter ebenso wenig berücksichtigen wie die Antwort des Bundesministeriums für Justiz und Verbraucherschutz vom März 2016 auf die GRECO-Untersuchung des Europarats, mit der es eine Gesamtübersicht der „Regelungen in Bund und Ländern über das berufsethische Verhalten von Richtern und Staatsanwälten“ vorgelegt hat. Allerdings werden die jüngst diskutierten Probleme in der Arbeit bereits grundsätzlich behandelt und für sie rechtliche bzw. berufsethische Lösungen vorgeschlagen.
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Vorwort
Die Arbeit wurde im Jahr 2016 von der Juristischen Fakultät der Julius-Maximilians-Universität Würzburg angenommen. Meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Horst Dreier, danke ich sehr herzlich für die langjährige Betreuung der Arbeit, seine wertvollen Anregungen und für die zügige Erstellung des umfassenden Erstgutachtens. Herrn Prof. Dr. Helmuth Schulze-Fielitz sei für die schnelle Erstellung des Zweitgutachtens gedankt. Ohne die Diskussion und den Austausch mit richterlichen Kollegen hätte diese Arbeit nicht entstehen können. Ich danke deshalb vielen in- und ausländischen Richterinnen und Richtern, die mich bei zahlreichen Veranstaltungen der Deutschen Richterakademie angeregt haben, über richterliches Handeln und Verhalten vertieft nachzudenken. Nicht vergessen möchte ich aber auch meine richterlichen Vorbilder, die mich bei meiner richterlichen Sozialisation unterstützt haben. Besonders herauszuheben sind die häufigen Gespräche mit Herrn Präsidenten des Thüringer Oberverwaltungsgerichts a. D. Prof. Dr. Hans-Joachim Strauch über richterliches Entscheidungsverhalten. Ihm sei dafür herzlich gedankt. Gleiches gilt für die Hinweise des Präsidenten des Bundesarbeitsgerichts a. D. Prof. Dr. Hellmuth Wißmann. Meiner Tochter, Frau Ref. jur. Jana Schneider, möchte ich herzlich dafür danken, dass sie mich bei der Beschaffung der benötigten Literatur unterstützt hat. Meiner Frau Annette Bach-Schneider verdanke ich neben ihrer dauerhaften Unterstützung und der Ermutigung, die Arbeit nach vielen Jahren tatsächlich (und endlich) abzuschließen, den besonderen – auch psychologischen – Blick auf die hier behandelten Probleme. Sie gab mir auch stets ein Beispiel für den Mut, Unbequemes in angemessener Form auszusprechen. Die Arbeit möchte ich zwei Richtern und einer Richterin widmen, die ihr Amt in ihrer Zeit und an ihrem Ort mehr als „nur“ gewissenhaft erfüllt haben: Thomas Morus (1478–1535), Giovanni Falcone (1939–1992), Kirsten Heisig (1961–2010). Erfurt, Januar 2017
Udo Schneider
Inhaltsverzeichnis A. Richterliche Ethik – Eine Annäherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Macht der Richter und das Vertrauen der Bürger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Gesellschaftliche Ausgangsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Ökonomisierung der Justiz und richterliche Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Motive und Gründe für die Frage nach richterlicher Ethik . . . . . . . . . . . . . . . V. Übersicht über den Gang der Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
19 21 25 32 34 42
B. Richterliche Ethik als Bereichs- und Berufsethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Ethik und Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Begriff und Gegenstand von Ethik und Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ethik als Wissenschaft der Moral und ihre Abgrenzungen . . . . . . . . . . . . a) Ethik als Teil der praktischen Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ethik und die Wissenschaften jenseits der Philosophie . . . . . . . . . . . . c) Ethische Perspektiven aus historischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Teildisziplinen der allgemeinen Ethik: Deskriptive Ethik, Normative Ethik und Metaethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Möglichkeiten und Grenzen der Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Recht, Rechtswissenschaft und Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Recht und Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtswissenschaft und Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Richterliche Ethik als angewandte Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Begriff und Gegenstand der „angewandten Ethik“ oder „Bereichsethik“ 2. Kurzer Abriss zu den Gegenständen der angewandten Ethik . . . . . . . . . . 3. Herausbildung der Bereichsethiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Prinzipien und Methoden der angewandten Ethik und ihre Anwendung auf die richterliche Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Rechtsethik: Ihr Gegenstand und ihre Teilgebiete . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Amtsethos des Richters und richterliche Ethik als Teil der Rechtsethik . a) Abgrenzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Das Problem der Berufsmoral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Rechtliche Verhaltensanforderungen an den Richter und ihre Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Richterliche Professionalität: Kunst, Technik und Qualität . . . . . dd) Richterleitbild und richterliches Selbstverständnis . . . . . . . . . . . . ee) Justiz- und Rechtsprechungslehre, Rechtsprechungstheorie . . . . .
45 45 45 48 48 54 57 58 61 62 63 68 68 68 69 72 73 79 85 86 86 87 89 95 96
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Inhaltsverzeichnis b) Arbeitsethos, Standesethik, Amtspflicht und Amtsethos . . . . . . . . . . . . 97 c) Richterdeontologie und richterliche Tugendethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 d) Berufsmoral und richterliche Ethik: eine Begriffs- und Inhaltsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102
C. Elemente einer deskriptiven richterlichen Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Gegenwärtiger Bestand richterlicher Ethikkodizes außerhalb Deutschlands 1. Internationale Vereinbarungen und Empfehlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Resolutionen der Vereinten Nationen: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Basic principles on the Independence of the Judiciary (1985) . . . bb) Die Prinzipien von Bangalore . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ethikkodizes internationaler Gerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Internationaler Strafgerichtshof in Den Haag (International Criminal Court Code of Judicial Ethics) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) . . . . . . . . c) Internationale Organisationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) International Bar Association . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Internationale Richtervereinigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Lateinamerika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Das Statut der iberoamerikanischen Richter . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Der Modellkodex von 2006 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Principios de Ética Judicial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Asien und Pazifik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Arabische Staaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Ostasiatische Staaten (Beijing Statement of Principles of the Independence of the Judiciary in the LAWASIA Region) . . . . . . . . . f) Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Empfehlung Nr. R (94)12 des Ministerrats des Europarates . . . . . bb) Europäische Charta über die Rechtsstellung der Richter . . . . . . . . cc) Der Europäische Standard richterlicher Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Empfehlung CM/Rec (2010)12 des Ministerrats des Europarates ee) London Declaration on Judicial Ethics . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Nationale Standards richterlichen Verhaltens und Richterkodizes . . . . . . a) Amerika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Kanada . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Lateinamerikanische Staaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Asien, Naher Osten, Australien, Afrika und Ozeanien . . . . . . . . . . . . . c) Die europäischen Staaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Italien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
107 107 108 108 108 110 118 119 120 120 120 121 123 123 124 125 126 126 126 127 128 130 133 140 141 146 146 146 151 156 161 162 164 168
Inhaltsverzeichnis cc) Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Großbritannien, insbesondere England und Wales . . . . . . . . . . . . . ff) Östliche Mitgliedstaaten der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . gg) Russland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Typen richterethischer Kodifizierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Historisch-genetische Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Inhaltlich-kritische Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Inhaltliche Konkretheit und Verbindlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Normcharakter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Implementierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Richterliche Ethik in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Richterliche Berufsmoral in der deutschen Rechtsgeschichte . . . . . . . . . . a) Die Entwicklung in Deutschland bis zum 15. Jahrhundert . . . . . . . . . aa) Rechtsprechungsstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Richterpflichten und -tugenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Entwicklung bis zum 18. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Rechtsprechungsstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Richterpflichten und -tugenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Veränderungen im 19. Jahrhundert bis zur Weimarer Republik . . aa) Rechtsprechungsstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Richterpflichten und -tugenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Die Weimarer Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Rechtsprechungsstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Richterpflichten und -tugenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Die NS-Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Rechtsprechungsstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Richterpflichten und -haltungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Besatzungszeit: 1945 bis 1949 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Westliche Besatzungszonen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Sowjetische Besatzungszone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) DDR 1949 bis 1990 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Rechtsprechungsstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Richterpflichten und -haltungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . h) Bundesrepublik Deutschland nach 1949 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . i) Zusammenfassung: Die historischen Entwicklungsstränge der richterlichen Ethik in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Kein „Wesen“ des Richterberufs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Verrechtlichung der Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9 170 174 177 178 188 190 190 194 194 195 196 196 197 197 199 199 202 206 206 210 218 218 227 234 234 235 239 239 241 246 246 248 249 249 250 252 257 258 258
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Inhaltsverzeichnis cc) Emanzipation vom Beamtenstatus und von der Exekutive . . . . . . 2. Der Stand der Diskussion über die richterliche Ethik in Deutschland . . . a) Der „Richterskandal“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die „skandalöse“ Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Verhalten des Richters im Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Verhalten des Richters außerhalb des Dienstes . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Leitbilddebatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Bilder von Richtern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Diskussion und die Formulierung von Richterleitbildern . . . . c) „Annäherungen“ an eine wissenschaftliche Beschäftigung mit richterlicher Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die Berufsverbände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Richterliche Ethik in der Richterfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Qualitäts- und Ethikzirkel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Richterliche Ethik in der Rechtsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Rechtssoziologische und empirische Erkenntnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Zusammenfassung des Kapitels C. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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D. Elemente einer richterlichen Metaethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Abgrenzung von Recht und beruflicher Moral: Das Grundlagenproblem der richterlichen Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Richterliche Verhaltenssteuerung nur durch Recht oder auch durch Moral? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Recht und Berufsmoral des Richters: Eine Problemexposition . . . . . . . . . II. Der rechtliche Rahmen für richterliches Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verfassungsrechtlicher Rahmen des richterlichen Handelns . . . . . . . . . . . a) Der Richter im Verfassungsgefüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) „Anvertraute“ Rechtsprechungsaufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Treuhänderische Ausübung der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . b) Richterliche Unabhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Rechtsethische Bedeutung der richterlichen Unabhängigkeit . . . . bb) Der Inhalt der richterlichen Unabhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Die innere Unabhängigkeit als berufsethische Herausforderung . . c) Die Gesetzesbindung als Grenze der Unabhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . aa) Unabhängigkeit und Gesetzesbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Das Problemfeld „Gesetzesbindung“: Tatsachenermittlung, Gestaltung des Verfahrens, Rechtsauslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Die Bindung an „Recht und Gesetz“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Methodenwahl, Rechtsauslegung, Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . ee) Grenzen der Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ff) Gesetzesbindung und richterliche Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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287 288 302 302 308 312 318
320 320 322 324 324 324 324 326 328 328 330 333 339 339 341 345 346 351 355
Inhaltsverzeichnis 2. Verfassungsrechtliche Grenzen für eine deontologische Richterethik . . . a) Verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer Richterdeontologie? . . . . . . aa) Ein richterlicher Verhaltenskodex durch die Justizverwaltung? . . bb) Ein richterlicher Verhaltenskodex durch richterliche Gremien? . . . cc) Ein richterlicher Verhaltenskodex durch Gesetz? . . . . . . . . . . . . . . b) Verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer richterlichen Tugendethik . . . 3. Rechtliche Pflichten des Richters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Verfassungsrechtliche Pflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Pflicht zur Unabhängigkeit und Unparteilichkeit . . . . . . . . . . . . . . bb) Pflicht zur Rechtsschutzgewährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Pflicht zur Wahrung der Gewaltenteilung und der Bindung an das Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Pflicht zum fairen Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Wahrung des gesetzlichen Richters und Gewährung rechtlichen Gehörs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Richterliche Pflicht, den gesetzlichen Richter zu wahren . . . (2) Pflicht, rechtliches Gehör zu gewähren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ff) Willkürverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . gg) Pflichten aus dem verfassungsrechtlich abgesicherten Status . . . b) Pflichten des Richters aus dem Dienstverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Allgemeine Amtspflichten aus dem richterlichen Dienstverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Besondere richterrechtliche Pflichten: Eid, Mäßigung, Nebentätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Pflicht zur Ableistung des Richtereids und die aus diesem abzuleitenden Pflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Pflicht zur Mäßigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Weitere richterliche Dienstpflichten, einschließlich des Nebentätigkeitsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Dienstaufsicht und die rechtliche Begrenzung richterlichen Verhaltens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Das Verhältnis des Dienstaufsichtsrechts zur richterlichen Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Justizgewährleistung als maßgeblicher Inhalt richterlicher Dienstpflichten und dienstaufsichtlicher Maßnahmen . . . . . . (3) Vorhalt und Ermahnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Zulässige Bestimmungen richterlicher Dienstpflichten durch die Dienstaufsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Richterliches Disziplinarrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Strafrecht: Strafrechtliche Sanktionierung der Verletzung rechtlicher Amtspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11 360 360 361 361 364 364 365 366 366 367 368 370 372 372 374 375 376 378 379 381 381 393 405 410 410 412 415 416 424 432
12
Inhaltsverzeichnis d) Zivilrecht, insbesondere die Haftung bei Verstößen gegen Amtspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Anfechtung eines gerichtlichen Vergleichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Schadensersatz für Amtspflichtverletzungen und Entschädigung bei überlanger Verfahrensdauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Prozessrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Pflicht zum fairen Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Pflicht zum geordneten Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Pflicht zur Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Aufklärungs- und Hinweispflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Pflicht zur Unparteilichkeit: Befangenheitsregeln . . . . . . . . . . . . . (1) Das Verhältnis des Ausschluss- und Befangenheitsrechts zur richterlichen Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Richterliche Rechtspflichten nach dem Ausschluss- und Befangenheitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Verhalten außerhalb des Verfahrens sowie vorprozessuales Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Verhalten im Verfahren (persönliche Voreingenommenheit) . . ff) Pflicht zur Einhaltung des Verfahrensrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . gg) Verbot des Auftretens als Bevollmächtigter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Weitere rechtliche Amtspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Verbleibender Raum für Berufsmoral und richterliche Ethik jenseits rechtlicher Amtspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Absage an die Notwendigkeit einer Richterdeontologie . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bedarf und Möglichkeiten einer richterlichen Tugendethik . . . . . . . . . . . .
E. Prinzipien einer normativen richterlichen Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Tugendethik als Modell der richterlichen Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Begriff, Struktur und Probleme der Tugendethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das tugendethische Konzept als Modell für eine richterliche Ethik . . . . . 3. Die richterliche „Haltung“ als Gegenstand berufsmoralischer Reflexion a) Richterliche Ethik als „angewandte Ethik“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Problem der „normativen Dichte“ der richterlichen Ethik . . . . . . II. Richterliche Tugendethik und Rechtsgebundenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Problem der Begründung von Richtertugenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Problem der „Rechtsfreiheit“ der richterlichen Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Problemexposition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Versuch einer Lösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Begründung von Richtertugenden aus rechtsethischen Prinzipien . . . . . . . . . 1. Rechtsethische Begründung richterlicher Haltungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) . . . aus dem Zweck und der Funktion seiner Tätigkeit: Wahrung und Verwirklichung rechtsethischer Werte als unabhängiger Entscheider .
438 438 439 445 445 446 446 447 448 448 450 453 456 459 459 459 460 461 464 467 468 468 475 479 479 481 482 482 487 487 488 489 489 490
Inhaltsverzeichnis b) . . . aus der Erwartungshaltung seiner Tätigkeit gegenüber: Vertrauen in die Justiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) . . . aus der richterlichen Verantwortung seiner Aufgabe gegenüber . . . 2. Verhaltensleitende rechtsethische Prinzipien mit richterethischem Gehalt: Rechtstreue, Fairness und innere Unabhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . a) Rechtstreue . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Fairness . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Innere Unabhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Richterliche Kardinaltugenden: Wahrheit und Gerechtigkeit . . . . . . . . . . a) Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Richterliche „Sekundärtugenden“: Sorgfalt, Disziplin, Mut, zugewandte Distanz, Mäßigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Sorgfalt und Disziplin als Haltung der Rechtstreue . . . . . . . . . . . . . . . . b) Mut als Haltung der inneren Unabhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zugewandte Distanz und Mäßigung als Haltung der Fairness . . . . . . . 5. Felder richterethischer Bewährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Haltung gegenüber den Prozessbeteiligten und deren Vertretern . . . . b) Haltungen in und gegenüber der Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Haltung als Richter im politischen Meinungskampf . . . . . . . . . . . . . . . d) Haltung gegenüber den Kollegen und Mitarbeitern . . . . . . . . . . . . . . . . e) Haltung zum Recht und zur „Rechtsidee“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Haltung des Richters zu sich selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Zusammenfassung des Kapitels E. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . F. Mechanismen zur Implementierung und Sicherung ethischen Handelns bei Richtern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Grundvoraussetzungen für die Implementierung richterethischen Verhaltens 1. Sicherung der richterlichen Unabhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Sicherung der persönlichen, personellen und sächlichen Voraussetzungen für die richterliche Aufgabenwahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Richterliche Sozialisation als Prozess tugendethischer Gewöhnung . . . . . . . 1. Die Rechtsausbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die sensible Phase: Der berufliche Einstieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Richterliche Kompensationsstrategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Einzelne Mechanismen der Implementierung und Sicherung . . . . . . . . . . . . . 1. Super- und Intervision als Setting für Selbstreflexion und kollegiale Qualitätssicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Fortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ethiknetzwerke oder -zirkel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Vorform: Qualitätszirkel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ethikzirkel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13
492 492 494 495 499 501 504 504 507 510 510 510 511 512 513 517 523 526 528 540 544 545 546 546 547 549 549 550 552 552 552 554 556 556 557
14
Inhaltsverzeichnis c) Ethiknetzwerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Ethikrat, -komitee, -kommission, -beauftragter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Herkömmliche Formen von Ethikkommissionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Übertragung auf den richterlichen Bereich? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ausländische Vorbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Kanada . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Ungarn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Richterlicher Ethikrat für Deutschland? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Ethikkodex und Ethikrüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ethikkodex . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Modelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Vor- und Nachteile eines richterlichen Ethikkodex für die Implementierung ethischen Verhaltens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Nachteile, Schwierigkeiten und Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Vorteile und Gewinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Prozess der Entstehung und Formulierung von Ethikkodizes . . . . ee) Zusammenfassung der eigenen Position . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ethikrüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Compliance-Management-System (CMS) in der Justiz? . . . . . . . . . . . . 6. Überwachung der Nebentätigkeit von Richtern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Richterliche Ethik und Disziplinarrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
558 558 559 560 561 561 562 562 563 564 565 565 565 567 567 570 573 574 575 577 578 578 578
G. Thesen der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Gegenstand richterlicher Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Deskriptive richterliche Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Methaethische Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Normative richterliche Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Implementierung richterlicher Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
580 580 581 583 583 584
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 585 Sach- und Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 617
Abkürzungsverzeichnis Die verwendeten Abkürzungen orientieren sich an den Vorgaben von Kirchner, Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache, 7. Aufl. Berlin 2013. Auf folgende Abkürzungen wird besonders hingewiesen: AcP AEM ANM AnwBl. AöR ARSP Art. Aufl. BayVBl. BDVR BGBl. BJ BRAK BT-Drs. BVerfG (K) BWVPr CCJE CSM ders./dies. Dig. DJZ DöD DÖV DRB DRiZ Drs.Nr. DRZ DStR Dt. DVBl. C. Cdd
Archiv für civilistische Praxis Association Europeenne des Magistrats Associazione Nationale Magistrati (italienische Vereinigung der Richter und Staatsanwälte) Anwaltsblatt Archiv des öffentlichen Rechts Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Artikel Auflage Bayerische Verwaltungsblätter Bund deutscher Verwaltungsrichterinnen und -richter Bundesgesetzblatt Betrifft Justiz Bundesrechtsanwaltskammer Bundestagsdrucksache Kammerbeschluss des Bundesverfassungsgerichts Baden-Württembergische Verwaltungspraxis Consultative Council of European Judges Consiglio Superiore della Magistratura derselbe, dieselbe Digesten Deutsche Juristen-Zeitung Der öffentliche Dienst Die öffentliche Verwaltung Deutscher Richterbund Deutsche Richterzeitung (ab 1950) Drucksachen-Nummer Deutsche Richterzeitung (1909–1935) Das deutsche Steuerrecht deutsch Deutsches Verwaltungsblatt Canon Codice de deontologia (Italien)
16 E+Z EAJ ENCJ EuGRZ EWS ff. Fn. GA GBl. GRECO GVBl. Hrsg. Jg. JJG JuS JZ KritJ KritV MDR MEDEL MHR Mitt. MünchKomm m.w. N. n. F. NJ NJOZ NJW NRB NRV NRV-Info NRWVBl. NVwZ ÖsterrRZ PB PersV Pl. RdA Rdnr. RGBl. RiA RuP
Abkürzungsverzeichnis Entwicklung und Zusammenarbeit European Association of Judges (Europäischen Richtervereinigung) European Network of Councils for the Judiciary Europäische Grundrechte-Zeitschrift Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht fortfolgende Fußnote Goltdammer’s Archiv für Strafrecht Gesetzblatt Group of States against corruption (Europarat) Gesetz- und Verordnungsblatt Herausgeber Jahrgang Justice–Justiz–Giustizia (Schweizer Richterzeitung) Juristische Schulung Juristenzeitung Kritische Justiz Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft Monatsschrift für deutsches Recht Magistrats Européens pour la Democratie et les Libertés Mitteilungen des Hamburgischen Richtervereins Mitteilung(en) Münchner Kommentar mit weiteren Nachweisen neue Folge Neue Justiz Neue Juristische Online-Zeitung Neue Juristische Wochenschrift Niedersächsischer Richterbund Neue Richtervereinigung Informationen der Neuen Richtervereinigung Nordrhein-westfälische Verwaltungsblätter Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Österreichische Richterzeitung Principles of Bangalore Die Personalvertretung Plural Recht der Arbeit Randnummer Reichsgesetzblatt Das Recht im Amt Recht und Politik
Abkürzungsverzeichnis Rz. S. SächsVBl. SBZ SchlHAnz. Schl.Hol. RV Sp. StAnz. ThürVBl. VBlBW Verdikt Verf VerwArch vgl. Vorbem. VVDStRL WissR ZBR zfwu ZG ZIS zit. ZNR ZRP
17
Randzeichen Seite Sächsische Verwaltungsblätter Sowjetische Besatzungszone Schleswig-Holsteinische Anzeigen (Justizministerialblatt für SchleswigHolstein) Schleswig-Holsteinische Richtervereinigung Spalte Staatsanzeiger Thüringer Verwaltungsblätter Verwaltungsblätter für Baden-Württemberg Mitteilungen der Fachgruppe Richterinnen und Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte in ver.di Verfassung Verwaltungsarchiv vergleiche Vorbemerkung Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Wissenschaftsrecht, Wissenschaftsverwaltung, Wissenschaftsverwaltung Zeitschrift für Beamtenrecht Zeitschrift für Wirtschafts- und Unternehmensethik Zeitschrift für Gesetzgebung Zeitschrift für internationale Strafrechtsdogmatik zitiert Zeitschrift für neuere Rechtsgeschichte Zeitschrift für Rechtspolitik
A. Richterliche Ethik – Eine Annäherung* Warum „richterliche Ethik“? Warum diese spezielle Frage nach Ethik? Warum jetzt die Frage nach richterlicher Ethik? Haben Richter in Deutschland Anlass gegeben, dass ihr berufsmoralisches Handeln hinterfragt wird? Gab es Vorfälle, die eine notwendige und kritische Analyse ihres Handelns verlangen? Bietet das Recht nicht genug Handhabe, verfehltes richterliches Verhalten zu korrigieren und zu sanktionieren? Warum daneben auch noch ein Moraldiskurs? Der Sinn der Frage nach und der Etablierung einer richterlichen Ethik lässt sich nur beantworten, wenn geklärt ist, warum sie als drängend empfunden wird. In dieser Einleitung soll dem nachgegangen werden. Dabei soll deutlich werden, warum (auch) in Deutschland seit einigen Jahren das Thema „richterliche Ethik“ nicht nur einen besonderen Stellenwert erhalten hat1, sondern es sogar zu einer „Inflation“ dieses Diskurses gekommen ist. Als allgemeines Phänomen lässt sich feststellen, dass sich gerade Richter selbst in diese Debatte nicht nur einschalten, sondern sie ausgelöst haben, forcieren und sie nicht den universitären und außeruniversitären Fachleuten, Philosophen, insbesondere Moral- und Rechtsphilosophen, Psychologen, Soziologen etc. überlassen. Da sich „in philosophischen Dingen fast jeder für urteilsfähig hält“ 2, verläuft die Debatte allerdings zuweilen unstrukturiert und – im wissenschaftlichen Sinne – unreflektiert. Auf der anderen Seite ist der Beitrag der Richter in dieser Debatte notwendig3. Sie sind täglich mit den moralisch-ethischen Anforderungen und Gefahren ihres Berufs konfrontiert und kennen die „Verborgenheiten“ ihres Handelns, die informellen Codes und – in lichten Momenten und
* Die Fußnotenzählung beginnt für jedes Kapitel neu. Das Kapitel, in dem eine Quelle erstmals bezeichnet wurde, wird bei den Querverweisen durch A. bis F. gekennzeichnet. Die Bezeichnung „Richter“ wird als Funktionsbezeichnung verwendet, womit keine Geschlechtszuordnung verbunden ist. 1 Die Diskussion intensivierte sich in Deutschland erst seit 2003: vgl. B. Krix, Richterliche Ethik. Stand der Diskussion in Deutschland, Schlw.-Hol. RichterV, info 1/2006, S. 6, die zu diesem Zeitpunkt den Stand der Debatte als „Vorstadium eines Anfangs“ bezeichnet. 2 K. Jaspers, Einführung in die Philosophie, München 1959, S. 10. 3 H. Jung, Richterbilder. Ein interkultureller Vergleich, Baden-Baden 2006, S. 126, hält diese Diskussion für eine Aufgabe richterlicher Selbstverantwortung. Vgl. hierzu auch K. Bayertz, Praktische Philosophie als angewandte Ethik, in: ders. (Hrsg.), Praktische Philosophie. Grundorientierung angewandter Ethik, Reinbek 1991, S. 43 f., der als Philosoph darauf hinweist, dass die angewandte Ethik auf Interdisziplinarität angewiesen ist.
20
A. Richterliche Ethik – Eine Annäherung
gespiegelt durch Außenstehende – die blinden Flecken ihrer Sicht auf die Welt und ihres Handelns. Allerdings ist bei näherer Prüfung mancher Beiträge von Richtern, die Gefahr eines rational fragwürdigen Moraldiskurses ohne Rückgriff auf die Aufklärungsleistungen und Reflexionen der philosophischen Ethik und der Rechtswissenschaft nicht von der Hand zu weisen. Es werden daher zur Verwissenschaftlichung der Debatte eine Fülle von Einzelproblemen zu klären, Begriff zu schärfen und grundsätzliche Abgrenzungen, insbesondere eine Abgrenzung zu den bestehenden rechtlichen Handlungspflichten des Richters, vorzunehmen sein, um Inhalt, Gegenstand und letztlich die politische und gesellschaftliche Relevanz dieses Themas zu erfassen. Als ein „experienced participant in my reflective moments“ 4, also als Richter mit langjähriger Erfahrung in verschiedenen richterlichen Aufgaben und ausgerüstet mit den durch Rechtswissenschaft und philosophische Ethik zur Verfügung stehenden Methoden, will ich mit dieser Arbeit auf die zu Beginn aufgeworfenen Fragen bislang gegebenen Antworten kritisch und wissenschaftlich reflektieren sowie die sich hieraus ergebenden Schlussfolgerungen für die Bedingungen, Möglichkeiten und vor allem Grenzen einer richterliche Ethik ziehen. Motivierend war dabei in besonderer Weise die – nicht seltene – schmerzliche Erfahrung und Beobachtung, dass das – hier noch als Konstrukt vorausgesetzte – richterliche Ethos von Richtern verletzt wurde und wird. Auf die Frage, warum „richterliche Ethik“ zum Problem wurde, können unterschiedliche Antworten gegeben werden. Zunächst liegt es – und so soll der Gang der Überlegungen in diesem Kapitel sein – nahe, den Grund unmittelbar in der Aufgabe und Funktion des Richters selbst zu suchen (I.). Bettet man diese Aufgabe in ihre kulturellen und politisch-ökonomischen Rahmenbedingungen ein, erhält der Blick auf die Frage nach richterlicher Ethik zusätzliche Weite und zugleich Schärfe (II.). Es sind schließlich aktuelle Entwicklungen im Bereich der Justiz festzustellen, die die Verunsicherung des richterlichen Personals und die dadurch ausgelöste Suche nach ethischen Antworten verständlich machen (III.). Aufschlussreich sind auch die in der Debatte erkennbaren Motive und gegebenen Gründe für die „Fragwürdigkeit“ der richterlichen Ethik. Sie sollen herausgearbeitet und daraufhin befragt werden, welche ihrem Gegenstand gerecht werden und welche nicht (IV.). Dies leitet über zu einer Übersicht über den Aufbau und die Fragestellungen der vorliegenden Arbeit (V.).
4 Zitiert nach H. Jung, Richterbilder (Fn. 3/A.), S. 12, unter Bezugnahme auf Burns, The Distinctiveness of Trial Narrative, in A. Duff et al., The Trial on Trial, 2004, Vol. 1 S. 157. A. Vieth, Einführung in die Angewandte Ethik, Darmstadt 2006, S. 33 f., zeigt die Notwendigkeit der Zusammenführung von spezifischen Sachverstandes des jeweiligen Handlungsbereichs und der wissenschaftlich-ethischen Durchdringung als Besonderheit der angewandten Ethik auf.
I. Die Macht der Richter und das Vertrauen der Bürger
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I. Die Macht der Richter und das Vertrauen der Bürger Die Reflexion über die Notwendigkeit einer richterlichen Ethik hat unmittelbar bei der Aufgabe und Funktion des Richters selbst zu beginnen. Der Zusammenhang zwischen Rechtsprechung, Macht und Verantwortung des Richters wird daher häufig an den Beginn der Überlegungen zur richterlichen Ethik gestellt5. Die Macht der Richter6, die aus seiner schiedsrichterlichen Entscheidungsgewalt im Rechtsstreit, den „Spielräumen“ bei der Rechtsanwendung und der Verbindlichkeit seiner Entscheidungen erwächst, ist aus verfassungstheoretischen und -politischen Gründen rechtfertigungsbedürftig7. Es konnte daher nicht aus5 Anders als oft behauptet (vgl. etwa R. Lamprecht, Die Lebenslüge der Juristen – Warum Recht nicht gerecht ist, München 2008), sprechen und schreiben Richter seit langem von ihrer Macht: vgl. R. Wassermann, Die richterliche Gewalt. Macht und Verantwortung des Richters in der modernen Gesellschaft, Heidelberg 1985, stellt die „Macht“ und „Verantwortung“ in den Mittelpunkt seiner Untersuchung zur Stellung des Richters. Vgl. außerdem A. Arndt, Das Bild des Richters (1956), in: ders., Gesammelte Juristische Schriften, München 1976, S. 334; G. Hirsch, Auf dem Weg zum Richterstaat?, JZ 2007, S. 853; O. R. Kissel, Die Justiz im Dienst des Menschen – Die Ethik des Richters – DRiZ 1991, S. 269; E. Kreth, Zur Ethik richterlichen Verhaltens, in: KritV 2008, S. 476; W. Geiger, Die Rolle des Richters unter den gegenwärtigen Bedingungen unserer freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie, DRiZ 1982, S. 321; R. Wrege, Eckpunkte einer Rahmentheorie richterlicher Ethik, MHR 4/2006, S. 16 f., leitet – wie selbstverständlich – das Bedürfnis nach einer richterlichen Ethik aus der „Machtstellung“ des Richters und der letztlich nicht umfassenden gesetzlichen Steuerung seines Handelns ab. Soweit die Erhaltung des „Vertrauens“ in die Justiz als maßgebliches Motiv für die richterethische Diskussion bezeichnet wird, spiegelt sich darin nur die Gefahr des „Misstrauens“ gegenüber der Macht der Richter. Vgl. etwa S. Gass, Richterethik/ Richterdeontologie – Überlegungen zu einer Rechtstheorie, S. 125; Y. Morigiwa, Die philosophischen Grundlagen der Richterethik, in: SchlHAnz. 2009, S. 111 f. 6 O. Bülow, Gesetz und Richteramt, Leipzig, 1885; Neudruck, Berlin 2003, S. 4, zeigt diese Seite richterlichen Handelns bereits zu Beginn der intensiven Diskussion um das Verhältnis von Gesetz und Richterspruch auf. O. Bachof hält in: Grundgesetz und Richtermacht, Tübingen 1959, S. 9 ff., die umfangreiche richterliche Kontrollmacht für ein besonderes Merkmal des Grundgesetzes. Rüthers meint dagegen, gerade Richter würden ihre Machtausübung „leugnen oder kleinreden“, FAZ v. 17.06.2010, S. 7. E. Markel, Richterethos – Unabhängigkeit. Ein modernes Richterbild, in: ÖsterrRZ 2003, S. 168, ist der Auffassung, die richterliche Macht sei zu zersplittert, um wirksam sein zu können. Außerdem sei sie durch die anderen Gewalten gefährdet. Vgl. auch: A. Wagner, Der Richter – Geschichte, Aktuelle Fragen, Reformprobleme, Karlsruhe 1959, S. 4 ff. dagegen: R. Lamprecht, Über das Dasein und Sosein der deutschen Richter, Baden-Baden 1995, S. 15; A. Titz, Richterliche Ethik – Wie gefährlich ist die Schriftlichkeit? in: DRiZ 2009, S. 348. J. Limbach hat nicht die geringsten Bedenken vom „Machtfaktor“ Bundesverfassungsgericht zu sprechen in: „Im Namen des Volkes“. Macht und Verantwortung der Richter, Stuttgart 1999, S. 127 ff. Aus anwaltlicher Sicht: B. Heussen, Richterliche Berufsethik aus der Sicht eines Rechtsanwalts, in: NJW 2015, S. 1927, 1928. 7 H. Dreier, Rechtsethik und staatliche Legitimität, in: Universitas. Zeitschrift für interdisziplinäre Wissenschaft, 48. Jg. (1993), Nr. 562, S. 383, greift noch weiter, wenn er darauf hinweist, dass in der Neuzeit bereits Herrschaft selbst – und damit jede Ausgestaltung herrschaftliche Gewalt – rechtfertigungsbedürftig ist; zum Problem der de-
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bleiben, dass sie in den Fokus des generell intensivierten Ethikdiskurses geraten ist. Die zunehmende ethische Diskussion, insbesondere im technisch-naturwissenschaftlichen Kontext, hat auch zur Herausbildung von Bereichsethiken in anderen, gesellschaftlich bedeutsamen Berufsfeldern geführt, die wiederum auf die ethische Reflexion richterlichen Handelns zurückgewirkt haben8. Hier wie dort wird wegen der Ausübung von Macht und zur Steuerung der wachsenden Machbarkeit die Rückbindung an Werte gefordert. Deshalb gilt: „Ethik hat Konjunktur“ 9 – auch für die richterliche Ethik10. Diese Wechselwirkungen zwischen allgemeiner und spezieller Ethik sowie zwischen speziellen Ethiken lassen sich im nationalen, aber auch über- und internationalen Kontext beobachten und sollen auch hier näher untersucht werden11. Die speziellen Anfragen an das moralische Verhalten des Richters ergeben sich dabei vornehmlich aus seiner besonderen Stellung und Aufgabe im Gemeinwesen: Das Bedürfnis nach Reflexion über richterliche Ethik erwächst direkt aus den Wirkungen der Rechtsprechungstätigkeit selbst. Richterliches Handeln steht unter einem besonderen Rechtfertigungsbedürfnis, weil es auf die Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols gerichtet ist12. Es zielt regelmäßig auf einen zu vollstreckbaren Titel. Rechtsverwirklichung durch Vollstreckung steht damit in Beziehung zu Zwang und Gewalt13. Geordnetes menschliches Zusammenleben, Regelunsicherheit, willkürliche Übergriffe des jeweils „Stärkeren“ oder Gewalt-
mokratischen Legitimation des Richter als Voraussetzung legitimer Herrschaftsausübung: A. Voßkuhle/G. Sydow, Die demokratische Legitimation des Richters, in: JZ 2002, S. 673 ff., die von ihnen als „prekär“ angesehen wird; vgl. auch A. Tschentscher, Demokratische Legitimation der dritten Gewalt, Tübingen 2006, der die Legitimationsformen im Einzelnen untersucht. Wesentliches Element dauerhafter Legitimation richterlicher Herrschaftsausübung muss danach die richterliche Tätigkeit selbst sein, die der Gesetzesbindung, aber auch der pflichtgemäßen Berufsausübung im weiteren Sinne gerecht wird. 8 Vgl. B. III. 4. 9 U. Baltzer, Das Gespenst „richterliche Ethik“, in: KritV 2008, S. 482 ff. spricht wie H.-E. Böttcher, Regeln für „Richterliche Ethik“, in: verdikt, 2004, S. 18 ff. vom „Gespenst“ richterliche Ethik, das umgehe; vgl. P. Häberle, Ethik im Verfassungsstaat, in: R. Schmidt/D. Merten/R. Stettner (Hrsg.), Der Verwaltungsstaat im Wandel, Festschrift für F. Knöpfle, 1996, S. 119; Kissel, Ethik (Fn. 5/A.), DRiZ 1991, S. 269. 10 F. Wittreck, Funktionen und Leistungen richterlicher Ethik, in: Verein Deutscher Verwaltungsgerichtstag (Hrsg.), 17. Deutscher Verwaltungsgerichtstag Münster 2013, Stuttgart 2014, S. 273. 11 Vgl. unten C. I. 12 Titz, Schriftlichkeit (Fn. 6/A.), DRiZ 2009, S. 348, stellt auf die Ausübung der „Staatsgewalt“ ab. M. Rheinstein, Wer wacht über die Wächter? in: JuS 1974, S. 409 f., der die Gefahr für die Freiheit der Bürger durch den mit Hilfe des Rechts Macht ausübenden Richter beleuchtet. 13 Rheinstein, Wächter (Fn. 12/A.), JuS 1974, S. 409. Zu Recht stellt G. Steinberg im Titel seiner Monographie folgende Beziehung her: „Richterliche Gewalt und persönliche Freiheit“, Frankfurt 2010.
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erfahrungen14 erfordern die in der Hand staatlicher Organe monopolisierte Sicherung der individuellen Freiheit, der öffentlichen Ordnung und des Friedens nach allgemeinen Regeln, also des Rechts. Der Rechtsfriede wird aber letztlich durch Zwang als „kultivierte“, d.h. verhältnismäßige Antwort des Staates auf den Bruch der geltenden Regeln bzw. des in ihnen verkörperten Friedens hergestellt. Dieser Zwang als sublime oder auch tatsächliche Gewalt15, die in letzter Konsequenz auf die Unterwerfung unter das Recht gerichtet ist, führt dabei häufig nicht unmittelbar zu Frieden16, sondern zur bloßen Ruhe und bringt das handelnde Personal – und damit die Richter – mit im Kern gewalttätigem Handeln in Beziehung. Diese zur Sicherung des Rechtsfriedens gewollten Folgen seines Handelns verschaffen ihm Macht, führen aber gleichzeitig zu den mit ihr verbundenen Gefahren. Solche haben sich in der Vergangenheit auch realisiert: Dass gerade Richter für totalitäre Systeme auf deutschem Boden staatliche Gewalt ausgeübt und dabei Grund- und Menschenrechte mit Füßen getreten haben17, zeigt die Instrumentalisierbarkeit ihrer Macht und erfordert deshalb die dauerhafte Bindung ihrer Tätigkeit an humane Prinzipien des Rechtes und der Moral. Die Forderung liegt daher nahe, das Verhalten des Richters im Verfahren, das dem Zwang vorausgeht und die Grundlagen für den vollstreckbaren Titel schafft, nicht nur rechtlich zu reglementieren, sondern wegen der Rechts- und Methodenunsicherheit18, des daraus folgenden Handlungsspielraums des Richters sowie der nicht allein objektiven Tatsachenfeststellung und Rechtsfindung auch ethisch zu fundieren und zu begrenzen19. Manche Autoren sehen daher in der moralischen Rückbindung des Richters einen wesentlichen Anker dafür, dass richterliche Macht die „Zügel nicht abstreift.“ 20 Der Richter ist zudem im Erkenntnisverfahren Dolmetscher des Gesetzgebers, wobei er selbst dessen Sprache zuweilen nur ungenau versteht. Der Bürger erfährt im Streitfall vom Entscheider, was „das Recht“ für ihn konkret bedeutet. Ist das Recht aber unübersichtlich – wie etwa im Steuerrecht – oder offen – wie im Arbeitsrecht – fühlt sich der Bürger der Rechtsanwendung nicht selten ausgeliefert21 und er befürchtet Willkür. Der Richter wird in seinem Verhalten bearg14 O. R. Kissel, Justiz zwischen Anspruch und Wirklichkeit, in: DRiZ 1987, S. 306, zur Zunahme individueller und politischer Gewalt. 15 Vgl. Vossenkuhl, Art. Gewalt, in: O. Höffe (Hrsg.), Lexikon der Ethik, 7. Aufl., München 2008, S. 108 ff. 16 Vossenkuhl, Art. Friede, in: O. Höffe, Lexikon (Fn. 15/A.), S. 88 ff. 17 Siehe nur I. Müller, Furchtbare Juristen. Die unbewältigte Vergangenheit unserer Justiz, München 1987; H. Sendler, Der Rechtsstaat im Bewusstsein seiner Bürger, in: NJW 1989, S. 1769 f. 18 Kissel, Ethik (Fn. 5/A.), DRiZ 1991, S. 269. 19 Morigiwa, Philosophische Grundlagen (Fn. 5/A.), SchlHAnz. 2009, S. 111. 20 Geiger, Rolle (Fn. 5/A.), DRiZ 1982, S. 321; R. Wassermann, Macht ohne Verantwortung? Zur Richterethik in der pluralitären Gesellschaft, in: DRiZ 1986, S. 204. 21 Wittreck, Funktionen (Fn. 10/A.), S. 275.
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wöhnt, und das Vertrauen in das Recht und den Richter leidet22. Die daraus folgenden Erwartungshaltungen des verunsicherten Bürgers stellen besondere Anforderungen an den Richter im Verfahren, die nicht immer rechtliche, sondern psychologische und solche der Sozialkompetenz sind. Diese Anforderungen berühren gleichzeitig Fragen der Berufsmoral: Der Bürger erlebt, wie Recht auf seine Person hin „gefunden“ wird. Er nimmt wahr, ob und wie der Richter als Repräsentant des Rechtsstaates in einen Dialog mit ihm eintritt – oder nicht. Er kann sich als mündiger Staatsbürger erleben oder als Objekt, für den und an dem Recht vollzogen wird. Er kann einen um „die Geschichte“ der Partei bemühten, ausgleichenden oder einen hochfahrenden, einseitigen Richter erleben. Er erwartet in jedem Fall einen Akteur des Staates, der keinem sachfremden Willen dient und in einem rationalen Verfahren den Sinn abstrakt-genereller Normen sachgerecht auf seinen Konflikt anwendet. Dies alles zeigt die andere „Macht“ des Richters auf, nämlich die Partei in einem fairen Verfahren für den Rechtsstaat zu gewinnen oder sie von ihm abzustoßen23. Das dieser Aufgabe angemessene Verhalten des Richters wird zwangsläufig zum Gegenstand seiner Berufsmoral, weil hiervon das Vertrauen in ihn und die Rechtsprechung insgesamt abhängt24. In besonders Weise handgreiflich wird die „Macht der Richter“ in der Funktion der Verfassungsrichter. Sie greifen in die politische Sphäre mit den Mitteln des Verfassungsrechts ein, das selbst im Grenzbereich zwischen Recht und (Staats-)Politik liegt. Die Angst vor dem „Rechtsprechungsstaat“, „Rechtswegestaat“ und „Richterstaat“ 25 sowie dem entfesselten „Richterrecht“ 26 verunsichert politische Akteure wie Bürger, die vom Vorrang der demokratischen Entscheidungsverfahren und entsprechend legitimierten Regeln ausgehen27. Deshalb stehen hier besondere Fragen richterlicher Ethik im Raum, die insbesondere zu dem 22
H.-J. Wipfelder, Wertewandel und Rechtsbewusstsein, in: DRiZ 1991, S. 312; ders., Der Richter – ein Bürger wie jeder andere? in: DRiZ 1987, S. 117. 23 Wipfelder, Bürger (Fn. 22/A.), DRiZ 1987, S. 118 f.; ders., Die richterliche Unabhängigkeit und ihre Gefährdung durch die praktische Politik, in: DRiZ 1984, S. 41. 24 Titz, Schriftlichkeit (Fn. 6/A.), DRiZ 2009, S. 348. 25 B. Rüthers, Demokratischer Rechtsstaat oder oligarchischer Richterstaat? in: JZ 2002, S. 365 ff. H. H. Rupp, Die Bindung des Richters an Gesetz und Verfassung, in: NJW 1973, S. 1770, dagegen meint, die Macht der Richter schwinde in einem technokratisch-administrativen Planungsstaat. 26 R. Marcic, Vom Gesetzesstaat zum Richterstaat, Wien 1957, S. 452, sah diese Entwicklung nach dem Krieg aufgrund seines überschwänglichen Zutrauens zu unabhängigen Richtern, die im konkreten Fall „materiale Gerechtigkeit“ üben (vgl. S. 190 f., S. 241 ff.), eher mit Hoffnung und freudiger Erwartung. Später ist diese Erwartung abgekühlt: Wipfelder, Wertewandel (Fn. 22/A.), DRiZ 1991, S. 313; ders., Bürger (Fn. 22/ A.), DRiZ 1987, S. 117; H. Maier, Dritte Gewalt und Grundgesetz – nach vierzig Jahren, in: NJW 1989, S. 3202 ff. zur Stellung und „Entfesselung“ der rechtsprechenden Gewalt unter der Geltung des Grundgesetzes. 27 Vgl. zu den insoweit besonders konfliktträchtigen Normenkontrollverfahren die Kernprobleme zusammenfassend: U. Steiner, Der Richter als Ersatzgesetzgeber, in: NJW 2001, S. 2919.
II. Gesellschaftliche Ausgangsbedingungen
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Stichwort der richterlichen Zurückhaltung („judical self restraint“) führen, die kein Rechtsbegriff, sondern berufsmoralische Haltung ist28. Aber auch jeder Fachrichter, vor allem in der Verwaltungs-, Sozial- und Finanzgerichtsbarkeit, übt in seiner Entscheidung im Recht geronnene Macht mit letztlich politischem Charakter aus29. Diesen Gerichtsbarkeiten wurde daher bei vermeintlicher oder tatsächlicher „grenzenloser“ Auslegung schon vorgeworfen, sie stellten die Verwaltung unter einen im Grundgesetz nicht gewollten „totalen Richtervorbehalt“ 30 und destruierten damit den Grundsatz der Gewaltenteilung. Die Probleme spitzen sich besonders zu, wenn Richter im Rahmen der Gesetzesinterpretation und -anwendung von bisher überwiegend geteilten Auffassungen abweichen und scheinbar eine „Umwertung bisheriger Werte“ vornehmen31. Richter werden dann als „politisierende“ Richter empfunden32 und nicht selten als solche beschimpft. Die Grenze im konkreten Fall zu ziehen und einzuhalten zwischen dem „Politiker in Robe“ und dem – ebenso unerwünschten – „Rechtstechniker“ führt zu rechtlich kaum erfassbaren Verhaltensanforderungen an den Richter, die damit auf seine Berufsmoral verweisen. Schließlich ist in den neuen Bundesländern oder in den mittel- und osteuropäischen Mitgliedstaaten der Europäischen Union eine besondere Sensibilität und Verhaltenserwartung der von den politischen Veränderungen Betroffenen gegenüber den Richtern festzustellen. Der Richter, früher Funktionär der herrschenden Partei33, steht unter besonderer Beobachtung: Ist er unparteilich und unabhängig, wie eng sind seine Beziehungen zu den jeweils Herrschenden, sind seine Vorstellungen von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit – den gemeinsamen Wurzeln von Recht und Moral – mit dem im früheren System Erlernten in Deckung zu bringen? Diese Erwartungen stellen besondere Anforderungen an die Berufsmoral der dort tätigen Richter.
II. Gesellschaftliche Ausgangsbedingungen Recht ist Spiegel und Bewältigungsmittel der im Staat und der Gesellschaft vorherrschenden Konflikte und dient ihrer geordneten Lösung. Versteht man Recht als verbindlich gesetzte politische Entscheidung dieser Konflikte, tritt der Richter bei der Rechtsanwendung mit dem herrschenden politischen Willen in 28
Kissel, Die Grenzen der rechtsprechenden Gewalt, in: NJW 1982, S. 1779. Zu den sich daraus ergebenden Problemen: H. Sendler, Zur Unabhängigkeit des Verwaltungsrichters, in: NJW 1983, S. 1450. 30 Kissel, Grenzen (Fn. 28/A.), NJW 1982, S. 1781. 31 Wassermann, Macht (Fn. 20/A.), DRiZ 1986, S. 201. 32 Wipfelder, Wertewandel (Fn. 22/A.), DRiZ 1991, S. 313. 33 Nach Art. 94 Verf-DDR konnte Richter nur sein, „wer dem Volk und seinem sozialistischen Staat treu ergeben“ war. Vgl. auch unten C. III. 1. g). Wipfelder, Wertewandel (Fn. 22/A.), DRiZ 1991, S. 313 f. 29
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A. Richterliche Ethik – Eine Annäherung
Beziehung. Damit ist die Tätigkeit des Richters zwangsläufig eingebettet in die kulturellen und politisch-ökonomischen Konfliktlagen seiner Zeit. Diese Einbindung führt bei der gleichzeitigen Annahme überzeitlicher Gerechtigkeitserwartungen und -vorstellungen in Dilemmata, die letztlich auf rechtsethische Fragen verweisen. Die maßgeblichen Ausgangsbedingungen seien kurz skizziert: Der rasante Erkenntniszuwachs in den Naturwissenschaften eröffnet die Möglichkeit neue Techniken zu entwickeln und im großen Maßstab zur Anwendung zu bringen34. Der tatsächliche Umsetzungsprozess führt wiederum zu grundlegenden ökonomischen, sozialen und politischen Veränderungen. Die Kehrseite des technischen Fortschritts zeigt sich im Umgang mit der Natur, beim Kampf um knapper werdende Ressourcen, mit sozialen und ökonomischen Umgruppierungen und Verwerfungen in der Makro- und Mikrostruktur der Gesellschaft35. Diese Wandlungen sind außerdem international vernetzt in ökonomischen, ökologischen und sozialen Zusammenhängen, eben der Globalisierung36. Auf dem Feld der Moral und der sie reflektierenden Ethik führen diese wissenschaftlichtechnischen Erweiterungen der menschlichen Handlungsmöglichkeiten – abstrakt und kurz beschrieben – zu weitreichenden Veränderungen und Herausforderungen37. Neue Techniken übersteigen hinsichtlich der möglichen Folgen bei ihrer Anwendung in eminenter Weise die Überschaubarkeit in räumlicher und zeitlicher Hinsicht. Der Einsatz, insbesondere die Gefahren moderner Techniken und der durch sie einmalig ausgelösten Vorgänge können zu völliger Unumkehrbarkeit führen. Sie haben zudem teilweise einen sich gegenseitig verstärkenden Charakter, d.h. sie erfassen zum einen nahezu alle Lebensbereiche oder die einzelnen Techniken werden untereinander vernetzt und potenzieren damit die möglichen Handlungsfolgen. Für die neuen Handlungsoptionen und die aus ihnen folgenden Problemlagen hält die „traditionelle“ Moral aber häufig keine oder nur unsicher abgeleitete Regeln und Lösungen bereit38. Die normative Bewältigung dieser „neuen“ Konflikte verlangt daher „neue“ rechtliche und ethische Antworten. Die technische Entwicklung führt damit zu einer „Dynamik der Wertkultur“ 39. Zugleich sind die tatsächlichen Mittel der 34 Hierzu und zu den Auswirkungen auf Institutionen: K. P. Sommermann, Ethisierung des öffentlichen Diskurses und Verstaatlichung der Ethik, in: ARSP 89 (2003), S. 77 f. R. Wassermann, Pluralitäre Zur richterlichen Ethik in der pluralitären Gesellschaft, in: SchlHAnz. 2002, S. 29, geht ebenfalls von der Dynamik des wissenschaftlich-technischen Fortschritts, der die materielle Basis der globalen Gesellschaften verändert, als Motor für die Umwertungen und Neubewertungen von Lebensvollzügen aus. 35 Wassermann, Pluralitäre Gesellschaft (Fn. 34/A.), SchlHA 2002, S. 29. 36 O. Höffe, Art. Globalisierung, in: O. Höffe, Lexikon (Fn. 15/A.), S. 114. 37 D. Fenner, Einführung in die angewandte Ethik, Tübingen 2010, S. 1 f. H. Jonas, Das Prinzip Verantwortung, Frankfurt/Main 1979, S. 26 ff.; U. Thurnherr, Angewandte Ethik zur Einführung, 2. Aufl., Hamburg 2010, S. 16 ff. diese auch zum Folgenden. 38 Fenner, Einführung (Fn. 37/A.), S. 1 f. 39 Wassermann, Pluralitäre Gesellschaft (Fn. 34/A.), SchlHA 2002, S. 29.
II. Gesellschaftliche Ausgangsbedingungen
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Bewältigung der auftretenden Probleme und ihre Bewertung nach „gut“ und „schlecht“ oder „böse“ ideologisch umstritten40. Die Möglichkeiten für konsensuale normative Lösungen dieser Konflikte über fachphilosophische und ethische fundierte Handlungsanweisungen sind daher begrenzt. Zweifel daran, Ethik als wissenschaftliche Disziplin zu betreiben, ergeben sich zusätzlich aus den Erkenntnissen einiger empirischen Wissenschaften, die selbst zum Teil interessenoder ideologiegesteuert sind41. Diesem technisch-ökonomischen Wandel können sich staatliche Institutionen nicht nur nicht entziehen. Sie werden von ihm durchdrungen und umgestaltet. Die Gesetzgebung schafft zur Steuerung der beschriebenen Entwicklungen Recht, das (auch) von der Rechtsprechung zu wahren ist. Die Justiz, die mit der Schlichtung der unmittelbar aus den Veränderungen erwachsenden Konflikten befasst ist42, wird aufgabenbedingt wegen des Justizgewährungsanspruchs und des deshalb bestehenden Entscheidungszwangs43 unmittelbar – manchmal sogar vor dem Gesetzgeber als „erster“ Nothelfer44 – mit ihnen konfrontiert und von ihnen affiziert. Der Richter, der selbst im beschriebenen Wandel steht und von ihm beeinflusst ist, kann sich als Mensch hinter seiner Funktion den technischen, politischen und normativen Umbrüchen nicht entziehen45. Er steht daneben selbst in der Gefahr, durch die Technisierung aller Lebensbereich zu „Techniker des Rechts“ zu werden, der den Blick und die Verantwortung für das Ganze verliert46. Hieraus ergibt sich ein moralisch-ethischer Orientierungsbedarf der Hauptträger der Justiz, der Richter. Zusammen mit den technischen und ökonomischen Veränderungen vollzieht sich eine geistig-kultureller Umgestaltung. Die westliche Kultur47 ist geprägt durch ein individualistisches Menschenbild. Im Prozess der Rationalisierung und Säkularisierung löste und löst sich das Individuum zunehmend aus seinen tradi-
40 G. Ellscheid, Recht und Moral, in: A. Kaufmann/W. Hassemer/U. Neumann (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 8. Aufl., 2010, S. 221. 41 M. Düwell/C. Hübenthal/M. Werner (Hrsg.): Handbuch Ethik. 2. Aufl., Stuttgart/ Weimar 2006, S. 18 f. 42 Wassermann, Justiz im sozialen Rechtsstaat, 1974, S. 16 f. 43 Kissel, Grenzen (Fn. 28/A.), NJW 1982, S. 1783. 44 Kissel, Ethik (Fn. 5/A.), DRiZ 1991, S. 270; Kissel, Anspruch (Fn. 14/A.), DRiZ 1987, S. 311 45 Kissel, Ethik (Fn. 5/A.), DRiZ 1991, S. 270; E. Schmalfuß, Richterliche Ethik als „Motor“ der Rechtsfortbildung, in: Schlw.-Hol. RichterV, info 1/2006, S. 9. 46 Arndt, Bild des Richters (Fn. 5/A.), S. 332 f. 47 Auch wenn in dieser Abhandlung andere Kulturkreise in den Blick kommen, ist insgesamt die europäisch-abendländische Sichtweise zwingend, weil es hier letztlich um das Handeln in der deutschen Rechtsordnung aufgrund der abendländischen Wertetradition geht. Vgl. auch Wipfelder, Wertewandel (Fn. 22/A.), DRiZ 1991, S. 309.
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A. Richterliche Ethik – Eine Annäherung
tionellen sozialen und normativen Bindungen. Norm- und Begründungssysteme (Recht, Moral, Religion, Milieu) werden in diesem Prozess kritisch hinterfragt. Die Auseinandersetzung über Werte und Wertsysteme führte und führt zu deren Relativierung48 und zum Pluralismus als formale Grundidee der westlichen Kultur49. Diese Veränderungen, die einen Abbau tradierter, insbesondere religiös begründeter Wertüberzeugungen zur Folge hatten und noch haben, lassen sich verdichtend und damit undifferenziert als Prozess der Individualisierung kennzeichnen50. Werte- und Rechtsbewusstsein, die denknotwendig eine überwiegend geteilte Vorstellung von Werten und Recht voraussetzen, sind in diesem Differenzierungsprozess Verunsicherung und Irritation ausgesetzt. Auch Rechtstreue und -gehorsam können dabei durch Verabsolutierung der individuellen Überzeugung gefährdet sein51. Die sich aus der Individualisierung ergebende Forderung nach autonomer und rationaler Begründung der Moral erhöht den Bedarf an ethischer Vergewisserung, der – weil das selbstreferentielle rationale System einen immer größeren Begründungsaufwand erfordert – die „Produktion“ rationaler ethischer Diskurse steigert. Dieser Prozess führt zu einer zunehmenden Ausdifferenzierung der normativen Antworten. Nicht mehr das durch Erziehung sozial geprägte „Gewissen“, das um die überlieferten Regeln und Grundsätze der traditionell vorgegebenen Moral „weiß“ 52, sondern die jeweils neue und sich selbst rechtfertigende ethische Reflexion bestimmt das Verhalten des Individuums. Hierdurch entstehen die in diesem Sinne neuen Konflikte des autonomen Gewissens53. Es sucht nach noch differenzierteren Begründungen. Dabei kann die Bewertung dieses Prozesses unterschiedlich ausfallen. Er kann emanzipatorisch-fortschrittlich verstanden
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Düwell u. a., Handbuch Ethik (Fn. 41/A.), S. 3 f., die dieses Phänomen bereits in den Anfängen der ethischen Diskussion ausmachen; Wassermann, Pluralitäre Gesellschaft (Fn. 34/A.), SchlHA 2002, S. 30. 49 O. Höffe, Art. Pluralismus, in: O. Höffe, Lexikon (Fn. 15/A.), S. 243 f.; Wassermann, Pluralitäre Gesellschaft (Fn. 34/A.), SchlHA 2002, S. 30, der aus der Haltung des Pluralismus die Folgerungen für die Ethik zieht sowie die Chancen und die Grundgefahren (Beliebigkeit, Fundamentalismus) aufzeigt. 50 Thurnherr, Angewandte Ethik (Fn. 37/A.), S. 17 f. Düwell u. a., Handbuch Ethik (Fn. 41/A.), S. 6 f. auch zum Folgenden. 51 J. Burmeister, Praktische Jurisprudenz und rechtsethischer Konsens in der Gesellschaft, in: W. Fiedler (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Wilhelm Karl Geck, Verfassungsrecht und Völkerrecht, Köln 1989, S. 98 ff.; Wipfelder, Wertewandel (Fn. 22/A.), DRiZ 1991, S. 311 f. 52 M. Forschner, Art. Gewissen, in: O. Höffe, Lexikon (Fn. 15/A.), S. 111 f. 53 Im entwicklungspsychologischen Kontext ist bezogen auf das jeweilige Individuum dieser hier gesellschaftlich verstandene Prozess vergleichbar mit dem von Piaget/ Kohlberg (Moralentwicklung) beschriebenen Veränderungen in der Moralentwicklung des Kindes, vgl. hierzu auch: H. Häuser, Vorfragen richterlicher Ethik – Zur gesellschaftlichen und individuellen Entwicklung von Moral –, in: BJ 2003, S. 186 ff.; Thurnherr, Angewandte Ethik (Fn. 37/A.), S. 18 f.
II. Gesellschaftliche Ausgangsbedingungen
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werden54. Er kann aber auch als zunehmende Verunsicherung des haltsuchenden individuellen Gewissens gesehen werden55, das nach „starken“ Lösungen sucht. Damit verbunden wachsen Zweifel daran, Ethik als eine wissenschaftliche Disziplin überhaupt zu betreiben56. Sie ergeben sich neuerdings zusätzlich aus empirisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen. Danach erscheint die Annahme einer menschlichen Handlungsfreiheit problematisch. Könnte etwa die vollständige Determinierung57 menschlichen Verhaltens – also die Negation der Willensfreiheit – durch (neuro-)biologische, psychologische und sozialwissenschaftliche Erkenntnisse belegt werden, wäre das Problem moralischen Handelns neu zu diskutieren, ja vielleicht sogar hinfällig. Insofern wird die Auffassung vertreten, es gebe „keine zwingenden Belege gegen die – für unser lebensweltliches Selbstverständnis konstitutive – Annahme, dass das menschliche Handeln zwar von vielfältigen naturalen, sozialen und psychischen Faktoren beeinflusst ist, wir aber dennoch über die Fähigkeit verfügen, uns reflexiv zu diesen Faktoren zu verhalten und echte Entscheidungen zu treffen.“ 58 Das Postulat der Freiheit, das die normative Bewertung menschlichen Handelns durch Recht oder Moral voraussetzt, könne kein Gegenstand empirischer Wissenschaften sein, sondern sei vielmehr eine Kategorie philosophischer Ethik und der Rechtswissenschaft. Die Unübersichtlichkeit der Strukturen und Prozesse moderner Gesellschaften führen trotz und wegen der gezeigten Probleme zur Suche nach Verantwortung und Verantwortlichkeit, nach Instanzen, die bestimmen, was rechtlich oder moralisch geboten und/oder verboten ist59. Dieses Verlangen nach rationaler Einordnung von Lebensvorgängen und stetigen Veränderungen, aus der Bewertungen in moralischer und rechtlicher Hinsicht folgen können, lässt das Bedürfnis wachsen, Halt im Normativen zu finden. Die Alternative einer nihilistischen Anomie oder Anarchie erscheint den meisten differenzierten Menschen als unerträgliche Alternative, auch wenn das individuelle Verhalten mancher gegenüber dem Staat und anderen (anonymen) Institutionen und Organisationen moralisch eher indifferent
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Häuser, Vorfragen (Fn. 55/A.), BJ 76 (2003), S. 186 m.w. N. Häuser, Vorfragen (Fn. 55/A.), BJ 76 (2003), S. 186 spricht in diesem Zusammenhang von einer „schweren ethischen Krise.“ 56 Düwell u. a., Handbuch Ethik (Fn. 41/A.), S. 18 f. auch zum Folgenden. 57 Vgl. im Einzelnen zum Diskussionsstand: Düwell u. a., Handbuch Ethik (Fn. 41/ A.), S. 18; A. Wildfeuer in: Düwell u. a., Art. Freiheit, Handbuch Ethik (Fn. 41/A.), S. 364 f.; Baltzer, Gespenst (Fn. 6/A.), KritV 2008, S. 487, spricht die Problematik gerade im Hinblick auf die richterethische Diskussion an. O. Höffe, Art. Determination, in: O. Höffe, Lexikon (Fn. 15/A.), S. 49 ff.; C. Horn, Art. Wille, dort zur Determination, in: O. Höffe, Lexikon (Fn. 15/A.), S. 346 ff. 58 Düwell u. a., Handbuch Ethik (Fn. 41/A.), S. 18. 59 Die Bildung von „Ethikkommissionen“ und „-räten“ dürfte auch hier ihre Ursache finden; vgl. C. Strecker, Sollen und Wollen – Überlegungen zur richterlichen Ethik, in: BJ 2004, S. 377. 55
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A. Richterliche Ethik – Eine Annäherung
ist60. Das Unbehagen am Liberalismus und Individualismus61 führt in der politischen Theorie zu einer Rückwendung zu den gewachsenen Wertvorstellungen und Pflichtenbeziehungen überschaubarer Gemeinschaften62, im extremsten Fall unterwirft man sich Weltanschauungen und Glaubenslehren totalen Charakters63. In neuerer Zeit werden die westlichen Staaten durch Mobilität und Migration außerdem mit neuen oder anderen Rechts- und Moralvorstellungen konfrontiert, die Toleranz und ordre public herausfordern und nach Grenzziehungen verlangen – immer häufiger durch Gerichte und damit letztlich durch Richter. Deren Orientierungsbedarf hinsichtlich der von ihm anzuwendenden Wertmaßstäbe nimmt zwangsläufig zu. Die Pluralität der Anschauungen und Lebensentwürfe des Einzelnen sind Grundlage und Schutzgut des modernen Verfassungsstaates, der deshalb den Schwerpunkt auf den Schutz individueller Rechte, nicht so sehr auf das Bedürfnis jeder menschlichen Gemeinschaft, soziale Pflichten und Tugenden auszuprägen und zu stabilisieren, setzt64. In Recht gefasste hoch umstrittene, politische Entscheidungen werden vor diesem Hintergrund schnell zu Verfassungs-, insbesondere Grundrechtsfragen und zum Gegenstand richterlicher Entscheidungen gemacht65. Weltanschaulich umstrittenes Recht wird in der Rechtswirklichkeit nur widerwillig akzeptiert oder in organisiertem Protest – zum Teil symbolisch – unter Berufung auf ein ethisch begründetes oder einfach behauptetes Widerstandsrecht und einer „höheren Legitimität“ 66 in einem Akt „zivilen Ungehorsam“ kategorisch zurückgewiesen67. Manche Aktionen dienen dabei gerade der 60 Burmeister, Praktische Jurisprudenz (Fn. 51/A.), S. 98 ff.; Wassermann, Macht (Fn. 20/A.), DRiZ 1986, S. 206. 61 Vgl. hierzu die kommunitaristischen Standardwerke von M. J. Sandels, Liberalism and the Limits of Justice, Cambridge/Mass. 1982, M. Walzer, Sphären der Gerechtigkeit. Ein Plädoyer für Pluralität und Gleichheit, 1992, Neuauflage 2006; A. MacIntyre, Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, Frankfurt am Main 1995, insb. S. 57 ff., 75 ff.; Ch. Taylor, Negative Freiheit? Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus, 1992. 62 Vgl. hierzu Merz-Benz, Die Überwindung des Individualismus, S. 27–52; M. Haus, Kommunitarismus. Einführung und Analyse. Wiesbaden 2003; W. Reese-Schäfer, Kommunitarismus, Frankfurt am Main/New York 2001. 63 Wassermann, Pluralitäre Gesellschaft (Fn. 34/A.), SchlHA 2002, S. 29 unter Bezugnahme auf Durkheims „Le suicide“. 64 Vgl. aber auch BVerfGE 4, 7 (15), 32, 98 (107 f.) und 33, 1 (10 f.) zum gemeinschaftsbezogenen Menschenbild des Grundgesetzes; sowie: Wassermann, Pluralitäre Gesellschaft (Fn. 34/A.), SchlHA 2002, S. 31, der die wehrhafte Demokratie als den Schutz vor Selbstabschaffung des liberalen Konzepts und die Grundrechte als „nicht kontroverse“ Verbürgungen betont. W. Brugger, Kommunitarismus als Verfassungstheorie des Grundgesetzes, in: AöR 128 (1998), S. 337 ff. 65 Sendler, Rechtsstaat (Fn. 17/A.), NJW 1989, S. 1769. 66 Kissel, Anspruch (Fn. 14/A.), DRiZ 1987, S. 306; Kissel, Grenzen (Fn. 28/A.), NJW 1982, S. 1778. 67 Kissel, Anspruch (Fn. 14/A.), DRiZ 1987, S. 310, zur Rechtsprechung als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln; Sendler, Rechtsstaat (Fn. 17/A.), NJW 1989,
II. Gesellschaftliche Ausgangsbedingungen
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Herausforderung staatlicher Stellen, insbesondere der Justiz. Der Sozialstaat übernimmt daneben die Fürsorge für den Einzelnen in sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht, greift durch Gesetze in gewachsene und vormals rechtlich ungeregelte Beziehungen ein und „schafft Ansprüche“ 68. Die dabei erforderlichen Grenzziehungen und Kompromisse führen zu gesetzgeberischen Leerformeln, deren Ausfüllung im Einzelfall auf den Richter übertragen wird. Er wird dadurch Transformator des politischen Willens, bei unklarer Rechtslage Nachzeichner, manchmal sogar Gestalter69 des sozialpolitischen Willens70. Recht und Ethik gelangen damit in ein Dilemma von Verunsicherung und Sehnsucht nach Sicherheit71, von Gerechtigkeitserwartungen und tatsächlicher Leistungsfähigkeit der Rechtsprechung72. Der Richter wird zum Schiedsrichter gesellschaftlicher Konflikte angerufen, obwohl er an sich nur geltendes Recht zu sprechen hat, selbst Mitglied dieser Gesellschaft73 und damit von den Veränderungsprozessen in eigener Person betroffen ist74. Auch er kann sich überdies in vielen Fragen nur ein Urteil bilden, indem er das Wissen von Sachverständigen in Anspruch nimmt, die wiederum auf die rechtliche Entscheidung schwerwiegender menschlicher oder gesellschaftlicher Konflikte über den Richter Einfluss erhalten75. Er soll nicht selten über technische Fragen entscheiden, obwohl die Wissenschaft sich selbst über bestimmte Folgen nicht im Klaren ist.
S. 1769 zu „Richter als Rechtsbrecher“; Schmalfuß, Motor (Fn. 45/A.), info 1/2006, S. 9, zeigt den Wandel vom autoritären am „Gesetzesbefehl“ in den 60-er Jahren zum am Rechtsgefühl und der „praktischen Gerechtigkeit“ orientierten Richter eindrucksvoll nach. H. J. Wipfelder, Rechtsbewusstsein und Rechtsgehorsam, in: DRiZ 1990, S. 126 ff. 68 G. Ellscheid, Rechtsethik, in: A. Pieper/U. Thurnherr (Hrsg.), Angewandte Ethik. Eine Einführung, München 1998, S. 145 f. 69 Schmalfuß, Motor (Fn. 45/A.), info 1/2006, S. 9 f.; Sendler, Rechtsstaat (Fn. 17/ A.), NJW 1989, S. 1769 zu „Richter als Rechtssetzer“; Wassermann, Justiz (Fn. 42/A.), S.27 ff. 70 Vgl. hierzu F. Baur, Sozialer Ausgleich durch Richterspruch – Ein Beitrag zum Wandel des Richteramts, JZ 1957, S. 193 ff.; H. Schambeck, Richteramt und Ethik. Festvortrag, Berlin 1982, S. 12; Wipfelder, Bürger (Fn. 22/A.), DRiZ 1987, S. 118. 71 Kissel, Anspruch (Fn. 14/A.), DRiZ 1987, S. 311. 72 So Wittreck, Funktionen (Fn. 10/A.), S. 274 f. 73 Zur Unmöglichkeit, dass der Richter „darüber steht“: K. Zweigert, Zum richterlichen Charisma in einer ethisierten Rechtsordnung, in: T. Eschenburg/T. Heuss/G. A. Zinn (Hrsg.), Festgabe für C. Schmid, Tübingen 1962, S. 299. 74 Berufsethik, Wertewandel und Pluralismus, DRiZ 1986, S. 150 f.; Geiger, Rolle (Fn. 5/A.), DRiZ 1982, S. 324; Wassermann, Macht (Fn. 20/A.), DRiZ 1986, S. 202, sieht hierin eine der Gründe für das Hervortreten der Wertüberzeugungen des heutigen Richters bei umstrittenen Entscheidungen und zeigt die Zeitbedingtheit richterlicher Professionalität auf, vgl. auch S. 204. 75 R. Lamprecht, Außerrechtliche Einflüsse auf die richterliche Entscheidungsfindung, in: DRiZ 1989, S. 4 ff. H. J. Wipfelder, Was darf ein Richter sagen? in: DRiZ 1983, S. 338.
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A. Richterliche Ethik – Eine Annäherung
Aus diesen Anforderungen entspringt insgesamt das zwingende Bedürfnis der Richter, ihr „Berufsbild in veränderten Zeitumständen neu zu definieren und zu hinterfragen“, sich des eigenen Standpunkts zu vergewissern und damit grundlegende Fragen ihres Berufsethos zu erörtern76. Gleichzeitig wird dies von manchen Richtern auch als Chance verstanden, – in Abgrenzung von der landläufigen Vorstellung vom „Justizbeamten“ – ein eigenes „Richterbild zu entwickeln und dem Bürger darzustellen, was sie von sich selbst erwarten und wofür sie eintreten wollen.“ 77
III. Ökonomisierung der Justiz und richterliche Ethik Die Technisierung und Ökonomisierung vieler Lebensbereiche hat auch die Justiz erfasst. Die Effizienzforderung steht letztlich auch hinter der Qualitätsdiskussion und zeigt insoweit Defizite der deutschen Rechtsprechung auf: Die quantitative Zunahme von Verfahren78 durch um ihr Auskommen ringende Anwälte79 und die ausgeprägte Sehnsucht der Bürger nach Sicherheit und Bestätigung im Recht bei gleichzeitiger finanzieller Minimierung ihres Prozessrisikos über Prozesskostenhilfe und Rechtsschutzversicherungen80 führen zu lang dauernden Verfahren. Das Zurückbleiben der personellen Ausstattung hinter dem durch den Verfahrensstau ausgelösten Bedarf, Entscheidungsunsicherheit auf Seiten der Richter durch eine Normenfülle, der politische Wille zur Beschränkung richterlicher Macht, die „Sicherung des Rechtsstandortes Deutschland“ und die Forderung nach weiterer Effektivierung des Rechtsschutzes umschreiben die vielfältigen Gründe, die zu einer „Ökonomisierung des Rechtssystems“ geführt haben81. 76 Berufsethik, Wertewandel und Pluralismus, DRiZ 1986, S. 150 f.; S. Luik, Betrifft uns selbst: das ethische Programm des Richtereids, in: BJ 2009, S. 74. 77 L. Schüller, Ethische Prinzipien für Richterinnen und Richter – Brauchen wir schriftliche Verhaltensstandards in Deutschland? in: SchlHA 2006, S. 145. 78 Hierzu: E. Benda, Richter im Rechtsstaat, DRiZ 1979, S. 358 f. 79 Wipfelder, Unabhängigkeit (Fn. 23/A.), DRiZ 1984, S. 46. 80 G. Rennen, Die Rechtsschutzversicherungen und die Geschäftslast der Zivil- und Strafgerichtsbarkeit, in: DRiZ 1983, S. 347 ff.; Kissel, Anspruch (Fn. 14/A.), DRiZ 1987, S. 310, der eine Fülle weiterer Gründe für die Zunahme der Verfahren nennt, und eine Sammlung denkwürdiger, insbesondere abwegiger Prozessgegenstände auflistet, S. 307 f. 81 Grundlegend hierzu und zum Folgenden die einzelnen Beiträge in H. Schulze-Fielitz/C. Schütz (Hrsg.), Justiz und Justizverwaltung zwischen Ökonomisierungsdruck und Unabhängigkeit, Die Verwaltung, Beiheft 5, 2002; C. Schütz, Der ökonomisierte Richter. Gewaltenteilung und richterliche Unabhängigkeit als Grenzen Neuer Steuerungsmodelle in den Gerichten, Berlin 2005. Vgl. auch die ungeschminkten Äußerungen des Abteilungsleiters im Baden-Württembergischen Staatsministeriums der Justiz Steindorfner bei R. Neumann, Richterliches Ethos und Ökonomie der Justiz, in: DRiZ 2006, S. 211; vgl. auch E. Dittrich, Gerichtliche Tätigkeit zwischen Ethik und Fallerledigungszahlen – ein Zwiespalt?, in: NRV-info Mecklenburg-Vorpommern 10/2008, S. 7; Kreth, Richterliches Verhalten (Fn. 5/A.), KritV 2008, S. 480; Wipfelder, Unabhängig-
III. Ökonomisierung der Justiz und richterliche Ethik
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Der Bürger wird zum „Kunden“, das Recht bzw. das Urteil zum „Produkt der Justiz“ 82. „Neue Steuerungsmodelle“, Controlling, Benchmarking83, Balanced Scorecard84, „Kundenbefragung“, Jahresgespräche, Zielvereinbarungen und Personalbedarfsberechnungssysteme (Pebb§y) werden aus den wirtschaftlichen Kontexten auf die Justiz übertragen und so zu Mitteln, das jeweils verfolgte Ziel – von der Effektivierung der Justizabläufe bis zur Beschränkung richterlichen Einflusses – zu erreichen. Die richterliche Unabhängigkeit und die Qualität der Entscheidung bzw. des ihr vorausgegangenen Verfahrens werden dabei als nicht oder kaum messbare Faktoren85 häufig als Hindernis für die Implementierung „effizienter“ Abläufe angesehen86. Nicht selten kollidiert daher ökonomische Rationalität mit ihrem engen Begriff von Messbarkeit und Effizienz mit richterlicher Entscheidungskultur87. Die angestrebte Beschleunigung und Vereinfachung von Verfahren zeitigen dabei nicht wenige „Nebenwirkungen“. Zum einen wird dem durch Pensen erzeugten Erledigungsdruck durch „Wegputzen“, „Totmachen“ der Fälle oder durch „hingehauene“ Begründungen durch die Richter nachgegeben88. Zum anderen ist ein Wandel von einer „Entscheidungs- zur Vermittlungskultur“ 89 feststellbar, bei der die Frage nach der materiellen Wahrheit zunehmend aus dem Blick gerät. keit (Fn. 23/A.), DRiZ 1984, S. 45 f.; vgl. auch die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage einer Reihe von Bundestagsabgeordneter: BT-Drs. 15/5823 vom 24.06.2005, insbesondere zu Nr. 7. 82 Hierzu H.-E. Böttcher, Die Produkte der Justiz, in: H. Schulze-Fielitz/C. Schütz (Hrsg.), Justiz und Justizverwaltung (Fn. 81/A.), S. 27 ff.; A. Voßkuhle, Das „Produkt der Justiz“, in: H. Schulze-Fielitz/C. Schütz (Hrsg.), Justiz und Justizverwaltung (Fn. 81/A.), S. 35 ff. 83 Hierzu J. Brand, Bechmarking in der nordrhein-westfälischen Sozialgerichtsbarkeit, in: H. Schulze-Fielitz/C. Schütz (Hrsg.), Justiz und Justizverwaltung (Fn. 81/A.), S. 99 ff. P. Bilsdorfer, Benchmarking in der Justiz – Aufbruch zu neuen Ufern oder bedenkliche Entwicklung? NJW 1999, S. 3096. 84 H. Klein, Balanced Scorecard – strategiegeeignetes und praxistaugliches Managementsystem auch für Justizorganisationen, in: DRiZ 2010, S. 223. 85 Dittrich, Gerichtliche Tätigkeit (Fn. 81/A.), NRV-info MV 10/2008, S. 7, vgl. hierzu auch H. Sodan, Qualitätsmaßstäbe für die Justiz? NJW 2003, 1495. 86 Zur Auseinandersetzung um die Grenzen des „Justizcontrollings“: W. Damkowski/ J. Precht, Modernisierung in der Rechtspflege durch Justizcontrolling. Rechtliche Zulässigkeit, Konzept und Chancen, in: VerwArch 2005, S. 528 ff. dies. Controlling in der Justiz, in: NVwZ 2005, S. 292; U. Berlit, Richterliche Unabhängigkeit und Organisation effektiven Rechtsschutzes im „ökonomisierten“ Staat und M. Reinhardt, Richterliche Unabhängigkeit im „ökonomisierten“ Staat, beide in: H. Schulze-Fielitz/C. Schütz (Hrsg.), Justiz und Justizverwaltung (Fn. 81/A.), S. 135 ff. und 179 ff.; Schütz, Der ökonomisierte Richter (Fn. 81/A.), S. 329 ff. 87 Lamprecht, Einflüsse (Fn. 75/A.), S. 6 ff. 88 Kreth, Richterliches Verhalten (Fn. 5/A.), KritV 2008, S. 480; Dittrich, Gerichtliche Tätigkeit (Fn. 81/A.), NRV-info MV 10/2008, S. 8. 89 Wipfelder, Wertewandel (Fn. 22/A.), DRiZ 1991, S. 312; Wassermann, Pluralitäre Gesellschaft (Fn. 34/A.), SchlHA 2002, S. 29.
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A. Richterliche Ethik – Eine Annäherung
Dies wirft Fragen nach dem überkommenen Kern richterlicher Profession und Professionalität auf. Das Dealen im Strafprozess90, die Mediation, die Forderung, „unbürokratisch“ zu entscheiden, „lösungsorientierte“ familienrechtliche Verfahren etc. fordern den traditionell an der Idee der Gerechtigkeit und Wahrheit91 orientierten und auf öffentliche Entscheidungen trainierten Richter in je unterschiedlicher Weise berufsmoralisch heraus. Bei den neueren Verfahren der Konfliktlösung stehen Richter deshalb sogar im Verdacht, hinter verschlossenen Türen zu mauscheln und dann in der Öffentlichkeit Theater zu spielen oder den steinigen Weg der Wahrheits- und Rechtssuche bequem abzukürzen und/oder schlicht ihrer Faulheit Raum zu geben92. Schnelles Recht kollidiert nicht immer, aber auch nicht selten mit „gutem“ Recht. Der Richter, der die begrenzte Ressource Zeit auf quantitativ zunehmende Verfahren zu verteilen hat, kann dem einzelnen Verfahren und damit den hinter ihnen stehenden Menschen sowohl bei der Tatsachenermittlung als auch bei einer umfassenden Rechtswürdigung nicht immer „gerecht“ werden. Der Richter steht daher in Gefahr, der Erwartung, ein „mitmenschlicher, einfühlsamer, von Verständnis geprägter Richter“ zu sein, zu verfehlen und zum „Rechtstechnokraten oder -manager“ 93 zu werden. Auch vor diesem Hintergrund besteht ein Bedürfnis der Richter nach Bestimmung und Definition, was der eigentliche Sinn und das Ziel ihres konkreten „professionellen“ Handelns jenseits des Rechtes ist. Die Qualitätssicherungsdebatte und die dabei diskutierten Fragen nach Kriterien professionellen richterlichen Verhaltens stehen daher ebenfalls in enger Beziehung zu Fragen nach einer richterlichen Ethik.
IV. Motive und Gründe für die Frage nach richterlicher Ethik Vor dem Hintergrund der zuvor beschriebenen fundamentalen Einbettung dieser Ethikdiskussion in der Justiz in gesamtgesellschaftliche Prozesse sind die Fragen „Warum richterliche Ethik“? und „Warum jetzt richterliche Ethik?“ aber auch konkreter zu beantworten. Dabei ist nicht nur ihr Bedarf zu bestimmen94, sondern es sind auch die Motive, Gründe und Zwecke der Diskussion zu erörtern. Ausgangspunkt soll dabei zunächst sein, welche Antworten im bisherigen Diskussionsverlauf gegeben wurden, um danach zu prüfen, ob diese den beschriebenen Problemen „gerecht“ werden:
90 Vgl. insbesondere § 257c StPO nach dem Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafprozess vom 29.07.2009 (BGBl. I. S. 2353). 91 Zur inneren Problematik dieser Begriffe: Kissel, Ethik (Fn. 5/A.), DRiZ 1991, S. 271. 92 Wipfelder, Rechtsbewusstsein (Fn. 67/A.), DRiZ 1990, S. 129. 93 Wassermann, Pluralitäre Gesellschaft (Fn. 34/A.), SchlHA 2002, S. 32. 94 In diese Richtung Wittreck, Funktionen (Fn. 10/A.), S. 274 f.
IV. Motive und Gründe für die Frage nach richterlicher Ethik
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Zunächst ist festzustellen, dass es Stimmen gab und gibt, die schlicht behaupten: „Das Ethosdenken ist vorbei.“ 95 Der Prozess der Individualisierung und die Überbetonung des Subjektiven hätten auch die Richter erfasst mit der Folge, dass klassische Tugenden wie Treue, Fleiß, Selbstbeschränkung und Gehorsam auch für sie passè seien. Damit wäre das Betreiben richterlicher Ethik, die nach überindividuellen Verhaltensmaßstäben fragt, sinnlos. Dieser These, die schon nicht mit dem tatsächlichen empirischen Befund zur Deckung zu bringen ist, ist bereits im Zeitpunkt ihrer Äußerung auch theoretisch widersprochen worden96. Das Berufsumfeld des Richters und seine rechtliche wie institutionelle Struktur (z. B. Verfahrensvorgaben, Gesetzesbindung, Rationalität der Rechtsfindung) seien mit zu vielen Stabilisatoren ausgestattet und mit zu vielen gesellschaftlichen Erwartungen verbunden, als dass die Rechtskultur in die Beliebigkeit des jeweiligen richterlichen Verhaltens entgleiten könnte und sich die Berufsethik des Richters im Prozess der Individualisierung verflüchtigen könnte. Der von der Öffentlichkeit herangetragene (auch) moralische Zwang, grundsätzlich den Vorwurf der Willkür zu vermeiden und die Verantwortung für sein Urteil zu übernehmen, lasse den Richter letztlich nicht los. Gerade dann, wenn ein Richter seine politischen oder weltanschaulichen Präferenzen in seinen Entscheidungen über das Gesetz und seine anerkannte Auslegung stelle, werde dies – als gefühlter Verstoß gegen die Berufsmoral – als Skandal empfunden und zum Gegenstand öffentlicher Diskussion gemacht97. Aber neben diesen Reaktionen auf große „Verfehlungen“ 98 gibt es auch das im täglichen Rechtsleben zu beobachtende Phänomen, nämlich dass sich ein Verfahrensbeteiligter oder ein Kollege über ein bestimmtes Verhalten des Richters in oder außerhalb des Gerichtssaales empört. Dies zeigt, dass es noch einen – wenn auch zunehmend brüchigen – Konsens der Rechtssuchenden und der Richter selbst gibt, was „man“ von einem Richter, der diesen Namen verdient, erwarten darf und muss. Damit ist aber umgekehrt die Frage aufgeworfen, wie sich der Richter verhalten soll oder – kurz gesagt – was Gegenstand seiner Berufsmoral ist. Neben denen, die dieses Thema für eine abgelebte Modeerscheinung halten99, gibt es außerdem eine Reihe Kritiker, die sich aus Sorge um die richterliche Unabhängigkeit und/oder die Gestaltungspflicht des demokratischen Gesetzge95 Vgl. die Ausführungen in: Berufsethik, Wertewandel und Pluralismus, DRiZ 1986, S. 150 f. 96 Berufsethik, Wertewandel und Pluralismus, DRiZ 1986, S. 151; auch zum Folgenden. 97 Vgl. hierzu die Ausführungen unter C. III. 2. a) zum Richterskandal. 98 Wittreck, Funktionen (Fn. 10/A.), S. 276, hält diese aber nicht für den maßgeblichen Auslöser der Ethikdiskussion. 99 A. Titz, Richtereid und richterliche Ethik, in: DRiZ 2009, S. 32, gibt die verbreitete Stimmung unter Richtern wieder, wonach „auch wir jetzt damit anfangen“, ohne sie selbst zu teilen.
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A. Richterliche Ethik – Eine Annäherung
bers prinzipiell gegen die berufsethische Debatte stellen100. Diese Position übersieht allerdings, dass der Stand der Diskussion in Deutschland bislang derart rudimentär ist, dass noch gar nicht erwiesen ist, ob die deutsche Rechtsordnung sehr viel Raum für eine eigenständige Berufsethik des Richters lässt101. Eine Diskussion sollte aber nicht aus Angst vor ihren – möglicherweise – unbequemen Ergebnissen „abgewürgt“ werden. Hinzu kommt, dass diese Position häufig verknüpft wird mit dem Vorbehalt gegen einen schriftlich fixierten Ethikkodex für Richter. Diese Frage ist aber – wie hier zu zeigen sein wird – strikt von der Frage nach dem Bestehen von berufsmoralischen Regeln oder Haltungen und ihrer wissenschaftliche Untersuchung zu trennen. Die prinzipiellen Bedenken regen jedoch dazu an, – positiv – die Motiv und Gründe zu untersuchen, die die gegenwärtige Diskussion um die richterliche Ethik leiten: Nicht alle Motive und „Funktionen“ 102 der Diskussion über richterliche Ethik dürften deren Gegenstand gerecht werden. So sind folgende Ansätze nicht unproblematisch: Richter sollten sich mit ihrer Berufsmoral beschäftigen, weil es eine internationale Diskussion hierzu gibt oder weil sich auch andere Berufsgruppen mit ihr beschäftigen103, etwa Ärzte, Rechtsanwälte104, Steuerberater105, Manager106. Denn eine extrinsisch motivierte Debatte steht in der Gefahr, eine bloße
100 H. Addicks, Richter legen ihre Perücken ab – Anmerkungen zur richterlichen Ethik, in: NRV-Info NRW 2007, S. 10 ff.; abgemildert bei K. Waechter, Richterliche Berufsethik, in: BDVR-Rundschreiben 2012, S. 85 ff. 101 Zu Recht zweifelnd: Waechter, Berufsethik (Fn. 100/A.), BDVR-Rundschreiben 2012, S. 85 ff., der allerdings zu Recht auf die umfassende, fast ausnahmslose Rechtsbindung des Richters verweist. 102 Wittreck, Funktionen (Fn. 10/A.), S. 281 f., geht – ausgehend von dem Befund, dass berufsmoralische Missstände in der deutschen Richterschaft nicht mit Händen zu greifen seien – von anderen Funktionen der Debatte aus und spricht von einer Ersatzdiskussion, die auch der Abwehr von „Zumutungen“ von außen dienen soll. 103 R. Huhs, Bericht aus der Arbeitsgruppe V – Der „gesittete Richter“ – Keine Ethik ohne Kodifikation, 30. Richterratschlag, in: BJ 2004, S. 412, berichtet von der Angst der Mitglieder des Richterratschlags, von europäischer Ebene könne Druck zur Übernahme internationaler Kodizes entstehen; L. Schüller, Ethische Prinzipien für Richterinnen und Richter: Wozu? in: Schl.Hol. RV, info 1/2006, S. 4, fürchtet Kritik, wenn die Richter nicht auf die ethische Debatte reagierten. Ähnlich: M. Werner, Richterliche Ethik – Bestandsaufnahme und Ausblick, in: BDFR FORUM, Februar 2010, S. 5. 104 Vgl. im Einzelnen die Nachweise bei A. Ignor, Die Ethikdiskussion in der Anwaltschaft, in: NJW 2011, S. 1537 und ders., Gedanken zur Berufsethik des Rechtsanwalts, in: BRAK-Mitteilungen 5/2009, S. 203, für Strafverteidiger: B. Kannowski, Anwaltstaktik und Anwaltsethik im Mittelalter, in: NJW 2008, S. 714 ff.; E. Müller, Berufsbild und Berufsethos des Strafverteidigers, in: NJW 2009, S. 3745; vgl. auch H. Prütting, Ethos anwaltlicher Berufsausübung, in: AnwBl. 1994, S. 315 ff. sowie NJW Beilage zu Heft 5/2006: „Die Ethik des Rechtsanwalts im Beruf.“ 105 Vgl. Ch. Hommerich, Ethik des steuerberatenden Berufs als freier Beruf, in: DStR 2008, S. 1161 ff. 106 Schüller, Ethische Prinzipien (Fn. 77/A.), SchlHA 2006, S. 146.
IV. Motive und Gründe für die Frage nach richterlicher Ethik
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Abwehrhaltung zu fördern oder sich in ausgetretenen Pfaden zu bewegen, nicht aber die produktiven Möglichkeiten der richterlichen Ethik zu erkennen. Mancher Beitrag erweckt den allzu pathetischen Eindruck, es sei „erbaulich“, über seine besondere Rolle zu reflektieren und ein tradiertes Richterbild „feierlich zu erneuern“ 107. Auch besteht das Risiko, dass das Aufschreiben eines Fragenkatalogs oder Berufskodex im Sinne eines Beichtspiegels, „Katechismus“ 108 oder einer Stichwortliste für eine „Moralpredigt“, wahlweise auch der Selbstkasteiung oder der Selbstidealisierung109 dient. Die Nähe zu den Begriffen der Kirche weist im Übrigen auf nicht zu übersehende Gefahren hin, wenn (richterliche) Ethik zur Suche nach einer säkularen Weltanschauungslehre mit dem Hang zur dogmatischen Ideologie110 wird. Verfehlt wäre es auch, würden berufliche Zweckmäßigkeitsüberlegungen – ohne den Kern der Moral zu erfassen – ethisch „geadelt“ 111. Ein strategischer Charakter der Beschäftigung mit richterlicher Ethik würde ebenfalls den Gegenstand verfehlen: Im politischen Bereich, bei der Dienstaufsicht und bei Beurteilern reizt ein richterlicher Ehrenkodex wegen eines abprüfbaren Pflichtenkanons und der moralischen Option zur „Entpolitisierung“ der Richter112. Es könnte ja jenseits der Dienstaufsicht und des Disziplinarrechts ein Sanktionsmodell neuen Typs für den „unmoralischen“ Richter liegen, der über den sozialen Zwang zur Moraltreue wirkt113. Den Strategen (auch in den Richterverbänden) könnte die Debatte außerdem dazu dienen, einen Diskussionsvorteil zur Abschwächung von Kritik und bei der Zurückweisung administrativer „Zu-
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Vgl. hierzu Jung, Richterbilder (Fn. 3/A.), S. 127. So R. Neumann, Richterliche Ethik – Ein Thema für uns alle, in: DRiZ 2008, S. 101. 109 Schüller, Ethische Prinzipien (Fn. 77/A.), SchlHA 2006, S. 147; B. Krix, Richterethik, in: Sächsisches Staatsministerium der Justiz und für Europa (Hrsg.), Impulse für eine moderne und leistungsstarke Justiz – Dokumentation Symposium Justizlehre Dresden 2009, Stuttgart 2009, S. 127, meint – ironiefrei (?) – es sei eine „innere Befriedigung, wenn man sich selbst zu den ,Guten‘ zählen“ könne. 110 Zur Abgrenzung vgl. auch Einführung in: A. Pieper/U. Thurnherr (Hrsg.): Angewandte Ethik. Eine Einführung, München 1998, S. 8 f. 111 Strecker, Ethik (Fn. 59/A.), BJ 2004, S. 378; wenig überzeugend daher: E. Hien, Verwaltungsrichter: Selbstverständnis – Qualität – Legitimation, Referat Arbeitskreis 6 A, in: Dokumentation zum 14. Deutschen Verwaltungsrichtertag 2004, Stuttgart 2004, S. 207, der „Kundenorientierung“ zum (wesentlichen) Element des Berufsethos macht. 112 Hierzu Huhs, Bericht (Fn. 103/A.), BJ 2004, S. 412. 113 Strecker, Ethik (Fn. 59/A.), BJ 2004, S. 378, deshalb kritisch zu den bislang formulierten Kodizes in anderen Ländern, denen er die bloße ethische „Adelung“ von politisch motivierten Beschränkungen von Richtern sieht; eher positiv dagegen: Rheinstein, Wächter (Fn. 12/A.), JuS 1974, S. 413. Der Sächsische Staatsminister für Justiz hat auf eine kleine Anfrage vom 28.01.2009 im Sächsischen Landtag hin (LT-Drs. 4/14607) erklärt, dass er es bisher nicht beabsichtigt habe und auch zukünftig nicht beabsichtige, „Richtern Vorgaben zu Fragen zu ihrer beruflichen Ethik zu machen.“ 108
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A. Richterliche Ethik – Eine Annäherung
mutungen“ zu erlangen114. Denn wer „ethisches Verhalten“ für sich selbst fordert oder behauptet, einen „ethischen Kodex“ zu besitzen, steht schon „besser“ da und kann mit seinen Themen in die „Offensive“ gehen115 und der Justiz mehr „Geltung“ verschaffen116. Die Gefahr des strategischen Kalküls zeigt auch der Umstand, dass die Diskussion in Deutschland teilweise als Abwehrdiskussion geführt wurde: Abwehr der Bangalore-Prinzipien117, Abwehr der Gestaltung der Richterpflichten durch Gesetze bzw. durch „die Politik“ 118. Ja sogar als „Begleitdiskussion“ zur Auseinandersetzung um die Durchsetzung anderer berufspolitischer Ziele, wie die Verbesserung der Ausstattung der Gerichte, Besoldungserhöhungen und die Selbstverwaltung der Justiz, kann richterliche Ethik betrieben werden119. Hinter der Forderung einer „neuen Moral“, die in und für die „dritte Gewalt“ formuliert wird120, könnte schließlich die Absicht einer „emanzipatorischen“ Umwertung bisheriger Werte stehen, die in ihrer dahinter stehenden politisch motivierten Ausrichtung selbst kritisch zu begleiten wäre; Vertreter von „Tugendrepubliken“ stehen nämlich schnell in der Gefahr, „Tugendterror“ ausüben. Andere wiederum interessieren sich nur für die Moralkritik121. So ist der Vorwurf 114 Kissel, Ethik (Fn. 5/A.), DRiZ 1991, S. 269; Schüller, Ethische Prinzipien (Fn. 77/A.), SchlHA 2006, S. 146; Krix, Richterethik (Fn. 109/A.), S. 127; Wittreck, Funktionen (Fn. 10/A.), S. 281, sieht hierin die Hauptfunktion. 115 G. Schaberg, Unabhängigkeit, Ethik und Medien, in: MHR 2/2009, S. 15 meint, dass die „Pflege und Fortbildung“ der Berufsethik zur medialen Glaubwürdigkeit der Organe der Rechtspflege genutzt werden kann. 116 K. Stang, Berufsethik für Richter und Staatsanwälte – oder der gepiercte Richter, in: Mitteilungsblatt NRB 2013, S. 46. 117 Huhs, Bericht (Fn. 103/A.), BJ 2004, S. 412. 118 Wörtlich heißt es in einem Bericht zur Initiierungstagung des DRB zur richterlichen Ethik (www.bunddeutschersozialrichter.de/docus/richterliche_ethik_112008.pdf [Stand: Januar 2010; nicht mehr eingestellt]): „Das vorhandene Berufsethos kann gestärkt werden, indem es thematisiert wird. Dabei haben wir die Chance zu gestalten und die ,Formulierungshoheit‘ für uns zu erhalten, wenn wir rechtzeitig das Thema besetzen, bevor uns Andere Qualitätsregeln vorsetzen, über die wir anschließend zwar noch lamentieren können, die wir dann aber nicht mehr aus der Welt schaffen können.“ Vgl. auch M. Burghardt, Richterliche Ethik im Netzwerk des DRB, in: DRiZ 2009, S. 104; Neumann, Richterliche Ethik (Fn. 108/A.), DRiZ 2008, S. 101. 119 Huhs, Bericht (Fn. 103/A.), BJ 2004, S.412, berichtet von der Forderung des 30. Richterratschlags, in der Präambel zu einer formulierten Richterethik das Ziel der Selbstverwaltung der Justiz zu benennen, um den administrative Grundlage für eine gelebte Richterethik zu schaffen; vgl. auch A. Titz, Berufsethos und richterliche Verantwortung – Über den Stand der Diskussion in Frankreich und Europa, in: DRiZ 2008, S. 98, dies., Eid (Fn. 99/A.), DRiZ 2009, S. 32 f.; in der Tendenz ebenso: B. Krix, Richterliche Ethik – weltweit ein Thema, in: DRiZ 2003, S. 152; dies., Richterethik (Fn. 109/A.), S. 128; gegen eine Verbindung der Diskussion über Selbstverwaltung und Richterethik: Baltzer, Gespenst (Fn. 6/A.), KritV 2008, S. 488; ebenso kritisch M. Eckertz-Höfer, „Vom guten Richter“ – Ethos, Unabhängigkeit, Professionalität, Speyerer Vorträge, Heft 94, S. 31. 120 Häuser, Vorfragen (Fn. 55/A.), BJ 76 (2003), S. 188. 121 Vgl. zur kritischen Moral: Ellscheid, Recht und Moral (Fn. 40/A.), S. 218 ff.
IV. Motive und Gründe für die Frage nach richterlicher Ethik
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nicht unbekannt, insbesondere Richter, betrieben als eine „konservative“ Elite bloßen Schutz (oder Restauration) alter Werte. Andere wollen deshalb in kritischer Weise ein „Sittengemälde des bürgerlichen Richters“ malen. In der extremsten Variante könnte die Debatte zum Anlass genommen werden, den eigenen „Willen zur Macht“ moralisch zu bemänteln oder sich – solche Beispiele ließen sich bei Unternehmen beobachten – wie hinter einem Paravent ganz von moralischen Forderungen zu lösen122. Der angesichts einer sperrigen Diskussion Erschöpfte könnte den Schluss ziehen, es sei nur eine provisorische Moral123 möglich, als eine Sammlung von verantwortbaren Verhaltensregeln für jene Zwischenzeit, in der man eine streng wissenschaftliche Ethik erarbeitet, sie aber noch nicht vollendet hat. Dem Anliegen, eine aufgabengerechte Berufsethik zu entwickeln, dürften dagegen folgende Motive und Gründe, sich mit richterlicher Ethik zu beschäftigen, eher gerecht werden: Um die Legitimität124 und das Vertrauen125 in eine unabhängige und faire Justiz als Voraussetzung der (Rechts-)Kultur zu erhalten und zu stärken, könnte eine rational fundierte Richterethik Ängste und Misstrauen bei dem rechtsuchenden Bürger gegenüber dem richterlichen Personal abbauen126. Denn er erwartet zu 122 U. Steiner, Zur Ethosfrage in der Sozialgerichtsbarkeit, in: Deutscher Sozialgerichtstag e. V. (Hrsg.), Sozialrecht – Tradition und Zukunft, Stuttgart, 2013, S. 333, meint, nicht selten würden die die ethische Debatte forcieren, die die Chance „genutzt“ hätten, ihr Ansehen zu verlieren. 123 Zum Begriff: Höffe, Art. Provisorische Moral, in: O. Höffe, Lexikon (Fn. 15/A.), S. 251 f.; vgl. auch Vieth, Angewandte Ethik (Fn. 4/A.), S. 36 f., zur provisorischen Moral und der angewandten Ethik. 124 Waechter, Berufsethik (Fn. 100/A.), BDVR-Rundschreiben 2012, S. 86. 125 Gass, Richterethik, (Fn. 5/A.), S. 125, stellt – wie viele Autoren – an den Beginn jeder richterlichen Ethik das Ziel, Vertrauen der Bürger in die Justiz zu erhalten und zu stärken. Siehe auch Krix, Richterethik (Fn. 109/A.), S. 127. Näher auch: Titz, Eid (Fn. 99/A.), DRiZ 2009, S. 32 f., dies., Ethik-Debatte von der Basis angenommen, in: DRiZ 2013, S. 200, die auch auf die bereits statistisch nachweisbare Vertrauensstellung der Justiz hinweist. Die empirischen Untersuchungen zum Vertrauen der Bevölkerung in das Handeln der Richter scheint derzeit eher gut zu sein: Nach einer jüngeren Untersuchung haben 66% der Bevölkerung großes Vertrauen zu den Gerichten, zum Bundesverfassungsgericht sogar 79%: Köcher, Institut für Demoskopie Allensbach, zit. nach FAZ v. 20.08.2014, S. 8. Die Werte liegen dabei höher als bei anderen Institutionen. Das Vertrauen in die Gesetze und das Grundgesetz sind erstaunlicherweise noch größer. Die Untersuchung zeigte darüber hinaus ein differenziertes Bild zu einzelnen Präzedenzfällen und zur Gleichbehandlung der Bürger durch die Justiz. 126 Thesenpapier Deutscher Richter- und Staatsanwaltstag in Würzburg 2007 Nr. 1 (http://www.drb.de/cms/fileadmin/docs/rista-tag_ws_ethik_070918.pdf, Stand: 29.12. 2015); Jung, Richterbilder (Fn. 3/A.), S. 126; Kreth, Richterliches Verhalten (Fn. 5/A.), KritV 2008, S. 476; Schüller, Ethische Prinzipien (Fn. 77/A.), SchlHA 2006, S. 146; dies., Wozu? (Fn. 103/A.) Schl.Hol.RV, info 1/2006, S. 4, die allerdings bereits einen „Vertrauensverlust“ diagnostiziert; P. v. Olenhusen, Thesenpapier zur Veranstaltung: „Ethik in der Justiz“, Frankfurt a. M., 20. Juni 2007: Gerichtliche Tätigkeit zwischen
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A. Richterliche Ethik – Eine Annäherung
Recht, dass der Richter nicht nur unabhängig Recht spricht, sondern dies auch nach den Regeln des Anstands und der Fairness tut127. Die Kehrseite wäre allerdings, dass der Richter in seinem Verhalten nicht nur – was selbstverständlich ist – durch das Recht, sondern auch durch einen in seiner Legitimität ungeklärten Moralkodex eingeengt werden könnte. Deshalb ist es Aufgabe der richterlichen Ethik, grundsätzlich zu klären, welche Grenzen das deutsche Recht der richterlichen Berufsethik zieht und wie viel Raum für eine außerrechtliche Berufsmoral des Richters überhaupt bleibt. Eine so fundierte Berufsethik, die wohl eher eine Tugend- als eine Pflichtenethik sein müsste, könnte das Klima innerhalb der Justiz für eine „gute Rechtsprechung“ verbessern128, insbesondere dem richterlichen Nachwuchs129 Handlungsmaximen geben. Sie könnte das Selbstbewusstsein der Richter gegenüber äußeren (politischen, administrativen und medialen) Einflüssen stärken sowie ein Widerlager gegen systemwidrigen Ökonomisierungsdruck130 bieten. Mit ihr könnte eine Internalisierung bereits rechtlich vorgegebener Verhaltensanforderungen einhergehen, die die (innere) Unabhängigkeit131 stärkt. Es könnte die Bereitschaft des Richters gehoben werden, die Verantwortung für die Entscheidung des konkreten Streitfalls132 als seine eigene, insbesondere in Spruchkörpern, anzunehmen. Auch könnte der Widerstand gegen Fehlentwicklungen133 in der Justiz, ihrer Verwaltung und der Gesetzgebung eine ethische Grundlage erhalten. Der Richter könnte insgesamt als „Bürger unter Bürgern“ 134 bei der konsequenten Befolgung seiner Berufsmoral zum Vorbild in einer zunehmend normkritischen Gesellschaft und – emphatisch gesprochen – Ethik und Fallerledigungszahlen – ein Zwiespalt? H. Bolk, Richterliche Ethik – Ein Sachstandsbericht, in: NRV-Info Schleswig-Holstein, November 2006, S. 18, sieht hierfür keinen konkreten Anlass und verweist auf das Bedürfnis von Staaten, insbesondere in Osteuropa, am Beginn eines rechtsstaatlichen Prozesses eine Klärung herbeizuführen. Titz, Eid (Fn. 99/A.), DRiZ 2009, S. 33. 127 K. Rudolph, Die Unabhängigkeit des Richters, in: DRiZ 1984, S. 143. Er verweist dabei auf die bereits 1982 von Geiger geforderte Formulierung eines Verhaltenskodex: Geiger, Rolle (Fn. 5/A.), DRiZ 1982, S. 325. 128 Morigiwa, Philosophische Grundlagen (Fn. 5/A.), SchlHAnz. 2009, S. 110 ff., entfaltet in diesem Sinne eine „funktionale“ Richterethik, deren Ziel die „gute“, d.h. für ihn eine „faire“ oder „gerechte“ Entscheidung ist. 129 Thesenpapier Richtertag 2007 (Fn. 126/A.) Nr. 1; v. Olenhusen, Thesenpapier (Fn. 126/A.) 5. These; Krix, Richterethik (Fn. 109/A.), S. 127. 130 Marcic, Gesetzesstaat (Fn. 26/A.), S. 244 ff., sieht im Richter sogar den, der im konkreten Fall Widerstand gegen Verletzungen der Rechtsidee leistet. 131 Schüller, Ethische Prinzipien (Fn. 77/A.), SchlHAnz. 2006, S. 146 unter Bezugnahme auf die „Bangalore-Prinzipien“, Stang, Berufsethik (Fn. 116/A.), Mitteilungsblatt NRB 2013, S. 45, Titz, Eid (Fn. 99/A.), DRiZ 2009, S. 32. 132 Thesenpapier Richtertag 2007 (Fn. 126/A.) Nr. 1; Kreth, Richterliches Verhalten (Fn. 5/A.), KritV 2008, S. 479; R. Müller, Ethik und Verwaltungsrecht, in: BWVPr 1992, S. 252. 133 Titz, Eid (Fn. 99/A.), DRiZ 2009, S. 33; Wassermann, Pluralitäre Gesellschaft (Fn. 34/A.), SchlHA 2002, S. 30. 134 Wassermann, Macht (Fn. 20/A.), DRiZ 1986, S. 207.
IV. Motive und Gründe für die Frage nach richterlicher Ethik
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zum „Rechtspädagogen“ 135 werden. Dem Vorwurf, dass die Richterschaft auf dem Weg in einen „oligarchischen Richterstaat“ 136 oder zu einem „richterlichen Adelsregime“ 137 ist, könnte damit die Spitze genommen werden. Überlegungen zu einer richterlichen Individualethik können auf die professionelle „Vervollkommnung“ 138 des einzelnen Richters zielen. Für ihn hält eine ausgearbeitete richterliche Ethik unter Umständen Modelle reflektierten Handelns bereit, die der Selbstaufklärung seines eigenen moralischen Bewusstseins dienen und Maßstäbe für eine reflektierte Selbstbindung139 sowie für die Lösung moralischer Dilemmata140 bieten können. Dabei könnte ein Ertrag sein, dass ihm die Wirkungen seines Handelns im dienstlichen und nichtdienstlichen Kontext für die Außenwahrnehmung seiner Unparteilichkeit und Unabhängigkeit141 klarer werden und er dies entsprechend berücksichtigt. Nicht über eine entlarvende, sondern eine rechtfertigende Moralkritik142 könnte seine praktische Urteilskraft dadurch gestärkt werden, dass er Handlungsstrukturen über Ziel-Mittel-Relationen aufdeckt, moralische „Sprachspiele“ erkennt, moralische Geltungsansprüche problematisiert und damit insgesamt für sein Verhalten dem Zwang zu rationaler Begründung gerecht wird. Er könnte Maßstäbe gewinnen, über seine Macht und die Notwendigkeit, sie gemeinschaftsfördernd und „verantwortlich“ einzusetzen143, nachzudenken. Im Ergebnis könnte dies auch zu einer noch reflektierteren Rechtsanwendung144 beitragen und nicht zuletzt das Bewusstsein145 über die Grenzen seiner professionellen Fähigkeiten und seines Auftrags als Richters – auch gegenüber ihn beeinflussenden Kräften – wachhalten. Dies setzt aber bereits bei der Herausarbeitung wie bei der praktischen Umsetzung einer richter135 Burmeister, Praktische Jurisprudenz (Fn. 51/A.), S. 113 ff.; Wipfelder, Bürger (Fn. 22/A.), DRiZ 1987, S. 117. 136 B. Rüthers, Fortgesetzter Blindflug oder Methodendämmerung der Justiz, in: JZ 2008, S. 448. 137 W. Zeidler, DRiZ 1984, 251. 138 Thesenpapier Richtertag 2007 (Fn. 126/A.) Nr. 1; Häuser, Vorfragen (Fn. 55/A.), BJ 76 (2003), S. 188, dürfte genau dies im Sinne haben, wenn er die individualpsychologische Entwicklungstheorie der Moralentwicklung nach Piaget und Kohlberg mit ihren sechs Entwicklungsstufen nachzeichnet und sie zur Vorfrage einer richterlichen Ethik macht. Vgl. auch Kreth, Richterliches Verhalten (Fn. 5/A.), KritV 2008, S. 479 und Schüller, Ethische Prinzipien (Fn. 77/A.), SchlHAnz. 2006, S. 147. 139 Rheinstein, Wächter (Fn. 12/A.), JuS 1974, S. 414 f.; Strecker, Ethik (Fn. 59/A.), BJ 2004, S. 376, beruft sich augenzwinkernd auf Kants Schrift „Was ist Aufklärung?“. 140 Titz, Eid (Fn. 99/A.), DRiZ 2009, S. 32. 141 Gass, Richterethik (Fn. 5/A.), S. 126. 142 Höffe, Methoden der Ethik, in: O. Höffe, Lexikon (Fn. 15/A.), S. 206 ff. 143 Kissel, Ethik (Fn. 5/A.), DRiZ 1991, S. 269. 144 Müller, Ethik (Fn. 132/A.), BWVPr 1992, S. 247. 145 Müller, Ethik (Fn. 132/A.), BWVPr 1992, S. 254; Wassermann, Pluralitäre Gesellschaft (Fn. 34/A.), SchlHAnz. 2002, S. 31, über die Halt gebende und stabilisierende Funktion der Justiz in Zeiten der Veränderung.
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A. Richterliche Ethik – Eine Annäherung
lichen Ethik „Nachdenklichkeit“ statt „schnelle und lautstarke Proklamationen“ 146 voraus, Dialog statt Verordnung und Rezept147, das Bewusstsein vom schmalen Grat zwischen ethischer Erkenntnis zum moralischen Bekenntnis148. Damit könnte schließlich der der Richterschaft vorgeworfene Mangel an Selbstreflexion149 widerlegt werden.
V. Übersicht über den Gang der Darstellung Bei einem ersten unkritischen Zugang ruft der Begriff „richterliche Ethik“ die selbstverständliche Erwartung hervor, es gehe bei der Beschäftigung mit ihr um Fragen, wie sich der Richter in einem Handlungsfeld „ethisch“ richtig verhält. Diese Erwartung wird in Frage gestellt, wenn man den Begriff „richterliche Moral“ dagegenstellt. Umschreiben diese Begriffe identische Gegenstände oder ist hier zu differenzieren150? In welchem Verhältnis steht dazu das „Amts- oder Berufsethos“ des Richters? Stellt man weiter in Rechnung, dass das Handlungsfeld des Richters bereits durch „Recht und Gesetz“ außermoralisch in hohem Maße normativ bestimmt ist, wird die Beantwortung der Frage drängend, wie ein außerrechtliches Normengefüge, das Gegenstand ethischer Überlegungen ist, in diesem Handlungsfeld überhaupt Geltung beanspruchen kann und ob es dies – aus (verfassungs-)rechtlicher Sicht – überhaupt darf. Dies wird das leitende Erkenntnisinteresse dieser Arbeit sein, deren Aufbau folgender ist: Das zweite Kapitel (B.) dient zunächst der Begriffsklärung, Einordnung und näheren Bestimmung des Untersuchungsgegenstands. Richterliche Ethik als eine Disziplin der angewandten Ethik lässt sich mit dem vorgenannten Erkenntnisinteresse wissenschaftlich nämlich nur betreiben, wenn ihr Gegenstand, ihre Methoden und ihre Grenzen bestimmt sind151. Ausgehend von der aktuellen Dis146
Kissel, Ethik (Fn. 5/A.), DRiZ 1991, S. 269. Häuser, Vorfragen (Fn. 55/A.), BJ 76 (2003), S. 192; Kreth, Richterliches Verhalten (Fn. 5/A.), KritV 2008, S. 477, betont zu Recht diese Seite des Diskurses. 148 Strecker, Ethik (Fn. 59/A.), BJ 2004, S. 381, der allerdings – anders als hier gemeint – das Bekenntnis zur alleinigen legitimen Instanz macht. 149 Lamprecht, Mythos (Fn. 6/A.), S. 20 ff. 150 Wenig überzeugend begänne die Diskussion zur Ethik des Richters jedenfalls, wenn man wie Titz, Berufsethos (Fn. 119/A.), DRiZ 2008, S. 100, die als Mitglied des DRB-Präsidiums maßgeblich die Diskussion des größten Richterverbandes prägt, ohne hinreichende Differenzierung meint, in dieser Diskussion ginge es nicht um „falsch“ und „richtig“, „moralisch“ und „unmoralisch“, auch nicht um Sanktionierung, sondern nur um „Diskussion“ und Hilfestellung im Berufsleben. 151 I. Schmidt-Syaßen, Das neue Richterbild, in: MHR 1/07, S. 4, berichtet gerade von der begrifflichen Unsicherheit aus Anlass einer Tagung des DRB zur richterlichen Ethik. Strecker, Ethik (Fn. 59/A.), BJ 2004, S. 376, mahnt die begriffliche und methodische Klärung bereits am Beginn der anschwellenden richterethischen Diskussion an. Bolk, Richterliche Ethik (Fn. 126/A.), NRV-info SH 11/2006, S.18, berichtet vom Gefühl, es werde eine „abstrakte Debatte“ geführt. 147
V. Übersicht über den Gang der Darstellung
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kussion in der philosophischen Ethik und der Rechtswissenschaft, insbesondere der Rechtsphilosophie, werden die Begriffsinhalte von „Ethik“ und „Moral“ abgegrenzt. Danach folgt die Zuordnung der Ethik zu anderen Disziplinen der theoretischen und praktischen Philosophie. Der Weg führt von hieraus zur angewandten Ethik, insbesondere zur Rechtsethik und anderen Berufsethiken. Am Ende des Kapitels soll der mögliche Gegenstand der richterlichen Ethik in Abgrenzung zum Richterrecht, zum Richterleitbild und richterlichen Selbstverständnis, zur richterlichen „Kunst“ und „Technik“, zur Rechtsprechungslehre und der Qualitätsdebatte allgemein bestimmt werden. Auf der Grundlage dieser Differenzierungen soll die Berufsmoral des Richters im dritten Kapitel (C.) dann deskriptiv erfasst werden: Ausgehend von der Darstellung internationaler und ausländischer Richterkodizes und der historischen Entwicklung richterlicher Verhaltenspflichten und Haltungen in Deutschland soll die Abhängigkeit richterlicher Moral von Zeit, Rechtsordnung und Rechtssprechungsstrukturen verdeutlicht werden. Dieses Material soll auch einer Typologie richterethischer Kodifizierungen bzw. historischer Entwicklungen zugeführt werden. Danach wird der Diskussions- und Forschungsstand in Deutschland erfasst. Dieser Befund soll im vierten Kapitel (D.) metaethisch analysiert werden. Durch die Abgrenzung der richterlichen Moral vom Rechts- und Gesetzesvollzug, insbesondere zu der Erfüllung rechtlich bestimmter Handlungspflichten, soll der Frage nachgegangen werden, ob und wie „Moral“ und „Recht“ überhaupt im Handlungsfeld des Richters in Beziehung zueinander gesetzt werden können. Zwangläufig müssen dabei die verfassungsrechtlichen Grenzen einer deontologischen Richterethik in den Blick kommen. Insoweit soll eine der Hauptthesen der Arbeit erwiesen werden, nämlich die, dass aufgrund der Fülle der bestehenden rechtlich vorgegebenen Handlungspflichten der Raum für eine Berufsmoral des Richters, verstanden als Pflichtenethik, enger als in anderen Berufsfeldern und in anderen Rechtsordnungen ist, und ihr grundsätzliche verfassungsrechtliche Grenzen gesetzt sind. Diese Denkschritte dienen der Vorbereitung von normativen Ableitungen für richterliches Verhalten jenseits des Rechts. Ausgehend von den Erkenntnissen der allgemeinen Ethik und der Rechtsethik soll dabei im fünften Kapitel (E.) der Versuch unternommen werden, Methoden und Argumentationsformen für die Entwicklung einer normativen „richterlichen Ethik“ für deutsche Richter zu gewinnen. Damit sollen diese Erkenntnisse für den speziellen Handlungsbereich der richterlichen Tätigkeit anwendungsfähig gemacht werden. Hierbei wird das Modell der Tugendethik für die richterliche Ethik herangezogen und auf seine Übertragbarkeit auf das richterliche Berufsfeld geprüft werden. Es werden Grundtugenden des Richters aufgesucht und begründet, die zur Gewinnung und Beurteilung von Kriterien für ein richterliches Amtsethos dienen können. Außerdem sollen für die deutsche Rechtsordnung einzelne moralische Haltungen des Richters beschrieben, begründet und abgegrenzt werden.
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A. Richterliche Ethik – Eine Annäherung
Im vorletzten Kapitel (F.) soll der Frage nachgegangen werden, ob und wie, insbesondere mit welchen Instrumenten, moralisches und professionelles Handeln von Richtern gefördert werden kann, ohne die richterliche Unabhängigkeit zu verletzen. Unter diesem Aspekt müssen auch die Chancen und Risiken von Sanktionsmechanismen bei unethischem Fehlverhalten von Richtern und die Deklarierung von „Richterkodizes“ für die deutsche Rechtsordnung untersucht werden. Hierbei kann auch auf die Erfahrung in anderen Ländern mit solchen Mechanismen und Kodizes zurückgegriffen werden. Dieses Vorgehen ermöglicht, den gesamten gegenwärtigen – nationalen und internationalen – Diskurs zur richterlichen Ethik zu erfassen, zu bewerten und für eine vertiefte und künftig strukturierte Diskussion zu öffnen.
B. Richterliche Ethik als Bereichs- und Berufsethik Richterliche Ethik als eine Disziplin der angewandten Ethik lässt sich wissenschaftlich nur betreiben, wenn ihr Begriff, ihr Gegenstand, ihre Methoden und ihre Grenzen bestimmt sind. Dies ist deshalb ausführlich zu leisten, weil der Diskurs über die richterliche Ethik an nicht wenigen – begrifflichen und systematischen – Mängeln leidet. Dabei sollen die in der wissenschaftlichen Ethik gesicherten Erkenntnisse jeweils unmittelbar auf die vorliegende Untersuchung übertragen und anwendungsfähig gemacht werden.
I. Ethik und Moral Der Begriff „richterliche Ethik“ ist, so wie er derzeit verwendet wird, nicht hinreichend geklärt. Auffallend ist zunächst, dass der Begriff der „Moral“ oder „Berufsmoral“ in Bezug auf den Richter im Diskurs der richterlichen Ethik nicht bzw. nur zurückhaltend oder abweisend benutzt wird. Die Vermeidung dieser Begriffe könnte damit zu tun haben, dass der Moralbegriff sprachlich vorbelastet ist und Assoziationen auslöst, die „Fremdbestimmtheit“, „Unreflektiertheit“ und „Rückwärtsgewandtheit“ nahelegen, während Ethik eher mit „Rationalität“ und „Autonomie“ verbunden werden1. Eine wissenschaftliche richterliche Ethik kann auf diese Denkmuster aber keine Rücksicht nehmen; vielmehr hat sie die in der allgemeinen Ethik anerkannten Begriffe zur Abgrenzung und näheren Bestimmung heranzuziehen. Dies führt zwangsläufig zu dem Ergebnis, dass richterliche Ethik der Inbegriff einer speziellen ethisch-philosophischen Reflexion auf die richterliche Berufsmoral ist. Diese Folgerung ergibt sich aus der herkömmlichen Verwendung des Begriffes Ethik in Abgrenzung zur Moral: 1. Begriff und Gegenstand von Ethik und Moral Der Begriff „Ethik“ 2 hat seine Wurzel nämlich in dem altgriechischen Wort qikÞ pistÞmh [ethike (episteme)], das sittliche Wissen. Damit weist der Be1 In diesem Sinne etwa zur richterlichen Ethik als Modell freiwilliger Selbstvervollkommnung: Schüller, Ethische Prinzipien (Fn. 77/A.), SchlHAnz. 2006, S. 145, 147. 2 Hierzu und zum Folgenden: vgl. vor allen A. Pieper, Einführung in die Ethik, 6. Aufl., Tübingen 2007, S. 25 ff. m.w. N., außerdem: Düwell u. a., Handbuch Ethik (Fn. 41/A.), S. 1 f.; Häuser, Vorfragen (Fn. 55/A.), BJ 76 (2003), S. 187; Höffe, Art. Ethik, in: O. Höffe, Lexikon (Fn. 15/A.), S. 71 f.; L. Mardorf, „. . . nach bestem Wissen und Gewissen . . .“ – Philosophische Grundlagen der Richterlichen Ethik, in:
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B. Richterliche Ethik als Bereichs- und Berufsethik
griff bereits in seiner sprachlichen Herleitung auf ein Wissen über einen Gegenstand, ohne selbst der Gegenstand zu sein. Dieses Wissen kann sich dabei auf das „Ethos“ Ýqoò [ethos], die – äußerlich feststellbare – Gewohnheit, die Sitte oder den Brauch3, oder – im Sinne der Verinnerlichung und der Befolgung des im antiken Stadtstaat geltenden Moralkodex – auch auf den ÷qoò [e¯thos] beziehen, das dann den Charakter und die innere Haltung des danach Handelnden beschreibt. Im richterlichen Kontext kann „Ethos“ etwa im zuletzt genannten Sinne die innere Haltung des Richters zu den durch das Recht vorgeprägten berufsmoralischen Anforderungen seines Berufs bedeuten4, aber auch – im zuerst genannten Sinn – das faktisch Gelebte der ethischen Forderung an die Gruppe der Richter5. Das lateinische Wort „mos“ (pl. „mores“), von dem das deutsche Wort Moral hergeleitet ist, ist die Übersetzung von Ýqoò und ÷qoò. Es bezieht sich im Singular auf „Sitte“ und in der Pluralform auf den „Charakter“. Der Begriff der Moral steht folglich auch zu beiden Seiten – Normbestand und Haltung – in Beziehung: „Moral“ umfasst die aus wechselseitigen – von stillschweigend tradierten bis ausdrücklichen – Anerkennungsprozessen6 in einer Gemeinschaft oder Gruppe hervorgegangenen Ordnungen und Handlungsmuster (moralische Normen, Wertvorstellungen, Institutionen), denen eine normative Geltung für die jeweiligen Gruppenmitglieder zugesprochen wird7. Gewohnheit, Sitte und Brauch beschreiben dabei sowohl die Entstehungsweise wie den Inhalt der Moral. Diese wirkt aber auch auf die Haltung, also letztlich auf den „moralischen Charakter“ der Gruppenmitglieder. Denn regelmäßig appellieren moralische Normen und Werte durch Gebote und Verbote an die Mitglieder der Gemeinschaft, dass sie ihr Verhalten an ihnen ausrichten. Moral bewertet insofern Verhalten als „gut“ oder „böse“ bzw. „schlecht“. Das Gewissen als moralische Instanz des Einzelnen und die Erfahrung moralischer Schuld – also der Verfehlung der moralischen Forderung – stehen zu ihr in direktem Bezug8. Moral dient DRiZ 2010, S. 78 ff.; Thurnherr, Angewandte Ethik (Fn. 37/A.), S. 12 f.; Schüller, Ethische Prinzipien (Fn. 77/A.), SchlHAnz. 2006, S. 145; Strecker, Ethik (Fn. 59/A.), BJ 2004, S. 377. 3 Zur näheren Differenzierung dieser Begriffe auch A. Kaufmann, Rechtsphilosophie, 2. Aufl., München 1997, S. 220 ff.; vgl. auch E. Feindt, Beamtenethos und Zeitgeist, in: DöD 1981, S. 3. 4 Markel, Richterethos (Fn. 6/A.), ÖsterrRZ 2003, S. 166; A. Somek, Richterethos und Moraltheorie, in: ÖsterrRZ 1985, S. 266. 5 Den engen Zusammenhang von professioneller Kunst und Moral betonend: K. Rennert, Was ist ein guter Richter? – Fünfzehn Thesen für eine Annäherung, in: DRiZ 2013, S. 214 f. E.-W. Böckenförde, Vom Ethos des Juristen, 2. Aufl., Berlin 2011, S. 11. 6 Hierzu: Pieper, Einführung (Fn. 2/B.), S. 32 ff. und 42 ff. 7 Pieper, Einführung (Fn. 2/B.), S. 26 und 42; sowie M. Kettner, Art. Moral, in: Düwell u. a., Handbuch Ethik (Fn. 41/A.), S. 426 ff. 8 Feindt, Beamtenethos (Fn. 3/B.), DÖD 1981, S. 1.
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grundsätzlich der Ordnung, Stabilisierung und dem Ausgleich in der jeweiligen Handlungsgemeinschaft. Moral erstreckt sich dabei in ihrem Geltungsbereich regelmäßig auf eine durch bestimmte Eigenschaften gekennzeichnete Gruppe. Insofern hat sie auch Ab- und folglich Ausgrenzungsfunktion. Diese Vorstellung gründet bereits in der antiken Herleitung des Begriffes, wenn Ethos auch als der Ort bezeichnet wird, an dem man zu Hause ist, ein gelungenes Leben führt, indem man alle Sitten und Gebräuche in diesem häuslichen Bereich übt und teilt9. Sie bietet damit zeit- und ortsbedingte praxisregulierende Normen. Sie trägt das Selbstverständnis dieser Interaktionsgemeinschaft oder kann es tragen. Während „Moral“ sich mehr auf den Ýqoò bezieht, stehen „Moralität“ oder „Sittlichkeit“ dem näher, was unter ÷qoò verstanden wird, nämlich die Qualität eines Handelns, „das sich einem unbedingten Anspruch (dem Guten) verpflichtet weiß.“ 10 Während Moral und Sitte als historisch bedingte Ordnungen ihrem Inhalt nach durch ökonomische, soziale und politische Wandlungen der Veränderung unterliegen, wird durch die vernunftorientierten Prinzipienbegriffe „Moralität“ und „Sittlichkeit“ 11 ein dauerhafter, unbedingter Sinnanspruch, insbesondere die Freiheit als Grundlage menschlichen Selbstverständnisses, an die jeweilige Moral und Sitte herangetragen12. Das aus der Spannung der bedingten Ansprüche der Moral einerseits und dem unbedingten Anspruch des Moralitätsprinzips entstehende Wechselverhältnis wird so zum zentralen Gegenstand und Problem jeder wissenschaftlichen Ethik. Auch Angehörige bestimmter Berufe – und dies ist in dem vorliegenden Kontext von Relevanz – haben seit jeher ihre eigene Berufsmoral13 als normative Ausprägung ihres beruflichen Selbstverständnisses mehr oder weniger ausdrücklich entwickelt. Deren bekannteste, nämlich die für Ärzte, dürfte im „Eid des Hippokrates“ ihren Ausdruck finden. Der Inbegriff berufsbezogener moralischer Normen wird regelmäßig auch „Berufs- oder Standesethos“ genannt. Für Inhaber eines öffentlichen Amtes als Minister, Abgeordneter, Beamter, Soldat oder Richter wird dieser auch als „Amtsethos“ bezeichnet. Letzterer, der beim Richter die Summe „richterlicher Moral“ bzw. seine moralische Haltung genannt werden könnte, wird in den weiteren Überlegungen als der eigentliche Untersuchungsgegenstand der hier vorgelegten „richterlichen Ethik“ aufzuweisen sein. Denn „Ethik“ und „ethisch“ werden hier – anders als in der Umgangssprache und der traditionellen Ethik, die diese Begriffe synonym mit „Moral“/„moralisch“ gebraucht – in der neueren Wissenschaft zur schärferen Abgrenzung unterschied9
Schüller, Ethische Prinzipien (Fn. 77/A.), SchlHAnz. 2006, S. 145. So Pieper, Einführung (Fn. 2/B.), S. 26, aber auch S. 32 f., 42 ff. 11 Höffe, Art. Sittlichkeit sowie Forschner, Art. Sittliche Gewissheit, in: O. Höffe, Lexikon (Fn. 15/A.), S. 280 ff. und 279 ff. 12 Pieper, Einführung (Fn. 2/B.), S. 44 ff. 13 Pieper, Einführung (Fn. 2/B.), S. 35 f. 10
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B. Richterliche Ethik als Bereichs- und Berufsethik
licher Reflexionsebenen eingeschränkt verwendet. Sie werden ausschließlich der philosophischen Wissenschaft vom moralischen Handeln des Menschen – oder wie hier der Berufsgruppe „Richter“ – vorbehalten14. 2. Ethik als Wissenschaft der Moral und ihre Abgrenzungen a) Ethik als Teil der praktischen Philosophie Um den Gegenstand und die Methoden dieser Wissenschaft näher zu bestimmen, ist die Ethik, hier noch als allgemeine, später zur speziellen oder angewandten abzugrenzende Ethik, in den überkommenen Wissenschaftskanon einzubetten. Aus dem Vergleich mit den von anderen Wissenschaften behandelten Forschungsgegenständen lässt sich der Gegenstand der Ethik im Wege der Subtraktion gewinnen und gleichzeitig der Anschluss an weitere empirische Wissenschaften, deren Erkenntnisse die Ethik berücksichtigen muss, herstellen. Für die hier zu behandelnde spezielle Ethik der richterlichen Moral lassen sich aus der nachfolgenden Abgrenzung der allgemeinen Ethik im Übrigen wissenschaftliche Perspektiven, Zugänge und Methoden auffinden, die für die Untersuchung dieser speziellen Moral hilfreich sein können: Die wissenschaftliche Ethik ist nach herkömmlichem Verständnis eine der Teilgebiete der Philosophie. Sie – und die von ihr abgeleiteten Disziplinen (z. B. Politik; Rechts-, Staats- und Sozialphilosophie; Ökonomik)15 – wird in aristotelischer Tradition der „praktischen Philosophie“ 16 zugeordnet. Denn sie befasst sie sich im Gegensatz zur „theoretischen Philosophie“ mit dem menschlichen Handeln oder der menschlichen Praxis. Zu den Disziplinen der theoretischen Philosophie17 zählen die philosophische Anthropologie, die nach den allem geschichtlichem und kulturellem Wandel vorausliegenden natürlichen Konstanten des Menschseins fragt, die Metaphysik, als Wissenschaft über die Prinzipien und letzten Ursachen des Seienden, und die Logik, die alle Aussagen der Fachwissenschaften auf ihre Urteils- und Argumentationsstruktur hin überprüft und formale Regeln „richtigen Denkens“ bildet. Ethik als Disziplin der praktischen Philosophie untersucht demgegenüber orts- und zeitbedingte Verhaltensanforderungen. Die Disziplinen der theoretischen Philosophie können der Ethik aber grundle14 Pieper, Einführung (Fn. 2/B.), S. 27, insbesondere S. 60 f.; B. Rüthers, Rechtstheorie, München 1999, S. 232. Soweit einige Autoren dazu neigen, die Begriffe ,Ethik‘ bzw. ,ethisch‘ nur im Zusammenhang mit eudämonistischen Fragestellungen zu gebrauchen und den Begriff ,Moralphilosophie‘ der Reflexion auf Probleme des moralisch Richtigen vorzubehalten, wird dem hier nicht gefolgt (vgl. insoweit Düwell u. a., Handbuch Ethik (Fn. 41/A.), S. 2). 15 Zur weiteren Differenzierung siehe unten. 16 Höffe, Art. Praktische Philosophie, in: O. Höffe, Lexikon (Fn. 15/A.), S. 248 f. 17 Vgl. hierzu und zum Folgenden: Pieper, Einführung (Fn. 2/B.), S. 72 ff., von der insoweit im wesentlichen die näheren Begriffsbestimmungen stammen.
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gende Einsichten in das Verständnis des Menschen als leiblich-seelisch-geistiges Wesen und seine Möglichkeiten und Handlungsgrenzen (Anthropologie), seine Rolle und Stellung in der Gesamtheit des Seins (Metaphysik)18 und in die formale Struktur moralischer und ethischer Sätze (Logik) liefern. Das Verhältnis der Ethik als Wissenschaft zu den anderen Disziplinen der praktischen Philosophie bestimmt sich in folgender Weise19: Die Politik20 als Wissenschaft reflektiert als spezielle sozialwissenschaftlichphilosophische Disziplin die auf die Gestaltung öffentlicher Angelegenheit und Herrschaft über andere gerichtete Dimension menschlicher Praxis, wie sie sich im politischen Handeln Einzelner oder Gruppen bzw. in politischen Systemen zeigt. Ethik und Politik waren nach dem Verständnis der Bewohner der griechischen Polis zunächst ungeschieden21. Mit der Analyse tatsächlichen politischen Handelns seit der Renaissance, etwa durch Machiavelli22, löste sich die Politik von der Ethik und ihrer – bis dahin – hauptsächlichen Erörterung von Gerechtigkeit und Freiheit ab und nahm empirisch-analytisch die politischen Phänomene von Staatsräson, Machterwerb und Machterhalt in den Blick23. Auch wenn sich seit und mit Kant24 die politische Wissenschaft auf ihre ethische Fundierung im Wege einer geistiger Pendelbewegung25 zurückbesinnt und die Fragen nach politischer Gerechtigkeit sowie den politischen Bedingungen der Freiheit wieder aufnimmt, bleiben doch der Politik als Wissenschaft gerade die nichtmoralischen und nichtethischen Voraussetzungen und Erscheinungsformen der praktischen Politik, etwa beim empirisch-analytischen Ansatz, zentraler Gegenstand26. Infol18 Kant hat in seiner „Metaphysik der Sitten“ auf der Grundlage eines umfassenden metaphysischen Ansatzes den Teilbereich des Wissens von der Moral im Ganzen reflektiert, indem er das moralische Wissen auf seine Bedingungen untersucht hat. In der zeitgenössischen Ethik ist die Einführung metaphysischer Überlegungen umstritten: vgl. G. Patzig, Ethik ohne Metaphysik, 2. Aufl., 1983. 19 Vgl. hierzu und zum Folgenden Pieper, Einführung (Fn. 2/B.), S. 72 ff. 20 Vossenkuhl, Art. Politik, in: O. Höffe, Lexikon (Fn. 15/A.), S. 244 ff. 21 Platon, der sich als erster abendländischer Denker kritisch mit politischen Phänomenen seiner Heimatstadt auseinandersetzt, parallelisiert sogar menschliche Seelenzustände und Elemente der Polisverfassung (vgl. Politeia). Aristoteles fügt aus diesem Grund der „Nikomachischen Ethik“ seine „Politik“ an, um „die Wissenschaft vom menschlichen Leben abzurunden“ (Die Nikomachische Ethik, übersetzt von O. Gigon, 8. Aufl. München 2010, Eth. Nic. X, 10; 1181b 12–15); vgl. hierzu Pieper, Einführung (Fn. 2/B.), S. 61 ff. 22 Vor allem in den Werken „Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio“, 1531, und „Il Principe“, 1532. 23 Vgl. H. Münkler, Machiavelli, Frankfurt 2004. 24 „Vom ewigen Frieden“ (1795). Ein philosophischer Entwurf. 25 Vgl. etwa zur Entfernung von ethischen Fragestellungen im 19. Jahrhundert: O. Höffe, Politische Gerechtigkeit, Frankfurt 1989, S. 13 f. 26 Vgl. W. Röhrich, Politik als Wissenschaft, 1978, S. 12 ff.; Stammen, Art. Politikwissenschaft und Art. Wissenschaftstheorien in: Mickel (Hrsg.), Handlexikon zur Politikwissenschaft, 1986, auch zum Voranstehenden.
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B. Richterliche Ethik als Bereichs- und Berufsethik
gedessen werden ethische Fragen politischen Handelns in der der Politik zugeordneten Bereichsethik „politische Ethik“ thematisiert. Die Rechtspolitik, als hier bezogen auf das richterliche Handlungsfeld besonders interessierender Teilbereich der Politik, ist dadurch gekennzeichnet, dass sie zum einen als Teil der Politik den Aufbau, die Organisation und Gestaltung der Justizverwaltung, die die personellen und sachlichen Voraussetzungen der Rechtspflege gewährleistet, zum Gegenstand hat. Zum anderen hat sie den Prozess der Verabschiedung von widerspruchsfreien und handhabbaren Rechtsnormen vorzubereiten, zu organisieren und zu begleiten27. Ethik verhält sich zur Politik, einschließlich der Rechtspolitik, als Basiswissenschaft insofern, als sie normative Ansprüche, etwa der Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit, an sie heranträgt und wissenschaftlich fundiert. Dieser Zusammenhang ist im Rahmen einer „richterlichen Ethik“ von Bedeutung, insbesondere wenn sie – wie noch zu zeigen – sich selbst mit politischen Haltungen und Meinungen des Richters beschäftigt oder nach den institutionellen Bedingungen ihrer Möglichkeit sucht oder wenn sie selbst zum Gegenstand der Rechtspolitik wird. Die Ökonomik ist – als weitere Disziplin der praktischen Philosophie – deshalb kurz in die vorliegende Untersuchung einzuführen, weil sie zum einen das praktische Wissen vermittelt, bei richterlichen Entscheidungen als Element ethisch-moralischen Handelns die wirtschaftlichen Folgen in den Blick zu nehmen, um das Verfahren und Entscheidungsergebnis unter Berücksichtigung knapper finanzieller und sächlicher Ressourcen zu verantworten. Zum anderen muss dieser Wissenschaftsbereich deshalb eine Rolle im vorliegenden Rahmen spielen, weil ökonomische Argumente wie Effektivität, Geschwindigkeit und quantitative Erledigungsvorgaben zunehmend an richterliches Handeln herangetragen werden. Es wird zu untersuchen sein, ob dadurch nicht ein Spannungsverhältnis zwischen den ökonomischen Vorgaben und den Forderungen einer richterlichen Ethik entstehen. Insbesondere ist zu prüfen, ob der Ökonomisierungsdruck mit seiner Reduzierung des Wertbegriffs auf zähl- und berechenbare Größen den Richter zu einer Praxis der Verflachung seiner Rechtssprechungstätigkeit drängt, die ihn selbst und den Rechtssuchenden trifft28. Rechtsphilosophie oder philosophische Rechtslehre als praktische Disziplin der Philosophie bzw. als theoretische Disziplin zur Rechtswissenschaft29 fragt da27 Vgl. Wassermann, Art. Justiz und Politik in: Mickel (Hrsg.), Handlexikon zur Politikwissenschaft, 1986. 28 Vgl. die Ausführungen von Pieper, Einführung (Fn. 2/B.), S. 68 ff., in denen unter dem Aspekt der allgemeinen Ethik die Auswirkungen der Reduktionismus einseitiger ökonomischer Ausrichtung auf das Selbstverständnis des Menschen (vom homo sapiens zum homo oeconomicus) und die dadurch gefährdete (Mit)Menschlichkeit (Empathie, Fairness, Solidarität, Chancengleichheit) eindrucksvoll skizziert werden. 29 Nach Kaufmann, in: Kaufmann/Hassemer/Neumann, Rechtsphilosophie (Fn. 40/ A.), S. 1 ff. ist die Rechtsphilosophie kein Zweig der Rechtswissenschaft, sondern der Philosophie; vgl. zum Folgenden ebenda: S. 3 ff.
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nach, was Recht überhaupt und „als Ganzes“ ist, also nach der Herkunft des Rechts als solchem (Geschichtlichkeit, Naturrecht, positives Recht, Geltungsgrund), seinem Verhältnis als „Sollen“ zum „Sein“, seinem Zweck und Ziel, insbesondere seinen Bezug zur „Gerechtigkeit“, seinen möglichen Letztbegründungen und -rechtfertigungen und – hier berühren sich Rechtsphilosophie und allgemeine Ethik – nach dem Verhältnis von Recht einerseits sowie Moralität andererseits. Letzteres ist Gegenstand der Rechtsethik als Teil der Rechtsphilosophie bzw. als eigenständige spezielle Ethik. Die Staatsphilosophie bemüht sich, die Sinnbestimmungen des politischen Gemeinwesens, etwa aus der menschlichen Natur als individuelle oder schutzbedürftige Person, zu erhellen. Die Abgrenzung der Rechtsphilosophie von der Rechtstheorie wiederum ist umstritten und letztlich unklar30. Die Aufgabe der Rechtstheorie kann pauschal bestimmt werden als Versuch, im Sinne einer allgemeinen Rechtslehre das Recht und das jeweilige Rechtssystem – zusammen mit der Rechtssoziologie – in seinen realen Funktionsabläufen zu erkennen und zu beschreiben. Sie betont den deskriptiven Aspekt als Voraussetzung des (rechts-)philosophischen Nachdenkens über das Recht31 und stellt formale und strukturelle Aspekte in den Mittelpunkt, wie Erkenntnis-, Norm-, Argumentations- und Entscheidungstheorie, juristische Methodenlehre und Logik, Semantik, Hermeneutik, juristische Topik und Rhetorik32. Richterliche Ethik als Teilbereich der Rechtsethik steht insofern wissenschaftlich in Beziehung zur philosophischen Ethik, als sie als angewandte Ethik eine ihrer Unterdisziplinen ist. Richterliche Ethik ist aber auch Teil der Rechtsphilosophie, weil sie hierüber ihre Abgrenzung zur Wissenschaft vom Recht, aber auch ihre Verbindung zu den grundlegenden Prinzipien des Rechts und der Moral herstellt. Richterliche Ethik ist aber auch Teil der Rechtsethik, die sich mit den ethischen Forderungen gegenüber dem rechtsanwendenden Personal beschäftigt. Für die Ethik verbleibt nach diesen Abgrenzungen gegenüber den anderen Disziplinen der praktischen Philosophie als Gegenstand die Moral. Sie ist insofern die umfassende Theorie der Praxis33 im Sinne der Analyse menschlicher Handlungen, die sie unter dem Aspekt der allgemeinen Verbindlichkeit, letztlich also „Richtigkeit“ 34 untersucht und beurteilt35. Sie befasst sich aber auch mit der Um30 Vgl. Kaufmann, in: Kaufmann/Hassemer/Neumann, Rechtsphilosophie (Fn. 40/ A.), S. 10 ff. m.w. N. 31 Rüthers, Rechtstheorie (Fn. 14/B.), S. 7 ff. und 15 ff. 32 Vgl. etwa die Inhaltsübersicht bei Rüthers, Rechtstheorie (Fn. 14/B.). 33 Höffe, Art. Theorie-Praxis-Problem, in: O. Höffe, Lexikon (Fn. 15/A.), S. 311 ff. 34 H. Dreier, Die Ethik des Rechts, in: G. Eifler/O. Saame (Hrsg.), Wissenschaft und Ethik. Mainzer Universitätsgespräche (SS 1991 und WS 1991/92), S. 29, setzt Ethik mit diesen normativen Prinzipien einer höheren Sittlichkeit gleich. Vgl. auch Müller, Ethik (Fn. 132/A.), BWVPr 1992, S. 247. 35 Höffe, Art. Streben, in: O. Höffe, Lexikon (Fn. 15/A.), S. 301 f., zeigt den immer schon ethisch aufgeladenen Begriff der Praxis, bei der das Handeln den Sinn in sich selbst hat, im Gegensatz zur Poiesis, als Handeln „um zu“.
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setzung des als richtig erkannten, sei es mit der Haltung des Handelnden sei es mit den Folgen des Handelns. Ethik ist damit die Bezeichnung der Wissenschaft, deren Gegenstand die Moral und ihre Verwirklichung ist36. Sie deckt sich mit dem Begriff der Moralphilosophie. Wissenschaftliche Ethik bezieht sich dabei auf jedes individuelle und kollektive Handeln des Menschen einschließlich dessen sozialen, psychischen etc. Voraussetzungen. Freiwilliges und zielgerichtetes Verhalten hält sie einer vernünftig-wissenschaftlichen Erkenntnis für zugänglich37. Sie sucht insbesondere dort, wo hergebrachte Lebensweisen und/oder Institutionen ihre selbstverständliche Geltung verlieren, „von der Idee eines sinnvollen menschlichen Lebens geleitet auf methodischem Weg und ohne Berufung auf letzte Autoritäten oder auf das von alters her Gewohnte allgemeingültige Aussagen über das gute und gerechte Handeln.“ 38 Ihr Charakter als Wissenschaft ergibt sich aus den Forderungen der Widerspruchsfreiheit, der Begriffsklärung, der Vollständigkeit und der Kohärenz39. Ethik untersucht jedoch nur solches menschliche Verhalten, das ausgesprochen oder stillschweigend Anspruch auf Moralität erhebt40. In diesem Zusammenhang fragt sie etwa danach, was eine Handlung zu einer moralisch richtigen Handlung macht. Moralische Normen (Gebote, Verbote, Wertvorstellungen) werden deskriptiv erfasst und auf ihre rationale Struktur, ihre Berechtigung bis zu ihrer Letztbegründung hinterfragt. Ethisches Denken ermittelt dabei regelmäßig zunächst, welche Bedingungen formal gegeben sein müssen, um von einer moralischen Handlung zu sprechen. Noch radikaler kann sie fragen: Warum soll der Mensch moralisch handeln und nicht vielmehr nicht moralisch41? Diese Beschäftigung dient dabei regelmäßig neben der Befriedigung des selbstaufklärerischen und wissenschaftlichen Interesses der Aufgabe, zur praktischen Umsetzung des auf diese Weise positiv bewerteten Verhaltens anzuleiten. Überträgt man diese Bestimmung der allgemeinen Ethik als Wissenschaft auf das hier zu behandelnde Thema, ergibt sich Folgendes: Der richterlichen Ethik geht es um die wissenschaftliche Untersuchung und Bewertung der richterlichen Moral, insbesondere der dem Richter aus seinem Beruf erwachsenden und im 36 Pieper, Einführung (Fn. 2/B.), S. 27. Kaufmann, Rechtsphilosophie (Fn. 3/B.), S. 213; D. von der Pfordten, Rechtsethik, München 2001, S. 56 ff., nimmt – da er Ethik der allgemeinen Normkritik und -rechtfertigung zurechnet – abweichend vom herkömmlichen Verständnis Ethik als Oberbegriff zur Ethik der Moral und der Rechtsethik. In diesem Sinne ist Recht und Moral Gegenstand der Ethik. Wie hier: Werner, Richterliche Ethik (Fn. 103/A.), BDFR FORUM 2010, S. 4. 37 Düwell u. a., Handbuch Ethik (Fn. 41/A.), S. 1 f. 38 Höffe, Art. Ethik, in: O. Höffe, Lexikon (Fn. 15/A.), S. 71 f. 39 v. d. Pfordten, Lehrbuch: Rechtsethik (Fn. 36/B.), S. 25 ff., zu den Merkmalen der Wissenschaftlichkeit der Rechtsethik. 40 Pieper, Einführung (Fn. 2/B.), S. 44 ff. 41 Pieper, Einführung (Fn. 2/B.), S. 48; zum Vorangehenden: S. 45 ff.; zum unmittelbar Folgenden: Düwell u. a., Handbuch Ethik (Fn. 41/A.), S. 1.
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Hinblick auf seine beruflichen Aufgaben bestehenden moralischen Verpflichtungen und Haltungen. Diese erste allgemeine Bestimmung des Inhalts von richterlicher Ethik gilt es festzuhalten. Damit scheiden andere, in der bisherigen Diskussion eingeführte Bestimmungen aus: Im Zusammenhang mit der richterlichen Ethik wird nämlich – diese Erkenntnis überschreitend und die Grenze zum Ethos verwischend – die Auffassung vertreten, sie bedeute das „Verhältnis von Richtern zu einem korrektes richterliches Handeln festlegenden Normensystem“ 42. Diese Definition ist nur dann tragfähig, wenn mit „Verhältnis“ nicht nur die innere Haltung des einzelnen Richters43, sondern die wissenschaftliche Bemühung um die moralische Bewertung richterlichen Verhaltens gemeint ist. Dann ist aber eine Engführung der an richterlicher Ethik Interessierten auf Richter nicht konsequent. Richterliche Ethik als rationale Beschäftigung mit den berufsmoralischen Anforderungen steht nämlich jedem, vor allem auch den von richterlichen Entscheidungen betroffenen Bürgern offen. Dass der einzelne Richter aus dieser Beschäftigung für sich eine innere Haltung zu seinem Beruf ableitet, ist für einen als unmittelbar von dieser Reflexion praktisch Betroffenen dann naheliegend und konsequent. Ebenfalls zu einseitig ist die Auffassung, richterliche Ethik als Beschäftigung mit bloß lebens- oder – hier – berufspraktischen Fragen zu verstehen44. Diese Auffassung sieht richterliche Ethik zu sehr als individuelle, autonome Veranstaltung des Richters selbst, die die „Deontologie“, also Pflichtenethik, wie die richterliche Ethik etwa in Italien oder Frankreich bezeichnet wird, in den Hintergrund drängt. Sie übersieht, dass es um die im öffentlichen Interesse geforderte Moral einer Amtsperson geht. Schließlich werden damit auch tugendethische Fragen nicht hinreichend erfasst. Richterliche Ethik wird auf diese Weise zu sehr in die Nähe richterlicher Berufskunst oder des – nicht normativen – richterlichen Selbstverständnisses gestellt und zu stark individualisiert. Bei dieser Konzeption wird ein spezielles Verständnis von „Ethik“ gegen „Moral“ ausgespielt und nicht aufeinander bezogen. „Ethik“ ist danach autonom, „Moral“ heteronom45, Ethik 42
Markel, Richterethos (Fn. 6/A.), ÖsterrRZ 2003, S. 166. So etwa Waechter, Berufsethik (Fn. 100/A.), BDVR-Rundschreiben 2012, S. 85, der allerdings dann doch deutlich macht, dass es bei der richterlichen Ethik nicht nur um das „forum internum“ geht, sondern darum, auf welche Weise (Methodik) und mit welchen Motiven der Richter seine Tätigkeit ausübt. Damit ist aber die sich nach außen zeigende, im richterlichen Handeln vergegenwärtigende Wertentscheidung Beurteilungsgegenstand richterlicher Ethik. 44 In diese Richtung: Mardorf, Philosophische Grundlagen (Fn. 2/B.), DRiZ 2010, S. 78. Allerdings werden in der rechtsphilosophischen Diskussion die Begriffe Ethik und Moral auch in diesem Sinne verwendet: so versteht etwa R. Dworkin, Gerechtigkeit für Igel, Berlin 2012, S. 33, unter „Ethik“ die Suche nach „gelungener Lebensführung“ und unter „Moral“ die Frage danach, wie man sich gegenüber anderen verhalten soll. 45 Vgl. dagegen die Differenzierung und den Zusammenhang von heteronomer und autonomer Moral: Ellscheid, Recht und Moral (Fn. 40/A.), S. 217 ff. 43
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B. Richterliche Ethik als Bereichs- und Berufsethik
betrifft das Individuum, Moral die Gruppe. Hieraus wird der Schluss gezogen, nur Richter selbst könnten eine richterliche Ethik formulieren. Nach dem näherliegenden und hier verfolgten Konzept fragt „Ethik“ jedoch nach unterschiedlichen – heteronomen oder autonomen – Begründungsformen von „Moral“, d.h. den nichtrechtlich begründeten Sollensanforderungen an richterliches Handeln und seinen Haltungen46. An diesem rationalen Prozess kann sich aber nicht nur der von der moralischen Norm betroffene Richter, sondern jeder rational Argumentierende beteiligen. Schließlich kann der zutreffende Verweis auf den Umstand, dass alle Versuche ethischer Letztbegründung in der heutigen Philosophie fragwürdig geworden sind47, die Beschäftigung mit richterlicher Ethik nicht in Frage stellen. Er pflegt ein zu einseitiges Verständnis von wissenschaftlicher richterlicher Ethik. Denn der weite Umfang des Erkenntnisinteresses und des Anwendungsfeldes der richterlichen Ethik als angewandter Ethik ist damit noch nicht erfasst. b) Ethik und die Wissenschaften jenseits der Philosophie Für die Lösung ethischer Probleme ist oft eine Vielzahl empirischer und prognostischer Fragen zu klären48. Dies gilt auch für die Fragen der richterlichen Ethik. Die Abgrenzung des Gegenstands der allgemeinen wie der angewandten Ethik als Wissenschaft verweist auf weitere empirische Wissenschaften wie etwa die Soziologie und Psychologie, die sich mit „Normen“ des Handelns befassen. So können die Soziologie und Psychologie in ihren empirischen Teilwissenschaften Rechtssoziologie und Rechts- bzw. Sozialpsychologie für die Untersuchung gerade richterlichen Verhaltens Antworten auf grundlegende Fragen bereitstellen49. Solche Fragen können sein und waren bereits: Welchen Einfluss hat die soziale Herkunft, das Rekrutierungsverfahren und das soziale Milieu des Richters auf sein Handeln? Wie werden dadurch und durch das geformte Vorverständnis des Richters die sozialen Beziehungen zu den Prozessparteien geprägt (Sym- und Antipathie; Schichtenprägung)? Welche psychologischen Vorausset-
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Ähnlich Wittreck, Funktionen (Fn. 10/A.), S. 274. In diese Richtung: Waechter, Berufsethik (Fn. 100/A.), BDVR-Rundschreiben 2012, S. 83 f. Anders S. Vöneky, Recht, Moral und Ethik – Grundlagen und Grenzen demokratischer Legitimation für Ethikgremien, Tübingen 2010, S. 78–90. 48 Düwell u. a., Handbuch Ethik (Fn. 41/A.), S. 2. 49 Vgl. etwa L. Bendix, Zur Psychologie der Urteilstätigkeit des Berufsrichters, mit einer biographischen Einleitung von R. Bendix/M. Weiss (Hrsg.), Neuwied, 1968, S. 76 ff. J. Berkemann, Die richterliche Entscheidung in psychologischer Sicht, in: JZ 1971, S. 537 ff.; vgl. auch G. Bohne, Zur Psychologie der richterlichen Überzeugungsbildung, Köln, 1948. Weimar, Psychologische Strukturen richterlicher Entscheidung, Neudruck, Bern 1996. 47
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zungen haben die Entwicklung zu höherer moralischer und ethischer Reflexionsund Handlungskompetenz50? Welche Erkenntnisse der Entscheidungspsychologie stehen bereit, um Strukturen und Handlungsmuster richterlichen Entscheidens rational nachvollziehbar zu machen51? Welche psychischen Anforderungen müssen an einen Richter gestellt werden, der als „Unabhängiger“ entscheiden soll? Welche psychischen Vorgänge wirken sich im und beim richterlichen Handeln aus, seien sie individuell, wie die Konfliktfähigkeit, der Umgang mit der Unsicherheit zu Beginn der Falllösung, insbesondere bei unklarem Sachverhalt oder unklarer Rechtslage52, oder seien sie sozial gerichtet, wie das Achtungs- und Geltungsstreben, oder sozial und institutionell beeinflusst, wie Anpassung, Verantwortungsdiffusion und Rollenverhalten im Kollegium53? Welche außerrechtlichen Einflüsse wirken über die Wahrnehmung oder andere psychische Mechanismen (wie etwa soziale oder individuelle Bedürfnisse des Richters) auf das Entscheidungsverhalten des Richters ein54? Nicht umsonst werden diese Fragen wegen ihrer unmittelbaren Folgen für die richterliche Entscheidungsfindung zunehmend zum Gegenstand richterlicher Fortbildungen55. Die Erkenntnisse dieser empirischen Wissenschaften, die gerade für einen deskriptiven Zugang zur richterlichen Ethik besonders erhellend sein können, können hier nicht außer Betracht bleiben. Für die Herausarbeitung einer normativen Richterethik im philosophischen Sinne ist jedoch zu betonen, dass die genannten Wissenschaften – soweit sie nicht wie die Psychotherapie der Behandlung freiheitseinschränkender psychischer Erkrankungen oder Fehlentwicklungen dient – sich um die Beschreibung und Erklärung faktisch bestehender Überzeugungen, Einstellungen und Sanktionsmuster, insbesondere ihre Entstehung und nicht in
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Vgl. hierzu Häuser, Vorfragen (Fn. 55/A.), BJ 76 (2003), S. 186 ff., der die entwicklungspsychologischen Erkenntnisse zur Moralentwicklung tendenziell auch auf das „Justizsystem“ bezieht. Dies erscheint gewagt, da der Richterdienst auch eine moralisch gefestigte Persönlichkeit, insbesondere soziale Kompetenz, voraussetzt und es nicht vorgesehen ist, dass er sie erst erwirbt. Hiervon ist seine berechtigte Forderung abzugrenzen, dass Richter ihre moralische Urteilsfähigkeit weiterentwickeln und stärken. 51 Zur „Psychologie der Urteilsfindung“ vgl. Wassermann, Richterliche Gewalt (Fn. 5/A.), S. 148 ff. 52 Hierzu: Berkemann, Entscheidung (Fn. 49/B.), JZ 1971, S. 537 ff. 53 Schon 1909 wurden solche Fragen in ironisierender bis sarkastischer Form von M. Beradt, Der Richter, Frankfurt/Main 1909, angesichts der offenkundigen Fehlleistungen und einer schwelenden Justizkrise aufgeworfen. Vgl. auch Bendix, Psychologie (Fn. 49/B.), der Anfang der 30er Jahre dessen Bewertungen weiter zuspitzte. 54 Vgl. hierzu C. Strecker, Selbsterkenntnis als Rechtsquelle, in: BJ 2011, S. 56 ff. 55 Vgl. etwa die „verhaltensorientierten“ Fortbildungen im Jahresprogramm der deutschen Richterakademie (http://www.deutsche-richterakademie.de; Stand: Dezember 2015): z. B. Psychologie der Aussagebeurteilung; Der Mensch in der Robe; Psychologische Rhetorik und andere Urteilseinflüsse vor Gericht; Empfindung und Wirkung im Einklang: Die Hauptverhandlung im Strafprozess – Kommunikationsanalyse und Selbsterfahrung.
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B. Richterliche Ethik als Bereichs- und Berufsethik
erster Linie um deren Rechtfertigung oder Kritik bemühen56. Deswegen wird es stets erforderlich sein, die empirischen Erklärungen des Seienden von den normativen Bewertungen, dem Sollen, streng zu trennen. Ethik steht auch in einer engen Beziehung zu bestimmten Naturwissenschaften: So ist etwa der „freie Wille“ des Menschen die denknotwendige Grundlage und Voraussetzung zurechenbaren Verhaltens im Recht57 wie in der Moral. Mit ihm steht und fällt also die Moral und die sie untersuchende Ethik58. Dies gilt auch für die richterliche Ethik. Normabweichendes Verhalten, das Autonomie voraussetzt, und die jeweils zugeschriebene „Schuld“ kann nach dem selbst schon normativen Grundsatz „Inpossibilium nulla obligatio est“ 59 dem Einzelnen dann nicht entgegengehalten werden, wenn er durch seinen neurologisch-biologischen Apparat determiniert wäre60 und Freiheit und Würde nichts als Illusionen wären61. Hieraus folgt, dass die Erkenntnisse der Biologie, genauer der Neurobiologie62, bei ethischen Diskussionen grundsätzlich zu berücksichtigen sind. Sie geht insbesondere der Frage nach, ob die materielle Bedingtheit kognitiv-voluntativer Prozesse allein aus Leistungen der Großhirnrinde zu erklären sind und sich Freiheit als eine normative Zuschreibung und damit als bloß soziales Konstrukt erweist63. Sie fragt auch, in welchem Umfange die natürlich-biologische Basis des Menschen Grenzen für sein kultiviertes und sittliches Handeln setzt. Die vorliegende Arbeit kann auf die Auseinandersetzungen um diese Fragen, die längst nicht abgeschlossen sind, letztlich nicht eingehen oder gar eine Position beziehen64. Sie muss aber mit der Fragwürdigkeit der Willensfreiheit und dem normativen Charakter des Freiheitsbegriffs rechnen. Ethik als Wissenschaft der moralischen Praxis hat schließlich auch mit den Grundlagen und dem Verständnis von menschlichen Entscheidungen als Voraus56 Pieper, Einführung (Fn. 2/B.), S. 120 ff. und 124 ff. zur Abgrenzung Ethik zu Psychologie und Soziologie, dabei auf die Webersche Werturteilsfreiheit eingehend; zur Abgrenzung des ethischen vom psychologischen Erkenntnisinteresse: J. Habermas, Erkenntnis und Interesse, Frankfurt am Main 1968, S. 280, 281 und 288; Horn, Art. Moralpsychologie, in: O. Höffe, Lexikon (Fn. 15/A.), S. 219 ff. 57 E. Paul, Gewissen und Recht. Demokratie und Rechtsstaat, Köln 1970, S. 6 ff. Dagegen kritisch: S. Krauth, Die Hirnforschung und der gefährliche Mensch. Zur neurowissenschaftlich begründeten Abwesenheit des freien Willens, in: KritV 2008, S. 303 ff. m.w. N. 58 Pieper, Einführung (Fn. 2/B.), S. 129, 168. 59 Dig. 50.17.186. 60 In diesem Sinne: vgl. R. Wright, Diesseits von Gut und Böse. Die biologischen Grundlagen unserer Ethik, München 1994, S. 557 f.; vgl. auch Höffe, Art. Instinkt, in: O. Höffe, Lexikon (Fn. 15/A.), S. 145 ff. 61 Vgl. B. F. Skinner, Jenseits von Freiheit und Würde, Reinbek 1973, S. 25. 62 Hierzu Pieper, Einführung (Fn. 2/B.), S. 128 ff. 63 Pieper, Einführung (Fn. 2/B.), S. 128 ff. 64 Krauth, Hirnforschung (Fn. 57/B.), KritV 2008, S. 303 ff.; Pieper, Einführung (Fn. 2/B.), S. 173.
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setzungen für menschliches Handeln zu tun. Die sich damit befassende wissenschaftliche Theorie der rationalen Entscheidung oder Pragmatik65 ist allgemein gesprochen eine interdisziplinäre Forschungsrichtung, die als sozialwissenschaftliche (deskriptive) Theorie faktisches Entscheidungsverhalten untersucht und als normative Theorie tatsächliche Regeln für rationale Entscheidungen aufstellt66. Mit logisch-mathematischen Entscheidungskalkülen sollen Einzelne oder Gruppen aus mehreren Handlungsoptionen die zu ihren Zielen optimalen Möglichkeiten „errechnen“. Zum Teil als eigenständige Teildisziplin der Ethik67, zum Teil als Element der Metaethik befasst sich daher die Theorie der rationalen Entscheidung, die auch als Lehre richtigen Handelns verstanden werden kann, mit der Frage: Wie soll ich – im Hinblick auf das angestrebte Ziel – handeln? Insofern geht es allerdings in erster Linie darum, ob und wie eine einzelne Handlung geeignet ist, das erstrebte Ziel optimal zu erreichen. Diese Perspektive unterscheidet sich von der ethischen, weil sie das rationale Entscheiden und Handeln, nicht das moralische richtige untersucht. „Gut“ ist die die Handlung dann, wenn sie den gewünschten Erfolg herbeiführt, sie also sachgerecht ist. Letztlich sucht diese Perspektive nach der jeweils konkret gebotenen „Kunstfertigkeit“ oder „Klugheit“ eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen. Diese Perspektive steht – übertragen auf den richterlichen Bereich – mithin näher zu der Teildisziplin Rechtssprechungslehre, Methodik, richterlicher Pragmatik68, zur richterlichen Kunst und Technik sowie zur Qualitätssicherung richterlichen Handelns, denen es regelmäßig eher um die Effizienz und Vorhersehbarkeit richterlichen Verhaltens geht, als zur richterlichen Ethik, der es um das moralisch gebotene Handeln geht. Allerdings bestehen – etwa hinsichtlich der Wahrung der Gesetzesbindung – auch enge Berührungspunkte. c) Ethische Perspektiven aus historischer Sicht Die historische Entwicklung der Ethik als Wissenschaft erhellt, dass ihr Gegenstand Veränderungen unterliegt und deshalb in unterschiedlicher Perspektive und methodisch differenziert wahrgenommen werden muss. Sie macht insbeson-
65 Höffe, Art. Pragmatik, in: O. Höffe, Lexikon (Fn. 15/A.), S. 246 f.; Pieper, Einführung (Fn. 2/B.), S. 84 ff. 66 Höffe, Art. Endscheidungstheorie, in: O. Höffe, Lexikon (Fn. 15/A.), S. 64 ff., auch zum Folgenden. 67 Vgl. Pieper, Einführung (Fn. 2/B.), S. 84 ff., in Abgrenzung zu der sprachanalytischen Pragmatik von Morris (Wirkung von Zeichen im Verhalten) bzw. der sprachpragmatischen Ethikkonzeption von Pieirce und Apel (Normprüfung in praktischen Diskursen). 68 W. Hassemer, Gesetzesbindung und Methodenlehre, in: ZRP 2007, S. 218 ff., ders., Juristische Methodenlehre und richterliche Pragmatik, in: H. Müller-Dietz u. a. (Hrsg.), Festschrift für H. Jung, Baden-Baden 2007, S. 251 ff.
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B. Richterliche Ethik als Bereichs- und Berufsethik
dere den Blick frei für den Unterschied69 zwischen der Untersuchung des evaluativ Guten als Voraussetzung des individuellen „Glücks“ oder der „Eudämonie“ einerseits und des normativ Richtigen als Voraussetzung des „sittlichen Lebens“ als Ziel moralischen Handelns andererseits, also für den Unterschied zwischen „Glück“ und „Tugend“. Insofern ist ein grundlegender Unterschied im Ziel wissenschaftlicher Ethik historisch fundiert, der auch in der gegenwärtigen Diskussion über die richterliche Ethik festgestellt werden kann: nämlich der Unterschied zwischen der richterlichen Ethik als Handlungsanleitung „geglückter“ autonomer Berufsausübung auf der einen und der Wissenschaft von den außerrechtlichen normativen Anforderungen an den Richter auf der anderen Seite. Die Differenz und Reibung zwischen „Glück“ und „Tugend“ blieb in der Geschichte der philosophischen Ethik bis heute weitgehend erhalten70. Aus dieser Denkentwicklung folgt die Differenzierung zwischen der auf die Gruppe bezogenen Moral, die etwa in aristotelischer Betrachtung den Einzelnen erst zu gelungenem Leben und Handeln führt, und der neuzeitlichen Forderung nach Autonomie des Einzelnen71. In der richterlichen Ethik spiegeln sich diese Perspektiven in unterschiedlichen Herangehensweisen an den geforderten Inhalt dieser Berufsethik. Für den einen soll sie zur individuellen Befriedigung im Beruf führen und sein Selbstverständnis anleiten, für den anderen das Wesen des richterlichen Handelns in einer funktionierenden Institution Justiz beschreiben, für wieder andere richterliche Tugenden fixieren und dabei auch Beratungshilfe für die individuell verantwortete Berufsausübung liefern. 3. Teildisziplinen der allgemeinen Ethik: Deskriptive Ethik, Normative Ethik und Metaethik Lässt sich Ethik also als philosophische Wissenschaft der Moral verstehen, so kann diese selbst auf verschiedene Weise durchgeführt werden. Diese Modi werden auch hier im Rahmen der richterlichen Ethik herangezogen, um den Gegenstand „richterliche Moral“ perspektivisch und methodisch möglichst vollständig zu erfassen: Die deskriptive Ethik untersucht empirisch die innerhalb einer konkreten Gesellschaft oder Gruppe tatsächlich befolgte Moral oder auch solche vergangener Epochen und beschreibt sie aus einem spezifisch historischen, psychologischen,
69 Den Unterschied und die Übereinstimmung herausarbeitend: O. Höffe, Lebenskunst und Moral: oder macht Tugend glücklich? München 2007. Vgl. auch Fenner, Einführung (Fn. 37/A.), S. 4. 70 Vgl. aber die Versuche einer philosophischen Integration: Höffe, Lebenskunst (Fn. 69/B.); H. Krämer, Integrative Ethik, Frankfurt 1992. 71 Dreier, Rechtsethik (Fn. 7/A.), S. 381.
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soziologischen oder anderen einzelwissenschaftlichen Erkenntnisinteresse72. Hierbei werden auch die Geltungsansprüche dieser verschiedenen Moralen verglichen. Sie ist mit anderen Disziplinen verwandt, vor allem mit der Moralpsychologie73, der Kulturgeschichte der Moral, Ethnologie und der Moralsoziologie sowie mit der Ethikgeschichte74. Der deskriptive Ansatz soll auch hier den ersten Zugang zur richterlichen Ethik eröffnen. So soll die Herkunft und der Bestand richterlicher Berufsmoral in anderen Staaten dargestellt und in Abgrenzung zu den in Deutschland geltenden rechtlichen und rechtlich fundierten Handlungspflichten des Richters beschrieben werden. Außerdem soll der Versuch unternommen werden, historisch zu untersuchen, welche Vorstellungen über richterliche Moral in Deutschland in der Vergangenheit in den jeweiligen Epochen bestanden und wie sich diese verändert haben. Die methodische Untersuchung von Moral, die auf das Ziel der Begründung und der Kritik von Moral bzw. auf das Ziel einer normativen Prüfung faktisch vorhandener Moral gerichtet ist, nennt man – in einem allgemeinen Sinn – normative Ethik75. Ihr geht es darum, grundlegende moralische Prinzipien und Kriterien zu bestimmen und zu begründen, um die geltenden moralischen Normen sowie die mit ihnen verknüpften moralischen Urteile, was die Plausibilität ihrer Geltung angeht, zu überprüfen und ggf. zu korrigieren oder außer Kraft zu setzen76. Normative Ethik kann dabei in einem engen Sinne verstanden werden. In diesem Sinne beschäftigt sich die normative Ethik mit Fragen des normativ Richtigen, d.h. dem „Gesollten“ und dem formalen Moralprinzip. Normative Ethik wird hier also ausschließlich als Sollens- oder Pflichtenethik verstanden77, d.h. als jene Unterdisziplin, die der eher eudämonistisch orientierten und auf die „Lebenskunst“ ausgerichtete Strebens- oder Tugendethik78 gegenüber steht. Dementsprechend umfasst allenfalls ein weiter Begriff normativer Ethik auch die Strebensethik79.
72 Düwell u. a., Handbuch Ethik (Fn. 41/A.), S. 2. Thurnherr, Angewandte Ethik (Fn. 37/A.), S. 8. 73 Hierzu auch Horn, Art. Moralpsychologie, in: O. Höffe, Lexikon (Fn. 15/A.), S. 219 ff. 74 Düwell u. a., Handbuch Ethik (Fn. 41/A.), S. 2. 75 Düwell u. a., Handbuch Ethik (Fn. 41/A.), S. 2. 76 Thurnherr, Angewandte Ethik (Fn. 37/A.), S. 9. 77 Düwell u. a., Handbuch Ethik (Fn. 41/A.), S. 2 f. auch zum Folgenden. 78 Vgl. hierzu Fenner, Einführung (Fn. 37/A.), S. 3 f. Krämer, Integrative Ethik (Fn. 70/B.), S. 72 ff.; Thurnherr, Angewandte Ethik (Fn. 37/A.), S. 131 ff.; Höffe, Art. Tugend, in: O. Höffe, Lexikon (Fn. 15/A.), S. 317 ff. 79 Vgl. Thurnherr, Angewandte Ethik (Fn. 37/A.), S. 7 f., der zu Recht darauf aufmerksam macht, dass diese Differenzierung nicht streng, sondern nur idealtypisch vorzunehmen ist.
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B. Richterliche Ethik als Bereichs- und Berufsethik
Die normativ-ethischen Methoden und Begründungsansätze der richterlichen Ethik können aus den Erkenntnissen dieses Teilbereichs der Ethik schöpfen. Die Differenzierung von Sollens- und Strebensethik kann die unterschiedlichen Ansätze in der deutschen Diskussion zur richterlichen Ethik erklären und moralische Prinzipien für richterliches Handeln bzw. für richterliche Haltungen begründen. Die Untersuchung von Moral und Ethik kann schließlich auch darauf gerichtet werden, die Strukturen moralischer und ethischer Sprachaussagen – seien sie logisch, seien sie semantisch – zu analysieren80: z. B. Was ist unter einem moralischen Urteil zu verstehen? Wodurch unterscheiden sich moralische Urteile von anderen Urteilen? Was ist der Unterschied zwischen „richtig“ und „gut“? Insoweit spricht man von Metaethik im Sinne einer Wissenschaftstheorie der Ethik81. Sie will regelmäßig – soweit wie möglich – keine inhaltlichen Aussagen über das sittlich Gute einzelner Handlungen, ihrer Regeln oder des Kriteriums der Regeln machen, also „moralische“ Neutralität wahren82. Die Metaethik ist ursprünglich aus der Untersuchung praktischer Argumentationen mit den Mitteln der modernen sprachanalytischen Philosophie entstanden, die das „Sprachspiel der Moral“ näher untersucht und moralische Aussagen beschreibt, analysiert, rekonstruiert und erklärt83. In Erweiterung dieses metamoralischen Ansatzes84, der sich auf konkrete moralische Sätze und Forderungen bezieht, sind Gegenstand der metaethischen Reflexion ethische Sätze, Theorien und Systeme, mit deren Hilfe ethische Aussagen in ihren systematischen Bedingungen und Prinzipien beschrieben und – auch hinsichtlich ihrer Leistungskraft – überprüft werden. Sie dient als Grundlage für die deskriptive und normative Ethik. Die Untersuchung der allgemeinen „Bedingungen der Möglichkeit“ ethischen Argumentierens war bislang Teil der normativen Ethik85. Deshalb ist es nicht leicht, normative Ethik und Metaethik strikt voneinander abzugrenzen86. Die sprachanalytische Reflexion verweist auf einen bedeutsamen Umstand: Moral kann nicht zum „Objekt“ wissenschaftlicher Untersuchung werden wie die Objekte in anderen empirischen Wissenschaften. Die faktischen Überzeugungen vom normativ Richtigen und Guten sind als Überzeugungen nämlich immer schon auf mehr oder weniger rationale Annahmen und Argumente gestützt87. 80
Düwell u. a., Handbuch Ethik (Fn. 41/A.), S. 2 f. sowie 11 f. Vgl. Pieper, Einführung (Fn. 2/B.), S. 86 ff.; Höffe, Art. Metaethik, in: O. Höffe, Lexikon (Fn. 15/A.), S. 204 ff.; Schüller, Ethische Prinzipien (Fn. 77/A.), SchlHAnz. 2006, S. 146; Thurnherr, Angewandte Ethik (Fn. 37/A.), S. 10. 82 Zur deren Grenzen Düwell u. a., Handbuch Ethik (Fn. 41/A.), S. 11. 83 Düwell u. a., Handbuch Ethik (Fn. 41/A.), S. 3. Sie macht in erster Linie metamoralische Aussagen, im Sinne von nicht wertenden Aussagen über moralische Aussagen (z. B.: Du sollst . . ., Du darfst nicht . . .) als Tatsachen. 84 Hierzu und auch zu dem Vorangegangenen Pieper, Einführung (Fn. 2/B.), S. 86. 85 So Düwell u. a., Handbuch Ethik (Fn. 41/A.), S. 2 f. 86 Düwell u. a., Handbuch Ethik (Fn. 41/A.), S. 2 f. und S. 11; auch zum Folgenden. 87 Düwell u. a., Handbuch Ethik (Fn. 41/A.), S. 2. 81
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Ein Schwerpunkt metaethischen Nachdenkens zur richterlichen Ethik wird dort liegen müssen, wo es um die Abgrenzung des Raumes und des möglichen Inhalts richterlicher Berufsmoral geht. Dort wird die Struktur „richterlicher Ethik“ zu untersuchen sein, die durch ihre besondere Nähe zum Recht und seinen außermoralischen normativen Vorgaben und Institutionen geprägt ist. Unter diesem Aspekt wird insbesondere das Verständnis und die normativen Bedingungen der Möglichkeit richterlicher „Pflichten“, „Tugenden“ und „Haltungen“ zu untersuchen sein. Denn in der Abgrenzung der normativen Vorgaben von Recht und Moral liegt im richterlichen Handlungsfeld ein Hauptproblem. 4. Möglichkeiten und Grenzen der Ethik Ethik ist „nur“ die Wissenschaft der Moral88. Sie ist nicht selbst die Moral. Sie ist schon gar nicht die Praxis, die moralisch zu beurteilen ist. Ethik macht den Menschen nicht moralisch, sie klärt ihn nur über die Bedingungen seines moralischen Handelns auf. Sie ist auch keine Übermoral, sondern Form des Nachdenkens über die Moral. Sie zwingt aber den Handelnden zum besseren Argument für sein Handeln89. Ethik liefert dabei keine unbestreitbaren Kriterien moralischen Handelns. Sie bietet allenfalls Anwendungsbeispiele gelungenen Verhaltens90. Ethik ist regelmäßig nur für den sinnvoller Gegenstand der Beschäftigung, den auch Moral etwas „angeht“, d.h. der Handlungsalternativen und die sich daraus ergebenden Probleme bei der Wahl unter normativen Lösungsvorschlägen bewältigen will, dem es darum geht, „das Gute“ oder „das Richtige“ zu tun91. Ethik kann ihm dabei Grundprinzipien moralischen Handelns angeben und näher begründen. Es geht ihr nicht um ein Wissen um seiner selbst willen, sondern um verantwortete Lebens- oder Berufspraxis. Sie soll dem Menschen in komplexen Situationen im Wege einer rationalen Aufklärung über moralische Ansprüche und damit Hilfe für seine Entscheidungen liefern. Die so ermittelten normativen Aussagen erheben je nach ethischem Ansatz unterschiedliche Geltungsansprüche: „Während evaluativen Aussagen, die stets von bestimmten Vorstellungen vom guten und gelingenden Leben abhängig sind, nur der Status von Ratschlägen oder Empfehlungen zukommt, erheben Normen bzw. Prinzipien des moralisch Richtigen einen universalen und kategorischen Geltungsanspruch, der ihnen – sobald er vernünftig begründet werden kann – einen Vorrang vor allen anderen praktischen Gesichtspunkten zukommen lässt.“ 92 88 89
Zum Folgenden vgl. insgesamt Pieper, Einführung (Fn. 2/B.), S. 185 ff. Pieper, Einführung (Fn. 2/B.), S. 186; Düwell u. a., Handbuch Ethik (Fn. 41/A.),
S. 3. 90 Pieper, Einführung (Fn. 2/B.), S. 187 f., Schüller, Ethische Prinzipien (Fn. 77/A.), SchlHAnz. 2006, S. 145. 91 Thurnherr, Angewandte Ethik (Fn. 37/A.), S. 9 und S. 11. 92 Düwell u. a., Handbuch Ethik (Fn. 41/A.), S. 2.
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B. Richterliche Ethik als Bereichs- und Berufsethik
Übertragen auf die richterliche Ethik heißt das: Sie kann grundsätzlich nur allgemeine Prinzipien moralisch vertretbaren richterlichen Handelns oder – im Rahmen der angewandten Ethik – moralische Haltungen für bestimmte Typen von Problemsituationen im richterlichen Berufsfeld begründen. Die konkrete und folgerichtige Anwendung der Prinzipien auf den einzelnen Fall ist Aufgabe der praktischen Urteilskraft des Richters. Die richterliche Ethik stellt nur das theoretische „Wissen“ bereit, das verantwortlich und unter Berücksichtigung der berufspraktischen Besonderheiten in der jeweiligen Situation angewendet werden soll. Dabei ist dieses Wissen nicht völlig unkonkret, sondern muss operationale Kriterien für berufsmoralisches Verhalten und Haltungen angeben. Entsprechend muss auch die praktische Urteilskraft allgemeine Prinzipien und die hieraus abgeleiteten Beurteilungskriterien immer wieder auf neue Situationen und Lebenslagen anwenden93. Insoweit spielt für die richtige moralische Entscheidung neben den ethischen Kenntnissen die Einübung von richterethisch begründeten Haltungen eine wichtige Rolle, die die Urteilskraft schult bzw. deren Ergebnisse tatsächlich verwirklicht. Über diese regelgeleitete Einübung hinaus ist Ziel der richterlichen Ethik, den Richter auf die Bedeutsamkeit von moralischer Kompetenz und sozialer Verantwortung aufmerksam zu machen94.
II. Recht, Rechtswissenschaft und Ethik Ethik als Wissenschaft moralischen Handelns ist eine praktische Wissenschaft. Insofern teilt sie ihren Forschungsbereich mit anderen handlungsorientierten Wissenschaften95. Infolgedessen sind Überschneidungen mit dem Bemühen anderer Wissenschaften naheliegend, aber auch erforderlich, um so ein möglichst umfassend und interdisziplinär abgesichertes Bild menschlichen Handelns zu gewinnen. Diese Klärung und Abgrenzung muss im vorliegenden Zusammenhang – über das bereits Geleistete hinaus – erweitert werden: Denn eine umfassend reflektierte richterliche Ethik muss akzeptieren, dass sie ein Handlungsfeld zum Untersuchungsgegenstand hat, das bereits durch eine Fülle rechtlicher Normen gestaltet und geprägt ist. Dieses Normensystem, das richterliches Verhalten nicht nur vor und bei der Entscheidung des konkreten Rechtsfalls steuern, sondern auch in 93 Zu dem konkreten Vorgang dieser Anwendung, die mit der juristischen Subsumtion vergleichbar ist, im Einzelnen A. Pieper, Praktische Urteilskraft. Zur Frage der Anwendung moralischer Normen, in: T. M. Seebohm (Hrsg.), Prinzip und Applikation in der praktischen Philosophie, Mainz 1989, S. 153 ff., die dabei gerade die richterliche Normanwendung zur Erläuterung wählt, S. 156, 160 ff. 94 Vgl. hierzu und allgemein zu den beschriebenen Zielen der allgemeinen Ethik, die hier auf die richterliche übertragen wurde: Pieper, Einführung (Fn. 2/B.), S. 182 ff., 184. 95 Pieper, Einführung (Fn. 2/B.), S. 119 ff.
II. Recht, Rechtswissenschaft und Ethik
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und außerhalb des Berufs das sozialbedeutsame Handeln als Richter prägen will, wird von der Rechtswissenschaft nach methodischen Grundsätzen untersucht und anwendungsfähig gemacht. Als Metawissenschaft versucht daneben die Rechtsphilosophie dieses Normensystem und die sie untersuchende Rechtswissenschaft wissenschaftlich zu transzendieren. Weiter etabliert sich zunehmend die Rechtsethik als Teilbereich der Rechtsphilosophie, die ethische Überlegungen, insbesondere Fragen der Gerechtigkeit an das Recht im Allgemeinen und in außergewöhnlichen Problem- und Konfliktlagen sowie an die in und mit der Rechtsordnung Agierenden heranträgt. Wo kann bei dieser Ausgangslage noch ein Untersuchungsfeld für eine „richterliche Ethik“ bleiben? Dies festzustellen, geschieht konsequenterweise im Wege der Abgrenzung von Recht und Moral sowie der diesen Wissenschaften jeweils zugeordneten Gegenständen. 1. Recht und Moral Recht und Moral stellen als Normgebilde Sollensanforderungen an den Einzelnen und wollen menschliches Verhalten steuern96. Ihre grundsätzliche Unterscheidung, die die Antike in dieser Klarheit noch nicht kannte97, ist Ergebnis der fortschreitenden Übertragung der Sanktionierung von Regelverstößen vom Betroffenen auf staatliche Instanzen und einer Ausweitung normativer Verhaltenssteuerung durch das frühneuzeitliche Recht98. Dieser Prozess wurde in der Zeit der Herausbildung des säkularen Staates und der Aufklärung kritisch hinterfragt und eine rationale Steuerung durch das Recht gefordert; die daraus abgeleitete Trennung von Recht und Moral wurde konstitutiv für den liberalen Rechtsstaat99 und wirkte in besonderer Weise freiheitseröffnend100: Christian Thomasius (1655–1728) unterschied insoweit zwischen erzwingbarem „iustum“ und nicht erzwingbarem „honestum“ 101. Immanuel Kant (1724– 1804) trennte in seiner „Metaphysik der Sitten“ „Moralität“ und „Legalität“, also 96 Ellscheid, Recht und Moral (Fn. 40/A.), S. 214 f.; zur Abgrenzung v. d. Pfordten, Lehrbuch: Rechtsethik (Fn. 36/B.), S. 65 ff. u. 75 ff., der auch die herkömmlichen Abgrenzungsmerkmale hinterfragt. 97 Horster, Art. Rechtsethik, in: R. Stoecker/Ch. Neuhäuser/M. L. Raters (Hrsg.): Handbuch Angewandte Ethik, Stuttgart 2011, S. 156. Zur naturrechtlichen Wurzel der Verbindung von Recht und Moral in der Antike: M. Mahlmann, Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, Baden-Baden 2010, S. 231 f. 98 Ellscheid, Recht und Moral (Fn. 40/A.), S. 214 f. 99 Vgl. J. Hagen, Zur Ethik des Rechtsstabs, in: M. Fischer/M. Strasser (Hrsg.), Rechtsethik, Frankfurt/Main, 2007, S. 159 f. m.w. N. 100 Wittreck, Funktionen (Fn. 10/A.), S. 285; R. Ogorek, Recht, Moral, Politik: Zum Richterbild in der Mediengesellschaft, in: KritV 1997, S. 5, 16 f. weist aber zutreffend darauf hin, dass die Trennungsthese in einem medial geprägten Umfeld eher nicht der Erwartungshaltung des Publikums entspricht, das eher moralisch richtiges, als rechtlich richtiges Recht vom Richter erwartet. 101 Grundlegend in seinem Werk: Fundamenta iuris naturae et gentium, 1705.
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B. Richterliche Ethik als Bereichs- und Berufsethik
das, was nur aus eigenem Antrieb verpflichte und „innerlich zwingt“, und dem, was auch durch fremde, also staatlicher Macht erzwungen werden kann und darf. Ersteres gilt für Tugendpflichten, letzteres für Rechtspflichten, bei deren Erfüllung dem Staat die innere Motivation des „Gesetzestreuen“ gleichgültig sein muss102. In der Rechtsphilosophie des 20. Jahrhunderts wurden unterschiedliche Ansätze gewählt, die Trennungsthese zu begründen. H. L. A. Hart setzt sprachlich an der sinnvollen und notwendigen begrifflichen Trennung von Recht und Moral an, ohne damit eine rational begründete moralische Kritik des geltenden Rechts auszuschließen. Denn die Frage, wie Recht sein sollte, wird erst bei klarer Begrifflichkeit ermöglicht103. Hans Kelsens „Reine Rechtslehre“ 104, der zwischen der Geltung des Rechts und den diese Geltung beeinflussenden außerrechtlichen Maßstäben, wie Moral, Politik oder Psychologie strikt unterschied, untermauert die Trennung rechtsphilosophisch und -methodisch anders105. Bei ihm begründet sich die Trennung in erster Linie aus der Geltungsverschiedenheit von Recht und Moral106. Die Trennungsthese wurde schließlich auch pragmatisch mit der notwendigen Freiheit des Einzelnen vor staatlich verordneten Glückskonzepten und daraus abgeleiteten Handlungspflichten, zum anderen mit dem Schutz des Einzelnen vor durchsetzungsstarken moralischen Gruppen durch einen neutralen Staat begründet. Dieser Gewinn der Trennung wird dann besonders augenfällig, wenn die freiheitsbeschränkenden Folgen in die Betrachtung einbezogen werden, wenn Recht der Durchsetzung bloß „herrschender“, nicht ethisch reflektierter Moralvorstellungen – wie etwa im ideologisch geprägten Weltanschauungsstaat des 20. Jahrhunderts107 – dient. Die Trennung von Recht und Moral rechtfertigt sich aus der unterschiedlichen Art ihrer Entstehung, dem Umfang ihrer Geltung, der Art ihrer Durchsetzung und ihrer gesellschaftlichen Funktion108: Recht wird nach den im jeweiligen Staat bestehenden Verfassungsregeln vorgesehenen Verfahren durch ein hierzu ermächtigtes Organ für grundsätzlich jedes Mitglied der Rechtsgemeinschaft als zu einem
102 Hierzu Horster, Art. Rechtsethik, in: Stoecker/Neuhäuser/Raters, Handbuch (Fn. 97/B.), S. 156. Mahlmann, Rechtsphilosophie (Fn. 97/B.), S. 232. Vgl. auch H. Dreier, Kants Republik, in: JZ 2004, S. 745, 746 f. 103 H. L. A. Hart, Der Positivismus und die Trennung von Recht und Moral, dt. in: ders., Recht und Moral. Drei Aufsätze, Göttingen 1971, S. 14 ff. 104 H. Kelsen, Reine Rechtslehre. Mit einem Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit, 2. Aufl., 1960, S. 201, 357 ff. 105 Vgl. hierzu H. Dreier, Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, 2. Aufl., Baden-Baden 1990, S. 159 ff., 174 ff. 106 Hierzu: Ellscheid, Recht und Moral (Fn. 40/A.), S. 221 ff.; R. Dreier, Der Begriff des Rechts, in: NJW 1986, S. 890 ff. 107 Zur Identitätstheorie: Kaufmann, Rechtsphilosophie (Fn. 3/B.), S. 214. 108 Ellscheid, Recht und Moral (Fn. 40/A.), S. 216 ff.; Mahlmann, Rechtsphilosophie (Fn. 97/B.), S. 238; Schüller, Ethische Prinzipien (Fn. 77/A.), SchlHAnz. 2006, S. 145.
II. Recht, Rechtswissenschaft und Ethik
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bestimmten Zeitpunkt verbindlich gesetzt109 und im Falle des Rechtsbruchs oder -streites durch hierzu berufene Organe, in der Regel durch Gerichte, auf der Grundlage äußerer Beweise festgestellt, notfalls im Wege des Zwangs vollstreckt oder mittels Strafe durchgesetzt. Recht ist regelmäßig dokumentiert und abrufbar. Recht dient dem Ausgleich und der Schlichtung von Konflikten. Moralische Normen hingegen entstehen im Wege langwieriger Anerkennungsprozesse und deren Beachtung durch die Angehörigen sozialer Subgruppen110. Ihr Inhalt ist häufiger eher unbestimmt und streitig. Verstöße gegen die geltende Gruppenmoral werden von ihren Mitgliedern im Wege der Zurechtweisung, Missbilligung, Missachtung und/oder Ausgrenzung, ggf. unter Anwendung von nichtstaatlicher Gewalt, geahndet oder lösen beim (Nicht-)Handelnden Unzufriedenheit, Gewissensbisse, Scham und Reue aus111. Im Kern zielen sie auf das richtige sittliche Verhalten. Während Rechtsnormen nur äußerlich mit dem Rechtsgebot übereinstimmendes Verhalten verlangen, setzt moralisches Handeln regelmäßig eine innere Haltung oder Gesinnung zur Normbefolgung voraus112. Auch wenn die Trennung von Moral und Recht theoretisch überzeugt und praktisch freiheitseröffnend wirkt, so war und ist sie dennoch theoretisch und praktisch streitig113 bzw. nicht vollständig durchzuhalten. Zwischen Recht und Moral bestehen vielfältige Beziehungen114, die die strikte Trennungstheorie, wenn nicht in Frage stellen, so doch abmildern. So beruhen Recht und Moral auf grundlegenden Wertvorstellungen, die in der jeweiligen Gemeinschaft oder Gruppe, für die sie Geltung beanspruchen115, überwiegend anerkannt sind. Hinsichtlich der Bedingungen ihrer Verbindlichkeit lassen sie sich auf ethisch entwickelte und moral- wie rechtsphilosophisch ausgearbeitete Grundprinzipien, wie Gerechtigkeit, Gleichheit und Freiheit als Letztbegründungen zurückführen116. Diese prägen sowohl den Inhalt der Rechtsidee als auch der Moralität. Die Beziehungen, Überschneidungen und Verbindungen von Recht und Moral werden in unterschiedlicher Weise beschrieben: 109 Horster, Art. Rechtsethik, in: Stoecker/Neuhäuser/Raters, Handbuch (Fn. 97/B.), S. 156. 110 Pieper, Einführung (Fn. 2/B.), S. 32 ff., 42 ff. 111 Ellscheid, Recht und Moral (Fn. 40/A.), S. 217 f. Eine Sanktionsfreiheit von moralischen Verstößen existiert nicht. So aber Stang, Berufsethik (Fn. 116/A.), Mitteilungsblatt NRB 2013, S. 45. 112 H. Dreier, Gesellschaft, Recht, Moral, in: Universitas. Zeitschrift für interdisziplinäre Wissenschaft, 48. Jg. (1993), Nr. 561, S. 252; Rüthers, Rechtstheorie (Fn. 14/B.), S. 232; Fenner, Einführung (Fn. 37/A.), S. 7 f. 113 Ellscheid, Recht und Moral (Fn. 40/A.), S. 223 ff.; Kaufmann, Rechtsphilosophie (Fn. 3/B.), S. 214 ff. 114 Vgl. Dreier, Gesellschaft (Fn. 112/B.), S. 247 ff.; Sommermann, Ethisierung (Fn. 34/A.), ARSP 89 (2003), S. 81 ff. 115 Zu den Gemeinsamkeiten von Recht und Moral: Ellscheid, Recht und Moral (Fn. 40/A.), S. 228 f. Rüthers, Rechtstheorie (Fn. 14/B.), S. 233 f. 116 Pieper, Einführung (Fn. 2/B.), S. 142.
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B. Richterliche Ethik als Bereichs- und Berufsethik
Rechtssoziologische und -historische Erkenntnisse zeigen117, dass Recht sich in einer genetisch-kausalen Weise118 in Teilen aus moralischen Normen entwickelte und noch heute entwickelt. Dabei gilt jedoch stets die jeweilige Autonomie der Rechts- bzw. der Moralordnung insoweit, als diese Ordnungen keinen zwingenden genetischen Bezug zueinander haben119. Recht und Moral beeinflussen sich vielmehr gegenseitig oder müssen aufeinander Rücksicht nehmen120. Insbesondere im Konflikt zwischen rechtsethisch begründeten Prinzipien und dem Recht ist das Problem der Konvergenz zu lösen121. Recht und Moral können insoweit in einer Beziehung der wechselseitigen normativen Rechtfertigung oder Kritik stehen122, sei es dass die Rechtsethik (z. T. universale) moralische Prinzipien – etwa die Gerechtigkeit und die Freiheit123 – an das jeweilige Recht heranträgt124 und deren Verwirklichung – insbesondere im Verfassungsrecht125 – fordert126, sei es dass das Recht überkommene Moral stabilisiert127 bzw. dem Ausleben einer sozial schädlichen Individual- oder Gruppenmoral Grenzen setzt. Jellinek war insoweit allerdings der Auffassung, Recht, insbesondere Verfassungs- oder Strafrecht, solle nur das in einer Gesellschaft zu fordernde „ethische Minimum“ regeln128. Rechtsgehorsam und -treue, Grundvoraussetzungen für jede Akzeptanz des Rechts, stehen schließlich in einem engen Zusammenhang mit den in der Rechtsgemeinschaft herrschenden Vorstellungen von individueller und sozialer Moral129.
117
Vgl. Dreier, Ethik (Fn. 34/B.), S. 23 ff. Dreier, Gesellschaft (Fn. 112/B.), S. 248 ff.; v. d. Pfordten, Lehrbuch: Rechtsethik (Fn. 36/B.), S. 78 f. 119 Dreier, Ethik (Fn. 34/B.), S. 26 ff. 120 v. d. Pfordten, Lehrbuch: Rechtsethik (Fn. 36/B.), S. 79 f., der insoweit von einer „pragmatischen Beziehung“ spricht. 121 Mahlmann, Rechtsphilosophie (Fn. 97/B.), S. 232 ff. 122 v. d. Pfordten, Lehrbuch: Rechtsethik (Fn. 36/B.), S. 83 f. 123 Die Rechtsordnung muss Freiheit im umfassenden Sinne gewähren und sichern, um ein autonomes moralisches Leben des Einzelnen erst zu ermöglichen: so Ellscheid, Recht und Moral (Fn. 40/A.), S. 229 f. 124 Dreier, Gesellschaft (Fn. 112/B.), S. 247. 125 Dreier, Ethik (Fn. 34/B.), S. 41 ff. 126 Horster, Art. Rechtsethik, in: Stoecker/Neuhäuser/Raters, Handbuch (Fn. 97/B.), S. 157 zum „schuldausschließenden übergesetzlichen Notstand“. 127 Zur Kritik dieser Sicht vgl. H. L. A. Hart, Soziale Bindung und die Durchsetzung der Moral, dt. in: ders., Recht und Moral (Fn. 103/B.), S. 87 ff. 128 Vgl. G. Jellinek, Die sozialethische Bedeutung von Recht, Umwelt und Strafe, 1878 (Nachdruck 1967), S. 42, 45 ff. Hierzu: Dreier, Gesellschaft (Fn. 112/B.), S. 251; ders., Ethik (Fn. 34/B.), S. 30. 129 Burmeister, Praktische Jurisprudenz (Fn. 51/A.), S. 104 ff.; Dreier, Gesellschaft (Fn. 112/B.), S. 252; ders., Ethik (Fn. 34/B.), S. 31 f. N. Hoerster, Die moralische Pflicht zum Rechtsgehorsam, in: ders., Recht und Moral. Texte zur Rechtsphilosophie, S. 129 ff.; Somek, Richterethos (Fn. 4/B.), ÖsterrRZ 1985, S. 265. 118
II. Recht, Rechtswissenschaft und Ethik
67
Die Geltungskraft des Rechts beruht auch hier – neben dem Rechtszwang – vor allem auf dem ethischen Grundkonsens, dass dem Recht zu folgen sei130. Das positive Recht verweist schließlich im Einzelfall zu seiner eigenen Ausfüllung ausdrücklich (vgl. §§ 138, 157, 242, 826 BGB) bzw. mittelbar131 auf moralische Normen, den „guten Sitten“ oder auf „Treu und Glauben“. Insoweit besteht eine intentional-inkorporierende Beziehung132. Es setzt damit eine bestehende Moral als selbstverständlich sowie das Recht beeinflussend voraus133. In neuerer Zeit werden in diesem Sinne Fragen der Implementierung von ethischen Kodizes in Unternehmen134 und Ethikkommissionen135 sogar zum Gegenstand der Rechtsprechung und rechtswissenschaftlichen Literatur136. Das Recht wahrt und sichert den Ordnungsrahmen, innerhalb dessen der Einzelne den Geboten seiner Moral folgen kann137. Schließlich bestehen bei der Anwendung moralischer und rechtlicher Normen ähnliche Probleme138. Trotz alledem gilt: Recht und Moral sind unterschiedliche Phänomene. Insofern hat auch der Richter in seiner Rechtsprechung diese Differenzierung grundsätzlich zu achten. Insbesondere muss er sich der Gefahren bewusst sein, wenn er über die geltenden rechtsethischen Prinzipien der Verfassung etwa (vermeintlich)
130
Dreier, Begriff (Fn. 106/B.), NJW 1986, S. 890, 896. Mahlmann, Rechtsphilosophie (Fn. 97/B.), S. 235 f. 132 v. d. Pfordten, Lehrbuch: Rechtsethik (Fn. 36/B.), S. 80 f. Ellscheid, Recht und Moral (Fn. 40/A.), S. 227. H. M. Pawlowski, Die Aufgabe des Richters bei der Bestimmung des Verhältnisses von Recht, Sittlichkeit und Moral, in: ARSP 50 (1964), S. 503 ff. arbeitet insoweit allerdings überzeugend heraus, dass die Rechtssprechungsanalyse zeigt, dass auch insoweit nicht die „herrschende Moral“, sondern nur rechtlich begründete, jedenfalls nur mit der Rechtsordnung übereinstimmende Wertvorstellungen zur Geltung kommen. 133 Hierzu im Einzelnen: Dreier, Gesellschaft (Fn. 112/B.), S. 252 ff. 134 BAG, U. v. 22.07.2008 – 1 ABR 40/07 – NJW 2008, S. 3731, zur Mitbestimmungspflicht bei der Einführung von Ethik-Richtlinien (Verhaltenskodex; Code of business conduct). 135 BSG, U. v. 23.04.2009 – B 9 VJ 1/08 R –, VGH Baden-Württemberg, U. v. 10.09.2002 – 9 S 2506/01 – (zit. nach Juris) und VG Stuttgart, U. v. 29.06.2001 – 4 K 5787/00 – NJW 2002, S. 529, zum Streit um und zwischen konkurrierenden privaten und öffentlich-rechtlichen Ethik-Kommissionen im Arzt-, Arznei- und Medizinproduktebereich, wo teilweise ein „Beratungspflicht“ vor bestimmten medizinischen Versuchen, Arzneimittelprüfungen oder Behandlungen besteht (vgl. auch § 42 f. AMG); hierzu auch E. Deutsch, Private und öffentlich-rechtliche Ethikkommissionen, in: NJW 2002, S. 491 ff.; S. von Kielmansegg, Die Kontrolle klinischer Prüfungen von Arzneimitteln, VerwArch 2008, S. 401. 136 M. Seckelmann, WissR Bd. 41 (2008), S. 188–205; Sommermann, Ethisierung (Fn. 34/A.), ARSP 89 (2003), S. 82. 137 Dreier, Rechtsethik (Fn. 6/A.), S. 582 unter Bezugnahme auf Kant; ebenso: Kaufmann, Rechtsphilosophie (Fn. 3/B.), S. 215. 138 J. Fuchs, Hermeneutik in Ethik und Recht – Vergleichspunkte in: Hermeneutik und Strukturtheorie des Rechts, Beiheft 20 n. F. zum ARSP 1984, S. 9 ff. 131
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B. Richterliche Ethik als Bereichs- und Berufsethik
naturrechtliche Vorstellungen in positives Recht implementiert und dadurch in jeweils herrschende (Richter)Moral transformiert139. Die Trennung von Recht und Moral des Richters, insbesondere von rechtlichen und moralischen Pflichten, ist unabdingbar und Verständnisvoraussetzung für jede richterliche Ethik. Denn gerade bei der Berufsmoral des Richters ist in besonderer Weise zu beachten, dass das Recht das berufliche Handeln des Richters entscheidend prägt und steuert sowie konsequenterweise eine außerhalb des Rechts anzusiedelnde Berufsmoral – anders als bei den meisten und selbst den juristischen Berufsgruppen – stark reduziert. 2. Rechtswissenschaft und Ethik Die Wissenschaften vom Recht bzw. von der Moral haben wegen des soeben skizzierten unterschiedlichen Forschungsgegenstandes auch grundsätzlich unterschiedliche Fragestellungen. Die Rechtswissenschaft fragt, wie die bestehenden Rechtnormen verstanden werden können, in welcher systematischen Ordnung sie zueinander stehen und wie sie praktisch, insbesondere widerspruchsfrei, in einem konkreten Einzelfall angewendet werden können. In diesem Sinne fragt sie – wie die Ethik – zwar danach, wie jeweils gehandelt werden soll. Sie bezieht sich jedoch auf die geltende Rechtsordnung. Die Rechtswissenschaft führt in ihrer Teildisziplin der Rechtsphilosophie zu rechtsethischen Fragen und bearbeitet zusammen mit der Ethik grundlegende Fragen, etwa wenn es um die Letztbegründung von Normen geht. Während die Rechtswissenschaft aber überwiegend nach der Legalität menschlichen Handelns fragt, beschäftigt sich die Ethik mit dessen Moralität140.
III. Richterliche Ethik als angewandte Ethik 1. Begriff und Gegenstand der „angewandten Ethik“ oder „Bereichsethik“ Die allgemeine oder theoretische Ethik sucht nach den Prinzipien ethischen Verhaltens und ihrer rationalen Begründung141. Spezialethiken – und um eine solche handelt es sich auch bei der richterlichen Ethik – versuchen demgegenüber, in der Auseinandersetzung mit konkreten Lebensproblemen und Handlungsfeldern diese allgemeinen Prinzipien in der Praxis anwendungsfähig zu ma139 Vgl. hierzu F. Wieacker, Rechtsprechung und Sittengesetz, in: JZ 1961, S. 337, 340, der sich überzeugend gegen den Ansatz Weinkauffs (NJW 1960, S. 1689 ff.) wendet, Naturrecht müsse durch die Rechtsprechung an das Recht herangetragen werden. Hierzu auch: F. K. Kübler, Der deutsche Richter und das demokratische Gesetz, in: AcP 162 (1963), S. 104, 122 ff. Rüthers, Rechtstheorie (Fn. 14/B.), S. 150 f. 140 Pieper, Einführung (Fn. 2/B.), S. 140 ff. 141 Schmücker in: Stoecker/Neuhäuser/Raters, Handbuch (Fn. 97/B.), S. 3.
III. Richterliche Ethik als angewandte Ethik
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chen142 und dadurch Hilfestellung für moralisch richtiges Verhalten zu geben143. Die allgemeine Ethik ist insoweit die Grundlagendisziplin der „angewandten Ethik“. Sie bietet ihr die theoretische und philosophische Grundlage, insbesondere das methodische, begriffliche und allgemeine „Rüstzeug“. Die Angewandte Ethik selbst ist die zusammenfassende Reflexionsebene für die bereichsspezifischen oder „konkreten“ Ethiken144. Die jeweilige Bereichsethik, die Teil der angewandten Ethik ist, ist darauf gerichtet, systematisch normativ-ethische Prinzipien auf besondere Handlungsräume, Berufsfelder und Sachgebiete wegen dort bestehender moralischer Unsicherheit anzuwenden. Normen der (jeweiligen) angewandten Ethik umfassen regelmäßig zum einen Grundregeln für bestimmte Themen- und Aktionsfelder, zum anderen Spezialregeln für einzelne Falltypen und Einzelregeln für besondere Fälle145. Der Begriff „angewandte Ethik“ wird zwar als tautologisch146 kritisiert. Er sei zu einseitig und suggeriere eine bloß technische Anwendung von Theorien auf Praxisbereiche147. Ob die terminologischen Alternativen wie „anwendungsorientierte Ethik“ oder „praktische bzw. praxisorientierte“ Ethik insoweit geeigneter sind, ist angesichts der in ihnen liegenden Verdoppelung des Praxisbezugs zweifelhaft. Der Begriff „angewandte Ethik“, der eine direkte Übersetzung des auch weltweit anerkannten Begriffs „applied ethics“ ist148, dürfte als Sammelbezeichnung für die Bereichsethiken weiterhin sinnvoll und angemessen sein149. 2. Kurzer Abriss zu den Gegenständen der angewandten Ethik Für eine Fülle von Handlungsfeldern haben sich Bereichsethiken etabliert bzw. beginnen sich zu etablieren. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien folgende Bereichsethiken genannt: Medizinethik (auch medizinische oder ärztliche Ethik), psychologische Ethik, Ökologie- oder Umweltethik, Bioethik, Evolutionäre Ethik, Tierethik, Friedensethik, Technikethik, Risikoethik, Energieethik, Wissenschaftsethik, Forschungsethik, Zukunftsethik, Wirtschaftsethik, Betriebs- oder 142 Vgl. etwa K. Bayertz (Hrsg.), Praktische Philosophie Grundorientierungen angewandter Ethik, 1991; Fenner, Einführung (Fn. 37/A.); J. Nida-Rümelin (Hrsg.), Angewandte Ethik. Die Bereichsethiken und ihre theoretische Fundierung, 2. Aufl., 2005; A. Pieper/U. Thurnherr (Hrsg.), Angewandte Ethik, 1998; Stoecker/Neuhäuser/Raters, Handbuch Angewandte Ethik (Fn. 97/B.); U. Thurnherr, Angewandte Ethik zur Einführung, 2. Aufl., 2010; Vieth, Angewandte Ethik (Fn. 4/A.). 143 Schmücker in: Stoecker/Neuhäuser/Raters, Handbuch (Fn. 97/B.), S. 4. 144 Pieper, Einführung (Fn. 2/B.), S. 92 f. 145 Krämer, Integrative Ethik (Fn. 70/B.), S. 373. 146 Fenner, Einführung (Fn. 37/A.), S. 8 f., 12 f. 147 Düwell u. a., Handbuch Ethik (Fn. 41/A.), S. 21; Vieth, Angewandte Ethik (Fn. 4/ A.), S. 19 f. 148 Schmücker in: Stoecker/Neuhäuser/Raters, Handbuch (Fn. 97/B.), S. 2 f. 149 Düwell u. a., Handbuch Ethik (Fn. 41/A.), S. 21 auch zum Vorangehenden.
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B. Richterliche Ethik als Bereichs- und Berufsethik
Unternehmensethik, Arbeitsethik, Medienethik (auch Ethik des Journalismus), Feministische Ethik, Sexualethik, Pädagogische Ethik, Sportethik, Politische Ethik, Rechtsethik, Verwaltungsethik, Sozialethik. Die Zuordnung der diskutierten Problemlagen und die Aufteilungen der Bereichsethiken sind dabei nicht immer eindeutig150. Es kann aus naheliegenden Gründen nicht darum gehen, eine umfassende Systematisierung, die Zuordnung der Gegenstände und der Probleme dieser Spezialethiken zu entfalten. Sie in diese Arbeit einzuführen, rechtfertigt sich nur daraus, dass sie eine hohe Dynamik des Diskussionsprozesses aufweisen und deshalb für die Herausbildung von Methoden- und Theorien anderer Bereichsethiken – wie der richterlichen Ethik – beispielhaft sind. Insbesondere zeigt sich, dass diese Bereichsethiken den Ausgang ihrer Reflexion häufig in den Konflikten und neuen sowie existenziell wichtigen Handlungsfeldern bestimmter Berufe haben, wie etwa des Arztes, Psychotherapeuten, Pädagogen, Wissenschaftlers, Ingenieurs, Unternehmers oder Journalisten. Hieraus wird deutlich, dass die Bereichsethiken regelmäßig ihre Wurzel in einer Berufsmoral haben bzw. diese untersuchen und anleiten wollen. Schließlich weisen diese Diskurse auf die „Hotspots“ der gesellschaftlichen Konflikte, mit deren rechtlichen Bewältigung der Richter sehr häufig befasst und in denen er gezwungen ist, auch ethisches Orientierungswissen zu erwerben, und bei denen er bei konkreten Rechtsentscheidungen in ethische Dilemmata geraten kann. Insofern – also gerade im Konfliktfall – besteht daher ein enger Zusammenhang zur richterlichen Ethik. Für die vorliegende Untersuchung ist außerdem beispielhaft, warum solche Spezialethiken entstanden sind und auf welchem Wege sie ihre Handlungsfelder ethisch reflektieren. So lassen sich unter Umständen für die Entfaltung einer richterlichen Ethik Methoden, Argumentationsmuster und Prinzipien gewinnen151. Diese Spezialethiken sind nämlich überwiegend zeitlich länger etabliert als das Nachdenken über richterliche Ethik. Schließlich weist eine Reihe der von Gegenständen der angewandten Ethik in ihrem Anwendungsfeld einen engen Bezug zur richterlichen Ethik auf. Sie ergaben sich bereits früh152 – ohne dass der Begriff der angewandten Ethik klassifizierend verwendet wurde – aus den großen Handlungsbereichen und Problemfeldern der politischen Gemeinschaften, Staaten und Gesellschaften. Die Ausdifferenzierung von Problemfeldern führte zu „angewandten Ethiken“, die gerade zu der hier zu behandelnden Spezialethik eine besondere Nähe aufweisen, nämlich zu der Sozialethik, und als deren spezielle Ausprägungen die politische Ethik sowie zur Rechtsethik153. Sie sollen deshalb kurz beleuchtet werden, wobei die Rechtsethik einer eingehenderen Untersuchung bedarf: 150
Düwell u. a., Handbuch Ethik (Fn. 41/A.), S. 21 f. Auf den methodischen Zusammenhang weist insbesondere Schmücker in: Stoecker/Neuhäuser/Raters, Handbuch (Fn. 97/B.), S. 3 f., hin. 152 Hierzu Schmücker in: Stoecker/Neuhäuser/Raters, Handbuch (Fn. 97/B.), S. 4 f. 153 Vgl. unten 5. 151
III. Richterliche Ethik als angewandte Ethik
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Die Sozialethik154 (auch Gesellschaftsethik) beschäftigt sich im weiteren Sinne mit den sittlichen Normen und Prinzipien menschlichen Zusammenlebens, in einem engeren Sinne mit sozialen Gebilden als solchen, d.h. mit Strukturen und Institutionen (Ehe, Familie, Eigentum, Wirtschaft, Recht, Strafe usw.)155. Sie ist insoweit die Ethik der gesellschaftlich übergreifenden Normen, Institutionen und sozialen Systeme156. Sie fragt danach, ob gegebene institutionelle Gebilde (sozial) gerecht oder ungerecht – insbesondere human – sind und ob und wie diese verbessert werden können. Die Individualethik untersucht und fragt demgegenüber nach den moralischen Pflichten des Einzelnen zu sich selbst sowie – in Verknüpfung mit der Sozialethik – zu anderen und der Gemeinschaft gegenüber. Beide Ethikbereiche können für die richterliche Ethik nutzbar gemacht werden. Denn der Richter steht mit seinem Handeln in gemeinschaftsbezogenen Pflichtenbeziehungen, die sozialethisches Wissen und Handeln erfordern. Gleichzeitig hat der Richter für seine Person individualethisch seine Verantwortung und sein Gewissen bezogen auf seine Berufspflichten zu reflektieren. Die Politische Ethik157 untersucht mit den Mitteln der allgemeinen Ethik die moralische Seite politischen Handelns. Sie fragt danach, inwieweit es der allgemeinen Bindung des sozialen Handelns an moralische Normen unterliegt. Außerdem fragt sie, welche Bedeutung für die moralische Stellung und Wirkung des Einzelnen die Beteiligung an politischem Handeln und seine Einbindung in eine politische Organisation hat und wie er politisch handeln soll (etwa Gesinnungsund Verantwortungsethik). Schließlich untersucht sie, wie eine politische Gemeinschaft verfasst sein muss, um ethischen Standards, insbesondere dem Anspruch der Gerechtigkeit oder Freiheit, zu genügen158. Diskussions- und Begründungsgegenstand sind die möglichen Mittel zur Erreichung dieser Ziele, wie das Privateigentum, das Gewaltmonopols des Staates, die Balance von Machtausübung durch Gewaltenteilung, Menschenrechte und (verfassungs-)rechtliche Bindung. Umgekehrt werden Ethik und Moral auf ihre politische Wirksamkeit und ggf. Instrumentalisierung befragt159. 154 Vgl. Fenner, Einführung (Fn. 37/A.), S. 3 f. Höffe, Art. Sozialethik, in: O. Höffe, Lexikon (Fn. 15/A.), S. 287 f.; Kerber, Sozialethik, 1998; Nusser, Art. Sozialethik, in: Pieper/Thurnherr (Hrsg.), Angewandte Ethik (Fn. 110/A.). Vgl. auch Hermanns, Sozialethik im Wandel der Zeit, 2006; Pieper, Einführung (Fn. 2/B.), S. 97 ff. 155 Thurnherr, Angewandte Ethik (Fn. 37/A.), S. 67 ff. 156 Pieper, Einführung (Fn. 2/B.), S. 97 f. m.w. N. 157 Vgl. K. Bayertz (Hrsg.), Politik und Ethik, Stuttgart 1996; A. Brenner, Art. Politische Ethik, in: Düwell u. a., Handbuch Ethik (Fn. 41/A.), S. 279 ff.; Celikates/Neuhäuser, in: Stoecker/Neuhäuser/Raters, Handbuch (Fn. 97/B.), Art. Politische Ethik, S. 153 ff.; J. Nida-Rümelin, Politische Ethik: Ethik der politischen Institutionen und der Bürgerschaft, in: Nida-Rümelin (Hrsg.), Angewandte Ethik, S. 130 ff.; Nusser, Art. Politische Ethik, in: Pieper/Thurnherr (Hrsg.), Angewandte Ethik (Fn. 110/A.), S. 176 ff.; B. Sutor, Kleine politische Ethik, Bonn 1997. 158 Thurnherr, Angewandte Ethik (Fn. 37/A.), S. 79 ff. 159 Celikates/Neuhäuser Stoecker/Neuhäuser/Raters, Handbuch (Fn. 97/B.), S. 153.
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B. Richterliche Ethik als Bereichs- und Berufsethik
Die politische Ethik wirkt sich unmittelbar auf die Überlegungen zu und die Bewertung von richterlichem Handeln aus. Denn dieses vollzieht sich in einem öffentlichen und staatlichen Raum und ist damit (auch) auf eine gelingende Staatsordnung gerichtet. 3. Herausbildung der Bereichsethiken Die meisten Bereichsethiken bildeten sich zum einen deshalb aus160, weil sich in einem – existentiellen – Lebensbereich neue Handlungsalternativen eröffneten, die andersartige moralische Problemstellungen aufwarfen als in der Vergangenheit. Das moralische Bewusstsein „erwachte“ etwa, weil ein bestimmter Konflikt zwischen den sich unmittelbar auftretenden Handlungsalternativen und der eigenen, internalisierten Moral dadurch entstand, dass die Lösung nicht sofort auf der Hand lag und damit grundsätzlich fraglich wurde161. Wie die Technik-, Bio-, Medizin- oder Medienethik zeigen, ergab und ergibt sich dieser Konflikt häufig aus der Entwicklung und der Anwendung neuer Techniken und der damit verbundenen Folgeprobleme einer fortgeschrittenen Industriegesellschaft162. Der Blick auf die Medizinethik, politische Ethik und Rechtsethik zeigt jedoch auch, dass die wissenschaftliche Beschäftigung mit Teilbereichen menschlicher Praxis zum Teil eine lange, bis in die Antike zurückreichende Tradition hat163. Ein weiterer Anstoß für die Herausbildung von Bereichsethiken war und ist der historische Wandel der moralischen Wertvorstellungen selbst, wenn also bisherige Moral und unveränderter Lebensbereich „unpassend“ werden. Der Grund für die moralischethische Reibung liegt insoweit darin, dass Moral selbst historisch bedingt und damit einem Wandel unterliegt, gleichzeitig aber auf unbedingte Gültigkeit und Verbindlichkeit hin ausgerichtet ist164. Solange eine moralische Wertung unwidersprochen bleibt, bedarf es keiner ethischen Reflexion. Im Falle des Fragwürdig-Werdens des moralischen Anspruchs setzt hingegen die ethische Reflexion ein. Ein weiterer Grund für die Herausbildung der ethischen – allgemeinen wie speziellen – Reflexion dürfte das (neue) Aufeinandertreffen verschiedener Moralen, die Kollision verschiedener moralischer Einzelansprüche oder der Zuwachs an ethischer Erkenntnis bezogen auf einzelne moralische Ansprüche sein165. Die Herausbildung der richterlichen Ethik hat – wie im Einleitungskapitel dargestellt – zum großen Teil andere Gründe. Weder ergaben sich für das richter160 161 162 163
Hierzu Thurnherr, Angewandte Ethik (Fn. 37/A.), S. 14 f. Thurnherr, Angewandte Ethik (Fn. 37/A.), S. 11. Düwell u. a., Handbuch Ethik (Fn. 41/A.), S. 22 f. Fenner, Einführung (Fn. 37/A.), S. 14; Thurnherr, Angewandte Ethik (Fn. 37/A.),
S. 16. 164 165
Thurnherr, Angewandte Ethik (Fn. 37/A.), S. 12 f. (auch zum Folgenden). Thurnherr, Angewandte Ethik (Fn. 37/A.), S. 13 f.
III. Richterliche Ethik als angewandte Ethik
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liche Handlungsfeld in jüngerer Zeit grundlegend neue und die moralische Umwertung erzwingende Handlungskonflikte, noch ist ein grundlegender Wandel in der Anschauung und Bewertung richterlichen Handelns festzustellen. Zwar gab es auch in Deutschland eine Reihe von „Richterskandalen“ 166. Diese sind aber im Vergleich zu dem, was andere Länder auf diesem Gebiet durchlebt haben, eher marginal. Wie im Einleitungskapitel dargestellt, resultiert das Bedürfnis nach einer Formulierung einer richterlichen Ethik eher aus den technischen, ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Rückwirkungen der fundamentalen Veränderungen auf den Justizapparat und seinem Personal, das selbst nach Orientierung sucht. Daneben kommen Anfragen an Inhalt und Bestand einer richterlichen Ethik der deutschen Richter von internationalen Organisationen und von Staaten, die bereits über einen ausgereiften richterethischen Normenkanon verfügen. 4. Prinzipien und Methoden der angewandten Ethik und ihre Anwendung auf die richterliche Ethik Die Aufgabe der angewandten Ethik besteht – wie der Name sagt – vornehmlich darin, allgemeine normative Prinzipien und Regeln auf problematische Falltypen anzuwenden, um sie moralisch beurteilen oder verantwortlich gestalten zu können167. Sie hat daher eine Methodik zu entwickeln, die den Weg von den moralphilosophischen Grundlagendiskursen zu ihrer Anwendung in den vielfältigen Problemfeldern überzeugend darlegen kann168. Dabei müssen zum einen die Prinzipien und Regeln gefunden oder bestimmt werden, die zu den Falltypen und einzelnen Fällen „passen“; zum anderen müssen die Prinzipien und Regeln nicht nur begründet werden, sondern auch die ganze Reihe der vermittelnden Brückenelemente, welche die Prinzipien mit einem vorliegenden Fall verknüpfen. Insofern wirkt die angewandte Ethik auf die allgemeine Ethik wieder zurück169. Den Weg und das Mittel hierzu bietet – im Anschluss an die kantische Unterscheidung – die Urteilskraft als das Vermögen, das Besondere als enthalten im
166
Vgl. unten C. III. 2. a). Thurnherr, Angewandte Ethik (Fn. 37/A.), S. 21 f.; Stoecker/Neuhäuser/Raters, Handbuch (Fn. 97/B.), S. 5 ff., 13, bezeichnen die moralische Bewertung von Handlungen als Kernaufgabe der angewandten Ethik. Vieth, Angewandte Ethik (Fn. 4/A.), S. 47 ff. 168 Düwell u. a., Handbuch Ethik (Fn. 41/A.), S. 21 ff. und Höffe, Art. Theorie-Praxis-Problem, in: O. Höffe, Lexikon (Fn. 15/A.), S. 311 ff. 169 Vgl. hierzu Bayertz, Angewandte Ethik, (Fn. 3/A.), S. 33 ff., der insoweit die „normbildende Anwendung“, bei der bei der Anwendung die Norm selbst präzisiert wird, oder die „Revision der Ethik“ anführt, bei der die Abkehr von grundlegenden Paradigmen, wie etwa der reinen Anthropozentrik oder des Schadensverbots gegenüber schon Lebenden, eintritt. Außerdem verweist er auf die Risiken der „gemachten“ Moral im Wege der Definition. 167
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B. Richterliche Ethik als Bereichs- und Berufsethik
Allgemeinen zu denken170. Sie ist eine Ausprägung praktischer Klugheit (Phronesis171), also des Vermögens, in einem umfassenden Sinn den Wert und den Nutzen der Handlung „richtig“ abzuwägen bzw. einleuchtend zu begründen. Sie ist die klassische Kernkompetenz des Normanwenders. Sie wird unterschieden in die bestimmende Urteilskraft – als die Fähigkeit unter das gegebene Allgemeine das Besondere zu subsumieren – und in die reflektierende Urteilskraft – als das Vermögen, vom Besonderen auf das Allgemeine zu schließen172. Auf dem Weg der bestimmenden Urteilskraft werden aufgewiesene und begründete ethische Prinzipien auf den besonderen Fall angewandt (Form des Deduktivismus)173. Dieses Vorgehen ist dem Richter ein im Kern vertrauter Vorgang, wenn er eine gesetzliche Norm auf einen Einzelfall anwendet, er also subsumiert oder die Regel auf den Einzelfall, insgesamt jedenfalls „Top-down“ 174, anwendet. Die Probleme bei der angewandten Ethik liegen aber regelmäßig darin, dass ein passender oder gar unbestrittener Grundsatz gerade nicht gegeben ist bzw. bei der Deduktion unter einen Grundsatz weitere zu rechtfertigende Prinzipien eingeführt175 oder Prinzipienwidersprüche ausgeräumt werden müssen. Dabei ist also die inhaltliche – und damit ihrerseits begründungsbedürftige – Fortschreibung genereller Normen zur Bewertung ganzer Klassen von Handlungen gefordert176, will man sich nicht auf die Annahme inhaltlich unbestimmter Grundkategorien moralischer Bewertung ohne konkretisierender Zwischenschritte einlassen177. Diese Begründung von Prinzipien ist tendenziell die Aufgabe der der vorbeschriebenen Aufgabe vorausgehenden reflektierenden Urteilskraft 178. Ihr geht es um die rekonstruktive179 „Bestimmung der Maximen“. Bei diesem Vorgang der Reflexion werden die Gegebenheiten und Forderungen der Außenwelt, die eige170 Hierzu und zum Folgenden: Thurnherr, Angewandte Ethik (Fn. 37/A.), S. 21 ff.; Stoecker/Neuhäuser/Raters, Handbuch (Fn. 97/B.), S. 9 f. 171 Aristoteles, Nikomachische Ethik (Fn. 21/B.), 1140 a 25. 172 Thurnherr, Angewandte Ethik (Fn. 37/A.), S. 21 f. 173 Stoecker/Neuhäuser/Raters, Handbuch (Fn. 97/B.), S. 5 f.; Vieth, Angewandte Ethik (Fn. 4/A.), S. 49 f. 174 Fenner, Einführung (Fn. 37/A.), S. 10 f. 175 Hierzu: Schmücker, in: Stoecker/Neuhäuser/Raters, Handbuch (Fn. 97/B.), S. 7 f. und S. 20. 176 Vgl. zu dieser Problematik: Bayertz, Angewandte Ethik (Fn. 3/A.), S. 12 f. Es gibt aber auch eine Applikationsaporie: Sie umschreibt die Schwierigkeit, die sich aus der Notwendigkeit ergibt, generelle Normen auf individuelle und konkrete Situationen anzuwenden, insbesondere dann wenn eine Situation zwei widerstreitenden generellen Grundnormen zugeordnet werden kann; hierzu auch Thurnherr, Angewandte Ethik (Fn. 37/A.), S. 127 f. 177 Vgl. hierzu Schmücker, in: Stoecker/Neuhäuser/Raters, Handbuch (Fn. 97/B.), S. 13 ff. 178 Thurnherr, Angewandte Ethik (Fn. 37/A.), S. 23. 179 Schmücker, in: Stoecker/Neuhäuser/Raters, Handbuch (Fn. 97/B.), S. 8.
III. Richterliche Ethik als angewandte Ethik
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nen Ansprüche und Wünsche, die Forderungen des Gewissens und das praktische Wissen über moralischen Regeln so aufeinander bezogen, bis eine stimmige Einheit, also die subjektive Zweckmäßigkeit eines Handlungsentwurfs entstanden ist, den der Verstand am Ende in der Form einer Maxime auszudrücken vermag (Form des Induktivismus mit Elementen des Kohärentismus)180. Der praktische Verstand setzt sich zu allen Gegebenheiten und Forderungen in ein Verhältnis und versucht in vermittelnder Weise das optimale Handlungskonzept zu entwerfen und zu bewerten („Bottom-up“)181. Dabei sind die Besonderheiten des zu beurteilenden Handlungsfeldes und seine Bedeutung für den Menschen zu beachten, insbesondere seine Bedeutung für die Entfaltung des autonomen Menschen und seinen tatsächlichen Möglichkeiten. Jede angewandte Ethik wird sich bei der Herausarbeitung ihrer eigenen Argumentationsmuster und Prinzipien auf die faktischen Besonderheiten ihres Bereichs einlassen müssen. Insofern ist eine teilweise Selbständigkeit der Bereichsethiken gar nicht zu vermeiden. Dennoch ist jede Bereichsethik in Methoden- und Prinzipienbildung vom allgemeinen Diskurs der normativen Ethik abhängig182. Für die richterliche Ethik heißt das, dass sie die normativen Prinzipien und die tatsächlichen Besonderheiten des richterlichen Handlungsfeldes in den Mittelpunkt der Abgrenzung und Regelbildung stellen muss: Insbesondere also die Unabhängigkeit des Richters, seine auf Rechtsfrieden gerichtete Spruchtätigkeit, seine Bindung an das Gesetz und schließlich die – gegenüber allen anderen Bereichsethiken besondere – rechtlich-normative Bindung des gesamten richterlichen Handelns. Dabei wird die normative Prinzipien- und Regelbildung im Berufsfeld des Richters erleichtert183, weil das Recht, insbesondere das Verfassungsrecht, allgemeine normative (Rechts-)Prinzipien vorgibt und damit die Berufsmoral normativ in das gegebene Recht einbettet. Allerdings wirft dies umgehend die prinzipielle – und noch zu klärende – Frage auf, ob und wie das Recht berufsmoralische Prinzipien des Richters bestimmen kann und ob eine gegenüber dem Recht autonome richterliche Berufsmoral überhaupt möglich ist. Das Vorgehen der reflektierenden Urteilskraft wird auch als „Kunst“ bezeichnet, für deren Ausübung – will man hierin nicht nur eine Ästhetisierung rationaler Vorgänge sehen – neben philosophischer und fachspezifischer Sachkenntnis auch Empathie, Kreativität und Distanzfähigkeit zu eigenen Vorverständnissen 180 Thurnherr, Angewandte Ethik (Fn. 37/A.), S. 24; Vieth, Angewandte Ethik (Fn. 4/A.), S. 49 f., der inferenzielle (Schlüssigkeit), explanatorische (Zusammenhang von Werturteilen mit empirischen Annahmen), deliberative (Qualität des Zusammenhanges zwischen Handlungen und Zielen von Handlungen), analogische (Beurteilung von Erfahrungen in Hinsicht auf die Ähnlichkeit anderer Erfahrungen) und perzeptive (besondere Art der Stimmigkeit der evaluatien Erfahrung) Kohärenz unterscheidet. 181 Fenner, Einführung (Fn. 37/A.), S. 11. 182 Zum Vorstehenden: Düwell u. a., Handbuch Ethik (Fn. 41/A.), S. 23. 183 Vgl. dagegen die Probleme der Regelbildung in der übrigen angewandten Ethik: Fenner, Einführung (Fn. 37/A.), S. 19 ff.
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B. Richterliche Ethik als Bereichs- und Berufsethik
benötigt werden184. Die diversen moralischen Ansprüche müssen nämlich zunächst erkannt, verstanden und untereinander vermittelt werden. Die Vermittlungsarbeit setzt zum einen eine umfassende Kenntnis philosophisch-ethischer Problemstellungen und Begründungskonzepte voraus und zum anderen den Überblick über die im jeweiligen Handlungsbereich bestehenden Probleme, die einer moralischen Lösung zuzuführen sind. Auf dieser Grundlage kann – und dies gilt als praktischer Schwerpunkt der angewandten Ethik185 – eine philosophische Beratung insbesondere von Angehörigen von Berufsgruppen möglich werden, die – wie der Richter – vor „problematischen“ Entscheidungen stehen oder regelmäßig solche Entscheidungen zu treffen haben. Der Ratsuchende soll so in seiner eigenen Urteilskraft gestärkt werden, damit er autonom, aber verantwortlich entscheidet. Diese Beratung oder „praktische Orientierung“ ist dabei aber eher „theoriefrei“, weil dem Ratsuchenden nicht ein fertiges Ethikkonzept geboten wird, auf das er sich – etwa im Falle eines Fehlschlags – berufen kann186. Neben der ethischen Beratung muss die richterliche Ethik, die sich auf ein öffentliches Amt bezieht, aber auch Grundregeln berufsmoralisch richtigen und verfehlten Handelns aufzeigen; denn die Ausübung dieses Amtes liegt nicht nur im subjektiven Interesse des Amtsinhabers, sondern auch der davon betroffenen Öffentlichkeit, also des betroffenen Bürgers. Auf dem Feld der angewandten Ethik wurden und werden verschiedene Konzepte zur Begründung moralischer Prinzipien äußerst lebhaft diskutiert. Der Glaube an das „primum verum“, den Grundsatz, das Gut oder das Prinzip, unter den die bestimmende Urteilskraft den konkreten Fall deduktiv-hierarchisch fasst187, ist in der Neuzeit trotz und wegen des Postulats der universellen Gültigkeit moralischer Prinzipien allerdings fragwürdig geworden188. Häufig wird der Streit um das Prinzip sogar zur Ursache dafür, dass eine verantwortliche Entscheidung des Einzelfalls nahezu unmöglich wird (vgl. Abtreibungsdebatte)189. Die Begründungsansätze (etwa utilitaristische, deontologische, kontraktualistische, kasuistische, tugendethische und kohärentistische) sind vielfältig und häufig schließen sie sich gegenseitig aus. Nur selten lässt sich dabei ein Konsens über den letztlich maßgeblichen Ansatz erzielen. Infolgedessen wurde die rationale Rechtfertigung moralischer Prinzipien schon für gescheitert erklärt190. Nicht 184
Thurnherr, Angewandte Ethik (Fn. 37/A.), S. 26. Vieth, Angewandte Ethik (Fn. 4/A.), S. 19 f. 186 Thurnherr, Angewandte Ethik (Fn. 37/A.), S. 28 f. 187 Vgl. hierzu Bayertz, Angewandte Ethik (Fn. 3/A.), S. 10 ff. 188 Vgl. hierzu Bayertz, Angewandte Ethik (Fn. 3/A.), S. 13 f. 189 Vgl. hierzu Bayertz, Angewandte Ethik (Fn. 3/A.), S. 15 f. 190 Vgl. hierzu Bayertz, Angewandte Ethik (Fn. 3/A.), S. 14 m.w. N.; Vieth, Angewandte Ethik (Fn. 4/A.), S. 9, hält Pluralismus selbst für einen ethischen Wert und weist zu Recht darauf hin, dass es bei der angewandten Ethik vor allem um Orientierung geht; zu den vorbeschriebenen Begründungsansätzen: Düwell u. a., Handbuch Ethik (Fn. 41/A.), S. 19 f. 185
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zuletzt deshalb bildete sich im Bereich angewandter Ethiken als Ausweg aus dem Begründungsdilemma die Moralkasuistik191 heraus, die allerdings wegen der Starre ihrer historischen Vorläufer – etwa aus der katholischen Moraltheologie (Sündenregister, Beichtspiegel) – dem aufgeklärten Denken widerstreben. Diese Kasuistik versucht, eine beispielhafte methodische Anleitung zu geben, indem sie das im Einzelfall geltende und anzuwendende Gesetz zu finden sucht. In ihrer gemilderten Form, nämlich der Suche nach Grundsätzen „mittlerer Reichweite“ 192 für den jeweiligen Sachbereich, dürfte sie einen Ausweg aus der Begründungsaporie der klassischen Prinzipienethik bieten, wenn sie nicht vergisst, dass auch sie selbst immer im Kontext allgemeinerer Moralprinzipien steht193. Die im Bereich der richterlichen Ethik entwickelten und noch näher zu untersuchenden „Richterspiegel“ als besondere Form der Moralkasuistik werden aber die begrenzte Reichweite dieses Ansatzes aufzeigen. In der gegenwärtigen Ethikdiskussion sind angesichts der aufgezeigten Schwierigkeiten, Prinzip versus gelungenes, konkretes Handeln, Auffassungen im Vordrängen, die beide Ansätze integrieren. Alle diese Phänomene – unbefriedigende Prinzipiensuche, „Prinzipienreiterei“ bis Moralkasuistik – lassen sich auch bei der Untersuchung der bisherigen Auseinandersetzung mit richterlicher Ethik feststellen. Die normative Prägung dieses Berufsfeldes durch das Recht mildert jedoch eine Reihe von Schwierigkeiten ab, weil die regelleitenden Prinzipien durch das Recht vorgeprägt sind. Aus den Erkenntnissen der allgemeinen Ethik und anderer Bereichsethiken kann insgesamt auf die Methode der Richterethik Folgendes übertragen werden: Um für die ethische Selbstberatung und Anleitung von Richtern – entweder des Einzelnen oder der ganzen Gruppe – das Ziel zu erreichen, die ethische Urteilskraft zu schärfen, Problemstellungen zu erkennen und reflektiert verantwortlich zu lösen194, muss zum einen das Handlungsfeld des Richters bestimmt werden, in dem er nicht (nur) rechtsgebunden agiert. Die dort auftretenden oder möglichen moralischen Probleme sind zu erkennen und zu analysieren. Schließlich wird aus der Sachgesetzlichkeit des richterlichen Handlungsfeldes eine normativethische Ebene aufzuweisen und zu begründen sein, um rational begründete Kriterien auf die jeweiligen Problemsituationen anzuwenden, die Handeln als „gut und richtig“ aufweisen bzw. bestimmte moralisch geforderte Haltungen zu be191 Vgl. Forschner, Art. Kasuistik, in: O. Höffe, Lexikon (Fn. 15/A.), S. 156 f.; Vieth, Angewandte Ethik (Fn. 4/A.), S. 20; Schmücker, in: Stoecker/Neuhäuser/Raters, Handbuch (Fn. 97/B.), S. 8. 192 Fenner, Einführung (Fn. 37/A.), S. 24 f.; Schmücker, in: Stoecker/Neuhäuser/Raters, Handbuch (Fn. 97/B.), S. 6. 193 Vgl. hierzu Bayertz, Angewandte Ethik (Fn. 3/A.), S. 18 ff. 194 In diesem Sinne als Ziel einer Berufsethik für medizinisches Personal (allerdings kritisch und normative Begründungen als Kompass verlangend): Thurnherr, Angewandte Ethik (Fn. 37/A.), S. 38 ff.
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B. Richterliche Ethik als Bereichs- und Berufsethik
gründen. Dabei könnte ein „berufsethischer Kompass“ entstehen, der die grundsätzliche richterliche Haltung prägt, um ethisch verantwortliche Entscheidungen zu fördern. Neben diesem induktiven Weg steht zum anderen die Ableitung berufsmoralischer Regeln aus den rechtsethischen Prinzipien, die die verfassungsrechtliche Grundlage für die Ausgestaltung des richterlichen Handelns prägen. Erhellend für die Bemühungen um eine normative-richterliche Ethik ist schließlich, dass Bereichsethiken häufig Fortentwicklungen von Berufsethiken sind. Gerade die klassische Bereichsethik, die Medizinethik, zeigt dies in besonderer Weise195. Das Berufsethos des Arztes entsteht aus der Konfrontation mit existenziellen Entscheidungen zum Wert „Gesundheit“ und zwingt dazu, die jeweilige Tätigkeit in einen höheren normativen Zusammenhang zu stellen. So wird die Tätigkeit des Arztes als eine Konkretisierung der allgemeinen Norm betrachtet, Hilfsbedürftigen in angemessener Weise zu helfen. Hieraus lässt sich die allgemeine Pflicht ableiten, kranken Menschen durch den Einsatz wirksamer Mittel die Gesundheit zu erhalten oder wiederherzustellen, ohne ihm in unzumutbarer Weise zu schaden oder gegen seinen Willen zu behandeln. Als älteste Zusammenfassung einer solchen Berufsethik gilt der Eid des Hippokrates. Dieser Eid definiert letztlich das Handeln des „guten“ Arztes, also desjenigen Arztes der im moralischen Sinne, aber auch im professionellen Sinne gut und richtig handelt. Interessant, weil auf die Fragestellung der vorliegenden Arbeit übertragbar, sind die Gründe und Motive für die Herausbildung dieser klassischen Bereichsethik: zünftische Selbststeuerung, Abgrenzung von anderen Berufsgruppen, Bestimmung des eigenen beruflichen Wertesystems, Wahrung der Autonomie, positive Selbstverpflichtung. Hierbei ist allerdings zu beachten, dass manche Berufsgruppen (zum Beispiel Handwerker) mit ihren professionellen Regeln nicht in erster Linie ethische Probleme reglementieren wollen, sondern Qualitätsstandards ihrer Produkte definieren. Dieser – zuletzt genannte – Unterschied ist auch bei der richterlichen Ethik zu berücksichtigen und die richterliche Technik bzw. Kunst von seiner Berufsmoral zu trennen196. Übertragen auf den Richter könnte dieser berufsmoralische Ansatz – vorläufig und vorbehaltlich der weiteren Untersuchung – insgesamt heißen: Aufgabe des Richters ist es, den für jeden Menschen existenziellen Wert „Gerechtigkeit“ konkret zu verwirklichen. Wie beim Arzt, der den Wert „Gesundheit“ beim konkreten Handeln nur in Annäherung erreichen und erhalten kann, geht es bei der Entscheidungstätigkeit des Richters darum, den Wert „Gerechtigkeit“ im konkreten 195
Vieth, Angewandte Ethik (Fn. 4/A.), S. 62 ff. auch zum Folgenden. R. Gröschner, Die richterliche Rechtsfindung: „Kunst“ oder „Methode“?, in: Michael Henkel u. a. (Hrsg.), Dialogik des Rechts – Philosophische, dogmatische und methodologische Grundlagenarbeiten 1982–2012, Tübingen 2013, S. 115 ff., versucht dagegen dies in einer „Hippokratischen Kunst des Richtens“ zu verbinden. 196
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Fall annäherungsweise zu verwirklichen197, zumal dieser Wert – und stärker als der Wert „Gesundheit“ – selbst bereits eine Formel mit unterschiedlichem und weltanschaulich umstrittenem Inhalt ist. Im Bemühen um dessen Verwirklichung wird er prozedurale und inhaltliche Werte wie „Fairness“, „Wahrheit“ und „sorgfältige Rechtsanwendung“ verfolgen, die ihrerseits konkretere Handlungsprinzipien nach sich ziehen198. Aus diesen wiederum lassen sich – im geglückten Falle – Regeln für das jeweils konkret geforderte Handeln ableiten. Diese Werte wiederum sind gleichzeitig rechtsethische Prinzipien der Verfassung: Gesetzesbindung, Fairness, Gerechtigkeit, Weisungsunabhängigkeit. 5. Rechtsethik: Ihr Gegenstand und ihre Teilgebiete Richterliche Ethik kann als Teilgebiet der Rechtsethik angesehen werden: Die Rechtsethik199, die eine angewandte Ethik sowie eine Subdisziplin der Sozialethik und – als deren normativer Teil – der Rechtsphilosophie ist200, untersucht die fundamentalethische Seite des Rechts, der Gesetze sowie deren Anwendung. Der rechtsethische Diskurs findet also – anders als bei den meisten anderen Spezialethiken – in und mit einem normativ strukturierten Raum, eben der Rechtsordnung, statt. Sie stellt dabei die Frage nach der Differenz von Recht und Unrecht201. Die leitende Grundfrage ist: Welches Recht ist „gerecht“ 202 oder „richtig“ 203? Ihre Aufgabe ist es daher im Wesentlichen, Maßstäbe und Prinzipien „richtigen“ oder „gerechten“ Rechts aufzusuchen bzw. argumentativ auszuweisen204. Sie steht damit in einem unmittelbaren Zusammenhang mit dem poli197 Vgl. R. Gröschner, Die richterliche Rechtsfindung: „Kunst“ oder „Methode?“, in: JZ 1983, S. 947, der zu Recht die konkrete Gerechtigkeit der unbestimmten und deshalb kaum operationalisierbaren Idee entgegensetzt und fordert, dass diese vom Richter zum Gegenstand seiner „Kunst“ gemacht wird. 198 Vgl. hierzu: Rennert, Guter Richter (Fn. 5/B.), DRiZ 2013, S. 214 ff. 199 Vgl. grundlegend: Bydlinski/Mayer-Maly, Rechtsethik und Rechtspraxis, Innsbruck 1990; Bydlinski/Mayer-Maly, Die ethischen Grundlagen des Privatrechts, 1994; Dreier, Rechtsethik (Fn. 7/A.), S. 377 ff.; Ellscheid, Art. Rechtsethik, in: Pieper/Thurnherr (Hrsg.), Angewandte Ethik (Fn. 110/A.), S. 134 ff.; O. Höffe, Kategorische Rechtsprinzipien, 2. Aufl., Frankfurt/M. 1995; Horster, in: Stoecker/Neuhäuser/Raters, Handbuch (Fn. 97/B.), Art. Rechtsethik, S. 153 ff., K. Larenz, Richtiges Recht. Grundzüge einer Rechtsethik, 1979; v. d. Pfordten, Rechtsethik, München 2001, ders., Art. Rechtsethik in Nida-Rümelin (Hrsg.), Angewandte Ethik, S. 204 ff.; Fischer/Strasser, Rechtsethik, 2007; Thurnherr, Angewandte Ethik (Fn. 37/A.), S. 86 ff. 200 v. d. Pfordten, Lehrbuch: Rechtsethik (Fn. 36/B.), S. 15 zur Einordnung in die Wissenschaftsdisziplinen und S. 31 ff. zur Herausbildung der Rechtsethik als Teildisziplin der Rechtsphilosophie. 201 Dreier, Ethik (Fn. 34/B.), S. 35. 202 Dreier, Rechtsethik (Fn. 7/A.), S. 577; v. d. Pfordten, Lehrbuch: Rechtsethik (Fn. 36/B.), S. 1, 8 f. 203 Larenz, Richtiges Recht (Fn. 199/B.), S. 12 ff. 204 Dreier, Rechtsethik (Fn. 7/A.), S. 577 f.; ders., Ethik (Fn. 34/B.), S. 24.
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tisch-ethischen Diskurs. Auf dieser Grundlage werden etwa Gesetzentwürfe und geltendes Recht in rationaler Weise auf ihre Moralität überprüft bzw. die Rechtsnormen ethisch hinterfragt, kritisiert und ggf. – im Hinblick auf den Zwangscharakter des Rechts – zu rechtfertigen versucht205. Ihr geht es auch um die Bestimmung der Grenzen des Rechts, der Verrechtlichung von bloßen Sozialnormen206 und damit um die rechtsethisch begründete Schaffung und Anwendung des Rechts207. Die Fragestellung geht dabei stets von fundamentalen Problemen aus: So werden das Recht selbst, die durch ihn verfassten Institutionen und die staatliche Strukturen auf ihre Vernünftigkeit, Friedensfähigkeit und Legitimität hin untersucht. Eine der rechtsethischen Fragen ist, wie das Verhältnis von Staat bzw. Gesellschaft auf der einen und dem Einzelnen sowie bestimmte Verbindungen Einzelner (Familie, Elternschaft, örtliche Gemeinschaft . . .) auf der anderen Seite, also der unabdingbare Raum der Freiheit des Einzelnen, ausgestaltet sein soll208. Hierbei werden anarchistische, kollektivistische, individualistische, naturrechtliche, liberalistische, utilitaristische, kontraktualistische oder kommunitaristische Modelle209 der Kritik oder Rechtfertigung von Herrschaft diskutiert. Es geht regelmäßig um die dauerhafte Suche nach einem Ausgleich zwischen dem, was der Staat im Rahmen der Rechtsordnung an dem und für den Einzelnen tut und von ihm fordert, und dem, was dem Einzelnen oder der Gemeinschaften nach dem Subsidiaritätsprinzip und dem Prinzip der bewussten Selbstbeschränkung des Rechts210 zum autonomen und selbstverantworteten Handeln überlassen bleiben muss. Die ethische Kritik von Recht und Gesetz hat dabei die Aufgabe, die Prinzipien zu bestimmen, an dem sie das Recht misst, etwa der Freiheit, Gleichheit oder der Gerechtigkeit211. Diese Prinzipien können ihrerseits selbst Rechtswerte sein, sog. „adoptierte ethische Prinzipien“ 212, so dass der außerrechtliche Wert zum Maßstab und zum Inhalt der rechtlichen Umsetzung wird. Die Rechtsethik macht insofern grundlegende ethische Normen zum Untersuchungsgegenstand und Maßstab der Beurteilung. Sie untersucht die Grenz- und Konfliktstellen zwischen Recht und Moral und steht damit in enger Beziehung zu Rechtswissenschaft und Ethik. Insbesondere versucht sie die Fundamentalnormen der Moral
205
Ellscheid, in Pieper/Thurnherr (Hrsg.), Angewandte Ethik (Fn. 110/A.), S. 134. Ellscheid, in Pieper/Thurnherr (Hrsg.), Angewandte Ethik (Fn. 110/A.), S. 140. 207 v. d. Pfordten, Lehrbuch: Rechtsethik (Fn. 36/B.), S. 23. 208 K. H. Auer, Das Menschenbild als rechtsethische Dimension, in: ARSP 2007, S. 498 f., v. d. Pfordten, Lehrbuch: Rechtsethik (Fn. 36/B.), S. 244 ff. 209 Dreier, Rechtsethik (Fn. 7/A.), S. 578 ff. zur Vielzahl der rechtsphilosophischen Entwürfe. 210 Ellscheid, in: Pieper/Thurnherr (Hrsg.), Angewandte Ethik (Fn. 110/A.), S. 146 ff. 211 Dreier, Ethik (Fn. 34/B.), S. 36; Häuser, Vorfragen (Fn. 55/A.), BJ 76 (2003), S. 188; Strecker, Ethik (Fn. 59/A.), BJ 2004, S. 377. 212 Ellscheid, in: Pieper/Thurnherr (Hrsg.), Angewandte Ethik (Fn. 110/A.), S. 138. 206
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und rechtsethische Prinzipien im geltenden Recht aufeinander zu beziehen213: Grundrechte, Gleichheit vor dem Gesetz, Vertrauensschutz, Rechtsklarheit, Rechtssicherheit, einschließlich des Grundsatzes des „nulla poena sine lege“, Verhältnismäßigkeit, Willkürverbot und Übermaßverbot214 werden ebenso als Forderungen der Gerechtigkeit untersucht, wie Freiheit, Verantwortung, Schuld, Vertrauen, Subsidiarität, Treue und Friede215 als allgemein menschliche wie normative Phänomene. Dabei werden diese Phänomene nicht nur theoretisch reflektiert, sondern auch ihre praktische Wirksamkeit im und durch das Recht und die dafür notwendigen Bedingungen formuliert: subjektives Recht, demokratische Teilhabe an der politischen Willensbildung, Informationsrechte, Rechtsschutz, faires Verfahren, Verhalten der Rechtsanwender. Der inhaltliche und formale Zusammenhang zwischen der Rechtsethik und der richterlichen Ethik lässt sich daher in folgender Weise umschreiben: Der Richter muss im konkreten Einzelfall möglichst die Anforderungen aus beiden Sphären, des Rechts und der Rechtsethik, zusammenbringen. Zum einen hat der Richter die Aufgabe, im Verfahren materiellen, in das Recht inkorporierten rechtsethischen Prinzipien, etwa der Grund- und Menschenrechte, Grundsätze des Rechtsund Sozialstaatsprinzips, zur Wirksamkeit zu verhelfen. Denn die vorbeschriebenen rechtsethischen Prinzipien sind weitgehend in das deutsche Verfassungsrecht inkorporiert und geben damit der durch das Grundgesetz geprägten Rechtsordnung ihr ethisches Gepräge216. Seine Aufgabe ist daher nicht, etwa unter Rückgriff auf das überpositive Naturrecht rechtsethische Prinzipien erst zu begründen, sondern die im geltenden Recht vorhandenen Prinzipien praktisch anzuwenden217. Zum anderen gehören zu den rechtsethischen Prinzipien auch Prinzipien des rechtsstaatlichen Verfahrens, insbesondere das faire Verfahren, die Unschuldsvermutung, die Unparteilichkeit des Richters und das Prinzip des rechtlichen Gehörs218. Auch diese hat der Richter durch sein Handeln zu verwirklichen. Dabei bleibt es nicht aus, dass das richterliche Handeln selbst unter diese rechtsethischen Anforderungen gestellt wird: „Das Verhältnis des Richters zu den sitt-
213 Zu den maßgeblichen rechtsethischen Prinzipien: Wieacker, Rechtsprechung (Fn. 139/B.), JZ 1961, S. 337, 340. 214 Vgl. Schambeck, Richteramt (Fn. 70/A.), S. 16 f. Dreier, Rechtsethik (Fn. 6/A.), S. 388 f., weist darauf hin, dass das Grundgesetz die in der westlichen Rechtsphilosophie entwickelten und maßgeblichen rechtsethischen Prinzipien in das Recht aufgenommen hat. Es wird zur institutionellen Verbürgung der ethischen Grund- oder Mindestgehalte des Rechts. 215 Dreier, Rechtsethik (Fn. 6/A.), S. 378 führt unter Bezugnahme auf Hollerbach die Wertequadriga „Gerechtigkeit, Freiheit, Friede und Gleichheit“ an. 216 Dreier, Ethik (Fn. 34/B.), S. 40 ff. 217 Vgl. hierzu Wieacker, Rechtsprechung (Fn. 139/B.), JZ 1961, S. 337, 339, der sich überzeugend gegen den Ansatz Weinkauffs (NJW 1960, S. 1689 ff.) wendet, Naturrecht müsse durch die Rechtsprechung an das Recht herangetragen werden. 218 Larenz, Richtiges Recht (Fn. 199/B.), S. 164 ff.
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lichen Werten des Rechts kann nicht ohne Bezug zu der eigenen Moral des Richters bleiben.“ 219 Die richterliche Ethik, die sich hierauf bezieht, ist deshalb Teil der Rechtsethik220. Der Richterspruch ist regelmäßig kein wertfreier Gesetzesvollzug, sondern setzt eine Willensbildung voraus, in der sich Norm-, Seins- und Werterkenntnis verbinden. Die Rechtsethik befasst sich daher konsequenterweise auch mit der Ethik des rechtsanwendenden Personals, insbesondere dessen Bindung an das Gesetz und seiner rechtsethischen Leistung bei der Gesetzesanwendung221. Es liegt daher nahe, dass die fundamentalen richterethischen Grundhaltungen letztlich aus den rechtsethischen Prinzipien der Verfassungsordnung zu gewinnen und zum rechtsethischen Fundament seiner Berufsmoral zu machen sind. Ein Unterfall der Rechtsethik ist die Verwaltungsethik. Sie hat eine besondere Nähe zur richterlichen Ethik, weil sie auch eine Ethik rechtsanwendender Personen ist, nämlich der Beamten und anderer Angehörigen des öffentlichen Dienstes. Sie kann daher auch als Beamtenethik bezeichnet werden. Ausgehend vom überkommenen Amtsethos (des Beamten)222 bemüht sie sich um die Herleitung und Durchsetzung gut begründeter, nichtrechtlicher Verhaltensnormen in öffentlichen Verwaltungen223. Der Begriff „Verwaltungsethik“ war in Deutschland früher wenig verbreitet224, auch wenn das Phänomen seit Jahrhunderten tatsächlich Gegenstand der Verwaltungslehre und -wissenschaft ist225. Dies hat seinen Grund im Wesentlichen darin, dass in Deutschland die Verwaltungskultur seit über zweihundert Jahren durch das Recht geprägt wird. So werden – und hier liegt eine weitere Parallele
219
Wieacker, Rechtsprechung (Fn. 139/B.), JZ 1961, S. 337, 341. Markel, Richterethos (Fn. 6/A.), ÖsterrRZ 2003, S.167; v. d. Pfordten, Angewandte Ethik (Fn. 199/B.), S. 281 f. 221 Hagen, Rechtsstab (Fn. 99/B.), S. 159 ff.; Larenz, Richtiges Recht (Fn. 199/B.), S. 152 ff. 222 Vgl. Feindt, Beamtenethos (Fn. 3/B.), DÖD 1981, S. 1 ff.; K. Vogelgesang, Ethos des Berufsbeamtentums in der Gegenwart, in: ZBR 1997, S. 33 ff. und unten: III. 6. b). 223 Faust, Verwaltungsethik in der Praxis – „Harte“ und „weiche“ Gesichtspunkte, zfwu 9/2 (2008), 244 (www.zfwu.de/fileadmin/pdf/2_2008/9_2_04_Beitrag_Faust_ imp.pdf; [Stand: 26.06.2012]); M. Weibezahn, Ethische Standards in der Verwaltung, Berlin 2012; hierzu die Rezension von U. Schneider, in: ThürVBl. 2014, S. 155 f. dort auch zur Verwaltungsethik; K. Malkmus, Konzeption von Ethik-Standards für die Kommunalverwaltung, 2008, E-Book. 224 Allerdings hat F. Morstein Marx bereits 1963 in seinem Aufsatz „Beamtenethos und Verwaltungsethik“, VerwArch 54, S. 323 ff. (1963), den Begriff früh in die deutsche Diskussion eingeführt; vgl. auch M. Miller, Die dunkle Seite der Macht – Korruption und politische Skandale als Herausforderung für Staat und Verwaltung, in: PersV 2007, S. 175. 225 M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, Band 1, München 1988, S. 361, der die seit dem 15. Jh. zunehmende Flut an Traktaten zur „Beamtenethik“ beschreibt und darstellt; hierzu auch Morstein Marx, Beamtenethos (Fn. 224/B.), S. 330. 220
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zur Richterethik – die Verhaltenspflichten des Beamten in Deutschland durch ein entwickeltes Dienst- und Disziplinarrecht für dienstliches und außerdienstliches Verhalten, durch das Binnenrecht der Verwaltung und durch einen Kanon von diversen Amtspflichten über das Strafrecht (vgl. insbesondere die Korruptionsdelikte) rechtlich geregelt226. Das im deutschen Beamtenrecht historisch angelegte227 und eingeübte Bild des Berufsbeamten als „hingebungsvoller Erfüllungsgehilfen seines Dienstherrn“ reduziert(e) die Beamtenethik daher tendenziell auf die (auch rechtlichen) Verhaltenspflichten des verschwiegenen, unbestechlichen und gehorsamen Dieners. Deutschland unterscheidet sich insoweit vom anglo-amerikanischen Rechtsraum. Dort dominiert die „public service ethics“ die Anleitung des Verwaltungshandelns228. In den USA existiert sogar eine Behörde, das Office of Government Ethics (OGE)229, die die Implementierung einer ethischen Verwaltungskultur, etwa durch Aus- und Fortbildung sowie durch Ethikkodizes und -programme zur Aufgabe hat230. Dieser Vergleich zeigt, dass verwaltungsethische Modelle stark von den Rechts- und Verwaltungstraditionen der jeweiligen Staaten abhängen. Sie sind entweder Bestandteil der informellen, jedenfalls nicht unmittelbar gesetzlich ausgeformten Organisationskultur wie im angelsächsischen Raum oder sie sind ausdrücklich in rechtlichen Normen und Regeln verankert; so das kontinental-europäische, insbesondere deutsche Modell. Die Erkenntnis aus der Verwaltungsethik führt – und dies gilt, wie im Einzelnen zu zeigen ist, auch für die richterliche Ethik – auf folgendes Phänomen: Die nationalstaatliche Rechtskultur eröffnet entweder durch geringe rechtliche Normierung den Raum für moralische Verhaltenssteuerung oder sie begrenzt durch umfassende rechtliche Reglementierung diesen Raum, weil die rechtlichen Handlungsgebote die moralischen Pflichten aufnehmen und insbesondere in das Dienstrecht inkorporieren231.
226 Vgl. hierzu und zu weiteren Elementen der „Ethik-Infrastruktur“ in Deutschland (Eide, historische und berufliche Sozialisation, aktive Zivilgesellschaft, Arbeitsbedingungen): N. Behnke, Ethik in Politik und Verwaltung, Entstehung und Funktion ethischer Normen in Deutschland und den USA, Baden-Baden 2004, S. 85 ff. und S. 133 ff. Dort werden das „Primat der rechtlichen Regulierung“ in Deutschland und der Unterschied zur Situation in den USA betont. 227 Zur historischen Entwicklung der Beamtenethik: B. Bank, Beamtenehre und Beamtenehre, in: ZBR 1958, S. 153 ff.; H. Hattenhauer, Geschichte des Beamtentums, Köln 1980, S. 152 ff. Stolleis, Geschichte (Fn. 225/B.), S. 363. 228 Vgl. zu den USA: Behnke, Ethik (Fn. 226/B.), S. 137 ff.; K.-P. Sommermann, Brauchen wir eine Ethik des öffentlichen Dienstes? in: VerwArch 1998 (89), S. 292 ff. Zu Großbritannien: Weibezahn, Ethische Standards (Fn. 223/B.), S. 172 ff. 229 Hierzu Behnke, Ethik (Fn. 226/B.), S. 159 ff. 230 Sommermann, Ethik (Fn. 228/B.), VerwArch 1998 (89), S. 293 m.w. N. 231 Zu Deutschland: Sommermann, Ethik (Fn. 228/B.), VerwArch 1998 (89), S. 296 ff.
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Dass dieser Weg, das Verhalten des Beamten im Wesentlichen durch das Recht zu reglementieren, aber an Grenzen stößt, zeigen die Herausforderungen der modernen Verwaltung: So verlangen „Kundennähe“ und ökonomische „Effizienz“ der Verwaltung – wie diverse Korruptionsskandale in der Bau- oder Gesundheitsverwaltung zeigen232 – auch verwaltungsethische Flankierungen. Bestimmte politische Einflussnahmen auf Stellenbesetzungen von Beförderungsämtern, bei denen die Mitgliedschaft in einer Partei oder das „Netzwerk“ eine Rolle spielt, bis zu politischen Handlungsvorgaben für Beamte im Widerspruch zum Recht oder zum Gemeinwohl verlangen eine ethische Positionierung des jeweiligen Beamten. Gleiches gilt für andere Phänomene wie das Versagen von Sicherheitsorganen (NSU), das Sponsoring öffentlicher Verwaltungen oder das öffentliche Interesse missachtende Nebentätigkeiten. Diese Entwicklungen machen die Etablierung präventiver Steuerungsmittel, insbesondere die Stärkung berufsmoralischer Haltungen, neben dem Recht notwendig, um die Integrität öffentlicher Verwaltungen auf Dauer zu wahren. Hierzu gehören auch verwaltungsethische Überlegungen und Verhaltenskodizes, die die persönliche Verantwortlichkeit des Einzelnen für die Wahrung des öffentlichen Interesses heben und stärken233. In diesem Kontext steht auch die Forderung nach „gutem Verwaltungshandeln“ 234, das auf Unionsebene grundrechtlich verbürgt ist (vgl. Art. 41 EU-GRCharta). Dessen Ziel ist neben der Ausrichtung an einer Verwaltungsethik im vorbeschriebenen Sinn eine an „materiell guten Ergebnissen orientierte“ Verwaltung „zur effektiven und guten Umsetzung gesetzgeberischer Ziele in der Praxis“ 235. Wesentlicher Aspekt ist die Abkehr von der „Durchsetzung“ der Verwaltungsziele hin zur „Partizipation“ und „Bürgernähe“. Inhaltlich soll dieses „offene“ Konzept im Wesentlichen „einen Kanon von Handlungspflichten der Verwaltung den Bürgern gegenüber“ enthalten236, die klassische rechtsstaatliche Pflichten, wie Unparteilichkeit, Anhörung, Begründung, Beschleunigung, aber auch allgemeine Anforderungen wie „Fairness“ und „Gerechtigkeit“ enthält. Modellcharakter hat dabei der Europäische Kodex für gute Verwaltungspraxis237, der neben normwiederholenden Pflichten (z. B. zur Rechtmäßigkeit, Nichtdiskrimi232 Miller, Dunkle Seite (Fn. 224/B.), PersV 2007, S. 170, 175; Sommermann, Ethik (Fn. 228/B.), VerwArch 1998 (89), S. 290 ff. Schon 1958: Bank, Beamtenehre (Fn. 226/B.), ZBR 1958, S. 153 ff. 233 Vgl. U. Battis, Hergebrachte Grundsätze versus Ökonomismus, in: DÖV 2001, S. 313 ff.; Morstein Marx, Beamtenethos (Fn. 224/B.), S. 323. 234 Vgl. hierzu K. Bourquain, Die Förderung guten Verwaltungshandeln durch Kodizes, in: DVBl. 2008, S. 1224 ff. m.w. N., dort auch zur Abgrenzung zu dem aus der Entwicklungszusammenarbeit stammenden Begriff der „good governance“; sowie Goerlich, Good Governance und Gute Verwaltung – Zum europäischen Recht auf gute Verwaltung, DÖV 2006, S. 313. 235 Vgl. hierzu Bourquain, Förderung (Fn. 234/B.), DVBl. 2008, S. 1225. 236 Bourquain, Förderung (Fn. 234/B.), DVBl. 2008, S. 1226. 237 www.ombudsman.europa.eu/code/de/default.htm (Stand: 26.06.2012).
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nierung, Verhältnismäßigkeit, kein Missbrauch von Befugnissen, Unparteilichkeit und Unabhängigkeit, Objektivität) auch allgemeine Pflichten enthält (z. B. Fairness, Höflichkeit, angemessene Frist für die Entscheidungsfindung). 6. Amtsethos des Richters und richterliche Ethik als Teil der Rechtsethik „Es muss sich wirklich um sie [die Ethik] drehen: sittlich gutes menschliches Handeln, das dem kategorischen Imperativ, dem unbedingten ,du sollst!‘ verpflichtet ist, nicht nur um vernünftige, bewährte, praktische, zweckmäßige, konsensfähige, opportune oder gar hintersinnige Regeln zur Steuerung oder ,Optimierung‘ gesellschaftlicher, betrieblicher oder sonst kollektiver Abläufe. Legt man diesen Maßstab an, wird man wohl finden, dass der wortreiche Ethikdiskurs der Gegenwart, der im Prinzip gewiss nötig ist und nützlich sein kann, auch manchen Ballast mit sich führt – Banalität, Technik, Suggestionen, Selbstlob, Werbung, Hintersinn.“ 238 Bertram beschreibt in dem vorangestellten Zitat die Schwierigkeit und die Mühsal, den Begriff der richterlichen Ethik von den „Diskussionsschlacken“ zu befreien. Er zeigt auf, dass der Gegenstand der richterlichen Ethik und damit ihr Begriff in einem klärenden Abgrenzungsprozess zu ermitteln ist. Nur nach einer geglückten Begriffs- und Gegenstandsklärung kann die Diskussion geordnet und methodisch strukturiert zu – nicht mehr nur banalen und ethikfremden – Erkenntnissen führen. Vordringliches Ziel ist daher, erst einen allgemeinen Begriff zu finden, um dann die vielfältigen Äußerungen zu dem, was unter dem Stichwort „richterliche Ethik“ geführt wird, erfassen zu können und schließlich in der Abgrenzung zu den geltenden rechtlichen Verhaltensanforderungen das Feld für die „richterliche Ethik“ überhaupt erst abzustecken. Nach den oben bereits geleisteten Abgrenzungen der Begriffe und Gegenstände von Ethik, Moral, angewandter Ethik und Recht kann als Ertrag für die weitere Abgrenzung hier vorläufig Folgendes eingebracht werden: Ist Ethik die Wissenschaft von Moral, ist richterliche Ethik die Wissenschaft der Berufsmoral des Richters239. Ist das Recht Gegenstand der Rechtswissenschaft und Moral Gegenstand der Ethik, werden Gegenstand der richterlichen Ethik nicht die rechtlichen Verhaltensanforderungen an den Richter, sondern die nichtrechtlichen oder moralischen Sollensanforderungen an ihn sein. Geht es um moralische Sollensanforderungen an den Richter, ist hiervon abzugrenzen bzw. auszuscheiden die richterliche Technik und Kunst, die Rechtsprechungslehre, die Quantitäts- und Qualitätssicherung240, also all das richterliche Verhalten, das ohne unmittelbare Sollensanforderungen die bloße Zweckmäßigkeit seines Handelns betrifft. Dass 238 239 240
G. Bertram, Theodor Storms Beitrag zur „Richterethik“, in: MHR 2009, S. 16 f. Neumann, Ethos (Fn. 81/A.), DRiZ 2006, S. 101. v. Olenhusen, Thesenpapier (Fn. 126/A.), 3. These.
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diese – hier holzschnittartige – Abgrenzung von Recht, Technik, Kunst und Moral nicht unproblematisch und frei von Überschneidungen und „Überblendungen“ ist, zeigen die folgenden Überlegungen: a) Abgrenzungen aa) Das Problem der Berufsmoral An sich ist es banal festzustellen, dass sich Ethik mit Moral beschäftigt. Im Diskurs zur richterlichen Ethik liegt aber gerade hier eines der Hauptprobleme. Der Umstand, dass es ihr um die Berufsmoral des Richters geht und – soll der Diskurs Anschluss an die allgemeine ethische Debatte finden – gehen muss, scheint eine erhebliche Aversion auszulösen241. Vor allem Vertreter der Richterschaft, die sich zur Aufgabe gestellt haben, die Diskussion zur richterlichen Ethik zu befördern, werden nicht müde zu betonen, in dieser Diskussion ginge es nicht um „falsch“ und „richtig“, „moralisch“ und „unmoralisch“, auch nicht um Sanktionierung, sondern nur um „Diskussion“ und Hilfestellung im Berufsleben242. Die Gründe für diese Zurückhaltung dürften vielschichtig sein: Ausgehend von eigenen Erfahrungen und der eigenen Selbstwahrnehmung als Richter könnten die Gründe zum einen in einer Fehlvorstellung über den Umfang und den Zweck der richterlichen Unabhängigkeit liegen oder sich zum anderen aus dem erfahrungsgesättigten Umgang mit steuerungswilliger Justizverwaltung243 und/oder aus dem – gesellschaftlich weit verbreiteten – Vorbehalt gegenüber „Moral- und Tugendwächtern“ ergeben. Alle diese Aspekte können aber einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Phänomen „Berufsmoral des Richters“ nicht ernsthaft entgegengesetzt werden. Die richterliche Unabhängigkeit, die dem Richter nicht als persönliches Privileg verliehen, sondern im Interesse des Rechtssuchenden und des ausbalancierten Rechtsstaates gesichert ist, eröffnet gerade den Raum von persönlicher Verantwortung und von außerrechtlichen Verhaltenserwartungen, die sich in der Berufsmoral verdichten. Diese Berufsmoral geht dabei nie nur den einzelnen Richter an. Sollte Angst nie Anlass und Ursache zu wissenschaftlicher Selbstbeschränkung sein, ist die Angst vor der Dienstaufsicht für den Richter weder in der 241 Krix, Richterethik (Fn. 109/A.), S. 119 f., meint, man gerate bei der Bestimmung des Gegenstands der richterlichen Ethik „in tiefste philosophische Abgründe“. In die gerät sie dann auch, weil sie nicht in überkommener Weise zwischen Ethik und Moral unterscheidet bzw. den Moralbegriff mit Brauchtum verwechselt. Auch scheint der Unterschied zwischen Ethik und Ethos unbekannt zu sein, wenn „Ethik“ als „innere Selbstbindung“ beschrieben wird. Schließlich versucht sie, Aristoteles gegen Kant auszuspielen, um eine „lebenspraktische Beschäftigung“ mit diesen Fragen „ohne Sanktionen von außen“ vorzubereiten und damit den Sollensanforderungen auszuweichen. Tugendethik ist aber nur ein Teil der Ethik. 242 Vgl. Titz, Berufsethos (Fn. 119/A.), DRiZ 2008, S. 100. 243 Krix, Richterethik (Fn. 109/A.), S. 123, meint, „wir können uns aus Idealismus nicht zu Schafen machen, die selbst zum Schlachthof rennen.“ (sic !).
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Berufsausübung noch bei der Ermittlung seiner außerrechtlichen Berufspflichten ein tolerables Motiv. „Moral- und Tugendwächtern“ schließlich lässt sich mit einem rationalen Diskurs über die eigene Berufsmoral, insbesondere über ihre Grenzen, eher beikommen als mit einer Wohlfühldebatte mit therapeutischem Einschlag. Letzteres vernebelt die Geister und entmündigt im Übrigen noch mehr. Schließlich wäre es auch verfehlt, die Suche nach der richterlichen Berufsmoral zu entgrenzen. Die richterliche Ethik sucht eben nicht nach „allen denkbaren Wertmaßstäben . . ., die außerhalb von Gesetz und Recht verwendet werden, um die unvermeidlichen Widersprüche zwischen den Anforderungen des Amtes und den individuellen Werten auszugleichen, die ein Richter für seine Entscheidung entwickelt hat.“ 244 So kann es nicht um alle denkbaren außerrechtlichen Wertmaßstäbe bezogen auf die richterliche Berufshaltung gehen, sondern nur um solche, die nach der deutschen Rechtsordnung zulässigerweise an den Richter herangetragen werden können. Noch kann der individuelle Ansatz des jeweiligen Richters der Maßstab sein; vielmehr geht es um die objektiven berufsmoralischen Anforderungen die den Richter als solchen in seinem Amt treffen, an denen er sich dann individuell orientieren kann bzw. muss. bb) Rechtliche Verhaltensanforderungen an den Richter und ihre Grenzen Die rechtliche begründeten Verhaltenspflichten des Richters sind Gegenstand der Rechtswissenschaft, die nichtrechtlichen oder moralischen Sollensanforderungen an den Richter, seine Berufsmoral, sind Gegenstand der richterlichen Ethik. Diese scheinbar so klare Unterscheidung ist aber bei näherem Hinsehen fragwürdig. Denn bereits die – auch aus verfassungsrechtlichen Gründen – berechtigte Frage, ob der Richter durch etwas anderes verpflichtet und in seinem Verhalten begrenzt werden kann und darf als durch das Recht, zeigt den prekären Charakter der richterlichen Berufsmoral auf. Schärfer formuliert ließe sich die Frage stellen, ob es aus rechtlicher Sicht überhaupt eine Berufsmoral des Richters geben darf. Denn jedes Handeln des Richters hat schließlich (nur) dem Recht und Gesetz zu gehorchen und zu dienen. Die Antwort kann vorläufig nur lauten: Recht und Gesetz haben den unbestreitbaren normativen Vorrang vor der Berufsmoral bei der Steuerung des richterlichen Verhaltens. Die Sanktionierung von Verstößen gegen rechtliche Verhaltenspflichten ist der Dienstaufsicht und den Prozessbeteiligten in wiederum rechtlichen Formen übertragen und zumeist wirksam. Moralische Verhaltenspflichten sind daneben aber nicht ausgeschlossen. Zum einen sind auch recht244 So aber B. Heussen, Richterliche Berufsethik aus der Sicht eines Rechtsanwalts, in: NJW 2015, S. 1927.
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liche Verhaltenspflichten bzw. -erwartungen an den Richter häufig ungenau und das konkrete Verhalten letztlich kaum rechtlich steuerbar, wie etwa die Sorgfaltspflicht, die Ermittlungspflicht, die Pflicht zum vollen beruflichen Einsatz etc. Weil zum anderen Recht und Gesetz aufgrund ihres Abstraktionsgrades nicht nur im Einzelfall zu konkretisieren sind, sondern wegen ihrer Unbestimmtheit nicht selten Interpretations-, Gestaltungs- und Entscheidungsspielräume des Richters sowohl in der Verfahrensgestaltung als auch beim Suchen und Finden des materiellen Rechts eröffnen, bleibt ein rechtlich zwar vorgeprägtes, aber nicht abschließend determiniertes Handlungsfeld. Dieses Feld eröffnet Handlungs- und Entscheidungsoptionen, die verantwortet und verantwortlich genutzt und ausgefüllt werden müssen. Hier dürfte das Feld der Berufsmoral betreten sein. Die richterliche Ethik kommt also bei den Spielräumen aufgrund der fehlende Determiniertheit im Rechtlichen (Wertungen; Auslegung) und Tatsächlichen (Ermittlungsverhalten, Wahrnehmung, Umgang mit dem Bürger, innere und äußere Einflüsse) zum Tragen245. Insoweit können allerdings – der Entfaltung einer richterlichen Ethik zuwiderlaufenden – weitere Fragen aufgeworfen werden: Kann dieser Handlungsbereich, der nicht durch das Recht und dem Zweck der richterlichen Aufgabe vorstrukturiert ist, nicht der individuell geprägten Einsicht des jeweiligen Richters überlassen werden246? Muss es auch hier (moralische) Regeln geben? Diese Fragen sind nicht nur berechtigt, sondern wegen des durch die richterliche Unabhängigkeit insoweit vor Zugriffen geschützten Handlungsfeldes zwingend. Allerdings würde die Antwort, alles bleibt dem individuellen Gutdünken des Richters überlassen, den Anspruch des seine Individualität betonenden Richters, er nehme seine Freiheit verantwortlich war, nur unzureichend stützen. Denn auch dieser Richter hat seine Unabhängigkeit als Richter im Interesse des Bürgers, des Rechtssuchenden und des Rechts auszuüben. Er steht deshalb unter dem Zwang, sein Verhalten vor dem Recht zu rechtfertigen und es auch sonst rational begreiflich zu machen. Hier gerät er zwangsläufig auch zu moralischen und ethischen Aspekten seines Handelns, das nachvollziehbar und berechenbar sein muss. Richterliche Ethik kann so zu einer rationalen Handlungsanleitung werden, die für Transparenz und Berechenbarkeit sorgt. Berufsmoral des Richters wird so zu einer „Rationalität des richterlichen Ermessens“, die ihren Sollensanspruch zunächst aus dem Recht erhält, das über das Willkürverbot, die innere Unabhängigkeit und die Fairness aber auch auf rechtsethische Prinzipien verweist. Haben Recht und Gesetz den Vorrang bei der Steuerung des richterlichen Verhaltens und eröffnet sich das Feld seiner Berufsmoral in erster Linie außerhalb bzw. jenseits klarer rechtlicher Vorgaben, ergibt sich hieraus zwangsläufig, dass sich der Gegenstand der richterlichen Ethik je nach nationaler Ausgestaltung des 245 246
Eckertz-Höfer, Guter Richter (Fn. 119/A.), S. 16 ff. Für den Beamten: Morstein Marx, Beamtenethos (Fn. 224/B.), S. 329.
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Rechts unterscheiden muss. Hinzu kommen kulturelle und nationale Unterschiede zu den Verhaltenserwartungen an den Richtern. Diese Erkenntnis führt dazu, dass Zweifel an einer gemeineuropäischen oder gar universalen richterlichen Ethik aufkommen müssen. cc) Richterliche Professionalität: Kunst, Technik und Qualität Die hier abzugrenzenden Phänomene lassen sich am Ethikkonzept Gröschners besonders anschaulich machen: „Die Kunst im Dienst des Falles; das ist die Ethik der richterlichen Rechtsfindung und darin die Moral des Ganzen.“ 247 „Die richterliche Rechtsfindung ist Kunst.“ 248 Nach Gröschner liegt das Ethos des Richters verstanden als professionelle Haltung darin, die gewohnte und eingeübte „Techne“ für seine richterliche Aufgabe, nämlich die praktische Fähigkeit den konkreten Fall einer gesetzlich beschriebenen Fallreihe249 zuzuordnen, konsequent wirken zu lassen und in Verantwortung gegenüber der konkreten Person des Rechtssuchenden und im Dialog mit ihm zu entscheiden250. Der Dialog kann dabei auch der stille Dialog von gegebenen „Gründen“ sein. Eine philosophische Ethik braucht der Richter danach nicht, um beurteilen zu können, wozu er jeweils verpflichtet ist. Diese „Technik“ führt zur richterlichen Kunst und diese ist – bei entsprechender Verinnerlichung – seine Moral und sein Ethos. Der Ansatz Gröschners, im Wege der dialogischen und konkreten Rechtsfindung die Ethik zu „entidealisieren“ und die (juristische) Methode zu „entplatonisieren“ 251, muss aber nicht dazu führen, dass vernünftig begründete, außerrechtliche Sollensanforderungen an den Richter hinfällig werden. Dass auch für Gröschner die richterliche Moral nicht in seiner „Technik“ vollständig aufgeht und deshalb sein Ansatz nicht schon das Ende der richterlichen Ethik ist, wird deutlich, wenn er sagt, der Richter habe die nicht nur rechtliche, sondern „philosophische Verpflichtung, den von den Parteien erhobenen Ansprüchen in einer Weise gerecht zu werden, die sich rechtlich überzeugend begründen lässt.“ Außerdem lässt er erkennen, es bestehe eine Verpflichtung zum Dialog. Er müsse 247 Gröschner, Kunst (Fn. 197/B.), JZ 1983, S. 944, 950; Rennert, Guter Richter (Fn. 5/B.), DRiZ 2013, S. 214, setzt zwar auch hier an, lässt es aber bei der moralfreien Kunst nicht verbleiben, sondern verknüpft diese unmittelbar mit Berufsmoral. 248 Gröschner, Dialogik (Fn. 196/B.), S. 107. 249 Gröschner orientiert sich dabei an J. Schapp, Hauptprobleme der Methodenlehre, Tübingen 1983: Dialogik (Fn. 196/B.), S. 110 ff. 250 Gröschner, Dialogik (Fn. 196/B.), S. 120 ff. F. Wieacker, Gesetz und Richterkunst. Zum Problem der außergesetzlichen Rechtsordnung, Schriftenreihe der Juristischen Studiengesellschaft, Karlsruhe 1957, Heft 34, S. 1, reduziert dagegen die Richterkunst auf die methodengerechte Rechtsanwendung. 251 Gröschner scheint den Begriff der Idee sehr schnell und nicht vollständig überzeugend erst in den Begriff der Methode zu implementieren: Dialogik (Fn. 196/B.), S. 107 f.
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sich diesen Verpflichtungen jeden Tag stellen252. Wenn er allerdings meint, bereits die konkrete Frage des Rechtssuchenden an den Richter löst diese „tatsächliche“ Pflicht aus, dürfte er einem umgekehrten naturalistischen Fehlschluss aufsitzen. Auch dürfte er das Ausmaß verkennen, in dem „man“ diesem tatsächlichen Anruf in der täglichen richterlichen Praxis nicht „gerecht“ und damit – also im Versagen – zum nicht nur rechtlichen, sondern moralischen Problem wird. Der im Ansatz berechtigte Einwand Gröschners, die für die tägliche Praxis des Richters nicht operationalisierbaren, höchsten Ideen seien zugunsten einer konkreten richterlichen Kunst aus der Diskussion um das verantwortliche Handeln des Richters auszuscheiden, dürfte daher überziehen. Denn es geht insoweit nicht um ein Alles oder Nichts. Gerade die angewandte Ethik, der die richterliche Ethik zuzurechnen ist, kennt den Ansatz der „ethischen Prinzipien der mittleren Reichweite“, der mithin das Problem der Konsensbildung, Operationalisierbarkeit und den praktischen Gehalt moralischer Normen in den Blick nimmt. Auf der anderen Seite schärft sein Ansatz aber den Blick für eine weitere notwendige Abgrenzung: Denn geht es der richterlichen Ethik um die berufsmoralischen Sollensanforderungen, hat sie grundsätzlich nicht zum Gegenstand, was bloß die Zweckmäßigkeit und Technik des richterlichen Handelns betrifft. Beschreibt man allerdings den Zweck richterlichen Handelns damit, zügig und prozessordnungsgemäß eine richtige, jedenfalls eine rechtlich vertretbare Entscheidung zu treffen, könnten daran Zweifel aufkommen. Denn bei seiner Verwirklichung – und dies ist der zutreffende Ansatz Gröschners – fallen zumeist rechtlich richtiges Verhalten, professionelle Technik und Berufsmoral zusammen bzw. müssten zusammenfallen, um von der Qualität einer richterlichen Entscheidung zu sprechen. Die in der Justiz in den letzten Jahren geführte Qualitätsdiskussion253, die im Kontext der Binnenmodernisierungs- und Effizienzdebatte sowie der ökonomi252 Gröschner, Kunst (Fn. 197/B.), JZ 1983, S. 949, 950; ders., Dialogik (Fn. 196/B.), S. 122. 253 Vgl. hierzu nur die in der und für die Verwaltungsgerichtsbarkeit entstandenen Papiere (www.ovg.nrw.de/aufgaben/qualitaetsdiskussion/index.php [Stand: 01.02.2016]; www.verwaltungsgerichtsbarkeit.de [Stand: 26.06.2012]): Bayern: 22.01.2007: Gemeinsame Veranstaltung des Hauptrichterrats und des Verbandes der Bayerischen Verwaltungsrichter zur „Qualitätsdiskussion in Bayern“; Baden-Württemberg: 06.05.2008: Einarbeitungskonzept für Assessoren; Nordrhein-Westfalen: 25.02.2009 Grundlagenpapier: „Anforderungen an Verwaltungsrichter in einer modernen Gerichtsbarkeit“, 20.06.2006 Arbeitspapier „Erprobung in der Verwaltungsgerichtsbarkeit“, 16.06.2005 Arbeitspapier „Qualitätssicherung und Qualitätsentwicklung – Organisatorische Strukturen und weitere praktische Arbeitsansätze“, 12.02.2005 Arbeitspapier „Qualitätsdiskussion in der Verwaltungsgerichtsbarkeit“; Rheinland-Pfalz: 16.05.2006 „Das Urteil – ein Leitbild“, 16.05.2006 Die mündliche Verhandlung – ein Leitbild; Thüringen: Thesenpapier „Qualitätssicherung“ 06.06.2006. Zum Verfahren und zur grundsätzlichen Haltung von Richtern und deren Vertretungen zur Qualitätsdebatte in NRW: H. Addicks, Qualität richterlicher Arbeit – Möglichkeiten der Bemessung und Bewertung, in: BJ 2006, S. 363; ebenfalls kritisch: U. Berlit, Modernisierung der Justiz, richterliche Unabhängigkeit und RichterInnenbild, KritJ 32 (1999), S. 58, 64 ff.
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schen Betrachtung der Justiz aufgekommen ist254, hat dagegen gezeigt, dass eine Fülle von Handlungsüberlegungen in erster Linie bloß technischer Natur ist, an die sich nicht unmittelbar und sofort berufsmoralische Überlegungen anschließen: etwa die Verwendung von Verfügungsformularen und Textbausteinen, die Delegation technischer und wiederkehrender Aufgaben an die Geschäftsstellen, die Zuständigkeitsverteilung und Bildung von Fallgruppen, die einheitliche Gestaltung von Verfügungen an die Parteien, die Reihenfolge der Terminierung oder Abarbeitung, Terminabstimmung im Spruchkörper, früher Termin, Arbeitsorganisation im Spruchkörper, Vorstellen des Spruchkörpers im Termin, Art und Weise der Urteilsbekanntgabe, Formulierung des Urteils (Gliederung, Umfang) etc. Die Qualitätsdiskussion255 bewegte sich aber häufig und sehr schnell im Bereich der Berufsmoral256, insbesondere dann, wenn sie bei der professionellen Gestaltung und Beschreibung richterlicher Tätigkeit den Grundsatz der Fairness, ein wesentliches Element der Verfahrensqualität, berührt257. Nachdem die Qualitätsdiskussion nicht selten auch eine Quantitätsdiskussion ist258, also in rein ökonomischer Weise reduziert wird auf Fragen, welches Pensum an Erledigungen gemessen in Zahlen ein Richter in einer bestimmten Zeit 254 Ausgangspunkt der Debatte war die Etablierung „Neuer Steuerungsmodelle“ in der Justiz seit Ende der 90er Jahre. Vgl. H. Klein, Qualitätssicherung im Prozess der Modernisierung der Justiz, in: Schulze-Fielitz/C. Schütz (Hrsg.), Justiz und Justizverwaltung (Fn. 81/A.), S. 55 ff. m.w. N. Eine Initialzündung für die Diskussion in der Verwaltungsgerichtsbarkeit war die von dem Präsidenten des Bundesverwaltungsgerichts und die Präsidentin/die Präsidenten der Oberverwaltungsgerichte/Verwaltungsgerichtshöfe im März 2005 veröffentlichten Thesen zur Binnenmodernisierung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, die mit ihrem Hauptkriterium der „Kundenorientierung“ und „Standards“ richterlicher Tätigkeit eine leidenschaftliche Debatte nach sich zog. Vgl. H. Addicks, Gerichtspräsidenten demontieren Verwaltungsrechtsschutz in: www.ge waltenteilung.de/addickes.htm (Stand: 26.06.2012); J. v. Bargen, Eigenverantwortliches Qualitätsmanagement als richterliche Gemeinschaftsaufgabe, in: SächsVBl. S. 2008, S. 1, ders., Gute Rechtsprechung. Ein Plädoyer für eine engagierte Qualitätsdiskussion in den Gerichten, in: NJW 2006, S. 2531; M. Bertrams, Die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Offensive, in: NRWVBl. 2005, S. 245; Dörflinger/Doll/Müller (Hrsg.), Qualitätszirkel: Ein Instrument für die Justiz?, Mainz 2004; H. Geiger, Qualitätsdiskussion in der Verwaltungsgerichtsbarkeit, in: BayVBl. 2008, S. 585; C. Schütz, Qualität trotz Unabhängigkeit? – Die Richterschaft im Fokus exekutiver Qualitätsoffensiven, in: ThürVBl. 2006, S. 81; Sodan, Qualitätsmaßstäbe (Fn. 85/A.), NJW 2003, S. 1494. 255 Zu den grundlegenden Qualitätsmaßstäben aus richterlicher Sicht: vgl. die Feststellungen im Beschluss der Bundesvertreterversammlung des DRB vom 15.11.2002: Qualität in der Justiz, in: DRiZ 2003, S. 8, 9. 256 Vgl. hierzu die 1. These von Rennert, Guter Richter (Fn. 5/B.), DRiZ 2013, S. 214; zum engen Zusammenhang zwischen beruflichen „Üblichkeiten“ und Moral: Sommermann, Ethisierung (Fn. 34/A.), ARSP 89 (2003), S. 78 f.; Beschluss der Bundesvertreterversammlung des DRB vom 15.11.2002: Qualität in der Justiz, in: DRiZ 2003, S. 8, 10. 257 Siehe hierzu auch unten E. III. 2. b). 258 H. Sodan, Das Spannungsverhältnis von Qualität und Quantität in der Justiz, in: DÖV 2005, S. 764; C. Schütz, iudex oeconomicus, verdikt 1.06, S. 14 ff., der die verfassungsrechtlichen Grenzen der Ökonomisierung aufzeigt.
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schafft oder welche Kosten sein jeweiliges Handeln verursacht und welchen ökonomischen Nutzen dieses Handeln hat, eröffnet sich eine weitere Perspektive für die richterliche Ethik. Das berufsethische Problempotential dieser Sichtweise, nämlich den Fall zur Nummer oder Zahl oder die Entscheidung zum „Produkt“ 259 für „Kunden“ zu machen260, ihre unmittelbaren monetären Kosten zu berechnen, Richter einem ökonomisch-quantitativen Benchmarking innerhalb eines Gerichts oder zwischen Gerichten zu unterwerfen und mit Hilfe von Balanced Scorcards seine quantitative „Effizienz“ zu messen261, liegt auf der Hand. Außerdem wird zügige und zuverlässige Justiz zum „Standortfaktor“ einer globalisierten Welt262, herrscht „Wettbewerb“ zwischen Gerichtsbarkeiten und zwischen Gerichten und außergerichtlichen Formen der Streitbeilegung. Das Risiko, effektiven Rechtsschutz insoweit nur unter dem Aspekt der zeitlichen Dauer des Verfahrens, der Verfahrensbeschleunigung oder der Quantität der Erledigungen zu verstehen, ist groß. Werden diese Kriterien allein zu – meist informellen, aber dennoch bekannten – Maßstäben, die „Eignung, Befähigung und fachliche Leistung“ des Richters zu bewerten, oder gar zum Gegenstand von Zielvereinbarungen263 zwischen dem Richter und einem Vertreter der Dienstaufsicht mit entsprechendem „Kontraktmanagement“ und/oder „Controlling“ 264, verändert dies die Handlungswahl des Richters. Dass hier Gefährdungen für seinen verfassungsrechtlich vorgegebenen Auftrag liegen, der das Amts- und Berufsethos prägt, ist überdeutlich, wenn auch häufig die Ängste und irrationalen Reaktionen von Richtern auf berechtigte Effizienzforderungen an die Justiz nicht immer nach259 v. Bargen, Gute Rechtsprechung (Fn. 254/B.), NJW 2006, S. 2531; H. Eidenmüller, Recht als Produkt, in: JZ 2009, S. 641, der allerdings insoweit den internationalen „Rechtsmarkt“ beleuchtet. 260 Vgl. z. B. M. Übele/B. Grittner, PEBB§Y – Personalbedarfsberechnung in der Justiz des Freistaates Sachsen, in: SächsVBl. 2007, S. 257, die zwar betonen, diese Berechnung diene nur als Entscheidungshilfe für die Haushaltsaufstellung. Die (Beurteilungs-)Praxis an manchen Gerichten sieht allerdings anders aus. 261 Vgl. hierzu Bilsdorfer, Benchmarking (Fn. 83/A.), NJW 1999, S. 3096; K. F. Röhl, Justiz als Wirtschaftsunternehmen, in: DRiZ 2000, S. 220; H. Schulze-Fielitz/ C. Schütz, Justiz und Justizverwaltung zwischen Ökonomisierungsdruck und Unabhängigkeit, Die Verwaltung, Beiheft 5, 2002 (Fn. 81/A.); Schütz, Der ökonomisierte Richter (Fn. 81/A.), Berlin 2005; ders., Qualität (Fn. 254/B.), ThürVBl. 2006, S. 81; ders., Richter unter Druck, BJ 2005, S. 72; G. F. Schuppert, Optimierung von Gerichtsorganisation und Arbeitsabläufen: Herausforderung für die richterliche Unabhängigkeit, in: Hoffmann-Riem (Hrsg.), Reform der Justizverwaltung, Baden-Baden 1998, S. 215; R. Voss, Kostencontrolling und richterliche Unabhängigkeit, in: DRiZ 1998, S. 379. 262 Eidenmüller, Produkt (Fn. 259/B.), JZ 2009, S. 641 ff.; K. H. Millgramm, Verwaltungsgerichtsbarkeit als Standortfaktor, in: SächsVBl. 2005, S. 81. 263 P. Jacob, Mitarbeitergespräche in der Justiz Baden-Württembergs, in: VBlBW 2000, S. 386, 389. 264 Hierzu differenziert: W. Dambowski/J. Precht, Modernisierung in der Rechtspflege durch Justizcontrolling. Rechtliche Zulässigkeit, Konzept und Chancen, in: VerwArch 2005, S. 525; Voss, Kostencontrolling (Fn. 261/B.), DRiZ 1998, S. 379, 380, der hervorhebt, es gehe nicht in erster Linie um Kontrolle der Person, sondern der Kosten.
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vollziehbar sind. Auch wird der Kern richterlicher Unabhängigkeit verfehlt, wenn mit ihr qualitätsloses, saumseliges und fehlerhaftes Handeln gegen Kritik immunisiert werden soll265. Dagegen ist offenkundig, dass die Herstellung der Rahmenbedingungen (sächliche und personelle Mittel, Ausbildung, widerspruchsfreie Gesetzgebung) für eine qualitätsvolle Rechtsprechung nicht dem Richter, sondern der Legislative und der Exekutive als Bringschuld obliegt266. In jedem Falle aber können auf eine auch mittelbare Weise effizienzsteigernde Techniken der richterlichen Tätigkeit zum Problem für seine Berufsmoral werden267. Aus diesen Strang der Debatte wird für die richterliche Ethik insgesamt deutlich: Der „gute“ Richter268 ist nicht nur der professionelle269, d.h. effizient, regelgeleitet und zweckmäßig handelnde Richter, sondern auch der, der die hinter der Erfüllung der professionellen Zweckmäßigkeit liegenden Sollensanforderungen des Rechts und der Moral nicht verfehlt. Dies kommt in dem – Sokrates zugeschriebenen – Dictum270 zum Ausdruck, der gute Richter müsse höflich anhören, weise antworten, vernünftig erwägen und unparteiisch entscheiden. Die der Justiz angemessene Qualität ergibt sich demnach aus einem Ausgleich im 265 v. Bargen, Gute Rechtsprechung (Fn. 254/B.), NJW 2006, S. 2532 f. Zu Fehlern in gerichtlichen Entscheidungen und zur Selbstgerechtigkeit der Richter: K. F. Röhl, Fehler in Gerichtsentscheidungen in: Schulze-Fielitz/C. Schütz (Hrsg.), Justiz und Justizverwaltung (Fn. 81/A.), S. 70 ff., 91 ff.; Schütz, Qualität (Fn. 254/B.), ThürVBl. 2006, S. 81. 266 Vgl. v. Bargen, Gute Rechtsprechung (Fn. 254/B.), NJW 2006, S. 2533; Teil 1 der Stellungnahme Nr. 11 des Beirats der Europäischen Richter – CCJE – von 2008 an das Ministerkomitee des Europarats über „Die Qualität von Gerichtsentscheidungen“ (www.coe.int/t/dghl/cooperation/ccje/textes/Avis_en.asp; Stand: 04.01.2016). 267 In besonderer Weise regen gerade die Vorschläge zur Beschleunigung zur berufsethischen Diskussion an: vgl. etwa die von Hien, Verwaltungsrichter (Fn. 111/A.), BDVR-Rundschreiben, S. 120 f. Nach dem Roland Rechtsreport 2014 (S. 10) haben zwei Drittel der befragten Richter und sogar vier von fünf Staatsanwälten (79 Prozent) nach eigenem Empfinden nicht genügend Zeit für die Bearbeitung ihrer Rechtsfälle (www.roland-rechtsschutz.de/unternehmen/presse_2/publikationen/publikationen.html., Stand: 04.01.2016). 268 Vgl. hierzu die kritische und historisch konnotierte Beschreibung von H. Kramer, Was ist ein „guter Richter“, in: BJ 66 (2001), S. 68, anlässlich der im Widerstand gegen den Präsidialrat des BGH gewählten Richter zu Bundesrichter. Er wirft die Frage auf, ob nicht der „gute“ Richter in besonderer Weise an seiner „kritischen“ Einstellung zum Recht und seiner bisherigen Interpretation zu erweisen ist. Genauer: Rennert, Guter Richter (Fn. 5/B.), DRiZ 2013, S. 214 ff. 269 H. A. Hesse, Unkorrektes und unprofessionelles Handeln von Richtern, in: JZ 1996, S. 449 ff. problematisiert allerdings zu Recht, was unter „professionellem richterlichen Verhalten“ zu verstehen ist. Er weist dabei auf das – nach seiner Ansicht – nicht mehr haltbare, vor Zeiten in der juristischen Ausbildung verinnerlichte Postulat der allein durch Logik und Methodik erlangten „juristischen Wahrheit“ bei der Herstellung und Darstellung einer Entscheidung hin. Heute sei professionell, wenn eine Entscheidung in der Darstellung den Ansprüchen an Objektivität und Wahrheit entspreche. Der Herstellungsprozess sei dagegen nicht selten pragmatisch „am Leben“ ausgerichtet. 270 Sodan, Qualitätsmaßstäbe (Fn. 85/A.), NJW 2003, S. 1494.
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B. Richterliche Ethik als Bereichs- und Berufsethik
Einzelfall zwischen der inhaltlichen Richtigkeit der Entscheidung im Sinne von Gesetzeskonformität, Zügigkeit zur Gewährleistung eines effektiven Rechtsschutzes und Verfahrensgerechtigkeit im Sinne von Fairness. Dies zu leisten, ist Aufgabe der richterlichen Kunst271, verstanden nicht bloß als ästhetisierte Technik richterlichen Handelns, sondern in klassischer Weise als „ars boni et aequi“ 272. Richterliche Kunst bezieht sich damit nicht nur auf seine professionellen Techniken oder die Anwendung des Rechts273, sondern auch auf seine Berufsmoral. In diesem Zusammenhang ist auch der Begriff der guten Rechtsprechung274 und seine Beziehung zur richterlichen Ethik zu untersuchen. Hier kehren die zum „guten Richter“ angestellten Überlegungen wieder. In technischer Hinsicht kann sie in die Nähe des aus der Betriebswirtschaft abgeleiteten Begriffs der best practice, als Bezeichnung für ein bewährtes bzw. standardisiertes Verfahren, gerückt werden275. Der Begriff ist nämlich über den Bereich der Wirtschaft hinaus in vielen Bereichen als die jeweilige „gute“ oder „beste Praxis“ oder „gute fachliche Praxis“ angekommen. Sie berührt auch den Bereich der richterlichen Ethik276. Im Begriff „gut“ können nämlich sowohl Aspekte der Zweckmäßigkeit als auch der Moral liegen. Handelt es sich um legal best practices, sind regelmäßig Fragen der rechtlichen Obliegenheit oder des Gewohnheitsrechtes (aus tatsächlicher Übung und opinio juris) berührt277. Sie unterscheiden sich aber von Obliegenheit oder des Gewohnheitsrecht und sind in erster Linie handlungsorientiert. Es geht bei ihnen darum, was in rechtspflegerischer Hinsicht „richtigerweise“ oder „üblicherweise“ zu tun ist. Außerdem „steuern“ sie das Verhalten des am Rechtsanwendungsprozess Beteiligten bei Alternativen im Entschei-
271 U. Vultejus, Der Beruf des Richters und das Gerechtigkeitspostulat, in: DRiZ 2003, S. 237, bei dem das „gerechte“ Ergebnis, für das der Richter ein „Gefühl“ hat, maßgeblich ist. 272 L. Celsus, 1, De iustitia et iure; Somek, Richterethos (Fn. 4/B.), ÖsterrRZ 1985, S. 266, meint allerdings auch, dass die „ars boni et aequi“ eher einem konventionellen Moralverständnis entspreche, das auf die bloße Pflicht, das gesetzliche Gebot zu verwirklichen, gerichtet sei. 273 Vgl. hierzu auch unten ee) den ähnlichen Ansatz der Rechtsprechungstheorie. 274 v. Bargen, Gute Rechtsprechung (Fn. 254/B.), NJW 2006, S. 2532 nimmt diesen Begriff, um die Qualitätsdebatte darzustellen; für T. Mayen, Gute Rechtsprechung – Ressourcengarantie und Leistungsverpflichtung, in: DVBl. 2006, S. 1008 ff. ist sie „gut“, wenn sie in angemessener Zeit, mit inhaltlicher Qualität nach transparentem, sachgerecht betriebenem und fairem Verfahren von hinreichend fortgebildeten Richtern geschieht. 275 Vgl. hierzu und den rechtlichen Implikationen: E. Brand/U. Smeddnick (Hrsg.), Gute fachliche Praxis. Zur Standardisierung von Verhalten, Berlin 2005. 276 G. Kuntze-Kaufhold, Legal best practises: Von der tatsächlichen zur guten Übung in der Rechtsanwendung? in: ARSP 95 (2009), S. 102, 103 f., der einen Zusammenhang zwischen „best practices“, „legal best practises“ und richterlicher Ethik herstellt. 277 Vgl. Kuntze-Kaufhold, Legal best practises (Fn. 276/B.), ARSP 2009, S. 102, 113.
III. Richterliche Ethik als angewandte Ethik
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dungsablauf als rational zu begründende tatsächliche Übung278. Damit treten sie in enge Beziehung zur richtigen, professionellen und damit auch moralisch richtigen Berufsausübung279 und könnten in einen „codes of practice“ 280 fließen. dd) Richterleitbild und richterliches Selbstverständnis Die Metapher „Bild“ dient systemtheoretisch der Reduzierung von Komplexität und damit der besseren Erfassbarkeit komplexer Phänomene281. Diffus Empfundenes oder vielschichtige Erscheinungen sollen auf eine „Ganzheit“ oder ein „Narrativ“ gebracht werden, ohne die Option unterschiedlicher Perspektiven zu unterbinden. Das Richterbild kann in diesem Sinne auf unterschiedliche Weise verstanden werden: idealtypisch – also wie der Richter (rechtlich oder moralisch) sein soll – oder realtypisch – also wie er ist282. Geht es um ein „Leit“-Bild, so ist mit ihm regelmäßig ein appellativer Anspruch verbunden. Hinterfragt man so den Begriff des Richterleitbilds, so ist es der Versuch, die professionelle Aufgabe in einen Orientierungsrahmen zu fügen, die einen Anspruch an den Richter stellt. Damit enthält er im Kern definierte Rollenerwartungen an die Richter283, also an ihr professionelles richterliches Handeln und Verhalten. Diese Rollenerwartungen können als seine „professionelle Einstellung“, sein richtiges „Rollenverständnis“ 284 – sei es von außen an den Richter herangetragen, sei es von den Richtern übernommen – zu einem Spiegel dessen werden, was seine Berufsmoral ist oder sein soll, die die richterliche Ethik untersucht285. Dass dieses Verständnis richtig ist, zeigt die Aufgabenzuschreibung für die Leitbilddebatte: „Richterleitbilder unterscheiden und kategorisieren“, sie entwickeln „Deutungsmuster, Sollvorstellungen darüber, wie der Richter handeln, welche Funktion sein Handeln haben 278 Vgl. Kuntze-Kaufhold, Legal best practises (Fn. 276/B.), ARSP 2009, S. 102; er verweist auch (S. 104) auf den von Max Weber eingeführten, soziologischen Begriff der „tatsächlichen Übung“ und seinen hierzu angestellten Differenzierungen: Brauch, Sitte, zweckrationales Handeln. 279 Vgl. Kuntze-Kaufhold, Legal best practises (Fn. 276/B.), ARSP 2009, S. 102, 116 f., der gerade auf die berufsmoralische Seite hinweist. 280 K. Görres-Ohde, Der lange Weg zur richterlichen Ethik, in: Peter Götz von Olenhusen (Hrsg.), 300 Jahre Oberlandesgericht Celle, Göttingen, 2011, S. 199. 281 Auer, Menschenbild (Fn. 199/B.), ARSP 2007, S. 498. 282 Auer, Menschenbild (Fn. 199/B.), ARSP 2007, S. 502 ff. fasst die Differenzierung des „Menschenbildes“ als rechtsethischen Begriff noch weiter und nimmt noch das „normative“ und das „personale“ Bild dazu. 283 Vgl. zu dem insgesamt eher uneinheitlichen Begriffsverständnis: D. Giesel, Leitbilder in den Sozialwissenschaften: Begriffe, Theorien und Forschungskonzepte, 2007, S. 38 ff., 53 f.; P. Kauffmann, Zur Konstruktion des Richterberufs durch Richterleitbilder. Eine empirische Untersuchung, Frankfurt/M. 2003, S. 38. 284 P. Kauffmann, Richterleitbilder – Eine rechtssoziologische Betrachtung, in: DRiZ 2008, S. 194. 285 Strecker, Ethik (Fn. 59/A.), BJ 2004, S. 379, meint hingegen dies habe nichts mit richterlicher Ethik zu tun, obwohl er einräumt, es gehe um „Sekundärtugenden“.
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B. Richterliche Ethik als Bereichs- und Berufsethik
soll.“ 286 Diese Debatte hat regelmäßig einen strategischen und appellativen Charakter zur „Formung eines herrschenden Richterbildes“ und formuliert Sollensanforderungen an richterliches Handeln287. Geht man deshalb von der These aus, dass Richterleitbilder wesentliche Elemente der Berufsmoral erfassen, bietet die Beschäftigung mit Richterleitbildern nicht nur wichtige Erkenntnisse über den Bestand der Ansichten zu richterlicher Berufsmoral. Häufig ist die Diskussion um Richterleitbilder identisch mit der Frage nach richterlicher Ethik288; sie erschöpft sich aber nicht in ihr289. Richterliches Selbstverständnis290 kann die individuelle Beschreibung des jeweiligen Verständnisses von der eigenen Aufgabe sein. Wird es von einer Gruppe291 oder gar von allen Richtern definiert, dürfte darin auch zum Teil die Beschreibung ihres beruflichen Moralverständnisses liegen. Selbst das rein individuelle Selbstverständnis ist nicht moralfrei. Regelmäßig wird es nämlich als „Anspruch“ an sich selbst verstanden, also als moralische Pflicht gegen sich selbst. Hinzu kommt, dass sich das Selbstverständnis regelmäßig im Kontext und in Abgrenzung zu den von außen an den Einzelnen herangetragenen, rechtlichen und moralischen Verhaltenserwartungen herausbildet. Die für die Gruppe der Richter geltende Berufsmoral ist mithin auch Maßstab für die Selbstdefinition. Wird die „herrschende“ Auffassung zum eigenen Anspruch, kann man vom richterlichen Selbstverständnis als – verinnerlichtes – Amts- oder Richterethos sprechen292. ee) Justiz- und Rechtsprechungslehre, Rechtsprechungstheorie Als Metatheorie der Rechtsprechung versucht die Rechtsprechungslehre, eine empirische und normative Wissenschaft, mit Hilfe der Rechtsgeschichte, Hermeneutik, Semiotik, Syllogistik, Rechtsmethodik, Dogmatik, Argumentationstheorie, Entscheidungstheorie, Regelungstheorie und Jurisprudenz die richterliche 286
Kauffmann, Richterleitbilder (Fn. 284/B.), DRiZ 2008, S. 194, 195. Kritisch hierzu: H. Dihm, „Der Weg ist das Ziel“ – über den Sinn einer LeitbildEntwicklung, in: BJ 1998, S. 247. 288 Titz, Eid (Fn. 99/A.), DRiZ 2009, S. 32; dies., Berufsethos (Fn. 119/A.), DRiZ 2008, S. 98, setzt dies fast gleich; Wassermann, Pluralitäre Gesellschaft (Fn. 34/A.), SchlHAnz. 2002, S. 32. 289 So aber wohl Heussen, Richterliche Berufsethik (Fn. 244/B.), NJW 2015, S. 1927. 290 Titz, Über den Umgang mit richterlicher Ethik im Ausland, in: DRiZ 2009, S. 34, nennt dies in einem Atemzug mit der richterlichen Ethik; vgl. auch Hien, Verwaltungsrichter (Fn. 111/A.), BDVR-Rundschreiben 2004, S. 118 f. zum besonderen Selbstverständnis des Verwaltungsrichters. 291 Vgl. etwa das Papier der Arbeitsgruppe „Qualitätsdiskussion in der Verwaltungsgerichtsbarkeit“ in NRW: „Anforderungen an Verwaltungsrichter in der modernen Gerichtsbarkeit“ vom 25.02.2009 (Fn. 253/B.). 292 So: Rennert, Guter Richter (Fn. 5/B.), DRiZ 2013, S. 215. 287
III. Richterliche Ethik als angewandte Ethik
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Entscheidung in ihrer rationalen Struktur und ihren voluntaristischen Elementen zu erfassen und wissenschaftlich zu erklären293. Sie nimmt in erster Linie das Verhalten des Richters als Tatsache in den Blick, ohne danach zu fragen, ob er bei seinem Verhalten moralischen Ansprüchen genügt oder nicht. Sie steht als noch nicht hinreichend entwickelte Lehre neben der Verwaltungs- und Gesetzgebungslehre. Was Rechtsprechung in Abgrenzung zur Verwaltung und Gesetzgebung ihrem Kern nach war und ist, wird ebenso untersucht, wie ihre soziale Funktion, ihre Legitimation und ihre konkrete Ausübung. Das Ethos des Richters ist nicht unmittelbar Gegenstand der Rechtsprechungslehre, wenngleich auch sie auf das richterliche Ermessen bzw. das Rechtsbewusstsein des Richters sowie der spezifischen richterlichen Entscheidungsrationalität Bezug nimmt294. Justizlehre versucht daneben auch die Organisation und Verwaltung der Justiz mit in den Blick zu nehmen295. Die Rechtsprechungstheorie unternimmt es, den Rechtsprechungsprozess als besonderes Rechtserkenntnisverfahren in seiner Funktionsweise zu analysieren und theoretisch erfassbar zu machen sowie Strukturbildungen des richterlichen Denkens (im unmittelbaren neurowissenschaftlichen Sinne) und Argumentierens – wie etwa der Kohärenz – zu verifizieren296. Auch hier stehen berufsmoralische Fragen nicht im Mittelpunkt des vordringlichen Erkenntnisinteresses, wenn auch die Forderung nach Widerspruchsfreiheit und professionelle Sorgfalt einen solchen Bezug haben. b) Arbeitsethos, Standesethik, Amtspflicht und Amtsethos Dem Begriff der richterlichen Ethik sind weitere Phänomene, nämlich das Arbeitsethos, die Standesethik, die Amtspflicht und das Amtsethos, zuzuordnen: Im Zusammenhang mit den einzelnen Bereichen der angewandten Ethik wurde bereits deutlich, dass Bereichsethiken nicht selten ihre Wurzel in beruflichen Bewertungskonflikten und -problemen haben. Der Versuch, diese zu lösen, führt(e) deshalb zur Selbstreflexion der Angehörigen dieser Berufsgruppe über die eigene Aufgabe und die bei ihrer Erfüllung zu beachtenden Standards. Nicht selten wurde dies in organisatorischen Zusammenschlüssen der Berufsgruppe etwa in 293 Vgl. hierzu: N. Achterberg (Hrsg.), Rechtsprechungslehre, Köln 1986, S. 3 ff. und W. Hoppe/W. Krawietz/M. Schulte (Hrsg.), Rechtsprechungslehre, S. 29 ff. und S. 631 ff. 294 O. Weinberger, in: Achterberg, Rechtsprechungslehre (Fn. 293/B.), S. 141. 295 Vgl. Sächsisches Staatsministerium der Justiz und für Europa (Hrsg.), Impulse für eine moderne und leistungsstarke Justiz – Dokumentation Symposium Justizlehre Dresden 2009; bei dieser Veranstaltung wurde das Thema Richterethik allerdings in die Betrachtung einbezogen, vgl. S. 47 ff., 119 ff. 296 H. J. Strauch, Grundgedanken einer Rechtsprechungstheorie, in: ThürVBl. 2003, S. 1 ff. ders., Rechtsprechungstheorie – Richterliche Rechtsanwendung und Kohärenz, in: K. Lerch (Hrsg.), Die Sprache des Rechts, Bd. 2: Argumentieren, Begründen und Entscheiden im Diskurs des Rechts, Berlin 2005, S. 479 ff.
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Zünften, Kammern oder allgemein „Berufsständen“ organisiert. Diese definierten auch normative Anforderungen an ihre Mitglieder. Es wird behauptet, der Grad der Professionalisierung eines Berufsbildes hänge von der Herausbildung eines eigenen Ethos, eines berufsständischen Wert- und Normenkodexes ab297. Jedenfalls entwickelte sich aus der Definition von professionellen Verhaltensstandards und deren Verinnerlichung als Arbeitshaltung zunächst ein Arbeitsethos298, das – je nach organisatorischer Verfestigung der Berufsgruppe – zum Standesethos werden kann. Als klassische Beispiele können die Handwerker, Kaufleute oder Ärzte gelten. Hieraus kann bei entsprechender gesellschaftlicher Relevanz des Standesethos deren wissenschaftliche Durchdringung in einer Standesethik folgen. Standesethik299 bestimmt sich – allgemein gesprochen – als bereits reflektierte Gesamtheit der sittlichen Pflichten, die von Inhabern einer bestimmten beruflichen Stellung (als Rechtsanwalt, Arzt, Beamter, Richter usw.) aufgrund ihrer Funktionen und Leistungen in der Gesellschaft ergeben. Grundlage der Entwicklung einer Standesethik ist mithin die hohe soziale Relevanz der Berufsgruppe und das ihr entgegengebrachte Vertrauen300. Die „Stände“ entsprechen dabei nach heutigem Verständnis dem jeweiligen sozialen Status, bestimmten Fähigkeiten und Bildungsniveaus. Ihnen entsprechen bestimmte Tugenden (Unbestechlichkeit, Fairness, etc.), die keine Bedingungen, sondern Folgen der Standeszugehörigkeit sind und den Ehrbegriff dieses Standes prägen. Der moderne Stand ist im Gegensatz zur Klasse keine streng definierte Kategorie, etwa als die Gemeinschaft von Personen in vergleichbarer sozialer oder ökonomischer Lage, sondern eine Gruppe, die durch gleiches Ansehen, Prestige und gemeinsame Attribute verbunden sind. Standesethos wird nicht selten zum geltenden Recht erhoben, dem Standesrecht301 (vgl. auch § 43 und § 43a BRAO), das dann Grundlage für die Beurteilung von Verfehlungen, sog. Standesverstößen oder Disziplinardelikten wird. Diese für bedeutende Berufsgruppen allgemein formulierten Verfestigungen normativer Verhaltenserwartungen lassen sich auf Beamte und Richter übertragen, wobei hier – wegen seiner öffentlichen Aufgabe – am Begriff des Amtes anzuknüpfen ist. Für den Richter und seine Ethik ist das Standesethos sein Amtsethos, das in enger Beziehung zur Amtspflicht steht: Der moralische Begriff der Pflicht hat bereits in der Antike früh in enger Verbindung mit dem Amt und sei-
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Kauffmann, Konstruktion (Fn. 283/B.), S. 27. Zum Arbeitsethos: Morstein Marx, Beamtenethos (Fn. 224/B.), S. 327 m.w. N. 299 Hierzu und zum Folgenden Vossenkuhl, Art. Standesethik, in: O. Höffe, Lexikon (Fn. 15/A.), S. 296 f. 300 E. Markel, Richterethos, Richterbild und Stellung des Richters, in: Justice–Justiz– Giustizia 2006/1, Rz. 4. 301 Vgl. Ignor, Berufsethik (Fn. 103/A.), BRAK-Mitt. 2009, S. 203, sowie dort zu den verfassungsrechtlichen Voraussetzungen der Standesrichtlinien für die Anwaltschaft. 298
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nen Anforderungen gestanden. So bedeutet „officium“ Pflicht, Amtspflicht und Amt302. Dabei werden die Aufgaben, die dem Amtsträger mit ihren spezifischen öffentlichen Funktionen verliehen sind, und ihre Erfüllung in Zusammenhang gebracht mit der Gebotenheit von Handlungen im Hinblick auf ein moralisches Gesetz. Zuweilen, insbesondere im lutherischen Denken, wurde diese Pflichterfüllung sogar zum Gottesdienst und damit theologisch gerechtfertigt und gefordert303. Die Pflicht gewann so, aber auch durch die philosophische Fundierung der Aufklärung, den Charakter verpflichtender Nötigung jenseits von Lust und Begehren und wurde zum Kernbegriff der Ethik und des Rechts304. Hierin ist bereits angelegt, dass eine der Hauptpflichten des Amtes die ist, zu trennen zwischen den Anforderungen des Amtes und den Privatinteressen des Amtsinhabers oder dessen Angehörigen, Parteifreunden etc.305. In dieser Tradition steht die Amtspflicht und – bei Verinnerlichung – das Amtsethos. Ob im Außenverhältnis auch heute die Amtsehre als das das gelebte Amtsethos Anerkennende hinzukommen muss, erscheint fraglich306. Dass die konsequente Wahrung des Amtsethos auch heute noch zur besonderen Achtung und zum Ansehen des Amtsträgers führt, dürfte aber unbestreitbar sein. Das Amtsethos des Beamten, das Gegenstand der Beamtenethik ist, dürfte in Deutschland seine Wurzeln in der im 18. und 19. Jahrhundert entstandenen persönlichen Bindung an den Herrscher und den von ihm forcierten Staatsaufbau haben307, hinter den der Fürst im aufgeklärten Absolutismus zurücktrat. Damit waren von ihm als „Diener“ in erster Linie Gehorsam, Unbestechlichkeit, Verschwiegenheit und „Sauberkeit“ verlangt308. Später transformierten sich diese – regelmäßig nur moralischen – Pflichten in Rechtspflichten und wurden entpersonalisiert sowie auf den Staat bezogen. Sie begründeten im sich herausbildenden Rechtsstaat die Bindung an das Recht und das darin formulierte „Gemeinwohl“ 309, die beide Distanz und Sachlichkeit erfordern, und kristallisierten sich im öffentlichen Amt310. Zu ihrem wesentlichen Element wurde daher in der modernen Verwaltung der rechtstreue, rationale, unparteiische, unbestechliche und gemeinwohlorientierte Einsatz des Beamten311. Die Gruppe der jeweiligen Amts302
Hierzu Feindt, Beamtenethos (Fn. 3/B.), DÖD 1981, S. 4. Vogelgesang, Ethos (Fn. 222/B.), ZBR 1997, S. 33 f. 304 Forschner, Art. Pflicht, in: O. Höffe, Lexikon (Fn. 15/A.), S. 240 f. 305 Vgl. Wassermann, Das Amtsethos schwindet, in: NJW 2000, S. 1159. 306 Der Aufsatz von B. Bank, Amtsehre und Beamtenehre, in: DÖV 1964, S. 757, wirft Zweifel auf, ob dieser Aspekt in der heutigen Zeit nicht überholt ist. 307 Morstein Marx, Beamtenethos (Fn. 224/B.), S. 325. 308 Hierzu Bank, Beamtenehre (Fn. 226/B.), ZBR 1958, S. 153 ff., der auf historische und konkrete Vorbilder abhebt. 309 J. Isensee, Transformation von Macht in Recht – das Amt, in: ZBR 2004, S. 3 ff. 310 Vogelgesang, Ethos (Fn. 222/B.), ZBR 1997, S. 34. 311 Vgl. Weibezahn, Ethische Standards (Fn. 223/B.), S. 51 ff. und S. 158 ff.; BVerfGE 39, 334. 303
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B. Richterliche Ethik als Bereichs- und Berufsethik
träger pflegte daneben einen aus dem militärischen Bereich stammenden „Korpsgeist“ und beförderte damit zünftische Abgrenzungs- und Ausgrenzungstendenzen312. Die Herausbildung des richterlichen Amtsethos stand in Deutschland lange Zeit in enger Beziehung zu der der Beamten. Dies hat seinen Grund in dem lange fortdauernden Selbst- und Fremdverständnis des Richters als „Justizbeamter“. Auch heute noch versteht man das Richterethos als die Haltung, die Richter zu den gesetzlich und durch Tradition geprägten sittlich sie determinierenden Normen einnehmen313. Der enge Zusammenhang zwischen dem Amtsethos des Beamten und des Richters spiegelt sich auch im „Zünftischen“ der Diskussion der Richterethik. Damit ist der geäußerte Wille der Richter und ihrer Verbände gemeint, dass die Formulierung der richterlichen Ethik den Richtern selbst obliegen müsse, ja bei ihnen zwingend zu monopolisieren sei314. Begründet wird dies nahezu durchgängig mit der richterlichen Unabhängigkeit. Diese Position überzeugt nicht. Zwar liegt es nahe, dass eine Berufsmoral durch die Angehörigen des Berufs entwickelt, bestimmt und ggf. sanktioniert wird. Aber die Aufgabe des Richters ist eine öffentliche: Warum sollten deshalb Anwälte und Bürger, die unmittelbar von richterlichem Handeln „Betroffenen“, nicht – wie etwa in Frankreich – an der Diskussion beteiligt werden, wie ein Richter seine Entscheidungsspielräume ausfüllen soll? Amtspflicht und Amtsethos weisen schließlich insgesamt auch begrifflich auf die möglichen Maßstäbe hin, wie in einer fundierten richterethischen Debatte in Übereinstimmung mit der allgemeinen Ethik eine fundierte Theoriebildung aussehen könnte: „Amtspflicht“ verweist auf die Pflichtenethik, das „Amtsethos“ auf die Tugendethik: c) Richterdeontologie und richterliche Tugendethik Im Zusammenhang mit der Abgrenzung der Teilbereiche der allgemeinen Ethik sowie bei den Begründungsmustern der angewandten Ethik wurden bereits die Pflichtenethik oder Deontologie315 einerseits und die Tugendethik andererseits als grundsätzlich zu unterscheidende ethische Ansätze vorgestellt und abgegrenzt. Dass nur sie – und nicht auch andere ethische Konzepte – im Mittelpunkt der hier anzustellenden Überlegungen stehen können, ergibt sich aus Folgendem: Zwar kennt die allgemeine Ethik daneben als dritte Gruppe ethischer Theorien die „Teleologie“ 316, deren Hauptströmung „der“ Utilitarismus317 bzw. utilitaris312
Hierzu Vogelgesang, Ethos (Fn. 222/B.), ZBR 1997, S. 33 f. Somek, Richterethos (Fn. 4/B.), ÖsterrRZ 1985, S. 265. 314 Kreth, Richterliches Verhalten (Fn. 5/A.), KritV 2008, S. 479. 315 M. Quante, Einführung in die Allgemeine Ethik, Darmstadt, 2003, S. 130 ff. 316 Zur Unterscheidung der Haupttypen der Ethik (Deontologie, Teleologie, Tugendethik): Quante, Einführung (Fn. 315/B.), S. 126 ff. 313
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tische Theorien sind. Seine bzw. ihre Fragestellung treffen allerdings nicht die Probleme, die Gegenstand richterlicher Ethik sein müssen, nämlich entweder die Richtigkeit richterlicher Handlungen (Richterdeontologie) oder ethisch begründete richterliche Haltungen (richterliche Tugendethik). Der Utilitarismus318 mit seinen unterschiedlichen Ausprägungen wählt als Ausgangspunkt für die ethische Bewertung einer Handlung grundsätzlich deren Folge, meist deren Nutzen. Er zielt insbesondere auf die Grundforderung des größtmöglichen Glücks der größtmöglichen Zahl (Eudämonismus)319. Sittlich geboten sind demnach jene Handlungen, deren nützliche Folgen für das Glück aller Einzelnen optimal sind (Konsequentialismus). Dabei ergibt sich das allgemeine Glück als höchster Wert aus der Zusammenfassung des Glücks der einzelnen Menschen. Kriterium dafür ist das Maß an Freude, das eine Handlung hervorruft, vermindert um das mit ihr verbundene Maß an Leid (Hedonismus). Mit diesem ethischen Programm lässt sich eine konkrete Richterethik kaum entwickeln. Denn bezogen auf den Richter kann die Frage seines eigenen Glückes oder Nutzens nicht maßgeblicher Inhalt seiner Berufsethik sein. Es geht um die Ethik eines öffentlichen Amtes. Die Frage nach dem Glück oder Nutzen der Rechtssuchenden ist zwar als Verfahrensund Folgenelement richterlichen Handelns nicht ohne Belang, aber nicht das vordergründige Problem. Selbst wenn man als allgemeinen Nutzen das „Gemeinwohl“, „Wahrheit“ und „Gerechtigkeit“ als maßgeblichen Nutzen richterlichen Handelns definieren wollte, könnte eine richterliche Ethik kaum konkrete Inhalte formulieren. Demgegenüber dürften die anderen Ansätze eher das richterliche Berufsfeld berühren, weil sie entweder das richterliche Verhalten (Richterdeontologie) oder seine Haltung und damit seine Person in den Mittelpunkt stellen (richterliche Tugendethik). Sie werden auch zur Grundlage für die vorliegende Arbeit genommen. Ihre Kernanliegen müssen daher kurz dargestellt werden: Deontologische Ethikansätze bewerten die moralische „Richtigkeit“ von Handlungen nicht nach ihren konkreten Folgen oder danach wie „gut“ der Handelnde ist. Das griechische Wort „to deon“ bedeutet „das Nötige, Angemessene, Schickliche, die Pflicht“ 320. Deontologische Ethiken kann man daher mit Sollensethiken gleichsetzen. Sie sind dadurch gekennzeichnet, dass bei ihnen ethisch die Richtigkeit oder Falschheit von Handlungen oder Handlungstypen, ihre Verbotenoder Gebotenheit unabhängig von den Handlungsfolgen maßgeblich sind321. Innerhalb der deontologischen Ethiken wird zwischen aktdeontologischen und re317 Höffe, Art. Utilitarismus, in: O. Höffe, Lexikon (Fn. 15/A.), S. 324 f.; Nida-Rümelin, Art. Theoretische und angewandte Ethik, in: ders. (Hrsg.), Angewandte Ethik. Die Bereichsethiken und ihre theoretische Fundierung, 2. Aufl., Stuttgart 2005, S. 7 ff. 318 Quante, Einführung (Fn. 315/B.), S. 134 ff. 319 Pieper, Einführung (Fn. 2/B.), S. 284. 320 Strecker, Ethik (Fn. 59/A.), BJ 2004, S. 377, auch zum Folgenden, sowie Düwell u. a., Handbuch Ethik (Fn. 41/A.), S. 16 ff. 321 Quante, Einführung (Fn. 315/B.), S. 130 ff., auch zum Folgenden.
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B. Richterliche Ethik als Bereichs- und Berufsethik
geldeontologischen Konzeptionen unterschieden. Während die Regeldeontologie allgemeine Handlungstypen als verboten, erlaubt oder geboten ausweist (vgl. z. B. das Lügenverbot oder die Pflicht, Versprechen zu halten), bezieht sich den aktdeontologischen Theorien zufolge das deontologische Moralurteil unmittelbar auf spezifische Handlungsweisen in jeweils bestimmten Handlungssituationen. Für sie bilden Gebote, Verbote und Erlaubnisse die Grundbegriffe. Es rücken die menschlichen Handlungen in den Vordergrund, da nur sie gegen eine Norm verstoßen können. In diesem Sinne könnte in Anknüpfung an die traditionellen Amtspflichten eine Richterdeontologie entwickelt werden, die allerdings immer die besondere Nähe zum Recht zu beachten hat; diese Nähe könnte ihr bezogen auf den Richter sogar entgegenstehen, weil das Feld rechtlich begründeter Amtspflichten keinen Raum mehr lassen könnte für eine berufsmoralisch begründete Pflichtenethik. In der traditionellen Ethik steht die Tugendethik322 herkömmlicherweise neben der Pflichtenethik oder Deontologie und der ethischen Güterlehre, die die anzustrebenden Zwecke und Güter menschlichen Verhaltens näher betrachtet (heute vor allem den Utilitarismus). Die Tugendethik bzw. die ethischen Theorien, die die menschlichen Tugenden untersuchen, betrachten dagegen in erster Linie die Person des Handelnden. Die ethische Qualität einer Handlung ist dabei dann gut, wenn die handelnde Person tugendhaft ist. Es geht also nicht in erster Linie um die Erfüllung moralischer, heteronom vorgegebener Pflichten, sondern die selbsterzieherische Einübung von Haltungen und Handlungen, die letztlich der Verwirklichung eines ethisch anerkannten Wertes dient. Damit wird die Tugendethik anschlussfähig für die richterliche Ethik, die sich auf die Verwirklichung rechtsethischer Werte durch richterliches Handeln konzentriert und dabei nach den einzuübenden Haltungen bei der beruflichen Tätigkeit des Richters fragt, die zu richterlichen Tugenden werden können. d) Berufsmoral und richterliche Ethik: eine Begriffs- und Inhaltsbestimmung Der Versuch, den Inhalt und Gegenstand der richterlichen Ethik zu bestimmen, hat seine eigene Geschichte. Die babylonische Sprachverwirrung war bereits eingetreten, bevor man sich entschloss den „Turm“ richterliche Ethik zu errichten. Dass die Definition des Begriffs „richterliche Ethik“ von Anfang an umstritten war323, dürfte vor allem daran liegen, dass von Anfang an die Risiken der Beschäftigung mit der Berufsmoral des Richters im Blick waren. Um zu vermeiden, dass die außerrechtlichen Verhaltenspflichten des Richters heteronom bestimmt 322 Nida-Rümelin, Art. Theoretische und angewandte Ethik, in: ders. (Hrsg.), Angewandte Ethik (Fn. 317/B.), S. 31 ff. 323 Burghardt, Netzwerk (Fn. 118/A.), DRiZ 2009, S. 102.
III. Richterliche Ethik als angewandte Ethik
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würden, gab es den Versuch, alle Bemühung in eine „nichtmoralische“ Selbstverständnisdebatte zu überführen. Es gehe um ein bloß individuelles und autonomes Räsonieren, sich verantwortlich zu seinem Tun als Richter zu stellen324. Dagegen hat Morstein Marx schon in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts in Erinnerung an das Versagen der Justiz am Ende der Weimarer Republik und im Dritten Reich ausgeführt: „Ethos ist nicht Individualschöpfung, sondern Ausdruck einer gewordenen Gemeinsamkeit.“ 325 Der andere Versuch, eine fremdbestimmte Moral zu vermeiden, ist die Endlosdebatte ohne Inhalt und Gegenstand. In diesem Sinne wurde etwa folgende Begriffsdefinition angeboten: „Was beinhaltet mithin Richterliche Ethik? Die in Deutschland entwickelten Ansätze lassen sich dahin interpretieren, dass das Verhalten, die Interaktion des Richters mit allen Personen und Institutionen, reflektiert wird, mit denen sie/er beruflich in Kontakt kommt, also zu Prozessbeteiligten, Kollegen, Gerichtsverwaltung, Öffentlichkeit.“ 326 „Inhalt und Verständnis der Ethik“ schlössen eine „Normierung“ oder ein „Leitbild“ von vorneherein aus.“ 327 Das Ende einer auf diesem Verständnis gegründeten Debatte ad infinitum wird nur durch die absehbare Erschöpfung der Beteiligten eintreten. Auch die aus dem Vorbeschriebenen abgeleitete Unterscheidung zwischen „innerer Ethik“ – dem Anspruch des Richters an sich selbst – und der äußeren Ethik – die Haltung des Richters bei der Konfrontation mit der Justizverwaltung328 – hilft wegen seiner Reduziertheit zur Klärung des Gegenstandes ebenfalls nicht weiter. In Zusammenfassung der in diesem Kapitel geleisteten Abgrenzungen soll deshalb der Begriff der „Richterlichen Ethik“ folgendermaßen bestimmt werden: Richterliche Ethik ist eine Bereichsethik für eine ganz bestimmte Berufsgruppe: Sie beschäftigt sich wissenschaftlich mit den Mitteln und Methoden der allgemeinen und angewandten Ethik mit der Berufsmoral der Richter, also den außerrechtlichen Sollensanforderungen an den Richter. Sie fragt danach, ob es jenseits des Rechts und der professionellen Klugheit begründbare moralische Anforderungen an den Richter und sein Handeln gibt und geben darf, wie sie zu begründen sind und ggf. im beruflichen Alltag anwendbar gemacht werden können. Ob ausschließlicher Gegenstand der richterlichen Ethik das an Gut und Böse orientierte Verhalten des Richters ist, auch und gerade insofern es nicht die durch das Recht bestimmte Entscheidung konkreter Sachverhalte betrifft329, kann hier offen bleiben. Berufsmoral ist dies auch, aber nicht nur. Weiter gefasst könnte 324
Strecker, Ethik (Fn. 59/A.), BJ 2004, S. 378 f. Morstein Marx, Beamtenethos (Fn. 224/B.), S. 324. 326 Vgl. www.bunddeutschersozialrichter.de/docus/richterliche_ethik_112008.pdf [Stand: April 2010]. 327 Burghardt, Netzwerk (Fn. 118/A.), DRiZ 2009, S. 102. 328 Huhs, Bericht (Fn. 103/A.), BJ 2004, S. 412, berichtet von dieser Differenzierung, die der 30. Richterratschlag vertreten hat. 329 Wrege, Eckpunkte (Fn. 5/A.), MHR 4/2006, S. 16 f. 325
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B. Richterliche Ethik als Bereichs- und Berufsethik
von der Suche nach Regeln für berufsmoralisch „richtiges“ Verhalten des Richters gesprochen werden330, das gerade seine Haltungen und Tugenden einschließt. Gegenstand ist nur die Berufsmoral der Richter „im engeren Sinne“, also derjenigen des Spruchrichters, auch wenn andere Erscheinungsformen des Richterberufes, wie der Schiedsrichter, Richtermediator, Schlichter u. a. existieren. Dabei ist zu beachten, dass sich auch der Inhalt der Berufsmoral des Spruchrichters inhaltlich verändern kann, je nachdem auf welcher Stufe des Instanzenzugs er tätig ist. Nicht betrachtet wird der Richter in seiner Funktion als Vorgesetzter331. Dessen Verhalten ist – weil er insoweit als Teil der Exekutive agiert – Gegenstand der Verwaltungs- und Beamtenethik. Richterliche Ethik beschäftigt sich nicht mit der Berufsmoral anderer Rechtsberufe; selbstverständlich nicht mit der der Anwälte332 und Notare, aber auch nicht mit der der Staatsanwälte333. Denn es trifft zu, was Morstein Marx ausgeführt hat: Sie muss die Eigenart des besonderen Dienstverhältnisses gerecht werden, um ggf. die Erfüllung der institutionellen Bedingungen des Richterberufs zu potenzieren334. Die genannten Berufe unterscheiden sich wesentlich vom Beruf des Richters und dessen Berufsmoral, weil sie eine andere Aufgabe haben335. Sie besitzen die das Verantwortungs- und Moralproblem erst begründende persönliche und sachliche Unabhängigkeit sowie die dem Richter übertragene Entscheidungsgewalt nicht oder in einem anderen Kontext. Dabei wird nicht verkannt,
330
Gass, Richterethik, (Fn. 5/A.), S. 129. So aber M. Schultze-Griebler, Selbstbild und Eigenverantwortung von Richtern und Staatsanwälten – Einführung in richterliche und staatsanwaltschaftliche Berufsethik, in: Info Sächsischer Richterverein 1/2009, S. 7; vgl. hierzu: K. Görres-Ohde, 12 Goldene Führungsregeln, in: BJ 2004, S. 387 ff. Auch Wittreck, Funktionen (Fn. 10/A.), S. 275 f. bezieht den dienstaufsichtsführenden Richter mit ein. Dies hat insoweit Berechtigung, als er Einfluss auf die innere und äußere Unabhängigkeit der Richter hat. 332 Ausnahme soll die Tätigkeit des Anwalts als Mitglied des Anwaltsgerichts sein. Allgemein hierzu: R. Winkler, Die ehrenamtliche Tätigkeit des Rechtsanwalts als Richter am AGH im Spannungsverhältnis zwischen BRAO und DRiG, BRAK-Mitteilungen 6/2012, S. 254 ff. 333 A.A. Kreth, Richterliches Verhalten (Fn. 5/A.), KritV 2008, S. 479, die meint, sie seien als Organe der Rechtspflege der dritten Staatsgewalt gleich- und zugeordnet, sowie Schultze-Griebler, Selbstbild (Fn. 331/B.), Info Sächs. Richterverein, S. 1/2009, S. 7, um die dem Richterverband angehörenden Staatsanwälte einzubeziehen. Wie Hagen, Rechtsstab (Fn. 99/B.), S. 159 ff., von einer Ethik des „Rechtsstabs“ zu sprechen, erfasst nicht die spezifischen Verhaltensanforderungen an Richter. Vgl. dagegen zur bewussten Abgrenzung einer „Staatsanwaltlichen Ethik“ die Kurzform eines Referats des Baden-Württembergischen Generalstaatsanwalts, gehalten am 20.10.2010 auf einer Tagung mit den Leitern der württembergischen Staatsanwaltschaften [www.pfliegerhome.de/app/download/5778999579/Ethik-kurz.pdf; Stand: 15.01.2013]. 334 Morstein Marx, Beamtenethos (Fn. 224/B.), S. 324. 335 So ausdrücklich für den Anwaltsberuf: Ignor, Berufsethik (Fn. 103/A.), BRAKMitt. 2009, S. 205. 331
III. Richterliche Ethik als angewandte Ethik
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dass es Übereinstimmungen der Anforderungen an rechtsanwendende Berufe im Allgemeinen, ja an „den Juristen“ geben mag336. Die richterliche Ethik ist eine rechtlich geprägte – und begrenzte – Ethik, die aber gegenüber der Rechtsordnung selbständig ist337. Insofern untersucht sie folgende Fragen: Gibt es neben den Rechtspflichten Raum für eine Berufsmoral und darf es sie überhaupt geben? Stehen die richterliche Ethik und die richterliche Moral „im rechtsfreien Raum“, ja müssen sie dort stehen oder ist das bezogen auf den Richterberuf undenkbar? Bleibt ihr am Ende nur die Beschäftigung mit richterlichen Tugenden? Wie steht es aber dann mit einer deontologischen Ausrichtung? Ziel der wissenschaftlichen Ethik ist nicht die bloße Beschreibung des „idealen Richters“ 338, sondern die Ergründung der Bedingungen für die Möglichkeit sowie die Erarbeitung von rational abgeleiteten moralischen Haltungen, Normen oder Werten für den Richterberuf339. Die Frage, wie sich der Richter in den beruflichen Situationen verhalten soll, in die er gestellt ist, vornehmlich in der Entscheidungssituation340, kann so von der moralischen, nicht von der rechtlichen oder technischen Seite her eine gesichertere und rationalere Antwort als bisher finden. Sie ist – wie die allgemeine Ethik – dabei auch auf die Erkenntnisse der Rechtstatsachenforschung und anderer Sozialwissenschaften angewiesen. Richterliche Ethik beschäftigt sich mit einer speziellen Berufsmoral. Sie betrifft das Verhalten und die Haltung des Richters als Richter und soweit er als solcher wahrgenommen wird. Nur soweit er in und mit seiner Person „öffentliche“ Person341 ist, ist sein Verhalten Gegenstand richterethischer Sollensanforderungen. Als Privatperson gilt die insoweit bestehende allgemeine Moral. Allerdings wird der Richter häufig auch im privaten Bereich als Richter wahrgenommen mit der Folge, dass sein außerdienstliches Verhalten nicht selten von seiner Berufsethik überlagert und berührt wird342. Hinsichtlich der konkreten Ausgestaltung und der Theoriebildung bleibt schließlich als zentrale Frage dieser Arbeit, nämlich ob es richterliche Ethik in Deutschland überhaupt als eine Richterdeontologie geben kann oder ob sie viel336
Vgl. etwa: Böckenförde, Ethos des Juristen (Fn. 5/B.), der allerdings deutlich macht, dass sich seine Überlegungen für einzelne Berufsfelder und ihre Perspektiven öffnen, S. 5. 337 Zweifelnd: Wrege, Eckpunkte (Fn. 5/A.), MHR 4/2006, S. 16 f. 338 Kreth, Richterliches Verhalten (Fn. 5/A.), KritV 2008, S. 475 und S. 479. 339 Schultze-Griebler, Selbstbild (Fn. 331/B.), Info Sächs. Richterverein, S. 6. 340 Wassermann, Pluralitäre Gesellschaft (Fn. 34/A.), SchlHAnz. 2002, S. 29. 341 Zur Öffentlichkeit als Anknüpfungspunkt richterlicher Ethik: Morigiwa, Philosophische Grundlagen (Fn. 5/A.), SchlHAnz. 2009, S. 112. 342 Deshalb ist die Beschränkung von Werner, Richterliche Ethik (Fn. 103/A.), BDFR FORUM 2010, S. 4, auf dienstliches Verhalten, „nur am Rande“ sei außerdienstliches Verhalten betroffen, zu eng.
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B. Richterliche Ethik als Bereichs- und Berufsethik
mehr eine richterliche Tugendethik sein muss. Dabei werden auch ausländische Theorieansätze in Frage gestellt werden müssen. So stammt der Begriff „Richterdeontologie“ aus dem romanischen Sprachraum (deontologie judiciaire; deontologia giudiziaria)343 und ist dort inhaltsgleich mit „Richterethik“ und mit „beruflicher Pflichtenlehre“. Er ist im deutschen Sprachraum unüblich. Dem deutschen Verständnis ist auch fremd, die Richterdeontologie als „quasi eigenständiges Rechtsgebiet (sic!) mit einem eigenständigen Referenzsystem“ 344 zu verstehen; denn insoweit scheint, ohne dass dies der Gegenstand erzwänge, eine Vermischung von Rechtswissenschaft und Ethik, von Recht und Moral die Folge zu sein. Damit wird aber deutlich, dass es zwar eine „Rechtsabhängigkeit“ der richterlichen Berufsmoral gibt und geben muss, dass aber sowohl ihre Zulässigkeit als Deontologie und ihr vom Recht abgrenzbarer Raum zu den Hauptproblemen der richterlichen Ethik zählt. Dennoch ist es trotz der Rechtsabhängigkeit nicht grundsätzlich und von vorneherein ausgeschlossen, auch für den deutschen Richter eine Deontologie zu entwickeln und zu begründen.
343 Gass, Richterethik (Fn. 5/A.), S. 128. Vgl. für Frankreich: Canivet/Joly-Hurard, La deontologie du magistrat, 2. Auflage, Paris 2009; für Italien: Visintini/Marotta (Hrsg.), Etica e deontologia giudiziaria, Neapel 2003. 344 Gass, Richterethik (Fn. 5/A.), S. 143.
C. Elemente einer deskriptiven richterlichen Ethik Der Gegenstand der richterlichen Ethik ist die richterliche Berufsmoral. Die Berufsmoral kann dabei als soziale Tatsache empirisch ermittelt werden1. Bei diesem empirisch-deskriptiven Vorgehen steht nicht die Frage im Vordergrund „Was soll ein Richter tun?“, sondern „Was wird angenommen, das ein Richter tun soll?“ Diese Erwartungshaltung kann sich auf das Selbstverständnis der Richter selbst beziehen, etwa in dem Sinne, was Richter in der Annahme tatsächlich tun, dass sie ihrer Berufsmoral zu genügen, oder auf die an deren Tätigkeit besonders Interessierten, also andere Amtsträger, Anwälte oder Bürger. Der Zugang zum empirischen Befund einer „Richtermoral“ kann sich auf unterschiedliche Räume beziehen, auf örtliche oder zeitliche. Dieser Ansatz verleiht den folgenden Überlegungen die innere Struktur: Zum einen gibt es auf internationaler Ebene und in anderen Ländern einen reichhaltigen Bestand an Sammlungen, Kodizes und Prinzipienerklärungen auf dem Gebiet der richterlichen Ethik. Dieser Bestand gibt Antwort auf die Frage, welche Berufspflichten in dem jeweiligen (Rechts-)Kontext nach der Auffassung ihrer Autoren bestehen und wie sich ein Richter demnach verhalten soll. Dieser Bestand soll in diesem Kapitel in einem ersten Schritt erfasst werden (im Folgenden I.). Hieraus soll eine Typologie der richterlichen Ethik in ihrer außerhalb Deutschlands erscheinenden Weise abgeleitet werden (im Folgenden II.). Dieses Vorgehen kann zeigen, dass sich die Aufgabe und die Bedingungen der Möglichkeit richterlicher Ethik je nach nationaler Rechtsordnung und Rechtskultur stark unterscheiden. Auf dieser Grundlage soll danach für Deutschland ermittelt werden, ob und wie richterliche Berufsmoral historisch in Erscheinung getreten ist und wie sich die institutionellen Grundlagen und ethischen Erwartungen an die Richter in Deutschland entwickelt haben, um anschließend die aktuelle Diskussion über richterliche Ethik darzustellen und zu erfassen (im Folgenden III.). Dabei werden auch erste Sammlungen berufsmoralischer Pflichten in Deutschland sowie weitere empirische Untersuchungen zur Berufsmoral gesichtet. Hieraus können abschließend Schlussfolgerungen zu Entwicklung und den Strukturen richterlicher Ethik abgeleitet werden.
I. Gegenwärtiger Bestand richterlicher Ethikkodizes außerhalb Deutschlands Kodifizierte Richterethiken in anderen Ländern, aber auch auf supra- und internationaler Ebene, zeigen eine Fülle normativer Verhaltenserwartungen an 1
v. d. Pfordten, Was ist Recht? Ziele und Mittel, in: JZ 2008, S. 651.
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C. Elemente einer deskriptiven richterlichen Ethik
Richter. Überwiegend verstehen sie sich selbst als „Ethikkodizes“, also gerade nicht als rechtliche Pflichten. Diese Kodizes oder Sammlungen sollen im Folgenden nach Entstehungsgeschichte, Inhalt, Normcharakter sowie Sanktionssystem beschrieben und bewertet werden. 1. Internationale Vereinbarungen und Empfehlungen a) Resolutionen der Vereinten Nationen aa) Basic principles on the Independence of the Judiciary (1985)2 Die „Basic principles on the Independence of the Judiciary“ (Grundprinzipien der Unabhängigkeit der Richterschaft) wurden vom 7. Kongress der Vereinten Nationen für Verbrechensverhütung und die Behandlung Straffälliger, der vom 26.08. bis zum 06.09.1985 in Mailand stattfand, angenommen3 und von der Generalversammlung der Vereinten Nationen durch Resolution 40/32 vom 29.11. 1985 und 40/146 vom 13.12.1985 gebilligt. Ziel war nach ihrer Präambel, „Gerechtigkeit“ in den Mitgliedstaaten zu wahren und die internationale Zusammenarbeit zu fördern, um die Menschenrechte und Grundfreiheiten ohne jede Diskriminierung zu wahren und zu stärken. Deshalb sollte die Rolle der Richter und die Bedeutung ihrer Auswahl, ihrer Ausbildung und ihres Verhaltens für diesen Prozess erfasst werden. Es sollten Grundprinzipien formuliert werden, um sie bei ihrer Aufgabe zu unterstützen, die Unabhängigkeit der Richterschaft zu gewährleisten und zu fördern. In 20 Unterpunkten wurden diverse rechtliche, institutionelle, strukturelle und persönliche Voraussetzungen für die Sicherung der richterlichen Unabhängigkeit definiert. Die Grundprinzipien setzten damit in erster Linie an den institutionellen Rahmenbedingungen richterlichen Handelns an. Einige ihrer Festlegungen befassen sich aber inhaltlich auch näher mit richterlichem Verhalten, definieren richterliche Pflichten und betreffen damit teilweise die richterliche Ethik: So sollen nach Art. 2 Richter Angelegenheiten, die vor sie gelangen, unparteilich, auf Grund der Tatsachen und gemäß dem Gesetz, ohne Beschränkungen, ungehörige Beeinflussung oder Einwirkung, Druck, Bedrohung oder Einmischung direkter oder indirekter Art, gleich von welcher Seite und aus welchem Grund entscheiden. Das Prinzip der Unabhängigkeit der Richterschaft berechtige und verpflichte die Richter, dafür zu sorgen, dass Gerichtsverfahren fair geführt und dass die Rechte der Parteien geachtet würden (Art. 6). Art. 8 und 2 Deutsche Fassung: www.un.org/Depts/german/menschenrechte/richterschaft.pdf (Stand: 01.10.2015), die im Folgenden parphrasiert wiedergegen wird. Vgl. auch: Eckertz-Höfer, Guter Richter (Fn. 119/A.), S. 30; Titz, Ausland (Fn. 290/B.), DRiZ 2009, S. 34. 3 Zu den vielfältigen Vorarbeiten: P. Gilles, Richterliche Unabhängigkeit und parteipolitische Betätigung von Richtern, in: DRiZ 1983, S. 41. Die Darstellung der folgenden Abläufe beruht auch auf dem Vorspann der „Grundprinzipien“: vgl. insoweit www.un.org/Depts/german/menschenrechte/richterschaft.pdf (Stand: 01.10.2015).
I. Gegenwärtiger Bestand richterlicher Ethikkodizes
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9 machen das Spannungsverhältnis zwischen dem beruflichen Auftrag des Richters und seinen eigenen Grundrechten deutlich und versuchen es über die Verpflichtung zur Mäßigung zu lösen. Mitglieder der Richterschaft haben danach, wie andere Staatsbürger, das Recht auf freie Meinungsäußerung und auf Glaubens-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit; bei der Ausübung dieser Rechte hätten sie sich jedoch stets so zu verhalten, dass sie die Würde ihres Amtes und die Unparteilichkeit und Unabhängigkeit der Richterschaft wahrten (Art. 8.). Den Richtern stehe es frei, Vereinigungen von Richtern oder andere Organisationen zu bilden und diesen beizutreten, um ihre Interessen zu vertreten, ihre Berufsausbildung zu fördern und ihre richterliche Unabhängigkeit zu schützen (Art. 9). Im Zusammenhang mit den Regeln zur Auswahl der Richter werden in Art. 10 die Anforderungen an Richter näher beschrieben: Personen, die für ein Richteramt ausgewählt werden, müssen demnach integre und fähige Personen mit einer angemessenen juristischen Ausbildung oder Qualifikation sein. Diese Anforderungen implizieren entsprechende Werthaltungen des ernannten Richters. Schließlich werden einzelne Verpflichtungen beschrieben: So seien die Richter hinsichtlich der Beratungen und der vertraulichen Informationen, die sie im Rahmen ihrer Amtstätigkeit auf andere Weise als in öffentlichen Verfahren erlangten, an das Gebot der Amtsverschwiegenheit gebunden und dürften nicht gezwungen werden, über solche Angelegenheiten als Zeuge auszusagen (Art. 15). Hinsichtlich der Folgen von Verletzungen richterlicher Amtspflichten sehen die Grundsätze vor, dass unbeschadet einer disziplinarrechtlichen Verantwortlichkeit, einem Recht zur Erhebung von Rechtsmitteln oder einem Recht auf Entschädigung durch den Staat Richter persönliche Immunität gegenüber zivilrechtlichen Schadensersatzklagen wegen ungebührlicher Handlungen oder Unterlassungen bei der Ausübung ihrer richterlichen Funktionen genießen sollten (Art. 16). Art. 17 bis 19 äußern sich zu den Voraussetzungen von und den Sicherungen in Disziplinar-, Suspendierungs- oder Absetzungsverfahren. Hinsichtlich des Normcharakters dieser Grundsätze gilt: UN-Resolutionen sind Beschlüsse der Vereinten Nationen. Sie ergehen in schriftlicher Form nach Beratungen der jeweils zuständigen Hauptorgane. Sie beziehen sich zumeist auf die UN-Charta und die dort enthaltenen Aufgaben. Resolutionen der UN-Generalversammlung und des UN-Wirtschafts- und Sozialrates sind – anders als Resolutionen des UN-Sicherheitsrates – nicht unmittelbar völkerrechtlich verbindlich (Art. 10 bis 14, 18 Abs. 2; Art. 62 UN-Charta). Sie stellen lediglich eine Empfehlung für die Mitgliedstaaten dar, ihre nationale Rechtsordnung hierauf einzustellen4. Insofern Resolutionen damit kein Recht setzen, aber dennoch Sollensansprüche an die Mitgliedstaaten formulieren, haben sie einen besonderen appellativen Charakter5, der dem moralischen sehr nahe kommt. In Ausnahme4 5
M. Herdegen, Völkerrecht, 12. Aufl., München 2013, S. 160 ff. So ausdrücklich: Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht (Fn. 5/C.), Rdnr. 490.
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C. Elemente einer deskriptiven richterlichen Ethik
fällen können sie Ausdruck einer allgemeinen Rechtsüberzeugung sein. Bei längerem Bestand, fortdauernder Bekräftigung und Übung können sie daher zur Entstehung von Völkergewohnheitsrecht beitragen und damit eine zwischenstaatliche Verbindlichkeit erlangen6. Gerade für codes of conduct und Resolutionen der Generalversammlung wurde wegen des schillernden Charakters der rechtlichen Verbindlichkeit der Begriff des „soft law“ konzipiert, der den vorbeschriebenen Prozesscharakter beschreiben soll7. Die Grundsätze von 1985 können vor diesem Hintergrund als erster Versuch gelten, die Diskussion über richterliche Verhaltensstandards international anzuregen. Ihr Schwerpunkt lag jedoch auf den durch die Staaten zu wahrenden rechtlichen Gewährleistungen einer unabhängigen Justiz als Institution. Sie sind im Hinblick auf die richterlichen Verhaltensanforderungen – mit einigen Ausnahmen – sehr allgemein gehalten. Sie bildeten aber den Auftakt für eine in der Folgezeit sich beschleunigende Debatte. So wurde bereits 1989 die „Singhvi Declaration“ (Draft Universal Declaration on the Independence of Justice)8 als weiteres UN-Dokument zur Sicherung der richterlichen Unabhängigkeit verabschiedet. Sie beruhte auf einem Bericht des Sonderberichterstatters des Wirtschafts- und Sozialrates der UN und indischen Richters Dr. L.M. Singhvi. Ihr Schwerpunkt liegt auf institutionellen Sicherungen der Unabhängigkeit, formuliert aber – insbesondere in den Nummern 37 bis 41 – richterliche Pflichten zur Wahrung ihrer Unabhängigkeit. Diese Erklärung diente wiederum als Grundlage für die Prinzipien von Bangalore: bb) Die Prinzipien von Bangalore9 Um den besonderen Wert und die überragende Stellung der Prinzipien von Bangalore (Bangalore Principles of Judicial Conduct) im internationalen Diskurs zur Entwicklung einer richterlichen Ethik einordnen und bewerten zu können, ist deren Vorgeschichte näher zu beleuchten10. Die Vereinten Nationen haben in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10.12.1948 und im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 16.12.1966 materielle 6 K. Ipsen, Völkerrecht, 4. Aufl., München 1999, § 32 Rdnrn. 38, 55; kritisch hierzu: Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht (Fn. 5/C.), Rdnr. 490. 7 Herdegen, Völkerrecht (Fn. 4/C.), S. 163. 8 Text: Englisch: www.cristidanilet.ro/docs/Shingvi%20Declaration.pdf; Stand: 02.10.2015. 9 Hierzu Häuser, Vorfragen (Fn. 55/A.), BJ 76 (2003), S. 187; Jung, Richterbilder (Fn. 3/A.), S. 120 ff. 10 Hierzu und zum Folgenden: Titz, Ausland (Fn. 290/B.), DRiZ 2009, S. 34. Zur Entstehungsgeschichte vgl. auch S. 9 ff. des Commentary on The Bangalore Principles of Judicial Conduct, September 2007 (www.unodc.org/documents/corruption/publi cations_unodc_commentary-e.pdf; Stand: 02.10.2015), die auch als Quelle für das nachfolgend Dargestellte diente. Vgl. auch A. Seibert-Fohr (Hrsg.), Judicial Independence in Transition, Berlin/Heidelberg 2012.
I. Gegenwärtiger Bestand richterlicher Ethikkodizes
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Abwehr- und Teilhaberechte des Einzelnen gegenüber den Mitgliedstaaten formuliert, die zum einen als Völkergewohnheitsrecht angesehen werden und zum anderen – soweit der Internationale Pakt national ratifiziert ist – als nationales Recht Beachtung finden müssen. Auch wenn diese Akte justizielle Rechte enthalten und die institutionelle Absicherung der Rechte durch eine unparteiische Justiz fordern, so ist ihr Gegenstand nicht das Verhalten und die Person des Richters selbst. Die Anforderungen an die Justiz und die Richter wurden erst in den Grundprinzipien der Unabhängigkeit der Richterschaft von 1985 näher beschrieben. Die Erkenntnis vielfältiger Defizite bei der Umsetzung dieser Forderungen in den Mitgliedstaaten hat die Vereinten Nationen seit Anfang des 21. Jahrhunderts veranlasst, ihr Augenmerk auf diese Problematik zu richten. Im April 2000 veranstaltete das Zentrum für internationale Verbrechensverhütung (Centre for International Crime Prevention), eine Unterorganisation von UNODC (United Nations Office on Drugs and Crime), in Zusammenarbeit mit Transparency International, eine Tagung in Wien, an der Chefpräsidenten und hochrangige Richter aus asiatischen und afrikanischen Ländern der CommonLaw-Tradition teilnahmen11. Hierzu waren auch Richter aus Europa und Australien eingeladen. Diese Gruppe formierte sich in Folgezeit zu der für die Herausarbeitung der Prinzipien von Bangalore maßgeblichen „Richtergruppe“ (Judicial Group on Strengthening Judicial Integrity). Zielstellung war, die Mittel zu untersuchen, die zu mehr Integrität der Richter und zu wirksamen Justizreformen der Rechtssysteme ihrer Heimatländer, aber auch generell von allen UN-Mitgliedstaaten führen könnten. Sie verabschiedete Empfehlungen und Vorschläge, um insbesondere das Problem der richterlichen Korruption zu bekämpfen. Diese Initiative stand mithin von Beginn an im Zeichen der Korruptionsbekämpfung – die Mittel flossen aus dem „Global Programme against Corruption“ – in Staaten mit ungefestigten Justizstrukturen. Zur Grundlage ihrer weiteren Arbeit machte sie die bis zu diesem Zeitpunkt vorliegenden regionalen, nationalen und internationalen Regelwerke zur Sicherung einer unparteiischen und unabhängigen Justiz12. Die Gruppe einigte sich außerdem darauf, innerhalb eines halben Jahres in ein11 Vgl. Hierzu den UNODC: Report of the First Meeting of the Judicial Group on Strengthening Judicial Integrity, Vienna, 2000 (www.unodc.org/pdf/crime/gpacpublica tions/cicp6.pdf; Stand: 02.10.2015). 12 Vgl. insoweit: S. 10 ff. des Commentary on The Bangalore Principles of Judicial Conduct, September 2007 (http://www.unodc.org/documents/corruption/publications_ unodc_commentary-e.pdf; Stand: 02.10.2015). Dort wurden folgende Kodizes aufgeführt: Nationale Kodizes: Australien: Declaration of Principles of Judicial Independence herausgegeben von den Chief Justices of the Australian States and Territories, 1997; Bangladesch: Code of Conduct for the Judges of the Supreme Court of Bangladesh, 2000; Indien: Restatement of Values of Judicial Life eingeführt von der Chief Justices Conference of India, 1999; Kanada: Canadian Ethical Principles for Judges,1998; Kenia: Code of Conduct for Judicial Officers of Kenya, 1999; Malaysia: The Judges’ Code of Ethics of Malaysia, 1994;
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C. Elemente einer deskriptiven richterlichen Ethik
zelnen Ländern existierende Verhaltenskodizes (Judicial codes of conduct) auf solche Überlegungen zu untersuchen, die in ihnen immer wiederkehren, und solchen, die im Hinblick auf die Besonderheiten des jeweiligen Justizsystems nur in einigen, aber nicht allen Kodizes enthalten sind. Auf dem Folgetreffen im indischen Bangalore im Februar 200113 diskutierte die Gruppe den von einem Sekretariat vorbereiteten Entwurf eines richterlichen Verhaltenskodex. Dabei wurde auch überlegt, wie der Kodex letztlich zu verabschieden und in den einzelnen Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen zu implementieren sei. Aufgrund der Unsicherheit, ob der vorgeschlagene Kodex auf sämtliche Justizsysteme übertragbar sei, wurde vorgeschlagen, zunächst die Chief Justices aller Länder über den Entwurf beraten zu lassen, auf den Entwurf über internationale und regionale Organisationen (Weltbank, African Chief Justices Meeting; Commonwealth Chief Justices Meeting) aufmerksam zu machen und erst nach dieser Abstimmung über Gremien der Vereinten Nationen zu implementieren.
Namibia: Code of Conduct for Magistrates in Namibia; Nigeria: Code of Conduct for Judicial Officers of the Federal Republic of Nigeria; Pakistan: Code of Conduct der Judges of the Supreme Court and of the High Courts of Sambia: The Judicial (Code of Conduct) Act, 1999; Philippinen: Canons of Judicial Ethics of the Philippines, Code of Judicial Conduct of the Philippines, 1989; Salomonen: Yandina Statement: Principles of Independence of the Judiciary in Solomon Islands, 2000; Südafrika: Guidelines for Judges of South Africa, 2000; Tanzania: Code of Conduct for Judicial Officers of Tanzania, 1984; Uganda: Code of Conduct for Judges, Magistrates and Other Judicial Officers of Uganda, 1989; USA: Code of Judicial Conduct angenommen von der American Bar Association, 1972; The Code of Conduct of the Judicial Conference of the United States; Idaho Code of Judicial Conduct, 1976; Iowa Code of Judicial Conduct; Rules Governing Judicial Conduct, New York State; The Texas Code of Judicial Conduct; The Canons of Judicial Conduct for the Commonwealth of Virginia, 1998; The Code of Judicial Conduct des Supreme Court of the State of Washington, 1995. Regionale und internationale Sammlungen und Instrumente: Draft Principles on the Independence of the Judiciary (Siracusa Principles), vorbereitet von einem Expertengremium der International Association of Penal Law, der International Commission of Jurists und des Centre for the Independence of Judges and Lawyers, 1981; Minimum Standards of Judicial Independence angenommen von der Internationalen Bar Association, 1982, United Nations Basic Principles on the Independence of the Judiciary, 1985; Entwurf einer universellen Erklärung über die Unabhängigkeit der Justiz (Singhvi Declaration), 1989; The Beijing Statement of Principles of the Independence of the Judiciary in the Lawasia Region, 1997; The Latimer House Guidelines for the Commonwealth on good practice governing relations between the Executive, Parliament and the Judiciary in the promotion of good governance, the rule of law and human rights to ensure the effective implementation of the Harare Principles, 1998; Europäische Charta über den Status von Richtern des Europarats, 1998; The Policy Framework for Preventing and Eliminating Corruption and Ensuring the Impartiality of the Judicial System, adopted by the expert group convened by the Centre for the Independence of Judges and Lawyers, 2000. 13 Vgl. hierzu UNODC: Report of the Second meeting of the Judicial Group on Strengthening Judicial Integrity, Bangalore, February 2001 (www.unodc.org/pdf/crime/ gpacpublications/cicp5.pdf; Stand 02.10.2015).
I. Gegenwärtiger Bestand richterlicher Ethikkodizes
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In der Folgezeit wurde daher der erste Entwurf von obersten Richtern, Chefpräsidenten und Chief Justices aus 75 Länder diskutiert. Insbesondere wurde der Entwurf im Juni 2002 bei einem Treffen in Straßburg von der Arbeitsgruppe des beratenden Rats der europäischen Richter (CCJE), einer noch näher darzustellenden Arbeitsgruppe unter dem institutionellen Dach des Europarats, aus der europäischen Perspektive diskutiert und im Einzelnen stark kritisiert14. Dabei wandten die nicht aus dem Common-Law-Gebiet, also den Civil-Law-Ländern, stammenden Richter ein, dass kein „Vorrang“ des Anstands vor der Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und Integrität der Richter bestehen könne. Die Verwendung des Wortes „Kodex“, unter dem Juristen in Kontinentaleuropa in der Regel eine vollständige und erschöpfende Rechtssammlung verstehen, wurde ebenfalls kritisiert und auf die von berufsmoralischen Regelungen zu unterscheidenden gesetzlichen Regelungen über die Berufsausübung und Disziplinarordnungen für Richter verwiesen. Die Aussage in der Präambel des Entwurfs, dass die „tatsächliche Quelle der Judikative die öffentliche Akzeptanz der moralischen Autorität und Integrität der Justiz“ sei, wurde unter Hinweis auf die „wahre Quelle“, nämlich die Verfassungen der Staaten, in Frage gestellt und die Abhängigkeit der Judikative von allgemeiner Akzeptanz als unter Umständen gefährlich bezeichnet. Ebenso wurde in Frage gestellt, warum Richter nach dem Entwurf allgemein verpflichtet werden sollten, sich über die finanzielle Situation und Interessen ihrer eigenen Familie zu unterrichten, wenn diese nichts mit einer möglichen Gefährdung ihrer konkreten oder künftigen Unparteilichkeit zu tun hätten. Der massivste Widerspruch bezog sich jedoch auf das Verbot der politischen Betätigung von Richtern, wie er in dem Entwurf der Prinzipien enthalten war. Die Auseinandersetzung über die Unterschiede in der Sicherung der berufsethischen Forderungen zwischen den kontinentaleuropäischen und den angloamerikanischen Vorstellungen befeuerte in der Folgezeit eine eigenständige europäische Diskussion, die auch Deutschland erfasste und im Weiteren noch darzustellen sein wird. Im November 2002 trafen sich oberste Richter, Chefpräsidenten und Chief Justices in Den Haag15, die überwiegend aus sich entwickelnden Staaten und nur teilweise aus Europa und Amerika stammten. Sie überarbeiteten den Entwurf der Prinzipien und „verabschiedeten“ ihn. Es war weiter beabsichtigt, über die Regierungen der Mitgliedstaaten die Ansichten ihrer Justiz zu den Grundsätzen einzuholen, über eine Expertengruppe Änderungsvorschläge zu erarbeiten, den endgültigen Entwurf an die Regierungen weiterzuleiten und durch den nächsten 14 Vgl. Comments no. 1 (2002) und no. 2 (2005) of the working party of the Consultative Council of European Judges (CCJE-GT) on code of judicial conduct the Bangalore draft (beide unter: www.coe.int/t/dghl/cooperation/ccje/cooperation/coe_en.asp; Stand: 02.10.2011). 15 Vgl. UNODC, Report of The Summary Record of the round table Meeting of Chief Justices to review The Bangalore draft Code of Judicial Conduct, November 2000 (www.unodc.org/pdf/corruption/hague_meeting_02.pdf; Stand: 02.10.2015).
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UN-Kongress über die Prävention von Kriminalität und die Behandlung Straffälliger annehmen zu lassen, um ihn dann der UN-Generalversammlung zu empfehlen. Es war außerdem vorgesehen, dass bei schon geplanten Regionalkonferenzen der spanisch sprechenden Länder, arabischer und afrikanischer Staaten sowie der asiatisch-pazifischen Staaten die festgelegten Prinzipien weiter diskutiert und verbreitet werden sollten. Im Januar 200316 legte die Richtergruppe außerdem fest, die Prinzipien von Bangalore in die UN-Vollversammlung einzubringen. Um ihre Akzeptanz zu gewährleisten, sollte die nationale Implementierung der Prinzipien aber den Richtern überlassen bleiben. Die Prinzipien von Bangalore wurden auf der 59. Tagung der UN-Kommission für Menschenrechte beraten und am 29.04.2003 einstimmig verabschiedet (Resolution 2003/43). Dies eröffnete die Möglichkeit, die Grundsätze „der Aufmerksamkeit der Mitgliedstaaten, der einschlägigen Organe der Vereinten Nationen sowie den zwischenstaatlichen und nichtstaatlichen Organisationen zur Prüfung und Beratung“ zu übergeben. Bei einem weiteren Treffen im Oktober 200517 wurde ein Entwurf zu einem Kommentar zu den Prinzipien diskutiert, um sie für konkrete Fälle anwendbar zu machen. Die Prinzipien von Bangalore wurden schließlich durch den Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen, der insbesondere die Tätigkeiten von 19 Sonderorganisationen der UNO koordiniert (ECOSOC), durch die Resolution 2006/2318 bestätigt. Im Februar 2007 traf sich die Richtergruppe zum fünften Mal. Der Zweck dieser Tagung war, die Reaktionen der Mitgliedstaaten aufzunehmen und zu berücksichtigen sowie den Entwurf einer Kommentierung der Bangalore Principles auszuarbeiten. Dieser erschien dann im September 200719. Damit ist der Prozess der Formulierung und Annahme internationaler Standards für richterliches Verhalten auf der Ebene der Vereinten Nationen vorläufig abgeschlossen20. Die Prinzipien setzen inhaltlich nach ihrer Präambel an den in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und im Internationalen Pakt für bürgerliche und politische Rechte niedergelegten Anspruch des Einzelnen auf ein kompetentes, unabhängiges und unparteiisches Gericht an, das jeden vor seiner Entschei16 Vgl. Third meeting of the Judicial Group on Strengthening Judicial Integrity, Colombo, January 2003 (www.unodc.org/pdf/crime/corruption/judicial_group/Third_Ju dicial_Group_report.pdf; Stand: 02.10.2015). 17 Vgl. Report of the Fourth Meeting of the Judicial Integrity Group on Strengthening Judicial Integrity, Vienna, 27–28 October 2005 (www.unodc.org/pdf/corruption/pu blication_jig4.pdf; Stand: 02.10.2015). 18 www.unodc.org/pdf/corruption/corruption_judicial_res_e.pdf; Stand: 02.10.2015; der Inhalt wird im Folgenden zusammengefasst. 19 Vgl. Commentary on The Bangalore Principles of Judicial Conduct, September 2007 (www.unodc.org/documents/corruption/publications_unodc_commentary-e.pdf; Stand: 02.10.2015). 20 Vgl. hierzu: http://www.unodc.org/unodc/en/corruption/judiciary.html; Stand: 02.10.2015.
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dung anhört und im öffentlichen Verfahren fair, gleich und in angemessener Frist behandelt. Die Präambel weist daneben auf die Sicherung der jeweiligen Verfassung durch die Gerichte sowie die Bedeutung der „moralischen“ Autorität und Integrität der Richter für das öffentliche Vertrauen in die Richter hin. Im Anschluss an die Präambel werden dann sechs „Werte“ (values) angegeben, zu denen jeweils ein „Prinzip“ (principle) und „Anwendungen“ des Prinzips (applicationes) formuliert werden: Der erste Wert ist danach die Unabhängigkeit mit folgendem Prinzip: Die richterliche Unabhängigkeit ist eine Voraussetzung für die Rechtsstaatlichkeit und eine grundlegende Garantie für ein faires Verfahren. Ein Richter soll daher seine Unabhängigkeit in ihrer individuellen und in ihrer institutionellen Funktion wahren und anschaulich machen. Die Anwendungen beschreiben im Einzelnen die Verpflichtung des Richters, sich innerlich und äußerlich unabhängig zu halten: von Fremdeinflüssen, Anreizen, Druck, Drohungen, direkten oder indirekten Störungen, von welcher Seite (Parteien, Gesellschaft, Parlament, Exekutive, Kollegen) oder aufgrund welcher Umstände auch immer. Der Richter habe nur auf der Grundlage der Fakten und einem gewissenhaften Verständnis des Gesetzes zu entscheiden. Der zweite Wert ist die Unparteilichkeit mit dem Prinzip, dass sie von grundlegender Bedeutung für die Ausübung des Richteramts sei und auch für den Entscheidungsfindungsprozess gelte. In den Anwendungen wird die Forderung formuliert, der Richter solle gerichtlich wie außergerichtlich sein Verhalten und seine Äußerungen so wählen, dass er als unbefangener Entscheider wahrgenommen werde. Außerdem habe er seine innere Einstellung auf Vorurteile und Befangenheit zu prüfen, um sich ggf. „selbst von der Verhandlung auszuschließen“. Dies gelte auch, wenn er als Anwalt an der Sache beteiligt gewesen sei oder Familienangehörige „ein ökonomisches Interesse am Ausgang der Streitsache“ hätten. Der dritte Wert ist die Integrität, die „unverzichtbar für die Ausübung des Richteramtes“ sei (Prinzip). Sein Verhalten – so die Anwendung – müsse zur Sicherung des Vertrauens der Bevölkerung „für den umsichtigen Beobachter über jeden Tadel erhaben sein“. Der vierte Wert ist die Korrektheit oder Anstand, die für jede Tätigkeit eines Richters zwingend sei (Prinzip). Die Anwendungen hierzu sind umfassend und im Verhältnis zu den anderen Prinzipien sehr detailliert beschrieben. Sie beziehen sich auf dienstliches und außerdienstliches Verhalten: Der Richter habe stets die eigene Würde zu wahren und (auch privat) Distanz zu den Juristen zu halten, die am Gericht regelmäßig praktizieren, insbesondere dürfe er keine Mandantenoder kollegiale Gespräche in seinem Haus zulassen, bei familiärer Betroffenheit an Entscheidungen nicht mitwirken, müsse sich bei der Ausübung der bürgerlichen Freiheiten mäßigen, sich über seine finanzielle Situation und die seiner
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Familie informieren, dürfe das Prestige des Richteramtes nicht ausnutzen, nicht den Anschein der Bestechlichkeit oder Gewogenheit erwecken, er müsse verschwiegen sein. Als Anwalt dürfe er nicht tätig sein und keine Geschenke oder Vorteile (auch bezogen auf ihm unterstehende Bedienstete) annehmen. Erlaubt seien aber die schriftstellerische Beschäftigung mit dem Recht, die Ausbildung von Juristen, die Teilnahme an öffentlichen Anhörungen und Kommissionen das Recht betreffend sowie die Annahme von Auszeichnungen. Der fünfte Wert ist die Gleichheit, also die gleiche Behandlung aller vor Gericht (Prinzip). „Irrelevante Kriterien“ der Behandlung durch den Richter und seine Bediensteten sowie für richterliche Äußerungen – so die Anwendungen – seien Kaste, Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Religion, nationale Herkunft, Behinderung, Alter, Familienstand, sexueller Orientierung, sozialer und ökonomischer Status und Ähnliches. Jeder solle unabhängig von diesen Kriterien gehört werden. Ein rechtlich unbeachtliches Berufen auf diese Kriterien im Verfahren solle vom Richter zurückgewiesen werden. Der sechste Wert ist die Kompetenz und Sorgfalt als Voraussetzung für die ordnungsgemäße Ausübung des Richteramts (Prinzip). Die richterlichen Pflichten hätten Vorrang vor allen anderen Aktivitäten. Zu seinen Pflichtaufgaben zählten dabei auch Aufgaben, die für das Richteramt oder den Gerichtsbetrieb relevant seien. Ein Richter ergreife angemessene Maßnahmen, um seine Kenntnisse, Fähigkeiten und persönlichen Eigenschaften zu erhalten und zu verbessern, wobei ihm Lehrgänge und andere Einrichtung unter gerichtlicher Aufsicht zugänglich sein sollten. Richter hätten sich zu informieren über relevante Entwicklungen des Völkerrechts, insbesondere zur Etablierung der Menschenrechte. Ein Richter solle alle seine richterlichen Pflichten, auch bei vorläufigen Entscheidungen, effizient, fair und mit angemessener Schnelligkeit erfüllen. Er solle für Ordnung und Anstand vor Gericht sorgen und geduldig, würdevoll und höflich zu den Parteien, Geschworenen, Zeugen, Rechtsanwälten und anderen sein, mit denen er in amtlicher Eigenschaft befasst sei. Dieses Verhalten habe er auch von Rechtsvertretern, Mitarbeitern und seiner Aufsicht unterliegenden Personen zu fordern. Zum Normcharakter: Als Resolution des Wirtschafts- und Sozialrats der Vereinten Nationen sind die Prinzipien von Bangalore rechtlich nicht unmittelbar verbindlich, sondern im Sinne der UN-Charta Empfehlungen. Die Resolution führt allerdings zur – gewünschten – Implementierung in den Mitgliedstaaten aus: Wegen der Natur des Richteramtes sollten wirksame Maßnahmen zur Umsetzung dieser Grundsätze durch die nationalen Justizbehörden erlassen werden, wenn nicht solche schon existierten. In der Präambel wird überdies deutlich, dass die Prinzipien „hauptsächlich“ an die Staaten gerichtet sind, um durch eine den Prinzipien adäquate Justizverwaltung die niedergelegten Anforderungen an die Richter zu gewährleisten. Daneben wollen die Prinzipien „Standards für ethisches Verhalten von Richtern“ aufstellen, um Richter „anzuleiten“ und den Rich-
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tern einen Rahmen „zur Regulierung richterlichen Verhaltens“ zu bieten. Die Prinzipien „setzen voraus“, dass Richter für ihr Verhalten bei zuständigen justizförmigen Institutionen für ihr Fehlverhalten einstehen müssten. Die Prinzipien setzen mithin kein Recht, sondern wollen eine Sammlung möglicher – rechtlich oder moralisch wirksamer – Verpflichtungen des Richters sein. Die „Prinzipien“ formulieren einen richterlichen Verhaltenskodex, auch wenn der Begriff mit Rücksicht auf die Civil-Law-Länder nicht ausdrücklich verwendet wurde21. Dies ergibt sich bereits aus der Präambel. Die „Prinzipien von Bangalore“ beruhen weitgehend auf den Vorstellungen der Common-Law-Länder22, die selbst kein oder ein nur rudimentäres richterliches Dienstrecht kennen, in dem rechtliche Verhaltenspflichten der Richter niedergelegt oder aus dem sie ableitbar wären. Zwar enthält der Kodex in seiner endgültigen Fassung nicht mehr das im angloamerikanischen Rechtsraum traditionelle bzw. dort eher akzeptierte Verbot für Richter, Mitglied einer politischen Partei zu sein23. Er enthält aber weiterhin Einschränkungen richterlicher Meinungsfreiheit und Verhaltensregeln für das richterliche Privatleben. Dieser Kodex ist in Europa und vor allem in Deutschland auf Kritik gestoßen24. Die Regelungen seien zu detailliert, insbesondere störe schon der Charakter als „Kodex“ 25. Die Prinzipien selbst würden entweder selbstverständliche Grundsätze oder Banalitäten des Berufsalltags26 regeln. Sie führten zu einer weitgehenden Einschränkung der Grund- und Bürgerrechte der Richter, insbesondere ihres Privatlebens. Zudem wird die unzulässige Verknüpfung ethischer Standards mit disziplinarischen Folgen abgelehnt27. Der Schluss der Präambel zeige jedenfalls den Willen zur disziplinarischen Ahndung berufsmoralischer Standards. Die Regeln seien nur für Common-Law-Staaten tauglich, die kein hinreichend kodifiziertes Richterrecht besäßen28. Deshalb sei nur in diesen Ländern das Bedürfnis groß, richterliche Verhaltenspflichten anders, eben auf moralischem bzw. semi-disziplinarischen29 Wege, zu begründen. Die Meinung jedenfalls30, die Prinzipien seien in Bezug auf das Verhalten von Richtern als grund21
S. R. Roos/J. Woischnik, Codigos de etica judical, Berlin 2005, S. 19. B. Krix, Richterliche Ethik – weltweit ein Thema, in: DRiZ 2003, S. 149; auf sie nimmt wohl auch Häuser, Vorfragen (Fn. 55/A.), BJ 76 (2003), S. 186 f. Bezug. 23 Dies übersieht Krix, Weltweit (Fn. 22/C.), DRiZ 2003, S. 149; ebenso Häuser, Vorfragen (Fn. 55/A.), BJ 76 (2003), S. 186 f. Beide auch zum unmittelbar Folgenden. 24 Hierzu Gass, Richterethik (Fn. 5/A.), S. 131. 25 Krix, Weltweit (Fn. 22/C.), DRiZ 2003, S. 149, eher müsse von „ethischen Prinzipien“ gesprochen werden. 26 Strecker, Ethik (Fn. 59/A.), BJ 2004, S. 378. 27 Titz, Ausland (Fn. 290/B.), DRiZ 2009, S. 34. 28 Baltzer, Gespenst (Fn. 9/A.), KritV 2008, S. 482. 29 In diesem Sinne Wittreck, Funktionen (Fn. 10/A.), S. 281. 30 H. Epineuse, Für eine vergleichende Richterethik. Erkenntnisse aus der weltweiten Debatte über die Richterethik, in: SchlHAnz. 2009, S. 123. 22
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legend anzusehen und die Richter sollten sie annehmen, indem sie sie gegebenenfalls den örtlichen Besonderheiten anpassten, trifft jedenfalls in Deutschland – und generell in Westeuropa – nicht auf Zustimmung31. Die Kritiker können ihre Augen allerdings nicht vor den positiven Folgen der Prinzipien verschließen. Die Prinzipien haben – dank des „universellen Ehrgeizes ihrer Redakteure“ und der Übernahme in Akte der Vereinten Nationen – nicht nur eine internationale Diskussion zur richterlichen Ethik befeuert. Sie haben – wie im Einzelnen noch zu zeigen ist – gerade in Ländern mit prekären Rechtsund Justizsystemen und im Rahmen des „nation building“ sowie für „Rechtsstaatsprozesse“ Leitlinien für die tägliche Praxis gesetzt. Seit 2002 und als direkte Folge der Prinzipien hat es eine Fülle von unterschiedlichen regionalen und nationalen Initiativen gegeben, die zur Formulierung berufsmoralischer Verhaltensanforderungen für Richter geführt hat. Die dabei entstandenen nationalen Dokumente, die zeitlich nach den Prinzipien formuliert wurden, sei es aus Anlass einer Aktualisierung bestehender Kodizes, sei es bei der erstmaligen Formulierung richterlicher Verhaltensstandards, folgten häufig ganz oder teilweise den Prinzipien. Sie sind außerdem bevorzugtes Instrument der von den Organen der UNO entwickelten Anti-Korruptionspolitik in Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas32. Nichtregierungsorganisationen greifen auf sie zurück, um in ihnen einen Orientierungsrahmen für faire und unabhängige Justizsysteme, -verwaltungen und für die einzelnen Richter zu finden33. Als die osteuropäischen Staaten am Beginn ihres rechtsstaatlichen Prozesses eine Umgestaltung ihrer Justizsysteme – auch um die Beitrittskriterien der Europäischen Union zu erfüllen – durchzuführen hatten34, griffen sie nicht selten auf die Prinzipien bei der Formulierung ihrer Richterkodizes zurück. Allerdings sind hier – wie noch darzustellen sein wird – auch Gegenbewegungen in Gang. b) Ethikkodizes internationaler Gerichte Die auf der Ebene der Vereinten Nationen formulierten Prinzipien von Bangalore haben auch unmittelbar auf die Richter internationaler Gerichte bei der Formulierung ihrer eigenen berufsmoralischen Anforderungen gewirkt:
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Roos/Woischnik, Codigos (Fn. 21/C.), S. 20 m.w. N. Roos/Woischnik, Codigos (Fn. 21/C.), S. 20 m.w. N., die auf die unmittelbare Reaktion in Uganda, Nigeria und Bolivien hinweisen; Titz, Ausland (Fn. 290/B.), DRiZ 2009, S. 34. 33 Vgl. z. B. die von der Konrad-Adenauer-Stiftung herausgegebenen Schriften: Roos/Woischnik, Codigos (Fn. 21/C.), S. 18 ff. 34 H. Bolk, Richterliche Ethik – Ein Sachstandsbericht, in: NRV-Info Schleswig-Holstein, November 2006, S. 18; vgl. auch A. Titz/E. Kreth, Funktion und Leistung richterlicher Ethik in Deutschland und Europa, in: BDVR-Rundschreiben 2013, S. 74. 32
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aa) Internationaler Strafgerichtshof in Den Haag (International Criminal Court Code of Judicial Ethics) Der ständige Internationale Strafgerichtshof (International Criminal Court, ICC oder IStGH) ist zuständig für die Ahndung von Delikten des Völkerstrafrechts, also Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen. Er hat seinen Sitz in Den Haag. Er ist nicht mit dem umgangssprachlich als „UN-Kriegsverbrechertribunal“ bezeichneten Internationalen Strafgericht für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) bzw. mit dem Internationalen Strafgericht für Ruanda (ICTR) zu verwechseln. Völkervertragsrechtliche Grundlage des IStGH ist das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs. Seine Entstehung verdankt es zahlreichen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen, die zu einer Kodifizierung von Prinzipien über die Bestrafung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit aufriefen. Sein Statut wurde bei einer Staatenkonferenz im Juli 1998 angenommen. Der nach Art. 126 des Rom-Statuts maßgebliche Zeitpunkt seines Inkrafttretens war der 01.07.2002. Am 09.03.2005 nahmen die bis dahin ernannten Richter des Internationalen Strafgerichtshofs auf der Grundlage von Art. 45 des Rom-Statuts, das die Abnahme des Richtereids regelt35, und auf der Grundlage von Art. 5 Abs. 1a) der Rules of Procedure and Evidence, der den Eid selbst ausformuliert36, den Code of Judicial Ethics an37. Dieser Kodex besteht aus 11 Artikeln, von denen die ersten beiden allgemeinen Anwendungsregeln enthalten. Art. 3 bis 10 bestimmen in knappen Ausführungen den Inhalt der richterlichen Unabhängigkeit (Judicial independence), der Unparteilichkeit (Impartiality), Integrität (Integrity), Vertraulichkeit (Confidentiality), Sorgfalt (Diligence), das Verhalten während der Verfahren (Conduct during proceedings), das öffentliche Auftreten und die Vereinigungsfreiheit (Public expression and association), außerdienstliche Tätigkeit (Extra-judicial activity). Der Inhalt der Regelungen ist allgemein und enthält das, was unter den jeweiligen Stichworten von einem Richter eines Rechtsstaates zu erwarten ist. Art. 11 regelt die Beachtung der Regeln (Observance of the Code). Dabei macht er deutlich, dass die Grundsätze als Leitlinien für die wesentlichen
35 Wortlaut: „Bevor die Richter, der Ankläger, die Stellvertretenden Ankläger, der Kanzler und der Stellvertretende Kanzler ihr Amt nach diesem Statut antreten, geben sie in öffentlicher Sitzung das feierliche Versprechen ab, ihre Aufgaben unparteiisch und gewissenhaft wahrzunehmen.“ 36 Der Wortlaut von Art. 5 Abs. 1 a) der Rules of Procedure and Evidence lautet: „I solemnly undertake, that I will perform my duties and exercise my powers as a judge of the International Criminal Court honorably, faithfully, impartially and conscientiously, and that I will respect the confidentiality of investigations and prosecutions and the secrecy of deliberations.“ 37 Englischer Text: www.icc-cpi.int/NR/rdonlyres/A62EBC0F-D534-438F-A128-D3 AC4CFDD644/140141/ICCBD020105_En.pdf; Stand: 06.10.2015.
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ethischen Standards der Richter dienen sollen. Sie hätten eine „beratende Funktion“ sowie die Aufgabe, Richter in Bezug auf ethische und professionelle Aspekte, mit denen sie konfrontiert seien, zu unterstützen. Im Absatz 2 betont Art. 11, dass der Kodex in keiner Weise beabsichtige, die richterliche Unabhängigkeit zu begrenzen oder zu beschränken. Der Kodex ist damit – und dies ergibt sich auch aus der Art seiner Entstehung – in erster Linie ein Akt der moralischen Selbstverpflichtung der Richter. Wie neu hinzukommende Richter auf ihn verpflichtet werden, ist jedoch offen, dürfte aber an die Ablegung des Amtseids gebunden sein. Rechtliche Wirksamkeit könnte der Kodex etwa im Zusammenhang mit Befangenheitsanträgen oder bei richterlichem Fehlverhalten erlangen. Bedeutsam ist der enge Zusammenhang zwischen dem Richtereid und der Ausformulierung des Verhaltenskodex. Hier zeigt sich ein auch in Deutschland festzustellendes Phänomen, nämlich dass der jeweilige Richtereid die Nahtstelle zwischen Dienstrecht und Berufsmoral bezeichnet. bb) Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) Auf der Grundlage von Art. 21 der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Nrn. 3, 4 und 28 der Rules of Court haben sich die Richter des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Wege der Selbstverpflichtung ebenfalls auf ein richterethisches Papier geeinigt (Resolution on Judicial Ethics von 2008)38. Der Inhalt ähnelt stark den Verhaltenspflichten des Internationalen Strafgerichtshofs. Dies gilt auch hinsichtlich des Normcharakters. Zur Implementierung der Regeln sieht die Erklärung vor, dass im Falle von Zweifeln bei der Anwendung der Grundsätze in einer bestimmten Situation ein Richter den Rat des Präsidenten des Gerichts suchen kann. Der Präsident kann den Vorstand des Gerichts, der aus dem Präsidenten, den Vizepräsidenten und den Sektionspräsidenten besteht, wenn nötig unterrichten. Der Präsident kann auch das Plenum über die Anwendung dieser Grundsätze unterrichten. Diese Form der Kontrolle, nämlich der Selbstberatung und der Erörterung zwischen den Richtern, und der appellative Charakter der Resolution zeigt den ausschließlich berufsmoralischen Normcharakter dieser Resolution. c) Internationale Organisationen aa) International Bar Association Die International Bar Association verabschiedete im Jahre 2000 das Papier „Independence and Impartiality of Justice – International Standards (2000)“ 39. 38 www.echr.coe.int/Documents/Resolution_Judicial_Ethics_ENG.pdf; Stand: 06.10. 2015. 39 www.judicial-ethics.umontreal.ca/en/textes%20int/documents/INTERNATIONAL_ BAR_ASS.pdf; Stand: 18.12.2011.
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Die International Bar Association (IBA), gegründet 1947, ist eine weltweite Organisation von Juristen, Anwaltskammern und Anwaltsgesellschaften. Sie hat mehr als 40.000 Juristen und mehr als Anwaltskammern bzw. -gesellschaften auf allen Kontinenten als Mitglieder40. Diese Organisation verfolgt global die Sicherung der Rechtsstaatlichkeit. Vor diesem Hintergrund hat sie auf der Grundlage internationaler und regionaler Regelwerke Standards für eine funktionsfähige und effiziente Justiz entwickelt. Hierbei spielt die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz eine besondere Rolle. In erster Linie geht es den Standards um die strukturelle Sicherung der Justiz. Die Forderungen richten sich im Wesentlichen an den Gesetzgeber und an die Justizverwaltungen der Nationalstaaten. An einzelnen Stellen formulieren die Standards aber auch Verhaltenspflichten der Richter, etwa sich innerlich unabhängig und unparteilich zu verhalten. Insoweit greifen die Standards auf die Prinzipien von Bangalore, die Empfehlung Nr. R (94)12 des Ministerrats des Europarates Ministerrats, die europäische Charta über die Rechtsstellung der Richter und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zurück. Bedeutend an dieser Erklärung ist, dass nicht die Richter selbst bzw. das Gesetzgebungsorgan Verhaltenspflichten formulieren, sondern Anwälte und Juristen. Dies weist auf den legitimen Anspruch der justiznahen Professionen hin, bei der Formulierung der Richterpflichten mitzureden. bb) Internationale Richtervereinigung Von dieser Vereinigung stammen die „Schlussfolgerungen der Ersten Studienkommission der Vollversammlung der Internationalen Richtervereinigung (IAJ/ UIM) zu den Grundsätzen der Richterdeontologie und deren Anwendung“ (Rules for the ethical conduct of judges, their applications and observance)41. Die Internationale Vereinigung der Richter wurde im Jahre 1953 in Salzburg als internationale Berufsorganisation gegründet, in der nicht einzelne Richter, sondern nationale Richtervereinigungen zusammengeschlossen sind. Diese werden durch Entscheidung des Zentralrates in die internationale Vereinigung aufgenommen. Ihr Hauptziel ist der Schutz der richterlichen Unabhängigkeit als essentielle Voraussetzung richterlicher Amtsführung und der Garantie der Menschenrechte und Grundfreiheiten. Sie verfügt über vier regionale Gruppen: die Europäische Vereinigung der Richter; die Iberoamerikanische Gruppe; die Afrikanische Gruppe; eine Gruppe für Asien, Nordamerika und Ozeanien. Bereits in der Allgemeinen Charta der Richter (The Universal Charter of the Judges)42 vom November 40
www.ibanet.org/About_the_IBA/About_the_IBA.aspx; Stand: 15.10.2015. Gass, Richterethik (Fn. 5/A.), S. 140 f., vgl. www.iaj-uim.org/iuw/wp-content/up loads/2013/02/I-SC-2004-conclusions-E.pdf; Stand: 07.10.2015. 42 www.iaj-uim.org/universal-charter-of-the-judges/; Stand: 07.10.2015; sie werden unten näher dargelegt. 41
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1999, wurden neben der Sicherung richterlicher Unabhängigkeit und effizienter Justizstrukturen dienstliche und außerdienstliche Verhaltensanforderungen an den Richter definiert: Unabhängigkeit, Unparteilichkeit, Rechtsbindung, Sorgfalt, Fleiß, Integrität, Zurückhaltung bei Nebentätigkeiten. Im Jahr 2004 hat sich die Internationale Richtervereinigung eingehender mit Fragen der Entwicklung und Beachtung berufsmoralischer Regeln für Richter beschäftigt und in ihren „Schlussfolgerungen“ zusammenfassend festgestellt: Die Hauptverantwortung für die gute Führung und Wahrung der ethischen Normen liege beim Richter selbst, so dass sein Verhalten, sowohl öffentlich als auch privat, immer zusammen mit der Unabhängigkeit der Justiz, Unparteilichkeit und Integrität gesehen werden müsse. In der heutigen Gesellschaft könnten geschriebene ethische Grundsätze ein hilfreiches Mittel sein, um Hinweise an die Richter zu geben. Sie dienten auch der Aufrechterhaltung des öffentlichen Vertrauens in die Justiz. In einigen Ländern würden „ethische Grundsätze durch Gesetze“ festgelegt. In anderen Ländern seien sie in nichtlegislativen Kodizes von Obersten Justizräten, von Richterverbänden oder anderen Berufsverbänden formuliert. Richter akzeptierten, dass sie ethische Prinzipien befolgen müssten, um damit auch die Unabhängigkeit der Justiz gegenüber äußeren Einwirkungen zu sichern. Geschriebene ethische Prinzipien könnten von Verhalten oder Aktivitäten abraten oder solche sogar verbieten, obwohl sie rechtmäßig seien. Sie könnten dem Zweck dienen, dass Richter über jeden Verdacht erhaben seien und die höchsten Standards einhielten. Es sei wichtig, ethische Grundsätze nicht mit Disziplinarregeln zu verwechseln. Vielmehr müsse man anerkennen, dass ethische Prinzipien aus der Berufserfahrung der Richter abgeleitet seien, um Gerechtigkeit zu fördern und zum Verständnis der Arbeit von Richtern beizutragen. Im Prinzip sollten alle verschriftlichten ethischen Grundsätze von der Richterschaft vorbereitet werden und/oder angenommen werden. Die Richter könnten aber auch die Aussagen der internationalen Gemeinschaft über die justizielle Ethik und die Anliegen ihrer eigenen nationalen Gesellschaft übernehmen. Form und Inhalt der schriftlichen ethischen Grundsätze sollten eine Angelegenheit jedes Landes sein und im Einklang mit der jeweiligen Tradition und Erfahrungen stehen. Ethikkodizes oder ethische Richtlinien, die von verschiedenen Ländern verabschiedet würden, könnten dabei ein Modell oder eine Quelle der „Inspiration“ für andere Länder sein, die Einführung eines Ethik-Kodex oder ethische Leitlinien zu erwägen. Mit ihren unverbindlichen Schlussfolgerungen hat die Internationale Richtervereinigung die Diskussion um richterliche Verhaltenspflichten in allgemeiner Weise aufgegriffen und ihren Mitgliedsverbänden grobe Leitlinien für die Ausarbeitung von Verhaltenskodizes gegeben. Die Schlussfolgerungen sind insgesamt abwägend und zurückhaltend. Sie haben gerade hinsichtlich der Art und Weise der Erstellung eines schriftlichen Kodex eher defensiven Charakter.
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d) Lateinamerika Aufgrund mangelden Vertrauens der Bevölkerung in die Justiz der lateinamerikanischen Staaten43 ist das Interesse an richterlicher Berufsethik in dieser Region besonders stark44. Die Ursachen für die Vertrauenskrise waren und sind im Wesentlichen die unzureichende Rekrutierung fachlich geeigneten Personals, die Korruption, die Nähe der Richterschaft zur Politik, insbesondere zu Diktatoren sowie die überlange Dauer der Verfahren45. Besonders bürokratische Verfahren, die noch aus der Kolonialzeit stammen, die Praxis, die Bearbeitung der Fälle auf Mitarbeiter zu delegieren, und eine mangelhafte Verwaltungsorganisation führen dazu, dass selbst einfache Prozesse jahre- und jahrzehntelang dauern46. Hinzu kommen ungeschickte Auftritte von Richtern in den Medien. Trotzdem verdienen die Richter in den meisten Ländern dieser Region überdurchschnittlich viel, was von den Bürgern als unerträglicher Gegensatz zu ihrer Leistung empfunden wird. Das Bedürfnis nach Justizreformen und nach einer damit verbundenen tiefgreifenden ethischen Erneuerung der Justiz ist in vielen lateinamerikanischen Ländern daher sehr groß. Die Staaten Lateinamerikas haben sich dieser Aufgabe – auch mit der Unterstützung und durch den Druck von Geberländern der Entwicklungshilfe – in den vergangenen zehn Jahren in folgender Weise angenommen: aa) Das Statut der iberoamerikanischen Richter Vorläufer für einen regionalen Ethikkodex war das Statut der iberoamerikanischen Richter (Estatuto del Juez Iberoamericano47) aus dem Jahr 2001, der zwar in erster Linie Anforderungen an die Strukturen einer rechtsstaatlichen Justiz stellt (u. a. zur Auswahl, Beurteilung, Fortbildung, Vergütung der Richter), aber auch ein eigenes Kapitel über richterliche Ethik enthielt (Art. 37–44). Dem wiederum ging die Caracas Declaration vom März 199948 voraus. Verabschiedet 43 Hierzu insgesamt und zum Folgenden: J. Woischnik, Ethische Regeln für Richter, E + Z 46 (2005), Nr. 4, S. 4 ff. sowie Roos/Woischnik, Codigos (Fn. 21/C.). 44 J. Woischnik, Ethische Regeln (Fn. 43/C.), E + Z 2005, S. 4; Roos/Woischnik, Codigos (Fn. 21/C.), S. 34. 45 Roos/Woischnik, Codigos (Fn. 21/C.), S. 12. 46 Auch zum Vorangegangenen und Folgenden: Woischnik, Ethische Regeln (Fn. 43/ C.), E + Z 2005, S. 4 ff. 47 Spanischer Text: Roos/Woischnik, Codigos (Fn. 21/C.), S. 122 ff. sowie: www.poder judicial.gob.hn/CUMBREJUDICIALIBEROAMERICANA/Documents/estatutodeljuez iberoamericano.pdf; Stand 07.10.2015. 48 Englisch: www.tsj.gov.ve/informacion/eventos/IIcaracasdeclaration.html; Stand: 18.12.2011. Im März 1998 wurde bereits eine Deklaration in Caracas verabschiedet, die unter dem Aspekt der Korruptionsbekämpfung allerdings nur eine allgemeine Forderung enthielt, einen ethischen Kodex zu entwerfen, vgl. www.mpil.de/ww/de/pub/for schung/forschung_im_detail/projekte/minerva_richterl_unabh/intdocs.htm, Stand: 22.12. 2011.
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wurden diese Deklaration und das Statut von den Präsidenten der obersten Gerichtshöfe der lateinamerikanischen Staaten. Sie sind als Forderungspapiere an die gesetzgebenden Organe dieser Staaten gerichtet. Die Deklaration von Caracas enthält neben den Anforderungen an rechtsstaatliche Justizstrukturen einen Ethikkodex für alle Justizbediensteten der lateinamerikanischen Staaten und richtet sich insoweit auch an die Richter. In 19 Kanons werden dabei Gebote und Verbote geregelt. Im nachfolgenden Statut von 2001 wurden in knapp gehaltenen Artikeln von den Richtern eine leistungsfähige, qualitative, allgemein zugängliche, transparente und die Würde der Prozessbeteiligten achtende Justiz gefordert (Art. 37). Sie wurden zur inneren und äußeren Unabhängigkeit aufgerufen (Art. 38), zu einem fairen Verfahren angehalten (Art. 38) und die Grenzen der Wahrheitsfindung niedergelegt (Art. 40) sowie eine Begründungspflicht für Entscheidungen (Art. 41), die Pflicht zum beschleunigten Verfahren (Art. 42), zur Entscheidung nach Gerechtigkeitskriterien (Art. 43) sowie die Verschwiegenheitspflicht (Art. 44) formuliert. Zu Sanktionen oder Kontrolle dieser Pflichten enthält das Statut keine Forderungen. Allerdings finden sich in den Art. 19 ff. Regelungen zur strafrechtlichen, zivilrechtlichen und disziplinarischen Verantwortlichkeit der Richter. bb) Der Modellkodex von 2006 Dieses Statut, die Erklärung von Copán und die internationale Diskussion zu den Prinzipien von Bangalore führten schließlich 2006 zur Formulierung eines Modellkodex (Codigo Iberoamericano de Ética judicial 49 oder Latin American Code of Judicial Ethics50). Er wurde auf dem XIII. lateinamerikanischen Treffen der Präsidenten der obersten Gerichtshöfe Lateinamerikas verabschiedet. Er sollte Grundlage für nationale Kodizes werden. In einer ausführlichen Vorbemerkung werden in ihm zunächst der Stand der Diskussion zur richterlichen Ethik in Lateinamerika zusammengefasst und die Motive zur Vorlage des Modellkodex sowie die beabsichtigte Implementierung niedergelegt. Ausgehend von den lateinamerikanischen Erfahrungen mit berufsmoralischen Verfehlungen der Justiz soll der Modellkodex danach zum Instrument der Stärkung der Legitimität der Justiz werden. Mit ihm sollen die zu schützenden Werte vereinheitlicht und die Richter zu „Exzellenz und Ablehnung der Mittelmäßigkeit“ aufgerufen werden. Er soll aber auch anregen, die ethischen Anforderungen an den Richter in einem rationalen und pluralistischen Dialog zu
49 www.judicial-ethics.umontreal.ca/en/textes%20int/documents/Principios_etica_Ju dicial_Iberoamericana.pdf; Stand: 07.10.2015. 50 www.judicial-ethics.umontreal.ca/en/textes%20int/documents/CODEIBERO-AME RICAINVERSIONANGLAIS.pdf; Stand: 07.10.2015.
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klären, die Weiterbildung und die berufliche Motivation der Richter zu stärken und zur Grundlage einer justiziellen ethischen Beratung werden. Zu diesem Zweck ist ein Lateinamerikanisches Komitee für richterliche Ethik vorgesehen (und inzwischen etabliert), dessen Aufgaben im Kodex näher geregelt sind. Seine wichtigsten Aufgaben sind, die Gerichtsbarkeiten zu beraten, wenn dies erforderlich und gewünscht ist, und ein Forum für Diskussionen zu bilden, um justizielle Ethik im lateinamerikanischen Kontext zu verbreiten und zu entwickeln. Der Ausschuss besteht aus neun Mitgliedern, die direkt oder indirekt in der Justiz tätig sein sollen. Der Modellkodex besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil ist in insgesamt 13 Kapitel und 82 Artikel unterteilt. In ihnen werden die Grundwerte und die aus ihnen zu folgernden Verhaltenspflichten der Richter formuliert. Die Grundwerte sind: Unabhängigkeit, Unparteilichkeit, Begründungspflicht, Kenntnisse und Fähigkeiten, Gerechtigkeit und Gleichheit, Verantwortung, Höflichkeit, Integrität, Transparenz, Verschwiegenheit, Zurückhaltung, Sorgfalt, Ehrlichkeit. Diese Grundwerte werden bezogen auf die richterliche Aufgabe in den Unterartikeln näher beschrieben. Hieraus werden konkrete Ge- und Verbote bzw. sonstige Verhaltenspflichten abgeleitet. Der zweite Teil dient der näheren Ausgestaltung der Arbeitsweise des Lateinamerikanischen Komitees für richterliche Ethik in 13 Artikeln. Der Kodex erfasst im Wesentlichen dienstliche Verhaltenspflichten. Jedoch enthält Art. 4 ein striktes Verbot parteipolitischer Betätigung. Insgesamt ist der Modellkodex ein Angebot an die lateinamerikanischen Staaten und die dort tätigen Richter, sich auf eine Diskussion ihrer Verhaltenspflichten einzulassen. Er gibt aber auch den Staaten ein Mittel in die Hand, im Reformprozess Maßstäbe für richterliches Verhalten zu formulieren und notfalls durchzusetzen. 2014 wurde der Codigo reformiert51. cc) Principios de Ética Judicial 2007 hat das Comité Jurídico Interamericano dieses Statut, den Bundesrichterkodex der USA und die vorgenannten Erklärungen zur Grundlage für die Formulierung der Principios de Ética Judicial 52 genommen, wobei sie im Wesentlichen Regelungen zusammenfassend darstellen. Die Besonderheit liegt darin, dass mit den Principios der Anschluss und Kontakt zu den nordamerikanischen Staaten hergestellt und die Organisation Amerikanischer Staaten in den Prozess einbezogen wird.
51 www.tsjbaires.gov.ar/ciej/sites/default/files/axiologicos/CIEJ_reformado_2014.pdf; Stand: 10.10.2015. 52 www.judicial-ethics.umontreal.ca/en/textes%20int/documents/PRINCIPES_COMI Te_INTERAMeRICAIN.pdf; Stand: 07.10.2015.
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e) Asien und Pazifik aa) Arabische Staaten Die Beirut Declaration und die Cairo Declaration on Judicial Independence53 (beide 2003) waren erste Versuche von Nichtregierungsorganisationen, Mindestbedingungen für rechtsstaatliche Justizstrukturen für arabische Staaten zu formulieren. Sie enthalten noch keine richterethischen Festlegungen oder Erklärungen. In ihnen wird nur zur Vorbereitung eines Ethikkodex aufgerufen. Es muss sich zeigen, ob die Länder Tunesien, Libyen und Ägypten im Zuge der Veränderungen ihrer politischen Systeme hierauf zurückkommen werden. bb) Ostasiatische Staaten (Beijing Statement of Principles of the Independence of the Judiciary in the LAWASIA Region) Vorläufer dieser Erklärung war das im Juli 1982 vom Ständigen Komitee für Menschenrechte der LAWASIA54 (Law Association for Asia and the Pacific) beschlossene „Statement of Principles on the Independence of the Judiciary in the LAWASIA Region (Tokyo Principles)“. LAWASIA ist eine internationale Organisation von Juristen, Rechtsanwälten, Richtern, Rechtswissenschaftlern und anderen, die die Belange der Anwaltschaft in der Region Asien-Pazifik fördert. Sie wurde im Jahr 1966 gegründet. Als Nichtregierungsorganisation bemüht sie sich ähnlich wie die International Bar Association um eine unabhängige Justiz55. Seit 1985 findet alle zwei Jahre eine Konferenz der Chief Justices der Supreme Courts aus der asiatisch-pazifischen Region in Zusammenarbeit mit der LAWASIA statt. Seit ihrer Gründung hat sich die Konferenz als ein Forum für den Austausch von Informationen und die Erörterung von Fragen von gegenseitigem Interesse unter den obersten Richtern der Region erwiesen. Auf der 6. Konferenz in Peking im August 1995 verabschiedeten zwanzig Chief Justices erstmals eine gemeinsame Erklärung über die Grundsätze der Unabhängigkeit der Justiz. Diese Erklärung wurde in Manila während der 7. Konferenz der Chief Justice im August 1997 verfeinert. Es wurde nun von 32 Chief Justices der gesamten Region Asien-Pazifik unterzeichnet. Ähnlich wie die Grundprinzipien der Unabhängigkeit der Richterschaft von 1985 auf der Ebene der Vereinten Nationen, auf die das Statement ausdrücklich Bezug nimmt, geht es dieser nicht bindenden Erklärung um eine Aufforderung an die Gesetzgeber der Staaten in 53 www.gjpi.org/wp-content/uploads/2009/01/cairo-declaration-on-judicial-indepen dence.pdf; Stand: 07.10.2015. 54 www.judicial-ethics.umontreal.ca/en/textes%20int/documents/Beijing_Statement. pdf; Stand: 07.10.2015. 55 Sie hat die „Minimum Standards of Judicial Independence (The „New Delhi Standards“)“ formuliert.
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der Region, für die Rahmenbedingungen einer effizienten und unabhängigen Justiz zu sorgen, um die Menschenrechte zu schützen. Erst in zweiter Linie sind die Richter selbst, ihr Schutz und ihre Aufgabe zur Gewährleistung der Unabhängigkeit angesprochen (Nr. 7 bis 9). Außerdem werden die Sicherungen der persönlichen Unabhängigkeit bei ihrer Berufung, Beförderung, ihrem Einsatz, ihrer disziplinarischen Verfolgung in Grundzügen festgelegt (Nrn. 11 bis 32). Insgesamt fällt auf, dass die Regelungen von großer Rücksichtnahme auf die regionalen, kulturellen und nationalen Besonderheiten geprägt sind. Als ein richterethisches Dokument kann es daher nicht bezeichnet werden. f) Europa Auf europäischer Ebene wurden die Diskussion und die Implementierung von richterethischen Erklärungen und Kodizes im Wesentlichen durch den Europarat, der einem gemeinsamen europäischen Raum des Rechts verpflichtet ist (vgl. Art. 1 und 3 der Satzung des Europarats), vorangetrieben. Dabei stand die Entwicklung in einem engen zeitlichen und inhaltlichen Zusammenhang zu der Entwicklung auf der Ebene der Vereinten Nationen56. Allerdings hat die Europäische Richtervereinigung, eine regionale Gruppe der Internationalen Richtervereinigung, bereits im Jahr März 1993 eine Charta der Richter in Europa (Judges Charter in Europe)57 verabschiedet. Sie kann als europäische Adaption der Basic principles on the Independence of the Judiciary der Vereinten Nationen von 1985 bezeichnet werden58. Sie enthält im Wesentlichen die Forderung nach strukturellen Sicherungen der richterlichen Unabhängigkeit. In einzelnen Artikeln werden – wie bei den Basic principles – aber auch richterliche Verhaltenspflichten definiert59. Sie ist als Deklaration in erster Linie an die europäischen Staaten gerichtet und enthält noch keinen richterlichen Verhaltenskodex. 1993 hat außerdem der Europäische Rat der Europäischen Union auf seiner Tagung in Kopenhagen Beitrittskriterien für Bewerberstaaten festgelegt, die 1995 vom Europäischen Rat in Madrid bestätigt wurden. Um EU-Mitglied werden zu können, muss ein Staat drei Bedingungen erfüllen. Eines dieser Kriterien betrifft die institutionelle Stabilität des Beitrittskandidaten bezüglich der Garantie für eine demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, für die Wahrung der Men56
Roos/Woischnik, Codigos (Fn. 21/C.), S. 24. Zum Text in der geänderten Fassung von 1997: icj.wpengine.netdna-cdn.com/wpcontent/uploads/2014/10/Judges-charter-in-europe.pdf; Stand: 07.10.2015. 58 Roos/Woischnik, Codigos (Fn. 21/C.), S. 24 f. 59 Art. 2: zur inneren Unabhängigkeit und der Verpflichtung zum zügigen Entscheiden; Art. 3: zur Unparteilichkeit; Art. 9: zur Zweckmäßigkeit, Notwendigkeit und den Grenzen bzw. verfahrensmäßigen Sicherungen der disziplinarischen Ahndung richterlichen Fehlverhaltens. 57
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schenrechte sowie die Achtung und den Schutz von Minderheiten. Hierzu zählen auch Anforderungen an das Justizsystem und die Richter. Diese Anforderungen orientieren sich im Wesentlichen an den nachfolgend dargestellten Empfehlungen, Resolutionen und Erwägungen. aa) Empfehlung Nr. R (94)12 des Ministerrats des Europarates Art. 6 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) bestimmt, dass „jedermann Anspruch darauf hat, dass seine Sache in billiger Weise öffentlich und innerhalb einer angemessenen Frist gehört wird, und zwar von einem unabhängigen und unparteiischen, auf dem Gesetz beruhenden Gericht“. Dieses Recht zu sichern, setzt eine funktionierende und unabhängige Justiz sowie unabhängige Richter voraus. Um dies in den Konventionsstaaten sicherzustellen, wollte der Europarat auf der Grundlage der europäischen Rechtskultur seine Anforderungen an eine konventionskonforme Justiz in einer Empfehlung an die Mitgliedstaaten über die Unabhängigkeit und Wirksamkeit und die Rolle der Richter niederlegen. Der Wortlaut des Entwurfs der Empfehlung und der Begründung sind – wie sich aus dem Text ergibt – zunächst von der vom Ministerkomitee eingesetzten „Projektgruppe Effizienz und Billigkeit der Ziviljustiz (CJ-JU)“ erarbeitet worden. Nach Prüfung durch den Europäischen Ausschuss für rechtliche Zusammenarbeit (CDCJ) ist der Empfehlungsentwurf nebst Begründung dem Ministerkomitee des Europarats unterbreitet worden. Abgesehen von den Vertretern der Mitgliedstaaten des Europarats und der Kommission der Europäischen Gemeinschaft haben weitere Beobachter (etwa der Heilige Stuhl) an den Sitzungen der Projektgruppe teilgenommen. Das Ministerkomitee des Europarats hat am 13.10.1994 bei der 518. Sitzung der Ministerdelegierten gestützt auf Artikel 15 Buchstabe b der Satzung des Europarates diese Empfehlung angenommen60. Er verwies dabei auf Art. 6 EMRK und auf die – oben dargestellten – Grundsätze der Vereinten Nationen über die Unabhängigkeit von Richtern der Vereinten Nationen vom November 1985. Ziel der Empfehlung sei der Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, der die institutionelle Sicherung der Unabhängigkeit der Richter sowie ein effizientes und faires Rechtssystem voraussetzt. Die Empfehlung enthält nach der Feststellung des Geltungsbereichs sechs Grundsätze mit einer jeweils ins Einzelne gehenden Begründung. Die ersten vier Grundsätze behandeln den Umfang der Amtsgewalt der Richter, die strukturelle Sicherungen des Richteramtes, die richterlichen Arbeitsbedingungen einschließlich der Vereinigungsfreiheit sowie inhaltliche Festlegungen der richterlichen Unabhängigkeit. Die Grundsätze V und VI befassen sich mit der richterlichen Ver60 Deutscher Text über http://www.gewaltenteilung.de/gewaltenteilung-ausserhalbdeutschlands/1004.html; Stand: 01.02.2016.
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antwortlichkeit und definieren damit im Einzelnen richterliche Pflichten. Insoweit ist mithin der Bereich der rechtlichen und berufsmoralischen Pflichten angesprochen. Unter V wird ausgeführt, dass die Richter verpflichtet seien, in den Verfahren jedermanns Rechte und Freiheiten zu schützen. Sie sollten das Gesetz ordnungsgemäß anwenden und die Sachen fair, effektiv und rasch behandeln. Hierbei müssten sie bei allen Sachen völlig unabhängig und gegen jeglichen äußeren Einfluss geschützt handeln, gemäß ihrer eigenen Beurteilung des Sachverhalts und ihrer Gesetzesauslegung unparteiisch über die Sachen entscheiden und sicherstellen, dass alle Parteien in billiger Weise gehört und die Verfahrensrechte der Parteien gemäß den Bestimmungen der Konvention beachtet werden. Die Richter müssten sich der Entscheidung in einer Sache „enthalten“, wenn berechtigte Gründe vorlägen. Sie sollten den Parteien unparteiisch Verfahrensfragen erläutern, gegebenenfalls die Parteien zu einer gütlichen Einigung ermutigen. Soweit das Gesetz oder die gängige Praxis nichts anderes verlangten, sollten sie ihr Urteil klar und vollständig begründen unter Verwendung leicht verständlicher Formulierungen. Sie sollten alle Fortbildungsmaßnahmen wahrnehmen, die der effizienten und angemessenen Ausübung ihres Amtes dienlich seien. Die Begründung zum Grundsatz V definiert diese Pflichten des Richters näher. Der Grundsatz Vl befasst sich mit der Nichterfüllung dieser Pflichten und mit Disziplinarvergehen. Kämen die Richter ihren Verantwortlichkeiten nicht in wirksamer und angemessener Weise nach oder begingen Disziplinarvergehen, sollten danach alle erforderlichen Maßnahmen, vorausgesetzt dass sie die richterliche Unabhängigkeit nicht beeinträchtigen, ergriffen werden. Solche sind: Unzuständigkeitserklärung des Richters, Zuweisung anderer richterlicher Aufgaben innerhalb des Gerichts, Geldstrafen, Kürzung der Bezüge für einen befristeten Zeitraum, Suspendierung. Allerdings dürften die auf Lebenszeit ernannten Richter nicht ohne gesetzlich festgelegten Grund ihres Amtes enthoben werden. Für diese Maßnahmen sollte ein besonderes Organ geschaffen werden, das für die Verhängung von Disziplinarstrafen und -maßnahmen zuständig sei, wenn diese nicht von einem Gericht untersucht würden. Dabei solle der betroffene Richter selbst in den Genuss aller von der Konvention vorgesehenen Garantien eines fairen Verfahrens gelangen. Die Begründung zu Grundsatz Vl nimmt auch zu weiteren Pflichten Stellung: etwa zur Pflicht der Richter, der Gerichtsverwaltung den zahlenmäßigen Rückstau von Sachen mitzuteilen. Zum Normcharakter der Empfehlung gilt Folgendes: Der Europarat erfüllt seine Aufgabe, eine engere Verbindung zwischen seinen Mitgliedern zum Schutze und zur Förderung der Ideale und Grundsätze herzustellen, indem die Organe des Rates Fragen von gemeinsamem Interesse beraten, Abkommen abschließen und auf wirtschaftlichem, sozialem, kulturellem und wissenschaftlichem Gebiet und auf den Gebieten des Rechts und der Verwaltung sowie durch den
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Schutz und die Fortentwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten gemeinsam vorgehen (Art. 1 der Satzung des Europarats). Das Ministerkomitee und die beratende Versammlung können allerdings die Mitgliedstaaten rechtlich nicht verpflichten (Art. 15 der Satzung). Die Beschlüsse des Ministerkomitees können nach Artikel 15 Buchstabe b der Satzung des Europarates daher nur die Form von Empfehlungen an die Regierungen annehmen. Diese Form wurde hier gewählt. Das Komitee kann dabei die Regierungen auffordern, ihm über die auf Grund der Empfehlungen getroffenen Maßnahmen zu berichten. Angesichts der unterschiedlichen Rechtstraditionen in den Mitgliedstaaten betreffend des Schutzes von Richtern wird nach der Empfehlung nicht angestrebt, eine umfassende Harmonisierung der einschlägigen Rechtsvorschriften anzuregen, sondern sie liefert nur Beispiele oder allgemeine Regeln, welche die wesentlichen Züge der zu treffenden Maßnahmen kennzeichneten. Die Empfehlung ist auf eine innerstaatliche Umsetzung angelegt und entfaltet mithin für den Richter keine unmittelbare rechtliche Wirkung. Sie kann aber als gemeineuropäische Richtlinie richterlichen Verhaltens beschrieben werden und so zu einer maßgeblichen Quelle werden, wenn die Standards in den Mitgliedstaaten bedroht sind. Sowohl die Bürger wie die Richter finden in ihr Maßstäbe, die sie an die Gesetzgebung und das Verhalten politischer Instanzen im Umgang mit der Justiz anlegen können. Die in den Empfehlungen beschriebenen Verhaltenspflichten beziehen sich ausschließlich auf amtliches Handeln. Außerdienstliches Verhalten wird nicht berücksichtigt. Im November 2010 hat der Ministerrat des Europarats die Empfehlung Nr. R (94)12 überarbeitet. Da diese Überarbeitung Folge des weiteren Prozesses war, soll die geänderte Empfehlung nach den beiden folgenden Stellungnahmen erörtert werden. bb) Europäische Charta über die Rechtsstellung der Richter Der Europarat und seine Untergliederungen haben sich auch nach 1994 regelmäßig mit der Stellung der Richter und der Justiz seiner Mitgliedstaaten befasst. 1997 fiel der Entschluss, die Ergebnisse dieser Diskussionen zu veröffentlichen, um den Rechtsstaatsprozess gerade für die osteuropäischen Länder zu unterstützen61. Er bereitete ein Treffen in Straßburg vor, das sich der Rechtsstellung der Richter in Europa widmete. Die Teilnehmer kamen aus 13 west-, mittel- und osteuropäischen Ländern sowie von der Europäischen Richtervereinigung (EAJ oder AEM) und der Europäische Vereinigung der Richter für Demokratie und Freiheit (MEDEL). Die Teilnehmer äußerten dabei den Wunsch für den Europarat eine Charta über die Rechtsstellung der Richter zu entwerfen. Auf dieser Grundlage übertrug die Direktion des Europarates für Rechtsangelegenheiten drei Experten 61 Zum gesamten Prozess der Normsetzung des Memorandums, der im Folgenden dargestellt wird: www.coe.int/t/dghl/monitoring/greco/evaluations/round4/EuropeanCharter-on-Statute-of-Judges_EN.pdf, S. 5; Stand: 07.10.2015.
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aus Frankreich, Polen und Großbritannien die Aufgabe, den Entwurf einer Charta auszuarbeiten. Dieser Entwurf wurde im Frühjahr 1998 erstellt. Bei einem zweiten multilateralen Treffen wurde der Entwurf diskutiert und geändert. Die „Europäische Charta über die Rechtsstellung der Richterinnen und Richter“ (European Charter on the Statute of Judges) haben dann die Teilnehmer bei einer Versammlung vom 8. bis 10.07.1998 in Straßburg einstimmig verabschiedet62. In der Präambel beruft sie sich auf Art. 6 EMRK, auf die von der Generalversammlung der Vereinten Nationen im November 1985 gebilligten Grundsätze über die Unabhängigkeit der Richter und auf die Empfehlung Nr. R (94)12 des Ministerrats über die Unabhängigkeit und Wirksamkeit und die Rolle der Richter. Im Folgenden werden dann nach den allgemeinen Grundsätzen zu Kompetenz, Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Richter und ihrer institutionellen Sicherungen, einschließlich der Vereinigungsfreiheit, spezielle Grundsätze zur Auswahl, Einstellung, Ausbildung, Ernennung, Unversetzbarkeit, Laufbahn, insbesondere Beförderungsgrundsätze, Vergütung, soziale Sicherung und zum Ausscheiden aus dem Amt aufgestellt. Die Charta, die überwiegend den richterlichen Status und seine institutionelle Absicherung betrifft, enthält in der Präambel und als Unterpunkte zu den vorgenannten Grundsätzen aber teilweise auch richterliche Pflichten und deren Sicherung. Insoweit werden folgende Richterpflichten formuliert, die für die Erörterung der Berufsmoral der Richter Bedeutung erlangen: Bei der Ausübung ihres Amtes müssten die Richter für die Menschen erreichbar sein, ihnen Respekt entgegenbringen und bestrebt sein, bei sich selbst das für die Entscheidungen erforderliche hohe Maß an Kompetenz zu erhalten. Außerdem müssten sie die ihnen anvertrauten Geheimnisse wahren (Präambel). Als Grundpflicht regelt Nr. 4.3 der Charta, dass Richter sich stets so verhalten müssen, dass das Vertrauen in ihre Unparteilichkeit und Unabhängigkeit nicht beeinträchtigt wird. Frühere Aktivitäten eines Bewerbers für den richterlichen Dienst oder von ihm nahestehenden Personen könnten objektiv Zweifel an seiner Unparteilichkeit und Unabhängigkeit begründen und damit seiner Zuweisung an ein bestimmtes Gericht entgegenstehen (3.2.). Richtern stehe es frei, sich außerdienstlich zu betätigen. Hierzu gehöre auch die Wahrnehmung der allgemeinen Rechte als Bürger. Diese Freiheit dürfe nur eingeschränkt werden, soweit die außerdienstlichen Aktivitäten mit dem Vertrauen in die Unparteilichkeit und Unabhängigkeit oder der für eine gewissenhafte und zügige Erledigung der Aufgaben erforderlichen Verfügbarkeit unvereinbar sind. Entgeltliche Nebentätigkeiten mit Ausnahme literarischer und künstlerischer Betätigung bedürften einer vorherigen 62 Deutscher Text: www.gewaltenteilung.de/?s=Europäische+Charta+über+das+Rich terstatut, Stand: 07.10.2015; vgl. Ch. Strecker, Europäische Charta über die Rechtsstellung der Richterinnen und Richter, in: BJ 60 1999, S. 162, der hieraus die Forderung nach der Selbstverwaltung der Justiz auch in Deutschland ableitet.
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Genehmigung (4.2.). Im Abschnitt Verantwortlichkeit heißt es: Verstöße gegen die im Statut ausdrücklich geregelten Pflichten dürften nur durch Entscheidung, auf Vorschlag oder Empfehlung oder mit Zustimmung eines Gerichts oder einer Instanz geahndet werden, die mindestens zur Hälfte aus gewählten Richtern besteht. Das Verfahren müsse kontradiktorisch sein und der Beschuldigte müsse das Recht auf einen Beistand haben. Die Rangfolge der in Betracht kommenden Sanktionen müsse festgelegt sein und ihre Anwendung den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachten. Gegen Disziplinarentscheidungen solle ein Rechtsmittel zu einer übergeordneten gerichtlichen Instanz eingelegt werden können. Zur zivilrechtlichen Verantwortlichkeit der Richter heißt es weiter, grundsätzlich solle der Staat für die im Amt begangenen Fehler haften, ein Rückgriffsanspruch nur für den Fall grober und unentschuldbarer Unkenntnis der bei der Amtsausübung maßgeblichen Rechtsvorschriften bestehen. Jeder Betroffene solle außerdem das Recht haben, sich formlos bei einem unabhängigen Organ darüber beschweren zu können, dass die Justiz in einem bestimmten Fall ihre Aufgabe nicht erfüllt habe. Ergebe eine gründliche Prüfung unzweifelhaft ein richterliches Fehlverhalten, so dürfe das zuständige Organ disziplinarisch tätig werden oder bei der nach dem nationalen Gesetz zuständigen Disziplinarinstanz anregen. Der Inhalt der Charta wird in einem Memorandum näher erläutert63. Die Charta hat normativ nicht den Charakter einer Empfehlung des Europarats, weil sie nicht vom Ministerrat angenommen wurde. Sie soll vielmehr durch die Kraft ihrer Argumente wirken – letztlich also moralisch und politisch. Die Charta richtet sich mithin in diesem Sinne an Richter, Anwälte, Politiker und allgemein an jede Person, die ein Interesse an der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie hat, um sich auf sie in nationalen Konfliktfällen berufen zu können. Sie richtet sich aber auch an die nationalen Gesetzgeber. Der Zweck dieser Charta ist nach der Präambel nämlich auch, das Niveau der justiziellen Garantien in den verschiedenen europäischen Staaten zu heben. Sie soll aber nicht zur Rechtfertigung für nationale Rechtsänderungen dienen, die den Zweck haben, ein bereits erreichtes Niveau wieder abzusenken. In jedem europäischen Staat sollten die grundlegenden Prinzipien des Richterstatuts in der Verfassung verankert, die Detailregelungen mindestens auf Gesetzesebene umgesetzt werden. Die Charta hatte zwar nicht die Absicht, unmittelbar richterethische Festlegungen zu treffen, sondern die Justizstrukturen im Auge. Allerdings werden in ihr auch richterliche Pflichten in allgemeiner und zurückhaltender Weise angesprochen, die für die Funktionsfähigkeit einer rechtsstaatlichen Justizstruktur unabdingbar sind, nämlich die Pflicht zum Erhalt der Fachkompetenz, die Wahrung des Respekts, die Pflicht zur Erreichbarkeit und eine politische Betätigung der
63 www.coe.int/t/dghl/monitoring/greco/evaluations/round4/European-Charter-onStatute-of-Judges_EN.pdf, S. 9 ff.; Stand: 07.10.2015.
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Richter im Einklang mit den Anforderungen an das auf Unparteilichkeit gründende Amt64. cc) Der Europäische Standard richterlicher Ethik Der Europäische Standard richterlicher Ethik heißt in seiner vollständigen Bezeichnung: „Stellungnahme zu den Grundsätzen und Regeln, die das berufliche Verhalten der Richter lenken, insbesondere zu Ethik, inkompatiblen Verhaltensweisen und Unparteilichkeit, des Rats europäischer Richter (CCJE)“ 65. Das Ministerkomitee des Europarats hat im Jahr 2000 den Conseil consultatif des judges europeens oder Consultative Council of European Judges (CCJE) gebildet66. Er ist ein mit Richtern aus den Mitgliedstaaten des Europarats besetztes beratendes Gremium, zu dessen Hauptaufgaben die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit und der Qualität der Rechtsprechung ihrer Mitglieder zählt67. Das Verfahren, durch das die Mitglieder bestellt werden, ist nicht vollständig transparent geregelt68. Insbesondere gilt dies für die Art und den Umfang der Beteiligung der Richterverbände. Nach den Vorgaben des Ministerrates sollen die Mitglieder in „Absprache“ mit den nationalen Behörden aus den Reihen der aktiven Richter mit gründlichen Kenntnissen über die Arbeitsweise der Justiz ausgewählt werden. Für Deutschland wurde zunächst der frühere Richter am Bundesverwaltungsgericht Otto Mallmann in das Gremium entsandt. Bis Mitte 2015 vertrat Deutschland der Präsident des Oberlandesgerichts Köln a.D. Johannes Riedel. Inzwischen wurde eine Vorsitzende Richterin am OLG Köln berufen. Europäische Richter- und Staatsanwaltsverbände wurden als Beobachter eingeladen. An dem Gremium können sich alle Mitgliedsländer des Europarates beteiligen69. Seit seiner Gründung hat der CCJE mehrere Stellungnahmen (Opinions) zur Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und Kompetenz der Richter erarbeitet und veröffentlicht70. Über diese Stellungnahmen wird in einem jährlich zusammentreten64
Titz, Ausland (Fn. 290/B.), DRiZ 2009, S. 35. Vgl. hierzu H. Epineuse, Eine Präsentation der Ansichten des CCJE, nach einem Manuskript zu einem Vortrag in Eriwan, Armenien, Dezember 2002: www.gewaltentei lung.de/tag/der-europaeische-standard-richterlicher-ethik, Stand: 08.10.2015; Häuser, Vorfragen (Fn. 55/A.), BJ 76 (2003), S. 187; Jung, Richterbilder (Fn. 3/A.), S. 122 ff. 66 Vgl. zur nachfolgend dargestellten Entstehungsgeschichte neben Epineuse, a. a. O., auch: Gass, Richterethik (Fn. 5/A.), S. 133 ff. 67 O. Mallmann, Stellungnahmen des Consultative Council of European Judges (CCJE) zu aktuellen Themen – insbesondere zur Qualität von Gerichtsentscheidungen, in: BDVR-Rundschreiben 04/2009, S. 138, unter Hinweis auf Art. 6 EMRK. 68 Strecker, Ethik (Fn. 59/A.), BJ 2004, S. 378. 69 Baltzer, Das Gespenst „richterliche Ethik“, in: KritV 2008, S. 482; Eckertz-Höfer, Guter Richter (Fn. 119/A.), S. 30; vgl. auch: www.coe.int/t/dghl/cooperation/ccje/pre sentation/ccje_en.asp Stand: 07.10.2015. 70 Vgl. O. Mallmann, Stellungnahmen des CCJE zu aktuellen Themen, in: Sächsisches Staatsministerium der Justiz und für Europa (Hrsg.), Impulse für eine moderne und leistungsstarke Justiz – Dokumentation Symposium Justizlehre Dresden 2009, 65
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den Plenum des CCJE entschieden. Sie beruhen auf schriftlichen Berichten der Delegierten, die – auf der Basis eines vom Plenum erstellten „questionaire“ – bezogen auf das jeweilige Thema die Situation in den Mitgliedstaaten darstellen71. Außerdem gehen Gutachten von unabhängigen Sachverständigen in die Beratung und Beschlussfassung ein. Der dem Plenum vorzulegende Entwurf wird in Arbeitsgruppen vorbereitet72. Daneben wird der CCJE auf Bitten aus den Mitgliedstaaten bei justiziellen Konflikten und Problemen tätig. Der CCJE hat im November 2002 nach zwei Treffen und einer Plenarsitzung eine schriftliche Stellungnahme für den Ministerrat des Europarats zur richterlichen Ethik ausgearbeitet. Nahezu alle Mitgliedsländer des Europarats waren durch einen nationalen Richter vertreten, so dass dieses Dokument auch die Ansicht der europäischen Richter zu dieser Frage zusammenfasst. Der CCJE fertigte diese Stellungnahme auf der Grundlage eines von den Mitgliedstaaten beantworteten Fragebogens und von Beiträgen, die von einer Arbeitsgruppe der CCJE und den Spezialisten des CCJE auf diesem Gebiet, den Franzosen Salas und Epineuse, erstellt wurden. Dabei wurden die Erklärung Nr. 1 (2001) des CCJE über die Unabhängigkeit, die Unversetzbarkeit und Unabsetzbarkeit der Richter, die Grundsätze zur Unabhängigkeit der Richterschaft der Vereinten Nationen von 1985, die Empfehlung Nr. R (94) 12 des Ministerrates des Europarats über die Stuttgart (u. a.), 2009, S. 41 ff. Im Einzelnen: Op. No. 1: Vorschriften zur Unabhängigkeit und Unabsetzbarkeit von Richtern (2001); Op. No. 2: Finanzierung und Geschäftsführung der Gerichte (2001); Op. Nr. 3 Grundsätze und Regeln für das berufliche Verhalten von Richtern, insbesondere richterliche Ethik, unvereinbares Verhalten und Unparteilichkeit (2002); Op. No 4: Aus- und Fortbildung von Richtern (2003); Op. No. 5: Recht und Praxis der Ernennung von Richtern für den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (2003); Op. No. 6: Faires Verfahren innerhalb angemessener Frist und die Rolle der Richter im Verfahren unter Berücksichtigung der alternativen Formen der Streitbeilegung (2004); Op. No. 7: Justiz und Gesellschaft (2005); Op. No 8 über die Rolle der Richter beim Schutz der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte im Kontext des Terrorismus, 2006; Op. No. 9: Die Rolle der nationalen Richter bei der Gewährleistung einer wirksamen Anwendung des Völker- und Europarechts (2006), Opinion No. 10 Justizverwaltungsrat im Dienst der Gesellschaft (2007); Op. No. 11 über die Qualität gerichtlicher Entscheidungen (2008); Op. No. 12 über das Verhältnis von Richtern und Staatsanwälten (2009); Op. No. 13 über die Rolle der Richter bei der Durchsetzung richterlicher Entscheidungen (2010); Op. No. 14 über die Justiz und Informationstechnologie (IT) (2011); Op. No. 15 über die Spezialisierung von Richtern (2012); Op. Nr. 16 über die Beziehungen zwischen Richtern und Anwälten (2013); Op. Nr. 17 über die Qualitätssicherung richterlicher Arbeit und den Respekt vor der richterlichen Unabhängigkeit (2014); Op. Nr. 18 über das Verhältnis zu den anderen Staatsgewalten (2015). Neben der hier besprochenen Opinion alle verfügbar über: www.coe.int/ t/dghl/cooperation/ccje/textes/Avis_en.asp, Stand: 09.02.2016. 71 Für den europäischen Standard richterlicher Ethik: Andorra, Aserbeidschan, Belgien, Deutschland, Estland, Finnland, Frankreich, Island, Irland, Italien, Japan, Lichtenstein, Litauen, Luxemburg, Malta, Moldau, Niederlande, Norwegen, Polen, Portugal, Rumänien, Schweiz, Slowakei, Slowenien, Tschechische Republik, Türkei, Ukraine, Vereinigtes Königreich, Zypern. 72 Mallmann, Symposium (Fn. 70/C.), S. 42.
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Unabhängigkeit, Wirksamkeit und Rolle der Richter von 1994 und die Europäische Charta über die Rechtsstellung der Richter von 1998 berücksichtigt. Die Stellungnahme knüpft inhaltlich im Wesentlichen an die kontinentaleuropäische Richtertradition an und beantwortet drei – ausdrücklich so gestellte – Fragen: Welche Verhaltensstandards sollten für Richter gelten? Wie sollten Verhaltensstandards formuliert werden? Welche Art strafrechtlicher, zivilrechtlicher und disziplinarrechtlicher Verantwortlichkeit sollte für Richter gelten? Zu den richterlichen Verhaltensstandards wird in der Stellungnahme einleitend festgestellt, dass die richterlichen Befugnisse eng mit Werten wie Gerechtigkeit, Wahrheit und Freiheit verbunden seien. Die Verhaltensstandards, die für Richter gelten sollten, seien die logische Konsequenz dieser Werte und eine Vorbedingung des Vertrauens in die Rechtsprechung. Rechtsuchende dürften in einem Rechtsstaat ein faires Verfahren und die Garantie grundlegender Rechte erwarten. Die den Richtern anvertraute Gewalt müsse nicht nur dem nationalen Recht unterliegen, sondern auch den Grundsätzen des internationalen Rechtes und der Gerechtigkeit. Die Europäische Menschenrechtskonvention lege außerdem die Grundsätze fest, auf die sich die Pflichten des Richters gründeten: nämlich die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Richter. Aus diesen Prinzipien seien für das Verhalten des Richters einzelne Pflichten abzuleiten: Das Verhalten der Richter bei ihrer beruflichen Tätigkeit werde von den Rechtsuchenden verständlicherweise als wesentlich für die Glaubwürdigkeit der Gerichte angesehen. Richter sollten daher ihre Pflichten ohne jede Art von Begünstigung, Offenbarung von Vorurteilen oder Voreingenommenheit erfüllen. Sie sollten bei ihren Entscheidungen nichts berücksichtigen, was außerhalb der Anwendung der geltenden Rechtsvorschriften liegt. Solange sie mit einem bestimmten Fall beschäftigt seien oder sein könnten, sollten sie keine Stellungnahmen abgeben, die zu der Annahme einer Voreingenommenheit bei der Lösung des Rechtstreits führen oder die Fairness des Prozesses beeinflussen könnten. Sie sollten auf alle Personen (zum Beispiel Parteien, Zeugen, Anwälte) Rücksicht nehmen, ohne Differenzierungen, die auf ungesetzlichen Gründen basierten oder keinen Bezug zu der ordnungsgemäßen Ausübung ihrer Pflichten aufwiesen. Sie sollten sicherstellen, dass ihre berufliche Kompetenz in der Ausübung ihrer Pflichten deutlich werde. Richter sollten darüber hinaus ihr Amt mit der gebührenden Rücksicht auf den Grundsatz der Gleichbehandlung der Parteien ausüben und dabei jegliche Art von Voreingenommenheit und Diskriminierung vermeiden. Sie sollten sicherstellen, dass sie durch Aus- und Fortbildung die nötige Qualifikation und einen hohen Grad an beruflicher Kompetenz wahrten. Richter sollten ihr Amt auch mit Sorgfalt und angemessener Zügigkeit ausüben. Dafür sei selbstverständlich notwendig, dass sie mit den nötigen Einrichtungen, Ausrüstung ausgestattet werden und Unterstützung erhielten. Im Hinblick auf ihre außerberufliche Betätigung sollten Richter in dem gesellschaftlichen Umfeld, in dem sie lebten, nicht isoliert sein. Denn das Rechtssys-
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tem könne nur dann vernünftig funktionieren, wenn die Richter mit der Wirklichkeit in Berührung stünden. Außerdem genössen Richter als Staatsbürger die grundlegenden Rechte und Freiheiten, die vor allem von der Europäischen Menschenrechtskonvention geschützt seien. Es sollte ihnen daher generell frei stehen, außerberufliche Tätigkeiten ihrer Wahl auszuüben. Richter sollten jedoch ein „achtbares“ Privatleben führen. Wegen der kulturellen Vielfalt der Mitgliedstaaten des Europarates und der ständigen Weiterentwicklung moralischer Werte könnten die Verhaltensstandards für Richter in ihrem Privatleben jedoch nicht mit höchster Präzision festgelegt werden. Der CCJE unterstützt die Einrichtung eines oder mehrerer Organe oder Personen innerhalb der Richterschaft mit konsultativer und beratender Funktion, die den Richtern zur Verfügung stehen, wenn diese unsicher seien, ob eine bestimmte Aktivität in ihrer Privatsphäre mit ihrem Richterstatus vereinbar sei. Sie sollten aber in jedem Fall mit einer anderen Zielsetzung und getrennt von bereits existierenden, für disziplinarrechtliche Sanktionen zuständigen Organen tätig sein. Richter sollten Zurückhaltung bei öffentlichen politischen Aktivitäten üben. Zwar sollte die Teilnahme von Richtern an öffentlichen Debatten, insbesondere zur nationalen Rechtspolitik, erlaubt sein. Richter müssten aber von solchen politischen Aktivitäten Abstand nehmen, die ihre Unabhängigkeit beeinträchtigen oder den Anschein der Parteilichkeit erwecken könnten. Sie sollten konsultiert werden und aktiv an der Vorbereitung derjenigen Rechtsvorschriften teilnehmen können, die ihren Status und ganz allgemein die Arbeitsweise der Justiz betreffen. Der Wahrung der Unabhängigkeit stehe zwar nicht entgegen, dass ein Richter Funktionen in einer Verwaltungsabteilung eines Ministeriums ausübe; dies werde jedoch schwierig im Hinblick auf den Eintritt eines Richters in ein Ministerbüro. Nebentätigkeiten, die Richter von ihrer richterlichen Verantwortung ablenkten oder bewirken könnten, dass sie diese Verantwortlichkeiten parteiisch ausübten, müssten unterbleiben. Es sei notwendig, dass Richter den Großteil ihrer Arbeitszeit ihrer Rolle als Richter widmeten und dass sie nicht versucht seien, außerdienstlichen Aktivitäten übertriebene Aufmerksamkeit zu schenken. Richter müssten Umsicht in ihren Verbindungen mit der Presse oder sonstige Medien walten lassen und ihre Unabhängigkeit und Unparteilichkeit bewahren, indem sie von jeglicher persönlicher Ausnutzung der Verbindungen mit Journalisten und jeglicher Art von ungerechtfertigten Bemerkungen über die Fälle, an denen sie arbeiten, Abstand nehmen. Richter müssten vielmehr durch eindeutig begründete Entscheidungen den Informationserwartungen der Bürger nachkommen. Richter sollten auch die Freiheit haben, eine Erklärung vorzubereiten, in der die Bedeutung ihres Urteils für die Öffentlichkeit erörtert werde. Bei der Antwort auf die zweite Frage, nämlich wie Verhaltensstandards formuliert werden sollten, erörtert der CCJE unter Auseinandersetzung mit bestehen-
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den Kodizes in einigen Mitgliedstaaten zunächst die Vor- und Nachteile von Kodizes. Sie – so der Rat – könnten zwar dazu beitragen, Fragen im Bereich der beruflichen Ethik zu klären, indem sie den Richtern Autonomie im Entscheidungsprozess und die Unabhängigkeit von anderen Behörden garantierten. Zweitens informierten sie die Öffentlichkeit über diejenigen Verhaltensstandards, die sie von den Richtern berechtigterweise verlangen könnten. Drittens könnten sie dabei helfen, der Öffentlichkeit zu versichern, dass die Justiz unabhängig und unparteiisch sei. Ein Verhaltenskodex schaffe aber auch eine Vielzahl von Problemen. Zum Beispiel könne der Eindruck erweckt werden, dass er alle Regeln enthalte, und dass alles erlaubt sein müsse, was nicht verboten sei. Er neige dazu, Situationen übermäßig zu vereinfachen, und er erwecke den Eindruck, dass Verhaltensstandards für einen bestimmten Zeitabschnitt festgelegt seien, wobei diese sich tatsächlich ständig fortentwickelten. Der CCJE schlägt daher vor, dass – anstatt eines Kodexes – besser eine „Erklärung der beruflichen Verhaltensstandards“ entworfen und von einer solchen gesprochen werden solle. Unabhängigkeit und Unparteilichkeit könnten nicht allein durch Verhaltensprinzipien geschützt werden. Berufliche Verhaltensstandards unterschieden sich überdies von gesetzlichen und disziplinarrechtlichen Vorschriften. In formulierten Verhaltensprinzipien drücke sich die Fähigkeit des Berufszweiges aus, seine Tätigkeiten in Werten widerzuspiegeln, was der ihm übertragenen Gewalt und der öffentlichen Erwartung entspreche. Es seien selbstregulierende Standards anzustreben, welche die Erkenntnis beinhalteten, dass die Rechtsanwendung keine mechanische Routine sei, dass sie echte Entscheidungsgewalt verleihe, und dass sie die Richter in ein System von Verantwortung vor sich selbst und vor den Bürgern einbinde. Um die richterliche Unabhängigkeit mit dem nötigen Schutz zu versehen, müsse sich jede Stellungnahme über berufliche Verhaltensstandards auf zwei grundlegende Prinzipien stützen: Erstens sollten sie nur die Grundprinzipien des beruflichen Verhaltens angeben. Sie sollte die generelle Unmöglichkeit anerkennen, vollständige Aufstellungen aller Pflichten zu entwerfen. Die Verhaltensprinzipien sollten von den disziplinarrechtlichen Vorschriften für Richter getrennt bleiben. Die Nichtbeachtung eines der Prinzipien solle nicht von selbst einen disziplinar-, zivil- oder strafrechtlichen Verstoß begründen. Zweitens sollten berufliche Verhaltensregeln von den Richtern selbst entworfen werden. Zur Implementierung beruflichen Verhaltensstandards könnten richterliche Gremien zur Entwicklung ethischen Denkens beitragen; ihre Ansichten könnten in ihren jährlichen Berichten zum Ausdruck kommen. Ein oberster Richterrat könnte durch seine Entscheidungen, soweit sie sich mit disziplinarrechtlichen Prozessen beschäftigten, die Pflichten und Verpflichtungen der Richter näher erläutern73. Gruppen auf höheren Ebenen, zusammengesetzt aus Vertretern ver73 In der Opinion No. 10 „Justizverwaltungsrat im Dienst der Gesellschaft“ von 2007 werden insoweit unterschiedliche Wege vorgeschlagen (Nr. 60): www.coe.int/View
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schiedener Interessen aus der Justizverwaltung, könnten eingerichtet werden um ethische Fragen zu diskutieren, und ihre Ergebnisse könnten veröffentlicht werden. Berufliche Vereinigungen sollten Foren für die Debatte der richterlichen Verantwortlichkeiten und Deontologie (Pflichtenlehre) sein. Sie sollten für eine weite Verbreitung der Verhaltensregeln innerhalb der Richterkreise sorgen. Der dritte Teil der Stellungnahme befasst sich mit der straf-, zivil- und disziplinarrechtlichen Verantwortlichkeit von Richtern. Da mit den gesetzlich definierten und sanktionierten Richterpflichten auch die Grenze zu den berufsmoralischen Pflichten gezogen ist, hätte dieser Teil an sich in der Stellungnahme nicht enthalten sein müssen74. Er spricht einzelne Berufspflichten an, deren Verletzung keine sozialen, sondern rechtliche Folgen nach sich ziehen. Insgesamt zeigt dieses Kapitel so die Grenzen der Berufsmoral zum Recht auf. Die logische Folge der Befugnisse und des Vertrauens, welche rechtlich auf die Richter übertragen würden, sei, dass Richter auch mit Hilfe rechtlicher Mittel verantwortlich gemacht oder sogar aus dem Amt entfernt werden sollten, wenn hinreichend schweres Fehlverhalten dies rechtfertige. Bei der Anerkennung solcher Verantwortlichkeit sei allerdings Vorsicht angebracht, denn die richterliche Unabhängigkeit sei gegen jeden unangemessenen Druck zu schützen. Allerdings könnten auch Richter, die bei der Ausübung ihres Amtes Verbrechen begehen (z. B. die Annahme von Bestechungsgeldern), hierfür keinen Schutz vor normaler und nicht schikanöser strafrechtlicher Verfolgung verlangen. Bei der zivilrechtlichen Verantwortlichkeit sollte Grundsatz sein, dass Richter von unmittelbar gegen sie gerichteten Ansprüchen frei gestellt würden, wenn sich die Fehler bei einer „gutgläubigen Amtsausübung“ ergäben. Rechtsanwendungsfehlern sollte mit Rechtmitteln begegnet werden. Bei anderem richterlichen Fehlverhalten, das auf diese Weise nicht korrigiert werden könne, sollte dem unzufriedenen Rechtsuchenden ein Schadensersatzanspruch gegen den Staat eingeräumt werden. Alle Rechtssysteme benötigten schließlich ein gesetzlich geregeltes und streng formalisiertes Disziplinarsystem. Es sollte von der Sanktion von berufsmoralischen Verfehlungen getrennt bleiben75. Um disziplinarrechtliche Verfahren zu rechtfertigen, müsse das gesetzlich bestimmte Fehlverhalten schwerwiegend und augenfällig sein. Die Sanktionen für Fehlverhalten, die verhängt werden könnten, müssten gesetzlich festgelegt sein, dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz unterliegen und von einem richterlichen Organ kontrolliert werden.
Doc.jsp?Ref=CCJE(2007)OP10&Language=lanGerman&Ver=original&Site=COE& BackColorInternet=FEF2E0&BackColorIntranet=FEF2E0&BackColorLogged=c3c3c3, Stand: 08.10.2015. 74 Jung, Richterbilder (Fn. 3/A.), S. 123 weist zu Recht darauf hin, dass dieser Teil eigentlich nicht Gegenstand dieser Empfehlung hätte sein dürfen, weil er sich von ethischen Fragen entfernt. 75 Dies wird in der Opinion No. 10 zum „Justizverwaltungsrat im Dienst der Gesellschaft“ von 2007 nochmals betont (Nr. 57), (Fn. 73/C.).
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Die Opinion (Stellungnahme, Meinung) liegt in der „Normenhierarchie“ des Europarates unter den die Mitgliedstaaten nicht bindenden Empfehlungen. Die Mitglieder des CCJE handelten – so das deutsche Mitglied im Rat – im eigenen Namen. Dies sei Voraussetzung für eine unabhängige Meinungsbildung76. Nach der Auffassung des deutschen Delegierten, sollten die Prinzipien „den Richtern bei der Überwindung der Schwierigkeiten helfen, vor die sie im Umgang mit Unabhängigkeit und Unparteilichkeit gestellt sind.“ 77 Der Europäische Standard richterlicher Ethik des CCJE gilt als Antwort der Europäer78 auf die den Traditionen des „common law“ verhafteten Prinzipien von Bangalore zur Richterethik79. Anders als die Prinzipien von Bangalore hält sich der Standard zurück, soweit das außerdienstliche Verhalten der Richter betroffen ist. Die unbestimmten Regelungen der Prinzipien zur disziplinarischen Ahndung disziplinarwürdigen Verhaltens und zum Verhältnis von Berufsethik und Disziplinarrecht werden in den europäischen Standards klarer angesprochen und deutlicher getrennt80. Damit wird das Grundproblem richterlicher Ethik, nämlich die Trennung von Recht und Moral schärfer in den Blick genommen, und damit auf das eigentliche Differenzierungsmerkmal hingewiesen. Weiter stehen die Sicherungen der richterlichen Unabhängigkeit bei richterlichem Fehlverhalten im Vordergrund. Im Mittelpunkt der Stellungnahme zu richterlichen Verhaltensstandards steht die den Richter „anvertraute“ Gewalt und die Anknüpfung an die Grundsätze, auf die sich die Pflichten des Richters gründen: Unabhängigkeit und Unparteilichkeit. Stärker als die Prinzipien von Bangalore legen die europäischen Standards bei der Berufsmoral Wert auf Akte der Selbstverpflichtung und Selbstregulierung der Richterschaft. Selbstregulierende Standards förderten – so der Grundtenor – die Erkenntnis, dass die Rechtsanwendung keine mechanische Routine ist, dass sie Entscheidungsgewalt verleiht und dass sie die Richter in ein System von Verantwortung vor sich selbst und vor den Bürgern einbindet. Beachtenswert sind auch die Zurückhaltung und die Differenziertheit bezüglich der Forderung nach schriftlichen Verhaltenskodizes. Auch zur Formulierung und Publizierung solcher Statements wird differenziert Stellung genommen. Zu außergerichtlichen Verhaltensregeln hat sich der CCJE zurückgehalten. Ziel war die Regelung unmittelbar beruflicher Verhaltenspflichten. Sie ist von der zutreffenden Erkenntnis geleitet, diesbezügliche Regeln dürften angesichts sich entwickelnder sozialer Wertvorstellungen nicht allzu präzise sein81.
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Mallmann, Symposium (Fn. 70/C.), S. 42. Mallmann, Stellungnahmen (Fn. 61/C.), BDVR-Rundschreiben 2009, S. 139. 78 Krix, Weltweit (Fn. 22/C.), DRiZ 2003, S. 149; Titz, Ausland (Fn. 290/B.), DRiZ 2009, S. 35. 79 Hierzu auch Krix, Weltweit (Fn. 22/C.), DRiZ 2003, S. 149 ff. 80 Mallmann, Stellungnahmen (Fn. 61/C.), BDVR-Rundschreiben 2009, S. 139. 81 Mallmann, Symposium (Fn. 70/C.), S. 47. 77
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Der Europäische Standard richterlicher Ethik hat zur Intensivierung der Diskussion der richterlichen Ethik in Deutschland beigetragen82. Gerade die Erkenntnis, dass – anders als in Deutschland – in zahlreichen europäischen Staaten im Einzelnen unterschiedliche Ethik-Kodizes bestehen und nach 2002 formuliert wurden, hat die Richterverbände, aber auch regionale Initiativen von Richtern veranlasst, sich des Themas anzunehmen. Seit dieser Zeit wird die noch nicht abgeschlossene Diskussion geführt, ob auch in Deutschland ein Verhaltenskodex bzw. eine Sammlung von richterlichen Verhaltensstandards formuliert werden soll. Auf europäischer Ebene werden die Erfahrungen mit dem Europäischen Standard von einer Beobachtungsgruppe (observatoire) mit Sitz in Paris gesammelt. Insbesondere geht es ihr um die Sammlung von Beeinträchtigungen der richterlichen Unabhängigkeit83. dd) Empfehlung CM/Rec (2010)12 des Ministerrats des Europarates Der Ministerrat des Europarats hat im November 2010 die Empfehlung Nr. R (94)12 überarbeitet. Sie soll künftig als Magna Charta der europäischen Richter ihre Wirkung in den Mitgliedstaaten des Europarates entfalten. Die in acht Kapitel gegliederte Empfehlung84 bewegt sich in den ersten drei Kapiteln im Wesentlichen in den Bahnen der Empfehlung Nr. R (94)12. Nach allgemeinen Aspekten (Kapitel I) wird die institutionelle Sicherung der äußeren (Kapitel II) und der inneren Unabhängigkeit (Kapitel III) näher beschrieben. Ähnliches gilt für das Kapitel V, in dem ein Zusammenhang zwischen Unabhängigkeit, Effizienz und staatlichen Ressourcen hergestellt wird sowie für Kapitel VI zum Status der Richter. Insgesamt sind die Ausführungen gegenüber der Empfehlung Nr. R (94)12 allerdings differenzierter und detaillierter. Für Deutschland bedeutsam werden in Kapitel IV als Instrument der Sicherung der richterlichen Unabhängigkeit die obersten Richterräte angesprochen und deren unabdingbare institutionelle Rahmenbedingungen festgelegt, insbesondere die Zusammensetzung und die Arbeitsweise. Die richterlichen Verhaltenspflichten sowie die rechtliche und disziplinarische Verantwortlichkeit der Richter werden in Kapitel VII beschrieben, ohne dass diese wesentlich von der früheren Empfehlung abweichen. Allerdings wird nun eine zivilrechtliche Haftung für grobe Fahrlässigkeit nicht mehr ausgeschlossen. Im Kapitel VIII wird erstmals in einer Empfehlung des Ministerrates die „Ethik der Richter“ angesprochen. Danach sollten die Richter in ihrer Tätigkeit 82
Eckertz-Höfer, Guter Richter (Fn. 119/A.), S. 31. R. Huhs, Bericht aus der Arbeitsgruppe V – Der „gesittete Richter“ – Keine Ethik ohne Kodifikation, 30. Richterratschlag, in: BJ 2004, S. 412. 84 Englischer Text in BDVR-Rundschreiben 2011, 31 ff. www.coe.int/t/dghl/stan dardsetting/cdcj/CDCJ%20Recommendations/CMRec%282010%2912E_%20judges. pdf, Stand: 08.10.2015. 83
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von ethischen Grundsätzen des beruflichen Verhaltens geleitet werden. Diese Grundsätze umfassten nicht nur Pflichten, die durch Disziplinarmaßnahmen geahndet werden könnten, sondern sie böten – nach der Empfehlung – den Richtern eine Anleitung, wie sie sich zu verhalten hätten. Diese Grundsätze sollten in Kodizes richterlicher Ethik festgelegt werden, die das öffentliche Vertrauen in die Justiz und in die Richter und stärken sollten. Die Richter sollten eine führende Rolle bei der Entwicklung eines solchen Kodex spielen. Ihnen sollte ermöglicht werden, einen ethischen Ratschlag von einer Einrichtung der Justiz zu erhalten. Die Empfehlung CM/Rec (2010)12 stellt damit erstmals auf der Ebene des Ministerrats des Europarates die Beachtung richterlicher Verhaltenspflichten direkt neben die institutionellen und strukturellen Sicherungen der richterlichen Unabhängigkeit. Damit greift der Europarat die weltweit, aber auch die durch den CCJE im Rahmen des Europarats geführte Diskussion zur Richterethik auf. Allerdings geht er hinter die Europäischen Standards richterlicher Ethik der CCJE wieder zurück. So fehlt die – dort vorhandene – strikte Abgrenzung zwischen Disziplinarrecht und Berufsethik. Auch die differenzierte Beurteilung von richterethischen Kodizes geht verloren. So sollen nach der Empfehlung Kodizes formuliert werden, bei deren Erstellung Richter eine führende Rolle haben sollten, während der CCJE eher auf Formen der Selbstverpflichtung der Richter selbst und nicht auf Kodizes, sondern auf bloße Sammlungen von richterlichen Verhaltensstandards abgestellt hat. Die Empfehlung wird für Deutschland jedenfalls weiteren Druck erzeugen, einen Ethikkodex für Richter zu erstellen. ee) London Declaration on Judicial Ethics Das European Network of Councils for the Judiciary (ENCJ), das 2004 in Rom gegründet wurde, vereinigt die nationalen Institutionen in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union, die unabhängig von der Exekutive und Legislative für die Unterstützung und Verwaltung der Justiz verantwortlich sind, also die „obersten Richterräte“. Nachdem eine solche Einrichtung in Deutschland – wie etwa in Italien, Frankreich und Spanien – nicht existiert, ist Deutschland kein Mitglied in diesem Netzwerk. Das Bundesministerium für Justiz hat nur einen Beobachterstatus. Ziel der Vereinigung ist es, die Zusammenarbeit und ein gutes gegenseitiges Verständnis unter den Räten für das Justizwesen und den Mitgliedern der Justiz der Europäischen Union in den Mitgliedstaaten und zu den Beitrittskandidaten zu verbessern. Das ENCJ arbeitet in verschiedenen Projekten Anleitungen für seine Mitglieder aus, sammelt dabei die unterschiedlichen Traditionen der Mitgliedstaaten und versucht sie in einen gemeineuropäischen Rahmen zu stellen. Im Rahmen des Themenkomplexes „Richterstatus“ beschäftigte sich der ENCJ auch mit richterlicher Ethik. Hieraus entstand eine Sammlung ethischer Prinzipien. Die ethischen Prinzipien des ENCJ wurden nach zweijähriger Arbeit einer Arbeitsgruppe in Übereinstimmung mit der Entscheidung der Generalversamm-
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lung, die im Juni 2007 in Brüssel stattfand, verfasst. Die Generalversammlung des ENCJ hat sie 2010 als London Declaration on Judicial Ethics verabschiedet85. In einer Einführung wird kurz der Zweck der Erklärung beschrieben: Sie stärke das öffentliche Vertrauen und erlaube ein besseres Verständnis der Rolle des Richters in der Gesellschaft. Weil sich das traditionelle Verständnis des Richters, nämlich dass er das Recht anzuwenden oder Konflikte durch Gesetzesanwendung zu lösen habe, verändert habe und der Richter zu einem das Recht Schaffenden geworden sei, müsse ein transparentes System von Verantwortung und berufsethischen Standards bestehen. Es sei ein Ausgleich zwischen der richterlichen Unabhängigkeit, dem Streben nach Transparenz und der Pressefreiheit zu finden. Die Pflichten eines Richters seien positiv zu beschreiben: nämlich als grundlegende gemeinsame Werte und Prinzipien der richterlichen Berufsausübung, aber auch als Antworten auf öffentliche Erwartungen. Diese Werte seien Unabhängigkeit, Unparteilichkeit, Integrität, Sorgfalt, Respekt, Zurückhaltung und Diskretion, Gleichbehandlung, Kompetenz und Transparenz. Daneben stünden persönliche Tugenden bzw. Qualifikationen der Richter diese Werte umzusetzen, nämlich Mut, Weisheit, Menschlichkeit, die Fähigkeit zuzuhören und das Bewusstsein, dass ihr privates Leben und ihr Verhalten in der Gesellschaft Einfluss auf das Bild der Justiz und das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Justiz haben. Ausgehend von der Frage „Was erwarten die Gesellschaft und ihre Bürger von einer Richterin/einem Richter?“ werden in einem ersten Teil die ethischen Prinzipien bzw. Werte formuliert und in Pflichten des Tuns oder Unterlassens konkretisiert: Die gelebte Unabhängigkeit der Richter sei das Recht jedes Bürgers in einer demokratischen Gesellschaft. Die Judikative müsse von der Legislative und Exekutive nicht nur unabhängig sein, sondern auch so wahrgenommen werden. Sie habe das Gesetz im vorgesehenen Verfahren anzuwenden, ohne dass der Richter sich in welcher Form auch immer beeinflussen lasse, seien es Exekutive oder Legislative, politische, hierarchische, wirtschaftliche Macht, die Macht der Medien oder der öffentlichen Meinung. Ein Richter müsse auch im Verhältnis zu seinen Kollegen unabhängig zu bleiben. Der Richter müsse seine Rolle im Interesse der Justiz und der Gesellschaft mit Integrität, Würde und ehrenvoll ausüben. Dies gelte für sein berufliches wie für sein privates Leben gleichermaßen. Aus diesem Prinzip könnten zwei Pflichten abgeleitet werden: die Pflicht zu amtsangemessenem Verhalten und zur Integrität. Dem Amt angemessen sei es, sich als Richter über die Grenzen des strafrecht85 Text: engl. und franz. www.encj.eu/index.php?option=com_content&view=catego ry&layout=blog&id=14&Itemid=91, Stand: 08.10.2015; deutsch: www.drb.de/cms/file admin/docs/ethik_report_enjc_uebersetzung_2010.pdf, Stand: 11.02.2016.
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lich Relevanten hinaus jeglichen Benehmens zu enthalten, das seinem Ansehen abträglich sei. Er müsse unparteilich sein und seine Arbeitszeit auf seine Tätigkeit bei Gericht verwenden. Er solle die Arbeitsmittel nicht unangemessen oder missbräuchlich einsetzen. Er enthalte sich jeder unangemessenen Einflussnahme auf einen Amtswechsel, eine Ernennung oder Beförderung für sich selbst oder einen seiner Angehörigen. Ein Richter dürfe im beruflichen Zusammenhang keine Geschenke oder Vorteile annehmen. Der Richter beachte die Würde derer, die vor ihm auftreten. Höflichkeit und intellektuelle Aufrichtigkeit beherrschten seine Kontakte mit allen Berufsträgern innerhalb des justiziellen Systems, mit dem Servicebereich, den Rechtspflegern, Anwälten, Bürgern und der Presse. Respekt für die Rechte der Parteien und Beteiligten leite seine Handlungen. Die Unparteilichkeit werde durch die Garantie des Vorrangs der richterlichen Entscheidung sichergestellt, die nur von einem höheren Gericht abgeändert werden könne. Zusammen mit der richterlichen Unabhängigkeit sei Unparteilichkeit eine Komponente des fairen Verfahrens. Der Richter könne und müsse am Leben in der Gesellschaft teilhaben, um seine berufliche Tätigkeit ausüben zu können. Unparteilichkeit des Richters bedeute Rechtsfindung und Rechtsprechung ohne Vorurteil oder vorgefertigte Meinung. Er solle sich selbst ablehnen in Fällen, in denen er aus Sicht eines objektiven Beobachters den Fall nicht unparteilich beurteilen könne. Die Pflichten zur Zurückhaltung und Diskretion böten einen Ausgleich zwischen den Rechten des Richters als Bürger und den diesbezüglichen Beschränkungen, die sich aus seinem Amt ergäben. So habe der Richter zwar wie jeder Bürger das Recht auf seine politische Meinung. Er müsse aber sicherstellen, dass der Einzelne Vertrauen in die Rechtsprechung haben könne. Zurückhaltung gelte auch im Umgang mit den Medien. Er solle seine Entscheidungen nicht kommentieren, auch wenn die Medien oder die Literatur daran Kritik übten. Andererseits dürfe sich ein Richter nicht in einen Elfenbeinturm zurückziehen. Auch wenn er nicht über Fälle sprechen könne, sei der Richter dennoch dazu berufen, Gesetze und ihre Bedeutung zu erläutern. Er habe insoweit eine erzieherische Funktion zur Aufrechterhaltung des Rechts. Ausnahmen von der Zurückhaltung gelten, wenn die demokratischen Grundprinzipien und fundamentalen Freiheiten in schwerer Gefahr seien. Im privaten Bereich dürfe der Richter seine Macht nicht gegenüber Dritten ausspielen. Er dürfe nicht den Eindruck hervorrufen, die rechtlichen Möglichkeiten, die ihm sein Amt verliehen, persönlich zu besitzen. Angemessene Sorgfalt beim Schutz des Rechts sei unabdingbar, um das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Justiz zu erhalten und zu steigern. Das bedeute, dass die Fälle rechtzeitig innerhalb einer dem Fall angemessenen Frist und mit der erforderlichen Qualität bearbeitet würden. Zu den Faktoren, die die Schnelligkeit beeinflussten, gehöre auch die Einstellung und Arbeit des Richters. Er müsse schnellstmöglichen Rechtsschutz ohne
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Qualitätsverlust in der Entscheidung gewährleisten. Er solle sich daher regelmäßig und dauerhaft fortbilden, um Verfahrensverzögerungen durch unprofessionelle Herangehensweise an einen Fall aufgrund mangelhafter Kenntnisse zu verhindern. Den Parteien und sich selbst müsse er angemessene Fristen setzen. In Ausübung seines Amtes müsse der Richter die Personen, Prinzipien und Institutionen respektieren und den Beteiligten rechtliches Gehör gewähren. Er habe sich der Rolle und der Würde der Betroffenen im gerichtlichen Verfahren mit angemessener Umsicht zu nähern, den Anderen Aufmerksamkeit zu schenken und ihre Überlegungen zu würdigen. Gleichbehandlung verlange vom Richter, jedem das zu geben, worauf er ein Recht habe, sowohl im Verfahren selbst als auch im Ergebnis jedes Falls. Die Öffentlichkeit könne einen kompetenten Richter mit breitem Fachwissen erwarten. Der Richter müsse sich an neue rechtliche Entwicklungen schnell anpassen und seine beruflichen Kenntnisse anwenden. Der Richter müsse aber auch soziale und kommunikative Kompetenz zeigen, er müsse wissen, wie er mit Menschen umgehe, er müsse Überzeugungskraft und die Fähigkeit zur Konfliktlösung besitzen. Der Richter müsse persönliche Kompetenz besitzen, um unabhängig und selbstdiszipliniert zu arbeiten und zu entscheiden, wobei er Stress und Frustrationserlebnisse zu überwinden habe. Die Justiz müsse sich auch der Forderung nach Transparenz stellen. Informationen über das Funktionieren der Justiz und die Anwesenheit der Öffentlichkeit bei der Rechtsprechung in den Grenzen des rechtlich Zulässigen trügen zur sozialen Akzeptanz der Justiz bei. Im Umgang mit den Medien müsse die institutionelle Information überwiegen, während die Information über Einzelfälle nur im rechtlichen Rahmen öffentlicher Anhörungen und Entscheidungen gegeben werden könnten. Im zweiten Teil formuliert die Londoner Erklärung Qualitäten oder Tugenden eines Richters auf der Grundlage rechtsphilosophischer Überlegungen zum „idealen Richter“. Der Richter müsse danach nicht nur die zuvor beschriebenen Pflichten erfüllen, sondern auch seine Aufgabe „mit Weisheit, Aufrichtigkeit, Menschlichkeit, Mut, Ernsthaftigkeit und Umsicht“ erfüllen. Dies heißt im Einzelnen: Weisheit solle er durch seine Kenntnisse des Lebens, des Rechts und durch sein vernünftiges, faires und umsichtiges Verhalten zeigen. Jeglichen Exzess und alle Extravaganzen solle er vermeiden. Bei der Anwendung des Rechts solle er kreativ sein. Ein Richter müsse loyal sein gegenüber der Verfassung des jeweiligen Staates, auf die darin verkörperte freiheitlich-demokratische Grundordnung, auf die demokratischen staatlichen Institutionen, auf die Grundrechte, auf das Gesetz und das rechtlich geordnete Verfahren, schließlich auch auf die organisatorischen Regeln des Justizsystems. Das Verständnis eines Richters von Menschlichkeit zeige sich in seinem Respekt gegenüber Personen und ihrer Menschenwürde in
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allen Bereichen seines Lebens, seinen Tätigkeiten im Zusammenhang mit der Rechtsprechung und Rechtsfindung. Sein Verhalten müsse auf dem Respekt gegenüber Menschen unter Berücksichtigung ihres körperlichen, kulturellen, intellektuellen und sozialen Status, ihrer Rasse und ihres Geschlechts fußen. Er müsse in seiner Herangehensweise an Tatsachen und Entscheidungen einen Mittelweg zwischen Empathie, Mitleid, Freundlichkeit, Disziplin und Ernst finden, damit seine Rechtsanwendung als legitim und gerecht wahrgenommen werde. Ein Richter müsse mutig sein, um seine richterliche Funktion ausüben zu können und denen gerecht zu werden, die Gerechtigkeit suchen. Dieser Mut müsse einschließen, dass der Richter unpopuläre, einsame Entscheidungen treffen könne. Diese Tugend müsse ausgewogen mit anderen Qualitäten wie Augenmaß, Umsicht, Bescheidenheit und Loyalität ausgeübt werden. Die Quintessenz von Professionalität und Umsicht eines Richters bestehe in einem angemessenen Verhalten, indem er eine wohlüberlegte Entscheidung auf alle Fragen treffe, über die er nach dem Vortrag der Parteien innerhalb seiner Zuständigkeit zu entscheiden habe. Ernsthaftigkeit bedeutet, sich während des Gerichtsverfahrens Respekt einflößend zu verhalten, höflich zu sein ohne übertriebenen Ernst, aber auch ohne unangemessenen Humor. Die Bereitschaft hart zu arbeiten sei eine der Grundvoraussetzungen für die richterliche Dienstausübung. Man könne keine richterliche Kompetenz ohne ständige intellektuelle Bemühungen erreichen. Die Fähigkeit zuzuhören bedeute, sich jeder Vorverurteilung und jedem Vorurteil zu enthalten. Diese Qualität setze nicht nur geistige Aufgeschlossenheit und Zuwendung zum Fall voraus, sondern auch die Fähigkeit, sich selbst in Frage zu stellen. Diese Art des Zuhörens müsse neutral und distanziert, ohne herablassend oder verächtlich zu sein, menschlich, aber objektiv sein. Ein Richter müsse daneben auch kommunizieren können. Vom Richter werde erwartet, dass er sich maßvoll und respektvoll ausdrücke, ohne Diskriminierung eines Gegenübers. Er verwendet keine mehrdeutigen, despektierlichen, herablassenden, ironischen, erniedrigenden oder verletzenden Ausdrücke. Die Londoner Erklärung ist zum einen als eine Handreichung an die Mitglieder des ENCJ gedacht. Über die obersten Richterräte sollen sie auf die jeweilige nationale Diskussion zu berufsethischen Fragestellungen Einfluss nehmen. Sie ist rechtlich nicht bindend, sondern ein Diskussionsbeitrag, der aber aufgrund des institutionellen und übergreifenden Rahmens in dem er entstanden ist, keinen geringen moralischen und klärenden Beitrag leisten wird. Die Erklärung zeichnet sich dadurch aus, dass sie weder übermäßig moralisierend noch theoretisierend ist. Sie ist durch eine differenzierte Betrachtung der Grundwerte, durch ihre sprachliche Prägnanz und ihre große Lebensnähe geprägt. Sie formuliert dabei unmittelbar einsichtige Verhaltensstandards. Als Gewinn für die Diskussion kann auch die Unterscheidung zwischen Werten/Prinzipien und Tugenden/Qualitäten des Richters bezeichnet werden. Während erste die ideelle und theoretische Basis
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für eine Richterethik bieten, bezeichnen zweite die in der Person des Richters liegenden, notwendigen Voraussetzungen, um die Werte in der Praxis handhabbar zu machen und sie umsetzen zu können. Der zweite Aspekt ist in den bisherigen Richterkodizes insgesamt eher zu kurz gekommen oder zu undifferenziert behandelt worden. Insgesamt beschreitet diese Erklärung einen Weg, der unter Beachtung der Trennung von Recht und Moral der Richterethik den ihr gebührenden Stellenwert zukommen lässt. Die Londoner Erklärung könnte damit eine Grundlage für eine auch in Deutschland akzeptierte Sammlung richterlicher (außerrechtlicher) Verhaltenspflichten sein. 2. Nationale Standards richterlichen Verhaltens und Richterkodizes Die Anzahl, Fülle und der inhaltliche Reichtum der weltweit vorhandenen Ethikkodizes für Richter, Pflichtensammlungen und Erklärungen zur richterlichen Ethik ist inzwischen kaum mehr überschaubar. Es konnte daher nicht darum gehen, alle weltweit vorliegenden Kodizes auszuwerten und zu sichten. Im Folgenden sollen nur die für die Herausbildung der Richterethik bedeutsamsten aufgezeigt werden, um hieraus Entwicklungslinien und Grundmuster abzuleiten. a) Amerika aa) USA Die Vereinigten Staaten von Amerika nehmen weltweit eine Sonderstellung bei der Entwicklung und Kodifikation richterlicher Verhaltensregeln ein86. Die Vereinigten Staaten können als Mutterland der richterlichen Ethikkodizes gelten87. Denn dort wurde bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Weg zu einer Formalisierung einer Richterethik im Wege ihrer Verschriftlichung beschritten und auf der Ebene der Bundesstaaten erste „Codes of Judicial Conduct“ formuliert. Die Gründe hierfür sind vielfältig, ergeben sich aber im Kern aus der besonderen Stellung des Richters in den USA. Bereits der Weg in das richterliche Amt ist von Gefährdungen für die Unabhängigkeit und die Unparteilichkeit geprägt, nämlich die zum Teil periodisch wiederkehrende Wahl der Richter88 bzw. die Berufung der Bundesrichter im Zusammenwirken zwischen Präsident und Senat89. 86 Gass, Richterethik (Fn. 5/A.), S. 129 ff.; Roos/Woischnik, Codigos (Fn. 21/C.), S. 22. Hierzu auch: D. Sandhaus, Richterliche Ethik, in: H. Pünder/H. Posser/J. Schröder (Hrsg.), Rechtsgestaltung im öffentlichen Recht, Liber Amicorum für D. Ehlers, München 2015, S. 477 ff. 87 Wittreck, Funktionen (Fn. 10/A.), S. 278. 88 Roos/Woischnik, Codigos (Fn. 21/C.), S. 22. 89 H. Eikenberg, Richterpersönlichkeit und Urteilsfindung, Zur empirischen Erforschung richterlicher Entscheidungsgrundlagen unter besonderer Berücksichtigung amerikanischer Untersuchungen, Saarbrücken 1971, S. 39 f.
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Die Rechtsanwendung ist geprägt von einer – nicht immer sicheren und erheblichen Spielraum eröffnenden – Orientierung an Präjudizien90. Hinzu kommt, dass es kaum disziplinarische Regelungen bzw. kein ausgestaltetes Richterdienstrecht gibt. Besonders gewichtig dürfte aber die weitgehende prozessuale Gestaltungsmacht amerikanischer Richter sein, die eine berufsethische Flankierung erfordert. Auch das Ablehnungsrecht der Parteien, das eine rechtliche Garantie der Unparteilichkeit bietet und mäßigende Wirkung auf das richterliche Verhalten hat, ist schwächer ausgeprägt als in den kontinental-europäischen Rechtsordnungen. Es ist im Wesentlichen in die Hand des Richters selbst gelegt. Diese besondere Struktur überlässt richterliche Verhaltenssteuerung nicht dem Gesetz und seinem heteronomen Vollzug, sondern sucht die Einhegung durch ethische Vorgaben, eben dem Code of judicial conduct91. Für Richter der Bundesebene der Vereinigten Staaten wurde bereits 1924 eine erste Sammlung richterlicher Verhaltenspflichten formuliert, die „Canons of Judicial Ethics“ der American Bar Association92, einer Vereinigung von Angehörigen von Rechtsberufen, insbesondere von Anwälten. Sie enthielt bereits das Gebot strikter politischer Mäßigung und diverse Ge- und Verbote für Richter und ihr Handeln93. Diese Canons wurden unter Beachtung der Vorschläge der American Bar Association in den folgenden Jahrzehnten weiter modifiziert und auch in den Bundesstaaten eingeführt. Dieser zunächst als bloße Erklärung von Prinzipien guten Verhaltens etablierte Kanon hat sich in den Einzelstaaten und auf der Bundesebene langsam zu einem richterlichen Verhaltenskodex weiterentwickelt und schließlich zum „Code of Judicial Conduct for the United States Judges“ (Bundesrichterkodex) geführt.1973 wurde er von der „Judicial Conference“, ein aus 27 Bundesrichtern bestehendes Selbstverwaltungsorgan, verabschiedet. 1987 wurde er in „Codes of Conduct for the United States Judges“ umbenannt. Zuletzt wurde er grundlegend im März 2009, Juni 2011 und März 2014 in technischen Einzelfragen überarbeitet94. Eigene Regularien hat die Judicial Conference für die Annahme von Geschenken und Belohnungen sowie für Nebentätigkeiten und ihre finanziellen Folgen verabschiedet. Der Kodex formuliert in fünf Kanons die grundlegenden und allgemein gehaltenen Verhaltenspflichten der Bundesrichter. Dies sind Folgende:
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Eikenberg, Richterpersönlichkeit und Urteilsfindung (Fn. 89/C.), S. 47 f. Hierzu auch Wittreck, Funktionen (Fn. 10/A.), S. 278 f. und S. 282 f. 92 www.americanbar.org/content /dam/aba/migrated/judicialethics/ABA_MCJC_ap proved.authcheckdam.pdf, Stand: 19.12.2011. 93 Epineuse, Vergleichende Richterethik (Fn. 30/C.), SchlHAnz. 2009, S. 12; Gass, Richterethik (Fn. 5/A.), S. 130. 94 Zum Text: www.uscourts.gov/judges-judgeships/code-conduct-united-states-judges, Stand: 08.10.2015; Titz, Ausland (Fn. 290/B.), DRiZ 2009, S. 34. 91
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„Canon 1: A judge should uphold the integrity and independence of the judiciary. Canon 2: A judge should avoid impropriety [ungebührliches Verhalten] and the appearance of impropriety in all activities. Canon 3: A judge should perform the duties of the office fairly, impartially and diligently. Canon 4: A judge may engage in extrajudicial activities that are consistent with the obligations of judicial office. Canon 5: A judge should refrain from political activity.“
Jedem der Kanons ist eine Erläuterung und ein Kommentar angefügt, in dem der Anwendungsbereich näher bestimmt sowie die Pflichten jeweils mit Definitionen, Erlaubnissen, Ge- und Verboten konkretisiert und exemplifiziert werden. Sie haben verbal einen strikten Charakter. Hinzu kommt eine daneben veröffentlichte Sammlung (Published Advisory Opinions)95, in der zu einzelnen Fragen, insbesondere zu Befangenheitsproblemen, detaillierte Antworten gegeben werden. Im Canon 4 wurden die früher auf die Canon 4 bis 6 aufgeteilten außerdienstlichen Pflichten zusammengefasst und in den Erläuterungen näher bestimmt. Er regelt – wie auch Canon 5 – detailliert das private Verhalten des Richters und geht dabei über das hinaus, was Civil-Law-Länder außerdienstlich von ihren Richtern erwarten. Canon 4 enthält etwa einzelne Regelungen zu den privaten finanziellen Angelegenheiten der Richter und ihrer Familien bzw. Angehörigen. Der Code of Conduct stellt nach seiner Erläuterung zu Canon 1 eine berufsethische Richtlinie dar. Ausdrücklich wird betont, dass das Gesetz, insbesondere die Prozessordnungen vorrangig sind, und er die richterliche Unabhängigkeit stärken, nicht aber einschränken soll. Ein unmittelbar im Kodex niedergelegter Überwachungsmechanismus fehlt. Hieraus und aus dem Verfahren seiner Verabschiedung könnte auf den Charakter einer berufsmoralischen Selbstverpflichtung geschlossen werden. Ein Rechtscharakter im engeren Sinne kommt ihm damit nicht unmittelbar zu. Allerdings öffnet er sich für eine disziplinarische Ahndung bei der Verletzung der dort niedergelegten Regeln. Damit hat er einen mehr als bloß „prädisziplinarischen“ Charakter96. So heißt es: „Nicht jede Verletzung des Kodex sollte zu Disziplinarmaßnahmen führen. Ob Disziplinarmaßnahmen angemessen sind, sollte durch eine angemessene Anwendung des Textes bestimmt werden und von Faktoren wie der Schwere des unzulässigen Aktivitäten und der Absicht des Richters abhängen, insbesondere ob es ein Muster von unzulässigen Aktivitäten ist und welche Wirkung die unzulässige Aktivitäten auf andere oder auf die Justiz hat.“ Zur Abgrenzung zwischen strenger Verpflichtung und morali-
95 Zum Text: www.uscourts.gov/Viewer.aspx?doc=/uscourts/RulesAndPolicies/con duct/Vol02B-Ch02.pdf, Stand: 08.10.2015. 96 Wittreck, Funktionen (Fn. 10/A.), S. 282, nennt ihn „Ersatzdisziplinarrecht“.
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scher Anregung wird ein weiteres sprachliches Muster verwendet: Wenn im Text „soll“ oder „soll nicht“ verwendet wird, stellt dies eine bindende Verpflichtung dar, deren Verletzung zu Disziplinarmaßnahmen bzw. letztlich zur Amtsentfernung führen kann. Wenn „sollte“ oder „sollte nicht“ verwendet wird, hat der Text empfehlenden Charakter und legt dar, was als angemessenes oder unangemessenes Verhalten erachtet wird. Insoweit bietet er also keine rechtlich verpflichtenden Regeln, nach der ein Richter mit disziplinarischen Konsequenzen rechnen muss. Wenn „kann“ verwendet wird, bezeichnet dies zulässiges Ermessen oder – abhängig vom Kontext – eine Handlung, die nicht unter spezifische Vorschriften fällt. Allerdings wird dieser Ansatz sofort relativiert, wenn es heißt: „Viele der Beschränkungen im Code sind notwendigerweise allgemein formuliert und Richter sollten bei ihrer Interpretation vernünftig unterscheiden. Darüber hinaus ist der Code nicht ausgelegt oder als Grundlage für die zivilrechtliche Haftung oder Strafverfolgung bestimmt. Schließlich darf der Code nicht zu taktischen Vorteilen genutzt werden.“ Der daneben bestehende Modellkodex der American Bar Association (ABA Model Code of judicial Conduct von 200797 bzw. 201198) bietet sowohl den Bundesrichtern wie den Richtern der Bundesstaaten ein umfassendes berufsmoralisches Regelwerk und kann sowohl hinsichtlich seiner Gliederung als auch hinsichtlich seines Inhalts als Ergänzung zu den Kodizes auf Bundes- wie auf Bundesstaatenebene herangezogen werden. Er besteht in seiner neuesten Fassung aus 4 Kanons und einer Reihe von die Kanons ausfühlenden Regeln, die wiederum im Einzelnen erläutert werden: Canon 1 fordert, dass ein Richter die Unabhängigkeit, Integrität und Unparteilichkeit der Justiz wahren und fördern sowie ungebührliches Verhalten und den Anschein solchen Verhaltens vermeiden soll. Dies soll dadurch geschehen, dass er Gesetz und Recht sowie das Vertrauen in die Justiz wahrt und das Prestige des Richteramtes nicht missbraucht (Regeln). Canon 2 besagt, dass ein Richter die Pflichten seines Amtes unparteiisch, kompetent und gewissenhaft ausübt. Dabei hat er folgende Regeln zu beachten: Vorrang der Pflichten des Richteramtes vor anderen Tätigkeiten; Wahrung von Unparteilichkeit und Fairness, Kompetenz, Fleiß und Kooperation, Vermeidung von Voreingenommenheit, Vorurteilen und Belästigungen sowie von externen Einflüssen auf das richterliche Verhalten; Gewährung des rechtlichen Gehörs; Übernahme der Verantwortung für die Entscheidung; Beachtung der Regeln der Schicklichkeit, des Benehmens und der Kommunikation mit Juroren; Vermeidung von Mitteilungen an nur eine Partei; Zurückhaltung bei Aussagen über anhängige bzw. zu erwartende Fälle; Berück97 www.americanbar.org/content /dam/aba/migrated/judicialethics/ABA_MCJC_ap proved.authcheckdam.pdf, Stand: 10.10.2015. 98 www.americanbar.org/groups/professional_responsibility/publications/model_code _of_judicial_conduct.html, Stand: 08.10.2015.
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C. Elemente einer deskriptiven richterlichen Ethik
sichtigung von disqualifizierenden Umständen (Selbstablehnung); Wahrnehmung von Aufsichts- und Verwaltungspflichten; Verhalten bei Verhinderung und Beeinträchtigung; Reaktion auf richterliches und anwaltliches Fehlverhalten; Zusammenarbeit mit Disziplinarbehörden. Der Canon 3 beschäftigt sich mit dem Verhalten des Richters gegenüber dem ihm zugeordneten Justizpersonal sowie seinen außergerichtlichen Aktivitäten und fordert, dass bei allen Kontakten und Tätigkeiten das hieraus entstehende Risiko von Konflikten mit den Verpflichtungen des Richteramtes vermieden wird. Die hierzu formulierten Regeln beschäftigen sich mit außergerichtlichen Tätigkeiten des Richters im Allgemeinen, mit dem Erscheinen vor staatlichen Organen und der Beratung mit Regierungsbeamten, Aussagen des Richters als Zeuge, Stellungnahmen zu Regierungspositionen, der Verwendung von nichtöffentlichen Informationen, der Teilnahme an und der Zugehörigkeit zu diskriminierenden sowie zu erzieherischen, religiösen, caritativen oder zivilgesellschaftlichen Organisationen und Aktivitäten, treuhänderische Tätigkeiten und als Schiedsrichter oder Vermittler, als Rechtsberater; finanzielle, geschäftliche oder vergütete Tätigkeiten; die Entschädigung für außergerichtliche Tätigkeiten, Annahme und Offenbarung von Zuwendungen, Darlehen, Vermächtnissen, Vorteilen oder anderen Dingen von Wert; Aufwandsentschädigung und andere Meldepflichten. Der vierte Kanon verhält sich zu den politischen Aktivitäten von Richtern: Ein Richter oder Bewerber zum Richteramt soll danach keine politischen oder kampagnenbezogene Aktivitäten entfalten, die im Widerspruch zur Unabhängigkeit, Integrität oder der Unparteilichkeit der Rechtsprechung stehen. Hierzu werden zunächst allgemeine Regeln und dann das im Einzelnen zu erwartende Verhalten bei Richterwahlen beschrieben99. Für die Ebene der Bundesstaaten ist Folgendes festzustellen: Der erste Code of Ethics, der in den Vereinigten Staaten formuliert wurde, war der der Alabama State Bar Association im Jahre 1887. Dieser erste Kodex wurde mit nur geringfügigen Änderungen von Georgia, Virginia, Michigan, Colorado, North Carolina, Wisconsin, West Virginia, Maryland, Kentucky und Missouri zwischen 1887 und 1906, und schließlich von der American Bar Association im Jahr 1908 verabschiedet. Die Kodizes der Bundesstaaten100 unterscheiden sich aufgrund der gemeinsamen Entstehungsgeschichte inhaltlich nur sehr wenig von den oben beschriebe99 Zu den berufsethischen Problemen der amerikanischen Richterwahl und der politischen Betätigung der Richter: Ch. Niethammer-Vonberg, Parteipolitische Betätigung der Richter. Deutsches Recht und rechtsvergleichender Überblick, Berlin 1969, S. 127 ff. insbesondere 131 ff.; P. Ouart, Umfang und Grenzen politischer Betätigungsfreiheit des Richters. Eine richterrechtliche und verfassungsrechtliche Untersuchung, Frankfurt/ Main 1990, S. 278 f. 100 Alle Texte der amerikanischen Bundesstaaten über: www.judicial-ethics.umon treal.ca/en/codes%20enonces%20deonto/E-U.html (Stand: 08.10.2015): Die Jahreszahlen geben den Zeitpunkt des ersten Inkrafttretens an. Die meisten Regeln sind in der Folgezeit verbessert und verändert worden und stehen in der aktuellen Fassung im Inter-
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nen Kodizes auf Bundesebene. Sie enthalten die dort üblichen Regeln mit Kommentaren und Teilregelungen, Definitionen sowie Durchsetzungsregeln, die zum Teil auch disziplinarische Folgen mit umfassen. Sie wurden in den Bundesstaaten entweder vom jeweiligen Supreme Court oder von den regionalen Gliederungen der Bar Associations verabschiedet. Hinzu kommen entsprechende Kommentare und eine Fülle von Literatur zur richterlichen Ethik101. bb) Kanada102 Seit 1971 nimmt der Kanadische Richterrat (Canadian Judicial Council) Beschwerden gegen richterliches Fehlverhalten von Bundesrichtern entgegen103. Er ist zugleich das gesetzlich vorgesehene Disziplinarorgan für Richter, wobei in Kanada nur die Sanktion der Amtsenthebung vorgesehen ist, die selbst an hohe Verfahrenshürden geknüpft ist. Mildere Sanktionen gegen Richter kennt das kanet zur Verfügung: Alabama Canons of Judicial Ethics 1976; Alaska Code of judicial Conduct 1998; Arizona Code of judicial Conduct 1993; Arkansas Code of Judicial Conduct 1993; California Code of Judicial Ethics 2008; Colorado Code of Judicial Conduct 1990; Connecticut Code of Probate judicial Conduct 2006; Delaware Judge’s Code of judicial Conduct 1994; Florida Code of Judicial Conduct 1995; Georgia Code of Judicial Conduct 1998; Hawaii Code of Judicial Conduct 1996; Idaho Code of judicial Conduct 2007; Illinois Code of Judicial Conduct 1993; Iowa Code of Judicial Conduct (Kapitel 51 der Iowa Court Rules) 1988; Indiana Code of Judicial Conduct 1999; Kentucky Code of Judicial Conduct 1978; Louisiana Code of Judicial Conduct 1998; Maine Code of judicial Conduct 2005; Maryland Code of Judicial Conduct 1987; Massachusetts Code of judicial Conduct 1973; Michigan Code of judicial Conduct 1974; Minnesota Code of Judicial Conduct 1996; Mississippi Code of judicial Conduct 2002; Montana Canons of Judicial Ethics 1963; Nebraska Code of Judicial Conduct 1992; Nevada Code of Judicial Conduct 2003; New Hampshire Code of Judicial Conduct (Als Administrative Rule 38. De Supreme Court Code of Judicial Conduct); New Jersey Code of judicial Conduct 1998; Code of Judicial Conduct of New Mexico 1986; New York Code of judicial Conduct 1996; North Carolina Code of Judicial Conduct des Supreme Courts 2003; North Dakota Code of Judicial Conduct 1994; Northern Mariana Island Code of Judicial Conduct 1989; Ohio Code of judicial Conduct 1974; Oklahoma Code of Judicial Conduct 1998; Oregon Code of Judicial Conduct 1996; Pennsylvania Code of judicial Conduct 1974; Rhode Island Code of Judicial Conduct; Tennessee Code of Judicial Conduct 1981; Texas Code of judicial Conduct 2002; Utah Code of Judicial Conduct als Teil der Ethikregeln aller juristischen Professionen im Staat Utah (http:// www.utcourts.gov/resources/ethadv/); Vermont Code of judicial Conduct 1994; Canons of Judicial Conduct for the Commonwealth of Virginia 1999; Washington Code of Judicial Conduct 1988; West Virginia Code of Judicial Conduct 1973; Wisconsin Code of judicial Conduct 1968;Wyoming Code of Judicial Conduct 1991. 101 Vgl. die Zusammenfassung bei Wittreck, Funktionen (Fn. 10/A.), S. 271 ff. dort Fn. 67. 102 www.cjc-ccm.gc.ca/cmslib/general/news_pub_judicialconduct_Principles_1998_ en.pdf (Stand: 10.10.2015); zum Folgenden insgesamt: G. Jackson, Zehn Jahre Ethical Principles für Judges der Kanadischen Richterschaft, in: SchlHAnz. 2009, S. 115 ff.; Huhs, Bericht (Fn. 83/C.), BJ 2004, S. 412; Jung, Richterbilder (Fn. 3/A.), S. 119 f.; Titz, Ausland (Fn. 290/B.), DRiZ 2009, S. 35. 103 Gass, Richterethik (Fn. 5/A.), S. 129.
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nadische Recht nicht104. Dem Rat, der sich aus allen Präsidenten hoher kanadischer Gerichte und deren Vizepräsidenten zusammensetzt, hat das Parlament die gesetzliche Verpflichtung zur Förderung von Effizienz, Einheitlichkeit und Rechenschaft innerhalb der Richterschaft sowie zur Verbesserung der Qualität richterlicher Arbeit an allen höheren Gerichten Kanadas übertragen105. Der erste Versuch dieses Gremiums jedoch, einen berufsethischen Kodex nach US-amerikanischen Vorbild zu formulieren, stieß auf erheblichen Widerstand in der Richterschaft. Hintergrund war die Annahme, dass damit ein Disziplinierungs- und Beschwerdeinstrument geschaffen werden sollte. 1980 hat der Richterrat stattdessen zwei Handreichungen für die Richter herausgegeben106. 1991 veröffentlichte er „Commentaries on Judicial Conduct“ 107. 1993 prangerte die Supreme Court Richterin Wilson in einem Bericht die geschlechtsspezifische Diskriminierung durch die Justiz an und empfahl einen Ethikkodex mit disziplinarischen Konsequenzen. 1994 setzte der Canadian Judicial Council daraufhin nach weiteren Diskussionen einen Ausschuss ein, der ethische Richtlinien ausarbeiten sollte. Auch ein weiterer Bericht zur Verantwortlichkeit der kanadischen Richter empfahl 1995 einen Verhaltenskodex108, allerdings ohne disziplinarische Konsequenzen. Von 1994 bis 1998 erarbeitete ein aus Vorsitzenden Richtern zusammengesetzter Ausschuss, dem Vertreter der Canadian Superior Court Judges Association, einer Vereinigung von etwa 1000 Richtern höherer Gerichte, angehörten, die ethische Richtlinien. Nach einer Reihe von Einwänden sollte der Titel der Sammlung nicht die Begriffe „Kodex“ oder „Verhalten“ enthalten. Die Prinzipien sind so gefasst, dass sie beratend und nicht fordernd wirken. Die Veröffentlichung der „Ethical Principles“ wurde 1998109 sowohl vom Canadian Judicial Council als auch von der Canadian Superior Court Judges Association empfohlen. In bewusster Abgrenzung zu den US-amerikanischen Vorbildern110 wird in den Ethical Principles ausdrücklich darauf hingewiesen, dass sie „keinen Kodex und keine Liste verbotener Verhaltensweisen darstellen und auch nicht als solche verwendet werden sollen“ (Purpose, 2. Prinzip). Damit sollte gerade verhindert werden, dass die allgemein formulierten Verhaltenspflichten mit disziplinari104
Jackson, Zehn Jahre (Fn. 102/C.), SchlHAnz. 2009, S. 118. Jackson, Zehn Jahre (Fn. 102/C.), SchlHAnz. 2009, S. 116. 106 Nach Jackson, Zehn Jahre (Fn. 102/C.), SchlHAnz. 2009, S. 116. 107 Nach Jackson, Zehn Jahre (Fn. 102/C.), SchlHAnz. 2009, S. 116: Canadian Judicial Council, Commentaries on Judicial Conduct, Cowansville, Qc. 1991. 108 Nach Jackson, Zehn Jahre (Fn. 102/C.), SchlHAnz. 2009, S. 116: Martin L. Friedland, A Place Apart: Judicial Independence and Accountability in Canada, Ottawa 1995. 109 Zur Vorgeschichte näher: Jackson, Zehn Jahre (Fn. 102/C.), SchlHAnz. 2009, S. 116 f. 110 So Epineuse, Vergleichende Richterethik (Fn. 30/C.), SchlHAnz. 2009, S. 123; Jackson, Zehn Jahre (Fn. 102/C.), SchlHAnz. 2009, S. 115. 105
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schen Maßnahmen verknüpft würden. Die kanadische Sammlung gibt den Richtern deshalb nicht vor, was sie im Einzelnen tun sollen, sondern beschreibt lediglich eine „ethische Kultur“ und soll ein Angebot zur (Selbst-)Beratung des Richters sein. Ethisch richtiges Verhalten soll nicht durch die Auferlegung von Sanktionen erzwungen, sondern durch Selbstverpflichtung gewahrt werden111. Die Ethical Principles erkennen damit die Möglichkeit einer berechtigten Abweichung an. Sie beschreiben ein Ideal, das der Richter anstreben sollte. Ihm werden in diesem Sinne in Form von Ratschlägen Orientierung im Hinblick auf berufsmoralische Probleme, die sich ihm stellen können, und Lösungsvorschläge angeboten. Die Ethical Principles sind in fünf Hauptprinzipien gegliedert, nämlich: Richterliche Unabhängigkeit, Integrität, Gewissenhaftigkeit, Gleichheit und Unparteilichkeit, die jeweils in Unterprinzipien und Kommentaren entfaltet werden. Die in den Ethical Principles verwendete Sprache ist nicht anordnend, sondern beratend. „Sollten“ oder „können“ anstelle von „sollen“ oder „müssen“ sind die vorherrschenden Verbformen. Meistens wird dem Richter nicht mitgeteilt, was er zu tun hat. Im Einzelnen112: Richterliche Unabhängigkeit: Als (ein-)leitendes Prinzip markiert es das Fundament der Justizgewährung, weil „ein unabhängiger Richterstand . . . für unparteiische Gerechtigkeit vor dem Gesetz unerlässlich“ ist (Statement). „Aus diesem Grund sollten Richter die richterliche Unabhängigkeit in ihren individuellen und institutionellen Aspekten wahren und veranschaulichen.“ (4. Unterprinzip) Der diese Erklärung begleitende Kommentar erinnert daran, dass die geforderten Maßstäbe direkte Folge der richterlichen Unabhängigkeit seien. So heißt es, dass Richter „in Anbetracht der Ihnen gewährten Unabhängigkeit eine kollektive Verantwortung für die Förderung hoher Verhaltensmaßstäbe tragen. Die Rechtsstaatlichkeit und die Unabhängigkeit der Justiz hängen vorwiegend von öffentlichem Vertrauen ab. Verfehlungen und fragwürdiges Verhalten von Richtern unterminieren in der Regel dieses Vertrauen.“ (Kommentar Nr. 5). Integrität: Diesem Prinzip zufolge „sollten Richter anstreben, ein von Integrität geprägtes Verhalten an den Tag zu legen, um somit das Vertrauen der Öffentlichkeit in den Richterstand zu bewahren und zu mehren.“ (Statement) Der Kommentar führt aus, dass „der Richter Achtung vor dem Gesetz und Integrität bei seinem privaten Verhalten zeigen sowie allgemein den Anschein von Unangemessenheit vermeiden sollte.“ (Kommentar Nr. 3) Somit erstreckt sich das Prinzip der Integrität auch auf das Privatleben eines Richters (vgl. hierzu näher Kommentar Nr. 4 und 5). 111 Titz, Ausland (Fn. 290/B.), DRiZ 2009, S. 35; Kreth, Richterliches Verhalten (Fn. 5/A.), KritV 2008, S. 477. 112 Vgl. zum Folgenden Jackson, Zehn Jahre (Fn. 102/C.), SchlHAnz. 2009, S. 121. Von dort stammen auch teilweise die Übersetzungen.
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Gewissenhaftigkeit: Das Prinzip der „Gewissenhaftigkeit“ besagt, dass „Richter angemessene Schritte unternehmen sollten, um das Wissen, die Fähigkeiten und persönlichen Qualitäten zu bewahren und zu verbessern, die für die Ausübung des Richteramtes erforderlich sind.“ (Unterprinzip Nr. 2) Im Kommentar Nr. 3 wird näher erläutert, dass „Gewissenhaftigkeit im weiteren Sinne die Ausübung von richterlichen Tätigkeiten mit Fähigkeit, Sorgfalt und Aufmerksamkeit sowie mit angemessener Zügigkeit meint.“ Der Kommentar formuliert weitere unterstützende Pflichten und geht auf die Pflichten ein, die sich aus Verwaltungsaufgaben und außerdienstlicher Tätigkeit ergeben. Gleichheit: Diesem Prinzip zufolge sollten „Richter in ihrem Verhalten und bei den ihnen vorliegenden Verfahren die Gleichheit vor dem Gesetz garantieren.“ (Statement) Dieses Prinzip soll sicherstellen, dass kulturelle und andere Unterschiede vom Richter einfühlsam behandelt werden und legt nahe, dass der Richter eine Rolle im Hinblick auf das Verhalten anderer spielt. Demzufolge sollten sich „Richter bei Verfahren von eindeutig nicht zur Sache gehörigen Kommentaren oder Verhaltensweisen der Mitarbeiter des Gerichts, der Verteidigung oder irgendeiner anderen dem Richter untergebenen Person distanzieren und sie missbilligen, wenn diese geschlechtsspezifischer, rassistischer oder auf andere Weise diskriminierender Art sind, was gesetzlich verboten ist.“ (Unterprinzip Nr. 4) Kommentar 4 erläutert, dass „Richter Kommentare, Erklärungen, Gesten oder Verhalten vermeiden sollten, die als Gefühllosigkeit oder Mangel an Respekt anderen gegenüber ausgelegt werden könnten.“ Unparteilichkeit: Diesem Prinzip zufolge „müssen und sollten Richter im Hinblick auf ihre Urteile und Urteilsfindung unabhängig sein und erscheinen.“ Das ethische Prinzip der Unparteilichkeit ist das weitreichendste aller Prinzipien. Das übergeordnete Ziel der anderen ethischen Prinzipien und insbesondere das der richterlichen Unabhängigkeit besteht darin sicherzustellen, dass Richter unparteiisch sind und auch so wahrgenommen werden. Insoweit sehen die Prinzipien weitgehende politische Enthaltsamkeit vor (Unterprinzipien unter D.). Alle anderen außergerichtlichen Aktivitäten werden in einen engen Zusammenhang mit der Unparteilichkeit gebracht. Unterprinzipen beschreiben näher, wann eine Selbstablehnung erwogen werden sollte. Die Kommentare hierzu sind sehr ausführlich und gehen ins Einzelne (Annahme von Geschenken, gesellschaftliche Aufmerksamkeit; Intensität des politischen und sozialen Engagements unter Benennung und Betonung des Richteramts; Verhalten gegenüber angeklagtem Freund; Richter als Zeuge). Die Prinzipien selbst enthalten keine Regelung, wie die Prinzipien konkret zu verwirklichen sind und welche Folgen ihre Nichtachtung hat. Für „ethische Zweifelsfragen“ besteht jedoch ein beratendes Gremium, das „Advisory Comitee of Judges“ oder „Comite consultativ des judges“, das sich aus 12 Richtern der kanadischen Provinzen, zumeist Gerichtspräsidenten, zusammensetzt und hohe Ak-
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zeptanz unter kanadischen Richtern genießt113. Ein vom Canadian Judicial Council und der Canadian Superior Court Judges Association vereinbartes Protokoll legt fest, wer in den Nominierungsausschuss berufen wird, der dann die Mitglieder des Advisory Committee ernennt. Das Protokoll sieht vor, dass der Nominierungsausschuss sich aus zwei vom Canadian Judicial Council und drei von der Canadian Superior Court Judges Association ernannten Richtern zusammensetzt – was bedeutet, dass de facto die Judges Association und nicht der Canadian Judicial Council ausschlaggebenden Einfluss im Nominierungsausschuss hat. Keiner der Richter darf Präsident eines hohen kanadischen Gerichts oder dessen Vizepräsident sein, da diese Richter dem Canadian Judicial Council angehören – dem Gremium, das für die Überprüfung von Beschwerden gegen auf Bundesebene ernannte Richter zuständig ist. Dieses Komitee gibt auf Anfrage von Richtern, derzeit etwa pro Jahr zehn, Vorschläge für ethisch richtiges Verhalten bei konkreten Zweifelsfällen. Die Vorschläge haben keine Bindungswirkung gegenüber dem einzelnen Richter und ziehen keine Disziplinarmaßnahmen nach sich. Sie werden jedoch anonymisiert im Internet veröffentlicht, um so als Orientierung auch für andere Richter zu bieten114. Daneben werden jährliche „Unterweisungen“ in richterlicher Ethik in Gestalt von Fortbildungsveranstaltungen angeboten, der folgendes methodisches Vorgehen zugrunde liegt: Definition des ethischen Dilemmas; Identifizierung von relevanten moralischen Regeln, Kodizes und Richtlinien; Feststellung jeden Schritts, den ein Richter vor der Prüfung von Handlungsmöglichkeiten unternehmen soll; Identifizierung zulässiger Möglichkeiten sowie Darlegung deren jeweiligen Stärken und Schwächen; Festlegung der bevorzugten Option; Überprüfung und Evaluierung115. Die Canadian Association of Provincial Court Judges (Kanadischer Provinzrichterverband) hat seinen Mitgliedern ebenfalls die Ethical Principles empfohlen. Sowohl British Columbia als auch Québec verabschiedeten für die auf Provinzebene ernannten Richter ethische Richtlinien, die den Ethical Principles zeitlich voran gingen116. Insoweit liegen allerdings gesetzgeberische Akte vor. Sie sind keine Akte der richterlichen Selbstverpflichtung.
113 Hierzu näher: Jackson, Zehn Jahre (Fn. 102/C.), SchlHAnz. 2009, S. 117; Titz, Ausland (Fn. 290/B.), DRiZ 2009, S. 35. 114 Zum Vorstehenden im Einzelnen: Jackson, Zehn Jahre (Fn. 102/C.), SchlHAnz. 2009, S. 117; Titz, Ausland (Fn. 290/B.), DRiZ 2009, S. 35. 115 Hierzu näher: Jackson, Zehn Jahre (Fn. 102/C.), SchlHAnz. 2009, S. 117 f. 116 Nach Jackson, Zehn Jahre (Fn. 102/C.), SchlHAnz. 2009, S. 115: Judicial Council of British Columbia, Code of Judicial Ethics, überarbeitete Ausgabe, Vancouver: Provincial Court of British Columbia, 1994, und der Justice of the peace Code of ethics; daneben bestehen für die Provinz Quebec der Judicial Code of Ethics, vom 17.03.1982 und der Code of Ethics for Part-Time Municipal Judges.
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Obwohl die Ethical Principles verbal den Abstand zum verpflichtenden, insbesondere disziplinarisch wirkenden Kodex gewahrt haben, zeigt die kanadische Rechtspraxis, dass bei Untersuchungen gegen Richter wegen eines disziplinarwürdigen Fehlverhaltens die Prinzipien in Einzelfällen zur Klärung der Frage herangezogen hat, ob der Richter zu verfolgen ist117. Berufsmoral und Recht werden insofern vermischt. Die Untersuchungsausschüsse waren auch nicht die einzigen, die sich im Kontext von Disziplinarmaßnahmen auf die Principles bezogen haben. Gerichte in Kanada haben die Ethical Principles auf vielerlei Weise eingesetzt, u. a. um die Amtsenthebung von auf Provinzebene ernannten Richtern zu stützen. Auch wenn dies mit dem Fehlen von unterschiedlichen Sanktionen für auf Bundesebene ernannte Richter erklärt wird, wird gerade bei dem kanadischen Beispiel der prädisziplinarische Charakter von ausformulierten ethischen Prinzipien deutlich. Dennoch wird das kanadische Modell vielfach als vorbildliche Lösung berufsethischer Probleme gesehen, weshalb es in anderen Ländern, etwa Ungarn, Nachahmer gefunden hat. cc) Lateinamerikanische Staaten Nach der Jahrtausendwende und im Zusammenhang mit dem Prozess, der zu den Prinzipien von Bangalore geführt hat, hat auch und gerade in Lateinamerika eine Phase der Reform der nationalen Justizwesen begonnen. Mit der Caracas Declaration vom März 1999, dem Statut der iberoamerikanischen Richter (Estatuto del Juez Iberoamericano) von 2001, dem Modellkodex (Codigo Iberoamericano de Ética judicial) und den der Principios de Ética Judicial von 2007 wurden dabei auch immer mehr Fragen richterlicher Ethik in den Mittelpunkt gestellt. Die Gründe hierfür lagen neben der weiteren Demokratisierung der lateinamerikanischen Staaten und der zunehmenden wirtschaftlichen Entwicklung, die willkürfreie staatliche Rahmenbedingungen benötigt, vor allem in der Aufarbeitung der Verstrickung der Justiz und ihres Personals mit früheren Unterdrückungsregimen sowie in der Bekämpfung der noch weit verbreiteten Korruption. In fast allen Ländern wurden entweder von der Richterschaft, den obersten Gerichten, Richterräten oder dem Parlament richterethische Kodizes oder Prinzipiensammlungen verfasst und erlassen. Aufgrund der Fülle des Materials soll die Darstellung hier beispielhaft auf zwei Gruppen beschränkt werden: zum einen auf einige Länder, deren politische Entwicklung von einem eher rechtsstaatlichdemokratischen Stil geprägt sind (Argentinien, Chile und Guatemala), zum anderen auf eher autokratisch bzw. totalitär geprägte Länder (Venezuela und Kuba). Diese Gruppen stehen tendenziell für andere lateinamerikanische Staaten, die ebenfalls über neuere richterethische Kodizes verfügen118. 117
Jackson, Zehn Jahre (Fn. 102/C.), SchlHAnz. 2009, S. 118 f.; auch zum Folgenden. Nämlich Belize (Belize Code of judicial Conduct vom März 2003: Text: www.ju dicial-ethics.umontreal.ca/en/codes%20enonces%20deonto/amsud-antilles.html; Stand: 118
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Argentinien: Während der Argentinienkrise 2001/2002 forderten wochenlang Demonstranten auch den Rücktritt von Richtern des Corte Suprema de Justicia in Buenos Aires. Das Ausmaß der institutionellen Krise Argentiniens, die dem wirtschaftlichen Zusammenbruch unmittelbar folgte, zeigen auch die damaligen Umfragewerte über das Vertrauen der Bürger in die Justiz119. Etwa 95 Prozent hatten es verloren. Im Zusammenhang mit der Bewältigung der Vertrauenskrise wurden auch Forderungen nach einer Berufsethik für Richter laut. Ethikkodizes für Richter sind in Argentinien bislang aber nur auf Provinzebene eingeführt. Ob das „Gesetz über öffentliche Ethik“ 120 auch für Richter gilt, ist seit Jahren umstritten121. Im Jahr 2000 hat der Oberste Gerichtshof Argentiniens dies verneint. Seitdem wird jedoch versucht diesen Beschluss zu korrigieren. Bei den Provinz-Kodizes handelt es sich um folgende: Argentina Codigo de Ética para Magistrados, Funcionarios y Empleados del Poder Judicial de la Provincia de Corrientes (1998); Argentina Codigo de Ética para Magistrados y Jueces del Poder Judicial 10.10.2015), Brasilien (Brasil Código de Ética da Magistratura abre para consulta pública von 2007: Text: www.judicial-ethics.umontreal.ca/en/codes%20enonces%20 deonto/amsud-antilles.html; Stand: 10.10.2015), Costa Rica (Codigo de Ética Judicial Costa Rica (2000) durch Beschluss des Corte plena, Text: www.judicial-ethics.umon treal.ca/en/codes%20enonces%20deonto/amsud-antilles.html; Stand: 10.10.2015), El Salvador (Codigo de Ética del Servidor de la corte de Cuentas de la Republica de El Salvador von 2001, Text: www.judicial-ethics.umontreal.ca/en/codes%20enonces%20 deonto/amsud-antilles.html; Stand: 10.10.2015), Honduras (Codigo de Ética para Funcionarios y Empleados judicial von 1993, spanischer Text in: Roos/Woischnik, Codigos (Fn. 21/C.), S. 229 ff.), Panama (Panama Codigo de Ética del Tribunal electoral de Panama; Panama Por la cual se Reforma Parcialmente el Libro Primero del Panama Código Judicial en lo concerniente a la Carrera Judicial de Panamá, libro primero; De la Administracion de Justicia, Ética Judicial y de los Cargos Judiciales von 2007: Texte: www.judicial-ethics.umontreal.ca/en/codes%20enonces%20deonto/amsud-antilles.html; Stand: 10.10.2015; Panama Codigo Judicial de la Corte suprema de Panama, spanischer Text in: Roos/Woischnik, Codigos (Fn. 21/C.), S. 234 ff.), Paraguay (Codigo de Ética Judicial de la Republica del Paraguay von 2005 Text: www.judicial-ethics.umontreal.ca/ en/codes%20enonces%20deonto/amsud-antilles.html; Stand: 10.10.2015; vgl. hierzu: E. Kriskovich, Código de Ética Judicial de la República del Paraguay, Asuncion, 2010), Péru (Código de Ética del Poder Judicial del Peru von 2004, spanischer Text in: Roos/ Woischnik, Codigos (Fn. 21/C.), S. 250 ff.: Ziel des Kodex ist die Korruptionsbekämpfung. Hier wurde ein Komitee als Überwachungs- und Beratungsorgan für die Richter geschaffen), Puerto Rico (Canones de Ética Judicial de Puerto Rico; spanischer Text in: Roos/Woischnik, Codigos (Fn. 21/C.), S. 239 ff.), Mexiko (Codigo de Ética del Poder Judicial de la Federacion 2005/2006, spanischer Text in: Roos/Woischnik, Codigos (Fn. 21/C.), S. 254 ff.; Codigo de Etica del Tribunal superior de Justicia y del Consejo de la Judicatura del Distrito Federal Ethica su dicia vom Dezember 2004, Text: www.ju dicial-ethics.umontreal.ca/en/codes%20enonces%20deonto/mexique.html; Stand: 10.10. 2015; auf Provinzebene: Codigo de Ética del Poder Judicial del Estado de Hidalgo, Text: www.judicial-ethics.umontreal.ca/en/codes%20enonces%20deonto/amsud-antilles. html; Stand: 10.10.2015). 119 Hierzu und zum Folgenden: Woischnik, Ethische Regeln (Fn. 43/C.), E + Z 2005, S. 4 ff. 120 Ley 25. 188 de Etica en el Ejercicio de la Funcion Publica. 121 Roos/Woischnik, Codigos (Fn. 21/C.), S. 41 f.
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de la Provincia de Santa Fe (2002); Argentina Codigo de Ética para Magistrados y Funcionarios del Poder Judicial de la Provincia de Cordoba (2002); Argentina Código de Ética para Magistrados y Funcionarios de la Provincia de Santiago del Estero (1998); Argentina Código de Ética para los Magistrados y Funcionarios de la Provincia de Formosa (1998)122. Diese Regelwerke unterscheiden sich bereits im Anwendungsbereich. Während der Kodex für die Provinz Santa Fe nur für Richter gilt, gelten die von Cordoba, Formosa und Santiago del Estero auch für Justizbeamte. Der Kodex für die Provinz Corriente gilt für alle Justizangehörigen. Die Kodizes, die sich hinsichtlich der richterlichen Pflichten ähneln, sind inhaltlich kurz gehalten und beschränken sich auf die wesentlichen Grundsätze wie Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und volles richterliches Engagement. Daneben werden außerdienstliche Verhaltensweisen (reglas sociales) normiert. Hinsichtlich der Überwachungsmechanismen sehen die Kodizes der Provinzen Cordoba, Formosa und Santiago del Estero ein Beratungsgremium ohne Sanktionsmechanismus vor. Demgegenüber ist in der Provinz Corrientes neben einem Beratungsgremium ein „Tribunal de Etica“ eingerichtet. Das Tribunal ist ein Untersuchungsorgan für Verstöße gegen den Kodex, das seine Ergebnisse in einem Gutachten dem Obersten Gerichtshof vorlegt. Dieser entscheidet dann als Disziplinarorgan (Art. 17). Chile: Die Vollversammlung des Obersten Gerichtshofs Chiles hat im August 2003 die Principios de Ética Judicial123 als Instrument der „Selbstregulierung“ verabschiedet. Die Regeln gelten für die Richter und alle anderen Angehörigen der Justiz. Insofern handelt es sich nicht nur um einen Kodex, der ausschließlich die richterliche Ethik betrifft. 2007 wurden die Prinzipien nach den ersten Erfahrungen überarbeitet und als Principios de Ética Judicial y Commision de Ética124 neu verabschiedet. In dessen Kapitel II werden in 9 Unterabschnitten knapp die Grundprinzipien definiert, die die üblichen Anforderungen an ein rechtsstaatliches Justizpersonal im Dienst enthalten (Würde, Respekt, Integrität, Unabhängigkeit, Zurückhaltung, Verschwiegenheit etc.). Regelungen zum privaten Verhalten gibt es nicht. Kapitel III regelt die Überwachung der Ethikregeln durch einen beim Obersten Gericht angesiedelten, aus fünf Mitgliedern bestehenden Ethikausschuss (Commisión de Ética de la Corte Suprema). Seine Aufgaben sind zum einen beratender Natur für das Plenum des Obersten Gerichtshofs in berufsethischen Fragen. Zum anderen führt es Voruntersuchungen bei Verstößen, die dann dem Plenum zur Entscheidung über Sanktionen weitergeleitet werden (Kapitel IV). 122 Alle Texte (spanisch) in: Roos/Woischnik, Codigos (Fn. 21/C.), S. 199 ff. vgl. dort auch S. 40 ff. 123 Spanischer Text in: Roos/Woischnik, Codigos (Fn. 21/C.), S. 165 ff. 124 www.judicial-ethics.umontreal.ca/en/codes%20enonces%20deonto/documents/ CODE_CHILI.pdf; Stand: 10.10.2015.
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Das Komitee wurde auf Anzeige des „Komitees zur Verteidigung der Bürgerschaft“, einer bürgerschaftlichen Vereinigung, bereits mit den ersten Fällen befasst, etwa als ein Richter des Obersten Gerichtshofs in Verfahren ausfallend und tätlich gegen Journalisten wurde. Nachdem das Komitee bzw. das Plenum untätig blieb, wurde die Wirksamkeit dieses Instruments aber in Frage gestellt125. Guatemala: Der Oberste Gerichtshof Guatemalas hat die Normas Eticas des Organismo Judicial de la Republica de Guatemala126 im Jahr 2001 im Wege eines Gerichtsbeschlusses verabschiedet. Sie beruhen auf einer Zusammenarbeit von Vertretern des guatemaltekischen Richterinstituts, der Vereinigung der Richter, Justizbeamten und Vertretern der Zivilgesellschaft. Der Ethikkodex war ein Element der Justizreform zur Bekämpfung der Korruption und zur Stärkung des Vertrauens der Bevölkerung in die Justiz. In seinen 41 Artikeln werden nicht nur die Richter, sondern alle Angehörigen der Justiz angesprochen. Er definiert ethische Prinzipien bezogen auf dienstliches und außerdienstliches Verhalten, ohne allerdings das im lateinamerikanischen Kontext übliche „Politikverbot“ auszusprechen. Insoweit wird lediglich ein Mäßigungsgebot gefordert (Art. 26 und 27). Bedeutsam ist – und insofern verliert dieser Kodex seinen Charakter als Sammlung berufsethischer und -moralischer Prinzipien und Anforderungen –, dass die Regeln für verpflichtend erklärt werden und Sanktionierung von Verstößen gegen den Kodex den Disziplinarorganen überlassen wird (Art. 2). Vor diesem Hintergrund muss der Kodex als Regelung verstanden werden, der das Disziplinarrecht ergänzt und konkretisiert. Er ist damit kein ethischer Kodex im engeren Sinne, sondern Teil der Rechtsordnung. Diese Beispiele zeigen, dass in den lateinamerikanischen Staaten die Ethikregeln häufig nicht nur die Richter, sondern alle Beschäftigten der Justiz betreffen. Weiter wird deutlich, dass häufig der disziplinarische Charakter der Regelungen stark ausgeprägt ist und deshalb regelmäßig nicht von einer Selbstverpflichtung der Richterschaft auf eine bestimmte Werthaltung, sondern der rechtliche Ahndungscharakter der Regeln im Vordergrund steht. Dies lässt sich mit dem in diesen Ländern bestehenden dringenden Reformbedarf und dem Fehlen einer rechtsstaatlich geprägten Richter- und Rechtsprechungskultur erklären. In Venezuela und Kuba kommen zu diesen Problemen Versuche des jeweiligen Regimes hinzu, über die Formulierung von Richterpflichten die richterliche Unabhängigkeit einzuschränken bzw. in den Rahmen der herrschenden Ideologie einzuordnen: Venezuela: Das venezolanische Parlament hat im Oktober 2003 den Código de Éticay Disciplina del Juez Venezolano o Jueza Venezolana (2003)127 auf der 125
Roos/Woischnik, Codigos (Fn. 21/C.), S. 38. Spanischer Text in: Roos/Woischnik, Codigos (Fn. 21/C.), S. 156 ff. und dort deren inhaltliche Auseinandersetzung auf S. 35 f. zum Folgenden. 127 Spanischer Text in: Roos/Woischnik, Codigos (Fn. 21/C.), S. 169 ff. 126
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Grundlage von Art. 276 Abs. 3 der Verfassung als Gesetz erlassen. Die Verfassung sieht vor, dass das Parlament die disziplinarischen Regeln für Richter erlässt. Damit ist dieses Gesetz ein Disziplinargesetz, auch wenn seine Bezeichnung etwas anderes erwarten lässt. Er bezieht sich ausschließlich auf die Richter und enthält neben allgemeinen, noch als „ethische“ Prinzipien formulierten Bestimmungen im zweiten Teil in 89 Artikeln, in denen detaillierte Ge- und Verbote für Richter formuliert werden. Verstöße gegen sie können disziplinarisch von speziellen Disziplinarorganen (Teil III) verfolgt werden. Insoweit werden allerdings für den betroffenen Richter Mindestgarantien gewährt (Öffentlichkeit). Schon im ersten Teil des Gesetzes sind überdies Bestimmungen enthalten, die auch das Privatleben und das (verbotene) politische Engagement der Richter betreffen (Art. 17, 18). Kuba: Der Cuba Codigo de Ética Judicial vom Februar 2001128, der von den Richtern des Obersten Gerichts verabschiedet wurde, ist in der Art einer moralischen Deklaration verfasst. Er steht neben den Código de Ética de los Cuadros del Estado Cubano und dem Código de los Juristas, die für alle Beschäftigten des Staates bzw. die Juristen gelten und zu denen sich jeder dieser Gruppe schriftlich bekennen muss. Er erinnert mit emphatischen Worten an die hohen Werte, die es in der sozialistischen Gesellschaft auch von den Richtern als Teil der Staatsgewalt zu verwirklichen gilt. Er erfasst alle Angehörigen der Justiz. Nur der zweite Teil befasst sich ausdrücklich mit den Richtern. In sehr allgemeiner Weise werden unter anderem „Ordnung, Sauberkeit, die Einhaltung von gesetzlich festgelegten Verfahren, Respekt, Gelassenheit und gute Manieren, Leistungsbereitschaft sowie einwandfreies persönliches Verhalten im Berufsleben, Familie und sozialem Verhalten, Ehrlichkeit, Bescheidenheit und Höflichkeit . . .“ gefordert. Von den Richtern wird eine unabhängige Justiz verlangt, die „im vollem Bewusstsein, dass sie im Namen des kubanischen Volkes handelt“, geübt wird. Außerdem wird ihnen die Sorge dafür auferlegt, dass gerichtliche Entscheidungen von einem „Gefühl der Gerechtigkeit, Vernunft und Weisheit“ getragen sind. Das Gesetz sei zu achten. Die Richter sollen sich an den Beratungen zur Förderung der Konsensbildung beteiligen. Richter sollen Gesten und Ausdrücke vermeiden, die als Zeichen von Voreingenommenheit, Gleichgültigkeit, Erschöpfung und Stolz interpretiert werden könnten. Sie sollen Diskriminierungen und Vorurteile vermeiden, welche die Fähigkeit zur nüchternen Analyse und damit die Unabhängigkeit der Rechtspflege beeinträchtigen. Respekt und Rücksicht sind gegenüber den Mitarbeitern der Gerichte sowie Parteien und anderen Personen zu zeigen. Mit hohem Pathos wird gefordert: „Hebet immer und überall, durch Wort und Tat, die richterliche Arbeit.“ Oder
128 Text: www.judicial-ethics.umontreal.ca/en/codes%20enonces%20deonto/amsudantilles.html; Stand: 10.10.2015.
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„Bleiben Sie informiert über die wichtigsten Entwicklungen, die im Bezirk, im Land oder in der Welt im wirtschaftlichen, politischen und sozialen Bereich geschehen.“ Die richterliche Unabhängigkeit wird im kubanischen Kodex nicht zum Ausgangspunkt der Überlegungen gemacht und dort, wo von ihr die Rede ist, in eine Beziehung zum „kubanischen Volk“ oder der sozialistisch geprägten „Gerechtigkeit“ gestellt. Das kubanische Beispiel zeigt, dass richterliche Ethikkodizes auch in Ländern verfasst und „angewendet“ werden, in denen die „richterliche Unabhängigkeit“ unter einem politischen Vorbehalt steht und damit letztlich nicht existiert. Sie haben insofern stabilisierenden Charakter für das dort in besonderer Weise ideologisch geprägte Justizsystem. b) Asien, Naher Osten, Australien, Afrika und Ozeanien Ähnlich wie in Lateinamerika ist seit 10 Jahren und in Folge der Formulierung der Prinzipien von Bangalore sowie initiiert durch das Beijing Statement of Principles of the Independence of the Judiciary in den hier maßgeblichen Weltregionen ein umfassender Prozess in Gang gekommen, der in vielen Ländern mit zum Teil völlig unterschiedlichen Regierungs- und Justizstrukturen zur Formulierung von Richterkodizes geführt hat. Die Vielfalt ist derart groß, dass hier nur ein kurzer Überblick über die wesentlichsten Aktivitäten geboten werden kann. Bereits die Ländernamen geben eine Vorstellung davon, welch unterschiedliche Rechtsprechungskulturen hier aufeinander treffen. So steht etwa China mit seiner eher gesteuerten Justiz Australien und Neuseeland gegenüber, die über ein fundiertes Common-Law-System verfügen. Folgende Kodizes und Sammlungen können angeführt werden: Armenien (Republic of Armenia Judicial Code 2005129), Australien (Australia Guide to judicial Conduct von 2007130), Kambodscha (Code d’ éthique judiciaire vom Januar 2008131), China (The Code of Judicial Ethics for Judges of the People’s Republic of China 2002132), (Süd-)Korea (Judicial Code of Conduct of the 129 www.judicial-ethics.umontreal.ca/en/codes%20enonces%20deonto/documents/ CODE_ARMeNIE.pdf; Stand: 10.10.2015. 130 www.judicial-ethics.umontreal.ca/en/codes%20enonces%20deonto/documents/ CODE_AUSTRALIEN.pdf; Stand: 10.10.2015: Im australischen „Guide to Judicial Conduct“, S. 6, findet sich folgendes, bemerkenswertes Zitat: „Diese Publikation soll in keinerlei Hinsicht einen Kodex darstellen oder Regeln festlegen. Sie vermeidet bewusst den Ausdruck ,richterliche Ethik‘ oder die Beschreibung einer Verhaltensweise als unethisch.“ Die zeigt, dass die Furcht vor Einschränkungen der richterlichen Unabhängigkeit durch berufsmoralische Vorgaben nicht nur ein europäisches Phänomen ist. 131 www.judicial-ethics.umontreal.ca/en/codes%20enonces%20deonto/documents/ CODE_AUSTRALIEN.pdf; Stand: 10.10.2015. 132 www.judicial-ethics.umontreal.ca/en/codes%20enonces%20deonto/documents/ Code_chinois.pdf; Stand: Stand: 10.10.2015.
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Republic of Korea vom Mai 2006133), Hong Kong (Guide to judicial Conduct vom Oktober 2004134), Neuseeland (Complaints about Judicial Conduct Juli 2005135), Philippinen (New Code of judicial Conduct for the Philippine Judiciary Februar 2007136), Israel (Israel Code of Ethics for Judges von 2007137; ersetzt den Kodex von 1993), Libanon (The Judicial Code of ethics Main Principles vom Januar 2005138), Algerien (Charted’éthique judiciaire von 2002139), Nigeria (Code of Conduct for Judicial Officers), Uganda (Code of Conduct for Judges, Magistrates and other judicial Officers von 1989140, jetzt The Uganda Code of judicial Conduct 2003141), Ruanda (Rwandaise Code d’éthique judiciair vom Mai 2003142), Südafrika (Code of Conduct for magistrats von 2000143), Tanzania (Code of Conduct for judicial Officers of Tanzania vom März 1984144). c) Die europäischen Staaten In der Mitte des letzten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts konnte noch von einer Spaltung in Sachen nationaler Ethikkodizes zwischen West- und Osteuropa gesprochen werden145. 133 www.judicial-ethics.umontreal.ca/en/codes%20enonces%20deonto/documents/ CODE_COReE.pdf; Stand: Stand: 10.10.2015. Inzwischen (2009) wurde dieser Kodex ersetzt durch einen umfassenden Katalog: www.united-korea.org/code_judicial/article_ 0000.htm; Stand: 10.10.2015. 134 www.judicial-ethics.umontreal.ca/en/codes%20enonces%20deonto/documents/ Code_Hong_Kong.pdf; Stand: Stand: 10.10.2015. 135 www.judicial-ethics.umontreal.ca/en/codes%20enonces%20deonto/documents/ PLAINTE_NOUVELLE_ZeLANDE.pdf; Stand: 10.10.2015. 136 www.judicial-ethics.umontreal.ca/en/codes%20enonces%20deonto/documents/ CODE_PHILIPPINES.pdf; Stand: Stand: 10.10.2015. 137 www.judicial-ethics.umontreal.ca/en/codes%20enonces%20deonto/documents/ SLOVENIA-CODEOFJUDICIALETHICS.pdf; Stand: Stand: 10.10.2015. 138 www.judicial-ethics.umontreal.ca/en/codes%20enonces%20deonto/documents/ LIBAN-JudicialCodeOfEthicsENG.pdf; Stand: Stand: 10.10.2015. 139 www.judicial-ethics.umontreal.ca/en/codes%20enonces%20deonto/documents/ MAROC_CHARTEETHIQUEJUDICIAIRE.pdf; Stand: Stand: 10.10.2015. 140 www.judicial-ethics.umontreal.ca/en/codes%20enonces%20deonto/documents/ CODE_UGANDA.pdf; Stand: Stand: 10.10.2015. 141 www.judicial-ethics.umontreal.ca/en/codes%20enonces%20deonto/documents/ JUDICIAL_ETHICS_OUGANDA.pdf; Stand: 22.12.2011. 142 www.judicial-ethics.umontreal.ca/en/codes%20enonces%20deonto/documents/ CODE_RWANDAIS.pdf; Stand: Stand: 10.10.2015. 143 www.judicial-ethics.umontreal.ca/en/codes%20enonces%20deonto/documents/ CODE_AFRIQUE_SUD .pdf: Judicial Accountability Mechanism: a Resource Document der INFORMATION AND MONITORING.SERVICE (PIMS) AT THE INSTITUTE FOR DEMOCRACY IN SOUTHAFRICA (IDASA), März 2007; Stand: 10.10. 2015. 144 www.judicial-ethics.umontreal.ca/en/codes%20enonces%20deonto/documents/ Code_TANZANIE.pdf; Stand: Stand: 10.10.2015. 145 Roos/Woischnik, Codigos (Fn. 21/C.), S. 30
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In Westeuropa hatte bis dahin – sieht man von Schweden ab146 – nur Italien einen Ethikkodex für Richter formuliert. Im Transformationsprozess in Mittelund Osteuropa war demgegenüber die Justiz und die Sicherung ihrer inneren und äußeren Unabhängigkeit ein wesentlicher Gegenstand von Reformen. Hinsichtlich des zum Teil aus den früheren kommunistischen Regimen übernommenen Personals bestand das Erfordernis, berufliche Standards und eine am klassischen Richterbild orientierte Berufsmoral zu etablieren. Insofern war auch ein innerer Veränderungsprozess vom „Funktionär des Klassenstandpunkts“ zum unabhängigen Entscheider zu vollziehen147. Deshalb und im Hinblick auf den Beitrittsprozess einiger Staaten wurden Ethikkodizes für Richter formuliert und dabei – nicht selten – aus den Vereinigten Staaten übernommen und verabschiedet. Die American Bar Association hatte bereits 1990 ein Programm für Osteuropa und Asien aufgelegt148, das frühzeitig den Einfluss amerikanischen Rechtsdenkens in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion und des Warschauer Pakts vorbereitet und durchgesetzt hat. Dies hat auch dazu geführt, dass sich die Kodifizierung der richterlichen Ethik in diesen Ländern stark an US-amerikanischen Vorbildern hielt. Die europäischen Staaten haben dort erst später – und manchmal zu spät – diesen Prozess begleitet. Dieses Bild der Teilung dürfte in einer Wandlung begriffen sein. Maßgeblich war dabei vor allem, dass der Europäische Rat der Europäischen Union 1993 mit der Festlegung der Kopenhagener Beitrittskriterien eine Harmonisierung nicht nur hinsichtlich der Justizstrukturen, sondern auch im Hinblick auf kontinentaleuropäisches Rechts- und Richterverständnis initiiert hat149. Damit näherten sich diese Länder auch hinsichtlich der Definition von Richterpflichten dem westeuropäischen Verständnis an. In Westeuropa wiederum wurden die Richter und ihre Vertretungen durch den Europäischen Standard richterlicher Ethik angeregt, ihre Berufsethik näher zu untersuchen und zu definieren, auch wenn eine Reihe
146 Schweden verfügte über sehr alte berufsmoralische Sammlungen für Richter aus dem Jahr 1540 von Olaus Petri und von 1734, die keine Bindungswirkung hatten. Außerdem steht richterliches Verhalten unter ständiger öffentlicher Kontrolle, weil der Ombudsmann und der Justizminister gesetzlich befugt sind, an dem Verhalten eines Richters öffentlich Kritik zu üben. Versuche eine eigenständige richterliche Ethik zu formulieren sind 1995 am Widerstand der Richterschaft gescheitert. 2009 begann ein neuer Prozess der Diskussion, der zu einem Fragenkatalog mit dem Titel: „Good judicial practice – Principles and Issues“ geführt hat, vgl. www.domstol.se/Publikationer/Rapporter/ god_domarsed-grundsatser_och_fragor_eng.pdf (Stand: 12.05.2015); hierzu im Einzelnen: T. Adelswärd, Richterethik in Europa, Gute richterliche Praxis – Prinzipien und Fragestellungen, in: Verein Deutscher Verwaltungsgerichtstag e. V. (Hrsg.), 17. Deutscher Verwaltungsgerichtstag Münster 2013, Stuttgart 2014, S. 434 f. und S. 440 f. 147 Bolk, Richterliche Ethik (Fn. 126/A.), NRV-info SH 11/2006, S. 18 148 Das Programm ABA/CEELI wird näher erläutert unter www.apps.american bar.org/rol/europe_and_eurasia/; Stand: 22.12.2011. 149 Deutscher Text: www.consilium.europa.eu/ueDocs/cms_Data/docs/pressData/de/ ec/72924.pdf, Stand: 25.10.2015.
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von Ländern bis heute keine richterethischen Sammlungen besitzt. Allerdings drängte sich in den kontinentaleuropäischen – im Gegensatz zum angelsächsischen Rechtskreis – eine Kodifikation berufsethischer Regeln wohl deshalb nicht auf, weil ein mehr oder weniger dichtes System rechtlich geregelter Verhaltenspflichten für Richter bestand150. Dieser Umstand verliert zunehmend an Bedeutung mit der Folge, dass auch Länder – wie etwa Belgien151 und Frankreich –, die umfassende rechtliche Regelungen zu richterlichem Verhalten und Verantwortlichkeit besitzen, in einen Prozess der Kodifizierung berufsmoralischer Regelungen eingetreten sind. Auch Norwegen hat jüngst ethische Prinzipien verabschiedet152. Nachdem auch für Europa – wie für andere Regionen und Kontinente – wegen der Vielfalt bestehender richterethischer Kodifikationen und Sammlungen das Gebot der Beschränkung in der Darstellung gilt, soll exemplarisch die Situation in einigen Ländern beschrieben werden. Leitende Auswahlkriterien waren dabei, die Bedeutung des jeweiligen Kodex sowie die Situation in den wichtigsten kontinentaleuropäischen Staaten, in einigen Beitrittsländern und in anderen osteuropäischer Staaten. Andere Länder, die inzwischen eine Sammlung ethischer Richterpflichten besitzen, wie Georgien (2007)153, Finnland (2009, 2012)154 und Norwegen (2010)155, fanden keine Berücksichtigung. aa) Italien Der Codice de deontologia156 wurde am 07.05.1994 von der Vereinigung der Magistrati verabschiedet. Er ist der erste europäische Kodex richterlichen Verhal-
150
Gass, Richterethik (Fn. 5/A.), S. 130. Titz, Berufsethos (Fn. 119/A.), DRiZ 2008, S. 100; Belgien hatte bis 2002 keinen Richterkodex. Inzwischen wurden Regeln zur richterlichen Ethik und Verantwortung erstellt mit dem Ziel der Selbstreflexion der Richter. 152 www.coe.int/t/dghl/cooperation/CCJE/cooperation/Ethical%20_principles_Norwe gian_judges.pdf, Stand: 10.05.2015. 153 Vgl. hierzu Österreich/Bundesasylamt, Georgien: Reformen im Justizsystem, 29.10.2010, S. 13; zit. nach Juris. 154 Vgl. hierzu den Greco-Bericht: www.coe.int/t/dghl/monitoring/greco/evalua tions/round4/Eval%20IV/GrecoEval4%282012%296_Finland_EN.pdf, S. 31 (Stand: 25.10.2015). 155 Zur Entwicklung in Norwegen seit November 2007: Adelswärd, Richterethik (Fn. 146/C.), S. 439 f. Danach war der Versuch gescheitert, einen detaillierten Kodex (35 Artikel in 9 Kapiteln, die zusammen mit einem Kommentar 100 Seiten ausmachten) aufzustellen. Der jetzige „Kodex“ verfügt über 15 kurze Regeln. Hierzu auch der GRECO-Bericht: http://www.coe.int/t/dghl/monitoring/greco/evaluations/round4/Eval %20IV/GrecoEval4%282013%2910_Norway_EN.pdf, S. 29 f. (Stand: 25.10.2015). 156 Zum Text (englisch): Roos/Woischnik, Codigos (Fn. 21/C.), S. 146 ff., italienisch: www.judicial-ethics.umontreal.ca/en/codes%20enonces%20deonto/documents/CODE_ ITALIEN.pdf, Stand: 10.10.2015. Vgl. zum Ganzen: Jung, Richterbilder (Fn. 3/A.), 151
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tens157. Ausgelöst wurde die Schaffung des Kodex durch die Diskussion um die als ineffizient empfundene Justiz Ende der 80-er Jahre158 sowie infolge der Auseinandersetzung zwischen politischen Amtsträgern und der Justiz um die Aktion „Mani pulite“. „Mani pulite“, „Saubere Hände“, bezeichnete die ausgedehnten Ermittlungen wegen Korruption, Amtsmissbrauch, Richterbestechung und illegaler Parteifinanzierung Anfang und Mitte der 90er Jahre159. Ausgehend von Untersuchungen der Mailänder Staatsanwaltschaft wurden 1992 Ermittlungen aufgenommen, die immer mehr ausgeweitet wurden. Sie führten zu weit mehr als 1.000 Verurteilungen und zum Zusammenbruch der wichtigsten politischen Parteien wie der Democrazia Cristiana oder des Partito Socialista Italiano sowie zur Entstehung Dutzender neuer politischer Bewegungen. Die kriminellen Verflechtungen, die durch die Untersuchungen aufgedeckt wurden, wurden zusammenfassend als „Tangentopoli“ bezeichnet160. Strukturell war dieses Vorgehen gegen politische Amtsträger durch die starke Stellung der Staatsanwaltschaft161 gewährleistet, der die volle äußere und die weitgehende innere Unabhängigkeit gewährt ist (Art. Art. 107, 108 der italienischen Verfassung). Sie ist Teil der Magistratura, die aus Richtern und Staatsanwälten besteht, die nur nach Funktionen, nicht aber nach Hierarchien gegliedert ist. Lediglich das Avokationsrecht des Chefs der Magistratura begrenzt die Stellung des einzelnen Staatsanwalts. Allerdings besteht auch insoweit das strikte Legalitätsprinzip (Art. 112 der Verfassung). Im Zuge der Ermittlungen wurden auch Vorwürfe gegen die ermittelnden Staatsanwälte und Richter selbst erhoben. Insbesondere „Machtmissbrauch“, „Rechtsbeugung“ und die „Vernichtung von bürgerlichen Existenzen“ wurden ihnen vorgeworfen. Auch der „offene“, manchmal sorglose und manipulative Umgang mit den Medien führte zu harter Kritik. Aus Sorge um das Ansehen der Justiz und zur eigenverantwortlichen Gestaltung eines im Jahr 1993 ergangenen Regierungsdekrets, das einen Kodex zur Abwehr politischer Eingriffe in die Justiz forderte, wurde der Kodex vom italienischen Richterverband (Associazione Nationale Magistrati), dem na-
S. 118 f.; Titz, Ausland (Fn. 290/B.), DRiZ 2009, S. 35 f. 1996 wurde eine zweite Auflage veröffentlicht. 157 Gass, Richterethik (Fn. 5/A.), S. 130. 158 Zu den Referendumskampagnen zu einer Justizreform seit 1987 vgl. S. Stuth, Staatshaftung für Justizfehler. Italiens neues Richterhaftungsgesetz im Vergleich zur deutschen Rechtslage, in: EuGRZ 1990, S. 353, 356 ff. Dort auch zur Verschärfung des Haftungsrechts für italienische Richter. 159 D. Bifulco, Die Unabhängigkeit der Justiz und die geschriebene richterliche Ethik in Italien aus Sicht der dortigen Richterschaft, in: SchlHAnz. 2009, S. 124 f. auch zum Folgenden. 160 S. Stuht, Macht gegen Recht – Berlusconi: gegen die italienische Justiz, in: KritJ 36 (2003), S. 260 f. 161 Bifulco, Unabhängigkeit (Fn. 159/C.), SchlHAnz. 2009, S. 124 f.
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hezu alle Richter und Staatsanwälte angehören, nach einer Diskussion mit allen Mitgliedern erstellt und verabschiedet162. Er betont in der Präambel ausdrücklich, dass er keine Disziplinar- oder Strafbarkeitsregeln enthält. Es erfasst alle Magistrati und damit auch die Staatsanwälte. Art. 14 befasst sich mit den Verpflichtungen von Behördenleitern. Der Kodex besteht aus drei Teilen (I. Le regole generali [Allgemeine Regeln]; Art. II. Indipendenza, imparzialità, correttezza [Unabhängigkeit, Unparteilichkeit, Integrität]; III. La condotta nell’ esercizio delle funzioni [Das Verhalten bei der Ausübung der dienstlichen Aufgabe]). Die Teile sind in insgesamt 14 Artikel untergliedert. Inhaltlich sind sie knapp gefasst163. Sie verhalten sich im Einzelnen zu Würde und Korrektheit im Privatleben, Pflichtbewusstsein, zur uneigennützige Ausübung des Richteramts, zu Unabhängigkeit, Unparteilichkeit, zum respektvollen Umgang mit rechtssuchenden Bürgern, Standesbewusstsein, zu kontinuierlicher Fortbildung, zum Verfahren bei der Nutzung der Mittel der Verwaltung, zur Wahrung des Berufsgeheimnisses, zu Disziplin im Umgang mit den Medien, Auseinandersetzung mit politischen oder finanziellen Interessenskonflikten, Prüfung der eigenen Unparteilichkeit, zum Verhältnis zu Gleichrangigen und Angehörigen der Justiz, zur Mitgliedschaft in Organisationen, die Treuebekenntnisse verlangen oder bei denen die Mitgliedschaft verschwiegen werden muss, sowie zu dem Verbot die eigene oder fremde Beförderung zu „forcieren“. Der Kodex sieht weder ein Überwachungs- oder gar einen Sanktionsmechanismus vor. Er kann daher insgesamt als Akt der Selbstverpflichtung der Richterschaft verstanden werden. Allerdings ist der Kodex im Kampf zwischen der Justiz und der Politik in der Folgezeit auch zum Instrument der Disziplinierung geworden. Art. 107 Abs. 2 der Verfassung sieht die disziplinarische Verfolgung der Magistrati vor. Entscheidungsorgan ist die Disziplinarabteilung des Obersten Richterrats (CSM: Consiglio Superiore della Magistratura164), der auf Antrag des Ministers sowie des Generalstaatsanwalts beim Kassationshofs tätig wird. Dieses Organ, das der verfassungsrechtlichen Absicherung der richterlichen und staatsanwaltschaftlichen Unabhängigkeit dient, war Gegenstand heftiger politischer Auseinandersetzun162
Huhs, Bericht (Fn. 83/C.), BJ 2004, S. 412; auch zum Nachfolgenden. Das Problem der umfassenden Normierbarkeit der Regeln der Richterethik wurde vom italienischen Verfassungsgericht in seiner Entscheidung 101/1981 angesprochen. Diese Entscheidung befasste sich mit der Bestimmung des Art. 18 des Richtergesetzes n. 511/1946, wonach der Richter zur disziplinarischen Verantwortung herangezogen werden kann, falls er seine Pflichten vernachlässigt oder sich in einer Weise benimmt, die das Ansehen und die Ehre der Richterschaft beschädigen kann. 164 Zur Arbeitsweise: M. Jescke, Modelle einer selbstverwalteten Dritten Gewalt in Europa, in: KritV 2010, S. 233, 236 ff.; G. Salvi, Selbstverwaltung und Verfassungsrecht: Die italienische Erfahrung, in: KritV 2008, S. 367 ff.; G. Oberto, Richterliche Unabhängigkeit – Rechtsvergleichende Betrachtung ihrer institutionellen Ausgestaltung in den Ländern, in: ZRP 2004, S. 209. 163
I. Gegenwärtiger Bestand richterlicher Ethikkodizes
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gen. Aufgrund der Prozesse gegen Berlusconi wegen Meineids, illegaler Parteienfinanzierung, Bestechung, Bilanzfälschung und Steuerdelikte, die bereits seit 1990 geführt wurden, wurde die Justiz von ihm und Mitgliedern seiner Partei bzw. der Koalitionspartner als politisiert („rote Roben“), „subversiv“ und „kriminell“ bezeichnet165. Diese Auseinandersetzungen sind in westeuropäischen Staaten beispiellos und schädigten sowohl das demokratische System als auch die Justiz und führten zu deren Delegitimierung166. Sie waren Auslöser diverser gesetzlicher Regelungen im Bereich des Prozessrechts (z. B. Absenkung der Anforderungen an den Vorwurf der Befangenheit; Einschränkung der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen; gesetzliche Festlegung von Verfahrensdauern167 etc.), des Strafrechts (z. B. Abkürzung der Verjährungsfristen; Amnestiegesetze für Geldtransfers in das Ausland und für Steuerhinterziehung; Immunitätsregelungen für Inhaber von Staatsämtern; Reduzierung des Vorwurfs der Bilanzfälschung), aber auch des Richterrechts, insbesondere des Disziplinarrechts. Letztere hatten direkten Bezug zu den Verhaltensregeln für Richter und Staatsanwälte. 2004 versuchte die zweite Regierung Berlusconi, im Rahmen einer umfassenden Justizreform den Ethikkodex zur Grundlage einer Disziplinarregelung zu machen. Neben einem Monitoringbüro für schweres richterliches Fehlverhalten in Verfahren mit dem Ziel, straf- und disziplinarwürdiges Verhalten festzustellen und zu ahnden, war auch ein Verbot der „kreativen“ oder schöpferischen Gesetzesauslegung enthalten. Das Monitoringbüro sollte die bisherige Praxis der informellen Kontrolle und Überwachung von Gerichtsverfahren durch Bedienstete des Justizministeriums ablösen, der für die Einleitung von Disziplinarverfahren gegen die Magistrati zuständig ist. Solche Verfahren wurden im Übrigen zeitweise in der Presse mit allen Einzelheiten angekündigt168. Der Oberste Richterrat sollte verkleinert, neu zusammengesetzt und bei der Wahl der Einfluss der Richterverbände beschränkt werden. Gegen diese sowie weitere Regelungen regte sich heftiger politischer Widerstand. Der Staatspräsident verweigerte die Ausfertigung des Gesetzes und die Richter und Staatsanwälte traten in den Ausstand169. In den Jahren 2005 und 2006 sind jedoch das Gesetze n. 150/ 2005 und das Dekret n. 109/2006 – gegenüber den Entwürfen in abgeschwächter Form – in Kraft getreten170. Das Verbot der „schöpferischen“ Rechtsauslegung wurde zwar nicht Gesetz. Allerdings enthält das Gesetz n. 150/2005 detaillierte Verhaltensregeln, die Grundlage disziplinarischer Verfolgung der Magistrati wer165
Stuht, Macht (Fn. 160/C.), KritJ 36 (2003), S. 256 f. G. Oberto, Aktuelle Reformvorschläge und Unabhängigkeit der Justiz in Italien, in: DRiZ 2010, S. 204. 167 Oberto, Reformvorschläge (Fn. 166/C.), DRiZ 2010, S. 207. 168 Stuht, Macht (Fn. 160/C.), KritJ 36 (2003), S. 265. 169 del Castillio, Die neue Bedrohung für Italiens Justiz, in: BJ 83 (2005), S. 119; auch zum Voranstehenden. 170 Kreth, Richterliches Verhalten (Fn. 5/A.), KritV 2008, S. 478. 166
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C. Elemente einer deskriptiven richterlichen Ethik
den können. Diese stehen neben unbestimmten Generalklauseln („Jede andere Verletzung der Pflicht zur Unparteilichkeit . . . oder zum Fleiß“ . . .), an die dennoch klare Rechtsfolgen geknüpft sind. Der Eintritt in eine politische Partei oder das politische Engagement stehen unter Disziplinarandrohung. Italien kann als Beispiel gelten, wie einerseits aufgrund schwerwiegender Vorgänge politischer und öffentlicher Druck auf die Richterschaft zur „Selbstverpflichtung“ auf berufsmoralische Regeln führt und andererseits diese Regeln zur Grundlage disziplinarischer Verfolgung gemacht werden können. Es zeigt sich dabei, dass Ethikregeln für Richter den Nerv rechtsstaatlicher Justiz und richterlichen Selbstverständnisses treffen können. bb) Frankreich In Frankreich besteht eine umfassende rechtliche Verantwortung des einzelnen Richters. Dies zeigt sich bereits bei seiner zivilrechtlichen Haftung171. Auch der unantastbare Kernbereich richterlichen Handelns ist enger als in Deutschland gezogen172. Aufgrund der richterlichen Selbstverwaltung durch den Obersten Rat der Richterschaft (Conseil Superieur de la Magistrature173) ist schließlich der disziplinarische Zugriff auf die Richter tendenziell härter. Trotz dieser rechtlichen Rahmenbedingungen und obwohl richterliche Ethik Gegenstand der richterlichen Aus- und Fortbildung war und ist174, hat es in Frankreich zum Teil sehr öffentlichkeitswirksames richterliches Fehlverhalten gegeben. Infolge mehrerer Richterskandale seit 2002175, die sowohl das außerdienstliche als auch das dienstliche Verhalten betrafen, wurde durch das Justizministerium eine Überprüfung der bestehenden Verhaltensregeln initiiert176. Ergebnis war der Bericht einer aus Vertretern der Justiz, der Wissenschaft und gesellschaftlicher Organisationen bestehenden Kommission vom November 2003 („Cabannes-Bericht“)177, in dem neben Verbesserungen des Disziplinarwesens 171 A. Ohlenburg, Die Haftung für Fehlverhalten von Richtern und Staatsanwälten im deutschen, englischen und französischen Recht, Osnabrück 2000, S. 47. 172 Titz, Berufsethos (Fn. 119/A.), DRiZ 2008, S. 98 f. 173 Zur Struktur und Arbeitsweise: Jescke, Modelle (Fn. 164/C.), KritV 2010, S. 233, 242 ff. Oberto, Unabhängigkeit (Fn. 164/C.), ZRP 2004, S. 208. 174 Neumann, Richterliche Ethik (Fn. 108/A.), DRiZ 2008, S. 101. 175 Vgl. G. Canivet, Der Richter in der demokratischen Gesellschaft, in: BJ 2006, S. 431. 176 Kreth, Richterliches Verhalten (Fn. 5/A.), KritV 2008, S. 478. Vgl. auch zur Geschichte und zum gegenwärtigen Stand der richterlichen Ethik in Frankreich den GRECO-Bericht S. 40 ff. englischer Text von 2013: www.coe.int/t/dghl/monitoring/gre co/evaluations/round4/Eval%20IV/GrecoEval4%282013%293_France_EN.pdf; Stand: 10.10.2015. 177 www.judicial-ethics.umontreal.ca/en/textes%20int/documents/FRANCE_COM MISSION_ReFLEXION.pdf/; Stand: 22.12.2011.
I. Gegenwärtiger Bestand richterlicher Ethikkodizes
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und der Aus- und Fortbildung auch ein Kompendium der ethischen Pflichten der Richter vorgeschlagen wurde. Diese Diskussion wurde begleitet von einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit der „Deontologie“ richterlichen Verhaltens und mit dem Vergleich zu anderen Justizsystemen178. Ein Parlamentsausschuss forderte 2006 die Integration eines Ethikkodex in die richterrechtlichen Bestimmungen. Nachdem im Jahr 2007 der Oberste Rat der Richterschaft durch Gesetz ermächtigt wurde, eine Sammlung ethischer Pflichten zu formulieren, wurde unter Beteiligung der Richterschaft und – im Wege einer Befragung – der Bevölkerung eine solche vorbereitet. In diesen Prozess war die französische Richterakademie eingebunden, die für die Vorbereitung von Anwärtern auf den Dienst in den Magistraten verantwortlich ist. Auch internationale und ausländische Vorbilder wurden zu Rate gezogen und entsprechende Veranstaltungen durchgeführt179. Die Nationalversammlung sprach sich zwar letztlich gegen einen Kodex aus, um zu verhindern, dass der Inhalt der Regeln „einfriert“ und sich nicht mehr weiterentwickeln kann bzw. nur ein letztlich doch lückenhafter Katalog von Pflichten formuliert wird. Es sollte nur eine Erklärung allgemeinen Grundsätzen in Verbindung mit ein paar wichtigen, grundlegenden Werten zusammengefasst werden, was durch den Obersten Rat der Richterschaft 2010 für die ordentliche Gerichtsbarkeit (Magistrate) letztlich geschah. In der Präambel des 2010 verabschiedeten France Recueil des obligations déontologiques des magistrats180 wird bereits deutlich gemacht, dass dieses Kompendium keine Sammlung von Disziplinarregeln, sondern eher ein Leitfaden für Richter und Staatsanwälte sein soll, die in Frankreich alle Mitglieder des gerichtlichen „Korps“ sind. Seine Veröffentlichung soll dem Vertrauen der Öffent178
Vgl. Salas/Epineuse (Hrsg.), L’etique du judge: une approche europeene et internationale, Paris 2003, stellen die Diskussion in seinen europäischen und internationalen Bezügen dar. Im ersten Teil werden die anglo-amerikanischen Vorbilder von Richterkodizes dargestellt, zu denen auch die Bangalore Prinzipien und der kanadische Ethik-Kodex gerechnet werden (S. 21 ff.). Der zweite Teil beschäftigt sich mit der Opinion des CCJE, dem italienischen Kodex und der bisherigen französischen Diskussion (S. 85 ff.). Im dritten Teil findet sich ein Dokumentenanhang (S. 141 ff.). Canivet/Joly-Hurard, La deontologie du magistrat, 2. Auflage, Paris 2009 (1. Aufl., 2004): Sie grenzen die Deontologie zu anderen Disziplinen ab (S. 7 ff.) und setzen sie in Beziehung zu anderen, insbesondere disziplinarischen Normgefügen (S. 19 ff.), zeigen die Entwicklung in Frankreich auf (S. 60 ff.). Im zweiten Teil wird in erster Linie die Verantwortlichkeit der Richter im disziplinarischen Sinne beleuchtet (S. 95 ff.), um hieraus die Entstehung berufsmoralischen Verantwortlichkeit zu erläutern (S. 100 ff.). Im dritten Teil wird die Deontologie näher entfaltet (S. 139 ff.). Dabei werden auch Mechanismen der „kollektiven Reflexion“ richterlicher Ethik in der Gestalt eines Beratungs- oder Kontrollorgans, lokale Zirkel und die demokratische Kontrolle der richterlichen Deontologie diskutiert (S. 165 ff.). 179 Titz, Berufsethos (Fn. 119/A.), DRiZ 2008, S. 98 f. zur Veranstaltung „Deontologie et responsabilite des magistrats“ vom 31.01. bis 1.02.2008. 180 Englisch: www.conseil-superieur-magistrature.fr/files/recueil_des_obligations_de ontologiques_des_magistrats_EN.pdf/; Stand: 10.10.2015.
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C. Elemente einer deskriptiven richterlichen Ethik
lichkeit in eine unabhängige und unparteiische Justiz dienen. Das Kompendium ist in sechs Abschnitte gegliedert: Unabhängigkeit, Unparteilichkeit, Integrität (untergliedert in Redlichkeit, Loyalität), Gesetzesbindung, Verhalten zu anderen (untergliedert in Würde und Offenheit), Diskretion und Zurückhaltung. Jeder Grundwert wird zunächst definiert und dann hinsichtlich der institutionellen, persönlichen und funktionalen Ebene in einzelnen Prinzipien, zum Teil mit der Formulierung von Ge- und Verboten, entfaltet. Danach werden diese Ausführungen jeweils kommentiert und an Beispielen erläutert. Trotz dieses Kodex hat die französische Richterschaft auch danach manchen berufsmoralischen Skandal zu überstehen181. 2011 hat der Conseil d’Etat, das höchste Verwaltungsgericht Frankreichs, die Charte de déontologie des membres de la juridiction administrative182 für die Verwaltungsrichter verabschiedet. Damit wurde auch das 2011 noch geplante Ethikgesetz für Richter verhindert. Die Charta sieht ein Collège de déontologie vor, das aus einem Mitglied des Staatsrates, einem Mitglied des Obersten Rats der Richterschaft für die Verwaltungsgerichte und dem Vizepräsidenten des Conseil d’Etat besteht. Das Gremium kann von Richtern angerufen werden, um eine Empfehlung auszusprechen183. Frankreich kann als Beispiel dafür gelten, dass unter bestimmten Umständen trotz hoher rechtlicher Regelungsdichte auf öffentlichen Druck hin richterliche Verhaltenspflichten in einer berufsmoralischen Sammlung niedergelegt werden. Ähnliches gilt für Österreich, das in seinen richterrechtlichen und prozessualen Strukturen große Ähnlichkeit mit Deutschland aufweist: cc) Österreich184 Das Österreichische Richter- und Staatsanwaltschaftsdienstgesetz (RStDG)185 enthält in den §§ 57 ff. eine Fülle gesetzlich geregelter und damit dienstrechtlicher Amtspflichten. Danach sind Richter und Staatsanwälte der Republik Österreich zur Treue verpflichtet und haben die in der Republik Österreich geltende 181 Hierzu: Die Justiz und ihre Deppen, FAZ v. 27.04.2013, S. 6 zu einer Aktion der Richtergewerkschaft „Syndicat de la Magistrature“, bei der Fotos von Politikern und Opfer von Straftaten, die die Justiz kritisierten, an eine „Wand der Deppen“ gepinnt wurden. 182 Vgl. www.conseil-etat.fr/Conseil-d-Etat/Organisation/Deontologie-des-membresde-la-juridiction-administrative (Stand: 12.05.2015). 183 Vgl. Adelswärd, Richterethik (Fn. 146/C.), S. 443. 184 Gass, Richterethik (Fn. 5/A.), S. 132; Markel, Richterbild (Fn. 300/B.), JJG 2006/1. 185 Vgl. ÖsterrBGBl. Nr. 305/1961 (zu letzten Änderung ÖsterrBGBl. I Nr. 8/2014). Die Dienstrechtsnovelle 2015 hat in den hier maßgeblichen Bestimmungen keine wesentlichen Änderungen erbracht.
I. Gegenwärtiger Bestand richterlicher Ethikkodizes
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Rechtsordnung unverbrüchlich zu beachten. Sie haben sich „mit voller Kraft und allem Eifer“ dem Dienst zu widmen, sich fortzubilden, die Pflichten ihres Amtes gewissenhaft, unparteiisch und uneigennützig zu erfüllen und die ihnen übertragenen Amtsgeschäfte so rasch wie möglich zu erledigen. Richter und Staatsanwälte haben sich im und außer Dienst so zu verhalten, dass das Vertrauen in die Rechtspflege sowie das Ansehen ihrer Berufsstände nicht gefährdet wird. Auch im Ruhestand haben Richter und Staatsanwälte das Standesansehen angemessen zu wahren (§ 57 RStDG). Nach § 57a RStDG besteht ein ausdrückliches „Mobbingverbot“, d.h. im Umgang mit Kollegen und Mitarbeitern sind Verhaltensweisen oder das Schaffen von Arbeitsbedingungen zu unterlassen, die deren menschliche Würde verletzen oder dies bezwecken oder sonst diskriminierend sind. Außerdem werden folgende Pflichten in der Gestalt rechtlicher Ge- und Verbote näher definiert: Amtsverschwiegenheit, Ausbildungspflicht, Verbot der Geschenkannahme, Anwesenheit im Amt, Regeln zum Wohnsitz und Aufenthalt, Pflichten bei Abwesenheit wegen Krankheit oder eines anderen Hindernisse, Regeln zu Nebenbeschäftigungen und Nebentätigkeiten, Meldepflichten, Pflicht zur Einhaltung des Dienstwegs. Daneben sehen weitere gesetzliche Bestimmungen Verhaltenspflichten im Verfahren vor. Die Verletzung dieser Amtspflichten kann gemäß § 101 ff. RStDG disziplinarisch verfolgt werden. § 101 Abs. 1 RStDG erfasst aber nicht nur die Verletzung von Amts-, sondern auch von Standespflichten, denn er bestimmt: Über den Richter, der seine Standes- oder Amtspflichten verletzt, ist eine Disziplinarstrafe zu verhängen, wenn die Pflichtverletzung mit Rücksicht auf die Art oder Schwere der Verfehlung, auf die Wiederholung oder auf andere erschwerende Umstände ein Dienstvergehen darstellt. Liegt kein Dienstvergehen, aber doch eine als Ordnungswidrigkeit zu ahndende Pflichtverletzung vor, ist eine Ordnungsstrafe zu verhängen. Damit werden „Standespflichten“ zu rechtlich ahndbaren Verhaltenspflichten. Trotz dieser rechtlichen Regelungsdichte und des Risikos, das die nähere Definition von „Standespflichten“ disziplinarische Folgen auslöst, hat sich die Österreichische Richterschaft – zu der damals etwa Verwaltungsrichter noch nicht zählten – schon frühzeitig mit berufsmoralischen Fragen beschäftigt. In seiner Entschließung anlässlich des Richtertages 1982 hat der Vorstand der Hauptversammlung der Vereinigung der österreichischen Richter eine Änderung der Satzungen der Vereinigung zur Sicherung der Unabhängigkeit der Richter vor politischer Einflussnahme vorgeschlagen und in diesem Zusammenhang auch berufsmoralische Pflichten der Richter beschrieben. An sie gewandt führte die Empfehlung („Salzburger Beschlüsse“)186 – knapp zusammengefasst – aus: Der einzelne Richter stehe einerseits im besonderen Maße unter den Anforderungen der Erledigung des ständig steigenden Arbeitsanfalles, andererseits versuchten 186 www.richtervereinigung.at/statuten01.htm#SBG; Stand: 22.12.2011; dort auch zur interessanten Vorgeschichte.
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C. Elemente einer deskriptiven richterlichen Ethik
verschiedene politische Kräfte auf sein Fortkommen und damit zumindest indirekt auch auf seine berufliche Tätigkeit Einfluss zu nehmen. Die Wahrung eines Abstandes zu politischen Parteien und ähnlichen Gruppierungen sei daher eine Anforderung an den Richter zur Wahrung der Glaubwürdigkeit seiner Unabhängigkeit. Die Vereinigung forderte alle Richter auf, ihrem Dienst an der rechtsuchenden Bevölkerung, so schnell als es die Belastung zulässt, nachzukommen und Rückstände zu vermeiden. Ungebührliche Verzögerungen in der Erledigung seien Rechtsverweigerungen und untergrüben den Sinn richterlicher Unabhängigkeit. Die Vereinigung betrachte es als sittenwidrig, wenn Richter für ihre Karriere parteipolitische Interventionen, welcher Art auch immer, in Anspruch nähmen. Der Richter dürfe neben seinem Amt keine Stellung annehmen, die die Vermutung der Befangenheit in Ausübung seines Dienstes hervorrufen könnte. Die Vereinigung empfahl daher den Richtern, während des aktiven Dienstes keiner parteipolitischen Betätigung nachzugehen und eine Mitgliedschaft bei den politischen Parteien zu meiden. Da die „Salzburger Beschlüsse“ der Satzung der Vereinigung der österreichischen Richter als Anhang beigefügt wurde, sind die in ihr beschriebenen „Pflichten“ Maßstab für ein vereinsschädigendes Verhalten, das nach § 7 der Satzung zum Ausschluss führen kann. Der Vereinsausschluss wegen Verletzung der Empfehlung ist bereits vorgekommen und mehrere Richter kamen durch „freiwilligen“ Austritt dem Ausschluss zuvor187. Die „Salzburger Beschlüsse“ waren im Wesentlichen auf die Wahrung des politischen Mäßigungs- und Abstandsgebots beschränkt. Im Zuge der internationalen Ethikdiskussion wurde in der österreichischen Richterschaft Ende der 90-er Jahre über die Erweiterung dieses Ansatzes diskutiert. Die Vereinigung der österreichischen Richter hat 2003 in Wels einen Diskussionsprozess eingeleitet, an dem sich alle Richter beteiligen konnten. Dieser Prozess hat auch auf Deutschland ausgestrahlt und zu Reaktionen auf umstrittene Regelungen im Entwurf geführt188. Vor der Formulierung einer berufsethischen Erklärung wurden von der Universität Innsbruck justizsoziologische Untersuchungen zur Berufsmoral österreichischer Richter angestellt189. Dieser Prozess führte zur Verabschiedung einer Ethikerklärung durch die österreichischen Richter am 08.11.2007, die nach ihrem Entstehungsort als „Welser Erklärung“ 190 bezeichnet wird. 187 C. Steinhauer, Blick über die Grenze. Richterethik und parteipolitische Betätigung in Österreich; in: NRV BW info Juli 2007, S. 21. 188 Steinhauer, Blick (Fn. 187/C.), NRV BW info 2007, S. 20 f.; Titz, Ausland (Fn. 290/B.), DRiZ 2009, S. 35. 189 Markel, Richterethos (Fn. 6/A.), ÖsterrRZ 2003, S. 172; hierzu auch ders., Richterbild (Fn. 300/B.), JJG 2006/1. 190 https://richtervereinigung.at/ueber-uns/ethikerklaerung/; Stand: 17.03.2016.
I. Gegenwärtiger Bestand richterlicher Ethikkodizes
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In diesem Papier erklärten die österreichischen Richter, sich in ihrem Handeln von folgenden „ethischen Grundsätzen“ leiten zu lassen: der Wahrung der Grundrechte und der demokratischen und rechtsstaatlichen Grundordnung der Republik (Art. I), der inneren und äußeren Unabhängigkeit und der Bindung an das Gesetz (Art. II), der Selbstverantwortung, der Weiterbildung auf allen Gebieten der fachlichen und persönlichen Grundlagen des Berufes und der von Wertschätzung und Effizienz getragenen Zusammenarbeit mit den Justizbediensteten (Art. III), der gewissenhaften und umfassenden Ausbildung des Nachwuchses (Art. IV), der Schaffung einer bestmöglichen Justizverwaltung (Art. V), der Fairness, durch sachlichen, respektvollen und äquidistanten Umgang mit den Verfahrensbeteiligten, durch Gewähr rechtlichen Gehörs und strikter Vermeidung diskriminierender Haltungen und Äußerungen (Art. VI), der sorgfältigen, qualitätsvollen und zeitlich angemessenen Entscheidungsfindung (Art. VII), der Information der Öffentlichkeit und Verständlichkeit der Entscheidungen (Art. VIII), der Vermeidung von Abhängigkeiten und deren Anschein im außerdienstlichen Verhalten, die politische Zurückhaltung (Art. IX), die Wahrnehmung gesellschaftlicher Einflüsse und der gewissenhafter Umgang mit gesellschaftlichen Zusammenhängen (Art. X). Die Welser Erklärung ist bei der Bestimmung der Grundsätze sehr allgemein gehalten. Art. I und II. wiederholen im Kern Rechtspflichten. Teilweise enthält die Erklärung eher berufspraktische und -psychologische Anleitungen etwa, wenn es heißt: „Wir vermeiden es, den Parteien durch Zweifelsucht und Ängstlichkeit oder durch Beharrung auf unwesentliche Förmlichkeiten Nachteile zuzufügen.“ Strikt wird die Erklärung allerdings, wenn es um die politische Betätigung der Richter geht. Insoweit heißt es: „Wir sind überzeugt, dass der Beitritt zu einer politischen Partei oder parteipolitische Tätigkeiten einer Richterin oder eines Richters der Glaubwürdigkeit der unabhängigen, parteipolitisch unbeeinflussbaren und nicht an Interessenverbände gebundenen Gerichtsbarkeit schaden können.“ 191 Insoweit setzt die Erklärung die Salzburger Beschlüsse fort und dürfte von der besonderen Situation der harten und tief in alle gesellschaftlichen und staatlichen Bereiche eindringenden politischen Auseinandersetzung in Österreich geprägt sein. Die Allgemeinheit der Erklärung vermeidet einen prädisziplinarischen Charakter und damit seine unmittelbare Inanspruchnahme für die Definition des durch das Disziplinarrecht geschützten „Standesrechts“ der Richter. Sie lädt deshalb eher zur Selbstreflexion ein, als dass sie klare berufsmoralische Regeln definiert. Dies dürfte – wie sich den Stellungnahmen österreichischer Richter entnehmen lässt – auch die Absicht gewesen sein192. Die Welser Erklärung verzichtete daher auch auf einen berufsmoralischen Implementierungs- und Überwachungsmechanismus. 191
Steinhauer, Blick (Fn. 187/C.), NRV BW info 2007, S. 20 f. C. Pronay, Richterliche Ethik zum Ausprobieren, ÖsterrRZ 2008, S. 82 ff., die den berufspraktischen Ansatz und selbsterzieherischen Charakter der Erklärung im Sinne der „Best practices“-Lehre herausstreicht (S. 83). 192
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C. Elemente einer deskriptiven richterlichen Ethik
dd) Schweiz In der Schweiz193 existierte lange nur eine einzige Sammlung berufsmoralischer Regeln, nämlich der Verhaltenskodex der Richter des Kantonsgerichts Basel-Landschaft194. Zwar gab es schon 1998 eine Diskussion bei der Jahrestagung der Schweizerischen Vereinigung der Richterinnen und Richter195. Der Verabschiedung des ersten Verhaltenskodex im Wege der Selbstverpflichtung der dort tätigen Richter ging aber ein Richterskandal voraus, der zu politischen Reaktionen in der Kantonsversammlung (Landrat) geführt hatte196. In dessen Folge setzte das Kantonsgericht selbst eine Arbeitsgruppe zur Schaffung eines Verhaltens- bzw. Ehrenkodexes ein. Diese Arbeitsgruppe nahm am 06.12.2002 ihre Arbeit auf. Gegenüber dem Landrat wies sie daraufhin, dass an sich die maßgeblichen Verhaltenspflichten der Richter in der Verfassung und den Gesetzen, insbesondere den Prozessordnungen, geregelt seien. Innerhalb dieses vorgegebenen rechtlichen Rahmens bestehe aber durchaus Raum für die Formulierung einer ergänzenden, den spezifischen Verhältnissen der im Kanton tätigen Richterinnen und Richter Rechnung tragenden Ordnung. Nach mehreren Sitzungen wurde der erarbeitete Verhaltenskodex in der „Gesamtgerichtssitzung“ des Kantonsgerichts vom 03.05.2004 verabschiedet197. Dessen Präambel stellt einen Zusammenhang zwischen dem verfassungsrechtlichen Anspruch, dass jede Person ein Recht auf ein faires und öffentliches Verfahren vor einem unabhängigen und unparteiischen Gericht hat, und dem Erfordernis her, dass Richter, als Einzelne und in der Gesamtheit, das richterliche Amt achten und danach streben müssen, das Vertrauen in das Rechtssystem zu stärken und zu erhalten. Außerdem wird auf die Besonderheit des Kantons hingewiesen, wo die richterliche Tätigkeit am Kantonsgericht – und anders als bei den anderen kantonalen Gerichten – vorwiegend von Personen ausgeübt werde, deren Haupttätigkeit außerhalb der richterlichen Tätigkeit liege und die nebenamtlichen Richter deshalb auf ein Einkommen aus einer erwerblichen Haupttätigkeit angewiesen seien. Aus diesen Rahmenbedingungen ergebe sich ein Spannungsverhältnis zum
193
Hierzu Gass, Richterethik (Fn. 5/A.), S. 133. www.baselland.ch/fileadmin/baselland/files/docs/gerichte/verhaltenskodex.pdf; Stand: 17.03.2016. 195 Freiburghaus, Verhaltenskodex (Fn. 195/C.), JJG 2005/1, Rz. 1, der auf die besondere Prägung des erstinstanzlichen Gerichtswesens hinweist, das von nebenamtlichen Richtern beherrscht ist. 196 Vgl. Postulat 2002/078 von E. Maag vom 14.03.2002 betreffend Verhaltenskodex beim Richterstand; Vorlage an den Landrat Nr. 2005/107 des Kantons Basel-Landschaft. Zur Entstehungsgeschichte und den Inhalt: Freiburghaus, Verhaltenskodex (Fn. 195/C.), JJG 2005/1. 197 Text: www.baselland.ch/fileadmin/baselland/files/docs/gerichte/verhaltenskodex. pdf (Stand: 17.03.2016). 194
I. Gegenwärtiger Bestand richterlicher Ethikkodizes
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Prinzip der richterlichen Unabhängigkeit, das durch die beschriebenen Grundsätze als eine selbst auferlegte Ordnung der Richterschaft gelöst werden solle. Infolgedessen wird zunächst die richterliche Unabhängigkeit in ihren individuellen und institutionellen Aspekten näher definiert. Danach haben die Richter die richterliche Funktion auf der Grundlage ihrer eigenen Wertung der Fakten und in Übereinstimmung mit einem gewissenhaften Verständnis des Rechts auszuüben. Sie ließen sich von Dritten und Kollegen in keiner Weise beeinflussen. Sie vermieden auch den Anschein der Beeinflussung durch die exekutive und legislative Gewalt und entschieden unabhängig vom Druck der öffentlichen Meinung und von den Verfahrensparteien. Eine nichtrichterliche berufliche oder eine politische Tätigkeit sei so zu gestalten und auszuüben, dass sie die richterliche Unabhängigkeit in ihrem Kern nicht beeinträchtige. Diese unkonkrete Vorgabe wird nicht näher bestimmt. Im zweiten Kapitel wird die Unparteilichkeit der Richter näher bestimmt und erklärt, dass die Richter ihre richterlichen Pflichten ohne Bevorzugung, Vorurteil oder Voreingenommenheit ausübten. Sie träten in den „Ausstand“, d.h. wirkten bei der Entscheidung nicht mit, wenn sie in einer Sache dazu nicht in der Lage seien oder wenn der Anschein bestehe, sie seien dazu nicht in der Lage. Dies sei insbesondere der Fall, wenn sie gegenüber einer Partei Vorurteile hegten, in einer Sache aufgrund einer nichtrichterlichen Funktion über besondere Kenntnisse der persönlichen Verhältnisse verfügten, sie zuvor in nichtrichterlicher Funktion als Verfahrensbeteiligte in der Sache tätig gewesen seien oder in der Sache Zeuge oder Zeugin sein könnten oder wenn sie oder nahestehende Dritte direkt oder indirekt ein Interesse am Ausgang des Verfahrens hätten. Schließlich wird Zurückhaltung in der Öffentlichkeit gefordert. Der dritte Teil befasst sich mit dem korrekten Verhalten, der persönlichen Integrität, der Kompetenz und Sorgfalt der Richter. In diesem Zusammenhang wird gefordert, dass die Richter auch im privaten, (haupt-)beruflichen und gesellschaftlichen Umgang ihrem Amt Rechnung tragen müssten und ihre hauptberufliche Tätigkeit mit der gebotenen Sorgfalt im Rahmen der geltenden Rechtsordnung ausübten. Als unproblematisch wird die Vertretung, Verteidigung oder Beratung von Dritten, welche gegen das Gesetz verstoßen haben, angesehen. Verpönt ist allerdings eine Beratungs- und Vertretungstätigkeit, welche Rechtsverletzungen ermöglicht oder fördert. Der Verhaltenskodex, den sich das Kantonsgericht selber gegeben hat, gilt nicht automatisch für den gesamten Richterstand im Kanton. Hier bestehen wegen der Rekrutierung der Richterschaft spezifische Probleme. Es wurde aber angeregt, dass sich die Richter an den übrigen Gerichten des Kantons ebenfalls zur Einhaltung eines Verhaltenskodex verpflichten. Der Kodex ist ein Akt der Selbstverpflichtung, kein dienstrechtlicher Erlass mit disziplinarischer Ahndungsmöglichkeit198. Verstöße werden daher „nur“ mit 198
Ebenso Freiburghaus, Verhaltenskodex (Fn. 195/C.), JJG 2005/1, Rz. 9.
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C. Elemente einer deskriptiven richterlichen Ethik
berufsmoralischer Missachtung geahndet. In der Schweiz könnte etwa bei Richterwahlen das kodexwidrige Verhalten thematisiert werden. Inzwischen haben die Richter des Bundesverwaltungsgerichts in St. Gallen am 26.05.2011 in einem Akt der Selbstverpflichtung ebenfalls eine Ethik-Charta verabschiedet199. In ihr werden in sehr allgemeiner Form Grundsätze, Haltungen und Pflichten richterlichen Verhaltens unter den Stichworten Unabhängigkeit, Unparteilichkeit, Sorgfaltspflicht (einschließlich Fortbildungspflicht), Kollegialität und Führungskultur festgehalten. Auch das Bundesstrafgericht in Bellinzona verfügt über ein Leitbild, das zu Sorgfalt, Respekt und Toleranz verpflichtet200. 2014 hat die Schweizer Richtervereinigung (SVR) nun eine Ethikkommission eingesetzt, die Empfehlungen zu berufsmoralischen Fragen entwickeln soll201. Die Ethik-Kommission hat ihre Tätigkeit am 01.09.2014 aufgenommen. Bei der Kommission handelt es sich um ein vom Vorstand der SVR unabhängiges Organ: „Die Ethik-Kommission wurde gegründet, um die Diskussion über die Berufsethik der Richterinnen und Richter zu fördern und eine transparente Debatte über die im Rahmen der richterlichen Tätigkeit anzuwendenden ethischen Prinzipien anzuregen.“ 202 Das Reglement der Ethik-Kommission, das der Vorstand der Richtervereinigung im Februar 2014 verabschiedet hat, regelt den Zweck, die Zusammensetzung, die Aufgaben und die Arbeitsweise der Kommission203. Sie besteht aus 5 bis 9 auf zwei Jahre gewählte Mitgliedern. Wählbar sind Richterinnen und Richter, welche ihre Tätigkeit in der Schweiz hauptberuflich ausüben. Die Wählbarkeit bleibt auch im Ruhestand bestehen (Nr. 2 Regl.). Die Kommission kann von sich aus oder auf Anfrage hin tätig werden. Es liegt in ihrem Ermessen, womit sie sich beschäftigt (Nr. 3 Regl.). Die Kommission bearbeitet Ethikprobleme in der Form, dass eine Frage formuliert und dazu die Empfehlung der Kommission abgegeben wird. Diese Fragen und Empfehlungen werden, thematisch wie auch chronologisch gegliedert, auf einer Webseite publiziert, welche in die Webseite der SVR integriert204 ist (Nr. 4 Regl.). Mit diesem Modell gehen die Schweizer Richter einen eigenständigen Weg, weil sie ihre Kommission von der Existenz eines Ethik-Kodex lösen und eine am Einzelfall orientierte Lösung suchen, die allerdings im Laufe der Jahre in ein Grundsatzpapier fließen könnte.
199
www.bvger.ch/gericht/richter/00563/index.html?lang=de, Stand: 20.05.2015. Vgl. den Bericht in der NZZ vom 15.07.2014: www.nzz.ch/schweiz/leitlinienfuer-gute-richter-1.18344185; Stand: 28.10.2015. 201 www.nzz.ch/schweiz/leitlinien-fuer-gute-richter-1.18344185, Stand: 20.05.2015. 202 www.svr-asm.ch/jcm/index.php/de/, Stand: 20.05.2015. 203 Vgl. die Präambel des Ethik-Reglements: www.svr-asm.ch/jcm/index.php/de/ Stand: 20.05.2015. 204 www.svr-asm.ch/jcm/index.php/de/ethik, Stand: 20.05.2015. 200
I. Gegenwärtiger Bestand richterlicher Ethikkodizes
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ee) Großbritannien, insbesondere England und Wales Die Rekrutierung, Aufgabe, Rechtsstellung und Autorität des Richters (der ordentlichen Gerichtsbarkeit205) in den Common-Law-Ländern unterscheidet sich deutlich von dem kontinentaleuropäischen Verständnis206. Der Prozess wird dort von der Selbständigkeit der Parteien, nicht von einem gesetzlich im Einzelnen festgelegten Gestaltungsauftrag der Richter geprägt. Der Richter agiert als mehr oder weniger passiver Schiedsrichter. Auf der anderen Seite kommt dem Common-Law-Richter ein großes Ermessen bei der Führung des Verfahrens, ja sogar hinsichtlich der Einhaltung von Fristen und Formen, aber auch der Wahrung der Professionalität der Anwälte zu. Inhaltliche Eingriffe, wie etwa ein Rechtsgespräch bezogen auf die geltend gemachten Ansprüche, sind dagegen selten. Diese Stellung begründet das Gegengewicht zum freien Handeln der Parteien und verschafft ihm ein hohes Maß an „Verfahrensmacht“, an die sich eine entsprechende Verantwortung knüpft, nämlich die Fairness des Verfahrens durch Intervention oder durch Zurückhaltung zu gewährleisten. Nachdem sich die Richterschaft in England und Wales aus einem Teil der Anwaltschaft (barristers) rekrutiert und der spätere Richter sich in einem langjährigen Qualifizierungs- und Sozialisierungsverfahren bewähren muss207, war in der Vergangenheit ein hohes Maß an Standesbewusstsein, Integrität und Unabhängigkeit der Richterschaft gewährleistet. Disziplinarische Sanktionen waren und sind daher eher selten, auch wenn insoweit ein Reglement besteht208. Disziplinarmaßnahmen werden etwa in England bei einfachen Richtern zunächst vom Lordoberrichter, dem zweithöchsten Richter nach dem Lordkanzler, und dem Justizminister ausgeübt. Sie werden auf Anzeige hin tätig. Die Untersuchung führt ein Richter. Wird ein disziplinarwürdiges Verhalten festgestellt, wird die Entscheidung einem Disziplinargericht überlassen, das auch mit Laien besetzt ist. Seine Entscheidung wird nur nach Zustimmung des Lordoberrichters und des Justizministers rechtskräftig. Bei höheren Richtern kann die Krone bei beiden Häusern des Parlaments Disziplinarmaßnahmen beantragen. 205 Für die Entscheider an den administrative tribunals der Verwaltungsgerichtsbarkeit gelten tendenziell andere Rekrutierungsformen und Funktionen, hierzu W. Richter, Der englische Richter – ein Fürst? in: Christian Broda u. a. (Hrsg.), Festschrift für Rudolf Wassermann, Neuwied 1985, S. 183 ff. 206 N. Oberheiden, Das Richterbild des Common Law, in: DRiZ 2009, S. 332 ff. Richter, Englische Richter (Fn. 205/C.), S. 177 ff.; vgl. auch G. Roellecke, Erziehung zur Bürokraten? – Zur Tradition der deutschen Juristenausbildung, in: JuS 1990, S. 258 ff. 207 Richter, Englische Richter (Fn. 205/C.), S. 178 ff. 208 Zur Struktur: Jescke, Modelle (Fn. 164/C.), KritV 2010, S. 233, 253 ff.; J. Thomas, Einige Perspektiven für Justizverwaltungsräte, in: KritV 2008, S. 393. Im August 2014 wurde das disziplinarische System nochmals neu geordnet: vgl. die rules and regulations auf der Seite des Judicial Conduct Investigations Office (JCIO): http://judicialconduct.judiciary.gov.uk/rules-regulations/ Stand: April 2016.
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C. Elemente einer deskriptiven richterlichen Ethik
Vor 2002 existierten hinsichtlich der berufsmoralischen Anforderungen nur inoffizielle Leitfäden (Guides), die ohne gesetzliche Verpflichtung von unterschiedlichen Stellen (etwa dem Judicial Studies Board, dem schottischen Justizminister und Vertretern der Lehre in Nordirland) verfasst wurden. Die internationale Debatte, auf die der Guide ausdrücklich hinweist und die in erster Linie von Common-Law-Richtern initiiert wurde, regte eine näherer Beschäftigung mit diesen Fragen auch in Großbritannien an. Im Jahr 2002 hat der Richterrat von England und Wales erste ethische Richtlinien für Richter entworfen. Sie stellen klare Standards richterlichen Verhaltens auf und sollten – ursprünglich – die Grundlage für ein neues Disziplinarsystem bilden209. Der verabschiedete Guide to judicial Conduct210 für England und Wales betont allerdings bereits in seinem Vorwort: „Dieser Leitfaden verfolgt den Zweck, Richtern bei bestimmten Problemen Hilfe zu bieten, anstatt einen detaillierten Kodex vorzuschreiben, und will Prinzipien festlegen, aufgrund derer die Richter selbst ihre Entscheidungen treffen und somit ihre richterliche Unabhängigkeit bewahren können.“ Dies geschieht dann – zum Teil sehr ausführlich – in neun Kapiteln mit Unterabschnitten, die sich auf der Grundlage des Richtereids mit folgenden Feldern befassen: Richterliche Unabhängigkeit, Unparteilichkeit, Integrität, Anstand, Kompetenz und Sorgfalt, persönliche Beziehungen, Vorurteil und Befangenheit, Aktivitäten außerhalb des Gerichts, Medien, Teilnahme an der öffentlichen Debatte, kommerzielle Aktivitäten, Vereinsmitgliedschaften, Referenzen, Vergütung, Visitenkarten, Geschenke und Gastfreundschaft, soziale Aktivitäten, Einsatz von Arbeitsgeräten, Berichtspflicht bei kleineren Straftaten und Verhalten im Ruhestand. Es wurde ein ständiger – mit Richtern besetzter – Ausschuss gebildet, der die Einhaltung der Regeln beobachtet und die Richter berät, wenn im Leitfaden nicht angesprochene berufsmoralische Probleme auftauchen. Großbritannien hat sich bei der Formulierung seines Leifadens sehr stark von den Prinzipien von Bangalore beeinflussen lassen, wahrt aber bei der Implementierung berufsmoralischer Grundsätze den institutionellen und rechtlichen Schutz der richterlichen Unabhängigkeit. ff) Östliche Mitgliedstaaten der EU Estland: Im Beitrittsprozess der Länder Ostmitteleuropas zur Europäischen Union wurden alle Beitrittskandidaten aufgefordert, Ethikregeln für Richter zu 209
Thomas, Perspektiven (Fn. 208/C.), KritV 2008, S. 393. www.judiciary.gov.uk/Resources/JCO/Documents/Guidance/guide-judicial-con duct-aug2011.pdf, Stand: 22.12.2011. Zum reformierten Text: www.judiciary.gov. uk/wp-content/uploads/JCO/Documents/Guidance/judicial_conduct_2013.pdf; Stand: 10.10.2015. Zum aktuellen Stand der richterlichen Ethik im Vereinigten Königreich vgl. den GRECO-Bericht von 2013, S. 33: https://www.coe.int/t/dghl/monitoring/ greco/evaluations/round4/Eval%20IV/GrecoEval4%282012%292_UnitedKingdom_EN. pdf, Stand: 10.10.2015. 210
I. Gegenwärtiger Bestand richterlicher Ethikkodizes
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entwerfen. 1994 legte deshalb auch die Estnische Richtervereinigung einen ersten Entwurf eines Kodex vor, der sich stark am Bundesrichterkodex der USA von 1973 orientierte. Die Vollversammlung aller Richter verabschiedete 2004 auf der Grundlage von § 38 Abs. 3 des estnischen Gerichtsgesetzes unter Berücksichtigung der Prinzipien von Bangalore einen Kodex bestehend aus 32 knapp gefassten Regeln, die keine strafrechtliche oder disziplinarische Folge auslösen sollten211. Die Gestaltung spiegelt mit seinen konsequenten Formulierungen „Der Richter soll . . . oder . . . darf nicht“ das US-amerikanische Vorbild. Dieser Kodex erfasste nicht nur das dienstliche, sondern in fünf Abschnitten auch das außerdienstliche Verhalten. So ist etwa in Ziff. 30 angeordnet, dass sich Richter vom Drogenkonsum und exzessiven Alkoholkonsum fernhalten sollen. Bereits das Gerichtsgesetz enthält restriktive Vorgaben für eine politische Tätigkeit (§ 49 Abs. 2). Dies wird in Ziffern 23 bis 25 näher ausgestaltet. Allerdings können Richter Mitglied einer Berufsvereinigung sein. Der Kodex enthält keine Regeln für seine Implementierung; auch eine Ethikkommission ist nicht vorgesehen. Allerdings gibt es eine Disziplinarkommission für Richter beim Obersten Gerichtshof, die richterliches Fehlverhalten ahndet. Die Ethikregeln öffnen sich für dieses Verfahren aber nicht. Allerdings sind nach dem Disziplinarrecht auch Verhaltensweisen disziplinarwürdig, die das Vertrauen in die Rechtsordnung gefährden. Die Ethikregeln definieren solche – zu vermeidende – Verhaltensweisen, so dass zu erwarten ist, dass in der Rechtspraxis der Disziplinarkommission auf diese Regeln zurückgegriffen wird. Litauen: Der Ethikkodex der Richter der Republik von Litauen212 wurde von der Generalversammlung der litauischen Richter 2006 verabschiedet. In seinem ersten Kapitel beruft er sich zunächst auf die für die Richter bestehenden gesetzlichen Regelungen: Verfassung, Gesetz, UN-Erklärungen und Stellungnahmen des Europarats. Außerdem wird das Ziel des Kodex formuliert, nämlich unmittelbare und mittelbare Richterpflichten zu bestimmen. Die Grundprinzipien werden dann in Art. 5 zusammengefasst und in den folgenden Art. 6 bis 17 ausformuliert, nämlich die Achtung der Menschen(rechte); Respekt und Loyalität für den Staat; Gerechtigkeit und Unparteilichkeit; Unabhängigkeit; Vertraulichkeit; Transparenz und Öffentlichkeit; Ehrlichkeit und Selbstlosigkeit; Anstand; Vorbildlichkeit; Pflichtbewusstsein; Solidarität; die Verbesserung der Qualifikation. Diese Prinzipien sind mit einzelnen „Sollensanforderungen“ unterlegt. Die Implementierung der Prinzipien wird in Kapitel III. geregelt. Die Prinzipien sind 211 Engl. Text: www.nc.ee/?id=682, Stand: 10.01.2015. Zur Situation bis 2012 vgl. GRECO-Bericht: www.coe.int/t/dghl/monitoring/greco/evaluations/round4/Eval%20 IV/GrecoEval4%282012%295_Estonia_EN.pdf, S. 31, Stand: 28.10.2015. 212 www.judicial-ethics.umontreal.ca/en/codes%20enonces%20deonto/documents/ Code_lituanie.pdf, Stand: 10.10.2015. Zur aktuellen Situation vgl. den GRECO-Bericht von 2014: www.coe.int/t/dghl/monitoring/greco/evaluations/round4/Eval 20IV/Greco Eval4 282014 295_Lithuania_EN.pdf, S. 32, Stand: 28.10.2015.
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C. Elemente einer deskriptiven richterlichen Ethik
danach ein Akt der Selbstverpflichtung. Ziel sei die Verbreitung der Kenntnis des Kodex durch Selbstverwaltungsorgane und die Gerichtspräsidenten. Schließlich wird noch auf die Verantwortlichkeit nach den Gesetzen hingewiesen. Slowenien: Der Slovenia Code of Judicial Ethics213 wurde 2001 von der Generalversammlung der slowenischen Richtervereinigung beschlossen. Er macht deutlich, dass er nicht der rechtlichen Verantwortlichkeit der Richter bei einem Verstoß dienen soll. Das Versäumnis, diese Regeln einzuhalten, kann aber Sanktionen des „Ehrengerichts“ der Richtervereinigung nach sich ziehen, nicht aber die eines gesetzlichen Disziplinarorgans. Der Kodex ist gegliedert in folgende Kapitel: Unabhängigkeit, Unparteilichkeit, Fortbildung; Engagement; mit dem Amt vereinbare und unvereinbare Tätigkeiten; Verschwiegenheit; Haltung; Ruf. Die Prinzipien werden jeweils kurz beschrieben und kommentiert. Ungarn: Der ungarische Ethikkodex für Richter wurde in den Jahren 2004 und 2005 von einem Ausschuss von Mitgliedern der ungarischen Richtervereinigungen entworfen und durch deren Präsidium im Februar 2005 verabschiedet214. Vorausgegangen war ein erster, gescheiterter Versuch des Ungarischen Richtervereins in den Jahren 1993 und 1994, Verhaltensmaßstäbe für Richter zu kodifizieren. Diesem Ansinnen wurde entgegengehalten, dass die Gesetze das richterliche Verhalten hinreichend reglementierten. Außerdem waren der Gegenstand und die Modalitäten der Verabschiedung des Reglements umstritten. Bei der Justizreform von 1997 wurde dann eine Bestimmung Gesetz, nach der Fragen des richterlichen Verhaltens zu den Aufgaben eines ethischen Kodexes gehörten. 1999 hat der Landesjustizrat, das bis 31.12.2011 für die Richter hauptverantwortliche und inzwischen zugunsten eines Justizverwaltungsamts geschwächte richterliche Selbstverwaltungsorgan, die Vorbereitung eines entsprechenden Kodex angeordnet. Das hat wiederum einen längeren vom Justizrat und dem Richterverein getragenen Diskussionsprozess ausgelöst215, der auch und vor allem die ausländischen Vorbilder berücksichtigte und im Wesentlichen von der Richterschaft geführt wurde. 2005 wurde ein Kodex vom Richterverein beschlossen, der allerdings nur für seine Mitglieder galt216.
213 www.judicial-ethics.umontreal.ca/en/codes%20enonces%20deonto/documents/ SLOVENIA-CODEOFJUDICIALETHICS.pdf, Stand: 10.10.2015. vgl. auch den GRECO-Bericht von 2013: www.coe.int/t/dghl/monitoring/greco/evaluations/round4/ Eval%20IV/GrecoEval4%282012%291_Slovenia_EN.pdf, S. 30 f. Stand: 25.10.2015; vgl. auch Epineuse (Fn. 65/C.), Rdnr. 62. 214 Titz, Ausland (Fn. 290/B.), DRiZ 2009, S. 36; im Einzelnen zur Genese: G. Utto, Ethischer Kodex der ungarischen Richter, in: SchlHAnz. 2009, S. 127 ff. 215 Vgl. im Einzelnen: Utto, Ethischer Kodex (Fn. 214/C.), SchlHAnz. 2009, S. 127. 216 Vgl. hierzu den GRECO-Bericht von 2014, S. 33: www.coe.int/t/dghl/monito ring/greco/evaluations/round4/Eval%20IV/GrecoEval4Rep%282014%2910_Hungary_ EN.pdf, Stand: 17.03.2016.
I. Gegenwärtiger Bestand richterlicher Ethikkodizes
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Nach einer Einleitung217, die die Ziele des verabschiedeten Kodex angibt – nämlich im Wege der Selbstregulierung der Richterschaft den verfassungsmäßigen Auftrag einer unabhängigen und effektiven Justiz zu sichern –, werden in knapper Form und ohne nähere Begründung Richtlinien für das dienstliche Verhalten beschrieben. Neben der Gesetzesbindung und der Verteidigung seiner äußeren und inneren Unabhängigkeit wird die Wahrung der Gleichbehandlung und Unparteilichkeit gefordert. Gegenüber Parteien wird ein höflicher und nicht überheblicher Stil gefordert. Fleiß, Effizienz, Verschwiegenheit, Sorgfalt und Fortbildungsbereitschaft wird ebenso beschrieben wie der Umgang mit Kollegen und anderen Justizbediensteten. Das außerdienstliche Verhalten und die in der Öffentlichkeit gemachten Äußerungen sollen der Würde des Amtes angemessen sein. Dies gilt auch für seine wirtschaftlichen Betätigungen. Der Gebrauch des Amtstitels im nicht amtlichen Verkehr soll unterbleiben. Seine „Probleme im Privatleben“ hat er zu regeln. Auch seine Freundschaften, sein Freizeitverhalten und seine privaten Kontakte haben die „Ehre und Unparteilichkeit“ seines Berufes zu wahren. Er hat in jeder Hinsicht parteipolitisch enthaltsam zu sein218. Dies gilt auch für sein grundsätzlich erlaubtes caritatives Engagement. Das Ziel, einen knappen übersichtlichen Katalog allgemeiner Prinzipien zu formulieren, ist mit diesem Kodex erfüllt. Er dient vor allem auch der Sicherung und Selbstreinigung der Justiz eines in einem politischen Transformationsprozess befindlichen Landes. Nach der eigenen Einschätzung der ungarischen Richter219 hat bereits die intensive Diskussion, die der Annahme des Kodexes vorausging, zu einer verantwortungsbewussten Bestandsaufnahme der Berufsmoral der Richter geführt. Die formulierten ethischen Grundsätze hätten die Durchführung der mit dem Richterberuf verbundenen konstitutionellen und gesetzlichen Bestimmungen gefördert. Zwar gebe der moralische Zustand der Richter keinen Anlass zur Sorge, es sei aber notwendig, ihn dauerhaft zu wahren, um der Empörung der öffentlichen Meinung durch Fehlverhalten der Richter im Einzelfall vorzubeugen. Zur Implementierung und Sicherung der Pflichten wurde der Landesethikrat der Richter (OBET) trotz entgegenstehenden Willens des Vorbereitungsausschusses geschaffen. Er wird vom Landesgremium der Richtervereine aus aktiven und pensionierten Richtern gewählt und besteht aus 12 Richtern. Er wird auf richterlichem Antrag hin tätig. Den Antrag kann ein Richter selbst oder ein Richterkollege stellen. Der Rat kann auch von sich aus tätig werden. Er wird seit 2006 rege beansprucht. Er gibt als eine Art „Ethikkommission“ auf der Grundlage von „Stellungnahmen“ Antworten auf konkrete richterethische Fragen. Die bisherigen 217 Vgl. zum Folgenden im Einzelnen: Utto, Ethischer Kodex (Fn. 214/C.), SchlHAnz. 2009, S. 127. 218 Titz, Ausland (Fn. 290/B.), DRiZ 2009, S. 36. 219 Vgl. im Einzelnen auch zum Folgenden: Utto, Ethischer Kodex (Fn. 214/C.), SchlHAnz. 2009, S. 128.
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C. Elemente einer deskriptiven richterlichen Ethik
Stellungnahmen betreffen etwa das Verhalten von Richtern gegenüber anderen Richtern, wenn sie in einem für verwandte Dritten geführten Verfahren den zuständigen Richter wegen „Unfähigkeit“ ablehnen, die Inanspruchnahme ärztlicher Hilfe durch einen Richter von einer Partei des Verfahrens, in dem er zu entscheiden hat, die Unterstützung oder Kritik einer politischen Partei im Internet oder in einem offenen Brief, die unterlassene Selbstablehnung in einem Verfahren, in dem ein Anwaltskollege eines nahen Verwandten auftrat, sowie Fragen der Unparteilichkeit. Dabei sind die Stellungnahmen so verfasst, dass sie keinen bestimmten Richter rügen, sondern nur ein bestimmtes Verhalten. Allerdings besteht das Risiko, dass die nähere Beschreibung des Verhaltens die Anonymität des Richters faktisch nicht wahrt220. Die Öffentlichkeit nimmt die im Internet veröffentlichten Stellungnahmen wahr und trägt so zur Vertrauensbildung in den Selbstreinigungsprozess bei. Seit dem Regierungswechsel im Jahr 2010 wird die Haltung der ungarischen Richter, politische Eingriffe in die richterliche Unabhängigkeit (Beschränkung des verfassungsrechtlichen Rechtsschutzes, Reduzierung des Renteneintrittsalters der Richter221; Aufhebung der richterlichen Selbstverwaltung und Einführung eines Landesjustizamtes; gesetzliche Zuteilung von Verfahren) abzuwehren, besonderen Anforderungen ausgesetzt. Auch war zunächst die Weiterführung des richterethischen Projekts in Frage gestellt. Das Justizverwaltungsamt hat im November 2014 aber einen neuen Kodex erlassen, der nicht nur für Mitglieder der Richtervereinigung, sondern für alle Richter gilt. Tschechien und die Slowakei: Der Berufsverband der tschechischen Richter hat im Jahr 2000 einen Entwurf für einen Kodex nach amerikanischem Vorbild mit sieben Regeln formuliert. Nach einem längeren Diskussionsprozess wurde 2006 unter enger Anlehnung an die Prinzipien von Bangalore ein Ethikkodex beschlossen222. Er enthält 6 knapp gefasste Grundsätze (Unabhängigkeit, Unparteilichkeit, Integrität, Würde, Gleichbehandlung; Sorgfalt) ohne Sanktionsmechanismen. Auch ein „Karriere-Kodex“ (Beförderungsrichtlinien) soll beschlossen werden; die Entwürfe haben bereits vorgelegen. Die tschechische Richterorganisation besteht darauf, dass der Ethikkodex vom Disziplinarrecht unbedingt getrennt wird. Die Slowakei besitzt seit 2001 einen kurz gefassten Richterkodex, der seitdem nicht mehr verändert wurde und der sich ebenfalls an den Prinzipien von Bangalore anlehnt223.
220 Vgl. zum Vorstehenden: U. Domgörgen, Bericht vom „Kleinen Verwaltungsrichtertag“ am 12./13. Juni 2008 in München, in: BDVR-Rundschreiben 03/2008, S. 105, zu einem Vortrag von Darak zur ungarischen Ethikkommission. 221 Diese Regelung hat das ungarische Verfassungsgericht im Juli 2012 aufgehoben: vgl. FAZ v. 18.07.2012, S. 6. 222 Tschechischer Text: www.soudci.cz/o-nas/eticke-zasady-chovani-soudce.html, Stand: 10.10.2015.
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Polen: Auf Vorschlag des polnischen Senats wurde nach Berichten über korrupte polnische Richter und Umfragen, bei der 57% der Befragten günstige Urteile für käuflich hielten, im Juli 2001 das Gesetz über den Landesjustizrat geändert. Danach beschließt dieser Rat künftig die Sammlung der Grundsätze der Berufsethik der Richter und überwacht ihre Befolgung224. Die Ausarbeitung hatte danach innerhalb von 15 Monaten zu geschehen. Die geforderte Sammlung wurde daraufhin im Februar 2003 veröffentlicht225. Sie lehnte sich an die „Sammlung der Grundsätze des Verhaltens der Richter“ der Richtervereinigung „Justitia“ vom Juni 2002 an. Die Sammlung besteht aus drei Kapiteln226. Im ersten Kapitel, bestehend aus 7 Paragrafen, sind allgemeine Grundsätze niedergelegt, bei denen die Unparteilichkeit, die Aufrichtigkeit, Würde, Ehre und das Pflichtbewusstsein im Mittelpunkt stehen. Im Kapitel II werden in 8 Paragrafen die Grundsätze der Diensterfüllung als konkrete Pflichten formuliert (§ 8 Zügigkeit und Kostenbewusstsein; § 9 Anzeigepflicht bei die Unparteilichkeit gefährdende Umstände; § 10 Allgemeines Verbot von Verhaltensweisen, die die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit gefährden; § 11 Verständlichkeit und Zurückhaltung bei der Begründung; § 12 angemessene, würdevolle und diskriminierungsfreie Verfahrensführung; § 13 öffentliche Zurückhaltung; § 14 Pflicht zur gewissenhaften Erfüllung von Justizverwaltungsaufgaben; § 15 Pflicht zur Selbstablehnung). Die Grundsätze des außerdienstlichen Verhaltens werden im Kapitel III formuliert (§ 16 Vorbildcharakter bei der Wahrung der Rechtsordnung; § 17 Vermeidung persönlicher und wirtschaftlicher Beziehung [auch hinsichtlich der Angehörigen], die die Unparteilichkeit gefährden; § 18 Redlichkeit in finanziellen Angelegenheiten; §§ 19 und 20 Verbot der Annahme von Vorteilen und Angeboten; § 21 Verbot des Angebots rechtlicher Dienstleistungen; § 22 Verbot der Mitgliedschaft in illegalen Organisationen). Zum Normcharakter gilt Folgendes: An sich enthält die Sammlung keine Sanktionsmechanismen. Obwohl er trotz der gesetzlichen Vorgabe wie ein Akt der Selbstverpflichtung erscheint, der Landesjustizrat aber die gesetzliche Aufgabe hat, die Grundsätze zu überwachen, sind Sanktionen im Rahmen der weiteren Aufgaben dieses Rates naheliegend, nämlich über dessen Mitwirkung bei Er-
223 Gass, Richterethik (Fn. 5/A.), S. 130. Zur aktuellen Situation vgl. den GRECOBericht: www.coe.int/t/dghl/monitoring/greco/evaluations/round4/Eval%20IV/Greco Eval4%282013%292_Slovakia_EN.pdf, S. 26, Stand 25.10.2015. 224 Zum Ganzen: N. Redecker, Die Grundsätze der richterlichen Berufsethik, in: Jahrbuch für Ostrecht, 2003, S. 241. 225 Vgl. auch den GRECO-Bericht zur Vorgeschichte, S. 37: www.coe.int/t/dghl/mo nitoring/greco/evaluations/round4/Eval%20IV/GrecoEval4%282012%294_Poland_EN. pdf, Stand: 12.10.2015. 226 Abgedruckt auf Deutsch bei von Redecker, Jahrbuch für Ostrecht (Fn. 224/C.), 2003, S. 246 ff.
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nennung und Beförderung und bei Stellungnahmen zum Verhalten von Richtern und Gerichtspräsidenten sowie über das Antragsrecht bei Disziplinarverfahren227. Da auch Verstöße gegen die „Würde des Amtes“ und die (innere) „Unabhängigkeit“ als richterliche Pflicht disziplinarisch verfolgt werden können, dürfte hier das Sanktionsfeld liegen. Die „ethischen“ Grundsätze decken sich im Übrigen auch mit einer Reihe anderer gesetzlicher Pflichten (politische Mäßigung, Fortbildungspflicht, Verschwiegenheit). Im Vergleich zu anderen Ländern weist die polnische Ethiksammlung die Besonderheit der gesetzlichen Initiierung und den „Zwang zur freiwilligen Selbstverpflichtung“ auf. Polen zeigt daher in besonderer Weise, wie bei einer politisch unter Druck stehenden Richterschaft die Berufsethik zum Mittel werden kann, von außen auf die Definition von beruflichen Regelungen Einfluss zu nehmen. Der eigentliche Anspruch der Berufsethik, die freie Selbstbindung der Richter, dürfte damit eher nicht gefördert werden. Problematisch in dieser Hinsicht war lange Zeit die Entwicklung in Rumänien und Bulgarien: Rumänien: Die Zweifel an der Leistungsfähigkeit des Justizwesens, insbesondere an der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der rumänischen Richterschaft, waren so groß, dass 2006 ein Aufschub des Beitritts Rumäniens zur Europäischen Union gefordert wurde228. Insbesondere die unzureichende Bekämpfung der Korruption und der organisierten Kriminalität stellten die Wirksamkeit der Justizstrukturen und damit die Erfüllung der Kopenhagener Beitrittskriterien in Frage. Die Aufnahme Rumäniens wurde dennoch beschlossen, bezüglich Bulgarien und Rumänien wurde aber ein Kooperations- und Kontrollverfahren durch die Europäische Kommission etabliert, um nach dem Beitritt am 01.01.2007 den Fortschritt im Bereich des Justizwesens zu überwachen. Für dieses erstmals für beigetretene Staaten geschaffene Instrument wurden Kriterien entwickelt, die in erster Linie die Stärkung effizienter und unabhängiger Justizstrukturen, des wirksamen Rechtsschutzes und der Korruptionsbekämpfung zum Gegenstand hatten229. Bis heute ergibt die regelmäßige Auswertung dieser Kriterien erhebliche Defizite. Sie beziehen sich zum einen auf die politischen Entscheidungsträger, die insbesondere unter der Regierung Ponta die Verfolgung der Korruption durch die Gerichte sowie die verfassungsrechtliche Prüfung umstrittener Dekrete erschweren wollte. Sie richtete sich zunächst auch gegen die Richterschaft. Ihr
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Redecker, Jahrbuch für Ostrecht (Fn. 224/C.), 2003, S. 242 f. S. Roos, Rumänien im Jahr vier nach dem Beitritt zur Europäischen Union – ein Rückblick und Bericht über die aktuelle Lage der Justiz, DRiZ 2010, S. 276 ff. Einige der folgenden Informationen beruhen auf Hinweisen des Richters am Landgericht Liviu Zidaru, Bukarest. 229 Roos, Rumänien (Fn. 228/C.), DRiZ 2010, S. 276 f. 228
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wurde mangelnde Aufarbeitung ihrer eigenen Vergangenheit, Korruption230, fehlende Sachkompetenz und Verzögerung von Verfahren durch übertriebenen Formalismus, insbesondere in Korruptionsprozessen, vorgeworfen. Im Juni 2010 hatte die Europäische Kommission in ihrem vierten Fortschrittsbericht an das Europäische Parlament und den Ministerrat Rumänien „bedeutende Unzulänglichkeiten“ beim Aufbau eines unparteiischen, unabhängigen und effizienten Justizund Verwaltungssystems attestiert. Das Land zeige nicht genügend politischen Willen, den Reformprozess zu unterstützen, auch gebe es einen „gewissen Mangel“ der Justizführung mit der EU zusammenzuarbeiten und Verantwortung zu übernehmen231. Mit der Übernahme der Regierung Ponta verschärfte sich die Lage hier dadurch, dass in die Arbeitsweise des Verfassungsgerichtes eingegriffen und die Entscheidungen von Strafgerichten in Korruptionsfällen betreffend einflussreicher Politiker unterlaufen wurden232. Dem stehen aber auch Fortschritte gegenüber: Mit dem Gesetz Nr. 177/2010 wurde die Möglichkeit unterbunden, mit der Behauptung der Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes Ermittlungen zu hemmen. Die Justiz führte Korruptionsverfahren gegen herausragende Politiker – etwa gegen den ehemaligen Ministerpräsidenten und frühere Minister –, die mit Verurteilungen zu endeten. Auch die Arbeitsweise des seit 2003 eingerichteten Selbstverwaltungsorgans der Justiz, des Obersten Rats der Magistratur, wurde zunächst kritisiert. Insoweit ging es auch um die Anwendung ethischer Standards auf seine Mitglieder. So war die im Januar 2010 gewählte Vorsitzende des Rates nach eigenem Bekunden inoffizielle Mitarbeiterin der Securitate233. Im September 2009 „streikten“ die Richter, als die sog. Stresszulage in Höhe von 50% des Grundgehalts für Justizbeamte und Richter abgeschafft werden sollte. Daneben standen aber auch strukturelle Defizite, wie uneinheitliche Prozessordnungen, unzureichende Ausbildung, Personalmangel und unzureichende Sachausstattung der Justiz234. Der Druck von innen und außen hat in der Folge dazu geführt, dass das Parlament einen Vier-Jahresplan zur Verbesserung der Justiz verabschiedet hat. Insbesondere die 2007 von Nachwuchsrichtern gegründete Nationale Richtervereinigung und die „Society for Justice – SoJust“ bemüht sich mit ausländischer Hilfe um eine Verbesserung rechtsstaatlicher Standards. Die Neuwahlen des Obersten Ra-
230 K. P. Schwarz, Richter wie die Götter – Auch das ist Europa: Die Korruption in der rumänischen Justiz und ihre Folgen, FAZ, 03.12.2009, S. 8. 231 Vgl. den Länderbericht der Konrad-Adenauer-Stiftung vom Dezember 2010: Geissler, In Rumänien gibt es eine „Kleine Justizreform“. 232 FAZ vom 17.07.2012, Nr. 164, S. 3. 233 Roos, Rumänien (Fn. 228/C.), DRiZ 2010, S. 279; dies., „Und die Vergangenheit spielt doch eine Rolle . . .“ – Zur Wahl von Richterin Bejinariu zur neuen Präsidentin des Obersten Rates der Magistratur Rumäniens (CSM), Länderbericht der KonradAdenauer-Stiftung, Januar 2010. Seit Anfang 2011 ist dieser Rat neu zusammengesetzt. 234 Roos, Rumänien (Fn. 228/C.), DRiZ 2010, S. 277 f.
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C. Elemente einer deskriptiven richterlichen Ethik
tes führten schließlich zu einer teilweisen Erneuerung der Mitglieder. Allerdings leidet auch die rumänische Justiz teilweise bis heute unter Korruption, die zunehmend und erfolgreich ins Visier der Antikorruptionsbehörde DNA geraten235. Vor diesem Hintergrund hat die Auseinandersetzung um die Standards richterlicher Ethik besondere justizpolitische Bedeutung236. Als Teil der Antikorruptionspolitik und zur Erfüllung der Beitrittskriterien der Europäischen Union wurde im August 2005 der Verhaltenskodex für Richter und Staatsanwälte in Rumänien (Codul deontologic al judecatorilor si procurorilor din Romania) durch Beschluss des Obersten Rats der Magistratur verabschiedet. Bereits die Verabschiedung löste insofern Kritik aus, als es sich um die bloße Übernahme ausländischer Vorbilder, nämlich US-amerikanischer237, und die autoritative Setzung durch ein umstrittenes Organ handelte238. Hinzu kommt, dass dieser Rat inzwischen die Kompetenz für sich in Anspruch nimmt, die Verletzung der insgesamt eher allgemein gehaltenen Grundsätze disziplinarisch zu verfolgen239. Außerdem wurden sie zu Elementen der Geschäftsprüfung und von Beurteilungen240. Problematisch wird dies dadurch, dass gerade die vorgesetzten Richter, die insoweit agieren, überwiegend ohne Säuberung aus dem alten System übernommen wurden. Kritisiert wird auch die fehlende Unterscheidung zwischen Richtern und Staatsanwälten. Der „Deontologische Kodex“ enthält 23 Artikel. In der Einleitung wird der Zweck beschrieben, nämlich Verhaltensstandards entsprechend der Ehre und Würde ihres Berufes festzulegen. In Artikel 2 wird im Rahmen der Gesetze eine „Evaluation“ der Wirksamkeit des Kodex, aber auch des Verhaltens der Richter durch berufene Organe geregelt. In sechs Kapiteln werden die Grundhaltungen Unabhängigkeit, die Bindung an das Gesetz, die Unparteilichkeit, die Einhaltung beruflicher Pflichten, die Wahrung der Würde sowie mit dem Amt unvereinbare Aktivitäten geregelt. Welche grundlegenden Verwerfungen in der Eigenwahrnehmung der Richterschaft dabei im Raume stehen, zeigt die Notwendigkeit, dass etwa während des 235 Vgl. zur gegenwärtigen Situation der rumänischen Justiz: S. Sieweke, Auf einem schwierigen Weg: Rumäniens Kampf gegen Korruption, in: BDVR-Rundschreiben 2015, S. 114 f. 236 I. Copoeru, Gibt es überhaupt Raum für Ethik? Implementation richterlicher und staatsanwaltlicher Diskursethik in Rumänien, in: KritV 2008, S. 468 f. 237 Epineuse, Vergleichende Richterethik (Fn. 30/C.), SchlHAnz. 2009, S. 123. 238 Titz, Berufsethos (Fn. 119/A.), DRiZ 2008, S. 100. 239 Copoeru, Raum für Ethik (Fn. 236/C.), KritV 2008, S. 472. Seit 2012 (Gesetz Nr. 24/2012) wurden die Disziplinartatbestände erweitert: Erfasst werden nun auch unwürdiges Verhalten außerhalb des Dienstes, Verweigerung der Ausführung von Verwaltungsanordnungen, Fehlen jedwelcher Urteilsbegründung oder eine juristisch nicht nachvollziehbare Begründung, die dem Ansehen des richterlichen Berufes schadet, Nichtbefolgung der Leitentscheidungen des Kassationshofes und des Verfassungsgerichtes, das bösgläubige oder grob fehlerhafte Verhalten des Richters in der richterlichen Tätigkeit. 240 Titz, Berufsethos (Fn. 119/A.), DRiZ 2008, S. 100.
I. Gegenwärtiger Bestand richterlicher Ethikkodizes
187
Implementierungsprozesses des Kodexes die Bedeutung eines richterlichen Urteils und die grundsätzliche Stellung des Richters im rechtlichen und gesellschaftlichen System erst erarbeitet werden musste241. Die Richter mussten in einem ersten Schritt dazu befähigt werden, über die moralischen und ethischen Seiten ihres Berufs überhaupt ins Gespräch zu kommen. In diesem Zusammenhang soll es auch zu einer Neuformulierung des Kodexes durch die Richter selbst kommen. Ziel soll die Einführung eines Komitees für ethische Beratung sein. Der Veränderungsprozess in der rumänischen Richterschaft wird nicht nur durch die Vorgaben und die Überwachung der Europäischen Kommission erzwungen. Er beruht auch auf der Bereitschaft vor allem der jüngeren Richter auf Veränderung242. Im März 2010 hat die Nationale Richtervereinigung einen „Aufruf der Richter für Würde und Integrität“ veröffentlicht, der insbesondere den Verstoß gegen die Berufsethik durch den Obersten Magistratsrat und die Willkür bei der Besetzung höchster Richterstellen kritisierte243. Daneben begleiten und unterstützen Nichtregierungsorganisationen diesen Wandel. Im Jahr 2007 hat die Konrad-Adenauer-Stiftung zusammen mit Sojust ein Handbuch für Richter herausgegeben, das nicht nur die strukturellen Bedingungen für eine effiziente und unabhängige Richterschaft beschreibt, sondern sich auch mit der inneren Einstellung von Richtern und (kritisch) mit ihrer richterlichen Ethik beschäftigt244. Grundlage hierfür waren Seminare mit rumänischen Richtern, so dass es auch ein Dokument des Veränderungsprozesses selbst ist. Das Rechtsstaatsprogramm Südosteuropa dieser Stiftung hat schließlich auch für die Übersetzung Kommentars zu den Prinzipien von Bangalore gesorgt („Comentariu a supra principiilor de la Bangalore privind conduita judiciara“). In Bulgarien bestehen hinsichtlich der Transformation des Justizwesens hin zu einer rechtsstaatlichen und unabhängigen Gerichtsbarkeit ähnliche Probleme wie in Rumänien. Zwar wurde auch hier auf Initiative der Richtervereinigung und in Zusammenarbeit mit der American Bar Association und der Central European and Eurasian Law Initiative245 ein Ethikkodex formuliert. Ähnlich wie in Rumänien war aber der Wille zur Veränderung gerade durch die Richterschaft, insbesondere durch den obersten Justizrat, zunächst beschränkt246. Noch 2012 soll eine Richterin, die gleichzeitig Vorsitzende einer Richtervereinigung war, durch
241
Näher hierzu: Copoeru, Raum für Ethik (Fn. 236/C.), KritV 2008, S. 469 f. Vgl. zur gegenwärtigen Situation der rumänischen Justiz: Sieweke, BDVR-Rundschreiben 2015, S. 114 f. 243 Roos, Rumänien (Fn. 228/C.), DRiZ 2010, S. 280. 244 S. Roos (Hrsg.), Pressure Factors and Conflicts of Interest in the Judiciary – Handbook for Judges, Bukarest, 2007, S. 47. 245 Roos/Woischnik, Codigos (Fn. 21/C.), S. 33. 246 Konrad-Adenauer-Stiftung: Länderbericht März 2010: S. Roos, Quo vadis bulgarische Justizreform? 242
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C. Elemente einer deskriptiven richterlichen Ethik
Prozessverschleppung die Straflosigkeit von Schwerkriminellen verursacht haben247. gg) Russland Außerhalb der Europäischen Union finden sich in Süd- und Osteuropa weitere Beispiele richterlicher Ethikkodizes, etwa im Kosovo248 und Mazedonien249. Besondere Bedeutung hat aber die Entwicklung in Russland, das einen offenkundig schwierigen Weg zu einem Rechtsstaat geht250 – vielleicht auch von ihm weg. Der erste richterethische Kodex der russischen Richter251 wurde von dem durch das Gesetz über die Stellung der Richter vom 26.06.1992 geschaffene Rat der Richter der Russischen Föderation auf seiner Sitzung vom Oktober 1993 als „Ehrenkodex der Richter der Russischen Föderation“ beschlossen. Dieser „Ehrenkodex“ bestand aus vier Artikeln mit Unterabsätzen. Er wiederholte zum Teil die Vorschriften des Gesetzes „Über die Stellung der Richter in der Russischen Föderation“ (z. B. Art. 3 Abs. 5: Verbot der Zugehörigkeit zu politischen Parteien und Bewegungen), enthielt z. T. Selbstverständlichkeiten (z. B. Art. 1 Abs. 2: Die Erfüllung der Pflichten bei der Verwirklichung der Rechtsprechung muss für den Richter Priorität gegenüber anderen Aufgaben haben), sah aber auch bemerkenswerte Ausweitungen vor. So musste der Richter danach neben der Verfassung und anderen Gesetzen auch „die allgemein anerkannten Normen der Sittlichkeit und Verhaltensregeln“ beachten und die Bestätigung der Überzeugung von der Gerechtigkeit, Unvoreingenommenheit und Unabhängigkeit des Richters in der Gesellschaft fördern (Art. 1 Abs. 1). Der Richter muss in jeder Situation seine persönliche Würde wahren, sich um seine Ehre kümmern und alles vermeiden, was seine Reputation beeinträchtigen und seine Objektivität und Unabhängigkeit bei der Verwirklichung der Rechtsprechung in Zweifel stellen kann (Art. 1 Abs. 4). Der Richter wurde ausdrücklich ermahnt, fremde Einflüsse von seiner Berufstätigkeit fernzuhalten, darunter auch die seiner Verwandten, 247
FAZ v. 17.07.2012, S. 3. www.judicial-ethics.umontreal.ca/en/codes%20enonces%20deonto/documents/ CODE_Kosovo.pdf, Stand: 10.10.2015. 249 Vgl. Roos/Woischnik, Codigos (Fn. 21/C.), S. 152 ff. Am 14. und 15.11.2013 fand die Regionalkonferenz „Richterliche Ethik und Korruptionsbekämpfung in der Justiz: komparative Erfahrungen und gemeinsame Herausforderung“, die die IRZ gemeinsam mit dem Deutschen Richterbund und der mazedonischen Richter- und Staatsanwaltsakademie, in Skopje statt. Dabei wurden grundlegende Unterschiede zwischen den mittel- und osteuropäischen „Transformationsstaaten“ und Deutschland deutlich: vgl. hierzu www.irz.de/index.php/de/mazedonien, Stand: 03.09.2014. 250 Vgl. hierzu: Leutheusser-Schnarrenberger, Rechtssystem und Justiz in Russland – ein kritischer Blick von außen, in: DRiZ, 2015, S. 214 ff. 251 Das Folgende wurde im Wesentlichen von F.-Ch. Schroeder, in: Wirtschaft und Recht in Osteuropa, 1994, S. 101 ff. (siehe auch www.richterverein.de/links/kodex russ.pdf, Stand: 12.10.2015) übernommen, der seinerseits folgende Quelle benennt: Sovetskaja justicija, 1993, Nr. 23, S. 31. 248
I. Gegenwärtiger Bestand richterlicher Ethikkodizes
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Freunde und Bekannten (Art. 2 Abs. 1). Er musste sich nicht nur von Einflüssen der Parteien, sondern auch von solchen der öffentlichen Meinung und von Furcht vor der Kritik seiner Tätigkeit freihalten (Art. 2 Abs. 2). Er musste nicht nur den Teilnehmern der Gerichtsverhandlung, sondern auch den Bestrebungen der Medien Achtung entgegenbringen (Art. 2 Abs. 4 und 6). Er hat alle persönlichen Kontakte zu vermeiden, die seine Reputation beeinträchtigen und seine Ehre und Würde berühren können (Art. 3 Abs. 6) und sich von finanziellen und geschäftlichen Verbindungen frei zu halten, die seine Unvoreingenommenheit beeinträchtigen können (Art. 3 Abs. 7). Für die Ahndung von Verstößen gegen den Ehrenkodex verwies Art. 4 auf das Gesetz „Über den Status der Richter in der Russischen Föderation“. Das Gesetz war insgesamt ein Akt zur Stärkung der Selbstverwaltung der Richterschaft, enthielt aber auch Vermischungen von Recht und Moral. Dieser Ehrenkodex wurde im Dezember 2004 (fortgeschrieben 2012) durch den Kodex zur richterlichen Ethik der Russischen Föderation ersetzt252. Er enthält fünf Kapitel. Im ersten Kapitel, bestehend aus drei Artikel werden allgemeine Grundsätze für das richterliche Verhalten vorangestellt (Verfassungs- und Gesetzesbindung, Verpflichtung zur Rechtsprechung als Hauptpflicht, würdevolles und integres Verhalten innerhalb und außerhalb des Dienstes). Das zweite Kapitel, bestehend aus 4 Artikeln, bestimmt die richterlichen Pflichten im Dienst (Unparteilichkeit, Gleichbehandlung, Schutz der Grundrechte, Mut gegenüber der Öffentlichkeit; Höflichkeit und Taktgefühl im Umgang mit Parteien, Sorgfalt, Umgang mit Kollegen und Medien; Fortbildung). Im dritten Kapitel wird in drei Artikeln das außerdienstliche Verhalten des Richters behandelt. Es enthält insbesondere ein striktes Verbot sich parteipolitisch zu betätigen. Andere, näher beschriebene außerdienstliche Aktivitäten werden mit dem Vorbehalt belegt, dass eine Beeinträchtigung des Amtes ausgeschlossen ist. Das vierte Kapitel regelt die disziplinarische Verfolgung von Verletzungen gesetzliche Verhaltenspflichten, aber auch der Regeln des Kodex, die im fünften Kapitel für alle Richter für verbindlich erklärt werden. Gerade das russische Beispiel zeigt, dass die Formulierung zum Teil hehrer berufsmoralischer Prinzipien und Regeln nicht selten mit der Wirklichkeit der täglichen Rechtspraxis kontrastiert. Russland, das sowohl in verfassungsrechtlicher, einfach-gesetzlicher und berufsmoralischer Hinsicht der „Papierform“ nach bis 2012 einige rechtsstaatliche Standards erfüllte, zeigt gerade bei Rechtsfällen mit politischem Bezug und öffentlicher Aufmerksamkeit ein hohes Maß an Abhängigkeit der Richterschaft von äußeren Einflüssen. Seit 2012 entwickeln sich 252 Vgl. den englischen Text über: www.rarolc.net/events/detail.php?cid=297, dort: Judicial Ethics Materials Set – English Version, S. 24 ff., Stand: 22.12.2011. Vgl. zur Spruchpraxis in Enthebungsverfahren: Ch. Reitmeier, Verwaltungsgerichtlicher Rechtsschutz durch die Wirtschaftsgerichte in der Russischen Föderation, Berlin 2013, S. 38 ff.
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C. Elemente einer deskriptiven richterlichen Ethik
das materielle und das Prozessrecht rechtsstaatlich zurück; das Oberste Wirtschaftsgericht, das für seine unabhängige Rechtsprechung bekannt war, wurde 2014 aufgelöst253. Auch die Anzahl von Verurteilungen Russlands durch den EGMR hat ein Besorgnis erregendes Ausmaß erreicht.
II. Typen richterethischer Kodifizierungen Aus der Darstellung der nationalen und internationalen Dokumente zur richterlichen Ethik lassen sich Erkenntnisse für eine vergleichende Richterethik gewinnen. Zum einen können aus der historischen Entwicklung die Entstehungsbedingungen für richterethische Kodizes und Sammlungen, insbesondere ihre jeweiligen politischen und rechtlichen Voraussetzungen abgeleitet und typisiert werden. Der Franzose Harold Epineuse hat insoweit sogar ein „Viergenerationenmodell“ richterlicher Ethik beschrieben, sich allerdings nicht nur auf die historische Entwicklung beschränkt254. Der Erkenntnisgewinn einer historisch-genetischen Betrachtung (im Folgenden 1.) kann dazu beitragen, den Ausgangspunkt der Diskussion, die Gründe für die Fixierung berufsmoralischer Regeln und die Funktion bei der Stärkung einer rechtsstaatlichen Justiz zu ermitteln. Daneben muss die inhaltlich-kritische Betrachtung (im Folgenden 2.) treten, die den Anwendungs- und Gegenstandsbereich, den Normcharakter und den Verpflichtungsgrad, Fragen der Implementierung und Durchsetzung der jeweils definierten Pflichten untersucht. Hieraus lassen sich dann Rückschlüsse für die Diskussion in Deutschland, insbesondere zu den Voraussetzungen für und zur Notwendigkeit eines Ethikkodex, ziehen. 1. Historisch-genetische Betrachtung Zu Recht werden die Vereinigten Staaten von Amerika als das Mutterland der richterlichen Ethik betrachtet255. Dort entstanden die ersten Richterkodizes. Der Grund für das Bedürfnis nach solchen, überwiegend neben der Rechtsordnung stehenden, sie aber ergänzenden Bestimmungen zu richterlichen Verhaltenspflichten liegt in der besonderen Stellung des Richters und der dadurch gepräg253 Vgl. hierzu: Leutheusser-Schnarrenberger, Justiz in Russland (Fn. 250/C.), DRiZ, 2015, S. 216 f. 254 Epineuse, Vergleichende Richterethik (Fn. 30/C.), SchlHAnz. 2009, S. 123, auch zum Folgenden. Er beschreibt dabei im Einzelnen den Prozess der internationalen „Zusammenarbeit“. Im Folgenden werden daher diese Interdependenzen – um eine echte „Zusammenarbeit“ gab es eher nicht – auch in Anlehnung an Epineuse beschrieben. Vgl. auch Titz, Berufsethos (Fn. 119/A.), DRiZ 2008, S. 99. 255 Nicht nur die richterliche Ethik, sondern auch Ethikkodizes für den öffentlichen Bereich haben dort ihren Ursprung: Sommermann, Ethisierung (Fn. 34/A.), ARSP 89 (2003), S. 79. Epineuse, Vergleichende Richterethik (Fn. 30/C.), SchlHAnz. 2009, S. 123.
II. Typen richterethischer Kodifizierungen
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ten Justiz. In der Tradition des englischen Justizsystems und in der Folge der Besonderheiten der Staatsbildung der USA sowie der West-Expansion im 18. und 19. Jahrhundert ist der Richter ein wesentlicher Repräsentant des Rechts. Zum anderen sichern die Wahl der Berufsrichter und die Geschworenen die demokratische Rückbindung. Anders als etwa in Deutschland, das in der Neuzeit im Wesentlichen von der Entwicklung des Richterberufs aus dem Beamtenstand geprägt ist, waren und sind die Dienstpflichten des Richters in den USA nicht über ein ausgearbeitetes Dienstrecht rechtlich vorgeprägt. Ein weiterer Unterschied ist, dass bereits die zum Teil periodisch wiederkehrende Wahl der Richter256 mit entsprechendem Agieren der Bewerber die Unabhängigkeit und die Unparteilichkeit gefährden kann. Auch die weitgehende prozessuale Gestaltungsmacht im gerichtlichen Verfahren kann amerikanischer Richter eine berufsethische Flankierung richterlichen Handelns erfordern. Das Ablehnungsrecht der Parteien, das die rechtliche Garantie der Unparteilichkeit bietet und mäßigende Wirkung auf das richterliche Verhalten hat, ist zudem schwächer rechtlich ausgeprägt als in den kontinental-europäischen Rechtsordnungen. Schließlich fordert die Art der Rechtsfindung, nämlich die Suche nach der jeweiligen Rechtsregel in den Präzedenzfällen einen besonderen methodischen Ethos257. Außerdem ist der US-amerikanische öffentliche Dienst traditionell weitgehend über ethische Regeln und sie kontrollierende Ethikorgane geprägt258. Damit zeigt sich, dass die Kodifizierung der Richterethik in den Vereinigten Staaten ihre Ursache in den Besonderheiten der nationalen Justizentwicklung und Rechtslage hat. Bedeutend ist auch, dass in den Vereinigten Staaten die Etablierung der Ethikkodizes nicht von staatlichen Instanzen oder der Richterschaft selbst ausging, sondern im Wesentlichen von Anwälten. Insofern beruht diese Reflexion auf den Erfahrungen mit richterlichem Fehlverhalten und dem Bedürfnis nach sozialer Kontrolle. Damit ist als eine Voraussetzung für die Notwendigkeit der Formulierung richterethischer Kodizes die Ausgestaltung der Stellung des Richters in der jeweiligen Rechtsordnung: Ist richterliches Handeln von rechtlichen Vorgaben, seien es dienstrechtliche, seien es prozessuale, oder von der rechtlichen Steuerung durch eine Justizverwaltung weitgehend „befreit“, ist der Gefahr richterlichen Fehlverhaltens in anderer Weise als mit den Mitteln des Rechts zu begegnen, eben mit dem Mittel der berufsmoralischen Bindung und Kontrolle. Bis Anfang der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts beschränkten sich die Bemühungen um eine richterliche Ethik im Wesentlichen noch auf die USA. Auf internationaler Ebene gab es zwar erste Ansätze, richterliche Pflichten zu definieren; 256
Roos/Woischnik, Codigos (Fn. 21/C.), S. 22. Böckenförde, Ethos des Juristen (Fn. 5/B.), S. 34 ff. 258 Vgl. hierzu die Ausführungen zur Verwaltungsethik als Teil der Rechtsethik oben B. III. 5. 257
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C. Elemente einer deskriptiven richterlichen Ethik
diese Ansätze standen aber in einem engen Zusammenhang zu den Bemühungen um international gesicherte rechtsstaatliche Justizstrukturen und differenzierten nicht zwischen Dienstrecht und Berufsmoral. Ihnen ging es insoweit um die Sicherung der äußeren Unabhängigkeit der Richter und der dafür erforderlichen organisatorischen und gesetzlichen Voraussetzungen. Mit der Zeit wurden aber die Person des Richters selbst, seine innere Unabhängigkeit und Rechtstreue als Voraussetzung einer funktionierenden und vertrauenswürdigen Justiz in den Mittelpunkt gerückt. Erst dadurch begannen in einzelnen Ländern Gesetzgeber und die Richterschaft selbst über eigene Kodizes oder Pflichtensammlungen nachzudenken bzw. solche zu formulieren. Hier können zwei Entwicklungsstränge festgestellt werden: Einzelne Länder, wie etwa Italien, Schweiz, Frankreich und Kanada, nahmen die Erkenntnis, dass vermeintliches oder tatsächliches Fehlverhalten von Richtern innerhalb oder außerhalb des Berufes mit den herkömmlichen Mitteln des Dienst- und Disziplinarrechtes nicht vollständig erfasst und „gesteuert“ werden kann, zum Anlass, jenseits des Rechts an die Berufsmoral zu appellieren und sie zu stärken. Deshalb und weil die richterliche Unabhängigkeit nicht gefährdet werden sollte, zielen diese Modelle auf Selbstberatung und auf die Anregung, berufsmoralische Fragen in Aus- und Fortbildung sowie in eigenständigen, nicht disziplinarisch tätigen Richtergremien zu thematisieren. Die zweite, für die weitere Entwicklung besonders bedeutsame Erscheinung war die Einführung von richterethischen Kodizes in den Ländern des ehemaligen Warschauer Paktes, insbesondere in Ost-Mittel-Europa. Sie sollten die Bemühungen unterstützen, das früher sozialistisch geprägte Rechts- und Justizsystem in rechtsstaatliche Strukturen westlicher Prägung zu transformieren. Gerade dort sollte auf das Selbstverständnis der (teilweise) übernommenen und der neu angestellten Richter eingewirkt werden, um deren innere Unabhängigkeit zu stärken. In diesem Prozess griffen diese Länder verstärkt auf das US-amerikanische Vorbild zurück, obwohl sie insgesamt eher kontinental-europäisch geprägt waren und sind. Von hier aus, teilweise aber auch zeitlich gleichlaufend gingen zwei weitere Entwicklungslinien aus. Zum einen erkannten die westeuropäischen Staaten, dass die rechtsstaatliche Transformation der Justiz über das amerikanische Vorbild zu möglichen Unzuträglichkeiten führen könnte, soweit sich diese Länder später in die europäischen Strukturen und das Rechtssystem der Europäischen Union eingliedern wollen. Hieraus resultieren Rechtsstaatsprogramme der EU und ihrer Mitglieder, die dadurch veranlasst wurden, auch über die Fragen richterlicher Ethik in ihren eigenen Ländern nachzudenken. Zum anderen führte dieser Transformationsprozess und die dabei eingesetzten „Werkzeuge“, wie ein Richterkodex, dazu, ihn nicht nur auf die Umbrüche durch Systemveränderungen anzuwenden, sondern als Modell für die Transformation unterentwickelter, ineffizienter
II. Typen richterethischer Kodifizierungen
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oder durch Korruption gelähmter Staaten und ihrer Justizstrukturen anzuwenden259. Deshalb wurde ab dem Jahr 2000 auf internationaler Ebene die Diskussion um eine globale Richterethik in Gang gesetzt, die letztlich in die Prinzipien von Bangalore mündete. Dieser Prozess wirkte wiederum auf alle Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen, internationale und supranationale Gerichte, internationale (Richter-)Vereinigungen und auf regionale Organisationen zurück. Diese waren nun ihrerseits aufgerufen, sich zur Notwendigkeit und den möglichen Inhalt richterethischer Kodizes zu verhalten. Dabei gibt es auch einen Prozess, richterethische Antworten für ganze Rechtsprechungskulturen zu finden (etwa in Mittel- und Südamerika; Europa)260, obwohl selbst in diesen zum Teil grundlegend unterschiedliche justizprofessionelle Traditionen, Denk- und Argumentationsweisen sowie Selbstverständnisse der Justizpraktiker bestehen261. Dies führt dazu, dass regionale Modellkodizes bzw. regionale Rahmendokumente wiederum zur Grundlage nationaler Ausprägungen wurden. Dabei wurde häufig zunächst nicht mehr danach gefragt, ob die jeweils betroffenen Justizsysteme einer berufsmoralischen Flankierung überhaupt bedürfen. Eine Gegenbewegung konnte deshalb nicht ausbleiben. Waren nämlich bereits bei der Einführung der kanadischen und italienischen Kodizes die Fraglosigkeiten des amerikanischen Beispiels erschüttert, wurden jetzt in voller Schärfe neben den Chancen eines Ethikkodex für Richter auch seine Erforderlichkeit und seine Risiken grundsätzlich erörtert. Dies betraf schon die Grundsatzfrage, ob die nationalen Besonderheiten des Dienst-, Prozess- und Verfassungsrechts einen Ethikkodex nicht überflüssig machen bzw. seinen Regelungsbereich auf ein Minimum beschränken. Daneben wurde eine Fülle weiterer Fragen aufgeworfen, nämlich: Wer soll einen Kodex formulieren? Wie detailliert soll er ausfallen? Muss auch das außerdienstliche Verhalten Berücksichtigung finden? Wie kann sichergestellt werden, dass hier nicht materielles Disziplinarrecht geschaffen wird? Wie soll die Einhaltung berufsmoralischer Pflichten gesichert werden? Ab wann ist die richterliche Unabhängigkeit berührt? Auf diese Fragen wurden in den einzelnen Ländern völlig unterschiedliche Antworten gegeben, die nachfolgend typisiert werden sollen. Jedenfalls lässt sich zusammenfassend feststellen, dass es eine globale richterliche Ethik nicht gibt. Allenfalls können allgemeinste Regeln angegeben werden, die zu beachten sind, will ein Richter seinem „Wesen“ nach wie ein Richter handeln. 259 Hierzu auch: Titz, Richterethik im Rechtsstaatsdialog, in: S. Hülshörster/D. Mirow (Hrsg.): Deutsche Beratung bei Rechts- und Justizreformen im Ausland: 20 Jahre Deutsche Stiftung für Internationale Rechtliche Zusammenarbeit, Berlin 2012, S. 159 ff. 260 Epineuse, Vergleichende Richterethik (Fn. 30/C.), SchlHAnz. 2009, S. 122. 261 F. Ranieri, Juristenausbildung und Richterbild in der europäischen Union, in: DRiZ 1998, S. 285, 286 ff. Zur Abhängigkeit des Ethos des Juristen vom jeweiligen Recht allgemein: Böckenförde, Ethos des Juristen (Fn. 5/B.), S. 13.
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C. Elemente einer deskriptiven richterlichen Ethik
2. Inhaltlich-kritische Betrachtung Die derzeit vorliegenden richterethischen Sammlungen können inhaltlich unterschiedlich typisiert werden. Neben ihrer Konkretheit und Verbindlichkeit unterscheiden sie sich nach Anwendungsbereich, Normcharakter und der Art und Weise, wie die Einhaltung der formulierten Prinzipien, Werte und Pflichten gewährleistet werden soll. a) Inhaltliche Konkretheit und Verbindlichkeit Der Grade der inhaltlichen Konkretheit richterethischer Sammlungen lässt sich auf einem Kontinuum zwischen den Polen „völlige Vagheit und Unverbindlichkeit“ bis zu „inhaltlich klare und konkrete Pflichtensammlungen“ beschreiben: So gibt es Texte, die nicht direkt Prinzipien, Werte oder Pflichten definieren, sondern sich im Wege von Fragen geordnet nach Themenkreise an den Richter wenden, die ihn anregen sollen, über berufsmoralische Anforderungen nachzudenken. Hierzu gehört etwa der – unten noch näher zu behandelnde – Fragenkatalog der Schleswiger Ethikrunde oder sogenannte Richterspiegel. Dieser Zugang ähnelt „Beichtspiegeln“, also Fragenkatalogen zur Gewissenserforschung aus dem kirchlich-religiösen Kontext. Sie sind nicht direktiv und dienen letztlich der Sensibilisierung. Sie sollen Gewohntes – im wörtlichen Sinne – in Frage stellen und damit zur individuellen Positionierung des jeweiligen Richters beitragen. Sie können zu einer intersubjektiven Vergewisserung aber nur beitragen, wenn – was eher selten der Fall sein wird – eine Gruppe gemeinsam über die aufgeworfenen Fragen diskutiert. Indirekt lassen diese Kataloge Rückschlüsse zu, welche Bereiche richterlichen Handelns überhaupt als berufsmoralisch fragwürdig angesehen werden. Manche Erklärungen wollen nur Grundprinzipien richterlicher Ethik und allgemeine richterliche Tugenden beschreiben und sich dabei offen und frei halten für die Anwendung auf den Einzelfall. Dabei kann der Schwerpunkt – wie z. B. bei den Schlussfolgerungen der Ersten Studienkommission der Vollversammlung der Internationalen Richtervereinigung (IAJ/UIM) zu den Grundsätzen der Richterdeontologie und deren Anwendung – auf den bloß prozeduralen Mitteln und den Bedingungen der Herstellung eines Richterkodex liegen. Dies gilt teilweise auch für den Europäischen Standard richterlicher Ethik des CCJE. Die frühen und zumeist internationalen Erklärungen – wie die Basic principles on the Independence of the Judicary der UN von 1985 oder die Empfehlung Nr. R (94)12 des Ministerrates des Europarats – haben aus Anlass der Definition der strukturellen Mindestbedingungen nationaler Justizsystem Richterpflichten nur nebenbei angesprochen und dabei zumeist offen gelassen, ob diese Pflichten auf rechtlicher oder moralischer Grundlage beruhen (sollen). In vielen Ländern wurden nur allgemeine Grundprinzipien formuliert, die den Richtern als Hilfestellungen (Italien, England) bei der Lösung richterethischer Probleme dienen sollen. Durch
II. Typen richterethischer Kodifizierungen
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Kommentierungen und Ableitungen werden diese Prinzipien teilweise bis zu Pflichten konkretisiert. Dabei finden sich in einzelnen Prinzipiensammlungen Vehikel, den „Selbstberatungsprozess“ der Richter in der Gestalt von Ethikräten oder richterlich besetzter Gremien zu institutionalisieren (z. B. Kanada, Ungarn). Eine Sonderrolle spielt die London Declaration on Judicial Ethics des ENCJ, die zum einen allgemeiner Diskussionsbeitrag, insbesondere zu Richtertugenden sein will, andererseits auch anregt, konkrete Pflichten auf der Grundlage allgemeiner Werte zu definieren. Die Besonderheit dieses Ansatzes liegt vor allem darin, dass die Haltungen und „Tugenden“ der Richter als Schlüssel zur Etablierung und Durchsetzung einer Richterethik betont werden. Sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene finden sich schließlich Sammlungen die über die Definition von Grundprinzipien, Tugenden und Werten hinaus, konkrete Pflichten und konkrete Handlungsanweisungen enthalten (Prinzipien von Bangalore; die US Codes of Judicial Conduct). Dabei beschränken sich manche auf das bloß dienstliche Verhalten. Andere gehen noch weiter und stellen konkrete Pflichten auch für privates Verhalten auf. Manche dieser Kodizes, die Pflichten präzise beschreiben, haben dabei zwangsläufig den Charakter prädisziplinarischer Pflichtensammlungen (z. B. Estland), andere wollen sogar disziplinarisch wirken. Bei den letzten ist tendenziell der Bereich des Ethikkodex und Berufsmoral verlassen und der Bereich des Disziplinarrechts erreicht. Dies gilt erst recht, wenn Ethikkodizes gesetzlich festgelegt werden (Venezuela). Manche Papiere – wie z. B. der Europäische Standard richterlicher Ethik des CCJE – versuchen dagegen eine klare Trennung zwischen Recht und Berufsmoral zu bestimmen. Damit spiegeln die vorhandenen richterethischen Kodizes und Sammlungen die Ebenen wieder, die in der Ethik grundsätzlich unterschieden werden können: der einzelnen Handlung und ihre Bewertung (Gebote und Verbote), der handelnden Personen und ihre Haltungen (Tugenden und Werte) sowie der institutionellen Rahmenbedingungen (Recht und richterliche Aufgabe)262. b) Anwendungsbereich Hinsichtlich des Anwendungsbereiches von Ethikkodizes im Bereich der Justiz gibt es große Unterschiede. Zwar beschränkt sich die Mehrzahl der vorliegenden Kodizes auf die Richter. Allerdings regeln nicht wenige auch das Verhalten der Staatsanwälte und zwar insbesondere dort, wo Staatsanwälte – anders als in Deutschland – uneingeschränkte persönliche und sachliche Unabhängigkeit genießen. In Mittel- und Südamerika fällt auf, dass das Verhalten aller Justizbedienstete von den Ethikkodizes erfasst wird. Letzteres lässt sich wohl nur damit erklä262 Vgl. zu der unterschiedlichen Herangehensweise: Titz, Rechtsstaatsdialog (Fn. 259/C.), S. 155.
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C. Elemente einer deskriptiven richterlichen Ethik
ren, dass dort die Korruptionsbekämpfung und die Eindämmung politisierter Justiz Hauptziel der Kodizes ist, nicht aber die berufsmoralische Flankierung der richterlichen Unabhängigkeit. c) Normcharakter Überall dort, wo Gesetze oder das Richterrecht unmittelbare Grundlage richterlicher „Ethik“-Kodizes sind, ist der Bereich der Berufsmoral und der Ethik verlassen. Diese Kodizes sind Gegenstand des Rechts und der Rechtswissenschaft im engeren Sinne. Dies wird man auch von den Kodizes sagen können, deren Durchsetzung Disziplinarorganen übertragen ist. In diesen Fällen sind die vordergründig berufsmoralischen Pflichten im Wege von staatlichen Sanktionen durchsetzbare Rechtspflichten. Die meisten Sammlungen, Erklärungen und Ethikkodizes sind aber ohne direkte rechtliche Grundlage und sollen nur moralisch binden. Sie werden als „Prinzipien“, „Sammlungen“, „Empfehlungen“, „Charta“, „Deklaration“ oder „Modellkodex“ bezeichnet. Allerdings ist nicht selten zu beobachten ist, dass diese unverbindlichen Sammlungen prädisziplinarischen Charakter haben, weil sie konkrete Richterpflichten definieren und damit einen engen Zusammenhang zu gesetzlich definierten oder erwarteten Dienstpflichten haben. Hier liegt eines der Hauptprobleme bei der Kodifizierung richterlicher Verhaltenspflichten. Denn immer dann, wenn Verhaltenspflichten konkret bestimmt und schriftlich fixiert werden, führt dies dazu, dass ihre Nichtbeachtung nicht bloß zu sozialen Reaktionen im beruflichen Umfeld oder über die Presse führt, sondern das vorhandene Dienst- und Disziplinarrecht bei der Feststellung von Dienstvergehen auf sie zurückgreift und allgemeine formulierte Dienstpflichten konkretisiert. Damit wird eine moralische Pflicht aus Anlass disziplinarischen Vorgehens in eine Rechtspflicht umgemünzt. d) Implementierung Die zuletzt dargestellte Problematik führt zur Typologie bezogen auf die Art und Weise der Implementierung der in den Kodizes niedergelegten Pflichten. Kodizes, die nur allgemeine Werte und Prinzipien moralisch richtigen Verhaltens der Richter festlegen, verzichten ganz auf institutionelle Sicherung ihrer Durchsetzung. Sie setzen – ebenso wie die Richterspiegel – auf Selbstreflexion und individuelle Sensibilisierung. Auf der Ebene konkreter Pflichtensammlungen sind zwar auch Kodizes feststellbar, die keine Implementierungsmittel besitzen. Damit besteht aber das Risiko, dass sie prädisziplinarisch wirken. Dort wo richterliche Ethikkommissionen vorgesehen sind, ist dieses Problem gemildert. Denn wenn die eingerichtete Kommission sich mit den jeweiligen Pflichten im Wege der Beratung annimmt, ist die Durchsetzung mit Hilfe des Disziplinarrechts institutionell zwar nicht unmöglich. Die Konkurrenz der Implementierungsorgane
III. Richterliche Ethik in Deutschland
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sorgt aber dafür, dass Abgrenzungen präziser durchgeführt werden. Allerdings gibt es auch Länder, bei denen diese Gremien nicht nur der Selbst- und Fremdberatung der Richter dienen, sondern als Vorstufe in Disziplinarverfahren fungieren, weil sie bei „schweren“ Verstößen ein entsprechendes Verfahren initiieren können.
III. Richterliche Ethik in Deutschland 1. Richterliche Berufsmoral in der deutschen Rechtsgeschichte Wesentliche Erkenntnis der vorausgegangenen Darstellung ist, dass der Bedarf und der Inhalt eines Ethikkodex grundsätzlich von den Besonderheiten der jeweiligen nationalen Rechtsordnung abhängen263. Hieraus entspringt die Vielgestaltigkeit des empirischen Befunds. Denn die Stellung des Richters hängt von der jeweils geltenden Rechtsordnung und den etablierten Regeln der Rechtsdurchsetzung ab. Von der dadurch geprägten Rechtskultur sind die Rollen- und Verhaltenserwartung an den Richter sowie seine Pflichten, die die Grundlage des jeweiligen Richterrechts bzw. der richterlichen Moral und damit die Grundlage ethischer Reflexion über diese Moral sind, abhängig, die wiederum geschichtlichen Wandlungen unterworfen sind. Selbst im kontinentaleuropäischen Rechtskreis, der in seiner Entwicklung und in seiner heutigen Ausprägung viele Ähnlichkeiten aufweist, unterscheiden sich die Justizstrukturen und damit die Erwartungen an die Richter in den jeweiligen nationalen Rechtsordnungen. Im Folgenden sollen – nach einer allgemeinen Vorbemerkung – für Deutschland die historischen Grundlagen und Veränderungen dieser durch die jeweilige Organisation der Rechtsdurchsetzung bedingten Erwartungen nachgezeichnet und die fortschreitende Etablierung richterlicher Verhaltenspflichten, seien sie rechtlich, seien sie moralisch bedingt, aufgezeigt werden. Damit werden die Grundlagen für die Herausbildung des heutigen richterlichen Amtsethos der Richter in Deutschland und die Voraussetzungen für das Verständnis der berufsmoralischen Verhaltenserwartungen an sie deutlich. Auch soll – entsprechend der Feststellung, dass Rechtssprechungsstruktur und Verhaltenserwartung bzw. Richterpflichten und -tugenden in einem engen Zusammenhang stehen – zunächst die prägenden Strukturelemente skizziert werden, um dies in Beziehung zu den jeweils geforderten Pflichten oder Haltungen zu setzen. Der Richterberuf ist ein „Urberuf“. Er diente und dient dem Recht und wie dieses ist er auch älter als das Gesetz264, das die Existenz eines Staates voraus263
Ebenso: Heussen, Richterliche Berufsethik (Fn. 244/B.), NJW 2015, S. 1927 ff. R. Ogorek, Richterkönig oder Subsumtionsautomat? – zur Justiztheorie im 19. Jahrhundert, Frankfurt/Main 1986, 13 ff. zur Entwicklung vom Jurisdiktionsprivileg zur fürstlichen Normgebungsbefugnis. Vgl. auch D. Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, 7. Aufl., München 2013, S. 3. 264
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setzt265. Seine Entstehung verdankt er mithin der Etablierung von Recht als Mittel der Konfliktlösung. Moral, Sitte, sonstige Gewohnheiten und das „Urrecht“ waren in bloßen Stammesgesellschaften noch nicht getrennt. Die Menschen fügten sich kollektiven Verhaltensmustern. Sie verhielten sich im Grundsatz konformistisch zu der jeweiligen Gruppe und ihrer Moral. Erst mit dem Verschwinden der frühen, grundsätzlich egalitären Stammesgesellschaften entstand das Recht als Steuerungsinstrument, das mit den normativen Urtypen des „Vertrags“ und des „Delikts“ aus dem moralischen Kosmos heraustrat266. Der Bruch gemeinsamer Wertüberzeugungen oder von Vereinbarungen wurde zuvor durch das Familien- oder Sippenoberhaupt gesühnt267. In den späteren „patriarchalen“ oder „kephalen“ Gemeinschaften, also der Gruppen mit einem Häuptling, Stammesführer oder König268, der als Garant des (Ur-)Rechts zur geordneten und monopolisierten Sanktion greift, wird das Recht bzw. der Rechtsspruch zunehmend und zum maßgeblichen Herrschaftsinstrument269. Dabei stimmte das Recht mit der Moral bis in die Antike noch weitgehend überein270. Während in frühen Gesellschaften271 Regelverletzungen außer mit Gewalt regelmäßig durch die „soziale Antwort“ der Gruppengesamtheit sanktioniert wurden – dies setzt sich später noch in der Volksversammlung fort –, erfordern zur Vermeidung ausufern-
265 Böckenförde, Ethos des Juristen (Fn. 5/B.), S. 20 f.; Bülow, Gesetz und Richteramt (Fn. 6/A.), S. 16 ff. 266 Häuser, Vorfragen (Fn. 55/A.), BJ 76 (2003), S. 187 f. (auch zum Voranstehenden) und D. Willoweit, Der richtige Kern der Lehre vom richtigen Recht, in: JZ 2010, S. 377; ders., Verfassungsgeschichte (Fn. 264/C.), S. 3. 267 H. Mitteis/H. Lieberich, Deutsche Rechtsgeschichte, 17. Aufl., München 1985, S. 23, 36; E. Schmidt, Einführung in die Geschichte der Strafrechtspflege, Neudruck der 3. Aufl., Göttingen 1995, S. 37 f. zeigt den außergerichtlichen „Rechtsgang“ auf, der zur Sühne führen sollte. 268 Wagner, Richter (Fn. 6/A.), S. 2; Simon, in: Achterberg (Hrsg.), Historische Beiträge zur Rechtsprechungslehre, S. 231. 269 Unter diesem Aspekt betrachtet Roellecke, Erziehung (Fn. 206/C.), JuS 1990, S. 338 ff., die historische Entwicklung der Beziehung von Herrscher und Richter. 270 Häuser, Vorfragen (Fn. 55/A.), BJ 76 (2003), S. 187; U. Wesel, Frühformen des Rechts in vorstaatlichen Gesellschaften, 1985, S. 334 ff.; vgl. auch: Hesiod, Werke und Tage, Vers 21: Nach ihm ist Rechtsprechung nicht nur ein Willensakt, sondern die Erkenntnis „des Richtigen“. Der Richter habe das Verborgene zu entschleiern und „Wahrsprüche“ zu fällen. Vgl. auch Homer, Ilias II. Buch 18. Gesang, Vers 497 bis 508. Aischylos schildert in seinen „Eumeniden“ die mythologische Begründung des Areopags durch Athene (zur Aburteilung des Orest wegen des Mordes an Klytaimnestra) und zwar als Ausweg aus endloser Rache. In Platons Apologie formuliert Sokrates die Tugenden des Richters: die Aussagen auf Richtiges und Falsches zu überprüfen; Rechtsprechen nach den Gesetzen ohne Ansehen der Person, Widerstand gegen das Unrecht, vgl. hierzu insgesamt: F. Haft, Aus der Waagschale der Justiz, 3. Aufl., München 2001, S. 39 ff. In Platon, Politea V 473 D wird ein Richterkönigtum modelliert und bei Aristoteles, Politik IV 1275a; 1298a, Ethik V., formuliert: „Die Menschen nehmen zum Richter ihre Zuflucht wie zu einer lebendigen Gerechtigkeit“. 271 Wagner, Richter (Fn. 6/A.), S. 28 ff.
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der Rache, Selbsthilfe und Fehde272 komplexer werdende archaische Gesellschaften die Herausbildung von „Drittentscheidern“ und ersten Richterpersönlichkeiten273. Dabei veränderte sich das Urrecht durch Formalisierung zum Recht. Der Richter leitete ursprünglich seine Stellung vom Herrscher, dessen maßgebliche Macht die Friedensstiftung durch Rechtsspruch war274, bzw. von der Versammlung der Freien ab und war ihm oder ihr zugeordnet275. Teilweise hatten sie ihre Vorläufer – wie in Rom276 – in sakralen Funktionen mit öffentlichem Auftrag. In einem wechselseitigen Prozess führte die Etablierung der Profession „Richter“ zur „Professionalisierung“ des Rechts, insbesondere zur Entwicklung eines formalen begrifflichen Rechts mit rationaler Methode als Ablösung von normativer Unsicherheit, insbesondere durch die römischen Juristen277. Ausgehend von dieser rechtsethischen Leistung, nämlich dem Fortschreiten von der kreativen und traditionsgebundenen Rechtsschöpfung und -findung zur methodischen, rationalen und unparteilichen Rechtsanwendung, wurde auch die Rechtstreue des Entscheiders als Urtugend des Richters selbst verlangt. a) Die Entwicklung in Deutschland bis zum 15. Jahrhundert aa) Rechtsprechungsstrukturen Bis zum Beginn der Neuzeit werden die beschriebenen Elemente der Frühzeit im germanischen bzw. deutschen Rechtsraum nur mäßig fortentwickelt. Rechtsprechung war geprägt durch den statischen Charakter der Gemeinschaftsordnung und damit des Rechts, durch die Verhaltensregeln der jeweiligen Gruppe bzw. des Standes und der noch abwesenden Gesetzgebung278. Gerichtsbarkeit war die wichtigste Erscheinungsform einer umfassenden – auch administrati-
272
Mitteis/Lieberich, Rechtsgeschichte (Fn. 267/C.), S. 36 f., 93 f. Wagner, Richter (Fn. 6/A.), S. 31 f.; Haft, Waagschale (Fn. 270/C.), S. 3 f.: Der Wesir war ein durch den Pharao beauftragter Richter (um 2500). Als Diener der Göttin Maat hatte er die Aufgabe zu ordnen und zu handeln gemäß den Gesetzen und der Gerechtigkeit. Er hatte die Weltordnung durch Wahrheit zu wahren. Hier sind erste Formen von Befangenheitsregeln feststellbar. Zu den ersten Formulierungen von richterlichen Pflichten in der 18. Dynastie (Anhörung, Unparteilichkeit, Gerechtigkeit und Gesetzestreue, Wahrheit) vgl. Wagner, Richter (Fn. 6/A.), S. 33. 274 Roellecke, Erziehung (Fn. 206/C.), JuS 1990, S. 339. 275 Jung, Richterbilder (Fn. 3/A.), S. 17 ff. m.w. N. 276 Böckenförde, Ethos des Juristen (Fn. 5/B.), S. 14 f. 277 J. Berkemann, Die Unabhängigkeit des Richters – Funktion. Auftrag, Moral, in: Festschrift zum 10jährigen Bestehen des Verwaltungsgerichts, Leipzig 2003, S. 17 f. Böckenförde, Ethos des Juristen (Fn. 5/B.), S. 15 ff.; Wagner, Richter (Fn. 6/A.), S. 41 ff. m.w. N. 278 Ogorek, Richterkönig (Fn. 264/C.), S. 14 ff.; U. Seif, Recht und Justizhoheit, Berlin 2003, S. 218 ff.; Wagner, Richter (Fn. 6/A.), S. 45 ff. 273
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ven – Organisation der sozialen Beziehungen und Konfliktbewältigung sowie wesentlicher Ort herrschaftlicher Selbstdarstellung279. Ursprünglich kam dem Gericht dabei die Aufgabe eines Bußverfahrens zu, bei dem die Rechtsverletzung bzw. das gestörte Heil durch Sühnehandlungen, etwa von materiellen Bußen, im Wege des sakral-rituellen Ausgleichs wiederherstellen sollte280. Ausgehend vom streng formalisierten und den Streitenden überlassenen germanischen Rechtsgang281 erfragte in der Landsgemeinde bzw. den Hundertschaften der Wehrfähigen282 der Vorsitzende (zumeist der adelige Herrscher) das Urteil (die zu erlegende Buße) von der Gerichtsgemeinde und verkündete es dann. Dabei wurden je nach Lage des Falles auch formale „Beweise“ (Eid, Gottesurteil, Zweikampf) gefordert, die zum Teil außerhalb des Verfahrens nach einem „Beweisurteil“ erbracht wurden. Hier lebte die Vorstellung von der Rechtsfindung durch Zusammenwirken von Herrscher und Volk auch später weiter, schwächte sich aber zunehmend ab. Aus demjenigen, der in der Volksversammlung den Urteilsvorschlag machte, entwickelte sich (teilweise) durch Wegfall der Zustimmungspflicht des sog. Umstandes (Vollbort) und der Verschmelzung mit dem Vorsitz die Stellung des Richters. Richter und Geschworene, diese als reduzierter Umstand, wurden zunächst überwiegend weiter vom Volk gewählt283, das damit mittelbar Urteiler blieb, aber durch Befreiung von der unmittelbaren Gerichtspflicht den Einfluss auf die Rechtsprechung immer mehr verlor. Mit der dauerhaften Bestellung oder Wahl der Geschworenen, insbesondere durch die „Volksrechte“, wurde auch der mittelbare Einfluss des Volkes weiter geschwächt. Die Geschworenen, häufig auch die Richter, waren meist ohne besondere Rechtskenntnisse und ehrenamtlich tätig, was deshalb zunächst nicht problematisch war, weil Formzwänge und Agieren der Parteien (Parteiprozess) maßgeblich waren284. Die Aufgabe der Richter war zunächst überwiegend nicht die unmittelbare Spruchtätigkeit, sondern sie hatten das von den Schöffen oder Geschworenen als Urteiler gefundene Recht zu bestätigen. Ein Wandel trat zunehmend dadurch ein, dass zum einen die Stellung der Parteien, zum anderen die Funktion des Vorsitzenden sich veränderte285. So entwickelte sich über den königlichen Zwang
279
D. Willoweit, Die Entwicklung und Verwaltung der spätmittelalterlichen Landesherrschaft, in K. G. A. Jeserich/Hans Pohl/G.-Ch. von Unruh, Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 1, 1983, S. 69 f. 280 W. Schild, Geschichte des Verfahrens, in: Strafjustiz in alter Zeit, Rothenburg o. d. T. 1980, S. 132 ff. 281 Schmidt, Einführung (Fn. 267/C.), S. 39 f. 282 E. Kern, Geschichte des Gerichtsverfassungsrechts, München/Berlin 1954, S. 1 f.; Mitteis/Lieberich, Rechtsgeschichte (Fn. 267/C.), S. 41 ff. 283 E. Döring, Geschichte der deutschen Rechtspflege seit 1500, Berlin 1953, S. 36. 284 Mitteis/Lieberich, Rechtsgeschichte (Fn. 267/C.), S. 42 f.; Willoweit, Verfassungsgeschichte (Fn. 264/C.), S. 50. 285 Schild, Geschichte des Verfahrens (Fn. 280/C.), S.143 f.
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(Bann), sich einem Verfahren zu unterwerfen, zu dem sie geladen wurden, eine herrschaftliche Gerichtsbarkeit286 in der Gestalt etwa der fränkischen Grafen, die zum Teil auch den Vorsitz in den Volksgerichten führten. Dabei stellte sich eine Arbeitsteilung mit den anderen gewählten Richtern der Thinge derart ein, dass diese nur die niedere Gerichtsbarkeit übten. Darüber und daneben bestand in fränkischer Zeit das Königsgericht, in dem die Großen des Reiches das Urteil fanden. Durch Königs- oder Sendboten, auch Sendgrafen, konnte dessen Zuständigkeit überall – insbesondere bei Rechtsverweigerung – und auch gegenüber dem Grafen durchgesetzt werden287. Allerdings blieb die Autonomie des kirchlichen, städtischen und ländlichen Gerichtswesens gegenüber dem Landesherrn zunächst bestehen. Ein Rechtszug war ebenfalls nicht vorgesehen288. Kirchenvogt und Schultheiß „ersetzten“ dort den Vorsitz des Lehensherrn, wobei deren Wahl vorgesehen war, und ihre Bestellung zunehmend der landesherrlichen Bestätigung bedurfte. Der Vogt benötigte die königliche Bestätigung289. Diese Struktur wird im Sachsenspiegel noch beschrieben290. Mit der Herausbildung des Lehenstaates ging die in fränkischer Zeit durch den König geprägte Gerichtsbarkeit291 als Gerichtsgewalt in die Hand des Landesherrn bzw. deren Lehensherren über, wobei die Möglichkeit, das vom Pfalzgrafen geleitete Königsgericht292 anzurufen, zunächst noch bestand293. Seit dem späteren Mittelalter, beginnend mit den Fürstenprivilegien Friedrich II.294, wurde das Gerichtsrecht des Landesherrn, in dessen Namen zunehmend das Urteil erging, zur Justizhoheit. Es wurde zum wesentlichen Element der Herausbildung der Landesherrschaft295. Dabei blieb dem Kaiser aber stets die Aufgabe, im Falle der Rechtsverweigerung in den Territorien, Rechtsschutz zu gewähren (1235 Gründung des Reichshofge286 Mitteis/Lieberich, Rechtsgeschichte, (Fn. 267/C.), S. 73 ff.; Kern, Gerichtsverfassung (Fn. 282/C.), S. 4 f.; Willoweit, Verwaltungsgeschichte (Fn. 279/C.), S. 75. 287 Willoweit, Verfassungsgeschichte (Fn. 264/C.), S. 40 f. 288 Willoweit, Verwaltungsgeschichte (Fn. 279/C.), S. 76. 289 Kern, Gerichtsverfassung (Fn. 282/C.), S. 7. 290 Kern, Gerichtsverfassung (Fn. 282/C.), S. 9. 291 Willoweit, Verfassungsgeschichte (Fn. 264/C.), S. 5, bestimmt als Hauptfunktion des Königs die des Richters. 292 Hierzu Willoweit, Verfassungsgeschichte (Fn. 264/C.), S. 37 f., wonach er ursprünglich Richter für die Streitsachen Hochgestellter gewesen ist. 293 Willoweit, Verfassungsgeschichte (Fn. 264/C.), S. 6: Friedrich I. bestand 1158 darauf, dass „alle Gerichtsbarkeit und Gerichtsgewalt . . . beim Herrscher“ liegt „und alle Richter . . . ihre Aufgabe vom Herrscher übertragen lassen und einen Eid schwören“ müssen. 294 Willoweit, Verfassungsgeschichte (Fn. 264/C.), S. 75 f. 295 So hat D. Willoweit, Rechtsgrundlagen der Territorialgewalt, Köln 1975, S. 1975, S. 17 ff., S. 33 ff. und S. 186 ff., die hochgerichtliche Jurisdiktionsgewalt als maßgebliches Element der Herausbildung der Territorialgewalt beschrieben; U. Eisenhardt, Deutsche Rechtsgeschichte, 3. Aufl., München 1999, S. 114 f.; Mitteis/Lieberich, Rechtsgeschichte (Fn. 267/C.), S. 251 ff.
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richts)296. Durch den Verfall des besonderen Gerichtsbanns oder Bannleihe sowie durch das jeweils erteilte privilegium de non appellando und evocando wurde die Justizhoheit zunehmend nach außen abgeschottet297. In den Territorien bildeten sich für einzelne Stände Sonderzuständigkeiten (z. B. kirchliche Offizialate; Zunftgerichte; Universitätsgerichte usw.)298. Es bildeten sich Instanzenzüge und eine gewisse Professionalisierung durch den Einsatz geschulter Amtsleute und Vögte statt des Grafen heraus299. Erst im späten Mittelalter kam das Rechtsmittel der Appellation als Rechtsmittel bei den weltlichen Gerichten in Gebrauch. Zu Beginn der frühen Neuzeit führte der aus der Urteilsschelte entwickelte „Rechtszug“ 300 zu „Oberhöfen“, Hofgerichten des Landesherrn bzw. des Königs301. Zuerst an den Königsgerichten, später in den Städten, schwand schließlich der Unterschied zwischen Richtern und Urteilern. Erst ab der frühen Neuzeit ist ein Übergang zu Richtern mit juristischer Bildung und „beamtenmäßiger“ Organisation festzustellen302. bb) Richterpflichten und -tugenden Aus diesen Rechtsprechungsstrukturen leiteten sich früh moralische, insbesondere religiös begründete Richterpflichten ab, die mit zunehmender Verrechtlichung – etwa in Prozessordnungen – zu rechtlichen Verhaltenspflichten des Richters wurden. Ist Recht Gewohnheit, haben der Richter und die Geschworenen die grundlegende Pflicht, diese Gewohnheit im Verfahren und Urteil zu achten303. Nur damit war die Stabilität des Rechts bzw. der sakralen Ordnung zu sichern. Mit der Christianisierung wurde diese Vorstellung in das religiöse Weltbild eingebettet.
296
Willoweit, Verfassungsgeschichte (Fn. 264/C.), S. 90. Beginnend mit der Goldenen Bulle von 1356 gegenüber den Kurfürsten, hierzu Willoweit, Verfassungsgeschichte (Fn. 264/C.), S. 85; vgl. auch: Mitteis/Lieberich, Rechtsgeschichte, (Fn. 267/C.), S. 242 f.; F. Wittreck, Die Verwaltung der Dritten Gewalt, Tübingen, 2006, S. 38 f. z. B. Preußen und Brandenburg im November 1690. 298 Eisenhardt, Rechtsgeschichte (Fn. 295/C.), S. 268 f.; Wagner, Richter (Fn. 6/A.), S. 50; Willoweit, Verwaltungsgeschichte (Fn. 279/C.), S. 76. 299 Mitteis/Lieberich, Rechtsgeschichte, (Fn. 267/C.), S. 84. 300 Eisenhardt, Rechtsgeschichte (Fn. 295/C.), S. 118 f. 301 Kern, Gerichtsverfassung (Fn. 282/C.), S. 13; Mitteis/Lieberich, Rechtsgeschichte (Fn. 267/C.), S. 183, S. 241 ff., das Reichshofgericht war zu dieser Zeit jedoch nicht mit gelehrten Richtern besetzt. 302 Im kanonischen Recht war die Trennung von (gelehrtem) Richter und Urteiler bereits im 12. Jh. aufgehoben worden: Seif, Recht und Justizhoheit (Fn. 278/C.), S. 70 ff. Dies hatte durchgreifende Folgen für das gesamte Verfahren: Schriftlichkeit, Protokollierung, Rechtsmittel, Rationalisierung, vgl. Seif, Recht und Justizhoheit (Fn. 278/C.), S. 77 ff. 303 Ogorek, Richterkönig (Fn. 264/C.), S. 16. 297
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Die Pflicht zur Wahrung der Gewohnheit fiel zusammen mit der Pflicht, die göttliche Weltordnung zu achten304. Gleichzeitig überhöhte sich das Bild des gerechten Richters305 zum Stellvertreter des richtenden Gottes auf Erden306 mit allen moralischen Implikationen für den Richter. Er hat sich – und dies führt zu drückenden moralischen Forderungen – für sein Urteil letztlich vor Gott zu rechtfertigen.307 Dieses Verständnis, das in der Heiligen Schrift seine Grundlagen findet308, wurde zur maßgeblichen Vorstellung vom Richter im Mittelalter. Darin war der Typus des „ungerechten“ Richters als Gegenmodell und Abgrenzungstopos eingeschlossen. In diesem Sinne haben auch die Kanonistik und die scholastische Philosophie gewirkt. So wird etwa im Decretum Gratiani der „ordo judicarius“ dadurch näher bestimmt, dass der Richter Werkzeug der Gerechtigkeit ist. Bedeutsam ist, dass die Gerechtigkeit danach durch die Beachtung der Rationalität des Verfahrens, durch Befolgung von Verfahrensregeln und durch die Rechtsgebundenheit hergestellt werden soll309. Das aus dem römischen Recht übernommene Amtsverständnis verlangte vom Richter überdies die Trennung von Privatwissen und richterlichem Wissen. In den Dekretalen wurde das richterliche Gewissen überdies zum Element des ordnungsgemäßen Verfahrens310. Gerade die Wahrung der Grenzen eigener Zuständigkeit macht den Richter zum gesetzlichen und verfahrensmäßig zum gerechten Richter (Iustitia ex ordine)311. Bei Thomas von Aquin werden in der Summa theologiae II (60. Frage „Von der Rechtsprechung“ und Frage 67 „Über die Ungerechtigkeit des Richters in der 304 Haft, Waagschale (Fn. 270/C.), S. 9; Döring, Geschichte der Rechtspflege (Fn. 283/C.), S. 88. 305 Rheinstein, Wächter (Fn. 12/A.), JuS 1974, S. 414. 306 Haft, Waagschale (Fn. 270/C.), S. 6 ff. 307 Nach dem Soester Stadtrecht von 1220 (zit. nach Heussen, Richterliche Berufsethik (Fn. 244/B.), NJW 2015, S. 1927) galt: „Der Richter soll auf seinem Richterstuhl sitzen wie ein schreckerregender Löwe und den rechten Fuß über den linken schlagen und an das strenge Urteil denken und an das Gericht, das Gott über ihn halten wird am jüngsten Tage und in dieser Weise über Klage und Gegenklage entscheiden.“ 308 Berkemann, Unabhängigkeit (Fn. 277/C.), S. 15 f. Wagner, Richter (Fn. 6/A.), S. 36 ff.; Altes Testament: z. B. Exodus 19, 5; Levitikus 19, 15; Deuteronomium 16, 18: „Du sollst das Recht nicht beugen und sollst auch keine Person ansehen oder Geschenke nehmen“. Insbesondere König Salomo im ersten Buch der Könige wurde zum Muster des weisen Richters. Das Neue Testament ist zum Richterberuf eher kritisch; auch wenn Mt. 25, 31 bis 33, mit Gott als Richter eine religiöse Prägung des Richteramts befördert. Die Hinrichtung von Jesus Christus nach einem Strafprozess und eines als „ungerecht“ gekennzeichneten Urteils wegen Tempelvergehen, angemaßter Königswürde und Steuerverweigerung vor Kaiphas und Pilatus (Mk. 14, 53; Mt. 26, 57; Lk. 22, 66; Joh. 18, 12) zeigt die problematische Seite des Richterberufs, Diener der Macht und mangelnde Standhaftigkeit, auf; vgl. hierzu Wagner, Richter (Fn. 6/A.), S. 37 f. 309 Seif, Recht und Justizhoheit (Fn. 278/C.), S. 64 ff. 310 Seif, Recht und Justizhoheit (Fn. 278/C.), S. 68 f. 311 Zu den römischrechtlichen und kanonistischen Ursprüngen dieses Gebotes der vom Richter zu beachtenden Verfahrensgerechtigkeit, Seif, Recht und Justizhoheit (Fn. 278/C.), S. 44 ff., S. 64 ff.
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Rechtsprechung“)312 die Anforderungen an den Richter definiert. „Rechtsprechen bedeutet Bestimmung und Umgrenzung des Rechts“ und ist damit mehr als bloße Subsumtion. Der Richter ist verpflichtet, dem Recht das Maß zu geben. Rechtsprechung ist ein Akt der konkreten Gerechtigkeit: „Die Rechtsprechung geht hervor aus der Tugend der Gerechtigkeit.“ 313 Thomas muss dabei zunächst herleiten, warum Rechtsprechung trotz entgegenstehender biblischer Einwände gegen das Urteilen überhaupt erlaubt ist. Dies ist es nur dann, wenn sie aus Neigung zur Gerechtigkeit, mit Vollmacht, nach der rechten Vernunft und mit Klugheit geschieht314. Hieraus lassen sich die entsprechenden Pflichten an den Richter unmittelbar ableiten. Einer ungerechten Entscheidung liegt oft ein argwöhnischer Verdacht zugrunde, der auf der Schlechtigkeit des Richters selbst, seiner Voreingenommenheit wegen Verachtung, Hass, Zorn und Neid oder auf bloßer Skepsis beruht315. Dieses Verhalten nennt er in unterschiedlichen Graden sündhaft und macht damit die moralisch und religiös zu ahndenden Verfehlungen des Richters deutlich. „Jeder Richter ist gehalten, jedem das Seine zu geben, wozu es sowohl der Verstandesschärfe als auch der Liebe zum Recht, der rechten Gesinnung bedarf.“ 316 Die religiöse Einordnung des Richterberufs wird klar bestimmt: „Der Mensch muss in seiner Rechtsprechung mit dem göttlichen Gericht übereinstimmen.“ 317 Dass die Berufung auf moralische Grundlagen des Rechts und der Rechtsprechung begrenzt ist, wird deutlich in der Forderung, dass kein Urteil nach dem bloßen Gewissen, sondern nur nach den Erkenntnissen im Prozess und dem Recht zu fällen ist318. Die Rechtsbindung des Richters wird an mehreren Anwendungsbeispielen erläutert. So hat er kein Recht zum widergesetzlichen Straferlass und zur Barmherzigkeit319. Nur bei „Versagen“ des Gesetzgebers darf der Richter sein Urteil in der Billigkeit bzw. „Gerechtigkeit“ suchen320, wobei Gerechtigkeit als „sachbestimmte Mitte“ des konkreten Falles definiert ist321. Quellen für die Feststellung richterlicher Pflichten in dieser Zeit sind neben den vorgenannten theoretischen Erörterungen außerdem Richtereide, Anweisungen, Bestellungsurkunden sowie die „Spiegel“: 312 Lippert, Recht und Gerechtigkeit bei Thomas von Aquin, Marburg 2000, S. 161 ff. und S. 194 ff.; Marcic, Gesetzesstaat (Fn. 26/A.), S. 248 ff.; Thomas von Aquin, Summa theologica, Vollständige ungekürzte deutsch-lateinische Ausgabe, Band 18, II 57 bis II 79, Recht und Gerechtigkeit, kommentiert von A. F. Utz OP, Heidelberg/ München 1953, S. 69 ff., sowie die Kommentierung S. 465 ff. 313 Thomas von Aquin, Summa theologica (Fn. 312/C.), 60, 1 zu 1, S. 71. 314 Thomas von Aquin, Summa theologica (Fn. 312/C.), 60 2; 60, 6 zu 1. 315 Thomas von Aquin, Summa theologica (Fn. 312/C.), 60, 3. 316 Thomas von Aquin, Summa theologica (Fn. 312/C.), 67, 4, Antwort 6, S. 230. 317 Thomas von Aquin, Summa theologica (Fn. 312/C.), 67, 2 zu 2. 318 Thomas von Aquin, Summa theologica (Fn. 312/C.), 67, 3 zu 4. 319 Thomas von Aquin, Summa theologica (Fn. 312/C.), 67, 4. 320 Thomas von Aquin, Summa theologica (Fn. 312/C.), 60, 5, 1; S. 84. 321 Thomas von Aquin, Summa theologica (Fn. 312/C.), 60, 1
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So verpflichtete der Eid die Schöffen, deren Ablegung sie zu Geschworenen machte, nach bestem Wissen zu urteilen und der Wahrheit zu folgen322. Die fränkischen Königsboten hatten – wie ein Wormser Kapitular von 829 belegt – die Aufgabe, Schöffen, die aus Freund- oder Feindschaft ungerecht urteilen, vorläufig und bis zu einer Entscheidung des Königsgerichts abzusetzen323. Nach dem Mainzer Reichslandfrieden von 1235 hatte der Reichshofrichter zu schwören, dass er nichts für sein Gericht annimmt, dass er weder zu Liebe noch zu Leide, weder auf Bitten, noch Belohnungen, weder aus Angst noch Gunst noch in irgendeiner Hinsicht sonst das Gericht anders wahrnimmt, als was er nach seinem Gewissen als recht weiß oder erachtet, guten Glaubens ohne List oder Betrug324. In einer Glosse zum Sachsenspiegel325 heißt es zu den richterlichen Pflichten: „Höre zu, der du Richter bist, und siehe, dass du ein gleicher und gerechter Richter seist und gedenke an das strenge Gericht unseres Herrn Jesu Christi; denn Gott ist zu derselben Zeit und Stunde auch an dem Ort, wann und wo du richtest, ein gestrenger Richter und richtet über Dich gleichermaßen wie Du über andere richtest.“ Der Richter hat ohne Ansehen der Person, unabhängig von Aufträgen, unbestechlich durch Gaben und uneingeschüchtert durch Drohungen feindlich Gesinnter zu urteilen326. Unter den Kardinaltugenden Gerechtigkeit, Weisheit, Tapferkeit und Mäßigung327 ist die „Maze“, die Tugend des Maßhaltens, die bedeutsamste328. Die Untugenden sind Furcht, Geiz, Hass, Neid, Liebe, Bestechlichkeit329. Der Deutschenspiegel formuliert die persönlichen Voraussetzung des mittelalterlichen Richters und damit die – und in Teilen uns fremden – moralischen Anforderungen dieser Zeit an ihn: „An dem sollen nicht folgende Dinge sein: er soll nicht in der Acht sein noch in dem Bann; er soll auch nicht Jude sein noch Ketzer noch Heide; er soll ein eheliches Kind sein; er soll auch nicht lahm sein an Händen noch an Füßen; er soll auch nicht blind sein; er soll weder stumm noch ein Tor sein; er soll auch 21 Jahre alt sein; er soll nicht über 80 Jahre alt sein; er soll auch nicht meineidig sein. Welches dieser Dinge eines an dem Rich322
Kern, Gerichtsverfassung (Fn. 282/C.), S. 5 f. Kern, Gerichtsverfassung (Fn. 282/C.), S. 5 f. 324 Lateinisch bei Kern, Gerichtsverfassung (Fn. 282/C.), S. 15; Übersetzung bei Weinrich, Quellen zur deutschen Verfassungs-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte bis 1250, S. 467, 483; hierzu auch Luik, Bemerkungen (Fn. 700/C.), SchlHolAnz. 2009, S. 97. 325 Landrecht, Buch 3, Art. 30; Döring, Geschichte der Rechtspflege (Fn. 283/C.), S. 89; K. Stephan, War Salomo ein gerechter Richter – Müssen Richter tugendhaft sein? In: M. Eichhorn (Hrsg.), Alles, was ist, ist Recht, Festschrift zum 60. Geburtstag von L. Simon, Frankfurt 2001, S. 216. 326 Wolf, Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte, 4. Auflage, Tübingen 1963, S. 19. 327 Kern, Gerichtsverfassung (Fn. 282/C.), S. 10. 328 Haft, Waagschale (Fn. 270/C.), S. 6. 329 Haft, Waagschale (Fn. 270/C.), S. 7 zum sächsischen Weichbildrecht. 323
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ter ist, der mag mit Recht nicht Richter sein.“ Wer das Recht beugt aus Liebe oder Hass oder um Gewinns willen, der verliert Gottes Huld. Der Schwabenspiegel lässt im Landrecht (§ 74) allerdings zu, dass Parteien dem Richter „guot“ geben dürfen, wenn anders Recht nicht zu erlangen sei. Der Richter hat ohne unmenschlichen Zorn zu urteilen, nicht jäh und nicht träge zu sein, keinen Leichtsinn und keine Übereilung zeigen330. Damit werden in plastischer Weise die Tugenden und Verhaltenspflichten definiert, die vor allem die innere Unabhängigkeit sichern sollen. b) Die Entwicklung bis zum 18. Jahrhundert aa) Rechtsprechungsstrukturen Mit der schrittweisen Auflösung der auf persönlichen Bindungen beruhenden Herrschaftsweise und der Herausbildung der territorial gebundenen Herrschaft verlor die Rechtsprechung bei der Rechtserzeugung ihren Primat zunehmend an die Gesetzgebung331. Verbunden damit waren in Deutschland – anders als etwa in England – die Begrenzung der besonderen Gerichtsbarkeit der Städte, der Kirche und der Stände sowie die Herausbildung einer landesherrlichen Justizverwaltung332: Auf der Ebene des Reiches markierte das Jahr 1495 eine Zäsur in der Gerichtsorganisation. Sie war Folge eines länger währenden Bemühens, das Fehdewesen zu begrenzen („Gottesfriedensbewegung“)333. Zur Sicherung des „ewigen Landfriedens“ und damit der friedlichen Bewältigung von Konflikten mit den Mitteln des Rechts wurden die Strukturen der Gerichtsbarkeit des Reiches verändert und organisatorisch auf Dauer etabliert. Das ursprüngliche königliche Hofgericht und das spätere Kammergericht334 gingen in das Reichskammergericht auf 335, das als Appellationsinstanz in Zivilsachen, für Prozesse gegen Reichsunmittelbare, für Landfriedenssachen sowie bei Justizverweigerung336 in den Territorien zuständig
330
Haft, Waagschale (Fn. 270/C.), S. 8. Böckenförde, Ethos des Juristen (Fn. 5/B.), S. 20; Ogorek, Richterkönig (Fn. 264/ C.), S. 18 ff. 332 Schild, Geschichte des Verfahrens (Fn. 280/C.), S. 188; Seif, Recht und Justizhoheit (Fn. 278/C.), S. 220 ff. 333 Zu den Einzelheiten vgl. Schild, Geschichte des Verfahrens (Fn. 280/C.), S. 152 ff. 334 Vgl. hierzu Kern, Gerichtsverfassung (Fn. 282/C.), S. 15 ff.; Mitteis/Lieberich, Rechtsgeschichte (Fn. 267/C.), S. 243; Eisenhardt, Rechtsgeschichte (Fn. 295/C.), S. 265 ff. 335 Willoweit, Verfassungsgeschichte (Fn. 264/C.), S. 118 und 197. 336 Eisenhardt, Rechtsgeschichte (Fn. 295/C.), S. 267; Seif, Recht und Justizhoheit (Fn. 278/C.), S. 237 f. 331
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war. Daneben stand der Reichshofrat als Gericht des Kaisers337, der teilweise eine konkurrierende Zuständigkeit gegenüber Reichskammergericht hatte und – neben Appellationsaufgaben und „Untertanenprozessen“ 338 – vor allem die freiwillige Gerichtsbarkeit bezogen auf Reichsunmittelbare und Stände im Wege der Justiz durch „Seinesgleichen“, insbesondere bei Lehenssachen, Privilegienstreitigkeiten und Straffälle der Reichsunmittelbaren, ausübte339. Die Organisation und Arbeitsweise des Reichskammergerichts wurden zum Vorbild für die Territorialgerichte, soweit es als dauerhaftes, mit Spruchkörpern mit Vorsitzenden und Beisitzern strukturiertes Gericht geführt wurde, das mit unabhängigen „mit anderen Händeln unbeladenen“ Richtern im Hauptberuf, also mit Richtern mit einem juristische Studium, Promotion und praktischer Tätigkeit340 besetzt war sowie nach einer festen Verfahrens- und Geschäftsordnung judizierte341. Neben dieser strukturellen Vorbildwirkung des Reichskammergerichts wurde die Gerichtsbarkeit in den Territorien342 durch die Peinliche Halsgerichtsordnung von 1532343 im Strafverfahren prozessual angeleitet. Dabei veränderte sich auch die Rolle des Richters hin zum Ermittler der materiellen Wahrheit im Inquisitionsprozess, zu dessen Mittel freilich – wie schon zuvor – zunächst noch die Folter zur Erzwingung des für erforderlich gehaltenen Geständnisses gehörte344. In einem differenzierten Prozess bildeten sich in den Territorien des Reiches die Justizhoheit und -organisation heraus. Der Landesherr wurde zum justizfreien Gerichtsherrn345, der Städte und Grundherrn mit der Gerichtsbarkeit belieh. Der Untertan hatte daneben die Möglichkeit, durch Suppliken um Rechtsschutz beim Herrscher nachzusuchen346. Ursprünglich sprach noch der Landesherr selbst auf Landtagen, in der Residenz oder auf Visitationen Recht, wobei als Beisitzer hohe Würdenträger fungierten. Mit der Zunahme der Geschäfte347 wurde die Rechtsprechung auf Räte übertragen, was zur Vermeidung der Beleihung und des da337 Kern, Gerichtsverfassung (Fn. 282/C.), S., 32 f.; Willoweit, Verfassungsgeschichte (Fn. 264/C.), S. 118. 338 Willoweit, Verfassungsgeschichte (Fn. 264/C.), S. 131 f. und S. 196. 339 Döring, Geschichte der Rechtspflege (Fn. 283/C.), S. 1 ff.; Kern, Gerichtsverfassung (Fn. 282/C.), S. 26 ff. Willoweit, Verfassungsgeschichte (Fn. 264/C.), S. 150. 340 Roellecke, Erziehung (Fn. 206/C.), JuS 1990, S. 339: ab RKGO 1555 I 3 § 2 fünfjähriges Rechtsstudium und gerichtliche Berufspraxis und Einführung der Examinierung der von den Ständen präsentierten Assessoren. 341 Döring, Geschichte der Rechtspflege (Fn. 283/C.), S. 19 ff. und S. 42. 342 Döring, Geschichte der Rechtspflege (Fn. 283/C.), S. 2. ff.; Eisenhardt, Rechtsgeschichte (Fn. 295/C.), S. 268 ff. 343 Kern, Gerichtsverfassung (Fn. 282/C.), S. 34 ff. 344 Schild, Geschichte des Verfahrens (Fn. 280/C.), S. 188 ff. 345 Kern, Gerichtsverfassung (Fn. 282/C.), S. 39 f. 346 Wittreck, Verwaltung (Fn. 297/C.), S. 42. 347 Ogorek, Richterkönig (Fn. 264/C.), S. 30; Willoweit, Verwaltungsgeschichte (Fn. 279/C.), S. 116.
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mit verbundenen Risikos des Verlustes des Justizregals geschah348. Richter wurden so in erster Linie zu „beamteten“ Dienern ihres Herrn349, der Gerichtsherr mit allen Befugnissen bleibt. Der Gerichtsherr machte sich aber auch die „staatsbildende“ Argumentation der am römischen Recht geschulten Räte zunutze350. Damit konnte die Unabhängigkeit der Richter nur eine beschränkte sein351. Der Landesherr behielt sich häufig grundsätzliche Prozesse vor; der Adel erhielt einen eigenen Rechtszug (iudicium parium). Unter dem Vorsitz eines Präsidenten oder Kanzlers tagten „Hof- oder Kammergerichte“, die sich im 16. und 17. Jahrhundert zunehmend als Ober- und Appellationsinstanz zu den städtischen und ländlichen Gerichten etablierten und wegen ihrer Besetzung mit Adeligen den Einfluss der Landstände sicherten. Hof- oder Kammergerichte waren aber auch erste Instanz der privilegierten Stände. Durch die Verleihung eines privilegiums de non appellando führte die Errichtung oberster Gerichte (Oberappellationsgerichte) zum Abschluss des territorialen Instanzenzugs. Damit war ein wesentliches Element der Sicherung der Territorialherrschaft352 erreicht. Das Laienelement verschwindet zunehmend353. Die landesherrlichen Justizkollegien standen unter der Aufsicht der fürstlichen Kanzlei, insbesondere des Geheimen (Justiz-)Rates, der nicht immer eine juristische Bildung aufwies. Über die Kanzlei, die Gesetzgebung und die Justizaufsicht nahm der Landesherr Einfluss auf die Rechtsprechung der Beliehenen bzw. der unteren Gerichte. Es setzte außerdem eine Differenzierung zwischen Verwaltungs- und Rechtsprechungsaufgaben in der Hofverwaltung354 ein, was zur „Entpolitisierung“ der ordentlichen Justiz und der Reduzierung der landesherrlichen Eingriffe in die Justiz führte355. Die Rechtsprechung bezog sich fast ausschließlich auf zivile Rechtsstreitigkeiten, also auf den Konflikt um „Mein“ und „Dein“, während sich andere (administra-
348
Roellecke, Erziehung (Fn. 206/C.), JuS 1990, S. 339. Beachte aber die rechtliche Unterscheidung von Beamten, Amtmann und Diener bei Willoweit, Verfassungsgeschichte (Fn. 264/C.), S. 95. Er weist daraufhin, dass von einer Entwicklung zum Beamtenrecht frühestens ab dem 15. Jahrhundert gesprochen werden kann, aber nur im Hinblick auf die Herausbildung typischer Gemeinsamkeiten, zu denen auch die Normierung von Amtspflichten gehörte, S. 132. Erst im frühen 19. Jahrhundert setzt die Ablösung des „Fürstendieners“ zugunsten des „Staatsbeamten“ ein, S. 232. Roellecke, Erziehung (Fn. 206/C.), JuS 1990, S. 340. 350 Böckenförde, Ethos des Juristen (Fn. 5/B.), S. 22. 351 Sehr pauschal die Unabhängigkeit gänzlich verneinend: Berkemann, Unabhängigkeit (Fn. 277/C.), S. 18 f. E. Kern, Der gesetzliche Richter, Berlin 1927, S. 55, weist dagegen auf das Erfordernis hin, dass Richter für die Rechtsprechung ausdrücklich von ihrer Gehorsamspflicht vom Territorialherrn entbunden wurden. 352 Zu Brandenburg-Preußen: Seif, Recht und Justizhoheit (Fn. 278/C.), S. 240 ff. 353 Kern, Gerichtsverfassung (Fn. 282/C.), S. 22, 40 f. 354 Vgl. preußisches Justizressortreglement von 19.06.1749, insoweit Trennung der Kammer- und Domänensachen von der ordentlichen Justiz und Ansätze verwaltungsgerichtlicher Rechtsprechung. 355 Kern, Gesetzlicher Richter (Fn. 351/C.), S. 58 ff. 349
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tive) Entscheidungen auf die Policey als Teil der Verwaltung bezogen356. Hieraus entwickelte sich die spätere Trennung zwischen Justiz und Verwaltung. Verwaltungskontrolle fand in dieser Phase als „justizstaatliche Lösung“ über die gerichtliche Kontrolle privatrechtsverletzenden Regierungshandlungen statt, wobei deren Reichweite stets umstritten war357. Mit der Zunahme der Geschäfte war der Übergang von periodisch tagenden zu dauerhaften Gerichten358 mit schriftlichem Verfahren und Professionalisierung verbunden. Daran hatte auch die Rezeption des römischen Rechts359 und des kanonischen Prozesses Anteil. Auf lokaler Ebene360 blieb das Gerichtswesen bis in das 19. Jahrhundert Teil der (lokal)ständischen Ordnung. Gerichts- und Leibherrschaft standen in engem Zusammenhang. Lokale Gerichte waren neben den Patrimonialgerichten der Grundherren die Dorf-361 und Stadtgerichte. In den Städten wurden Syndici als gelehrte Richter bestellt362. Die lokalen Gerichte bildeten gegenüber den landesherrlichen Gerichten stets ein Element der Beharrung363. Nur über die Domänengerichte an den Amtsstellen, exekutive Eingriffe364 (Visitationen des Fürsten als Justizaufsicht), den Vorbehalt der Hochgerichtsbarkeit für regional zuständige Gerichte und die Bildung von Rechtszügen wurden sie in die territoriale Justizorganisation und den dort stattfinden Rationalisierungsprozess integriert365. Auch der Bestätigungsvorbehalt des Fürsten bei Strafsachen, insbesondere die Bestätigung eines Todesurteils366, führten zur Einbindung der lokalen Gerichte in die Justizorganisation der Territorien. Die Aktenversendung an auswärtige Universitäten oder die Anfragen bei angesehenen, auswärtigen Schöffengerichten („Oberhöfe“)367 wurden im späten 16. Jahrhundert verboten368. Neben der Wahl oder Bestellung wurden insbesondere bei Mittel- und Obergerichten die Richter im Einvernehmen mit Fürst und Ständen bestellt369. Zum Teil wurden Richterstellen, sogar mit beschränkter Erblichkeit verkauft, zum Teil waren sie Bestandteil des Besitzes. Deshalb sind landesherrliche Ermahnungen verständlich, nur
356 Seif, Recht und Justizhoheit (Fn. 278/C.), S. 223 f.; Ogorek, Richterkönig (Fn. 264/C.), S. 283 ff. 357 Ogorek, Richterkönig (Fn. 264/C.), S. 283. 358 Döring, Geschichte der Rechtspflege (Fn. 283/C.), S. 5 f. 359 Kern, Gerichtsverfassung (Fn. 282/C.), S. 21 f. 360 Döring, Geschichte der Rechtspflege (Fn. 283/C.), S. 6 ff. 361 Hierzu Willoweit, Verfassungsgeschichte (Fn. 264/C.), S. 108. 362 Kern, Gerichtsverfassung (Fn. 282/C.), S. 23. 363 Ogorek, Richterkönig (Fn. 264/C.), S. 26. 364 Kern, Gerichtsverfassung (Fn. 282/C.), S. 40 f. 365 Schild, Geschichte des Verfahrens (Fn. 280/C.), S. 200. 366 Kern, Gerichtsverfassung (Fn. 282/C.), S. 40. 367 Willoweit, Verfassungsgeschichte (Fn. 264/C.), S. 107. 368 Willoweit, Verfassungsgeschichte (Fn. 264/C.), S. 156 f. 369 Döring, Geschichte der Rechtspflege (Fn. 283/C.), S. 50 ff.
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„charakterlich einwandfreie“ und dem Recht verpflichtete Richter zu bestellen370. Die städtische Gerichtsbarkeit nahm eine besondere Rolle ein. Häufig konnte sie neben den Niedergerichtssachen auch die Hochgerichtssachen an sich ziehen371. Insgesamt genossen städtische und ländliche Richter nur geringeren Schutz372. Nach 1648 ist in den Territorien ein weiterer Rückgang der Laienbeteiligung zu verzeichnen. Zunehmend waren statt adeligen oder bäuerlichen Laienrichter gelehrte Berufsrichter als „Diener des Fürsten“ 373 tätig, wenn gleich auch adelige Laienrichter mit der Gefahr der Rechtsverweigerung für niedere Stände tätig waren. bb) Richterpflichten und -tugenden Im Gegensatz zu Frankreich mit seiner Vererblichkeit der Richterstellen in den „Parlamenten“ und zu England, wo die Professionalität durch die Ausbildung in Inns und durch die Rekrutierung der Richter aus der Anwaltschaft gesichert wurde, bildete sich in Deutschland keine Richterkaste mit fester innerer Ordnung und mit Standesregeln heraus374, die maßstabsbildend bei den richterlichen Pflichten geworden wäre. Hier wirkte auf sein Selbstverständnis vielmehr sein Status als „Diener“ seines Gerichtsherrn sowie die religiöse Prägung der richterlichen Pflichten375. Jede Nachlässigkeit des Richters bzw. willkürliche Entscheidung war folglich eine religiös-moralische Verfehlung376. Die Anstrengung des Gewissens und die Verpflichtung zur „Eintracht“ im Kollegialgericht und zur „Sorgfalt“ des Einzelrichters waren mithin religiös gefordert. Die Reformatoren verstärkten diese Prägung, weil sie die Gewissenspflichten des Richters besonders betonten377. So erklärte Luther: „Du siehst also, welchen Sinnes der bedarf, der das Amt des Richters und des Schwerts ausüben soll. Er muss Sieger sein über alle Leidenschaften, Furcht, Liebe, Gunst, Mitleid, Habsucht, Hoffnung, Leben und Tod. Er muss die ganze schlichte Wahrheit lieben und das gerechte Urteil; denn das Urteil ist Gottes.“ 378 Melchior von Osse zieht 1554 für sich hieraus unmittelbare praktische Konsequenzen, als er sich wegen ihm aufgezwungener, ungeeigneter Beisitzer zum Unwillen des Landesherrn aus dem Leipziger Hofgericht zurückzog und dabei erklärt, es sei besser, „es zürne der Herr auf Erden, denn der im Himmel.“ 379 370 371 372 373 374 375 376 377 378 379
Döring, Geschichte der Rechtspflege (Fn. 283/C.), S. 55. Willoweit, Verfassungsgeschichte (Fn. 264/C.), S. 105. Döring, Geschichte der Rechtspflege (Fn. 283/C.), S. 67 f. Kern, Gerichtsverfassung (Fn. 282/C.), S. 41. Döring, Geschichte der Rechtspflege (Fn. 283/C.), S. 43. Döring, Geschichte der Rechtspflege (Fn. 283/C.), S. 88 f. Stephan, Salomo (Fn. 325/C.), S. 216 f. Döring, Geschichte der Rechtspflege (Fn. 283/C.), S. 91 f. Zit. nach Schmidt, Einführung (Fn. 267/C.), S. 116. Nach Döring, Geschichte der Rechtspflege (Fn. 283/C.), S. 89.
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Bis in das 18. Jahrhundert hinein bestand daher eine starke Bindung richterlicher Verhaltenspflichten an religiöse Ideen und Werte, die vor allem die gewissenhafte Pflichterfüllung zur Bekämpfung des Bösen, zur Aufrechterhaltung der göttlichen Weltordnung und der „göttlichen Gerechtigkeit“ 380 forderten. Unter diesem Aspekt stand auch der Kampf gegen Verfehlungen in der Justiz und bei der „Methode der Rechtsfindung.“ 381 Die in dieser Hinsicht besonders gefährdete Stellung der Hexenrichter382 mit der Gefahr der Bereicherung im Amt sollte durch besondere Strafandrohungen, einschließlich der Todesstrafe, „gesichert“ werden. Die religiöse Orientierung der Richter führte in der Zeit der Reformation bis zum Westfälischen Frieden 1648 sogar zur zeitweiligen Blockade des Reichskammergerichts383. Danach wurde die Glaubensspaltung aber zum Ausgangspunkt für die Säkularisierung der Richterpflichten. Hauptquellen für die Richterpflichten in dieser Zeit sind vornehmlich die Richterspiegel384, die vornormative, religiös motivierte Rollenerwartungen an die Richter enthalten und Erfahrungen mit richterlichem Fehlverhalten wiedergeben. Richterspiegel folgten dem Beispiel der bereits seit der Antike bekannten Fürstenspiegel, in denen neben professionellen Kunstlehren, praktischen Anweisungen und moralischen Ermahnungen auch Verhaltensregeln für die Ausübung der Justiz enthalten waren385. Dabei fällt auf, dass das fürstliche, insbesondere soldatische Vorbild – gerade in Preußen – die Werthaltung der „Beamten“ stark beeinflusste (Staatsgesinnung, Pflichtgefühl, Gehorsam, Sachkunde, Besonnenheit, Askese)386. Im Zuge der humanistischen Gelehrsamkeit begann sich im frühen 16. Jahrhundert dieses Genre unter fortschreitender Abkehr von religiös orientierten Traktaten auch in Deutschland zu verbreiten. Dabei erforderte die Zunahme der Verwaltungstätigkeit die Differenzierung in der Literatur: An die Seite der Fürstenspiegel traten Regimentstraktate, Kommentare des Aristoteles, „politische Testamente“ und „policeyliche“ Ratgeberliteratur. Der Richterspiegel betrifft dabei die besondere „Übung der Justizadministration“. In der Zeit der Glaubensspaltung und -kämpfe ist eine Wiederkehr theologischer Argumente festzustellen. Fürst bzw. Richter sollten ihr Amt „gottgefällig“ und konfessionskonform üben387. Sowohl Fürsten- als auch Richterspiegel beschrieben die persönlichen Qualifikationsvoraussetzungen für das Amt und die Verhaltensregeln, 380 Haft, Waagschale (Fn. 270/C.), S. 9; Döring, Geschichte der Rechtspflege (Fn. 283/C.), S. 84, 88 ff. 381 Döring, Geschichte der Rechtspflege (Fn. 283/C.), S. 88. 382 Haft, Waagschale (Fn. 270/C.), S. 43 ff. 383 Willoweit, Verfassungsgeschichte (Fn. 264/C.), S. 149. 384 Vgl. die Übersicht bei Döring, Geschichte der Rechtspflege (Fn. 283/C.), S. 93, dort Fn. 183. 385 Stolleis, Geschichte (Fn. 225/B.), Bd. 1, S. 113 ff., S. 342 ff. 386 Feindt, Beamtenethos (Fn. 3/B.), DÖD 1981, S. 6 ff. 387 Wolf, Rechtsdenker (Fn. 326/C.), S. 165 und S. 170 f. zu Johann Oldendorp.
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die eine sachliche und willkürfreie Amtsführung gewährleisten sollen388. Aber auch konkrete Lebensregeln werden formuliert. So sollen sich Richter nach Caspar von Stieler (1695) sich des „Saufens, Spielens, Spazierengehens und anderer Kurzweil enthalten“ 389. Sie sollten die Ordnungen und Pflichten des Standes einhalten, dem sie aufgrund der sozialen Herkunft, des Amtes – manchmal auch aufgrund des akademischen Grades – angehörten390. Der Verkehr mit Personen geringeren Rangs war unstatthaft391. Repräsentationspflichten, insbesondere die standesgemäße und dem Ansehen der Justiz förderliche Teilnahme am gesellschaftlichen Verkehr sollten wahrgenommen werden, auch wenn dies mit erheblichen Kosten392 verbunden war. Deshalb kamen im 18. Jahrhundert sogar Zurückweisungen von Richterstellen vor, weil die Besoldung hierfür nicht ausreichte und dieser Aufwand nur durch „Veruntreuungen“ zu betreiben war393. Von Seckendorff bezeichnete im „Teutschem Fürstenstaat“ die Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit und Frömmigkeit der Richter als Grundlage der guten Ordnung. Johann Karl Naepius beschrieb in seinem „Jus justitiariorum“ (1713) die Folgen, wenn eine Obrigkeits-Person in Hochmut verfällt394, nämlich die der göttlichen Züchtigung, die Ungnade bis Hass, Feindschaft und Krankheit nach sich zieht. Auch Prozessordnungen, wie etwa die Peinliche Halsgerichtsordnung von 1532, formulierten die Anforderungen an die Richter- und Schöffenauswahl: dass „alle peinlich gericht mit Richtern, vrtheylern vnd gerichtßschreibern, versehen vnd besetzt werden sollen, von frommen, erbarn, verstendigen vnd erfarnen personen, so tugentlichst vnd best die selbigen nach gelegenheyt jedes Orts gehabt vnd zubekommen sein.“ (Art. 1) Der Richter musste danach also noch nicht rechtsgelehrt, sondern moralisch integer sein. Allerdings zeigte die Verwissenschaftlichung des Rechts und die höheren Anforderungen der Prozessordnung –
388 Vgl. hierzu: Döring, Geschichte der Rechtspflege (Fn. 283/C.), S. 82, der auf folgende Autoren verweist: Michael Teuber, De officio boni magistratus, Wittenberg 1508; Johannes Thomas Freigius, Ideaboni et perfecti jurisconsulti, Basel 1587; Hartwig von Dassel, Idea boni jurisconsulti, Hamburg 1590; Joachim Gregor von Prietzen, Von Amt und Eigenschaft, Frankfurt/Main 1593; Georg am Waldt, Gerichtsunordnung, 1597, Johann Textor, Obrigkeit- und Richter-Spiegel, Frankfurt/Main 1617; Vincentius Placcius, De juris consulto perfecto, Hamburg 1662; Leonhard S. von Meltdorf, Richterspiegel, Hamburg 1666; J. J. Weingarten, Richterspiegel, Prag 1682; Stephan Guazzo, Rechtschaffener Richter und Amtmann, 1688; Johann Friedrich Schramm, Richterlicher Gewissensspiegel, Erfurt 1729; Joh. Wolfgang Brenk, Die nach Gottes Wort, Recht und Vernunft nötige, mögliche und beständige Verbesserung der Justiz, Halle 1747; Karl August Klauhold, Bild eines vollkommenen Richters, Gießen 1798. 389 Döring, Geschichte der Rechtspflege (Fn. 283/C.), S. 69. 390 Vgl. hierzu: Döring, Geschichte der Rechtspflege (Fn. 283/C.), S. 71, S. 82. 391 Döring, Geschichte der Rechtspflege (Fn. 283/C.), S. 82. 392 Döring, Geschichte der Rechtspflege (Fn. 283/C.), S. 82, bis in das 19. Jh. 393 Döring, Geschichte der Rechtspflege (Fn. 283/C.), S. 83 f. 394 Döring, Geschichte der Rechtspflege (Fn. 283/C.), S. 91.
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etwa an den Einsatz der Folter395 – an, dass der Richter eine gewisse Ausbildung durchlaufen haben musste. Auch finden sich erste Haftungsregeln als negativ formulierte Richterpflichten. So bestand etwa eine persönliche Verantwortlichkeit bei übermäßiger Folter vor dem Obergericht396. Art. 150 der Peinlichen Halsgerichtsordnung von 1532 fordert den Richter „bei seinem eydt und seiner seel seligkeyt schuldig, nach seinem besten verstehn gleich und recht zu richten“. Die Gerichts- und Landordnung von Nassau-Katzenellenbogen von 1616397 verpflichtete den Richter nach dem Eid, sich nicht durch „Sippschafft, Magschafft, Gunst, Forcht, Lieb oder Leyd, Freundschaft, Gelübd, Verheißung, Gold, Silber, Geld, Geldswerth oder ichtes, das sich einigen Nutzen vergleichen mag,“ beeinflussen zu lassen. Der Eid der Kammerrichter des Reichskammergerichts398 von 1495 forderte Fleiß, Urteil ohne Ansehen der Person und enthielt das Verbot der Annahme von Geschenken, das Gebot der Verschwiegenheit und die Verpflichtung zur Verfahrensbeschleunigung (§ 25 RKGO: „gestrackter Lauff“)399. Die Reichskammergerichtsordnung vom 25.09.1555400 sicherte und verlangte daneben die Unabhängigkeit vor Anordnungen des Kaisers im Einzelfall401. In den Territorien wurden die Richterpflichten neben Gesetz und Eid402 durch Herkommen, Instruktionen und Hofordnungen sowie – später – im Anstellungsvertrag festgelegt. Außerdem finden sich richterliche Pflichten in Bestallungs-403, Verpfändungs- und Vertragsurkunden, in Verwaltungsordnungen404 sowie in den Amts- oder Ratsordnungen mit ihren knappen Formulierungen der Pflichten: Wahrnehmung der Aufgabe; Verbot die Betroffenen zu bedrängen; Pflicht zur Geheimhaltung; umfassende Dienst- und Präsenzpflicht405; Unparteilichkeit406, Rechtshilfe für Jedermann; Verbot, Geschenke anzunehmen; Treue und Pflicht; Anordnungen zur Sicherung des unbefangenen Richters, nämlich zur
395 Schild, Geschichte des Verfahrens (Fn. 280/C.), S. 198 ff.: Insbesondere musste der Verdacht durch Indizien oder Zeugen hinreichend belegt sein. 396 Hierzu Haft, Waagschale (Fn. 270/C.), S. 12. 397 Zitiert nach Haft, Waagschale (Fn. 270/C.), S. 7. 398 Kern, Gerichtsverfassung (Fn. 282/C.), S. 29. 399 Kern, Gesetzlicher Richter (Fn. 351/C.), S. 48; im Reichsabschied vom 17.05. 1654 wird ein „Freyer, stracker und unverhinderter Lauff“ gefordert: Kern, Gesetzlicher Richter (Fn. 351/C.), S. 51 f. 400 Kern, Gerichtsverfassung (Fn. 282/C.), S. 31. 401 Teil I, VI §§ 1 und 2; W. Schütz, Unabhängigkeit der Rechtspflege – ein Problem gestern und heute, in: DRiZ 1980, S. 241. 402 Willoweit, Verwaltungsgeschichte (Fn. 279/C.), S. 140 f. 403 Döring, Geschichte der Rechtspflege (Fn. 283/C.), S. 94. 404 Willoweit, Verwaltungsgeschichte (Fn. 279/C.), S. 133. 405 Willoweit, Verwaltungsgeschichte (Fn. 279/C.), S. 329 f. 406 Willoweit, Verwaltungsgeschichte (Fn. 279/C.), S. 133, S. 327, der das Gebot der Unparteilichkeit als historische „Substanz des richterlichen Amts“ bezeichnet.
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Selbstanzeige bei engem Verhältnis zur Partei oder anderen Eigeninteressen. In einigen Ordnungen werden die richterlichen Pflichten in besonders verdichteter Form wiedergegeben: Nach der Reichshofratsordnung vom 16.03.1654 etwa werden die Richter (Reichshofräte) u. a. darauf verpflichtet, die kaiserliche Ehre und den Nutzen des Reiches zu befördern. Sie sollen „sich alles ungebührlichen Anhangs, Geschäfte und Parteilichkeiten, die entweder unrecht oder verdächtig oder ja sonst ihnen an ihrem Amt verhinderlich sein möchten, enthalten und ihr Amt und die liebe Gerechtigkeit mit Fleiß, Ernst, Tapferkeit und Aufrichtigkeit, wie es beherzten Leuten und welche die Iustitiam eifrig lieb haben, von Gott zustehet und gebühret, handeln, sich keiner Partei mehr als der anderen ungebührlich, auch keine Verehr oder Schenkung annehmen, sondern die Sachen, so jederzeit fürfallen und vorhanden sein werden, sie betreffen hoch- oder nieder Standespersonen, geist- oder weltliche, reich oder arm, in Unserem Namen und an Unserer Statt mit einem getreuen, unparteiischen Gemüt fürnehmen, ehrbar und redlich abhandeln und die nit übereilen, sondern nach Gelegenheit sie beschaffen stattlich und mit höchstem Fleiß genugsam anhören, beratschlagen und erledigen, auch hierin, obgleich eine Sache Uns selbst betrifft, allein Gott und ihrem zu der wahren Iustitien leiblich geschworenen Eid allezeit vor Augen halten, sodann zuvorderst Unsere römische kaiserliche Wahlkapitulation, Reichsabschiede, Religion- und Profanfrieden, . . . gute Ordnung, Gewohnheiten und, in Mangel derselben, die kaiserlichen Rechte und rechtmäßige Observationen und Gebräuche in acht nehmen und nach denselben ihre Dekrete, Bescheide und Urteile richten, und mitnichten einigerlei eigensinnige Meinung, denselben vorziehen.“ 407 In manchen Anstellungsurkunden oder Gerichtsordnungen finden sich partielle und auf die Entscheidungstätigkeit begrenzte Entbindungen des Richters von der Gehorsamspflicht gegenüber dem Gerichtsherrn408, um damit deren Unabhängigkeit in Justizsachen zu wahren409. Die Anforderungen an die juristische Ausbildung und Fachkenntnisse als Grundlage der richterlichen Sorgfaltspflicht stiegen im 17. und 18. Jahrhundert – auch bedingt durch den allgemeinen Verfall in Folge der Kriegswirren des 17. Jahrhunderts410 – stetig an und wurden zur allgemeinen Grundlage für die Juristenausbildung411. Die gelehrten „Räte“ nahmen auf allen Ebenen Einfluss
407 Zitiert nach www.repetitorium.at/qu/1654_reichshofratsordnung.html, Stand: 10.02.2016 und Brand/Hattenhauer, Der Europäische Rechtsstaat, Zeugnisse seiner Geschichte, 1994, S. 53 f. und S. 200; hierzu auch: Luik, Bemerkungen (Fn. 700/C.), SchlHolAnz. 2009, S. 97; vgl. auch Kern, Gesetzlicher Richter (Fn. 351/C.), S. 50 f. 408 Z. B. nach der preußischen Kammergerichtsordnung von 1709 in Fiskussachen. 409 Kern, Gerichtsverfassung (Fn. 282/C.), S. 41; Wagner, Richter (Fn. 6/A.), S. 57. 410 Schild, Geschichte des Verfahrens (Fn. 280/C.), S. 200. 411 Roellecke, Erziehung (Fn. 206/C.), JuS 1990, S. 337; Wagner, Richter (Fn. 6/A.), S. 52 f.
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auf die Gerichtsbarkeit412. So wurde der Vorbereitungsdienst mit Proberelation und mündlicher Prüfung eingeführt, die an den Gerichten des Reiches schon im 16. Jahrhundert abgelegt werden mussten413; in Preußen seit 1737414. Damit wurde nicht nur das Rekrutierungsmilieu verbreitert, sondern auch der Vorrang der fachlichen Eignung – vor anderen Eignungskriterien – begründet415. Dagegen wurde in der frühen Neuzeit von der Landbevölkerung allerdings erheblicher Widerstand geleistet. So wurden im Bauernkrieg gelehrte und „landfremde“ Richter als Diener des Landesherren betrachtet und die Forderung nach dem am Herkommen orientierten Laienrichter dagegen gestellt416. Berufsethische Probleme ergaben sich für die Justiz dieser Zeit ständig aus dem Vergütungs- und Spoliensystem der Richter, das die Gefahr der Korruption in sich trug. Neben den – nicht selten unzuverlässigen – Gehaltszahlungen durch den Gerichtsherrn417 und die Zuweisung von Strafgeldern zogen die Richter ihre Vergütung aus Sporteln, also aus einem Anteil an den Gerichtsgebühren, die 1/4 bis 1/3 der Gebühren betrugen418. Gebührenüberhebungen oder Überschreitungen der Sporteltaxe („Sportulieren“) sowie die Erfindung neuer Gebührenansätze waren die Folge419. Gerade das wiederholte Publizieren der Taxvorschriften ist ein Hinweis auf diese Praxis. Nicht selten gab es in den Anstellungsverträgen und -urkunden Sonderregeln, die Naturalleistungen und Sonderdotationen („Verehrungen“) durch den Gerichtsherrn vorsahen. An den Reichsgerichten setzte ab dem 17. Jahrhundert eine regelmäßige nach Gehaltsklassen differenzierte420 Besoldung ein, wenngleich nicht selten der Dienst ohne Vergütung und nur wegen der Aussicht auf eine Richterstelle ausgeübt wurde421. Wegen der Unzulänglichkeit der Sporteln bzw. der Besoldung durch die Reichsstände422 war die Vergütung der Richter an den Reichsgerichten aber ebenfalls stets prekär. Die Bestechung von Richtern kam daher häufig vor423. Die „essende Ware“, also die Verköstigung als Leistung der Partei an den Richter, war noch lange zulässig und bis in das 16. Jahrhundert geduldete Praxis. Außerdem war es üblich – mit ordnungs-
412
Willoweit, Verfassungsgeschichte (Fn. 264/C.), S. 115. Kern, Gerichtsverfassung (Fn. 282/C.), S. 42. 414 G. Plathner, Der Kampf um die richterliche Unabhängigkeit bis zum Jahre 1848 unter besonderer Berücksichtigung Preußens. Eine dogmengeschichtliche Untersuchung, Breslau 1935, S. 2. 415 Ogorek, Richterkönig (Fn. 264/C.), S. 29. 416 Kern, Gerichtsverfassung (Fn. 282/C.), S. 23. 417 Döring, Geschichte der Rechtspflege (Fn. 283/C.), S. 81. 418 Döring, Geschichte der Rechtspflege (Fn. 283/C.), S. 75 ff. 419 Döring, Geschichte der Rechtspflege (Fn. 283/C.), S. 96 ff. 420 Döring, Geschichte der Rechtspflege (Fn. 283/C.), S. 77 f. 421 Döring, Geschichte der Rechtspflege (Fn. 283/C.), S. 79. 422 Kern, Gerichtsverfassung (Fn. 282/C.), S. 27. 423 Döring, Geschichte der Rechtspflege (Fn. 283/C.), S. 98 ff. 413
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C. Elemente einer deskriptiven richterlichen Ethik
gemäßen Übergabeformeln versehen – Ehrengeschenke zu machen (Geschirr, Schmuck, Geld). Aber eine zunehmend „verfeinerte“ Bestechungspraxis führte zu Begrenzungen: Entlassungen bestechlicher Richter und einzelne exemplarische, aber milde Verurteilungen. In Preußen sah die „Allgemeine Ordnung zur Verbesserung des Justizwesens“ vom 21.06.1713 das Verbot der Geschenke an Richter vor. Erst Ende des 18 Jahrhunderts ist der konsequente Übergang zu einer verbesserten und regelmäßigen Besoldung der Richter festzustellen. Durch die Preußische Justizreform zwischen 1746 bis 1751 wurde das Sportelwesen eingedämmt und die regelmäßige Alimentation eingeführt. Dennoch waren Richter, verfügten sie nicht wie Adelige über ein auskömmliches Vermögen, nicht selten auf Nebentätigkeiten angewiesen. In Preußen war noch 1716 für Richter die Ausübung von Nebenämtern (Bürgermeister, Gutachter, diplomatische Aufgaben; fürstlicher Rat, sogar Makler, Wein- und Getreidehändler, Müller; Wirte424) erlaubt425. Bei gepachteten Richterstellen ergaben sich aus dem Pachtverhältnis nicht selten die Nebenpflichten, als Lehrer, Rechner oder Kastner tätig zu sein. Hieraus entstanden häufig Konflikte zwischen Amt und Nebentätigkeiten. Waren Richter zunächst nur auf ein Jahr verpflichtet, führten häufig stillschweigende Verlängerungen ab dem 18. Jahrhundert zur Anstellung auf Lebenszeit426. In Preußen entwickelte sich in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts aus dem Gebot, dass Reisen (ohne Urlaub) nur mit Anzeige zulässig waren und aus der Festlegung, dass genügend Räte bei Gericht anwesend sein müssen, die Residenzpflicht427. Die Verfahrenslaufzeiten – und damit die Beschleunigungspflicht des Richters und das Verbot der Rechtsverweigerung – waren zu jeder Zeit Gegenstand von Anordnungen und Gesetzen. Der Lauf der Justiz sollte „strack“ sein. Von der Reichskammergerichtsordnung bis etwa zum Preußischen Erlass vom 23.07. 1747428 war das stete Ziel der Justizpolitik die Beschleunigung der Verfahren. Generell kann festgestellt werden, dass auch in dieser Zeit Amtspflicht und persönliche Moral übereinstimmen mussten. Deswegen wurde die religiöse und charakterliche Eignung in den landesherrlichen Gerichten („Unkeuschheit, Prassen, Saufen, Spiel“ 429) nicht nur bei der Anstellung geprüft. Bei der Verletzung der richterlichen Pflichten drohten disziplinarische Folgen bis zur Amtsenthebung. Ab der Mitte des 17. Jahrhunderts finden sich ausführ-
424 425 426 427 428 429
Döring, Geschichte der Rechtspflege (Fn. 283/C.), S. Döring, Geschichte der Rechtspflege (Fn. 283/C.), S. Döring, Geschichte der Rechtspflege (Fn. 283/C.), S. Kern, Gerichtsverfassung (Fn. 282/C.), S. 45. Kern, Gesetzlicher Richter (Fn. 351/C.), S. 75 f. Döring, Geschichte der Rechtspflege (Fn. 283/C.), S.
80, 84 f. 69. 65.
59.
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liche Instruktionen zur Sicherung der Durchsetzung des herrschaftlichen Willens in der Justiz430, die bis dahin ungeschrieben waren431. Bei ihrer Verletzung drohten Vorladung und Bestrafung. Dabei sind aber auch die ersten Regeln, etwa in der Reichskammergerichtsordnung, gegen eine willkürliche Abberufung festzustellen. So wurde das Abberufungsverfahren für ungeeignete Richter auf Initiative des Kammerrichters (Präsident) und mit Wissen der Beisitzer432 eingeleitet, was aber nur einen gewissen Schutz der Richter mit sich brachte. Die Entlassung der Richter bei Verfehlungen ihrer Pflichten durch Kündigung433 oder im disziplinarischen Wege war jederzeit möglich, wenn auch der Grundsatz galt, dass untadelige Richter nicht entlassen wurden434. Erst Ende des 18. Jahrhunderts wurden Sicherungen vor willkürlicher Entlassung, insbesondere nur durch Urteil435, eingeführt. Die Dienstaufsicht zur Überwachung des richterlichen Handelns beim Reichskammergericht wurde durch eine Visitationskommission geübt, die aber im Zuge der Konfessionsauseinandersetzungen ab 1588 aufhörte und erst nach dem Dreißigjährigen Krieg wieder einsetzte436. Die Dienstzucht oder -aufsicht übten bei den Patrimonialgerichten und den städtischen Gerichten der Gerichtsherr, bei landesherrlichen Obergerichten437 Visitationskommissionen oder der Landesherr selbst438. Daneben konnte der Präsident des Kollegiums (unter Mitwirkung des Kollegiums) die Einhaltung der Dienstpflichten beaufsichtigen. Sie bezog sich auf die Durchsetzung der Anwesenheit, die Verwarnung wegen „Unfleiß“ oder Pflichtvernachlässigung. Weitere Aufsichtsmittel waren „Besserungsverfahren“ als Vorläufer des Disziplinarrechts, in denen Geldbußen und Amtsentsetzung ausgeworfen werden konnten. Verzögerungen wurde mit Ermahnungen und Berichtspflichten entgegengewirkt. Weiter kamen in Betracht: Aktenabforderung, das Einschreiten bei Parteilichkeit und sonstigen Missbräuchen und bei „Unordnung im Privatleben“, bei würdelosem Betragen in der Öffentlichkeit und bei der Äußerung politischer Ansichten. Die Disziplinarbefugnisse waren weit und wenig bestimmt („wegen übel administrierter Justiz“)439. Am Ende des 18. Jahrhunderts wurde zunehmend auf die Förmlichkeit des Disziplinarverfahrens Wert gelegt.
430 431 432 433 434 435 436 437 438 439
Willoweit, Verwaltungsgeschichte (Fn. 279/C.), S. 353 f. Willoweit, Verwaltungsgeschichte (Fn. 279/C.), S. 134. Kern, Gerichtsverfassung (Fn. 282/C.), S. 29. Döring, Geschichte der Rechtspflege (Fn. 283/C.), S. 66. Döring, Geschichte der Rechtspflege (Fn. 283/C.), S. 67. Döring, Geschichte der Rechtspflege (Fn. 283/C.), S. 67 f. Kern, Gerichtsverfassung (Fn. 282/C.), S. 27. Döring, Geschichte der Rechtspflege (Fn. 283/C.), S. 105 ff. K. Darkow, Friedrich der Große und das Kammergericht, in: DRiZ 1968, S. 77. Döring, Geschichte der Rechtspflege (Fn. 283/C.), S. 109.
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C. Elemente einer deskriptiven richterlichen Ethik
c) Die Veränderungen im 19. Jahrhundert bis zur Weimarer Republik aa) Rechtsprechungsstrukturen Die Forderung nach rationaler Ausübung der Herrschaft seit der frühen Neuzeit440 richtete sich auch auf die strikte Wahrung der Gesetze durch die Richter. Sie wendete sich gegen die früher als selbstverständlich empfundene konkrete und aus dem Herkommen abgeleitete „Gerechtigkeit“, die durch den Richterspruch unabhängig von einem gesetzlichen Regelungskonzept nur festgestellt wurde. Die Durchsetzung der vernunftrechtlichen Gestaltung des Staates und die „direkte“ Umsetzung des allgemeinen Gesetzes, das als Instrument zur Eindämmung von Willkür durch richterliche – und dabei durch ständische Bindungen beeinflusste441 – Einzelentscheidungen dienen sollte, traute man zunächst noch eher dem Fürsten bzw. seiner professionellen Administration zu442. Dieses neue Verständnis zeigt sich schon bei Francis Bacon (1561–1626), der in seinem Essay „Über das Richteramt“ 443 schreibt, „Richter sollten bedenken, dass es ihr Amt ist, ,ius dicere‘, Recht zu sprechen, und nicht, ,ius dare‘, Recht zu geben: das Gesetz auszulegen, nicht, Gesetze zu machen oder zu geben. Es würde sonst genauso zugehen wie in der Römischen Kirche, die unter dem Vorwand der Auslegung der Heiligen Schrift für sich das Recht beansprucht, anstandslos Zusätze und Änderungen vorzunehmen und das auszusprechen, was gar nicht darinsteht, und unter dem Deckmantel alter Überlieferung Neuerungen einzuführen.“ Dass die Autoren der Aufklärung die Rationalisierung der Machtausübung vom Herrscher und nicht vom Richter erwarteten, zeigen auch die deutschen und französischen Staatstheoretiker dieser Zeit. So meint Christian Wolff, die Richter müssten „von der Hohen Landesobrigkeit ganz und gar dependieren, dergestalt, dass sie Gewalt und Macht hat, nach Befinden abzusetzen wie einzusetzen.“444 Montesqieu sieht die Rolle des Richters im „De l’esprit des lois“ von 1748 (XII. Buch Kap. VI) als „bouche de la loi“, „Mund des Gesetzes“. Dabei übersieht er gerade die Gefährdungen nicht, die dem Schutz der Freiheit des Bürgers durch den Rich-
440 Marcic, Gesetzesstaat (Fn. 26/A.), S. 242 f., 260 ff., beklagt dies und versucht nach den Erfahrungen des Totalitarismus den Focus auf die Aufgabe des Richters zu lenken, im konkreten Fall Gerechtigkeit zu schaffen. 441 Vgl. Ogorek, Richterkönig (Fn. 264/C.), S. 67 ff., die die Vorbehalte der „ständisch“ denkenden Juristen gegen ein Zusammenwirken von Thron und Bürgertum herausarbeitet. Sie setzten auf die „Weisheit des Gesetzgebers“, Herkommen und Gewohnheit als entscheidungsleitende Prinzipien des Richters. 442 Ogorek, Richterkönig (Fn. 264/C.), S. 39 ff., 56 f. 443 Zitiert nach Verdikt. 1/03, S. 26, aus: Francis Bacon, Essays (1612) der Abschnitt „Über das Richteramt“, Übersetzung nach der Ausgabe Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung Leipzig 1979. 444 Vernünftige Gedanken von dem gesellschaftlichen Leben des Menschen und insonderheit dem gemeinen Wesen, Franckfurt und Leipzig, 4. Aufl., 1756, 477; hierzu: Wagner, Richter (Fn. 6/A.), S. 57.
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ter droht, wenn der Richter durch den Fürsten vereinnahmt wird445. Dass er die richterliche Gewalt nicht als eigenständige (politische) Gewalt ansieht und sich hinsichtlich der Aufgabenbeschreibung an englischen Geschworenengerichten446 orientiert, zeigt diese Sensibilität. Die absolute Unterordnung des Richters unter das Gesetz fordert auch Rousseau im „Du contract social“ (4. Buch, 5. Kapitel: Tribunat, Lettres ecrites de la montagne). Diese theoretischen Überlegungen im 18. und frühen 19. Jahrhundert führten zu einer ambivalenten Sicht auf das richterliche Handeln und auf die Aufgaben der Justiz. Im Zuge der Verfassungskonflikte dieser Zeit waren die Justiz, ihre Strukturen und die Stellung des Richters Gegenstand eines theoretischen wie praktischen Klärungsprozesses und in der Auseinandersetzung um den individuellen Schutz vor exekutiven Eingriffen grundlegenden Wandlungen unterworfen: Selbst in aufgeklärten Staaten – wie Preußen – zeigten „Machtsprüche“ 447, die Absetzung von Kammergerichtsräten, administrative Eingriffe in laufende Verfahren, die Bestätigung oder Verschärfung strafrechtlicher Urteile durch den Chef der Justizverwaltung448 und die Möglichkeit der Einsetzung von – fallbezogenen – Kommissionen449 die Haltung, die Justiz müsse letztlich vom Willen des Landesherrn abhängen. Die landesherrlichen Eingriffe führten jedoch zu einem ausufernden Supplikantenwesen450 und damit einerseits zu einer Überforderung des Landesherrn bei der Entscheidung von vielen Einzelfällen, zum anderen zu einer Delegitimierung der Justiz gerade in publikumswirksamen Verfahren. Daneben wurden konkrete Eingriffen (Prozess des Müllers Arnold)451 bzw. generell die Kabinettsjustiz, die zunächst noch als Mittel der Rationalisierung des Rechtswesens und der Durchsetzung der Gesetzesbindung angesehen wurde452, zunehmend kritisiert. Diese Kritik führte an der Wende des 18. zum 19. Jahrhundert zu einem zunehmenden Verzicht des Landesherrn auf Eingriffe in die Justiz und damit zur Stärkung der bereits in der Vergangenheit ansatzweise vorhandenen sachlichen Unabhängigkeit der Richter453 als institutionelle Voraussetzung von besonderer 445
Wagner, Richter (Fn. 6/A.), S. 62 f. Kern, Gerichtsverfassung (Fn. 282/C.), S. 50. 447 Plathner, Kampf (Fn. 414/C.), S. 2. 448 Schütz, Unabhängigkeit (Fn. 401/C.), DRiZ 1980, S. 242. 449 Plathner, Kampf (Fn. 414/C.), S. 47 ff. Schütz, Unabhängigkeit (Fn. 401/C.), DRiZ 1980, S. 242. 450 Plathner, Kampf (Fn. 414/C.), S. 7 ff., 18 f. und S. 90 ff. 451 Zu den Folgen für die Entwicklung des Unabhängigkeitsdogmas: Plathner, Kampf (Fn. 414/C.), S. 21 ff. 452 Eisenhardt, Rechtsgeschichte (Fn. 295/C.), S. 274; Schild, Geschichte des Verfahrens (Fn. 280/C.), S. 200 ff. Wittreck, Verwaltung (Fn. 297/C.), S. 42 m.w. N. 453 Zur Entwicklung im Einzelnen: Plathner, Kampf (Fn. 414/C.), S. 7 ff. und S. 33 ff. 446
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C. Elemente einer deskriptiven richterlichen Ethik
Verantwortung und damit der Notwendigkeit einer Berufsmoral. Auch mit der fortschreitenden Trennung der Justiz von der Verwaltung setzte sich die Vorstellung von der Notwendigkeit eines unabhängigen Richters454 durch. Gleichzeitig – und damit unmittelbar sachlich verbunden – wurde durch die Kodifikationsbewegung am Ende des 18. Jahrhunderts unter dem Einfluss der Gewaltenteilungslehre Montesquieus und als Ausfluss spätabsolutistischen Machtwillens im Gesetzgebungsstaat455 eine stärkere Bindung des Richters an das Gesetz gefordert456. Zu einem Element dieser Bindung gehörte auch das Verbot der Auslegung und der Kommentierung der Gesetze, etwa in der österreichischen Peinlichen Gerichtsordnung Josephs II. von 1787457 oder dem Corpus juris fridricianum von 1781458. Danach sollte die Auslegung des Gesetzes einer Gesetzeskommission, nicht aber dem Richter überlassen bleiben459. Der Schwerpunkt lag dabei auf dem häufig als volkstümlich und willkürlich empfundenen Straf- und Strafprozessrecht. Zwar ist die Auseinandersetzung um die Grenzen der richterlichen Auslegung und die Bindung des Richters an die Gesetze schon älter460. Mit der ausschließlichen „Steuerung“ des Rechts durch allgemeine Gesetze und der Erkenntnis, dass die richterliche Unabhängigkeit ein notwendiges Element rechtsstaatlicher Garantien ist, spitzte sich aber die Diskussion um die „Freiheiten“ des Richters bei der Gesetzesauslegung zu. Das gesetzliche Auslegungsverbot konnte in der Praxis jedenfalls nicht durchgehalten werden und wurde in Preußen schon 1798 wieder aufgehoben461. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts setzte in der Rechtswissenschaft stattdessen eine vertiefte Diskussion über eine Interpretationslehre ein, die zwischen den Polen Ermessensfeindlichkeit (Rechtssicherheit) und Angemessenheit des Auslegungsergebnisses462 geführt wurde und zur Herausbildung und Fundierung der heute angewandten Auslegungsmethoden führte463.
454 M. Kotulla, Die verfassungsrechtliche Ausprägung der Garantie der richterlichen Unabhängigkeit im 19. Jahrhundert, in: DRiZ 1992, S. 285 ff.; Ogorek, Richterkönig (Fn. 264/C.), S. 106. 455 Berkemann, Unabhängigkeit (Fn. 277/C.), S. 20; Seif, Recht und Justizhoheit (Fn. 278/C.), S. 247 ff. 456 Beginn mit Codex Maximilianeus Bavaricus civilis von 1756; hier Bindung des Richters an das geschriebene Recht und Aufforderung bei Ungeregeltem das Gesetz zu Ende zu denken. Vgl. auch H. Hattenhauer, Wandlungen des Richterleitbildes im 19. und 20. Jh. in: R. Dreier/W. Sellert (Hrsg.), Recht und Justiz im „Dritten Reich“, Frankfurt 1989, S. 10; Willoweit, Verfassungsgeschichte (Fn. 264/C.), S. 214. 457 Kern, Gerichtsverfassung (Fn. 282/C.), S. 43. 458 Kern, Gerichtsverfassung (Fn. 282/C.), S. 46. 459 Zu den Auslegungsverboten im ALR: R. Bakker, Zu den Grenzen der Richtermacht. Die Kollegialkontrolle im Großen Senat des BAG, Konstanz 1994, S. 6 f. 460 Vgl. Interpretationsvorbehalt auf Reichsebene im Westfälischen Frieden 1648 und jüngster Reichsabschied 1654. 461 Zur Kabinetts-Ordre vom 08.03.1798: Bakker, Grenzen der Richtermacht (Fn. 459/C.), S. 7. 462 Ogorek, Richterkönig (Fn. 264/C.), S. 126 ff.
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Ausgehend von der amerikanischen und französischen Verfassungsentwicklung und den Justizreformen in den ehemals napoleonisch besetzten und in den vom Frühkonstitutionalismus geprägten (süd)deutschen und rheinischen Territorien464 wurde die Justizstruktur zu einem umkämpften Feld zwischen liberalem Bürgertum und restaurativer Monarchie. Gerade die politische Betätigung von Richtern und Staatsanwälten im Vormärz465 – aber auch danach466 – führte nicht nur zu Spannungen zwischen der Justiz und der monarchisch geprägten Exekutive467, sondern auch zu justizpolitischen Schwerpunkten beim Kampf um einen liberalen Rechtsstaat468: Gewaltenteilung und richterliche Unabhängigkeit469 waren im Vormärz die Hauptforderungen, denen die nachfolgenden Einzelforderungen zugeordnet waren. So sollten das Recht auf den gesetzlichen Richter470 und das Verbot von 463
Vgl. auch U. Falk, Von Dienern des Staates und von anderen Richtern. Zum Selbstverständnis der deutschen Richterschaft im 19. Jh., in: A. Gouron u. a. (Hrsg.), Europäische und amerikanische Richterbilder, Frankfurt/Main 1996, S. 252 f. 464 Vgl. etwa die Bayerische Verfassungsurkunde vom 26.05.1818 (Tit. VIII. § 3); Baden vom 22.08.1818 (§ 14), Württemberg vom 25.09.1819 (§§ 92 ff.), Großherzogtum Hessen 1820 (Art. 32). Insoweit zu den ersten Regelungen zur richterlichen Unabhängigkeit: Kotulla, Verfassungsrechtliche Ausprägung (Fn. 454/C.), DRiZ 1992, S. 286 ff. 465 In der Paulskirche stammten ca. 150 Abgeordnete aus der Justiz. In der preußischen Nationalversammlung und im Abgeordnetenhaus war der Typus des liberalen „Kreisrichter“ als Vertreter des Bürgertums auch nach 1848 eine treibende Kraft auf dem Weg zu mehr Rechtsstaatlichkeit und Schutz vor staatlicher Willkür. Dies führte zu dem Ausspruch Bismarcks „Kreisrichter und andere Revolutionärs“. Bedeutsam waren insoweit besonders Simon, Waldeck, Lasker, Temme v. Kirchmann, Bucher und Twesten. Zur Bedrängung der gewählten Kreisrichter wollte sie die preußische Regierung 1865 mit den Kosten für die Stellvertretung belasten. Im Konflikt um die Verfolgung Twestens wegen einer Rede im Abgeordnetenhaus und wegen der dabei vorgenommenen Manipulation der Richterbank musste Bismarck 1867 seinen Justizminister entlassen. vgl. auch Müller, Furchtbare Juristen (Fn. 17/A.), S. 14 ff.; T. Ormond, Richterwürde und Regierungstreue, Dienstrecht, politische Betätigung und Disziplinierung der Richter in Preußen, Baden und Hessen 1866–1918, Frankfurt/Main 1994, S. 34 ff. und S. 38 ff. 466 Ormond, Richterwürde (Fn. 466/C.), S. 33 f. Für die Zeit nach der Reichsgründung: S. 313 ff. 467 Vgl. zum „Urlaubsstreit“: Ormond, Richterwürde (Fn. 466/C.), S. 21. Die Verweigerung des Urlaubs für in den Landtag gewählte Richter sollte das liberale Bürgertum schwächen. 468 Ormond, Richterwürde (Fn. 466/C.), S. 16 ff. 469 Kern, Gerichtsverfassung (Fn. 282/C.), S. 49; D. Simon, Die Unabhängigkeit des Richters, Darmstadt 1975, S. 2 ff.; Wagner, Richter (Fn. 6/A.), S. 65 ff.; Wittreck, Verwaltung (Fn. 297/C.), S. 45 f. 470 Besonders durch eine von Versuchen exekutiver Rechtswegbe- und einschränkungen in der Reaktionszeit ausgelöste anonyme Schrift Feuerbachs wird ab 1830 die Forderung einer gesetzlichen Grundlage für die Gerichtsverfassung erhoben mit dem Ziel, eine Gerichtsorganisation auf dem Verordnungsweg zu unterbinden, die Regierungsgewalt im Bereich der Organisation der Justiz zurückzudrängen und damit eine weitere institutionelle Absicherung der inzwischen anerkannten sachlichen Unabhängigkeit der Richter herbeizuführen.
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Ausnahmegerichten471 die richterliche Unabhängigkeit stärken472. Die richterliche Unabhängigkeit wurde auch deshalb zur Forderung des Bürgertums, weil es einerseits zunehmend an der Gesetzgebung beteiligt wurde und andererseits das richterliche Personal stellte473. Die Geschäftsverteilung sollte zu einer Selbstverwaltungsangelegenheit der Richter werden474. Weitere Forderungen waren: Die Trennung der an Zweckmäßigkeitsüberlegungen ausgerichteten Verwaltung von der am Recht orientierten Justiz475, die demokratische Mitwirkung bei der Berufung hoher Richter, die Stärkung des Laienrichterelements 476, die Zurückdrängung polizeilicher Strafgewalt477, die gerichtliche Kontrolle der Verwaltung478, die Forderungen der Öffentlichkeit und Mündlichkeit gerichtlicher Verfahren statt geheimer schriftlicher Prozesse und Kabinettsjustiz sowie die Beseitigung der Patrimonialgerichtsbarkeit. Die mit diesen Forderungen geführte Auseinandersetzung um die justizielle Entwicklung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde durch die Reaktionszeit nach 1820 zunächst stark gebremst479. Daneben und verzögert stand die Auseinandersetzung um die persönliche Unabhängigkeit der Richter480. Die Auffassung, dass eine Entlassung von Richtern nur unter erschwerten Voraussetzungen möglich sein sollte, hatte sich seit dem 471
Seif, Recht und Justizhoheit (Fn. 278/C.), S. 215 ff. F. Lansnicker, Richteramt in Deutschland. Im Spannungsfeld zwischen Recht und Politik, Frankfurt 1996, S. 90 ff., selbst unter Friedrich Wilhelm II. und III. sind noch Machtsprüche bzw. exekutivische Eingriffe vorgekommen (Causa Schulz, Gräfin Lichtenau, „Demagogenverfolgung“): hierzu Kern, Gesetzlicher Richter (Fn. 351/C.), S. 90 f. und S. 95 ff. Zur verfassungsgeschichtlichen Entwicklung der richterlichen Unabhängigkeit: K. Eichenberger, Die richterliche Unabhängigkeit als staatsrechtliches Problem, Bern 1960, S. 74 ff. 473 Berkemann, Unabhängigkeit (Fn. 277/C.), S. 20. 474 Als Reaktion auf Manipulationen bei der Besetzung in Verfahren gegen Reichenbach und Twesten: Seif, Recht und Justizhoheit (Fn. 278/C.), S. 310 f. Hierzu und zur Auseinandersetzung um den gesetzlichen Richter im Vormärz auch: Plathner, Kampf (Fn. 414/C.), S. 76 ff. 475 Kern, Gesetzlicher Richter (Fn. 351/C.), S. 111 ff.; Seif, Recht und Justizhoheit (Fn. 278/C.), S. 226 ff. Vgl. auch die Preußische Verordnung wegen verbesserter Einrichtung der Provincial-, Polizei- und Finanzbehörden von 26.12.1808, die die Justizzuständigkeit bei Konflikten um das Verhältnis von Verwaltungsverfügung und Gesetz/ Privatrechtstitel und damit die Beschränkung der Kammerjustiz in Verwaltungsstreitsachen begründete. Zur Trennung von Exekutive und Judikative (von den Regierungen zu Oberlandesgerichten in Preußen): Wittreck, Verwaltung (Fn. 297/C.), S. 42 f. und S. 47 ff. sowie das Württembergische Edikt vom 21.12.1818. 476 P. J. A. Feuerbach, Betrachtungen über das Geschworenen Gericht, Landshut 1812/1813; Kern, Gerichtsverfassung (Fn. 282/C.), S. 58 f.; ders., Gesetzlicher Richter (Fn. 351/C.), S. 111 ff. 477 Kern, Gerichtsverfassung (Fn. 282/C.), S. 74. 478 Wagner, Richter (Fn. 6/A.), S. 69 f. 479 Kern, Gesetzlicher Richter (Fn. 351/C.), S. 96 ff. und S. 102 ff.; Plathner, Kampf (Fn. 414/C.), S. 71 f. 480 Kotulla, Verfassungsrechtliche Ausprägung (Fn. 454/C.), DRiZ 1992, S. 290 ff.; Plathner, Kampf (Fn. 414/C.), S. 50 ff. und S. 98 ff.; Simon, Unabhängigkeit des Rich472
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17. Jahrhundert zwar verbreitet481. Aber erst Ende des 18. Jahrhunderts setzte auch die institutionelle Sicherung vor willkürlicher Entlassung482 durch jederzeitige Kündigung des Dienstvertrags483, also nur durch richterliches Urteil, ein484. In den süddeutschen Verfassungen bis 1820 wurde dieses Recht in Ansätzen abgesichert485. Daneben war aber lange Zeit noch die Versetzung im Verwaltungswege möglich486. Erst als Reaktion auf die Haltung Friedrich Wilhelms III.487 und auf das willkürliche Vorgehen der Exekutive im Vormärz488 im Rahmen der Demagogenverfolgungen auch gegen Richter489 sowie durch die Auseinandersetzung um das Mühlersche Disziplinargesetz vom März 1844490 wuchs das Bewusstsein von der Notwendigkeit der weiteren Absicherung der persönlichen Unabhängigkeit der Richter491. ters (Fn. 469/C.), S. 2 ff. zur Bibliografie betreffend der Herausbildung der richterlichen Unabhängigkeit dort S. 12 ff. 481 Döring, Geschichte der Rechtspflege (Fn. 283/C.), S. 68 f.; B. W. Pfeiffer, Die Selbständigkeit und Unabhängigkeit des Richteramts, Göttingen 1851. 482 Hierzu im Einzelnen: Plathner, Kampf (Fn. 414/C.), S. 52 ff. 483 Erst um 1830 wurde das bisherige privatrechtliche Verständnis des Dienstvertrages von Beamten und Richtern zugunsten eines öffentlich-rechtlichen Verständnis weiterentwickelt; hierzu Plathner, Kampf (Fn. 414/C.), S. 98 ff. Zur Entstehung des Berufsbeamtentums: Feindt, Beamtenethos (Fn. 3/B.), DÖD 1981, S. 5 f. 484 Döring, Geschichte der Rechtspflege (Fn. 283/C.), S. 67 f.: ALR II, 17 § 99 für Patrimonialrichter nur nach Entscheidung des Obergerichts „Wer ein richterliches Amt bekleidet, kann nur bey den vorgesetzten Gerichten oder Landescollegiis wegen seiner Amtsführung belangt, in Untersuchung genommen, bestraft, oder seines Amts entsetzt werden.“ Aber ALR II, 10 §§ 68 f., 98 ff. bei staatlichen Richtern durch Verfügung des Staatsrates, a. A.: A. Wagner, Das Disziplinarrecht für Richter, in: DRiZ 1957, S. 211, 212. Zuvor nur RKGO 1555: Entlassung von Beisitzern des Reichskammergerichts: I. Teil Ziffer 5: wenn nicht genug gelehrt, geübt erfahren und „sonst seines Wesens oder anderer Sachen halben untauglich“, allerdings erst nach Besserungsverfahren und mehrfach fruchtlosen Verwarnungen. Im Einzelnen zum ALR und der Veränderung seines Verständnisses: Plathner, Kampf (Fn. 414/C.), S. 99 ff. der die Auseinandersetzung um die persönliche Unabhängigkeit anhand der genannten Bestimmungen nachzeichnet. 485 Ormond, Richterwürde (Fn. 466/C.), S. 17 f.; Plathner, Kampf (Fn. 414/C.), S. 70 f. 486 ALR § 6 Tit. 3 Teil III; Preußisches Disziplinargesetz von 1844: § 20 Abs. 2. 487 Kern, Gerichtsverfassung (Fn. 282/C.), S. 63. 488 Seif, Recht und Justizhoheit (Fn. 278/C.), S. 264 ff. und S. 271 ff. 489 Kern, Gerichtsverfassung (Fn. 282/C.), S. 56, Ormond, Richterwürde (Fn. 466/ C.), S. 19 f. Vgl. exemplarisch für die rechtsstaatliche Widerständigkeit eines Kammergerichtsrats und das Vorgehen gegen E. T. A. Hoffmann: S. Weichbrodt, E. T. A. Hoffmann (1776 bis 1822), in: JuS 2008, S. 7 ff. vgl. auch B. Hartlage-Laufenberg, Jodocus Donatus Hubertus Temme – Jurist, Politiker, Schriftsteller, in: NJW 2011, S. 714. 490 Dort der § 20 Abs. 2: Versetzungen mit denen kein finanzieller Nachteil verbunden war, war kein Gegenstand des Disziplinarverfahrens, sondern konnte im gewöhnlichen Verwaltungsverfahren durchgeführt werden. Hierzu Kern, Gerichtsverfassung (Fn. 282/C.), S. 63, ders., Gesetzlicher Richter (Fn. 351/C.), S. 101; Wagner, Richter (Fn. 6/A.), S. 67, insbesondere zur Publizistischen Auseinandersetzung zwischen dem Richter Simon und dem Minister Mühler. 491 Wagner, Richter (Fn. 6/A.), S. 65 ff.
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Die Paulskirchenverfassung492 griff die dargelegten liberalen Forderungen an eine rechtsstaatliche Justiz konsequent493 auf (§ 175: Unabhängigkeit der Gerichte; § 177: Persönliche Unabhängigkeit, § 178: Öffentlichkeit; Trennung von Exekutive und Judikative; §§ 181, 182). Auch wenn die Paulskirchenverfassung keine unmittelbare Geltung erlangte, so wurden ihre Bestimmungen doch zum Maßstab der nachfolgenden Rechtsentwicklung494. Nach 1848 ist die praktische Umsetzung der liberalen Forderungen in den deutschen Staaten zu beobachten495. Damit verbunden war in der Mitte des 19. Jahrhunderts auch eine Veränderung im Rekrutierungsmilieu der Richterschaft. Die Richter stammten zunehmend aus dem Bürgertum, die sich trotz oder sogar wegen ihres Amts als progressive Staatsbürger verstanden. Der Anteil adeliger Richter ging zurück496. 1869 wurden mit dem Gesetz über die Gleichberechtigung der Konfessionen zudem Regelungen beseitigt, die das Richteramt für Juden ausschlossen. Ihr Anteil an der Richterschaft wuchs zunächst an, fiel aber nach 1892 im Zuge des sich ausbreitenden Antisemitismus wieder zurück497. Nach der Reichsgründung 1871 wurde trotz der fortbestehenden Justizhoheit der Einzelstaaten eine Rechtsvereinheitlichung im Zivil- und Strafverfahren im Reich vollzogen, die mit der Gründung des Reichsgerichts 1879 ihren organisatorischen Abschluss fand. Die Reichsjustizgesetze von 1877, insbesondere das Gerichtsverfassungsgesetz498, enthielten trotz des Widerstands der Einzelstaaten499 Regelungen zu den Mindestvoraussetzungen für die Ausübung des Richteramts, die die sachliche und teilweise die persönliche Unabhängigkeit der (ordentlichen) Richter (Lebenszeiternennung; Unversetzbarkeit; Absetzbarkeit nur nach Urteil; Besoldung; Rechtsweg für Besoldung) erfassten und erstmals die Geschäftsverteilung im Wege der Selbstverwaltung zur Wahrung des gesetzlichen Richters 492 Kern, Gerichtsverfassung (Fn. 282/C.), S. 69 f. und S. 79; ders., Gesetzlicher Richter (Fn. 351/C.), S. 119 ff.; zur Entstehungsgeschichte mit reichhaltigem Quellenmaterial: Seif, Recht und Justizhoheit (Fn. 278/C.), S. 300 ff. 493 Hierzu Ormond, Richterwürde (Fn. 466/C.), S. 22 ff. 494 Ormond, Richterwürde (Fn. 466/C.), S. 26. 495 Kern, Gerichtsverfassung (Fn. 282/C.), S. 72 ff.; Seif, Recht und Justizhoheit (Fn. 278/C.), S. 298 ff. Allerdings fuhren einzelne Staaten, wie etwa Kurhessen in ihrem spätabsolutistischen Gebaren auch gegenüber der Justiz fort. Vgl. hierzu die Reaktion des Richters am Oberappellationsgericht in Kassel Burkhard Wilhelm Pfeiffer, der infolge des hessischen Verfassungskonflikts um die richterliche Prüfungskompetenz von legislativen Akten mit seinem „ernsten Wort der Mahnung“ mit dem gleichnamigen Werk „die Selbständigkeit und Unabhängigkeit des Richteramts“ (1851) verteidigte. Vgl. hierzu auch Falk, Diener des Staates (Fn. 463/C.), S. 266 ff. 496 Döring, Geschichte der Rechtspflege (Fn. 283/C.), S. 74. 497 Ormond, Richterwürde (Fn. 466/C.), S. 493 ff. 498 Grundlage: Art. 4 Nr. 13 der Reichsverfassung von 1871; Kern, Gerichtsverfassung (Fn. 282/C.), S. 86 ff.; zur Entstehungsgeschichte: Ormond, Richterwürde (Fn. 466/ C.), S. 108 ff. 499 Kern, Gerichtsverfassung (Fn. 282/C.), S. 89 und S. 97.
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vorsahen. Die Ständigkeit der Gerichte zur Verhinderung von ad hoc-Besetzungen und das Zurückdrängen von Sondergerichten waren ebenfalls Regelungsgegenstand. Die Zivilprozessordnung beschränkte die richterliche Rolle aber zunächst auf den „Schiedsrichter“ unter den Parteien. Bei den Schwurgerichten sollten Geschworene letztlich die Urteiler sein. Ein Reichsrichtergesetz kam in der Folgezeit aber nie zustande. Neben den institutionellen Sicherungen der Justiz standen im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts aber auch erhebliche Konflikte um die Richterschaft und die weitere Justizpolitik500. So wurde – insbesondere in Preußen – nach 1878 versucht, die aus der Bismarck’schen Sicht zu liberale Richterschaft durch eine nicht an der Qualifikation, sondern eine am Alter bzw. an Gesinnung und an sozialer Herkunft orientierten Ernennungs- und Beförderungspolitik501 zu „entpolitisieren“, was insbesondere auch auf die Verhinderung von sozialdemokratischen, katholischen bzw. „welfischen“, polnischen und dänischen Richtern abzielte. Die Justizreform, die auch durch das Inkrafttreten des GVG veranlasst wurde, führte zu einer Reduzierung der Gerichte und infolgedessen zu Entlassungen bei den Richtern. Ob dabei auch die ältesten zehn Jahrgänge betroffen waren, was auf die Generation der „liberalen“ Kreisrichter hätte zielen können, ist umstritten502. Jedenfalls schied bis zum Ende des 19. Jahrhunderts die liberal geprägte Richterschaft altersbedingt aus. Eine neue eher politisch konservative und durch das militärische Reglement geprägte Richtergeneration wuchs nach. Zunehmend wurden als staatstragend geltende Staatsanwälte in richterliche Leitungsfunktionen eingesetzt503. Unbezahlter Vorbereitungsdienst bei gleichzeitigem Nachweis des standesgemäßen Unterhalts504 und lange, unbezahlte Assessorenzeiten aufgrund der reduzierten Richterstellen505 führten zwangsläufig zu einer Zurückdrängung nicht vermögender Kandidaten, Abhängigkeit und zur Verschlechterung der Qua500 H. Hannover/E. Hannover-Drück, Politische Justiz 1918–1933, Bornheim-Merten 1966, Nachdruck 1987, S. 21 ff. R. Schröder, Die Richterschaft am Ende des zweiten Kaiserreichs unter dem Druck polarer sozialer und politischer Spannungen, in: A. Buschmann u. a. (Hrsg.), Festschrift R. Gmür, Bielefeld 1983, S. 201 ff. 501 Döring, Geschichte der Rechtspflege (Fn. 283/C.), S. 63 f. vgl. auch Müller, Furchtbare Juristen (Fn. 17/A.), S. 16 ff. 502 Ormond, Richterwürde (Fn. 466/C.), S. 401 ff. hält dies nicht für durchgehend belegt, aber auch sein differenziertes Bild zeigt Benachteiligungen antipreußisch Gesinnter und „Liberaler“. 503 Hierzu Ormond, Richterwürde (Fn. 466/C.), S. 437 ff. 504 Ormond, Richterwürde (Fn. 466/C.), S. 432. 505 Vgl. Bundesministerium der Justiz (Hrsg.): Im Namen des Deutschen Volkes – Justiz und Nationalsozialismus, Katalog zur Ausstellung des Bundesministeriums der Justiz, 5. Aufl., Bielefeld 1998, S. 11; Falk, Diener des Staates (Fn. 463/C.), S. 270, E. Fraenkel, Zur Soziologie der Klassenjustiz, Original 1927; Neudruck Darmstadt 1968, S. 10 f. Schröder, Richterschaft am Ende des zweiten Kaiserreichs (Fn. 500/C.), S. 231 ff., schildert die Verhältnisse im Einzelnen. Vgl. auch Simon, Unabhängigkeit des Richters (Fn. 469/C.), S. 42 ff. Wagner, Richter (Fn. 6/A.), S. 73.
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lität. Eher vermögende Bewerber setzten sich daher durch und begründeten die bis zur Weimarer Republik wirkende einseitige Sozialauswahl. Die Hilfsrichter, deren Aufgabe am Beginn der richterlichen Laufbahn übernommen werden musste, waren zudem persönlich nicht unabhängig506. Die 90-er Jahre des 19. Jahrhunderts waren – durch diese Umstände beeinflusst oder nicht507 – von heftigen politischen Auseinandersetzungen um die Justiz und die zunehmend konservative Richterschaft geprägt508, die – trotz ihrer sozialen Zurücksetzung509 – hinter der zum Schutzschild gewordenen Unabhängigkeit zunehmend zugunsten der Stabilisierung der „herrschenden“ Meinung Partei ergriff 510. Übersehen werden darf aber nicht, dass sich auch zu dieser Zeit noch Richter bzw. „Justizbeamte“ in den Parlamenten engagierten511. In ihrem Erfurter Programm von 1891 forderte die SPD als Antwort auf diese preußische Justizpolitik und zur Vermeidung der sich nach ihrer Ansicht entwickelnden „Klassenjustiz“ freie Volksgerichte, in die die Richter gewählt werden sollten512. Der Versuch der preußischen Regierung 1895 die Selbstverwaltung im Bereich der Geschäftsordnung zu beseitigen und Veröffentlichungen in den Preußischen Jahrbüchern von 1896513, in denen von exekutiver wie von sozialdemokratischer Seite Kritik an richterlichen Entscheidungen514 sowie an ihrer inneren Abhängigkeit515, Weltfremdheit516 und ihrem Formalismus geübt wurde, lösten eine Justizkrise aus, die zu erregten Debatten im Reichstag führten. Die Diskussionen hielten bis nach der Jahrhundertwende an und kulminierten in der Rede von Franz Adickes zum Justizetat vor dem Preußischen Herrenhaus am 30.03.1906517. Er forderte in ihr aus liberaler Sicht eine radikale Justizreform, die eine Verminderung der Richterstellen, eine Orientierung am englischen Justizsystem mit seinen Einzelrichtern, der strikten Trennung von der Beamtenschaft, die Rekrutierung der Richter aus der Anwaltschaft, die Entlastung der Justiz und die Stärkung der richterlichen Unab506
Vgl. Falk, Diener des Staates (Fn. 463/C.), S. 270. Ormond, Richterwürde (Fn. 466/C.), S. 441 ff. zeichnet ein eher differenziertes Bild zu den Ursachen der Debatte. 508 Zur Justizkritik und die Reaktion der Richterschaft im Einzelnen: Schröder, Richterschaft am Ende des zweiten Kaiserreichs (Fn. 500/C.), S. 201, S. 204 ff. und S. 212 ff. 509 Kübler, Richter (Fn. 139/B.), AcP 162 (1963), S. 104, S. 109 f. 510 Berkemann, Unabhängigkeit (Fn. 277/C.), S. 22. 511 Ormond, Richterwürde (Fn. 466/C.), S. 3. 512 1921 aufgegeben im Görlitzer Programm. 513 Kern, Gerichtsverfassung (Fn. 282/C.), S. 136. 514 Etwa an den Entscheidungen des Reichsgerichts zur strafbaren Nötigung bzw. Erpressung durch Arbeitskampfmaßnahmen. 515 Simon, Unabhängigkeit des Richters (Fn. 469/C.), S. 48 f. 516 Schröder, Richterschaft am Ende des zweiten Kaiserreichs (Fn. 500/C.), S. 206 ff. m.w. N. 517 Kern, Gerichtsverfassung (Fn. 282/C.), S. 137; vgl. auch Adickes, DJZ 1906, Sp. 501 ff.; Wagner, Richter (Fn. 6/A.), S. 202. 507
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hängigkeit vorsehen sollte. Die Richter reagierten auf diese Auseinandersetzungen durch die Gründung von Richtervereinen in den Ländern (Bayern 1906; Berlin 1908) und schließlich zum 01.01.1909 durch die Vereinigung einiger Landesverbände im Deutschen Richterbund, der die Kritik an ihnen abwehren und die richterlichen Belange wahren sollte518. Er nahm insbesondere die Forderung nach einer klareren Abgrenzung und Regelung der richterlichen Rechtsverhältnisse auf. bb) Richterpflichten und -tugenden Mit den zuvor beschriebenen strukturellen Veränderungen der Justiz und der Stellung des Richters im sich entfaltenden Rechtsstaat veränderten sich auch die Verhaltenserwartungen an ihn. Sie waren sogar selbst Gegenstand des Kampfes um den Rechtsstaat. In Abhängigkeit von den jeweils vertretenen staatsrechtlichen Positionen wurde der Richter entweder als Bewahrer der ständischen Ordnung oder als Diener des spätabsolutistischen Fürstenstaates, der bürgerlichen Gesellschaft oder des kaiserlichen Nationalstaats gesehen519. Mit der Aufklärung verschwanden zunächst die moralisierenden Richterspiegel520 und es trat die religiöse Motivation richterlicher Pflichten endgültig in den Hintergrund521. Es wurden sogar unmoralische Berufspraktiken ironisierend dargestellt und etwa in der Darstellung der richterlichen Bestechungskunst522 angeprangert. Karl August Klauhold523 verlangte in seinem „Bild eines vollkommenen Richters“ dagegen praktische Tugenden, wie gründliche Rechtskenntnisse, Unparteilichkeit, Unbestechlichkeit, Menschenkenntnis, Einfühlungsvermögen, verständliche Gerichtssprache, gesetzestreue Rechtsprechung. Ernst Friedrich Klein forderte in seiner Abhandlung „Von der Würde des richterlichen Amtes“ 524 „vorzügliche Geistesgaben, Redlichkeit, guten Willen, unermüdlichen Fleiß und unwandelbaren Eifer für die Beförderung der Gerechtigkeit.“ Gerade die richterliche Tätigkeit in der Zeit des Vormärz und der Reaktion verlangte aber eine weitere Tugend: „Unerschrockenheit“ 525 gegenüber der Ob518 Kern, Gerichtsverfassung (Fn. 282/C.), S. 137; Schröder, Richterschaft am Ende des zweiten Kaiserreichs (Fn. 500/C.), S. 220. 519 Auch Falk, Diener des Staates (Fn. 463/C.), S. 253. 520 Döring, Geschichte der Rechtspflege (Fn. 283/C.), S. 94. 521 Stephan, Salomo (Fn. 325/C.), S. 217 f. 522 Döring, Geschichte der Rechtspflege (Fn. 283/C.), S. 94. 523 K. A. Klauhold, Bild eines vollkommenen Richters, Gießen 1798; hierzu Falk, Diener des Staates (Fn. 463/C.), S. 255 ff. 524 Von der Würde des richterlichen Amtes, in: Annalen der Gesetzgebung und Rechtsgelehrsamkeit in den Preußischen Staaten, Bd. 2 (1794), S. 12 ff.; hierzu Falk, Diener des Staates (Fn. 463/C.), S. 263 f. 525 B. W. Pfeiffer, Die Selbständigkeit und Unabhängigkeit des Richteramts (Fn. 495/ C.), S. 314.
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rigkeit. Diese Veränderung in der Erwartungshaltung an den Richter wird besonders deutlich, wenn man die Forderung Christian Wolffs von 1736, der Richter müsse „von der Hohen Landesobrigkeit ganz und gar dependieren“, mit den Vorstellungen Paul Johann Anselm Feuerbachs in seiner Rede anlässlich seiner Einführung in das Amt des Präsidenten des Appellationsgerichts zu Ansbach 1817526 vergleicht. Er sieht „die hohe Würde des Richteramts“ 527 gerade in seiner Unabhängigkeit und der ausschließlichen Treue zum Gesetz, die sich bis zum Widerstand gegen die monarchische Exekutive steigern konnte: „. . . Der Richter empfängt . . . aus des Königs Hand sein Amt – aber ein Amt, das die Pflicht auf sich hat, keinem anderen Herrn zu dienen als der Gerechtigkeit . . . So sind also die Richter innerhalb der Grenzen ihres Richteramts so wenig Diener der obersten Gewalt, dass sie dieser, wenn sie jene Grenzen überschreiten sollte, sogar den Gehorsam zu versagen nicht etwa nur berechtigt, sondern kraft ihres Eides verbunden sind. Der Ungehorsam ist dem Richter eine heilige Pflicht, wo der Gehorsam Treubruch sein würde gegen die Gerechtigkeit, in deren Dienst er allein gegeben ist . . .“ 528 Dabei teilt er die Auffassung Immanuel Kants, der die Gerechtigkeit „als Idee der richterlichen Gewalt nach allgemeinen, a priori begründeten Gesetzen“ ansah. Hieraus ergibt sich auch die besondere und ausschließliche Gesetzesbindung des Richters529. Die Gerichte sind nach Kant dabei die „öffentliche Gerechtigkeit“ 530, d.h. die vor allen Augen geübte Justiz. Maßstab für die austeilende Gerechtigkeit ist die Gleichheit. Diese durchzusetzen, ist Aufgabe des kompetenten Richters, der von der gesetzgebenden und ausführenden Gewalt strikt zu trennen sei. Ziel seiner Aufgabe sei die Zügelung der Gefahr willkürlicher Machtausübung531. Die Pflicht zur Gesetzestreue und das Problem der Auslegung als Nerv jeder richterethischen Diskussion nahm die Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts in besonderer Weise in Anspruch und ist bis heute nicht abgeschlossen: Aus der
526 Wolf, Rechtsdenker (Fn. 326/C.), S. 577 ff.; Plathner, Kampf (Fn. 414/C.), S. 81 f. Feuerbach wird in der richterethischen Debatte häufiger herangezogen: vgl. etwa E. Dittrich, Gerichtliche Tätigkeit zwischen Ethik und Fallerledigungszahlen – ein Zwiespalt? in: NRV-info Mecklenburg-Vorpommern 10/2008, S. 7. 527 So ist der Titel einer Sammlung von kleineren Schriften von Feuerbachs aus dem Jahr 1817, in dem ab S. 5 ff. die Antrittsrede aufgenommen ist. Vgl. auch Joseph Johann Lenhart, Versuch einer Darstellung der Eigenschaften, welche die Würde des Richteramts von dem Richter fordert, Karlsbad 1830. 528 Zit. nach Haft, Waagschale (Fn. 270/C.), S. 161 ff.; Seif, Recht und Justizhoheit (Fn. 278/C.), S. 288 ff.; Plathner, Kampf (Fn. 414/C.), S. 86 ff. spricht die im Einzelnen vertretenen Haltungen an, wenn der Regent trotzdem eingreift. Dabei wird deutlich, dass Feuerbach die eindeutigste Position einnimmt. 529 Hattenhauer, Wandlungen (Fn. 456/C.), S. 11. 530 Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, Der Rechtslehre zweiter Teil, § 41 und § 44. 531 Seif, Recht und Justizhoheit (Fn. 278/C.), S. 287.
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Erkenntnis der Unmöglichkeit der vollständigen „Programmierung“ richterlicher Entscheidungen durch Gesetze und Kodifikationen532 folgte eine zunehmende Abkehr vom Postulat der strengen Gesetzesbindung, wobei auch rechtspolitische Überlegungen des frühen Liberalismus533 und die historische Rechtsschule534 eine Rolle spielten. Daneben stand die Diskussion um eine Präjudizienbindung535 sowie der Versuch, die Angst vor dem ungebundenen Richter mit der Forderung nach dem „unpolitischen“, d.h. „bloß rechtsanwendenden“ Richter536 zu beschwichtigen. Schon die Historische Rechtsschule, insbesondere Savigny, sah im Richterspruch keine eigene Rechtsquelle, sondern ein Mittel der Erkenntnis des überlieferten Rechts. Der Richter solle nicht das Recht mechanisch „anwenden“, sondern Recht als jeweils historisch Gewachsenes „sprechen.“ Damit wurde die Gesetzesbindung von dieser Seite her brüchig. Dem trat Bernhard Windscheid mit seiner Auffassung entgegen537, der Richter habe die gesetzlichen Begriffe nur nachzuvollziehen. Der Richter habe die Pflicht den empirisch nachweisbaren Willen des Gesetzgebers zu ermitteln und höchstens dessen unfertige Gedanken zu Ende zu denken. Was darüber hinausgehe, sei Rechtsschöpfung, die nur dem Gesetzgeber zukomme. Rudolf von Ihering wiederum hat unter Abkehr von historischer Rechtsschule und Begriffsjurisprudenz den Zweck des staatlichen Gesetzes als maßgebliche Rechtsquelle bestimmt und damit in der Auslegungslehre mit seiner Betonung des Praktischen und Normativen am Recht eine methodische Lockerung herbeigeführt, wenn er den Richter auch unter strengen Gesetzesgehorsam sehen will538. Oskar von Bülow schließlich weist der Rechtsprechung dann nicht nur eine rechtslogische, sondern auch eine rechtsschöpferische Funktion zu539. Gesetz und Richteramt teilten sich in den „Rechtschaffungsund Rechtsbestimmungsberuf der Staatsgewalt“ 540. Richterrecht bzw. das Urteil seien die konkret-spezielle, das Gesetz die abstrakt-generelle Rechtsquelle im Sinne einer „Rechtswillenserklärung“. Bülow entwickelt auf dieser Grundthese in seiner Darstellung „Gesetz und Richteramt“ eine Theorie der richterlichen
532 Zum Versuch des preußischen ALR zur strikten Gesetzesbindung vgl. N. Hempel, Richterleitbilder in der Weimarer Republik, Frankfurt/Main 1978, S. 16 ff.; Ogorek, Richterkönig (Fn. 264/C.), S. 80 ff. 533 Ogorek, Richterkönig (Fn. 264/C.), S. 97. 534 Zu den wissenschaftlichen Forderungen von Savigny an die Richter: Hempel, Richterleitbilder (Fn. 532/C.), S. 18 ff. 535 Ogorek, Richterkönig (Fn. 264/C.), S. 178 ff. 536 Johann Ludwig Klüber, Die Selbständigkeit des Richteramts und die Unabhängigkeit seines Urteils im Rechtsprechen, Frankfurt/Main 1832; hierzu: Ogorek, Richterkönig (Fn. 264/C.), S. 351 ff. 537 Wolf, Rechtsdenker (Fn. 326/C.), S. 616 f. 538 Hempel, Richterleitbilder (Fn. 532/C.), S. 35 ff. 539 Bülow, Gesetz und Richteramt (Fn. 6/A.), S. 2; Ogorek, Richterkönig (Fn. 264/ C.), S. 257 ff. 540 Bülow, Gesetz und Richteramt (Fn. 6/A.), S. 3 ff.
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Rechtsschöpfung. Richten und Rechtsprechen seien die ursprünglicheren Rechtserscheinungen als der Erlass von Gesetzen541. Das Gesetz zeichne dem Richter nicht genau vor, wie er zu entscheiden habe542. Deswegen sei Urteilen nicht allein ein Erkenntnis-, sondern auch ein schöpferischer Akt. Das richterliche Urteil habe Rechtskraft, die – weil es ein letztes Wort sei – noch stärker sei als die Gesetzeskraft543. Er übersieht nicht, dass die Richter bei dieser Tätigkeit in unterschiedlichen Vorverständnissen befangen seien können. Der Richter habe aber ein gestalterisches Ermessen. Der Staat ermächtige den Richter, auch solche Rechtsbestimmungen vorzunehmen, die nicht im Gesetzesrecht enthalten seien, sondern lediglich vom Richter gefunden, ja erfunden, von ihm, nicht vom Gesetz gewählt und gewollt sind544. Damit zählt er aber nicht zur so genannten Freirechtsschule545. die von Hermann Kantorowicz (1877–1940), Eugen Ehrlich (1862–1922) und Ernst Fuchs (1859–1929)546 geprägt wurde. Er ist nämlich der Auffassung, der Richter müsse selbst bei schweren Gewissensnöten dem von ihm erkannten Gesetzesgebot gehorchen547. Lässt der Gesetzeswortlaut aber verschiedene Möglichkeiten für eine Entscheidung zu, so habe der Richter nach freier Überzeugung zu wählen. Insoweit stellt er den Richter auch von jeder Bindung frei. Bülow hat mit dieser Schrift eine methodische Dauerdiskussion bis heute eröffnet. Die „Freirechtsschule“ betont demgegenüber eher die Subjektivität richterlichen Urteilens und postuliert sie sogar. Gegen die Begriffsjurisprudenz fordert dieser Ansatz unter Betonung der steten Lückenhaftigkeit des Gesetzes eine grundsätzliche Erweiterung der Freiheit des Richters statt einer festen Bindung an den Gesetzeswortlaut. Er habe sogar eine „gesetzesunabhängige Rechtssetzungsbefugnis“. Dabei ging es der Freirechtsschule aber auch um die Erweiterung des Blicks der Richter auf außerrechtliche Einflüsse, sozialer, psychologischer und politischer Art, auf ihre Entscheidungstätigkeit548. Quer zu dieser Entwicklung steht die Auffassung Max Webers, der den Richter als typischen und notwendigen Vertreter einer formalen und rationalen Staatsordnung ansieht und ihn in sein Bürokratiemodell einordnet549. Die strenge Geset541
Bülow, Gesetz und Richteramt (Fn. 6/A.), S. 16 ff. Bülow, Gesetz und Richteramt (Fn. 6/A.), S. 28 ff. 543 Bülow, Gesetz und Richteramt (Fn. 6/A.), S. 6. 544 Bülow, Gesetz und Richteramt (Fn. 6/A.), S. 42. 545 Haft, Waagschale (Fn. 270/C.), S. 227 ff. 546 Hempel, Richterleitbilder (Fn. 532/C.), S. 38 ff. 547 Bülow, Über das Verhältnis der Rechtsprechung zum Gesetzesrecht, in: Das Recht, 1906, Sp. 773 ff. 548 T. Drosdeck, Richterbilder und richterliches Selbstverständnis in der Weimarer Republik, in: Andre Gouron u. a. (Hrsg.), Europäische und amerikanische Richterbilder, Frankfurt/Main 1996, S. 304. 549 Kauffmann, Konstruktion (Fn. 283/B.), S. 45. 542
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zesbindung sei ein Preis für seine Unabhängigkeit. Er habe für Lückenlosigkeit und Präzision des Rechts zu sorgen. Weber streicht die formalen Qualitäten des modernen Rechts im Unterschied zu früheren Rechtsepochen besonders heraus550. Sie seien Grundlage für Berechenbarkeit und Rechtssicherheit des entwickelten kapitalistischen Systems. Allerdings weist er auch auf die Tendenz zu einer „gesinnungsethischen Materialisierung des Rechts“ 551 hin, die sich aus der freien Beweiswürdigung, aus der Beteiligung von Laien, aus dem Abstellen von inneren Umständen (Vorsatz, Absicht, Gutgläubigkeit, Vertrauen) und der Auslegung nach Sinn und Zweck ergäben. Aber auch das Eindringen von „Standesideologien der Juristen“ 552 in die Rechtsauslegung und die Rechtspraxis bewirke die – aus seiner Sicht problematische – Entformalisierung und damit letztlich die Irrationalität der Rechtsanwendung. Auch wenn er diese Argumente im Wesentlichen auf die Freirechtsschule bezieht – er spricht allerdings auch von „ethischen Räsonnements“ 553 –, könnte aus heutiger Sicht eine ausgebildete Richterethik eine „Standesideologie“ in diesem Sinne sein. Ob dies – wie bei Weber tendenziell der Fall ist – immer negativ zu bewerten ist, wird noch zu würdigen sein. Seine Prognose, dass die Tendenz zur zunehmenden Formalisierung des Rechts schicksalhaft und unumkehrbar sei554, dürfte sich – angesichts der „objektiven Wertordnung“ des Grundgesetzes – jedenfalls nicht verwirklicht haben. Diesen theoretisch-praktischen Diskurs über das Verhalten der Richter bei der Gesetzesanwendung begleiteten im 19. Jahrhundert konkrete gesetzgeberische Maßnahmen, die Einfluss auf richterliches Verhalten und seine Grenzen, also seine Pflichten hatten. Sie bezogen sich überwiegend auf die Festigung der sachlichen und persönlichen Unabhängigkeit des Richters, die stets fundamentale Grundbedingung für die Frage einer richterlichen Ethik sind. In Preußen – als bedeutendster und die jeweiligen politischen Veränderungen am schärfsten durchlebender Einzelstaat – sah die Kabinettsorder vom 06.09.1815 „wegen Einwirkung des Chefs der Justiz in die formellen Verfügungen der Gerichtsbehörden“ (GS. S. 198) zunächst vor, dass gerichtliche Urteil keiner Bestätigung des „Chefs der Justiz“ mehr bedurften555. Dies galt jedoch nicht hinsichtlich aller anderen „Gegenstände der Justizpflege“ 556. Nach dem aktiven politischen Einsatz der Richterschaft wurde durch das Mühlersche Disziplinargesetz vom 29.03. 1844 (Gesetz betreffend das gerichtliche und Disziplinar-Strafverfahren gegen
550 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 1921/1922, 4. Aufl., 2. Teil, § 8, S. 503 ff. 551 T. Raiser, Max Weber und die Rationalität des Rechts, in: JZ 2008, S. 855. 552 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (Fn. 550/C.), S. 507. 553 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (Fn. 550/C.), S. 512. 554 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (Fn. 550/C.), S. 512 f. 555 Hierzu: Plathner, Kampf (Fn. 414/C.), S. 80. 556 Schütz, Unabhängigkeit (Fn. 401/C.), DRiZ 1980, S. 242.
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C. Elemente einer deskriptiven richterlichen Ethik
Beamte und die hierzu ergangenen Verordnung betreffend das bei der Pensionierung zu beobachtende Verfahren; GS. S. 77 ff.) versucht, Beamte und Richter auf dem disziplinarischen Weg557, also auf dem Weg der Statuierung und Ahndung von Dienstpflichten, sowie im Wege der Entlassung in ihrem politischen Einsatz zu zügeln. Zwar sah es die disziplinarische Entlassung von Richtern nur durch Beschluss des vorgesetzten „Justizkollegiums“ mit Rekursmöglichkeit zum geheimen Obertribunal (§ 40) vor, ermöglichte aber die Strafversetzung im Verwaltungswege558. Die zeitgleich erlassene Verordnung sah überdies die Möglichkeit vor, Richter jederzeit in den Ruhestand zu versetzen559. Die Reaktion der Richterschaft und der liberalen Kräfte hierauf war harsch und machte Fragen der persönlichen Unabhängigkeit zum Grundsatzproblem des Verfassungskonflikts560. Erste Regelungen zur Gewährleistung der persönlichen Unabhängigkeit der Richter finden sich in Preußen dann in und nach der Revolution von 1848, nämlich in den Verfassungen von 05.12.1848561 und vom 31.01.1850 (Art. 86 ff.)562 sowie
557 Zur Entwicklung der Disziplinargewalt in Preußen: Plathner, Kampf (Fn. 414/ C.), S. 60 ff. 558 Dort der § 20 Abs. 2: Versetzungen mit denen kein finanzieller Nachteil verbunden ist, ist kein Gegenstand des Disziplinarverfahrens, sondern kann im gewöhnlichen Verwaltungsverfahren durchgeführt werden; Kern, Gerichtsverfassung (Fn. 282/C.), S. 63; ders., Gesetzlicher Richter (Fn. 351/C.), S. 101; Schütz, Unabhängigkeit (Fn. 401/ C.), DRiZ 1980, S. 243. 559 Schütz, Unabhängigkeit (Fn. 401/C.), DRiZ 1980, S. 243. 560 D. Huhn, Oppositionelle Richter, in: DRiZ 1968, S. 81; Plathner, Kampf (Fn. 414/C.), S. 112 ff. 561 Artikel 85. Die richterliche Gewalt wird im Namen des Königs durch unabhängige, keiner anderen Autorität als der des Gesetzes unterworfene Gerichte ausgeübt. Artikel 86 Die Richter werden vom Könige oder in dessen Namen auf ihre Lebenszeit ernannt. Sie können nur durch Richterspruch aus Gründen, welche die Gesetze vorgesehen und bestimmt haben, ihres Amtes entsetzt, zeitweise enthoben oder unfreiwillig an eine andere Stelle versetzt und nur aus den Ursachen und unter den Formen, welche im Gesetze angegeben sind, pensionirt werden. Auf die Versetzungen, welche durch Veränderungen in der Organisation der Gerichte oder ihrer Bezirke nöthig werden, findet diese Bestimmung keine Anwendung. 562 Art. 86. Die richterliche Gewalt wird im Namen des Königs durch unabhängige, keiner anderen Autorität als der des Gesetzes unterworfene Gerichte ausgeübt. Die Urtheile werden im Namen des Königs ausgefertigt und vollstreckt. Art. 87. Die Richter werden vom Könige oder in dessen Namen auf ihre Lebenszeit ernannt. Sie können nur durch Richterspruch aus Gründen, welche die Gesetze vorgesehen haben, ihres Amtes entsetzt oder zeitweise enthoben werden. Die vorläufige Amtssuspension, welche nicht kraft des Gesetzes eintritt, und die unfreiwillige Versetzung an eine andere Stelle oder in den Ruhestand können nur aus den Ursachen und unter den Formen, welche im Gesetze angegeben sind, und nur auf Grund eines richterlichen Beschlusses erfolgen. Auf die Versetzungen, welche durch Veränderungen in der Organisation der Gerichte oder ihrer Bezirke nöthig werden, finden diese Bestimmungen keine Anwendung.
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in der Verordnung betreffend die Dienstvergehen der Richter und die unfreiwillige Versetzung derselben auf eine andere Stelle oder in den Ruhestand vom 10.07.1849 (GBl. 253)563. Zu den Dienstpflichten gehörte dabei auch, „dass der Richter sich durch sein Verhalten in und außer dem Amte der Achtung, des Ansehens und des Vertrauens würdig beweise, die sein Beruf erfordert“ (§ 1 Abs. 2 der Verordnung). Differenziert wurde dabei zwischen Amtsverbrechen, also bestimmte Straftaten, und bloßen Dienstvergehen. Der Ausspruch einer Disziplinarstrafe setzte nunmehr ein Verfahren vor dem Disziplinargericht voraus (§ 20). Gleiches galt für die unfreiwillige Versetzung (§ 56). Auch die unfreiwillige Versetzung in den Ruhestand wurde gerichtsförmig ausgestaltet (§ 60 ff.). Das Gesetz betreffend Dienstvergehen der Richter und unfreiwillige Versetzung derselben auf eine andere Stelle oder in den Ruhestand vom 07.05.1851 (GS. S. 218) führte zwar nicht zu erheblichen Rückschritten bei den formellen Sicherungen. Auch nach diesem Gesetz waren gerichtliche Entscheidungen Voraussetzung für die Disziplinarstrafe. Daneben bestand aber weiter ein im materiellen Tatbestand weit gefasstes und daher zu unsachlichen Disziplinierungen einladendes Dienststrafrecht564. Auch wenn es auf der Ebene des Reiches nicht gelang, die Rechtsverhältnisse der Richter von denen der Beamten gesetzlich zu trennen, sind doch einige Einzelstaaten diesen Weg gegangen: Badisches Gesetz, die Rechtsverhältnisse der Richter betreffend vom 14.02.1879 (GVBl. S. 313), Hessisches Gesetz, die Rechtsverhältnisse der Richter betreffend vom 31.05.1879 (RegBl. S. 235), Bayerisches Disziplinargesetz für richterliche Beamte vom 26.03.1881 (GVBl. S. 183)565. Dabei fällt auf, dass selbst die geringsten Disziplinarstrafen nur justizförmig ergehen durften566. Richterethisch sind dabei die in diesen Gesetzen enthaltenen Richtereide von besonderer Bedeutung. So verpflichtete sich der Richter nach dem Richtereid in Bayern „die ihm obliegenden Richteramtspflichten nach bestem Wissen und Gewissen mit Fleiß und Sorgfalt zu erfüllen, keine Partei zu begünstigen, keiner mit Rat zu dienen; von keiner ein Geschenk oder Versprechen, weder unmittelbar noch mittelbar, anzunehmen, nirgends aus Hass, Gunst, Furcht, Rücksicht auf die Person oder aus ähnlichen Ursachen zu handeln, sondern bei allen Richteramtshandlungen nur Gott, die Gesetze, die Gerechtigkeit und Wahrheit vor Augen zu haben.“ 567
563
Hierzu Plathner, Kampf (Fn. 414/C.), S. 130 ff. Vgl. den Wortlaut des § 1 bei Ormond, Richterwürde (Fn. 466/C.), S. 228; Kern, Gerichtsverfassung (Fn. 282/C.), S. 79; Wagner, Richter (Fn. 6/A.), S. 68; Wittreck, Verwaltung (Fn. 297/C.), S. 46 m.w. N. 565 Kern, Gerichtsverfassung (Fn. 282/C.), S. 121. 566 Wagner, Richter (Fn. 6/A.), S. 69. 567 Zit. nach Kern, Gerichtsverfassung (Fn. 282/C.), S. 121. 564
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C. Elemente einer deskriptiven richterlichen Ethik
d) Die Weimarer Republik aa) Rechtsprechungsstrukturen Die im 19. Jahrhundert aufgebauten Gerichtsstrukturen und die Rechtsstellung der Richter blieben in der Weimarer Republik im Wesentlichen unverändert568: Die Art. 102 ff. der Weimarer Reichsverfassung (WRV)569 sicherten allerdings die Unabhängigkeit der Richter erstmals auf Reichsebene verfassungsrechtlich ab (Art. 102 WRV: „Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen.“). Zur Sicherung der persönlichen Unabhängigkeit sah Art. 104 WRV vor, dass die Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit auf Lebenszeit ernannt wurden und sie gegen ihren Willen nur kraft richterlicher Entscheidung und nur aus den Gründen und unter den Formen, die die Gesetze bestimmen, dauernd oder zeitweise ihres Amtes enthoben oder an eine andere Stelle oder in den Ruhestand versetzt werden konnten. Daneben wurde die Festsetzung von Altersgrenzen, bei deren Erreichen Richter in den Ruhestand treten, eröffnet und eine Regelung zum Umgang mit Richtern bei einer Veränderung in der Einrichtung der Gerichte oder ihrer Bezirke geschaffen. Die ordentliche Gerichtsbarkeit wurde durch das Reichsgericht und durch die Gerichte der Länder ausgeübt und damit die Justizhoheit der Länder bestätigt (Art. 103 WRV). Art. 107 WRV enthält die verfassungsrechtliche Sicherung der Verwaltungsgerichtsbarkeit im Reich und den Ländern. Weitere justizielle Sicherungen enthält Art. 105 WRV, der Ausnahmegerichte für unstatthaft erklärt und anordnet, dass niemand seinem gesetzlichen Richter entzogen werden darf. Für die 20-er Jahre ist eine Fülle gerichtsverfassungsrechtlicher Änderungen festzustellen, etwa die Entlastungsgesetze von 1921, 1922 und 1923570, die Einführung des Jugendgerichtsgesetz von 1923, die Emmingersche Justizreform im Wege der auf der Grundlage des Ermächtigungsgesetzes vom 08.12.1923 ergangen Verordnung im Bereich der Strafrechtspflege von 1924571, eine Reform der ZPO durch Verordnung vom 15.01.1924 und die Einführung des Arbeitsgerichtsgesetzes 1926. Für das Gesicht der Justiz von besonderer Bedeutung war die auf Betreiben Gustav Radbruchs eröffnete Zulassung der Frauen zur Rechtspflege, die sich in mehreren Schritten vollzog. Im Januar 1921 wurden Frauen erstmals zum Vorbereitungsdienst und zu den juristischen Prüfungen zugelassen, durch Gesetz über die Heranziehung von Frauen zum Schöffen- und Geschworenenamte vom 25.04. 1922 (RGBl. S. 465) auch zu diesen Ämtern. Mit Gesetz über die Zulassung der 568
Kern, Gesetzlicher Richter (Fn. 351/C.), S. 141 ff. Kern, Gerichtsverfassung (Fn. 282/C.), S. 148 ff. 570 Kern, Gerichtsverfassung (Fn. 282/C.), S. 155. 571 Kern, Gerichtsverfassung (Fn. 282/C.), S. 160 f. und auf S. 163 zur erheblichen Kritik; auch zum Folgenden. 569
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Frauen zu den Ämtern und Berufen der Rechtspflege vom 11.07.1922 (RGBl. S. 573) folgte die uneingeschränkte Zulassung der Frauen zu den Ämtern und Berufen der Rechtspflege. Ab Mitte der 20-er Jahre wurden Reformen diskutiert, die vor allem der Kosteneinsparung und der weiteren Straffung der Verfahren dienen sollten. So zielten die Schifferschen Vorschläge in Fortentwicklung der von Adickes 1906 vorgetragenen Überlegungen 1928 auf eine Begrenzung der Richterzahl, auf die Einführung von Einzelrichtern und die Übertragung richterlicher Geschäfte auf Rechtspfleger. 1930/31 wurden erneut Justizreformvorschläge vom Land Preußen gemacht, um Mittel und Ressourcen einzusparen. Sie wurden teilweise durch die Brüningschen Notverordnungen in den Jahren 1930 bis 1932, vor allem im Wege von Zuständigkeitsänderungen umgesetzt. 1928 verlangt der Deutsche Juristentag die Verreichlichung der Justiz. Breiten Raum nahmen die Forderungen des Richterbundes ein, die Besoldungsstruktur zu ändern, insbesondere die Besoldung zu erhöhen572. bb) Richterpflichten und -tugenden Die Bindung des Richters an das Gesetz, seine Mäßigung in politischen Äußerungen und seine Unparteilichkeit, richterliche Grundpflichten, die Anfang des 20. Jahrhunderts uneingeschränkt anerkannt waren, waren in der Weimarer Republik Grundlage und Gegenstand tiefgreifender Auseinandersetzung um und mit der Justiz. Hintergrund waren das obrigkeitsstaatliche Selbstverständnis der Richterschaft, die ungelösten Fragen um die Rechtsstellung der Richter, insbesondere im Verhältnis zu den Beamten, und um die Aufgaben der Justiz im demokratischen Staat573. Die bereits vor 1914 bestehende Vertrauenskrise der Justiz schwelte in der Weimarer Republik nicht nur weiter, sondern verschärfte sich noch574. Der bereits im Kaiserreich erhobene Vorwurf der Weltfremdheit, des Formalismus, der „Klassenjustiz“ 575 und der politischen Einseitigkeit wurde durch eine Reihe von Judikaten tatsächlich bestätigt. In öffentlichkeitswirksamen Verfahren vertraten 572 Hierzu und den Auswirkungen auf die richterliche „Gefolgschaft“ gegenüber der Republik: Drosdeck, Richterbilder (Fn. 548/C.), S. 319 ff. 573 Nach Kübler, Richter (Fn. 139/B.), AcP 162 (1963), S. 104 und S. 110 f. begann der Widerstand gegen das demokratische Gesetz bereits mit der Gründung des Richterbunds 1909 und der Reaktion auf den zunehmenden Einfluss des Reichstags auf die Gesetzgebung. Eine Verschärfung trat nach 1918 ein, a. a. O. S. 112 ff. 574 Kern, Gerichtsverfassung (Fn. 282/C.), S. 186 f.; Wagner, Richter (Fn. 6/A.), S. 72 ff. 575 Fraenkel, Klassenjustiz (Fn. 505/C.), S. 1 ff. und S. 36 ff. und B. C. Frenzel, Das Selbstverständnis der Justiz nach 1945, Frankfurt/Main 2003, S. 57 ff. Vgl. hierzu auch Schröder, Richterschaft am Ende des zweiten Kaiserreichs (Fn. 500/C.), S. 212 ff. Zum Begriff: K. F. Röhl, Rechtssoziologie, 1. Aufl., München 1987, S. 357 f.
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Richter zum Teil unhaltbare Ansichten576 und riefen erhebliche Zweifel an ihrer politischen Neutralität und Gesetzestreue hervor577: Beispiele578 sind etwa der Fechenbach-Prozess 1922579, der Ebert-Prozess 1924580, der Münchner Geiselmord-Prozesse 1924581, der Prozess wegen des Hitlerputsches 1924582, der Stettiner Fememord-Prozess 1929583 und der Ossietzky-Prozess 1931584, aber auch der Reichstagsbrandprozess ab September 1933, in dem der Vorsitzende das Recht des Angeklagten Dimitroff, Göring zu befragen, erheblich einschränkte585. Nicht selten zeigten Strafrichter und das Reichsgericht in Hoch- und Landesverratsprozessen auffallende Milde gegen rechte Täter (Kapp-Putsch), hingegen Strenge gegen linke586. Im Ulmer Reichswehrprozess im Oktober 1930 bezeichnete ein Vorsitzender Richter am Reichsgericht Hitler, der als Zeuge vernommen wurde, zwar als Propagandaredner – ohne ihn von seiner Agitation abzuhalten – und verurteilte die angeklagten Offiziere wegen Hochverrats587. Die Urteilsbegründung588 zeigt aber die geistige Unterstützung des abgeurteilten Handelns. Nicht selten wurde gegen Auslegungsregeln verstoßen, insbesondere methodische 576 T. Rasehorn, Rechtspolitik und Rechtsprechung – Ein Beitrag zur Ideologie der „Dritten Gewalt“ in: K. D. Bracher/M. Funke/H.-A. Jacobsen (Hrsg.), Die Weimarer Republik 1918–1933, 2. Aufl., Bonn 1989, S. 411 ff. 577 Vgl. Müller, Furchtbare Juristen (Fn. 17/A.), S. 23 ff. 578 Hannover/Hannover-Drück, Politische Justiz (Fn. 500/C.), S. 35 ff. führen eine Fülle von Beispielen auf. Vgl. auch R. Wassermann, Der politische Richter, München 1972, S. 58 ff. 579 Verurteilung des Mitarbeiters Kurt Eislers Felix Fechenbach wegen Landesverrats für einen Vorgang aus der Vorkriegszeit zu 11 Jahren Zuchthaus trotz Verjährungseintritts. 580 Der falsche Vorwurf gegenüber dem Reichspräsidenten Friedrich Ebert, er hätte wegen einer Streikbeteiligung im Januar 1918 „Landesverrat“ begangen, wird gerichtlich als zutreffend gewertet. Zwei urteilende Richter waren Angehörige des „völkischen Blocks“. 581 Freisprüche für Reichswehroffiziere und -soldaten für willkürliche Erschießungen. 582 Auffallend niedrige Haftstrafe und vorzeitige Entlassung Hitlers „wegen vaterländischen Geists und edler Gesinnung“. Vgl. hierzu Gritschneder, Der Hitler-Prozess und sein Richter Georg Neidhardt, München 2001; Hannover/Hannover-Drück, Politische Justiz (Fn. 500/C.), S. 145 ff. 583 Der SA-Mann Edmund Heines erhielt wegen Mordes nur 5 Jahre Zuchthaus, weil er „von der vaterländischen Wichtigkeit seiner Aufgabe durchdrungen“ gewesen sei. Ein Jahr später wird er aus der Haft entlassen. Hierzu Hannover/Hannover-Drück, Politische Justiz (Fn. 500/C.), S. 154 ff. 584 Verurteilung des Journalisten und späteren Friedensnobelpreisträgers wegen „publizistischen Landesverrats“, weil er über eine völkerrechtswidrige geheime Aufrüstung Deutschlands berichtete. 585 Vgl. Müller, Furchtbare Juristen (Fn. 17/A.), S. 36 ff. und S. 41 ff. 586 Vgl. die Übersichten in BMJ, Im Namen des Volkes (Fn. 505/C.), S. 31 ff.; Hannover/Hannover-Drück, Politische Justiz (Fn. 500/C.), S. 176 ff.; Rasehorn, Rechtspolitik (Fn. 576/C.), S. 413. 587 Haft, Waagschale (Fn. 270/C.), S. 58 f. 588 DJ, 6, S. 187 ff.
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Überdehnungen oder Verengungen gesetzlicher Voraussetzungen je nach gewünschtem Ergebnis vorgenommen. Strafzumessungsüberlegungen berücksichtigten mildernd die „glühende“ oder „selbstlose Vaterlandsliebe“. Die Lösung des Richters vom geschriebenen Recht wurde in der Richterzeitung als Widerstandshaltung gegenüber dem demokratischen Gesetzgeber theoretisch vorbereitet589. Diese Art der Rechtsprechung wurde später zu Unrecht mit dem Argument erklärt, man sei nur dem vorherrschenden Rechtspositivismus erlegen. Auch Radbruch hat nach 1945 gemeint, der – auch von ihm – früher vertretene Rechtspositivismus habe die Richter in der NS-Zeit „wehrlos“ gemacht590. Tatsächlich hat Radbruch seit der Kaiserzeit in seiner „Rechtsphilosophie“ die Berufspflicht des Richters dahin gehend definiert, er habe den Willen des Gesetzes zur Geltung zu bringen, das eigene Rechtsgefühl dem autoritativen Rechtsbefehl zu opfern, nur zu fragen, was rechtens, und niemals, ob es auch gerecht sei591. Diese auf die Wahrung der Rechtssicherheit gerichtete Pflicht wurde von den Richtern bei der beschrieben Art der Rechtsprechung aber gerade nicht erfüllt592. Am Ende der Weimarer Republik wurde zudem aus der Richterschaft heraus das „richterliche Gewissen in schwerer Zeit“, das Sittengesetz und seine ethische Veranlagung schließlich als maßgebliche Instanz bei der Entscheidung bezeichnet, was die Gesetzesbindung zusätzlich in Frage stellte593. Dieses Verhalten lässt sich im Kern mit dem monarchistisch geprägten und milieubedingten richterlichen Selbstverständnis594 erklären, dass nach 1918 durch den Zusammenbruch, durch die politische, geistige und wirtschaftliche Krise erschüttert wurde. Von vielen Richtern wurden Krise und ihre Folgen der Staatsform Republik zur Last gelegt. Trotz der ungebrochenen personellen Kontinuität zur Kaiserzeit und des konservativen Vorverständnisses der Richterschaft, die zum „harten Kern der unpolitisch-konservativen bürgerlichen Mittelschicht“ zu rech589 Kübler, Richter (Fn. 139/B.), AcP 162 (1963), S. 104 und S. 113 ff. Zu den praktischen Umsetzungen dort S. 117 ff. (Republikschutzgesetz). 590 G. Radbruch, in: SJZ 1946, 105 ff.; Müller, Furchtbare Juristen (Fn. 17/A.), S. 222 f.; M. Walther, Hat der juristische Positivismus die deutschen Juristen im Dritten Reich“ wehrlos gemacht? in: R. Dreier/W. Sellert (Hrsg.), Recht und Justiz im „Dritten Reich“, Frankfurt 1989, S. 323 ff. 591 G. Radbruch, Rechtsphilosophie, 5. Aufl., 1956, S. 182 f. Zur Diskussion in der Literatur über das Richterleitbild zwischen positivistischem und rechtsethischem Berufsverständnis während dieser Zeit: Hempel, Richterleitbilder (Fn. 532/C.), S. 100 ff. 592 Grundlegend B. Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 6. Aufl., 2005, S. 175 ff. 593 Präsident des BayObLG Müller, Das Amt des Richters, DRZ 1931, 284 ff. Zum Problem der unzureichenden Gesetzesbindung: Rupp, Bindung (Fn. 25/A.), NJW 1973, S. 1771; Kübler, Richter (Fn. 139/B.), AcP 162 (1963), S. 104 und S. 114. 594 BMJ (Hrsg.), Im Namen des Deutschen Volkes, S. 13; Drosdeck, Richterbilder (Fn. 548/C.), S. 303 f. und 325 ff.; vgl. auch Müller, Furchtbare Juristen (Fn. 17/A.), S. 19 ff. Fraenkel, Klassenjustiz (Fn. 505/C.), S. 8 ff.; Hannover/Hannover-Drück, Politische Justiz (Fn. 500/C.), S. 30 ff.; Schröder, Richterschaft am Ende des zweiten Kaiserreichs (Fn. 500/C.), S. 212 ff. und S. 236 ff.
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nen war595, entwickelten nicht wenige Richter – insoweit paradox – den Willen und die Forderung zur Meinungsvertretung auch im Amt, zum – wie die oben dargestellten Urteilsbegründungen zeigen – „Bekenntnis im Urteil“. Die richterliche Unabhängigkeit als Abgrenzungsmittel gegenüber dem „System“ und die berufsständische Emanzipation führten zu einem „Ausleben“ richterlicher Macht, die die Zurücksetzung der Richterschaft gegenüber dem Militär und der Verwaltung in der Kaiserzeit596 sowie die auch nach 1918 fortdauernden gesellschaftlichen Zurücksetzung kompensieren half. Daneben stehen auch rechtsschöpferische Entscheidungen, insbesondere des Reichsgerichtes, die krisen- und inflationsbedingt das geltende Zivilrecht den drängenden Erfordernissen anzupassen versuchten597. Trotz und vielleicht wegen des vom Deutschen Richterbund gepflegten Richterbilds598 des „unpolitischen“ 599 und „staatstreuen“ 600 Richters wurden in der Auseinandersetzung um (justiz)politische Themen zum Teil scharfe Angriffe gegen die Demokratie, ihre Gesetze („Lügenrecht“) oder die Vertreter der Republik601 oder den als „sozialistisch“ bewerteten Republikanischen Richterbund geführt oder zu umstrittenen politischen Themen Stellung genommen, etwa als 1924 der Richterverein beim Reichsgericht gegen das beabsichtigte gesetzliche Aufwertungsverbot opponierte602. Nachdem auch republikanisch gesinnte Richter in die harte Auseinandersetzung um die inflationär geführten Landesverratsprozesse eingriffen, wurde erstmals das Mäßigungsgebot für Richter formuliert603. Es zeigte sich aber gerade gegen Ende der Weimarer Republik, dass dieses Mäßigungsgebot vor allem dazu diente, verfassungstreue Richter zu beschränken. So 595
Rasehorn, Rechtspolitik (Fn. 576/C.), S. 418. Hierzu im Einzelnen: Wagner, Richter (Fn. 6/A.), S. 72; Drosdeck, Richterbilder (Fn. 548/C.), S. 308, zeigt auf, dass monarchistisch gesinnte Richter die richterliche Unabhängigkeit vehement verteidigten, während republikanische Richter sogar für Eingriffe in die richterliche Unabhängigkeit plädierten, weil sie in ihr eine Gefahr für die Verfassung sahen. Vgl. dort auch zu Fragen des Sozialprestiges und des Standes, S. 318 ff. sowie Schröder, Richterschaft am Ende des zweiten Kaiserreichs (Fn. 500/ C.), S. 236 ff. 597 J. Rückert, Der neue Richter. Weimar und die Folgen, in: KritJ 30 (1997), S. 429, S. 432 ff. 598 Hierzu Kübler, Richter (Fn. 139/B.), AcP 162 (1963), S. 104 ff. 599 Drosdeck, Richterbilder (Fn. 548/C.), S. 305 ff. Wassermann, Der politische Richter (Fn. 578/C.), S. 69 f.; H. Wrobel, Der Deutsche Richterbund im Jahre 1933, in: DRiZ 1983, S. 158. 600 Walther, Juristischer Positivismus (Fn. 590/C.), S. 330 f. zum Verständnis des „Staates“ als einheitsstiftende, neutrale Institution der Sittlichkeit, dem der Richter zu dienen hat. Hierzu auch Feindt, Beamtenethos (Fn. 3/B.), DÖD 1981, S. 23. 601 Vgl. J. Leeb (Vorsitzender des DRB) in: DRZ 1921, Sp. 97 ff., 130 ff., 161 ff.; Drosdeck, Richterbilder (Fn. 548/C.), S. 297 und S. 306 ff. 602 Drosdeck, Richterbilder (Fn. 548/C.), S. 315 f.; Hempel, Richterleitbilder (Fn. 532/C.), S. 93 ff. Zu den ökonomischen Verhältnissen der Richter: Fraenkel, Klassenjustiz (Fn. 505/C.), S. 14 f. sowie S. 23. 603 Lansnicker, Richteramt (Fn. 472/C.), S. 129. 596
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wurde im November 1932 etwa ein Disziplinarverfahren gegen den Reichsgerichtsrat Hermann Großmann wegen fehlender politischer Mäßigung eingeleitet, weil er eine Rede zur Verteidigung der Weimarer Reichsverfassung bei einem Reichsbannertreffen gehalten hatte. Im März 1933 wurde er zu einem Antrag auf Versetzung in den Ruhestand gezwungen. Allerdings zeigten Richter auch erheblichen Mut, etwa im Rathenau- und Scheidemann-Prozess oder beim Verfahren um den Potempa-Mord, als 1932 trotz NS-Propaganda SA-Männer wegen Mordes an einem Kommunisten zum Tod verurteilt wurden604. Die Deutsche Richterzeitung hielt sich 1930 bis 1933 eher zurück und stellte sich teilweise gegen die NS-Propaganda605. Vor allem aber Vertreter des 1922 von Wilhelm Kroner und Arnold Freymuth gegründeten Republikanischen Richterbundes und die von ihm seit 1925 herausgegebene Zeitschrift „Die Justiz“ traten für den demokratischen Staat – und nicht für den „Staat an sich“ – ein606. Seit Mitte der zwanziger Jahre bemühte sich die Justiz auch darum, der Öffentlichkeit über die Presse ihre Tätigkeit näher zu erläutern und den Angriffen der Presse mit Sachinformationen zu begegnen. Der Deutsche Juristentag 1929 beschäftigte sich ausdrücklich mit diesem Thema607. Die gesetzlichen Regelungen richterlicher Dienstpflichten und ihre Sanktionierung wurden vor allem in Preußen vorangetrieben, wo 1922 das Gesetz betreffend die Dienststrafverfahren gegen richterliche Beamte verabschiedet wurde. Problematisch war insoweit die Ernennung eines Teils der Mitglieder der Dienststrafgerichte durch die Regierung. Die Preußische Dienststrafordnung für die richterlichen Beamten vom 27.01.1932 (GS S. 59 ff.)608 regelte in § 9 das Recht der Dienstaufsicht, „die ordnungswidrige Ausführung eines Amtsgeschäfts zu rügen und zu dessen rechtzeitiger und sachgemäßer Erledigung zu ermahnen“. Diese Bestimmung wurde Vorbild für die entsprechende Regelung des Deutschen Richtergesetzes. e) Die NS-Zeit 609 aa) Rechtsprechungsstrukturen Die im 19. Jahrhundert in langwierigen und harten Auseinandersetzungen aufgebauten rechtsstaatlichen Sicherungen wurden ab Februar 1933 in kürzester Zeit 604
Hannover/Hannover-Drück, Politische Justiz (Fn. 500/C.), S. 301 ff. Rasehorn, Rechtspolitik (Fn. 576/C.), S. 425. 606 Drosdeck, Richterbilder (Fn. 548/C.), S. 295 ff. 607 Drosdeck, Richterbilder (Fn. 548/C.), S. 321 ff. 608 Näher zum Inhalt und der Geschichte des Dienststrafrechts in Preußen Ende der Weimarer Republik: F. Eichhoff, Die Umgestaltung des Dienststrafrechts, in: DJZ 1932, Sp. 142 ff. 609 Grundlegend: Gruchmann, Justiz im Dritten Reich 1933–1940, Anpassung und Unterwerfung in der Ära Gürtner, 3. Aufl., München 2001, insbesondere S. 84 ff. und S. 931 ff.; Kern, Gerichtsverfassung (Fn. 282/C.), S. 197 ff. 605
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beseitigt, wenn auch der Justizaufbau als bürgerliche Fassade stehen blieb. So wurden unmittelbar nach der Machtergreifung, der Schutz durch Grundrechte, viele rechtsstaatliche Grundsätze (nulla poena sine lege; Richtervorbehalt bei Freiheitsentziehungen, die Gewaltenteilung) und die persönliche Unabhängigkeit der Richter – die sachliche Unabhängigkeit bestand formal fort610 – beseitigt. Richter, insbesondere jüdische und politisch missliebige, konnten „ohne Rücksicht auf wohlerworbene Rechte“ und „ohne Einleitung vorgeschriebener Verfahren“ aus dem Amt entfernt werden und wurden es611. Am 25.04.1933 wurde Hans Frank von Reichspräsident von Hindenburg zum „Reichskommissar für die Gleichschaltung der Justiz und für die Erneuerung der Rechtsordnung“ ernannt. Dieser setzte im Wesentlichen den weiteren Umgestaltungsprozess durch. Die „Verreichlichung“ der Justizhoheit wurde 1934/1935 vollzogen612. Auf der Grundlage der Prinzipien des „völkischen Führerstaates“ sowie der „Einheit und Unteilbarkeit des Reiches“ wurde Hitler 1942 zum „obersten Richter“ und „obersten Gerichtsherrn“ 613 ausgerufen. Dem Führerprinzip folgend wurde die Geschäftsverteilung durch die Präsidien aufgehoben (1935/1937) und der Justizverwaltung übertragen614. Der gesetzliche Richter wurde durch Wahlgerichtsstände im Strafrecht unterlaufen. Durch außerordentliche Beschwerden und Nichtigkeitsbeschwerde der Staatsanwaltschaft wurde die sachliche Unabhängigkeit im Verfahrenswege ebenso aufgeweicht wie durch die seit 1939 bestehende Möglichkeit, durch den Oberreichsanwalt jedes strafrechtlich Urteil einer erneuten Überprüfung beim Reichsgericht unterziehen lassen. Bei Zivilurteilen bestand die Möglichkeit der erleichterten Wiederauf610 Kern, Gerichtsverfassung (Fn. 282/C.), S. 219 und S. 241, dabei wird überwiegend von Weisungsfreiheit gesprochen aber betont, dass die Rechtsauslegung von der nationalsozialistischen Weltanschauung getragen sein musste. 611 Im April 1933 wurde auf der Grundlage des Gesetzes zur „Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ (RGBl. I. S. 175) befristet bis 30.09.1933 die politische Gleichschaltung der Richter ins Werk gesetzt. Dort hieß es: § 3 „Beamte, die nicht arischer Abstammung sind, sind in den Ruhestand (. . .) zu versetzen“. § 4: „Beamte, die nach ihrer bisherigen politischen Betätigung nicht die Gewähr dafür bieten, daß sie jederzeit rückhaltlos für den nationalen Staat eintreten, können aus dem Dienst entlassen werden“ § 5: „Jeder Beamte muß sich die Versetzung in ein anderes Amt (. . .) gefallen lassen, wenn es das dienstliche Bedürfnis erfordert.“ Auf dieser Grundlage wurden 97 „politisch unzuverlässige“ Richter entlassen. 27 Richter kamen dem durch einen Entlassungsantrag zuvor. 311 jüdische Richtern und 804 Referendare wurden beurlaubt und später entlassen. 36 Richterinnen wurden entlassen, andere in Verwaltungen versetzt. vgl. auch R. Angermund, Deutsche Richterschaft 1919–1945, Frankfurt/Main 1990, S. 50 ff. Gruchmann, Justiz im Dritten Reich (Fn. 609/C.), S. 124 ff. Kern, Gerichtsverfassung (Fn. 282/C.), S. 232. 612 Abgeschlossen im April 1935: Kern, Gerichtsverfassung (Fn. 282/C.), S. 214 f. 613 Reichstagsbeschluss vom 26.04.1942 abgedruckt in DJ 1942, 283; vgl. hierzu auch den Führererlass vom 20.08.1942 abgedruckt in: BMJ, Im Namen des Volkes (Fn. 505/C.), S. 268. 614 Kern, Gerichtsverfassung (Fn. 282/C.), S. 221 ff.
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nahme des Verfahrens615. Rechtsmittel wurden beschränkt616 und ehemals gerichtliche Zuständigkeiten auf Behörden, insbesondere auf die Polizei617, übertragen bzw. ihnen von Gerichten zugewiesen618. Eine Fülle von Sondergerichten entstand, wie z. B. 1933 die Sondergerichte für Strafsachen619 und die „Erbgesundheitsgerichte“ 620, 1934 der Volksgerichtshof (seit 1936 „ordentliches Gericht“), das Reichskriegsgericht (1936) und 1939 Sondergerichte für SS-Angehörige621, weshalb deren Treiben nicht mehr der allgemeinen Justiz unterlag. Beim Reichsgericht wurde ein „Besonderer Strafsenat“ eingerichtet. Kriegsbedingt eröffnete die Verordnung auf dem Gebiet der Gerichtsverfassung und der Rechtspflege vom 01.09.1939 die Möglichkeit, Gerichtsstrukturen zu verändern und Richter anderweitig einzusetzen. Dies führte auch zu einer zunehmenden Auflösung des Kammerprinzips zugunsten des Einzelrichterprinzips622. Der Einsatz von Schöffen und Geschworenen fiel weitgehend weg623. bb) Richterpflichten und -haltungen Die Richterschaft der Weimarer Republik war für die Forderungen der neuen Machthaber besonders anfällig. Krisenangst, Korpsgeist und angepasstes Verhalten sowie eine affektive Bindung an Gruppen und deren Führer führten gerade bei den Richtern zu einer Verabsolutierung bestimmter weltanschaulicher Vorstellungen und „Werte“ (Nationalismus, Überhöhung des Staates), die zu einer Entwertung konkreter rechtsstaatlicher Grundsätze führten. Vor diesem Hintergrund wurde das neue System begrüßt, dem man sich bereitwillig unterwarf. Mechanismen der Selbstimmunisierung624 gegen diese Phänomene wirkten lange nach. Schon 1934 wurde eine neue, die Verreichlichung der Justizausbildung umsetzende Justizausbildungsordnung erlassen625, die auch die Maßstäbe für unter der NS-Herrschaft zu erwartende richterliche Haltungen formulierte. In ihrer Präambel heißt es: „Ziel der Ausbildung des Juristen ist die Heranziehung eines in seinem Fach gründlich vorgebildeten, charakterlich untadelhaften Dieners des 615
Kern, Gerichtsverfassung (Fn. 282/C.), S. 240. Kern, Gerichtsverfassung (Fn. 282/C.), S. 244 f. 617 Kern, Gerichtsverfassung (Fn. 282/C.), S. 202 f. und S. 242. 618 BMJ (Hrsg.), Im Namen des Deutschen Volkes, S. 263 ff. 619 Vgl. Müller, Furchtbare Juristen (Fn. 17/A.), S. 59 f. und S. 158 ff. 620 Müller, Furchtbare Juristen (Fn. 17/A.), S. 127 ff. 621 Gruchmann, Justiz im Dritten Reich (Fn. 609/C.), S. 535 ff. 622 Kern, Gerichtsverfassung (Fn. 282/C.), S. 242 f. 623 Kern, Gerichtsverfassung (Fn. 282/C.), S. 243. 624 Baltzer, Gespenst (Fn. 69/C.), KritV 2008, S. 486. 625 RGBl. I S. 727; hierzu auch www.geschichte-der-juristenausbildung.de, Stand: 25.05.2015. 616
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Rechts, der im Volk und mit ihm lebt und ihm bei der rechtlichen Gestaltung seines Lebens ein unbestechlicher und zielsicherer Helfer und Führer sein will und kann. Um dies zu erreichen, muss die Ausbildung den ganzen Menschen ergreifen, Körper und Geist zu gutem Zweiklang bringen, den Charakter festigen und den Willen stärken, die Volksgemeinschaft im jungen Menschen zu unverlierbarem Erlebnis gestalten, ihm eine umfassende Bildung vermitteln und auf dieser Grundlage ein gediegenes fachliches Können aufbauen.“ Hier zeigt sich, wie das neue Regime künftig den nicht mehr dem bürgerlichen Rechtsstaat verpflichteten „Rechtswahrer“ sah. Von Seiten der NS-Ideologie wurden auch die Richter frühzeitig als Vollzugsorgan der Bewegung verstanden626. Schroer, Reichsamtsleiter des Reichsrechtsamt der NSDAP, definierte 1935 in der DRiZ den „königlichen Richter“ als „Gehilfen des Führers“. Seine Pflichten seien folgende: „Es genügt nicht nur, wie bisher, Fleiß und persönliche Sauberkeit und persönliche Treue. Der neue Richter ist in seinem Herzen, Denken, Wollen gebunden an Blut und Boden. Das Gesetz vom Lebensrecht der Nation ist oberstes Gesetz.“ 627 In den 1936 veröffentlichten nationalsozialistischen „Leitsätzen über Stellung und Aufgaben des Richters“ 628 heißt es: „Es ist nicht seine Aufgabe, eine über der Volksgemeinschaft stehende Rechtsordnung zur Anwendung zu verhelfen oder allgemeine Wertvorstellungen durchzusetzen, vielmehr hat er die konkrete völkische Gemeinschaftsordnung zu wahren, Schädlinge auszumerzen, gemeinschaftswidriges Verhalten zu ahnden und Streit unter Gemeinschaftsmitgliedern zu schlichten.“ Die Lösung des Richters vom geschriebenen Recht und von seiner methodischen Anwendung war bei der Annahme „Politik, Weltanschauung und Recht sind eins“ die zwingende 626
Vgl. zur ideologischen Ausrichtung bezügl. der Richter: M. Sunnus, Der NSRechtswahrerbund (1928–1945). Zur Geschichte der nationalsozialistischen Juristenorganisation, Frankfurt/Main 1989, S. 40 ff. Für die Zeit unmittelbar nach der Machtergreifung wurde allerdings noch strikte Gesetzesbindung verlangt: vgl. Ch. Hillgruber, „Neue Methodik“ – Ein Beitrag zur Geschichte der richterlichen Rechtsfortbildung in Deutschland, in: JZ 2008, S. 748 ff. Dies änderte sich ab 1935, nachdem missliebige Richter entfernt und das Regime seine Macht gefestigt hatte. Gesetzgeberisch flankiert wurde dies durch die Aufhebung des Analogieverbots im Strafrecht (§ 2 Abs. 1 StGB i. d. F. v. 28.06.1935, RGBl. I S. 839) und die Einführung der Grundsatzvorlage („als prozessuales Mittel der völkischen Rechtserneuerung“) durch eben dieses Gesetz in § 137 GVG, die dienstrechtlich durch § 131a GVG (Ernennung durch den RMJ) flankiert wurde. Hierzu: Bakker, Grenzen der Richtermacht, (Fn. 459/C.), S. 27 ff. 627 Nachdruck eines Beitrags in DRiZ 2010, S. 20. 628 DRW I (1936), 123; ebenso Göring in seiner Rede zum „Tag der Verreichlichung der Justiz“ (abgedruckt in DRiZ 1995, S. 188); vgl. hierzu auch die „Fünf Leitsätze für die Rechtspraxis“ von Carl Schmitt vom BNSDJ herausgegeben (abgedruckt in DRiZ 1995, S. 175). Der vierte Leitsatz lautet: „Für die Anwendung und Handhabung der Generalklauseln durch den Richter . . . sind die Grundsätze des Nationalsozialismus unmittelbar und ausschließlich maßgebend.“ Vgl. auch G. Decker, Das Leitbild des Richters im Nationalsozialismus, http://www.jurawelt.com/studenten/seminararbeiten/517 (Stand: 11.01.2016).
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Folge629. Den Bezug zum Recht stellten ideologisch aufgeladene Generalklauseln, wie „Treu und Glauben“ und „Sittlichkeit“, her. Das „gesunde Volksempfinden“ wurde zum Interpretationsmittel, zur „Rechtsquelle“ bzw. begrifflichen Vehikel, das „unvollkommene und lückenhafte“ Gesetz zur Seite zu schieben630. Freisler formulierte dies so: „Der Richter kann heute zu einer den Aufgaben des nationalsozialistischen Staates gerecht werdenden Beantwortung der Frage nach seinem Verhältnis zu Recht und Gesetz nur kommen, wenn er die Neutralität aufgibt.“ 631 Das strafrechtliche Analogieverbot wurde mit Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuchs vom 28.06.1935 (RGBl. I. S. 839) durch Änderung des § 2 StGB beseitigt, in dem die Bestrafung auch dann möglich sein sollte, wenn die Tat „nach dem Grundgedanken eines Strafgesetzes und nach gesundem Volksempfinden Bestrafung verdient“. Auch die richterliche Unabhängigkeit wurde ideologisch neu „definiert“: „Unabhängigkeit des Richters könne nicht weltanschauliche Unabhängigkeit heißen.“ 632 Dies führte zu der Forderung nach dem Führerprinzip im Spruchkörper und damit nach der Abschaffung der Abstimmung633. Auf der anderen Seite wurden die Gesetze zur „Erbgesundheit“, das „Blutschutzgesetz“ und das Reichsbürgergesetz pünktlich bzw. im nationalsozialistischen Sinne überdehnt angewendet. Curt Rothenberger, ab 1933 Hamburger Senator für Justiz, ab 1935 Präsident des Hanseatischen Oberlandesgerichts und ab 1942 Staatssekretär im Reichsministerium der Justiz, fasste diese Anforderungen an den nationalsozialistischen Richter 1942 in seinem Buch „Der deutsche Richter“ (Hamburg 1943) zusammen. Dennoch erforderte die mit dem „Führerprinzip“ nur schwer vereinbare richterliche Unabhängigkeit634 weitere Maßnahmen, um die Gleichschaltung der Justiz durchzusetzen. Vielfältige gesetzliche, exekutive und informelle Maßnahmen zur inneren Gleichschaltung der Justiz, die dort auf geringen Widerstand stieß, wurden ergriffen. Durch § 2 des Gesetzes über die Vereidigung der Beamten und Soldaten der Wehrmacht vom 20.08.1934 (RGBl. I S. 785) wurde auch die Dienstpflicht des Richters auf den Willen des „Führers“ ausgerichtet. Der Eid lautete: „Ich schwöre: Ich werde dem Führer des Deutschen Reiches und Volkes Adolf Hitler treu und gehorsam sein, die Gesetze beachten und meine Amtspflichten gewissenhaft erfüllen, so wahr mir Gott helfe.“ Damit waren die regelmäßig aus dem Richtereid abzuleitenden rechtsethischen Grundsätze der Treupflicht zum Führer unterworfen und damit ideologisch korrumpiert. Die her629 Kern, Gerichtsverfassung (Fn. 282/C.), S. 242: Kann-Bestimmungen und Freistellung von der Einhaltung des Verfahrensrechts. Vgl. den Antrittserlass des Reichsjustizministers Thierack von 1942, hierzu Kern, Gerichtsverfassung (Fn. 282/C.), S. 268. 630 Hattenhauer, Wandlungen (Fn. 456/C.), S. 26 ff. 631 R. Freisler, in: DJ 1935, S. 241. 632 Kern, Gerichtsverfassung (Fn. 282/C.), S. 279. 633 Kern, Gerichtsverfassung (Fn. 282/C.), S. 255 ff. 634 Hierzu Willoweit, Verfassungsgeschichte (Fn. 264/C.), S. 348.
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kömmliche Dienstaufsicht mit ihren Berichtspflichten und der „Vor- und Nachschau“ wurden in diesem Sinne als Mittel der Disziplinierung und Steuerung des Entscheidungsergebnisses eingesetzt635. Das bevorzugteste Mittel der Einflussnahme war die Personalsteuerung beginnend bei der Ausbildung der Referendare636. Aber auch ideologische Anleitungen, wie die Richterbriefe des Reichsjustizministers von 1942 an, versuchten die Denkweise und Rechtsauslegung der Richter zu formieren637. Die konkreten Dienstpflichten und die Ahndung ihrer Verletzung durch disziplinarische Eingriffe wurde durch die Verordnung zur vorläufigen Regelung des Dienststrafrechts im Bereich der Justizverwaltung vom 20.03.1935638 und die Reichsdienststrafordnung vom 26.01.1937 (RGBl. I S. 71) geregelt. Letztere hob in § 121 zusätzlich die ihr entgegenstehenden Richtergesetze der Länder auf. Auf der Grundlage der §§ 71 und 171 des Deutschen Beamtengesetzes vom 26.01.1937 (RGBl. I S. 39) wurden, soweit sie nicht auf der Grundlage des Gesetzes zur „Wiederherstellung“ des Berufsbeamtentums vom 07.04.1933 (RGBl. I S. 175) entlassen worden waren, nicht regimetreue oder „nicht arische“ Richter ohne Gerichtsverfahren durch Verwaltungsakt entlassen und die Sonderstellung der Richter gegenüber den Beamten beseitigt639. Bezüglich der Richter galt lediglich der Vorbehalt, dass eine Entlassung aus politischen Gründen nicht auf den sachlichen Inhalt einer in Ausübung der richterlichen Tätigkeit getroffenen Entscheidung gestützt werden konnte. Auch in der Verbandstätigkeit der Richter gab es einen schnellen und weitgehend ohne Druck vollzogenen Wandel, was Rückschlüsse auf die Haltungen der Richterschaft zulässt640. Wurde im April 1933 vom Richterbund noch ein Reichsrichtergesetz gefordert, das die Trennung des Richters vom Beamten und die Mitwirkung der Richter bei Personalentscheidungen vorsehen sollte, beschloss der Vorstand im Mai 1933, dass der Richterbund korporativ in den 1928 gegründeten Bund Nationalsozialistischer Deutscher Juristen (BNSDJ) eingegliedert wurde, der ab 1936 zum „Nationalsozialistischen Rechtswahrerbund“ (NSRB)641 umbe635 Angermund, Deutsche Richterschaft (Fn. 611/C.), S. 231 ff.; Wittreck, Verwaltung (Fn. 297/C.), S. 65. 636 Kern, Gerichtsverfassung (Fn. 282/C.), S. 204 f., S. 269 f. 637 Vgl. hierzu: Angermund, Deutsche Richterschaft (Fn. 611/C.), S. 231 ff. Boberach, Richterbriefe. Dokumente zur Beeinflussung der deutschen Rechtsprechung 1942–1944, 1975. Zu ihrem Zweck aus der Sicht der Führung: vgl. Nr. 1 der „Richterbriefe-Mitteilungen des Reichsministers der Justiz“ vom 01.10.1942 abgedruckt in: DRiZ 1995, S. 204 f. 638 RGBl. I S. 379. 639 Kern, Gerichtsverfassung (Fn. 282/C.), S. 211 f. 640 Vgl. Angermund, Deutsche Richterschaft (Fn. 611/C.), S. 56 ff. Müller, Furchtbare Juristen (Fn. 17/A.), S. 44 ff. Sunnus, NS-Rechtswahrerbund (Fn. 626/C.), S. 55 ff. P. Weber, Machtergreifung und Deutscher Richterbund 1933, in: DRiZ 1983, S. 143 f. Wrobel, Deutscher Richterbund (Fn. 599/C.), DRiZ 1983, S. 157 ff. 641 Sunnus, NS-Rechtswahrerbund (Fn. 626/C.), S. 40; insgesamt auch zu seiner Entwicklung, Struktur und Stellung in der NS-Bewegung und im NS-Staat.
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nannt wurde. Am 01.10.1933 beschwor eine große Anzahl von Richtern bei einer Jahrestagung des BNSDJ vor dem Reichsgericht in Leipzig ihre Treue zu Hitler642. Die Verbandszeitschrift kommentierte das Ermächtigungsgesetz oder die einem Verbot zuvorkommende Selbstauflösung des Republikanischen Richterbundes positiv, verschwieg aber das berufliche Schicksal der jüdischen Kollegen643. Die neuen/alten Berufspflichten und Richterideale hießen „Staatserhaltung“, „Dienst am Führer“ und „germanisches Richterideal“ 644. Mit der Auflösung des Richterbundes zum 31.12.1933 war die Selbstgleichschaltung vollzogen. Auch in der Rechtsprechung war eine solche feststellbar, etwa durch die Reduzierung des Prüfungsprogramms durch die Gerichte selbst645, die Umdeutung von Rechtsbegriffen646, insbesondere des Bürgerlichen Gesetzbuches647, oder die exzessive Anwendung des „Blutschutzgesetzes“ 648. Während der NS-Zeit wurden etwa 35.000 Todesurteile von unterschiedlichen Gerichten649 gefällt, was nach 1945 den Vorwurf begründete, Richter hätten den „Dolch unter dem Talar geführt“ 650. Auch von „Blutjustiz“ wird gesprochen651. Die handgreiflichste Perversion richterlichen Handelns652 war die Gründung und Tätigkeit des Volksgerichtshofs (ab 1934653). Dies geschah zum einen als Reaktion auf den – nach Ansicht der Führung – „unbefriedigenden“ Ausgang des Reichstagsbrandprozesses. Andererseits gab es auch schon vor 1932 Hinweise, dass nach Ansicht der NSDAP ein eigenständiger Gerichtshof die politischen Delikte aburteilen sollte. Er war in erster Linie zuständig für Hoch- und Landesverrat sowie für andere politische Delikte (Kriegssonderstrafrecht, Feindbegünstigung, Wehrkraftzersetzung etc.). Besetzt war er u. a. mit Laienbeisitzern aus der 642 P. Landau, Die deutschen Juristen und der nationalsozialistische Deutsche Juristentag in Leipzig 1933, in: ZNR 16 (1994), S. 373 ff.; Eckertz-Höfer, Guter Richter (Fn. 119/A.), S. 26. 643 Weber, Machtergreifung (Fn. 640/C.), DRiZ 1983, S. 143. 644 Wrobel, Deutscher Richterbund (Fn. 599/C.), DRiZ 1983, S. 157 ff. 645 Vgl. z. B. RGZ 152, S. 301; 154, S. 193, 200. 646 Grundlegend Rüthers, Unbegrenzte Auslegung (Fn. 592/C.), S. 175 ff. 647 Insbesondere in Verfahren gegen jüdische Bürger: hierzu Angermund, Deutsche Richterschaft (Fn. 611/C.), S. 109 ff. 648 Hierzu Angermund, Deutsche Richterschaft (Fn. 611/C.), S. 125 ff. 649 Vgl. zu den unterschiedlichen Schätzungen Müller, Furchtbare Juristen (Fn. 17/ A.), S. 201; Rasehorn, Rechtspolitik (Fn. 576/C.), S. 408; Wagner, Richter (Fn. 6/A.), S. 79. 650 Aus der Urteilsbegründung zu den Nürnberger Juristenprozessen, vgl. hierzu K. Kastner, Der Dolch des Mörders war unter der Robe des Juristen“, in: DRiZ 2011, S. 5. 651 BGHSt 41, 317 (339 f.). 652 Haft, Waagschale (Fn. 270/C.), S. 22 ff. 653 Art. III des Gesetzes vom 30.04.1934, RGBl. I S. 345 ff.; vgl. Müller, Furchtbare Juristen (Fn. 17/A.), S. 146 ff. auch zum Folgenden.
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NSDAP oder ihren Unterorganisationen. Urteile standen zumeist vor der mündlichen Verhandlung fest, die tribunalartig als Schauprozesse durchgeführt wurden. Die üblichen Verfahrensrechte waren deutlich eingeschränkt. Die Angeklagten wurden – insbesondere nach 1942 durch den zweiten Präsidenten Freisler – beschimpft, überschrien und ständig bei ihren Ausführungen unterbrochen. Daneben sind nur wenige Beispiele von rechtsstaatlicher Haltung von Richtern überliefert654, wie etwa die Eidesverweigerung des Staatsanwaltes Gauger, der Einsatz des Reichsgerichtsrats von Dohnanyi für den politischen Widerstand oder die Strafanzeige wegen Mordes aufgrund des Euthanasieprogramms in seinem Bezirk durch den Amtsgerichtsrat Kreyssig aus Flöha655. Es fällt auch auf, dass Hitler, der in einzelnen Fällen direkt eingriff (Fall Schlitt), und die Führung des Reichsjustizministeriums ab 1942 in aggressiver Weise versuchten, die offenbar doch nicht ganz ideologisch ausgerichtete Justiz noch stärker auf ihren Kurs zu zwingen656. Ab diesem Zeitpunkt war für Beförderungsämter auch die Parteimitgliedschaft zwingend. 1944 wurde ein Strafsenat am Reichsgericht aufgelöst, weil er in der Causa Niemöller den informellen Anweisungen aus der NS-Führung nicht folgen wollte. f) Besatzungszeit: 1945 bis 1949 Die Besatzungszeit diente im Osten wie im Westen – in unterschiedlicher Weise – der Aufarbeitung des moralischen Versagens der Justiz in der Weimarer Republik und der NS-Zeit und der Vorbereitung des Justizaufbaus unter der jeweiligen Systemperspektive. Die DDR und die Bundesrepublik gründeten ihre Justiz nach den durch die jeweiligen Besatzungsmächte vorgegebenen Modellen. Dabei stand neben dem strukturellen Aufbau im Wesentlichen die Frage im Mittelpunkt, wie mit belasteten Richtern umzugehen sei. aa) Westliche Besatzungszonen Nach der Schließung aller Gerichte und Suspendierung der Richter und Staatsanwälte wurde die Strafrechtspflege zunächst durch die Besatzungsmächte betrieben657. 1945 wurden die Gerichte auf der Grundlage des Gesetzes Nr. 4 des Alliierten Kontrollrats vom 30.10.1945 von den Amts- bis zu den Oberlandesgerichten offiziell wieder geöffnet, nachdem Ende Mai/Juni 1945 bereits erste Gerichte tätig geworden waren. Die Besatzungsmächte ordneten in diesem Zusammenhang zwar an, dass alle Richter und Staatsanwälte, die aktiv für die NSDAP eingetre654 655
Müller, Furchtbare Juristen (Fn. 17/A.), S. 197 ff. Müller, Furchtbare Juristen (Fn. 17/A.), S. 198 ff.; Wagner, Richter (Fn. 6/A.),
S. 12. 656 657
Wagner, Richter (Fn. 6/A.), S. 78 f. Vgl. den Überblick bei Frenzel, Selbstverständnis der Justiz (Fn. 575/C.), S. 15 ff.
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ten sind, aus dem Dienst entfernt wurden. Nach einer Genehmigung durch die Militärregierungen wurden die bisher tätigen Richter allerdings sukzessive wieder zugelassen658. Zunächst bestand aufgrund der genannten Maßnahmen und den kriegsbedingten Verlusten ein erheblicher Richtermangel. Infolgedessen wurden die Anforderungen an die Unbelastetheit der früheren Richter immer weiter gesenkt mit der Folge, dass bis zur Gründung der Bundesrepublik und auf der Grundlage des Ausführungsgesetzes zu Art. 131 GG darüber hinaus ein großer Teil des früheren Justizpersonals in ihre Ämter zurückkehrte659. Die Entnazifizierung war in den westlichen Besatzungszonen gescheitert660, weshalb der vorbeschriebene Prozess auch als „Renazifizierung“ der Justiz bezeichnet wurde661. In der britische Besatzungszone wurde allerdings ein Zentralausschuss der OLG-Präsidenten und am 01.10.1946 ein Zentraljustizamt in Hamburg sowie 1947 ein Oberster Gerichtshof für die britische Zone in Köln gebildet, der personell wie in seiner Entscheidungspraxis mit der Vergangenheit brach662. Die Verwaltungsgerichte wurden ab 1946 neu gegründet. In der britischen Besatzungszone bestand insoweit ein Verbot der politischen Betätigung von Verwaltungsrichtern (§ 17 Abs. 2 der VO 165). Diese Richter verloren auch ihr passives Wahlrecht. Die Landesverfassungen seit 1946 stellten die richterliche Unabhängigkeit wieder her663 und sahen die Gründung von Verfassungsgerichten vor. Die Besatzungsmächte nahmen über „Allgemeine Anweisungen“ aber Einfluss auf die richterliche Tätigkeit, insbesondere im Strafrecht664. Die Juristentage ab 1946 beschäftigten sich in besonderer Weise mit der künftigen Stellung der Richter665. Vom Februar bis Dezember 1947 fanden im Rahmen der „Nürnberger Prozesse“ Verfahren gegen Juristen, insbesondere auch gegen Richter statt666, die maßgebliche Funktionen in der NS-Justiz wahrgenommen hatten. Vier Angeklagte wurden zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt, sechs zu zeitigen Zuchthausstrafen und vier weitere wurden freigesprochen. Wegen der späteren Recht658 K. D. Godau-Schüttke, Ich habe nur dem Recht gedient – Renazifizierung der Schleswig-Holsteinischen Justiz nach 1945, Baden-Baden 1993, S. 27 ff.; Kern, Gerichtsverfassung (Fn. 282/C.), S. 287. 659 Godau-Schüttke, Recht gedient (Fn. 658/C.), S. 28 f., 129 ff.; Müller, Furchtbare Juristen (Fn. 17/A.), S. 204 ff., S. 210 ff. 660 Frenzel, Selbstverständnis der Justiz (Fn. 575/C.), S. 23, 29 und 32. 661 Godau-Schüttke, Recht gedient (Fn. 658/C.). 662 Müller, Furchtbare Juristen (Fn. 17/A.), S. 211 663 Kern, Gerichtsverfassung (Fn. 282/C.), S. 285 f. 664 Kern, Gerichtsverfassung (Fn. 282/C.), S. 314 ff. 665 Kern, Gerichtsverfassung (Fn. 282/C.), S. 290 f. 666 BMJ (Hrsg.), Im Namen des Deutschen Volkes, S. 331 ff.; Kastner, Dolch des Mörders (Fn 650/C.), DRiZ 2011, S. 5, 6 ff. Vgl. auch Müller, Furchtbare Juristen (Fn. 17/A.), S. 270 ff. H. Ostendorf/H. ter Veen, Das „Nürnberger Juristenurteil“. Eine kommentierte Dokumentation. Frankfurt/New York 1985. H. Ostendorf, Das Nürnberger Juristenurteil, in: DRiZ 1994, S. 184 ff.
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sprechung des BGH zum Rechtsbeugungstatbestand, der dadurch zum immunisierenden Richterprivileg wurde667, waren das einige der wenigen Verurteilungen wegen nationalsozialistischer Justizverbrechen überhaupt668. bb) Sowjetische Besatzungszone669 Unter der Parole der „Demokratisierung der Justiz“ wurde das bisherige Justizpersonal, das Mitglied in der NSDAP gewesen ist670 oder politisch missliebig war, weitgehend entfernt und das Justizsystem ab 1947/48 nach sowjetischem Vorbild umgestaltet671. Hierüber wachte neben der SMAD die länderübergreifende Deutsche Zentralverwaltung der Justiz (DJV)672. Die Richter wurden als „Volksrichter“ 673 vor allem aus der Arbeiterschaft rekrutiert und insgesamt der Einsatz von Laienrichter verstärkt, wobei weder die fachliche Qualifikation674 noch die persönliche Unabhängigkeit der Richter gesichert war675. Eine konsequente Personalpolitik führte ab 1948 zur Verdrängung der nichtkommunistischen Kräfte aus der Justiz und ihrer Verwaltung676. Die Generalstaatsanwälte und die OLG-Präsidenten wurden zunächst durch die Landtage gewählt und den Landtagen eine umfassende Kontrolle über die Rechtspflege zugewiesen677. Verfassungsgerichte wurden nicht errichtet und die – zum Teil wiedergegründeten – Verwaltungsgerichte 1947 geschlossen und 1952 ganz aufgelöst. Aus- und Weiterbildung der Volksrichter waren stark ideologisch geprägt. Unparteilichkeit 667 Vgl. auch unten zu Richterskandalen sowie zusammenfassend: A. Koch, Zur Auslegung des Rechtsbeugungstatbestands nach Systemwechseln, in: ZIS 2011, S. 470 ff. Eisenhardt, Rechtsgeschichte (Fn. 295/C.), S. 500. 668 Baltzer, Gespenst (Fn. 69/C.), KritV 2008, S. 486; J. Friedrich, Freispruch für die Nazi-Justiz. Die Urteile gegen NS-Richter seit 1948. Eine Dokumentation, Reinbek 1983, sammelte wesentliche Entscheidungen gegen NS-Richter und stellte die Entwicklung zu einer weitgehenden Straffreiheit dar. 669 Grundlegend: H. Wentker, Justiz in der SBZ/DDR 1945–1953, München 2001; Frenzel, Selbstverständnis der Justiz (Fn. 575/C.), S. 32 ff.; Kern, Gerichtsverfassung (Fn. 282/C.), S. 307 ff.; H. Wentker, Die Neuordnung des Justizwesens in der SBZ/ DDR 1945–1952/53 in: R. Engelmann/C. Vollnhals, Justiz im Dienst der Parteiherrschaft, 2. Aufl., Berlin 2000, S. 93 ff. 670 SMAD-Befehl Nr. 49 vom 04.09.1945; Wentker, Neuordnung (Fn. 669/C.), S. 96 f. 671 Wagner, Richter (Fn. 6/A.), S. 119 f.; Wentker, Neuordnung (Fn. 669/C.), S. 100 ff. 672 Hierzu in Lorenz, Die Deutsche Zentralverwaltung der Justiz (DJV) und die SMAD in der sowjetischen Besatzungszone 1945–49, in: Rottleuthner, Steuerung der Justiz in der DDR, S. 135 ff.; vgl. auch BMJ, Im Namen des Volkes (Fn. 505/C.), S. 19 ff. 673 Hierzu im Einzelnen: Feth, Die Volksrichter, in: Rottleuthner, Steuerung der Justiz in der DDR, S. 351 ff. 674 BMJ, Im Namen des Volkes (Fn. 505/C.), S. 29 ff. 675 Wagner, Richter (Fn. 6/A.), S. 121. 676 Wentker, Neuordnung (Fn. 669/C.), S. 102 ff. 677 Art. 9 Abs. 2 VerfBrandenburg (1947); Art. 22 Abs. 2 VerfMecklenburg (1947); Art. 26 Abs. 1 Satz 2 VerfSachsen (1947).
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wurde durch „sozialistische Parteilichkeit“ ersetzt678, deren Umsetzung insbesondere in der Strafjustiz politisch überwacht und gesteuert wurde679. Auf dieser Grundlage stand die Justiz der DDR. g) DDR 1949 bis 1990 aa) Rechtsprechungsstrukturen Die in Art. 127 der Verfassung von 1949 und § 5 GVG-DDR (1952)680 gewährleistete sachliche Unabhängigkeit war aufgrund von informellen Weisungen (Richterbriefe) und aufgrund der Wahl der Richter, der Abberufungspraxis und der politischen Einflussnahme – also wegen der fehlenden persönlichen Unabhängigkeit – tatsächlich nicht gesichert681. Die Vorstellung von der „Einheit der Staatsgewalt“ führte zwingend zur „Einheit der Rechtsprechung“ 682. Die richterrechtlichen Bestimmungen und die Steuerungsorgane der Justiz sicherten diese Vorstellung durch die Abhängigkeit der Richter von der Exekutive bzw. der SED683. Die Richter des Obersten Gerichts wurden gewählt und unterlagen – wie die einfachen Richter – der Abberufung bei „gröblicher Verletzung der Pflichten“ 684. Wurden die einfachen Richter zunächst noch vom Minister der Justiz ernannt, wurden sie ab 1959 zur „Stärkung der Verantwortlichkeit der Richter vor dem Volk“ auf Kreis- und Bezirksebene von den örtlichen Volksvertretungen gewählt685. Die Justiz war während der gesamten Zeit der DDR stark politisch gesteuert, die Richter weder persönlich noch sachlich unabhängig, sondern Funktionäre des „Arbeiter- und Bauernstaates“. Vor diesen Hintergrund waren auch die Regelungen zur Unabhängigkeit der Richter in Art. 96 Abs. 1 DDR-Verfassung 1968/1974 zu sehen. Außerdem bestimmte Art. 90 Abs. 1 der Verfassung von 1968: „Die Rechtspflege dient der Durchführung der sozialistischen Gesetzlichkeit, dem Schutz und der Entwicklung der Deutschen Demokratischen Republik und ihrer Staats- und Gesellschaftsordnung.“ Das sozialistische Recht als Ausdruck des zum Gesetz erhobenen „Willens der Arbeiterklasse“ sollte so klas678
Wentker, Justiz (Fn. 669/C.), S. 349 ff. Wentker, Justiz (Fn. 669/C.), S. 408 ff., S. 460 ff. und S. 485 ff. 680 Vgl. zu der normativen Steuerung der Richter im Einzelnen: Baer, Rechtsquellen der DDR – Steuerung auf der normativ-symbolischen Ebene, in: Rottleuthner, Steuerung der Justiz in der DDR, S. 67 ff. 681 Wentker, Neuordnung (Fn. 669/C.), S. 113 f. Willoweit, Verfassungsgeschichte (Fn. 264/C.), S. 421. 682 H. Rottleuthner, Steuerung der Justiz in der DDR, Einflussnahme der Politik auf Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte, Köln 1994, S. 26. 683 Vgl. hierzu Rottleuthner, Steuerung der Justiz in der DDR (Fn. 682/C.), dort zu den Formen und Mechanismen der Steuerung, insbesondere S. 27 ff. 684 § 16 und 17 DDR-GVG 1952, GBl. 983; erweitert durch § 7 des Gesetzes vom 01.10.1959, GBl. I S. 751. 685 Gesetz vom 01.10.1959, GBl. I S. 751. 679
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senbewusst verwirklicht werden. Das Gerichtsverfassungsgesetz von 1963686 bestimmte in § 1 Abs. 3 Satz 2: „Ihre Unabhängigkeit beruht auf der festen Verbindung mit dem Volk und wird durch ein demokratisches System der Leitung und Kontrolle der Rechtsprechung gesichert.“ bb) Richterpflichten und -haltungen Die nach 1949 erlassenen justizbezogenen Bestimmungen erlegten den Richtern eine Fülle von Verpflichtungen auf. Hatte sich das Gerichtsverfassungsgesetz vom Oktober 1952 bei der Aufgabenbeschreibung der Rechtsprechung (§ 2) und den Anforderungen an die Persönlichkeit des Richters (§ 11 Abs. 1) sowie die Disziplinarordnung für Richter vom März 1953687 in ideologischer Hinsicht noch verbale Zurückhaltung auferlegt, änderte sich dies nach der Babelsberger Konferenz von 1958, bei der von Walter Ulbricht das Ziel ausgegeben wurde, sich künftig noch stärker vom „bürgerlichen“ Rechtsverständnis abzugrenzen. So wurde im Gesetz zur Änderung und Ergänzung des Gerichtsverfassungsgesetzes von 1959688 seine eidesförmige Verpflichtung geregelt (§ 3), die unter anderem die Forderung an den Richter enthielt, sich „jederzeit vorbehaltlos für den Sieg des Sozialismus in der DDR“ einzusetzen (vgl. auch § 1 Abs. 1 zu den Persönlichkeitsmerkmalen des Richters). Die Richter hatten den örtlichen Organen über ihre Tätigkeit Rechenschaft zu legen und mit ihnen eng zusammenzuarbeiten (§ 4 und § 13 GVG-DDR 1959). Außerdem waren sie verpflichtet „unter den Werktätigen“ politisch zu wirken (§ 14). Sie unterlagen gemäß § 15 der „Anleitung und Kontrolle“ durch das Ministerium der Justiz (später § 21 GVG-DDR), aber auch des Obersten Gerichts (Art. 93 Abs. 2 DDR-Verf 1968/1974)689, das seinerseits der Volkskammer und zwischen ihren Tagungen dem Staatsrat verantwortlich war (Art. 93 Abs. 3 DDR-Verf). Durch das Änderungsgesetz vom 1.10.1959 wurden erstmals die „Grundpflichten des Richters“ ausführlich geregelt, nämlich die Pflicht, „nach den Grundsätzen der sozialistischen Moral zu leben sowie aktiv und vorbildlich beim sozialistischen Aufbau mitzuwirken; sich politisch und fachlich ständig weiterzubilden; in ihrer Rechtsprechung die sozialistische Gesetzlichkeit durchzusetzen und Wachsamkeit zu üben; sich aktiv an der politischen Arbeit unter den Werktätigen zu beteiligen; in allen dienstlichen Angelegenheiten Verschwiegenheit zu wahren“. Im Gerichtsverfassungsgesetz
686 GBl. I 1963, S. 45; § 5 Abs. 2 GVG-DDR von 1974 formuliert demgegenüber nur noch die Rechtsbindung. 687 GBl. I S. 983. 688 GBl. I S. 753. 689 Art. 93 Abs. 2 DDR-Verf 1974; § 20 GVG-DDR (1974); Rottleuthner, Steuerung der Justiz in der DDR (Fn. 682/C.), S. 27 f. sowie Gängel, Das Oberste Gericht der DDR – Leitungsorgan der Rechtsprechung, in: Rottleuthner, Steuerung der Justiz in der DDR (Fn. 682/C.), S. 253 ff.
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von 1963690 (§ 46) wurden diese Pflichten weiter ausgebaut – die Pflicht zur Unparteilichkeit steht neben der Pflicht zur engen Verbindung mit den Werktätigen – und ergänzt u. a. um die Pflicht zur „Staatsdisziplin“. Nach § 45 DDRGVG (1963) bestand die Verpflichtung, „der Arbeiter- und Bauernmacht treu ergeben zu sein“. Auch die Grundsätze der „sozialistischen Moral“ wurden zu rechtlich relevanten Dienstpflichten, die disziplinarisch geahndet werden konnten; denn der fortgeltende § 20 GVG-DDR (1952) (vgl. auch § 58 GVG-DDR [1963]) bestimmte: „Der Richter ist in erhöhtem Maße verpflichtet, sich dienstlich und außerdienstlich untadelig zu verhalten.“ 691 Er konnte wegen Handlungen, die seines Amtes unwürdig waren, aber eine Abberufung nicht rechtfertigen, vor einem Disziplinarausschuss zur Verantwortung gezogen werden692. Eine Abwahl war bei einem „Pflichtenverstoß“ möglich (§ 57 Abs. 3 GVG-DDR 1963). Das GVG von 1974693 nahm verbal die ideologischen Anforderungen an den Richter zurück, wenn auch die Treue zu „seinem sozialistischen Staat“ immer noch zu den Amtsvoraussetzungen zählte (vgl. § 44 Abs. 1) und die Grundpflichten (§ 45) als Anforderungen im sozialistischen Sinne definiert wurden (vgl. auch den Wortlaut der Verpflichtung nach § 49 Abs. 4). Das Ethos des sozialistischen Richters wird in der Vorbemerkung zur Disziplinarordnung für Richter vom 19.03.1953694 in besonderer Weise zusammengefasst: „Der mit der Rechtsprechung beauftragte Richter muss sich des ihm erwiesenen Vertrauens würdig erweisen; er muss ein leuchtendes Vorbild bei Erfüllung aller staatsbürgerlicher Pflichten sein; er muss gewissenhaft und unbeugsam die Gesetze der Deutschen Demokratischen Republik einhalten. Nur ein uneingeschränktes Beachten dieser Pflichten und ein in jeder Hinsicht vorbildliches moralisches Verhalten befähigen den Richter, andere zu richten und zu lehren. Nachlässiges und unwürdiges Verhalten der Richter untergräbt die Achtung der Bürger vor Gesetz und Gericht, gefährdet die staatliche Ordnung und verletzt die Rechte der Bürger. Deshalb ist eine strenge Verantwortlichkeit der Richter unbedingte Voraussetzung für eine ordnungsgemäße Tätigkeit der Gerichte.“ Infolgedessen erstreckte § 1 der Disziplinarordnung das Dienstvergehen auf die Arbeitsdisziplin, nachlässiges Verhalten und unwürdiges Verhalten innerhalb und außerhalb des Dienstes. Die Disziplinarordnung von 1963695 bezeichnete die Richter als „gewählte Funktionäre des sozialistischen Staates“, die „die ständige Entwicklung ihrer Persönlichkeit
690
GBl. I 1963, S. 45 ff. Zu den moralischen Verstößen: Lorenz, Das Disziplinarrecht für Berufsrichter in der DDR von 1949 bis 1963, in: Rottleuthner, Steuerung der Justiz in der DDR (Fn. 683/C.), S. 379, 383. 692 Vgl. zum Disziplinarverfahren und seine Entwicklung Lorenz, Das Disziplinarrecht für Berufsrichter in der DDR von 1949 bis 1963, a. a. O., S. 379 ff. 693 GBl. I S. 457. 694 GBl. I S. 467. 695 GBl. II S. 777. 691
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und ihre Erziehung zur bewussten und freiwilligen Disziplin“ zu betreiben hätten. Ein „Mittel der Erziehung“ sei, „wenn andere Erziehungsmaßnahmen nicht ausreichen“, die disziplinarische Verantwortlichkeit. Der patriarchal-autoritäre Charakter kommt insoweit sprachlich ungeschminkt zum Ausdruck. Diesen Charakter hatte die Disziplinarordnung vom 21.04.1978696 nicht mehr. Hier steht die Sicherung der in § 45 GVG-DDR (1974) definierten Grundpflichten im Vordergrund. Wie sich die ideologische Ausrichtung der Richterpflichten auf konkrete Verfahren auswirkte, zeigt die Durchführung der Waldheimer Prozesse 1950, bei denen „Nazi- und Kriegsverbrecher“ – in 32 Fällen mit der Todesstrafe – abgeurteilt wurden: zumeist ohne Öffentlichkeit, im 30 Minuten Takt, ohne Verteidiger und Zeugen, von ausgewählten Richtern697. Ähnliches galt für den Dessauer Schauprozess. Die Prozesse wegen politischer Straftaten (17. Juni, „Boykotthetze“, Revisionistenprozesse, Republikflucht) waren – auch nach der stalinistischen Phase – ideologisch geprägt, teilweise vom MfS gesteuert und in Verfahren wie im Urteil nicht rechtsstaatlich. h) Bundesrepublik Deutschland nach 1949 Die Erfahrungen mit der Richterschaft in der NS-Zeit haben sich nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland bei der Diskussion über die Grundstrukturen der Rechtspflege und über die Gestaltung des Richterdienstrechts niedergeschlagen. Zentraler Ausgangspunkt der Reformüberlegungen war dabei gerade das „moralische“ Versagen der Richterschaft698. Die daraus abgeleiteten und in den folgenden Jahrzehnten formulierten rechtlichen Pflichten der Richter, die die Grenze zum moralischen Normenfeld im Sinne der richterlichen Ethik bestimmen, bleiben zwar der Untersuchung in den Kapiteln D. und E. überlassen. Im Folgenden sind aber die Diskussionen und Prinzipien nachzuzeichnen, die das „neue“ Richterbild prägen sollten. Der Parlamentarische Rat, insbesondere sein Rechtspflegeausschuss699, hat sich bei der Vorbereitung des Grundgesetzes intensiv mit der Frage auseinander gesetzt, wie künftig die Rechtspflege unter den Bedingungen einer freiheitlichen und rechtsstaatlichen Ordnung zu organisieren sei700. Der Schwerpunkt lag dabei 696
GBl. I S. 179. BMJ, Im Namen des Volkes (Fn. 505/C.), S. 61 ff. 698 Vgl. hierzu die Thesen von B. Rüthers, Richterliche Ethik im 21. Jahrhundert – Lehren aus der Vergangenheit? unter: www.lsg.berlin.brandenburg.de/sixcms/media. php/4417/ThesenRuethers.pdf, Stand: 25.09.2012. 699 Zu dessen Zusammensetzung und Verfahren im Einzelnen: K. D. Godau-Schüttke, Der Neue Richtertyp des Parlamentarischen Rates, in: SchlHAnz. 2009, S. 105 ff. 700 Vgl. hierzu die sehr eingehenden Untersuchungen von S. Luik, Bemerkungen zur richterlichen Ethik aus der Perspektive des Grundgesetzes und des Deutschen Richter697
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auf der Person des Richters selbst, insbesondere darauf, welche Anforderungen an ihn als Persönlichkeit und an seine Haltung zum demokratischen Staat zu stellen sind. Hierbei wurden Grundfragen und -pflichten richterlicher Tätigkeit intensiv diskutiert und ihr rechtlicher Rahmen vorbereitet. Die Anforderungen an die Richter und an die Justiz als Ganzes ergaben sich dabei aus den historischen Erfahrungen und aus den Grundentscheidungen zur Rechtsordnung der neuen Republik. So sollte in bewusster Abkehr vom „Staat der Bürokratie“ des Kaiserreichs und vom „Staat der Gesetzgebung“ der Weimarer Reichsverfassung die „Herrschaft des Rechts“ begründet werden: Justiziable Grundrechte und erweiterter Rechtsschutz, insbesondere im Bereich der Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit, führten dazu, dass die Wahrung des Rechtsstaats des Grundgesetzes in hohem Maße den Richtern anvertraut werden sollte. Das Grundgesetz hatte mit seinen Grundentscheidungen damit die Möglichkeit der Entwicklung zum „Richterstaat“ 701 eröffnet. Die Erfahrungen der Weimarer Republik mit ihrer Richterschaft, aber auch das weitgehende berufsmoralische Versagen der Richter in der NS-Zeit stellten bei der Gründung der Bundesrepublik und während der 50er Jahre zwangsläufig die Ausbildung und die Haltung der Richter in das Zentrum der rechtspolitischen Auseinandersetzung. Zwar sollte auch der künftige Richter die klassischen Tugenden des Beamten- oder Richterethos702, wie Pflichttreue, Redlichkeit, Sorgfalt und Unbestechlichkeit erfüllen. Die Mitglieder des Parlamentarischen Rates und des Bundestages verlangten aber auch, dass Richter Mitgestalter des neuen Staates sein und nicht mehr als „Justizbeamte“ oder „richterliche Beamter“ agieren sollte. Eine Justiz, die meinte, „unpolitisch“ und „neutral“ zu sein, und in Wirklichkeit zur Republik von Weimar und ihrer demokratischen Verfassung indifferent und feindselig eingestellt war, sollte es nicht mehr geben703. So forderte Thomas Dehler eine richterliche Ethik, die sich auf das Bekenntnis zum demokratischen Staat stützt: „Die jetzige Justiz, die aus der gründlich verdorbenen Justiz des Dritten Reiches herausgewachsen ist – wir können da keine Zäsur machen – steht unter Druck. [. . .] Die Aufgabe der Auslese des richtigen, des guten Richters, ist ungeheuer schwer. Meines Erachtens ist das entscheidende, dass eine Standesethik geschaffen wird [. . .], dass es am Ende keinen Richter gibt, der sich nicht durch die Ethik seines Standes gebunden fühlt,
gesetzes, in: SchlHAnz. 2009, S. 98 ff., auf die auch im Folgenden zurückgegriffen wurde. Hierzu auch E. Kreth, Die richterliche Unabhängigkeit: Wahrung einer sich nicht selbst erfüllenden Aufgabe, DRiZ 2009, S. 198 f. 701 Luik, Bemerkungen (Fn. 700/C.), SchlHolAnz. 2009, S. 98 f. (auch zum Vorangegangenen); Maier, Dritte Gewalt (Fn. 26/A.), NJW 1989, S. 3202 ff. 702 Wagner, Richter (Fn. 6/A.), S. 83, der die Verhältnisse Ende der 50-er Jahre beschreibt. Vgl. auch Nachdruck einer Rede des BGH Präsidenten Weinkauff von 1951, in: DRiZ 2011, S. 146. 703 Luik, Bemerkungen (Fn. 700/C.), SchlHolAnz. 2009, S. 98.
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der nicht selbstverständlich die Verpflichtung gegenüber dem demokratischen Staat fühlt.“ 704 Bei der Ausarbeitung der Rechtspflege-Artikel des Grundgesetzes (Art. 92 ff. GG) entstand ein Streit darüber, ob die Richter konsequent „entpolitisiert“ 705 werden (so Thomas Dehler und Hans Eberhard Rotberg), sie insbesondere ihr aktives und passives Wahlrecht verlieren sollten, oder ob nicht gerade der „(staats-) politische“ Richter gefordert sei (so Georg August Zinn und Kurt Oppler). Oppler706 fasste in seiner Entgegnung auf Rotberg die widerstreitenden Ansichten folgendermaßen zusammen: „An die Stelle des farblosen richterlichen Beamten muss der Richter treten, der ausgestattet mit der Toga der richterlichen Unabhängigkeit sich als leidenschaftlicher Repräsentant einer neuen demokratischen und sozialen Gemeinschaft fühlt . . . Das also ist die erste Voraussetzung, die man von jedem Richter verlangen muss, die kein Lippenbekenntnis sein darf und die durchaus nicht etwa eine Selbstverständlichkeit ist: dieses leidenschaftliche Bekenntnis zur Demokratie ist umso notwendiger, als man sich eben bis 1945 nicht zur Demokratie bekannt hat. Damit befindet sich der Richter schon mitten in der politischen Arena; er muss ein politisches Geständnis ablegen und darf sich nicht auf seine unpolitische Stellung als Richter berufen. Nur wenn Rotberg unter politischem Bekenntnis Parteilichkeit verstehen sollte, lässt sich überhaupt sein Standpunkt rechtfertigen. Das eine hat aber mit dem anderen nichts zu tun. . . . Nicht Entpolitisierung lautet die Formel, sondern Einschaltung der Rechtspflege als unabhängiges Organ in den demokratischen Aufbau.“ Ziel des Rechtspflegeausschusses unter dem Vorsitz von Georg August Zinn707 war es mehrheitlich, mit der Schaffung eines besonderen Richterrechts bei den Richtern das Bewusstsein zu fördern, ein verfassungsmäßiges Organ mit besonderen Pflichten zu sein708. Zur Stärkung der inneren Unabhängigkeit sollte Wert auf die Prägung der richterethischen Haltung gelegt werden. Vor allem die Vertreter der SPD forderten insoweit: „Der hohen Privilegierung des Richters muß eine wesentlich geschärftere Verantwortung im Verhältnis zu anderen Beamten entsprechen. Er hat, gerade weil er so unabhängig ist, mehr Sorgfalt in seinem Amt anzuwenden als irgendjemand anders und er muß es sich gefallen lassen, daß man ihm peinlichere Fragen stellt, als irgendjemand anderem. [. . .] Ich glaube, daß der Charakter eines Menschen eher dadurch herangebildet wird, daß er weiß, unter Umständen für seine Entscheidung auch einstehen zu müssen, das 704 Dehler, FDP, 38. Sitzung des Hauptausschusses am 13.1.1949, in: Parlamentarischer Rat, Verhandlungen des Hauptausschusses Bonn 1948/1949, Bonn 1950, S. 477. 705 H. E. Rotberg, Entpolitisierung der Rechtspflege, in: DRZ 1947, S. 107 ff. 706 K. Oppler, Justiz und Politik, in: DRZ 1947, S. 323 ff. 707 Wagner, Richter (Fn. 6/A.), S. 204. 708 Luik, Bemerkungen (Fn. 700/C.), SchlHolAnz. 2009, S. 99; Godau-Schüttke, Der Neue Richtertyp (Fn. 699/C.), SchlHolAnz. 2009, S. 108. Siehe auch Zinn, Verhandlungen des 37. Deutschen Juristentags, S. 57 f.
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heißt seine Person und nicht nur seinen Verstand und sein fachliches Wissen in die Waagschale legen zu müssen.“ 709 Dabei ging der Parlamentarische Rat aber nicht soweit, sich ganz auf das richterliche Gewissen zu verlassen. So wurde die Bindung des Richters an „Gesetz und Gewissen“ abgelehnt710. Letzteres sei keine eigenständige Rechtsquelle. Der Abschlussbericht des Rechtspflegeausschusses stellt insoweit fest: „Damit wäre in dem Grundgesetz selbst das überaus schwierige Problem des Verhältnisses von positivem zu überpositivem bzw. gegebenenfalls von staatlichem zu ungeschriebenen vorstaatlichem Recht, das Problem von Recht und Gesetz in seiner Gesamtheit, aufgerollt worden, ohne dass darauf gleichzeitig eine befriedigende Antwort hätte gegeben werden können.“ 711 Obwohl die Erkenntnis vorherrschte, dass die damalige Richtergeneration nach deren Verhalten in der Weimarer Republik und unter dem Nationalsozialismus diese Anforderungen nicht wird erfüllen können712, wurde Art. 97 GG zur Sicherung des Justizgewährleistungsanspruchs mit der richterlichen Unabhängigkeit auch die richterliche „Freiheit“ begründet. Dass damit auch rechtliche und berufsmoralische Verpflichtungen begründet wurden, war von Beginn an klar. Es bestand die Hoffnung, dass auf mittlere Sicht zu Trägern des neuen Rechtsstaats der fachlich, moralisch und charakterlich qualifizierte Richternachwuchs werden sollte713. Die konkrete Realität sah aber so aus, dass beim Wiederaufbau der Justiz bis in höchste Richterämter hinein auf das belastete Personal der NS-Zeit zurückgegriffen wurde714. Dies mag auch die Ursache dafür gewesen sein, dass eine inhaltliche Festlegung des Richterbildes nach 1945 nicht unmittelbar gelang und auch das Richtergesetz nicht nur auf sich warten ließ, sondern insoweit auch inhaltlich blass blieb. Erst Ende der 50-er Jahre wurde die Vergangenheit der in der NS-Zeit tätigen Richter und Staatsanwälte zunehmend – zum Teil initiiert 709
C. Schmid, SPD, 25. Sitzung des Hauptausschusses am 9.12.1948 und 37. Sitzung des Hauptausschusses 13.1.1949, in: Parlamentarischer Rat, Verhandlungen des Hauptausschusses Bonn 1948/1949, Bonn 1950, S. 299, 472 f. 710 Lansnicker, Richteramt (Fn. 472/C.), S. 104. 711 Schriftlicher Bericht des Abgeordneten Zinn zu IX. Rechtsprechung zu 4) in der Anlage zum stenographischen Bericht der 9. Sitzung des Parlamentarischen Rates am 6. Mai 1949; vgl. dagegen: Art. 121 VerfRhlPf: Der Richter ist dem Gesetz und dem Gewissen unterworfen. 712 Luik, Bemerkungen (Fn. 700/C.), SchlHolAnz. 2009, S. 98; zum Selbstverständnis dieser Richter, insbesondere den Rechtfertigungsbemühungen von H. Schorn, Richter im Dritten Reich; hierzu Müller, Furchtbare Juristen (Fn. 17/A.), S. 221 ff. Vgl. auch das sich aus der Analyse von Eröffnungs- und Amtseinführungsreden der Nachkriegszeit ergebende Selbstverständnis: Frenzel, Selbstverständnis der Justiz (Fn. 575/ C.), S. 93 ff. 713 Brentano, CDU, 37. Sitzung des Hauptausschusses am 13.1.1949, in: Parlamentarischer Rat, Verhandlungen des Hauptausschusses Bonn 1948/1949, Bonn 1950, S. 471. 714 E. Koch, Tätigkeit und Selbstverständnis der obersten Richter in der Bonner Republik, in: A. Gouron u. a. (Hrsg.), Europäische und amerikanische Richterbilder, Frankfurt/Main 1996, S. 336. Vgl. die exemplarische Untersuchung für Schleswig-Holstein: Godau-Schüttke, Recht gedient (Fn. 658/C.).
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durch Veröffentlichungen der DDR715, die in dem später entstandenen „Braunbuch“ zusammengefasst wurden – zum Gegenstand der öffentlichen Diskussion und Auseinandersetzung. § 116 des 1962 in Kraft getretenen Richtergesetzes öffnete insofern ein Ventil, als für die vom 01.09.1939 bis zum 09.05.1945 an der „Strafrechtspflege“ Beteiligten die Möglichkeit der erleichterten Versetzung in den Ruhestand – also unter Wahrung der Bezüge – eröffnet wurde. Bis weit in die 60-er Jahre war es – wie die Fälle Rasehorn716 und Jagusch717 zeigen – außerdem für den aufklärerischen Richter höchst gefährlich, sich – selbst unter Benutzung eines Pseudonyms – kritisch mit den strukturkonservativen Haltungen und Einstellungen richterlicher Kollegen auseinanderzusetzen. Erst in den 70-er Jahren führte der Generationenwechsel in der Richterschaft dazu, dass sich die Pluralität und zunehmende Offenheit in der Einstellung der Richter durchsetzte. Im Grundgesetz angelegt war die Verpflichtung an den Gesetzgeber, die auf gesamtstaatlicher Ebene in der Vergangenheit versäumte Verabschiedung eines Richtergesetzes nachzuholen sowie Richtergesetze in den Ländern zu schaffen (Art. 98 Abs. 1, Abs. 3 Satz 1 GG). Mit eigenständigen Regelungen für Richter sollte gesetzgeberisch die Abkehr vom Justizbeamten718 geleistet werden719. Die Umsetzung dieser Vorgabe löste in den 50er Jahren eine intensive Reformdebatte aus, bei der die künftige Stellung des Richters, insbesondere sein Verhältnis zur Politik und die Organisation der Justizverwaltung, geklärt wurde: Aus der seit 1949 tagenden Ständigen Konferenz der Landesjustizverwaltungen ging der „Rothenburger Entwurf“ zu einem künftigen Richtergesetz vom 02.04.1950 hervor, der noch ein Verbot der parteipolitischen Betätigung und der Mitgliedschaft in kommunalen Gremien enthielt. Der Juristentag von 1953, der sich zuvor und danach intensiv mit der Stellung und den Aufgaben der Richter beschäftigte720, sprach sich gegen eine „vollständige“ Selbstverwaltung der Justiz und gegen ein Kooptationsverfahren, wohl aber für die Stärkung der richterlichen Unabhängig715 Vgl. etwa Ausschuss für deutsche Einheit, Wir klagen an – 800 Nazi-Blutrichter – Stützen des Adenauer-Regimes, (Ost-)Berlin 1959; vgl. hierzu: BMJ (Hrsg.), Im Namen des Deutschen Volkes, S. 402 ff.; Godau-Schüttke, Recht gedient (Fn. 658/C.), S. 91 ff. 716 Siehe unten C. III. 2. a) cc). 717 R. Lamprecht, Der unrühmliche Start des Bundesgerichtshofs, in: NJW 2015, S. 2941. 718 Luik, Bemerkungen (Fn. 700/C.), SchlHolAnz. 2009, S. 99. 719 Ausführlich hierzu W. Remmers, Der politisch indifferente Richter: Leitbild der Dritten Gewalt?, in: Ch. Broda u. a. (Hrsg.), Festschrift für R. Wassermann, Neuwied 1985, S. 165, 167 f. 720 Verhandlungen des 37. Deutschen Juristentags, Tübingen 1949, „Die Rechtspflege im Bonner Grundgesetz“; Verhandlungen des 39. Deutschen Juristentags, Tübingen, 1953, zur richterlichen Selbstverwaltung; Verhandlungen des 40. Deutschen Juristentags, Öffentlich-rechtliche Abteilung, Tübingen, 1954, zur Frage: „Wie findet man einen glaubwürdigen Richter?“ Verhandlungen des 41. Deutschen Juristentags, Tübingen, 1955, über den Richter als den „Gestalter“ des Gesetzes bei der Strafzumessung.
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keit bei personellen Maßnahmen aus. Nach einem Entwurf des Richterbundes von 1953 und auf der Grundlage einer Referentendenkschrift von 1954 legte die Bundesregierung 1958 schließlich den Entwurf zu einem Deutschen Richtergesetz vor721. Ziel sollte die Rechtsvereinheitlichung und die Umsetzung des Verfassungsauftrags sein. Zur Stärkung der richterlichen Unabhängigkeit722 sollte gegen Maßnahmen der Dienstaufsicht ein eigenständiges gerichtliches Verfahren geschaffen werden. Weiter waren einheitliche Ausbildungsstandards, die Abschaffung von Hilfsrichtern, Maßnahmen zur „Wahrung der richterlichen Unvoreingenommenheit“ (nur eingeschränkte politische Betätigung, Verbot von Rechtsgutachten), Richtervertretungen, eine Dienstgerichtsbarkeit mit Selbstverwaltungselementen zur Ablösung der überkommenen „Dienststrafgerichte“ für „richterliche Beamte“, die Begrenzung der Dienstaufsicht nur auf „Äußerlichkeiten der Amtsgeschäfte“ vorgesehen. Im Gesetzgebungsverfahren schlug der Rechtsausschuss Änderungen vor, die auch Gesetz wurden: Um nicht durch eine unbestimmte Fassung der Befugnisse der Dienstaufsicht eine „Regulierung“ der Freiheit der Arbeit eines „pflichtbewussten Richters“ zu ermöglichen, wurden insoweit sprachliche Präzisierungen vorgenommen723. Das Verbot der parteipolitischen Betätigung und Mitgliedschaft in kommunalen Gremien wurde nicht Gesetz. Dies wurde vom Ausschuss – auch unter Verweis auf historisch positive und negative Erfahrungen – damit begründet, dass eine offene politische Betätigung wünschenswerter als eine verdeckte sei. Der Richter dürfe jedoch bei der „politischen Betätigung die Würde seines Amtes und das Vertrauen in seine Unabhängigkeit nicht vergessen.“ 724 Das Deutsche Richtergesetz – im September 1961 verabschiedet – trat im Juli 1962 in Kraft725. Es wurde seitdem vierzig Mal geändert, wobei allerdings die hier interessierenden und im folgenden Kapitel darzustellenden Rechtspflichten und der Richtereid, als rechtlicher Anknüpfungspunkt für berufsmoralische Pflichten, keine grundlegenden Änderungen erfahren haben. Das Disziplinarrecht war bis weit in die 50er Jahre zersplittert und noch nicht in Einklang gebracht mit den grundgesetzlichen Vorgaben. So galt etwa die Reichsdienststrafordnung von 1937 für die Richter einiger Länder726. i) Zusammenfassung: Die historischen Entwicklungsstränge der richterlichen Ethik in Deutschland Zusammenfassend lässt sich aus der historischen Entwicklung des Richterberufes in Deutschland Folgendes ableiten: 721 722 723 724 725 726
BT-Drs. 3/516. BT-Drs. 3/516, S. 39. BT-Drs. 3/2785, S. 13. BT-Drs. 3/2785, S. 15. BGBl. I 1961, Nr. 73, S. 1665 ff. Wagner, Disziplinarrecht für Richter (Fn. 484/C.), DRiZ 1957, S. 211.
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C. Elemente einer deskriptiven richterlichen Ethik
aa) Kein „Wesen“ des Richterberufs Durchgängige und von konkreten Ausprägungen des jeweils bestehenden Rechtssystems bzw. der jeweiligen Justizstruktur unabhängige Richterpflichten sind kaum festzustellen. Selbst die dem „Wesen“ des Richterberufs zugeschriebenen Pflichten zur Unabhängigkeit und Unparteilichkeit sind abhängig von konkreten historischen Lagen. Auch wenn vor allem die totalitären Systeme des 20. Jahrhunderts diese Pflichten „klassen- oder rassenbewusst“ umdeuteten und damit in ihrem Kern korrumpierten, so kannten doch auch frühere Rechtssysteme „Parteilichkeiten“, die zum Teil struktureller Natur waren, wie etwa die standesbezogene Justiz bis zum 17. und 18. Jahrhundert, oder ideologisch-weltanschaulich begründet waren, wie etwa die archaische Rechtsfindung oder die theologisch fundierten Richterpflichten. Ohne teleologisch verengen zu wollen, können im Wesentlichen folgende Hauptlinien in der Entwicklung der Richterpflichten festgestellt werden: bb) Verrechtlichung der Moral Zum einen lässt sich eine zunehmende Verrechtlichung ursprünglich nur konventionell, religiös und/oder moralisch begründeter Richterpflichten feststellen. Insofern hat auch hier das Diktum vom „Recht als geronnene Moral“ 727 seine Berechtigung. Diesem Prozess lagen unterschiedliche Motive und Strömungen zugrunde: die Erfahrung mit richterlichem Versagen, der Gestaltungswille des neuzeitlichen Gesetzgebers, die Sicherung rechtsstaatlicher „Errungenschaften“ gegenüber exekutiven Ein- und Durchgriffen oder die Antwort auf historisches Versagen der Justizstrukturen. Der Prozess der Verrechtlichung der Richterpflichten, der den Raum für eine originäre, nichtrechtliche Berufsmoral zunehmend verengt, war in Deutschland in besonderer Weise und im Gegensatz zu anderen, selbst kontinentaleuropäischen Ländern von der beamtenähnlichen Stellung der Richters seit der frühen Neuzeit bis in das 20. Jahrhundert hinein geprägt. Das Beamtenverhältnis war dabei seit dem 18. Jahrhundert selbst immer in hohem Maße rechtlich durchgestaltet; der Richter wurde diesem Recht weitgehend unterworfen, soweit seine Stellung nicht zwingend eine andere Regelung verlangte. Damit wurden die Richterpflichten „beamtenähnlich“ und verrechtlicht. Wohl auch deshalb kann Wieacker zu folgendem Schluss kommen: „Während bis tief in die Neuzeit hinein ein fester Bestand der Fürsten- und Regentenspiegel beständig auch Standeslehren für den Richter enthielt, ist diese Schriftgattung seit der späteren Aufklärung so gut wie verschwunden. Das heutige Recht kennt eine besondere Richterethik nur mehr implicite in den äußerst massiven allgemeinen
727 Vgl. hierzu Dreier, Ethik (Fn. 34/B.), S. 28 ff. D. Grimm sprach auch von „Recht als geronnener Politik“.
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Beamten- und Rechtsbeugungsdelikten sowie in der Disziplinarrechtsprechung (. . .).“ 728 cc) Emanzipation vom Beamtenstatus und von der Exekutive Zum anderen kann von einer zunehmenden „Emanzipation“ des Richters von der Exekutive gesprochen werden. Mit der Verankerung der sachlichen und persönlichen Unabhängigkeit, der Verpflichtung, grundrechtsbezogen zu prüfen, und der Entscheidung, auch exekutive und legislative Akte der Rechtskontrolle zu unterwerfen, mussten sich die Stellung des Richters und damit auch seine Pflichten grundlegend verändern. Der beschleunigte gesellschaftliche und technische Wandel bei gleichzeitiger „Trägheit“ des Gesetzgebers führte außerdem zu einer Zunahme richterrechtlicher Rechtsfortbildung und damit zu aktiver Rechtsgestaltung über den Einzelfall hinaus729. Der Richter hat mithin nicht mehr nur die Aufgabe „Justiz zu administrieren“, sondern im gewaltengeteilten Rechtsstaat seine Rolle im System der „checks and balances“ wahrzunehmen. Letzteres macht ihn zu einem – im Gegensatz zu früher – bedeutenderen Faktor bei der Gestaltung des Staates. Insofern wurde seine Aufgabe politischer730, wenn sie es nicht schon immer in dem Sinne war, als er zu jeder Zeit an der Herstellung der jeweiligen Ordnung des Staates mitgewirkt hat. Diese Aufgabe mussten die Richter seit 1949 immer stärker annehmen und haben sie auch durch alle Gerichtszweige hindurch angenommen731. Der „Paragraphenturm“ wurde verlassen. Nur in diesem Sinne lässt sich das diesen Prozess hervorhebende Diktum vom „politischen Richter“ 732 verstehen und halten. Hieraus folgen aber neue Pflichten für den Richter: zum einen die Herausforderung, sich den auch politischen Charakter seiner Tätigkeit bewusst zu machen, um nicht als vermeintlich „unpolitischer“ Richter sein eigenes politisches Vorurteil zu reproduzieren. Zum anderen verlangen die – zum Teil ungeschriebenen – Spielregeln des (partei)politischen Prozesses, richterliche Zurückhaltung und politische Mäßigung zu wahren, die Gesetzesbindung zu beachten, die innere Unabhängigkeit und Unparteilichkeit zu stär-
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Wieacker, Rechtsprechung (Fn. 139/B.), JZ 1961, S. 337, 341. Hierzu: Wassermann, Der politische Richter (Fn. 578/C.), S. 32 ff. 730 Rückert, Der neue Richter (Fn. 597/C.), KritJ 30 (1997), S. 429, 440 f.; Wassermann, Richterliche Gewalt (Fn. 5/A.), S. 2 ff. 731 Remmers, Der politisch indifferente Richter (Fn. 719/C.), S. 165, 166. 732 Wassermann, Der politische Richter (Fn. 578/C.). Wassermann verstand diesen Begriff weit, auch wenn er das Missverständnis des parteipolitischen Richters deutlich zurückweist (S. 14 ff.). Wenn er den Blick des Richters auf den politischen Kontext und die politische Wirkung seiner sowie die Verantwortung für seine Urteile fordert (S. 7 f.), hält er sich zwar noch im Rahmen des „staatspolitischen“ Richters, im Hinblick auf das politische Denken hinsichtlich des Ergebnisses seiner (sozial bedeutsamen) Entscheidungen sind bei ihm die Grenzen aber nicht ganz klar bestimmbar, wenn auch seine Angriffe gegen das Subsumtionsdogma (S. 21 ff.) inzwischen Gemeingut sind. 729
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C. Elemente einer deskriptiven richterlichen Ethik
ken. Mit dieser neuen Aufgabe entstand ein neues Staats- und Selbstbewusstsein der Richter, das zusammen mit der Bindung an das Gesetz eine professionelle Grundhaltung auch in berufsethischen Angelegenheiten nach sich zog mit der Folge, dass es „moralisierender Richterspiegel“ zunächst nicht mehr bedurfte733. Allerdings führte die Erkenntnis des Rollenwandels des Richters auch zu der Forderung, er müsse seiner Verantwortung (auch seiner staatspolitischen) gerecht werden734. Insoweit wird auch eine Aufgabe für eine neue richterliche Ethik formuliert. Damit kann für die vorliegende Arbeit die Erkenntnis gesichert werden, dass von universal und zeitübergreifend geltenden richterlichen Pflichten und Tugenden kaum zu sprechen ist. Für die Berufsmoral kommt hinzu, dass ihr Feld in Deutschland – historisch bedingt – stark rechtlich überformt und damit durch das Recht begrenzt ist. 2. Der Stand der Diskussion über die richterliche Ethik in Deutschland735 Die Musterung internationaler und ausländischer richterlicher Ethikkodizes sowie der historischen Entwicklung in Deutschland zeigt, dass es einen universellen Ansatz für eine Richterethik nur in sehr begrenzter Weise geben kann. Die nationalen Rechtsordnungen, aber auch die historisch bedingten Erwartungen und politischen Entwicklungen prägen die Verhaltensstandards des Richters wesentlich. Der klassische Vergleich zwischen einem englischen und deutschen Richter mag dies umschreiben. Jung macht dies etwa an einem Beispiel deutlich „Jedenfalls liegen noch Welten zwischen einem englischen Richter, der nicht zur Wahl geht, weil er meint, dies sei seiner Unabhängigkeit schuldig, und einem deutschen Richter, der einen Wahlaufruf unterschreibt.“ 736 Deutschland kennt derzeit noch keinen ausformulierten Kodex richterlicher Moral. Allerdings ist in den vergangenen Jahren in der Richterschaft ein intensiver Diskussionsprozess über die Notwendigkeit eines solchen Kodex in Gang gekommen. Der Stand der Diskussion, ihr bisheriger Verlauf und ihre Ergebnisse sollen hier zur Darstellung kommen737. Dabei werden auch die Stellungnahmen der Berufsverbände, erste wissenschaftliche Untersuchungen und Tagungsbeiträge ausgewertet.
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Wieacker, Rechtsprechung (Fn. 139/B.), JZ 1961, S. 337, 341. Wassermann, Richterliche Gewalt (Fn. 5/A.), S. 12 ff. 735 Gass, Richterethik (Fn. 5/A.), S. 130 ff. 736 Jung, Richterbilder (Fn. 3/A.), S. 127. 737 M. Gressmann, Richterethik in Deutschland, in: Justice–Justiz–Giustizia 2008/1, Rn. 1 ff. hat insoweit nur einen sehr kursorischen Überblick gegeben. 734
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a) Der „Richterskandal“738 Als besonders eindringlicher Anlass für die Frage nach Inhalt, Geltung und Beachtung richterlicher Verhaltenspflichten ist aber ihre tatsächliche oder vermeintliche Verfehlung. Nicht selten wird diese Verfehlung zum Skandal, insbesondere dann, wenn sie eine Kernfrage des Rechts, der Moral oder der gesellschaftlichen Auseinandersetzung betrifft und/oder wenn sie medial weiten Kreisen der Öffentlichkeit nahegebracht wird. Die öffentlich wahrgenommene Verfehlung der rechtlichen oder moralischen Berufspflichten des Richters oder die Enttäuschung von Verhaltenserwartungen führt nicht selten zu Empörung und wird als Ärgernis wahrgenommen. Sie gefährdet nicht selten das Vertrauen in die durch den Amtsträger zu repräsentierende Gemeinwohlorientierung des staatlichen Amtes. Der Skandal steht über den Grundsatz „ut scandalum evitetur“ in engem Verhältnis zum Amtsethos739. Die öffentliche Empörung, insbesondere ihr Ausmaß, wird aber auch zum Spiegel der enttäuschten Erwartung in ein normgerechtes Verhalten und ist Gradmesser für die Bedeutung der verletzten Pflicht oder Haltung740. Die enttäuschte Erwartung kann aber auch auf dem Missverständnis beruhen, dass richterliche Entscheidungen die herrschende oder von bestimmten Gruppen vertretene Moral treffen müssten741. Auch wenn in Deutschland der „Justizskandal“ bislang kein entscheidender „Motor“ für die Ethikdebatte742 gewesen ist, regt er regelmäßig dazu an, das richterliche Selbstverständnis und das „Richterleitbild“ näher zu untersuchen743. Er wirft unmittelbar auch die Frage nach dem Richterethos und dem Stand der Durchsetzungskraft der Pflichten auf744. Für die vorliegende Untersuchung besonders bedeutsam ist, welche konkreten Pflichten oder Haltungen als verletzt empfunden werden und ob es sich dabei um eine Rechtspflicht oder eine berufsmoralische Pflicht bzw. Haltung handelt. Ob der „Skandal“ als solcher objektiv berechtigt ist, ist unmaßgeblich. Allein der Umstand, dass eine richterliche Handlung oder Entscheidung öffentliche Empörung auslöst bzw. die Medien davon überzeugt sind, dass sie es beim Publikum tut745, zeigt die Berührung oder gar Verletzung einer Verhaltenserwar738 Den Richterskandal als Ursache für die Beschäftigung mit richterlicher Ethik nennt Epineuse, Vergleichende Richterethik (Fn. 30/C.), SchlHAnz. 2009, S. 122. 739 Zum Skandalbegriff und der Herleitung des genannten Grundsatzes im Zusammenhang mit der Verfehlung des Amtsethos: U. Hilp, Den bösen Schein vermeiden. Zu Ethos und Recht des Amtes in Staat und Kirche, Berlin 2004, S. 21 ff. und 94 ff. Dort aber in dem engeren Verständnis von „Skandalon“ oder Ärgernis. 740 Zur Bestimmung richterlicher Qualitäten über die Erfahrung ihrer Verletzung. Zweigert, Charisma (Fn. 73/A.), S. 300. 741 Hierzu: Ogorek, Recht (Fn. 100/B.), KritV 1997, S. 5 ff. 742 W. Tappert, Richterbilder in der Tagespresse, in: DRiZ 2009, S. 51. 743 So Kauffmann, Konstruktion (Fn. 283/B.), S. 107 ff. 744 Somek, Richterethos (Fn. 4/B.), ÖsterrRZ 1985, S. 265. 745 Ogorek, Recht (Fn. 100/B.), KritV 1997, S. 5, 13 ff. weist zu Recht darauf hin, dass der Skandalisierung auch ein kommunikatives Muster zugrunde liegt: Ist das Ge-
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C. Elemente einer deskriptiven richterlichen Ethik
tung an, die auch eine Erwartung an die richterliche Berufsmoral sein kann. Dabei soll es nicht um solche Verfehlungen gehen, die Gegenstand einer weit verbreiteten Enthüllungsliteratur sind746 oder als juristische Fehlleistungen im Internet gesammelt werden747. Hier geht es vielmehr um Skandale, die in der Fachund der allgemeinen Öffentlichkeit Gegenstand lang anhaltenden Aufsehens gewesen sind. Nicht hierunter fallen auch solche Phänomene, wie etwa der Fall Karin Wolski in Hessen, bei denen Richter vor allem wegen ihrer Angehörigen in den Focus öffentlicher Aufmerksamkeit geraten748. In der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland gab es unterschiedliche „Justizskandale“, die in vielen Fällen auf richterliches Verhalten zurückgeführt und insofern als „Richterskandal“ bezeichnet werden können. Ihre Ursache waren unterschiedliche Verhaltensweisen. Es kann aber der Versuch einer Typologie gemacht werden. Die meisten Fälle betreffen die Entscheidung bzw. die Begründung der Entscheidung selbst (aa). Eine weitere Gruppe bezieht sich auf das richterliche Verhalten im Verfahren (bb). Daneben stehen Verhaltensweisen von Richtern, die sie außerhalb ihres Richterberufs, aber mit Bezug auf ihn gezeigt haben, nämlich politische Betätigungen, öffentliche Äußerungen, Nebentätigkeiten, strafrechtlich relevantes oder sonst normwidriges Verhalten (cc). aa) Die „skandalöse“ Entscheidung Urteilskritik ist – solange sie sachlich vorgetragen wird749 – in einem demokratischen Rechtsstaat eine über das Grundrecht der Meinungsfreiheit rechtlich schehen „medientauglich“, weil es einen Konflikt zuspitzt, medial transportiert werden kann (Bebilderung, Schlagwort), überraschend und sensationell ist (Strafverfahren) bzw. der moralischen Selbstvergewisserung der Gesellschaft (gemeinsame Entrüstung über den Täter) dient. 746 Statt vieler: Blüm, Einspruch! Wider die Willkür an deutschen Gerichten, 2014; Bossi, Halbgötter in Schwarz, Frankfurt 2005; Frank, Franz Josef Strauß und die Seilschaften der Justiz, München, 3. Auflage 1992, Haferbeck, Bundesdeutsche (Justiz-) Behörden – eine kriminelle Vereinigung?, Göttingen 1994; Kraschutzki, Die Gerechtigkeitsmaschine, Karlsruhe 1970; Kunkel/Schuhbauer, Justizirrtum!, Frankfurt 2004; Marcus, Wer je vor einem Richter steht, Düsseldorf 1976; Mauz, Die Justiz vor Gericht, 1993; Möntmann, Roben, Richter, Rechtsverdreher, München 1997; Schöndorf, Strafjustiz auf Abwegen, Frankfurt 2001; Wickert, Der misshandelte Rechtsstaat, 1977; Winter/Haferbeck, Die Rechtsbeugermafia, 1999. 747 Vgl. die von Prof. Dr. Schwab betriebene Webseite: www.watchthecourt.org, Stand: 10.04.2012. 748 www.fr-online.de/spezials/hessische-staatsrichterin-karin-wolski-tritt-zurueck,147 2874,2678280.html, Stand: 28.10.2015. 749 Vgl. hierzu W. Arenhövel, Unsachliche, herabsetzende Kritik an Urteilen, Richtern und Staatsanwälten nimmt zu, in: ZRP 2004, S. 61 f. dabei schließt „sachlich“ ein, dass auch überspitzt kritisiert werden darf. Eine Kritik der Person des konkreten Richters ist ebenfalls gerechtfertigt, wenn dessen Verhalten rechts(staats)widrig oder berufsmoralisch unhaltbar war.
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geschützte Form der „Kontrolle“ der Justiz durch die (Fach-)Öffentlichkeit750. Sie kann je nach Intensität und medialer Verbreitung, insbesondere bei einem Aufgreifen durch die allgemeine Publizistik in der Form massiver Urteilsschelte751, den Charakter eines Richterskandals annehmen. Dabei muss unterschieden werden zwischen einer Verfehlung des Richters und einer unerfüllbaren Erwartungshaltung der Öffentlichkeit. Denn zum Skandal muss nicht unbedingt eine rechtliche oder berufsmoralische Verfehlung des Richters den Anlass geben. Vielmehr kann der Skandal auch dadurch eintreten, dass ein Entscheidungsergebnis moralisch oder politisch kritisiert wird752. Zu Recht wurde insoweit die Feststellung getroffen, dass die Skandalisierung aus völlig anderen Gründen entstand, als die aus der Empörung über verfehltes richterliches Verhalten: Grund kann für ihn auch die – mit dem überkommenen Verständnis von Recht und Richter nicht vereinbare – Ablehnung der Trennung von Recht und Moral bzw. die Zuordnung des Richters zum politischen System sein, dessen Entscheidungen nach entsprechender Kritik zu korrigieren sind753. Diese „verfehlte“ Erwartungshaltung verschiebt die Perspektive auf die Berufsmoral in einen Bereich, der von fundamental anderen Prämissen ausgeht, als die, die das herkömmliche Richterbild des rechtsgebundenen und zurückhaltenden Richters nahelegt. Die beschriebene Perspektive, die weitgehend durch die mediale Vermittlung von Gerichtsentscheidungen bedingt ist, ist eine besondere Herausforderung für die richterliche Ethik; denn ist die Erwartungshaltung so, wie sie beschrieben wurde, kann der Richter, der seine Berufsmoral nach herkömmlichem Verständnis wahrt, dennoch die Erwartung der Öffentlichkeit enttäuschen. Insofern könnte sogar das paradoxe Ergebnis eintreten, dass der „untadelige“ Richter das Vertrauen des Publikums in ihn beeinträchtigt, eben weil er rechtstreue und politisch zurückhaltend ist. Bei den folgenden Beispielsfällen kann – eingedenk der beschriebenen Problematik – nicht immer sauber zwischen richterlicher Verfehlung und verfehlter Erwartungshaltung unterschieden werden: Die Fallgruppe des Richterskandals, die die Entscheidung bzw. die Begründung der Entscheidung selbst betrifft, lässt sich in unterschiedliche Untergruppen 750 W. Habscheid, Urteilskritik durch am Verfahren „beteiligte“ Rechtsanwälte, Professoren und Richter, in: NJW 1999, S. 2230 ff. 751 Hierzu grundlegend R. Mishra, Zulässigkeit und Grenzen der Urteilsschelte, Münsterische Beiträge zur Rechtswissenschaft, Bd. 111, Berlin 1997, der auch die sehr weit gesetzten Grenzen der Meinungsfreiheit insoweit auslotet. Vgl. auch Ogorek, Recht (Fn. 100/B.), KritV 1997, S. 5 ff. 752 Zu letzterem etwa: Fernsehurteil des BVerfG vom 28.02.1961, BVerfGE 12, 205, sowie die Entscheidung vom 25.02.1975, BVerfGE 39, 1, zur Verfassungswidrigkeit des § 218 a StGB. Hierzu: Mishra, Urteilsschelte (Fn. 751/C.), S. 28 ff. bzw. S. 35 ff. 753 Ogorek, Recht (Fn. 100/B.), KritV 1997, S. 5, weist unter Berufung auf D. Simon, Erwartungen der Gesellschaft an die Justiz, in: Justiz und Recht, Festschrift für die Deutsche Richterakademie, 1983, S. 3 ff., anhand der „Behindertenurteile“ und dem „Memminger Abtreibungsurteil“ diese These eindrucksvoll nach.
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aufteilen. Sie betreffen etwa den Umgang mit dem nationalsozialistischen Unrecht oder mit extremistischem Verhalten, Entscheidungen, die im Widerspruch zum „Rechtsgefühl“ bzw. den moralischen Wertungen einer größeren Bevölkerungsgruppe ergehen, insbesondere zu milde oder zu harte Strafaussprüche betreffen. Gerade in den Anfangsjahren der Bundesrepublik Deutschland standen die zum großen Teil bereits vor 1945 tätig gewesenen Richter unter Beobachtung der Öffentlichkeit, soweit sie mit der juristischen Aufarbeitung der NS-Vergangenheit befasst waren. Besonders bedeutsam ist in diesem Zusammenhang der Umgang mit NS-Richtern und ihrer Rechtsprechung754. Diese Entscheidungen begründeten häufig massive Vorwürfe, insbesondere der Rechtsbeugung755, gegen die urteilenden Richter selbst: Für die (mangelnde) Aufarbeitung der NS-Vergangenheit der Justiz war neben dem bis 1996 nicht veröffentlichten Urteil vom 19.06.1956 – 1 StR 50/56 –756 betreffend den Freispruch des NS-Standrichters Thorbeck, der die Todesurteile gegen Bonhoeffer, Canaris, u. a. verhängte, insbesondere die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 07.12.1956 – 1 StR 56/56 –757 maßgeblich. Anzuwendende Norm war insoweit der Rechtsbeugungstatbestand, der die Kernpflicht des Richters sichert, nämlich die unparteiliche und willkürfreie Anwendung des Rechts durch den Richter und damit gleichzeitig das Vertrauen in die Rechtspflege. In der genannten Entscheidung hat der BGH im Zusammenhang mit der Ahndung von Verfehlungen von „Richtern“ von Standgerichten in der NS-Zeit entschieden, dass Rechtsbeugung einen bestimmten, nicht nur bedingten Vorsatz erfordert. Damit wurden kaum überwindliche Hürden der Strafverfolgung auf der subjektiven Seite errichtet. Gleichzeitig wurde in dieser Entscheidung klargestellt: Wer wegen seiner Tätigkeit bei der Leitung oder Entscheidung einer Rechtssache zur Verantwortung gezogen wird, kann auch nach anderen Vorschriften, also etwa wegen Mordes, Totschlags oder Freiheitsberaubung, nur dann verurteilt werden, wenn ihm eine Rechtsbeugung nachgewiesen wird. Dies führte dazu, dass – wie das „Rehse-Urteil“ des BGH von 1968 zeigt758 – selbst Ange754 Vgl. zur mangelnden Aufarbeitung und zu den ungebrochen Justizkarrieren von NS-Richtern in der Bundesrepublik: BMJ, Im Namen des Volkes (Fn. 505/C.), S. 422 ff.; Friedrich, Freispruch (Fn. 668/C.); Müller, Furchtbare Juristen (Fn. 17/A.), S. 210 ff. und S. 275 ff. 755 Zur Entwicklung der Anwendung des Rechtsbeugungstatbestands und ihrer politischen Bezüge: Münch, Die Verwendung des Rechtsbeugungstatbestands zu politischen Zwecken, in: KritJ 17 (1984), S. 119 ff. 756 H. Ponnath, Die Legitimierung des Mordes an Pastor Dietrich Bonhoeffer, DRiZ 2014, S. 414 ff. 757 BGHSt 10, 294; vgl. Koch, Auslegung des Rechtsbeugungstatbestands (Fn. 667/ C.), ZIS 2011, S. 470 ff. m.w. N. 758 NJW 1968, S. 1339 f.; vgl. hierzu Müller, Furchtbare Juristen (Fn. 17/A.), S. 281 f.
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hörige des Volksgerichtshofs kaum mehr wegen „Justizmords“ strafrechtlich verfolgt werden konnten. Diese Rechtsprechung gründete auf Fiktionen – wie etwa der Annahme richterlicher Unabhängigkeit in der NS-Zeit – und Wertungswidersprüchen zwischen der Nichtverfolgung von „rechtsblinden“ Richtern und solchen, die auf konkreten Befehl handelten. Die Rechtsauffassung löste die unerträgliche – in der Realität hypothetische – Folge aus, dass auch Freisler bei nicht widerlegter Behauptung der ideologisch bedingten „Rechtsblindheit“ freigesprochen hätte werden müssen759. Diese Rechtsprechung eröffnet in besonderer Weise den Blick auf die Wahrung richterlicher Haltungen durch die Richter, die ein solches Geschehen aburteilen: nämlich auf den Umgang mit richterlichem Versagen in der Vergangenheit, auf die rechtliche Einhegung richterlichen Rechtsbruchs sowie auf die Haltung zum eigenen Vorverständnisses der das Recht anwendenden Richter. Insoweit fließen gerade bei der Entscheidung über den Vorwurf der Rechtsbeugung die Rechtsanwendung, die Definition rechtlicher Verhaltenspflichten und – bezogen auf den Umgang mit den Methoden und dem eigenen Vorverständnis – die Berufsmoral des Entscheiders zusammen. Dass nach 1989 der Bundesgerichtshof die strafrechtliche Verfolgung von DDR-Richtern wegen Rechtsbeugung durch eine Änderung seiner Rechtsprechung zum Rechtsbeugungstatbestand eröffnete760, hat erneut Empörung und den Vorwurf der „Siegerjustiz“ ausgelöst, obwohl der Bundesgerichtshof gerade wegen der Kritik an seiner Rechtsprechung eine andere Auslegung wählte und sich kritisch zur eigenen Rechtsprechung äußerte761. Besondere Kritik rief 1958/1959 das „Arnsberger Urteil“ hervor. Das Schwurgericht Arnsberg verurteilte zwei Hauptangeklagte, die auf Befehl eines SS-Generals 151 „Fremdarbeiter“ in den letzten Kriegstagen erschossen hatten762, zu ausgesprochen milden Strafen. Nicht nur dieses Urteil, auch der Fall Nieland führte 1959763 zu nationalen wie internationalen Protesten. Der Fall Nieland führte in der Folge sogar zu einer Änderung des Volksverhetzungstatbestands. Im zuletzt genannten Fall lehnte das zuständige Strafgericht die Eröffnung der 759 Rasehorn, Das Verfahren gegen Rehse und die Problematik des § 336 StGB, in: NJW 1969, S. 457 ff. 760 BGHSt 40, 25 ff.; 41, 247 ff.: „Rechtsbeugung begeht [. . .] nur der Amtsträger, der sich bewusst und in schwerwiegender Weise von Recht und Gesetz entfernt. Das Tatbestandsmerkmal ,Beugung‘ enthält insoweit ein normatives Element, wonach nur elementare Rechtsverstöße und offensichtliche Willkürakte erfasst werden sollten. Auf den Maßstab (bloßer) Unvertretbarkeit darf dabei schon im Interesse der Rechtssicherheit nicht abgestellt werden“ (BGH NStZ-RR 2010, S. 310). Aus dem Rechtsverstoß kann dann auf den Rechtsbeugungsvorsatz des Richters geschlossen werden. 761 BGHSt 41, 317 (339 f.). 762 Wagner, Richter (Fn. 6/A.), S. 177. 763 Anlass war die strafrechtliche Bewertung antisemitischer Hetze: vgl. Entscheidungen in: JZ 1959, S. 176 ff. 179, 414 und Wagner, Richter (Fn. 6/A.), S. 177.
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C. Elemente einer deskriptiven richterlichen Ethik
Hauptverhandlung wegen Staatsgefährdung und Beleidigung gegen einen Angeschuldigten ab, der eine antisemitische Schrift in großer Zahl an verschiedene Abgeordnete und Minister versandt hatte und sich damit verteidigte, die Schrift richte sich nicht gegen die in der Bundesrepublik lebenden Juden, sondern gegen einen engbegrenzten Kreis des „Weltjudentums“. In beiden Fällen hat der Bundesgerichtshof korrigierend eingegriffen. Bei diesen Fällen lag der Schwerpunkt der öffentlichen Kritik darauf, wie die entscheidenden Richter mit den anzuwendenden Bestimmungen umgegangen sind und welchen Bezug ihre Entscheidung zur Verantwortung Deutschlands für seine Vergangenheit hatten. Neben der Pflicht zur Gesetzesbindung war hier neben der Sorgfaltspflicht der Richters vor allem die Pflicht, zur Wahrung der inneren Unabhängigkeit das eigene Vorverständnis zu reflektieren, berührt. Einen besonders heftigen Justizskandal rief die Entscheidung des Landgerichts Mannheim vom 22.06.1994 gegen den damaligen NPD-Vorsitzenden Deckert hervor764. Nach der Aufhebung und Zurückverweisung eines Urteils dieses Gerichts aus dem Jahr 1992 verurteilte eine andere Kammer den Angeklagten wegen Volksverhetzung in Tateinheit mit Aufstachelung zum Rassenhass, Beleidigung und Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener erneut zur Freiheitsstrafe von einem Jahr mit Strafaussetzung zur Bewährung. Strafmildernd (!) hat die Strafkammer dabei erwogen, dass der Angeklagte von der sachlichen Richtigkeit des Vorgebrachten (d.h. des Leugnens der systematischen Tötung von Juden in Gaskammern unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft) überzeugt sei und dass er, jedenfalls vorwiegend, uneigennützig gehandelt habe. Die „Uneigennützigkeit“ hat sie – mit längeren Passagen – damit begründet, dass die Tat des Angeklagten „hauptsächlich von dem Bestreben motiviert (war), die Widerstandskräfte im deutschen Volk gegen die aus dem Holocaust abgeleiteten jüdischen Ansprüche zu stärken.“ Im Zusammenhang mit diesen von ihm angenommenen Strafmilderungsgründen hat das Landgericht weiter ausgeführt: „Nicht außer Acht gelassen wurde auch die Tatsache, daß Deutschland auch heute noch, rund fünfzig Jahre nach Kriegsende, weitreichenden Ansprüchen politischer, moralischer und finanzieller Art aus der Judenverfolgung ausgesetzt ist, während die Massenverbrechen anderer Völker ungesühnt blieben, was, jedenfalls aus der politischen Sicht des Angeklagten, eine schwere Belastung des deutschen Volkes darstellt.“ Das Urteil enthält weitere angesichts des Vorwurfs und des Strafausspruchs kaum haltbare Passagen zur „Charakterstärke“ und „Rechtstreue“ und 764 Zum Urteil des LG Mannheim, vgl. NJW 1994, S. 2494 ff. Vgl. zur Kritik im Einzelnen: Kauffmann, Konstruktion (Fn. 283/B.), S. 130 f., R. Lamprecht, Vom Mythos der Unabhängigkeit. Über das Dasein und Sosein der deutschen Richter, BadenBaden, 1995, S. 34 ff. Lansnicker, Richteramt (Fn. 472/C.), S. 271 ff.; Mishra, Urteilsschelte (Fn. 751/C.), S. 61 ff. Zum durch dieses Urteil hervorgerufenen Vertrauensverlustes: R. Voss, Ins Gerede gekommen: Die richterliche Unabhängigkeit, in: DRiZ 1994, S. 445 ff.
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zum „Lebensschicksal“ – die rechtmäßige disziplinarische Entfernung aus dem Schuldienst – des Angeklagten. Unabhängig von der rechtlichen Würdigung des Urteils (der BGH hat im Dezember 1994 dieses Urteil wegen fehlerhafter Rechtsanwendung bei der Strafzumessung mit der Begründung aufgehoben, man könne nicht strafmildernd berücksichtigen, was Gegenstand des Vorwurfs und selbst strafbar sei), wirft dieser Vorgang eine Reihe berufsmoralischer Fragen auf. Wie können solche rechtlich fehlerhaften wie inhaltlich untragbaren Feststellungen in einer Kammerentscheidung sogar in einem bedeutsamen Verfahren „durchgehen“? Wie kann – so ist es geschehen – der Berichterstatter sein Urteil selbst in der Öffentlichkeit verteidigen und dabei weiter Sympathie für die Handlungs- und Denkweise des Angeklagten äußern765? Durfte das Präsidium als Organ richterlicher Selbstverwaltung hier reagieren und ohne Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen andere Richter der betroffenen Strafkammer zuweisen766? In diesem Fall dürften nicht nur die Sorgfaltspflicht der handelnden Richter und die richterliche Zurückhaltung innerhalb wie außerhalb des Dienstes verletzt gewesen sein767. Berufsmoralisch relevant ist auch, ob und welche politischen Ansichten einen Richter im Rechtsstaat des Grundgesetzes generell disqualifizieren. Alle diese Fragen stellen sich im Übergangsbereich zwischen Dienstrecht und Berufsmoral. Nachdem in diesem Falle eine rechtliche Sanktionierung nur für das außerdienstliche Verhalten in Betracht kam – ein Rechtsbeugungsvorwurf gegen die Mitglieder der Kammer wurde nicht erhoben768 –, waren jedenfalls überwiegend berufsmoralische Pflichten bzw. Verfehlungen der handelnden Richter, insbesondere des Berichterstatters, angesprochen769. Empörung anderer Art haben die sogenannten Behindertenurteile770 hervorgerufen. Das Landgericht Frankfurt hat die Anwesenheit von körperlich und geistig Schwerstbehinderten in einem Hotel als Reisemangel gewertet771. Dieser Fall bietet in besonderer Weise Gelegenheit, das Phänomen der „Skandalisierung“
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Hierzu Mishra, Urteilsschelte (Fn. 751/C.), S. 68 f. Hierzu Mishra, Urteilsschelte (Fn. 751/C.), S. 72 ff. 767 Lansnicker, Richteramt (Fn. 472/C.), S. 302 f. hält das außerdienstliche Verhalten des Berichterstatters für eine disziplinarwürdige Verletzung einer Dienstpflicht. 768 Auch die Erwägung einer Richteranklage nach Art. 98 Abs. 2 GG wurde fallen gelassen. 769 Zu den Auswirkungen dieser Vorgänge auf die richterliche Unabhängigkeit: J. Limbach, Die richterliche Unabhängigkeit. Ihre Bedeutung für den Rechtsstaat, in: NJ 1995, S. 281 ff. 770 Zu der moralischen Kritik an dem Urteil: Ogorek, Recht (Fn. 100/B.), KritV 1997, S. 5 ff. Zu der richterdienstrechtlichen Bewertung: G., J. und J. Schmidt-Räntsch, Deutsches Richtergesetz, Kommentar, 6. Aufl., München, § 39 Rdnr. 26. 771 LG Frankfurt, U. v. 25.02.1980, NJW 1980, S. 1169. Hierzu: Mishra, Urteilsschelte (Fn. 751/C.), S. 41 ff. 766
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C. Elemente einer deskriptiven richterlichen Ethik
richterlicher Entscheidung zu untersuchen772, bei dem die Frage nach berechtigter öffentlicher Kritik oder unzulässige Verkürzung um des Skandals willen aufgeworfen ist. Nachdem in einer Fülle von Äußerungen zu diesen Urteilen auch moniert wurde, dass die Kammer verfassungsrechtliche Aspekte nur unzureichend gewürdigt habe, stellt sich jedenfalls als berufsmoralische Forderung, dass in solch hochsensiblen Fällen besondere Sorgfalt bei der rechtlichen Würdigung geboten ist. Allerdings ist genau dies bei dem späteren Kölner Behindertenurteil773 geschehen. Die Reaktion der Öffentlichkeit war ebenso ablehnend. Hieraus kann geschlossen werden, dass Empörung über eine richterliche Entscheidung nicht zwingend auf die Verletzung rechtlicher oder moralischer Maßstäbe richterlichen Handelns betreffend hinweist, sondern das rechtlich und berufsmoralisch ordnungsgemäß gefundene Ergebnis im Widerspruch zur moralischen oder politischen Erwartung der Bevölkerung stand774. Dass Entscheidungen rechtlich unangreifbar sind und trotzdem Empörung auslösen können, zeigt sich in besonderer Weise bei Entscheidungen die die Meinungsäußerungs- oder Versammlungsfreiheit betreffen. Dass die Aussage „Soldaten sind (potentielle) Mörder“ in bestimmten Kontexten keine strafbare Beleidigung ist775, weil der „Täter“ sie im Rahmen der Ausübung des Grundrechts auf freie Meinungsäußerung – hinsichtlich Inhalt, Form und Umständen der Kundgabe – in Wahrnehmung berechtigter Interessen gemacht hat, empört Soldaten und viele Bürger. Gleiches gilt, wenn Verwaltungsgerichte die Demonstrationsfreiheit nicht verbotener, aber politisch extremistischer Parteien gegen pauschale und unbegründete Verbotsverfügungen durchsetzt oder wenn – wie bei den Kruzifixentscheidungen776 – Glaubensfragen betroffen sind. Auch die Aufhebung des Haftbefehls gegen Erich Honecker gehörte zu dieser Fallgruppe777. Dass solche Entscheidungen insofern nicht unpolitisch sind, als sie gesellschaftliche Konflikte oder grundlegende Streitfragen mit den Mitteln des Rechts lösen, steht außer Frage. Zu einem berufsmoralischen Problem würde das richterliche Handeln allerdings nur dann, wenn dabei die Gesetzesbindung und die gebotene Sorgfalt nicht beachtet oder das eigene politische oder weltanschauliche Vorverständnis zum wesentlichen Maßstab der Entscheidung würden.
772 Hierzu H. Brox, Störungen durch geistig Behinderte als Reisemängel? in: NJW 1980, S. 1939. 773 OLG Köln, U. v. 08.01.1998, NJW 1998, S. 763. 774 In dieser Hinsicht: Ogorek, Recht (Fn. 100/B.), KritV 1997, S. 5 ff. 775 LG Frankfurt, U. v. 20.10.1989 – 5/29 Ns 59 Js 26112/84 –; BVerfG (K), B. v. 25.08.1994 – 1 BvR 1423/92 – zit. nach Juris. Hierzu Mishra, Urteilsschelte (Fn. 751/ C.), S. 47 ff. 776 Vor allem BVerfG, B. v. 16.05.1995 – 1 BvR 1087/91 – BVerfGE 93, 1; hierzu: Mishra, Urteilsschelte (Fn. 751/C.), S. 79 ff. 777 VerfGH Berlin, B. v. 12.01.1993 – 55/92 – zit. nach Juris.
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Ob diese Grenze schon bei der Entscheidung des Amtsgerichts Stuttgart vom 20.07.1979778 überschritten war, ist streitig. In ihr hat der Richter – mit eingehender Begründung – einen Teilzahlungsboykott bei der Lieferung von „Atomstrom“ aufgrund des dem Stromabnehmer zustehenden Zurückbehaltungsrechts für gerechtfertigt angesehen, weil ein solches aus der Verletzung von vertraglichen Nebenpflichten entstehe. Die Verletzung ergäbe sich aus dem Betrieb von Kernkraftwerken, die die Allgemeinheit und damit auch den Stromabnehmer (nach der Anfechtung der Teilbetriebsgenehmigungen und bei ungeklärter Entsorgung des Atommülls) gefährdeten. Klar verletzt wird aber das Mäßigungsgebot, wenn ein Amtsgericht einen Hausbesetzer vom Vorwurf des Hausfriedensbruches mit der Begründung freispricht, dieses Ergebnis sei nicht unerträglich und dabei weiter ausführt: „Unerträglich könnte viel eher sein, wenn sich hochkarätige Politiker durch spezielle Schutzgesetze vor der Strafverfolgung sichern wollen (Spendenaffäre) oder wenn sich in Prominentenprozessen Angeklagte wegen Krankheit entziehen können (Herstatt und viele andere). Vieles andere noch könnte weit unerträglicher sein, so z. B., dass der Staat bereit ist, einen Overkill zu zahlen, während andererseits am Taschengeld der Heimuntergebrachten oder am Kindergeld gespart wird. . . .“ 779 Insoweit steht sogar nicht mehr nur die Verletzung der Berufsmoral, sondern auch von Dienstpflichten im Raum. Eine besondere Gemengelage zwischen vermuteter und tatsächlicher Verletzung einerseits bzw. Wahrung von rechtlichen Amtspflichten und berufsmoralischen Anforderungen andererseits bot der Fall Görgülü780. Einem Senat eines Oberlandesgerichts wurde dabei „Rechts-Ungehorsam“ 781 vorgeworfen, während demgegenüber die Unbeirrbarkeit des mehrfach aufgehobenen Amtsgerichts auffällt. Das Bundesverfassungsgericht hat dem Oberlandesgericht jedenfalls nicht nur „Willkür“ attestiert, sondern auch ausgeführt, dass es die rechtlichen Bindungen an eine – zur Sache ergangene – Entscheidung des EMRG „mit der angegriffenen Entscheidung . . . nicht nur nicht beachtet, sondern dessen Vorgaben in ihr Gegenteil verkehrt“ habe782. Dies alles geschah unter intensiver Anteilnahme und wachsender Empörung der Öffentlichkeit. Die Hartnäckigkeit, mit der dabei eine Linie durchgesetzt wurde, ist nur nachvollziehbar, wenn der Streit dargestellt wird: Hintergrund war der Streit um das Sorge- und Umgangsrecht eines nichtehelichen Kindes783, das die Mutter gleich nach der Geburt zur Adoption freigege778
NJW 1979, S. 2047. Zit. nach Schmidt-Räntsch, Richtergesetz (Fn. 770/C.), § 39 Rdnr. 23. 780 Eckertz-Höfer, Guter Richter (Fn. 119/A.), S. 10 ff. 781 Lamprecht, Wenn der Rechtsstaat seine Unschuld verliert, in: NJW 2007, S. 2744. 782 Dagegen: M. Cebulla/T. Schulte-Kellinghaus: Richterliche Unabhängigkeit als Rechtsbeugung, in: BJ 2010, S. 232. 783 Der Sachverhalt ist in dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 10.06.2005 – 1 BvR 2790/04 – zit. nach Juris, wiedergegeben, auf den im Folgenden Bezug genommen wird. 779
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C. Elemente einer deskriptiven richterlichen Ethik
ben hatte und das seither bei Pflegeeltern lebte, die es adoptieren wollten. Auf Betreiben des Beschwerdeführers wurde seine Vaterschaft festgestellt. Nachdem das Amtsgericht dem Beschwerdeführer zunächst ein Umgangsrecht zugesprochen und später das Sorgerecht übertragen hatte, hob das Oberlandesgericht diese Entscheidungen auf. In der Folge stellte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mit Urteil vom 26.02.2004784 auf die Individualbeschwerde des Beschwerdeführers fest, dieser werde durch den vom Oberlandesgericht angeordneten Ausschluss des Umgangs in seinem Recht aus Art. 8 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) verletzt. Daraufhin gestand das Amtsgericht dem Vater im Wege einer einstweiligen Anordnung ein Umgangsrecht zu, was das Oberlandesgericht erneut aufhob. Auf die hiergegen vom Beschwerdeführer eingelegte Verfassungsbeschwerde hob das Bundesverfassungsgericht785 diese Entscheidung auf und verwies die Sache an einen anderen Senat des Oberlandesgerichts zurück. Nachdem der nunmehr zur Entscheidung berufene Senat des Oberlandesgerichts darauf hingewiesen hatte, dass die Beschwerde gegen die vom Amtsgericht erlassene einstweilige Anordnung nicht zulässig sei, wurden die Beschwerden zurückgenommen. Auf Antrag des Beschwerdeführers regelte das Amtsgericht erneut den Umgang. Auf die hiergegen eingelegten Beschwerden u. a. der Pflegeeltern setzte das Oberlandesgericht, nunmehr wieder durch den ursprünglich zuständig gewesenen Senat, die Vollziehung des amtsgerichtlichen Beschlusses aus. Nachdem die vom Beschwerdeführer hiergegen eingelegte Verfassungsbeschwerde nebst Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung den Äußerungsberechtigten zugestellt und das Oberlandesgericht hiervon unterrichtet worden war, hob dieses die vorgenannte Entscheidung „aufgrund der zwischenzeitlich gegebenen Entscheidungsreife der in der Hauptsache zum Umgangsrecht erhobenen Untätigkeitsbeschwerde“ auf 786. Zudem wies das Oberlandesgericht auf die Untätigkeitsbeschwerde u. a. der Pflegeeltern das Amtsgericht an, das Hauptsacheverfahren zum Umgangsrecht „mit äußerster Beschleunigung weiterzuführen und zum Abschluss zu bringen“; dabei erteilte es dem Amtsgericht konkrete Weisungen zum weiteren Verfahrensablauf. Daneben schloss es auf der Grundlage vorläufiger gutachtlicher Stellungnahmen den Umgang zwischen dem Beschwerdeführer und seinem Sohn in Abänderung der einstweiligen Anordnung des Amtsgerichts bis zur abschließenden Entscheidung des Amtsgerichts in der Hauptsache aus. Auf die dagegen erhobene Verfassungsbeschwerde hat das Bundesverfassungsgericht im Wege der einstweiligen Anordnung die vom Amtsgericht getroffene Umgangsregelung im Wesentlichen 784
FamRZ 2004, S. 1456. FamRZ 2004, S. 1857. 786 Cebulla/Schulte-Kellinghaus, Richterliche Unabhängigkeit (Fn. 782/C.), BJ 2010, S. 234, meinen, dass aufgrund der Zeitabläufe ein innerer Zusammenhang nicht bestanden habe bzw. die OLG-Richter zu einer solchen Änderung sogar verpflichtet gewesen wären. 785
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wieder in Vollzug gesetzt. Das Bundesverfassungsgericht gab der gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts vom 20.12.2004 gerichteten Verfassungsbeschwerde statt. Das Oberlandesgericht habe mit seinem Beschluss gegen Art. 6 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip verstoßen. Der von der Generalstaatsanwaltschaft gegen die entscheidenden Richter des Oberlandesgerichts erhobene Rechtsbeugungsvorwurf787 führte zu keiner Hauptverhandlung, weil das zuständige Landgericht sie nicht zuließ und die Beschwerde von einem anderen Senat dieses Oberlandesgerichts verworfen wurde788. Die Pflicht zur Wahrung des Beratungsgeheimnisses – so die Begründung des OLG – sei zwar nicht absolut. Das Beratungsgeheimnis dürfe aber nicht in einem Ermittlungsverfahren oder in Verfahren bei Verwaltungsbehörden preisgegeben werden. Ob und wieweit der Richter über den Hergang bei Beratung und Abstimmung aussage, bestimme er nach pflichtgemäßem Ermessen im Einzelfall selbst789. Damit ließen sich mögliche Verstöße gegen rechtliche Amtspflichten, die in der Literatur als „Ausreißer“ 790 und „einmaliger Vorgang“ 791, aber auch als bloßes „Medienereignis“ 792 bewertet wurden, bezogen auf die handelnden Richter des Oberlandesgerichts nicht mehr ahnden. Dienstrechtliche Maßnahmen hatten deshalb ebenfalls keine Aussicht mehr auf Erfolg. Insgesamt bleiben damit „nur“ berufsmoralische Vorwürfe zurück, die sich auf den fehlenden Rechtsanwendungswillen und Rechtstreue sowie die Sorgfalt der beteiligten Richter beziehen könnten. Umgekehrt ist auch die Standhaftigkeit des Richters am Familiengericht ein bemerkenswertes berufsmoralisches Phänomen, der sich von der Linie des Oberlandesgerichtes in seinem „Willen zum Recht“ nicht beirren ließ. Der Fall Mollath warf in den Jahren 2012 und 2013 vor allem Fragen nach dem Umgang mit „schwierigen“ Beteiligten und einer „Fehlerkultur“ der Justiz auf, wobei der oder die richterlichen Fehler schnell – zum Teil vorschnell – ausgemacht waren: Frühzeitiges Abstempeln des Betroffenen als wahnhaften Querulanten, Liegenlassen von Rechtsmitteln, unzureichende Sachaufklärung im Strafverfahren sowie im Verfahren auf Überprüfung der Unterbringung, richterlicher 787 Zur intensiven Kritik hieran: Cebulla/Schulte-Kellinghaus, Richterliche Unabhängigkeit (Fn. 782/C.), BJ 2010, S. 235. 788 NJW 2008, S. 3585; vgl. hierzu die scharfe Kritik von R. Lamprecht, Freispruch in eigener Sache, in: myops 2009, S. 4 ff. 789 R. Lamprecht, plädiert daher in Anknüpfung an die Entscheidungen des 47. Deutschen Juristentages von 1968 für ein Recht zur „Dissenting Opinion“ bei den Obergerichten, in: Fragwürdige Schweigepflicht – Plädoyer für ein Recht zur „Dissenting Opinion“ bei den Obergerichten, in: ZRP 2010, S. 117. 790 Eckertz-Höfer, Guter Richter (Fn. 119/A.), S. 33. 791 Lamprecht, Rechtsstaat (Fn. 781/C.), NJW 2007, S. 2744. 792 Cebulla/Schulte-Kellinghaus, Richterliche Unabhängigkeit (Fn. 782/C.), BJ 2010, S. 230.
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C. Elemente einer deskriptiven richterlichen Ethik
Übergriff in Ermittlungstätigkeiten von Finanzbehörden, hartnäckiges Festhalten an einmal getroffenen richterlichen Entscheidungen, Sachverständigenglauben der Richter etc. Der Sachverhalt, der dem Fall zugrunde lag, ist in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 26.08.2013 – 2 BvR 371/12 – zusammengefasst793: Herr Mollath wurde vom Landgericht Nürnberg-Fürth im August 2006 zwar von den Vorwürfen der gefährlichen Körperverletzung, der Freiheitsberaubung sowie der Sachbeschädigung freigesprochen. Allerdings wurde seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Das Gericht führte aus, der Angeklagte habe zwar den objektiven Tatbestand der genannten Delikte erfüllt, es könne aber nicht ausgeschlossen werden, dass er zu den Tatzeitpunkten schuldunfähig gewesen sei. Wie sich aus dem eingeholten Sachverständigengutachten ergebe, leide er an einer paranoiden Wahnsymptomatik, die sein Denken und Handeln zunehmend bestimme. Auch in der Hauptverhandlung habe sich seine wahnhafte Gedankenwelt vor allem in Bezug auf einen „Schwarzgeldskandal“, in den seine frühere Ehefrau verstrickt gewesen sei und die Anlass für die Taten geboten habe, bestätigt. Unabhängig davon, ob es Schwarzgeldverschiebungen gegeben habe (die Behauptungen waren nach einem internen, dem Gericht nicht bekannten Bericht teilweise tatsächlich zutreffend), sei es wahnhaft, dass er fast alle Personen, mit denen er zu tun habe, mit diesem Skandal in Verbindung bringe und alle erdenklichen Beschuldigungen gegen diese Personen äußere. Die Unterbringung wurde ab Februar 2007 vollzogen. Mollath, der sich für gesund hielt, verweigerte jegliche therapeutische Bearbeitung seines Verhaltens. Deshalb und weil psychiatrische Gutachten seine Gefährlichkeit nicht ausschließen konnten bzw. von einer solchen ausgingen, scheiterten Versuche, die Unterbringung zu beenden. In der Öffentlichkeit wurde der Fall und das Verhalten der entscheidenden Richter (und der ihnen zuarbeitenden Sachverständigen) zunehmend diskutiert, weil der das Vorbringen des Angeklagten – soweit nachprüfbar – bestätigende Revisionsbericht der betroffenen Bank bekannt wurde, das Verhalten seiner früheren Frau nicht hinreichend berücksichtigt habe (Drohungen gegen den Angeklagten, Ausscheiden aus der Bank infolge der Schwarzgeldaffäre, Vorlage eines möglicherweise falschen Attestes zum Gesundheitszustand ihres Mannes), der Vorsitzende Richter des Ausgangsgerichts wohl Einfluss auf parallel laufende Ermittlungen der Finanzbehörde genommen habe, Sachverständigengutachten im Unterbringungsverfahren fachlich angegriffen wurden, ein Wiederaufnahmeverfahren wegen Rechtsbeugung abgelehnt wurde etc.794 Durch gerichtliche Ent793 NJW 2013, S. 3228; vgl. auch J. Hauer, Anmerkungen und Gedanken zum Fall Mollath, in: ZRP 2013, S. 209 ff. 794 Vgl. im Einzelnen den Bericht des Untersuchungsausschuss des bayerischen Landtags: Bay.LT-Dr. 16/17741.
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scheidungen wurde die Unterbringung beendet und das Strafverfahren wiederaufgenommen, der Angeklagte letztlich freigesprochen. Neben den rechtlichen Fehlern und dem rechtlich unzulässigen Verhalten von Richtern werden hier auch berufsethische Fragen aufgerufen und individuelle wie systemische Defizite sichtbar: Lässt man die Besonderheiten des Falles, etwa die mediale Zuspitzung in Zeiten eines beginnenden Wahlkampfes, beiseite, zeigt er, dass richterliches Verhalten bei tatsächlich oder vermeintlich querulatorischen Beteiligten oder Angeklagten zur Gefahr des Rechtsverlusts, konsequentem Ausblenden von (entlastenden) Umständen und weitgehend ungeprüfter Übernahme von sachverständigen Äußerungen führen kann. Auch verwirklichte sich die stets bestehende Gefahr, dass in der richterlichen Routine die Sorgfalt, umfassend aufzuklären795, und die Bereitschaft zuzuhören leiden kann. Er macht schließlich die Forderung drängend, dass es dann, wenn erhebliche Zweifel am Ergebnis eines rechtsstaatlichen Verfahrens aufkommen, die zu seiner Korrektur bestehenden Verfahren ergebnisoffen und mit besonderer Akribie betrieben werden müssen. bb) Verhalten des Richters im Verfahren Der sogenannte „Schill-Skandal“ 796 spielt eher im Verfahrensrecht. Der Hamburger Amtsrichter und spätere Innensenator Schill, der 1997/1998 vom Boulevard wegen seiner hohen Strafaussprüche für Bagatelldelikte als „Richter Gnadenlos“ tituliert wurde und der öffentlich für die Wiedereinführung der Todesstrafe plädierte, berührte die objektiven Grenzen des Rechts erst mit der zögerlichen Handhabung einer Beschwerde gegen eine von ihm verhängte Ordnungshaft aufgrund seiner sitzungspolizeilichen Befugnisse. Das Urteil des Landgerichts Hamburg, mit dem es ihn wegen Rechtsbeugung verurteilt hatte, wurde vom Bundesgerichtshof aufgehoben797. Der Bundesgerichtshof sah – trotz des Beschleunigungsgebots bei Haftsachen – mit der von Schill gewählten Verfahrensweise die äußeren Grenzen des ihm für die Weiterleitung der Beschwerden einzuräumenden Ermessens nicht in schwerwiegender Weise missachtet. Auch hier – wie hinsichtlich der im Zusammenhang mit dieser Sache einem Journalisten gegenüber getätigten Äußerung des Richters, „er müsse ja nicht gleich springen, wenn Anwälte etwas von ihm wollten“ – sind aber berufsmoralische Fragen zum Umgang mit dem Bürger und der richterlichen „Macht“ bei Ermessensentscheidungen aufgeworfen. Als skandalös wurde auch die „Massenverhaftung von Nürnberg“ bezeichnet798. Dort wurden am 05.03.1981 141 Personen nach einer Demonstration mit 795
Vgl. auch BVerfG (K), B. v. 11.07.2014 – 2 BvR 689/14 – NJW 2014, S. 3294. Kauffmann, Konstruktion (Fn. 283/B.), S. 131 ff. 797 BGH, Urteil vom 04.09. 2001 – 5 StR 92/01 – zit. nach Juris. 798 Vgl. Sind wir denn hier in Südamerika? In: Der Spiegel, Ausgabe 12/1981. Abgerufen am 03.03.2012. 796
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Sachschäden im Nürnberger Kulturzentrum KOMM verhaftet. Die Ermittlungsrichter hatten dabei vervielfältigte und gleichlautende Haftbefehle erlassen, die in der Folgezeit einer weiteren Prüfung nicht standhielten. Die undifferenzierte Feststellung von dringendem Tatverdacht sowie Flucht- und Verdunkelungsgefahr und die unkritisch enge Zusammenarbeit mit der Polizei hat den fünf Ermittlungsrichter den Vorwurf eingetragen, den Richtervorbehalt ihrem vorauseilenden Gehorsam gegenüber den „Herrschenden“ geopfert zu haben799. Dass im Verfahren Mannesmann-Vodafone, einem „der spektakulärsten Wirtschaftsstrafverfahren der Nachkriegszeit“ 800 mit den Angeklagten Josef Ackermann, Klaus Esser, Joachim Funk und Klaus Zwickel rechtliche Amtspflichten durch Richter verletzt wurden, ist nicht behauptet worden. Allerdings hat das Landgericht Düsseldorf trotz der Feststellung des Bundesgerichtshofs, dass Akkermann, Funk und Zwickel den objektiven Tatbestand der Untreue erfüllt sowie Esser Beihilfe hierzu geleistet habe801, nach der Zurückverweisung der Sache an das Landgericht nach wenigen Wochen durch Beschluss die vorläufige Einstellung des Verfahrens verfügt und den Angeklagten auferlegt, hohe Zahlungen an die Staatskasse sowie an gemeinnützige Einrichtungen zu leisten. In diesem Falle – wie bei der CDU-Parteispendenaffäre in der Causa Helmut Kohl802 oder im Falle Eccelstone803 – stellt sich jedoch die Frage, ob mit Blick auf die Bedeutung dieser Sachen für die Rechtskultur und das Vertrauen in eine Justiz, die „ohne Ansehen der Person“ handeln muss, auch berufsmoralische Erwägungen nicht ein Durchverhandeln der Sache mit einem Urteil – mit dem möglichen Ergebnis des Freispruchs804 – geboten hätten. Keine moralische, sondern eine dienstrechtliche Pflicht ist dagegen verletzt, wenn ein Kammervorsitzender – im entschiedenen und großes Aufsehen erregenden Fall sogar ein Gerichtspräsident805 – Einzelrichterentscheidungen nachträglich korrigiert und ohne Zustimmung und Kenntnis des zuständigen Einzelrich799
R. Lamprecht, Das Richterbild Außenstehender, in: DRiZ 1988, S. 161, 165. Zur Geschichte und zum Abschluss des Verfahrens: Götz, Strafprozessuale und aktienrechtliche Anmerkungen zum Mannesmann-Prozess, in: NJW 2007, S. 419; die Richter besonders kritisch kommentierend: W. Grasnick, In Skandalgewittern – Elitejustiz als Blitzableiter, in: myops 2008, S. 46 ff. 801 U. v. 21.12.2005 – 3 StR 470/04 – zit. nach Juris. 802 LG Bonn, B. v. 28. 2. 2001 – 27 AR 2/01 – zit. nach Juris. 803 Vgl. Gaede, Die Justiz verkauft ihr eigenes Kapital, FAZ v. 13.08.2014. hierzu auch S. Wußler, Transparentes Verfahrensende, in: DRiZ 2014, S. 335, der meint, das Gericht müsse in diesen Fällen ein hohes Maß an Transparenz üben, um auch in der Öffentlichkeit zu überzeugen. 804 Vgl. hierzu Hamm, Wie man in richterlicher Unabhängigkeit vor unklaren Gesetzeslagen kapituliert, in: NJW 2001, S. 1694. 805 BVerfG (K), B. v. 29.02.1996 – 2 BvR 136/96 –, zit. nach Juris, in einem richterdienstrechtlichen Disziplinarverfahren gegen den Präsidenten eines Verwaltungsgerichts. 800
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ters Änderungen vornimmt. Insoweit liegt ein den Tatbestand des Dienstvergehens begründender Eingriff in die richterliche Unabhängigkeit vor. Denn steht ein Richter nach Übertragung der Sache an den Einzelrichter außerhalb des Streitverfahrens, so ist ihm als gesetzlich nicht zur Entscheidung berufener Richter eine „Mitwirkung“ an der Entscheidungsfindung oder der schriftlichen Niederlegung der richterlichen Überzeugung in jeder Hinsicht verschlossen. In der richterlichen Praxis kommt es nicht selten vor, dass am Verfahren Unbeteiligte durch Schriftsätze oder Anrufe Einfluss auf ein laufendes Verfahren nehmen wollen. Üblicherweise wird ein Richter in diesen Fällen den Dritten höflich abweisen. Besonders problematisch und die innere Unabhängigkeit berührend ist es, wenn Politiker (Abgeordnete, Minister) sich nach einem Verfahren „erkundigen“. Auch wenn dies selten ist – das politische Risiko eines solchen Verhaltens hat sich inzwischen herumgesprochen – und noch seltener öffentlich wird, so kommt es doch vor. Die prozessuale Reaktion kann und darf bereits rechtlich keine andere sein wie bei jedem anderen Dritten, nämlich die Zurückweisung jeglichen Versuchs der Einflussnahme. Berufsmoralisch dürfte es überdies geboten sein, den Anrufer über den Grundsatz der Gewaltenteilung zu belehren und die Beteiligten über einen Versuch der Einflussnahme zu unterrichten. Dass das gebotene Verhalten der Abgrenzung nicht selbstverständlich ist, hat ein Vorfall in Mecklenburg-Vorpommern im Juni 1994 gezeigt. Nach dem Anruf des Justizstaatsekretärs, der sich kurz vor Pfingsten nach dem Fortgang eines Strafverfahrens zu einem unmittelbar vorher geschehenen Gewaltdelikt unter Jugendlichen erkundigte, das in der Öffentlichkeit angesichts der Brutalität und der Tatumstände zu großer Empörung geführt hat806, hat der Direktor des Amtsgerichts als Vertreter der zuständigen Richterin am Nachmittag des Pfingstsonntags die geständigen und teilweise einsitzenden Täter abgeurteilt. Dies geschah trotz der Zusage der zuständigen Richterin am Mittwoch nach Pfingsten zu verhandeln. Rechtlich ist das Vorgehen des Amtsgerichtsdirektors nicht angreifbar. Berufsmoralisch hatte er die Abwägung zu treffen, einerseits durch zügige Reaktion der Justiz das Vertrauen in die Funktionsfähigkeit zu wahren, andererseits den Eindruck der Willfährigkeit von Richtern gegenüber (justiz)politischen Forderungen zu vermeiden und damit das Vertrauen in die Unabhängigkeit der Richter zu erhalten. Nach Lage der Dinge sprach alles für eine Entscheidung durch die zuständige Richterin. cc) Verhalten des Richters außerhalb des Dienstes Anlass für Konflikte kann die schriftstellerische Tätigkeit des Richters sein, sei es dass sie Fragen der Justiz selbst oder das von ihm bearbeitete Rechtsgebiet betrifft. 806
Vgl. Kommentar und Darstellung des Vorgangs: in: DRiZ1994, S. 350 f.
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C. Elemente einer deskriptiven richterlichen Ethik
Aus heutiger Sicht nur noch schwer nachzuvollziehen ist der durch die Veröffentlichung des Buches „Im Paragraphenturm – Eine Streitschrift zur Entideologisierung der Justiz“ (unter dem Pseudonym Xaver Berra)807 von Theo Rasehorn 1966 ausgelöste „Skandal“ 808. Der damalige Landgerichtsrat setzt sich in ihm außer mit den Problemen der Justizorganisation mit verbreiteten Ansichten und Haltungen seiner Richterkollegen mit Schärfe auseinander und stellt ihnen seine Vorstellung vom „menschlichen“, nicht autoritären, lebensnahen und sozialstaatlich orientierten Richter entgegen. Die heftige Reaktion auf seine Feststellungen809 zeigt eindrucksvoll, wie zeitbedingt auch und gerade berufsmoralische Überzeugungen in der Richterschaft sind und wie mobilisierend die Infragestellung des Komments wirkt. Das Buch und seine Reaktion hierauf sind Ausdruck eines Umbruchs in der Richterschaft und ihrer Haltung zu Staat, Recht und Gesellschaft. Diese Debatte kann als erste große richterethische Auseinandersetzung in der Geschichte der Bundesrepublik gelten, auch wenn sie so nicht genannt wurde. Soll der Richter kühl, distanziert und auch in der Verhandlung emotionslos das Recht „pünktlich“ anwenden oder menschlich warm, dem Unterprivilegierten zugewandt und in harter Distanz zur „Macht“ handeln? In dieser Umbruchsphase spitzte sich die Frage auf Alternativen zu, die in einer „entideologisierten“ Zeit nicht als grundsätzliche Haltungs-, sondern als situationsgerechte Handlungsalternativen gedeutet werden könnten. Berufsrechtliche und berufsmoralische Fragen sind insbesondere dann berührt, wenn Richter sich außerhalb des Dienstes unter ausdrücklicher oder stillschweigender Berufung auf ihr Richteramt politisch äußern oder betätigen. Wegen der Vielzahl der Fälle810 sollen hier nur die Betätigungen betrachtet werden, die für erhebliches Aufsehen gesorgt haben. Vor allem am Anfang der achtziger Jahre war das öffentliche Engagement von Richtern gegen die beabsichtigte Raketenstationierung und hierzu verfasste Protestanzeigen in Zeitungen bzw. das Auftreten bei öffentlichen Diskussionsveranstaltungen von Bedeutung811. Besonders aber die Richterblockade 1987 in Mutlangen812 hat die Frage aufgeworfen, ob neben strafrechtlich und dienstrechtlich zu ahndenden Pflichtverletzungen nicht auch berufsmoralische Pflichten verletzt wurden. Insbesondere wurde jenseits der rechtlichen Grenzen in der öffentlichen Diskussion – wie schon zuvor und später bei der Auseinandersetzung um die Änderung des § 218 StGB, den „Radikalenerlass“, die Anti-Atomkraft-Bewegung 807
Vgl. Im Paragraphenturm, 2. Aufl., Berlin/Neuwied 1967. Kauffmann, Konstruktion (Fn. 283/B.), S. 110 ff. 809 Kauffmann, Konstruktion (Fn. 283/B.), S. 117 ff. 810 Vgl. Lansnicker, Richteramt (Fn. 472/C.), S. 58 ff. 811 Vgl. Lansnicker, Richteramt (Fn. 472/C.), S. 58 ff. 812 Lansnicker, Richteramt (Fn. 472/C.), S. 249 ff.; K. Rudolph, Blockierende Richter – Eine Herausforderung für den Rechtsstaat? in: DRiZ 1988, S. 131 ff. Wipfelder, Bürger (Fn. 22/A.), DRiZ 1987, S. 125. 808
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und bei der Änderung des Asylrechts – das Mäßigungsgebot der Richter813 und damit insgesamt die Zulässigkeit und Grenzen der politischen Betätigung von Richtern diskutiert. Vor allem das Problem des Missbrauchs des Amtsbonus für die verstärkte Durchsetzungskraft einer politischen Ansicht, der bewusst in Kauf genommene Widerspruch zum Recht und der handgreifliche Konflikt zwischen polizeilichen Vollzugskräften und Richtern wirft neben rechtlichen berufsmoralische Fragen auf, die sich auch nicht mit der „Legitimität“ des politischen Anliegens oder dem – auch den Richter zustehenden – Recht auf freie Meinungsäußerung beiseiteschieben lassen814. Als Skandal wurde auch der Fall „Henrichs“ wahrgenommen und gedeutet815. 1996 hat der damalige Präsident des OLG Frankfurt/Main und Präsident des Hessischen Staatsgerichtshofs im Rahmen einer angemeldeten Nebentätigkeit als Vorsitzender einer IG-Metall-Untersuchungskommission sich ein Honorar von ca. 1,3 Mio. DM versprechen und auszahlen lassen. Die zunehmend eskalierende Diskussion über Umfang, Ausmaß und Honorierung richterlicher Nebentätigkeit zeigte auf, dass es jenseits des geltenden Nebentätigkeitsrechts, dessen korrekte Anwendung im anlassgebenden Fall in Frage stand, eine klare Verhaltenserwartung an den Richter gibt, nämlich dass er sich auf sein Hauptamt konzentrieren soll und bei außerdienstlichen Nebentätigkeiten größte Zurückhaltung zu üben hat. Die Verwirklichung dieser Forderung unterhalb der Schwelle und diesseits der Grenzen des Nebentätigkeitsrechts ist damit eine Frage der Berufsmoral. In diesen Komplex fallen auch Nebentätigkeiten in den Bereichen, die eine große Nähe zum Hauptamt besitzen, nämlich die Vortragstätigkeit zu beruflich bearbeiteten Rechtsgebieten. Insbesondere Richter von Obergerichten und Bundesgerichten, deren Entscheidungen in dem jeweiligen Rechtsgebiet abschließend sind, stehen in der Gefahr, bei ihren Vorträgen in berufsmoralische Konflikte zu geraten, wenn sie sich nicht auf die Darstellung der bisherigen Rechtsprechung beschränken, sondern „die weitere Entwicklung“ prognostizieren wollen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass das Befangenheitsrecht Festlegungen in wissenschaftlichen Darstellungen und Vorträgen nur zum Teil erfasst. Dort wo rechtlich keine Befangenheit festgestellt werden kann, ist jedenfalls innere Unabhängigkeit berührt und ggf. eingeschränkt. Dies kann zum berufsmoralischen Problem werden. b) Die Leitbilddebatte Die Diskussion um Richterleitbilder ist älter als die richterethische Debatte, sie kann aber als ihre Grundlage gelten. Denn bei ihr ging es in hohem Maße um Verhaltenserwartungen an Richter, wobei nicht selten ein enger Bezug zu Sollens813
Dokumentiert bei Lansnicker, Richteramt (Fn. 472/C.), S. 253 ff. In diesem Sinne differenzierend: Rudolph, Blockierende Richter (Fn. 812/C.), DRiZ 1988, S. 134. 815 Kauffmann, Konstruktion (Fn. 283/B.), S. 133 ff. auch zum Folgenden. 814
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C. Elemente einer deskriptiven richterlichen Ethik
anforderungen besteht. Die Leitbilddebatte kann insoweit als Grundlage für richterethische Untersuchungen dienen, als sich im jeweils vertretenen Leitbild Sollensaussagen zum richterlichen Handeln ausdrücken und damit zur Grundlage der Berufs- und Gruppenmoral werden können, die wiederum Gegenstand der ethischen Untersuchung ist. Damit ist sie im Rahmen der deskriptiven Erfassung von Sollensanforderungen an den Richtern heranzuziehen. Allerdings enthalten Leitbilder auch Erwartungen ohne Wertung und rechtliche Vorgaben816. Insoweit ist der Unterschied zur Berufsethik zu beachten, die auf der Suche nach nichtrechtlichen, aber normativen Ansprüchen an den Richter ist. Von den Richterleitbildern ist in jedem Falle das Leitbild von Gerichten, Gerichtsbarkeiten bzw. der gesamten Justiz eines Bundeslandes zu unterscheiden817. Mustert man die Leitbilder etwa des Bundesarbeitsgerichtes oder der bayerischen oder der nordrhein-westfälischen Justiz, die im Internet verfügbar sind, findet man regelmäßig unter der Rubrik „Wir über uns“ allgemeine Funktionsbeschreibungen mit dem Angebot der Bürgerfreundlichkeit und Effizienz. Sie stehen im Kontext der „Organisationsentwicklung“ und haben ihren Platz als Akt der Vergewisserung der eigenen Aufgabe, um die Grundlage der „Kultur“ und „Philosophie“ der Organisation zu fixieren. Von hier aus werden Optimierungen der Abläufe und des Umgangs innerhalb der Organisation und gegenüber den Bürgern angestrebt. Leitbilder werden regelmäßig von den Justizverwaltungen, insbesondere den Ministerien, formuliert, wobei Personalvertretungen und/oder in Gestalt von „Arbeitsgruppen“ das gesamte Personal beteiligt sein können. Sie sind jedenfalls in der Regel kein Produkt richterlicher Reflexion. Um rechtsethische Selbstverpflichtungen zu definieren, sind sie zu abstrakt, allgemein und zumeist nur gesetzeswiederholend. Insbesondere können sie als Ergebnisse von Organisationsentwicklern bzw. nicht demokratisch legitimierten Arbeitsgruppen keine „Selbstverpflichtung“ der Richter begründen, auch wenn die „Wir“-Sprache diesen Anschein erweckt. Daneben gibt es sehr konkrete „Leitbilder“ für das Urteil oder für die Durchführung mündlicher Verhandlungen, die zwar unter dem Aspekt der Sorgfaltspflicht einen berufsmoralischen Kern enthalten, aber eher praxisbezogene Anweisungen zur professionellen Aufgabenerfüllung sind. aa) Bilder von Richtern818 Älter als die Leitbilddebatte wiederum ist die literarische und künstlerische Darstellung von Richtern. Sie bietet reiches Anschauungsmaterial, welche Ver816
Kauffmann, Konstruktion (Fn. 283/B.), S. 41. Kritisch hierzu: P. Becker, Leitbild und Organisationsentwicklung, in: BJ 53 (1998), S. 199 ff. und A. Späth, Wie das Leitbild zum Light-Bild wird – Sinn und Unsinn eines Leitbildes für die Justiz – am Beispiel Baden-Württemberg, in: BJ 1998, S. 241 ff. Beide auch zum Folgenden. 818 Jung, Richterbilder (Fn. 3/A.), S. 141 ff., verbindet die Beschreibung künstlerische Darstellungen von Richtern mit den Anforderungen an Richter von außen. 817
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haltenserwartungen, Ängste und enttäuschte Hoffnungen an und gegenüber der richterlichen Tätigkeit bestehen. Sie könnten Grundlage empirisch-deskriptiver Feststellungen zu nichtrechtlichen Pflichten des Richters geben. Allerdings würde diese Bestandsaufnahme zu weit führen und den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen. Viele Schriftsteller, wie Brant, Morus, Opitz, Gryphius, Goethe, Kleist, Heine, E. T. A. Hofmann, Kafka, Rosendorfer etc., hatten selbst eine juristische Ausbildung, fanden als Richter, Beamte oder als Anwälte und Notare ihren – zumeist engagiert ausgefüllten – Brotberuf. Sie verarbeiten als Literaten in besonderer Weise ihre beruflichen Erfahrungen mit der Justiz und seinem Personal. „Ungerechtigkeit“ als existenzielle Erfahrung und Hoffnung auf „Gerechtigkeit“ trieb in besonderer Weise die literarische Reflexion über juristisch geprägte Kontexte an. Gerade wegen des undeutlichen Inhalts dieses Leitbegriffs und der mit ihr bezeichneten Erfahrung bietet er einen geeigneten und schillernden Hintergrund für die literarische Beschäftigung mit ihr, zur Schaffung konkreter Utopien oder der Kritik, Bewertung und Verarbeitung der (Rechts-)Wirklichkeit. Die Aufgabe des Richters, „Gerechtigkeit zu üben“, wird als besonders verantwortungsvoll, aber auch als besonders anfechtbar angesehen. Damit wird sein Handeln in der Literatur zum Katalysator existenziellen Geschehens, was auch die Erwartung an sein Verhalten prägt. Aus der positiven oder negativen literarischen Verarbeitung seines Handelns lassen sich folglich Rückschlüsse dafür gewinnen, welche Erwartungen an sein „Berufsethos“ gestellt werden. Daneben stehen seit frühester Zeit echte „Richterbilder“, die sogar unmittelbar in räumlicher Beziehung zum Akt der Rechtsprechung stehen, so etwa die Darstellung des Jüngsten Gerichts in Gerichtssälen als Schrecken aller Richter, ihr Gewissen anzustrengen819. Gott steht als Richter über den Häuptern der irdischen Richter (vgl. etwa das Grazer Gerechtigkeitsbild). In der Neuzeit steht eher die kritische Auseinandersetzung mit dem Richter im Mittelpunkt, etwa bei Kurt Mühlenhaupt in seinem Bild „Der Richter – Die vielseitige Auslegung Deutschen Rechts“, auf dem ein Richter mit drei Gesichtern zu sehen ist. bb) Die Diskussion und die Formulierung von Richterleitbildern Richterbild und Richterleitbild sind nicht leicht zu unterscheiden820. Das Richterbild ist tendenziell empirisch und deskriptiv821, das Richterleitbild mehr nor819 Vgl. W. Schild, Gott als Richter, in: W. Pleister/W. Schild (Hrsg.), Recht und Gerechtigkeit im Spiegel der europäischen Kunst, Köln 1988, S. 44 ff. 820 Lansnicker, Richteramt (Fn. 472/C.), S. 39 ff. 821 Vgl. etwa die empirische Untersuchung bei Tappert, Richterbilder (Fn. 742/C.), DRiZ 2009, S. 46 ff., der dabei vor allem die (kritische) Berichterstattung über spektakuläre Fälle, aber auch über die Haltung der Richter (Weltfremdheit, Faulheit, Rückwärtsgewandtheit) in den Blick nimmt. Dabei geht es auch um den idealen Richter (gesetzesgebunden, schnell, verständlich, zurückhaltend, kostengünstig) und die Wahrnehmung seiner – gefährdeten – Unabhängigkeit.
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C. Elemente einer deskriptiven richterlichen Ethik
mativ. Die Metapher „Bild“ dient systemtheoretisch der Reduzierung von Komplexität und damit der Orientierung822. Diffus Empfundenes soll auf eine „Ganzheit“ gebracht werden, ohne die Option unterschiedlicher Perspektiven zu unterbinden. Das „Richterbild“ kann auf unterschiedliche Weise verstanden werden: idealtypisch – also wie er sein soll – oder realtypisch – also wie er ist823. Geht es um ein „Leit“-Bild, so ist mit ihm regelmäßig ein appellativer Anspruch verbunden. Hinterfragt man so den Begriff des Richterleitbilds, so ist es der Versuch, die professionelle Aufgabe in einen Orientierungsrahmen zu stellen, der einen Anspruch an den Richter stellt. Damit enthält er im Kern definierte Rollenerwartungen an die Richter824, also an ihr professionelles richterliches Handeln und Verhalten. Diese Rollenerwartungen können an den Richter als Person, aber auch an seine „professionelle Einstellung“, sein richtiges „Rollenverständnis“ 825 von außen herangetragen oder von den Richtern übernommen werden. Sie werden insoweit zu einem Spiegel dessen, was seine Berufsmoral ist oder sein soll826. Dass dieses Verständnis richtig ist, zeigt die Aufgabenzuschreibung für die Leitbilddebatte. „Richterleitbilder unterscheiden und kategorisieren“, heißt danach, „Deutungsmuster, Sollvorstellungen darüber, wie der Richter handeln, welche Funktion sein Handeln haben soll“, 827 entwickeln. Auch wenn diese Debatte strategischen und appellativen Charakter zur „Formung eines herrschenden Richterbildes“ haben kann, sind diese Äußerungen Sollensanforderungen an richterliches Handeln. Geht man von der These aus, dass Richterleitbilder Elemente der Berufsmoral erfassen, bietet die Beschäftigung mit Richterleitbildern nicht nur wichtige Erkenntnisse über den Bestand der Ansichten richterlicher Berufsmoral. Häufig ist die Diskussion um Richterleitbilder identisch mit der Frage nach richterlicher Moral828. Das herrschende Richterleitbild wird dabei besonders akzentuiert, wenn es mit Richterleitbildern anderer Rechtsordnungen verglichen wird829.
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Auer, Menschenbild (Fn. 199/B.), ARSP 2007, S. 493, 498. Auer, Menschenbild (Fn. 199/B.), ARSP 2007, S. 493, 502 ff. fasst die Differenzierung des „Menschenbildes“ als rechtsethischen Begriff noch weiter und nimmt noch das „normative“ und das „personale“ Bild dazu. Hempel, Richterleitbilder (Fn. 532/C.), S. 11 f. meint, nach der „Autorität“ (Gesetz, Theologie, Philosophie, der Richter selbst) für das richterliche Urteilen fragen zu müssen. 824 Vgl. zu dem insgesamt eher uneinheitlichen Begriffsverständnis: Giesel, Leitbilder in den Sozialwissenschaften: Begriffe, Theorien und Forschungskonzepte, 2007, S. 38 ff., 53 f.; Kauffmann, Konstruktion (Fn. 283/B.), S. 38. 825 Kauffmann, Richterleitbilder (Fn. 284/B.), DRiZ 2008, S. 194. 826 Strecker, Ethik (Fn. 59/A.), BJ 2004, S.379, meint hingegen, dies habe nichts mit richterlicher Ethik zu tun, obwohl er einräumt, es gehe um „Sekundärtugenden“. 827 Kauffmann, Richterleitbilder (Fn. 284/B.), DRiZ 2008, S. 194, 195. 828 Titz, Berufsethos (Fn. 119/A.), DRiZ 2008, S. 98, setzt dies fast gleich; Wassermann, Pluralitäre Gesellschaft (Fn. 34/A.), SchlHAnz. 2002, S. 32. 829 Vgl. etwa Ranieri, Juristenausbildung (Fn. 261/C.), DRiZ 1998, S. 285, der das deutsche in Beziehung setzt zum englischen, dem französischen und italienischen Richterleitbild. 823
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Die Richterleitbilddebatte ist deutlich älter als die Diskussion um die richterliche Ethik. Bereits in den 50-er Jahren gab es intensive Diskussionen und Reflexionen zur Stellung des Richters und dessen Leitbild830. Hintergrund war, dass aus den historischen Erfahrungen831 bei der Neuordnung und -regelung des Richteramts die erforderlichen Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen waren. Trotz und wegen der Erfahrungen mit der NS-Justiz hat das Grundgesetz die Stellung des Richters gestärkt und damit die Grundlage dafür gelegt, dass die Rechtsprechung zum Stabilisator der neuen Rechts- und Staatsordnung werden konnte. Unbestritten war dabei, dass auch künftig der Berufsrichter das Bild prägen soll und rechtliche Laien nur beteiligt werden sollten832. Wie er nicht (mehr) sein sollte, war auch klar. Wie er aber sein sollte, der „neue Richter“, war erst zu bestimmen und hoch umstritten. Adolf Arndt hat 1956 „Das Bild des Richters“ 833 nach den Forderungen des Grundgesetzes konturiert und die besondere Stellung der Judikative neben der Legislative und Exekutive, des Richters gegenüber dem Beamten betont. Damit griff er auch die restaurativen Tendenzen, die eher der Exekutive zugute kamen, an und versuchte für die noch zu verabschiedenden Richtergesetze ein „Bild des Richters“, „die Idee des Richters“, die „Vision des Richters“ zu entwerfen, das dem verfassungsrechtlichen Auftrag eines freiheitlichen und demokratischen Gemeinwesens entsprach. Unter Rückgriff auf mythologische und literarische Zeugnisse betont er die Unzulänglichkeit und Zeitbedingtheit richterlichen Erkennens, was zum Maßhalten und zum Blick auf den jeweiligen Menschen bei der Entscheidung, die damit nicht nur Rechtsanwendung sei, zwinge. Auf der anderen Seite müsse gegen die traditionelle Auffassung, der Richter sei nur Anwender und Vollstrecker des Gesetzes, im Richter auch der Rechtsschöpfer und sein Anteil an politischer Macht gesehen werden834. Hieraus erwachse aber die persönliche Verantwortung und Verantwortlichkeit des einzelnen Richters. Damit könne er nicht mehr zum Unbeteiligten, Unpolitischen und theoretischen Menschen werden, der seinen Zwiespalt als vermeintlicher Subsumtionsautomat aber tatsächlicher Rechtsschöpfer durch Moralisieren überdecke. Dies müsse er sich bewusst machen, um weder ein vermeintlich unpolitischer noch ein bewusst politischer Richter zu sein. Außerdem müsse seine Verpflichtung gegenüber dem
830 Vgl. Verhandlungen des 37. Deutschen Juristentags, Tübingen 1949, „Die Rechtspflege im Bonner Grundgesetz“; Verhandlungen des 39. Deutschen Juristentags, Tübingen, 1953, zur richterlichen Selbstverwaltung; Verhandlungen des 40. Deutschen Juristentags, Öffentlich-rechtliche Abteilung, Tübingen, 1954, zur Frage: „Wie findet man einen glaubwürdigen Richter?“ Verhandlungen des 41. Deutschen Juristentags, Tübingen, 1955, über den Richter als den „Gestalter“ des Gesetzes bei der Strafzumessung. 831 Hierzu Hempel, Richterleitbilder (Fn. 532/C.), S. 1978. 832 Schmidt-Syaßen, Richterbild (Fn. 151/A.), MHR 1/07, S. 17. 833 Arndt, Bild des Richters (Fn. 5/A.), S. 325 ff. 834 Arndt, Bild des Richters (Fn. 5/A.), S. 330 f.
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konkreten Bürger bei der Wahrung seiner Rechte und des Rechts im Mittelpunkt, nicht aber der abstrakte und anonyme Gesetzesvollzug stehen. Er müsse auf die Wahrheit, die jeweilige Lebenswirklichkeit und die gegenläufigen Interessen achten. Er müsse den Willen des Gesetzgebers möglichst umfassend beachten und dürfe sein – politisches – Interesse nicht in den Vordergrund stellen. Er forderte deshalb auch das Recht auf Selbstausschließung aus Gewissensgründen. Marcic formulierte 1957 sein Hoffnungsbild des Richters835: Er sei berufen den Gesetzesstaat abzulösen, um den Weg zum Richterstaat zu ebnen, in dem durch umfassend philosophisch gebildete Richter die konkrete Gerechtigkeit in der Spruchentscheidung zum Durchbruch komme. Sein Richter steht zwischen dem platonischen Philosophenkönig und dem Idealbild des angelsächsischen Richterkönigs. Das „ererbte Personal“ und die verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen in Deutschland, schlicht die Realität, standen der zeitnahen Verwirklichung dieses Leitbilds aber deutlich entgegen. Die 60-er und 70-er Jahre standen innerhalb der Justiz im Zeichen eines Generationswechsels, der von der Auseinandersetzung mit dem offiziellen, rechtlich vorgegebenen Richterleitbild des Grundgesetzes und des Richtergesetzes auf der einen Seite und der z. T. ungebrochenen personellen und weltanschaulichen Tradition über das Jahr 1945 hinweg geprägt war836. Insbesondere begann die Suche nach Verkörperungen eines demokratischen Richterbildes, etwa im Sinne des Republikanischen Richterbunds. Zum anderen wurde die Öffnung der Justiz für die soziale Wirklichkeit wie ihre „Demokratisierung“ gefordert. Soziologische Untersuchungen fragten nach der „Milieubedingtheit“ des richterlichen Vorverständnisses, manche nach dem „Klassenstandpunkt“. Die Forderung nach mehr Frauen in Richterämtern sollte das verfassungsrechtliche Postulat der Gleichberechtigung der Geschlechter bereits in der personellen Zusammensetzung der Justiz verwirklichen. Ziel sollte eine plurale, vor allem eine „kritische“ Justiz sein. Der bereits erwähnte Rasehorn formulierte „Im Paragraphenturm“ in diesem Sinne Richterleitbilder als Modelle und Grundlagen seiner Justizkritik. Auch die historische Reflexion der Richterleitbilder im 19. und 20. Jahrhundert837, insbesondere der Leitbilder in der Weimarer Republik und der NS-Zeit, führte dazu, das Leitbild des Richters im demokratischen Rechtsstaat zu akzentuieren. Einen wichtigen, aber nicht unumstrittenen Beitrag zur Untersuchung der Richterleitbilder hat in jüngerer Zeit Peter Kauffmann838 mit seiner Arbeit „Zur 835
Marcic, Gesetzesstaat (Fn. 26/A.). Vgl. hierzu W. Kastens, Die Rolle der Richter im demokratischen Rechtsstaat – ein neues Richterbild mit alter Tradition, in: BJ 20 (1989), S. 162 ff.; vgl. auch: Kübler, Richter (Fn. 139/B.), AcP 162 (1963), S. 104. 837 Drosdeck, Richterbilder (Fn. 548/C.), S. 293; Falk, Diener des Staates (Fn. 463/ C.), S. 251 ff.; Hattenhauer, Wandlungen (Fn. 456/C.), S. 9 ff.; Schröder, Richterschaft am Ende des zweiten Kaiserreichs (Fn. 500/C.), S. 201 ff. 836
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Konstruktion des Richterberufs durch Richterleitbilder“ geleistet. In ihrem Zentrum steht das Spektrum von Richterleitbildern, wie sie sich auf der Grundlage zahlreicher richterlicher Selbstäußerungen vor allem in Aufsätzen, Reden und Interviews in den Jahren 1965 bis 1998 gezeigt haben839. Er sucht die Frage zu beantworten, welche Richterleitbilder Richter selbst – und nicht „Außenstehende“ 840 – postulieren. Auf der Grundlage desselben Materials werden Äußerungen von Vertretern der Politik und Wissenschaftlern ausgewertet. Daneben werden – als Modell der „Verfehlung“ richterlicher Berufsmoral – in vier Fallstudien Richterskandale untersucht. Auf dieser Grundlage wird das Tableau bestehender Richterleitbilder beschrieben, das trotz und wegen der offenen normativen Vorgaben der Verfassung und der Gesetze zu richterlichem Handeln feststellbar sei. Dies führe zu einer Vielzahl von Leitbildern und zur Feststellung, dass weder Sicherheit noch Einigkeit über ein geschlossenes Richterleitbild bestehe. Die Unterschiede beträfen das richterliche Entscheidungshandeln, sein Verhalten im Prozess, die gesellschaftliche Funktion des Richters, die ideelle und kognitive Disposition der Richterperson und sein privates Handeln841. Ziel könne es daher nur sein, den Rationalitätsgehalt der Erwartungen an den Richter zu stärken842. Um ein handhabbares Ergebnis seiner Untersuchungen zu formulieren, kommt Kauffmann zu Grundtypen des richterlichen Leitbildes mit diversen Untertypen. Dabei unterscheidet er Leitbildtypen nach verschiedenen Grobkategorien, bezogen auf das Entscheidungshandeln des Richters (Wissenschaftlichkeit, Gerechtigkeit, Wahrheit, Gewissen) und auf dessen Funktion. Als Haupttypen der richterlichen Funktion identifiziert er den „Dogmatiker“ oder „strikten Gesetzesanwender“ (Rechtsfindung durch strikte rationale und formale Methoden- bzw. Logikorientierung), den „Gerechten“ oder „Billigkeitsrichter“ (Orientierung an der jeweiligen Sachgerechtigkeit und schöpferische Rechtsfindung im Einzelfall), den vor dem Staat oder bestimmten Gefahren „schützenden“ Richter, den „politischen Richter“ oder gesellschaftspolitischen „Sozialingenieur“, den „Dienstleister“ oder „Manager“ (Kundenorientierung und Effizienz). Zur Richterpersönlichkeit unterscheidet er den innerlich Unabhängigen von dem an der Hierarchie/dem Präjudiz 838 Kauffmann, Richterleitbilder (Fn. 284/B.), DRiZ 2008, S. 194; ders., Konstruktion (Fn. 283/B.); vgl. zur Kritik dieses Werkes die Rezension von H. Sendler, DVBl. 2004, S. 874; Berlit, Modernisierung (Fn. 253/B.), KritJ 32 (1999), S. 58. 839 Ähnlich zuvor schon Kübler, Richter (Fn. 139/B.), AcP 162 (1963), S. 104 ff. 840 Hierzu: Lamprecht, Richterbild Außenstehender (Fn. 782/C.), DRiZ 1988, S. 161 ff., der den Richtern mangelnden Realitätssinn in ihrer Selbstwahrnehmung bescheinigt, insbesondere dass sie nicht zwischen dem richterlichen Idealbild des umfassend qualifizierten, unbefangenen und gemäßigten Richters und der nüchternen Realität, also – nach seiner Ansicht – der voluntaristischen Entscheidungspraxis, der mangelnden Souveränität beim Vorwurf der Befangenheit und im Umgang mit der NSVergangenheit sowie der politischen Indifferenz unterscheiden könnten. 841 Kauffmann, Richterleitbilder (Fn. 284/B.), DRiZ 2008, S. 194. 842 Kauffmann, Richterleitbilder (Fn. 284/B.), DRiZ 2008, S. 194, 198.
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Orientierten, den Karrieristen, von dem demokratisch Orientierten, den „Richterkönig“, den Selbstbewussten, den Tugendhaften (Mut, Strenge, Fleiß, Pünktlichkeit, Genauigkeit, Bescheidenheit, Ausgeglichenheit, Gelassenheit, Demut) und den Humanen. Hinsichtlich der kognitiven Ausstattung wird unterschieden nach juristischen und außerjuristischen Kenntnissen, nach Fertigkeiten, Bildung und der Fähigkeit zum Aufdecken eigener Vorverständnisse, Vorurteile, Wertungen und Schwächen. Hinsichtlich der Verhandlungsführung wird differenziert nach neutralem oder menschlichen Verhalten, betreuender Führung und nach rhetorischen Fähigkeiten. Zum außerberuflichen Verhalten untersucht er Leitbilder unter dem Aspekt der Zurückhaltung und Mäßigung (Schweigen, politisches Engagement) sowie des Ansehens des Richterstands. Der Gewinn der Untersuchung liegt – wie Sendler in seiner Kritik zu Recht feststellt843 – nicht darin, ein gefestigtes Richterbild zu ermitteln, als vielmehr aufzuzeigen, wie Selbst- und Fremdzuschreibungen entstehen, sich verändern und insbesondere für Veränderungen des Berufsverständnisses genutzt werden können. Kauffmann geht nach seiner differenzierten Analyse soweit zu behaupten, es lasse sich kein Befund über das oder gemeinsame „Ethos“ der deutschen Richterschaft feststellen844. Allerdings muss diese empirische Behauptung nicht dazu führen, dass eine normative richterliche Ethik nicht zu einem anderen Ergebnis kommt. Vor Kauffmann hat Lansnicker845 das Richterbild in der Öffentlichkeit untersucht846. Er unterscheidet das traditionelle vom emanzipatorischen Richterbild. Das erste zeichne ihn als unpolitischen, autoritätsorientierten und staatstragenden „Mund des Gesetzes“ aus, der als Angehöriger einer Funktionselite bei seiner Rechtsprechung politische Askese betreibe. Das emanzipatorische Richterbild stelle den rechtsschöpferischen, sozial engagierten und „politisch“ denkenden Richter in den Vordergrund. In Auseinandersetzung mit den Selbstbildern der Richtervereinigungen (DRB, ÖTV-Fachgruppe Richter und Staatsanwälte847; Richter und Staatsanwälte für den Frieden; Richterratschlag, Neue Richtervereinigung, ASJ; BACDJ) und dem Fremdbild kommt er zu der einleuchtenden und 843
Sendler, (Fn. 838/C.), DVBl. 2004, S. 874. Kauffmann, Konstruktion (Fn. 283/B.), S. 28. 845 Richteramt in Deutschland. Im Spannungsfeld zwischen Recht und Politik, Frankfurt 1996. 846 Lansnicker, Richteramt (Fn. 472/C.), S. 39 ff. 847 Vgl. hierzu auch H.-E. Böttcher, Zum Selbstverständnis gewerkschaftlich organisierter Richter und Staatsanwälte, in: KritJ 14 (1981), S. 172 ff., wobei hier insoweit „Selbstverständnis“ als besonderes Richterleitbild gedeutet wird. Richter verstehen sich danach als „Arbeitnehmer“ – und nicht als „Standesangehörige“ oder „Staatsdiener“ – (S. 175 f.); damit verbunden sei – für den vorliegenden Zusammenhang bedeutsam – insbesondere die Forderung nach einem Abbau des Disziplinarrechts, einer Haltung des „nicht unkritischen Gesetzespositivismus“ (S. 176), eines nichtautoritären Verhandlungsstils. 844
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letztlich nicht überraschenden Erkenntnis, dass es keine Homogenität des „Richterstandes“ mehr gibt. Mit diesem Befund des Pluralismus848 der Richterleitbilder ist jedenfalls auch die Grundlage einer Berufsmoral unsicher, die einen gewissen Konsens über die Verhaltensanforderungen voraussetzt. Von der Funktion des Richters als „Entscheider“ her und im Vergleich zum Denk- und Handlungsstil von Richtern in anderen nationalen Rechtsordnungen, insbesondere der französischen, bestimmt Heike Jung sein Richterbild849. Für den – hier interessierenden – deutschen Richter meint er den im Entscheidungsprozess als Persönlichkeit zurücktretenden Richter zu erkennen, der nach entsprechendem Bemühen eine objektiv richtige Entscheidung treffen wolle und solle850. In seiner historischen Einleitung weist er zu Recht auf die seit archaischer Zeit bestehende Rollenerwartung an richterliche Entscheidungen hin, sie müssten „ideale“ Konfliktentscheidungen sein, wozu auch und gerade die konsensuale Streitbeilegung gehöre. Allerdings gehe diese Möglichkeit mit zunehmender Rechtsdifferenzierung und Konflikthäufigkeit verloren851. Bedeutend ist, dass Jung selbst einen engen Zusammenhang zwischen Richterleitbild und Berufsethik herstellt. Kern des Richterbildes und des richterlichen Selbstverständnisses ist seiner Ansicht nach der Umgang mit dem richterlichen „Gewissen“ 852, wobei er diesen Begriff in Rückbindung an die Prägungen im römischen und kanonischen Recht weit fasst. Es wird Kristallisationspunkt des richterlichen Selbstverständnisses, der Emanzipation von anderen Gewalten, der Legitimation wie der Erwartung der Bürger. In diesem Zusammenhang interpretiert er die Entstehung der richterlichen Moral als Moment der Begrenzung und Sicherung der richterlichen Unabhängigkeit: Die Rolle des unabhängigen Richters enthält die Erwartung, dass er sein Amt unparteilich ausübt. Als Ausdruck der Säkularisierung des Diskurses sieht er es an, dass die Diskussion des richterlichen Gewissens im Diskurs über die Berufsethik „untergetaucht“ sei. Damit seien die von ihm angesprochenen Probleme aber nicht verschwunden853. Diese Probleme werden von ihm im Einzelnen entfaltet und er geht dabei auf die Konsequenzen für die Methodik, die Professionalität des Richters und der Art und Weise der Entscheidungsfindung ein. In einem eigenen Abschnitt widmet er sich der Verantwortlichkeit des Richters854. Dabei geht er zunächst auf die Frage der zivilrechtlichen Haftung des Richters ein, die keine persönliche, sondern eine Staatshaftung sei, streift 848 Vgl. hierzu auch: T. Rasehorn, Vom konservativen zum pluralistischen Richterbild, in: F. J. Düwell (Hrsg.), Anwalt des Rechtsstaates, Festschrift für D. Posser, Köln u. a. 1997, S. 124. 849 Jung, Richterbilder (Fn. 3/A.), S. 7 ff. 850 Jung, Richterbilder (Fn. 3/A.), S. 11. 851 Jung, Richterbilder (Fn. 3/A.), S. 18 f. 852 Jung, Richterbilder (Fn. 3/A.), S. 21. 853 Jung, Richterbilder (Fn. 3/A.), S. 26. 854 Jung, Richterbilder (Fn. 3/A.), S. 115 ff.
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kurz die strafrechtliche Verantwortlichkeit, um dann auf die „richterliche Standesethik“ einzugehen. Jung erklärt sich die Zunahme der Diskussionsbeiträge mit der Zunahme der richterlichen Aufgaben, die durch die Inanspruchnahme der Gerichte als Entscheider gesellschaftlicher Konflikte („Alleskleber“; Juridifizierung und Prozeduralisierung des sozialen Alltags) entstanden seien. Dies führe dazu, Richter „auf den Prüfstand“ zu stellen. Eine andere Ursache sieht er in der Globalisierung des Rechts, die sich auch in der Schaffung inter- und supranationaler Gerichte zeige. Dort träfen die „Haltungen“ national geprägter Richter – und damit von Rechtskulturen – aufeinander. Aber auch Äußerungen des Europarats zwängen zur Reflektion nationalen richterlichen Denkens. Verantwortlichkeit sei das Korrelat der Unabhängigkeit. Richterliche Ethik diene der Prävention gegen eine Missbrauchsdiskussion und der säkularen Sinnstiftung. In jüngster Zeit wurde aus Anlass der Diskussion um die Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung und der Gesetzesbindung des Richters, die die Berufsmoral – wie unter D. noch zu zeigen sein wird – wesentlich berührt, mit dem Bild des Richters als „Pianisten“, der die „Partitur“ – das Gesetz – zu interpretieren habe, besonders heftige Diskussionen ausgelöst855. Der frühere Präsident des Bundesgerichtshofs hat in einem „Zwischenruf“ insoweit festgestellt: „Sucht man ein Bild, so passt meines Erachtens am ehesten das des Pianisten und Komponisten für das Verhältnis des Richters zum Gesetzgeber. Er interpretiert die Vorgaben, mehr oder weniger virtuos, er hat Spielräume, darf aber das Stück nicht verfälschen. Im Übrigen passt dieses Bild auch insoweit, als bestimmte Medien mitunter auf den Pianisten schießen, obwohl sie eigentlich auf den Komponisten zielen müssten.“ 856 Solche Bilder sind nur auf den ersten Blick wertfrei. Dahinter liegt ein sowohl verfassungsrechtlich wie berufsmoralisches Feld zentraler Probleme richterlicher Tätigkeit. In der psychologischen Forschung wurde in enger Beziehung zur Leitbilddiskussion das Problem der „Moraldilemmata“ von Richtern aufgeworfen. Dabei geht es nicht in erster Linie um das Aufsuchen moralischer Regeln und deren konfligierenden Anforderungen. Vielmehr geht es um die Beschreibung eines psychischen Konflikts, der sich aus der Selbstreflexion des Richters857 unter Berücksichtigung der Fremd- und Selbstwahrnehmung seiner Rolle, dem beruflichen „Selbstkonzept“ von Richtern als die Summe seiner Urteile über sich selbst858 und dem „Richterbild“ ergibt. Zum Ausgangspunkt wird dabei nicht sel855 B. Rüthers, Gesetzesbindung oder freie Methodenwahl? – Hypothesen zu einer Diskussion, in: ZRP 2008, S. 48. 856 G. Hirsch, Zwischenruf – Der Richter wird’s schon richten, in: ZRP 2006, S. 161. Ähnlich ders., Auf dem Weg zum Richterstaat? Vom Verhältnis des Richters zum Gesetzgeber in unserer Zeit, in: JZ 2007, S. 853. 857 R. Ludewig-Kedmi, Der Umgang mit dem richterlichen Ich-Ideal: Der Mensch hinter dem Richter, in: M. Heer (Hrsg.): Der Richter und sein Bild, Bern 2008, S. 25. 858 Ludewig-Kedmi, Ich-Ideal (Fn. 857/C.), S. 28.
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ten das Idealbild des „guten“ Richters gemacht, in dem die berufsmoralischen Sollensanforderungen zum Ausdruck kommen und die zum Teil widersprüchlich sind: z. B. unparteilich, gewissenhaft, gelassen, freundlich, fürsorglich, objektiv, sozial- und sachkompetent, effizient, einfühlsam, menschlich, sachlich, geduldig, distanziert, belastbar, empathisch, fleißig, korrekt, verantwortungsbewusst, unabhängig. Aus der Forderung, dem „gerecht zu werden“, entstehen berufsmoralische Entscheidungsdilemmata, die sich folgendermaßen zusammenfassen lassen: Konflikte zwischen Effizienz und Qualität (Verführung zur Quantität; Zusammenhang von Perfektionismus und Stress)859; Konflikt zwischen Entscheidungsfreude und Komplexität (Entscheidungsaversion, delegierter Konflikt)860; Konflikt zwischen Einzelfallgerechtigkeit und eigener Überzeugung bei Unbeweisbarkeit der Tat oder des Anspruchs auf der einen und Regeltreue auf der anderen Seite861; Wahrnehmung außerrechtlicher, meist psychischer Einflussfaktoren auf die Rechtsprechung bei bestehenden Interpretations- und Handlungsspielräumen862. Hieraus ergibt sich die Notwendigkeit von Lösungs- und Bewältigungsstrategien863 auf innerpsychischer Seite und auf der Handlungsebene. Diese Forschung verweist auf bestehende Moralvorstellungen, weil der tatsächlich Konflikt oder das Dilemma ohne sie nicht erklärbar wäre. Sie selbst werden aber nicht zum Gegenstand der Forschung, sondern nur die gelungene oder nicht gelungene Lösung. Die Untersuchung der verschiedenen Richterleitbilder zeigt, dass in ihnen ein berufsmoralischer „Kern“ enthalten, der Gegenstand richterethischer Untersuchung sein muss. c) „Annäherungen“ an eine wissenschaftliche Beschäftigung mit richterlicher Ethik 2003 konnte eine der wesentlichen Initiatorinnen der Diskussion über richterliche Ethik zu Recht feststellen, dass dieses Thema – im Gegensatz zu anderen Ländern – in Deutschland bisher eher unbeachtet geblieben sei864. Ob dafür wirklich die unzureichende Information über die Ethikdebatte in anderen Ländern und Regionen oder Sprachbarrieren die Gründe gewesen sind, ist fraglich. Näher liegt, dass in der seit 1949 geführten Richterleitbilddebatte Überlegungen 859 Ludewig-Kedmi, Ich-Ideal (Fn. 857/C.), S. 30; dies., Moraldilemmata von Richtern. Berufsschwierigkeiten und Bewältigungsversuche aus psychologischer Sicht, in: B. Ehrenzeller/R. Ludewig-Kedmi (Hrsg.): Moraldilemmata von Richtern und Rechtsanwälten, Berufsschwierigkeiten und Bewältigungsstrategien, St. Gallen 2006, S. 16 ff. 860 Ludewig-Kedmi, Ich-Ideal (Fn. 857/C.), S. 32. 861 Ludewig-Kedmi, Ich-Ideal (Fn. 857/C.), S. 35. 862 Ludewig-Kedmi, Ich-Ideal (Fn. 857/C.), S. 37 ff. 863 Ludewig-Kedmi, Moraldilemmata (Fn. 859/C.), S. 26 ff. 864 Krix, Weltweit (Fn. 22/C.), DRiZ 2003, S.149; ebenso Wittreck, Funktionen (Fn. 10/A.), S. 277.
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C. Elemente einer deskriptiven richterlichen Ethik
zur richterlichen Ethik immer mitdiskutiert wurden und die thematische Zuspitzung eher durch die ausländischen und internationalen Vorbilder und Ethikkodizes ausgelöst wurde. Die Annäherung an die richterliche Ethik wurde ab 2003 zunächst von den Berufsverbänden der Richter geleistet, die das Thema „richterliche Ethik“ früh als Chance und Risiko begriffen haben (aa), und führte über öffentliche Veranstaltungen und die Richterakademie (bb) dazu, dass sich lokale Gruppen von Richtern intensiver mit dem Inhalt richterlicher Ethik befassten (cc) und dabei auch empirische Untersuchungen aufgriffen bzw. auslösten (dd). aa) Die Berufsverbände Als einer der ersten Berufsverbände hat sich die Neue Richtervereinigung (NRV) mit Fragen der richterlichen Ethik beschäftigt, nämlich auf der XVII. Mitwirkungskonferenz der Fachgruppe „Justizstruktur und Gerichtsverfassung“ im September 2003 in Fulda865. In seiner danach veröffentlichten Stellungnahme866 hat sich dieser Verband gegen die Übernahme der Prinzipien von Bangalore ausgesprochen, weil sie wegen erheblicher Einschränkungen der Bürgerrechte und starker Reglementierung des Privatlebens nicht dem Richterbild der NRV entsprächen. Zudem sei die Verknüpfung von Verstößen gegen Ethikregeln mit disziplinarischen Folgen abzulehnen, weil durch ein System von Strafen kein ethisches Verhalten verinnerlicht werden könne. Es gelte vielmehr, ein eigenes Berufsethos durch einen Diskurs innerhalb der Richterschaft (fort-)zuentwickeln. Durch eine entsprechende Selbstreflexion werde eine fortlaufende Sensibilisierung der Richterinnen und Richter eintreten, die zu einer Übernahme selbstgewählter ethischer Prinzipien führe. In den Gerichten seien die Präsidien und die Richterräte aufgefordert, mit den Kolleginnen und Kollegen Fragen des Berufsethos zu diskutieren. Anlass hierzu gäben allerorts anzutreffende Probleme, z. B. bei Eingriffen der Justiz- und Gerichtsverwaltung, bei der Zusammenarbeit der Mitarbeiter an einem Gericht, bei der Geschäftsverteilung. Vor allem seien auch die Berufsverbände aufgerufen, den Diskussionsprozess über das Berufsethos innerhalb der Mitgliedschaft voranzutreiben. Die NRV hat dies in der Folgezeit in seinen Publikationen insbesondere in seinen „Landes-Infos“ intensiv getan. So hat der NRV-Landesverband Sachsen Anfang 2004 den ersten Versuch unternommen, im Wege einer als „Richterspiegel“ bezeichneten Sammlung Verhaltenserwartungen zu formulieren867. Vor dem Hintergrund des Verbandsziels einer „besseren“, d.h. demokratischeren Justiz sind dort zunächst allgemeine Anforde865 Vgl. Bolk, Richterliche Ethik (Fn. 126/A.), NRV-info SH 11/2006, S. 18; Häuser, Vorfragen (Fn. 55/A.), BJ 76 (2003), S. 186 auch zum Folgenden. 866 www.nrv-net.de/main.php?id=151&vo_id=293, Stand: 22.12.2011; diese wird auch zit. von: Häuser, Vorfragen (Fn. 55/A.), BJ 76 (2003), S. 192. 867 „Richterspiegel“ – Gedanken des NRV-Landesverbands Sachsen zur richterlichen Ethik, in: Landes-Info Nr. 10 Mai 2004 und Hessen-Info Januar 2004, S. 22–23.
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rungen an die Haltung und die Fähigkeit von allen Richtern beschrieben. In der folgenden Darstellung bleibt der „Spiegelcharakter“ beibehalten: Richter hätten danach zuzuhören, seien „neugierig, ohne sich einzumischen“, stünden „mitten im Leben“, kennten „die Realien, auf die sie die Rechtsordnung anwenden“, seien jederzeit bereit, „auch ein mühsam erarbeitetes Bild vom Fall wegen neuer Informationen zu ändern“, juristisch so kompetent, „dass sie die herrschende Meinung und vertretbare Gegenmeinungen jeweils richtig erkennen und frei zwischen ihnen wählen können“, bildeten sich weiter, seien „zäh und beharrlich“, fänden „das rechte Maß“, seien „bedächtig“, kennten ihre „Vorurteile so gut, dass sie nicht von ihnen beherrscht werden“, seien „sich der Macht, die sie ausüben, bewusst“ und übten sie „sparsam“ aus, schielten nicht auf Beförderung, seien „zwar fast immer juristisch fitter, meistens gebildeter, oft sozial besser gestellt als die Rechtsuchenden, bleiben aber demütig und sagen sich nicht ,Herr, ich danke dir, dass ich nicht so bin wie jene‘“, freuten sich umgekehrt nicht darauf, „den Mächtigen und Reichen zu demonstrieren, wie wenig Ihnen das vor Gericht hilft“, seien „fast immer ärmer, meistens juristisch weniger beschlagen, oft provinzieller als erfolgreiche Anwälte“, ließen sich „dadurch aber weder einschüchtern noch provozieren“, hätten „den Mut, zur eigenen Meinung zustehen, auch gegen Widerstand und Missachtung aus dem Kollegenkreis und der Öffentlichkeit und der Obrigkeit“, würden „weder den eigenen noch den Erfolg der Kollegen am Maß der Übereinstimmung mit dem Rechtsmittelgericht“ messen, bürdeten der eigenen „abweichenden Meinung auf“, arbeiteten „rationell und effektiv“, hätten „keine Angst vor dem Umgang mit Menschen, auch nicht vor deren emotionalen Ausbrüchen“, bauten die Angst der Beteiligten vor dem Verfahren ab, erklärten „die Rechtsordnung in ihrer Anwendung auf den einzelnen Fall“ und ließen sie am Entscheidungsprozess teilnehmen, drückten sich verständlich aus, resignierten nicht, „wenn sich das eigene Rechtsgefühl und die Rechtsordnung nicht in Übereinstimmung bringen“ ließen, sondern plädierten „öffentlich für eine Änderung der Rechtsordnung in diesem Punkt“. Nach dieser alle Richter betreffenden Sammlung werden (nur) für Zivilrichter und Strafrichter besondere Erwartungen formuliert. Zivilrichter hätten „ein Herz für die nicht so gut vertretene, im Ausdruck nicht so gewandte Partei“, sähen „die Rechtsuchenden nicht als Störenfriede des Bürolebens“, begriffen „die Parteien als Menschen, die in einem Konflikt leben, den sie ohne Justiz nicht lösen können“, vergäßen nicht, „dass die Justiz der Preis ist, den der Staat für sein Gewaltmonopol bezahlen muss“ (sic !), erwürben „das Vertrauen der Parteien in einen fairen Prozess“, indem sie durch die Einführung in den Sach- und Streitstand zeigten, dass sie die Akten gelesen hätten, suchten einen für beide Parteien akzeptablen Interessenausgleich, drohten aber „weder mit Vertagung oder der unberechenbaren nächsten Instanz“, nötigten die Parteien nicht zu einem Vergleich, wiesen „die Parteien so rechtzeitig vor dem ersten Verhandlungstermin auf Lücken im Vortrag hin, dass die Parteien bis zum Termin noch reagieren und das
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C. Elemente einer deskriptiven richterlichen Ethik
Gericht die nötigen Beweismittel herbeischaffen“ könne, rächten „sich nicht an unbequemen Anwälten, indem sie Terminverlegung und Fristverlängerung“ verweigerten, drückten „sich nicht vor der Beweisaufnahme, indem sie Behauptungen und Bestreiten als unsubstanziiert abtun“, ließen sich „aus Angst vor mächtigen und reichen Parteien, vertreten durch versierte Anwälte, nicht dazu verleiten, auf die schwächere Gegenpartei Druck auszuüben, um sie zum Einlenken/Nachgeben zu bringen“, verhandelten „einen Rechtsstreit, der nicht rechtsmittelfähig ist, genauso sorgsam wie einen rechtsmittelfähigen“, nutzten „die Herrschaft über den Kalender nicht dazu aus, die Parteien durch eine Vielzahl von Terminen und durch Zeitablauf auszuhungern“, sähen „im Weg das Ziel, also im Rechtsgespräch mit den Parteien und nicht im zitatgespickten Urteil“. Strafrichter begriffen „auch den schlimmsten Täter als Mitmenschen (glückliche Umstände mehr als eigener Verdienst haben uns davor bewahrt, auf der Anklagebank zu sitzen)“, verlören „das Opfer der Straftat auch dann nicht aus dem Blick, wenn es ohne Beistand oder Nebenklägervertreter“ auftrete, erkennten „Verstrickungen zwischen Täter und Opfer“, schützten die Zeugen „vor Demontage durch Anwälte“, ließen sich „durch Konfliktverteidiger nicht einschüchtern und zum Nachgeben bringen“, achteten „beim Aushandeln von Strafmaß und Schuldbekenntnis darauf, dass die Schöffen und die Öffentlichkeit von Anfang an einbezogen“ seien, seien „beim Aushandeln immer bereit, die Absprache scheitern zu lassen und das Verfahren durchzuführen, auch wenn es mühevoll“ werde, hätten den Mut und die Kraft, „überflüssigen Beweisanträgen nicht einfach nachzugeben, sondern sie sorgfältig begründet abzulehnen“. Schließlich wendet sich der Spiegel den Vorsitzenden und Direktoren bzw. Präsidenten der Gerichte („Behördenchefs“) zu. Sie begriffen, „dass mit gutem Willen und Verständnis allein ihre Macht nicht zu entschärfen“ sei, erkennten „Zeugnisse und Beurteilungen als Mittel der Machtausübung und Disziplinierung“ – und gingen entsprechend sorgsam damit um. Sie würden den Interessenkonflikt zwischen Dienstherrn und Mitarbeitern erkennen und verrieten „dabei die Mitarbeiter nicht“. Gleiches gelte für das „Interesse des Dienstherrn – Maximum an erledigten Fällen mit Minimum an Personaleinsatz“ bzw. das „Interesse der Mitarbeiter – Minimum an Arbeitseinsatz/optimale Arbeitsbedingungen“. In einem zum Schluss mit „Dienstzeugnis“ überschriebenen Abschnitt stellt der Richterspiegel fest, diese Eigenschaften, Haltungen und Fähigkeiten ließen sich „kaum operationalisieren“. Sie ließen sich aber „erkennen“. Sowohl Kollegen wie Anwälte seien sich im Urteil über das Auftreten und die „Kapazität“ der Richter ziemlich einig. Wenn man die genannten Haltungen für Personalentscheidungen fruchtbar machen wolle, sollte man zunächst die Anwälte befragen und dann diese Entscheidungen dem Präsidium überantworten. Danach folgt – etwas deplatziert – die Feststellung: „Wenn nämlich zwischen den bisherigen R 1- bis R 3-Ämtern kein Statusunterschied mehr besteht, wenn also die Vorsitzenden und
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die Rechtsmittelrichter nicht mehr durch Beförderung zu ihren Aufgaben kommen.“ Seien – so wird weiter gefragt – die Arbeitsbedingungen so, dass es Richtern und Staatsanwälten überhaupt möglich sei, in diesem Sinn zu arbeiten? Sei die Justiz so organisiert, dass Richter und Staatsanwälte nicht anders können als so zu arbeiten? Dass aller Anfang schwer ist, zeigt dieser erste deutsche Versuch, berufsmoralische Verhaltenserwartungen und -pflichten für Richter zu bestimmen und auszuformulieren. Unabhängig davon dass die Gruppe der Arbeits-, Verwaltung-, Finanz- und Sozialrichter sich nur in den allgemeinen „Regeln“ wiederfinden und die Erwartungen an die Zivilrichter überwiegend keine spezifischen Probleme dieser Gruppe ansprechen, scheint dieser Versuch davon geprägt zu sein, die formulierten Pflichten gerade nicht zu „operationalisieren“, d.h. wirksam zu machen. Manche Forderung zeigt eine etwas „schlichte“ Sicht auf die Richter und die Justiz. Die Formulierung der strafrichterlichen Haltungen ist allerdings eng der Rechtsidee verbunden. Als „Spiegel“ tatsächlich zu beobachtenden richterlichen Verhaltens, aber auch der Eigenwahrnehmung der Richter kann diese Sammlung in hervorragender Weise dienen. Damit kann sie für den weiteren Diskurs des in ihr gespiegelten, d.h. über ihre negative Formulierung beschriebenen richterlichen Fehlverhaltens herangezogen werden. Sie enthält also das, was von Kollegen und Anwälten mit dem moralischen Verdikt belegt wird: „So etwas tut man als Richter nicht“. Sie zeigt allerdings gegen Ende auch eine problematische Verknüpfung dieser Thematik mit anderen berufspolitischen Zielen der NRV (Selbstverwaltung der Justiz, Abschaffung der Beförderungsämter etc.). In den Zeitschriften der NRV wurden auch in der Folgezeit der Verlauf der Diskussion zur richterlichen Ethik und ihre Chancen und Risiken für die Richterschaft lebhaft erörtert868. Die Risiken, nämlich die undemokratische Vorgabe letztlich dienstrechtlich gewürdigter Pflichten, werden dabei besonders betont. Zusammen mit dem Deutschen Richterbund und anderen Organisationen hat die NRV frühzeitig das Thema auch in Veranstaltungen öffentlich gemacht, etwa im Juni 2007 in Frankfurt/Main zum Thema „Ethik und Justiz“ 869. Auch die Veranstaltung „Zur richterlichen Unabhängigkeit in Europa – Modelle von Selbstverwaltung und Selbstverantwortung“ in Frankfurt am Main vom 7.11.– 8.11.2008 befasste sich mit richterlicher Ethik870. Der mit der NRV und der Fachgruppe Richter in der ÖTV eng verbundene Richterratschlag griff die Diskussion ebenfalls auf. Der 30. Richterratschlag in 868 Bolk, Richterliche Ethik (Fn. 126/A.), NRV-info SH 11/2006, S. 18–19; Addicks, Perücke (Fn. 100/A.), NRV-Info NRW 2007, S. 10–12; Steinhauer, Blick (Fn. 187/C.), NRV BW info 2007, S. 20–21. 869 Dittrich, Gerichtliche Tätigkeit (Fn. 526/C.), NRV-info Mecklenburg-Vorpommern 10/2008, S. 7–10; v. Olenhusen, Thesenpapier (Fn. 126/A.), Nr. 1. 870 Hierzu KritV 2008, S. 468 ff.
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C. Elemente einer deskriptiven richterlichen Ethik
Potsdam 30.10.2004871 bot eine Arbeitsgruppe „Der ,gesittete Richter‘ – keine Ethik ohne Kodifizierung?“ an. Auf dem 33. Richterratschlag in Freising vom 2. bis 4.11.2007872 war Hauptthema die richterliche Verantwortung im demokratischen Rechtsstaat. Eine von fünf Arbeitsgruppen beschäftigte sich zusammen mit dem früheren Verfassungsrichter und Präsidenten des Bundesarbeitsgerichts a.D. Dieterich873 mit der richterlichen Ethik im europäischen Kontext, die als Grundlage für das richterliche Selbstverständnis näher beleuchtet wurde. Unter Herstellung europarechtlicher und rechtsvergleichender Bezüge wurde den Fragen nachgegangen, ob die richterliche Ethik wirksam durch Kodifikationen und Definitionen sichergestellt und vermittelt werden kann und soll. Auch der Richterverein Sachsens beschäftigte sich bei seiner Klausurtagung im Mai 2008 mit diesem Thema.874 MEDEL (Magistrats Européens pour la Démocratie et les libertés) wurde 1985 in Straßburg mit dem Ziel gegründet, eine gemeinsame europäische Justizkultur zu entwickeln, die auf dem Respekt vor den rechtsstaatlichen Werten, den Grundrechten und der Unabhängigkeit der Justiz beruht875. MEDEL hat Beraterstatus beim Europarat und nimmt aktiv Anteil an der Entwicklung der justiziellen Kooperation in Europa. Nationale Organisationen von Richtern und Staatsanwälten sind Mitglieder (in Deutschland die NRV und ver.di). MEDEL hat am 12.03.2004 am Landgericht Bremen zu einem Internationalen Colloqium „Welche Ethik für die Justiz in Europa?“ eingeladen876. Die Veranstaltung versuchte die weltweite Diskussion über „Richterliche Ethik und Deontologie“ abzubilden und ihre Ergebnisse, nämlich Ethikkodizes, zu würdigen. Der Schwerpunkt lag dabei auf dem europäischen Prozess. Auch wenn sich der Deutsche Richterbund (DRB), die an Mitgliedern stärkste und damit in der Wahrnehmung bedeutsamste deutsche Richtervereinigung in der Vergangenheit mit einzelnen Fragen richterlicher Ethik schon befasst hatte877, begann er doch erst relativ spät mit einem breiteren Ansatz auf die seit etwa 2000 anschwellende Diskussion zu reagieren. Erst 2007/2008 lässt sich anhand von Veranstaltungen und in der Deutschen Richterzeitung ablesen, dass das Thema den Richterbund erreicht hat. Allerdings wurde zunächst – und im Wider871
Vgl. Baden-Württemberg – Info Juli 2004 NRV, S. 29. Vgl. hierzu den Bericht, in: BJ 2007, S. 148 ff. 873 Vgl. dessen Aufsatz Berufsethik und Grundrechte im Alltagsbetrieb, in: BJ 92 (2007), S. 158 ff. 874 Schultze-Griebler, Selbstbild (Fn. 331/B.), Info Sächs. Richterverein, S. 1/2009, S. 6. 875 Vgl. hierzu auch BJ 1993: Elemente eines europäischen Richterstatuts. 876 Vgl. Einladung in verdikt 2.03, S. 38. 877 Vgl. etwa die Grundsätze des deutschen Richterbunds über Äußerungen von Richtern und Staatsanwälten in der Öffentlichkeit von 1983, Neuabdruck in: DRiZ 1999, S. 389. 872
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spruch zu den Aktivitäten der NRV – festgestellt, dass bislang kein großes Interesse an ihm bestanden hätte878. Dennoch wurde in der Folgezeit die „richterliche Ethik“ in die Agenda des Richterbundes aufgenommen und zu einem zentralen Thema: So wurde auf dem Deutschen Richter- und Staatsanwaltstag in Würzburg 2007 ein Workshops „Richterliche Ethik“ angeboten, bei dem ein erstes Thesenpapier erstellt wurde879, das insgesamt als Anstoß der Diskussion im Richterbund zu gelten hat: In ihm wurden zunächst Motive und Gründe genannt, sich mit diesem Thema zu beschäftigen. Die Diskussion über eine „Richterliche Ethik“ im Sinne von Verhaltensstandards für Richter sowie Staatsanwälte in Deutschland müsse fortgesetzt werden, so die erste These, um deren Rolle, Verantwortung und Verpflichtung in der Gesellschaft kritisch zu reflektieren, ihr Verhalten daran zu orientieren, das Selbstbewusstsein der Richter als dritte Gewalt zu festigen, das Vertrauen der Bürger in die Garantie ihres Justizgewährungsanspruchs zu stärken und ein Richter- bzw. Staatsanwaltsbild für die Öffentlichkeit, für die Kollegen untereinander und den jungen Nachwuchs zu skizzieren. In der zweiten These wurden Grenzen für den anstehenden Diskussionsprozess genannt: Da eine Ethik bereits dem philosophischen Begriffsverständnis nach die autonome Selbstverpflichtung aufgrund der Überzeugung des Einzelnen darstelle, dürfe diese Diskussion „nur von uns Richterinnen und Richtern sowie Staatsanwältinnen und Staatsanwälten geführt und mit keinerlei Sanktionen verknüpft werden.“ Zur Frage der Kodifizierung von Verhaltensstandards empfahl der Workshop mit seiner dritten These, Verhaltensanforderungen für Richter und Staatsanwälte in Schriftform niederzulegen880. Die Verhaltensanforderungen sollten keine Regeln sein. Die überwiegende Mehrheit der Teilnehmer des Workshops spreche sich dafür aus, Fragen aufzuwerfen, die zum Nachdenken und zur Diskussion anregen und ethische Antworten vom Lesenden erfordern. Einige Teilnehmer hätten sich darüber hinaus dafür ausgesprochen, die Fragen unter abstrakten Obersätzen zu formulieren, wie beispielsweise Unparteilichkeit, Gleichheit und Unabhängigkeit und diese Begriffe zu beschreiben. Die Teilnehmer des Workshops forderten in der vierten These den Deutschen Richterbund auf, die Initiative zu ergreifen und den organisatorischen Rahmen zur Verfügung zu stellen, um ein bundesweites Ethikpapier unter umfassender Beteiligung der Richterschaft aller Gerichtsbarkeiten, der Staatsanwälte und aller anderen Verbände zu erarbeiten. Die „Säulen richterlichen Handelns“ der Schleswiger Ethikrunde, die noch darzustellen sind, wurden diskutiert und der Empfehlung zur Information und Orientierung als Anlage beigefügt.
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Titz, Berufsethos (Fn. 119/A.), DRiZ 2008, S. 98. www.drb.de/cms/fileadmin/docs/rista-tag_ws_ethik_070918.pdf, Stand: 01.02.2016. 880 Titz, Ethik-Debatte (125/A.), DRiZ 2013, S. 200, meint hingegen, die Frage der Schriftlichkeit des Ethikkatalogs sei am Anfang nicht aufgeworfen worden. 879
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C. Elemente einer deskriptiven richterlichen Ethik
Die Schwierigkeiten der (beginnenden) Diskussion lassen sich an diesem Thesenpapier eindrücklich ablesen. Auf der einen Seite wird der ideelle und für die Berufsausübung des Richters grundlegende Charakter der Debatte angesprochen. Gleichzeitig wird diese Erkenntnis durch strategische Überlegungen, nämlich die Meinungsführerschaft und Deutungshoheit zu bewahren sowie die Folgen der Diskussion zu begrenzen, im Kern in Frage gestellt. Aus der erkennbaren Furcht vor „harten Ergebnissen“, das heißt vor definierten berufsmoralischen Verhaltensregeln, sollte am Ende nur ein Fragenkatalog stehen881, der in der Art von „Beichtspiegeln“ das Gewissen des einzelnen Richters anregen und zur inneren Einkehr bewegen soll. Damit wurde ein zentraler Anspruch einer Berufsethik, nämlich ggf. begründete und nachprüfbare Verhaltensregeln oder konkrete berufsmoralische Haltungen zu bestimmen, am Beginn der Debatte zunächst in Frage gestellt. In den Thesen kommt auch nicht zum Ausdruck, wie groß in Deutschland angesichts der starken Durchnormierung richterlichen Handelns überhaupt Raum für berufmoralische Regelungen ist. Dass auch die Öffentlichkeit eines demokratischen Rechtsstaates nicht nur ein Interesse daran haben könnte, an welche moralischen Regeln sich Richter gebunden fühlen, sondern auch bei der Definition dieser Amtspflichten mitzubestimmen hat, blieb ebenfalls außer Betracht. Auch auf dem Richter- und Staatsanwaltstag 2011 in Weimar fand eine Veranstaltung zu diesem Themenkreis statt. Unter dem plakativen Titel „Richter tricksen, Anwälte pokern – Wo bleibt die Ethik im Prozess?“ wurde das Thema aber in Richtung einer allgemeinen „Justizethik“ ausgeweitet und mit der Anwaltsethik zusammengespannt. Ein Ergebnispapier wurde nicht erstellt882. Aufgrund einer Initiative der Arbeitsgruppe „Richterliche Ethik“ des Präsidiums des DRB im Jahr 2007, die aus drei Präsidiumsmitgliedern bestand, bildete sich ab 2008 im Deutschen Richterbund883 ein Netzwerk „Richterliche Ethik“. In der Beschreibung seiner Struktur und Aufgabe884 wird der Zusammenhang mit anderen justizpolitischen Forderungen des Verbandes klar hergestellt (Selbstverwaltung der Justiz, Forderung nach einer besseren Personal- und Sachmittelausstattung der Justiz, angemessene Besoldung). In gleichem Maße sei es danach auch erforderlich, „uns unserer Verantwortung als Dritte Staatsgewalt bewusst zu sein und uns dieser zu stellen“. Es wird im Weiteren betont, dass der DRB sich auch in der Vergangenheit „mit der Frage eines Amtsethos und damit, welche Anforderungen an richterliches Verhalten und richterliches Selbstverständnis gestellt werden müssen“, beschäftigt habe. Es solle ein Signal gegeben werden, 881
Ähnlich: Heussen, Berufsethik (Fn. 6/A.), NJW 2015, S. 1927, 1932 f. Vgl. aber die zusammenfassenden Berichte: K. Böttcher-Grewe, Richter tricksen, Anwälte pokern – Wo bleibt die Ethik im Prozess, in: DRiZ 2011, S. 203; E. Kreth, Richterliche Ethik – mehr als eine Modeerscheinung, in: NJW-aktuell, 2011, S. 14. 883 Vgl. Burghardt, Netzwerk (Fn. 118/A.), DRiZ 2009, S. 102 ff. und die auf der Webseite des Richterbundes eingestellten Beiträge (www.drb.de). 884 www.drb.de, Stand: 17.03.2016. 882
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dass die Richter ihre richterliche Unabhängigkeit und die hierfür erforderliche Ausstattung nicht als Privileg oder Selbstzweck begriffen, sondern als Verpflichtung zum Schutz des Justizgewährungsanspruchs. Ziel sei eine breite Diskussion über dieses Thema. Die Beschäftigung mit berufsethischen Grundsätzen könne nicht von einem Berufsverband oder gar dem jeweiligen Ministerium verordnet werden. Es sollten auch nicht Ge- und Verbote formuliert werden, die ein Verhalten als „ethisch falsch“ brandmarkten oder umgekehrt ein bestimmtes Verhalten als ethisch einzig mögliches darstellten. Vielmehr sollten die Kollegen im Rahmen der möglichst umfassenden Diskussion über ethische Fragen sensibilisiert werden, damit sie ohne Scheu vor der Beschäftigung mit diesem Thema über ihr Verhalten und ihr Selbstverständnis als Richter reflektieren und ihre Erkenntnisse in den beruflichen Alltag einfließen lassen können. Zur Förderung der Diskussion sei in der DRB-Arbeitsgruppe zunächst ein Fortbildungskonzept zu dem Thema richterliche Ethik entwickelt worden, das als Grundlage für die Durchführung von Fortbildungsveranstaltungen dienen solle. Die Fortbildung solle Berufsanfänger für das Thema sensibilisieren, um ein Gegengewicht zu dem häufig durch die enorme Arbeitsbelastung und die schlechte Sachausstattung ernüchternden Berufseinstieg zu bilden. Um einen Austausch über die Entwicklung und den Stand der Diskussion über richterliche Ethik herzustellen, wurde dann auf der Ebene des DRB aus insgesamt 24 Ansprechpartnern der Landes- und Fachverbände ein Netzwerk „Richterliche Ethik“ gebildet, um Fortbildungsveranstaltungen und Diskussionsrunden durchführen. Ziel der Initiative war es, einen offenen und transparenten Diskussionsprozess in Gang zu setzen sowie Positionen zur richterlichen Ethik zu sammeln und zusammenzuführen. Der Richterbund wollte zunächst aber wohl nicht zum Initiator oder Verfasser einer geschriebenen richterlichen Ethik werden885. Er meint, deren Annahme liege in der autonomen Entscheidung der Richter: Inhalt und Verständnis der Ethik schlössen eine „Normierung“ oder ein „Leitbild“ von vorneherein aus. Dass diese individualistische Auffassung richterlicher Ethik von einem Teil der Richterschaft stark betont wird, zeigt auch ein Bericht über die Einführungstagung von Landes- und Fachverbänden des DRB im Rahmen des Netzwerkes am 14./15.11.2008 Tagung in Berlin, der früher auf der Webseite des Bundes deutscher Sozialrichter eingestellt war886. Er macht auch die insoweit vertretene 885
Vgl. auch Burghardt, Netzwerk (Fn. 118/A.), DRiZ 2009, S. 102. www.bunddeutschersozialrichter.de/docus/richterliche_ethik_112008.pdf, Stand: 25.09.2009 (heute nicht mehr abrufbar); allerdings zeigt der Beitrag von Burghardt, Netzwerk (Fn. 118/A.), DRiZ 2009, S. 102 ff. zu dieser Veranstaltung, dass die Kontroverse in der Richterschaft sich auch auf diesen Ausgangspunkt bezieht. Der insoweit maßgebliche Workshop forderte allerdings letztlich eine bloß individuelle Selbstreflexion. Vgl. auch Schmidt-Syaßen, Richterliche Ethik – ein Tagungsbericht, in: MHR 4/08, S. 4. 886
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C. Elemente einer deskriptiven richterlichen Ethik
verbandspolitische Zielrichtung der Diskussion besonders deutlich, die auf das Grundverständnis von richterlicher Ethik zwingend zurückwirkt: Die bei diesem Treffen – aus der Sicht des Berichtenden – bestehenden Zweifel, ob es einer richterlichen Berufsethik überhaupt bedarf, weil in Deutschland schließlich richterliches Dienstrecht und Prozessrecht – anders als etwa im angelsächsischen Rechtskreis, wo allein Ethikkodizes disziplinarrechtliche Regelungen und Regelungen zur Unparteilichkeit der Richter enthielten – richterliche Amtspflichten umfassend gesetzlich normierten, wurden im Hinblick auf den „immer höheren Erledigungsdruck“ in Folge der Ökonomisierung der Justiz zur Seite gestellt. Diese belaste auch die Qualitätsdiskussion. Die besondere berufspolitische Stoßrichtung wurde insoweit besonders klar formuliert: „In dieser Situation bietet das Ethikthema für den DRB als Berufsverband die Chance, eine Qualitätsdiskussion ausgehend von einem neuen Ansatz her anzustoßen und damit von der Defensive in die Offensive überzugehen.“ (. . .) „Dabei haben wir die Chance zu gestalten und die ,Formulierungshoheit‘ für uns zu erhalten, wenn wir rechtzeitig das Thema besetzen, bevor uns Andere Qualitätsregeln vorsetzen, über die wir anschließend zwar noch lamentieren können, die wir dann aber nicht mehr aus der Welt schaffen können.“ Unter diesen Kautelen wurde die Frage aufgeworfen „Was beinhaltet Richterliche Ethik?“ und festgestellt: „Die in Deutschland entwickelten Ansätze lassen sich dahin interpretieren, dass das Verhalten, die Interaktion des Richters mit allen Personen und Institutionen, reflektiert wird, mit denen sie/er beruflich in Kontakt kommt, also zu Prozessbeteiligten, Kollegen, Gerichtsverwaltung, Öffentlichkeit usw.“ Ziel sei es, die Position des einzelnen Richters durch das Formulieren berufsethischer Grundsätze durch Thematisierung zu stärken. Allerdings: „Das Formulieren ethischer Regeln birgt freilich auch Risiken.“ Die Gefahr, „dass wir uns damit selbst einengen und Anderen Gelegenheit bieten könnten, uns darauf festzulegen“ könne dadurch vermindert werden, „dass keine Gebote oder gar Verbote, sondern statt dessen Fragen, nach Möglichkeit offene Fragen, formuliert werden, die auf die jeweilige Problematik hinweisen.“ Welche Fragen dies sein sollten und ob schließlich doch ein Ethikkodex formuliert werde, lasse sich derzeit noch nicht im Einzelnen beantworten. Die Thematik könne nur „in der Form eines dynamischen Prozesses unter Einbeziehung der Betroffenen weiterentwickelt werden, wobei das Ergebnis beileibe noch nicht im Einzelnen erkennbar ist, geschweige denn feststeht.“ Das Vertrauen in die Rechtsprechung werde gestärkt, wenn das, was Richter als Berufsethos ihrer Arbeit zugrunde legten, formuliert und öffentlich gemacht werde. Für die Beurteilung der Ambivalenz der deutschen Richterschaft in der Frage der richterlichen Ethik ist der Vergleich dieses Berichts mit der Darstellung dieser Veranstaltung aus der Sicht Burghardts erhellend, der in der Richterzeitung – so darf vermutet werden – die „offizielle“ Sicht des DRB zu derselben Veranstaltung zusammenfasste887. Bei ihm werden keine verbandspolitischen Fragen in
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den Mittelpunkt gestellt, sondern „zur Sache“ vorgetragen. Allerdings wird dort auch deutlich, wie unterschiedlich die Auffassungen zu diesem Thema waren und dass die Mehrheit der versammelten Vertreter eher die Risiken der Debatte als ihre Chancen in den Mittelpunkt stellte. Ergebnis der in drei Workshops mit unterschiedlichen Fragestellungen geführten Aussprache war, dass Zielrichtung eher eine individualistische Selbstreflexion der Richterschaft sein sollte, die Formulierung von Ge- und Verboten zu vermeiden und eine Kodifizierung von ethischen Grundsätzen problematisch sei, dagegen ein Diskurs in Aus- und Fortbildung für Anfänger und Erfahrene aber auch in den Verbänden geführt werden solle. Im Januar 2010 hat das Netzwerk eine zweitägige Tagung durchgeführt, bei der es den Versuch unternahm, auf der Grundlage der Ergebnisse seiner vier Untergruppen „Innen- und Außenansicht zur Berufsethik“, „Strafrechtlicher Deal und richterliche Ethik“, „Konflikte zwischen richterlichen Nebentätigkeiten und Berufsethik“ und „Richter und parteipolitisches Engagement“ das Themenfeld weiter zu strukturieren und zu konkretisieren888. Dies sollte zunächst über Fallkonstellationen vorgenommen werden, wobei in weiteren Treffen die Fallsammlung mit der Formulierung allgemeiner Grundsätze verbunden wurde889. Eine neue Phase des Diskussionsprozesses im Deutschen Richterbund war mit dem Entwurf der Ethik-Arbeitsgruppe vom Januar 2012, den „Thesen zur Diskussion richterlicher und staatsanwaltlicher Berufsethik“, erreicht890. Ihnen wird die Frage vorausgeschickt, warum sich Richter und Staatsanwälte angesichts der Fülle gesetzlicher Regeln und des richterlichen Eides überhaupt mit Berufsethik beschäftigten. Die Antwort ist zunächst die Berufung auf das Prinzip der Gewaltenteilung und auf die Eigenständigkeit der Justiz als dritte Säule der Staatsgewalt. Die damit verbundene Stellung und Verantwortung müsse mit Leben erfüllt werden, insbesondere die äußere Unabhängigkeit mit der inneren Unabhängigkeit belebt werden. Wie dies geschehe, müsse jeder Richter – „trotz Einbindung in eine hierarchische Behördenstruktur“ – eigenverantwortlich beantworten. Erforderlich sei ein Amtsethos, das Richter und Staatsanwälte von bloßen Rechtstechnikern unterscheide. Bei der Rechtsanwendung gefordertes ethisches Verhalten sei dabei immer das Ergebnis eines auf freier Willensentscheidung beruhenden
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Burghardt, Netzwerk (Fn. 118/A.), DRiZ 2009, S. 103. Hermes, Netzwerk „Richterliche Ethik“, in: BDFR FORUM 2010, S. 9 ff. 889 A. Titz, Richterliche Berufsethik – Zeichen echter Unabhängigkeit oder überflüssige Nabelschau?, in: Justice–Justiz–Giustizia 2011/4, S. 2. 890 Zu den Motiven und dem Prozess: E. Kreth, Richterethik in Deutschland – Thesen zur Diskussion richterlicher und staatsanwaltlicher Berufsethik im Deutschen Richterbund, in: Schleswig-Holsteinischer Richterverband Info 2/2012, S. 44. Zu den Texten: www.drb.de, Stand: 26.06.2013. D. Sandhaus, Richterliche Ethik, in: H. Pünder/ H. Posser/J. Schröder (Hrsg.), Rechtsgestaltung im öffentlichen Recht, Liber Amicorum für D. Ehlers, München 2015, S. 469 ff. ordnet die Thesen in den Kontext des richterethischen Diskurses ein und bezieht dabei auch die internationale Diskussion mit ein. 888
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C. Elemente einer deskriptiven richterlichen Ethik
Gedanken- und Abwägungsprozesses. Auf viele Fragen werde es nicht die eine richtige oder falsche Antwort geben. Der DRB habe deshalb bewusst darauf verzichtet, Richtlinien oder Kodizes für berufsethisches Verhalten zu formulieren. Vielmehr greife er mit seinen Thesen zur Berufsethik jene Werte auf, die den selbstbewussten und verantwortungsvollen Richter und Staatsanwalt auszeichneten. Mit den Beschreibungen der Werte sollten keine abschließenden Vorgaben gemacht werden. Sie forderten dazu auf, sich „des Amtes als Richter oder Staatsanwalt immer wieder bewusst zu werden“ und sollten Anstoß und Motivation sein, das eigene Verhalten selbstkritisch zu hinterfragen. Sie sollen zur Diskussion anregen und Hilfe bei der Lösung ethischer Fragestellungen anbieten. Damit setzt der DRB seine vorsichtige Annäherung891 an die richterliche Ethik fort, die geprägt ist einerseits von der Betonung der Sonderrolle der Justiz im Verhältnis zu den anderen Staatsgewalten und den hieraus zu beachtenden allgemeinen Werten, andererseits durch den individuell-subjektiven Zugang des einzelnen Richters zu „seiner“ richterlichen Ethik und durch die Furcht vor normativen Vorgaben von außen an ihn. Eine Begründung dafür, warum Richter und Staatsanwälte derselben Berufsethik unterliegen sollten, wird letztlich nicht gegeben. Die zur Diskussion gestellten Thesen werden unter neun Leitbegriffen entfaltet, die wie die „Unabhängigkeit“ und „Unparteilichkeit/Unvoreingenommenheit“ konstituierende Rechtsprinzipien für Richter sind, und zum anderen klassische ethische Tugenden – wie „Mäßigung/Zurückhaltung“ und „Mut“ – aufnehmen. „Integrität“, „Verantwortungsbewusstsein“ und „Menschlichkeit“ sprechen allgemeine Grundhaltungen an, während „Gewissenhaftigkeit“ und „Transparenz“ konkrete handlungsbezogene Forderungen sind. Es fällt insoweit auf, dass diese Leitbegriffe weitgehend übereinstimmen mit dem – noch darzustellenden – Thesenpapier der Schleswiger Ethikrunde von 2011: Aus dem allgemeinen Verständnis der richterlichen „Unabhängigkeit“ wird die Verpflichtung abgeleitet, sich beim Entscheiden und im Auftreten von unzulässigen Einflussnahmen frei zu machen. Um das Vertrauen der Bürger zu gewährleisten, müsse bereits jeder Anschein unzulässiger Einflussnahme vermieden werden und allen Versuchen von Eingriffen in ihre Unabhängigkeit entschieden entgegenzutreten. Dies gelte gleichermaßen für Staatsanwälte. Sie müssten Weisungen darauf hin prüfen, ob sie mit Recht und Gesetz „sowie dem eigenen Gewissen“ vereinbar sind. Die innere Unabhängigkeit auszugestalten und zu bewahren, sei eine dem Richter und Staatsanwalt persönlich gestellte und nur von ihm zu verantwortende Aufgabe. Innere Unabhängigkeit setze voraus, sich der Einflüsse auf die eigenen Entscheidungen bewusst zu werden, die sich aus persönlichem Streben, Wertvorstellungen, Erfahrungen und Meinungen ergäben. 891 Titz, Ethik-Debatte (125/A.), DRiZ 2013, S. 201, stellt die absichtlich begrenzte Reichweite der Thesen nochmals heraus.
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„Unparteilichkeit/Unvoreingenommenheit“: Richter seien stets bestrebt, sich nicht von sachfremden Erwägungen leiten zu lassen. Ihrer „individuellen Eigenschaften, ihrer persönlichen Entwicklung und Sozialisation bewusst“, bemühten sie sich in jedem Fall um größtmögliche Objektivität. Sie stellten weder ihre persönlichen Wertungen, Sympathien und Antipathien noch aktuelle Meinungsströmungen der Öffentlichkeit über die Bindung an demokratisch herbeigeführte Gesetze, sondern überprüften die Ergebnisse ihrer Rechtsfindung selbstkritisch, argumentierten sachlich und stellten sich offen der Kritik Dritter. Ihre Arbeit sei geprägt von Offenheit und der Bereitschaft, die Verfahrensbeteiligten anzuhören, Interessen und Zusammenhänge zu erfassen und diese angemessen zu bewerten. Richter ließen sich in der Ausübung ihres Amtes durch Näheverhältnisse zu Prozessparteien, deren Bevollmächtigten und Interessenvertretern zwar nicht beeinflussten, wägten aber ab, ob dadurch bei anderen Verfahrensbeteiligten der Anschein der Voreingenommenheit entstehen könnte und begegneten dem durch rechtzeitige Offenlegung. Diese Überlegungen werden dann entsprechend auf Staatsanwälte angewendet. Persönliche „Integrität“ bedeute „die Ausrichtung des eigenen Handelns und Redens an den von humanistischen Grundsätzen geformten Werten und Prinzipien. Ein integrer Mensch lebt in dem Bewusstsein, dass sich seine persönlichen Überzeugungen, Maßstäbe und Wertvorstellungen in seinem Verhalten ausdrücken.“ Die Integrität des Richters und Staatsanwalts äußere sich in amtsbewusstem und amtsangemessenem Verhalten innerhalb und außerhalb des Amts. Das Handeln und Auftreten des integeren Richters und Staatsanwalts sei gekennzeichnet von Seriosität, Anstand und Höflichkeit. Das Vertrauen in die Justiz gründe wesentlich auf den Fundamenten der Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit, der Verlässlichkeit, Verschwiegenheit und Diskretion sowie Glaubwürdigkeit, die Korrekturfähigkeit beinhalte. „Verantwortungsbewusstsein“: Weil Richter und Staatsanwälte in jedem Einzelfall Einfluss auf das Leben von Menschen nähmen, behielten sie die Konsequenzen für den Einzelnen auch in vermeintlich einfach gelagerten Routinefällen im Blick. Sie wüssten, dass Vertrauen nur bestehen könne, wenn der Ablauf des Verfahrens und die daraus resultierenden Entscheidungen verständlich und nachvollziehbar seien. Sie behandelten die Verfahrensbeteiligten mit Achtung, würdigten sie nicht herab und verzichteten auf Selbstdarstellung. „Mäßigung/Zurückhaltung“: Richter und Staatsanwälte unterließen Äußerungen und Verhaltensweisen, die dieses Vertrauen und das Ansehen der Justiz beschädigen könnten. Sie versuchten, durch maßvolles Handeln, Sachlichkeit und durch kontrollierten Umgang mit Emotionen das Vertrauen in ihre der Gerechtigkeit verpflichtete Arbeit zu fördern. Ohne Selbstgerechtigkeit und Selbstherrlichkeit achteten sie die Würde und die Interessen der Verfahrensbeteiligten. Innerhalb der Justiz pflegten Richter und Staatsanwälte einen kollegialen Umgang. Notwendige Kritik äußerten sie auch instanzübergreifend maßvoll, sachlich und
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C. Elemente einer deskriptiven richterlichen Ethik
ohne persönliche Verletzungen. Die sich für die Rechtsprechung ergebenden Erfordernisse der Rechtsfortbildung füllten Richter verantwortungsvoll und behutsam aus. Der Bedeutung und Wirkung ihres Amtes auch außerhalb der beruflichen Tätigkeit seien sich Richter und Staatsanwälte bewusst. Sie beachteten diese Außenwirkung bei jedem Engagement. Bei öffentlichkeitswirksamem Auftreten, insbesondere mit parteipolitischem Hintergrund, reflektieren sie mögliche Konflikte mit ihrem Amt. „Menschlichkeit“: Mit der anvertrauten Macht gingen sie verantwortungsvoll um. Richter und Staatsanwälte setzten sich ernsthaft mit der Individualität, den Meinungen und den Problemen der Verfahrensbeteiligten auseinander. Sie begegneten ihnen mit Anstand und Höflichkeit. Sie hinterfragten ihre Handlungen und Entscheidungen, sie stehen Kritik aufgeschlossen gegenüber und setzen sich damit auseinander. „Mut“ zeige sich in der Bereitschaft und der Kraft, eigene Ängste zu überwinden und selbst dann nach den als gut und richtig erkannten Maßstäben zu handeln, wenn sich solches Handeln als schwierig oder gefährlich erweise. Richter und Staatsanwälte benötigten Mut, wenn unliebsame oder einsame Entscheidungen zu treffen sind, wenn sie der Versuchung widerstehen müssten, ihr Handeln und ihre Entscheidungen von Opportunismus oder Karrieredenken beeinflussen zu lassen oder wenn eine Entscheidung nicht dem Zeitgeist entspreche oder mit eigenen Nachteilen verbunden erscheine. Mut äußere sich schließlich in der Bereitschaft und Kraft, auch in eigenen Angelegenheiten Ausgleich zu suchen und offen mit eigenen Fehlern umzugehen. „Gewissenhaftigkeit“: Richter und Staatsanwälte befassten sich sorgfältig und gründlich mit den ihnen zur Entscheidung anvertrauten Fällen. Sie träfen ihre Entscheidungen auf einer breiten Informationsbasis mit der für jeden Fall notwendigen Sachkunde. Sie wüssten, dass ihre eigene Lebenserfahrung Grenzen habe. Sie nähmen sich deshalb Zeit für Fortbildungen. Art und Qualität der Verfahrensbehandlung und -erledigung dürfe weder durch Verfahrensdruck noch durch persönliche Motive beeinflusst werden. Vergleiche und Verfahrensverständigungen würden nicht erzwungen. Mit dem Spannungsverhältnis zwischen vorgegebener Quantität und anzustrebender Qualität gingen sie verantwortungsvoll um. Eine Grundbedingung für diese Akzeptanz der Justiz sei die „Transparenz“ richterlichen und staatsanwaltlichen Handelns. Die Verfahrensabläufe und Entscheidungen würden den Beteiligten verständlich gemacht. Unter Berücksichtigung aller Verfahrensinteressen führten sie sie mit klaren Hinweisen zum Prozessgeschehen und zur Rechtslage durch das Verfahren. Sie bedienten sich mündlich und schriftlich einer verständlichen Sprache und achteten darauf, dass die Beteiligten sich mit ihren wesentlichen Anliegen auch in den Gründen der Entscheidungen wiederfinden. Bestehende Näheverhältnisse zu Verfahrensbeteilig-
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ten seien offenzulegen, wenn daraus der Anschein der Voreingenommenheit entstehen könnte. Richter und Staatsanwälte akzeptierten das berechtigte Interesse der Öffentlichkeit, über Verfahren informiert zu werden. Dabei wögen sie im Einzelfall die Persönlichkeitsrechte der Beteiligten mit dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit ab und bedächten, dass die Anteilnahme der Medien Einfluss auf Verlauf und Ausgang des Verfahrens haben könnten. Die Bundesvertreterversammlung des DRB 2013 hat die genannten Thesen als Grundlage für die weitere Diskussion gebilligt. Der Deutsche Richterbund sieht darin nicht den Abschluss, sondern den Anfang der Diskussion über richterliche Berufsethik892. Mit diesen Thesen näherte sich der Deutsche Richterbund der London Declaration on Judicial Ethics an und setzt in einem tugendethischen Ansatz mehr auf allgemeine Haltungen, als auf konkrete Ge- und Verbote. Insoweit geht er zunehmend auch vom individualistischen Ansatz ab und formuliert Grundlagen einer Berufsmoral des Richters. Diesem Papier hat der Deutsche Richterbund Arbeitsmaterialien beigefügt, um anhand von konkreten Beispielen und Fällen aus der Praxis zu zeigen, dass sich „die theoretische Wertediskussion nicht vom Alltag trennen“ lasse. Sie sollten Anstoß zu Selbstreflexion und Diskussion sein. Sie sollten den Leser insbesondere anregen, im DRB-Forum eigene Beispiele anderen Kollegen zugänglich zu machen, um die Fallsammlung zu aktualisieren. Letzteres scheint auch dringend erforderlich zu sein, weil die vorgelegten Fälle von die Unabhängigkeit nicht wahrenden Präsidenten, problematischen Vorsitzenden und „übergriffigen“ Oberstaatsanwälten bevölkert werden. Der Amtsrichter, der für die Verfahrensbeteiligten im Gericht nicht erreichbar ist, der vollbeschäftigte Richter, der werktags regelmäßig ab 13 Uhr seinen Freizeitaktivitäten nachgeht („Bin R1, bleib R1 und geh um 1“) und der Richter, der in der Verhandlung Zynismus verbreitet oder die Beteiligten unangemessen zum Vergleich „prügelt“, findet sich nicht. Eine alle richterliche Besoldungsstufen erfassende Ethik scheint jedoch geboten. Auch der Bund Deutscher Finanzrichterinnen und Finanzrichter – BDFR – hat – wie der Bund deutscher Verwaltungsrichter – das Thema richterliche Ethik aufgegriffen893.
892 Titz, Ethik-Debatte (125/A.), DRiZ 2013, S. 200; Texte: www.drb.de, Stand 28.06.2013. 893 M. Werner, Richterliche Ethik – Bestandsaufnahme und Ausblick, in: BDFR FORUM, Februar 2010, S. 4 ff. Vgl. für die Verwaltungsrichter die Beiträge von Wittreck und Adelswärd in: Verein Deutscher Verwaltungsgerichtstag e. V. (Hrsg.), 17. Deutscher Verwaltungsgerichtstag Münster 2013, Stuttgart 2014, S. 271–299 bzw. S. 429–441.
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C. Elemente einer deskriptiven richterlichen Ethik
bb) Richterliche Ethik in der Richterfortbildung In der Richterfortbildung ist „Richterliche Ethik“ bereits seit dem Jahr 2001 Thema. Zu ihm führte die Schleswig-Holsteinische Justiz im Mai 2001 eine Fortbildungsveranstaltung in Sankelmark894 durch. Die Deutsche Richterakademie hat das Thema „Richterliche Ethik – Grundlagen, Perspektiven, weltweiter Vergleich richterlicher Verhaltensstandards“, bei dem das Land Schleswig-Holstein federführend ist, ab dem Jahr 2004 jährlich zum Gegenstand der bundesweiten Fortbildung gemacht. Der Schwerpunkt dieser Veranstaltung liegt im internationalen Vergleich des Umgangs mit richterlicher Ethik. Die Tagung soll aber auch dazu dienen, die Richter gerade anhand ausgewählter Beispiele anderer Länder über den Stand der Entwicklung zu informieren, eigene Diskussionen zu dem Thema zu veranlassen und sich zu fragen: „Könnten und sollten sich die Richter in Deutschland ethische Prinzipien für ihr Verhalten vorgeben? Welche ethischen Verhaltensregeln sollen für Richterinnen und Richter gelten? Sollten sie eine schriftliche Form erhalten? Welches Gremium könnte die Einhaltung der Regeln gewährleisten?“ 895 2006 wurde eine weitere Veranstaltung zum Thema „Berufsalltag von Richtern, Rechtsanwälten und Staatsanwälten im Spannungsverhältnis von Berufsethik und Ökonomie“ 896 angeboten, die gerade den neuralgischen Punkt, nämlich die (ökonomische) Bedingung der Möglichkeit der Einhaltung berufsmoralischer Regeln diskutierte. cc) Qualitäts- und Ethikzirkel Im Zuge der Qualitäts- und Ethikdiskussion haben sich in einzelnen Gerichten bzw. Gerichtsbarkeiten Richter mit den Fragen der Qualität richterlichen Handelns, aber auch mit berufsmoralischen Themen befasst. Diese Foren der Selbstreflexion eigenen beruflichen Selbstverständnisses mündeten nicht selten in zusammenfassende „Papiere“, die die deskriptive (richterliche) Ethik als Ausdruck berufsmoralischer Vergewisserung untersuchen muss. Die Thüringer Verwaltungsrichter haben im Mai 2006 in einem Papier zur Qualitätsdiskussion897 – neben den verfassungs- und einfachrechtlichen Anforderungen – als maßgebliche Grundlage der Qualität richterlicher Arbeit ausdrücklich auch die „richterliche Ethik“ genannt. Sie haben dabei „das anzustrebende Idealbild des kompetenten, unabhängigen, unvoreingenommenen, unparteilichen, fairen, geduldigen und dem Rechtsfrieden dienenden Richters, der den Prozess in 894
Vgl. hierzu Wassermann, Pluralitäre Gesellschaft (Fn. 34/A.), SchlHAnz. 2002,
S. 29. 895 Vgl. Ausschreibungstext des Fortbildungsprogramms: www.deutsche-richterakade mie.de, Stand: 17.04.2011. 896 Hierzu Neumann, Ethos (Fn. 81/A.), DRiZ 2006, S. 211. 897 Nicht veröffentlicht.
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der gebotenen Schnelligkeit, aber auch mit der gebotenen Sorgfalt, Verantwortung, Sach- und Fachkenntnis richtig entscheidet,“ zum Thema gemacht. Die Grundsätze richterlicher Ethik knüpften zwar an den verfassungsrechtlich und einfachgesetzlich normierten Rahmen für ein rechtsstaatliches Verfahren und richterliche Pflichten an, gingen aber darüber hinaus und beträfen Wertvorstellungen und das Verhalten des einzelnen Richters als Individuum. Im Mittelpunkt richterlichen Verhaltens stünden: Kompetenz, Unabhängigkeit und Unparteilichkeit. Ethische Standards seien für sie anzustrebende Leitziele, keine im Rahmen der Dienstaufsicht zu kontrollierenden Regeln. Sie müssten daher von dienstrechtlichen Pflichten getrennt werden. Ethische Verhaltensregeln sollten aus dem Kreis der Richter selbst kommen und in diesem Kreis diskutiert und fortentwickelt werden. Schleswiger Ethikrunde898: Ebenfalls im Mai 2006899 schloss sich eine alters-, instanz- und rechtswegübergreifende Gruppe von 11 Richtern aus Schleswig-Holstein zur „Schleswiger Ethikrunde“ zusammen. Ziel sollte eine Selbstvergewisserung der Richterschaft „an der Basis“ unter Ausschluss der Justizverwaltung sein900. Die Ergebnisse dieser Runde, die in mehreren Treffen gesammelt wurden, mündeten in die im Mai 2007 verabschiedeten „Säulen richterlichen Handelns“ 901. Erklärtes Ziel war dabei, „auf keinen Fall“ mit den richterlichen Ethikregeln Gebote und Verbote zu formulieren. Vielmehr wurde eine nach berufsmoralischen Problembereichen gegliederte Sammlung von Fragen erstellt. Nach der Einbindung der Richterräte und Richterverbände des Landes Schleswig-Holstein gab die Präsidentin des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts den Fragenkatalog als Broschüre mit dem Titel „Säulen richterlichen Handelns – Gedanken zu einer Ethik richterlichen Verhaltens“ im Mai 2007 heraus. Nach einer Präambel zu den Frage „Warum brauchen Richter Ethikregeln? Und wenn ja, warum müssen diese schriftlich niedergelegt werden?“ folgen fünf Kapitel, die folgendermaßen überschrieben sind: „Der Bürger und ich“, „die Öffentlichkeit und ich“, „die Rechtsprechung und ich“, „der Justizapparat und ich“, „die Robe und ich“. Die Einleitung beantwortet die aufgeworfenen Fragen nach der Notwendigkeit einer richterlichen Ethik letztlich nicht. Sie stellt zunächst fest, richterliche 898 Vgl. zum Ablauf, Namensgebung und Verfahrensweise: Görres-Ohde, Der lange Weg (Fn. 280/B.), S. 202 ff. 899 Anregung bot der NRV auf der XVII. Mitwirkungskonferenz vgl. Bolk, Richterliche Ethik (Fn. 126/A.), NRV-info SH 11/2006, S. 18; Wrege, Eckpunkte (Fn. 899/C.), MHR 4/2006, S. 16 f. 900 Krix, Richterethik (Fn. 109/A.), S. 123. 901 Schleswiger Ethikrunde – Säulen richterlichen Handelns – Gedanken zu einer Ethik richterlichen Verhaltens, 2007; inzwischen abgedruckt in: SchlHAnz, Sonderheft Richterliche Ethik, 2012, S. 14–16 (allerdings ohne die Einleitung); vollständiger Text: www.deontologie-judiciaire.umontreal.ca/fr/codes%20enonces%20deonto/documents/ code_allemagne.pdf).
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C. Elemente einer deskriptiven richterlichen Ethik
Ethikregeln, die es bereits in vielen anderen Ländern gebe, seien „nicht mehr, aber auch nicht weniger als Verhaltensregeln“. „Hinweise“, wie Richter sich ethisch zu verhalten hätten, fänden sich im Grundgesetz, im Deutschen Richtergesetz und in den jeweiligen Richtergesetzen der Länder. Aber – so die weitere Frage – reichten die gesetzlichen Normen aus, um im Berufsalltag in ethischen Fragen eine Hilfestellung zu geben? Auch diese Frage wird nicht beantwortet, sondern versichert, man habe „auf keinen Fall mit der Aufstellung richterlicher Ethikregeln Gebote und Verbote formulieren“ wollen. Auch sollten keine „beruflichen Nebenpflichten“ eingeführt werden. Zu tief sei die Befürchtung von dem „Dienstvorgesetzten“ bei Nichtbeachtung einzelner Regeln, in welcher Form auch immer, diszipliniert zu werden. Deswegen habe man nur Fragen formuliert, ohne Antworten zu geben. Damit solle erreicht werden, dass Richter „für ethische Fragen sensibilisiert“ würden und für sich Antworten suchten. Nicht alle Fragen würden Zustimmung finden (sic !). Aber gerade das könne zu dem von den Initiatoren gewünschten „provozierten Diskurs“ führen. Die Präambel wiederholt unter Hinweis auf den hohen Anspruch der Öffentlichkeit an das Verhalten der Richter und der Richter an sich selbst, dass die Fragen zum Nachdenken über Probleme anregen sollten, die sich im beruflichen und außerberuflichen Leben stellen könnten. Es gebe jeweils keine allgemein gültige Antwort auf sie. Wer eine solche verlange, „leugne das innere Anliegen des Fragenkatalogs“. Die Richter hätten „nach den in der Verfassung und in den Gesetzen enthaltenen Werten unserer Gesellschaft zu entscheiden“ und das Recht nach bestem Wissen und Gewissen anzuwenden. Diese Freiheit sei nicht ein Privileg der Richter, sondern das Recht eines jeden Menschen, auf eine unabhängige, unparteiische Justiz, die Gleichheit vor Gericht und ein faires Verfahren garantiert. „Für diese Freiheit einzutreten, ist unser aller Pflicht.“ Im Folgenden werden Fragen formuliert, die der jeweilige Richter für sich und zur eigenen „Gewissenserforschung“ beantworten soll. Eine Antwort wird nicht vorgegeben, allenfalls durch die mehr oder weniger ausgeprägte „Geschlossenheit“ der Frage provoziert. Im ersten Kapitel „Der Bürger und ich“ wird zunächst allgemein gefragt: Wie verhalte ich mich gegenüber Rechtsuchenden? Wie würde ich mir wünschen, dass der Richter mit mir vor Gericht umgeht? Wird mein Verhalten dem vor mir stehenden Menschen mit seinem Problemgerecht? Wie zeige ich gegenüber den Verfahrensbeteiligten meinen Respekt? Danach werden Fragen zum Verhalten innerhalb und außerhalb der Verhandlung formuliert. Hier wie in den nachfolgenden Kapiteln werden dann die Leitfragen in einer Fülle von einzelnen Fragen und bezogen auf einzelne berufliche Situationen weiter vertieft. Das zweite Kapitel „Die Öffentlichkeit und ich“ wird mit der Leitfrage eingeleitet: „Wie beeinflusst mein Verhalten das Bild der Justiz?“ und beschäftigt sich mit dem Umgang mit der Presse, Fachöffentlichkeit und dem Auf-
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treten in der Öffentlichkeit. Das dritte Kapitel „Die Rechtsprechung und ich“ eröffnet mit der Frage „Wie werde ich dem richterlichen Auftrag gerecht?“, wobei das anvertraute Amt und die Unabhängigkeit das Verantwortungsgeflecht bezeichnen. Das vierte Kapitel „Der Justizapparat und ich“ mit der Frage „Wie gehe ich mit der Justizverwaltung um und sie mit mir?“ beschäftigt sich mit dem Richter in der „Hierarchie“ und im Team. Das fünfte Kapitel „Die Robe und ich“ geht von der Frage aus: „Wie beeinflussen mein Amt und meine Person einander?“ Dies wird dann auf den Umgang mit privaten Interessen im Dienst und auf die eigenen Ansprüche und das Vorverständnis bezogen und näher befragt. Das Papier errichtete weder „Säulen richterlichen Handelns“ noch enthielt es „Gedanken zu einer Ethik richterlichen Verhaltens“. Es wirft vielmehr Fragen auf, die es bewusst unbeantwortet lässt. Was es allerdings mit der jeweiligen Fragerichtung anzeigt, sind grundlegende Problemfelder berufsmoralischen Verhaltens von Richtern. Insofern weisen die Fragen auf allgemeine Problemlagen und Bewertungen richterlichen Handelns hin, auch wenn der Ansatz der subjektive und individuelle Zugang des jeweils Fragenden bzw. Antwortenden ist. Der Schritt von der individuellen Selbstbefragung zur – zwar nicht allgemein verbindlichen – intersubjektiv ausgetauschten Beantwortung der Fragen wird in diesem Papier noch nicht gemacht und sollte nach der Zielrichtung der Autoren auch nicht gemacht werden. Allerdings schien auch der mit diesen Fragen „provozierte Diskurs“ zunächst ausgeblieben zu sein. Jedenfalls hat der Schleswig-Holsteinische Richterverband Ende 2007 das erkennen lassen und den Versuch unternommen, die Diskussion doch noch zu entfachen902; dies ist – wie zu zeigen ist – später gelungen. Die „Säulen“ stellten einen im internationalen Diskurs zunächst einmaligen Versuch dar, den Dialog über richterliche Ethik nicht direkt oder über die Verschriftlichung von Prinzipien, Werten, Ge- und Verboten zu führen, sondern indirekt über die „Gewissenserforschung“ der Richter. Damit sind sie ein direkter Ausdruck der in Deutschland besonders defensiv geführten Diskussion und des individualistischen Ansatzes auf dem Weg zu einer richterlichen Ethik. Inzwischen sind die schwedischen Richter diesem Beispiel gefolgt903. Die Schleswiger Ethikrunde hat sich 2010 im Anschluss an eine Richterbefragung jedoch neu formiert und sich dabei – unter Abweichung von der früher geäußerten Absicht und entgegen der mehrheitlichen Überzeugung der Richter, dass eine richterliche Ethik nur durch Richter selbst formuliert werden kann – für Nichtrichter, konkret Rechtsanwälte und Staatsanwälte, geöffnet. Die Runde
902 D. Wullweber, Richterliche Ethik: Anstoß zur Diskussion, in: Schl.Hol. RV, info 2/2007, S. 31. 903 Vgl. www.domstol.se/Ladda-ner–bestall/Rapporter/God-domarsed, Stand: 24.07. 2013.
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C. Elemente einer deskriptiven richterlichen Ethik
hat 2011 ein Thesenpapier erstellt904, das sich von der bisherigen Frageform löste. In ihm werden aus allgemeinen Begriffsdefinitionen der für zentral gehaltenen „Werte“ Verhaltensvorschläge entwickelt. Die Beschreibung von Wertekollisionen, praxisbezogene Beispielsfälle und Fragestellungen geben Hinweise auf mögliche Verhaltensweisen und zeigen Lösungsansätze für den Justizalltag auf. Das Thesenpapier will – wie die „Säulen“ – dem Richter nicht die Entscheidung in moralischen Zweifelsfragen im Einzelfall abnehmen, sondern soll „lediglich sensibilisieren, Hilfen bieten und insbesondere zum Nachdenken anregen.“ Das Thesenpapier ist gegliedert nach den „Werten“, an denen sich richterliches Verhalten ausrichten sollte. Dies sind Unabhängigkeit, Unparteilichkeit, Gleichbehandlung, Respekt, Integrität, Sorgfalt, Transparenz, Diskretion und Zurückhaltung, Verantwortungsbewusstsein (für den Entscheidungsprozess) und Einfühlungsvermögen/ Empathie. Der Inhalt dieser „Werte“ wird dann jeweils definiert, Wertekollisionen abstrakt, aber gut nachvollziehbar umschrieben, in Beispielsfällen exemplifiziert und die dazu gehörigen Fragestellungen der „Säulen“ angefügt. Mit diesem Thesenpapier wurde die Zurückhaltung der „Säulen“ durchbrochen und die Diskussion durch die überzeugende Definition der „Werte“ aber auch der Wertekollisionen stärker auf ein direktives Verständnis richterlicher Ethik ausgerichtet; allerdings werden keine Ge- oder Verbote formuliert, sondern vielmehr auf die Wirkung der „Werte“ gesetzt. Überzeugend ist auch die Abgrenzung dieser Werte von rechtlichen Pflichten und Vorgaben, d.h. das Abstellen auf die innere Seite des Richters (Innere Unabhängigkeit, Voreingenommenheit, Vorverständnisse, Respekt, Feingefühl, Integrität, Sorgfalt). Die Beispielsfälle spiegeln überwiegend die berufliche Praxis wieder und vermeiden zumeist die Reduzierung der richterlichen Ethik auf die Haltung gegenüber der Dienstaufsicht oder Vorgesetzten. Allerdings fehlen auch hier die „heißen Eisen“, etwa Nebentätigkeit, Erreichbarkeit des Richters oder die großzügige Arbeitszeitgestaltung von Richtern. Insgesamt hat die Schleswiger Ethikrunde damit einen Text vorgelegt, der dem hier vertretenen Ansatz einer richterlichen „Tugendethik“ sehr nahe kommt. Im Frühjahr 2008 hat sich auch in Rheinland-Pfalz ein Kreis gebildet, um eine Erklärung zur richterlichen Ethik zu erarbeiten. Er bestand aus Richtern unterschiedlicher Gerichtszweige und Instanzen sowie aus Staatsanwälten und zwei Mitgliedern des rheinland-pfälzischen Ministeriums der Justiz. Die Mainzer Ethikrunde hat in dieser Besetzung auf der Grundlage eigener praktischer Erfahrungen und der Auseinandersetzung mit der Entwicklung der richterlichen Ethik in anderen Ländern ein Ethikpapier entworfen. Ausgangspunkt der Diskussion waren die durch die Verfassung vorgegebene Wertordnung und die durch die Gesetze ausgeformte Richteraufgabe. Nach dem Selbstverständnis der Mitglieder 904 Schleswiger Ethikrunde – Thesenpapier, 2011; abgedruckt in SchlHAnz, Sonderheft Richterliche Ethik, 2012, S. 1–9, aus dem im Folgenden zitiert wird.
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dieser Runde sollte der für weitere Elemente offene Katalog ethischer Werte in der Richterschaft und der Öffentlichkeit diskutiert werden. Das Ziel einen gemeinsamen Entwurf für Richter und Staatsanwälte zu schaffen, wurde wegen der unterschiedlichen Aufgaben dieser Gruppen aufgegeben. Der Entwurf soll – so die Verfasser – helfen, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, an welchen Prinzipien Richter ihr berufliches sowie privates Handeln ausrichten. Er solle dazu dienen, frühzeitig zu erkennen und zu benennen, welche Gefährdungen für die Gewähr einer rechtsstaatlichen Justiz bestehen können905. Er stellt keine Auflistung verbotenen oder erlaubten Verhaltens dar und soll keinen Maßstab für richterliches Fehlverhalten für eine disziplinarische Beurteilung bilden. Er soll bei der täglichen Arbeit Hilfestellung bei der Beurteilung ethischer Fragen sein. Schließlich soll er in die Öffentlichkeit wirken. Das Papier906 beginnt mit der Frage „Richterliche Ethik – wer braucht denn so was?“ und dem Versuch einer Antwort, nämlich: Richter seien mit großer Macht ausgestattet und unterlägen nur einer eingeschränkten Kontrolle. Deshalb benötigten Richter ethische Grundsätze, die eine Orientierung für gutes und schlechtes Handeln böten. Allerdings dürften sie nicht Grundlage und Maßstab für Maßnahmen der Dienstaufsicht werden. In zehn kurz gefassten Abschnitten werden schlagwortartig einzelne Aspekte kurz beleuchtet, und zwar Folgende: „Der Mensch im Mittelpunkt“, „Dem Recht verpflichtet“, „Unabhängigkeit leben“, „dem Rechtsfrieden dienen“, „Kollegialität bewusst gestalten“, „Der kritische Blick auf uns selbst“, „Den Nachwuchs fördern und fordern“, „An der Justizverwaltung mitwirken“, „Angemessenes Verhalten in der Öffentlichkeit“, „Mit den Medien verantwortlich umgehen“. In den Veröffentlichungen hierzu wird der Katalog von einzelnen Gedanken zur richterlichen Ethik ergänzt, die sich um folgende Aspekte ranken: Neutralität, Respekt, Fairness, Zuwendung und Verständnis, tatsächliches Gehör, innere Unabhängigkeit, professionelle Distanz, Fürsorge, Transparenz der Verfahren, Offenheit, formale Leitungsverantwortung, Autorität und Würde des Gerichts, Entscheidungsverantwortung, der rechte Augenblick der Entscheidung, richterlicher Machtmissbrauch, Fachkompetenz und soziale Kompetenz, Loyalität gegenüber dem Recht und Gerechtigkeit im Einzelfall, Fortbildung. Dabei wechseln die Formulierungen zwischen der Bestimmung von Prinzipien bis zu allgemein gefassten Handlungsempfehlungen. Insgesamt ist das Papier von der Vorsicht geprägt, keine konkreten Handlungsgebote aufzustellen. Inzwischen richtete der Deutsche Sozialgerichtstag e.V. eine Kommission „Sozialgerichtliche Ethik“ ein907, die eine kritische Reflexion über die beruf905 Zum Voranstehenden und Folgenden: E. Faber-Kleinknecht, Bericht zur Entwicklung der Mainzer Ethikrunde, in: BDVR-Rundschreiben, 2009, S. 135 f. 906 Vgl. E. Faber-Kleinknecht, Mainzer Ethikrunde, in: DRiZ 2009, S. 349. Dort findet sich auch der Text. 907 Vgl. Thesenpapier unter: www.boorberg.de/sixcms/media.php/891/Ethik%20The senpapier.pdf, Stand: 25.09.2012.
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C. Elemente einer deskriptiven richterlichen Ethik
lichen Aufgaben der Sozialrichter eröffnen soll. Ziel der Diskussion solle Verhaltensorientierung, Rechtfertigung des Handelns und Qualitätssicherung sein. Im November 2012 wurde die „Ethik im sozialgerichtlichen Verfahren“ Thema des 4. Sozialgerichtstages908. Auf der Grundlage des Vortrags von Steiner „Zur Ethosfrage in der Sozialgerichtsbarkeit“ 909, der eine Sonderethik der Sozialrichter ausdrücklich ablehnt, und einer „Fallsammlung“ stellte die Kommission fest, dass es nicht um die Formulierung konkreter berufsmoralischen Pflichten geht, sondern um eine Reflexion des berufsethischen Selbstverständnisses, um Haltungen der Fairness, Respekt, Verständlichkeit und der Wahrung rechtlichen Gehörs910. dd) Richterliche Ethik in der Rechtsliteratur Für die Jahre von 1950 bis 2000911 sind nur wenige Beiträge festzustellen, die sich mit der richterlichen Ethik im engeren Sinne beschäftigen. Am Anfang stand die Frage des „Gewissens“ im Vordergrund. Mit den Beiträgen von Schambek und Wassermann in den achtziger Jahren wird der Begriff „Richterethik“ zunehmend Gegenstand der Diskussion. Geiger forderte sogar Anfang der 80er Jahre richterliche „Standesrichtlinien“, nach heutigem Sprachgebrauch einen Ethikkodex912. Kissel fragt Anfang der Neunziger erstmals intensiver nach dem Inhalt der „Ethik des Richters“. Insgesamt bewegen sich die Äußerungen im Rahmen der klassischen Diskussion um den „Amtsethos“. Herauszuheben ist allerdings 908 M. Wolff-Dellen, Bericht aus der Kommission Ethik im sozialgerichtlichen Verfahren, in Deutscher Sozialgerichtstag e. V. (Hrsg.), Sozialrecht – Tradition und Zukunft, Stuttgart 2013, S. 331. 909 Steiner, Ethosfrage (Fn. 122/A.), S. 333 ff. 910 Wolff-Dellen, Bericht (Fn. 908/C.), S. 332. 911 1950 ff.: Peters, Das Gewissen des Richters und das Gesetz in „Gegenwartsprobleme des Rechts“, in: Görres-Gesellschaft, Bd. 1, NF Heft 1, S. 23, Paderborn 1950; Darmstaedter, Richterliche Unabhängigkeit und Rechtsgewissen, in: DRiZ 1951, S. 169; Verhandlungen des 40. Deutschen Juristentags, Öffentlich-rechtliche Abteilung, Tübingen, 1954, zur Frage: „Wie findet man einen glaubwürdigen Richter?“ 1960 ff.: Pötter, Richterrecht und richterliches Gewissen, in: Beiträge zum Richterrecht, Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft, Veröffentlichung der Sektion für Rechts- und Staatswissenschaft, Neue Folge, Heft 5, 1968, S. 37. 1970 ff.: Hirsch, Zur juristischen Dimension des Gewissens und der Unverletzlichkeit der Gewissensfreiheit des Richters, Berlin 1979. 1980 ff.: Schambeck, Richteramt und Ethik. Festvortrag, Berlin 1982; Scheuerle, Vierzehn Tugenden für vorsitzende Richter, 1983; Somek, Richterethos und Moraltheorie, in: ÖsterrRZ 1985, S. 265; Wassermann, Macht ohne Verantwortung? Zur Richterethik in der pluralitären Gesellschaft, in: DRiZ 1986, S. 20; Berufsethik, Wertewandel und Pluralismus. Bericht über ein Gemeinschaftsseminar von DRB, DBB und BWV, in: DRiZ 1986, S. 150. 1990 ff.: Kissel, Die Justiz im Dienst des Menschen – Die Ethik des Richters –, in: DRiZ 1991, S. 270; Hesse, „Unkorrektes und unprofessionelles Handeln von Richtern“, in: JZ 1996, S. 449; Limbach, „Im Namen des Volkes“ – Richterethos in der Demokratie, in: DRiZ 1995, S. 425; Ogorek, Recht, Moral, Politik: Zum Richterbild in der Mediengesellschaft, in: KritV 1997, S. 5. 912 Geiger, Rolle (Fn. 5/A.), DRiZ 1982, S. 321, 325.
III. Richterliche Ethik in Deutschland
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die – fundierte und gleichzeitig unterhaltende – Schrift von Scheuerle „Vierzehn Tugenden für vorsitzende Richter“ aus dem Jahr 1983. Seine Tugendlehre, die er auf jeden Richter bezieht, der eine Verhandlung zu leiten hat, zeigt vor der später einsetzenden Diskussion über richterliche Ethik in exemplarischer Weise die Richtung auf, in die das „Nachdenken über den Gruppenethos der Richter“ gehen könnte913: nämlich nicht zu einem umfassenden berufsmoralischen Regelwerk, sondern zu einem Tugendkatalog. Er selbst schlägt einen solchen vor, begründet bzw. beschreibt die von ihm aufgenommenen und – seiner Ansicht nach ergänzungsfähigen – Tugenden: Staatstugend, Gerechtigkeit, Fairness, Ordnung, Weisheit, Klugheit, Besonnenheit, Tapferkeit, Umgangsformen, Selbstbeherrschung, Gelassenheit, Bescheidenheit, Distanz und Maß. Dabei füllte er die abstrakten Begriffe mit konkreten Anwendungsbeispielen (ihrer Beachtung wie ihrer Verletzung) und lieferte damit eine tragfähige Grundlage, auf die die nachfolgende Diskussion hätte aufbauen können. Allerdings war diese zunächst im Wesentlichen geprägt vom Reflex auf die richterethische Debatte in anderen Ländern und internationalen Institutionen und Gerichten. Seit 2000 ist die Anzahl der Veröffentlichungen zur richterlichen Ethik in Deutschland drastisch angestiegen; sie ebbt seit etwa drei Jahren aber wieder ab914. 913
W. Scheuerle, Vierzehn Tugenden für vorsitzende Richter, Berlin 1983, S. 55 f. 2000: Wassermann, Das Amtsethos schwindet, in: NJW 2000, S. 1159. 2001: Kramer, Was ist ein „guter Richter“, in: BJ 66 (2001), S. 68; Stephan, War Salomo ein gerechter Richter – Müssen Richter tugendhaft sein? In: Eichhorn, Mathias (Hrsg.), Alles, was ist, ist Recht, Festschrift zum 60. Geburtstag von L. Simon, Frankfurt 2001. 2002: Wassermann, Zur richterlichen Ethik in der pluralitären Gesellschaft, in: SchlHAnz. 2002, S. 29; Kirchhoff, Unabhängigkeit und Berufsethos: zwei paar Stiefel? In: BJ (2002), S. 253; 2003: Berkemann, Die Unabhängigkeit des Richters – Funktion. Auftrag, Moral in: Festschrift zum 10jährigen Bestehen des Verwaltungsgerichts Leipzig 2003, S. 15; Häuser, Vorfragen richterlicher Ethik – Zur gesellschaftlichen und individuellen Entwicklung von Moral –, in: BJ 76 (2003), S. 186; Krix, Richterliche Ethik – weltweit ein Thema, in: DRiZ 2003, S. 149; Markel, Richterethos – Unabhängigkeit. Ein modernes Richterbild, in: ÖsterrRZ 2003, S. 166; von Redecker, Die Grundsätze der richterlichen Berufsethik, in: Jahrbuch für Ostrecht, 2003, S. 24; 2004: Böttcher, Regeln für „Richterliche Ethik“, in: verdikt, 2004, S. 18; Strecker, Sollen und Wollen – Überlegungen zur richterlichen Ethik, in: BJ 2004, S. 376; Huhs, Bericht aus der Arbeitsgruppe V – Der „gesittete Richter“ – Keine Ethik ohne Kodifikation, 30. Richterratschlag, in: BJ Nr. 80 (2004), S. 412; 2005: Woischnik, Ethische Regeln für Richter, in: E + Z 2005, S. 4; Ehrenzeller/Ludewig (Hrsg.): Moraldilemmata von Richtern und Rechtsanwälten, Berufsschwierigkeiten und Bewältigungsstrategien, St. Gallen, Freiburghaus, Verhaltenskodex für Kantonsrichterinnen und -richter, Justice–Justiz–Giustizia 2005/1. 2006: Bolk, Richterliche Ethik, Ein Sachstandsbericht, NRV-Info Schleswig-Holstein, November 2006, S. 18; Krix, Richterliche Ethik. Stand der Diskussion in Deutschland; in: Schl.Hol. RV, info 1/2006, S. 6; Ludewig-Kedmi, Moraldilemmata von Richtern. Berufsschwierigkeiten und Bewältigungsversuche aus psychologischer Sicht in: Ehrenzeller/Ludewig-Kedmi (Hrsg.): Moraldilemmata von Richtern und Rechtsanwälten, Berufsschwierigkeiten und Bewältigungsstrategien, St. Gallen 2006, S. 10; dies., Berufsschwierigkeiten und Moraldilemmata von Richtern. Ergebnisse einer Pilotstudie in: Ehrenzeller, Bernhard/Ludewig-Kedmi, Revital (Hrsg.): a. a. O., S. 105; Markel, Richterethos, Richterbild und Stellung des Richters – Diskussion in Österreich, Justice– 914
310
C. Elemente einer deskriptiven richterlichen Ethik
Justiz–Giustizia 2006/1, Rn. 4; Neumann, Richterliches Ethos und Ökonomie der Justiz, in: DRiZ 2006, S. 211; Schmalfuß, Richterliche Ethik als „Motor“ der Rechtsfortbildung; in: Schlw.-Hol. RichterV, info 1/2006, S. 9; Schüller, Ethische Prinzipien für Richterinnen und Richter – Brauchen wir schriftliche Verhaltensstandards in Deutschland ?, in: SchlHAnz. 2006, S. 145; dies., Ethische Prinzipien für Richterinnen und Richter: Wozu? In: Schl.Hol. RV, info 1/2006, S. 4; Wrege, Eckpunkte einer Rahmentheorie richterlicher Ethik, MHR 4/2006, S. 16. 2007: Addicks, Richter legen ihre Perücken ab – Anmerkungen zur richterlichen Ethik, in: NRV-Info NRW 2007, S. 10; Dieterich, Berufsethik und Grundrechte im Alltagsbetrieb, in: BJ 92 (2007), S. 158; Hagen, Zur Ethik des Rechtsstabs, in: Fischer, Michael/Strasser, Michaela (Hrsg.), Rechtsethik, Frankfurt/Main 2007, S. 159; Steinhauer, Blick über die Grenze. Richterethik und parteipolitische Betätigung in Österreich; in: NRV BW info Juli 2007, S. 20; von Olenhausen, Thesenpapier zur Veranstaltung: „Ethik in der Justiz“, Frankfurt a. M., 20. Juni 2007: Gerichtliche Tätigkeit zwischen Ethik und Fallerledigungszahlen – ein Zwiespalt?; Wullweber, Richterliche Ethik: Anstoß zur Diskussion, in: Schl.Hol. RV, info 2/ 2007, S. 31. 2008: Baltzer, Das Gespenst „richterliche Ethik“, in: KritV 2008, S. 482; Copoeru, Gibt es überhaupt Raum für Ethik? Implementation richterlicher und staatsanwaltlicher Diskursethik in Rumänien, in: KritV 2008, S. 468; Dittrich, Gerichtliche Tätigkeit zwischen Ethik und Fallerledigungszahlen – ein Zwiespalt?, in: NRV-info Mecklenburg-Vorpommern 10/2008, S. 7; Gressmann, Richterethik in Deutschland, Justice– Justiz–Giustizia 2008/1, Rn. 1 ff.; Kreth, Zur Ethik richterlichen Verhaltens, in: KritV 2008, S. 475; Ludewig-Kedmi, Der Umgang mit dem richterlichen Ich-Ideal: Der Mensch hinter dem Richter, in: Heer (Hrsg.), Der Richter und sein Bild, Bern 2008, S. 25; Neumann, Richterliche Ethik – Ein Thema für uns alle, in: DRiZ 2008, S. 101; Pronay, Richterliche Ethik zum Ausprobieren, in: ÖsterrRZ 2008, S. 82; Titz, Berufsethos und richterliche Verantwortung – Über den Stand der Diskussion in Frankreich und Europa, in: DRiZ 2008, S. 98; Domgörgen, Bericht vom „Kleinen Verwaltungsrichtertag“ am 12./13. Juni 2008 in München BDVR-Rundschreiben 03/2008, S. 103; Schmidt-Syaßen, Richterliche Ethik – ein Tagungsbericht, in: MHR 4/08, S. 4; 2009: Bertram, Theodor Storms Beitrag zur „Richterethik“, in: MHR 2009, S. 15; Bifulco, Die Unabhängigkeit der Justiz und die geschriebene richterliche Ethik in Italien aus Sicht der dortigen Richterschaft, in: SchlHAnz. 2009, S. 124; Burghardt, Richterliche Ethik im Netzwerk des DRB, in: DRiZ 2009, S. 102; Eckertz-Höfer, „Vom guten Richter“ – Ethos, Unabhängigkeit, Professionalität, Speyerer Vorträge Heft 94 (auch abgedruckt in DÖV 2009, S. 729); Epineuse, Für eine vergleichende Richterethik. Erkenntnisse aus der weltweiten Debatte über die Richterethik, in: SchlHAnz. 2009, S. 122; Faber-Kleinknecht, Mainzer Ethikrunde, in: DRiZ 2009, S. 349; dies., Bericht zur Entwicklung der Mainzer Ethikrunde, in: BDVR-Rundschreiben, 2009, S. 135; Gass, Richterethik/Richterdeontologie – Überlegungen zu einer Rechtstheorie, in: Justiz und Recht im Wandel der Zeit, DRB (Hrsg.), Festgabe 100 Jahre Deutscher Richterbund, Köln 2009; Jackson, Zehn Jahre Ethical Principles für Judges der Kanadischen Richterschaft, in: SchlHAnz. 2009, S. 115; Kreth, Ethischer Anspruch an den Richterberuf im 21. Jahrhundert; Rede anlässlich des 1. Amtsrichtertages des Landesverbands NRW am 7. Mai 2009 in Mühlheim/Ruhr, www.drb.de/cms/fileadmin/docs/ethik_rede_ kreth_090507.pdf; Krix, Richterethik, in: Sächsisches Staatsministerium der Justiz und für Europa (Hrsg.), Impulse für eine moderne und leistungsstarke Justiz – Dokumentation Symposium Justizlehre Dresden 2009, Stuttgart 2009, S. 119; Luik, Betrifft uns selbst: das ethische Programm des Richtereids, in: BJ Nr. 98 2009, S. 74; ders., Bemerkungen zur richterlichen Ethik aus der Perspektive des Grundgesetzes und des Deutschen Richtergesetzes, in: SchlHAnz. 2009, S. 97; Mallmann, Stellungnahmen des Consultative Council of European Judges (CCJE) zu aktuellen Themen – insbesondere zur Qualität von Gerichtsentscheidungen, in: ZRP 2009, S. 151, ders., Stellungnahmen des CCJE zu aktuellen
III. Richterliche Ethik in Deutschland
311
Die Schwerpunkte lagen auf der Auseinandersetzung mit der anschwellenden internationalen Diskussion zur Berufsethik und der Suche nach einer „deutschen“ Antwort hierauf. Es fällt dabei auf, dass nur einzelne Beiträge versuchen, den Begriff, Gegenstand und möglichen Umfang einer richterlichen Ethik näher zu
Themen, in: Sächsisches Staatsministerium der Justiz und für Europa (Hrsg.), Impulse für eine moderne und leistungsstarke Justiz – Dokumentation Symposium Justizlehre Dresden 2009, Stuttgart, S. 41; Morigiwa, Die philosophischen Grundlagen der Richterethik, in: SchlHAnz. 2009, S. 110; Schaberg, Unabhängigkeit, Ethik und Medien, in: MHR 2/2009, S. 15; ders., Richterliche Unabhängigkeit und Ethik, in: MHR 2/2009, S. 16; Schultze-Griebler, Selbstbild und Eigenverantwortung von Richtern und Staatsanwälten. Einführung in richterliche und staatsanwaltliche Berufsethik, in: Info Sächsischer Richterverein, 1/2009, S. 6; Stadler, Richterliche Ethik im Gespräch, in: Info Sächsischer Richterverein, 1/2009, S. 7; Tietz, Richtereid und richterliche Ethik, in: DRiZ 2009, S. 32; dies., Über den Umgang mit richterlicher Ethik im Ausland, in: DRiZ 2009, S. 34; dies., Richterliche Ethik – Voraussetzung echter Unabhängigkeit oder Luxus? Vortrag anlässlich der jährlichen Richterversammlung des Amtsgerichts München am 9. November 2009, www.drb.de/cms/fileadmin/docs/ethik_vortrag_titz_ 091109.pdf; Utto, Ethischer Kodex der ungarischen Richter, in: SchlHAnz. 2009, S. 127. 2010: Burghardt, Richter und parteipolitisches Engagement – Versuch einer Betrachtung aus ethischer Sicht, in: DRiZ 2010, S. 351; Mardorf, „. . . nach bestem Wissen und Gewissen . . .“ – Philosophische Grundlagen der Richterlichen Ethik, DRiZ 2010, S. 78; Werner, Richterliche Ethik – Bestandsaufnahme und Ausblick in: BDFR FORUM, Februar 2010, S. 4 ff. 2011: Böttcher-Grewe, Richter tricksen, Anwälte pokern – Wo bleibt die Ethik im Prozess, in: DRiZ 2011, S. 203; Epp, Richterliche Ethik – Theorie und zehn Fälle aus der Praxis, in: DRiZ 2011, S. 122; Görres-Ohde, Der lange Weg zur richterlichen Ethik, in: von Olenhusen, P. G. (Hrsg.), 300 Jahre Oberlandesgericht Celle, Göttingen 2011, S. 199; Kaufmann, Wer bestimmt über richterliche Berufsethik, in: Ch. Kühl/G. Seher (Hrsg.): Rom, Recht, Religion, Symposion für U. Ebert, Tübingen 2011, S. 167 ff.; Kreth, Richterliche Ethik – mehr als eine Modeerscheinung, in: NJW-aktuell, 2011, S. 14; 2012: Diercks, Richterliche Ethik in Schleswig-Holstein, in: Schleswig-Holsteinische Anzeigen, Sonderheft Richterliche Ethik, 2012, S. 10; Kreth, Richterethik in Deutschland –Thesen zur Diskussion richterlicher und staatsanwaltlicher Berufsethik im Deutschen Richterbund, in: Schleswig-Holsteinischer Richterverband Info 2/2012, S. 44; Luik, Der Richtereid des Deutschen Richtergesetzes – eine kleine Richterethik, in: Schleswig-Holsteinischer Richterverband Info 2/2012, S. 35; Schleswiger Ethikrunde – Thesenpapier, 2011; abgedruckt in SchlHAnz, Sonderheft Richterliche Ethik, 2012, S. 1; Waechter, Richterliche Berufsethik, in: BDVR-Rundschreiben 2012, S. 83; 2013: Rennert, Was ist ein guter Richter? – Fünfzehn Thesen für eine Annäherung, in: DRiZ 2013, S. 214; Stang, Berufsethik für Richter und Staatsanwälte – oder der gepiercte Richter, in: Mitteilungsblatt NRB 2013, S. 45; Titz, Ethik-Debatte von der Basis angenommen, in: DRiZ 2013, S. 200; Titz/Kreth, Funktion und Leistung richterlicher Ethik in Deutschland und Europa, in: BDVR-Rundschreiben 2013, S. 73; WolffDellen, Bericht aus der Kommission Ethik im sozialgerichtlichen Verfahren, in: Deutscher Sozialgerichtstag e. V. (Hrsg.), Sozialrecht – Tradition und Zukunft, Stuttgart, 2013, S. 331 2014: Wittreck, Funktionen und Leistungen richterlicher Ethik, in: Verein Deutscher Verwaltungsgerichtstag (Hrsg.), 17. Deutscher Verwaltungsgerichtstag Münster 2013, Stuttgart 2014, S. 271. 2015: Heussen, Richterliche Berufsethik aus der Sicht eines Rechtsanwalts, NJW 2015, S. 1927; Sandhaus, Richterliche Ethik, in: H. Pünder/ H. Posser/J. Schröder (Hrsg.), Rechtsgestaltung im öffentlichen Recht, Liber Amicorum für D. Ehlers zum 70. Geburtstag, München 2015, S. 469; Seybold/Sander/Weiß, Richterliche Selbstbindung durch Methodenlehre – eine Frage der Ethik, ARSP 2015, S. 319.
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C. Elemente einer deskriptiven richterlichen Ethik
erläutern. Es sind zumeist Wortmeldungen aus der Richterschaft und den Berufsverbänden, die zur laufenden Diskussion Stellung nehmen. Eine universitär-wissenschaftliche Untersuchung der Fragen gibt es erst in Ansätzen. d) Rechtssoziologische und empirische Erkenntnisse Rechtssoziologische Untersuchungen zur herrschenden Berufsmoral der Richter gab es bis vor kurzem nicht. Nur im Zusammenhang mit anderen richtersoziologischen Fragestellungen wurden hierzu ansatzweise Erkenntnisse gewonnen. Auch wenn die Soziologie der Justiz915 eine in das späte 19. Jahrhundert zurückreichende Tradition aufweisen kann, ist in Deutschland die Soziologie der Richter eher jüngeren Datums. Sie setzte – im Wesentlichen angeregt durch amerikanische Forschungen916, aber auch zur Überprüfung der These von der „Klassenjustiz“ 917 des Kaiserreichs bzw. der Weimarer Republik – Anfang der sechziger Jahre ein. Im Vordergrund dieser Untersuchungen stand dabei neben dem Entscheidungsverhalten918 die soziale Herkunft, die Ausbildung und die Erziehung der Richter919, aus denen auf die Einstellung und das Selbstverständnis als Richter geschlossen wurde920. Dabei wurden – auf empirisch wenig gesicherter
915
Vgl. M. Rehbinder, Rechtssoziologie, 4. Aufl., München 2000, S. 161 ff. Eikenberg, Richterpersönlichkeit und Urteilsfindung (Fn. 89/C.), insbesondere S. 74 ff.; Rehbinder, Rechtssoziologie (Fn. 915/C.), S. 161 f.; Röhl, Rechtssoziologie (Fn. 575/C.), S. 345; K. Zweigert, Zur inneren Unabhängigkeit des Richters, in: J. Esser/H. Thieme (Hrsg.), Festschrift für F. v. Hippel, Tübingen 1967, S. 716 ff. 917 Ormond, Richterwürde (Fn. 466/C.), S. 8 weist insoweit auf die wenig empirisch überprüfte und politisch motivierte Sicht der maßgeblichen Vertreter der KlassenjustizThese hin. 918 R. Lautmann, Justiz – die stille Gewalt, Frankfurt/Main 1972; Wassermann, Richterliche Gewalt (Fn. 5/A.), S. 138 ff. 919 Vgl. etwa: R. Dahrendorf, Bemerkungen zur sozialen Herkunft und Stellung der Richter an Oberlandesgerichten. Ein Beitrag zur Soziologie der deutschen Oberschicht, in: ders. Gesellschaft und Freiheit, München 1961, S. 176 ff.; J. Feest, Die Bundesrichter: Herkunft, Karriere und Auswahl, in: W. Zapf (Hrsg.), Beiträge zur Analyse der Oberschicht, 2. Aufl., 1965, S. 95 ff.; Eikenberg, Richterpersönlichkeit und Urteilsfindung (Fn. 89/C.), S. 13 ff.; W. Kaupen, Die Hüter von Recht und Ordnung. Die soziale Herkunft, Erziehung und Ausbildung der deutschen Juristen, Neuwied/Berlin 1969 (vgl. hierzu die äußerst kritische Rezension von Ostermayer, in: DRiZ 1970, S. 164 f.); W. Kaupen/Rasehorn, Die Justiz zwischen Obrigkeitsstaat und Demokratie. Ein empirischer Beitrag zur Soziologie der Justizjuristen, 1973; W. Richter, Zur soziologischen Struktur der deutschen Richterschaft, Stuttgart 1968; ders., Zur Bedeutung der Herkunft der Richter für die Entscheidungsfindung, 1973; R. Schieler, Soziale Herkunft der Richter und ihr Einfluss auf die Rechtsprechung, in: DRiZ 1972, S. 198 f.; K. Zwingmann, Zur Soziologie des Richters in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1966. Zusammenfassend und kritisch: Simon, Unabhängigkeit des Richters (Fn. 469/C.), S. 147 ff. und S. 152 ff. 920 Vgl. den Überblick bei Wassermann, Richterliche Gewalt (Fn. 5/A.), S. 145 ff. und S. 185 ff. 916
III. Richterliche Ethik in Deutschland
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Grundlage921 und geprägt vom verständlichen Entsetzen über die ungebrochene personelle Kontinuität in der Justiz nach dem Krieg922 – nicht selten die Richter in ihrer Mehrzahl als „autoritäre“, „konservative“ und „sozial immobile“ Persönlichkeiten bewertet923. Später wurde der Ursachenzusammenhang zwischen dem Sozialprofil des Richters und der Einstellung bzw. dem Prozesserfolg jedoch zunehmend in Frage gestellt924 und erhebliche Überinterpretationen des empirischen Befundes nachgewiesen925. Es kamen Untersuchungen – auch zur Vorbereitung von Justizreformen926 – zur Justizorganisation927, zum Gerichtsverfahren und zur Arbeitsweise, insbesondere zur Entscheidungstätigkeit der Richter hinzu928. Insoweit wurden auch schichtenspezifische Diskriminierungen – und damit das unter dem Aspekt der Berufsmoral bedeutsame „Vorverständnis“ der Richter – näher erforscht. Weiterer Gegenstand waren Selbstverständnis929, Rollenverhalten und Rollenerwartung930. Bezüglich der Rollenerwartung sind zwar auch Fragen der Moral angesprochen, aber letztlich nicht grundlegend empirisch untersucht worden931.
921 So Rehbinder, Rechtssoziologie (Fn. 915/C.), S. 162 m.w. N.; vgl. auch: H. Ostermayer, Die Hüter von Recht und Ordnung, in: DRiZ 1970, S. 164 f. 922 Rasehorn, Richterbild (Fn. 848/C.), S. 119 ff. 923 Kübler, Richter (Fn. 139/B.), AcP 162 (1963), S. 104 und S. 125, meint in Anschluss an Dahrendorf hingegen und den Vorwurf steigernd, dass bei den „Nachkriegsrichtern“ nicht ein Konservatismus festzustellen gewesen sei, sondern eine „utopischautoritäre“ und restaurative Haltung. 924 Röhl, Rechtssoziologie (Fn. 575/C.), S. 349 ff. und S. 358 ff. 925 Röhl, Rechtssoziologie (Fn. 575/C.), S. 356. 926 Vgl. Rehbinder, Rechtssoziologie (Fn. 915/C.), S. 166 ff. m.w. N. So auch K. Lerch, Wissen oder Willkür – Zur Konstruktion des Rechtsfalls in unterschiedlichen Praxisfeldern, in: U. Dausendschön-Gay/Ch. Dohmke/S. Ohlhus (Hrsg.), Wissen in (Inter-)Aktion – Verfahren der Wissensergründung in unterschiedlichen Praxisfeldern, Berlin/New York 2010, S. 228. 927 R. Werle, Justizorganisation und Selbstverständnis der Richter. Eine empirische Untersuchung, Königstein/Ts., 1977. 928 R. Gerhardt/M. Kepplinger/S. Geiß, Auf dem Weg zur Wahrheit – Die Kunst der richterlichen Urteilsfindung, in: ZRP 2012, S. 213 ff., T. Rasehorn, Der Richter zwischen Tradition und Lebenswelt. Alternative Justizsoziologie, Baden-Baden, 1989, S. 77 ff.; Rehbinder, Rechtssoziologie (Fn. 915/C.), S. 163 ff. m.w. N.; J. Schmid/ T. Drosdeck/D. Koch (Hrsg.), Der Rechtsfall – ein richterliches Konstrukt, Baden-Baden 1997. 929 Werle, Justizorganisation (Fn. 927/C.), versucht nachzuweisen, dass „richterliche Rollenperzeption eher durch Einflüsse der Justizorganisation als durch solche des soziokulturellen Hintergrunds, der höheren Schulbildung und der juristischen Ausbildung verursacht wird.“ 930 R. Lautmann, Rolle und Entscheidung des Richters, in: ders. u. a. (Hrsg.), Die Funktion des Rechts in der modernen Gesellschaft, in: Jahrbuch der Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bd. 1, 1970, S. 381 ff. 931 Vgl. Lautmann, Rolle und Entscheidung des Richters (Fn. 930/C.), S. 403 ff. und S. 408.
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C. Elemente einer deskriptiven richterlichen Ethik
Ein erster Versuch, berufsmoralische Einstellungen von Richtern direkt zu ermitteln, ist die Umfrage des Präsidenten des Thüringer Oberlandesgerichts Kaufmann932. Im Jahr 2009 hat er einen Katalog mit 90 Fragen bzw. mit von den Teilnehmern zu bewertenden Aussagen entworfen und an 982 Richterinnen und Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Thüringen und Schleswig-Holstein verschickt. 590 Richter haben ihn zurückgesandt. Davon waren 548 Bögen vollständig oder überwiegend ausgefüllt. Das vorgegebene Bewertungsschema war folgendermaßen gestaltet: 1 – stimme uneingeschränkt zu, 2 – stimme überwiegend zu, 3 – teils/teils, 4 – stimme überwiegend nicht zu, 5 – stimme überhaupt nicht zu, 0 – keine Meinung gebildet bzw. will mich nicht äußern. Die Fragen oder Feststellungen können in folgende Untergruppen eingeteilt werden: „Richter und richterliche Ethik“ (1. bis 8.)933, „Richter und Politik“ (9. bis 11.)934, „Richter und Gesellschaft“ (12. bis 35.)935, „Richter und richterliche Unabhän932 Thüringer Oberlandesgericht (Hrsg.), Was denken wir (uns) eigentlich? Eine rechtssoziologische Befragung zum richterlichen Selbstverständnis, 2011. Vgl. die isolierte Veröffentlichung der Ergebnisse für Schleswig-Holstein von S. Diercks, Richterliche Ethik in Schleswig-Holstein, in: SchlHAnz, Sonderheft Richterliche Ethik, 2012, S. 10–14. Hierzu: Heussen, Berufsethik (Fn. 6/A.), NJW 2015, S. 1927, 1929 ff. 933 1. Als Richterin oder Richter ist man in besonderer Weise gehalten, über sein berufliches Tun nachzudenken. 2. Es sollten mehr Fortbildungsveranstaltungen angeboten werden, die sich im weitesten Sinne auch mit dem Selbstbild des Richters befassen. 3. Es ist eine Ehre, den Beruf des Richters auszuüben. 4. Richter sollten sich selbst überprüfen, ob sie verantwortungsvoll mit ihrer Macht umgehen. 5. Es sollten schriftliche Verhaltensstandards für Richter (über bestehende Regelungen im Gesetz hinaus) geschaffen werden. 6. Wenn schriftliche Verhaltensstandards für Richter (über bestehende Regelungen im Gesetz hinaus) geschaffen werden, sollten diese ausschließlich von Richtern selbst formuliert werden. 7. Wenn schriftliche Verhaltensstandards für Richter geschaffen werden, sollte auf keinen Fall eine Regel aufgenommen werden, dass ein Verstoß gegen die Standards an die zuständigen Stellen gemeldet werden soll (sog. Whistle-blowing). 8. Schriftliche Verhaltensstandards für Richter sind abzulehnen, weil sonst die Stigmatisierung einzelner Kollegen droht, die sich nicht an solche Verhaltensregeln halten. 934 9. Es ist unproblematisch, wenn sich ein Richter außerhalb seines Amtes in einer politischen Partei engagiert. 10. Ein Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit kann sich in ein Gemeindeparlament wählen lassen, ohne dass dies problematisch für sein Ansehen als Richter ist. 11. Politisches Engagement eines Richters steht nicht im Widerspruch zur richterlichen Unabhängigkeit. 935 12. Die Justiz ist ein Dienstleistungsbetrieb. 13. Klaus Finkelnburg hat recht, wenn er (in BDVR-Rundschreiben 2004/72) konstatiert, daß der (Verwaltungs-)Richter ein „Dienstleister in Sachen Recht“ ist. 14. Ein Richter ist verpflichtet, gegenüber den anderen Mitgliedern der Justiz Vorbild zu sein. 15. Ein Richter ist verpflichtet, gegenüber den anderen Mitgliedern der Gesellschaft Vorbild zu sein. 16. Richter sollten sich – neben ihrem Beruf – ehrenamtlich für das Gemeinwohl betätigen, wenn dies zumutbar ist. 17. Es ist grundsätzlich unbedenklich, wenn ein Richter im Vorstand eines gemeinnützigen Vereins tätig ist. 18. Der Richter hat bei jeder Entscheidung die Folgen für die Gesellschaft zu bedenken. 19. Der Richter muss bei der Führung des Prozesses auch darauf achten, dass die Kosten für den Staat im Rahmen bleiben. 20. Ein Richter sollte den Parteien grundsätzlich die finanziellen Auswirkungen vor Augen führen. 21. Wenn beide Parteien Prozesskostenhilfe bewilligt bekommen haben, sollte der Richter zur Schonung der Staatskasse besonders genau prüfen, ob ein kostenintensives Gut-
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gigkeit“ (36. bis 39)936, „Richter und Gerechtigkeit“ (40. bis. 50.)937, „Richter und Auftreten“ (51. bis 74.)938, „Richter und Gericht“ (75. bis 92.)939 sowie eine zur Befragung940 selbst. achten wirklich eingeholt werden muss. 22. Ein Richter sollte niemals eine seiner Entscheidungen in der Öffentlichkeit (vor den Medien) rechtfertigen oder kommentieren. 23. Ein Richter sollte den Kontakt mit den Medien meiden und auf den Pressesprecher des Gerichts verweisen. 24. Ein Richter, der einen Leserbrief an eine Zeitung sendet, sollte nicht zu erkennen geben, dass er Richter ist. 25:. Richter sollten nicht allein nach der Examensnote ausgewählt werden. Vielmehr sollte auch die Soziale Kompetenz der Bewerber eine gewichtige Rolle spielen. 26. Es ist für die Richterpersönlichkeit vorteilhaft, wenn ein Bewerber für das Richteramt vor der Ernennung einige Jahre in einem anderen Beruf gearbeitet hat. 27. Ein Richter sollte private Kontakte zu Rechtsanwälten sorgfältig prüfen und seine Arbeit von solchen Kontakten nicht beeinflussen lassen. 28. Es ist problematisch, wenn ein Richter mit einem Anwalt bzw. einer Anwältin aus dem gleichen Bezirk zusammenlebt. 29. Es sollte jedem Richter ein Anliegen sein, dass alle Prozessbeteiligten das Gericht mit der Auffassung verlassen, angemessen behandelt worden zu sein. 30. Ein Richter, der dies vernachlässigt, beschädigt das Bild der Justiz in der Gesellschaft. 31. Jeder einzelne Richter ist für das Bild der Justiz in der Gesellschaft mitverantwortlich. 32. Ein Richter muss stets versuchen, den Zeitgeist kritisch zu reflektieren. 33. Ein Richter sollte sich nach jeder (wichtigen) Entscheidung Gedanken machen, ob diese Entscheidung für die Öffentlichkeit interessant ist und ggf. den Pressesprecher des Gerichts unterrichten. 34. Es ist abzulehnen, dass ein Richter an einer Demonstration teilnimmt und dabei die richterliche Robe trägt. 35. Es ist abzulehnen, dass ein Richter seine Dienstbezeichnung im Briefkopf privater Schreiben aufführt. 936 36. Der Richter sollte die Parteien darauf aufmerksam machen, wenn in einem Rechtsstreit ein Rechtsanwalt auftritt, mit dem der Richter privaten Kontakt pflegt. 37. Die richterliche Unabhängigkeit ist für mich vorrangig eine Verpflichtung, weniger hingegen ein persönliches Privileg. 38. Für die meisten Kollegen ist die richterliche Unabhängigkeit vorrangig eine Verpflichtung, weniger hingegen ein persönliches Privileg. 39. Die Richter eines Gerichts sollten ihre Entscheidungen untereinander absprechen und einigen, damit divergierende Entscheidungen zumindest dieses Gerichtes in gleichgelagerten Fällen vermieden werden. 937 40. Wenn die nach juristischem Handwerk „richtige“ Lösung seinem Gewissen widerspricht, hat die „richtige“ Anwendung des Gesetzes Vorrang. 41. Ein Richter kann bei hinreichender Anstrengung stets eine gerechte Entscheidung treffen. 42. Ein Richter hat die Pflicht, sich ständig fortzubilden. 43. In die Entscheidungsfindung fließen keine eigenen persönlichen Wertvorstellungen ein. 44. Der Richter hat seine persönlichen Interessen bei der Entscheidungsfindung vollständig unberücksichtigt zu lassen. 46. Der folgende Satz von Calamandrei, Lob der Richter, S. 16, trifft zu: „Der beste Richter ist derjenige, in dem das rasche menschliche Einfühlungsvermögen den vorsichtigen Verstand überwiegt.“ 47. Der folgende Satz von Calamandrei, Lob der Richter, S. 16, trifft zu: „Der Gerechtigkeitssinn, kraft dessen man, nach vorausgegangener Kenntnis des Tatbestandes, sofort fühlt, auf welcher Seite das Recht steht, ist eine angeborene Tugend, die gar nichts mit der Technik des Rechts zu tun hat: so wie in der Musik die größte Intelligenz nicht vermag, ein mangelndes Gehör zu ersetzen.“ 48. Jeder Fall kann vom Richter eindeutig richtig entschieden werden. 49. Ein Kläger stellt einen „falschen“ Zeugen, weil er anderweitig den von ihm wahrheitsgemäß vorgetragenen aber bestrittenen Sachverhalt nicht beweisen kann. Der Beklagte wird auf der Grundlage der Zeugenaussage verurteilt. Ich halte das Urteil für gerecht. 50. Ein Richter muss sich bewusst sein, dass er sich nur um Gerechtigkeit bemühen, bzw. sich der Gerechtigkeit nur annähern kann. 938 51. Ein Richter sollte den Prozessbeteiligten mit Respekt gegenübertreten und von den Prozessbeteiligten gleichermaßen Respekt im Gegenzug immer wieder einfor-
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dern. 52. § 124 Abs. 2 S. 1 RistBV lautet: Beim Eintritt des Gerichts zu Beginn der Sitzung, bei der Vereidigung von Zeugen und Sachverständigen und bei der Verkündung der Urteilsformel erheben sich sämtliche Anwesende von ihren Plätzen. Auch wenn für das Zivilverfahren keine vergleichbare Norm besteht, sollte die dort entsprechend angewandte Übung (alle Anwesenden erheben sich) beibehalten werden. 53. Ein Amtsrichter sollte in einem Verfahren, in dem nur eine Partei anwaltlich vertreten ist, besonders darauf achten, dass sich die andere Partei nicht benachteiligt fühlen kann. 55. Der die Verhandlung leitende Richter sollte in der mündlichen Verhandlung einschreiten, wenn ein Prozessbeteiligter Kaugummi kaut. 56. Der die Verhandlung leitende Richter sollte in der mündlichen Verhandlung einschreiten, wenn der Verteidiger im Strafprozess keine Robe trägt. 57. Der die Verhandlung leitende Richter sollte in der mündlichen Verhandlung einschreiten, wenn der Parteivertreter im Zivilprozess vor dem AG keine Robe trägt. 58. Der die Verhandlung leitende Richter sollte in der mündlichen Verhandlung einschreiten, wenn der Parteivertreter im Zivilprozess vor dem LG keine Robe trägt. 59. Der die Verhandlung leitende Richter sollte in der mündlichen Verhandlung einschreiten, wenn der Parteivertreter im Zivilprozess vor dem OLG keine Robe trägt. 60. Der die Verhandlung leitende Richter sollte in der mündlichen Verhandlung einschreiten, wenn einer der Prozessbeteiligten einen anderen beleidigt. 61. Der Richter sollte so mit den Parteien umgehen, wie er sich selbst wünschen würde, dass mit ihm umgegangen wird. 62. Der Richter sollte sich auf sein jeweiliges Gegenüber einstellen und entsprechend agieren. 63. In der mündlichen Verhandlung hat der Richter die Bekleidungsvorschriften strikt einzuhalten. 64. Der Berliner Justizsenat hat die dortige Robenpflicht abgeschafft. Die Bekleidungsvorschriften sollten gelockert werden. 65. Auch außerhalb mündlicher Verhandlungen sollte der Richter angemessen bekleidet sein, solange er sich im Gericht aufhält. 66. Es ist nicht angemessen, wenn ein Richter (außerhalb der mündlichen Verhandlung) barfuß im Gericht auftritt. 67. Es ist nicht angemessen, wenn ein Richter im Gericht (außerhalb der mündlichen Verhandlung) in kurzen Hosen arbeitet. 68. In der mündlichen Verhandlung sollte der (männliche) Richter keinen Ohrring tragen. 69. In der mündlichen Verhandlung sollte eine Richterin (abgesehen von Ohrringen) keine sichtbaren Piercings tragen. 70. Ein Richter sollte den Parteien – auch im Anwaltsprozess – das Gefühl vermitteln, dass sie ihr Anliegen/ihre Ansicht umfassend in der Verhandlung darstellen können. 71. Der Richter muss Einbußen in der Qualität (etwa bzgl. der Begründung seiner Entscheidung) hinnehmen, wenn er nur so das ihm zugewiesene Dezernat in angemessener Zeit erledigen kann. 72. Der Richter sollte vor allem bei Entscheidungen, die aufgrund von Form-, Verfahrens- oder Verjährungsvorschriften getroffen werden, Wert darauf legen, die Entscheidung den Parteien verständlich zu machen. 73. Der Richter muss in seinen schriftlichen Entscheidungen der obsiegenden Partei weniger sagen, warum sie gewonnen hat, sondern der unterlegenen Partei umfassend mitteilen, warum sie verloren hat. 74. Der Richter sollte bei der sprachlichen Abfassung seiner Entscheidung großes Augenmerk darauf legen, dass die Parteien diese Entscheidung auch ohne weitere juristische Erläuterung verstehen, und zwar auch dann, wenn die Parteien anwaltlich vertreten sind. 939 75. Der Richter in einem Spruchkörper, der nicht Berichterstatter ist, sollte sich mit Kritik an den Entscheidungsvorschlägen des Berichterstatters zurückhalten, um des lieben Friedens willen. 76. Der Richter sollte sich nicht scheuen, einen Rechtsstreit dem Spruchgremium zur Entscheidung vorzulegen. 77. Wer seine Aufgaben als Richter gut erfüllt, ist ohne weiteres auch als Führungskraft (etwa als Direktor eines Amtsgerichts) geeignet. 78. Richter haben zwar formell keine Führungsverantwortung gegenüber ihrer Geschäftsstelle, sie tragen aber eine (informelle) Führungsverantwortung gegenüber den Mitarbeitern der Geschäftsstelle. 79. Ein Richter sollte bereit sein, ein Mitarbeiter-Vorgesetzten-Gespräch (Jahresgespräch) mit dem Mitarbeiter seiner Geschäftsstelle durchzuführen. 80. Richter A spricht Richter B darauf an, dass dieser gerade einen Fall bear-
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Die zur Beurteilung gestellten Fragen und Feststellungen erfassen dabei zwar zum großen Teil richterethische Problemlagen, wie etwa die Frage nach der Schaffung und Verschriftlichung richterethischer Standards, der Kontrolle von Verstößen gegen Verhaltenspflichten, nach den Grenzen des gesellschaftlichen und politischen Engagements von Richtern, nach dem Kostenbewusstsein, dem Umgang mit den Medien und Anwälten, der Fortbildungspflicht, nach dem Auftreten im Termin und dem Anspruch auf Einhaltung der Ordnung im Termin, nach der Kommunikation mit den Beteiligten, dem Umgang innerhalb des Spruchkörpers, den Mitarbeitern und den Kollegen. Manche Fragenkomplexe, etwa zum äußeren Erscheinungsbild des Richters und der Prozessbeteiligten (13 Einzelfragen), sind sehr stark betont. Eine Reihe der Feststellungen betreffen aber keine berufsmoralischen Fragen im engeren Sinne, sondern rechtliche Anforderungen, Fragen des Selbstbildes des Richters und der Justiz sowie allgemeine Einschätzungen zur Rekrutierung von Richtern und des Führungspersonals sowie zur Einstellung zur richterlichen Unabhängigkeit. Insofern zeigt sich, dass der Fragebogen den Gegenstand der richterlichen Ethik, anders als er hier ausgearbeitet wird, nämlich sehr weit, fasst941 und abfragt. Für eine präzise Messung der Einstellung der Richter zu ihrer Berufsmoral – und dies könnte bei der geplanten Wiederholung der Umfrage geleistet werden –, müsste der Umfrage beite, in dem ein guter Bekannter des A als Kläger agiere. Das Verhalten des Richters A ist abzulehnen. 81. Es ist unbedenklich, wenn ein Richter ein bestimmtes Urteil seines Kollegen diesem gegenüber „unter vier Augen“ kritisiert. 82. Es ist unbedenklich, wenn ein Richter die Arbeitsweise eines Kollegen diesem gegenüber „unter vier Augen“ kritisiert. 83. Der Richter sollte sich jeglicher Kollegenschelte oder Urteilsschelte versagen. 84. Es ist bedenklich, wenn ein Richter das Urteil eines Kollegen im Kollegenkreis kritisch analysiert. 85. Der Richter in einem Spruchkörper, der nicht Berichterstatter ist, hat die Aufgabe, seine Bedenken jederzeit vorzubringen, um zu einer möglichst richtigen Entscheidung beizutragen. 86. Es sollte für einen Richter selbstverständlich sein, seine Stimme bei der Wahl der Vertretungen (Richterräte) abzugeben. 87. Es sollte für einen Richter selbstverständlich sein, sich als Mitglied einer Vertretung (Richterrat, Hauptrichterrat) in die Pflicht nehmen zu lassen. 88. Richter, die Mitglied des Präsidiums sind, sollten sich um eine gleichmäßige Belastung aller Kollegen des Gerichtes bemühen. 89. Bei unzureichender Personalausstattung anfallende Mehrarbeit sollte bis zur Aufstockung der Personalstärke zunächst unter den Präsidiumsmitgliedern verteilt werden, bevor auf Kollegen zurückgegriffen wird, die nicht in das Präsidium gewählt wurden. 90. Bei Veränderungen in der Dezernatsbesetzung sollten die betroffenen Kollegen im Präsidium gehört werden. 91. Das Präsidium sollte die Wünsche von Kollegen berücksichtigen, die das Dezernat, die Kammer oder den Senat nach angemessener Zeit wechseln möchten. 92. Wenn ein Richter einen Eingriff in seine Unabhängigkeit bemerkt, so sollte er sich an den Hauptrichterrat oder den Richterrat wenden. 940 93. Die vorliegende Befragung sollte nach einem Zeitraum von . . . Jahren oder nicht wiederholt werden. 941 Vgl. hierzu auch St. Kaufmann, Wer bestimmt über richterliche Berufsethik; in: Ch. Kühl/G. Seher (Hrsg.), Rom, Recht, Religion, Symposion für U. Ebert, Tübingen 2011, S. 167, 173 ff. Zu Recht geht Kaufmann zwar von der richterlichen Unabhängigkeit aus und auf die hieraus folgende Verantwortung ein. Die dann vorgenommene Differenzierung von Recht, Berufsethik, Berufsethos, Moral und Selbstverständnis fällt allerdings dann zu knapp aus, um den Gegenstand der Berufsethik genauer zu erfassen.
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C. Elemente einer deskriptiven richterlichen Ethik
auf der Grundlage der seitdem geführten Diskussion eine genauere Bestimmung der berufsmoralischen Problemfelder und möglicher richterethischer Antworten hierauf vorausgehen. Die Auswertung der Einzelantworten zeigen zu einigen Themenkomplexen allerdings an, dass eine weitgehend einheitliche Auffassung der befragten Richter besteht942. Insofern kann von einer großen Übereinstimmung der Richterschaft gesprochen werden. Bei anderen Fragen zeigt das Antwortverhalten die Umstrittenheit der implizierten Aussagen. Insgesamt unterscheidet sich das Antwortverhalten zwischen Richtern aus Thüringen und Schleswig-Holstein nicht grundlegend.
IV. Zusammenfassung des Kapitels C. Die vergleichende Betrachtung von Ethikkodizes für Richter auf internationaler Ebene, die historische Untersuchung der Entwicklung richterlicher Pflichten in Deutschland und die Sichtung der in den letzten zehn Jahren geführten Diskussion führt zu demselben empirischen Ergebnis: Der Befund und die Bestimmung dessen, was als „Berufsmoral der Richter“ als Gegenstand der wissenschaftlichen „richterlichen Ethik“ gelten kann, ist zeit- und ortsabhängig. Er hängt insbesondere von der jeweiligen Rechtskultur und der jeweils gepflegten grundlegenden Abgrenzung von Recht und (beruflicher) Moral ab. Das Grundlagenproblem jeder richterlichen Ethik ist damit vor allem der rechtliche Rahmen für richterliches Handeln. Soweit die rechtlich begründete Amtspflicht reicht, kann von Berufsmoral und richterlicher Ethik nicht gesprochen werden943. Die im folgenden Kapitel zu leistende Übersicht über die rechtlichen Amts- und Dienstpflichten schmälert damit den Raum für nur moralische Pflichten des Richters.
942 Diercks, Richterliche Ethik (Fn. 932/C.), in: SchlHAnz, Sonderheft Richterliche Ethik, 2012, S. 10 ff. hat die Befragung aus richterethischer Sicht noch weiter ausgewertet. Interessant ist die weitgehende Ablehnung schriftlicher Verhaltensstandards. 943 Ebenso: Werner, Richterliche Ethik (Fn. 103/A.), BDFR FORUM 2010, S. 4.
D. Elemente einer richterlichen Metaethik Gegenstand der metaethischen Betrachtung richterlicher Ethik ist die Frage nach den Bedingungen ihrer Möglichkeit, also ob es überhaupt sinnvoll und möglich ist, sich in dem rechtlich eng geregelten Handlungsfeld des Richters auf die Suche nach den Beständen seiner Berufsmoral zu machen. Richterliche Ethik als wissenschaftliche Untersuchung der „Berufsmoral“ des Richters kann sich grundsätzlich nur auf Verhaltens- und Handlungspflichten beziehen, die ihrem normativen Charakter nach keine rechtlichen Pflichten oder Verhaltenserwartungen sind1. „Vor der Ethik kommen die gesetzlichen Pflichten des Richters und dessen Diensteid, der anspruchsvoller nicht sein kann.“ 2 Allerdings ist die Trennung von Recht und Moral in Bezug auf den Richter mit besonderen Schwierigkeiten verbunden, weil sein Handeln als Richter weitgehend rechtlich bestimmt ist und bestimmt sein muss. Es ist daher der Frage nachzugehen, ob neben dem Geflecht rechtlicher Pflichten normativ überhaupt noch Raum für eine richterliche Pflichtenethik – und damit einer ausgearbeiteten richterlichen Deontologie – bleibt oder ob seine Berufsmoral nicht anders zu bestimmen wäre, etwa als richterliche Tugendethik. Um eine näheren Analyse des Feldes zu ermöglichen, auf dem sich der Richter ethisch zu bewähren hat, ist deshalb zunächst festzustellen, ob und wie das Recht für den Richter überhaupt ein Feld „berufsmoralischer Bewährung“ eröffnet. Lässt sich ein solch rechtlich eröffnetes Feld feststellen, ist in einem zweiten Schritt eine Abgrenzung der richterlichen Berufsmoral von richterlichen Rechtspflichten erforderlich, die sich – soweit sie sein allgemeines dienstliches und außerdienstliches Verhalten betreffen – in erster Linie aus dem richterlichen Straf- und Dienstrecht und – soweit sein Verhalten im Verfahren und bei der Rechtsanwendung betroffen ist – aus den Prozessordnungen ableiten3. Dabei wird insoweit zu fragen sein, ob das Feld der nicht verrechtlichten Handlungspflichten sowie Verhaltenserwartungen und damit das Feld der Berufsmoral nicht am Ende auf den Bereich beschränkt ist, das vom richterlichen Ermessen und von der freien Überzeugungsbildung geprägt ist, bzw. soweit seine Einstellung zur Rechtsidee, den sozialen und menschlichen Umgang mit Prozessparteien, den Justizangehörigen und der Öffentlichkeit betroffen ist. Insoweit könnte allerdings die Formulierung einer deontologischen Ethik praktisch unnö-
1 Rennert, Guter Richter (Fn. 5/B.), DRiZ 2013, S. 214 nimmt diese Trennung zwar vor, nimmt aber nicht das Problem in seiner ganzen Schärfe in den Blick. 2 Steiner, Ethosfrage (Fn. 122/A.), S. 333 ff. 3 Ebenso: Werner, Richterliche Ethik (Fn. 103/A.), BDFR FORUM 2010, S. 4.
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D. Elemente einer richterlichen Metaethik
tig sein und stattdessen eine Tugendethik näherliegen. Diese Fragen sind im Folgenden zu beantworten.
I. Die Abgrenzung von Recht und beruflicher Moral: Das Grundlagenproblem der richterlichen Ethik 1. Richterliche Verhaltenssteuerung nur durch Recht oder auch durch Moral? Die nähere Untersuchung der im Kapitel C. dargestellten Richterethiken und der historischen Entwicklung in Deutschland hat zu dem Resultat geführt, dass es im Grundsatz keine universelle richterlicher Ethik gibt, sondern sich aufgrund der Prägung des Handlungsbereichs durch die jeweils geltende Rechtsordnung das normative Umfeld für eine Berufsmoral des Richters stark unterscheidet4. Das schließt zwar nicht aus, dass es nationale Rechtsordnungen übergreifende Grundvorstellungen zu Verhaltenserwartungen an „den“ Richter und Interdependenzen zwischen unterschiedlichen nationalen Ethikmodellen gibt5. Ausgehend aber von der These, dass Gegenstand der wissenschaftlichen Beschäftigung mit richterlicher Berufsmoral nur sein kann, „was nicht Recht ist“, was also nicht durch die (jeweilige nationale) Rechtsordnung bereits rechtlich vorgegeben ist, bestehen bezogen auf die deutsche Rechtsordnung erhebliche Zweifel daran, dass das dichte rechtliche Geflecht, in dem der Richter zu agieren hat, noch viel Raum für berufsmoralischen Forderungen lässt. Zum anderen spricht viel dafür, dass es keine richterliche Ethik im „rechtsfreien Raum“ geben darf. Selbst wenn man schließlich mögliche Felder ethischer Bewährung des Richters in den Verfahrens-, Wertungs- und Entscheidungsspielräumen suchen wollte, wäre dieser Raum rechtlich begrenzt und zuweilen rechtlich strukturiert. Deswegen sind für das Berufsfeld des Richters die Trennung und der Zusammenhang von Recht und Moral genau zu untersuchen. Im Kapitel B. wurde bereits die Abgrenzung von Recht und Moral in allgemeiner Weise geleistet und die Zusammenhänge bestimmt. Dabei wurde zusammenfassend festgestellt: Recht und Moral stellen Sollensanforderungen an den Einzelnen und wollen menschliches Verhalten steuern. Ihre grundsätzliche Unterscheidung ist Ergebnis der Herausbildung des säkularen Staates und der Aufklärung; sie ist konstitutiv für den liberalen Rechtsstaat. Auch wenn diese Trennung freiheitseröffnend wirkt, so war und ist diese strikte Trennung dennoch theoretisch und praktisch streitig. Sie sind insofern verbunden, als Recht und Moral auf grundlegenden Wertvorstellungen beruhen, die in der jeweiligen Gemeinschaft
4 5
Roos/Woischnik, Codigos (Fn. 21/C.), S. 50 f. Hierzu Epineuse, Vergleichende Richterethik (Fn. 30/C.), SchlHAnz. 2009, S. 122.
I. Das Grundlagenproblem der richterlichen Ethik
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oder Gruppe, für die sie Geltung beanspruchen, vorzufinden sind. Rechtsgehorsam steht in einem engen Zusammenhang mit den in der Rechtsgemeinschaft herrschenden Vorstellungen von individueller und sozialer Moral. Recht selbst verweist im Einzelfall zu seiner eigenen Ausfüllung ausdrücklich auf die herrschende Moral und setzt damit eine bestehende Moral als selbstverständlich voraus. Recht unterscheidet sich aber von der Moral nach der Art seiner Entstehung, dem Umfang seiner Geltung, der Art seiner Durchsetzung und der gesellschaftlichen Funktion. Recht wird nach den im jeweiligen Staat bestehenden Verfassungsregeln vorgesehenen Verfahren durch ein hierzu ermächtigtes Organ für grundsätzlich jedes Mitglied der Rechtsgemeinschaft als zu einem bestimmten Zeitpunkt verbindlich gesetzt und im Falle des Rechtsbruchs oder -streits durch hierzu berufene Organe auf der Grundlage äußerer Beweise festgestellt und notfalls im Wege des Zwangs vollstreckt oder mittels Strafe durchgesetzt. Recht ist regelmäßig dokumentiert und abrufbar. Recht dient dem Ausgleich und der Schlichtung von Konflikten. Moralische Normen hingegen entstehen im Wege langwieriger Anerkennungsprozesse und deren Beachtung durch die Angehörigen sozialer Subgruppen. Ihr Inhalt ist häufiger eher unbestimmt und streitig. Verstöße gegen die geltende Gruppenmoral werden von ihren Mitgliedern im Wege der Zurechtweisung, Missbilligung, Missachtung und/oder Ausgrenzung, ggf. unter Anwendung von nichtstaatlicher Gewalt, geahndet oder lösen bei dem Handelnden Unzufriedenheit, Gewissensbisse, Scham und Reue aus. Im Kern zielen sie auf das richtige sittliche Verhalten. Während Rechtsnormen nur äußerlich mit dem Rechtsgebot übereinstimmendes Verhalten verlangen, setzt moralisches Handeln darüber hinaus regelmäßig eine innere Haltung oder Gesinnung zur Normbefolgung voraus6. Allerdings lassen sich Recht und Moral hinsichtlich der Bedingungen ihrer Verbindlichkeit auch auf ethisch entwickelte und rechtsphilosophisch ausgearbeitete Grundprinzipien, wie Gerechtigkeit, Gleichheit und Freiheit, als Letztbegründungen oder normative Axiome zurückführen. Diese prägen sowohl den Inhalt der Rechtsidee als auch der Moralität. Auch bei der Anwendung moralischer und rechtlicher Normen bestehen ähnliche Probleme. Zwischen Recht und Moral bestehen mithin vielfältige Beziehungen. Die Quintessenz dieser Überlegungen war, dass Recht und Moral grundsätzlich unterschiedliche normative Räume bilden. Bezogen auf die Berufsmoral des Richters spitzt sich das Trennungs- und Zusammenhangsproblem allerdings zu. Denn das Recht will das berufliche und teilweise das außerberufliche Handeln des Richters gerade als staatliches Handeln steuern. Es muss es auch, um individuelle Präferenzen zugunsten der Willkürfreiheit und gleichmäßigen Rechtsanwendung auszuschließen und das Misstrauen in die Unparteilichkeit des Richters zu vermeiden.
6
Hierzu die 2. These von Rennert, Guter Richter (Fn. 5/B.), DRiZ 2013, S. 214.
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D. Elemente einer richterlichen Metaethik
2. Recht und Berufsmoral des Richters: Eine Problemexposition In der bisherigen Diskussion zur Richterethik in Deutschland wurden unterschiedliche Antworten auf die grundsätzliche Frage gegeben, in welchem Verhältnis rechtliche Verhaltensnormen für den Richter und seine richterliche Berufsmoral stehen. Eine Auffassung geht davon aus, sie hätten nichts oder „wenig“ miteinander zu tun7. Es könne und müsse scharf zwischen Recht und Moral getrennt werden. Hieraus kann Unterschiedliches für die Möglichkeit einer richterlichen Berufsmoral abgeleitet werden. Zum einen könnte deren Existenzberechtigung unter der Prämisse zurückgewiesen werden, dass richterliches Handeln nur durch Recht geregelt werden dürfe und alles, was das Recht nicht verbiete, erlaubt sei8. Nur im Alltagsleben, d.h. im richterlichen Privatleben, sei Moral relevant, nicht aber im System „Recht“ und der Rechtsanwendung. Die gesetzlichen Regeln müssten von Richtern nur „ausgefüllt“ und „dynamisiert“ werden9, dann habe er das berufsmoralische Feld verrechtlicht. Diese Auffassung steht aber vor mehreren Problemen. Zum einen dürfte es kaum Rechtsregeln geben, die moralisch neutral sind10. Die Rechtsanwendung selbst ist nicht nur ein rechtlich-rationaler Akt, sondern enthält voluntative Elemente (Rechtsanwendungswille, Wille zur sorgfältigen tatsächlichen und rechtlichen Prüfung, Wille zum Ergebnis), die ihrerseits eine moralische Seite haben. Schließlich besteht bei dieser Auffassung die Gefahr, dass der Bereich der Rechtsanwendung strukturell entmoralisiert wird, obwohl es zur Bewertung und Korrektur des öffentlichen Handelns des Richters einer kritischen Moral bedürfte. Der Ansatz der strikten Trennung von Recht und Moral muss allerdings nicht zwangsläufig zur Position der Unmöglichkeit der Annahme einer richterlichen Berufsmoral führen. Eine mildere Form streitet ihre Möglichkeit nicht ab, fordert aber, dass ethisch zu missbilligendes Verhalten keine rechtliche Sanktion nach sich ziehen darf 11. Eine andere Auffassung geht nicht von einer strikten Trennung von Recht und richterlicher Berufsmoral aus. Sie steht zwar auch auf dem Standpunkt, dass rich7 So klar v. Olenhusen Thesenpapier (Fn. 126/A.), Nr. 2. In der Tendenz ebenso: Strecker, Ethik (Fn. 59/A.), BJ 2004, S. 377, der sich aber dabei zurückhaltend ausdrückt: „,Ethik‘ und ,Berufsethos‘ sind Themen, die sich nicht durch Verhaltensanweisungen erledigen lassen. Sie bleiben auch dann eine Herausforderung, wenn alles scheinbar abschließend und zufriedenstellend geregelt ist.“ Zu Recht verweist er auch darauf, dass Rechte und Pflichten des Richters durch den demokratisch legitimierten Gesetzgeber zu definieren sind (S. 378). 8 Addicks, Perücke (Fn. 100/A.), NRV-Info NRW 2007, S. 10; so wohl auch Bolk, Richterliche Ethik (Fn. 126/A.), NRV-info SH 11/2006, S. 19. 9 Hierzu Huhs, Bericht (Fn. 83/C.), BJ 2004, S. 412. 10 T. Gas: „Anstand erzwingen“, FAZ v. 28.08.2008, S. 8. 11 E. Kreth, Zur Ethik richterlichen Verhaltens, in: KritV 2008, S. 480.
I. Das Grundlagenproblem der richterlichen Ethik
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terliches Verhalten in erster Linie durch das Recht geregelt wird und werden muss12. Wo das Recht aber schweige, unklar und offen sei oder wo es Spielräume eröffne, dort sei Raum für eine Verhaltenssteuerung durch eine nichtrechtliche Berufsmoral13. Dieser Ansatz versucht für das praktisch nicht seltene Phänomen eine Lösung zu finden, dass das Verhalten des Richters zwar rechtens bzw. rechtlich nicht angreifbar ist, gleichwohl aber nach ethischen Maßstäben inakzeptabel oder falsch erscheint14. So gibt es etwa unterhalb des disziplinarisch Greifbaren richterliches Fehlverhalten (fehlende Empathie, Einschüchterung, Voreingenommenheit, mangelndes Rückgrat)15 oder es lässt das Prozessrecht Verhaltensweisen zu, die im Einzelfall berufsmoralisch fragwürdig sein können (z. B. Ladung von auswärtigen Anwälten um 7.30 Uhr zu deren Disziplinierung). Außerdem könnten nichtrechtliche Regeln gefragt sein, um zu klären, wie der Richter damit umgehen soll, wenn das Recht gegen rechtsethische Prinzipien verstößt. Hier könnten das richterliche Gewissen und damit seine Berufsmoral gefordert sein. Die Überprüfung der Trennungs- bzw. der Zusammenhangsthese muss zu ihrer Bestätigung oder Verwerfung in folgende Teilfragen gegliedert werden: Lässt es das Recht, insbesondere das Verfassungsrecht überhaupt zu, dass richterliches Verhalten durch andere Regeln als durch das Recht gesteuert und geprägt wird. Insoweit ist zum einen zu fragen, ob und wie das Recht für den Richter überhaupt ein Feld „berufsmoralischer Bewährung“ eröffnet und ob es die richterliche Unabhängigkeit erlaubt, von außen, also heteronom, nichtrechtliche Verhaltensforderungen an ihn zu stellen (unten 2. a) und b)). Wäre auf diese Fragen zu antworten, dass jenseits des Rechts, aber zur Optimierung seiner verlässlichen und sorgfältigen Anwendung berufsmoralische Forderungen grundsätzlich auch von außen an den Richter nichtrechtliche Anforderungen herangetragen werden dürfen, wäre weiter zu fragen, ob das bestehende Recht nicht bereits ein so enges Prinzipien- und Pflichtennetz knüpft, mithin die insoweit wesentlichen Anforderungen bereits so umfassend regelt, dass für außerrechtliche Forderungen und Normen kaum ein Raum verbleibt (unten 3. und III.). Bliebe dennoch ein Raum für berufsmoralische Bewährung und hierauf bezogene Forderungen, wären seine Struktur und seine normative „Dichte“ näher zu 12
Schultze-Griebler, Selbstbild (Fn. 331/B.), Info Sächs. Richterverein, S. 1/2009,
S. 6. 13
G. Schaberg, Richterliche Unabhängigkeit und Ethik, in: MHR 2/2009, S. 16. Schaberg, Unabhängigkeit (Fn. 13/D.), MHR 2/2009, S. 16. 15 Görres-Ohde, Der lange Weg (Fn. 280/B.), S. 201; Kreth, Ethik (Fn. 11/D.), S. 475; A. Titz, Richterliche Ethik – Voraussetzung echter Unabhängigkeit oder Luxus? Vortrag anlässlich der jährlichen Richterversammlung des Amtsgerichts München am 9. November 2009, S. 1–11. www.drb.de/cms/fileadmin/docs/ethik_vortrag_titz_091109. pdf, Stand: 09.09.2015, S. 2. 14
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D. Elemente einer richterlichen Metaethik
bestimmen. Insoweit wäre weiter zu fragen, ob dieser Raum ganz rechtsfrei denkbar ist und ob eine eigenständige, d.h. vom Recht gelöste Berufsmoral vorstellbar ist. Weil die ersten beiden Teilfragen metaethische Fragen insofern aufwerfen, als es um die Bedingungen der Möglichkeit einer richterlichen Ethik geht, werden sie im Folgenden behandelt. Die dritte Teilfrage – unterstellt die ersten beiden wären zu bejahen – betrifft normativ-inhaltliche Probleme der richterlichen Ethik, die dem Kapitel E. vorbehalten bleiben.
II. Der rechtliche Rahmen für richterliches Handeln 1. Verfassungsrechtlicher Rahmen des richterlichen Handelns Rechtliches Fundament und Ausgangspunkt für die Stellung des Richters im staatlichen Institutionengefüge sind die Bestimmungen des Grundgesetzes. Voraussetzung für eine richterliche Ethik ist deshalb, dass sich dieser rechtliche Rahmen überhaupt öffnet für außerrechtliche Ansprüche an den Richter. Hierfür spricht viel: Sowohl die begriffliche Fassung der insoweit maßgeblichen Bestimmungen als auch das System sowie die Eigenart der Rechtsprechungstätigkeit weisen auch auf außerrechtliche Verhaltenserwartungen an den Richter hin. So wird die Rechtsprechung gemäß Art. 92 GG den Richter als Staatsaufgabe „anvertraut“. Der Begriff des Vertrauens als besondere Grundlage für und Erwartung bei der Übertragung der Rechtsprechung an ihn öffnet die Beurteilung richterlichen Verhaltens für außerrechtliche Kategorien (im Folgenden: a)). Die Richter sind nach Art. 97 GG „unabhängig“ und „nur“ dem Gesetz unterworfen. Darin liegt zum einen die Eröffnung einer auch ethisch zu verantwortenden Entscheidungsfreiheit (im Folgenden: b)). Zum anderen könnte mit der ausschließlichen Gesetzesbindung aber der Verpflichtungsrahmen auf rein rechtliche Vorgaben verengt sein, der einer in bestimmter Weise konzipierten richterlichen Berufsmoral Grenzen setzt (im Folgenden: c)). a) Der Richter im Verfassungsgefüge Die Berufsmoral des Richters kann sich in erster Linie nur auf die ihm übertragenen Aufgaben beziehen. Ihr Inhalt ist zunächst zu klären (aa)), um dann den Charakter ihrer treuhänderischen Übertragung näher abzugrenzen (bb)). aa) „Anvertraute“ Rechtsprechungsaufgabe „Die rechtsprechende Gewalt ist den Richtern anvertraut; sie wird durch das Bundesverfassungsgericht, durch die in diesem Grundgesetze vorgesehenen Bundesgerichte und durch die Gerichte der Länder ausgeübt.“ Art. 92 GG konstituiert
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mit dieser Formulierung zusammen mit Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG die Judikative als einen neben der Legislative und Exekutive weiteren Träger der staatlichen Gewalt, weist ihr funktionell die rechtsprechende Tätigkeit zu und verteilt die Kompetenzen im föderalen Rechtsstaat. Als objektives Recht bestimmt Art. 92 GG dabei mit dem interpretationsbedürftigen Begriff der „rechtssprechenden Gewalt“ auch die Aufgabe und Funktion der Richter16. Ihnen ist nach allgemeiner Ansicht neben den sonst durch die Verfassung im Wege der Richtervorbehalte und der Rechtsweggarantien zugewiesenen Aufgaben der überkommene Kernbereich der staatlichen Rechtsprechung allein zur Erfüllung übertragen, nämlich letztverbindliche Entscheidungen17 durch einen unabhängigen und unbeteiligten Amtsträger in einem Streitfall im Rahmen besonders geregelter Verfahren zu treffen18. Die der Vorbereitung der Entscheidung dienenden Maßnahmen, etwa die Beweiserhebung, zählt zu dieser Tätigkeit. Rechtsprechende Gewalt im Sinne des Art. 92 des Grundgesetzes ist immer dann gegeben, „wenn der Gesetzgeber für einen Sachbereich eine Ausgestaltung wählt, die bei funktioneller Betrachtung nur der rechtsprechenden Gewalt zukommen kann. In funktioneller Hinsicht handelt es sich um Rechtsprechung, wenn der Gesetzgeber ein gerichtsförmiges Verfahren hoheitlicher Streitbeilegung vorsieht und den dort zu treffenden Entscheidungen eine Rechtswirkung verleiht, die nur unabhängige Gerichte herbeiführen können.“ 19 Das Bundesverfassungsgericht hat in mehreren Entscheidungen daneben weitere Merkmale der Rechtsprechung herausgearbeitet20: Ob die Wahrnehmung einer Aufgabe als „Rechtsprechung“ anzusehen ist, hängt wesentlich von der verfassungsrechtlichen, traditionellen oder durch den Gesetzgeber vorgenommenen Qualifizierung ab. Nicht alles, was formell zu den Aufgaben der Gerichte gehört, ist materielle Rechtsprechung21, die nach Art. 20 Abs. 2 Satz 2, 92 GG den 16
Grundlegend zur Stellung der Rechtsprechung und den Versuchen einer funktionellen bzw. materiellen Bestimmung der Rechtsprechungstätigkeit: Eichenberger, Richterliche Unabhängigkeit (Fn. 472/C.), S. 1 ff. 17 Was nicht zwingend sofortige Unanfechtbarkeit impliziert, sondern einen Instanzenzug ermöglicht. Der Streit des Rechtsschutzes „gegen“ den Richter, insbesondere die Neujustierung des Art. 19 Abs. 4 GG, soll hier nicht vertieft werden: Hierzu: St. Smid, Rechtsprechung. Zur Unterscheidung von Rechtsfürsorge und Prozess, Köln 1990, S. 50 ff.; A. Voßkuhle, Rechtsschutz gegen den Richter. Zur Integration der Dritten Gewalt in das verfassungsrechtliche Kontrollsystem vor dem Hintergrund des Art. 19 Abs. 4 GG, München 1993; ders., Bruch mit dem Dogma: Die Verfassung garantiert Rechtsschutz gegen den Richter, in: NJW 2003, S. 2193. 18 BVerfGE 103, 111 (138). Nach BVerfGE 22, 49 ff. wird die Strafgerichtsbarkeit allein den Richtern vorbehalten; vgl. auch: B. Hülsmann, Die politische Betätigung des Richters, Bonn, 1977, S. 7 ff. und S. 21 f.; Smid, Rechtsprechung (Fn. 17/D.), S. 48 ff. Hierzu auch Voßkuhle, Rechtsschutz (Fn. 17/D.), S. 72 ff., der Rechtsprechung als „neutrales Verfahren“ kennzeichnet. 19 BVerfGE 103, 111 (138). 20 BVerfGE 76, 100 m.w. N. 21 Voßkuhle, Rechtsschutz (Fn. 17/D.), S. 65 ff. näher zur Bestimmung des Begriffs „Rechtsprechung“.
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Richtern vorbehalten ist. Der Gesetzgeber ist nicht gehindert, Aufgaben, die nicht ohne weiteres zu den regelmäßigen und typischen Aufgaben der Gerichte gehören, insbesondere Aufgaben der Rechtsfürsorge, dem Richter anzuvertrauen, sofern das Grundgesetz deren Wahrnehmung nicht ausdrücklich einer anderen Gewalt vorbehält22. Das Rechtssprechungsmonopol der Richter verlangt damit die grundsätzliche Trennung der Aufgabenwahrnehmung von Rechtsprechung und Verwaltung bei den Richtern bzw. der Angehörigen der anderen Staatsgewalten. Gilt das Verbot der Wahrnehmung der Rechtsprechung von Nichtrichtern absolut, ist die Wahrnehmung von klassischer Verwaltungstätigkeit allerdings durch Richter in Grenzen zulässig23. Das Gebot der Trennung von rechtsprechenden und verwaltenden Tätigkeit des Richters auf der Verfassungsebene signalisiert aber den Ausnahmecharakter exekutiver Tätigkeit des Richters und zeigt eine verfassungsrechtliche Problematik auf, die sich nicht nur rechtlich, sondern auch berufsmoralisch auswirken kann. Nimmt der Richter Verwaltungstätigkeiten wahr, so muss das rechtlich die Ausnahme bleiben. Berufsmoralisch könnte etwa das Gebot bestehen, dass er seine Rechtsprechung nicht administrativen Einflüssen öffnen darf. Der rechtsstaatliche Wert der Übertragung der rechtsprechenden Gewalt wird erst dadurch wirksam, wenn die Anforderungen an den Richter im Sinne dieser Bestimmung näher umschrieben sind24. Die verfassungsrechtlichen Anforderungen ergeben sich insoweit insbesondere aus Art. 97 GG, nämlich dass er unabhängig sei, und aus Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG, dass er organisatorisch einem gerichtlichen Spruchkörper zugewiesen und damit von anderen Staatsgewalten getrennt tätig ist. Konkret heißt das, dass seine Bestellung rechtswirksam sein muss, dass er in seinem Status gesichert, weisungsfrei und Angehöriger eines Gerichtes ist. bb) Treuhänderische Ausübung der Rechtsprechung In der Übertragung der Rechtsprechung auf die Richter liegt umgekehrt auch die Pflicht, die Aufgabe der Rechtsprechung zu erfüllen. Denn mit dem fast emphatischen Begriff „anvertraut“ verbindet Art. 92 GG mit der Übertragung eine besondere Erwartungshaltung. Zunächst bestimmt sie eine Personalisierung der Rechtsprechung, wenn sie dem Richter anvertraut wird. Eine Flucht des Richters in die Anonymität des Gerichts oder des Spruchkörpers widerspräche dem25. Es ist früh die Besonderheit dieses Begriffs „anvertraut“ und seines Charakters bemerkt worden: „Eines derartigen Wortes mit ethisch verpflichtendem Sinn be22 Zu den hierbei bestehenden Problemen, insbesondere im Rahmen der freiwilligen Gerichtsbarkeit und auch für die Stellung des Richters: Smid, Rechtsprechung (Fn. 17/ D.), S. 37 ff. 23 BVerfGE 103, 111 (136). 24 R. Herzog, in: Maunz/Dürig, Kommentar zum GG, Art. 92 Nr. 72. 25 Wassermann, Richterliche Gewalt (Fn. 5/A.), S. 37 f.
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dient sich das Grundgesetz bei den beiden anderen Gewalten nicht.“ 26 Das Grundgesetz stellt sich mithin den Richter als Treuhänder des Rechts vor, dem der Schutz der Bürger in einer Vertrauensbeziehung übertragen ist27, und in dessen Namen – wie die Urteilsformel „im Namen des Volkes“ insinuiert28 – er es zu üben hat. Dabei zeigt der zweite Halbsatz der Bestimmung, dass die Ausübung der den Richtern anvertrauten Rechtsprechung institutionell in die Gerichtsstrukturen eingebettet ist, mithin keine persönliche, sondern institutionell vermittelte Macht ist29. Allerdings bezieht sich das Vertrauen nach Art. 92 1. Halbsatz GG auf die konkret handelnden Richter als personale Träger der Rechtsprechung. Es steht damit in einem direkten Zusammenhang mit der in Art. 97 GG verankerten und dem Richter eingeräumten richterlichen Unabhängigkeit. Denn mit der anvertrauten Übertragung der in Unabhängigkeit von anderen Gewalten wahrgenommenen rechtsprechenden Tätigkeit verbindet sich die Erwartung auf eine verantwortungsbewusste, gewissenhafte und unparteiliche Ausübung dieser Aufgabe30. Dabei ist im Begriff des Vertrauens nicht nur eine – appellative – Erwartung an den Richter gesetzt, sondern sogar die Überzeugung, dass er der Erwartung gerecht wird. Diese Erwartung in die Rechts- und Gesetzestreue des Richters, die den Verfassungsgeber und letztlich dessen Träger, die Bürger, leitet, ist eine Bedingung der Möglichkeit der und gleichzeitig Aufgabe für eine richterliche Ethik31. Umgekehrt verweist sie über den Appell hinaus auf die Verantwortung32 des Richters33, die vom beruflichen Ethos getragen ist bzw. sein muss. Geprägt durch das Justizversagen am Ende der Weimarer Republik schließt die mit der besonderen Wortwahl in Art. 92 GG begründete Erwartung des Parlamentarischen Rates auch ein rechtsstaatliches Verhalten in schwieriger Zeit ein. 26 Schmid, Die Sache der Justiz, 1961, S. 8. Eingehend zu diesem „elementaren Rechtsbegriff“: W. Henckel, Richter im demokratischen und sozialen Rechtsstaat, in: JZ 1987, S. 209. 27 Kreth, Ethik (Fn. 11/D.), S. 476. 28 Zum demokratischen Rückbezug der Rechtsprechung: E. Schmidt-Jorzig, Aufgabe, Stellung und Funktion des Richters im demokratischen Rechtsstaat, in: NJW 1991, S. 2378. 29 G. Barbey, Der Status des Richters, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band III, 2. Aufl., Heidelberg 1996, § 74, S. 823 f., H. Sodan, Der Status des Richters, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band V, 3. Aufl., Heidelberg 2007, § 113, S. 688. 30 Hierzu: P. Kirchhof, Richterliche Rechtsfindung, gebunden an „Recht und Gesetz“, in: NJW 1986, S. 2275. 31 Schaberg, Unabhängigkeit (Fn. 13/D.), MHR 2/2009, S. 17. 32 J. Wittmann, Richterliche Unabhängigkeit – Freiheit und Verantwortung, in: H.-D. Horn (Hrsg.), Recht im Pluralismus, Festschrift Werner Schmitt Glaeser, Berlin 2003, S. 365. 33 H. Dreier, Verantwortung im demokratischen Verfassungsstaat, in: U. Neumann/ L. Schulz (Hrsg.), Verantwortung in Recht und Moral, 2000, S. 27; Markel, Richterethos (Fn. 6/A.), ÖsterrRZ 2003, S. 168.
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Zusammenfassend lässt sich damit feststellen: Das Grundgesetz öffnet bereits in der Bestimmung, mit der es die Aufgabe der Rechtsprechung auf die Richter überträgt, einen Raum berufsmoralischer Bewährung des Richters, die Gegenstand richterethischer Betrachtung sein kann. b) Richterliche Unabhängigkeit Ein weiterer Grund für die Eröffnung eines nicht nur rechtlich, sondern auch berufsmoralisch „geregelten“ Handlungsfeldes des Richters könnte sich aus der Art und Weise ergeben, wie er bei seinen Entscheidungen geschützt sowie auf sich selbst und seine „Freiheit“ gestellt ist. Insofern ist im Folgenden der Zweck (aa), Inhalt (bb) und die berufsethischen Folgerungen (cc) richterlicher Unabhängigkeit aufzuzeigen: aa) Rechtsethische Bedeutung der richterlichen Unabhängigkeit Dass nach der im vorangegangen Abschnitt beschriebenen Zuweisung der rechtsprechenden Tätigkeit „nur“ noch das Vertrauen in die Richter bleibt, liegt an der rechtsethisch unabdingbaren Einräumung ihrer Unabhängigkeit bei ihren Entscheidungen. Denn unparteiliche Rechtsprechung verlangt zwingend die Unabhängigkeit der Entscheider. Abhängige Entscheider sind Agenten der Exekutive, die ihre rechtliche oder politische Agenda vertikal durchsetzen. Wahrheit und Gerechtigkeit, wesentliche Forderungen an einen Rechtsstaat, könnten auf diese Weise im Grundsatz auch erreicht werden. Sie sind aber wegen der Weisungsmöglichkeit und der Möglichkeit der Willkür stets gefährdet. Die Selbstbindung des Rechtsstaates verlangt deshalb den unabhängigen Entscheider, den Richter. Sie können – und dies ist ihre universelle Eigenschaft – nur unabhängig sein – oder sie sind keine Richter. Unabhängigkeit – nach Art. 97 GG sind die Richter unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen – schließt jeden Einfluss von „oben“ oder „außen“ aus, so dass eine Steuerung und Kontrolle der Kerntätigkeit des Richter unterbleiben muss in der Hoffnung und im Vertrauen darauf, dass diese Tätigkeit im Sinne der Wertordnung des Grundgesetzes „in Bindung an Recht und Gesetz“ erfüllt wird. Mit der damit gesicherten Weisungsunabhängigkeit schafft das Grundgesetz mithin die juristisch geleitete Entscheidungsfreiheit, die vom einzelnen Richter zu verantworten ist34. Dabei ist gleichzeitig mitgedacht und vorausgesetzt, dass das Recht Entscheidungsspielräume (Sachverhaltserfassung, Wertungen, Ermessen, Methodenunsicherheit, Beweiswürdigung)35 für den Richter schafft bzw. offenhalten muss, die verantwortlich auszufüllen sind. Insoweit ist dem Richter eine Freiheit eröffnet, „die ihn weniger be34 Eingehend zur richterlichen Freiheit und ihre historische Herleitung: Erdsiek, Um die Freiheit des Richters, in: DRiZ 1958, S. 185 ff. 35 Hierzu: G. Hager, Freie Meinung und Richteramt, in: NJW 1988, S. 1695.
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rechtigt als verpflichtet, die ihn verpflichtet zur Freiheit von eigenen inneren Abhängigkeiten, mögen sie konfessioneller, parteipolitischer oder weltanschaulicher Art sein.“ 36 Dabei bedeutet Freiheit hier nicht individuelle Freiheit, sondern – neben der organisatorisch-funktionellen Selbständigkeit der Justiz37 – Freiheit von Einflüssen von außen, insbesondere Weisungsfreiheit, um der Rechtsbindung nachzukommen38. Mit der richterlichen Unabhängigkeit wird mithin allein eine weisungsfreie, nur am Gesetz orientierte Rechtsprechung sichergestellt39. Diese Sicherung, die als hergebrachter Grundsatz des richterlichen Amtsrechts dem Schutz des Art. 33 Abs. 5 GG unterliegt40, unterfällt über das Rechtsstaatsprinzip auch der Unabänderlichkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG41. Andererseits hat jeder Bürger Anspruch darauf, dass die Rechtsprechung in diesem Sinne tatsächlich funktioniert. Der Schutz seiner Rechte verlangt die neutrale, unparteiische und objektive Ausübung der anvertrauten Rechtsprechung durch den Richter42. Sie garantiert ihm effektiven Rechtsschutz in der Erfüllung des Justizgewährungsanspruchs. Die richterliche Unabhängigkeit ist dem Richter also nur eingeräumt, um seine richterliche Tätigkeit für den Bürger unparteilich zu erfüllen43. Daher ist sie kein Grundrecht des Richters44, kein Selbstzweck oder richterliches (Standes-)Privileg45. Auch wenn sie als individuelle Garantie tätigkeitsbezogene Abwehrrechte für einzelne Richter bietet, eröffnet sie keinen 36
Erdsiek, Freiheit (Fn. 34/D.), DRiZ 1958, S. 189. Wittmann, Richterliche Unabhängigkeit (Fn. 32/D.), S. 366. 38 Hierzu T. Dieterich, Freiheit und Bindung des Richters, in: RdA 1986, S. 2 f. und Wittmann, Richterliche Unabhängigkeit (Fn. 32/D.), S. 365. 39 Lansnicker, Richteramt (Fn. 472/C.), S. 100 ff.; P. Michaelis-Merzbach, Der unabhängige Richter, in H.-J. Birk/P. Kunig/W. Sailer, Festschrift für H.-J. Driehaus zum 65. Geburtstag, Herne, 2005, S. 537 ff.; Wipfelder, Richter (Fn. 75/A.), DRiZ 1983, S. 337. 40 BVerfG (K), B. v. 28.11.2007 – 2 BvR 1431/07 – NJW 2008, S. 910; hierzu auch: Hülsmann, Politische Betätigung (Fn. 18/D.), S. 35 ff. 41 So Luik, Bemerkungen (Fn. 700/C.), SchlHAnz. 2009, S. 99; Wipfelder, Unabhängigkeit (Fn. 23/A.), DRiZ 1984, S. 42. 42 S. Haberland, Problemfelder für die richterliche Unabhängigkeit, in: DRiZ 2002, S. 301. Zur von ihm abgelehnten Herleitung der Unparteilichkeit aus Art. 97 GG eingehend J. Riedel, Das Postulat der Unparteilichkeit des Richters – Befangenheit und Parteilichkeit – im deutschen Verfassungs- und Verfahrensrecht, Berlin 1980, S. 220 ff. Er meint Art. 101 Abs. 1 GG („gesetzlicher“ Richter) insoweit als sedes materiae annehmen zu müssen, S. 225 ff. Unter Berücksichtigung der „inneren“ Unabhängigkeit dürften beide Verfassungsnormen einschlägig sein. 43 Eichenberger, Richterliche Unabhängigkeit (Fn. 472/C.), S. 1. 44 BVerfGE 21, 211 (217); allerdings ein wehrfähiges grundrechtsgleiches Recht. 45 BGH, U. v. 14.09.1990 – RiZ (R) 1/90 – BGHZ 112, 189 (193). Insofern ist die Formulierung von W. Hoffmann-Riem, Über Privilegien und Verantwortung – Justiz zwischen Autonomie und Anomie, in: AnwBl. 1999, S. 2 f. vom „funktionalen Privileg“ zumindest missverständlich. Aus einem solchen Verständnis ergibt sich auch das von ihm selbst beschriebene Risiko, dass richterliche Unabhängigkeit zum „persönlichen Privileg“ wird, a. a. O., S. 6. 37
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Schutz für ein Ausleben der individuellen Ansichten des Richters46. Sie ist vielmehr eine Verpflichtung für den Richter, „deren Erfüllung gelegentlich höchst unbequem sein kann und nicht zuletzt deswegen bisweilen arg vernachlässigt wird.“ 47 Die richterliche Unabhängigkeit ist mithin nicht nur eine verpflichtende Kehrseite für die Richter, sie ist Rechtspflicht. „Der Richter ist unabhängig, weil er ausschließlich dem Gesetz zu folgen hat.“ 48 „Es ist ihre Aufgabe, für die Erfüllung jener staatlichen Justizgewähr Sorge zu tragen. Den Richtern obliegt die Dienstpflicht, ihre richterliche Tätigkeit in strikter Gesetzesbindung und in sachlicher Unabhängigkeit wahrzunehmen.“ 49 „Sie stehen aber zugleich in einem öffentlich-rechtlichen Dienst- und Treueverhältnis zum Staat, aus dem spezifische Dienstpflichten folgen, deren Einhaltung durch die Dienstaufsicht zu gewährleisten ist. Die Dienstaufsicht darf nicht allein im Spannungsverhältnis zur richterlichen Unabhängigkeit gesehen werden, sie muss auch als Instrument der Sicherung und Durchsetzung der staatlichen Justizgewährungspflicht gewürdigt werden, welche insbesondere das Gebot einer richterlichen Entscheidung überhaupt und in angemessener Zeit enthält.“ 50 Insoweit dient die Dienstaufsicht auch der Wahrung eines überragenden Verfassungsgutes, nämlich der Justizgewährungspflicht51. bb) Der Inhalt der richterlichen Unabhängigkeit Der Inhalt der richterlichen Unabhängigkeit52 kann in verschiedene Teilaspekte getrennt werden. Dies ergibt sich bereits aus dem „Beziehungsbegriff“53 der Unabhängigkeit, der die Frage nach der Unabhängigkeit „wovon“ aufwirft. Insoweit sind neben der institutionell-organisatorischen die äußere Unabhängigkeit zu nennen, die sich in die sachliche und persönliche Unabhängigkeit gliedert und die der Sicherung vor ergebnisverfälschenden äußeren Einwirkungen und 46 H.-J. Papier, Die richterliche Unabhängigkeit und ihre Schranken, in: NJW 2001, S. 1089; Haberland, Problemfelder (Fn. 42/D.), DRiZ 2002, S. 301; Michaelis-Merzbach, Der unabhängige Richter (Fn. 39/D.), S. 541. 47 H. Sendler, Richterliche Unabhängigkeit im Zwielicht? Zu Verständnis und Fehlverständnissen richterlicher Unabhängigkeit, in: Franke u. a. (Hrsg.), Öffentliches Dienstrecht im Wandel. Festschrift für W. Fürst, Berlin 2002, S. 309. 48 Berkemann, Unabhängigkeit (Fn. 277/C.), S. 20 m.w. N. 49 Papier, Richterliche Unabhängigkeit (Fn. 46/D.), NJW 2001, S. 1090. 50 H.-J. Papier, Richterliche Unabhängigkeit und Dienstaufsicht, in: NJW 1990, S. 8; E. Schilken, Die Sicherung der Unabhängigkeit der Dritten Gewalt, in: JZ 2006, S. 865. 51 BGHZ, 112, 189 (193); U. Joeres, Die sachliche Unabhängigkeit des Richters in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, in: DRiZ 2005, S. 321. 52 D. Leuze, Richterliche Unabhängigkeit, in: DöD 2005, S. 78 ff.; Haberland, Problemfelder (Fn. 42/D.), DRiZ 2002, S. 301; Joeres, Die sachliche Unabhängigkeit (Fn. 51/D.), DRiZ 2005, S. 321 ff.; K. Rudolph, Richterliche Unabhängigkeit und Dienstaufsicht, in: DRiZ 1979, S. 97; ders., Unabhängigkeit (Fn. 127/A.), DRiZ 1984, S. 135 ff.; Wipfelder, Bürger (Fn. 22/A.), DRiZ 1987, S. 119 f. 53 Eichenberger, Richterliche Unabhängigkeit (Fn. 472/C.), S. 23 ff.
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Einflüssen auf den Richter dient. Hiervon zu unterscheiden ist die innere Unabhängigkeit, die die Lösung von inneren Abhängigkeiten thematisiert und den besonderen berufsethischen Raum eröffnet. Ziel dieser Gewährleistung ist der Schutz der Unparteilichkeit und der Neutralität54. Die institutionell-organisatorische Unabhängigkeit, die über Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG aus dem Gewaltenteilungsgrundsatz und aus der Verbindung von Richter und Gericht in Art. 92 GG abzuleiten ist, verlangt „unabhängige Gerichte“ (vgl. auch § 1 GVG). Insoweit ist unter dem Prinzip der institutionelle Gewaltenteilung sicherzustellen, dass die beiden anderen Gewalten, insbesondere die Exekutive, ihren Einfluss auf die Judikative nicht soweit ausdehnen darf, dass diese ihre verfassungsrechtliche Selbständigkeit verliert. Dieses Verhältnis ist stets streitig und eröffnet eine Fülle von Einzelproblemen, die sich um das Zusammenwirken mit und die Entkoppelung von anderen Staatsgewalten, insbesondere von der Exekutive, ranken55. Sie werfen nicht selten auch berufsmoralische Probleme auf. So bietet die Exekutive nach dem bestehenden Recht einerseits die demokratische Legitimation für Einstellung, Ernennung und Beförderung der Richter. Damit verbunden ist andererseits die Gefahr der politischen Einflussnahme, die in der Personalsteuerung mittels Karrierepläne von Richtern, politisch besetzten Wahlausschüssen und dem Letztentscheidungsrecht des Justizministers im Ernennungs- und Beförderungsverfahren wirksam werden kann. Über Beurteilungs- und Disziplinierungsmechanismen können sich wiederum (tatsächliche oder vermutete) Erwartungshaltungen des Richters und daraus ergebender vorauseilender Gehorsam auf die Rechtsprechungstätigkeit auswirken56. Diese Erkenntnis spiegelt das Diktum wider: „Wirklich unabhängig ist ein Richter erst, wenn er nicht mehr befördert werden will.“ Daneben können Effizienzvorgaben der Exekutive – etwa über die „neuen Steuerungsmodelle“ 57 – Auswirkungen auf die Verfahrensweise von Richtern haben. Als Remedium gegen diese Gefährdungen für die Rechtsprechungstätigkeit werden – auch im Kontext der Sicherung richterlicher Ethik – ein ohne Beförderungen auskommendes, einheitliches Richteramt58, die strikte Trennung richterlicher und verwaltender Tätigkeit oder die Einsetzung auch mit Richtern besetzter Richterwahlausschüsse und das Selbstverwaltungsmodell angeboten und diskutiert. 54 Zur Differenzierung zwischen Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und Neutralität: Eichenberger, Richterliche Unabhängigkeit (Fn. 472/C.), S. 23 ff. 55 Hierzu im Einzelnen und grundlegend zur Abgrenzung der Sachaufgaben: Smid, Rechtsprechung (Fn. 17/D.), S. 1990. 56 Vgl. hierzu B. Brunn, Gefahren für die richterliche Unabhängigkeit durch (die Art und Weise von) Beförderungen und ihre Gefährdung durch (die Art und Weise von) Beförderungen, in: BJ 2005, S. 32 ff. 57 Vgl. Protokoll des 66. DJT 2006, Abteilung Justiz; Papier, Richterliche Unabhängigkeit (Fn. 46/D.), NJW 2001, S. 1089; Schilken, Sicherung (Fn. 48/D.), JZ 2006, S. 860 ff. 58 Vgl. Brunn, Gefahren (Fn. 56/D.), BJ 2005, S. 35 f.
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Die äußere Unabhängigkeit wird durch Art. 97 GG gewährleistet. Sie ist in die sachliche und die persönliche Unabhängigkeit zu unterscheiden. Beide Elemente sind dem einzelnen Richter, nicht der Justiz als ganzer oder dem Gericht bzw. dem Spruchkörper gewährt. Sie gilt für sämtliche Personen, die (materielle) Rechtsprechung ausüben, also für Berufsrichter wie ehrenamtliche Richter, Bundes- wie Landesrichter. Auch der Rechtsfindung nur mittelbar dienende Tätigkeiten zur Vorbereitung und Absetzung der Entscheidung sowie die Selbstverwaltungsaufgabe bei der Mitwirkung im Präsidium eines Gerichts unterfällt ihrem Schutz. Die in Art. 97 Abs. 1 GG geregelte sachliche Unabhängigkeit 59 sichert die neutrale und unparteiliche Entscheidung durch den Richter und ihre Vorbereitung. Sie ist durch weitestgehende Weisungsfreiheit gekennzeichnet. Der Weisungsfreiheit des Richters korreliert das verfassungsrechtliche Verbot an Parlament (z. B. durch Einzelfallgesetze), an Regierung und Verwaltung (z. B. durch Einzelanweisungen, Verwaltungsvorschriften oder sonstigen Einflussnahmen wie Bitten, Beschwerden etc.60), aber auch an nicht zuständige andere Richter, in schwebenden Verfahren in prozessordnungswidriger Weise auf die zur Rechtsfindung berufenen Richter einzuwirken61. Auch gegen nicht staatliche, d. h. gesellschaftliche, politische oder mediale Versuche der Einflussnahme kann die sachliche Unabhängigkeit gerichtet werden, wobei der rechtliche Schutz nur durch einfaches Recht sichergestellt ist. Der Richter wird jedenfalls bezüglich von Maßnahmen staatlicher Akteure in umfassender Weise von jeder, insbesondere sachwidrige Einmischung gesichert. Ausnahmen sind die Bindung an bereits rechtskräftige Entscheidungen in derselben Sache, an obergerichtliche Entscheidungen im jeweiligen Verfahren nach Zurückverweisung und an verfassungsgerichtliche Entscheidungen mit Gesetzeskraft. Die persönliche Unabhängigkeit ergibt sich aus Art. 97 Abs. 2 und Art. 98 GG. Diese Garantie ist akzessorisch zur sachlichen Unabhängigkeit. Mit ihr soll die unparteiliche Entscheidung gesichert werden durch den Schutz vor Abhängigkeiten62. Sie verlangt für den Berufsrichter grundsätzlich eine Lebenszeiternennung im Hauptamt, die grundsätzliche Unabsetzbarkeit und Unversetzbarkeit bzw. enge Voraussetzungen für eine richterliche Entscheidung über Entlassung, Amtsenthebung63, Versetzung64 und Abordnung65 des Richters (Inamovibilität). Art. 97
59 Haberland, Problemfelder (Fn. 42/D.), DRiZ 2002, S. 301; Joeres, Die sachliche Unabhängigkeit (Fn. 51/D.), DRiZ 2005, S. 321 ff. 60 Michaelis-Merzbach, Der unabhängige Richter (Fn. 39/D.), S. 537. 61 Papier, Richterliche Unabhängigkeit (Fn. 46/D.), NJW 2001, S. 1090. 62 Eichenberger, Richterliche Unabhängigkeit (Fn. 472/C.), S. 31 ff. vgl. insbesondere zur differenzierten und umfassenden Darstellung von Abhängigkeiten S. 36 ff. 63 Dieser Schutz gilt auch für ehrenamtliche Richter: BVerfG (K), NVwZ-RR 2014, S. 1.
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Abs. 2 GG bestimmt insoweit, dass die hauptamtlich und planmäßig endgültig angestellten Richter wider ihren Willen nur kraft richterlicher Entscheidung und nur aus Gründen und unter den Formen, welche die Gesetze bestimmen, vor Ablauf ihrer Amtszeit entlassen oder dauernd oder zeitweise ihres Amtes enthoben oder an eine andere Stelle oder in den Ruhestand versetzt werden können. Die Gesetzgebung kann allerdings Altersgrenzen festsetzen, bei deren Erreichung auf Lebenszeit angestellte Richter in den Ruhestand treten. Bei Veränderung der Einrichtung der Gerichte oder ihrer Bezirke können Richter an ein anderes Gericht versetzt oder aus dem Amte entfernt werden, jedoch nur unter Belassung des vollen Gehaltes. Neben der Inamovibilität muss eine materielle Absicherung gewährleistet sein, insbesondere eine hinreichende, der Bedeutung des jeweiligen Richteramtes angemessene und ermessensfreie Besoldung gewährt werden66. Die richterdienstgerichtliche Rechtsprechung zählt zur persönlichen Unabhängigkeit außerdem auch die grundsätzlich freie Wahl des Arbeitsortes67 und eine grundsätzlich freie Zeiteinteilung68. cc) Die innere Unabhängigkeit als berufsethische Herausforderung Die innere Unabhängigkeit 69 des Richters ist keine unmittelbar in Art. 97 GG oder in einer anderen Bestimmung des Grundgesetzes angesprochene Ausprägung der richterlichen Unabhängigkeit. Wesentliche Grundannahme der richterlichen Unabhängigkeit ist aber, „der Richter müsse nur dem Recht und sich selbst überlassen werden, um den sachrichtigen Richterspruch zustande zu bringen.“70 Die geregelte institutionelle und äußere Unabhängigkeit kann allerdings nur dann
64 Zu Durchbrechungen bei Veränderungen der Gerichtsorganisation, d.h. von Maßnahmen, die zum Wegfall von Richterämtern führen: BGH, U. v. 06.10.2011 – RiZ (R) 9/10 – zit. nach Juris. 65 Zum Schutz bei Veränderungen der Gerichtsorganisation: P. M. Huber/S. Storr, Gerichtsorganisation und richterliche Unabhängigkeit in Zeiten des Umbruchs, in: ZG 2006, S. 105–128. 66 Hierzu jüngst: BVerfG, U. v. 05.05.2015 – 2 BvL 17/09 u. a. – zit. nach Juris. Vgl. auch K. Lerch, Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Richterstatus, in: DRiZ 1993, S. 225, der insbesondere die besoldungsrechtlichen Ansprüche der Richter in den Blick nimmt. 67 Schaberg, Unabhängigkeit (Fn. 13/D.), MHR 2/2009, S. 17, insbesondere zur Wirklichkeit in Deutschland. 68 BVerwG, NJW 1983, S. 63; Haberland, Problemfelder (Fn. 42/D.), DRiZ 2002, S. 303; BGHZ 113, 36 (40). 69 Vgl. D. Brüggemann, Die rechtsprechende Gewalt. Wegmarken des Rechtsstaates in Deutschland, 1962, S. 95 ff.; G. Pfeiffer, Die innere Unabhängigkeit des Richters, in: W. Fürst/R. Herzog/D. Umbach (Hrsg.), Festschrift für Wolfgang Zeidler, Bd. 1, Berlin/ New York 1987, S. 67 ff.; Rudolph, Unabhängigkeit (Fn. 127/A.), DRiZ 1984, S. 141 f.; Wassermann, Richterliche Gewalt (Fn. 5/A.), S. 85 ff. 70 Eichenberger, Richterliche Unabhängigkeit (Fn. 472/C.), S. 51.
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D. Elemente einer richterlichen Metaethik
wirksam werden, wenn der Richter auch seine innere Freiheit71 wahrt, sei es, dass er Angriffe auf seine äußere Unabhängigkeit zurückweist, sei es, dass er Sirenenklängen (insbesondere Beförderungsaussichten, korrumpierenden Annäherungen von Beteiligten, Schmeicheleien etc.)72 nicht erliegt, sei es, dass er sich – soweit dies tatsächlich überhaupt möglich ist – frei macht von eigenen weltanschaulichen Engführungen oder Einflussnahmen der Öffentlichkeit oder anderer Dritter73. Denn maßgeblich darf für seine Entscheidung grundsätzlich nur das sein, was der Richter nach dem Vortrag der Parteien in einem Akt der Rechtserkenntnis nach den Regeln der richterlichen Methode und Kunst für Recht ansieht74. Die innere Unabhängigkeit ist damit eine rechtliche Forderung an den Richter, die mit der Sicherung der äußeren Unabhängigkeit eingeräumte Entscheidungsfreiheit im Interesse der Bürger zu wahren. Insoweit kann mittelbar aus der Verfassung, jedenfalls aus dem Dienstrecht, eine Pflicht für den Richter abgeleitet werden, sich unabhängig zu halten, also insbesondere unparteilich und sachlich zu bleiben75. Die rechtliche Pflichtenwirkung der richterlichen Unabhängigkeit für den Richter ist zwar nicht ganz unumstritten76, aber systematisch und teleologisch naheliegend. Da der Richter in der Rechtswirklichkeit die richterliche Unabhängigkeit selbst mit Leben erfüllen muss, verlangt dies, dass er ein „Ethos“ der Selbstkontrolle und „Askese“ hinsichtlich weltanschaulicher und politischer Positionierung bei der Rechtsprechung entwickelt77. Das Bundesverfassungsgericht bettet dies in den Kontext des Vertrauens des Bürgers in den Richter ein: „Die Überzeugungskraft richterlicher Entscheidungen beruht nicht nur auf der juristischen Qualität ihrer Gründe; sie stützt sich in hohem Maße auch auf das Vertrauen, das den Richtern von der Bevölkerung entgegengebracht wird. Dieses Vertrauen fußt nicht zuletzt auf der äußeren und inneren Unabhängigkeit des Richters, seiner Neutralität und erkennbaren Distanz, die auch in aktuellen politischen Auseinandersetzungen spürbar bleiben muss. Sind Meinungsäußerungen von Richtern zu politischen Fragen geeignet, dieses Vertrauen zu erschüttern, so widersprechen sie dem Richterbild des Grundgesetzes.“ 78 Die insoweit geforderte Zurückhal71 Hierzu im Einzelnen: Eichenberger, Richterliche Unabhängigkeit (Fn. 472/C.), S. 50 ff. 72 Zur Gefährdung durch Lob: Sendler, Zwielicht? (Fn. 47/D.), S. 324. 73 Hierzu die Beispiele bei W. Dütz, Richterliche Unabhängigkeit und Politik, in: JuS 1985, S. 745 f.; W. Geiger, Die Unabhängigkeit des Richters, in: DRiZ 1979, S. 65 f. 74 M. Redeker, Die Dienstaufsicht über Richter, in: SächsVBl. 2007, S. 79. 75 W. Dütz, Richterliche Unabhängigkeit und Politik, in: JuS 1985, S. 747; Ouart, Betätigungsfreiheit des Richters (Fn. 99/C.), S. 43 ff.; Rudolph, Unabhängigkeit (Fn. 127/ A.), DRiZ 1984, S. 141. 76 Kauffmann, Konstruktion (Fn. 283/B.), S. 71. 77 Michaelis-Merzbach, Der unabhängige Richter (Fn. 39/D.), S. 537; Wipfelder, Richter (Fn. 75/A.), DRiZ 1983, S. 337. 78 BVerfG (K), NJW 1989, S. 93.
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tung ist wohl nur „mit einem hohen Maß an sittlicher, geistiger und willentlicher Anstrengung möglich.“ 79 „Begriff und Prinzip innerer Freiheit erwarten nichts Übermenschliches, aber immerhin geläuterte Persönlichkeit.“80 Erst die so gewonnene innere Freiheit führt zur Selbständigkeit im Urteil und bietet über eine Unbeteiligtheit erst die Grundlage für eine neutrale Einstellung gegenüber Verfahrensbeteiligten, Unparteilichkeit und Sachlichkeit. Diese Haltung der Eigenständigkeit wird zwar vom Recht gefordert. Sie ist aber rechtlich – soweit es nicht um eindeutige Verstöße gegen konkrete Amtspflichten, insbesondere des Mäßigungsgebots, oder gegen Befangenheitsregeln geht – kaum näher zu bestimmen81 oder gar justiziabel. Insofern liegt die innere Unabhängigkeit auf der Grenze zwischen dem Recht und der Berufsmoral und kann so zum rechtlichen Ausgangspunkt einer (nichtrechtlichen) richterlichen Ethik werden. Sie wird daher als „eine ihm obliegende, verfassungsrechtlich in ihren Voraussetzungen und Konsequenzen nicht konkretisierbare Aufgabe“, die dem Amtsethos zugewiesen ist, bezeichnet82. Mit ihr seien „geistige Offenheit und charakterliche Unverführbarkeit gemeint.“ 83 Überzeugend ist auch die Aussage: „Diese innere Unabhängigkeit des Richters kann weder die Verfassung noch das Gesetz garantieren. Sie ist eine dem Richter persönlich gestellte Aufgabe. Er muss seine innere Unabhängigkeit gerade gegenüber den rechtlichen nicht fassbaren Einwirkungen bewahren.“ 84 „Hier ist (. . .) ein richterliches Amtsethos gefordert, das den Richter befähigt, sich von den Erwartungen und Wünschen Dritter frei zu machen, um ausschließlich nach Recht und Gesetz zu entscheiden, und ihm die Kraft gibt, nicht auf den Beifall der Medien zu schielen und auch die unberechtigte und zuweilen unsachliche Kritik zu ertragen.“ 85 Dass diese Haltung nicht ungefährdet ist, liegt auf der Hand: „Die wahre Gefahr kommt nicht von außen, sondern liegt in einer langsamen Erschöpfung des Gewissens, einem Gefügig- und Resigniertwerden: einer wachsenden sittlichen Trägheit, die immer häufiger der gerechten die ausgleichende Lösung vorzieht, weil sie nicht die gemächliche Lebensruhe stört und weil eine intransigente Hal79
Wipfelder, Bürger (Fn. 22/A.), DRiZ 1987, S. 119. Eichenberger, Richterliche Unabhängigkeit (Fn. 472/C.), S. 53. 81 Vgl. Pfeiffer, Innere Unabhängigkeit (Fn. 69/D.), S. 71 f. 82 H. J. Faller, Die richterliche Unabhängigkeit im Spannungsfeld von Politik, Weltanschauung und öffentlicher Meinung, in: W. Fürst/R. Herzog/D. Umbach (Hrsg.), Festschrift für W. Zeidler, Bd. 1, 1987, S. 97 f.; ebenso: Rudolph, Unabhängigkeit (Fn. 127/ A.), DRiZ 1984, S. 141; W. Schaffer, Die Unabhängigkeit der Rechtspflege und des Richters, in: BayVBl. 1991, S. 641, 648; Schilken, Sicherung (Fn. 50/D.), JZ 2006, S. 862. 83 Dieterich, Berufsethik (Fn. 873/C.), BJ 2007, S. 160. 84 E. Kreth, Ethischer Anspruch an den Richterberuf im 21. Jahrhundert; Rede anlässlich des 1. Amtsrichtertages des Landesverbands NRW am 07.05.2009 in Mühlheim/Ruhr, www.drb.de/cms/fileadmin/docs/ethik_rede_kreth_090507.pdf, Stand: 09.09. 2015, S. 4. 85 Papier, Richterliche Unabhängigkeit (Fn. 46/D.), NJW 2001, S. 1091. 80
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tung zu viel Mühe koste.“ 86 Positiv gewendet verlangt sie Richterethos und persönliche Integrität87. Der „Mensch in der Robe“ 88 ist denselben Gefährdungen seines neutralen Urteils ausgesetzt wie jeder Mensch, auch wenn seine Ausbildung und berufliche Sozialisation ein distanziertes Urteilsvermögen schult. Daher kann vorläufig der Inhalt der Haltungen, die die innere Unabhängigkeit erfordern, folgendermaßen angegeben werden: Kritische Distanz zu den Beteiligten und zur Sache, Eigenständigkeit gegenüber Angehörigen der Justiz89 (auch im Kollegialorgan), Sachlichkeit90, Gelassenheit, Mäßigung91, Festigkeit, ein Bewusstsein für die Beeinflussbarkeit, für psychologische Mechanismen bei der Entscheidungsfindung92 und für äußere Abhängigkeiten93, die Fähigkeit zur Selbstkritik und -disziplin, Zähmung der Eitelkeit, insbesondere in der Öffentlichkeit94, und dadurch Vermeidung sozialer Abhängigkeit95, Bewusstsein für die von ihm geforderten zügigen Verfahrensführung96, Beherrschung von Vorurteilen, Voreingenommenheit und Aversionen97. Ob dies zu einer „Neutralisierung der individuellen Persönlichkeit“ 98 führen muss, erscheint zweifelhaft, weil dies bereits völlig unrealistisch wäre. Daneben wäre es Sinne einer „humanen“ Rechtsprechung kaum wünschenswert99. Vielmehr spricht viel dafür, dass erst eine au86 P. Calamandrei, Lob der Richter, gesungen von einem Advokaten, München 1956, S. 169. 87 Sendler, Zwielicht? (Fn. 47/D.), S. 311. 88 So heißt auch eine Fortbildungsveranstaltung der Deutschen Richterakademie, die die Richter im Wege der Selbsterfahrung für die Gefährdungen ihrer inneren Unabhängigkeit sensibilisieren will. 89 Zum Verhältnis Einzelrichter zum Vorsitzenden bzw. Präsidenten: BVerfG (K), B. v. 29.02.1996 – 2 BvR 136/96 – zit. nach Juris. 90 Maier, Dritte Gewalt (Fn. 26/A.), NJW 1989, S. 3205, der eine Pflicht zur Sachlichkeit in Zeiten der „Besorgnis“ als wesentliches Element der inneren Unabhängigkeit anmahnt. 91 Vgl. Pfeiffer, Innere Unabhängigkeit (Fn. 69/D.), S. 75 ff. 92 Grundlegend: Weimar, Psychologische Strukturen (Fn. 49/B.). In seinem Kern eher essayistisch, aber die Gefährdungen (Binnensolidarität, Kritikunfähigkeit, Überbetonung der Neutralität, Vorverständnis, Rachebedürfnis, Formalismus, Charakterliche Besonderheiten, Anwaltsfeindlichkeit, Besserwisserei, etc.) präzise beschreibend: Bendix, Psychologie (Fn. 49/B.), S. 67 ff., 95 ff. Die Diskussion zusammenfassend Simon, Unabhängigkeit des Richters (Fn. 469/C.), S. 149 ff. 93 A. Kaufmann, Der BGH und die Sitzblockade, in: NJW 1988, S. 2581, 2582, führt insoweit treffend aus: „Die Unabhängigkeit eines Richters wächst in dem Maße, wie er sich seiner Abhängigkeit bewusst wird.“ Vgl. auch Leuze, Richterliche Unabhängigkeit (Fn. 52/D.), DöD 2005, S. 7 8. 94 v. Olenhusen, Thesenpapier (Fn. 126/A.), Nr. 4. 95 Haberland, Problemfelder (Fn. 42/D.), DRiZ 2002, S. 302. 96 In diesem Sinne: Michaelis-Merzbach, Der unabhängige Richter (Fn. 39/D.), S. 545. 97 Rudolph, Unabhängigkeit (Fn. 127/A.), DRiZ 1984, S. 141. 98 Faller, Richterliche Unabhängigkeit (Fn. 82/D.), S. 96. 99 In diesem Sinne Eichenberger, Richterliche Unabhängigkeit (Fn. 472/C.), S. 52 f.
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thentische Persönlichkeit diese Forderungen erfüllen kann. In diesem Sinne kann (innere) Unabhängigkeit zu einer Haltung des Richters werden, deren Erwerb eine ethische Anstrengung und Leistung voraussetzt100. Das Bundesverfassungsgericht hat das Richterbild des Grundgesetzes – auch im Hinblick auf die geforderten Haltungen – folgendermaßen zusammengefasst: „Das Grundgesetz gewährleistet den Beteiligten eines gerichtlichen Verfahrens, vor einem unabhängigen und unparteilichen Richter zu stehen, der die Gewähr für Neutralität und Distanz gegenüber allen Verfahrensbeteiligten und dem Verfahrensgegenstand bietet (. . .). Neben der sachlichen und persönlichen Unabhängigkeit des Richters (Art. 97 Abs. 1 und 2 GG) ist es wesentliches Kennzeichen der Rechtsprechung im Sinne des Grundgesetzes, dass die richterliche Tätigkeit von einem ,nicht beteiligten Dritten‘ ausgeübt wird (. . .). Diese Vorstellung von neutraler Amtsführung ist mit den Begriffen ,Richter‘ und ,Gericht‘ untrennbar verknüpft (. . .). Die richterliche Tätigkeit erfordert daher unbedingte Neutralität gegenüber den Verfahrensbeteiligten (. . .). Das Recht auf den gesetzlichen Richter aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG gewährt deshalb nicht nur einen Anspruch auf den sich aus dem Gerichtsverfassungsgesetz, den Prozessordnungen sowie den Geschäftsverteilungs- und Besetzungsregelungen des Gerichts ergebenden Richter (. . .), sondern garantiert auch, dass der Betroffene nicht vor einem Richter steht, der aufgrund persönlicher oder sachlicher Beziehungen zu den Verfahrensbeteiligten oder zum Streitgegenstand die gebotene Neutralität vermissen lässt (. . .). Dieses Verlangen nach Unvoreingenommenheit und Neutralität des Richters ist zugleich ein Gebot der Rechtsstaatlichkeit (. . .).“ 101 Dass die innere, neben der äußeren Unabhängigkeit stets gefährdet ist102, braucht nicht näher zu begründet werden. Die Gefahren für die innere Unabhängigkeit werden auch durch zum Teil harte Kritik an richterlichem Verhalten aufgezeigt: Sie werde als Ruhekissen, als Privileg einer aristokratischen Kaste, als Ausrede für geistige Unbeweglichkeit, Bemäntelung von Borniertheit, als Kaschierung von Voreingenommenheit und Tarnung von Faulheit103 benutzt. Damit ist präzise bestimmt, zu welchen Folgen es führt, wenn die äußere Unabhängigkeit nicht von einer inneren getragen ist und welche Konsequenzen sich daraus für die Akzeptanz der Richterschaft ergeben: Misstrauen und Ablehnung. Damit ist umgekehrt auch klar, dass der bequeme, feige, gleichgültige, zynische, nach 100 101
Geiger, Die Unabhängigkeit des Richters (Fn. 73/D.), DRiZ 1979, S. 66. U. v. 19.03.2013 – 2 BvR 2628/10, 2 BvR 2883/10, 2 BvR 2155/11 – zit. nach
Juris. 102 Geiger, Rolle (Fn. 5/A.), DRiZ 1982, S. 321 ff. Zu den Gefährdungen der richterlichen Unabhängigkeit: U. Hochschild, Von den Möglichkeiten der deutschen Exekutive zur Beeinflussung der Rechtsprechung, in: ZRP 2011, S. 65. 103 So Prantl, Süddeutsche Zeitung vom 17.08.1994 im Zusammenhang mit dem „Deckert-Urteil“ des LG Mannheims. Hierzu: Voss, Ins Gerede gekommen (Fn. 764/C.), DRiZ 1994, S. 447 f.
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Beifall schielende, der rechthaberische und uneinsichtige Richter104 die richterliche Unabhängigkeit mit ihren rechtlichen und berufsmoralischen Anforderungen verfehlt. Es ist in der täglichen Praxis auch nicht zu übersehen, dass die Gewährung der äußeren Unabhängigkeit unberechtigte Anspruchshaltungen fördern kann: „Richterliches Denken kreist um die Unabhängigkeit in ganz besonderer Weise. Wozu sie ihn berechtige, was der Staat ihm schulde, was vom Gesetzgeber zu fordern sei, was ein Richter wegen seiner Unabhängigkeit nicht zu tun brauche und wozu keine Justizverwaltung ihn veranlassen könne – das steht obenan und prägt sein Denken. Wozu Unabhängigkeit den Richter verpflichte, was das Volk, in dessen Namen er doch judiziert, von ihm verlangen könne und wo er sich gegenüber Gesetzgeber und Exekutive zurückzuhalten habe – das wird weit weniger erörtert.“ 105 Auch wenn diese Kritik sehr pauschal und umfassend ist, einen zutreffenden Kern hat sie doch. Zusammenfassend kann festgestellt werden: Für die Annahme einer richterlichen Ethik haben die vorbeschriebenen Erkenntnisse nach allgemeiner Auffassung unmittelbare Folgen: „Moraltheoretisch bedeutet die richterliche Unabhängigkeit eine Herausforderung des Richters zu selbstständigem ethischen Urteil bedingt durch eine vom Gesetz gleichsam kreditierte Anerkennung als moralisches Subjekt.“ 106 Hieraus und aus dem in den Richter gesetzten Vertrauen wird berufsmoralisch ein Zwang zum Handeln unter einer prinzipiengeleiteten Ethik begründet. Zu Recht weist Wrege107 darauf hin: „Adressat und Zweck der richterlichen Ethik korrelieren mit dem Begriff der richterlichen Unabhängigkeit, die denklogisch eine Freiheit des Richters voraussetzt. In ihrem Begründungszusammenhang lässt sich die richterliche Ethik somit mittelbar aus der allgemeinen Staatslehre, nämlich der Gewaltenteilung, herleiten. In Theorie und Praxis ist die richterliche Ethik dann aber eine staatlich definierte Ethik, denn sie folgt einem Gesetzes- bzw. Verfassungsbegriff, ebenso wie ihr Zweck dienender Natur ist (Art. 20 Abs. 3, 92 GG): Soll sie doch das Rechtsideal der Unabhängigkeit des Richters und seiner gerechten Entscheidung ausfüllen und sichern.“ Dass richterliche Ethik den Kernbereich richterlicher Unabhängigkeit „betrifft“ und für die Bewältigung der „Entscheidungsfreiheit“ keine alles Verhalten erfassenden rechtlichen Wertmaßstäbe108 bereit halten kann, liegt insoweit ebenfalls auf der Hand. Damit lässt sich die erste Teilfrage beantworten: Das Verfassungsrecht lässt es nicht nur zu, dass richterliches Verhalten durch andere Regeln als durch das Recht geprägt wird. Es eröffnet für den Richter mit der ihm in Freiheit und inne104
Geiger, Die Unabhängigkeit des Richters (Fn. 73/D.), DRiZ 1979, S. 67. H. Wrobel, Geh – schmeiß ihn von dem Tribunal herunter! in: DRiZ 1995, S. 202 f. 106 Somek, Richterethos (Fn. 4/B.), ÖsterrRZ 1985, S. 267. 107 Wrege, Eckpunkte (Fn. 899/C.), MHR 4/2006, S. 16 f. 108 v. Olenhusen, Thesenpapier (Fn. 126/A.), Nr. 5. 105
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rer Unabhängigkeit anvertrauten Aufgabe ein Feld „berufsmoralischer Bewährung“. Die richterliche Unabhängigkeit erlaubt dabei nicht nur, Verhaltensforderungen an ihn zu stellen, die innere Unabhängigkeit erfordert es geradezu. c) Die Gesetzesbindung als Grenze der Unabhängigkeit Die Feststellung, dass es die richterliche Unabhängigkeit nicht nur erlaube, Verhaltensforderungen an den Richter bei der Ausübung seiner Tätigkeit zu stellen, sondern es die innere Unabhängigkeit geradezu erfordere, hat die gestellte Frage aber in einer Hinsicht noch nicht vollständig beantwortet. Auch wenn bei der Darstellung der Anforderungen der inneren Unabhängigkeit bereits berufsethische Implikationen aufgezeigt wurden und das Tor zur Berufsmoral geöffnet wurde, bleibt doch noch offen, ob die erwarteten Verhaltensanforderungen nicht doch rechtlich ausgestaltet sein müssen oder ob es daneben auch zulässig ist, diese „nur“ berufsmoralisch zu begründen. Diese Fragen führen zur Gesetzesbindung als einzige, verfassungsrechtlich formulierte Grenze der richterlichen Unabhängigkeit. Sie ist im Folgenden in ihrer inhaltlichen Reichweite und berufsethischen Problemstellung herauszuarbeiten. aa) Unabhängigkeit und Gesetzesbindung Die Gesetzesbindung kann in unterschiedlicher Weise richterethische Probleme aufwerfen. Einerseits kann sie die Grenze für moralische Steuerung richterlichen Verhaltens sein, anderseits kann sie wegen der Unsicherheit des Bindungspostulats aufgrund der richterlichen Unabhängigkeit eine moralische Flankierung richterlichen Verhaltens erfordern: Die Grenzen der Unabhängigkeit des Richters werden durch deren Schutzaufgabe bestimmt109. Sie will nämlich „nur“ institutionell und personell sicherstellen, dass Recht und Gesetz ohne sachfremde Einflussnahme zur Geltung kommen; sie ist daher Bedingung und Möglichkeit der richterlichen Unabhängigkeit. Die Gesetzesbindung ist nicht nur die Kehrseite der Unabhängigkeit110, sondern zwingend auch ihr Daseinszweck. Dabei bezieht sich die Gesetzesbindung nicht nur auf die Rechtsprechungstätigkeit, sondern auch auf das Verhalten des Richters selbst. Die richterliche Unabhängigkeit findet nämlich über die Gesetzesbindung ihre Grenze auch in den den Richter rechtlich bindenden Amtspflichten, die im Falle ihrer Verletzung durch die Dienstaufsicht durchgesetzt werden können. Dabei wird freilich nicht verkannt, dass die einfach-gesetzlichen Pflichten selbst verfassungskonform sein müssen, was sie dann sind, wenn sie zu dem Zweck bestehen, die Gesetzesbindung des Richters und seine Unabhängigkeit zu sichern. Die durch Rechtszug und Dienstaufsicht gesicherte Bindung bildet dabei kein straffes Korsett. Denn auch die Rechtsmit109 110
Hierzu Eichenberger, Richterliche Unabhängigkeit (Fn. 472/C.), S. 92 ff. Faller, Richterliche Unabhängigkeit (Fn. 82/D.), S. 82.
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telgerichte sind an das Gesetz gebunden und die Dienstaufsicht darf in ihrer Tätigkeit den Zweck ihrer Befugnisse nicht aus den Augen verlieren: „Die Dienstaufsicht über die richterliche Tätigkeit gewährleistet ihrerseits die Einhaltung dieser richterlichen Dienstpflichten. Damit bestimmt die staatliche Justizgewährpflicht nicht nur den Inhalt der richterlichen Dienstpflichten, sondern auch die Möglichkeiten und Grenzen der Dienstaufsicht.“ 111 Damit entsteht eine sowohl rechtlich als auch berufsmoralisch aufzulösende Verschränkung von Unabhängigkeit und Gesetzesbindung. Eine solche Verschränkung ist auch im Hinblick auf die Situation des rechtsanwendenden Richters festzustellen: Herkömmlicherweise wird die Gesetzesbindung in erster Linie auf die Rechtsprechungstätigkeit selbst bezogen. Unbestritten ist, dass das Gesetz aufgrund seines begrifflichen Rahmens, seines Systems und Regelungszwecks die richterliche Entscheidung bindet. Diesen Rahmen darf er nicht überschreiten, will er nicht das Recht beugen. Ist das Recht klar, ist der Rahmen eng. Es kann aber auch unklar und interpretationsbedürftig sein. Dass aber gerade dann das Bindungspostulat für den Richter ein „ethisches Bewährungsfeld“ eröffnet, auf dem die Anforderungen an die „innere“ Unabhängigkeit des Richters wirksam werden müssen, liegt auf der Hand: Es ergibt sich daraus, dass niemand anders als „der Richter“ selbst das Gesetz anwendet, mithin den Umfang und die Reichweite der Gesetzesbindung und damit die Grenze seiner eigenen Unabhängigkeit selbst bestimmt. Denn keine andere Staatsgewalt ist dazu berufen, letztverbindlich den Inhalt von Recht und Gesetz – also die Reichweite der Bindung des Richters – zu bestimmen. „Der Richter ist frei und nur dem Gesetz unterworfen, das Gesetz aber ist das, was er selbst darunter pflichtgemäß versteht. Damit wandelt sich mit seinem Verständnis das, dem er unterworfen ist: eben durch sein Verständnis; er ist auch hier in wissenschaftlicher und dogmatischer Auffassung allein seinem Gewissen als letzter Instanz unterworfen.“ 112 Zugespitzt könnte man sagen, der Richter bestimmt die Grenzen seiner Bindung und damit seiner Unabhängigkeit selbst113. Dies ist der Kern der Angst vor dem entfesselten und bindungslosen Richter114 und der Frage: Quis custodiet ipsos custodes?115 Dass insoweit nicht nur das Problem der Wirksam111
Papier, Richterliche Unabhängigkeit (Fn. 46/D.), NJW 2001, S. 1092. J. Esser, Richterrecht, Gerichtsgebrauch und Gewohnheitsrecht, in: Festschrift für F. von Hippel, Tübingen 1967, S. 113. 113 Zur Paradoxie und seines „Managements“: R. Christensen, Die Paradoxie richterlicher Gesetzesbindung, in: K. Lerch (Hrsg.), Die Sprache des Rechts, Band 2, Argumentieren, Begründen und Entscheiden im Diskurs des Rechts, Berlin 2005, S. 92 ff. 114 Vgl. die nüchterne Feststellung von Simon, Unabhängigkeit des Richters (Fn. 469/C.), S. 89: „Das bedeutet, dass mit dem bewusst ungebundenen Richter gerechnet werden muss.“ 115 Hierzu Brüggemann, Die rechtsprechende Gewalt (Fn. 69/D.), S. 179 ff., der insoweit allein die Öffentlichkeit ins Spiel bringt. 112
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keit des demokratisch legitimierten Gesetzes aufgeworfen, sondern auch rechtsethisch das Problem von „Freiheit“ und „Bindung“ einer Staatsgewalt berührt wird, ist offenkundig116. Im Richtereid kommt dies dadurch zum Ausdruck, dass die Bindung des Richters an das Gesetz mit dem richterlichen Versprechen verbunden wird, nach besten Wissen und Gewissen zu entscheiden117. Hier liegt der Kern der Ethik des Interpreten des Rechts118 im Allgemeinen und des Richters im Besonderen. Nach Radbruch besteht für den Richter daher nicht nur eine rechtliche, sondern auch eine ethische Pflicht zum Gesetzesgehorsam. Hier liegt der – im Folgenden näher auszuleuchtende – Problemkern richterlicher Ethik: bb) Das Problemfeld „Gesetzesbindung“ 119: Tatsachenermittlung, Gestaltung des Verfahrens, Rechtsauslegung120 Dabei ist – wie noch näher zu zeigen ist – das durch das Bindungspostulat eröffnete ethische Bewährungsfeld nicht nur auf die reine Rechtsauslegung bzw. Rechtsfortbildung beschränkt. Denn bereits bei der Ermittlung der Tatsachen, auf die das Recht Anwendung finden soll, bestehen Ermessenspielräume, jedenfalls rechtlich nicht vollständig strukturierte Handlungsmuster121. Die Sachverhaltsermittlung ist daher auch ein Willensakt des Richters122. Die Suche nach den rechtlich maßgeblichen Tatsachenelementen im Hinblick auf das Recht, das Hin- und Herwandern des Blicks zwischen Sachverhalt und Norm verlangen Sorgfalt, Disziplin, Willen zur Aufklärung und Weitsicht. Auch die Beweiswürdigung ist zwar regelgeleitet, rekurriert aber auf einen Begriff der „Überzeugung“ des Richters,
116 Zu Freiheit und Bindung des Richters vgl. W. Hassemer, Rechtssystem und Kodifikation: Die Bindung des Richters an das Gesetz, in: A. Kaufmann/W. Hassemer/ U. Neumann, Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 8. Aufl., 2010, S. 258 ff. Zur begrifflichen Diskrepanz zwischen „Bindung“ und „Ausführung“ oder „Vollzug“: R. Herzog, Gesetz und Richter, in: E. Franssen u. a. (Hrsg.), Bürger – Richter – Staat, Festschrift für H. Sendler, München 1991, S. 17 f. 117 Vgl. hierzu Krix, Ethik (Fn. 1/A.), S. 7. 118 J. Isensee, Vom Ethos des Interpreten. Das subjektive Element der Normauslegung und seine Einbindung in den Verfassungsstaat, in: H. Haller u. a. (Hrsg.), Staat und Recht, Festschrift für Günther Winkler, Wien 1997, S. 367 ff. 119 Zu den theoretischen Grundlagen des Gesetzesbindung, insbesondere zu den Problemen von Sprache, Bedeutung, Repräsentation des Rechts im Gesetz, Konstruktion, Prozesshaftigkeit der „Rechtserkenntnis“ vgl. Christensen, Paradoxie (Fn. 113/D.), S. 3 ff. 120 Zum Unterschied von Auslegung und Anwendung des Gesetzes: Isensee, Vom Ethos des Interpreten (Fn. 118/D.), S. 372. 121 Dies wird von den Richtern im Übrigen als Hauptproblem der Rechtsanwendung bezeichnet: vgl. Gerhardt/Kepplinger/Geiß, Auf dem Weg zur Wahrheit (Fn. 928/C.), ZRP 2012, S. 213, 214. 122 Lansnicker, Richteramt (Fn. 472/C.), S. 28; ebenso Wassermann, Macht (Fn. 20/ A.), DRiZ 1986, S. 202.
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die damit subjektiv geprägt ist123. Hinzu kommt die Lückenhaftigkeit der Vorgaben des Gesetzes für das Verfahren, die – vom Richter – zu füllende und zu verantwortende Handlungsspielräume eröffnet. Schließlich – und hier liegt das im Weiteren näher zu erörternde und zentrale Problem der Gesetzesbindung – sind die sprachlichen Vorgaben des Gesetzes für das rechtliche Ergebnis nicht selten lückenhaft, widersprüchlich, unklar124 und nicht in der Lage, „das ganze Leben“ vorwegzunehmen125. Der Gesetzgeber überlässt es hin und wieder sogar ausdrücklich oder stillschweigend dem Richter, im parlamentarischen Verfahren nicht konsensfähige Lösungen durch die Rechtssprechungspraxis herbeizuführen126. Selbst bei Berücksichtigung der juristischen Methoden ist die Rechtsfindung daher – ohne hier einen Voluntarismus propagieren zu wollen – auch ein wertender Willensakt127 und nicht bloß logische Deduktion von Gesetzesbefehlen. Die Unabhängigkeit des richterlichen Entscheiders und die Unklarheit über die Reichweite der Gesetzesbindung verweisen damit zusammen auf die Freiheit und Verantwortung des Richters als Voraussetzung und Problem der richterlichen Ethik128. Denn es besteht die Gefahr, dass der Richter sich zu weit vom Gesetz entfernt und damit die Gesetzesbindung verfehlt. Zwar gibt es anerkannte Regeln und Prinzipien, wie die Gesetzesbindung zu wahren ist. Sie bestimmen die Grenzen professionellen richterlichen Verhaltens. Herkömmlicherweise werden die hier maßgeblichen Probleme unter den Stichworten der Auslegungsmethode, der Rechtsschöpfung und Rechtsfortbildung verhandelt. Fehlende Kollisionsregeln bei der Methodenwahl129, „unbestimmte“ 130 und daher ausfüllungsbedürftige Rechtsbegriffe, Blankettnormen, Generalklauseln und konfligierende Gesetzesund Verfassungsnormen fordern vom Richter aber im Einzelfall weitreichende Wertungen und damit letztlich Rechtsgestaltung. Sie eröffnen den Blick auf fließende und schwer bestimmbare Grenzen der Rechtsanwendung, die stets eine „Gratwanderung von Bindung und Freiheit“ ist131: 123 J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl. Rationalitätsgarantien richterlicher Entscheidungspraxis, Frankfurt/Main 1970, S. 146 ff. 124 Hassemer, Gesetzesbindung (Fn. 68/B.), ZRP 2007, S. 214, hält das klare Gesetz für einen „Traum“. 125 Hassemer, Juristische Methodenlehre und richterliche Pragmatik, S. 239 f. Zu den in dieser Hinsicht schwierigen Bedingungen der Gesetzgebungstätigkeit in moderner Zeit: Herzog, Gesetz und Richter (Fn. 116/D.), S. 20 ff. 126 Hierzu Dieterich, Freiheit und Bindung (Fn. 38/D.), RdA 1986, S. 3. 127 Hierzu G. Hirsch, „Vom Vorurteil zum Urteil“, in: ZRP 2009, S. 61; Lansnicker, Richteramt (Fn. 472/C.), S. 21 und S. 22 ff.; Methodenwahl als Wertungs- und Willensakt; ebenso Wassermann, Macht (Fn. 20/A.), DRiZ 1986, S. 202. 128 Wassermann, Richterliche Gewalt (Fn. 5/A.), S. 15 ff. 129 Dieterich, Berufsethik (Fn. 873/C.), BJ 2007, S. 161; S. Seybold/J. Sander/ P. Weiß: Richterliche Selbstbindung (Fn. 178/D.), ARSP 2015, S. 319. 130 Zum Problem der Klarheit von Rechtssprache: Rüthers, Rechtstheorie (Fn. 14/B.), S. 88 ff. 131 Ogorek, Recht (Fn. 100/B.), KritV 1997, S. 5, 16.
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Die damit zusammenhängenden Befürchtungen begleiten die Diskussion zur Stellung des Richters mindestens seit dem späten 18. Jahrhundert132 und werden seit dem Ende des 19. Jahrhunderts theoretisch ausgiebig erörtert133. Bis in jüngste Zeit war die Gesetzesbindung und ihre Reichweite Gegenstand eines breit und in der Sache hart geführten Diskurses134, der seine Nahrung auch aus den Erfahrungen mit dem Entscheidungsverhalten von Richtern im Nationalsozialismus bzw. in der DDR zog und in dem die Gefahr unbegrenzter richterlicher Macht für den demokratischen Rechtsstaat thematisiert wurde135. Die Furcht vor der Gefahr, dass sich der Richter von den Vorgaben des Gesetzes löst, spiegelt sich aber schon in Auslegungs- und Kommentarverboten der Kodifikationsära wieder (Preußisches Allgemeines Landrecht; Code Penal, Strafgesetzbuch für das Königreich Bayern136), die letztlich aber praktisch nicht durchzuhalten waren. Diese Verbote zeigen nicht nur das Vorurteil gegenüber nicht demokratisch legitimierten, dem alten System verhafteten Richtern, sondern auch die Erwartung jeder auf kodifizierten137 und nicht – wie das Common Law – auf einer richterlichen Rechtspraxis beruhenden Rechtsordnung138 an; nämlich, dass sich der Richter an das geschriebene Recht halte, um den Willen des Gesetzgebers zur realen Geltung zu bringen139. Im demokratischen Verfassungsstaat stellt sich diese Forderung noch zugespitzter, weil dies der einzige Weg ist, die in einem demokratischen Prozess legitimierten Normen wirksam werden zu lassen. Die Haltungen zur richterlichen Gesetzesbindung changieren zwischen Extrempositionen, nämlich auf der einen Seite den Richter als „Mund des Gesetzes“ 140 oder „richter-
132 Rückert, Der neue Richter (Fn. 597/C.), KritJ 30 (1997), S. 429 ff. führt aus, dass es den gesetzespositivistischen Richter nie gab. 133 Vgl. auch Hassemer, Rechtssystem und Kodifikation (Fn. 116/D.), S. 251. Einen guten historischen Überblick zum Bindungsdogma und der Haltung der Richter bietet: Kübler, Richter (Fn. 139/B.), AcP 162 (1963), S. 104 ff. 134 Vgl. z. B. Rupp, Bindung (Fn. 25/A.), NJW 1973, S. 1770 f. 135 Rüthers, Unbegrenzte Auslegung (Fn. 592/C.); ders., Blindflug (Fn. 136/A.), JZ 2008, S. 446; ders., Methodenrealismus in Jurisprudenz und Justiz, in: JZ 2006, S. 53; ders., Geleugneter Rechtsstaat und vernebelte Richtermacht, in: NJW 2005, S. 2759; ders., Demokratischer Rechtsstaat (Fn. 25/A.), JZ 2002, S. 365 ff. Dagegen: Hassemer, Methodenlehre (Fn. 68/B.), S. 232 ff.; J. Wenzel, Die Bindung des Richters an Gesetz und Recht, in: NJW 2008, S. 345 ff. dort insbesondere S. 347, wo auf konkrete Vorwürfe gegen oberste Bundesgerichte eingegangen wird. 136 Vultejus, Der Beruf des Richters (Fn. 271/B.), DRiZ 2003, S. 233 f.; B. Rüthers/ C. Höpfner, Analogieverbot und subjektive Auslegungsmethode, in: JZ 2005, S. 22. 137 Hierzu: Ch. Starck, Die Bindung des Richters an Gesetz und Verfassung, in: VVDStRL 34 (1976), S. 45. 138 Zu den Vorteilen dieses Prinzips: Hassemer, Rechtssystem und Kodifikation (Fn. 116/D.), S. 255 ff. 139 Hassemer, Methodenlehre (Fn. 68/B.), S. 233 f.; ders., Rechtssystem und Kodifikation (Fn. 116/D.), S. 251 ff. 140 Zum historischen und theoretischen Kontext dieses Dictums von Montesqieu: Herzog, Gesetz und Richter, (Fn. 116/D.), S. 18 ff., der dabei eine Abgrenzung zu den
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D. Elemente einer richterlichen Metaethik
lichen Subsumtionsautomaten“ 141 oder als bloßen „Diener“ des Rechts zu fordern, der den Inhalt und die Anordnungen des Gesetzes im Einzelfall nur pünktlich auszusprechen hat. Auf der anderen Seite wird das Bild des „Richterkönigs“ 142 oder des „Pianisten“ 143 gezeichnet, für den das Gesetz die Partitur ist, die er kunstvoll wiedergibt144. Die hinter diesen Bildern stehenden rechtsphilosophischen Positionen können – verkürzt – mit dem Rechtspositivismus145 auf der einen und der Freirechtsschule auf der anderen Seite in Verbindung gebracht werden. Zugespitzt wird das Dilemma mit der von Dworkin vertretenen These von der vom Richter zu treffenden „einzigen richtigen Entscheidung“ 146 aus der kombinierten Anwendung von Regeln (rules) und Prinzipien (principles)147. Vertritt man die Auffassung, dass es nur eine richtige Entscheidung in einem konkreten Fall geben kann, die von einem stets korrekt handelnden „Herkules“ der Rechtsanwendung148 mit umfassendem Wissen, Empathie und Klugheit getroffen wird, dann wäre das Problem der Gesetzesbindung gelöst149. Jeder Richter der die einzig richtige Entscheidung verfehlt, hätte beruflich versagt. Dieses Postulat kontrastiert allerdings hart mit dem Hermann Kantorowicz zugeschriebenen Dictum: „Im Gesetz sind nicht weniger Lücken als Worte.“ 150 Es ist nicht Gegenstand der vorliegenden Arbeit, die rechtstheoretischen, rechtsphilosophischen und rechtshistorischen Grundlagen der Gesetzesbindung151 näheutigen Verhältnissen leistet. Zur begrenzten Reichweite der verwendeten Bilder: Wenzel, Bindung des Richters (Fn. 136/D.), NJW 2008, S. 345. 141 Ogorek, Richterkönig (Fn. 264/C.). 142 Ogorek, Richterkönig (Fn. 264/C.), S.1 ff.; zur historischen Herleitung: S. 39 ff. 143 Hirsch, Richterstaat (Fn. 5/A.), JZ 2007, S. 858. 144 Kritisch zu Vertretern „gelockerter“ Gesetzesbindung (Freirechtsbewegung, Esser, Marcic, Viehweg, Schwerdtner, Rottleutner, Lautmann, Wiethölter): V. Krey, Zur Problematik richterlicher Rechtsfortbildung contra legem, in: JZ 1978, S. 428 ff. 145 Nicht ohne Grund sieht Rüthers, der hartnäckigste Vertreter einer – enger verstandenen – Gesetzesbindung, darin aus heutiger Sicht einen „Pappkameraden“, weil es auch nach ihm keine „ausnahmslose“ Bindung des Richters an das Gesetz mehr gibt: Rüthers, Blindflug (Fn. 136/A.), JZ 2008, S. 447. 146 Hierzu aber nur als „regulative Idee“ Isensee, Vom Ethos des Interpreten (Fn. 118/D.), S. 369 ff. 147 Vgl. hierzu L. Leitmeier, Dworkins Vermächtnis: Die einzig richtige Entscheidung, in: DRiZ 2013, S. 334 ff. 148 R. Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, Frankfurt/Main 1984, S. 144 ff., 181 ff. und S. 199 f. 149 Hierzu: H.-J. Strauch, Die Bindung des Richters an Recht und Gesetz – eine Bindung durch Kohärenz, in: KritV 2002, S. 331 f. 150 Zit. nach Kreth, Anspruch (Fn. 84/D.), S. 6. 151 Zu den historischen, theoretischen und dogmatischen Grundlagen des Bindungsgebots: Simon, Unabhängigkeit des Richters (Fn. 469/C.), S. 68 ff., wo der Weg vom Justizsyllogismus über die Freirechtsschule, die Interessenjurisprudenz, juristischen Hermeneutik und Topik zu den verfassungsrechtlichen Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung nachgezeichnet wird.
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her zu erforschen und zur Darstellung zu bringen. Insbesondere kann keine Lösung der in der dargestellten Diskussion aufgeworfenen Probleme angeboten werden. Die holzschnittartige Darstellung der Problemlage wird aber aufzeigen können, dass der Richter durch die Forderung der Gesetzesbindung bei seiner Kernaufgabe der Rechtsauslegung und -anwendung auch ethisch herausgefordert ist, dass es einen „Ethos des Interpreten“ 152 geben muss: cc) Die Bindung an „Recht und Gesetz“ Die Bindung des Richters an Recht und Gesetz findet ihre verfassungsrechtliche Grundlage in Art. 20 Abs. 3 GG, im Rechtsstaats- und Demokratieprinzip153. Das vom demokratisch legitimierten Gesetzgeber geschaffene Recht muss sicher, vorhersehbar und willkürfrei im Einzelfall angewandt werden. Die Anwendung soll damit frei von nicht rechtlichen Kriterien und Einflüssen sein und damit die Trennlinie zwischen (richterlicher) Politik und Rechtsprechung154 beachten. Unter „Gesetz“ sind dabei alle Rechtsvorschriften von der Verfassung über das formelle Gesetz bis zu Rechtsverordnungen und Satzungen, ja sogar das Gewohnheitsrecht zu verstehen155. Als „Recht“ können die nach der deutschen Rechts- und Verfassungsordnung anerkannten rechtlichen Prinzipien156 sowie die Rechtsanwendungsregeln verstanden werden. Dabei führt die Forderung nach Beachtung des – nicht geschriebenen – Rechts nicht zu einer Lockerung der Bindung des Richters, sondern dient als Korrektiv bei der Auslegung des Gesetzes in Richtung auf die Wahrung materialer Gerechtigkeit157. Dabei muss das „Recht“ seine Grundlage aber wiederum im Gesetz, insbesondere der Verfassung, selbst haben. Ein Ausspielen von „Recht“ gegen „Gesetz“, die zu einer bloßen Billigkeitsrechtsprechung geraten würde, ist demnach nach der deutschen Rechtsordnung unzulässig. Auch Richterrecht ist kein Recht in diesem Sinne158. Eine Lösung von den Anordnungen des Gesetzgebers ist nur in dem dafür vorgesehenen Verfahren (Art. 100 Abs. GG) möglich, wobei Vorschriften unterhalb der formellen Gesetze, die gegen höherrangiges Recht, insbesondere gegen die Verfassung verstoßen, unangewendet bleiben müssen. 152
Isensee, Vom Ethos des Interpreten (Fn. 118/D.), S. 367 ff. Zu den verfassungsrechtlichen Grundlagen: G. Roellecke, Die Bindung des Richters an Gesetz und Verfassung, in: VVDStRL 34 (1976), S. 7, 9 ff.; Starck, Bindung des Richters (Fn. 137/D.), VVDStRL 34 (1976), S. 43, 47 ff.; Vöneky, Recht, Moral und Ethik (Fn. 47/B.), S. 129. 154 So W. Hassemer, Politik aus Karlsruhe? in: JZ 2008, S. 4 f. 155 BVerfGE 78, 214 (227). 156 Wenzel, Bindung des Richters (Fn. 136/D.), NJW 2008, S. 348 f. 157 BVerfGE 34, 269 (286 f.). Hierzu auch Ch. Hillgruber, Richterliche Rechtsfortbildung als Verfassungsproblem, in: JZ 1996, S.123; ders., „Neue Methodik“ (Fn. 626/C.), JZ 2008, S. 746 f. 158 BVerfGE 84, 212 (227). 153
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dd) Methodenwahl, Rechtsauslegung, Rechtsfortbildung Allerdings – und hier liegt das Problem der Gesetzesbindung – sind Gesetze nicht selten sprachlich ungenau, im Wortlaut offen, im System widersprüchlich, unvollständig und lückenhaft. Von einer klar bestimmten Bindung des Richters durch das Gesetz selbst kann daher kaum gesprochen werden159. Der Richter ist trotz der beschriebenen Unklarheiten durch den strikt zu wahrenden Justizgewährungsanspruch dennoch gezwungen, das Gesetz nach anerkannten Methoden auszulegen oder – wenn eine Auslegung nicht weiterführt – fortzubilden. Damit sind die Hauptprobleme der Rechtsanwendung aufgerufen, die unmittelbar auf das Phänomen richterlicher Macht und ihrer berufsethischen Bewältigung führen: Methodenwahl, Rechtsauslegung, -fortbildung160 und -schöpfung und das dadurch entstehende Richterrecht. Der Richter hat sein Schiff zwischen der Skylla „unbegrenzte Auslegung“161 und der Charybdis „Lebenslüge des rationalen Subsumtionsdogmas“ 162 hindurch zu steuern. Hierbei lauern Gefahren163: Löst sich der Richter von seiner Bindung an das Gesetz, durchbricht er die Gewaltenteilung, subjektiviert das Recht, politisiert unter Umständen die Justiz und leistet Rechtsunsicherheit und Unberechenbarkeit Vorschub. Meint er hingegen, er könne stets seine Entscheidung durch logische Operationen aus dem Text rational ableiten, wird er nicht selten weltfremd, ist blind für seine eigene subjektive Wertung und nimmt nicht zur Kenntnis, dass Rechtsprechung ein Prozess ist, in dem rationale und logische Operationen, emotionale Beweggründe, weltanschauliche Standpunkte oder soziale Bedingungen einfließen164. Jeder Richter, der glaubt, er gewinne seine rechtlichen Einsichten und Ergebnisse nur rational im Wege einer Deduktion, verfehlt überdies nicht häufig die menschenrechtlichen Gebote der Verfassung für Verfahren und Rechtsergebnis165. Die rechtsethische Zuspitzung ergibt sich in diesem Kontext aus Folgendem: Für die Wahl der maßgeblichen Methode zur Auslegung oder Fortbildung des Rechts gibt es selbst keine anerkannte Regel166. Der Kanon der herkömmlichen 159 Grundlegend zu den Problemen des Bindungspostulats: Wieacker, Gesetz und Richterkunst (Fn. 250/B.), S. 2 ff. Zum Zusammenhang von hektischer Gesetzesproduktion und Auslegungshaltung der Richter und Rechtswissenschaft: B. Rüthers, Wer schafft Recht? – Methodenfragen als Macht- und Verfassungsfragen, in: JZ 2003, S. 995 f. 160 Zur Differenzierung von Rechtsauslegung und -fortbildung: H. Wiedemann, Richterliche Rechtsfortbildung, in: NJW 2014, S. 2407. 161 Rüthers, Unbegrenzte Auslegung (Fn. 592/C.). 162 R. Lamprecht, Die Richterperson als Rechtsquelle, in: BJ 2005, S. 14. 163 O.R. Kissel, Justiz zwischen Anspruch und Wirklichkeit, in: DRiZ 1987, S. 305. 164 Im Einzelnen hierzu, insbesondere zu soziologischen Erkenntnissen: Starck, Bindung des Richters (Fn. 137/D.), VVDStRL 34 (1976), S. 49 ff. 165 Lamprecht, Richterperson (Fn. 160/D.), BJ 2005, S. 14. 166 Dem stehen bestimmte Kollisionsregeln, wie der Grundsatz der Spezialität, der Grundsatz der Normenhierarchie und der Grundsatz der zeitlichen Folge nicht entge-
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Rechtsanwendungsmethoden, nämlich der Auslegung nach dem Wortlaut des Gesetzes, seiner Entstehungsgeschichte, dem System, in dem es steht, sowie nach seinem Sinn und Zweck ist zwar anerkannt und wird tagtäglich angewandt. Es gibt aber keine zwingende Vorgabe dafür, welche bestimmte Methode oder welche Reihenfolge vorzugswürdig ist167 und wie im Falle der Kollision von Auslegungsergebnissen je nach angewandter Methode zu entscheiden ist168. Schließlich existieren jenseits des klassischen Kanons der Auslegungsmethoden und zum Teil als ihre Unterfälle weitere Methoden (verfassungskonforme oder europarechtskonforme Auslegung)169. Selbst bezogen auf die anerkannten Methoden gibt es grundsätzlichen Streit um deren Reichweite170. Hinzu kommt, dass richterliche Rechtserkenntnis jenseits der überkommenen, am klassischen Subsumtionsmodell orientierten Methodenlehre eine Fülle weiterer „professioneller Me-
gen. Natürlich gibt es Forderungen nach einer „verbindlichen juristischen Methodenlehre“ als Sicherungsinstrument der Gewaltenteilung. Methodenfragen seien schließlich Verfassungsfragen: Rüthers, Methodenrealismus (Fn. 135/D.), JZ 2006, S. 53, 60. Allein sie wurde – auch von Rüthers (siehe nachfolgende Fußnote) – nicht konzipiert und dürfte kaum zu leisten sein: hierzu Hassemer, Methodenlehre (Fn. 68/B.), S. 237 ff., wo er die Möglichkeit (begriffs-)logischer Herleitung rechtlicher Schlussfolgerungen aus dem Gesetz überzeugend in Frage stellt. 167 BVerfGE 82, 6 (11); 88, 45 (166); 105, 135 (157): „Unter ihnen hat keine einen unbedingten Vorrang vor einer anderen. Im Strafrecht kommt freilich der grammatikalischen Auslegung eine herausgehobene Bedeutung zu; hier zieht der mögliche Wortsinn einer Vorschrift gerade mit Blick auf Art. 103 Abs. 2 GG der Auslegung eine Grenze, die unübersteigbar ist (BVerfGE 85, 69 (73); 87, 209 (224)).“ Vgl. auch Esser, Vorverständnis und Methodenwahl (Fn. 123/D.), S. 121 ff. Zur Diskussion möglichen Vorrangregeln: Christensen, Paradoxie (Fn. 113/D.), S. 60 ff. und S. 67 ff. Rüthers/Höpfner, Analogieverbot (Fn. 139/D.), JZ 2005, S. 21 ff. fordern, zwischen der Auslegungsmethode oder dem -mittel und dem Auslegungsziel zu unterscheiden, wobei Ziel der Auslegung die Ermittlung des ursprünglichen gesetzgeberischen Zwecks der Norm ist. Vor der Anwendung des Gesetzes ist jedoch zu fragen, ob der so ermittelte Sinn noch gilt und ob – wenn er gilt – nicht der Vertrauensschutz entgegensteht. Eine durchschlagende Lösung des Wahldilemmas scheint damit jedoch auch nicht formuliert zu sein, weil die Ermittlung des ursprünglichen gesetzgeberischen Zwecks nicht selten kaum oder nur sehr schwer möglich ist, hierzu Wenzel, Bindung des Richters (Fn. 136/D.), in: NJW 2008, S. 347. Auch in Rüthers, Gesetzesbindung (Fn. 855/C.), ZRP 2008, S. 57 ff. werden hierzu keine Lösungen angeboten. Die Überlegung, die fehlende Ermittelbarkeit des gesetzgeberischen Willens führe dann eben zu einem „sinnleeren Gebot“, lässt den Rechtsanwender jedenfalls vor dem dennoch geltenden Gebot, entscheiden zu müssen, ratlos zurück. Zur sprachlichen Kritik der subjektiven Auslegungslehre: Christensen, Paradoxie (Fn. 113/D.), S. 35 f. 168 Ausnahmen gelten für die verfassungskonforme Auslegung, bei der diese gewählt werden muss, wenn alle anderen Auslegungen zu einem Verfassungsverstoß führen. Zum gesicherten und ungesicherten Bestand in der Methodenlehre: Wenzel, Bindung des Richters (Fn. 136/D.), NJW 2008, S. 345, 346 ff. 169 Hassemer, Methodenlehre (Fn. 68/B.), S. 244 f. zu verfassungs- und europarechtskonformer sowie folgenorientierter Auslegung. 170 Rüthers/Höpfner, Analogieverbot (Fn. 139/D.), JZ 2005, S. 21 ff. zur objektiven oder subjektiven Ermittlung des Willens des Gesetzgebers bzw. des Gesetzes und seines Verhältnisses zum Wortlaut.
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thoden“ kennt, die gerade der Sicherung der Gesetzesbindung dienen sollen171. Die Wahl jedweder Methode – der klassischen wie der im weiteren Sinne professionellen – entscheidet aber nicht selten über das „zu findende“ Ergebnis. Dennoch ist die Wahl bei bestehendem Methodenpluralismus aus den genannten Gründen unvermeidlich. Damit ist eine „Freiheit“ der Methodenwahl verbunden172. Diese Wahl kann aber nicht beliebig, sondern – will sie verantwortlich sein – nur regelgeleitet getroffen werden. Die richterliche Auslegungspraxis hat insoweit zumindest professionelle Regeln entwickelt173, die eine bestimmte Methodenwahl vertretbar oder kaum vertretbar macht. Insbesondere die erschöpfende und sorgfältige Heranziehung der anerkannten Regeln, die Transparenz sowie rationale und nachvollziehbare Begründung174 eröffnen dabei die kritische Nachprüfbarkeit dieser Wahl. Diese Regeln verweisen auf eine durch professionelle Übung geprägte richterliche Pragmatik und auf eine zu beachtende Dogmatik175, aber auch auf berufsmoralische Haltungen176 bei Rechtsfindung und Darstellung, wie Fleiß, Sorgfalt, Offenheit und Kritikfähigkeit177, kurz auf die ausgeprägte Rechtskultur. Rechtsethisch problematisch ist es daher, wenn die Methodenwahl verborgen vorgenommen und nicht begründet wird178 oder – ohne Berücksichtigung des hermeneutischen Dilemmas jeder Auslegung – als rein „objektiv“ bezeichnet wird. Insoweit besteht die Gefahr, dass vermeintlich objektives methodisches Vorgehen, letztlich subjektive Erwägungen und rechtspoliti171 Einen interessanten neuen Ansatz zur Analyse richterlicher Methode bei der Rechtsprechung, der die überkommene Methodenlehre einschließt, bietet insoweit Strauch, der mit den Modellen der Kohärenz (Widerspruchsfreiheit, Umfassendheit, Stimmigkeit) und Mustererkennung (auch auf neurowissenschaftlicher Grundlage) das professionelle „Erkennen“ des Richters beschreibt: Strauch, Bindung (Fn. 149/D.), KritV 2002, S. 311; ders., Grundgedanken (Fn. 296/B.), ThürVBl. 2003, S. 1; ders., Rechtsprechungstheorie (Fn. 296/B.), S. 335 ff. In diese Richtung: D. Maitra, Alltagspraxis richterlicher Gesetzesbindung und ihre institutionellen Voraussetzungen in: KritV 2009, S. 49 ff., der die professionell limitierte Begründungsmöglichkeit als Form der Gesetzesbindung formuliert. 172 Hassemer, Methodenlehre (Fn. 68/B.), S. 247. 173 Zu den einzelnen professionellen Regeln: Wenzel, Bindung des Richters (Fn. 136/ D.), NJW 2008, S. 347 f. 174 Zur verfassungsrechtlichen Verankerung: Starck, Bindung des Richters (Fn. 137/ D.), VVDStRL 34 (1976), S. 43, 71 ff. 175 Hassemer, Methodenlehre (Fn. 68/B.), S. 253 ff. 176 Zur rechtsethischen Leistung des Gesetzesinterpreten, mit der auch der Gesetzgeber rechnet: Isensee, Vom Ethos des Interpreten (Fn. 118/D.), S. 377 ff. 177 Rüthers spricht in Anknüpfung an Fuller hinsichtlich der regelgeleiteten und einheitlichen Methodik von der Voraussetzung der „inneren Moralität“ des Rechts: Rüthers, Methodenrealismus (Fn. 135/D.), JZ 2006, S. 53. Vgl. auch Strauch, Bindung (Fn. 149/D.), KritV 2002, S. 311 und S. 318, der Fleiß, Präzision und Sorgfalt als wesentliche Haltungen regelgeleiteter Rechtserkenntnis anspricht. 178 Eingehend: S. Seybold/J. Sander/P. Weiß, Richterliche Selbstbindung durch Methodenlehre – eine Frage der Ethik, ARSP 2015, S. 319–331. M. Kriele, Richterrecht und Rechtspolitik, in: ZRP 2008, S. 52.
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sche Absichten des Richters überdeckt bzw. verdeckt werden179. Die nur vom Ergebnis her vorgenommene Wahl der Methode kann so – bewusst eingesetzt – auch zur Machtfrage180 im gewaltengeteilten Staat werden. Die auch in seriösen Medien geäußerte Vorstellung, „Richter beurteilen einen Fall aufgrund außerjuristischer Erwägungen und benutzen dann juristische Argumentation, um dieses Ergebnis als aus dem Gesetz folgend erscheinen zu lassen“ 181, wäre die Axt an der Wurzel der Rechtskultur. Rechtsauslegung führt über die Rechtsanwendung hinaus182 zur Rechtsfortbildung, wenn nicht nur der Sinn der Norm ermittelt, sondern etwa – soweit nicht Art. 103 Abs. 2 GG dagegensteht – im Wege der Analogie zur Wahrung der Gleichbehandlung Gesetzeslücken geschlossen und damit im Wege des Richterrechts neues Recht geschaffen wird183. Dies setzt die Planwidrigkeit der Regelungslücke voraus184, die nachvollziehbar herausgearbeitet werden muss185. Umgekehrt kann der Wortlaut des Gesetzes gemessen am Sinn und Zweck der Norm und gemessen am Gleichbehandlungsgrundsatz zu weit gehen, was zu einer teleologischen Reduktion Anlass geben kann. Der Wandel der gesellschaftlichen Verhältnisse kann zudem eine bisher anerkannte Auslegung eines Gesetzes oder sogar dessen Anwendung infrage stellen. In diesem Bereich kommt es zu besonders sensiblen Konfrontationen zwischen Rechtsprechung und Gesetzgebung186. Denn grundsätzlich wäre es Aufgabe der letzteren, den Wandel in Gesetzesform zu gießen. Es wird insoweit zwar vereinzelt vertreten, dass das Grundgesetz eine richterliche Rechtsfortbildung nicht zulässt187. Allerdings ist angesichts der „be179 Rüthers, Demokratischer Rechtsstaat (Fn. 25/A.) JZ 2002, S. 365; Rüthers grenzt in: Blindflug (Fn. 136/A.), JZ 2008, S. 448 f. – mit den Begriffen „objektiv“ und „subjektiv“ auch im Hinblick auf die jeweils so bezeichnete Auslegungsmethode spielend – die Problematik präzise ein. 180 Rüthers, Demokratischer Rechtsstaat (Fn. 25/A.), JZ 2002, S. 365; ders., Methodenrealismus (Fn. 135/D.), JZ 2006, S. 60; ders., Blindflug (Fn. 136/A.), JZ 2008, S. 447. 181 Klöhn/Oswald, Ist das nun Wahrheit oder Unsinn, FAZ v. 12.11.2013, als Darstellung der Grundannahmen des „legal realism“. 182 Zu den unscharfen Übergängen: Kirchhof, Richterliche Rechtsfindung (Fn. 30/ D.), NJW 1986, S. 2275. 183 Zu den Gründen für die Notwendigkeit einer Rechtsfortbildung: J. Berkemann, Rechtsfortbildung – Aspekte tatsächlichen Richterverhaltens, in: KritV 1988, S. 29, 32 ff. Zu den Methoden der Rechtsfortbildung: Wiedemann, Richterliche Rechtsfortbildung (Fn. 160/D.), NJW 2014, S. 2407, 2409 f. 184 BVerfGE 116, 69 (83). 185 Zu den Maßstäben ihrer Feststellung: Krey, Richterliche Rechtsfortbildung (Fn. 144/D.), JZ 1978, S. 365. 186 Krey, Richterliche Rechtsfortbildung (Fn. 144/D.), JZ 1978, S. 361 ff. 187 Hillgruber meint (Richterliche Rechtsfortbildung [Fn. 157/IV], JZ 1996, S. 118), dass bei strikter Beachtung der Normverwerfungskompetenz des Art. 100 Abs. 1 GG, des Gewaltenteilungsprinzips und den grundrechtlichen Gesetzesvorbehalten für richterliche Rechtsfortbildung kaum mehr Raum mehr besteht.
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schränkten Reaktionsmöglichkeit des Gesetzgebers“ eine Rechtsfortbildung, ja Rechtsschöpfung notwendig188, insbesondere um dem Gleichheitsgrundsatz oder anderen verfassungsrechtlichen Forderungen zum Siege zu verhelfen, ohne allerdings das eigene richterliche Modell an die Stelle des gesetzgeberischen Konzepts zu stellen und so willkürlich zu handeln189. Die gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung kann auf diese Weise zur Schaffung neuer Rechtsinstitute führen190. Verfassungsrechtlich ist dieses Vorgehen grundsätzlich unproblematisch, wenn auch das „Richterrecht“ immer in einem sensiblen und nicht nur rechtstheoretisch umstrittenen, verfassungsrechtlichen Kontext steht191. Dennoch hat das Bundesverfassungsgericht stets betont, dass es zu den „legitimen Aufgaben der Gerichte gehört, das Recht fortzubilden, was auch die Befugnis in sich schließt, rechtsschöpferisch tätig zu werden.“ 192 In der Soraya-Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht grundlegend die Aufgabe und den Maßstab richterlicher Rechtsfortbildung unter den Maßgaben der Verfassung formuliert: „Richterliche Tätigkeit besteht nicht nur im Erkennen und Aussprechen von Entscheidungen des Gesetzgebers. Die Aufgabe der Rechtsprechung kann es insbesondere erfordern, Wertvorstellungen, die der verfassungsmäßigen Rechtsordnung immanent, aber in den Texten der geschriebenen Gesetze nicht oder nur unvollkommen zum Ausdruck gelangt sind, in einem Akt des bewertenden Erkennens, dem auch willenhafte Elemente nicht fehlen, ans Licht zu bringen und in Entscheidungen zu realisieren. Der Richter muss sich dabei von Willkür freihalten; seine Entscheidung muss auf rationaler Argumentation beruhen. Es muss einsichtig gemacht werden können, dass das geschriebene Gesetz seine Funktion, ein Rechtsproblem gerecht zu lösen, nicht erfüllt. Die richterliche Entscheidung schließt dann diese Lücke nach den Maßstäben der praktischen Vernunft und den fundierten allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen der Gemeinschaft.“ 193 Zuvor hat der Bundesgerichtshof sogar von einer „Pflicht zur Rechtsfortbildung“ gesprochen, wenn es die Gerechtigkeit194, insbesondere die Grundrechte195, erfor-
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BVerfGE 98, 375 (394). BVerfGE 128, 193 (211). 190 Vgl. die Beispiele bei A. Bruns, Zivilrechtliche Rechtsschöpfung und Gewaltenteilung, in: JZ 2014, S. 162, 163. 191 Hierzu: R. Christensen, Richterrecht – rechtsstaatlich oder pragmatisch? – Zum Streit um die Sicht des Richterrechts in der strukturierenden Rechtslehre, in: NJW 1989, S. 3194 ff. Bakker, Grenzen der Richtermacht (Fn. 459/C.), S. 194 zeigt die verfahrensmäßigen Voraussetzungen der Rechtsfortbildung durch die Großen Senate auf. 192 BVerfGE 34, 269 (287 f.). Zu Zweifeln an der historischen Herleitung der richterlichen Befugnis zur Rechtsfortbildung: Hillgruber, „Neue Methodik“ Fn. 626/III, JZ 2008, S. 747 ff. Hierbei wird die Rechtsprechung nach 1933 als Ausgangspunkt der gesetzesmissachtenden Rechtsfortbildung markiert. 193 BVerfGE 34, 269 ff. 194 Christensen, Richterrecht (Fn. 191/D.), NJW 1989, S. 3196, weist diesen Ansatz in Gefolge von Müller (Richterrecht, Elemente einer Verfassungstheorie, 1986) mit den 189
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dern196. „Das Gesetz gibt dem Richter die Wertung vor. Je mehr das Gesetz zurücktritt, desto mehr muss der Richter selbst werten.“ 197 Das Bundesverfassungsgericht hat früh betont: „Diese Aufgabe und Befugnis zu ,schöpferischer Rechtsfindung‘ ist dem Richter – jedenfalls unter der Geltung des Grundgesetzes – im Grundsatz nie bestritten worden (. . .). Die obersten Gerichtshöfe haben sie von Anfang an in Anspruch genommen (. . .). Das Bundesverfassungsgericht hat sie stets anerkannt (. . .). Den Großen Senaten der obersten Gerichtshöfe des Bundes hat der Gesetzgeber selbst die Aufgabe der Fortbildung des Rechts ausdrücklich zugewiesen (s. z. B. § 137 GVG). In manchen Rechtsgebieten, so im Arbeitsrecht, hat sie infolge des Zurückbleibens der Gesetzgebung hinter dem Fluss der sozialen Entwicklung besonderes Gewicht erlangt. Fraglich können nur die Grenzen sein, die einer solchen schöpferischen Rechtsfindung mit Rücksicht auf den aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit unverzichtbaren Grundsatz der Gesetzesbindung der Rechtsprechung gezogen werden müssen. Sie lassen sich nicht in einer Formel erfassen, die für alle Rechtsgebiete und für alle von ihnen geschaffenen oder beherrschten Rechtsverhältnisse gleichermaßen gälte.“ 198 ee) Grenzen der Rechtsfortbildung Diese Skizze zeigt, dass es rechtliche Maßstäbe dafür geben muss und gibt, die die Grenzen der Rechtsauslegung und -fortbildung199 bestimmen200. Insbesondere durch die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung sind diese Grenzen grundsätzlich abgesteckt: „Art. 20 Abs. 2 GG verleiht dem Grundsatz der Gewaltenteilung Ausdruck und bindet dadurch die Rechtsprechung an Gesetz und Recht. Damit wäre es unverträglich, wenn sich die Gerichte aus der Rolle des Normanwenders in die einer normsetzenden Instanz begeben, also objektiv betrachtet sich der Bindung an Recht und Gesetz entziehen würden.“ 201 Allerdings zeigt die Praxis, dass sie nicht selten überschritten werden. Argumenten der strukturierenden Rechtslehre zurück und verlangt stattdessen die methodisch saubere Herleitung der streitentscheidenden Rechtsnormen. 195 Vgl. etwa BGHZ 26, 349 zum Ersatz des immateriellen Schadens bei Verletzung von Persönlichkeitsrechten (Herrenreiterfall); andere Fälle sind etwa die richterrechtliche Begründung der PVV, CIC, der Verkehrssicherungspflichten oder das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. 196 BGHZ 3, 309 (315 f.); vgl. auch Koch, Tätigkeit und Selbstverständnis (Fn. 714/ C.), NJW 1989, S. 337 und zur Methode: S. 338 ff. 197 M. L. Hilger, Überlegungen zum Richterrecht, in: Festschrift für K. Larenz, München 1979, S. 114. 198 BVerfGE 34, 269 (286 ff.). Zum „Altern“ von Gesetzen: Wenzel, Bindung des Richters (Fn. 136/D.), NJW 2008, S. 347. 199 Hierzu: B. Pieroth/Th. Aubel, Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu den Grenzen richterlicher Entscheidungsfindung, in: JZ 2003, S. 504 f. 200 So Hirsch, Richterstaat (Fn. 5/A.), JZ 2007, S. 854. 201 Vgl. BVerfGE 87, 273 (280).
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Allgemein formuliert, dürfen sich Richter nicht in die Rolle des Gesetzgebers begeben202 und den eigenen Willen an den des Gesetzgebers stellen. Das Bundesverfassungsgericht hat insoweit klargestellt, dass „eine richterliche Rechtsfortbildung, die den klaren Wortlaut des Gesetzes hintanstellt, ihren Widerhall nicht im Gesetz findet und vom Gesetzgeber nicht ausdrücklich oder stillschweigend gebilligt wird, unzulässig in die Kompetenzen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers eingreift.“ 203 Dies geschieht nicht nur dann, wenn der Richter eine Auslegung contra legem wählt204, sondern auch – und hier sind die Grenzen der Rechtsbeugung berührt – wenn er das Gesetz nicht anwendet, weil er es vermeintlich oder tatsächlich für „unpraktikabel“ hält205. Dies kommt auch in der deutschen Justiz vor: Das Bundesverfassungsgericht hat etwa in seinem Urteil vom 19.03.2013 zur Zulässigkeit von Verständigungen im Strafverfahren206 deutlich gemacht, dass das im Grundgesetz verankerte Schuldprinzip und die mit ihm verbundene Pflicht zur Erforschung der materiellen Wahrheit sowie der Grundsatz des fairen, rechtsstaatlichen Verfahrens, die Unschuldsvermutung und die Neutralitätspflicht des Gerichts es ausschließen, die Handhabung der Wahrheitserforschung, die rechtliche Subsumtion und die Grundsätze der Strafzumessung zur freien Disposition der Verfahrensbeteiligten und des Gerichts zu stellen. Gericht und Staatsanwaltschaft dürfen sich nicht auf einen „Handel mit der Gerechtigkeit“ einlassen. Dass dies in der strafgerichtlichen Praxis unter Außerachtlassung der strafprozessualen Vorgaben des Gesetzgebers in der Vergangenheit geschehen ist, hat es durch eine empirische Untersuchung zur Praxis der Verständigung im Strafverfahren festgestellt: Auf die Frage, in wieviel Prozent der Fälle nach Einschätzung der befragten Richter, Staatsanwälte und Anwälte in der gerichtlichen Praxis die gesetzlichen Vorschriften zur Verständigung verletzt würde, gaben etwas mehr als die Hälfte der Richter an, dass dies in mehr als der Hälfte aller Verfahren mit Absprachen der Fall sein dürfte: „So gaben 58,9% der befragten Richter an, mehr als die Hälfte ihrer Absprachen „informell“, also ohne Anwendung des § 257c StPO durchgeführt zu haben, 26,7% gaben an, immer so vorgegangen zu sein. 33% der befragten Richter gaben an, außerhalb der Hauptverhandlung Absprachen geführt zu haben, ohne dass dies in der Hauptverhandlung offengelegt wurde, während 41,8% der Staatsanwälte und 74,7% der Vertei202
BVerfGE 96, 375; 98, 375 (394). BVerfGE 118, 212 (243). 204 Zur Abgrenzung der Auslegung secundum, praeter und contra legem: Krey, Richterliche Rechtsfortbildung (Fn. 144/D.), JZ 1978, S. 361 ff., insbesondere zu deren Grenzen: S. 465 ff. Er beschreibt auch die Fälle der Gesetzeskorrektur oder bewussten Nichtanwendung des Gesetzes sowie ihre Rechtfertigungen. Hillgruber, Richterliche Rechtsfortbildung (Fn. 157/D.), JZ 1996, S. 119 f. 205 Vgl. zu anderen Formen des Gesetzesungehorsams Rüthers, Rechtstheorie (Fn. 14/B.), S. 520 ff., 530 ff. 206 BVerfGE 133, 168 ff.; hierzu: F. Meyer, Die faktische Kraft des Normativen – das BVerfG und die Verständigung im Strafverfahren, in: NJW 2013, S. 1850. 203
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diger angaben, dies schon erlebt zu haben. Die Offenlegungspflicht wird von einem nicht unbeachtlichen Teil der Richter als überflüssiger Formalismus empfunden. Die Regelung zum sogenannten Negativattest (§ 273 Abs. 1a Satz 3 StPO) bleibt in der Praxis oft unbeachtet. 54,4% der befragten Richter gaben an, eine nicht erfolgte Verständigung für im Protokoll nicht erwähnenswert zu halten. 46,7% der befragten Richter weisen entgegen § 267 Abs. 3 Satz 5 StPO nicht in den Urteilsgründen auf eine dem Urteil vorausgegangene Verständigung hin.“ 207 Das Bundesverfassungsgericht hat eine Reihe von Formeln entwickelt, die die Überschreitung der Grenzen der Gesetzesbindung bestimmen: Im Wege der Auslegung darf danach einem „nach Wortlaut und Sinn eindeutigen Gesetz nicht ein entgegengesetzter Sinn verliehen werden.“ 208 „Im Wege der Auslegung darf es (. . .) nicht das gesetzgeberische Ziel der Norm selbst in einem wesentlichen Punkt verfehlen oder verfälschen, an die Stelle der Gesetzesvorschrift inhaltlich eine andere setzen oder den Regelungsinhalt erstmals schaffen.“ 209 Damit ist das Verbot, sich an die Stelle des Gesetzgebers zu stellen210, klar ausgedrückt. „Setzt sich die Auslegung (. . .) in krassen Widerspruch zu allen zur Anwendung gebrachten Normen und werden damit Ansprüche begründet, die keinerlei Grundlage im geltenden Recht finden, so begeben sich die Gerichte aus der Rolle des Normanwenders in die einer Norm setzenden Instanz, entziehen sich also der Bindung an Recht und Gesetz im Sinne von Art. 20 Abs. 3 GG.“ 211 „Die Grenzen der Auslegung von Verfassungsrecht liegen auch für eine durch Verfassungsänderung geschaffene Norm dort, wo einer nach Wortlaut und Sinn eindeutigen Vorschrift ein entgegengesetzter Sinn verliehen, der normative Gehalt der auszulegenden Norm grundlegend neu bestimmt oder das normative Ziel in einem wesentlichen Punkt verfehlt würde.“ 212 Dabei können nicht nur für die Auslegungsergebnisse, sondern auch für die Methode Grenzen bestehen. „Bei besonders intensiven Eingriffen in ein von der Verfassung geschütztes Recht können schon einzelne Auslegungsfehler sich verfassungsrechtlich als relevant erweisen (BVerfGE 54, 129 (136)) oder ein methodisch falscher Weg zu beanstanden sein, auch wenn das Ergebnis selbst mit der Verfassung in Einklang steht (BVerfGE 49, 304 (314, 320)).“ 213
207 BVerfGE 133, 168 (277 f.); vgl. die vor dieser Entscheidung veröffentlichte scharfe Kritik am Gesetz selbst: Hettinger, Die Absprache im Strafverfahren als rechtsstaatliches Problem, in: JZ 2011, S. 292. 208 BVerfGE 54, 277 (299). 209 BVerfGE 48, 40 (47); 54, 277 (299). 210 BVerfGE 78, 20 ff. 211 BVerfGE 96, 375 (394 f.). 212 BVerfGE 109, 279; vgl. zur Beachtung der Gesetzesbindung des BVerfG die pointierten und scharfen Feststellungen von V. Rieble, Richterliche Gesetzesbindung und BVerfG, in: NJW 2011, S. 819. 213 BVerfGE 59, 330 ff.
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Ein Mittel, die Gesetzesbindung zu wahren, kann in der Achtung der Kontinuität der überkommenen Rechtsprechung liegen, die mit der „ständigen Rechtsprechung“ 214 und der von ihr entwickelten Dogmatik zu einem Element der Rechtssicherheit werden kann. Ein Abweichen von ihr ist zwar zulässig, methodisch aber nur mit „guten Gründen“ vertretbar215. Damit öffnet sich die Rechtsfortbildung gebremst und rational für künftige Entwicklungen, bei deren Feststellung unter Umständen sogar eine „Pflicht“ abzuweichen216 bestehen kann. Dass bei einer Änderung gefestigten Richterrechts aber auch erhebliche Schwierigkeiten hinsichtlich der Rechtssicherheit auftreten können217, wenn keine wesentlichen Änderungen der Verhältnisse feststellbar sind, hat auch in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung, genauer bei der Überprüfung der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Abkehr vom Verbot der „Rügeverkümmerung“ im Strafprozess, seinen Niederschlag gefunden. Das Bundesverfassungsgericht hat dabei unter Widerspruch von drei Richtern festgestellt: „Es gehört zu den anerkannten Aufgaben der Rechtsprechung, im Rahmen der Gesetze von ihr als rechtsgrundsätzlich aufgestellte Rechtssätze zu überprüfen und sie, wenn erforderlich, weiter zu entwickeln. Im Einzelfall kann dies auch dazu führen, dass ein früher als richtig angesehenes Normverständnis aufgegeben und abweichend entschieden wird. Der Umstand, dass ein im Wege richterlicher Rechtsfindung gewonnener Rechtssatz über einen langen Zeitraum Beachtung fand, mag in die Entscheidung einfließen, ob es gerechtfertigt ist, einen abweichenden Rechtssatz aufzustellen, er verleiht indes dem bisherigen Rechtssatz keine höhere Wertigkeit oder gar eine verfassungsrechtlich erhebliche Bestandsgarantie. Die verfassungsrechtlichen Maßstäbe, an denen Rechtsprechungsänderungen zu messen sind, unterscheiden sich, abgesehen von dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes (. . .), nicht von denjenigen, die gegenüber dem erstmaligen Aufstellen eines Rechtssatzes durch ein Gericht angezeigt sind.“ „Höchstrichterliche Rechtsprechung ist kein Gesetzesrecht und erzeugt keine damit vergleichbare Rechtsbindung. Eine in der Rechtsprechung bislang vertretene Gesetzesauslegung aufzugeben, verstößt nicht als solches gegen Art. 20 Abs. 3 GG. Die über den Einzelfall hinausreichende Geltung fachgerichtlicher Gesetzesauslegung beruht allein auf der Überzeugungskraft ihrer Gründe sowie der Autorität und den Kompetenzen des Gerichts. Es bedarf nicht des Nachweises wesentlicher Änderungen der Verhältnisse oder 214 Vgl. auch Hassemer, Methodenlehre (Fn. 68/B.), S. 251; Wassermann, Macht (Fn. 20/A.), DRiZ 1986, S. 203. 215 BGH, U. v. 04.06.2009 – RiZ (R) 5/08 –, zit. nach Juris: die Beachtung ist eine Frage der Rechtsanwendungstechnik. 216 Kissel, Ethik (Fn. 5/A.), DRiZ 1991, S. 273. 217 Grundlegend: L. Kähler, Strukturen und Methoden der Rechtssprechungsänderung, 2. Aufl., 2004, der auf der Grundlage einer klaren Abgrenzung zu anderen Phänomenen, eine Typologie, Analyse und Rechtfertigung der Rechtsprechungsänderung vorlegt. Dabei geht er auch auf rechtsethische Bindungen an die bisherige Rechtsprechung ein (S. 375 ff.).
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der allgemeinen Anschauungen, damit ein Gericht ohne Verstoß gegen Art. 20 Abs. 3 GG von seiner früheren Rechtsprechung abweichen kann. Die Änderung einer ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung ist auch unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes grundsätzlich dann unbedenklich, wenn sie hinreichend begründet ist und sich im Rahmen einer vorhersehbaren Entwicklung hält (. . .). Soweit durch gefestigte Rechtsprechung ein Vertrauenstatbestand begründet wurde, kann diesem erforderlichenfalls durch Bestimmungen zur zeitlichen Anwendbarkeit oder Billigkeitserwägungen im Einzelfall Rechnung getragen werden.“ 218 Die abweichende Meinung von drei Richtern betonte hingegen, dass es bei der Überprüfung der richterlichen Fortentwicklung des Obersatzes „um die kompetenzrechtliche Abgrenzung zwischen der ersten und der dritten Gewalt, mithin um eine originär verfassungsrechtliche Frage“ gehe. „Hier muss das Bundesverfassungsgericht entscheiden, ob das Fachgericht einen hinreichend klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers hintangestellt und durch eine eigene, für vorzugswürdig erachtete Regelungskonzeption ersetzt hat und sich dadurch in verfassungswidriger Weise von seiner Gesetzesbindung löst.“ „Hat der Gesetzgeber eine eindeutige Entscheidung getroffen, so darf der Richter diese nicht aufgrund eigener rechtspolitischer Vorstellungen verändern und durch eine judikative Lösung ersetzen, die so im Parlament nicht erreichbar gewesen wäre (. . .). Ob der Gesetzgeber eine solche eindeutige Entscheidung getroffen hat, kann nur durch Auslegung nach den anerkannten Methoden ermittelt werden.“ Die dissentierenden Richter nahmen im konkreten Fall eine eindeutige gesetzliche Regelung an, gegen die der Bundesgerichtshof verstoßen habe. ff) Gesetzesbindung und richterliche Ethik Damit lässt sich feststellen: Die Gesetzesbindung ist einerseits eine zentrale rechtliche Forderung an den Richter im gewaltengeteilten Staat. Sie ist andererseits strukturell anfällig, weil ihre Reichweite in die Hände unabhängiger Entscheider gelegt ist. Sie ist inhaltlich anfällig, weil die sprachliche Determinierung des Rechtsergebnisses durch das Gesetz oft nicht gelingt. Die definierten rechtlichen Grenzen unzulässiger Rechtsauslegung und -fortbildung sind fließend und entbehren zwangsläufig der letzten Klarheit. Auch ist das Verfahren zur Ermittlung des entscheidungserheblichen Sachverhalts kommunikativ wie psychologisch störungsanfällig. Fest steht auch, dass eine (professionelle) Bindung des Richters an eine von der höchstrichterlichen Rechtsprechung und -lehre entwi-
218 BVerfGE 122, 248 (268) und (277 f.) und (282 ff.) zu den nachfolgend dargestellten abweichenden Meinungen von Voßkuhle, Osterloh und Di Fabio: vgl. die Kritik an der Mehrheitsentscheidung von Ch. Möllers, Nachvollzug ohne Maßstabsbildung: richterliche Rechtsfortbildung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, JZ 2009, S. 668 ff.; vgl. auch BVerfG (K), B. v. 26.09.2011 – 2 BvR 2216/06 u. a. – NJW 2012, S. 669; B. v. 24.02.2015 – 1 BvR 472/14 – NJW 2015, S. 1506.
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ckelte Dogmatik brüchig ist. Schließlich bestehen Zweifel daran, ob die persönliche wie berufliche Sozialisation heute überhaupt noch eine tiefe Internalisierung eines „Gehorsams gegenüber dem formellen Programm“ begründet219. Damit werden – weil die Rechtsordnung eine andere Lösung des Bindungsdogmas nicht kennt – Fragen der Sachverhaltsermittlung, Auslegung, Lückenfüllung und Gesetzeskorrektur jenseits der methodischen Regelbildung zum Problem der richterlichen Ethik220, weil sie letztlich einer präzisen rechtlichen Steuerung nicht unterliegen. Gerade bei der Rechtsfortbildung wird das ethische Verhalten des Richters in besonderer Weise gefordert221. Es ist daher zu Recht gesagt worden, dass die Bindung des Richters an das Gesetz „zu den elementarsten Inhalten nicht nur des Richteramtes, sondern auch der richterlichen Amtsethik gehört.“ Herzog schreibt insoweit weiter: „Man wird nicht fehlgehen, wenn man die Gesetzestreue der meisten Richter gerade auf diesen selbstverständlichen ethischen Anruf ihres Amtes und ungleich weniger auf die sonst drohenden haftungs- und strafrechtlichen Sanktionen zurückführt, die durch Gesetz und Rechtsprechung ja ohnehin weitgehende entschärft sind.“ 222 Der Richter hat mithin bei seinem professionellen Handeln neben rechtlichen, auch berufsmoralische Maßstäbe wie Bindungswille, Sorgfalt, Respekt und Transparenz zu beachten. So hat er zur Vermeidung leichtfertiger Missachtung des Gesetzes die Wertungen des Gesetzgebers mit großer Sorgfalt zu ermitteln, die erkannten Wertungen zu respektieren, erkannte Gesetzeslücken präzise zu beschreiben und behutsam nach den anerkannten methodischen Regeln unter Berücksichtigung des Wandels der Anschauungen und der rechtsethischen Prinzipien223 zu füllen, insbesondere die erkannten gesetzgeberischen Wertungen fortzuschreiben, und dies alles in seiner Argumentation und Begründung transparent zu machen224. Er hat damit uneingeschränkte persönliche Verantwortung für die „Professionalität“ dieses Prozesses225. Statt Machtanmaßung zu betreiben, hat er den Verfassungsauftrag „Gesetzesbindung“ zu erfüllen. Denn Rechtssicherheit und Verlässlichkeit des Rechts und seine gleichmäßige, willkürfreie Anwendung als „dämpfendes“ Gerechtig219 Zur Anfang der 70er Jahre in diesem Sinne noch vertretenen Überzeugung: Lautmann, Justiz (Fn. 918/C.), S. 87. 220 S. Seybold/J. Sander/P. Weiß: Richterliche Selbstbindung (Fn. 178/D.), ARSP 2015, S. 322 ff.; Kissel, Ethik (Fn. 5/A.), DRiZ 1991, S. 269. 221 Kissel, Ethik (Fn. 5/A.), DRiZ 1991, S. 270; Kissel, Anspruch (Fn. 163/D.), DRiZ 1987, S. 304 f. 222 Herzog, Gesetz und Richter (Fn. 116/D.), S. 23. 223 Zu den hermeneutischen Problemen, die eine subjektfreie Interpretation und Anwendung des Rechts nahezu ausschließen: Fuchs, Hermeneutik (Fn. 138/B.), ARSP 1984, S. 9 ff. 224 Christensen, Paradoxie (Fn. 113/D.), S. 84 ff.; Wenzel, Bindung des Richters (Fn. 136/D.), NJW 2008, S. 347 f. 225 Christensen, Paradoxie (Fn. 113/D.), S. 9 ff. und S. 93, der Gesetzesbindung letztlich mit dieser Verantwortung unmittelbar koppelt.
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keitsprinzip verlangen grundsätzlich Entsagung des Richters von voluntativen Attitüden226. Da die subjektiv-voluntative Seite richterlichen Handelns andererseits wegen der Art und Weise jeder Rechtsfindung unvermeidbar ist und das Bindungsdogma zusammen mit dem in ihm vorausgesetzten Rationalitätsdogma insoweit nicht selten auf schwachen Füßen steht227, verlangt der selbstkritische Umgang des Richters mit sich selbst, dass er die berufsmoralische Tugend der inneren Unabhängigkeit wirksam stärkt228. Jedenfalls muss das „gewollte“ Recht sich durch eine sorgfältige, offene und nachvollziehbare Begründung dem rechtlichen Diskurs aussetzen229. In verfassungsrechtlichen Fragen, auch bei der Rechtsprechung der öffentlich-rechtlichen Fachgerichtsbarkeit, ist richterliche Selbstbeschränkung nach dem Grundsatz des judical self-restraint gefordert, der darauf abzielt, „den von der Verfassung für die anderen Verfassungsorgane garantierten Raum freier politischer Gestaltung offenzuhalten.“ 230 Er kann insbesondere durch die Zurückhaltung hinsichtlich des Prüfungsumfangs und der Anerkennung begrenzt justiziabler Beurteilungs- und Ermessensspielräume der Exekutive umgesetzt werden. Der „Wille zur Gesetzesanwendung“ oder – in den Worten der Rechtsprechungstheorie231 – der Wille zur Herstellung von Kohärenz ist auch eine zentrale berufsmoralische Haltung. Ein Beiseiteschieben eines Gesetzes zur Erzielung eines „vernünftigeren“, „gerechteren“ oder „angemesseneren“ Ergebnisses ist grundsätzlich unzulässig. Die Fälle, in denen das Gesetz unangewendet bleiben darf, sind methodisch durch (wenige)232 anerkannte professionelle Regeln bzw. klare Verfahren begrenzt und fordern vom Richter einen behutsamen Entscheidungsprozess. Selbstkritischer Maßstab des Revisionsrichters bei der Rechtsfortbildung muss daher sein, ob er diese Aufgabe als „Last“ empfindet und in diesem Geiste vornimmt oder mit „Lust“ an der Gestaltungsmacht entfaltet233.
226
Kissel, Ethik (Fn. 5/A.), DRiZ 1991, S. 271 f. Lamprecht, Richterperson (Fn. 160/D.), BJ 2005, S. 14. 228 A. Kaufmann, in: NJW 1988, S. 2582: „Die Unabhängigkeit des Richters wächst in dem Maße, wie er sich seiner Abhängigkeiten bewusst ist.“ 229 S. Seybold/J. Sander/P. Weiß: Richterliche Selbstbindung (Fn. 178/D.), ARSP 2015, S. 322 ff. Hierzu auch: Lamprecht, Richterperson (Fn. 160/D.), BJ 2005, S. 14 und S. 16 f. 230 BVerfGE 36, 1 (14 f.). Bei der verfassungsrechtlichen Prüfung außenpolitischen Handelns ist insoweit auch die Political-question-Doctrine zu beachten: BVerfGE 68, 1 (97); 77, 170. 231 Strauch, Rechtsprechungstheorie (Fn. 296/B.), S. 500 ff. Dies setzt auch „Fleiß“ und „Sorgfalt“ voraus: Strauch, Bindung (Fn. 149/D.), KritV 2002, S. 311. 232 Hierzu Krey, Richterliche Rechtsfortbildung (Fn. 144/D.), JZ 1978, S. 467: nur bei Wertungswidersprüchen, verfassungskonformer Auslegung und klarem Regelungsplan. 233 Rüthers, Blindflug (Fn. 136/A.), JZ 2008, S.447; ebenso: G. Hirsch, Weder Diener des Gesetzes noch Komponist, in: ZRP 2009, S. 253. 227
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Allerdings kann die Gesetzesbindung, insbesondere die Bindung an Grundund Menschenrechte (Art. 1 Abs. 3 GG), den Richter umgekehrt ethisch herausfordern und ihn zum Widerlager gegen rechtliche Machbarkeitsideologien oder gegen die Verfügbarkeit des Rechts durch willkürlichen, bloß technischen oder nihilistischen Zugriff auf das Recht234 machen. Weil das Grundgesetz den Richter eben nicht als „Subsumtionsautomaten“ oder „Justizbeamten“, sondern als Vertreter des Gerechtigkeitsgedankens im konkreten Fall konzipiert hat, wird die Gesetzesbindung auch zur Chance, dass die Rechtsprechung an einer Humanisierung staatlichen Handelns mitwirkt, wenn denn das gesetzte Recht es zulässt. Deshalb ist richterliche Zurückhaltung – als berufsmoralische Haltung – dort nicht gefragt, wo die Grundrechtsverwirklichung bedroht ist. Die Rechtsprechung hat in Umsetzung dieser Forderungen früher bestehende Spielräume der Exekutive aus Gründen der Missbrauchsanfälligkeit eingeschränkt. Als Beispiele mögen das Prüfungsrecht, das Hochschulzugangsrecht oder der beamtenrechtliche Konkurrentenstreit dienen. Aber auch bei einer Erosion gesellschaftlich-humanitärer Standards kann Unabhängigkeit und Gesetzesbindung zum „persönlichen moralischen Anspruch“ an den Richter werden235. Bei aller methodengerechten und dogmatisch einwandfreien Herleitung des rechtlichen Ergebnisses, die beide als Ausweis der Gesetzesbindung gelten, kann nämlich auch ein „SichVerschanzen“ hinter dem Gesetz berufsmoralisch problematisch sein. So hat der Richter jederzeit die volle Verantwortung für seinen Spruch zu übernehmen, was heißt, dass ein rechtlich präzises, aber offenkundig unbilliges oder weltfremdes Urteil vor seinem Ausspruch auf den Prüfstand der Lebenstauglichkeit gestellt werden muss236. Wesentliche berufsmoralische Haltung ist die Akzeptanz des Phänomens, dass trotz rationaler Methodenlehre Rechtsauslegung und -anwendung von richterlicher Hermeneutik237 und damit von einer Fülle von Erkenntnis- und Wertungsproblemen geprägt ist (Vorverständnis des Richters238; Regeln der Logik, Linguistik, Semiotik und Topik; die Zeitbedingtheit des Verstehens; schöpferische Qualität jeder Wertung; voluntative Elemente bei der Tatsachenermittlung und
234 Marcic, Gesetzesstaat (Fn. 26/A.), S. 244 ff., S. 257: Der Richter als Verkörperung der Idee des Maßes und Bollwerk gegen Willkür. 235 Strauch, Bindung (Fn. 149/D.), KritV 2002, S. 333. 236 Vgl. zu dieser Problematik Herzog, Gesetz und Richter (Fn. 116/D.), S. 24 f. 237 Hierzu und zum Folgenden grundlegend Esser, Vorverständnis und Methodenwahl (Fn. 123/D.), S. 7 ff., 19 f. 238 Zur Herleitung richterlicher Hermeneutik: Esser, Vorverständnis und Methodenwahl (Fn. 123/D.), S. 133 ff. A. Kaufmann, Richterpersönlichkeit und richterliche Unabhängigkeit, in: J. Baumann/K. Tiedemann, Einheit und Vielfalt des Strafrechts, Festschrift für K. Peters, Tübingen, 1974, S. 300 ff. Die besonderen Probleme und Zuspitzungen beim Vorverständnis des Verfassungsrichters beschreibt Steiner, Ersatzgesetzgeber (Fn. 27/A.), NJW 2001, S. 2919, 2923 f.
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Wertung; psychologische Mechanismen beim Richter und im Spruchkörper239). Empirische Studien zeigen sogar das Phänomen auf, dass der Rechtsfall und seine Lösung nicht selten sogar Ergebnis eine Konstruktion des Richters sein kann240, vielleicht sogar sein muss241. Das Wissen um die Grenzen der Methode und damit der Begrenztheit aller Rationalität macht den Blick frei auf die Offenheit des „Rechtsfindungsprozesses“ und damit auf die berufsmoralische Verantwortung des Richters242. Insofern ist die Vorstellung, dass der „Richterethos“ hinter den „normativen Prämissen der Rechtsgewinnung“ als Grundlage der Methodenlehre243 verschwindet, problematisch; denn der Wille zur Methode und damit zur regelgerechten Rechtsanwendung beruht selbst bereits auf einer moralisch zu bewertenden Entscheidung. Das Recht und die Gesetzesbindung selbst eröffnen für den Richter damit ein Feld „berufsmoralischer Bewährung.“ Die berufsmoralische Pflicht zur Gesetzesbindung kann dabei aber nicht (allein) durch individuelle Moral des Richters geprägt sein. Denn „dieser Pflicht kann er nur gerecht werden, wenn er sich bewusst bleibt, dass er in seinem Amt nicht als Einzelner, nicht als Privater entscheidet, sondern als verantwortlicher Vertreter der Gesetzgebungsmacht, als Glied der Sozial- und Kulturgemeinschaft, der er angehört und deren geistige Grundlagen und deren sittliche Anschauungen er sich in eigener, von dem eigenen Selbst absehender Bemühung zu erarbeiten hat.“ 244 Auch wenn die Wortwahl dieses Zitats von den späten 50er Jahre geprägt ist, so wird auch heute vom angehenden und erfahrenen Richter verlangt, dass er die rechtskulturellen Grundlagen seines Amtes nicht nur kennt, sondern in seinem öffentlichen Amt auch verwirklicht. Zusammenfassend und in Beantwortung der oben formulierten Teilfrage lässt sich feststellen, dass die anvertraute Rechtsprechung, die innere Unabhängigkeit und der Grundsatz der nicht vollständig regelgeleiteten Gesetzesbindung für den Richter jenseits des Rechts ein Feld „berufsmoralischer Bewährung“ eröffnen, ja sogar voraussetzen. Es gilt daher: „Das Durchdenken des Problems: Freiheit und Gebundenheit des Richters ist grundlegend für die berufsethische Gestaltung des Richtertums.“ 245 239
Hierzu Berkemann, Entscheidung (Fn. 49/B.), JZ 1971, S. 537. Vgl. die Zusammenfassung der Studie von Schmid/Drosdeck/Koch (Hrsg.), Der Rechtsfall (Fn. 928/C.), S. 225 ff. 241 Kaufmann, Richterpersönlichkeit (Fn. 238/D.), S. 304 ff. 242 Esser, Vorverständnis und Methodenwahl (Fn. 123/D.), S. 118 ff. und S. 199 ff. Dass die heutige Richterschaft sich sowohl ihrer Macht und Verantwortung als auch der subjektiven Sichtweisen und äußerer Einflüsse bewusst ist, zeigt die Untersuchung von Gerhardt/Kepplinger/Geiß, Auf dem Weg zur Wahrheit (Fn. 928/C.), ZRP 2012, S. 213, 216. 243 So aber Somek, Richterethos (Fn. 4/B.), ÖsterrRZ 1985, S. 266. 244 Erdsiek, Freiheit (Fn. 34/D.), DRiZ 1958, S. 189. 245 K. Peters, Strafprozeß – Ein Lehrbuch, 2. Aufl., 1966, S. 101. 240
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D. Elemente einer richterlichen Metaethik
2. Verfassungsrechtliche Grenzen für eine deontologische Richterethik Damit ist die nächste, in der Problemexposition aufgeworfene Frage zu beantworten, nämlich ob es das Verfassungsrecht überhaupt erlaubt, von außen, also heteronom, nichtrechtliche Verhaltensforderungen an den Richter zu stellen246. Die Beantwortung dieser Frage hängt zum einen davon ab, wie konkret diese Forderungen sind, ob also konkrete Pflichten, d.h. Ge- und Verbote für das richterliche Verhalten innerhalb und außerhalb der Rechtsprechungstätigkeit aufgestellt werden, sie also als Richterdeontologie konzipiert sind (a), oder ob sie nur generell als richterliche Haltungen im Zusammenhang mit der richterlichen Berufsausübung im Sinne einer Tugendethik formuliert sind (b). Sehr eng mit der Beantwortung dieser Fragen ist das Problem verbunden, wer und in welcher Form solche berufsmoralische Forderungen stellt oder formuliert: a) Verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer Richterdeontologie? Jenseits des praktischen Bedürfnisses, das anhand der Musterung bereits bestehender rechtlicher Richterpflichten im Weiteren noch aufzuklären sein wird, müssen die rechtlichen Voraussetzungen und Grenzen für eine deontologische richterliche Ethik bestimmt werden. Fraglich ist insbesondere, ob nicht das Rechtsstaats- und Demokratieprinzip und das Institut der richterlichen Unabhängigkeit in Verbindung mit Art. 33 Abs. 5 GG einem ausformulierten Ethikkodex, der Ge- und Verbote mit moralischer Bindungswirkung für den Richter enthält, entgegenstehen. Wäre das zu bejahen, wäre allerdings die Zulässigkeit einer nicht an konkreten berufsmoralischen Ge- und Verboten, sondern an allgemeinen berufsmoralischen Haltungen ausgerichtete Tugendethik noch nicht widerlegt. Die Frage nach der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit einer deontologischen Richterethik zu beantworten, hängt eng mit der Frage zusammen, welcher Instanz die Formulierung eines richterlichen Ethikkodex in verfassungsrechtlich zulässiger Weise übertragen werden könnte. Denkbar wären Repräsentanten jeweils einer der drei staatlichen Gewalten: die Justizverwaltung (Ministerium, Präsidenten), Vertreter der Richter selbst (die Richterverbände, ein – nur aus Richtern oder auch aus justiznahen Berufsgruppen zusammengesetzter – Ethikrat oder ein – künftig im Rahmen der Verwirklichung der richterlichen Selbstverwaltung zu schaffender – oberster Richterrat) oder der Gesetzgeber selbst.
246 Wieacker, Rechtsprechung (Fn. 139/B.), JZ 1961, S. 337, 341, sieht gerade in der Entwicklung des Unabhängigkeits- und des Bindungspostulats Ende des 18. Jahrhunderts den maßgeblichen Grund, warum eine gesetzlich vorgegebene richterliche Standesethik zur Vermeidung von Bevormundung und Maßregelung des Richters unterblieb und unterbleiben sollte.
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aa) Ein richterlicher Verhaltenskodex durch die Justizverwaltung? Ein exekutiver Verhaltenskodex, also etwa ein vom jeweils für die Justiz zuständigen Ministerium für die Richter des jeweiligen Landes oder des Bundes bzw. vom jeweiligen Chefpräsidenten für die jeweilige Gerichtsbarkeit erstellter Pflichtenkodex soll naturgemäß Regeln für richterliches Verhalten innerhalb und außerhalb der Rechtsprechungstätigkeit aufstellen. Soweit die Rechtsprechungstätigkeit betroffen ist, ist damit jedoch unmittelbar die richterliche Unabhängigkeit nicht nur berührt, sondern wegen des jedenfalls mittelbaren Weisungscharakters auch von nichtrechtlichen Ge- und Verboten verletzt. Die richterliche Unabhängigkeit ist dabei als hergebrachter Grundsatz des richterlichen Amtsrechts durch Art. 33 Abs. 5 GG als grundrechtsgleiches Recht verfassungsrechtlich und über § 26 DRiG dienstrechtlich wehrfähig. Überdies unterliegen Ausgestaltungen der richterlichen Unabhängigkeit, soweit sie überhaupt einer gesetzlichen Regelung zugänglich sind, bereits über Art. 33 Abs. 5 GG dem Gesetzesvorbehalt, ja dem Parlamentsvorbehalt. Richterliches Verhalten ist nämlich, soweit es sich auf die Verfahrensbeteiligten auswirkt, staatliches Handeln; dessen normative Steuerung unterliegt dem parlamentarischen Gesetzgeber mit den Mitteln des Rechts (Parlamentsvorbehalt). Deshalb verstieße etwa der Versuch der Justizverwaltung, ohne gesetzliche Grundlage einen richterdeontologischen Kodex einzuführen, gegen die zuvor aufgeführten Grundsätze und Institute. bb) Ein richterlicher Verhaltenskodex durch richterliche Gremien? Ein Verhaltenskodex, der im Wege richterlicher Selbstverwaltung durch Berufsverbände oder richterliche Ethikkommissionen erstellt würde, würde demselben verfassungsrechtlichen Verdikt unterliegen. Denn zum einen besteht die richterliche Unabhängigkeit auch gegenüber den richterlichen Kollegen. Es ist daher auch in diesem Verhältnis unzulässig, wenn auf sie und ihr Verhalten in gesetzlich nicht vorgesehener Weise Einfluss genommen würde. Der in der Formulierung von richterethisch fundierten Ge- und Verboten begründete berufsmoralische Zwang könnte aber gerade das auslösen. Denn auch der „bloß“ moralischen, d.h. nichtrechtlichen Bindungswirkung eines Ethikkodex steht das in der dienstgerichtlichen Rechtsprechung zum Schutz und zur Ausgestaltung der richterlichen Unabhängigkeit entwickelte Verbot der „psychischen Einflussnahme“ 247 auf die richterliche Entscheidungsfreiheit entgegen; dies würde insbesondere dann gelten, wenn damit ein – wie auch immer gearteter – Sanktionsmechanismus verbunden wäre. 247 Unzulässig ist nach der ständigen richterdienstrechtlichen Rechtsprechung jede psychische Einflussnahme, wenn die in ihr enthaltene Kritik den Richter veranlassen könnte, in Zukunft eine andere Verfahrens- oder Sachentscheidung als ohne diese Kritik zu treffen (vgl. etwa BGH, NVwZ-RR 2015, S. 826; NJW-RR 2003, S. 492; NJW 2002, S. 359; DRiZ 1998, S. 20).
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Dem könnte auch nicht auf dem Wege eines gesetzlichen Konkretisierungsauftrags etwa an ein – von Richtern – gewähltes Gremium (Ethikkommission) entgangen werden. Die von diesem Gremium geschaffenen und als verbindlich formulierten „Standesrichtlinien“ griffen – wie oben festgestellt – zwar nicht als unmittelbar geltendes Dienstrecht, aber als auf die rechtlich garantierte Unabhängigkeit „mental-psychisch“ einwirkende, kodifizierte Verhaltenserwartung in rechtlich geschützte Positionen des Richters ein. Ein richterrechtlich fundierter Verhaltenskodex findet zudem seine verfassungsrechtlichen Grenzen in dem Umstand, dass ein über die bestehenden dienstrechtlichen Verpflichtungen hinausgehendes enges Pflichtennetz die verfassungsgerichtliche Grundentscheidung der richterlichen Unabhängigkeit in unverhältnismäßiger Weise beschränken würde. Denn diese Unabhängigkeit setzt wesensmäßig eine vom Richter selbst zu verantwortende Freiheit voraus, die bei einer Fesselung durch heteronom vorgegebene und detaillierte Verhaltenspflichten beseitigt bzw. stark beschränkt wäre. Selbst dann, wenn von einer Ethikkommission im Auftrag des Gesetzgebers Standesüberzeugungen oder überwiegend geteilte berufsmoralische Ge- und Verbote gesammelt und in einem Kodex nur „festgestellt“ würden, bestünden rechtlich erhebliche Bedenken. Denn es ist naheliegend und etwa in Kanada feststellbar, dass eine solche Sammlung im Rahmen von auslegungsbedürftigen disziplinarfähigen Pflichten (Dienst- und Treueverhältnis; Mäßigungsgebot; Pflicht, sich unabhängig zu halten) rechtliche Wirkungen entfalten könnte. In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist dieses Problem der rechtlichen Wirkung von nichtrechtlichen und von einem beruflichen Selbstverwaltungsorgan nur festgestellten Verhaltenskodex anhand der früheren Standesrichtlinien der Rechtsanwälte behandelt worden248. Nach dieser Rechtsprechung können berufsmoralische Regeln rechtliche Konsequenzen schon dann haben, wenn die Regeln zur Konkretisierung gesetzlicher Generalklauseln herangezogen würden (etwa das anwaltliche Standesrecht bei ehrengerichtlichen Maßnahmen). Dies ist in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung im Hinblick auf eine hinreichende gesetzliche Grundlage zunächst zwar gebilligt worden249: „Unter Anknüpfung an die in Schrifttum und Judikatur vorherrschende Ansicht wurden die Richtlinien als eine wesentliche Erkenntnisquelle dafür angesehen, was im Einzelfall nach der Auffassung angesehener und erfahrener Standesgenossen der Meinung aller anständig und gerecht denkenden Anwälte und der Würde des Standes entspreche. Sie sollten Auskunft darüber geben, wonach der Anwalt sich in Ausübung seines Berufes nach Ansicht seiner Standesgenossen zu richten habe. Insbesondere könnten sie als Hilfsmittel dienen, wenn die Generalklausel des § 43 BRAO über die anwaltlichen Berufspflichten anzuwenden und durch Auslegung zu konkretisie248
BVerfGE 76, 171 (184 ff.); 76, 196 (205 f.); 82, 18 (26 f.). BVerfGE 36, 212 (217); vgl. ferner BVerfGE 57, 121 (132 f.); 60, 215 (230); 66, 337 (356). 249
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ren sei.“ 250 An dieser Beurteilung der Standesrichtlinien hat das Bundesverfassungsgericht später aber ausdrücklich nicht mehr festgehalten und eine gesetzliche Grundlage verlangt. Dabei führte das Bundesverfassungsgericht aus: „Ihre Charakterisierung als Hilfsmittel für die Konkretisierung der Generalklausel, die Art und Weise ihres Zustandekommens und nicht zuletzt ihre normähnliche Formulierung als Gebote und Verbote erhöhen die ohnehin bestehende Schwierigkeit, sie anders denn als gültige Verhaltensmaßstäbe einzuordnen. Werden sie zutreffend als bloßer Niederschlag vorhandener Standesauffassungen verstanden, können sie weder Rechtsklarheit noch Rechtssicherheit bewirken; vor allem sind sie in ihrer Immobilität ungeeignet, auf umstrittenen Gebieten Lösungen herbeizuführen oder das überlieferte Standesrecht entsprechend den veränderten politischen, wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen rechtsgestaltend fortzuentwickeln und beispielsweise im Rahmen der europäischen Integration an abweichende Vorstellungen anzugleichen. Für die verfassungsrechtliche Beurteilung sind in einem demokratischen Gemeinwesen bereits diese Nachteile bedeutsam. Ausschlaggebend ist darüber hinaus, dass bloße Standesauffassungen jedenfalls dann nicht ausreichen können, um eine Grundrechtsbeschränkung zu legitimieren, wenn der Gesetzgeber bei seiner Normierung der Berufspflichten selbst nicht darauf Bezug nimmt (vgl. den Wortlaut des § 43 BRAO). Eingriffe in die Berufsfreiheit setzen ,Regelungen‘ voraus, die durch demokratische Entscheidungen zustande gekommen sind und die auch materiell-rechtlich den Anforderungen an Einschränkungen dieses Grundrechts genügen; im Übrigen unterliegt die durch den Grundsatz der freien Advokatur gekennzeichnete anwaltliche Berufsausübung unter der Herrschaft des Grundgesetzes der freien und unreglementierten Selbstbestimmung des Einzelnen (vgl. BVerfGE 50, 16 (29); 63, 266 (284)). Die deklaratorische Feststellung einer vorhandenen communis opinio kann – ebenso wenig wie nachkonstitutionelles Gewohnheitsrecht (vgl. BVerfGE 22, 114 (121)) – keine Regelung in diesem Sinne sein, und zwar umso weniger, wenn dabei lediglich auf die Meinung angesehener und erfahrener Standesgenossen abgestellt wird. Sie läßt keinen Raum für eine Prüfung und Entscheidung des Normgebers, ob die Einschränkung der Berufsfreiheit jeweils durch vernünftige Gründe des Gemeinwohls gerechtfertigt wird und ob die vom Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gesetzten Grenzen eingehalten werden; sie genügt nicht einmal den für Satzungsrecht geltenden Anforderungen, da sie keinen Unterschied macht zwischen statusbildenden, dem Gesetzgeber vorbehaltenen Regelungen und solchen, zu denen auch Berufsverbände ermächtigt werden dürfen.“ 251 Es ist nach dem zuvor Gesagten nicht fernliegend, diese anhand der Schrankenlehre zu Art. 12 GG entwickelte Rechtsprechung, auf den durch Art. 33 und Art. 97 GG geregelten richterlichen Status, insbesondere seine Unabhängigkeit 250 251
BVerfGE 76, 171 (184 ff.). BVerfGE 76, 171 (184 ff.).
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zu übertragen. Denn ein heteronom vorgegebener richterlicher Verhaltenskodex, wollte er (auch mittelbar) rechtliche Bindungswirkung entfalten, bedürfte einer gesetzlichen Grundlage, die selbst die grundlegenden Entscheidungen über Umfang und Reichweite der Pflichtenbindung trifft. Anders als in anderen Staaten (z. B. Frankreich, Polen) schiede in Deutschland nach gegenwärtiger Verfassungslage daher die gesetzliche Übertragung der Formulierung eines Kodex an einen gewählten Richterrat aus. cc) Ein richterlicher Verhaltenskodex durch Gesetz? Ein in dieser Hinsicht vom Gesetzgeber selbst formulierter richterlicher Verhaltenskodex wäre seinem Normcharakter nach keine formulierte Berufsmoral mehr, sondern Dienstrecht, genauer ein disziplinarrechtlicher Verhaltenskodex und kein richterethischer Kodex. Von richterlicher Ethik könnte insoweit nicht gesprochen werden. Weitere über das bestehende und unten noch darzustellende rechtliche Pflichtennetz hinausgehende im Einzelnen reglementierende Ge- und Verbote unterlägen zudem erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken. Dem Gesetzgeber steht zwar grundsätzlich die Regelungsbefugnis zu, Amtspflichten des Richters festzulegen und Verstöße disziplinarischer Ahndung zu unterstellen. Hiervon hat er auch – wie noch zu zeigen ist – in großem Umfang Gebrauch gemacht. Ein Pflichtenkatalog aus Ge- und Verboten aber, der richterliches Verhalten in Bezug auf den Kernbereich der richterlichen Unabhängigkeit, nämlich der Rechtssprechungstätigkeit, festlegen wollte, verstieße jedoch gegen die Gewährleistung des Art. 97 GG. Dies gilt jedenfalls dann, wenn sich der Gesetzgeber über die bereits in umfassender Weise gesetzlich geregelten richterlichen Pflichten hinaus, eine Feinsteuerung richterlichen Verhaltens vornähme. Umgekehrt wäre eine außergesetzliche Formulierung von gesetzlichen Richterpflichten überflüssig. Denn sie könnte die rechtlich festgelegten Pflichten nur wiederholen, widersprechen dürfte der Kodex ihnen nicht. Eine solche Kodifizierung begründete zudem die Gefahr der Kollision bzw. Vermischung von Berufsmoral und Recht, insbesondere bei einer „Aktivierung“ im Disziplinarrecht. b) Verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer richterlichen Tugendethik Im Unterschied zu einer konkreten deontologische Richterethik stehen einer an allgemeinen Prinzipien und Werten orientierte Tugendethik und ihre Kodifizierung geringere verfassungsrechtliche Hürden im Wege. Dies gilt insbesondere dann, wenn sie die bestehenden verfassungsrechtlichen Grundsätze der Unabhängigkeit, der Gesetzesbindung, der Fairness und der richterlichen Verantwortung für die Justizgewährleistung zum Ausgangspunkt der Formulierung von allgemeinen Haltungen in näher beschriebenen Kontexten nimmt. In diesem Fall, also bei der Formulierung berufsmoralischer Grundsätze mittlerer Reichweite oder die
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Erfüllung von Rechtspflichten unterstützender allgemeiner Haltungen, also richterlicher Tugenden, ist eine „Weisungslage“ oder eine „mental-psychische Einflussnahme“ nämlich auszuschließen. Dies müsste allerdings auch durch die organisatorische Struktur des Gewinnungs- und Formulierungsprozesses für eine Tugendethik sichergestellt sein. Während ein gesetzgeberischer Akt bereits wegen des Normcharakters einer Tugendethik ausscheidet, muss jeglicher exekutiver Einfluss unterbunden sein, um nicht den Anschein eines Weisungscharakters zu erzeugen. Zwar lässt sich ein solcher auch bei einem richterlichen Gremium nicht ausschließen. Dagegen steht aber zum einen der allgemeine Inhalt der zu formulierenden Werte und Haltungen sowie – bei entsprechender Ausgestaltung als Beratungs- oder Selbstberatungsgrundlage – der fehlende Sanktionscharakter. Zusammenfassend lässt sich daher feststellen: Während einer – von wem auch immer formulierten – Richterdeontologie gewichtige verfassungsrechtliche Bedenken entgegenstehen, wäre bei vorsichtiger Ausgestaltung eine aus der Richterschaft konzipierte Tugendethik verfassungsrechtlich statthaft. 3. Rechtliche Pflichten des Richters Wäre also die Frage der rechtlichen Zulässigkeit einer heteronom formulierten Richterethik so zu beantworten, dass jenseits des Rechts, aber zur Optimierung seiner verlässlichen und sorgfältigen Anwendung berufsmoralische Anforderungen grundsätzlich auch von außen an den Richter herangetragen werden dürfen, wäre weiter zu fragen, ob das bestehende Recht nicht bereits ein so enges Pflichtennetz knüpft, mithin die insoweit wesentlichen Anforderungen bereits so detailliert regelt, dass für außerrechtliche Verhaltensmaßstäbe kaum ein Raum verbleibt. Insofern könnten insbesondere einer Richterdeontologie nicht nur – die zuvor festgestellten – verfassungsrechtlichen Einwände entgegenstehen. Die Sichtung des Raumes für eine nichtrechtliche Richterethik, für die die geltende Rechtsordnung untersucht werden muss, könnte nämlich aufzeigen, dass sie wegen der Fülle der verpflichtenden Vorgaben des Rechts eine solche für den Richter praktisch kaum notwendig ist. Dies wäre auch für die Bürger von Belang. Denn den von einem richterlichen Pflichtenverstoß Betroffenen steht in diesen Fällen ja nicht nur moralische Empörung, sondern in erster Linie rechtlicher Schutz offen. Insoweit ist der Bürger nicht auf die enttäuschbare Hoffnung auf ethisches Verhalten des Richters angewiesen252. Die historische Untersuchung der Entwicklung richterlicher Moral in Deutschland hat bereits ergeben, dass im Laufe der Geschichte die Erfahrung mit richterlichen Verfehlungen oder unziemlicher Einflussnahme auf die richterliche Unab252 Hierzu: Voßkuhle, Rechtsschutz (Fn. 17/D.), S. 272 f., 296 f., der von einem Fatalismus-Argument spricht, wenn man auf die Wahrung der Berufsethik durch die Richter vertrauen müsse.
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hängigkeit von außen zu einer Verrechtlichung ursprünglich berufsmoralischer Ge- und Verbote geführt hat. Es könnte also sein, dass im Berufsrecht des Richters eine Fülle von Berufsmoral steckt und deshalb eine richterliche Pflichtenethik bereits deshalb überflüssig ist. Um dies aufzuzeigen und um deutlich zu machen, wie verrechtlicht das richterliche Handlungsfeld ist, muss die Rechtsordnung auf die den Richter rechtlich bindenden Anforderungen hin gemustert werden. Dies ist auch deshalb erforderlich, weil die im Berufsalltag verinnerlichten und gelebten Pflichten von vielen Richtern gar nicht mehr als Rechtspflichten „wahrgenommen“ werden und deshalb häufig in der richterethischen Debatte fälschlicher Weise dem Bereich der Berufsmoral zugeordnet werden. a) Verfassungsrechtliche Pflichten Die umfassende Musterung und Sammlung richterlicher Rechtspflichten hat zu beginnen mit den verfassungsrechtlich begründeten Pflichten253, insbesondere der Pflicht zur Unabhängigkeit, zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes, der Pflicht zur Führung eines fairen Verfahrens, der Pflicht, den gesetzlichen Richter zu wahren, oder der Pflicht, rechtliches Gehör zu gewähren, aber auch den sich aus Art. 33 GG ergebenden Pflichten aus dem Status. Erst danach werden die konkreten Amtspflichten aus dem einfachen Recht, die in der Regel der Durchsetzung der verfassungsrechtlichen Richterpflichten dienen, zu behandeln sein. aa) Pflicht zur Unabhängigkeit und Unparteilichkeit Grundlegende verfassungsrechtliche Pflicht des Richters ist es, sich selbst im Interesse der Rechtssuchenden äußerlich wie innerlich unabhängig zu halten254 und auf dieser Grundlage unparteilich zu entscheiden255. Was dies im Einzelnen heißt, wurde oben bereits beschrieben, also insbesondere keine sachfremden Einflüsse auf die Rechtsprechung wirken zu lassen, keine Weisungen anzunehmen, die inneren Beschränkungen zu reflektieren und zurückzudrängen256. Einfachrechtlich wird diese Pflicht insbesondere auch im Mäßigungsgebot sowie dem Befangenheitsrecht konkret geregelt.
253
Barbey, Status des Richters, (Fn. 29/D.), S. 850 f. Sandhaus, Richterliche Ethik (Fn. 890/C.), S. 472 f. setzt die richterethische Thesen des DRB in Beziehung zu den rechtlichen Vorgaben und beginnt mit dem verfassungsrechtlichen Unabhängigkeitspostulat. Sie meint aber die Pflicht zur inneren Unabhängigkeit nicht rechtlich, sondern „ethisch“ sehen zu müssen. Vgl. auch Hülsmann, Politische Betätigung (Fn. 18/D.), S. 37 ff. 255 Riedel, Unparteilichkeit (Fn. 42/D.), hat die Unparteilichkeit beeindruckend als richterliche Pflicht als spezifische Ausprägung des allgemeinen Gleichheitssatzes (S. 13 ff. Rechtsanwendungsgleichheit) herausgearbeitet. 256 Riedel, Unparteilichkeit (Fn. 42/D.), S. 17 ff. 254
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bb) Pflicht zur Rechtsschutzgewährung Die Pflicht zur Gewährung des Rechtsschutzes richtet sich nicht nur an die Justiz als Institution, sondern obliegt als konkrete Dienstpflicht jedem Richter als individuellem Amtsträger im Rahmen seiner Zuständigkeit257. Von ihrer Erfüllung hängen der Bestand und die Funktionsfähigkeit des Rechtsstaates ab, weil nur in der Durchsetzung des Rechts vor unabhängigen Richtern die Gesetzesbindung der Staatsgewalt und das staatliche Gewaltmonopol gesichert sind. Ihre Erbringung setzt zwar unabdingbar voraus, dass dem Richter die zur Erfüllung der Pflicht erforderlichen Ressourcen zur Verfügung stehen258. Dem Rechtssuchenden oder dem Haushaltsgesetzgeber gegenüber kann sich der einzelne Richter aber nicht darauf berufen, dass sie ihm nicht im gebotenen Umfang zur Verfügung stehen und er deshalb seinen Pflichten nicht nachkommen kann259. Die bestehenden verfassungsrechtlichen Pflichten der Richter stellen sich als Kehrseite des nach dem jeweils beschrittenen Rechtsweg zu differenzierenden Anspruchs der Bürger auf Justizgewährleistung dar: Art. 19 Abs. 4 GG begründet insoweit einen Anspruch für jeden Bürger auf effektiven Rechtsschutz. Er richtet sich allerdings nicht an alle Richter260, sondern bezieht sich grundsätzlich nur auf den Rechtsschutz gegen Akte öffentlicher Gewalt. Damit ist dieses Gebot in erster Linie bei der Überprüfung von Akten öffentlicher Gewalt durch Finanz-, Sozial- und Verwaltungsgerichte, also durch die Fachrichter dieser Gerichtsbarkeit im Rahmen der der Ausgestaltung dieses Rechtes dienenden Prozessordnungen zu gewährleisten. Ihnen ist mithin die Pflicht auferlegt, diesen Anspruch zur Verwirklichung zu verhelfen. Er gewährleistet inhaltlich, dass die Fachrichter den Zugang zu Gericht eröffnen261, d.h. insbesondere ihn bei der Auslegung und Anwendung der Prozessordnung, etwa von Fristbestimmungen und bei der Wiedereinsetzung, beachten, den Rechtsschutz effektiv, d.h. wirksam etwa durch vorläufigen Rechtsschutz und durch eine umfassende bzw. nach dem geltend gemachten Anspruch und dem beschrittenen Verfahren nach Maßgabe der Gesetze angemessene Kontrolldichte262 zeitnah gewähren muss. Hieraus entstehen für die Richter konkrete Pflichten zum Handeln, insbesondere auch um die Rechte und
257
Vgl. hierzu Mayen, Gute Rechtsprechung (Fn. 274/B.), DVBl. 2006, S. 1008 ff. Vgl. hierzu Mayen, Gute Rechtsprechung (Fn. 274/B.), DVBl. 2006, S. 1008 ff. und S. 1013 ff. 259 Vgl. zum Organisationsverschulden im Rahmen der Verfahren mit überlanger Dauer unten D. II. 2. d). 260 Vgl. zur Abgrenzung des allgemeinen Justizgewährungsanspruchs: R. Zuck, Die Gewährung effektiven Rechtsschutzes im Zivilprozess, in: NJW 2013, S. 1132. 261 BVerfGE 85, 337 (345); 107, 395 (401). 262 Zum Problem der Offensichtlichkeitskontrolle: BVerfG, B. v. 31.05.2011 – 1 BvR 857/07 – BVerfGE 129, 1 ff. 258
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Grundrechte der Bürger zu schützen. „Es ist ihre Aufgabe, für die Erfüllung jener staatlichen Justizgewähr Sorge zu tragen.“ 263 Über Art. 19 Abs. 4 GG hinaus gewährleistet Art. 2 Abs. 1 i.V. m. Art. 20 Abs. 3 GG auch für die Zivilgerichtsbarkeit den allgemeinen Justizgewährungsanspruch mit einem dem Anspruch auf effektiven Rechtsschutz vergleichbaren Inhalt264. Er wird insbesondere dann verletzt, wenn die Gerichte die prozessrechtlichen Möglichkeiten etwa zur Sachverhaltsfeststellung so eng auslegen, dass ihnen eine sachliche Prüfung der ihnen vorgelegten Fragen nicht möglich ist und das vom Gesetzgeber verfolgte Verfahrensziel deshalb nicht erreicht werden kann265. Für das Strafverfahren muss die Schutzrichtung hingegen eine andere sein. Dort besteht ein Anspruch auf faires Strafverfahren266, das insbesondere den Richter etwa verpflichtet, dem Angeklagten die Waffengleichheit und die Verteidigerauswahl zu eröffnen, die Wahrheit des angeklagten Geschehens aufzuklären und – insbesondere bei Haftsachen – das Verfahren beschleunigt zu führen. Da Voraussetzung der Justizgewähr auch die Erreichbarkeit des Richters ist267, werden auch seine Freiheiten bezüglich seiner freien Zeiteinteilung durch diese Pflicht beschränkt. cc) Pflicht zur Wahrung der Gewaltenteilung und der Bindung an das Gesetz Die in Art. 20 Abs. 2 und 3 GG als tragender rechtsstaatlicher Grundsatz niedergelegte Gewaltenteilung ist vom Richter zu achten268. Die Judikative als eigenständige Gewalt mit besonderen Organen und damit als eigenständige Trägerin staatlicher Macht hat zwar Kontrollaufgaben hinsichtlich der Tätigkeit der 263
Papier, Richterliche Unabhängigkeit (Fn. 46/D.), NJW 2001, S. 1090. A. Voßkuhle/A. Kaiser, Der allgemeine Justizgewährungsanspruch, in: JuS 2014, S. 312 ff. 265 Vgl. zu einem besonders krassen Fall im Bereich der strafrechtlichen Rehabilitierung von DDR-Unrecht (Heimunterbringung von Kindern), in dem das BVerfG das OLG Naumburg wegen Willkür bereits zuvor aufgehoben hat: BVerfG (K), B. v. 24.09.2014 – 2 BvR 2782/10 – LKV 2014, S. 505. Ein Orientierungssatz lautet: „Ein Rehabilitierungsgericht, das sich an die Tatsachenfeststellungen der Gerichte (oder Behörden) der ehemaligen DDR für gebunden hält, verweigert dem Betroffenen die von Rechtsstaats wegen geforderte Überprüfung erheblicher Tatsachen und verfehlt damit schlechterdings das gesetzgeberische Ziel, die fortdauernde Wirksamkeit von Urteilen dieser Gerichte oder Behördenentscheidungen zu durchbrechen. Ein solchermaßen ineffektives Rehabilitierungsverfahren steht in Widerspruch zum Rechtsstaatsprinzip des GG.“ 266 BVerfGE 107, 104 (118 ff.). 267 Vgl. VG Magdeburg, U. v. 24.01.2012 – 5 A 35/10 – DRiZ 2012, S. 353 f., das insoweit vom Richter verlangt, dass die Richterkollegen bzw. die Geschäftsstellen ihn erreichen können. So schon der Beschluss des 66. DJT: 10. Vgl. hierzu Mayen, Gute Rechtsprechung (Fn. 274/B.), DVBl. 2006, S. 1008, 1011 f. 268 Hierzu Eichenberger, Richterliche Unabhängigkeit (Fn. 472/C.), S. 64 ff. 264
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anderen beiden Gewalten269. So liegt die Normenkontrolle von nachkonstitutionellen formellen Gesetzen bei den Verfassungsgerichten270, von Gesetzen unterhalb des formellen Gesetzes – insbesondere von exekutiven Normen – bei den Verwaltungsgerichten. Umgekehrt besteht eine Gewaltenverschränkung zwischen der Legislative/Exekutive und der Judikative in der demokratischen Legitimierung der Richter271 sowie der judikativen Ressourcengewährleistung beim Parlament und der Justizverwaltung. Unproblematisch dürfte auch die Übertragung exekutiver Aufgaben auf die Justiz, etwa im Rahmen der freiwilligen Gerichtsbarkeit, sein. Wegen dieser institutionellen und funktionellen Verschränkungen kann auch offen bleiben, ob eine Gleichordnung der Staatsgewalten anzunehmen ist oder – wegen Art. 20 Abs. 3 GG dem dort festgelegten Vorrang des Gesetzes – eine Unterordnung von Exekutive und Judikative unter den Gesetzgeber272 besteht. Entscheidender Ausdruck und Maßstab für die Wahrung der Gewaltenteilung ist im Verhältnis zur Legislative der oben im Einzelnen diskutierte Grundsatz der Gesetzesbindung273, der Prämisse274 und Eckpfeiler der Gewaltenteilung ist275. Art. 100 GG und vergleichbare landesverfassungsrechtliche Normen stärken und betonen dieses Grundsatz, wenn sie die Normverwerfungskompetenz in die Hand der Verfassungsgerichte legen und die Fachrichter verpflichten, eine gesetzliche Norm vorzulegen, wenn sie daran zweifeln, dass sie mit der Verfassung vereinbar ist. Die Verfassungsrichter sind dann aber als Hüter der Verfassung gegenüber dem Parlament aufgerufen276 und leisten so einen Beitrag zur Disziplinierung der Gesetzgebung und Wahrung der Idee des an Grund- und Menschenrechten orientierten Rechts277. Im Bereich der Auslegung fordert die Beachtung der Wesentlichkeitstheorie und des Vorbehalts des Gesetzes, dass die Richter bei der Rechtsschöpfung die Grenze achten, dass ungeregelte Lebenssachverhalte grund269
Näher hierzu: Voßkuhle, Rechtsschutz (Fn. 17/D.), S. 34 ff. Hier geht es nur um die Verfassungskonformität. Zum hier nicht näher behandelten Problem des „unsittlichen“ Gesetzes: H. U. Evers, Der Richter und das unsittliche Gesetz, Berlin 1956; vgl. hierzu auch unten die Ausführungen zum Richtereid. 271 Näheres: J. M. von Bargen, Die Rechtsstellung der Richterinnen und Richter in Deutschland, in: DRiZ 2010, S. 101. 272 So Rüthers, Blindflug (Fn. 136/A.), JZ 2008, S. 448. 273 Zum Zusammenhang zwischen Achtung der Gewaltenteilung und Gesetzesbindung: BVerfGE 128, 193; Bruns, Rechtsschöpfung und Gewaltenteilung (Fn. 190/D.), JZ 2014, S. 162 ff. Hillgruber, Richterliche Rechtsfortbildung (Fn. 157/D.), JZ 1996, S. 118, 122 f. Krey, Richterliche Rechtsfortbildung (Fn. 144/D.), JZ 1978, S. 363; Pieroth/Aubel, Grenzen richterlicher Entscheidungsfindung (Fn. 199/D.), JZ 2003, S. 504, 506; zweifelnd wegen der „nachlassenden Direktionskraft des Gesetzes“: Voßkuhle, Rechtsschutz (Fn. 17/D.), S. 63 f. 274 Isensee, Vom Ethos des Interpreten (Fn. 118/D.), S. 371. 275 Krey, Richterliche Rechtsfortbildung (Fn. 144/D.), JZ 1978, S. 465 und S. 466 m.w. N. 276 Wipfelder, Bürger (Fn. 22/A.), DRiZ 1987, S. 120. 277 O. Bachof, Grundgesetz und Richtermacht, Tübingen 1959, S. 12 ff. und S. 18 ff. 270
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sätzlich der Entscheidung des Gesetzgebers unterliegen278. Hieraus ergeben sich auch das Analogieverbot bei Eingriffen in die Rechte des Einzelnen und das Erfordernis demokratischer Legitimation richterlicher Rechtsfortbildung279. Daneben verlangt das Mäßigungsgebot, dass der Richter keine politischen Aufträge von politischen Entscheidungsträgern in Exekutive und Legislative annimmt oder im Wege einer forcierten politischen Rechtsprechung von sich aus erfüllt280. Schließlich steht die Pflicht zur Wahrung der Gewaltenteilung einer dezisionistischen Haltung des Richters entgegen, die die Entscheidung nach den Maßstäben des Rechts durch Rechtsverbiegung und -unterstellung ersetzt. Sie fordert mithin ein weitgehend rationales, methodisch abgeleitetes und reflektiertes Arbeiten des Richters281. Auch bei der Realisierung des Sozialstaatsprinzips gilt bis heute der Vorrang gesetzgeberischer Aktivitäten: „Das Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes enthält infolge seiner Weite und Unbestimmtheit regelmäßig keine unmittelbaren Handlungsanweisungen, die durch die Gerichte ohne gesetzliche Grundlage in einfaches Recht umgesetzt werden könnten. Insoweit ist es richterlicher Inhaltsbestimmung weniger zugänglich als die Grundrechte (. . .); es zu verwirklichen ist in erster Linie Aufgabe des Gesetzgebers.“ 282 Dies beschränkt folglich die Befugnis zur Rechtsfortbildung. Wegen des verfassungsrechtlichen Auftrags an die Richter aus Art. 19 Abs. 4 GG, effektiven Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt zu gewährleisten, ist die Pflicht zur Wahrung der Gewaltenteilung die Exekutive betreffend zwar reduziert. Sie besteht jedoch insoweit, als richterliche Entscheidungen gegenüber der Exekutive nur Kontrollentscheidungen sein dürfen und sich Richter nicht an die Stelle der Verwaltung setzen dürfen. Dies ist insbesondere durch Zurückhaltung bei der Gewährung vorbeugenden Rechtsschutzes zu beachten. Außerdem muss der Ermessens- und Beurteilungsspielraum der Behörden gewahrt bleiben, was richterliche Zweckmäßigkeitsentscheidungen im Gewande einer Rechtmäßigkeitsprüfung untersagt283. dd) Pflicht zum fairen Verfahren Art. 2 Abs. 1 i.V. m. Art. 20 Abs. 3 GG bzw. Art. 6 EMRK verlangen vom Richter, dass er den Grundsatz des fairen Verfahrens beachtet. Die Pflicht, ein 278 Bruns, Rechtsschöpfung und Gewaltenteilung (Fn. 190/D.), JZ 2014, S. 162, 164 f. C. D. Classen, Gesetzesvorbehalt und Dritte Gewalt, in: JZ 2003, S. 693 ff. 279 BVerfGE 96, 375 (394): Gerichte sind Normanwender, keine normsetzende Instanz; Classen, Gesetzesvorbehalt (Fn. 278/D.), JZ 2003, S. 693 ff., der vor diesem Hintergrund die Grenzen der Rechtsfortbildung erörtert. 280 E. Schmidt-Jortzig, Richteramt und politische Betätigung, in: NJW 1984, S. 2059. 281 Pieroth/Aubel, Grenzen richterlicher Entscheidungsfindung (Fn. 199/D.), JZ 2003, S. 504. 282 BVerfGE 65, 182; hierzu: Henckel, Richter (Fn. 26/D.), JZ 1987, S. 213. 283 Hierzu: Sendler, Unabhängigkeit (Fn. 28/A.), NJW 1983, S. 1458.
II. Der rechtliche Rahmen für richterliches Handeln
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Verfahren fair zu führen, wurzelt mithin im Rechtsstaatsprinzip in Verbindung mit den Freiheitsgrundrechten. Er ist wesentlicher Grundsatz eines rechtsstaatlichen Verfahrens und besteht subsidiär zu spezielleren verfassungsrechtlichen Gewährleistungen, wie etwa dem Grundsatz auf rechtliches Gehör oder der Wahrung des gesetzlichen Richters284. Der Grundsatz bestimmt in rechtlicher Hinsicht keine in allen Einzelheiten bestimmten Ge- oder Verbote, sondern konkretisiert sich im Einzelfall: Eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren liegt erst vor, wenn eine Gesamtschau auf das Verfahrensrecht – auch in seiner Auslegung und Anwendung durch die Gerichte – ergibt, dass rechtsstaatlich zwingende Forderungen nicht gezogen worden sind oder rechtsstaatlich Unverzichtbares preisgegeben wurde285. Dies macht es allerdings schwer, die Grenze zwischen verfassungsrechtlicher Fairnesspflicht und berufsmoralischer Pflicht zu bestimmen. Insofern ist bereits hier der Fairnessgrundsatz als besondere Nahtstelle zwischen Recht und richterlicher Berufsmoral zu kennzeichnen. In der Rechtsprechung wurde diese Pflicht anhand von Einzelfällen inhaltlich näher bestimmt. Grundsätzlich gilt aber: Nach dem Gebot fairer Verfahrensführung286 darf der Bürger nicht zum bloßen Objekt des Verfahrens287 gemacht werden. Das rechtliche Gebot des fairen Verfahrens verbietet die übermäßig strenge Handhabung verfahrensmäßiger Schranken, die die den Anspruch auf Durchsetzung des materiellen Rechts unzumutbar verkürzen288. Deshalb fließt aus ihm das Gebot den Zugang zu den Gerichten nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise zu erschweren289. Typische Anwendungsfälle der Rechtspflicht sind insoweit etwa der Umgang mit Anträgen, die sachgerecht verstanden und ggf. ausgelegt oder – im Interesse des Rechtsschutzsuchenden – gar umgedeutet werden müssen. Die Pflicht zur Fairness kann im Einzelfall eine Fürsorgepflicht des Richters begründen, die auch zu durch die Anhörungspflicht290 geprägte Hinweispflichten führt. Die Wahrung der Waffengleichheit291 der Beteiligten, insbesondere im Strafverfahren zwischen Staatsanwalt und Beschuldigtem (Verteidigerauswahl, ggf. Pflichtverteidiger; vertrauliche Kommunikation mit dem Verteidiger), fällt ebenfalls hierunter292. Dem Betroffenen müssen substanzielle Möglichkeiten gewährt werden, auf das Verfahren Einfluss zu neh284 Vgl. die Nachweise in BVerfG (K), B. v. 14.03.2012 – 2 BvR 2405/11 – NJW 2012, S. 1863. 285 BVerfGE 122, 248, 272, (K) B. v. 24.02.2011 – 2 BvR 1596/10 und 2 BvR 2346/ 10 – BayVBl. 2011, S. 469. 286 BVerfGE 65, 171: Möglichkeit des Angeklagten zur Wahrung seiner Rechte auf den Gang und das Ergebnis Einfluss zu nehmen. 287 BVerfGE 89, 120. 288 BVerfGE 84, 366 (369). 289 BVerfG (K), NJW 1994, S. 1853. 290 BVerfGE 101, 397 (405). 291 BGH, NJW 1990, S. 584, 585. 292 BVerfGE 66, 313; BVerfG (K), NJW 1993, S. 2301.
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D. Elemente einer richterlichen Metaethik
men, insbesondere im Bereich seiner Verteidigung. Dies bedeutet auch, dass einem des Deutschen nicht mächtigen ein Dolmetscher zur Verfügung gestellt wird. Bei der Sachverhaltsermittlung durch das Gericht muss den Parteien die Überprüfung dieses Vorgehens möglich sein. Unverzichtbare Voraussetzung eines rechtsstaatlichen Verfahrens ist insbesondere, dass Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf zureichender richterlicher Sachaufklärung beruhen und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage haben, die der Bedeutung der Freiheitsgarantie entspricht293. Es gilt das „Gebot der Wahrheitsfindung“. Im Rahmen des „Gebotes der bestmöglichen Sachaufklärung“ hat der Strafvollstreckungsrichter die Aussagen oder Gutachten des Sachverständigen selbstständig zu beurteilen. Er darf die Prognoseentscheidung nicht dem Sachverständigen überlassen, sondern hat diese selbst zu treffen294. Es bestehen auch besondere Anforderungen an die Beweiswürdigung unsicherer Beweismittel295. Die aus dem Gebot des fairen Verfahrens folgende Fürsorgepflicht der staatlichen Gerichte führt allerdings nicht zu einer generellen Verpflichtung zur sofortigen Prüfung der Zuständigkeit bei Eingang der Rechtsmittelschrift. Jedoch ist die Weiterleitung der Rechtsmittelschrift an das zuständige Gericht im Rahmen des ordentlichen Geschäftsgangs geboten, wenn die Unzuständigkeit des angerufenen Gerichts „ohne weiteres“ bzw. „leicht und einwandfrei“ zu erkennen ist296. Insoweit können aber berufsmoralische Haltungen eine zügige Prüfung nahelegen. Auch der Grundsatz der Verfahrensbeschleunigung hat einen Bezug zum fairen Verfahren297. Aus Fehlern der Justiz oder dem Richter zuzurechnenden Versäumnissen dürfen dem Betroffenen keine Verfahrensnachteile erwachsen298. Auch das Gebot des Richters, sich nicht widersprüchlich zu verhalten299, fällt hierunter wie die Handhabung von prozessualen Präklusionsfristen300. ee) Wahrung des gesetzlichen Richters und Gewährung rechtlichen Gehörs (1) Richterliche Pflicht, den gesetzlichen Richter zu wahren Zur Sicherung vor Manipulation der rechtsprechenden Organe durch Einflussnahme auf die Auswahl des konkret entscheidenen Richters301 und damit zur Si293 BVerfGE 58, 208, 222 (230); BVerfGE 70, 297; BVerfG (K), NJW 1992, S. 2750; NJW 1994, S. 1853. 294 BVerfGE 70, 297 (310). 295 BVerfG (K), NJW 1996, S. 448. 296 BGH, B. v. 12.10.2011 – IV ZB 17/10 – NJW 2012, S. 78. 297 BVerfG (K), NJW 1994, S. 1853. 298 BVerfG (K), NJW 1992, S. 2472; NJW 1994, S. 1835; NJW 1996, S. 1811; NJW 2013, S. 446. 299 BVerfG (K), NJW 1996, S. 3202. 300 BVerfGE 75, 183; 78, 123.
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cherung der Unabhängigkeit der Rechtsprechung sowie des Vertrauens der Rechtssuchenden in die Unparteilichkeit und Sachlichkeit der Richter302 muss im Voraus abstrakt-generell und dennoch so eindeutig wie möglich der zuständige Richter festgelegt sein. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG gewährt insofern ein grundrechtsgleiches Recht. Dies ist zum einen Aufgabe des Gesetzgebers, der die Streitigkeiten grundsätzlich durch Parlamentsgesetz den jeweiligen Rechtswegen zuzuweisen, die sachliche und örtliche Zuständigkeit zu bestimmen und die haushälterischen Grundlagen für die Richterstellen zu schaffen hat. Die Justizverwaltung hat bei Verhinderung oder Vakanzen des Vorsitzenden303 für umgehenden Ersatz zu sorgen. Zum anderen ist es Aufgabe und Pflicht der Präsidien der Gerichte, durch einen Geschäftsverteilungsplan die Rechtsstreitigkeiten, für die das Gericht sachlich und örtlich zuständig ist, auf die dort bestellten Richter zu verteilen. Bei diesem Akt richterlicher Selbstverwaltung, der der richterlichen Unabhängigkeit unterliegt, haben die Richter die Pflicht, den genannten Verfassungsgrundsatz zu wahren. Insbesondere ist das Vollständigkeits-, Schriftlichkeits- und Jährlichkeitsprinzip (Stetigkeitsgrundsatz) zu beachten (vgl. § 21e Abs. 3 GVG). Daneben hat das Präsidium die Rechte der Richter zu beachten, die – etwa bei einer faktischen Amtsenthebung304 – durch den Geschäftsverteilungsplan in eigenen Rechten verletzt sein können. Allerdings haben diese keinen Anspruch mit bestimmten Verfahren (nicht) betraut zu werden305. Auch scheidet eine Verteilung nach Eignungsgesichtspunkten aus306. Die Spruchkörper sind schließlich verpflichtet, durch den Geschäftsverteilungsplan des Spruchkörpers die Rechtssachen abstrakt-generell dort zu verteilen. Aber auch der einzelne Richter ist verpflichtet, den gesetzlichen Richter zu wahren307. So darf er nicht über den Fall entscheiden, wenn ein anderer Richter zuständig ist. Dies setzt eine Pflicht zur Zuständigkeitsprüfung und ggf. zur Abgabe innerhalb des Gerichts oder zur Verweisung an ein anderes Gericht voraus. Bei einer Übertragung auf den Einzelrichter hat der Spruchkörper die gesetzlichen Voraussetzungen zu beachten und darf sie nicht von sachfremden Erwägungen (z. B. Vermeidung einer schwierigen Zusammenarbeit) abhängig machen. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG prägt auch die Auslegung einfach-gesetzlicher Zustän301 BVerfGE 118, 212 (239); Ch. Degenhart, Gerichtsorganisation, in: J. Isensee/ P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band V, 3. Aufl., Heidelberg 2007, § 113, S. 748 ff. Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 12. Aufl., München 2012, Art. 101 Rdnrn. 5a ff. 302 BVerfG (K), NJW 2009, S. 1734. 303 Vgl. BSG, NJW 2007, S. 2717. 304 OVG Koblenz, LKRZ 2008, S. 100. 305 BVerwG, DRiZ 2009, S. 299. 306 BVerfG (K), NJW 2008, S. 909; VGH BW, DRiZ 2006, S. 221. 307 Im Einzelnen hierzu: Degenhart, Gerichtsorganisation (Fn. 301/D.), S. 755 ff.
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digkeitsregelungen, weshalb richterliche Entscheidungen diesem Maßstab unterliegen. Der Richter hat sich bei körperlichen oder psychischen Gebrechen, die zu einer wesentlichen Einschränkung seiner Verhandlungsfähigkeit führen, der richterlichen Tätigkeit zu enthalten und durch Krankmeldung den Vertretungsfall herbeizuführen. Liegen Gründe vor, die seine Unabhängigkeit einschränken, insbesondere Versuche der Einflussnahme von außen, hat er dies anzuzeigen, für Abhilfe zu sorgen und sich dagegen zur Wehr zu setzen. Achtet er seine Vorlagepflichten zum EuGH bei Gültigkeits- oder Auslegungsstreitigkeiten europarechtlicher Normen nicht, verletzt er dem Bürger gegenüber das Recht auf den gesetzlichen Richter 308. Gleiches gilt für die Verletzung der Vorlagepflicht an das Bundesverfassungsgericht nach Art. 100 Abs. 1 GG, wenn das Gericht eine unvertretbare verfassungskonforme Gesetzesauslegung vornimmt309. Auch die die Handhabung des Ablehnungsrechts, insbesondere die Achtung der Ausschlussgründe für eine Mitwirkung und die Entscheidung über Ablehnungsgesuche, stehen insoweit unter grundrechtlichem Schutz. Die Verletzung dieser Pflichten führen dann zu einem Verfassungsverstoß. Auch den Einfluss von Nichtrichtern hat der Richter zu unterbinden. (2) Pflicht, rechtliches Gehör zu gewähren Der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) stellt das „prozessuale Urrecht“ des Menschen dar310, weshalb der Richter verpflichtet ist, dessen Forderungen im Einzelnen und umfassend nachzukommen311. Er dient der Wahrung des allgemeinen Justizgewährungsanspruchs, insbesondere der umfassenden tatsächlichen und rechtlichen Prüfung des Streitgegenstands, und ist eine spezialgesetzliche Regelung des fairen Verfahrens. Er ist nicht nur im Hauptverfahren, sondern auch in Nebenverfahren oder in einem ein gerichtliches Verfahren vorbereitenden Verfahrensabschnitt zu beachten. Art. 103 GG und seine Anforderungen sind bei der Auslegung des Prozessrechtes, das diesem Recht zu dienen bestimmt ist, zu berücksichtigen. Art. 103 GG verlangt dabei vom Richter nicht nur das Entgegennehmen und Erwägen, d.h. Prüfen des mündlichen oder schriftlichen Vortrags eines Beteiligten, sondern auch eine aktive Information über entscheidungserhebliche Umstände, also unabdingbare tatsächliche und rechtliche Hinweise zum Verfahrensstoff oder die Gewährung von Akteneinsicht. Die Möglichkeit der Teilnahme an einer gesetzlich vorgegebenen mündlichen Verhandlung, die das Forum der An308
Hierzu BVerfGE 126, 286 (316 ff.). BVerfG, NJW 2015, S. 510. 310 Vgl. BVerfGE 55, 1 (6). 311 M. Hößlein, Judikatives Unrecht – Subjektives Recht, Beseitigungsanspruch und Rechtsschutz gegen den Richter, Berlin 2007, geht im Einzelnen der Versagung dieses Rechts durch den Richter und dessen Folgen ein. 309
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hörung eröffnet, ist durch eine wirksam bekanntgemachte Ladung sicherzustellen. Anträge auf Terminverlegung sind bei erheblichen Gründen stattzugeben. Auch unverschuldete Hindernisse, die dazu führen, dass der Betroffene an der mündlichen Verhandlung nicht teilnehmen kann, müssen zu einer Terminverschiebung führen. Der Verzicht auf mündliche Verhandlung oder der Ausschluss der Anhörung ist nur unter Beachtung der gesetzlichen Voraussetzungen, die ihrerseits verfassungskonform das Recht auf rechtliches Gehör achten müssen, möglich. Verstöße gegen oder fehlerhafte Anwendungen von Präklusionsvorschriften können das Anhörungsrecht ebenfalls verletzen. Gewährt der Richter nach Auffassung einer Partei dieses Recht nicht, so kann sie dies gegenüber dem Richter eigenständig und auch bei Unanfechtbarkeit der Entscheidung rügen312. Der Richter muss außerdem persönlich in der Lage sein, die Äußerungen des Betroffenen aufzunehmen, weshalb der schlafende oder sich mit anderen Dingen ablenkende Richter313, gegen Kernpflichten des Richters, insbesondere gegen Art. 103 GG verstößt. Schriftsätze, die in den Machtbereich des Gerichtes gelangt sind, muss der Richter berücksichtigen. Aus der Pflicht zur Erwägung des Vorbringens folgt die Pflicht, Entscheidungen – unter Berücksichtigung des Entscheidungserheblichen – zu begründen; denn nur so lassen sich die Erwägungen nachvollziehen. Streitig ist, wie spruchkörperintern das rechtliche Gehör gewährleistet werden muss, also ob alle Mitglieder des Spruchkörpers vor einer Entscheidung die Akten kennen müssen314. Wird das rechtlich nicht gefordert, fordert jedenfalls die richterliche Berufsmoral, dass der Beisitzer sich bei Unklarheiten aufklären und ggf. die Akten geben lässt. Nur so kann er seiner Sorgfaltspflicht nachkommen. ff) Willkürverbot Dem Richter ist gemäß Art. 3 Abs. 1 GG eine Ungleichbehandlung ohne sachlichen Grund verboten. Bei der Gesetzesauslegung und Lückenfüllung ist der Gleichheitsgrundsatz zu wahren. Tut der Richter das nicht, handelt er willkürlich. Insofern verstößt er auch gegen das Rechtsstaatsprinzip. Allerdings reicht dafür nicht jeder Rechtsanwendungsfehler. Er muss vielmehr „schwer“ sein. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts315 ist ein Richterspruch dann
312 Zum gesetzlichen Erfordernis einer Anhörungsrüge: BVerfG, Plenarbeschluss v. 30.04.2003 – 1 PBvU 1/02 – BVerfGE 107, 395. Damit ist auch erstmals ein Verfahren der Selbstkorrektur ausdrücklich geregelt worden. Hierzu Voßkuhle, Bruch (Fn. 17/D.), NJW 2003, S. 2193 ff. 313 Etwa aus privaten Gründen mit dem Handy SMS zu verschicken, hierzu BGH, NJW 2015, S. 2986, dort im Rahmen der Prüfung, ob ein Befangenheitsantrag gegen sie zu Recht abgelehnt wurde. 314 Hierzu: Fischer, NStZ 2013, S. 425. 315 BVerfGE 112, 185 (215 f.). vgl. auch Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 12. Aufl., München 2012, Art. 3 Rdnrn. 37 ff.
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willkürlich, wenn er unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich vertretbar ist und sich daher der Schluss aufdrängt, dass er auf sachfremden Erwägungen beruht. Das ist anhand objektiver Kriterien festzustellen. Schuldhaftes Handeln des Richters ist nicht erforderlich316. Willkür liegt erst vor, wenn die Rechtslage in krasser Weise317 verkannt wird, etwa wenn eine offensichtlich einschlägige Norm nicht berücksichtigt318 oder der Inhalt einer Norm in krasser Weise missdeutet wird319. Von Willkür kann nicht gesprochen werden, wenn das Gericht sich mit der Rechtslage eingehend auseinandersetzt und seine Auffassung nicht jedes sachlichen Grundes entbehrt320. Erst bei einer unter keinem rechtlichen Aspekt mehr vertretbaren Rechtsanwendung, für die sich der Schluss sachfremder Erwägungen aufdrängt, liegt Willkür vor. Sie ist im objektiven Sinne zu verstehen als eine Maßnahme, welche im Verhältnis zu der Situation, der sie Herr werden will, tatsächlich und eindeutig unangemessen ist321. Auch nicht auflösbare Widersprüche in den die Entscheidung tragenden Gründen begründen den Willkürvorwurf322. Einen besonderen Fall der Willkürlichkeit hat das Bundesverfassungsgericht in der Ablehnung von Revisionen durch den Bundesgerichtshof erkannt, die mit der drohenden Überlastung des Senats begründet wurden323. gg) Pflichten aus dem verfassungsrechtlich abgesicherten Status Das richterliche Amtsrecht findet seine verfassungsrechtlichen Grundlagen in den hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums gemäß Art. 33 Abs. 5 GG, der vom Bundesverfassungsgericht auf das Richterdienstverhältnis mit Modifikationen – etwa im Bereich der Besoldung und Amtsbezeichnung sowie beim Laufbahnrecht – für anwendbar erklärt wurde. Allerdings wurde auch die Garantie der richterlichen Unabhängigkeit als Inhalt des Richterstatus324 anerkannt und damit als grundrechtsgleiches Recht bezogen auf die persönliche Rechtsstellung verfassungsbeschwerdefähig gemacht.
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BVerfGE 112, 185 (215 f.). BVerfGE 89, 1 (14). 318 Vgl. BVerfG (K), LKV 2014, S. 505. 319 BVerfGE 87, 273 (278); dies gilt auch, wenn ohne Grund vom eindeutigen Wortlaut abgewichen wird: BVerfGE 71, 122 (136). 320 BVerfGE 87, 273 (278 f.). 321 BVerfGE 80, 48. 322 BVerfGE 71, 122 (136). 323 BVerfGE 54, 277; hierzu: E. Schneider, Das Pflichten- und Haftungsverständnis der Dritten Gewalt, in: AnwBl. 1988, S. 601, 602 f. 324 BVerfGE 12, 81 (88); 55, 372 (391 f.); BGHZ, 112, 189 (193); Joeres, Die sachliche Unabhängigkeit (Fn. 51/D.), DRiZ 2005, S. 321; Schilken, Sicherung (Fn. 50/D.), JZ 2006, S. 862; D. Leuze, Bemerkungen zur der Dienstaufsicht über Richter und zur richterlichen Befangenheit, in: DöD 2002, S. 133. 317
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Umgekehrt finden damit aber auch die aus den genannten Grundsätzen abgeleiteten Dienst- und Treuepflichten auf den Richter Anwendung. Dies schließt die Pflicht zur Verfassungstreue325 ein. Wer Staatsgewalt ausübt und Urteile im Namen des Volkes fällt, muss auf dem Boden der Verfassung stehen. Wer hierfür nicht die Gewähr bietet, ist für das Richteramt ungeeignet. Wie das Bundesverfassungsgericht ausführt326, ist damit nicht eine Verpflichtung gemeint, sich mit den Zielen oder einer bestimmten Politik der jeweiligen Regierung zu identifizieren, sondern vielmehr die Pflicht zur Bereitschaft, sich mit der Idee des Staates, dem der Richter dienen soll, mit der freiheitlichen demokratischen, rechts- und sozialstaatlichen Ordnung der Bundesrepublik zu identifizieren. Dies schließt nicht aus, an Erscheinungen dieses Staates oder einem bestimmten Regierungshandeln Kritik üben zu dürfen und für Änderungen der bestehenden Verhältnisse – innerhalb des Rahmens der Verfassung und mit den verfassungsrechtlich vorgesehenen Mitteln – eintreten zu können327. Diese politische Treuepflicht fordert aber mehr „als nur eine formal korrekte, im Übrigen uninteressierte, kühle, innerlich distanzierte Haltung gegenüber Staat und Verfassung“ 328; sie fordert insbesondere eine eindeutige Distanzierung von Gruppen und Bestrebungen, die diesen Staat, seine verfassungsmäßigen Organe und die geltende Verfassungsordnung angreifen, bekämpfen und diffamieren. Art. 98 Abs. 2 und Abs. 5 GG verdeutlichen die besondere richterliche Pflicht zur Verfassungstreue329. Soweit dies sich nicht schon aus Art. 92 Abs. 1 und Art. 97 Abs. 1 GG ergibt, fordern die hergebrachten Grundsätze des Richtertums die Rechts- und Gesetzestreue des Richters. Daneben zählen hierzu die Pflicht zum vollen Einsatz, zur Unparteilichkeit, Unbestechlichkeit, Neutralität, Amtsverschwiegenheit und politischen Mäßigung. Das Disziplinarrecht ist ebenfalls hergebracht. Auch die Beschränkung von Grundrechtspositionen kann durch die Verpflichtungen aus dem Berufsrichtertum rechtfertigen. Das Grundgesetz verlangt weiter, das die Rechtsstellung der Richter durch besondere Gesetze zu regeln ist (Art. 98 Abs. 1 und Abs. 3 GG), die ihrerseits die Pflichtenstellung des Richters ausgestalten (unten b)). Die Pflicht zur Verfassungstreue unterstreicht außerdem Art. 98 Abs. 2 und 5 Satz 1 GG330. Die Regelungen der in der Vergangenheit nicht wirksam geworde325 BVerfGE 39, 334 ff. und NJW 2008, S. 2568 ff.: Ehrenamtlicher Richter in Skinhead-Band; hierzu: Anger, Die Verfassungstreuepflicht der Schöffen, NJW 2008, S. 3041 ff.; Luik, Bemerkungen (Fn. 700/C.), SchlHolAnz. 2009, S. 100. 326 BVerfG (K), NJW 2008, S. 2568. 327 W. Priepke, Die politische Treuepflicht des Richters, in: DRiZ 1991, S. 4 ff. 328 BVerfGE 39, 334 (347 f.). 329 BVerfGE 39, 334 (347 f.). 330 Zu den Befürchtungen einer umfassenden politischen Kontrolle der Richter und zur Aufhebung der richterlichen Unabhängigkeit kurz nach dem Inkrafttreten des GG: H. Dahs, Die Stellung des Richters im Grundgesetz, in: NJW 1949, S. 688, 690 f.;
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nen Richteranklage bei einem Verfassungsverstoß halten zwar eine Fülle von Problemen hinsichtlich der objektiven und subjektiven Voraussetzungen sowie hinsichtlich des Verfahrens und der Rechtsfolgen bereit331. Dennoch normieren sie unzweifelhaft die Verpflichtung der (Bundes-)Richter, innerhalb und außerhalb des Dienstes die Grundsätze des Grundgesetzes und der Landesverfassungen zu achten332. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass bereits das Grundgesetz eine Fülle konkreter rechtlicher Amts- und Dienstpflichten des Richters begründet. Es bildet damit auch die verfassungsrechtliche Grundlage diese Pflichten einfachgesetzlich auszugestalten. Dieser Pflichtenkanon ergibt sich dabei nicht nur aus dem Dienstrecht, sondern auch aus den Prozessordnungen, dem Gerichtsverfassungsrecht, dem Strafrecht, dem Haftungsrecht sowie weiterer einfach-gesetzlicher Normenkomplexe: b) Pflichten des Richters aus dem Dienstverhältnis Das durch den Ernennungsakt zwischen dem Dienstherrn und dem Richter begründete öffentlich-rechtliche Dienst- und Treueverhältnis im Sinne des Art. 33 Abs. 4 GG333 gewährt nicht nur Rechte, sondern erlegt dem Richter eine Fülle von Rechtspflichten auf334. Das richterliche Verhalten wird daher in einem großen Umfang dienstrechtlich normiert und rechtlichen Pflichten unterstellt. Insoweit wird allerdings – wie zu zeigen ist – nicht selten das Ausmaß der rechtlich überformten und sanktionierten Verhaltensanforderungen an den Richter verkannt, mit der Folge, dass bestimmte Erwartungen „nur“ dem moralischen Anspruch unterstellt werden, dessen Erfüllung dann dem einzelnen Richter überlassen wird. Einzuräumen ist, dass sich viele der im deutschen Beamten- und Richterdienstrecht geregelten richterlichen Berufspflichten in anderen Ländern oder in über-/internationalen Kodizes als „ethische“ Pflichten finden. Nach der deutschen Rechtstradition und -lage besteht demgegenüber aber ein Vorrang der gesetzlichen Regelung der Amtspflicht. Dieser Umstand wird in der aktuellen Diskussion über die richterliche Ethik häufig nicht hinreichend in den Blick genommen. Die in Deutschland als Rechtspflichten ausgestalteten Pflichten gilt es daher zu bestimmen und von ethischen Pflichten zu unterscheiden335. hierzu außerdem G. C. Burmeister, Die Richteranklage im Bundesstaat, in: DRiZ 1998, S. 518 m.w. N. 331 Zum Ganzen Burmeister, Richteranklage (Fn. 330/D.), DRiZ 1998, S. 518 ff. m.w. N. 332 Geiger, Die Unabhängigkeit des Richters (Fn. 73/D.), DRiZ 1979, S. 67. 333 Zum (verfassungs-)rechtlichen Status des Richter: Barbey, Status des Richters, (Fn. 29/D.), S. 819 ff.; Hülsmann, Politische Betätigung (Fn. 18/D.), S. 44 ff. 334 Vgl. Schmidt-Räntsch, Richtergesetz (Fn. 770/C.), Vorbemerkung zu § 38. 335 Titz, Eid (Fn. 99/A.), DRiZ 2009, S. 32 gibt die verbreitete Auffassung wieder, mit dem Richtereid sei berufsethisch alles gesagt.
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aa) Allgemeine Amtspflichten aus dem richterlichen Dienstverhältnis Zu den Grundpflichten des Richters im engeren Sinne gehören Pflichten zur Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und Justizgewährleistung. Diese Kernpflichten ergeben sich in Deutschland aus dem Recht und sind damit in erster Linie keine berufsmoralischen Pflichten. Insbesondere die im fünften Abschnitt des ersten Teiles des Deutschen Richtergesetzes geregelten „besonderen Pflichten“, nämlich die Pflicht, den Richtereid zu leisten (§ 38 DRiG) und das Mäßigungsgebot, also die Pflicht, sich innerhalb und außerhalb des Dienstes so zu verhalten, dass das Vertrauen in seine Unabhängigkeit nicht gefährdet wird (§ 39 DRiG), bieten die einfach-rechtliche Grundlage für diese Kernpflichten. Außerdem hat sich ein Richter außerdienstlich bei schiedsrichterlicher und gutachterlicher Betätigung zurückzuhalten (§§ 40, 41 DRiG), bestimmte Nebentätigkeiten zu übernehmen (§ 42 DRiG) sowie die Pflicht, über Beratungen und Abstimmungen zu schweigen (§ 43 DRiG). Bereits aus den Ernennungsvoraussetzungen in § 9 DRiG lassen sich aber schon Rechtspflichten für das spätere Dienstverhältnis des Richters ableiten, die nach Ernennung durch spezielle Regelungen in Vollzug der verfassungsrechtlichen Vorgaben weiter gestaltet werden. So darf in das Richterverhältnis nur berufen werden, wer die Gewähr dafür bietet, dass er jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes eintritt. Damit ist die Verfassungstreue Grundlage des richterlichen Amtes, was im Eid vom Richter selbstverpflichtend für die Zukunft gelobt wird. Auch dass der Richter die formale Befähigung zum Richteramt besitzen muss (§§ 5 bis 7 DRiG), lässt auf die Pflicht schließen, Qualifikation und Wissen nicht nur im Ernennungszeitpunkt „bereit zu halten“, sondern im ganzen Berufsleben „vor- und beizubehalten“. Die aus dem Beamtenrecht abgeleitete Dienstpflicht zur Fortbildung ist insoweit jedenfalls für Bundesrichter Rechtspflicht (vgl. § 61 Abs. 2 BBG), nicht berufsmoralisches Gebot336. Soweit für Landesrichter keine unmittelbare gesetzliche Fortbildungspflicht besteht, zeigt sich in der Fortbildungsbereitschaft aber die Berufseinstellung, die auch Gegenstand von Beurteilungen sein kann337. Sie ist bei Landesrichter jedenfalls Gegenstand der richterlichen Moral. Über die erforderliche soziale Kompetenz gemäß § 9 Nr. 4 DRiG zu verfügen, ist ebenfalls kein Zustand, sondern eine dauerhafte Forderung an den Richter, die sich als Pflicht zur Selbstkorrektur im rechtlich begründeten Dienstverhältnis fortsetzt. Zur „notwendigen sozialen Kompetenz“ eines Richters zählen die Eigenschaften 336 Zu einer ausdrücklichen Regelung für Richter: M. Dyckmans, Fortbildungspflicht für Richter? in: DRiZ 2008, S. 149; zu den Argumenten für und gegen eine gesetzliche Fortbildungspflicht: Henning/Sandherr, DRiZ 2013, S. 396 f. 337 Schaberg, Unabhängigkeit (Fn. 13/D.), MHR 2/2009, S. 17, insbesondere zu der Wirklichkeit in Deutschland; Bolk, Richterliche Ethik (Fn. 126/A.), NRV-info SH 11/ 2006, S. 19, meint dagegen, die Fortbildungspflicht ergebe sich bereits aus der Bindung des Richters an Recht und Gesetz, sieht darin also eine rechtlich begründete Pflicht.
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Leistungsbereitschaft und Belastbarkeit, Identifikation mit dem Auftrag der Justiz, Fähigkeit zum Verhandeln und Ausgleich, Konflikt- und Entschlussfähigkeit, Kooperationsfähigkeit, soziales Verständnis, gesellschaftliches Engagement, Gerechtigkeit sowie verantwortungsbewusste Ausübung der anvertrauten Macht338. Daneben stehen weitere richterdienstrechtliche und insbesondere aus dem Beamtenrecht abgeleitete Dienstpflichten. So wird das öffentlich-rechtliche Richterdienstverhältnis von Dienstpflichten geprägt, die im Beamtenrecht geregelt und anerkannt sind339. Insoweit sind diese unter Beachtung der Besonderheiten des Richterdienstverhältnisses, also nur soweit sie mit der sonstigen Rechtsstellung des Richters vereinbar sind, entsprechend anzuwenden (vgl. § 46 und § 71 DRiG). Für Bundesrichter ergeben sich diese beamtenrechtlichen Pflichten aus §§ 60 ff. BBG, für Richter im Landesdienst aus den §§ 33 ff. BeamtStG in entsprechender Anwendung (vgl. § 62 Abs. 9 BeamtStG, § 71 DRiG). Der Richter hat sich deshalb als Ausdruck seiner Dienst- und Treuepflicht „mit vollem persönlichem Einsatz“ seinem Beruf zu widmen340 (vgl. § 61 Abs. 1 BBG, § 34 Satz 1 BeamtStG). Die in ausländischen Richterkodizes häufig geforderten Haltungen wie „Verantwortungsbewusstsein“, „Gewissenhaftigkeit“ und „Mut“ sind damit bereits im Kern richterliche Rechtspflichten. Der Richter hat weiter die ihm übertragenen Aufgaben uneigennützig nach bestem Gewissen wahrzunehmen. Sein Verhalten muss der Achtung und dem Vertrauen gerecht werden, die sein Beruf erfordert (§ 61 Abs. 1 Satz 2 und 3 BBG; § 34 Sätze 2 und 3 BeamtStG). Die in § 33 Abs. 1 und 2 BeamtStG von Beamten geforderte Unparteilichkeit, Allgemeinwohlorientierung, Verfassungstreue und Mäßigung ergeben sich wie bei der Pflicht zur Eidesleistung (§ 38 BeamtStG) – wie im Weiteren zu zeigen ist – für den Richter zwar aus spezialgesetzlichen Regelungen. Es spricht aber nichts gegen eine Übertragung des § 36 Abs. 1 BeamtStG auf den Richter, so dass er danach die volle persönliche Verantwortung für seine dienstlichen Handlungen trägt. Der Richter ist weiter rechtlich verpflichtet, den Umgang mit den Medien grundsätzlich, auch soweit die spruchrichterliche Tätigkeit betroffen ist, über die Behördenleitung zu pflegen (§ 70 BBG). Folgende weitere – und in ausländischen Kodizes häufig als ethische Anforderung genannten – Pflichten sind in Deutschland dienstrechtliche Amtspflichten: Die Pflicht zur Integrität, ergibt sich aus dem Verbot der Annahme von Belohnungen, Geschenken und sonstigen Vorteilen (§ 42 BeamtStG)341. Dieser Aspekt war – wie oben im Kapitel C. 338 BT-Drs. 14/8629, S. 13 f. Vgl. VG Berlin, U. v. 20.03.2013 – VG 7 K 302.12 – zit. nach Juris. 339 Vgl. die Aufzählung bei H. Steiner, Die Pflichtenstellung des Beamten, in: ZBR 2014, S. 238. 340 Früher „mit voller Hingabe“. Zu den rechtlichen Grundlagen der richterlichen „Gewissenhaftigkeit“: Sandhaus, Richterliche Ethik (Fn. 890/C.), S. 476. 341 Diese werden regelmäßig durch Verwaltungsvorschriften zur Korruptionsbekämpfung konkretisiert; vgl. auch unten 3. c).
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festgestellt – Ausgangspunkt der Vereinten Nationen, zur Bekämpfung der Korruption in Common-Law-Ländern ohne richterrechtliche Pflichtenregeln Ethikkodizes zu etablieren. Hinzu kommen gesetzliche Verbote, wie das beamtenrechtlich begründete Streikverbot342. Nicht anzuwenden sind dagegen etwa die Beratungs- und Unterstützungspflicht gegenüber dem Vorgesetzten in richterlichen Geschäften (§ 62 BBG, § 35 BeamtStG). bb) Besondere richterrechtliche Pflichten: Eid, Mäßigung, Nebentätigkeit Im Folgenden sollen die Grundpflichten des Richters im engeren Sinne, die Pflicht zur Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und Justizgewährleistung, einer näheren Betrachtung unterzogen werden, weil sie zum Teil an der besonderen Nahtstelle zwischen dem Dienstrecht und der richterlichen Ethik liegen. (1) Pflicht zur Ableistung des Richtereids und die aus diesem abzuleitenden Pflichten Nach § 38 Abs. 1 DRiG 1. Halbsatz „hat“ jeder Richter343 in öffentlicher Sitzung eines Gerichts den gesetzlich vorgegebenen Eid zu leisten. Unmittelbar nach der Ernennung und damit am Beginn der richterlichen Tätigkeit steht mithin eine rechtlich angeordnete Selbstverpflichtung und ein Bekenntnis zum demokratischen Rechtsstaat344 sowohl gegenüber den Rechtssuchenden als auch gegenüber seinem Dienstherrn, dem Bund oder einem Land345, ohne die er seinen Dienst nicht beginnen kann. Kommt er dieser Rechtspflicht nicht nach, ist er ohne Rücksicht auf seine Gründe, den Eid zu verweigern, zu entlassen (§ 21 Abs. 2 Nr. 1 DRiG). Hat der Richter den Eid aber einmal346 geleistet, ist er für die Dauer seines Dienstverhältnisses an diese rechtlich vorgegebene Selbstverpflichtung gebunden. Der Richter hat demnach nur die Wahl, sich in die im Eid geforderte Selbstverpflichtung zu begeben oder das Richteramt nicht auszuüben. Insofern steht am Anfang der richterlichen Tätigkeit ein bedingungsloses Einlassen auf die Verpflichtung richterlicher Grundwerte und -pflichten. Im Eid und seiner Ableistung treffen in besonderer Weise Unterwerfung unter Rechtspflichten und die Selbstverpflichtung zur Einhaltung richterethischer Grundsätze zusammen. Denn dass der Eid letztere enthält, ist unbestritten. Bereits die Begründung des Gesetzgebers zum Richtereid des Deutschen Richtergesetzes vom 01.07.1962 führt insoweit aus: „Der ethische und verfassungsrecht342
Zur historischen Herleitung: Feindt, Beamtenethos (Fn. 3/B.), DÖD 1981, S. 21. Eine Ausnahme gilt für Richter am Bundesverfassungsgericht: § 11 BVerfGG. 344 BVerfG, NJW 2008, S. 2568, 2570. 345 Zu den Fällen eines Wechsels des Dienstherrn: Schmidt-Räntsch, Richtergesetz (Fn. 770/C.), § 38 Rdnr. 3. 346 Vgl. Schmidt-Räntsch, Richtergesetz (Fn. 770/C.), § 38 Rdnr. 3. 343
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D. Elemente einer richterlichen Metaethik
liche Gehalt der Richterpflichten wird (. . .) in dem Richtereid umschrieben.“ 347 Die Gesetzesbegründung und der Gesetzestext machen außerdem deutlich, dass diese Pflichten nicht nur ethische, sondern auch (verfassungs)rechtliche Grundlagen haben. Der Richter hat also mit oder ohne religiöse Beteuerungsformel zu schwören, „das Richteramt getreu dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland und getreu dem Gesetz auszuüben, nach bestem Wissen und Gewissen ohne Ansehen der Person zu urteilen und nur der Wahrheit und Gerechtigkeit zu dienen.“ Auch wenn der Richtereid als „Fundament der richterlichen Ethik“ bezeichnet wurde348, liegt in ihm doch in erster Linie eine rechtliche Selbstbindung. Insofern trifft die Auffassung zu, es reiche nicht aus, einmal den Eid zu sprechen und sich dann um Berufsethik nicht mehr zu kümmern349. Denn sollte dies tatsächlich der Fall sein, verletzt der Richter nämlich überdies auch Rechtspflichten und nicht „nur“ berufsmoralische Anforderungen. Fraglich ist aber, ob das geforderte Bemühen, „den Eid mit Leben zu erfüllen“ 350, angesichts der gerade vom Richter dauerhaft zu achtenden Rechtspflichten, den Anforderungen des Eids überhaupt gerecht wird. Die Auffassung, der Eid sei „die besondere Form, in welcher der Richter bekräftigt, seine Richterpflichten zu erfüllen“ 351, trifft hingegen den Kern. Allerdings bestehen Zweifel an der Auffassung, das Eidesversprechen richte sich nicht auf ein bestimmtes, objektiv nachprüfbares Verhalten, sondern nur darauf, sich bei der Wahrnehmung des anvertrauten Richteramtes von der Bindung an Grundgesetz und Gesetz leiten zu lassen und nach bestem individuellem Vermögen in sachbezogener Unvoreingenommen zu urteilen352. Letzteres verspricht er sicher auch. Mit seiner Bindung an das Gesetz verspricht er aber auch seine Rechtspflichten einzuhalten und zwar jeweils bei seinem konkreten Handeln. Gerade weil sich im Richtereid rechtliche und berufsmoralische Pflichten des Richters verbinden, muss seine nähere Untersuchung im vorliegenden Kontext, die die Trennlinie von Recht und Moral im Blick hat, in besonderer Weise vorgenommen werden: Die Eidesleistung selbst führt zu einer Selbstverpflichtung und Anerkennung der eigenen Bindungen gegenüber dem Gemeinwesen. Allerdings liegt der Schwerpunkt nicht auf den jeweiligen ethischen und weltanschaulichen Präferenzen des richterlichen Individuums. Dies ergibt sich bereits daraus, dass der Richter, um das Amt überhaupt antreten zu können, den Eid leisten muss. Er muss zudem in einem öffentlichen Rahmen, nämlich einer mündlichen Verhand347 348 349 350 351 352
BT-Drs. 3/516, S. 44 ff. Baltzer, Gespenst (Fn. 69/C.), KritV 2008, S. 483. Titz, Eid (Fn. 99/A.), DRiZ 2009, S. 32. Titz, Eid (Fn. 99/A.), DRiZ 2009, S. 32. Schmidt-Räntsch, Richtergesetz (Fn. 770/C.), § 38 Rdnr. 2. So aber Barbey, Status des Richters (Fn. 29/D.), S. 850.
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lung353, stattfinden. Damit ist sie gerade ein öffentlicher Akt, nicht nur ein persönliches Bekenntnis des Richters. Allen Vorstellungen, die richterliche Ethik zu einer Individualethik des Richters und von seinen persönlichen Präferenzen abhängig machen wollen354, steht damit nicht nur das Richteramt als öffentliches Amt, sondern gerade die öffentliche Selbstverpflichtung im Richtereid entgegen. Damit ist konsequenterweise auch geklärt, dass es keine Freistellung von der Eidesleistung aufgrund bestimmter religiöser Überzeugungen geben kann, die das Schwören verbieten. Der Staat und die Bürger erwarten die Selbstverpflichtung des Richters auf die rechtlichen und moralischen Fundamente des Richterberufs, weil er nicht in eigenem Interesse handelt, sondern im Interesse des Gemeinwohls. Hieraus – und nicht aus dem Umstand, dass der Richter bei der Ausübung seines Amtes Eidesleistungen etwa von Zeugen entgegennehmen muss – folgt, dass keiner Richter sein kann, wenn er glaubt, eine Eidesleistung verstoße gegen Gottes Gebot355. Im öffentlichen Eid wie durch den Inhalt des Eides wird nämlich das gesetzgeberische Leitbild des pflichtbewussten, gemeinwohlorientierten und gemeinwohlförderlichen Verhaltens des Richters356 betont. Der abgelegte Eid lässt erwarten, dass er in diesem Sinne das Richteramt ausüben wird, das ihm durch die zuständigen Instanzen anvertraut wurde (vgl. Art. 92 GG)357. Indem der Richter sich selbst verpflichtet, antwortet er auf das in ihn gesetzte „Vertrauen“ 358, er werde das Recht im Sinne der verfassungsmäßigen Grundordnung, insbesondere der hinter ihr stehenden Werteordnung, sprechen und die Erwartung erfüllen, sein Amt verantwortungsbewusst auszuüben. Die Verantwortung besteht dabei nicht gegenüber den anderen beiden Staatsgewalten, sondern gegenüber der durch die Verfassung getragenen Rechtsordnung359. Diesen Zusammenhang hat das Bundesverfassungsgericht deutlich gemacht, als es den Inhalt des Eides zu einem Kriterium schon für die Auswahl des Richters gemacht hat. Danach bieten die nach dem Inhalt des Eides vorausgesetzten den Richtern auferlegten Pflichten zugleich einen wesentlichen Anhaltspunkt dafür, nach welchen Kriterien sie auszuwählen sind. Demgemäß hätten die Landesjustizverwaltungen etwa streng darauf zu achten, „dass nur solche Rechtsanwälte zu Mitgliedern der Ehrengerichte ernannt werden dürfen, die nach ihrem Persönlichkeitsbild und ihrer fachlichen Befähigung – einschließlich ihrer Ein353
Luik, Bemerkungen (Fn. 700/C.), SchlHolAnz. 2009, S. 102 ff. Zur Gefährdung des Richterberufs durch die Übertragung der Privatmoral auf die richterliche Berufsmoral: Somek, Richterethos (Fn. 4/B.), ÖsterrRZ 1985, S. 267. 355 BT-Drs. 3/516, S. 44: „Der ethische und verfassungsrechtliche Gehalt der Richterpflichten wird nicht in einer allgemeinen Bestimmung, sondern in dem Richtereid umschrieben.“ 356 Dreier, Verantwortung (Fn. 33/D.), S. 27. 357 Luik, Bemerkungen (Fn. 700/C.), SchlHolAnz. 2009, S. 99. 358 Luik, Richtereid (Fn. 76/A.), BJ 2009, S. 74. 359 Priepke, Treuepflicht (Fn. 327/D.), DRiZ 1991, S. 4. 354
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stellung zu den Grundentscheidungen unserer Verfassung – die Gewähr dafür bieten, dass sie die ihnen von Verfassungs und Gesetzes wegen obliegenden, durch den Eid bekräftigten richterlichen Pflichten jederzeit uneingeschränkt erfüllen werden.“ 360 In der Formel getreu dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland und getreu dem Gesetz bezieht sich der Richtereid auf die Pflicht zur Verfassungs- und Gesetzestreue. Ihre Erfüllung ist die Bedingung dafür, dass dem Richter die Rechtsprechung überhaupt „anvertraut“ wird. Er ist Treuhänder des Rechts und übt damit keine eigene, sondern verliehene Macht aus361. Auch wenn dem Eid keine Festlegung auf eine bestimmte Auslegungsmethode362, insbesondere keine Festlegung auf eine streng positivistische363 zu entnehmen ist, so heißt dies nicht, dass der Richter nur lose an das Gesetz gebunden wäre. Ohne die streitige Diskussion zum Bindungspostulat zu wiederholen, gilt jedenfalls: Er hat den entscheidungserheblichen Sachverhalt abzugrenzen, sorgfältig aufzuklären, alle anerkannten Regeln der Gesetzesanwendung zu nutzen und die Entscheidung transparent zu begründen. Die versprochene „Treue“ gegenüber den Wertentscheidungen des Grundgesetzes, insbesondere der in Art. 1 GG und der in den nachfolgenden Grundrechten, verlangt außerdem vom Richter, dass er sich in seiner Tätigkeit schützend und fördernd vor die Grundrechte des Einzelnen stellt364. Die verfassungsrechtliche Treuepflicht, die für den Landesrichter auch die jeweilige Landesverfassung umfasst, gebietet – wie beim Beamten – darüber hinaus dem Richter umfassend, „den Staat und seine geltende Verfassungsordnung zu bejahen und dies nicht bloß verbal, sondern auch dadurch, dass er die bestehenden verfassungsrechtlichen und gesetzlichen Vorschriften beachtet und erfüllt. Die politische Treuepflicht fordert mehr als nur eine formal korrekte, im Übrigen uninteressierte, kühle, innerlich distanzierte Haltung gegenüber Staat und Verfassung; sie fordert vom Beamten [wie vom Richter], dass er sich eindeutig von Gruppen und Bestrebungen distanziert, die diesen Staat, seine verfassungsmäßigen Organe und die geltende Verfassungsordnung angreifen, bekämpfen und diffamieren.“ 365 Hieraus folgt, dass eine wertfreie oder wertindifferente Rechtsprechung gegen die eidesmäßige Selbstverpflichtung verstieße. Bei der Gesetzesanwendung ist der Richter verpflichtet, „im konkreten Einzelfall die Wertentscheidungen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers nachzuvollziehen und das Recht auch dann zu finden und auszusprechen, wenn z. B. unbestimmte
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BVerfGE 48, 300 (321). Luik, Bemerkungen (Fn. 700/C.), SchlHolAnz. 2009, S. 99. 362 BT-Drs. 3/516, S. 44. 363 Schmidt-Räntsch, Richtergesetz (Fn. 770/C.), DRiG, § 38, Rdnr. 4; Gesetz ist dabei gemäß Art. 2 EGBGB jede Rechtsnorm. 364 BVerfG (K), NJW 2003, S. 1236, 1237. 365 BVerfGE 39, 334 (347 f.). 361
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und auslegungsbedürftige Rechtsbegriffe oder Generalklauseln verwendet werden oder das Gesetz lückenhaft ist.“ 366 Nach bestem Wissen zu urteilen, verpflichtet den Richter zum einen seine gesamten Fähigkeiten, sein Fachwissen, Weltwissen und seine soziale Kompetenz (vgl. § 9 Nr. 4 DRiG) anzustrengen und einzusetzen sowie zum anderen diese Fähigkeiten, soweit sie – etwa im Rahmen von Fortbildungen – zu optimieren sind, zu verbessern367. Gründlichkeit, Sorgfalt und Fleiß „sowie überhaupt eine Identifikation mit den Aufgaben, die der Beruf mit sich bringt“ 368, ist damit gefordert und versprochen. Die Verpflichtung, nach bestem Gewissen zu urteilen, eröffnet im Richterdienstrecht, also auf rechtlicher Grundlage, eine Verpflichtung auf einen außerrechtlichen, nämlich moralischen Maßstab für richterliches Handeln369. In diesem Eidesbestandteil fordert das Gesetz eine Selbstverpflichtung zu einem (berufs-)moralisch verantworteten Handeln. Hier liegt die rechtliche Verankerung einer richterlichen Ethik und – wegen der Öffentlichkeit des Amtes – eine Nahtstelle zwischen individueller und öffentlicher Ethik370. Dass dadurch erhebliche Konfliktpotentiale im Selbstverpflichtungsprogramm des Eides liegen, ist offenkundig371. Es geht zum einen um den – in der Rechtsphilosophie dauerhaft diskutierten372 – Konflikt zwischen der richterlichen Bindung an das positive Gesetz und der damit aufgeworfenen ethischen Verpflichtung, dieses Gesetz bzw. den daraus abgeleiteten Spruch am Maßstab der „Gerechtigkeit“, des Naturrecht oder der Sittlichkeit selbst auf seine rechtsethische Tragfähigkeit hin zu prüfen373. Zum anderen wird der gesetzesgebundene Richter gleichzeitig auf sein eigenes, individuelles Gewissen verpflichtet, das unter Umständen im Wider366 S. Luik, Der Richtereid des Deutschen Richtergesetzes – eine kleine Richterethik, in: Schleswig-Holsteinischer Richterverband Info 2/2012, S. 37; zur Pflicht von ehrenamtlichen Richter zur Verfassungstreue: BVerfG (K), NJW 2008, S. 2568. 367 Vgl. Schmidt-Räntsch, Richtergesetz (Fn. 770/C.), § 38 Rdnr. 4. 368 Luik, Richtereid des DRiG (Fn. 366/D.), S. 38. 369 Grundlegend: E. Hirsch, Zur juristischen Dimension des Gewissens und der Unverletzlichkeit der Gewissensfreiheit des Richters, Berlin, 1979; Evers, Das unsittliche Gesetz (Fn. 270/D.), insbesondere S. 109 ff. 370 Müller, Ethik (Fn. 132/A.), BWVPr 1992, S. 250; Simon, Unabhängigkeit des Richters (Fn. 469/C.), S. 147, hält die Entscheidungsinstanz „Gewissen“ für inzwischen theoretisch wie sozialwissenschaftlich völlig diskreditiert. Danach wäre dieses Element des Richtereides rechtlich wie moralisch gegenstandslos. 371 Grundlegend Evers, Das unsittliche Gesetz (Fn. 270/D.). 372 Evers, Das unsittliche Gesetz (Fn. 270/D.), S. 40 ff.; dort auch zur moralphilosophischen Herleitung einer gelockerten Bindung an das „unsittliche“ Gesetz bzw. zur strengen Gesetzesbindung. 373 Zu entsprechenden Überlegungen aufgrund Art. 132 des Herrenchiemseer Verfassungsentwurfs: K. Peters, Das Gewissen des Richters und das Gesetz, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Gegenwartsprobleme des Rechts, Bd. 1, NF Heft 1, Paderborn 1950, S. 23 f.
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spruch zu den Forderungen des Gesetzes (andere) subjektive moralisch-ethische Haltungen des Richters dagegenstellt374. Eine Untersuchung der richterlichen Ethik muss daher in besonderer Weise hier ansetzen und den Gegenstand und die Reichweite dieser eidlichen Verpflichtung ausloten: Ausgangspunkt für den Inhalt und die Reichweite der Verpflichtung ist zunächst der Begriff des Gewissens375. Es gibt keinen Zweifel, dass er – wie in Art. 4 Abs. 1 GG – im Sinne des allgemeinen Sprachgebrauchs verstanden werden muss. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist „Gewissen“ im Sinne des allgemeinen Sprachgebrauchs als ein „wie immer begründbares, jedenfalls aber real erfahrbares seelisches Phänomen zu verstehen, dessen Forderungen, Mahnungen und Warnungen für den Menschen unmittelbar evidente Gebote unbedingten Sollens sind.“ 376 Das Bundesverfassungsgericht hat betont, dass es bei dieser Begriffsbestimmung keiner Auseinandersetzung mit theologischen und philosophischen Lehren über Begriff, Wesen, Ursprung des Gewissens bedürfe; sie überschritte die Kompetenz des die Norm Auslegenden und wäre auch rechtlich unergiebig, weil über viele der hier auftretenden Probleme in den zuständigen Disziplinen tiefgehende Meinungsverschiedenheiten bestehen. „Gewissensentscheidung“, die nach bestem Gewissen getroffen wird, im Sinne dieser Rechtsprechung „ist jede ernste sittliche, d. h. an den Kategorien von ,Gut‘ und ,Böse‘ orientierte Entscheidung, die der einzelne in einer bestimmten Lage als für sich bindend und unbedingt verpflichtend innerlich erfährt, so dass er gegen sie nicht ohne ernste Gewissensnot handeln könnte. Eine Gewissensentscheidung wird – das folgt aus ihrem Wesen – stets angesichts einer bestimmten Lage getroffen, in der es innerlich unabweisbar wird, sich zu entscheiden; der Ruf des Gewissens wird dem Einzelnen vernehmbar als eine sittliche und unbedingt verbindliche Entscheidung über das ihm gebotene Verhalten. In diesem Sinn ist die Gewissensentscheidung wesenhaft und immer ,situationsbezogen‘; dass sie zugleich ,normbezogen‘ sein kann, etwa wenn es sich um die 374 Zu dieser subjektiven Seite: Peters, Gewissen des Richters (Fn. 373/A.), S. 23 f., der die besonderen individuellen Prägungen und den dabei möglichen Irrtum deutlich macht. 375 Zur historischen und begrifflichen Einordnung vgl. D. Deiseroth, Gewissensfreiheit und Recht – Entwicklungslinien, grundrechtliche Dimension und konkrete Konfliktlagen, in: BJ 2008, S. 228 ff.; Hirsch, Dimension des Gewissens (Fn. 369/D.), S. 32 ff.; Paul, Gewissen (Fn. 57/B.), S. 14 ff.; A. Podlech, Der Gewissensbegriff im Rechtsstaat, in: AöR Bd. 88 (1963), S. 185 ff., der sich allerdings mit rechtlichen Auffassungen auseinandersetzt, die heute im juristischen Kontext nicht mehr vertreten werden. Allerdings werden auf S. 200 grundlegende Erwägungen zur Gewissensfreiheit im Rechtsstaat angestellt. 376 BVerfGE 12, 45; 23, 191; DVBl. 1992, S. 1589; hierzu: Deiseroth, Gewissensfreiheit (Fn. 375/A.), BJ 2008, S. 231; Faller, Richterliche Unabhängigkeit (Fn. 82/D.), S. 99, rekurriert auf diese Definition auch im Zusammenhang mit dem richterlichen Gewissen. Er betont allerdings, dass richterliches Handeln eher von Zweckmäßigkeitsals von Gewissensfragen geprägt sei.
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Bewährung einer grundsätzlichen weltanschaulichen Überzeugung oder Glaubenshaltung handelt, wird damit nicht geleugnet, denn dabei geht es um die besondere Frage, welche Maßstäbe und Einflüsse auf das Zustandekommen der Entscheidung ,bewusst oder unbewusst‘ einwirken.“ Als Ausdruck der Gewissensfreiheit wird durch Art. 4 Abs. 1 GG nicht nur das „forum internum“ geschützt, sondern auch die gewissensorientierte Lebensführung377. Diese auch jedem Richter ohne jegliche ausdrückliche Schranke gewährleistete Freiheit wird in Ausübung der richterlichen Tätigkeit allerdings Beschränkungen unterliegen müssen, weil sonst die Wahrnehmung der richterlichen Funktion, insbesondere die Gesetzesbindung – ein durch das Grundgesetz gewährleistetes Gut (Art. 97 Abs. 1 GG) –, infrage gestellt wäre. Ein auf das Gewissen rekurrierender Eid kann anders als ein bloßer Gehorsamseid378, der den Willen eines Befehlenden oder „Führers“ zum alleinigen Maßstab macht und der den Gehorsam nicht mehr von einer eigenständigen Bewertung anhand von Grundwerten und -überzeugungen abhängig macht, den Richter, will er sich zu einem Handeln nach seinem Gewissen verpflichten, in ein grundlegendes Dilemma stürzen. Für das Handeln des Richters ist – wiederum anders als für den, der bei der früher bestehenden Wehrpflicht den Dienst an der Waffe verweigern wollte – die Freiheit seines Gewissens und seiner Entscheidungen, in denen sich seine autonome, verantwortliche und sittliche Persönlichkeit379 unmittelbar ausspricht, nämlich nicht als „unverletzlich“ anerkannt (Art. 4 Abs. 1 und 3 GG)380. Es ist vielmehr eingebettet in seine gleichzeitig versprochene Gesetzes- und Verfassungsbindung381, was in Einzelfällen zu Kollisionen und nur schwer auflösbaren Aporien zwischen der Rechts- und Gewissensbindung führen kann, nämlich dann, wenn die Forderungen des Rechts und des Gewissens des Richters auseinanderfallen. Anders als beim Kriegsdienstverweigerer räumt der Gesetzgeber in der Konfliktlage zwischen der Gesetzesbindung und der Gewissensbindung des einzelnen Richters dem Schutz des freien (richterlichen) Einzelgewissens keinen Vorrang ein. Es besteht vielmehr die Grundforderung, in erster Linie dem Willen des demokratischen Gesetz- und Verfassungsgebers zu folgen382. Anders auch als etwa bei der ärztlichen Gewissensentscheidung, die zu 377
Deiseroth, Gewissensfreiheit (Fn. 375/A.), BJ 2008, S. 229. Vgl. aber zu den auch insoweit bestehenden Grenzen (auch aus Gewissensgründen): Deiseroth, Gewissensfreiheit (Fn. 375/A.), BJ 2008, S. 234 f. 379 Zum Zusammenhang zwischen Persönlichkeit und Gewissen: Peters, Gewissen des Richters (Fn. 373/A.), S. 23, 25 f. und 28 f. 380 Hierzu im Einzelnen: Hirsch, Dimension des Gewissens (Fn. 369/D.), S. 117 ff. 381 Evers, Das unsittliche Gesetz (Fn. 270/D.), S. 120 ff. 382 Anders wohl Maihofer in Anschluss an den „frühen“ Radbruch zit. nach Krey, Richterliche Rechtsfortbildung (Fn. 144/D.), JZ 1978, S. 364: „Wir verachten den Richter, der gegen seine Überzeugung entscheidet, und wir verehren ihn, wenn er sich in seiner Rechtstreue durch noch so schlechte oder gar falsche, durch noch so ungerechte oder gar unsittliche Gesetze nicht beirren lässt.“ 378
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dem durch Art. 2 i. V.m Art. 1 Abs. 1 GG gewährleisteten Schutz der Persönlichkeit gehört383, überlagert das öffentlich-rechtliche Dienst- und Treueverhältnis des Richters seine Gewissensbindung, weshalb diese Rechtsfigur nicht auf den Richter anwendungsfähig ist384. Wesentlicher Inhalt des Richterdienstverhältnisses ist nämlich die öffentlich-rechtliche Pflicht, dem Recht und dem Gesetz zur Geltung zu verhelfen. Eine unabhängige Justiz als Garant der Rechtsstaatlichkeit, insbesondere der Rechtssicherheit, des effektiven Rechtsschutzes und der materiellen Grundrechte der Rechtssuchenden stünde in Frage, beriefe sich der Richter im Konfliktfall bei seiner Entscheidung auf seine vom Recht abweichende Gewissensentscheidung. Die Geltung des allgemeinen Gesetzes könnte dann in Frage stehen, wenn sie vom Gewissen des Richters abhängig gemacht würde385. Allerdings darf umgekehrt die sich ebenfalls aus dem Richterdienstrecht ergebende Pflicht, Entscheidungen nach bestem Wissen und Gewissen zu treffen, nicht leerlaufen. Die Frage ist daher, wie der im System angelegte echte „Gewissenskonflikt“ 386, der aus der Pflicht zur Gesetzestreue und der Pflicht, seinem Gewissen zu folgen, entstehen kann, aufzulösen ist: Versteht man die Verpflichtung, nach bestem Gewissen zu entscheiden, als eigenständige Verpflichtung neben der Verpflichtung zur Verfassungs- und Gesetzestreue, dürfte dies kaum gelingen. Eine mögliche Lösung könnte zwar sein, dass der Richter im Konfliktfall eine Abwägung zwischen der Forderung des Gesetzes und der seines Gewissen vornehmen muss. Wegen der – hier vorausgesetzten – unbedingten Rechtsbindung des Richters und der fehlenden Remonstrationsmöglichkeit387 einerseits und der Gewissensbindung, die eine Unbedingtheit und Intensität der Forderung der Entscheidung voraussetzt388, andererseits erscheint dieses Modell aber sehr problematisch. Vielmehr spricht alles dafür, Rechts- und Gesetzesgehorsam auch dann zu fordern, wenn das rechtliche Ergebnis der moralischen Grundüberzeu383
BVerwGE 127, 303. So aber W. Pötter, Richterrecht und richterliches Gewissen, in: Beiträge zum Richterrecht, in: Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft, Veröffentlichung der Sektion für Rechts- und Staatswissenschaft, Neue Folge, Heft 5, 1968, S. 47. Nach der Entscheidung des BVerwG (BVerwGE 127, 302 ff.), ist auch die Frage aufgeworfen, ob die dortigen Überlegungen zur „berechtigten Befehlsverweigerung aus Gewissensgründen“ auf den Richter anzuwenden ist. 385 Ellscheid, Recht und Moral (Fn. 40/A.), S. 225 f.; Faller, Richterliche Unabhängigkeit (Fn. 82/D.), S. 99. 386 Ein Gewissenskonflikt verlangt mehr als eine vom Gesetz abweichende Zweckmäßigkeitsüberlegung oder politische Wertung. Zum Gewissenskonflikt: Lansnicker, Richteramt (Fn. 472/C.), S. 110 f.; Paul, Gewissen (Fn. 57/B.), S. 4, meint, das Recht und Gewissen nur ausnahmsweise Gegensätze sind; zu den denkbaren Fallgruppen des Gewissenskonflikts: Peters, Gewissen des Richters (Fn. 373/A.), S. 23, 32 ff. Dort wird auch der echte Gewissenskonflikt näher umschrieben. 387 Hierzu BVerwGE 113, 361. 388 Relativierend: Esser, Vorverständnis und Methodenwahl (Fn. 123/D.), S. 149. 384
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gung und den Gewissensforderungen des Richters widerspricht389. Denn Art. 97 GG legt die Bindung an das Gesetz als einzige, aber fundamentale Grenze der richterlichen Unabhängigkeit und damit der richterlichen Freiheit fest. Die strikte Bindung an das Gesetz entspricht mithin den Vorstellungen des Verfassungsgebers390. Hinzu kommt, dass die unbedingte Wahrung des Rechts selbst einen rechtsethischen Gehalt hat391. Schließlich ist dem einfachen Richter die Normverwerfungskompetenz gesetzlich genommen (Art. 100 GG). Allerdings könnte immer dann, wenn das Recht durch ethisch-normative Tatbestandsmerkmale das Gewissen berührende Fragen aufwirft (Gewissen in Art. 4 Abs. 1 und 3, Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG, Treu und Glauben; Sittengesetz; sittliche Gefährdung; unsittlich . . .) und damit in Teilen auf die Entscheidung auch über moralische Fragen zielen, dem Richter zugestanden werden, neben den auch insoweit geltenden rechtlichen Maßstäben auch seinen Gewissensforderungen folgen zu dürfen392. Aber selbst dies erscheint problematisch, weil auch dort Recht zur Anwendung kommen muss. Außerhalb dieses (engen) Feldes kann eine Entscheidung nach „bestem Gewissen“ jedenfalls schnell unmöglich werden. Würde etwa eine über rechtliche Erwägungen hinaus mit einer Gewissensforderung begründete Entscheidung eines Instanzrichters aufgehoben und zurückverwiesen, bestünde für ihn der rechtliche Zwang zur Folge. Dieses Dilemma lässt sich systemimmanent de lege lata nur abmildern, wenn auch nicht auflösen. So bleibt dem Richter die Möglichkeit, die Gründe, die ihn zur (vermeintlich) gesetzeswidrigen Gewissensentscheidung drängen, daraufhin zu überprüfen, ob die in ihr zum Ausdruck kommende Werthaltung nicht eine Entsprechung in der Wertordnung der Grundrechte oder allgemeiner Rechtsprinzipien (Willkürverbot, Verhältnismäßigkeit, . . .) findet. Wäre dies so, wäre auch die Grundlage der eigenen Gewissensentscheidung quasi „verrechtlicht“. Er hätte unter Umständen dann die Möglichkeit, das Gesetz, das dieser Wertung entgegensteht, als seiner Überzeugung nach verfassungswidrig gemäß Art. 100 Abs. 1 GG dem Bundesverfassungsgericht vorzu389 Dieses Verständnis ist auch in den Beratungen des Parlamentarischen Rates zu Art. 97 Abs. 1 GG deutlich zum Ausdruck gekommen. Vgl. die Äußerungen Zinns und Dehlers wiedergegeben bei Hillgruber, „Neue Methodik“ (Fn. 626/C.), JZ 2008, S. 746. Peters, Gewissen des Richters (Fn. 373/A.), S. 23, 36. 390 Wassermann, Macht (Fn. 20/A.), DRiZ 1986, S. 204. 391 Ellscheid, Recht und Moral (Fn. 40/A.), S. 225 f. 392 Diese Auffassung ist höchst streitig; vgl. etwa F. Wieacker, Vertragsbruch aus Gewissensnot, in: JZ 1954, S. 466. Die Zeitbedingtheit der Ergebnisse dieses Verfahrens zeigt etwa die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zum früheren Kuppeleitatbestand, bei der naturrechtliche Sittengesetze zu Ehe und Sexualität in ihrer Unabänderlichkeit dargestellt wurden und die aus heutiger Sicht – selbst im Grundsatz – kaum noch geteilt werden: BGHSt 6, 46 ff., 52: „Nun kann es aber nicht zweifelhaft sein, dass die Gebote, die das Zusammenleben der Geschlechter und ihre geschlechtlichen Beziehungen grundlegend ordnen und die dadurch zugleich die gesollte Ordnung der Ehe und der Familie (in einem entfernteren Sinne auch die des Volkes) festlegen und verbürgen Normen des Sittengesetzes sind und nicht bloße dem wechselnden Belieben wechselnder gesellschaftlicher Gruppen ausgelieferter Konventionalregeln.“
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legen. Folgt ihm das Verfassungsgericht darin, fielen – für ihn – Rechts- und Gewissensentscheidung zusammen. Entscheidet es aber nicht im Sinne des Richters, hätte er seine Gewissensentscheidung zu überprüfen. Freilich sind auch daneben Einzelfälle denkbar, etwa bei der Einbindung in ein Kollegialgericht oder bei der Unmöglichkeit, die Gewissensgründe – wie beschrieben – zu „verrechtlichen“ (etwa weil an der Gültigkeit des Gesetzes kein Zweifel besteht), in denen dieses Modell nicht funktioniert393. In diesen Fällen kann sich der Richter dem Dilemma, gegen sein Gewissen zu entscheiden, rechtlich ordnungsgemäß nur entziehen, wenn er einen Antrag auf Entlassung stellen würde394. De lege ferenda395 wäre dieser Konflikt dann zu lösen, wenn er als Fall der „Befangenheit“, der nach herkömmlichen Verständnis in diesen Situationen nicht vorliegt, gesetzlich definiert würde. Allerdings wären – soweit dies überhaupt möglich ist – zur Sicherung der Funktionsfähigkeit der Rechtspflege sowohl Voraussetzungen als auch Grenzen einer gewissensbedingten „Selbstablehnung“ genau zu bestimmen. Denn die Rechtsprechung darf nicht der Gefahr ausgesetzt werden, dass ein „ungeprüftes“, insbesondere rational nicht hinterfragtes396 oder besonders „strenges“ 397 Gewissen Ausgangspunkt dafür würde, dem Rechtsuchenden den gesetzlichen Richter zu entziehen. Das beschriebene und letztlich schwer auflösbare Dilemma von konfligierender Gesetzes- und Gewissensbindung bestünde dann nicht, wenn der Eid den Richter gar nicht in ein solches stürzen will. Denn der Wortlaut des § 38 Abs. 1 DRiG bettet die Forderung, nach bestem Wissen und Gewissen zu entscheiden, in die Treue zur Verfassung und dem Gesetz ein. Dies könnte dafür sprechen, dass das Dilemma zwischen Rechtsbindung und Gewissen als „beunruhigendes“ Element richterlicher Tätigkeit im Eid nur „gespiegelt“ werden sollte. Es könnte die Bürger und den Richter selbst daran erinnern, dass die Rechtsprechung an die konkrete Persönlichkeit des Richters und an seine Überzeugung des moralisch Gebotenen und Richtigen zurückgebunden und hiervon abhängig ist398. Es verdeutlichte insoweit die autonome und verantwortete Ausübung des Amtes bei gleichzeitiger an das richterliche Ethos gebundener Haltung. In dieser Hinsicht überzeugend, vertritt Luik die Ansicht, dass Gewissen i. S. v. § 38 Abs. 1 DRiG
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Hierzu Evers, Das unsittliche Gesetz (Fn. 270/D.), S. 118 ff. Peters, Gewissen des Richters (Fn. 373/A.), S. 23, 37, lehnt dies als unzumutbar ab und rät zum Weg über die Befangenheit bzw. über dienstliche Erklärungen, die auch bei der Geschäftsverteilung zu beachten wären. 395 Weitere Reformvorschläge und Lösungen des Konflikts finden sich bei Evers, Das unsittliche Gesetz (Fn. 270/D.), S. 126 f. 396 Zur Vermeidung jeder Willkür ist diese rationale Nachprüfung aber erforderlich: BVerfGE 34, 269 (286 ff.); vgl. zur intersubjektiven Nachprüfbarkeit auch: Deiseroth, Gewissensfreiheit (Fn. 375/A.), BJ 2008, S. 235. 397 Wassermann, Macht (Fn. 20/A.), DRiZ 1986, S. 204. 398 In diesem Sinne: Peters, Gewissen des Richters (Fn. 373/A.), S. 23, 25. 394
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das Bewusstsein für das moralisch Richtige meint und damit „nur“ eine Kontrollfunktion hat. „Der Verweis auf das Gewissen ist ein Appell an das Ethos des Amtes, an die autonome Erfüllung und stetige Verinnerlichung der Berufspflichten, an die gewissenhafte Ausübung des Amtes.“ 399 In diesem Sinne wäre dann, nach bestem Gewissen zu entscheiden, keine Aufforderung nach der eigenen Gewissensentscheidung sein Urteil zu fällen, sondern sein Verhalten im Rechtssprechungsprozess berufsmoralisch möglichst untadelig zu gestalten. Das notwendig Subjektive jeder Rechtsprechung wäre angebunden an einen durch das richterliche Ethos objektivierten Maßstab400. Umgekehrt ist der Appell an das Ethos und das Gewissen des Richters ein notwendiger „Stachel“, gesetztes Recht und das von ihm geführte Verfahren auf seine Vereinbarkeit mit den Forderungen der Humanität, also mit den anerkannten Menschen- und Grundrechten im Blick zu behalten. In diesem Sinne stehen der Gehorsam und die Treue des Richters zum Gesetz unter der persönlich verantworteten Gewissensprüfung des Richters, die im „Ernstfall“ mobilisiert werden muss401. Das Versprechen, „ohne Ansehen der Person“ zu urteilen, bekräftigt die richterliche Fundamentalpflicht zur Unparteilichkeit und Unvoreingenommenheit sowie das Versprechen, den Grundsatz der Gleichheit jedes Bürgers vor dem Gesetz zu wahren. Die richterliche Unparteilichkeit ist dabei kein bloß neutrales, wertfreies Prinzip, sondern ist an den Grundwerten der Verfassung orientiert, insbesondere am Gebot sachgerechter Entscheidung im Rahmen der Gesetze unter dem Blickpunkt materialer Gerechtigkeit402. Dabei ist diese Pflicht im Wesentlichen Rechtspflicht, die sich aus Art. 3 GG ergibt. Sie wird durch das Mäßigungsgebot dienstrechtlich und im Befangenheitsrecht prozessrechtlich flankiert und bedarf grundsätzlich keiner weiteren Statuierung als berufsmoralische Verpflichtung. Die Aufnahme in einen Ethikkodex, wie sie in vielen Staaten feststellbar ist, wäre daher verfehlt. Der berufsmoralischen Verpflichtung näher, ist die eidesförmige Selbstverpflichtung, der Wahrheit und Gerechtigkeit zu dienen403. Denn hier beruft sich der Richter auf die Fundamentalprinzipien des Rechts, die auch außerrechtlich, und damit dem ethischen Diskurs unterliegend, als materielle Letztbegründungen des Rechts dienen404. Insoweit obliegt es dem Richter, die Justiz als „Garanten
399 Luik, Richtereid des DRiG (Fn. 366/D.), S. 40; in diesem Sinne kann im Übrigen auch die Entstehungsgeschichte des Art. 4 GG verstanden werden: Deiseroth, Gewissensfreiheit (Fn. 375/A.), BJ 2008, S. 230. 400 In diesem Sinne: Peters, Gewissen des Richters (Fn. 373/A.), S. 23, 30 f. 401 Peters, Gewissen des Richters (Fn. 373/A.), S. 23, 26 f. reflektiert diese Problematik 1950 im Zusammenhang mit der Erfahrung des Nationalsozialismus. 402 BVerfGE 42, 64. 403 Luik, Bemerkungen (Fn. 700/C.), SchlHolAnz. 2009, S. 102 ff. 404 Luik, Richtereid (Fn. 76/A.), BJ 2009, S. 75 f.
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der Wahrheit“ 405 zu repräsentieren, die jeweils anzuwendende Prozessordnung auszuschöpfen, um den wirklichen Sachverhalt zu erforschen, also in diesem Sinne auf „Wahrheitssuche“ zu gehen406, und im Verfahren – etwa zur Herbeiführung eines Vergleichs oder einer anderen Prozesshandlung – selbst Lüge und Täuschung zu unterlassen. Aus der Verpflichtung, nur der Gerechtigkeit zu dienen, ist insbesondere das Gebot zur prozessualen Fairness, das Verbot von Willkür und die Verpflichtung, die fundierten allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen der Gemeinschaft zu beachten, abzuleiten407. Der Maßstab, hierfür ergibt sich aber „nicht aus den subjektiven Gerechtigkeitsvorstellungen des gerade zur Rechtsanwendung Berufenen, sondern zunächst und vor allem aus den in den Grundrechten konkretisierten Wertentscheidungen und den fundamentalen Ordnungsprinzipien des Grundgesetzes.“.408 Hieraus folgt also, dass der Richter seine subjektiven Gerechtigkeitsvorstellungen zurücknehmen muss und sie vielmehr aus den verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen zu schöpfen hat. Die Suche nach der Gerechtigkeit kann zwar auch in der Ausschöpfung der Auslegungs- und Wertungsspielräume409 liegen, um eine sachgerechte Lösung zu erzielen. Insoweit ist der Richter zur Korrektur unerträglicher Ergebnisse410 im Einzelfall aufgerufen. Dabei müssen aber Recht und Gesetz sowie ihre anerkannte methodische Auslegung stets der Maßstab und die Grenze der „jeweiligen“ Gerechtigkeit sein. „Schleichwege“ zur Gerechtigkeit – etwa eine „unbegrenzte Auslegung“ – sind damit weitgehend abgeschnitten. Zum Dienst des Richters an der Gerechtigkeit zählt auch, dass er rationale Entscheidungsprozesse und durchsetzbare Urteile garantiert und damit den Ausgleich von Ansprüchen auf friedlichem Wege herstellt. Allerdings kann die Verpflichtung auf Wahrheit und Gerechtigkeit in politischen Lagen, die darauf abzielen, die in der Verfassung niedergelegten Gerechtigkeitsmaßstäbe zu beseitigen und an deren Stelle eine undemokratische und/ oder willkürliche Herrschaft zu setzen, zum aktivierenden Prinzip werden. Denn die Gerechtigkeitsmaßstäbe, an die sich der Richter im demokratischen Rechtsstaat des Grundgesetzes gebunden hat, könnten ihn verpflichten, im Rahmen des ihm Möglichen gegen deren Beseitigung anzugehen. Dies kann zu einer ernsten Gewissensfrage werden, in denen sich richterliche Ethik unter Umständen in besonders schwierigem Umfeld zu bewähren hätte. 405 H. Jung, Über die Wahrheit und ihre institutionellen Garanten, in: JZ 2009, S. 1129, 1130 f., dort auch zu den Grenzen der Wahrheitsermittlung zur Wahrung rechtsstaatlicher Prinzipien und Grundrechte. 406 Vgl. Schmidt-Räntsch, Richtergesetz (Fn. 770/C.), § 38 Rdnr. 4. 407 So zu Recht: Luik, Richtereid (Fn. 76/A.), BJ 2009, S. 38; ebenso Kreth, Unabhängigkeit (700/C.), DRiZ 2009, S. 201. 408 BVerfGE 42, 64 (72 f.). 409 Vgl. Schmidt-Räntsch, Richtergesetz (Fn. 770/C.), § 38 Rdnr. 4 410 Vultejus, Der Beruf des Richters (Fn. 271/B.), DRiZ 2003, S. 236.
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Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass der Richtereid eine besondere Bedeutung bei der Herausarbeitung einer richterlichen Ethik in Deutschland hat. Zum einen macht er deutlich, dass der Gesetzgeber vom Richter verlangt, ein Versprechen zu leisten hat, dass er die Fundamentalpflichten des richterlichen Berufs – seien sie rechtlich, seien sie rechtsethisch begründet – hält. Damit inkorporiert er auch in das Recht die berufsmoralischen Erwartungen an den Richter, eine bestimmte ethische Haltung in seinem Beruf einzunehmen, in das Recht und verweist ihn gleichzeitig auf die Notwendigkeit, sein richterliches Verhalten stets an diesen Anforderungen zu messen. Zu Recht weist Luik darauf hin, dass der Gesetzgeber im Richtereid wesentliche Elemente einer Richterethik schon „verschriftlicht“ hat411. Daraus folgt, er hat sie auch verrechtlicht und damit zum Gegenstand des Dienstrechts gemacht. Weniger überzeugend ist deshalb seine These, der Eid sei ein „ethisches Programm ohne Sanktionen“ 412, weil es keinen Straftatbestand gebe, der den Eidbruch sanktioniere. Dies verkennt, dass richterliches Verhalten, das die konkreten Forderungen des Eides bricht, d.h. parteilich oder willkürlich ist oder auf Rechtsbeugung, Lüge und Täuschung beruht, auch dienstrechtlich, prozessrechtlich, zivil- und strafrechtlich sehr wohl sanktioniert werden kann und muss; die Sanktion ist eine rechtliche, nicht nur moralische. (2) Pflicht zur Mäßigung Nach § 39 DRiG hat „der Richter sich innerhalb und außerhalb seines Amtes, auch bei politischer Betätigung, so zu verhalten, dass das Vertrauen in seine Unabhängigkeit nicht gefährdet wird.“ In vielen Ländern ist ein wesentlicher Gegenstand richterethischer Kodizes die Frage, wie sich der Richter zu verhalten hat, um das Vertrauen in die Neutralität und Unparteilichkeit zu bewahren413. Dabei werden insoweit bis Einzelne gehende Ge- und Verbote formuliert sowie das politische Engagement reglementiert. Angesichts der im deutschen Richterrecht bestehenden Regelung und der hierzu ergangenen Rechtsprechung bestehen erhebliche Zweifel daran, dass Fragen des Mäßigungsgebots Gegenstand eines berufsmoralischen Regelwerks sein könnten bzw. müssten. Diese Zweifel werden durch die Herleitung und Auslegung des gesetzlichen Mäßigungsgebots verstärkt:
411 Luik, Richtereid des DRiG (Fn. 366/D.), S. 36. Er hat aber nicht alle erfasst: Sandhaus, Richterliche Ethik (Fn. 890/C.), S. 485, die weitere richterethische Tugenden jenseits des Eids namhaft macht, wie Verantwortungsbewusstsein, Menschlichkeit, Mut oder Transparenz. Die von ihr ebenfalls angeführte Mäßigung bzw. Zurückhaltung findet aber in § 39 DRiG ihre rechtliche Grundlage. 412 Luik, Richtereid des DRiG (Fn. 366/D.), S. 42. 413 Vgl. insbesondere den Hinweis von Ouart, Betätigungsfreiheit des Richters (Fn. 99/C.), S. 21 auf die USA sowie Niethammer-Vonberg, Parteipolitische Betätigung der Richter (Fn. 99/C.), zu Großbritannien S. 118 ff. und zur USA S. 127 ff.
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Seit dem 19. Jahrhundert ist auch in Deutschland der Konflikt zwischen richterlicher Neutralität und politischer Betätigung in unterschiedlichen historischen Lagen Gegenstand der öffentlichen Diskussion414, aber auch der Gesetzgebung gewesen415. Hierauf versucht § 39 DRiG in Ergänzung zum beamtenrechtlichen Neutralitäts- und Mäßigungsgebot416 eine Antwort zu geben, die in erster Linie eine rechtliche und damit keine berufsmoralische ist417. Denn das dienstrechtlich vorgegebene Mäßigungsgebot ist offenkundig eine Rechtspflicht, an die sich bei Verletzung rechtliche, insbesondere disziplinarrechtliche Folgen knüpfen können. Zwar werden schon in der Gesetzgebungsgeschichte zum Mäßigungsgebot die richterethischen Regeln der politischen Zurückhaltung in den Vereinigten Staaten zitiert418, ohne allerdings den Schluss daraus zu ziehen, dieses Problem einem berufsmoralischen Kodex zu überlassen. Auch insofern ist die Auffassung, § 39 DRiG werfe – insbesondere wegen der Grenzziehung im Einzelfall – vor allem berufsmoralische Fragen auf 419 oder sei eine bloße Erinnerung an das „Taktgefühl“ des Richters420, mindestens ungenau. Die hierfür herangezogene Begründung, die Bestimmung der Grenze, wann die Pflicht zur Mäßigung verletzt sei, ergebe sich nicht aus dem Wortlaut des Gesetzes, überzeugt jedenfalls nicht. Zwar ist der Wortlaut („Vertrauen“, „Allgemeinheit“) weit und die Pflicht nur 414
Grundlegend hierzu: Ormond, Richterwürde (Fn. 466/C.), S. 15 ff. und S. 299 ff. E. Heimeshoff, Parteipolitische Betätigung von Richtern, in: DRiZ 1975, S. 261 f.; Niethammer-Vonberg, Parteipolitische Betätigung der Richter (Fn. 99/C.), S. 21 ff.; zu den grundlegenden Konfliktfeldern: K. Rudolph, Öffentliche Äußerungen von Richtern und Staatsanwälten, in: DRiZ 1987, S. 337 ff. 416 Zum beamtenrechtlichen Mäßigungsgebot vgl. § 60 Abs. 2 BBG, § 33 Abs. 2 BeamtStG, hierzu S. Sieweke, Die Beschränkung der politischen Äußerungsrechte der Beamten durch die Mäßigungs- und Zurückhaltungspflicht, in: ZBR 2010, S. 157 ff.; F. Lindner, Parteipolitische Tätigkeit als Dienstaufgabe des Beamten? ZBR 2010, S. 325 f., 327 ff.; H. Sendler, Was dürfen Richter in der Öffentlichkeit sagen? in: NJW 1984, S. 689. 417 Dagegen hält M. Burghardt, Richter und parteipolitisches Engagement – Versuch einer Betrachtung aus ethischer Sicht, in: DRiZ 2010, S. 351 ff. die Frage der politischen Mäßigung in erster Linie für eine richterethische, weil er die gesetzliche Bestimmung für zu unbestimmt hält. Die Konkretisierung der richterlichen Pflichten, die er in dieser Hinsicht vornimmt, entspricht jedoch den rechtlichen Maßstäben, die zum Mäßigungsgebot und zum Ablehnungsrecht entwickelt wurden. Deshalb muss auch der von ihm gemachte Versuch scheitern, diese Fragen der richterlichen Entscheidungsautonomie zu unterstellen. 418 Schmidt-Räntsch, Richtergesetz (Fn. 770/C.), § 39 Rdnr. 17. Die anderweitige Regelung des richterlichen Mäßigungsgebots in anderen Rechtsordnungen zeigt an, dass unterschiedliche Lösungen denkbar sind und es gerade hier auf die nationale Sichtweise ankommt: hierzu Niethammer-Vonberg, Parteipolitische Betätigung der Richter (Fn. 99/ C.), S. 116 ff.; Ouart, Betätigungsfreiheit des Richters (Fn. 99/C.), S. 277 ff. 419 Titz, Ethik-Debatte (125/A.), DRiZ 2013, S. 3; A. Titz/E. Kreth, Funktion und Leistung richterlicher Ethik in Deutschland und Europa, in: BDVR-Rundschreiben 2013, S. 75. 420 E. F. von Münchhausen, Die Stellung des Richters im politischen Leben, in: DRiZ 1969, S. 4. 415
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allgemein gefasst421. Was sich aus dem Wortlaut der Bestimmung aber nicht ergibt, ist – sonst und außerhalb des richterethischen Diskurses eine Binsenweisheit für Richter – durch Rechtsauslegung422 und methodische Anwendung des Rechts, insbesondere unter Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Stellung des Richters, im Einzelfall zu ermitteln423. Ein rechtliches Gebot beschränkt eine richterliche Pflichtenethik424. Für Fragen der Berufsmoral ist auch hier nur Raum, wo das richterliche Verhalten nicht gegen das rechtliche Gebot verstößt425. Dieser Bereich dürfte jedoch eng sein, weil dem Richter jenseits des rechtlichen Mäßigungsgebotes ein Feld freier Lebens-, insbesondere Meinungsäußerung bleiben muss, das die gesetzliche Bestimmung auch eröffnet426. Allerdings kann eine zulässige Äußerung unter Umständen unangemessen und stillos, berufsmoralisch fragwürdig sein. Eine richterethische Untersuchung hat deshalb zu bestimmen, wieweit das Mäßigungsgebot rechtlich reicht und welche berufsmoralische Forderungen jenseits der rechtlichen Verpflichtung überhaupt noch verbleiben können. Insofern sind der Regelungszweck und der Anwendungsbereich des richterlichen Mäßigungsgebots näher zu untersuchen: § 39 DRiG schützt das Vertrauen der Rechtssuchenden in die Unabhängigkeit des Richters. Während andere Regelungen die Unabhängigkeit des Richters um des Justizgewährleistungsanspruchs willen selbst schützen, hat das Mäßigungsgebot die Wirkung richterlichen Verhaltens auf Außenstehende zum Gegenstand427. 421 F. Hufen, Urteilsbesprechung zu BVerfG (K), B. v. 06.06.1988 – 2 BvR 111/88 – in: JuS 1990, S. 319. 422 Zum „Vertrauen“ bzw. der Erwartungshaltung der „Allgemeinheit“: BVerfG, NJW 1983, S. 2691: Sie erwartet eine offene, von höchstpersönlichen Wertungen freie, vorurteilslose, allein an der jeweiligen Sach- und Rechtslage ausgerichtete Rechtsprechung. Hierzu Remmers, Der politisch indifferente Richter (Fn. 719/C.), S. 165, 171. 423 Hierzu grundlegend und im Einzelnen: Hager, Freie Meinung (Fn. 35/D.), NJW 1988, S. 1696 f.; Ouart, Betätigungsfreiheit des Richters (Fn. 99/C.), S. 1990, insbesondere S. 270 ff. Die Bedenken an der Verfassungsmäßigkeit der Norm (Lansnicker, Richteramt (Fn. 472/C.), S. 204 f.) erscheinen daher nicht überzeugend. Dagegen überzeugend: Hülsmann, Politische Betätigung (Fn. 18/D.). Vgl. zur Auslegung auch: Heimeshoff, Parteipolitische Betätigung (Fn. 415/D.), DRiZ 1975, S. 262 ff. 424 Diese Abgrenzung nimmt Schmidt-Jortzig, Richteramt und politische Betätigung (Fn. 280/D.), NJW 1984, S. 2057, unter Rückgriff auf die verfassungsrechtlichen Vorgaben präzise vor. Vgl. hierzu auch: Gilles, Unabhängigkeit (Fn. 3/C.), DRiZ 1983, S. 41 ff. In diesem Sinne wohl auch: Sandhaus, Richterliche Ethik (Fn. 890/C.), S. 474 f. 425 Dies arbeitet Rudolph, Öffentliche Äußerungen (Fn. 415/D.), DRiZ 1987, S. 338, klar heraus. 426 Vgl. aber auch Sendler, Öffentlichkeit (Fn. 416/D.), NJW 1984, S. 690, der besonderes Augenmerk auf das Verhalten richtet, das zwar das Mäßigungsgebot noch nicht verletzt, jenseits dessen aber den „Anstand“ verletzt sieht. 427 Die Mess- und Feststellbarkeit dieser Außenwirkung („Vertrauen“) wird nicht selten in Frage gestellt: Th. Rasehorn, Politische Meinungsäußerung und richterliche Unabhängigkeit, in: KritJ 1986, S. 76, 82 ff. Das Gesetz verlangt jedoch diese Perspektive, ohne einen völlig präzisen Maßstab zu liefern.
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Damit wird (auch hier) deutlich, dass die richterliche Unabhängigkeit nicht um des Richters, sondern um des Rechtsstaats willen eingeräumt ist. Der Richter soll danach keinen Anstoß geben, der das Vertrauen gefährden könnte. Nachdem der Gesetzgeber bereits die Gefährdung des Vertrauens – und nicht dessen „Erschütterung“ – ausreichen lässt, ergibt sich hieraus die Pflicht des Richters sich in einem umfassenden Sinne unabhängig zu halten, d.h. die innere und äußere Freiheit seiner Urteilsbildung zu bewahren428 und dies durch sein erkennbares Verhalten zu bezeugen. Zwar will das Grundgesetz und das Richterrecht keine Isolierung des Richters von der Gesellschaft und von den vorherrschenden Konflikten, um ihn nicht welt- und lebensfremd werden zu lassen429. Das zu Beginn der 50-er Jahre noch geplante Verbot der politischen Betätigung von Richtern wurde deshalb in einem Akt bewusster Entscheidung nicht Gesetz430. Damals sollte nach § 38 DRiG-Entwurf nur die Mitgliedschaft in einer Partei und das aktive Wahlrecht zulässig sein, nicht hingegen eine sonstige parteipolitische Betätigung, und das passive Wahlrecht etwa zu kommunalen Gebietskörperschaften sollte aberkannt werden. Damit war und ist klargestellt, dass der unpolitische oder „politisch indifferente“ 431 Richter nicht gewünscht ist432. So zeigt schon § 36 DRiG, dass der parteipolitisch agierende Richter nicht mit dem Richterleitbild des Richterrechts kollidiert433. Danach gilt nämlich, dass einem Richter, der seiner Aufstellung als Bewerber für die Wahl zum Deutschen Bundestag oder zu der gesetzgebenden Körperschaft eines Landes zustimmt, auf Antrag innerhalb der letzten zwei Monate vor dem Wahltag der zur Vorbereitung seiner Wahl erforderliche Urlaub unter Wegfall der Dienstbezüge zu gewähren ist. Nimmt ein Richter allerdings die Wahl in den Deutschen Bundestag oder in die gesetzgebende Körperschaft eines Landes an oder wird ein Richter mit seiner Zustimmung zum Mitglied der Bundesregierung oder der Regierung eines Landes ernannt, so enden das Recht und die Pflicht zur Wahrnehmung des Richteramts ohne gerichtliche Entscheidung. Der Richter, der politische Ansichten vertritt, setzt sich damit offenkundig für die demokratische Ordnung ein. 428
Vgl. Schmidt-Räntsch, Richtergesetz (Fn. 770/C.), § 39 Rdnr. 6. Zur weiteren Herleitung des erforderlichen Wirklichkeitsbezugs des Richters bei der Rechtsanwendung: Schmidt-Jortzig, Richteramt und politische Betätigung (Fn. 280/ D.), NJW 1984, S. 2058; zu den politischen Bezügen der Rechtssprechungstätigkeit selbst: von Münchhausen, Stellung des Richters (Fn. 420/D.), DRiZ 1969, S. 3. 430 Vgl. Schmidt-Räntsch, Richtergesetz (Fn. 770/C.), § 39 Rdnr. 1. Zur Entstehungsgeschichte des § 39 eingehend: Niethammer-Vonberg, Parteipolitische Betätigung der Richter (Fn. 99/C.), S. 40 ff. 431 Ausführlich hierzu Remmers, Der politisch indifferente Richter (Fn. 719/C.), S. 165 ff. 432 Hierzu im Einzelnen und kritisch zur Vorstellung vom „un/politischen“ Richter: Simon, Unabhängigkeit des Richters (Fn. 469/C.), S. 104 ff. Zur Unmöglichkeit des „unpolitischen Richters“ unter Bezugnahme auf Radbruch: Kaufmann, Richterpersönlichkeit (Fn. 238/D.), S. 301 ff. 433 Heimeshoff, Parteipolitische Betätigung (Fn. 415/D.), DRiZ 1975, S. 261 ff. 429
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Aufgrund der in besonderer Weise erwarteten Neutralität und Unparteilichkeit wird von ihm aber sonst ein höheres Maß an innerer Unabhängigkeit und Zurückhaltung erwartet als bei einem Beamten oder anderen Staatsbediensteten434. Deshalb ist bei ihm ein Mehr an Differenziertheit vorauszusetzen und zu erwarten435. Zur Erhaltung des Vertrauens in die inneren Unabhängigkeit wird der Richter bereits den bösen Scheins der Parteilichkeit oder Abhängigkeit vermeiden und zeigen müssen, dass er sich Einwirkungsversuchen nicht aussetzt436. Insofern trifft es nicht zu, wenn behauptet wird, das Richtergesetz regle nur die äußere Unabhängigkeit, weil der Gesetzgeber die innere Unabhängigkeit für etwas Selbstverständliches halte437. Der Begriff der Unabhängigkeit ist hier nämlich weit zu verstehen438. Die umfassende Pflicht, sich unabhängig zu halten, erfasst grundsätzlich alle Lebensbereiche des Richters439. Deshalb gilt die Pflicht ausdrücklich innerhalb und außerhalb des Dienstes. Dabei kommt es für eine Gefährdung auf die objektivierte Außensicht an440. Das Vertrauen in die Unabhängigkeit441 ist etwa auch dann gefährdet, wenn sich der Richter innerlich für unabhängig hält, sein äußeres Verhalten damit jedoch nicht in Einklang steht. Je weiter der Lebensbereich allerdings von der Amtstätigkeit entfernt ist, desto geringer sind die Anforderungen442. Maßgeblich dürfte dabei auch sein, wie exponiert ein Richter auf Grund seines Ranges grundsätzlich und seines Auftretens im Einzelfall ist443. Zum zeitlichen Geltungsbereich gilt: Der Vorschrift kommt keine „Vorwirkung“ in dem Sinne zu, dass bereits der Bewerber für den Richterdienst das sogenannte Mäßigungsgebot zu beachten hat444. Innerhalb seines Amtes445, also im funktionalen Zusammenhang mit der Rechtssprechungstätigkeit, fordert das Mäßigungsgebot eine besondere Zurück-
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BT-Drs. 3/516, S. 45. Vgl. Ouart, Betätigungsfreiheit des Richters (Fn. 99/C.), S. 31 ff. Dies grundlegend bestreitend: F. Hase, Meinungsfreiheit und Richteramt, in: KritJ 17 (1984), S. 149 f. 436 BT-Drs. 3/516, S. 45. 437 So Kreth, Ethik (Fn. 11/D.), S. 476. Dagegen spricht bereits die Gesetzgebungsgeschichte: vgl. Schmidt-Räntsch, Richtergesetz (Fn. 770/C.), § 39 Rdnr. 1. 438 Schmidt-Räntsch, Richtergesetz (Fn. 770/C.), § 39 Rdnr. 7. 439 Schmidt-Räntsch, Richtergesetz (Fn. 770/C.), § 39 Rdnr. 6. 440 Hager, Freie Meinung (Fn. 35/D.), NJW 1988, S. 1697. 441 Schmidt-Räntsch, Richtergesetz (Fn. 770/C.), § 39 Rdnr. 7 m.w. N. 442 Lansnicker, Richteramt (Fn. 472/C.), S. 238. 443 Schmidt-Räntsch, Richtergesetz (Fn. 770/C.), § 39 Rdnr. 8. Wipfelder, Bürger (Fn. 22/A.), DRiZ 1987, S. 125. 444 BVerwG, NJW 1997, S. 1248 zum Einstellungshindernis bei Richteramtsbewerber, der in sich in der Öffentlichkeit zugespitzt äußert. 445 Vgl. Schmidt-Räntsch, Richtergesetz (Fn. 770/C.), § 39 Rdnr. 9. 435
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haltung446. Art. 5 Abs. 1 GG gilt bei amtlichen Äußerungen nicht: „In der Rolle des Amtswalters gibt es grundsätzlich nur Zuständigkeiten, keine Freiheiten.“ 447 Der politisierende, d.h. mit den Mitteln des Rechts parteipolitisch gestalten wollende Richter448 verstieße gegen das Mäßigungsgebot. Entscheidungen mit anderen als rechtlichen bzw. rechtlich anerkannten Erwägungen zu begründen, ist daher nicht nur methodisch unzulässig, sondern gefährdet auch das Vertrauen in die richterliche Unabhängigkeit. Dabei soll hier unterstellt werden, dass auch die Entscheidungsfindung selbst nicht auf anderen Regeln bzw. Maßstäben beruht. In diesem Sinne sind rein politische oder religiöse Begründungen des Urteils449 ebenso unzulässig wie eine Instrumentalisierung des Richterspruchs für den politischen Meinungskampf450. So ist in politisch brisanten Verfahren451 (etwa Verfahren gegen Hausbesetzer wegen Hausfriedensbruchs452; gegen Blockierer von Raketen-Stationierungsorten; Volksverhetzungsverfahren453; bei weltanschaulich begründetem Steuerzahlungsboykott, Verfahren im Versammlungs-, Ausländerund Asylrecht; Terrorabwehr, besondere zivilgerichtliche Verfahren, wie etwa die Annahme eines Teilzurückbehaltungsrecht im Verfahren gegen Stromanbieter wegen Verwendung von Atomstrom454) sowohl im Verfahren als auch in der Entscheidungsbegründung das Mäßigungsgebot in besonderer Weise zu beachten455. Bloße Meinungsäußerung ohne Bezug zum entscheidenden Sachverhalt bzw. zum anzuwendenden Recht im Gewande des Urteils wäre ein Verstoß gegen das Mäßigungsgebot456. Allerdings ist auch hier stets zu beachten, dass zum Schutze der richterlichen Unabhängigkeit ein dienst-, insbesondere disziplinarrechtlich relevanter Verstoß im Kernbereich richterlicher Tätigkeit nur in besonders markanten Fällen ange446 Zum Problem der Abgrenzung: Hülsmann, Politische Betätigung (Fn. 18/D.), S. 134 ff. 447 Hager, Freie Meinung (Fn. 35/D.), NJW 1988, S. 1695. 448 Vgl. die Beispiele bei Dütz, Richterliche Unabhängigkeit und Politik (Fn. 75/D.), JuS 1985, S. 746; Wipfelder, Bürger (Fn. 22/A.), DRiZ 1987, S. 127; ders., Richter (Fn. 75/A.), DRiZ 1983, S. 341; Schmidt-Jortzig, Richteramt und politische Betätigung (Fn. 280/D.), NJW 1984, S. 2058. 449 Vgl. Beispiele bei Wipfelder, Bürger (Fn. 22/A.), DRiZ 1987, S. 124. 450 Vgl. Schmidt-Räntsch, Richtergesetz (Fn. 770/C.), § 39 Rdnr. 21. 451 Vgl. die Sammlung von Rudolph, Öffentliche Äußerungen (Fn. 415/D.), DRiZ 1987, S. 338 ff. 452 Vgl. Schmidt-Räntsch, Richtergesetz (Fn. 770/C.), § 39 Rdnr. 23. 453 Vgl. Schmidt-Räntsch, Richtergesetz (Fn. 770/C.), § 39 Rdnr. 25; vgl. auch unter C. und Sendler, Öffentlichkeit (Fn. 416/D.), NJW 1984, S. 691. 454 AG Stuttgart, NJW 1979, S. 2049. 455 Ch. Strecker, Politischer Richter – garstiger Richter? in: ZRP 1984, S. 123 f., meint unter Hinweis auf die geforderte kritische Justiz und den zwangläufigen politischen Charakter jeder richterlichen Entscheidung allerdings deutlich großzügiger: Für „neuartige Konflikte“ seien auch „neue richterliche Lösungswege“ zu finden. 456 Schmidt-Räntsch, Richtergesetz (Fn. 770/C.), § 39 Rdnr. 21.
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nommen werden kann457. Der abfällige Umgang mit Verfahrensbeteiligten oder ihr Beschimpfen können aber nicht nur prozessrechtlich zur Befangenheit führen; es kann auch ein dienstrechtlicher Verstoß gegen das Mäßigungsgebot sein. Erlaubt sind hingegen Pointierungen im Rechtsgespräch. Die Wahrnehmung richterlicher Aufgaben nach außen, bei der religiöse Symbole oder religiös begründete Kleidung getragen werden, verstößt demgegenüber gegen die staatliche Neutralitätspflicht und das Mäßigungsgebot und steht im Widerspruch zur Neutralität sichernder Robenpflicht458. Gleiches gilt für im Gericht getragene politische Plaketten459. Äußerste Zurückhaltung und strenge Sachlichkeit ist bei einer politischen Betätigung im Gericht zu wahren. Bei der Ausübung des Amtes ist sie gar nicht zulässig. Zulässig sind hingegen gemäß Art. 9 Abs. 3 GG ohne weiteres die Mitgliedschaft in Gewerkschaften460 und Richtervereinigungen. Ein bei Richtern nur ganz ausnahmsweise vorkommendes Problem ist, ob etwa bei einer Abordnung in ein Ministerium eine in erster Linie parteipolitisch ausgerichtete Tätigkeit zu seinen Dienstaufgaben gehören darf 461. Jedenfalls wird insoweit gegenüber Beamten ein noch strengerer Maßstab anzusetzen sein. Außerhalb des Dienstes462 gilt das Mäßigungsgebot grundsätzlich auch. Je weiter das richterliche Verhalten von seiner konkreten Amtstätigkeit aber entfernt ist463, es also eher als Wahrnehmung staatsbürgerlicher, insbesondere politischer Rechte (Art. 4, 5, 8 und 9 GG) anzusprechen ist, desto geringer sind die Anforderungen an die Einhaltung des Mäßigungsgebots464. Insofern gilt das Diktum nicht mehr, dass der „Richter immer und überall, wenn auch unsichtbar, die Toga“ trägt465. Trotz des Schutzes des Art. 5 Abs. 1 GG466, den der Richter als 457 Ouart, Betätigungsfreiheit des Richters (Fn. 99/C.), S. 175 ff. Rudolph, Öffentliche Äußerungen (Fn. 415/D.), DRiZ 1987, S. 339. 458 R. Röger, Die Religionsfreiheit des Richters im Konflikt mit der staatlichen Neutralitätspflicht, in: DRiZ 1995, S. 471. 459 Hager, Freie Meinung (Fn. 35/D.), NJW 1988, S. 1697. 460 Vgl. BVerfG, NJW 1984, S. 1874; Schmidt-Räntsch, Richtergesetz (Fn. 770/C.), § 39 Rdnr. 36. 461 Vgl. hierzu: Lindner, Parteipolitische Tätigkeit (Fn. 416/D.), ZBR 2010, S. 325 ff. 462 Vgl. hierzu E. Schwinge, Das außerdienstliche Verhalten des Richters, in: R. D. Herzberg (Hrsg.), Festschrift für D. Oehler, Köln 1985, S. 499 ff., der im Wesentlichen die Rechtsprechung zum Mäßigungsgebot bis 1984 zusammenfasst. 463 Justizpolitische Äußerungen haben regelmäßig keinen unmittelbaren Bezug zum konkreten Amt: hierzu Sendler, Öffentlichkeit (Fn. 416/D.), NJW 1984, S. 692. Manchmal – etwa bei Anhörungen zu Gesetzesvorhaben – wird gerade dazu aufgefordert, die Zurückhaltung aufzugeben. 464 K. Dürholt, Richteramt und Meinungsfreiheit, in: ZRP 1977, S. 217 ff.; Hülsmann, Politische Betätigung (Fn. 18/D.), S. 117 ff.; Ouart, Betätigungsfreiheit des Richters (Fn. 99/C.), S. 81 ff. 465 So der Vorsitzende des DRB Reichert 1925 in DRZ 1925, 200, zit. nach Rasehorn, Politische Meinungsäußerung und richterliche Unabhängigkeit, in: KritJ 1986, S. 76 f. 466 Hierzu im Einzelnen: Hager, Freie Meinung (Fn. 35/D.), NJW 1988, S. 1694 ff.
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Privatmann selbstverständlich für sich in Anspruch nehmen kann, ist aus der Pflicht, sich unabhängig zu halten, aber auch hier die Pflicht zur verbalen Zurückhaltung und zum differenzierten Auftreten abzuleiten, weil eine besonders aggressive, hetzende oder verletzende Äußerung bei Kenntnis der Amtsfunktion des Richters bei den Zuhörern oder Beobachtern das Vertrauen in die Unparteilichkeit des Richters im Amt gefährden könnte. Dies gilt vor allem dann, wenn der Richter nach außen als Amtsperson erkennbar ist467. Die Grenzen – etwa zur zulässigen engagierten Äußerung – sind allerdings nicht allgemein präzise zu bestimmen und die Bewertung hängt unter Anwendung einer objektivierenden Betrachtungsweise468 vom Einzelfall ab. Das Bundesverfassungsgericht hat insoweit unter Anwendung der praktischen Konkordanz469 festgestellt: „Wie jeder Staatsbürger genießt auch der Richter den Schutz der Meinungsäußerungsfreiheit. Er kann sich insbesondere politisch betätigen und hierzu seine Auffassung in Wort und Schrift äußern und vertreten. Das Grundrecht der freien Meinungsäußerung ist aber bei Beamten und Richtern nur insoweit gewährleistet, als es nicht unvereinbar ist mit dem in Art. 33 Abs. 5 GG verankerten, für die Erhaltung eines funktionsfähigen Berufsbeamtentums und einer intakten Rechtspflege unerlässlichen Pflichtenkreis (. . .). Zu diesen Pflichten zählt vor allem, dass der Richter sein Amt politisch neutral als Diener des Rechts wahrzunehmen hat. Denn zum Wesen richterlicher Tätigkeit gehört, dass sie von einem nichtbeteiligten Dritten in sachlicher und persönlicher Unabhängigkeit ausgeübt wird (. . .). Die Stellung des Richters innerhalb des demokratischen Gemeinwesens fordert daher, dass dieser unabhängig von sachfremden Einflüssen und vorurteilslos die ihm übertragenen Aufgaben erfüllt. Diese Bedeutung seines Amtes hat für den Richter persönlich zur Folge, dass er sich innerhalb und außerhalb des Amtes, auch bei politischer Betätigung, so zu verhalten hat, dass das Vertrauen in seine durch Art. 97 Abs. 1 GG garantierte Unabhängigkeit nicht gefährdet wird. Dies gilt umso mehr, als der Richter vielfach aufgerufen ist, Streitsachen zu beurteilen und zu entscheiden, die in der Öffentlichkeit Gegenstand politischer Auseinandersetzungen sind. Meinungsäußerungen eines Richters in der Öffentlichkeit sind danach verfassungsrechtlich nur dann durch Art. 5 Abs. 1 GG geschützt, wenn sie nicht mit dieser aus der besonderen Stellung des Richters folgenden, durch Art. 33 Abs. 5 GG gebotenen Pflicht zur Zurückhaltung, wie sie in § 39 DRiG Ausdruck findet, unvereinbar sind. Dabei ist jeweils im konkreten Fall die Vereinbarkeit oder Unvereinbarkeit einer Äußerung des Richters mit seinen Dienstpflichten nach dem Grundsatz, dass rechtlich begründete Grenzen des Art. 5 GG im Lichte des
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Ouart, Betätigungsfreiheit des Richters (Fn. 99/C.), S. 121 ff. Niedersächsischer DGH, NJW 1990, S. 1497, 1499; vgl. auch Sieweke, Beschränkung (Fn. 416/D.), ZBR 2010, S. 158 f. 469 Hierzu im Einzelnen Hülsmann, Politische Betätigung (Fn. 18/D.), S. 131 ff. Ouart, Betätigungsfreiheit des Richters (Fn. 99/C.), S. 103 ff. 468
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durch sie begrenzten Grundrechts auszulegen sind, zu entscheiden. In diesem Sinne sind die mit Art. 33 Abs. 5 GG in Einklang stehenden Regelungen des Beamten- und Disziplinarrechts allgemeine Gesetze nach Art. 5 Abs. 2 GG (. . .).“ 470 Das Bild, das das Bundesverfassungsgericht in diesem Zusammenhang vom Richter zeichnet, prägt allerdings in hohem Maße die Ansprüche an die Mäßigung: „Das Grundgesetz sieht ihn als Amtswalter, der, nur der Sache verpflichtet, unter gerechter Abwägung aller Rechte und Belange der Betroffenen und auch der Allgemeinheit verbindlich zu entscheiden hat, eine Aufgabe, die in seiner Person Unabhängigkeit, Neutralität und Distanz voraussetzt (. . .). Erst diese Eigenschaften – insbesondere die Fähigkeit, die Berechtigung auch anderer Standpunkte anzuerkennen – setzen den Richter in die Lage, sein Fachwissen frei von sachfremden Einflüssen in den Entscheidungsgang einzubringen und die Gleichstellung der Parteien vor Gericht durch eine objektive, faire Verhandlungsführung, durch unvoreingenommene Bereitschaft zur Verwertung und Bewertung des gegenseitigen Vorbringens, durch unparteiische Rechtsanwendung und durch korrekte Erfüllung seiner sonstigen prozessualen Obliegenheiten gegenüber den Prozessbeteiligten zu wahren (. . .). Insbesondere bedarf es hierzu der richterlichen Unabhängigkeit in persönlicher und sachlicher Hinsicht, wie sie durch Art. 97 GG verbürgt ist. Ferner ist auch ein bestimmtes Maß an Zurückhaltung vor allem dort erforderlich, wo das persönliche Bekenntnis mit dem Ansehen des Amtes in Konflikt geraten könnte (. . .). Die Überzeugungskraft richterlicher Entscheidungen beruht nicht nur auf der juristischen Qualität ihrer Gründe; sie stützt sich in hohem Maße auch auf das Vertrauen, das den Richtern von der Bevölkerung entgegengebracht wird. Dieses Vertrauen fußt nicht zuletzt auf der äußeren und inneren Unabhängigkeit des Richters, seiner Neutralität und erkennbaren Distanz, die auch in aktuellen politischen Auseinandersetzungen spürbar bleiben muss. Sind Meinungsäußerungen von Richtern zu politischen Fragen geeignet, dieses Vertrauen zu erschüttern, so widersprechen sie dem Richterbild des Grundgesetzes.“ In der höchstrichterlichen Rechtsprechung sind insoweit weitere Kriterien entwickelt worden, welche konkrete Anforderungen an den „gemäßigten“ Richter zu stellen sind: „Staat und Gesellschaft können an unkritischen Richtern kein Inte470 BVerfG, NJW 1983, S. 2691: Zur Unterschrift eines Richters unter einer großformatigen Zeitungsanzeige zugunsten eines DKP-Mitglieds, das als Lehrer in einem laufenden arbeitsrechtlichen Streit mit seinem Dienstherrn stand (Radikalenerlass). Dagegen vehement: Hase, Meinungsfreiheit (Fn. 435/D.), KritJ 17 (1984), S. 143 ff., der von „Projektionen des ,autoritären‘ Pluralismus“ spricht. Zur Meinungsfreiheit ehrenamtlicher Richter: BVerfG (K), NJW 2008, S. 2568: § 27 S 1 ArbGG ist für Eingriffe in das vom Grundrecht des Art. 5 Abs. 3 S 1 GG eine hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage. Danach ist ein ehrenamtlicher Richter auf Antrag der zuständigen Stelle seines Amtes zu entheben, wenn er seine Amtspflicht grob verletzt hat. Ein außerdienstliches Verhalten des ehrenamtlichen Richters (Mitwirkung bei einer Rockband, die eine Zuordnung zur rechtsextremistischen Skinhead-Szene erkennen lasse) kann als grobe Amtspflichtverletzung angesehen werden, die die Amtsenthebung rechtfertigt.
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resse haben. Der Richter kann sich, soweit kein unmittelbarer Bezug zu konkreten, von ihm zu entscheidenden Rechtsstreitigkeiten besteht, mit der gebotenen Sachlichkeit und Distanz in Wort und Schrift [. . .] auch zu rechtspolitischen Fragen äußern. [. . .] Die Pflicht zu der durch das Richteramt gebotenen Mäßigung und Zurückhaltung gebietet ihm jedoch in besonderer Weise, eine klare Trennung zwischen Richteramt und seiner Teilnahme am politischen Meinungskampf einzuhalten. Er darf bei seinen privaten Äußerungen nicht den Anschein einer amtlichen Stellungnahme erwecken. Er verletzt seine sich aus dem ihm anvertrauten Richteramt ergebenden Pflicht auch, wenn er das Amt und das mit diesem auf Grund seiner verfassungsrechtlichen Ausgestaltung verbundene Ansehen und Vertrauen durch Hervorhebung dazu benutzt und einsetzt, um seiner Meinung in der politischen Auseinandersetzung mehr Nachdruck zu verleihen und durch den Einsatz des Richteramtes eigene politische Auffassungen wirksamer durchzusetzen. Dafür ist ihm das Amt nicht anvertraut.“ 471 Das Vertreten polemischer, diffamierender und extremer Meinungen, die Äußerung als exponierter Richter472 oder an exponierter Stelle473 (Aufsätzen, Zeitungsartikel, Leserbriefen, Erklärungen, Demonstration; im Dienst) können das Mäßigungsgebot schneller verletzen474. Insoweit ist aber stets der Einzelfall zu berücksichtigen. Die Mitgliedschaft in Vereinen, Bürgerinitiativen, Parteien475, Gewerkschaften476 oder Kommunalvertretungen477 sind zwar zulässig; allerdings kann bei dienstlichem Bezug (z. B. Verwaltungsrichter im Stadtrat), einseitiger 471 BVerwGE 78, 216, bestätigt durch BVerfG (K), DRiZ 1988, S. 301; hierzu: Hufen, Urteilsbesprechung zu BVerfG (K), B. v. 06.06.1988 – 2 BvR 111/88 – in: JuS 1990, S. 319 f.; vgl. auch DGH beim OLG Hamm, B. v. 07.03.1983 – 1 DGH 6/82 – zit. nach Juris, zu einer Erklärung eines Richter zur „Startbahn West“; Kreth, Unabhängigkeit (700/C.), DRiZ 2009, S. 200; H. H. Paehler, Das Vertrauen in die Unabhängigkeit der Justiz, in: DRiZ 1988, S. 373, meint zur Entscheidung des BVerwG, der Anspruch der Justiz auf Vertrauen und seine Feststellbarkeit unterlägen grundsätzlichen Zweifeln; nicht selten sei es bloße Anerkennung von Macht. 472 In diesem Sinne auch Sieweke, Beschränkung (Fn. 416/D.), ZBR 2010, S. 159. 473 A. A. Ouart, Betätigungsfreiheit des Richters (Fn. 99/C.), S. 151 ff. 474 Näher Schmidt-Räntsch, Richtergesetz (Fn. 770/C.), § 39 Rdnr. 28 ff.; vgl. auch das Beispielsmaterial bei Ch. Berglar, Politischer Aktionismus in schwarzer Robe, in: ZRP 1984, S. 5 ff. und bei Dütz, Richterliche Unabhängigkeit und Politik (Fn. 75/D.), JuS 1985, S. 746 f. sowie bei Schmidt-Jortzig, Richteramt und politische Betätigung (Fn. 280/D.), NJW 1984, S. 2061. Dagegen Strecker, Politischer Richter (Fn. 455/D.), ZRP 1984, S. 124 zu dem Aufsatz von Bergelar und dessen Interessen. 475 Vgl. die Übersicht bei U. Vultejus, Parteizugehörigkeit der Bundesrichter, in: DRiZ 1995, S. 393; kritisch hierzu: A. May, Parteizugehörigkeit der Bundesrichter, in: DRiZ 1995, S. 480 f. 476 Hierzu im Einzelnen H. Fangmann/U. Zachert, Gewerkschaftliche und politische Betätigung von Richtern, Frankfurt/New York 1986. Bezüglich der Arbeitsrichter: Strecker, Politischer Richter (Fn. 455/D.), ZRP 1984, S. 125. 477 Zur Vereinbarkeit von Richteramt und kommunalem Mandat: von Münchhausen, Stellung des Richters (Fn. 420/D.), DRiZ 1969, S. 3 f.; E. Schmidt, Politische Betätigung von Richtern, in: ZRP 2008, S. 242 f.
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Interessenwahrnehmung478 oder bei extremen Positionen der Vereinigung ein Verstoß gegen das Mäßigungsgebot vorliegen479. Die Kriterien für eine unzulässige Äußerung können mit den Begriffen Formmangel, Argumentationsmangel, Neutralitätsmangel und Mangel an Rechtstreue bezeichnet werden480. Zu letzterem gehört auch der bewusste öffentliche Rechtsverstoß, etwa im Kontext von Versammlungen und Aktionen des zivilen Ungehorsams481. Es hat nicht wenige Versuche gegeben, die Begrenzungen durch das Mäßigungsgebot mit unterschiedlichen Argumenten (historisch, hierarchisch, verfassungsrechtlich, demokratietheoretisch, „gesellschaftsnah“ . . .) abzustreifen bzw. möglichst weitgehend einzuhegen482. Dennoch ist, solange § 39 DRiG gilt, den dortigen Anforderungen Genüge zu tun und die Vorschrift sachgerecht auszulegen. Die Ausnutzung des Amtsbonus bei öffentlichen Äußerungen (etwa bei Leserbriefen zu allgemeinen, nicht justizpolitischen Themen) verstößt nach inzwischen gefestigter Auffassung gegen § 39 DRiG483. Daher ist, um eine klare Trennung zwischen Amt und politischer Ansicht zu wahren, die Unterschrift ohne Amtsbezeichnung gefordert484. Soweit „rein“ justizpolitische Themen zur Debatte stehen, scheint die Berufung auf das Amt jedoch vertretbar485. Das Mäßigungsgebot berührt auch das Verhältnis des Richters zur Presse. Zwar hat der Richter den Medien486 gegenüber eine Informationspflicht, ein selbstdarstellerischer Umgang mit oder eine Instrumentalisierung der Presse wären hingegen unzulässig487. Auch bei gesellschaftlich hochumstrittenen Ausein478 Vgl. Schmidt-Räntsch, Richtergesetz (Fn. 770/C.), § 39 Rdnr. 15; vgl. auch die Fälle bei Berglar, Politischer Aktionismus (Fn. 474/D.), ZRP 1984, S. 6. 479 Vgl. im Einzelnen: Gilles, Unabhängigkeit (Fn. 3/C.), DRiZ 1983, S. 41 ff. 480 So Ouart, Betätigungsfreiheit des Richters (Fn. 99/C.), S. 131 ff. 481 Rudolph, Öffentliche Äußerungen (Fn. 415/D.), DRiZ 1987, S. 346. 482 Böttcher, Selbstverständnis (Fn. 847/C.), KritJ 14 (1981), S. 172; Hase, Meinungsfreiheit (Fn. 435/D.), KritJ 17 (1984), S. 76 ff.; Strecker, Politischer Richter (Fn. 455/D.), ZRP 1984, S. 125; K. Zapka, Zur differenzierten Disziplinarpraxis bei der politischen Betätigung des Richters, in: RuP 1984, S. 149 ff. 483 Kritisch hierzu H. Fangmann, Kritische Richter vor Gericht, in: KritJ 21 (1988), S. 165 ff., der sich generell gegen ein außerdienstlich wirkendes Mäßigungsgebot stellt. 484 VG Schleswig NJW 1985, S. 1098; OVG Lüneburg NJW 1986, S. 1126; BVerwGE 78, 216; Wipfelder, Bürger (Fn. 22/A.), DRiZ 1987, S. 127; ders., Richter (Fn. 75/A.), DRiZ 1983, S. 341; Schmidt-Jortzig, Richteramt und politische Betätigung (Fn. 280/ D.), NJW 1984, S. 2062; dagegen: Hase, Meinungsfreiheit (Fn. 435/D.), KritJ 17 (1984), S. 147 ff., der es für unmöglich hält, private und öffentliche Seite des Richters und seiner Meinungsäußerung auseinanderzuhalten. Die Verwendung des Amtstitels sei lediglich eine Aktivierung „diskursiver Ressourcen“. Ebenso: Rasehorn, Politische Meinungsäußerung (Fn. 427/D.), KritJ 1986, S. 76 ff. Ähnlich: Rudolph, Unabhängigkeit (Fn. 127/A.) DRiZ 1984, S. 142, hält es aber für eine Frage des richterlichen „Stils“. 485 Hierzu Remmers, Der politisch indifferente Richter (Fn. 719/C.), S. 165, 169. 486 Vgl. Schmidt-Räntsch, Richtergesetz (Fn. 770/C.), § 39 Rdnr. 11. 487 Vgl. Grundsätze des deutschen Richterbunds über Äußerungen von Richtern und Staatsanwälten in der Öffentlichkeit von 1983; Neuabdruck in: DRiZ 1999, S. 389.
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andersetzungen können öffentliche Äußerungen von Richtern mit Rechtsbezug das Vertrauen in die Neutralität gefährden. So wurde in einem dienstgerichtlichen Verfahren im Zusammenhang mit Blockaden von Raketenstationierungsorten 1987 durch Richter festgestellt: „Wenn Richter mit einer öffentlichen Zeitungsanzeige den Eindruck erwecken, dass gezielte Verstöße gegen gesetzliche Gebote oder Verbote im Rahmen politischer Auseinandersetzungen im Interesse billigenswerter Zielsetzungen rechtens sein könnten, so können dadurch bei juristisch nicht geschulten Lesern irrige Vorstellungen über die Rechtmäßigkeit des sogenannten zivilen Ungehorsams in einem demokratischen Rechtsstaat hervorgerufen oder gefördert werden. Zum anderen besteht die Gefahr, dass bei dem Leser, dem die Rechtswidrigkeit des in der Anzeige respektierten Verhaltens bewusst ist, das Vertrauen darauf in Frage gestellt wird, der Richter werde jederzeit für die Verwirklichung des für alle Bürger geltenden Rechts eintreten.“ 488 Ein Richter, der in den Gründen seiner eigenen Entscheidung die Entscheidung seines oder eines anderen Gerichts in herabwürdigender Form kritisiert, verletzt die ihm auferlegten Dienstpflichten. Auch bei sonstigen Äußerungen über andere Gerichte und Behörden bei laufenden Verfahren ist Zurückhaltung geboten489. Der öffentliche Versuch zur Beeinflussung eines Gerichts in einem laufenden Verfahren durch einen Richter ist ein Dienstvergehen490. Problematisch ist es auch, wenn sich der Richter bei noch anhängigen Verfahren kritisch oder dezidiert zu Rechtsfragen äußert, die im Spruchkörper bearbeitet werden491. Andere Maßstäbe gelten bei abgeschlossenen Verfahren492. Bei Justizkritik bzw. Kritik an richterlichen Entscheidungen durch andere Richter ist auf die Umstände des Einzelfalles abzustellen493. Auch diese Kritik fällt zum einen unter die Meinungsfreiheit, zum anderen unter das Mäßigungsgebot494, wobei die Kritik sachlich, angemessen und ohne Beleidigung vorzutragen ist495. Hinsichtlich der Abgrenzung des Mäßigungsgebots zu den Befangenheitsregeln496 gilt Folgendes: Die Grundpflicht zur Unabhängigkeit des Richters und
488 Niedersächsischer DGH für Richter, NJW 1990, S. 1497 ff.; dagegen: Paehler, Vertrauen (Fn. 471/D.), DRiZ 1988, S. 373. Zur Richterblockade in Mutlangen im Einzelnen: Rudolph, Blockierende Richter (Fn. 812/C.), DRiZ 1988, S. 131 ff. 489 DG beim LG Meiningen, ThürVBl. 2010, S. 132, 134: Disziplinarverfahren wegen Ankündigung einer Rechtsbeugung gegenüber einem Oberbürgermeister. 490 Niedersächsischer DGH für Richter, DRiZ 1982, S. 429. 491 Sendler, Öffentlichkeit (Fn. 416/D.), NJW 1984, S. 694. 492 DG Karlsruhe, DRiZ 1983, S. 322, zur öffentlichen Kritik eines Richters an staatsanwaltschaftlichen Maßnahmen. 493 Zu den Abgrenzungen insoweit: Schmidt-Jortzig, Richteramt und politische Betätigung (Fn. 280/D.), NJW 1984, S. 2061 f. 494 G. Falk, Dürfen Richter Richter kritisieren, in: BJ 2008, S. 239; Habscheid, Urteilskritik (Fn. 750/C.), NJW 1999, S. 2230 ff. 495 Vgl. auch Sendler, Öffentlichkeit (Fn. 416/D.), NJW 1984, S. 689 ff.
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das allgemeine Vertrauen in eine unparteiliche Justiz wird im Allgemeinen durch das Mäßigungsgebot und im konkreten Fall durch das Befangenheitsrecht geschützt. Ein Verstoß gegen das Mäßigungsgebot muss daher nicht zwangsläufig zur Befangenheit führen497. Verstößt ein Richter etwa durch Diskussionsbeiträge in einer öffentlichen Veranstaltung gegen das Zurückhaltungsgebot, so rechtfertigt allein dieses Verhalten ohne näheren Bezug zum konkreten Verfahren noch nicht die Ablehnung wegen der Besorgnis der Befangenheit498. Insbesondere bei Äußerungen zu politischen Tagesfragen müssen besondere Umstände hinzutreten. Es kommt entscheidend auf die zeitliche Nähe zum anhängigen Verfahren, die fortbestehende Aktualität und auch das Engagement an, mit dem der Richter eine politische Überzeugung geäußert hat499. Insbesondere ist bedeutsam, ob sich ein innerer Zusammenhang zwischen der politischen Überzeugung des Richters und der im Urteil zu erwartenden Rechtsauffassung aufdrängt500. Zusammenfassend lässt sich festhalten: Die Dienstpflicht zur Mäßigung deckt ein weites Spektrum der rechtlich unzulässigen Verhaltensweisen ab, die deshalb einer weiteren oder zusätzlichen berufsmoralischen Grenze durch Ge- und Verbote nicht bedürfen. Vielmehr ist demgegenüber eher die Annahme gerechtfertigt, dass das Verhalten, das nicht gegen das Mäßigungsgebot verstößt, rechtlich und berufsmoralisch erlaubt ist. (3) Weitere richterliche Dienstpflichten, einschließlich des Nebentätigkeitsrechts Zur Wahrung der Gewaltenteilung darf nach § 4 Abs. 1 DRiG ein Richter Aufgaben der rechtsprechenden Gewalt und Aufgaben der gesetzgebenden oder der vollziehenden Gewalt nicht zugleich wahrnehmen. Nach Abs. 2 dieser Bestimmung darf er außer Aufgaben der rechtsprechenden Gewalt jedoch Aufgaben der Gerichtsverwaltung, andere Aufgaben, die auf Grund eines Gesetzes Gerichten 496 Vgl. hierzu Schmidt-Räntsch, Richtergesetz (Fn. 770/C.), § 39 Rdnr. 39, sowie Berglar, Politischer Aktionismus (Fn. 474/D.), ZRP 1984, S. 7 f.; Dürholt, Richteramt (Fn. 464/D.), ZRP 1977, S. 219 und Hager, Freie Meinung (Fn. 35/D.), NJW 1988, S. 1696. Interessant: vgl. VG Berlin, B. v. 16.03.1982 – VG Disz. 49/81 – zit. nach Juris, mit der Dokumentation von M. Jakobs, Meinungsfreiheit und Richterrecht, in: KritJ 15 (1982), S. 272 ff. 497 Zu weitgehend die Kritik von Hase, Meinungsfreiheit (Fn. 435/D.), KritJ 17 (1984), S. 155 f., der die Ausdehnung des Befangenheitsrechts auf politische Äußerung generell ablehnt. Er meint politische Äußerungen ließen sich von den amtlichen Funktionen immer ohne weiteres ablösen. 498 VGH Baden-Württemberg, NJW 1986, S. 2068; ArbG Frankfurt, NJW 1984, S. 142. 499 Vgl. insoweit auch Berglar, Politischer Aktionismus (Fn. 474/D.), ZRP 1984, S. 4 f., der die Entscheidung des ArbG Frankfurt, NJW 1984, S. 142, kritisiert. Hierzu auch Strecker, Politischer Richter (Fn. 455/D.), ZRP 1984, S. 123 ff. 500 Hessischer VGH, NJW 1985, S. 1105.
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oder Richtern zugewiesen sind, Aufgaben der Forschung und Lehre an einer wissenschaftlichen Hochschule, öffentlichen Unterrichtsanstalt oder amtlichen Unterrichtseinrichtung, Prüfungsangelegenheiten, den Vorsitz in Einigungsstellen und entsprechenden unabhängigen Stellen im Sinne des § 104 Satz 2 des Bundespersonalvertretungsgesetzes wahrnehmen. Wie die Bangalore Principles und in ihrem Gefolge eine Fülle von ausländischen Richterkodizes zeigen, unterliegen solche Abgrenzungen – wie auch die folgenden Fragen der Nebentätigkeit oder der Pflicht zur Verschwiegenheit – in anderen Rechtsordnungen der Regelung in Richterkodizes. In Deutschland werden die Grenzen durch das Recht gezogen: Aus ihm ergibt sich zum einen die Pflicht, keine anderen als judikative Aufgaben zu erfüllen, zum anderen sind ihm im einzelnen bestimmte „justiznahe“ Aufgaben, die aber eher der Exekutive zuzurechnen sind, eröffnet. In dieses Problemfeld, an der Grenze zur Berufsmoral liegend, fällt die Frage, ob sich der Richter dadurch „justizferne“ Exekutivaufgaben wahrnehmen darf, dass er sich in ein kommunales Vertretungsorgan wählen lässt. Trotz des klaren Wortlauts des § 4 DRiG vertritt die (noch) herrschende Meinung die Auffassung, die Tätigkeit in kommunalen Vertretungen sei rechtlich zulässig501. Die damit verbundene rechtliche Unbedenklichkeit enthebt aber nicht von der Frage, inwieweit diese Tätigkeit im konkreten Fall etwa die innere Unabhängigkeit eines Verwaltungsrichters und damit seine berufsmoralische Pflicht berührt502, insbesondere dann, wenn er in der Kommune als solcher bekannt ist und in kommunalpolitischen Debatten häufig mit dem Verwaltungsrecht argumentiert. Zum Schutz der richterlichen Unabhängigkeit und zur Sicherung des Justizgewährungsanspruchs durch den Richter stärken und umgrenzen § 40 bis § 42 DRiG und das (beamtenrechtliche) Nebentätigkeitsrecht (vgl. § 46 DRiG, §§ 97 ff. BBG bzw. das Landesbeamtenrecht) die Dienstpflichten des Richters. Grundlage ist insoweit zunächst das Beamtenrecht, das für die Besonderheiten des Richteramtes durch das Richterrecht ergänzt wird. Dass – trotz des grundrechtlichen Schutzes der richterlichen Nebentätigkeit (Art. 2 Abs. 1, 12 Abs. 1 GG) – grundsätzlich jede Nebentätigkeit von Richtern rechtfertigungsbedürftig ist, ergibt sich über die Verpflichtung zum vollen Einsatz für das Hauptamt hinaus aus den möglichen Interessenskonflikten mit seiner Unparteilichkeit und sonstigen Dienstpflichten503. Insbesondere Nebenbeschäftigungen im Übermaß504 501
Vgl. Schmidt-Räntsch, Richtergesetz (Fn. 770/C.), § 4 Rdnr. 11. Schmidt, Politische Betätigung von Richtern (Fn. 477/D.), ZRP 2008, S. 243 f. 503 Zu einem besonders eindrücklichen Beispiel: Eine Sozialrichterin wollte als Verwaltungsrat einer GmbH und als Aufsichtsrat einer anderen Gesellschaft neben dem ausgeübten Richteramt tätig sein: OVG Berlin-Brandenburg, DRiZ 2015, S. 182. 504 Vgl. zur gegenwärtigen Praxis bei Bundesrichtern die Antwort der Bundesregierung auf eine kleine Anfrage: BT-Drs. 18/1027, S. 2 ff. 502
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können das Vertrauen in die Justiz und die Justizgewährleistung beeinträchtigen. Soweit das Dienstrecht allerdings die Nebentätigkeit eröffnet, ist ein Verstoß gegen Rechtspflichten nicht zu befürchten. Allerdings kann der Verstoß insbesondere gegen die nebentätigkeitsrechtlichen Anzeige- und Genehmigungspflichten als Dienstvergehen disziplinarrechtlich relevant werden505. Jenseits dessen kann auch die Berufsmoral die Prüfung erfordern, ob nicht trotz der rechtlichen Zulässigkeit Zurückhaltung in der Übernahme von Nebentätigkeiten geboten ist506. Letzteres gilt sicher nicht für die Übernahme eines richterlichen Nebenamtes. Dies kann berufsmoralisch sogar geboten sein, um die besonderen Kenntnisse und Fähigkeiten im Hauptamt auch im Nebenamt der Allgemeinheit zur Verfügung stellen, etwa wenn ein im Beamtenrecht besonders qualifizierter Verwaltungsrichter im Nebenamt als Richter am Dienstgericht tätig ist. Auch die in § 4 Abs. 2 DRiG genannten zulässigen Nebenämter gehören hierzu. Nach § 42 DRiG kann ein Richter sogar zu einer Nebentätigkeit (Nebenamt, Nebenbeschäftigung) in der Rechtspflege und in der Gerichtsverwaltung – und zwar nur dort – verpflichtet werden, ohne grundsätzlich einen Anspruch auf Freistellung von seinen Pflichten aus dem Hauptamt zu haben. Dabei ist die Übertragung eines weiteren Richteramts gemäß § 27 Abs. 2 DRiG nicht von der Zustimmung des Richters abhängig. Im Interesse der verfassungsrechtlich geschützten richterlichen Unabhängigkeit bedarf sie nur dann der Zustimmung des Richters, wenn sie einer Versetzung nahekommt. Das ist anzunehmen, wenn auf das weitere Richteramt mehr als die Hälfte der Arbeitskraft des Richters entfällt507. Weitere Pflichten können sein, etwa die Rufbereitschaft508 oder die Anfertigung von Stellungnahmen zu Gesetzesvorhaben509 zu übernehmen. Auch zur Ausbildung von Rechtsreferendaren in der Station ist der Richter verpflichtet510, für die Übertragung der Leitung einer Arbeitsgemeinschaft ist jedoch die Zustimmung des Richters erforderlich. Insofern sind mithin eher Nebenbeschäftigungen problematisch. Soweit der Gesetzgeber Nebentätigkeiten (auch) für den Richter genehmigungsfrei gestellt hat, unterliegt die Tätigkeit rechtlich der Anzeigepflicht511 und damit der Kontrolle der Einhaltung des Mäßigungsgebots (etwa bei der schriftstellerischen oder
505 M. Baßelsberger, Die Nebentätigkeit des Beamten als Dienstvergehen, in: PersV 2015, S. 130 ff. 506 Vgl. hierzu unten E. 507 BGH, NJW 1984, S. 129, 131. 508 BGH, NJW 1987, S. 1198, 1199. 509 Str. vgl. Schmidt-Räntsch, Richtergesetz (Fn. 770/C.), Vorbem. zu §§ 40 bis 42 Rdnr. 3 m.w. N., § 42 Rdnr. 8. 510 BGH, NJW 1991, S. 426. 511 Es besteht kein Recht des Richters, ohne Anzeige (neben)tätig zu werden: vgl. BVerfG (K), B. v. 01.09.2008 – 2 BvR 1872/07 – zit. nach Juris.
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künstlerischen sowie der Vortragstätigkeit). Die erforderliche Genehmigung darf regelmäßig nur versagt werden, wenn die Unparteilichkeit, Unbefangenheit oder andere dienstliche Interessen, zu denen auch die geschuldete Dienstleistungspflicht zählt512, beeinträchtigt würden. Besondere Beschränkungen unterliegen Nebentätigkeiten, die eine funktionelle Nähe zur spruchrichterlichen Tätigkeit haben. So darf nach § 40 DRiG dem Richter eine Nebentätigkeit als Schlichter, Schiedsrichter oder Schiedsgutachter513 nur genehmigt werden, wenn die Parteien des Schiedsvertrags ihn gemeinsam beauftragen oder wenn er von einer unbeteiligten Stelle benannt ist. Die Genehmigung ist zu versagen, wenn der Richter zur Zeit der Entscheidung über die Erteilung der Genehmigung mit der Sache befasst ist oder nach der Geschäftsverteilung befasst werden kann. Ziel der Regelung ist es, den Anschein der Parteilichkeit in einem nichtstaatlichen Verfahren zu verhindern514, um nicht als Interessenvertreter zu gelten. Insofern besteht ohne eine entsprechende Genehmigung ein Verbot, die genannten Tätigkeiten auszuüben. Sich darüber hinwegzusetzen, begründet ein Dienstvergehen. Als weitere Sicherung dafür, dass der Richter nicht als Vertreter privater Interessen erscheint bzw. seine amtliche Autorität in Rechtssachen für Dritte einsetzt, sieht § 41 DRiG vor, dass ein Richter weder außerdienstlich Rechtsgutachten515 erstatten, noch entgeltlich Rechtsauskünfte erteilen darf. Diese Tätigkeiten gelten als mit der „Würde des Richters“ nicht vereinbar. Dagegen darf im Rahmen des Rechtsdienstleistungsgesetzes ein Richter ihm nahestehende oder befreundete Personen Ratschläge in Rechtsangelegenheiten schriftlich oder mündlich erteilen; zulässig ist auch die Tätigkeit in gemeinnützigen Rechtsauskunftsstellen516. Ein beamteter Professor der Rechte oder der politischen Wissenschaften, der gleichzeitig Richter ist, darf allerdings nach § 41 Abs. 2 DRiG mit Genehmigung der obersten Dienstbehörde der Gerichtsverwaltung Rechtsgutachten erstatten und Rechtsauskünfte erteilen. Die Genehmigung darf allgemein oder für den Einzelfall jedoch nur erteilt werden, wenn die richterliche Tätigkeit des Professors nicht über den Umfang einer Nebentätigkeit hinausgeht und nicht zu besorgen ist, dass dienstliche Interessen beeinträchtigt werden. Letzteres könnte etwa der Fall sein, wenn das zu erstellende Gutachten in unmittelbarem und konkretem Zusammenhang zu der richterlichen Tätigkeit steht, insbesondere auf sie Einfluss nehmen kann.
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Vgl. zu den Grenzen: BVerwG, NJW 1988, S. 1159, 1160. Zum Begriff: vgl. Schmidt-Räntsch, Richtergesetz (Fn. 770/C.), § 40 Rdnr. 3 m.w. N. 514 Vgl. Schmidt-Räntsch, Richtergesetz (Fn. 770/C.), § 40 Rdnr. 2. 515 Zum Begriff: vgl. Schmidt-Räntsch, Richtergesetz (Fn. 770/C.), § 41 Rdnr. 4 f. m.w. N. 516 BT-Drs. 3/516, S. 46. 513
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Nach § 43 DRiG hat der Richter über den Hergang bei der Beratung und Abstimmung auch nach Beendigung seines Dienstverhältnisses zu schweigen. Deshalb ist auch unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu beraten und abzustimmen (§ 193 GVG). Das Beratungsgeheimnis wird herkömmlich – aber wenig überzeugend (vgl. den Amts- oder Einzelrichter) – als ein Element zum Schutz der richterlichen Unabhängigkeit angesehen517. Weitere Zweck sei der der Sicherung der Einheit des Richterkollegiums und der Autorität des Richterspruchs. Der Richter solle unbeobachtet von der Öffentlichkeit frei und offen seine Rechtsmeinung äußern können. Bei Spruchkörpern mit mehreren Richtern solle damit verborgen werden, wer dem Urteil zur Mehrheit verholfen hat518. Dies wird – bislang519 – wegen der besonderen Stellung des Gerichtes und der dort verhandelten Sachverhalte nur für die Richter des Bundesverfassungsgerichts bzw. einigen Landesverfassungsgerichten durchbrochen. Voten unterliegen ebenfalls dem Beratungsgeheimnis520. Das Beratungsgeheimnis ist kein Recht des Richters, auf das er verzichten könnte, sondern eine Rechtspflicht. Diese Pflicht wird ergänzt durch die beamtenrechtliche Amtsverschwiegenheit (vgl. § 61 BBG bzw. § 37 BeamtStG). Sie bezieht sich auf andere amtliche Vorgänge, von der – anders als beim Beratungsgeheimnis – auch entbunden werden kann. Das Beratungsgeheimnis gilt allerdings nicht uneingeschränkt: Bei Richteranklagen, im Strafprozess, Disziplinarverfahren oder Regressverfahren darf der Richter das Beratungsgeheimnis lüften; er kann dazu aber nicht gezwungen werden521. So steht ihm nach herrschender Auffassung jedenfalls ein Aussageverweigerungsrecht zu522. Die Verletzung des Beratungsgeheimnisses ist ein Dienstvergehen, aber keine Straftat i. S. d. § 353 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB. Kein Fall des Beratungsgeheimnisses, wohl auch nicht der Amtsverschwiegenheit, ist es, wenn – aus berufsbedingter Kenntnis – eine bestimmte Entscheidungspraxis von Richterkollegen zum Gegenstand eines öffentlichen Diskurses gemacht wird. So ist die Veröffentlichung des Vorsitzenden Richters am Bundesgerichtshof Fischer in einem Fachaufsatz zur Praxis der Strafsenate, wonach in Beschlussverfahren nur der Berichterstatter
517 Auch zum Folgenden: BT-Drs. 3/516, S. 46; Schmidt-Räntsch, Richtergesetz (Fn. 770/C.), § 43 Rdnr. 2 und 4. G. Schmidt-Räntsch, Gegenstand, Sinn und Grenzen des Beratungsgeheimnisses, in: JZ 1958, S. 329 ff. 518 Lamprecht, plädiert demgegenüber in Anknüpfung an die Entscheidungen des 47. Deutschen Juristentages von 1968 für ein Recht zur „Dissenting Opinion“ bei den Obergerichten, ZRP 2010, S. 117. Anlass dafür war die Entscheidung des OLG Naumburg, NJW 2008, S. 3585, zu einem Klageerzwingungsverfahren im Fall Görgülü [vgl. unter C. III. 2. a) aa)]. 519 Vgl. zur Diskussion bereits in den 50-er Jahren: Schmidt-Räntsch, Beratungsgeheimnis (Fn. 517/D.), JZ 1958, S. 329. 520 Michel, DRiZ, 1992, S. 263 f. 521 Schmidt-Räntsch, Richtergesetz (Fn. 770/C.), § 43 Rdnr. 17; OLG Naumburg, NJW 2008, S. 3585. 522 Vgl. im Einzelnen MünchKomm/Uebele, StGB, 2. Aufl., § 339 Rdnr. 80.
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und der Senatsvorsitzende vollständige Kenntnis vom Akteninhalt haben523, insbesondere auch deshalb kein Verstoß gegen richterliche Rechtspflichten, weil sie unter Beachtung des Mäßigungsgebots vorgebracht wurde. Dass sie aber eine Frage der richterlichen Ethik berührt, zeigt schon der Umstand, wie Richterkollegen hierauf reagiert haben. Offenkundig gehört die über die gesetzlichen Gebote hinausgehende Wahrung der Verschwiegenheit und Anonymität zur Berufsmoral einer großen Anzahl der Bundesrichter524, weshalb konsequenterweise deren Bruch und der Weg in die Öffentlichkeit als „unerträglich“ empfunden wurden525. Dass diese – berufsmoralische – Regel brüchig ist, zeigt zum einen der Umstand, dass diese Form der Kritik auch schon früher geübt wurde526, zum anderen wird Fischer von anderen Kollegen unterstützt. Es steht zu vermuten, dass damit ein Wandel im Umgang mit Konflikten und mit der Intransparenz im Selbstverständnis der Richter eingesetzt hat. Der Richter ist schließlich dienstrechtlich auch zum Tragen der Amtstracht verpflichtet527. Mit ihr soll auch äußerlich die unabhängige und unparteiliche Amtsperson sichtbar werden, hinter der die richterliche Privatperson zwar nicht verschwinden, jedoch zurücktreten soll. Der Richter ist außerdem nur in dienstrechtlichen Fragen gehalten den Dienstweg einzuhalten, nicht aber wenn er in richterlicher Funktion handelt528. cc) Dienstaufsicht und die rechtliche Begrenzung richterlichen Verhaltens (1) Das Verhältnis des Dienstaufsichtsrechts zur richterlichen Ethik Betrachtet man das Verhältnis des Dienstaufsichtsrechts zur richterlichen Ethik aus der richterlichen Selbstwahrnehmung, bestehen zum Teil kaum haltbare Vorstellungen: „Zwischen einem Verstoß gegen die richterliche Berufsethik und einer Verletzung richterlicher Amtspflichten liegt ein großer Handlungsspielraum“.529 Hieraus wird geschlossen, „der faule Richter handelt noch nicht pflichtwidrig.“ 530 Diese Behauptungen gehen erkennbar davon aus, dass das 523 Vgl. NStZ 2013, S. 425 ff. Hierzu R. Hamm/K. Krehl, Vier oder zehn Augen bei der strafprozessualen Revisionsverwerfung durch Beschluss? – Worum es eigentlich geht, in: NJW 2014, S. 903. 524 Hierzu: R. Lamprecht, Ein Gericht, zwei Lager – Der BGH zwischen Anonymität und Transparenz, in: NJW 2013, S. 3563. 525 NStZ 2013, S. 563 ff. 526 M. Wiebel, Die senatsinterne Geschäftsverteilung beim Bundesgerichtshof (Zivilsenate), in: BB 1992, S. 573. 527 BVerwG, NJW 1983, S. 2589. 528 BGH, DRiZ 2008, S. 256. 529 G. Kirchhoff, Unabhängigkeit und Berufsethos: zwei Paar Stiefel? in: BJ 2002, S. 253. 530 Kirchhoff, Unabhängigkeit (Fn. 529/D.), S. 253.
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Dienstrecht nur das Minimum an richterlichen Verhaltenspflichten regelt. Grund hierfür dürfte die Haltung sein, die richterliche Unabhängigkeit „neutralisiere“ zum großen Teil mögliche rechtliche Amtspflichten. Hinzu kommt, dass die richterliche Dienstaufsicht, der die Wahrung der Dienstpflichten obliegt, in aller Regel ausgesprochen zurückhaltend geübt wird531, was die zuvor beschriebene Haltung verstärkt. Damit kann sich die unter Richtern verbreitete Einstellung verfestigen, dass der Bereich richterlichen Verhaltens eher oder gar nur der Berufsmoral als dem Dienstrecht unterliegt und die berufsmoralischen Anforderungen dabei als nicht besonders hoch eingeschätzt werden, jedenfalls und sanktionsfrei den individuellen Präferenzen vorbehalten ist. Diese Annahme gerät jedoch erheblich ins Wanken, wenn die zulässigen dienstaufsichtlichen Maßnahmen, die die rechtlichen Amtspflichten, insbesondere ihrer Hauptpflicht der Justizgewährleistung, konkretisieren, einer näheren Betrachtung unterzogen werden. Denn durch die im Richterrecht ausdrücklich geregelten Rechtspflichten, durch die Verweisung des Richterrechts auf das Beamtenrecht mit den dort geregelten Pflichten und wegen der in der Rechtsprechung hieraus abgeleiteten Rechtspflichten des Richters reichen die bestehenden rechtlichen Amtspflichten im Grundsatz sehr weit, auch wenn ihre Durchsetzung – insbesondere wegen der durch Ausbildung und Einstellung gefestigten „Rechtlichkeit“ der Richter – entweder nicht erforderlich ist oder vernachlässigt wird. Richterliche Dienstpflichten, die ihre Geltungsgrundlage im Dienstrecht haben und deshalb nicht mehr im Bereich der Berufsmoral angesiedelt sind, sind – wie etwa die oben beschriebenen Dienstpflichten – im Einzelnen gesetzlich geregelt. Sie werden aber erst im Konflikt zwischen der Dienstaufsicht des dem Richter unmittelbar Dienstvorgesetzten und dem Richter näher konturiert. Dass dies in der Rechtspraxis – aus unterschiedlichen Gründen532 – nur selten der Fall ist, sollte nicht den Blick auf ihre für das Vertrauen in die Justiz essentielle Bedeutung verstellen. Die Dienstaufsicht ist als „Subfunktion“ der Personalführung zunächst auf Beobachtung und dann auf die Berichtigung des Verhaltens des einzelnen Richters gerichtet533. Anlass für deren Eingreifen sind neben eigener Beobachtung und Hinweisen richterlicher und nichtrichterlicher Mitarbeiter auch „Dienstaufsichtsbeschwerden“ 534, die von Prozessbeteiligten erhoben werden, um vermeintliches Fehlverhalten des Richters zu rügen. Die Judikatur der Verwaltungsge531 Simon, Unabhängigkeit des Richters (Fn. 469/C.), S. 22 ff. meint hingegen, dass sich die größten Abhängigkeiten des Richters aus dem Mittel und der Handhabung der Dienstaufsicht ergäben. 532 Zu den möglichen Gründen Simon, Unabhängigkeit des Richters (Fn. 469/C.), S. 24 f. 533 BGH, DRiZ 1977, S. 151 f.; Haberland, Problemfelder (Fn. 42/D.), DRiZ 2002, S. 304; Redecker, Dienstaufsicht (Fn. 74/D.), SächsVBl. 2007, S. 73. 534 K. E. Heinz, Die Dienstaufsicht über Beamte und Richter, in: DöD 2009, S. 109.
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richte und der Dienstgerichte535, vor denen die Konflikte zwischen Richtern, die sich in ihrer richterlichen Unabhängigkeit oder in ihren dienstrechtlichen Rechten verletzt fühlen, und der Dienstaufsicht ausgetragen werden, kann daher über die bereits beschriebenen Amtspflichten hinaus einen jeweils auf den Einzelfall bezogenen Katalog weiterer dienstlicher und außerdienstlicher Rechtspflichten der Richter536 bieten. Soweit er reicht, ist auch hier für die Beurteilung richterlichen Verhaltens nicht die Berufsmoral, sondern das Recht maßgeblich. Maßstab der Dienstaufsicht können nämlich nur rechtliche Amtspflichten des Richters sein, die auf die geordnete und effiziente Rechtspflege gerichtet sind, und denen nachzukommen, der dienstrechtlichen Treuepflicht entspringt537: „Die Dienstaufsicht trägt zur Sicherung des Justizgewährungsanspruchs des Bürgers bei. Sie soll eine den Anforderungen des Grundgesetzes entsprechende, geordnete Rechtspflege gewährleisten und sicherstellen, dass die richterlichen Dienstpflichten eingehalten werden.“ 538 Insofern erscheint es auch unzulässig, in ihr im Wesentlichen ein Mittel zu sehen, das den Richter in Abhängigkeit halten soll, ohne den sichernden Kontext zu berücksichtigen539. (2) Justizgewährleistung540 als maßgeblicher Inhalt 541 richterlicher Dienstpflichten und dienstaufsichtlicher Maßnahmen Die grundlegende und verfassungsrechtlich maßgebliche Einsicht, dass dem Richter die Unabhängigkeit im Interesse des rechtsschutzsuchenden Bürgers und nicht in seinem eigenen Interesse eingeräumt ist, führt zur Umkehrung und Zurückweisung des nicht selten vertretenen Ansatzes, dass sich jede Amtspflicht des Richters vor seiner richterlichen Unabhängigkeit zu rechtfertigen habe. Hieraus hat Papier die entsprechenden Folgerungen gezogen und exemplarisch festgestellt: „Es gehört zu den Dienstpflichten der Richter, ihre richterliche Tätigkeit an jener staatlichen Justizgewährpflicht auszurichten, d. h. für eine Erfüllung jener staatlichen Justizgewähr Sorge zu tragen. Den Richtern obliegt mit anderen Wor535 Zur Abgrenzung der Prüfungszuständigkeit: BVerwG, B. v. 17.09.2009 – 2 B 69.09 – zit. nach Juris; BGH, U. v. 08.11.2006 – RiZ (R) 2/05 – DRiZ 2007, S. 143; Schmidt-Räntsch, Richtergesetz (Fn. 770/C.), § 26 Rdnr. 58 ff. 536 Neumann, Richterliche Ethik (Fn. 108/A.), DRiZ 2008, S. 101. 537 Redecker, Dienstaufsicht (Fn. 74/D.), SächsVBl. 2007, S. 74. 538 BGH, NJW 2002, S. 359. 539 So aber Simon, Unabhängigkeit des Richters (Fn. 469/C.), S. 22 ff. 540 Papier, Richterliche Unabhängigkeit (Fn. 46/D.), NJW 2001, S. 1092; Haberland, Problemfelder (Fn. 42/D.), DRiZ 2002, S. 301, 303 ff.; Rudolph, Dienstaufsicht (Fn. 52/ D.), DRiZ 1979, S. 97; R. Stober, Maßnahmen der Dienstaufsicht und Richterdienstgerichte, in: DRiZ 1976, S. 68; BGH, U. v. 03.01.1969 – RiZ (R) 6/68 –; U. v. 23.10.1963 – RiZ 1/62 – zit. nach Juris. 541 Neben der Justizgewährleistung bzw. als ihr Bestandteil ist dabei auch die Bindung der Rechtsprechung an Recht und Gesetz Zweck der Dienstaufsicht. Vgl. hierzu: F. Wittreck, Durchschnitt als Dienstpflicht, in: NJW 2012, S. 3288.
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ten die Dienstpflicht, ihre richterliche Tätigkeit in strikter Gesetzesbindung und in sachlicher Unabhängigkeit (gegenüber den anderen staatlichen Gewalten, den politischen Parteien, Verbänden, Verfahrensbeteiligten etc.) wahrzunehmen. Die Dienstaufsicht hat die Einhaltung jener richterlichen Grundpflichten zu überwachen und zu sichern. Richterliche Unabhängigkeit, richterliche Gesetzesbindung, richterliche Dienstpflichten sowie die Dienstaufsicht über Richter finden also ihre gemeinsame Grundlage in der verfassungsrechtlich verbürgten Justizgewähr des Staates. Sie ist auch der bestimmende Faktor der Detailabgrenzung und der Konfliktlösung.“ 542 Im Interesse der Bürger, die Anspruch auf ein funktionierendes Rechtswesen haben, bedarf es zur Wahrung dieser Hauptpflicht mithin der Dienstaufsicht über Richter543. Die verfassungsrechtlich gewährleistete richterliche Unabhängigkeit führt vor diesem Hintergrund nicht dazu, dass Richter keiner oder nur sehr eingeschränkten Kontrolle unterlägen und Maßnahmen der Dienstaufsicht deshalb generell rechtfertigungsbedürftig wären. Beide Institute sind aufeinander bezogen und werden durch das Ziel, eine effiziente Rechtsprechung zu gewährleisten, verbunden. Richterliche Unabhängigkeit und Dienstaufsicht stehen dabei in einem Spannungsverhältnis zueinander544. Inhalt und Grenzen der Dienstaufsicht über Richter sind dabei im Einzelnen zwar gesetzlich nicht geregelt. Das Deutsche Richtergesetz gibt insoweit nur einen allgemein gehaltenen Rahmen vor, dessen Konkretisierung der Praxis, insbesondere der dienstgerichtlichen Rechtsprechung überlassen ist545. Maßgebliche Rechtsgrundlage ist dabei § 26 DRiG. Richter unterstehen nach § 26 Abs. 1 DRiG der Dienstaufsicht, soweit nicht in ihre Unabhängigkeit eingegriffen wird. Nach Absatz 2 dieser Vorschrift umfasst die Dienstaufsicht die Befugnis, die ordnungswidrige Art der Ausführung eines Amtsgeschäfts vorzuhalten und zu ordnungsgemäßer, unverzögerter Erledigung der Amtsgeschäfte zu ermahnen546. Die Dienstaufsicht erstreckt sich demnach umfassend auf die „richterliche Tätigkeit“, einschließlich der Rechtsprechung. Das hier aufgezeigte Spannungsverhältnis gibt seit langem und in vielfacher Hinsicht Anlass zu schwierigen Abgrenzungsfragen um die Rechtmäßigkeit dienstaufsichtlicher Maßnahmen547. Der Begriff der Maßnahme der Dienstaufsicht ist zum Schutze der richterlichen Unabhängigkeit dabei sehr weit gefasst mit der Folge, dass das Handeln der Dienstaufsicht einer umfassenden Rechtskontrolle unterliegt. Unter ihr ist jede Meinungsäußerung, die sich in irgendeiner Weise kritisch mit dem dienstlichen 542
Papier, Dienstaufsicht (Fn. 46/D.), NJW 1990, S. 9. Beck’sches Richterhandbuch, 2. Auflage 1999, J, Rdnr. 133 S. 1590. 544 Schmidt-Räntsch, Richtergesetz (Fn. 770/C.), § 26 Rdnr. 2. 545 Schmidt-Räntsch, Richtergesetz (Fn. 770/C.), § 26 Rdnr. 17. 546 Zu den Grenzen richterlicher Unabhängigkeit bei Untätigkeit des Richters: BbgVerfG, U. v. 17.12.2009 – VfGBbg 30/09 – zit. nach Juris. 547 Papier, Richterliche Unabhängigkeit (Fn. 46/D.), NJW 2001, S. 1092; Rudolph, Unabhängigkeit (Fn. 127/A.), DRiZ 1984, S. 138 ff. 543
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oder außerdienstlichen Verhalten des Richters befasst, zu verstehen, auch wenn sie nicht zur Kenntnisnahme durch den Richter bestimmt ist548. Also auch Maßnahmen „nur“ rein tatsächlicher Art können gerichtlich daraufhin überprüft werden, ob sie in die durch die Unabhängigkeit des Richters geschützte Sphäre eingreifen oder nicht. Zu solchen Maßnahmen gehören auch Berichte anderer Richter über das dienstliche Verhalten eines Richters, wenn sie zu den Personalakten gelangen549, aber auch kritische Äußerungen dienstaufsichtführender Stellen über die richterliche Tätigkeit der Richter („Urteilsschelte“), selbst dann, wenn sie nicht an den Betroffenen adressiert sind (z. B. Leserbriefe, Presse-Infos, Interviews, Schreiben an Dritte550); möglicher Überprüfungsgegenstand können sogar „schlichte“ Befragungen mit kritischer Tendenz sein, Berichte an höhere Dienstvorgesetzte, die Bekanntgabe von Bedenken über richterliche Tätigkeit gegenüber Dritten oder andere Verhaltensweisen mit dem Potential „psychischer Einflussnahme“ sein, wie Anregungen, Empfehlungen oder bestimmte Bitten551. Auch dienstliche Beurteilungen von Richtern können Maßnahmen sein, die in die richterliche Unabhängigkeit eingreifen552. Ihr Hauptzweck ist der Korrektur-, der Einsatz- und der Auslesezweck553. Dabei hat der Beurteilende aus dem Verhalten und den Arbeitsergebnisses des Richters auf dessen Leistungsfähigkeit zu schließen. In Beurteilungen werden somit nicht unmittelbar Pflichten und Verstöße gegen sie festgestellt. Die Bewertung und Beurteilung richterlichen Verhaltens sowohl innerhalb wie außerhalb des Dienstes554 setzt jedoch an einem bestimmten Verhalten an und kritisiert oder belobigt es dienstrechtlich. Insofern haben Beurteilungen einen nicht geringen Einfluss auf die Steuerung richterlichen Verhaltens im Wege des Dienstrechts. Auch wenn in den Beurteilungen die Grenze zur berufsmoralischen Bewertung nicht selten fließend ist, müssen Bewertungen von Dienstvorgesetzten dem Dienstrecht zugeordnet werden, weil die Zulässigkeit
548 BGH, U. v. 9.03.1967 – RiZ (R) 2/66; U. v. 31.01.1984 – RiZ (R) 3 und 4/83 – zit. nach Juris; Papier, Richterliche Unabhängigkeit (Fn. 46/D.), NJW 2001, S. 1092. 549 BGH, DRiZ 1977, S. 341; Schmidt-Räntsch, Richtergesetz (Fn. 770/C.), § 26 Rdnr. 35. 550 Nicht bezogen auf Bürger, der sein Recht auf Meinungsäußerung wahrnimmt: Schilken, Sicherung (Fn. 50/D.), JZ 2006, S. 862. 551 BGH, U. v. 31.01.1984 – RiZ [R] 3/83 – zit. nach Juris. 552 Nach dem Roland-Rechtsreport 2014 (S. 10) sehen sich viele Richter und Staatsanwälte durch die Beurteilung durch Vorgesetzte, zum Beispiel Gerichtspräsidenten oder leitende Oberstaatsanwälte, bedrängt. 42 Prozent der Befragten geben an, dass hierdurch ihre Unabhängigkeit beeinflusst werde. Die Mehrheit von 57 Prozent sieht das nicht so. Richter, die selbst eine Leitungsfunktion innehaben, sagen sogar zu 65 Prozent, dass eine Beeinflussung hierdurch nicht gegeben sei. Zu den Problemen von Beurteilungen für den Richter: Simon, Unabhängigkeit des Richters (Fn. 469/C.), S. 25 ff. 553 Hierzu H. Schnellenbach, Kriterien der Bewertung richterlicher Leistung, in: RiA 1999, S. 161 f. 554 Schmidt-Räntsch, Richtergesetz (Fn. 770/C.), § 26 Rdnr. 42.
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solcher Bewertungen auf einen Rechtsbehelf des Richters hin einer Rechtsprüfung offen steht555. So ist die Beurteilung von Rechtskenntnissen556, der Beherrschung der Rechtsanwendungstechnik557, des Judizes558 sowie ein bloßer Vergleich von Erledigungszahlen selbst bei einer Aufgliederung nach Erledigungsarten559, der Vorhalt der zögerlichen Abarbeitung alter Verfahren560, der lückenhaften Sachaufklärung561, die Beurteilung des Sozialverhaltens und des Persönlichkeitsbilds, der Vorhalt ausgeprägten Gerechtigkeitsempfindens, soweit es seine Entscheidungen betrifft562, zulässig. Unzulässig ist jedoch eine Missbilligung, die sich aus einer herabsetzenden Bewertung ergeben kann563. Alle diese Fragen, die die Leistung des Richters betreffen, sind damit rechtlich überlagert und sind erst in zweiter Linie berufsmoralisch. Sie können aber unter Umständen Herausforderungen für die innere Unabhängigkeit des Richters werden, die von ihm eine berufsmoralische Entscheidung – hinnehmen oder abwehren – verlangen. (3) Vorhalt und Ermahnung Zu unterscheiden von den noch zu beschreibenden Mitteln des Disziplinarrechts sind die klassische Maßnahmen der Dienstaufsicht, der Vorhalt und die Ermahnung. Sie sind in ihrem Begriff und ihrem ursprünglichen Gehalt nach zwar moralisch aufgeladen, durch das Dienstrecht aber zum rechtlichen Mittel der Dienstaufsicht normativ verändert, also ein typisches Beispiel von verrechtlichter Berufsmoral. Vorhalt ist dabei der Ausspruch der objektiven Ordnungsund Pflichtwidrigkeit einer richterlichen Amtshandlung oder eines richterlichen Verhaltens. Er erschöpft sich in der Anführung von Tatsachen und in ihrer sachbezogenen Wertung564. Dazu gehört auch die objektive Feststellung eines Verschuldens des Richters, nicht jedoch die Vornahme einer personenbezogenen Wertung, die einen persönlichen Schuldvorwurf gegen den Richter zum Gegen555 H. Schnellenbach, Zur Überprüfung dienstlicher Beurteilungen der Beamten und der Richter, in: RiA 1990, S. 120 ff. 556 BGH, 04.06.2009 – RiZ (R) 5/08 – zit. nach Juris. 557 BGH, DRiZ 1998, S. 20. 558 BGH, U. v. 31.01.1984 – RiZ [R] 3/83 – zit. nach Juris. 559 BGH, U. v. 03.10.1977 – RiZ (R) 1/77 – zit. nach Juris; hierzu: Schnellenbach, Kriterien (Fn. 553/D.), RiA 1999, S. 161, 163. 560 BGH, NJW 1988, S. 421. 561 BGHZ 57, 344 (349). 562 BGH, U. v. 14.04.1997 – RiZ (R) 3/96 – zit. nach Juris. 563 Zu einem bezogen auf den zu beurteilenden Richter krassen Fall: BGH, U. v. 04.06.2009 – RiZ (R) 5/08 – zit. nach Juris, der auch entsprechende Pressereaktionen auslöste: „Richter ohne Tadel“ FAZ 05.10.2010, S. 10. 564 Schaffer, Die Unabhängigkeit der Rechtspflege (Fn. 82/D.), BayVBl. 1991, S. 678, 682.
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stand hat. Wird ein persönlicher Schuldvorwurf gemacht, liegt der – im Rahmen der Dienstaufsicht unzulässige – Ausspruch einer Missbilligung vor565. Die Ermahnung ist auf die ordnungsgemäße unverzügliche Erledigung der Dienstgeschäfte gerichtet und ist ein Appell an das Verantwortungsbewusstsein des Richters566. Der Dienstvorgesetzte darf im einzelnen Fall aber kein bestimmtes Tun verlangen. Er ist also nur befugt, dem Richter im Einzelfall die ordnungswidrige Ausübung seiner Tätigkeit vorzuhalten und ihn für die Zukunft anzuhalten, seine Amtsgeschäfte ordnungsgemäß zu erledigen567. (4) Zulässige Bestimmungen richterlicher Dienstpflichten durch die Dienstaufsicht Nach der umstrittenen, in der Rechtsprechung aber immer noch maßgeblichen Kernbereichslehre sind dienstaufsichtsrechtliche Maßnahmen, die das Verhalten des Richters in Bezug auf seine rechtsprechende Tätigkeit im engeren und weiteren Sinn zu beeinflussen versuchen bzw. das Potential zu einer solchen – auch psychischen – Beeinflussung568 haben, eine Verfahrens- oder Sachentscheidung künftig in anderem Sinne zu treffen, grundsätzlich unzulässig. Soweit Eingriffe in diesen Kernbereich unzulässig sind, ist mithin die Befugnis der Dienstaufsicht begrenzt, auf dienstrechtlicher Grundlage Verhaltenspflichten des Richters festzustellen. Insoweit markieren die Grenzen des Kernbereichs nur vorläufig den Übergang zu dem nur noch von berufsmoralischen Pflichten normativ strukturierten Handlungsbereich. Vorläufig deshalb, weil der im Kernbereich liegende Handlungsbereich der der Rechtssprechungstätigkeit ist, der auf Rechtsmittel hin überprüfbar ist. Nur wo das Handeln des Richters einer internen oder externen Rechtskontrolle aber nicht mehr unterliegt, unterliegt es allein den Regeln der Berufsmoral. Für die vorliegende Untersuchung ist hinsichtlich der rechtlichen Bindung des Richters durch die Dienstaufsicht jedenfalls auch von Interesse, welche dienstaufsichtsrechtlichen Maßnahmen hier zulässig sind. Nur insoweit verdrängt das Recht die berufsmoralische Bewertung. Es ist daher notwendig, den vor dienstaufsichtlichen Maßnahmen weithin abgeschirmten Bereich richterlichen Handelns näher zu bestimmen, um auf dieser Grundlage den Eingriffsbereich der Dienstaufsicht und damit die erzwingbaren Rechtspflichten zu bestimmen. Zum grundsätzlich vor dienstaufsichtlichen Maßnahmen abgeschirmten Kernbereich gehören neben der eigentlichen Tätigkeit als „Spruchrichter“ alle richter565 BGH, U. v. 31.01.1984 – RiZ [R] 4/83 – zit. nach Juris; BGH, DRiZ 1997, S. 467. Kritisch: J. Wandtke, Die Unabhängigkeit des Richters im außergerichtlichen Bereich, in: DRiZ 1984, S. 430. 566 BGHZ 51, 280 (286). 567 BGH, U. v. 03.01.1969 – RiZ (R) 6/68 – zit. nach Juris. 568 BGH NJW 1995, S. 731.
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lichen Handlungen, die notwendig auf den Richterspruch hinführen, also auch die ihr mittelbar dienenden Sach- und Verfahrensentscheidungen (z. B. Terminbestimmung, Einzelrichterbestellung), die der Vorbereitung einer Entscheidung dienen, während der Verhandlung ausgeübt werden (z. B. Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen, Sitzungspolizei) oder der Entscheidung nachfolgen569. Dazu können auch nicht ausdrücklich vorgeschriebene, den Interessen der Rechtssuchenden dienende richterliche Handlungen gerechnet werden, die in einem konkreten Verfahren mit der Aufgabe des Richters, den Sachverhalt aufzuklären, Recht zu finden und den Rechtsfrieden zu sichern, unmittelbar in Zusammenhang stehen570. Der Vorgang der Rechtsfindung ist zur Gewährleistung einer weisungsfreien Rechtsprechung dabei weit zu fassen. Die Abgrenzung richterlicher Tätigkeiten von solchen, die mit dem Rechtsfindungsprozess in keinem Zusammenhang stehen, ist oft nicht trennscharf möglich. Bei der Unterscheidung zwischen der Beaufsichtigung des Verhaltens eines Richters innerhalb und außerhalb der richterlichen Tätigkeit ist zudem zu beachten, dass die richterliche Unabhängigkeit das ganze Dienstverhältnis des Richters beeinflusst571. Wegen der Bedeutung der richterlichen Unabhängigkeit ist im Zweifelsfall eine aufsichtsmäßig zu behandelnde richterliche Tätigkeit daher eher dem richterlichen Kernbereich zuzuordnen572. Eine Einflussnahme auf die rechtsprechende Tätigkeit ist zwar im Grundsatz ausgeschlossen, bleibt jedoch ausnahmsweise zulässig, nämlich in Fällen offensichtlich fehlerhafter Amtsausführung, d.h. dann, wenn es sich um einen „offensichtlichen, jedem Zweifel entrückten Fehlgriff“ handelt573. Die Rechtfertigung eines Eingriffes in die richterliche Unabhängigkeit ergibt sich in einem dermaßen eindeutigen Fall fehlerhafter richterlicher Amtsführung daraus, dass mit der richterlichen Unabhängigkeit zwar eine weisungsfreie, von staatlicher Einflussnahme freie Rechtsprechung garantiert werden soll, dass aber notfalls die staatliche Einflussnahme unverzichtbar ist, um die Funktionsfähigkeit der Gerichte sicherzustellen oder wiederherzustellen. Zur konkreten Abgrenzung des geschützten Kernbereichs vom – dem Eingriff der Dienstaufsicht geöffneten – äußeren Ordnungsbereich, in den umfangreicher eingegriffen werden kann und die Rechtspflichten bestimmt werden, ist mithin die Zuordnung zu diesen Bereichen zentral. Im Folgenden ist daher der außerhalb des Kernbereichs liegende „äußere Ordnungsbereich“ näher zu betrachten. Insoweit sind Maßnahmen der Dienstaufsicht angesprochen, die mit dem Rechtsfindungsprozess in keinem Zusammenhang stehen, d.h. die für richterliche Entscheidungen ohne jede Bedeutung sind und
569 570 571 572 573
BGH, U. v. 14.04.1997 – RiZ [R] 1/96 – zit. nach Juris. Vgl. insoweit die Begründung zu § 22 Entwurf-DRiG in BT-Drs. 3/516, S. 39. BGHZ 51, 363 ff. und 369 f. BGH, U.v.13.02.1991 – RiZ [R] 6/90 – zit. nach Juris; aber BGHZ 67, 184. BGH, DRiZ 1996, S. 371 f. auch zum Folgenden.
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nur die äußere Form der Erledigung der richterlichen Dienstgeschäfte betreffen oder sich zwar mit deren sachlichen Gehalt befassen, jedoch nur auf einem Gebiet, das dem Kernbereich der eigentlichen Rechtsprechung so weit entrückt ist, dass es nur noch als zur äußeren Ordnung gehörig angesehen werden kann574. In diesem Bereich besteht die Möglichkeit, rechtlich Pflichten des Richters näher zu bestimmen und durchzusetzen. Hierzu gehört zunächst die Pflicht, sich in einen ordnungsgemäßen Geschäftsablauf und in die Notwendigkeiten einer geordneten Justizverwaltung einzufügen. Eine Reihe der im Kapitel C. beschriebenen Ethikkodizes fassen die insoweit bestehenden Pflichten als moralische Pflichten auf. In Deutschland unterliegt dieser Bereich aber weitgehend dem Dienstrecht. Zu nennen sind insoweit eher selbstverständliche Pflichten, wie etwa die Verpflichtung, die Sitzungen in Sitzungssälen abzuhalten, die Verwendung einheitlicher Aktendeckel oder Vordrucke und das Tragen der Amtstracht575. In diesen Bereich fällt aber auch, dass die Dienstaufsicht durch die Untersagung einer Nebentätigkeit sicherstellen kann576, dass der Richter seiner Dienstpflicht aus dem Hauptamt nachkommt. Es besteht auch kein Anspruch des Richters auf Aufnahme einer Nebentätigkeit ohne deren Anzeige577 oder die selbständige Festlegung des Urlaubs578. Die richterliche Pflicht zur Eingliederung in den ordnungsgemäßen Geschäftsablauf rechtfertigt die automatische Gesprächsdatenerfassung579, wobei die inhaltliche Aufzeichnung dienstlicher Gespräche und ein Zwang zur Rechtfertigung für sie unzulässig sind580. Der Richter hat keinen Anspruch auf Zuweisung eines bestimmten Protollführers581. Er ist verpflichtet, auf Dienstaufsichtsbeschwerden zu antworten. Der Zugang zum Dienstzimmer außerhalb der Dienstzeit darf nur beschränkt werden, wenn dies ein geregelter und finanzierbarer Dienstbetrieb erfordert582. Das ITNetz der Justiz, das einer Behörde der Landesfinanzverwaltung angegliedert ist, ist nur bei gemeinsamer Verwaltung mit gewählten Richtern zulässig583. In einem 574
BGHZ 42, 163. BVerwG, U. v. 9.06.1983 – 2 C 34.80 – zit. nach Juris. 576 BGH, DRiZ 2011, S. 205. 577 BVerfG (K), ZBR 2009, S. 123. 578 BGHZ 102, 369 (372 f.). 579 BGH, U. v. 24.11.1994 – RiZ (R) 4/94 – zit. nach Juris: Maßnahmen der Dienstaufsicht, die einen Richter veranlassen können, sein Diensttelefon zur Erledigung seiner Aufgaben nicht in dem von ihm für sachgerecht gehaltenen Umfang zu benutzen, sind unzulässig. 580 BGH NJW 1995, S. 731. 581 U. v. 18.08.1987 – RiZ [R] 3/87 – zit. nach Juris. 582 BGH, DRiZ 2003, S. 88. 583 BGH, NJOZ 2012, S. 787; OLG Frankfurt/Main (DGH), U. v. 20.04.2010 – DGH 4/08 – zit. nach Juris, bestätigt durch BVerfG (K), DRiZ 2013, S. 142, das eine verbotene Einflussnahme auf den Richter auch darin sieht, wenn ein besonnener Richter durch das Gefühl des unkontrollierbaren Beobachtetwerdens von der Verwendung der 575
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beschränkten Umfang besteht die Pflicht, Verwaltungs- oder Ausbildungsaufgaben zu übernehmen584. Auch die Versagung von Dienstreisen ins Ausland ist zulässig585. Über den geordneten Geschäftsbetrieb hinaus und bereits in sachlicher Nähe zum Kernbereich kann die Dienstaufsicht zur Sicherung des Justizgewährleistungsanspruchs die richterliche Pflicht zur zügigen Erledigung der Amtsgeschäfte durchsetzen. Insoweit hat die dienstgerichtliche Rechtsprechung eine Fülle von Maßnahmen der Dienstaufsicht für zulässig angesehen, die diesem Ziel dienen. Die Dienstaufsicht ist zur Durchsetzung der zügigen Erledigung der Amtsgeschäfte befugt, den Richter zu überwachen. So ist die Statuierung von Melde- oder Berichtspflichten für überjährige Prozesse mit kurzer Begründung statthaft586. Gleiches gilt für die Geschäftsprüfung unter Einbeziehung anhängiger Sachen587. Dies ist auch ohne Ankündigung statthaft, jedenfalls dann, wenn eine routinemäßige Regelnachschau bei allen Richterdezernaten stattfindet588. Die Aufsicht kann auf der Einhaltung von gesetzlichen Fristen bestehen und zu hohe Rückstände vorhalten589, wenn die Arbeitsbelastung nicht bereits zu hoch ist und dadurch ein unzulässiger Erledigungsdruck ausgeübt wird. Insoweit ist auch der Vorhalt zögerlicher Terminierung älterer Sachen590, unangemessen langer Absetzungsfristen591 oder der Hinweis auf das Beschleunigungsgebot592 zulässig. Bei drohender Verjährung von Straf- und Bußgeldsachen kann der Vorhalt zulässig sein, der Richter habe sich bei der Reihenfolge der Bearbeitung an der Dringlichkeit zu orientieren, um die Verjährung zu vermeiden593. Ein nicht innerhalb der gesetzlichen Fristen abgesetztes Urteil kann sogar den Widerruf eines bereits gewährten Urlaubs rechtfertigen594. Auch die sich aus § 310 Abs. 2 ZPO ergebende Pflicht, ein vollständig abgefasstes Urteil bei einem Verkündungstermin vorzulegen, ist einem dienstaufsichtlichen Vorhalt zugänglich. Der Richter hat weiter die Pflicht, Rechtsbehelfe unverzüglich der Rechtsmittelinstanz vorzulegen. Der Richter darf aufgefordert werden, die in dem Dezernat anfallenden Vorgänge besser zu überwachen und die Frage der Verjährung im Auge zu ihm zur Erfüllung seiner richterlichen Aufgaben zur Verfügung gestellten Arbeitsmittel abgehalten würde. 584 BGH, U. v. 8.05.1990 – RiZ [R] 6/88 – zit. nach Juris. 585 BVerfG, DRiZ, 1979, S. 219. 586 BGH, DRiZ 1991, S. 20. 587 BGH, U. v. 19.09.1988 – RiZ 1/86 – zit. nach Juris. 588 BGH, U. v. 18.08.1987 – RiZ [R] 2/87 – zit. nach Juris. 589 BGH, NJW 1988, S. 421; BGH; U. v. 16.09.1987 – RiZ [R] 5/87 – zit. nach Juris. 590 BGH, U. v. 31.01.1984 – RiZ [R] 3/83 – zit. nach Juris. 591 BGH, U. v. 31.01.1984 – RiZ [R] 3/83 – zit. nach Juris; BGHZ 90, 41 (46); 181, S. 268. 592 BGH, NJW-RR 2001, S. 498. 593 BGH, DRiZ 2007, S. 143. 594 BGHZ 102, 369 (372).
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behalten595. Die Unpünktlichkeit des Sitzungsbeginns kann dienstaufsichtlich gerügt werden596. Allerdings sind im Hinblick auf den Übergang zum abgeschirmten Kernbereich Grenzen einzuhalten. Sie zu kennzeichnen heißt unter dem Erkenntnisinteresse dieser Arbeit, das Feld der Berufsmoral negativ abzustecken; denn hier dringt das Recht und damit die richterliche Rechtspflicht nicht vor. So sind solche Vorhalte unzulässig, die geeignet sind, den Richter zu einer Arbeitsweise zu drängen, bei der die Erledigung von Streitverfahren und nicht die Suche nach Recht und Gerechtigkeit im Vordergrund steht597. Deswegen sind folgende Maßnahmen nicht mehr von den dienstaufsichtlichen Befugnissen gedeckt: die Beurteilung der Entscheidungsreife einer Sache598, die Ermahnung zu einer strafferen Verhandlungsführung599, pauschale Vorhaltungen wegen entstandener Rückstände, die Forderung nach vermehrter Anberaumung von Sitzungstagen600, die Anordnung einer bestimmten Art und Weise der Terminierung601, die Beschränkung der Art der Vorbereitung der mündlichen Verhandlung602, das Fordern von Zwischenentscheidungen, die die Art und Weise der rechtlichen Bearbeitung des Streitstoffs betreffen603, das Drängen, einzelne Verfahren anderen gleich bearbeitungsbedürftigen vorzuziehen604, der Vorwurf fehlerhafter Schwerpunktbildung605, die Kritik, wie häufig, in welchen Abständen und zu welchen Überprüfungen er sich eine Streitakte vorlegen lässt606, die Bemerkung in einer dienstlichen Beurteilung, „die Ermittlungen vor der mündlichen Verhandlung zur Feststellung und Beurteilung des Sachverhalts sollten bisweilen in größerem Umfang gepflogen werden.“ 607 Unzulässig ist auch ein Schreiben des Gerichtspräsidenten an die ehrenamtlichen Richter der Spruchkörper, in dem ausgeführt wird, dass diese zur 595
BGH, U. v. 16.09.1987 – RiZ [R] 5/87 – zit. nach Juris. BGH, DRiZ 1997, S. 467. 597 BGH, NJW 1988, S. 419 ff. (421); ThürDGH, U. v. 21.10.2003 – DGH-U 2/02. 598 BGH, U. v. 27.01.1995 – RiZ [R] 3/94 – zit. nach Juris. 599 BGH, NJW 1984, S. 2531. 600 BGH, NJW 1988, S. 421. 601 BGH, U. v . 20.06.2001 – RiZ [R] 2/00 – zit. nach Juris; hierzu Kirchhoff, Unabhängigkeit (Fn. 529/D.), S. 253; ThürDGH, U. v. 21. Oktober 2003 – DGH U 2/02. 602 BGH, U. v. 31.01.1984 – RiZ [R] 1/83 – zit. nach Juris: Einengung in der Sitzungsvorbereitung durch Vorlage der Akten. 603 Zur Art der Bearbeitung z. B. mehr „Mündlichkeit“: OVG Berlin, B. v. 15.01.2004 – 4 S 77/03 – zit. nach Juris; OVG Münster, 15.10.2003 – 1 A 2338/01 – zit. nach Juris; zur bestimmten Art der Erledigung: BGH, U. v. 3.10.1977 – RiZ (R) 1/77 – zit. nach Juris; ThürDGH, U. v. 21. Oktober 2003 – DGH U 1/02. Kein Eingreifen der Dienstaufsicht hinsichtlich der gesetzlichen Pflicht, auf eine gütliche Einigung hinzuwirken: BGH, U. v. 04.06.2009 – RiZ (R) 5/08 – zit. nach Juris. 604 BGH, NJW 1987, S. 1197. 605 OVG Münster, 15.10.2003 – 1 A 2338/01 – zit. nach Juris. 606 BGH, U. v. 27.01.1995 – RiZ [R] 3/94 – zit. nach Juris. 607 BGH, U. v. 31.01.1984 – RiZ (R) 1/83 – zit. nach Juris. 596
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Vorbereitung von Sitzungen weitergehend als bisher informiert werden sollen. Dies beeinträchtigt den Vorsitzenden in seiner richterlichen Unabhängigkeit608. Die Pflicht zur zügigen Erledigung der Amtsgeschäfte und die Einfügung in einen geordneten Dienstbetrieb bedeutet auch nicht, dass der Richter verpflichtet wäre, sich an konkrete Arbeitszeiten zu halten, oder seine Tätigkeit stets im Gericht zu erfüllen hätte. Insoweit hat das Dienstgericht des Bundes in Fortsetzung der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts609 festgestellt, als Ausfluss seiner sachlichen Unabhängigkeit sei der Richter nicht an allgemein festgesetzte Dienststunden gebunden610. Zwar habe er ebenso wie der Beamte – im Rahmen der geforderten Wochenarbeitszeit – seine ganze Kraft dem Amt zu widmen. Aus seiner Unabhängigkeit folge danach, dass er, soweit nicht bestimmte Tätigkeiten wie Sitzungen, Beratungen oder Haft-, Sofort- und Eilsachen seine Präsenz erfordern, seine Arbeit nicht innerhalb festgelegter Dienstzeiten und nicht an der Gerichtsstelle zu erledigen habe. Anwesenheitspflicht bei Gericht bestehe daher „nur“ in den genannten Fällen. In seiner eigentlichen Arbeit, der Rechtsfindung, solle der Richter soweit als eben möglich von äußeren Zwängen, seien sie auch nur atmosphärischer Art, frei sein. Die Rechtsfindung sei außerhalb der Sitzungen und Beratungen nicht das Ergebnis eines behördlichen Ablaufs, sondern eines höchstpersönlichen Erkenntnisprozesses. Eine Festlegung des Richters auf bestimmte Arbeitszeiten wäre daher als Eingriff in seine richterliche Arbeit unzulässig611. Inzwischen ist jedenfalls verwaltungsgerichtlich geklärt, dass eine Pflicht zur Erreichbarkeit besteht612.
608
DG b. LG Düsseldorf, DRiZ 2006, S. 316. BVerwG, NJW 1983, S. 62, DRiZ 1981, S. 470. 610 BGH, U. v. 16.11.1990 – RiZ (R) 2/90 – zit. nach Juris (auch zum Folgenden); BGHZ 113, 36 (40 f.); ebenso: BVerwGE 78, 211 (213); „bilderreich“ hierzu: L. Jäger, Dienststunden für Richter – nicht nötig und nicht möglich, in: MDR 1993, S. 944, der aber jedenfalls die gründliche häusliche Vorbereitung zur Amtspflicht rechnet; Joeres, Die sachliche Unabhängigkeit (Fn. 51/D.), DRiZ 2005, S. 328; K. Darkow, Arbeitszeit und Anwesenheitspflicht der Richter, in: DRiZ 1971, S. 372. 611 Dagegen: R. Schröder, Dienstzeiten und Anwesenheitspflichten für Richterinnen und Richter, in: NJW 2005, S. 1160. Ablehnend aus anwaltlicher Sicht: R. Ponschab, Dienststunden für Richter – bei fehlender Erreichbarkeit heute nötiger denn je, in: MDR 1993, S. 945. Vgl. auch BFH, NJW 2012, S. 1703 aus steuerrechtlicher Sicht: „Der Mittelpunkt der beruflichen Tätigkeit eines Richters liegt im Gericht und nicht im häuslichen Arbeitszimmer. Denn die Ausübung der dem Richter in Art. 92 GG anvertrauten rechtsprechenden Gewalt, das verbindliche Entscheiden in Rechtsfragen, die von den Beteiligten nicht oder nicht einvernehmlich aus einer Vorschrift beantwortet werden können, ist prägendes Element der richterlichen Tätigkeit. Dieses hoheitliche Tun ist nach der allgemeinen Verkehrsanschauung im Gericht(sgebäude) und nicht im häuslichen Arbeitszimmer zu verorten.“ 612 Vgl. VG Magdeburg, DRiZ 2012, S. 353 f., das insoweit vom Richter verlangt, dass die Richterkollegen bzw. die Geschäftsstellen ihn erreichen können. So schon der Beschluss des 66. DJT, S. 10: Zur Justizgewährung gehört auch die Erreichbarkeit des Richters. Zum Bereitschaftsdienst vgl. Fikenscher/Dingelstadt, in: NJW 2009, S. 3473 ff. 609
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Die Dienstaufsicht ist auch gehindert, ein bestimmtes Arbeitspensum konkret festzulegen. Insbesondere darf sie grundsätzlich nicht die Vorlage eines Arbeitsplans oder die Erfüllung bestimmter Pensen fordern613. Auch Zielvereinbarungen zwischen Dienstaufsicht und Richtern sind unzulässig614. Auch wenn unstreitig ist, dass ein unbefriedigendes Arbeitspensum beanstandet werden kann615, ist höchst streitig der Vorhalt der Bewältigung eines geringeren als der durchschnittlichen Arbeitsleistung anderer Richter616. Insoweit ist nicht immer präzise zu bestimmen, ab wann in diesem Fall in den Kernbereich der richterlichen Unabhängigkeit eingegriffen wird, zu dem auch die Entscheidung gehört, welche Sorgfalt und Aufwand der einzelne Fall erfordert. Die geringen rechtlichen Bindungen hinsichtlich der richterlichen Arbeitszeit und des zu erfüllenden Arbeitspensums verweisen in jedem Falle aber auf die Verantwortung des Richters, auf der Grundlage dieser „Freiheiten“ die Justizgewährleistungsaufgabe zu erfüllen und dabei mit der gebotenen Sorgfalt vorgeht. Damit sind berufsmoralische Fragen aufgeworfen. Davon zu trennen ist das gerichtsorganisatorische Problem des verwaltungsgerichtlichen Bereitschaftsdienstes bei ordnungs-, polizei- und versammlungsrechtlichen Problemen am Wochenende617. Insoweit ist die Dienstaufsicht selbst angesprochen, die – rechtlich nicht unmittelbar gezwungen – den nötigen effektiven Rechtsschutz bereitstellt. Insofern wäre der zuständige Richter dann rechtlich verpflichtet, auch erreichbar zu sein. Allerdings darf der Richter bei einer Einteilung in den Bereitschaftsdienst diesen nicht aus unvertretbaren Gründen ablehnen618. Die Anwendung des Rechts unterliegt selbstverständlich dem Kernbereich. Ein Richter braucht bei Auslegung und Anwendung von Normen insbesondere einer vorherrschenden Meinung nicht zu folgen. Es ist selbst dann nicht gehindert, eine eigene Rechtsauffassung zu vertreten und seinen Entscheidungen zugrunde zu Hohnstädter, NJW-aktuell 2010, S. 16 f. Vgl. statistisches Material bei G. Griebling, Die Arbeitszeit der Richter, in: DRiZ 1971, S. 228 ff. 613 Zur rechtlichen Unverbindlichkeit von Pensenschlüsseln für die Bestimmung der Arbeitsleistung: OVG Münster, B. v. 19.12.2001 – 1 A 4816/00 – zit. nach Juris; BGH, NJW 1988, S. 419. 614 Jacob, Mitarbeitergespräche (Fn. 263/B.), VblBW 2000, S. 389. 615 BGH, NJW 1984, S. 2535. 616 Bejahend „unter Würdigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls“: DG beim LG Karlsruhe, U. v. 04.12.2012 – RDG 5/12 u. RDG 7/12 – zit. nach Juris; vgl. auch: BVerwG, NJW 1983, S. 62; a. A. F. Wittreck, Dienstpflicht (Fn. 541/D.), NJW 2012, S. 3287; ders., Erledigungszahlen unter (Dienst-)Aufsicht, in: DRiZ 2013, S. 60; dagegen: H. Forkel, Erledigungszahlen unter (Dienst-)Aufsicht, in: DRiZ 2013, S. 132. Zum Umfang der geschuldeten Arbeitsleistung des Richters: BVerfG (K), NJW 2012, S. 2334, das einen Zwang des Richters zur Selbstausbeutung, etwa bei der Überbeanspruchung durch den Vorsitz in zwei Spruchkörpern, verneint. 617 Hierzu kritisch Hohnstädter, NJW-aktuell 2010, S. 16 f. 618 BGH, DRiZ 1996, S. 371, 372.
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legen, wenn alle anderen Gerichte – auch die im Rechtszug übergeordneten – den gegenteiligen Standpunkt einnehmen. Dies gilt auch gegenüber dem Vorsitzenden oder den Kammer- bzw. Senatskollegen619. Die Rechtspflege ist wegen der Unabhängigkeit der Richter konstitutiv uneinheitlich620. Deshalb wäre der dienstaufsichtliche Vorhalt unzulässig, der Richter weiche von der höchstrichterlichen Rechtsprechung ab. Eine Bindung an die Rechtsauffassung des Obergerichts besteht daher nur nach Zurückverweisung und auch nur im vorgegebenen Umfang. Der Wert der Rechtssicherheit, insbesondere der Vorhersehbarkeit richterlicher Entscheidungen, ist allerdings nicht nur ein rechtsstaatliches, sondern auch ein berufsmoralisches Gebot. Auch ist der Richter bei der Anwendung des Rechts nicht völlig frei. So besteht etwa eine Pflicht des Berufsrichters, das Urteil selbst abzusetzen621. Bei der Abfassung des Urteils, aber auch im Verfahren besteht eine Pflicht, verbale Exzesse zu vermeiden622. Hieraus folgt die Pflicht, in der mündlichen Verhandlung eine Atmosphäre des Respekts und der Sachlichkeit zu wahren. Die Frage an einen Prozessbeteiligten etwa, „ob dieser ihn nicht verstehen wolle oder zu dumm sei, ihm zu folgen“ 623, ist ein verbaler Exzess, der den Inhalt der Entscheidung nicht mitbestimmt. Bei der Beurteilung des Exzesses kommt es auf die Umstände des Einzelfalls an. So kann die Behauptung, es handle sich bei der Aussage eines Beteiligten um eine „dummdreiste Lüge“ 624, oder die Aussage „prozessunfähiger Psychopath“ hingenommen werden, wenn hierfür eine Tatsachengrundlage vorhanden ist625. Zum Kernbereich der richterlichen Unabhängigkeit, der Maßnahmen der Dienstaufsicht grundsätzlich verschlossen ist, gehört auch die Tätigkeit des Richters im Präsidium626. Diese Tätigkeit ruft in der Praxis allerdings nicht selten erhebliche kollegiale Konflikte hervor, die überwiegend nicht rechtlich627, sondern nur berufsmoralisch zu fassen sind. 619 BVerfGE 87, 273 auch zum Voranstehenden; unzulässig ist etwa die Abänderung von Einzelrichterentscheidungen durch Kammervorsitzenden: BVerfG (K), NJW 1996, S. 2149. 620 BVerfGE 87, 273. 621 BGHZ 42, 163 ff. 622 BGH, U. v. 24.06.1991 – RiZ [R] 3/91 – zit. nach Juris. 623 BGH, DRiZ 2006, S. 319, OVG Koblenz, NVwZ-RR 2005, S. 2. 624 BGHZ 70, 1. 625 BGHZ 77, 70. 626 BGH, U. v. 7.04.1995 – RiZ (R) 7/94 – zit. nach Juris; U. v. 14.09.1990 – RiZ [R] 3/90 – zit. nach Juris; noch enger: BGH, U. v. 7.06.1966 – RiZ [R] 1/66 – zit. nach Juris; ThürOVG, B. v. 30.11.04 – 2 EO 709/03. 627 Ausnahmen sind die Eingriffe in das Statusrecht auf amtsangemessene Beschäftigung oder willkürlicher Entzug von richterlichen Tätigkeiten. Zu den rechtlichen Grenzen für die Dienstaufsicht und die damit aufgeworfenen berufsmoralischen Fragen: Sandhaus, Richterliche Ethik (Fn. 890/C.), S. 476.
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Das Verhalten des Richters muss schließlich stets der Achtung und dem Vertrauen entsprechen, die sein Beruf erfordert628. Dies gilt auch für das außerdienstliche Verhalten629, wobei auch hier zu beachten ist, die Unabhängigkeit des Richters das ganze Dienstverhältnis erfasst. Zusammenfassend ist festzustellen: Viele Gestaltungen und Erscheinungsformen richterlichen Verhaltens, die als Fragen der richterlichen Ethik diskutiert werden, unterliegen – wie sich gezeigt hat – bis in den Bereich des Respekts gegenüber Verfahrensbeteiligten der dienstaufsichtsrechtlichen Kontrolle und ggf. der Sanktion. Damit schwindet der Bereich einer deontologischen Richterethik in erheblicher Weise. dd) Richterliches Disziplinarrecht Im Dienstrecht gibt es keine Rechtsmaterie, die so unmittelbar mit Dienst- und Amtspflichten, ihrer Verletzung und Sanktionierung verbunden ist, wie das Disziplinarrecht. Dort werden nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch sanktionsfähige Rechtspflichten von Beamten und Richtern bestimmt, abgegrenzt und rechtlich anwendungsfähig gemacht. Das Disziplinarrecht ist die Nahtstelle und die normative Grenze zwischen berufsmoralischen Pflichten einerseits und rechtlichen Dienstpflichten andererseits. Es setzt das Bestehen einer rechtlichen Pflicht voraus, deren Verletzung die Disziplinarmaßnahme nach sich zieht. Verstöße gegen die Berufsmoral können dagegen nicht disziplinarrechtlich sanktioniert werden630. Klar ist auch, dass die bloße Gesinnung nicht, hingegen ihre Äußerung und Betätigung disziplinierbar ist631. Umgekehrt sind alle disziplinarfähigen Handlungen keine bloß berufsmoralischen Vergehen. Ziel des Disziplinarrechts ist demnach nicht die soziale Ächtung des seine Dienstpflicht vergessenden Richters, sondern den Richter durch die Zufügung eines Übels entweder künftig zur ordnungsgemäßen Erfüllung seiner Dienstpflichten anzuhalten oder – soweit er untragbar geworden ist – aus dem Dienst zu entfernen632. Der hin und wieder zu lesende Abgrenzungsversuch, richterliche Ethik betreffe „die alltägliche Arbeit und das Verhalten der Richter“, und es obliege seiner Entscheidung, ob er sie erfülle, Disziplinarrecht greife hingegen ein, wenn rechtliche bzw. gesetzliche Grenzen – nicht ethische – überschritten seien, dürfte nur hinsichtlich der Beschreibung der Funktion des Disziplinarrechts ganz zutreffen. 628 DG beim LG Meiningen, ThürVBl. 2010, S. 132, 134: Disziplinarverfahren wegen Ankündigung einer Rechtsbeugung gegenüber Oberbürgermeister. 629 DRiZ 1977, S. 215; BGHZ 90, 34 ff.; Schmidt-Räntsch, Richtergesetz (Fn. 770/ C.), § 26 Rdnr. 19. 630 Schmidt-Räntsch, Richtergesetz (Fn. 770/C.), vor § 63 Rdnr. 3. 631 Vgl. Weiß, in: GKÖD, Disziplinarrecht des Bundes und der Länder, Bd. II. J 226, Rdnrn. 41, 44. 632 DGH Berlin, DRiZ 1997, S. 64, 66.
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Besser trifft es folgende Aussage: „Disziplinarrecht beschreibt also die Verletzung der äußeren Grenzen, während die Ethik positiv ein Ziel innerhalb dieser Grenzen beschreibt.“ 633 Dass ethische Maßstäbe nur individuell bestimmt und Verstöße gegen sie – etwa durch bloß subjektiv empfundene Gewissensbisse – sanktioniert sind, trifft bei der hier vorausgesetzten Berufsmoral jedoch nicht zu, die das außerrechtliche normative Leitbild der ganzen Berufsgruppe „Richter“ ist, mithin von der individuellen ethischen Einstellung des konkreten Richters zu trennen ist. Für die Bestimmung des neben dem Recht stehenden berufsmoralischen Raums ist daher bedeutsam – und im Folgenden zu leisten –, welche Pflichten disziplinarrechtlich inkorporiert sind und deshalb dem Recht und nicht mehr (nur) der Ethik unterliegen. Dabei sind die Voraussetzungen und das Regelungssystem der disziplinarischen Sanktionierung kurz zu beleuchten634: Das Disziplinarrecht ist für Bundesrichter in den §§ 62 ff. DRiG und § 46 DRiG i.V. m. der BDO, für Landesrichter in den Landesrichtergesetzen i.V. m. mit den jeweiligen Landesdisziplinarordnungen bzw. den Landesdisziplinargesetzen normiert. Die Richtergesetze regeln mithin sowohl das Verfahrensrecht als auch das materielle Disziplinarrecht nur ansatzweise und nur insoweit, als es der besondere dienstrechtliche Status des Richters verlangt. Vielmehr verweist das Richterrecht auf die Bestimmungen des Beamtenrechtes des Bundes bzw. der Länder. Infolgedessen unterscheidet sich das Disziplinarrecht für Richter nur marginal von dem der Beamten. Dem Richter droht dann ein Disziplinarverfahren, wenn er dienstrechtlich begründete Amtspflichten verletzt635. Als Sanktionen kommen dabei der Verweis, die Geldbuße, eine Gehaltskürzung, die Versetzung in ein anderes Amt mit gleichem/geringerem Endgrundgehalt oder die Entfernung aus dem Dienst mit dem Verlust der Besoldungs- und Versorgungsansprüche in Betracht. Zentraler Begriff des materiellen Disziplinarrechts ist dabei das „Dienstvergehen“, also die schuldhafte Verletzung richterlicher Dienstpflichten (vgl. z. B. § 77 BBG; § 47 BeamtStG entsprechend). Voraussetzung für ein Dienstvergehen ist eine im Zeitpunkt der Tat objektive Pflichtwidrigkeit des richterlichen Handelns. Es ist einheitlich zu würdigen, also unter Zusammenfassung aller jeweils vorgeworfenen Pflichtverletzungen. Dabei ist für die vorliegende Untersuchung bedeutsam, dass die jeweilige Rechtspflicht nicht nur in Einzeltatbeständen, sondern auch in Generalklauseln enthalten sein kann636. Hieraus folgt, dass der potentielle Rahmen sanktionsbewehrter Rechtspflichten von Richtern weiter ist als viele Richter mei633
Mardorf, Philosophische Grundlagen (Fn. 2/B.), DRiZ 2010, S. 78. Grundlegend: C. Fischer, Disziplinarrecht und Richteramt, Frankfurt/Main, 2012; zur Geschichte und Vorläuferregelungen: A. Schuhmacher, Richter-Disziplinarrecht, in: DRiZ 1961, S. 72 ff. und S. 350 ff. sowie DRiZ 1962, S. 114; Wagner, Disziplinarrecht für Richter (Fn. 484/C.), DRiZ 1957, S. 211. 635 Vgl. Fischer, Disziplinarrecht (Fn. 634/D.), S. 61 ff. 636 Schmidt-Räntsch, Richtergesetz (Fn. 770/C.), vor § 63 Rdnr. 6. 634
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nen, was umgekehrt den Raum für bloß berufsmoralisch begründete Pflichten verengt. In Betracht kommen als sanktionsbewehrte Pflichten alle oben dargestellten, im Einzelnen geregelten richterlichen Dienstpflichten (z. B. Dienstleistungspflicht; Pflicht, Amtstracht zu tragen; die Pflicht, sich unabhängig zu halten; das Mäßigungsgebot; das Verbot, Rechtsgutachten zu erstatten und entgeltliche Rechtsauskünfte zu erteilen; nicht genehmigungspflichtige Nebentätigkeiten anzuzeigen637, keiner ungenehmigte Nebentätigkeit nachzugehen bzw. das Gebot, die angeordnete zu erfüllen; das Beratungsgeheimnis zu wahren und sonst amtsverschwiegen zu sein; die Verfassungstreue; Verbot der Annahme von Geschenken und Belohnungen638; die Abstimmungspflicht im Spruchkörper; die – allerdings beschränkte – Anwesenheitspflicht). Aus der Pflicht, dass das Verhalten des Richters der Achtung und dem Vertrauen entsprechen muss, die sein Beruf erfordern639, und der Pflicht zum vollen beruflichen Einsatz640 (§ 34 BeamtStG i.V. m. § 46 DRiG) werden in der richterdienstrechtlichen Rechtsprechung und Literatur allgemeine Anforderungen an das Verhaltens eines Beamten unter Beachtung der besonderen Verhältnisse und Regelungen des Richteramts auf richterliches Verhalten übertragen641. Sie haben danach die übertragenen Aufgaben uneigennützig und nach bestem Gewissen wahrzunehmen und sich achtenswert und vertrauensfördernd zu verhalten. Außerdem besteht eine Pflicht zur Wahrheit (§ 34 Satz 3 BeamtStG). Diese allgemein formulierten Dienstpflichten stellen damit für die Beurteilung des dienstlichen Verhaltens weite Generalklauseln zur Verfügung, die auch Verhaltensweisen erfassen, die herkömmlich, insbesondere im gegenwärtigen richterethischen Diskurs, eher der Berufsmoral zugewiesen werden. Insofern sind diese nicht „ungeschriebene“ Richteramtspflichten 642, sondern aus dieser Grundpflicht abgeleitete. Deshalb ist das dienstliche Verhalten des Richters (im Spruchkörper, gegenüber den Kollegen und Dienstvorgesetzten) grundsätzlich umfassend disziplinarrechtlich erfasst. Ein auch für die vorliegende Untersuchung bedeutsamer Unterschied liegt in der Abgrenzung zwischen inner- und außerdienstlichen Vergehen. Während ers-
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BVerwG, NJW 2007, S. 3450. Vgl. etwa zu den Grenzen der Korruption die Richtlinie zum Verbot der Annahme von Belohnungen, Geschenken oder sonstigen Vorteilen durch die Bediensteten des Freistaates Thüringen, StAnz. 2010, S. 1371 ff. 639 Vgl. hierzu und zum Folgenden: DG beim LG Meiningen, ThürVBl. 2010, S. 132, 134: Disziplinarverfahren wegen Ankündigung einer Rechtsbeugung gegenüber OB. 640 DGH Berlin, DRiZ 1997, S. 64, 66. 641 DG beim LG Meiningen, a. a. O.; Schmidt-Räntsch, Richtergesetz (Fn. 770/C.), vor § 63 Rdnr. 12. 642 So aber Fischer, Disziplinarrecht (Fn. 634/D.), S. 97 ff. 638
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tere regelmäßig einer disziplinarrechtlichen Ahndung unterliegen, sind es letztere nur unter den weiteren Voraussetzungen des § 77 Abs. 1 Satz 2 BBG; § 47 Abs. 1 Satz 2 BeamtStG. Die Abgrenzung, ob ein inner- oder außerdienstliches Vergehen vorliegt, richtet sich nicht nach der formalen Dienstbezogenheit, d.h. nach der engen räumlichen oder zeitlichen Beziehung zum Dienst, sondern vielmehr danach, ob durch das Verhalten innerdienstliche Pflichten verletzt worden sind. Es ist mithin ein funktionaler Zusammenhang gefordert. Eine Dienstbezogenheit ist in jedem Fall dann gegeben, wenn der Richter nur aufgrund seiner dienstlichen Tätigkeit und unter Ausnutzung dienstlicher Möglichkeiten zu dem ihm vorgeworfenen Verhalten in der Lage war643. Im Zusammenhang mit der Entlassung von Richtern auf Probe finden sich einige Judikate zu innerdienstlichen Dienstvergehen. Denn zur Feststellung der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 22 Abs. 3 DRiG ist insoweit zu prüfen, ob das dem Richter auf Probe von seinem Dienstherrn vorgeworfene Verhalten bei einem Richter auf Lebenszeit eine im förmlichen Disziplinarverfahren zu verhängende Disziplinarmaßnahme, d.h. mindestens eine disziplinarrechtliche Geldbuße, zur Folge hätte. Dies wurde etwa im Zusammenhang mit Pflichtverletzungen und Täuschungshandlungen nach dem Verlust von Strafakten644 oder bei der Beteiligung an Täuschungen bei der juristischen Staatsprüfung angenommen645. Es widerspricht auch der allgemeinen Pflicht zur unverzögerten Erledigung der richterlichen Dienstgeschäfte, wenn in einer Vielzahl von Fällen Sachen länger als vier Wochen unbearbeitet gelassen wurden, auch wenn deren Terminierung auf einen späteren Zeitpunkt geplant ist646. Die schuldhafte Überschreitung einer gesetzlichen Absetzfrist für Urteile um mehr als zwei Monate in einer Vielzahl von Verfahren stellt ebenfalls ein Dienstvergehen dar647. Den Tatbestand eines außerdienstlichen Dienstvergehens verwirklicht ein pflichtwidriges Verhalten nur dann, wenn die in § 77 Abs. 1 Satz 2 BBG normierten besonderen Voraussetzungen der allgemeinen Bedeutsamkeit und der besonderen einzelfallbezogenen Eignung erfüllt sind648. Nur wenn durch das außerdienstliche Verhalten eines Richters also auch das Ansehen und Vertrauen in Bezug auf sein konkretes Amt oder das Ansehen des Richtertums beeinträchtigt sind, liegt eine Pflichtverletzung nach § 54 Satz 3 i.V. m. § 77 Abs. 1 Satz 2 BBG vor. Nur insoweit vermag das durch Art. 33 Abs. 5 GG geschützte Interesse an der Funktionstüchtigkeit des öffentlichen Dienstes die im privaten Bereich des
643 BVerwG, U. v. 24.11.1992 – 1 D 52/91 –; BVerwG, U. v. 21.08.1996 – 1 D 66/9 – Rn. 31 jeweils zit. nach Juris. 644 BGH, U. v. 05.07.2007 – RiZ (R) 1/07 – zit. nach Juris. 645 BGHZ 100, 287. 646 DGH beim OLG Hamm, B. v. 12.12.1991 – 1 DGH 1/91 – zit. nach Juris. 647 DGH beim OLG Dresden, U. v. 06.07.2007 – DGH 4/06 – zit. nach Juris. 648 BVerwGE 112, 19; nun auch BVerwG, NVwZ 2015, 1680 ff.
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Richters wirkenden Grundrechte einzuschränken649. Das Merkmal „in besonderem Maße“ ist erfüllt, wenn das Verhalten des Beamten in quantitativer oder qualitativer Hinsicht das einer jeden außerdienstlichen Pflichtverletzung innewohnende Maß disziplinarrechtlicher Relevanz deutlich überschreitet. Das dem Richter vorgeworfene Verhalten muss Rückschlüsse darauf zulassen, er werde die ihm obliegenden Dienstpflichten nicht oder unzureichend erfüllen. Je näher der Bezug eines außerdienstlichen Fehlverhaltens zu dem ihm übertragenen Aufgabenbereich ist, umso eher kann davon ausgegangen werden, dass sein Verhalten geeignet ist, das Ansehen und das Vertrauen zu beeinträchtigen, die sein Beruf erfordert650. Ein Dienstbezug besteht auch, wenn das außerdienstliche Verhalten Schlüsse auf die Dienstausübung im Amt im konkret-funktionellen Sinn zulässt oder den Richter in der Dienstausübung beeinträchtigt651. Es ist dagegen nicht erforderlich, dass der Beamte auf seinem Dienstposten konkret diejenigen Aufgaben zu erfüllen hat, die Gegenstand des ihm zur Last gelegten außerdienstlichen Fehlverhaltens sind652. An der zu § 54 Satz 3, § 77 Abs. 1 Satz 2 BBG a. F. – außerdienstliches Dienstvergehen – vom Bundesverwaltungsgericht entwickelten Normstruktur hat sich durch den Wegfall des Begriffs „Achtung“ im neugefassten § 77 Abs. 1 Satz 2 BBG nichts zugunsten eines Beamten geändert653. Ansehen und Vertrauen im Sinne der vorgenannten Vorschriften bedeutet die Integrität eines Richters im Verhältnis zur Umwelt. Dabei hängen die Anforderungen, die an den einzelnen Richter zur Wahrung des Ansehens bei Mitbürgern zu stellen sind, sowohl von dessen dienstlicher Stellung und den dienstlichen Aufgaben, als auch davon ab, wie eng der Bezug zwischen dem konkreten Fehlverhalten und dem Dienst ist. Je höher die dienstliche Stellung des Beamten und je gewichtiger sein dienstliches Aufgabengebiet ist, umso mehr wird er als Repräsentant seines Dienstherrn und als einer der Amtsführung einer Verwaltung prägenden Person betrachtet und umso größer ist auch das Ausmaß einer Ansehensschädigung durch ein Fehlverhalten, dass Rückschlüsse auf die dienstliche Tätigkeit erlaubt654. Hieraus folgt für den hier zu untersuchenden Raum nichtrechtlich geprägter Berufsmoral, dass dieser bei außerdienstlichem Verhalten weiter ist als bei innerdienstlichem. Zu letzteren gehören disziplinarwürdiges Fernbleiben vom Dienst, bei Missständen der Justizverwaltung die Flucht in die Öffentlichkeit655, Streik649 BVerfG (K), B. v. 08.12.2004 – 2 BvR 52/02 – zit. nach Juris. BVerfGE 39, 334 (366 f.); 108, 282 (296). 650 Vgl. (auch zum Voranstehenden) ThürOVG, U. v. 6.08.2013 – 8 DO 66/12. 651 BVerwG, U. v. 19.08.2010 – 2 C 5.10 u. 2 C 13.10 – zit. nach Juris. Rdnr. 14; B. v. 21.12.2010 – 2 B 29.10 – zit. nach Juris. Rdnr. 7. 652 BVerwG, B. v. 21.12.2010, a. a. O., Rdnr. 14 ff., zit. nach Juris. 653 BVerwG, U. v. 25.08.2009 – 1 D 1/08 – zit. nach Juris. 654 ThürOVG, U. v. 06.11.2008 – 8 DO 584/07 – zit. nach Juris. Rn. 102. 655 Ein Richter macht sich eines Dienstvergehens schuldig, wenn er die Ladungen zu weit hinausgeschobenen Verhandlungsterminen mit dem Zusatz versieht, dass die „katastrophale Personallage“ bei den Richtern der Justizverwaltung bekannt sei, ohne dass
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verhalten oder die Verletzung der Wahrheits- oder Verschwiegenheitspflicht. Außerdienstliche Dienstvergehen können etwa in der „Leichtfertigkeit“ der fortgesetzten Schuldeneingehung liegen. Politische Mäßigung und Verfassungstreue hat der Richter auch außerhalb des Dienstes zu zeigen656. Zum außerdienstlichen Fehlverhalten657 gehören auch Straftaten außerhalb des Dienstes, etwa im Bereich der Vermögensdelikte, von steuer- und zollrechtlichen Verfehlungen oder Straßenverkehrsdelikten. Wird der Richter wegen einer vorsätzlich begangenen außerdienstlichen Straftat verurteilt, für die das Strafgesetzbuch zumindest eine mittelschwere Strafdrohung (Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren) vorsieht, so liegt in aller Regel ein Dienstvergehen im Sinne von § 77 Abs. 1 Satz 2 BBG vor. Außerdienstlich begangen, aber mit Dienstbezug ist jedes korrupte Verhalten. Der Verstoß gegen die Gesunderhaltungspflicht oder alkohol- oder drogenbedingtes Fehlverhalten gehören ebenfalls dazu. In der jüngeren Rechtsprechung der Disziplinargerichte wird zudem schon der (bloße) Besitz kinderpornographischer Darstellungen als schweres Dienstvergehen gewertet. Gerade von Richtern und Staatsanwälten muss erwartet werden, nicht gegen Strafbestimmungen zu verstoßen, die zum Schutz der Menschenwürde und des Persönlichkeitsrechts von Kindern erlassen worden sind658. Dem außerdienstlichen Besitz kinderpornographischer Schriften lässt sich wegen der Variationsbreite der denkbaren Fallgestaltungen aber nicht eine bestimmte Disziplinarmaßnahme im Sinne einer Regelmaßnahme zuordnen. Weist der erstmalige außerdienstliche Besitz kinderpornographischer Schriften keinen Bezug zu den dienstlichen Pflichten des Beamten auf, so sind die Schwere des Dienstvergehens und damit die angemessene Disziplinarmaßnahme in Anlehnung an die gesetzliche Strafdrohung zu ermitteln659. Können die allgemeinen beamtenrechtlichen Grundsätze für den dienstlichen und außerdienstlichen Bereich entsprechend auf das Richterdienstverhältnis angewendet werden, muss bei Pflichtverstößen im Zusammenhang mit der richterlichen Tätigkeit das disziplinarische Sanktionsmodell den besonderen richterlichen Status, insbesondere den Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit beachten. Insbesondere gilt dies bei Pflichtwidrigkeiten, die in unmittelbarem Zusammenhang mit der Rechtsprechungstätigkeit sei es im Verfahren, sei es bei einer Entscheidung stehen. Hier sind nämlich die Grenzen zu beachten, die der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit verlangt. Insoweit muss der Grundsatz gelten, dass das, was nach § 26 DRiG nicht vorgehalten werden kann, auch nicht Gegendiese Abhilfe schaffe: DGH beim KG Berlin, U. v. 25.05.1994 – DGH 1/94 – zit. nach Juris.; vgl. hierzu die in einer Urteilsbegründung vorgenommene richterliche Äußerung zu Personaleinsparungen: LG Potsdam, DRiZ 2013, S. 298. 656 BVerfG (K), NJW 2008, S. 2568. 657 Hierzu und zum Folgenden N. Ullrich, Nicht strafbares Verhalten im privaten Bereich als Verstoß gegen beamtenrechtliche Pflichten? in: ZBR 2015, S. 73 ff. 658 BVerfG (K), NVwZ 2008, S. 669. 659 BVerwG, U. v. 19.08.2010 – 2 C 13/10 – zit. nach Juris.
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stand eines disziplinarischen Vorwurfs gemacht werden darf 660. Insofern ist möglicher Gegenstand disziplinarischer Ahndung im Wesentlichen nur das Verhalten des Richters im Bereich der äußeren Ordnung (Unpünktlichkeit, Nichteinhalten von Fristen und Terminen661, Verweigerung der Amtstracht, Umgang mit Prozessbeteiligten). Der Kernbereich richterlicher Tätigkeit ist hingegen weitgehend dem disziplinarischen Zugriff entzogen. Ausnahmen bestehen bei der Begehung von Straftaten, etwa der Rechtsbeugung662. Der Dienstherr kann aber im Einzelfall berechtigt sein zu prüfen, ob der Richter seine Dienstpflichten durch schuldhafte Verzögerung eines Verfahrens verletzt hat, und hieran disziplinarische Folgen knüpfen663. Bei einem Verstoß gegen eine zeitnahe Entscheidung ist aber zu ermitteln, ob dies auf Überlastung, mangelndem Fleiß oder einer Entscheidungsschwäche beruht, ohne dass dies zwingend zur Schuldunfähigkeit führen muss. So konnte etwa gegen eine Richterin, die mehrfach Urteile entgegen § 310 Abs. 2 ZPO im Verkündungstermin nicht vollständig vorgelegt bzw. nicht innerhalb der Dreiwochenfrist vollständig abgefasst der Geschäftsstelle übergeben hat, weil sie bei ansonsten positiv eingeschätzter dienstlicher Leistungen und bemerkenswerter Einsatzbereitschaft an einer persönlichen Arbeitsstörung in Bezug auf die Abfassung von Urteilen leidet, eine 5%-ige Gehaltskürzung für die Dauer von zwei Jahren verhängt werden664. Die Verletzung der richterlichen Unabhängigkeit durch Richterkollegen ist ebenfalls denkbar. So kann als dienstbezogen, aber nicht den Kernbereich betreffend die Abänderung von Einzelrichterentscheidungen, die ein Kammervorsitzender nachträglich sowie ohne Zustimmung und Kenntnis des zuständigen Einzelrichters vornimmt, als einen den Tatbestand des Dienstvergehens begründenden Eingriff in die richterliche Unabhängigkeit eines anderen Richters bewertet werden665. Die Entscheidung über die Verhängung einer Disziplinarmaßnahme muss nach pflichtgemäßen Ermessen getroffen werden (vgl. z. B. § 13 Abs. 1 Satz 1 BDG), wobei insbesondere die Art und Schwere des Dienstvergehens, der Grad der Schuld und der Schuldfähigkeit des Richters sowie dessen Persönlichkeitsbild zu 660 Schmidt-Räntsch, Richtergesetz (Fn. 770/C.), vor § 63 Rdnr. 15 und in Rdnr. 16 zur früheren Rechtslage; zum Verbot der disziplinarischen Ahndung von Pflichtverletzungen im Spruchbereich: nrw. Disziplinarsenat für Richter, Urt. v. 11.12.1958 – Y 1/58 – zit. nach: Schuhmacher, Richter-Disziplinarrecht (Fn. 634/D.), DRiZ 1961, S. 350 f. Dies gilt jedoch nicht im Falle der Rechtsbeugung. 661 Zu Absetzfristen bei Arbeitsrichtern: DGH beim OLG Dresden, SächsVBl. 2008, S. 43 ff. 662 Etwas weiter: bei evidenten und unentschuldbaren Rechtsverstoß Geiger, Die Unabhängigkeit des Richters (Fn. 73/D.), DRiZ 1979, S. 67 f. 663 DGH beim OLG Hamm, B. v. 23.11.2012 – 1 DGH 1/10 – zit. nach Juris. 664 DGH beim KG Berlin, DRiZ 1997, S. 64, 66. 665 BVerfG (K), NJW 1996, S. 2149, zur Unzulässigkeit der Korrektur einer bereits unterschriebenen Kammerentscheidung durch den Vorsitzenden; nrw. Disziplinarsenat für Richter, Urt. v. 12.09.1955 – Y 1/55 – zit. nach: Schuhmacher, Richter-Disziplinarrecht (Fn. 634/D.), DRiZ 1961, S. 352 f.
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berücksichtigen sind666. Außerdem muss berücksichtigt werden, in welchem Umfang der Richter das Vertrauen des Dienstherrn oder der Allgemeinheit durch sein Fehlverhalten beeinträchtigt hat. Hinsichtlich der Schwere des Dienstvergehens ist vor allem zu beachten, ob die Pflichtverletzungen des Richters dessen richterliche Kernpflichten betreffen oder ob es sich um solche handelt, die eher der äußeren Ordnung zuzurechnen sind. Maßgeblich ist auch, was der Grund für das Dienstvergehen war und ob es ein einmaliges war oder dauerhaft anhielt, insbesondere ob der Richter sich durch frühere Disziplinarmaßnahmen beeindrucken ließ. Außerdem sind die Art des Verschuldens und der Umstand zu berücksichtigen, ob der Richter bereits disziplinarisch vorbelastet ist. Hinsichtlich des Persönlichkeitsbildes des Richters sind insbesondere seine privaten und familiären Umstände zu prüfen, wobei schwerwiegende physische und psychische Belastungen oder das Vorliegen besonderer Ausnahme- oder Überraschungssituationen im Umfeld der Begehung des Dienstvergehens zu beachten sind. Zu beachten ist auch das Verhalten des Richters nach Begehung des Dienstvergehens; denn ein Richter, der in dieser Phase seine Pflichten beanstandungsfrei erfüllt, schafft gegebenenfalls ein Indiz dafür, dass das Dienstvergehen einen Einzelfall darstellt und damit für seine Persönlichkeit nicht charakteristisch war. Schließlich ist bei der Bemessung der Disziplinarmaßnahme generell zu berücksichtigen, inwieweit das Dienstvergehen Außenwirkung entfaltet hat. Findet ein Dienstvergehen durch Außenwirkung besondere Verbreitung, wird dem Vertrauen der Allgemeinheit regelmäßig auch ein entsprechend hoher Schaden zugefühgt, was sich bei der Sanktionszumessung auswirken muss. Bei der Verhängung strafrechtlicher Sanktionen ist ebenfalls für die Sanktionswahl bedeutsam (§ 14 BDG). Die Entfernung eines Beamten oder Richters aus dem Dienst ist geboten, wenn dies zur Sicherung der Funktionsfähigkeit des öffentlichen Diensts erforderlich ist. Dies kommt insbesondere dann in Betracht, wenn das Vertrauensverhältnis durch das Dienstvergehen endgültig zerstört worden ist oder das Dienstvergehen einen so großen Ansehensverlust bewirkt hat, dass eine Weiterverwendung des Richters die „Integrität des Richtertums“ unzumutbar belasten würde. In beiden Fallgruppen ist der Richter für den Dienstherrn objektiv untragbar und daher die Entfernung aus dem Dienst geboten. Wann ein derartiger endgültiger Vertrauensoder Ansehensverlust gegeben ist, hängt weitgehend von den Umständen des Einzelfalls ab, insbesondere von der Schwere der Verfehlung und dem Ausmaß der Gefährdung dienstlicher Belange bei einer Weiterverwendung667. Eine andere Form der Entfernung aus dem (bisherigen) Amt ergibt sich aus § 31 DRiG. Danach kann ein Richter auf Lebenszeit oder ein Richter auf Zeit in 666 Schmidt-Räntsch, Richtergesetz (Fn. 770/C.), vor § 63 Rdnr. 4; DG beim LG Meiningen, ThürVBl. 2010, S. 132, und wegen der dort exemplarisch dargestellten Grundsätze auch zum Folgenden. 667 BVerfG (K), NJW 2005, S. 1344; BVerfG (K), NVwZ 2008, S. 669.
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ein anderes Richteramt mit gleichem Endgrundgehalt in den einstweiligen Ruhestand oder in den Ruhestand versetzt werden, wenn Tatsachen außerhalb seiner richterlichen Tätigkeit eine Maßnahme dieser Art zwingend gebieten, um eine schwere Beeinträchtigung der Rechtspflege abzuwenden. Hieraus ergibt sich umgekehrt die Rechtspflicht des Richters, schwere Beeinträchtigungen der Rechtspflege in seiner Person zu vermeiden. Dagegen verstößt etwa ein Richter, wenn er intensive außerdienstliche Kontakte zu delinquenten Vertretern des Rotlichtmilieus pflegt668. Zusammenfassend lässt sich feststellen: Das Dienst- und Disziplinarrecht erfasst über ein enges Netz von Amtspflichten eine Fülle von richterlichem (Fehl-) Verhalten, sei es dienstliches, sei es außerdienstliches. Die deutsche Rechtsordnung hält damit ein Instrumentarium bereit, das – weitergehend als in anderen Ländern – einen breitgefächerten Verhaltenskodex unerwünschten Richterverhaltens aufstellt und der Grundlage eines rechtlich strukturierten dienstaufsichtlichen und disziplinarrechtlichen Sanktionssystems ist. Das Dienst- und Disziplinarrecht nimmt in Deutschland damit einem ausgedehnten berufsmoralischen Verhaltenskodex den normativen Raum. Dagegen spricht nicht, dass in der Rechtspraxis Sanktionierungen von Richtern eher selten vorkommen. Denn maßgeblich ist allein, dass das Pflichten- und Sanktionsnetz besteht und damit auch seine präventive Funktion erfüllt. Der Ausarbeitung einer ausgefeilten Richterdeontologie bedarf es mithin nicht. c) Strafrecht: Strafrechtliche Sanktionierung der Verletzung rechtlicher Amtspflichten Die Dienst- und Amtspflichten des Dienstrechts erfassen – wie dargestellt – das dienstliche und außerdienstliche Verhalten in weitem Umfang und unterwerfen es einer abgestuften und die richterliche Unabhängigkeit wahrenden Sanktionierung. An besonders schwere Pflichtverletzungen knüpft das Strafrecht weitere Sanktionen und spricht etwa in den Tatbeständen der Rechtsbeugung, Nötigung, Erpressung, Strafvereitelung im Amt, Falschbeurkundung im Amt, Freiheitsberaubung, der Korruptionsdelikte und der Geheimnisverletzungen implizit Verbote aus, die entweder auch als Amtspflichten anzusprechen sind oder die Verletzung solcher mit Geld- und Freiheitsstrafen belegt: Strafrechtliches Kern- und Sonderdelikt betreffend das richterliche Handeln ist die Rechtsbeugung669. Sie ist zudem generell die Zentralnorm strafrechtlicher Sanktionierung richterlichen Verhaltens, weil ihr zum Schutz der Unabhängigkeit 668
BGH, DRiZ 1996, S. 452. H. J. Behrendt, Die Rechtsbeugung, in: JuS 1989, S. 945 ff. führt im Einzelnen die historischen Vorläufer, die dogmatischen Schwierigkeiten, die kriminalpolitischen und rechtsphilosophischen Probleme auf. 669
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der Rechtspflege eine Sperrwirkung für andere im Zusammenhang mit ihr begangene Delikte zukommt. Eine strafrechtliche Verurteilung „wegen einer Tätigkeit bei der Leitung einer Rechtssache“ nach anderen Vorschriften ist danach nur möglich, wenn auch die Voraussetzungen der Rechtsbeugung erfüllt sind670. Nach dem Wortlaut des § 339 StGB wird ein Richter, welcher sich bei der Leitung oder Entscheidung einer Rechtssache zugunsten oder zum Nachteil einer Partei einer Beugung des Rechts schuldig macht, mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu fünf Jahren bestraft. Die Begehung dieser Tat führt regelmäßig zum Amtsverlust (§ 45 StGB). Dieser Tatbestand sanktioniert strafrechtlich die Pflicht des Richters, innerhalb der für die Rechtsanwendung durch das Recht und Gesetz gezogenen Grenzen zu bleiben, insbesondere keine rechtlich unvertretbaren Entscheidungen zu treffen. Damit wird seine Bindung an Recht und Gesetz sowie seine Verantwortlichkeit hierfür verstärkt. Geschütztes Rechtsgut der Rechtsbeugung ist die innerstaatliche Rechtspflege, insbesondere die Geltung der Rechtsordnung und das Vertrauen der Allgemeinheit in die Unparteilichkeit und Willkürfreiheit des Richters bei der Leitung und Entscheidung von Rechtssachen671. Es geht dabei um Angriffe auf die Rechtspflege von „innen“ 672. Rechtsbeugerisches Handeln wird durch die richterliche Unabhängigkeit nicht mehr gedeckt673; sie findet gerade hier ihre Grenze. § 339 StGB setzt als Tathandlung eine Rechtsanwendung voraus, die im Ergebnis objektiv nicht vertretbar ist. Recht ist dabei in einem umfassenden Sinne zu verstehen674. Die maßgeblichen Tathandlungen675 können zum einen in der eindeutigen, also nicht mehr vertretbaren Verletzung materiellen Rechts liegen, etwa bei der Anwendung ungültiger Gesetze und nicht geltenden Rechts, bei einem Abweichen von einer eindeutigen Rechtsnorm oder der Verfügung einer gesetzlich nicht vorgesehenen oder völlig unverhältnismäßigen Maßnahme676, die die Grenzen richterlichen Ermessens deutlich überschreitet. Neben der willkür670 BGHSt 10, 294; Fischer, Kommentar zum StGB, 58. Aufl., § 339 Rdnr. 21 m.w. N. 671 Vgl. im Einzelnen MünchKomm/Uebele, StGB, 2. Aufl., § 339 Rdnr. 1; Fischer, Kommentar StGB, 58. Aufl., § 339 Rdnr. 2. 672 Behrendt, Rechtsbeugung (Fn. 669/D.), JuS 1989, S. 946 m.w. N. 673 Zu dem besonders umstrittenen Fall „Görgülü“: Cebulla/Schulte-Kellinghaus, Richterliche Unabhängigkeit (Fn. 782/C.), BJ 2010, S. 230 ff.; M. Hoenigs, Der Straftatbestand der Rechtsbeugung: Ein normativer Antagonismus zum Verfassungsprinzip der richterlichen Unabhängigkeit, KritV 2009, S. 303 ff. meint, es bestehe ein normativer Antagonismus zum Verfassungsprinzip der richterlichen Unabhängigkeit und fordert – unter Verweis auf andere europäische Staaten – sogar die Abschaffung des § 339 StGB; nicht ganz so weitgehend Ch. Schütz, Richter unter Druck, in: BJ 2005, S. 72. 674 Vgl. im Einzelnen MünchKomm/Uebele, StGB, 2. Aufl., § 339 Rdnr. 24. 675 Zum Folgenden: Fischer, Kommentar zum StGB, 58. Aufl., § 339 Rdnr. 10. 676 BGHSt 41, 247, 251.
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lichen Nicht- oder Falschanwendung des Rechts können aber auch ein Schuldspruch im Widerspruch zu den tatsächlichen Feststellungen oder sich aufdrängenden Erkenntnissen, die Verfälschung des Sachverhalts677 oder die Verweigerung der Aufklärung den Tatbestand erfüllen. So hat der Bundesgerichtshof entschieden, dass „Sachverhaltsverfälschung, unrichtige Anwendung gesetzlicher Vorschriften und Ermessensmissbrauch bei der Strafzumessung alternative Begehungsmöglichkeiten der Rechtsbeugung“ sind678. Auch die der Rechtsfindung nur mittelbar dienenden, sie vorbereitenden und ihr nachfolgenden Sach- und Verfahrensentscheidungen werden vom Rechtsbeugungstatbestand erfasst. So sind die Verletzung prozessualer Normen („bei der Leitung einer Rechtssache“), etwa der Zuständigkeit, der Verstoß gegen den Beschleunigungsgrundsatz bei ausdrücklicher gesetzlicher Hervorhebung679, das pflichtwidrige Unterlassen des Tätigwerdens, die aus sachfremden Erwägungen verzögerte Beschwerdeentscheidung bei Verletzung zwingender Verfahrensfristen680 oder das trotz gesetzlichen Ausschlusses wegen Verwandtschaft unzulässige und sachfremde An-sich-Ziehen des Falles681 geeignete Tathandlungen. Rechtsbeugung kommt bei einem Verstoß gegen Verfahrensrecht allerdings nur dann in Betracht, „wenn der Richter durch sein Verhalten nicht lediglich die abstrakte Gefahr einer falschen Endentscheidung, sondern die konkrete Gefahr eines unrechtmäßigen Vor- oder Nachteils für eine Partei schafft. Eine solche konkrete Gefahr kann bestehen, wenn der Richter gegen Bestimmungen über die Zuständigkeit oder die Anhörung Verfahrensbeteiligter verstößt, um den zuständigen Richter von der Entscheidung oder die Staatsanwaltschaft von der Mitwirkung auszuschließen und auf diesem Wege zu einem seinen Intentionen entsprechenden Ergebnis zu kommen, das bei Einhaltung der gesetzlichen Vorschriften nicht oder voraussichtlich nicht zu erreichen gewesen wäre“ 682. Die bei einem Verstoß gegen Verfahrensrecht für den Rechtsbeugungstatbestand notwendige konkrete Gefahr einer „falschen“ Entscheidung zum Vor- oder Nachteil einer Partei ist jedenfalls dann anzunehmen, wenn der Richter aus sachfremden Erwägungen die Zuständigkeit an sich zieht, um zu Gunsten oder zu Lasten einer Prozesspartei eine von ihm gewünschte Entscheidung herbeizuführen, die bei Einhaltung der gesetzlichen Vorschriften voraussichtlich nicht zu erreichen gewesen wäre683. Rechtsbeugung begeht ein Richter auch dann, wenn er in mehrfacher Weise objektives Verfahrensrecht in erheb677
BGH, NJW 1971, S. 571. BGH, U. v. 21.07.1970 – 1 StR 119/69 – zit. nach Juris, Rdnr. 17. 679 BGH, U. v. 11.04.2013 – 5 StR 261/12 – zit. nach Juris; vgl. hierzu den problematischen Versuch einer Staatsanwaltschaft richterliches Verhalten zu kriminalisieren: LG Mannheim, DRiZ 2004, S. 261; hierzu: P. A. Albrecht, Die Kriminalisierung der Dritten Gewalt, in: ZRP 2004, S. 259 sowie Schütz, Druck (Fn. 673/D.), BJ 2005, S. 74. 680 BGHSt 47, 105 (106). 681 BGH, NStZ-RR 2001, S. 243. 682 BGHSt 42, 343 (351). 683 BGH, U. v. 11.04.2013 – 5 StR 261/12 – zit. nach Juris. 678
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licher Weise verletzt hat, indem er einen Beschuldigten hinsichtlich offenkundig von vornherein nicht in Betracht kommender Rechtsfolgen (stationäre Psychotherapie, Freiheitsstrafe ohne Bewährung) täuscht, um ihm Angst zu machen, und dies etwa durch das zwangsweise Einsperren in eine Gewahrsamszelle entsprechend unterstreicht684. Zum Verfahrensrecht gehört auch die Bindung an zurückverweisende obergerichtliche Entscheidungen. Auch die Annahme eines Richters, im Bußgeldverfahren gelte die Aufklärungspflicht nicht oder nur eingeschränkt, aus dem Fehlen einzelner Beweisurkunden ergebe sich ein Verfahrenshindernis und bei dessen Vorliegen sei durch Beschluss freizusprechen, entbehren einer rechtlichen Grundlage und sind unvertretbar685. Voraussetzung für das „Beugen des Rechts“ ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs allerdings – und dies dient der Sicherung richterlicher Unabhängigkeit, der Verhinderung einer „Richtigkeitsprüfung“ im Strafverfahren und der Verhinderung einer unverhältnismäßigen Bestrafung bei einfachen Rechtsverstößen –, dass der Richter „bewusst in schwerwiegender Weise vom Recht entfernt“ 686. Daher reicht die bloße Unvertretbarkeit einer Entscheidung nicht. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs stellt nämlich nicht jede unrichtige Rechtsanwendung eine Beugung des Rechts im Sinne von § 339 StGB dar. „Nur der Rechtsbruch als elementarer Verstoß gegen die Rechtspflege soll unter Strafe gestellt sein. Rechtsbeugung begeht daher nur der Amtsträger, der sich bewusst und in schwerwiegender Weise von Recht und Gesetz entfernt. Selbst die (bloße) Unvertretbarkeit einer Entscheidung begründet eine Rechtsbeugung nicht.“ 687 Der Täter des § 339 Abs. 1 StGB muss daher in subjektiver Hinsicht einerseits die Unvertretbarkeit seiner Rechtsansicht zumindest für möglich gehalten und billigend in Kauf genommen haben; andererseits muss er sich der grundlegenden Bedeutung der verletzten Rechtsregel für die Verwirklichung von Recht und Gesetz bewusst gewesen sein688. Bedingter Vorsatz reicht für das Vorliegen eines Rechtsverstoßes aus; Bedeutungskenntnis im Sinn direkten Vorsatzes ist hingegen hinsichtlich der Schwere des Rechtsverstoßes erforderlich. „Diese Differenzierung trägt dem berechtigten Anliegen Rechnung, einerseits den Verbrechenstatbestand der Rechtsbeugung nicht auf jede – später möglicherweise aufgehobene oder als unzutreffend angesehene – ,nur‘ rechtsfehlerhafte Entscheidung anzuwenden, andererseits aber ein sachwidriges Privileg für Richter auszuschließen, die unter bedingt vorsätzlicher Anwendung objektiv unvertretbarer Rechtsansichten bei der Entscheidung von Rechtssachen Normen verletzen, deren grundlegen684 685 686 687 688
BGH, U. v. 31.05.2012 – 2 StR 610/11 – zit. nach Juris. BGH, U. v. 22.01.2014 – 2 StR 479/13 – zit. nach Juris. BGHSt 41, 247 (251); 47, 105, 109; 44, 258. Vgl. nur BGH, NJW 1997, S. 1455 m.w. N. Vgl. MünchKomm/Uebele, StGB, 2. Aufl., § 339 Rdnr. 64.
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de – materiell-rechtliche oder verfahrensrechtliche – Bedeutung für die Rechtsordnung im Allgemeinen oder für die zu entscheidende Sache ihnen bewusst ist.“ 689 Ob ein Richter, der bei einer Entscheidung eines Kollegialorgans der Entscheidung (nur) widerspricht, dennoch Täter ist, ist streitig690. Nach der objektiven Theorie ist der Erfolg gegeben, wenn materielles oder prozessuales Recht verletzt ist (Pflichtverletzungstheorie: Entscheidung aus sachfremden Erwägungen). Der Rechtsbeugungstatbestand erfasst eine Reihe von richterlichen Verhaltensweisen, die – will eine Rechtsordnung sich treu bleiben – gar nicht mehr Gegenstand richterlicher Berufsmoral sein darf, sondern dem Strafrecht unterworfen sein müssen. Zur Berufsmoral kann daher „nur“ gehören, solche Taten nicht begehen zu wollen. In Zeiten der Gefährdung des Rechts durch einen willkürlichen Gesetzgeber kann sich jedoch dem Richter die – auch berufsmoralische – Gewissensfrage stellen, ob er dem gesetzten, aber im höchsten Maße ungerechtem Recht folgt oder mit entsprechender Begründung, insbesondere unter Berufung auf fundamentale Rechtsprinzipien abweicht691. Richterliches Handeln kann im Einzelfall aber auch eine Fülle weiterer strafrechtlich relevanter Verhaltensweisen berühren, die im Folgenden kursorisch angesprochen werden sollen: So kommt etwa durch das Liegenlassen einer Sache692, durch das pflichtwidrige Weglegen einer Akte oder durch die Anordnung aussichtsloser und verzögernder Ermittlungen auch eine Strafbarkeit wegen Strafvereitelung im Amt bzw. wegen Beihilfe hierzu nach §§ 258, 258 a, 27 StGB in Betracht. Solche Taten können mit einer Rechtsbeugung bzw. mit einer Beihilfe zur Rechtsbeugung tateinheitlich zusammentreffen693. Die Strafbarkeit eines Richters wegen pflichtwidriger Nichtförderung eines Strafverfahrens kommt auch nach § 258 a StGB allerdings nur in Betracht, sofern die tatbestandlichen Voraussetzungen der Rechtsbeugung nach § 339 StGB erfüllt sind. Für die Geltung der dem Rechtsbeugungstatbestand zukommenden Sperrwirkung ist die Frage, inwieweit die zögerliche Verfahrensbearbeitung durch den Richter zum Gegenstand dienstaufsichtsrechtlicher Maßnahmen nach § 26 Abs. 2 DRiG gemacht werden kann, ohne Bedeutung694. Zugleich mit einer Rechtsbeugung, die verantwortlich für eine Inhaftierung des Beschuldigten ist, kommt tateinheitliche Freiheitsberaubung (§ 239 StGB) in Betracht695. Auch die Vollstreckung einer rechtsbeuge689 690 691 692 693 694 695
BGH, U. v. 22.01.2014 – 2 StR 479/13 – zit. nach Juris. Fischer, Kommentar zum StGB, 58. Aufl., § 339 Rdnr. 8. Hierzu Behrendt, Rechtsbeugung (Fn. 669/D.), JuS 1989, S. 951 f. BGHSt 15, 18 (21); 54, 9 (13). Vgl. zu alledem BGHSt 40, 169 (186 f.); 43, 183 ff. OLG Karlsruhe, B. v. 09.12.2003 – 3 Ws 174/03 – zit. nach Juris. BGHSt 41, 247 ff., 42, 343.
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risch überhöhten Freiheitsstrafe ist insgesamt als rechtswidrige Freiheitsberaubung zu werten696. Falschbeurkundung im Amt: Ohne im Einzelnen auf die möglichen Tathandlungen einzugehen, die der Richter bei der Herstellung von Urkunden im Amt begehen kann, sei auf ein Phänomen hingewiesen, das illustriert, dass Richter nicht selten in Gefahr stehen, ihr Pflichtenfeld zu vernachlässigen und dies auch strafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen kann: So hat das Bundesverfassungsgericht jüngst deutlich gemacht, dass der Tatbestand des § 348 StGB auch bei einem Deal im Strafverfahren einschlägig sein kann und insoweit ausgeführt697, dass aus dem gesetzlichen Regelungskonzept zum Inhalt, zum Zustandekommen und zu den Folgen einer Verständigung unter anderem folgt, dass ein wirksamer Rechtsmittelverzicht auch dann ausgeschlossen ist, wenn sich die Beteiligten unter Verstoß gegen die gesetzlichen Vorschriften verständigt haben. Eine solche Verständigung unterliegt zudem der Protokollierungspflicht nach § 273 Abs. 1 lit. a Satz 1 StPO. Sollte in letzterem Fall ein Negativattest nach § 273 Abs. 1 lit. a Satz 3 StPO erteilt werden, wäre dieses falsch und könnte den Tatbestand der Falschbeurkundung im Amt (§ 348 StGB) erfüllen. Nach den sonstigen tatsächlichen Feststellungen des Gerichts geschah dies in der Vergangenheit häufig. Insofern ist nüchtern festzustellen, das Fragen der Berufsmoral zweitrangig sind, wenn Richter bei der Aburteilung von Straftaten sich selbst in Gefahren begeben, Straftaten zu begehen. Besonders bedeutsam sind die Korruptionsdelikte gemäß § 331 ff. StGB, die in anderen Staaten Ausgangspunkt und Grundlage eines richterethischen Diskurses waren und sind698. Soweit ersichtlich besteht in Deutschland dieses Problem nicht699. Weiteres strafrechtlich sanktioniertes Fehlverhalten kann im Unterlassen einer Diensthandlung gemäß § 336 StGB oder den besonderen Geheimnisverletzungen nach §§ 353b und 353d StGB sein. Nicht auszuschließen ist, dass manche Vergleichsverhandlung vor Gericht die Beteiligten im strafrechtlichen Sinne nötigt [vgl. § 240 StGB; vgl. unten d) aa)]. Aussageerpressung gemäß § 343 StGB oder die Verfolgung Unschuldiger bzw. Vollstreckung gegen Unschuldige gemäß § 344 StGB können ebenfalls durch richterliches Handeln verwirklicht werden. In der Judikatur wurden auch schon Erpressungen von Richtern Gegenstand. So hat etwa ein mit der zuständi696
BGH, B. v. 26.11.1997 – 5 StR 131/97 – zit. nach Juris. BVerfGE 133, 168 ff. 698 Zu einem Vergleich zwischen Deutschland und anderen Ländern: Heussen, Richterliche Berufsethik (Fn. 244/B.), NJW 2015, S. 1927, 1928. 699 Der Fall des niedersächsischen Amtsrichters, der als Mitarbeiter des Landesjustizprüfungsamtes Lösungen von Examensklausuren veräußerte, ist allerdings – auch wenn es den exekutiven Bereich und nicht die unmittelbare Rechtsprechung betraf – alarmierend. Hierzu: Bornemann, Die Justiz und der Fall Jörg L., DRiZ 2015, S. 133. Eine Arbeitsgruppe des Europarats (GRECO) hat 2014 die deutschen Richter in Bezug auf Korruptionsprävention – unter einem weiten Blickwinkel – untersucht (4. Evaluierungsrunde der GRECO (Group of States against Corruption), Korruptionsprävention in Bezug auf Abgeordnete, Richter und Staatsanwälte, Evaluierungsbericht Deutschland, 2014; www.coe.int/greco [Stand: 26.03.2015]). 697
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gen Staatsanwältin verheirateter Richter von einem Beschuldigten, der durch das Ermittlungsverfahren zunehmend in erhebliche wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten ist, die Zahlung eines Geldbetrages verlangt mit der – für den Beschuldigten glaubhaften – Ankündigung, im Falle der Zahlung werde er eine Verfahrenseinstellung bewirken, andernfalls nicht. Darin lag die Drohung mit einem empfindlichen Übel im Sinne des Erpressungstatbestandes nach § 253 StGB700. Damit sanktioniert das Strafrecht in großem Umfang richterliches Fehlverhalten und bestimmt eine Fülle rechtlicher Ge- und Verbote die einer Richterdeontologie nicht mehr unterliegen. d) Zivilrecht, insbesondere die Haftung bei Verstößen gegen Amtspflichten Das Zivilrecht begründet zwar keine unmittelbaren Dienstpflichten des Richters. Es hält aber Regeln bereit, die schädigendes Verhalten von Richtern definieren und sanktionieren bzw. die Wirksamkeit rechtsgeschäftlichen Handelns, an dem der Richter im weiteren Sinne beteiligt ist, bestimmen. Weil es zum Inhalt richterlicher Dienstpflichten gehört, niemanden zu schädigen, und er die Fürsorgepflicht gegenüber den Prozessbeteiligten hat, dass die Rechtsgeschäfte, die unter seinem Mitwirken zustande kommen, wirksam sind, begrenzen damit auch zivilrechtliche Regelungen sein Handeln. Das Recht des Schadensersatzes knüpft dabei an Amtspflichten an, die unabhängig von der zivilrechtlichen Folge bestehen. Soweit diese rechtlichen Wirkungen reichen, entfällt damit der Bedarf berufsmoralischer Regeln. Diese zivilrechtlichen Bestimmungen sollen im Folgenden kursorisch dargestellt werden: aa) Anfechtung eines gerichtlichen Vergleichs Häufig wird das Verhalten von Richtern angesichts von Vergleichsverhandlungen nach herkömmlicher Ansicht berufsmoralisch erheblich auf die Probe gestellt. Denn der Vergleich erspart nicht selten eine vertiefte Rechtsprüfung oder langwierige Beweisaufnahmen. Die Sache wird beschleunigt. Ein Urteil muss nicht geschrieben werden. Wenn im gerichtlichen Verfahren von Richtern berufsmoralische Entgleisungen festzustellen sind, dann hier. Das Dictum „zum Vergleich prügeln“ findet in dieser Konstellation seine Grundlage. Der Drang zum Vergleich führt Richter aber nicht nur berufsmoralisch zu Anfechtungen, sondern nicht selten auch zu Rechtsbrüchen. Ein besonderer Fall dieser Art soll anhand des Leitsatzes des Bundesarbeitsgerichtes anschaulich gemacht werden: „Es liegt eine Drohung gemäß § 123 Abs. 1 BGB vor, wenn ein Vorsitzender Richter im Rahmen von Vergleichsverhandlungen äußert: ,Gleich werden Sie an die Wand gestellt und erschossen‘, ,Ich reiße Ihnen sonst den Kopf ab‘ und: ,Seien Sie ver700
OLG Oldenburg, NJW 2008, S. 3012.
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nünftig, sonst müssen wir Sie zum Vergleich prügeln‘ und sich aus dem Vorbringen der Parteien nicht ergibt, dass der betreffenden Prozesspartei die offenbar häufiger an den Tag gelegte ungewöhnliche Art des Vorsitzenden bekannt gewesen wäre oder die Vergleichsverhandlungen in einer aufgelockerten Gesprächsatmosphäre geführt worden wären, vielmehr sich aus dem Vorbringen beider Parteien eine durchgehende Anspannung der betreffenden Partei ergibt.“ 701 Nimmt man die Feststellungen des Berufungsgerichts zum Verhalten dieses Richters hinzu, bleibt nicht nur Entsetzen angesichts des sachwidrigen Drucks und der Unangemessenheit des Verhaltens des Vorsitzenden Richters. Dieses Verhalten berührt die Strafbarkeit und dürfte wegen des offensichtlichen Fehlgriffs auch dienstaufsichtlich belangbar sein. Um die Parteien zu einem Vergleich zu bewegen, ist in der Praxis hin und wieder zu beobachten702, dass der Richter über die Prozessaussichten unter Verstoß gegen die richterliche Wahrheitspflicht mit dem Hinweis irreführt, „an der Sache ist nichts dran“, obwohl dies nach eigener Ansicht bzw. nach dem Urteil der Vorinstanz anders ist. Insoweit ist eine arglistige Täuschung nicht auszuschließen, die auch rechtliche Folgen für den geschlossenen Vergleich, aber auch dem Richter nach sich ziehen kann. bb) Schadensersatz für Amtspflichtverletzungen und Entschädigung bei überlanger Verfahrensdauer703 Nach dem geltenden Staatshaftungsrecht gilt gemäß § 839 Abs. 1 BGB in Verbindung mit Art. 34 GG704: Verletzt ein Beamter vorsätzlich oder fahrlässig die ihm einem Dritten gegenüber obliegende Amtspflicht, so hat er dem Dritten den daraus entstehenden Schaden zu ersetzen. Fällt dem Beamten nur Fahrlässigkeit zur Last, so kann er nur dann in Anspruch genommen werden, wenn der Verletzte nicht auf andere Weise Ersatz zu erlangen vermag. Beamter im Sinne dieser Bestimmung ist nach dem haftungsrechtlichen Beamtenbegriff bei der Staatshaftung auch der Richter, der bei Ausübung eines ihm 701 BAG, U. v. 12.05.2010 – 2 AZR 544/08 – zit. nach Juris; LAG Niedersachsen, U. v. 19.05.2008 – 15 Sa 1265/07 – zit. nach Juris; hierzu Rieble, Pöbelnde Arbeitsrichter, FAZ v. 28.11.2010, C S. 3. 702 V. Rieble, Dürfen Richter lügen? FAZ vom 06.10.2009, Kolumne „Mein Urteil“. 703 Zur Kritik: Schneider, Pflichten- und Haftungsverständnis (Fn. 323/D.), AnwBl. 1988, S. 601. 704 Hierzu W. Grunsky, Zur Haftung für richterliche Amtspflichtverletzungen, in: F. Baur u. a. (Hrsg.), Funktionswandel der Privatrechtsinstitutionen, Tübingen 1974, S. 141 ff.; M. Thode, Amtshaftung für Akte der Strafjustiz, in: DRiZ 2002, S. 417 ff.; D. Remus, Amtshaftung bei verzögerter Amtstätigkeit des Richters, in: NJW 2012, S. 1403. Nicht behandelt soll hier werden die Entschädigung für rechtmäßige Akte der Strafjustiz nach dem Gesetz über die Entschädigung von Strafverfolgungsmaßnahmen (StrEG) oder nach Art. 5 Abs. 5 MRK für unrechtmäßige Festnahme oder Inhaftierung.
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anvertrauten öffentlichen Amts seine Amtspflichten verletzt. Ausübung eines öffentlichen Amtes verlangt zum einen, dass die Tätigkeit auf eine hoheitliche Tätigkeit abzielt und zwischen ihr und der schädigenden Handlung ein so enger Zusammenhang besteht, dass sie noch als dem Bereich hoheitlicher Betätigung angehörend angesehen werden muss705. Amtspflicht ist jede Pflicht zu gesetzmäßigen Verhalten, jede rechtlich begründete706 Verhaltenspflicht des Amtsträgers bezüglich seiner Amtsführung, sei es ein Tun oder Unterlassen. Damit sind auch prozessleitende Maßnahmen erfasst, die objektiv darauf gerichtet sind, die Rechtssache durch Urteil zu entscheiden707. Dabei können dem Richter Pflichtverletzungen auch vor der eigentlichen Sachentscheidung unterlaufen, zum Beispiel bei der unzulänglichen Vorbereitung der Verhandlung, der mangelnden Aufklärung des Sachverhalts oder dem Absehen von einer gebotenen Beweisaufnahme708. Im Strafverfahren kann hierzu der Erlass rechtswidriger, insbesondere unverhältnismäßiger Haftbefehle, Durchsuchungs- und Beschlagnahmeanordnungen oder die rechtswidrige vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis zählen709. In Betracht kommen auch das Unterlassen des Tätigwerdens oder die schuldhafte Verzögerung der Amtstätigkeit. Es gibt zwar viele Gründe für eine lange Verfahrensdauer, die nicht unmittelbar mit richterlichem Handeln zu tun haben: die Höhe des Streitwertes, der Gegenstand des Verfahrens (Arzthaftung, Baustreitigkeiten), das Konfliktverhalten der Beteiligten, das Erfordernis eines Sachverständigengutachten oder häufige Berichterstatterwechsel710. Auch ist das Haftungsrecht nicht unmittelbar auf eine Pflichtverletzung des Richters ausgelegt711, sondern sanktioniert insgesamt und umfassend die Verzögerung des Rechtsschutzes bzw. Untätigkeit und überlange Verfahrensdauer. Sie kann aber auch und vor allem auf einer richterlichen Amtspflichtverletzung beruhen. So können sich die Pflicht zur Beschleunigung bzw. Nichtverzögerung aus gesetzlichen Bestimmungen zum Beschleunigungsgebot oder gesetzliche Fristen, die ein richterliches Handeln verlangen, ergeben (vgl. § 121 StPO; § 310 ZPO, § 117 VwGO). Glei-
705
BGHZ 118, 304 f. Palandt, Kommentar zum BGB, 71. Aufl. § 839 Rdnr. 66 meint, § 839 Abs. 2 BGB erfasse „jedes Versagen, gleichgültig ob ethisch oder intellektuell.“ Dass auch berufsmoralisches Versagen von § 839 BGB erfasst wird, sei es haftungsbegründend, sei es haftungsausschließend, wird hier bezweifelt. Denn es geht immer um die Verletzung von Rechtspflichten. 707 BGH, JZ 2011, S. 471. 708 BGH, NJW 2011, S. 1072, dagegen einschränkend: BVerfG, NJW 2013, S. 3610. 709 Thode, Amtshaftung (Fn. 704/D.), DRiZ 2002, S. 420. 710 Vgl. hierzu: J. Keders/F. Walter, Langdauernde Zivilverfahren, in: NJW 2013, S. 1997 ff. 711 SächsOVG, NVwZ 2013, S. 1095; OVG Sachsen-Anhalt, NVwZ 2012, S. 1637: Das Bestehen von Entschädigungsansprüchen gemäß § 198 GVG setzt kein individuelles schuldhaftes Fehlverhalten eines Richters voraus; bestätigt durch BVerwG, U. v. 11.07.2013 – 5 C 23.12 D und 5 C 27.12 D – zit. nach Juris. 706
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ches gilt unter der Geltung eines prozessrechtlichen Beschleunigungsgebots, insbesondere im Familien- oder Disziplinarrecht und im einstweiligen Rechtsschutz712. Auch aus dem verfassungsrechtlichen und konventionsrechtlichen Beschleunigungsgebot und dem Anspruch auf eine angemessene Verfahrensdauer können haftungsrechtlich beachtliche Amtspflichtverletzungen folgen. So kann durch zögerliches Verhalten des Richters das Rechtsstaatsprinzip und der Justizgewährungsanspruch verletzt werden. Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG garantiert auch den Parteien eines zivilrechtlichen Rechtsstreits wirkungsvollen gerichtlichen Rechtsschutz713. Dieser wird nur gewährt, wenn streitige Rechtsverhältnisse in angemessener Zeit entschieden werden714. Das ist auch bei der Entscheidung darüber zu berücksichtigen, wann im jeweiligen Verfahren ein Termin zur mündlichen Verhandlung anberaumt wird. Aus Art. 2 Abs. 2 GG folgt bei einer Inhaftierung, dass nach Anklageerhebung durch den zuständigen Richter umgehend und dauerhaft das Strafverfahren gefördert werden muss. Neben den verfassungsrechtlichen Vorgaben ergibt sich das gerichtliche Beschleunigungsgebot schließlich aus Art. 47 Grundrechtecharta715 und Art. 6 Abs. 1 EMRK. Das in dieser Bestimmung angeordnete faire Verfahren716 ist nur bei einer Entscheidung in angemessener Frist beachtet717. Grundsätzlich hat der Richter zwar einen Ermessensspielraum bei der zeitlichen Gestaltung des Verfahrens. Auch sind die Verzögerungsgründe „nach den Umständen des Einzelfalls“ zu ermitteln und es existieren keine festen Richtwerte, ab wann eine haftungsrechtlich relevante Verzögerung eingetreten ist718. Die angemessene Dauer des Verfahrens wird allgemein durch die Bedeutung der Sache (Betroffenheit von Grund- und Freiheitsrechten, der wirtschaftlichen Existenz, Gesundheit oder Lebenszeit), die Einfachheit bzw. Schwierigkeiten in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht und das nicht beeinflussbare Verhalten der Beteiligten oder Dritter (Sachverständige) bestimmt719. Mit zunehmender Dauer des Verfahrens insgesamt oder in der jeweiligen Instanz verdichtet sich nach diesen Grundsätzen aber die Pflicht des
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BVerfG (K), NVwZ 2014, S. 62. BVerfGE 82, 126 (155); 88, 118 (123); 93, 99 (107). 714 BVerfGE 60, 253 (269); 88, 118 (124). 715 EuGH, Rs. C-185/95 P und Rs. C-270/99 P zit. nach Juris. 716 EGMR, U. v. 02.09.2010 – 46.334/06 – zit. nach Juris, U. v. 08.06.2006 – 75.529/ 01 –, NJW 2006, S. 2389 (Sürmeli); NJW 2001, S. 2694 (Kudla). 717 Ch. Steinbeiß-Winkelmann, Amtshaftungsansprüche wegen überlanger Verfahrensdauer, in: NJW 2014, S. 1276 ff. 718 EGMR, FamRZ 2011, S. 1557; BVerfG (K), NJW 2001, S. 214; BVerwG, U. v. 11.07.2013 – 5 C 23.12 D und 5 C 27.12 D – zit. nach Juris; vgl. zu den häufigen, nicht sachlich begründeten Verzögerungsgründen den lebensnahen Beitrag von H. Sendler, Noch immer „hausgemachte“ Überlastung der Verwaltungsgerichte? in: DÖV 2006, S. 133 ff. 719 Keders/Walter, Langdauernde Zivilverfahren (Fn. 710/IIV), NJW 2013, S. 1997 ff. 713
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Gerichts und damit des zuständigen Richters, sich nachhaltig um eine Beschleunigung des Verfahrens und um dessen Beendigung zu bemühen720. Maßgeblich für die Konturierung der Richterhaftung sind die dienstlichen Verhaltenspflichten, deren Einhaltung durch die Richter erwartbar und erfüllbar ist, und die geeignet sind, Schäden aus der Tätigkeit der Justiz zu vermeiden721. In der Rechtsprechung sind hieraus teilweise sehr konkrete Einzelpflichten abgeleitet worden722. So sind Verfahrensakten, die nicht an einem Umlauf zwischen Geschäftsstelle und Richter teilnehmen, sondern im Dienstzimmer des Richters nach dessen Willen liegen bleiben, wegen der Pflicht zur Prozessförderung von ihm selbst im Rahmen seiner Prozessleitungspflicht (§§ 139, 273 ZPO) während der Dauer von sechs Monaten jedenfalls einmal zu sichten, um sicherzustellen, dass das Verfahren nicht ohne sachlichen Grund unbearbeitet bleibt. Tut er dies nicht, liegt hierin eine grob fährlässige Amtspflichtverletzung nach § 839 Abs. 2 BGB gegenüber den Prozessparteien723. Diese Entscheidung hat allerdings erhebliche Kritik gefunden724. Um jedenfalls hier die richterliche Unabhängigkeit zu wahren, wird nämlich das richterliche Verhalten nur auf seine Vertretbarkeit hin überprüft725 und eine Verletzung von Amtspflichten nur bei groben Verstößen angenommen. Einem Richter kann insbesondere bei der Rechtsanwendung ein Schuldvorwurf bei objektiv unrichtiger Rechtsanwendung nur bei besonders groben Verstößen gemacht werden, etwa wenn eine Entscheidung ohne nachvollziehbare Begründung in Widerspruch zu der einschlägigen gefestigten höchstrichterlichen Rechtsprechung steht. Der Richter hat im Rahmen der Prozessförderungspflicht Sachverständigen gegenüber auf zügige Mitwirkung zu drängen726. Gleiches gilt für das Verhalten von Zeugen. Aussetzungen des Verfahrens – etwa im Hinblick auf Parallelverfahren – müssen sachgerecht sein727. Dass die beschriebenen Pflichten auch den Beteiligten als Dritte gegenüber bestehen, dürfte nicht weiter streitig sein728. Allerdings wird insoweit nicht selten
720 BVerfG (K), NJW 2013, S. 3630, NJW 2001, S. 214, 215; NJW 2004, S. 3320; NJW 2005, S. 739; NJW 2008, S. 503, 504. 721 So Stuth, Staatshaftung (Fn. 158/C.), EuGRZ 1990, S. 353, 356. 722 Hierzu Stuth, Staatshaftung (Fn. 158/C.), EuGRZ 1990, S. 353, 356. 723 OLG Dresden, SächsVBl. 2009, S. 293; hierzu: M. Scheffer, Regressanspruch gegen Richter wegen Amtspflichtverletzung, in: NVwZ 2010, S. 425 ff. 724 Vgl. Scheffer, (Fn. 723/D.). 725 OLG Hamm, U. v. 17.06.2011 – 11 U 27/06, I-11 U 27/06 – zit. nach Juris; BGH, JZ 2011, S. 471 mit Anmerkung Zuck, a. a. O., S. 476, der hier Zweifel anmeldet und darauf hinweist, dass die Unabhängigkeit kein Maßstab bei der Beurteilung der Pflichtwidrigkeit sein kann. Hierzu: Steinbeiß-Winkelmann, Amtshaftungsansprüche (Fn. 717/D.), NJW 2014, S. 1276. 726 EGMR, U. v. 04.04.2002 – 45181/99 – zit. nach Juris. 727 EGMR, U. v. 06.10.2005 – 69584/01 – zit. nach Juris. 728 BGHZ 50, 14.
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eingewandt, eine Verzögerung sei ohne Verschulden geschehen, weil die Verzögerung auf einer mangelnden Ausstattung der Gerichte beruhe, der Richter habe mithin nicht subjektiv pflichtwidrig gehandelt, weil die Arbeitsüberlastung durch mangelnde Sachausstattung und damit aus objektiven Gründen eingetreten sei. Solange die Rechtsprechung sich auf den Standpunkt gestellt hatte, der (Amts-) Pflicht des Staates, Gerichte mit Personal- und Sachmittel auszustatten, komme keine drittschützende Wirkung zu729, war damit die Haftung beschränkt. Die Ausstattung der Gerichte mit Personal und Sachmittel ist mittlerweile jedoch irrelevant bzw. wird ihre Mangelhaftigkeit dem Gerichtsträger zugerechnet730. Mit der Änderung der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs731 wurde insoweit eine Lücke geschlossen. Der Staat hat seine Gerichte so auszustatten, dass sie die anstehenden Verfahren ohne vermeidbare Verzögerung abschließen können. Die Erfüllung dieser Verpflichtung obliegt den Justizbehörden insgesamt als drittgerichtete Amtspflicht. Maßgeblich ist jedoch ein unausgewogener Verteilungsakt der Justizbehörde, nicht aber des Haushaltsgesetzgebers. Insoweit besteht eine Darlegungs- und Beweislast des Landes bzw. des Bundes732. Sind die Gerichte dennoch überlastet, ist dies ein struktureller Mangel, der allenfalls für einen kurzen Zeitraum geduldet werden kann. Der Haftung kann allerdings das „Richterprivileg“ gemäß § 839 Abs. 2 BGB entgegenstehen733: Verletzt ein Beamter bei dem Urteil in einer Rechtssache seine Amtspflicht, so ist er danach für den daraus entstehenden Schaden nur dann verantwortlich, wenn die Pflichtverletzung in einer Straftat besteht. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes erfasst das Richterspruchprivileg nicht nur Rechtsverstöße und Mängel, die in dem Urteil selbst liegen oder unmittelbar bei seinem Erlass begangen wurden, sondern auch alle Maßnahmen, die objektiv darauf gerichtet sind, die Rechtssache durch Urteil zu entscheiden734. Auf eine pflichtwidrige Verweigerung oder Verzögerung der Ausübung des Amts findet diese Vorschrift jedoch keine Anwendung735. Allerdings ist auch hier die richterliche Unabhängigkeit zu beachten, insbesondere obliegt dem Richter bis zur Grenze der Unvertretbarkeit die Entscheidung, wie er den Prozess führen will. Die Entscheidung eines Gerichts etwa, vor Erlass eines Beweisbeschlusses 729
BGHZ 111, 272. BbgVerfG, NVwZ 2010, S. 378. 731 BGH, DVBl. 2007, S. 908; hierzu: J. P. Terhechte, Zum Amtshaftungsanspruch bei Organisationsmängeln innerhalb der Dritten Gewalt – zugleich ein Beitrag zum Rechtsschutz gegen den untätigen Richter, in: DVBl. 2007, S. 1134 ff. 732 BGH, DVBl. 2007, S. 908, 909. 733 Zur Forderung ihrer Abschaffung: K. Eichele, Staatshaftung für Richter, in: BRAK-Mitteilung 2003, S. 159 ff. 734 BGHZ 189, 286 m.w. N. 735 Hierzu eingehend: Grunsky, Richterliche Amtspflichtverletzungen (Fn. 704/D.), S. 141 ff. Zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die (restriktive) Auslegung dieser Begriffe: BVerfG, NJW 2013, S. 3610. 730
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den Parteien zunächst noch Hinweise zu geben und erst anschließend die Beweisaufnahme anzuordnen, unterfällt der Privilegierung des § 839 Abs. 2 Satz 1 BGB736. Eine pflichtwidrige Verzögerung lässt sich nicht zwingend hier aus ableiten. Schließlich wird die Haftung auch durch § 839 Abs. 3 BGB begrenzt, wonach der Geschädigte zunächst versuchen muss, den Schaden durch einen Rechtsbehelf abzuwenden. Rechtmittel im Sinne dieser Vorschrift sind alle Rechtsbehelfe, die sich gegen die eine Amtspflichtverletzung darstellende Handlung oder Unterlassung richten, deren Beseitigung oder Berichtigung zum Ziel haben und den Schaden abzuwenden geeignet sind. Dazu gehören auch Gegenvorstellungen, Erinnerungen, Beschwerden und Dienstaufsichtsbeschwerden737, nicht dagegen die Untätigkeitsbeschwerde. Mit der seit 2011 eingeführten Entschädigung wegen überlanger Verfahrensdauer nach §§ 198 ff. GVG738, die eine Verzögerungsrüge voraussetzt, ist nach mehreren Entscheidungen des EGMR, der auf der Grundlage von Art. 6 und 13 EMRK das Recht auf einen Rechtsschutz in angemessener Zeit739 und auf einen wirksamen Rechtsbehelf bei Verzögerung durch den untätigen Richter740 gefordert hat, die zivilrechtliche Haftung des Staates ausgeweitet worden. Die zur rechtlichen Bewertung eines überlangen Verfahrens angewendeten Grundsätze entsprechen den oben beschriebenen und wurden im Wesentlichen auf die Auslegung der §§ 198 ff. GVG übertragen741. Da die Möglichkeit des Regresses gegenüber dem Richter besteht, wenn ihm Amtspflichtverletzungen nachzuweisen sind742, können schuldhafte Verfahrensverzögerungen auch haftungsrechtlich sanktioniert werden. 736
BGHZ 189, 286 m.w. N. BGH, VersR 1986, S. 575 m.w. N. BGH, NJW 1960, S. 1718. 738 Ch. Steinbeiß-Winkelmann/T. Sporrer, Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren, in: NJW 2014, S. 177 ff. fassen die bisherige Rechtsprechung zu §§ 198 ff. GVG, insbesondere die Maßstäbe zur Verzögerung durch den Richter, zusammen. Zur Rechtsnatur des Entschädigungsanspruchs: vgl. Reiter, in: NJW 2015, S. 2554 ff. 739 BVerfG (K), NJW-RR 2010, S. 207. 740 EGMR, NJW 2001, S. 2694 (Kudla/Polen), NJW 2006, S. 2389 (Sürmeli/ Deutschland) und NJW 2010, S. 3355 (Rumpf/Deutschland) mit der Feststellung struktureller Mängel der deutschen Gerichtsverfassung, überlangen Verfahren mit einem wirksamen Rechtsbehelf zu begegnen: Behoben durch die Einfügung der § 198 ff. GVG. Vgl. aber jüngst: EGMR, NJW 2015, S. 1433 (Kuppinger/Deutschland), wonach das vorgenannte Verfahren im Bereich des familiengerichtlichen Verfahrens unzureichend vor überlangen Verfahrensdauern schützt. 741 Vgl. die hierzu inzwischen ergangene Judikatur der Bundesgerichte: BGHZ 187, 286; 199, 87; 199, 190; 200, 20; 204, 184; BFHE 243, 126; 247, 1; BVerwGE 147, 146; BSGE 113, 75. 742 Huerkamp, Gerichtliche Untätigkeit – Aktuelle Probleme der Untätigkeitsverfassungsbeschwerde, in: JZ 2011, S. 139 ff. Thode, Amtshaftung (Fn. 704/D.), DRiZ 2002, S. 424. 737
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Schließlich besteht die Möglichkeit, auf unionsrechtlicher Basis bei Verletzung von Gemeinschaftsrecht, insbesondere bei der Verletzung der Vorlagepflicht an den EuGH oder bei offenkundiger Verletzung von Unionsrecht, ohne Richterprivileg Pflichtverletzungen des Richters zur Grundlage eines Entschädigungsverfahrens zu machen743. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass gerade das zivilrechtliche Haftungsrecht die Amtspflicht zur ungesäumten Tätigkeit, aber auch andere Amtspflichten rechtlich sanktioniert, weshalb alle Fragen in diesem Kontext einer Richterdeontologie nicht mehr zugänglich sind. e) Prozessrecht Das Prozessrecht bestimmt für den Richter neben allgemeinen Verhaltenspflichten, die Pflicht zum fairen Verfahren (Art. 6 EMRK) die Pflicht zum geordneten Verfahren (§§ 169, 170 ff. 175, 176, 178 GVG), die Pflicht zur Öffentlichkeit, Aufklärungs- und Hinweispflichten, die Pflicht, Verfahren beschleunigt zu führen, sowie Regeln zur prozessualen Sicherung der richterlichen Pflicht zur Unparteilichkeit, nämlich der Ausschluss- und Befangenheitsregeln. Auch die Musterung der Rechtsprechung zum Befangenheitsrecht zeigt eine Fülle von rechtlich begründeten Pflichten des Richters innerhalb und außerhalb des Verfahrens, insbesondere Unterlassungspflichten, auf. Mit ihnen wird die dienstrechtliche Pflicht zur Unparteilichkeit durch das Prozessrecht näher ausgestaltet und konkretisiert. Das Befangenheitsrecht regelt mithin mittelbar die Amtspflichten des Richters zu unvoreingenommener und neutraler Amtsführung. Ein Verstoß des Richters gegen die Befangenheitsregeln ist damit rechtlich bedeutsam und nicht mehr ein bloßer Verstoß gegen berufsmoralische Grundsätze. Schließlich sind sonstige rechtliche Amtspflichten in den Blick zu nehmen, wie etwa die Pflicht, für eine angemessene Veröffentlichung von Entscheidungen zu sorgen. aa) Pflicht zum fairen Verfahren744 Sowohl die grundrechtlichen Gewährleistungen in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip als auch Art. 6 EMRK fordern vom Richter die Durchführung eines fairen Verfahrens. Wie oben im Einzelnen festgestellt, ergibt sich hieraus kein feststehender Kanon von Verhaltenspflichten, sieht man etwa für das Strafrecht von den Grundsätzen auf Waffengleichheit, dem Recht auf Verteidigung, die Gewährleistung eines kontradiktorischen Verfahrens, dem Anspruch 743 EuGH, NJW 2006, S. 3337; EuGH, U. v. 30.09.2003 – Rs. C-224/01 – zit. nach Juris (Köbler/Rep. Österreich); hierzu: J. Gundel, Gemeinschaftsrechtliche Haftungsvorgaben für judikatives Unrecht, in: EWS 2004, S. 8 ff. 744 Vgl. hierzu für das Strafverfahren den Guide on Article 6 des Council of Europe/ European Court of Human Rights, 2014, www.echr.coe.int (Stand: 13.09.2014).
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auf eine Begründung von richterlichen Entscheidungen, der Wahrung des Schweigerechts und des Verbots der Selbstbelastung sowie der rechtmäßigen Beweisaufnahme ab. Die rechtliche und dogmatisch nicht vollständige Durchgestaltung des Fairnessgrundsatzes macht ihn deshalb zur normativen Nahtstelle zwischen rechtlichen Amtspflichten und berufsmoralischen Forderungen (vgl. Kapitel E.). bb) Pflicht zum geordneten Verfahren Dass der Richter Störungen der Verhandlung gemäß §§ 170 ff., 175, 176, 178 GVG unterbinden muss745, folgt aus dem Anspruch aller am Verfahren Beteiligter auf ein faires Verfahren. Er hat daher mit den Mitteln der Sitzungspolizei das Verfahren äußerlich zu ordnen und sicherzustellen, dass der Verhandlungsablauf frei, insbesondere ohne verbale oder physische Gewalt bzw. deren Androhung durchgeführt wird. Auch sind die Beteiligten und das Gericht mit diesen Mitteln vor dem Druck der Öffentlichkeit abzuschirmen. Damit sind die Maßnahmen der Sitzungspolizei wahrzunehmende Sicherungsmittel für die innere Unabhängigkeit der Beteiligten746. Mit diesen Maßnahmen wird allerdings nur der äußerlich ungestörte Gang der Verhandlung gesichert. Nur so weit reicht mithin die Amtspflicht des Richters. Nicht durch diese Rechtspflichten erfasst wird der innere Ablauf der Kommunikation vor Gericht. Deshalb sind das richterliche Verhandlungsmanagement, die Gesprächsführung und Rhetorik, die Formen der gütlichen und mediativen Streitschlichtung, die Art der Vernehmung und Kommunikation den professionellen Standards, aber auch der Berufsmoral überlassen. Sie gehören auch zu den Schlüsselqualifikationen, die die Richter während ihrer Ausbildung erlernen sollen und müssen (§ 5 a Abs. 3 Satz 1 DRiG)747. cc) Pflicht zur Öffentlichkeit Die nach § 169 Satz 1 GVG bzw. Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK begründete Pflicht des Richters, die Öffentlichkeit seiner Verhandlungen zu gewährleisten, zielt darauf, dass durch die Gewährung von Einblicken in die Funktionsweise der Rechtsordnung die Einhaltung des Rechts gewährleistet wird. Sie dient damit der öffentlichen Kontrolle der Justiz und des konkreten Richters und soll jede Art von Geheimjustiz verhindern. Der Richter hat daher nicht nur alle Beteiligten, sondern auch die Öffentlichkeit insgesamt über Zeit und Ort der Verhandlung zu informieren und den ungehinderten Zugang zum Gerichtssaal oder dem Ort der Beweisaufnahme zu öffnen. Gerade im Zusammenhang mit der Herstellung medialer Öffentlichkeit vor Beginn der mündlichen Verhandlung bzw. in Prozess745 746 747
Rudolph, Unabhängigkeit (Fn. 127/A.), DRiZ 1984, S. 140. Schilken, Sicherung (Fn. 50/D.), JZ 2006, S. 862. Luik, Bemerkungen (Fn. 700/C.), SchlHAnz. 2009, S. 100.
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pausen hat der (vorsitzende) Richter rechtliche Ansprüche der Pressevertreter auf grundsätzlichen Zugang und Gleichbehandlung zu achten748. Allerdings hat der Richter auch die Grenzen der Öffentlichkeit zu wahren, wenn besonders schützenswerte Interessen der Beteiligten, insbesondere das allgemeine Persönlichkeitsrecht, die Unschuldsvermutung, die ungestörte Wahrheits- und Rechtsfindung, die Sicherheit der Justizbeschäftigten und Beteiligten es erfordern. Neben den Schutz durch Öffentlichkeit tritt daher unter Umständen der Schutz vor Öffentlichkeit749. Zulässig sind daher Maßnahmen, die die sichere und ungestörte Durchführung der Verhandlung gewährleisten, wenn der Zugang unwesentlich erschwert und die Auswahl der Zuhörerschaft nach persönlichen Merkmalen vermieden wird sowie ein sachlicher Anlass für die Maßnahmen besteht750. Außerdem hat der Richter zur Wahrung des Persönlichkeitsschutzes und des Schutzes der Wahrheits- und Rechtsfindung das Aufnahmeverbot des § 169 Satz 2 GVG durchzusetzen bzw. verfassungskonform751 auszugestalten. Diese Aufgabe fordert gerade in spektakulären und öffentlichkeitswirksamen (Straf-)Verfahren den Richter heraus. Die prozessualen Pflichten der Öffentlichkeit wie die Rechtspflicht zur Begründung der Entscheidung regeln rechtlich einen großen Bereich, der berufsmoralisch häufig als Transparenzgebot – etwa im Thesenpapier des DRB – angesprochen wird. Insofern ist die berufsmoralische Forderung wesentlich rechtlich überlagert. dd) Aufklärungs- und Hinweispflichten Die in den Prozessordnungen mannigfaltig geregelten Aufklärungs- und Hinweispflichten (vgl. z. B. § 139 ZPO, § 86 Abs. 1 VwGO) sind Ausdruck prozessualer Fürsorgepflicht des Richters, des Grundsatzes der Wahrheitsfindung sowie der Fairness. Diese Pflichten haben unterschiedliche Zwecke. Sie sollen sachdienliche Anträge generieren, wobei es dem Richter insoweit nur zusteht, den laienhaft oder nicht prozessordnungsgemäß artikulierten Willen der Parteien in eine rechtlich ordnungsgemäße Form zu bringen. Unzulässig ist es, auf den Willen des Beteiligten substantiell Einfluss zu nehmen oder ihn zu verfälschen. Sie zielen weiter auf die Ermittlung der Wahrheit; der Richter regt – soweit dies prozessual zulässig ist – zu weiterer Aufklärung an oder führt sie – wo dies durch den Untersuchungsgrundsatz gefordert ist – selbst durch. Insofern werden gleichzeitig Anhörungspflichten erfüllt. Sie sollen schließlich eine reflektierte Rechtsanwendung durch Hinweise auf eine klare bzw. unklare Rechtslage eröffnen. 748
BVerfGE 91, 125; BVerfG (K), DVBl. 2007, S. 496. Zu den Abwägungsmaßstäben vgl. G. Trüg, Medienarbeit der Strafjustiz – Möglichkeiten und Grenzen, in: NJW 2011, S. 1040 ff. 750 Vgl. BVerfG (K), NJW 2012, S. 1863. 751 Vgl. etwa BVerfG (K), NJW 2013, S. 1293 m.w. N. 749
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ee) Pflicht zur Unparteilichkeit752: Befangenheitsregeln753 (1) Das Verhältnis des Ausschluss- und Befangenheitsrechts zur richterlichen Ethik Die dienstrechtliche Pflicht des Richters, sich innerhalb und außerhalb seines Amtes so zu verhalten, dass das Vertrauen in seine Unabhängigkeit nicht gefährdet wird (vgl. § 39 DRiG), ist prozessual flankiert durch die Ausschluss- und Befangenheitsregeln. Sie geben den Prozessbeteiligten, die Zweifel an der Unvoreingenommenheit und Unparteilichkeit des Richters haben, ein Mittel in die Hand, jenseits der dienstrechtlichen oder berufsmoralischen Pflichten des Richters, die Unparteilichkeit des zur konkreten Entscheidung Berufenen überprüfen zu lassen bzw. diese kraft Gesetzes gewahrt zu wissen. Sie dienen damit der Sicherung des fairen Verfahrens und des Vertrauens der Rechtsschutzsuchenden in eine neutrale Instanz754. Dieses Recht ist zudem im Justizgrundrecht auf den gesetzlichen Richter nach Art. 101 Abs. 1 GG fundiert. Denn nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verlangt das grundrechtsgleiche Recht auf den gesetzlichen Richter, dass im Verfahrensrecht Vorsorge dafür getroffen werden muss, dass im Einzelfall ein Richter, der nicht die Gewähr der Unparteilichkeit bietet, von der Ausübung seines Amtes ausgeschlossen ist oder abgelehnt werden kann755. Dieses Recht ist zudem Ausfluss des Rechts der Bürger auf ein faires Verfahren im Sinne des Art. 6 EMRK756. Damit wird die dienstrechtliche Pflicht zur Unparteilichkeit durch das Prozessrecht näher ausgestaltet und konkretisiert. Befangenheitsrecht regelt mithin mittelbar die Amtspflichten des Richters zu unvoreingenommener und neutraler Amtsführung757. Sie unterstreicht die Rechtspflicht zur strengen Sachlichkeit und Distanz bei gleichzeitiger Wahrnehmung der gesetzlichen Aufklärungs- und Hinweispflichten. Ein bewusster Verstoß des Richters gegen die Befangenheitsregeln ist damit rechtlich bedeutsam und nicht mehr ein bloßer Verstoß gegen berufsmoralische Grundsätze. Hieraus ergeben sich für das Verhältnis des Ausschluss- und Befangenheitsregeln zur richterlichen Ethik folgende Schlussfolgerungen: Sie bestimmen rechtliche Grenzen richterlichen Verhaltens in und außerhalb des Verfahrens und hal752 Riedel, Unparteilichkeit (Fn. 42/D.), hat die Unparteilichkeit beeindruckend als richterliche Pflicht und Gegenstand der Ausschließungs- und Befangenheitsregeln herausgearbeitet. 753 Grundlegend: Ch. Stemmler, Befangenheit im Richteramt. Eine systematische Darstellung der Ausschließungs- und Ablehnungsgründe unter besonderer Berücksichtigung des gesetzlichen Richters als materielles Prinzip, Tübingen 1975; G. Vollkommer, Der ablehnbare Richter – Die Durchsetzung des verfassungsrechtlichen Gebots richterlicher Unabhängigkeit im Prozess, Tübingen 2001. 754 W. Krekeler, Der befangene Richter, in: NJW 1981, S. 1633. 755 BVerfG (K), NJW 1998, S. 370. 756 EGMR, EuGRZ 1993, S. 122. 757 G. Vollkommer, in: Zöller, Kommentar zur ZPO, § 41, Rn. 20.
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ten, wenn es mit der Pflicht zur Neutralität kollidiert, rechtliche Sanktionen bereit. Damit unterliegt ein Verhalten, dass zur Befangenheit des Richters führt, grundsätzlich allein dem Recht und nicht mehr der Berufsmoral. Die Pflicht sich unparteilich zu verhalten, ist eine Rechtspflicht; ein Verstoß gegen sie kann dienst- und prozessrechtliche Konsequenzen, nach sich ziehen. Insoweit besteht ein wesentlicher Unterschied zum anglo-amerikanischen Rechtssystem, das grundsätzlich kein Ausschluss- und Ablehnungsrecht in der Hand der Beteiligten kennt, sondern Zweifel hinsichtlich der Unparteilichkeit in die Selbsteinschätzung des betroffenen Richters selbst legt. Sie wahrzunehmen und sich selbst aus dem Verfahren zu nehmen, unterliegt damit dem berufsmoralischen Anspruch des Richters. Hieraus erklären sich eine Fülle von Regelungen und Hinweisen in den Ethikkodizes der Common-Law-Staaten. Solche sind umgekehrt in Deutschland weitgehend überflüssig, weil die die Unparteilichkeit berührenden Verhaltensweisen rechtlichen Regelungen und Sanktionen unterliegen. Zusammenfassend kann mit Heussen festgestellt werden: „Zu Fragen, die wie diese klar genug gesetzlich geregelt sind, muss die Berufsethik sich nicht zusätzlich Gedanken machen.“ 758 Allerdings spielt auch im deutschen Befangenheitsrecht die „ethische Tradition“ der Richter bzw. die Berufsmoral noch eine Rolle. Zum einen soll nicht übersehen werden, dass ein Richter, der sich bewusst selbst aus unangenehmen Verfahren „schießt“, indem er etwa Beteiligte als „Querulanten“ beschimpft759, neben rechtlichen Sanktionen die berufsmoralische Missachtung der Kollegen auf sich zieht. Zum anderen hängt die Befangenheit eines Richters häufig von den besonderen Umständen des Einzelfalls ab. In hohem Maße ist Unparteilichkeit zudem ein innerer Zustand und eine Frage der inneren Haltung760. Dieser Umstand und die unscharfen Grenzen zwischen Prozessrecht mit Sanktion, d.h. Ausscheiden aus dem Verfahren, und richterlicher Moral bei rechtlich „grenzwertigem Verhalten“ ohne rechtliche Sanktion eröffnen das Feld für die Berufsmoral. Auch der Umgang mit Ablehnungsgesuchen verlangt dem Richter ein Höchstmaß von innerer Unabhängigkeit ab, insbesondere wenn der Ablehnende scharfe Vorwürfe formuliert761. Insoweit zeigt sich, dass die in einer bestimmten Weise gezeigte innere Haltung des Richters Anknüpfungstatsache für die Befangenheit ist762. Schließlich ist die richterliche Berufsmoral selbst zum rechtlichen Maßstab der Anwendung des Befangenheitsrechts geworden, etwa wenn der Ver758 Heussen, Berufsethik (Fn. 6/A.), NJW 2015, S. 1927, 1929. Das von Sandhaus, Richterliche Ethik (Fn. 890/C.), S. 473 f. geforderte berufsmoralische Bewusstsein jenseits dieser rechtlichen Regeln wird hier als Rechtstreue verstanden. 759 Vgl. hierzu VG Gera, ThürVBl. 2012, S. 230 f. 760 Krekeler, Der befangene Richter (Fn. 754/D.), NJW 1981, S. 1633. 761 N. Ghassemi-Tabar/R. Nober, Die Richterablehnung im Zivilprozess, in: NJW 2013, S. 3686. 762 BGH, NJW 2014, S. 2372, 2373.
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weis auf die Professionalität und die „ethische Tradition“ der Richter das Bewusstsein des Richters von den Gefährdungen seiner Neutralität zum – nicht unproblematischen – Begrenzungselement für die Befangenheit wird. So heißt es in der Rechtsprechung etwa: „Im Übrigen ist es dem Richter aufgrund seiner Ausbildung, ethischen Tradition und beruflichen Erfahrung ohne Schwierigkeiten möglich, sich der vom Antragsteller angeführten Gefahren aufgrund von Solidarisierung und freundschaftlicher Beziehung bewusst zu sein und ihre Auswirkung, nämlich eine unsachliche, parteiliche Beeinflussung der Rechtsprechung zu vermeiden.“ 763 Glaubwürdig ist dieser rechtliche Begründungsansatz jedoch nur, wenn die Richterschaft diese ethische Tradition lebt. Sonst wird er zur unglaubwürdigen Beschwörungsformel, die rechtsethisch höchst fragwürdig ist. (2) Richterliche Rechtspflichten nach dem Ausschluss- und Befangenheitsrecht Um den Bereich des Rechts von der Berufsmoral zu unterscheiden, müssen im Folgenden die durch den Gesetzgeber und der Rechtsprechung getroffenen Konkretisierungen von die Befangenheit begründenden bzw. nicht begründenden Verhalten näher bestimmt werden. Insoweit sind berufsmoralische Konkretisierungen nämlich überflüssig, weil der Richter in der Vermeidung der Befangenheit seine rechtliche Pflicht zur Unparteilichkeit erfüllt764. Der Gesetzgeber unterscheidet grundsätzlich den zwingenden und generellen Ausschluss des Richters von der Ablehnung im Einzelfall. Die abschließenden Regelungen in §§ 41 ZPO, §§ 22 und 23 StPO, § 54 Abs. 1 VwGO, § 60 Abs. 1 SGG; § 51 Abs. 1 Satz 1 FGO regeln, wann ein Richter von der Ausübung des Richteramtes kraft Gesetzes ausgeschlossen ist. In ihnen sind die Fallgruppen geregelt, in denen typischer Weise wegen besonderer Nähe des Richters zu den Streitbeteiligten oder zur Streitsache mit erheblichen Zweifeln an der Neutralität des Richters gerechnet werden muss. Danach ist er in Sachen von der Mitwirkung ausgeschlossen, in denen er selbst Partei ist oder bei denen er zu einer Partei in dem Verhältnis eines Mitberechtigten, Mitverpflichteten oder Regresspflichtigen steht, in Sachen seines Ehegatten, auch wenn die Ehe nicht mehr besteht765, in Sachen seines Lebenspartners, auch wenn die Lebenspartnerschaft nicht mehr besteht, in Sachen einer Person, mit der er in gerader Linie verwandt oder verschwägert, in der Seitenlinie bis zum dritten Grad ver763 Gehrlein, in: Münchner Kommentar zur ZPO, § 42 Rdnr. 12; OVG Sachsen-Anhalt, B. v. 21.07.2009 – 1 M 52/09 – zit. nach Juris; OVG Mecklenburg-Vorpommern, B. v. 18.01.2001 – 2 M 4/01 – zit. nach Juris. 764 Vgl. Vollkommer, Der ablehnbare Richter (Fn. 753/D.). 765 Str. bei Ehe mit Prozessbevollmächtigten (ThürOLG, MDR 2000, S. 540; LSG Schleswig NJW 1998, S. 2925); Ehefrau des Rechtsmittelrichters hat an zu prüfender Entscheidung des erstinstanzlichen Kollegialgerichts mitgewirkt: BGH NJW 2004, S. 163; 2008, S. 1672.
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wandt oder bis zum zweiten Grad verschwägert ist oder war, in Sachen, in denen er als Prozessbevollmächtigter oder Beistand einer Partei bestellt oder als gesetzlicher Vertreter einer Partei aufzutreten berechtigt ist oder gewesen ist, in Sachen, in denen er als Zeuge oder Sachverständiger vernommen ist, in Sachen, in denen er in einem früheren Rechtszug oder im schiedsrichterlichen Verfahren bei dem Erlass der angefochtenen Entscheidung mitgewirkt hat, sofern es sich nicht um die Tätigkeit eines beauftragten oder ersuchten Richters handelt766, in Sachen wegen überlanger Gerichtsverfahren, wenn er in dem beanstandeten Verfahren in einem Rechtszug mitgewirkt hat767, auf dessen Dauer der Entschädigungsanspruch gestützt wird, in Sachen, in denen er an einem Mediationsverfahren oder einem anderen Verfahren der außergerichtlichen Konfliktbeilegung mitgewirkt hat. Nach § 45 Abs. 1 ZPO gilt dies naturgemäß auch für die Entscheidung über ein Ablehnungsgesuch gegen ihn768. Nach den §§ 54 VwGO, 60 Abs. 2 SGG und 51 Abs. 2 FGO ist von der Ausübung des Amtes als Richter oder ehrenamtlicher Richter auch ausgeschlossen, wer bei dem vorausgegangenen Verwaltungsverfahren mitgewirkt hat. Dabei ist der Begriff des „vorausgegangenen Verwaltungsverfahrens“ unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck der Bestimmung weit auszulegen. Sie will nämlich ganz allgemein das Vertrauen in die Unparteilichkeit der öffentlich-rechtlichen Fachgerichte schützen. Es soll deshalb kraft Gesetzes ausgeschlossen sein, dass ein Richter den Rechtsstreit entscheidet, dessen Mitwirkung dem Einwand ausgesetzt sein könnte, er habe sich bereits in der Sache festgelegt und könne seine richterliche Entscheidung nicht mehr mit der gebotenen Objektivität treffen, weil er an der im Verwaltungsverfahren getroffenen Entscheidung mitgewirkt hat. Dabei ist auch eine Betätigung, durch die Einfluss auf die Art und den Umfang einer ergangenen Entscheidung genommen wird, dem Verwaltungsverfahren zuzurechnen769. Für die Richter am Bundesverfassungsgericht sind in § 18 BVerfGG die Ausschlusstatbestände beschränkter: Ein Richter des Bundesverfassungsgerichts ist von der Ausübung seines Richteramtes ausgeschlossen, wenn er an der Sache beteiligt oder mit einem Beteiligten verheiratet ist oder war, eine Lebenspartnerschaft führt oder führte, in gerader Linie verwandt oder verschwägert oder in der Seitenlinie bis zum dritten Grade verwandt oder bis zum zweiten Grade verschwägert ist oder in derselben Sache bereits von Amts oder Berufs wegen tätig gewesen ist. Beteiligt ist dabei nicht, wer auf Grund seines Familienstandes, sei766
Nicht bei Entscheidung nach Aufhebung und Zurückverweisung. Zu einem besonderen Fall der Vorbefassung, nämlich dem Erlass eines rechtswidrigen Haftbefehls während laufender Hauptverhandlung, vgl. BGH, NJW 2014, S. 2372. 768 Vgl. aber die Ausnahmen im Falle des Rechtsmissbrauchs: Im Strafprozess § 26 a StPO; BVerfG (K), NJW 2007, S. 3771 für das Zivilrecht; BVerwG, NJW, 2014, S. 317; vgl. auch die bei Ghassemi-Tabar/Nober, Richterablehnung (Fn. 761/D.), NJW 2013, S. 3687 dargestellten Fallgruppen. 769 BVerwGE 52, 47. 767
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D. Elemente einer richterlichen Metaethik
nes Berufs, seiner Abstammung, seiner Zugehörigkeit zu einer politischen Partei oder aus einem ähnlich allgemeinen Gesichtspunkt am Ausgang des Verfahrens interessiert ist. Als frühere Tätigkeit gilt nicht die Mitwirkung im Gesetzgebungsverfahren oder die Äußerung einer wissenschaftlichen Meinung zu einer Rechtsfrage, die für das Verfahren bedeutsam sein kann770. Hinsichtlich der Pflicht der Richter, sich neutral zu verhalten, und ggf. ein bestimmtes Verhalten zu unterlassen, sind die Ausschlussregeln eher unergiebig, weil sie nicht selten an Unvermeidbarem – wie etwa verwandtschaftliche Beziehungen oder Verstrickung in die Sache – oder Unvorhersehbarem – berufliche oder sonstige Vorbefassung – anknüpfen. Dies ist bei den dem Ablehnungsrecht unterfallenden Umständen überwiegend anders. Es erfasst jenseits der Ausschlussgründe als typische Fälle der vermuteten Voreingenommenheit und Parteilichkeit den Bereich, bei dem die Nähe eines Richters zu den Beteiligten eines Streitfalles und zum Streitgegenstand nicht offenkundig, aber nicht auszuschließen ist. Die Entscheidung über die Befangenheit eines Richters, also über seine Voreingenommenheit oder Parteilichkeit, ist dabei in die Hände der richterlichen Kollegen gelegt771, so dass die Handhabung des Ablehnungsrechts in besonderer Weise das richterliche Selbstverständnis und seine Haltung zur Wahrung der Unparteilichkeit widerspiegelt772. Der verantwortungsbewusste Umgang mit Befangenheitsregeln ist daher als „tugendhaftes Korrelat zum Freiraum richterlicher Unabhängigkeit“ 773 bezeichnet und damit selbst zum Gegenstand der richterlichen Ethik gemacht worden. Dabei wird die gesetzgeberische Entscheidung in § 1036 Abs. 2 Satz 1 ZPO, zur Vermeidung des „bösen Scheins“ im Zweifel für die Ablehnung zu entscheiden, nicht selten übersehen. Nach § 41 Abs. 1 ZPO, der auch in den Prozessordnungen der Fachgerichtsbarkeiten entsprechende Anwendung findet, kann ein Richter sowohl in den Fällen, in denen er von der Ausübung des Richteramts kraft Gesetzes ausgeschlossen ist, als auch wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden. Wegen Besorgnis der Befangenheit findet die Ablehnung statt, wenn ein Grund vorliegt, 770 BVerfGE 135, 248, zur Befangenheit bei mehr als bloßer Mitwirkung eines Verfassungsrichters im Gesetzgebungsverfahren, wenn etwa der Richter als „Urheber des zu beurteilenden Regelungskonzepts“ anzusehen ist. 771 Es soll hier darauf verzichtet werden die Fülle an Rechtsprechung im Einzelnen zu referieren. Die Rechtsprechung ist zu einzelnen Problemfällen und -gruppen in der Kommentarliteratur im Einzelnen erfasst. vgl. daher insoweit: Baumbach/Lauterbach/ Albers/Hartmann, Kommentar zur ZPO, 66. Aufl., § 42 Rdnrn. 16 ff.; Gehrlein, in: Münchner Kommentar zur ZPO, 4. Aufl., § 42 Rdnrn. 8 ff.; Hüßtege, in: Thomas/ Putzo, Kommentar zur ZPO, 33. Aufl., § 42 Rdnrn. 10 ff.; Vollkommer, in: Zöller, Kommentar zur ZPO, 30. Aufl., § 42 Rdnrn. 11 ff. Zur Ablehnung des Befangenheitsantrags durch den abgelehnten Richter selbst: BVerfG, NJW 2007, S. 377; BAG, NJW 2012, S. 1531. 772 Wipfelder, Bürger (Fn. 22/A.), DRiZ 1987, S. 126. 773 Leuze, Bemerkungen (Fn. 324/D.), DöD 2002, S. 135.
II. Der rechtliche Rahmen für richterliches Handeln
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der geeignet ist, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit eines Richters zu rechtfertigen (§ 41 Abs. 2 ZPO). Die Besorgnis der Befangenheit nach § 42 ZPO ist stets dann begründet, wenn der Richter oder ehrenamtliche Richter der Vertretung einer Körperschaft angehört, deren Interessen durch das Verfahren berührt werden (vgl. § 24 StPO, § 54 VwGO, § 60 Abs. 3 SGG, § 51 Abs. 3 FGO). Gerichtspersonen können auch abgelehnt werden, wenn von ihrer Mitwirkung die Verletzung eines Geschäfts- oder Betriebsgeheimnisses oder Schaden für die geschäftliche Tätigkeit eines Beteiligten zu besorgen ist (vgl. § 51 Abs. 1 Satz 2 FGO). Befangenheit heißt dabei persönliche Voreingenommenheit und Parteilichkeit. Die Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit setzt nicht voraus, dass der Richter tatsächlich befangen, voreingenommen oder parteiisch ist. Maßgebend ist, ob vom Standpunkt des betreffenden Beteiligten nach einer Gesamtwürdigung aus genügende objektive Gründe vorliegen774, die in den Augen eines vernünftigen Betrachters geeignet sind, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit des Richters zu erregen775. Die Gründe, die Zweifel an der Unvoreingenommenheit des Richters rechtfertigen, müssen dargelegt und glaubhaft gemacht werden (§ 44 Abs. 2 ZPO). Aus dem Grundsatz des gesetzlichen Richters und aus dem Dienstrecht folgt – wie festgestellt – eine Pflicht des Richters zur Unparteilichkeit776. Das Ablehnungsrecht konkretisiert dabei, in welchen Fällen ein Richter diese rechtliche Amtspflicht nicht mehr gewahrt hat, wann er das Verbot, Dritten (Freunde, Verwandte) oder eigenen Interessen auf das Verfahren Einfluss zu gewähren, verletzt hat, und wann er die Ehre von Prozessbeteiligten durch verbale Angriffe verletzt oder gekränkt hat. Aus dieser Rechtspflicht, sich neutral zu verhalten, fließen mithin eine Fülle von rechtlichen Ge- und Verboten allein zu dem Zweck, die Unparteilichkeit zu wahren. Verletzt der Richter diese Grenzen, verstößt er gegen Recht und nicht mehr nur gegen die Berufsmoral. Diese genannten Rechtspflichten können richterliches Verhalten außerhalb und innerhalb des Verfahrens betreffen: (3) Verhalten außerhalb des Verfahrens sowie vorprozessuales Verhalten Der erkennbare und nachweisbare Einfluss Dritter auf den Richter (Justizverwaltung, Medien, Richterkollegen, sonstige Dritte)777 kann je nach dem Verhalten und der Reaktion des Richters die Besorgnis der Befangenheit begründen. 774 R. Zuck, Befangenheit als Quelle des fairen Verfahrens, in: DRiZ 1988, S. 172 ff. fasst die zentralen Probleme des Maßstabs zusammen und vergleicht die Rechtsprechung zu den jeweiligen Prozessordnungen. 775 Vgl. etwa BVerwGE 50, 36 ff. zu der zu wenig beachteten Sicht des Betroffenen: Krekeler, Der befangene Richter (Fn. 754/D.), NJW 1981, S. 1635 f. 776 BVerfGE 21, S. 139 (145 f.). 777 Vgl. Krekeler, Der befangene Richter (Fn. 754/D.), NJW 1981, S. 1636.
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D. Elemente einer richterlichen Metaethik
Privates Verhalten vor und außerhalb eines vom Richter geführten gerichtlichen Verfahrens ist regelmäßig ablehnungsrechtlich irrelevant. Erst durch die innere Verknüpfung mit einem bestimmten Prozess kann dieses Verhalten rechtlich relevant werden, weil es Zweifel im Hinblick auf seine Neutralität begründen kann. Dabei ist es insoweit gleichgültig, ob dieses Verhalten vermeidbar oder unvermeidbar ist. Allein vermeidbares Verhalten ist deswegen besonders bedeutsam, weil der Richter im Hinblick auf seine Neutralitätspflicht unter Umständen aufgerufen ist, es zu unterlassen. Freilich kann es übergeordnete Gründe – etwa die Ausübung ihm zustehender Grundrechte – geben, das Verhalten auch ablehnungsrechtlich eher zu dulden, auch wenn seine Neutralität berührt ist. So ist es Richtern zur Vermeidung der Befangenheit nicht verboten, Mitglied in Gewerkschaften778, Arbeitgebervereinigungen, Religionsgemeinschaften779, Vereinen oder Parteien zu sein. So begründet etwa die Mitgliedschaft eines Arbeitsrichters in der früheren ÖTV allein noch nicht die Besorgnis der Befangenheit780. Auch dann wenn etwa ein Verwaltungsrichter Mitglied der Partei X ist und in einem Verfahren der Partei Y zur Entscheidung berufen ist, führt dies – außer bei Vorliegen besonderer weiterer Umstände oder eines besonderen Interesses am Ausgang des Verfahrens781 – nicht zur erfolgreichen Ablehnung. Insofern ist die Rechtspflicht zur Neutralität nicht berührt782. Es stellt sich jedoch insoweit die richterethische Frage, ob Verwaltungsrichter nicht besser daran täten, von sich aus auf eine Mitgliedschaft in einer Partei oder als Arbeitsrichter auf eine Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft zu verzichten. Die gesetzgeberische Entscheidung einiger westlicher Staaten, dass Richter nicht Mitglied einer Partei sein dürfen, zeigt jedenfalls eine rechtsethische Konfliktlage auf, die grundlegend anders entschieden werden kann als in Deutschland. Auch politische Meinungsäußerungen, die dem Mäßigungsgebot entsprechen, führen nicht zur Befangenheit. Etwas anders muss aber dann gelten, wenn eine besondere Nähe der Äußerung zum jeweiligen Streitstoff besteht, etwa bei Verfassung- und Verwaltungsrichtern im Verhältnis zu konkret verfahrensrelevanten politischen Fragen. Unsachliche, ideologisch verengte oder hoch emotionale Äußerungen, bei denen regelmäßig auch das Mäßigungsverbot verletzt ist, führen aber stets zur Befangenheit und damit zur Verletzung der Neutralitätspflicht. Die Begutachtung der maßgeblichen Rechtsfrage des Falles oder die Vortragstätigkeit oder eine Stellungnahme in der Literatur sind dann regelmäßig unpro778 Bezüglich der Arbeitsrichter: Strecker, Politischer Richter (Fn. 455/D.), ZRP 1984, S. 125. 779 BVerfG (K), NVwZ 2013, S. 1335; Richter müssen ihre Religionszugehörigkeit nicht offenbaren: BayVerfGH, NVwZ 2011, S. 39. 780 BAG, MDR 1998, S. 165; BVerfG, NJW 1984, S. 1874. 781 VGH BW, NJW 1975, S. 22. 782 Zur Rechtsprechung hierzu im Einzelnen: Gilles, Unabhängigkeit (Fn. 3/C.), DRiZ 1983, S. 45 ff.
II. Der rechtliche Rahmen für richterliches Handeln
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blematisch, wenn sie Ausdruck einer sachlich wissenschaftlichen Betätigung ohne Nähe zum Streitstoff sind. Dagegen können Formen der Vorbefassung, die die Annahme einer verfestigten und geschlossenen Ansicht nahelegen, wie das Fehlen der Kritikfähigkeit oder bei Unsachlichkeit, die Befangenheit begründen. Dies gilt allerdings nicht bei prozessrechtlich typischer Vorbefassung, etwa bei Entscheidungen im Prozesskostenhilfeverfahren oder im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes. Wirtschaftliche und persönliche Interessen des Richters am Ausgang des Verfahrens von hinreichendem Gewicht (Mitgliedschaften an beteiligten Unternehmen, Vereinen, etc. bei gewisser Bedeutung, bei unmittelbaren Geschäftsbeziehungen zu Prozessbeteiligten; bedeutendere Gesellschaftsanteile; nicht bei einfacher Mitgliedschaft oder bei einem Kleinaktionär) stellen seine Neutralität ebenfalls in Frage. Der Umgang des zur Entscheidung berufenen Richters mit der Presse kann dann die Befangenheit begründen, wenn Geheimhaltungspflichten verletzt, Vorfestlegungen erkennbar sind783 oder die Presse vor den Beteiligten informiert wird. Emotionale Beziehungen des Richters zum Streitfall oder zu an ihm Beteiligte rufen stets besondere Probleme für die Unabhängigkeit des Richters hervor. Feindschaft, eine persönliche Freundschaft oder eine andere nähere emotionale Beziehung zu einer Partei, Zeugen, Sachverständigen oder ihrer Familie (Liebesverhältnis, Verlöbnis, entferntere Verwandtschaft, enge Bekanntschaft) begründen wegen ihrer Intensität grundsätzlich Zweifel an der Unbefangenheit eines Richters784. Je nach Art und Gegenstand des Verfahrens und der sich daraus ergebenden Interessenlage muss insoweit vernünftigerweise befürchtet werden, der Richter stehe auf Grund seiner persönlichen Beziehung zu einem Beteiligten der Sache nicht unvoreingenommen gegenüber. Im Gegensatz dazu stehen bloß dienstliche, gesellschaftliche oder berufliche Kontakte geringerer Intensität. Bei Spannungen mit oder eine besondere Nähe zum Prozessbevollmächtigten kann im Einzelfall und bei möglicher Auswirkung auf die Partei ebenfalls die Neutralitätspflicht verletzt sein785. Die Ehe, Lebenspartnerschaft, Verwandtschaft, Ver-
783
BGH, NJW 2006, S. 3290. BVerfG (K), NJW 2004, S. 3550; BVerfGE 73, 330 (339); BGH, LM Nr. 2 zu § 42 ZPO; BFH, B. v. 28.09.1984 – VI S 5/84 – zit. nach Juris; BayObLG, JR 1987, S. 115; OLG Frankfurt, OLGR 1996, S. 55; HessLSG, B. v. 12.12.2005 – L 9 SF 106/ 05 – zit. nach Juris; BayLSG, B. v. 27.07.2000 – L AR 126/00 – zit. nach Juris; LG Göttingen, B. v. 14.07.1999 – 10 AR 28/99 – zit. nach Juris; LG Leipzig, NJW-RR 2004, S. 1003. 785 Vgl. den besonderen Fall in der die Tätigkeit eines nicht berufsrichterlichen Mitglieds eines Landesverfassungsgerichtshofs als Rechtsanwalt in der Kanzlei, die einen Antragsteller in einem Normenkontrollverfahren als Bevollmächtigten vertritt, die Besorgnis der Befangenheit begründete: RhPfVerfGH, NJW 2015, S. 2104. 784
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D. Elemente einer richterlichen Metaethik
löbnis oder ein Liebesverhältnis zum Prozessbevollmächtigten stellen jedenfalls die Neutralität in Frage. Bei einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft zwischen dem Rechtsmittelrichter und der an der zu überprüfenden Entscheidung beteiligten Richterin besteht jedenfalls eine Offenbarungspflicht786. Im Berufsalltag des Richters ist es stets eine heikle Situation, wenn Prozessbeteiligter ein richterliches Mitglied des zur Entscheidung berufenen Spruchkörpers ist 787. Dieser Umstand begründet nach der Rechtsprechung immer einen Ablehnungsgrund. Die Besorgnis der Befangenheit von Mitgliedern des gleichen Spruchkörpers gründet dabei auf der Erwartung, das zukünftige Verhältnis zu den Kollegen könne von der Entscheidung im vorliegenden Verfahren beeinflusst werden. Nicht die Zugehörigkeit zum Spruchkörper und die Zusammenarbeit in der Vergangenheit ist der entscheidende Faktor, sondern die beiderseitige Aufgabe einer offenen und vertrauensvollen Zusammenarbeit in der Zukunft. Diese erscheint aus der Perspektive eines objektiven Dritten gefährdet788. Allerdings führt die bloße Kollegialität im Gericht regelmäßig nicht zur Befangenheit der anderen Richter789. Werden alle Richter eines Revisionsgerichts abgelehnt, führt dies regelmäßig nicht zum Ausschluss790, auch dann nicht, wenn es sich nicht um eine Globalablehnung handelt. (4) Verhalten im Verfahren (persönliche Voreingenommenheit)791 Das Verhalten des Richters im Verfahren stellt deswegen besondere Anforderungen, weil es den Kernbereich richterlichen Handelns betrifft und dabei unmittelbar sowie offen vor den Beteiligten geschieht. Diese können sich insoweit direkt ein Urteil über die Unvoreingenommenheit, Unparteilichkeit und Neutralität bilden. In diesem Verhältnis wird – wie die einschlägige Judikatur zeigt – nicht selten die aus der Neutralitätspflicht abgeleitete Pflicht zu sachlichem und angemessenem Verhalten durch Gereiztheit, Unmutsäußerungen oder Ungeduld verletzt. Zwar müssen auch harte und autoritäre Äußerungen eines Richters unter Berücksichtigung der Gesamtsituation und der Notwendigkeit, eine geordnete Verfahrensführung zu sichern, gewürdigt werden. Die beim Richter stets zu er786
OVG Bremen, NJW 2015, S. 2828. Zur Befangenheit der Berufsrichter, wenn ein dem Spruchkörper zugeteilter ehrenamtlicher Richter vor diesem ein Verfahren führt: VG Freiburg, NVwZ-RR 2011, S. 544. 788 ThürOVG, B. v. 01.10.2008 – 2 ZKO 165/08 – m.w. N. 789 Vgl. zu einem Fall der Selbstanzeige sämtlicher Richter eines Gerichts: OVG Lüneburg, NVwZ-RR 2013, S. 244. 790 BVerwG, NJW 2014, S. 953. 791 Riedel, Unparteilichkeit (Fn. 42/D.), S. 76 ff. differenziert grundsätzlich zwischen persönlicher und sachlicher Voreingenommenheit. Hier soll sich die persönlich Voreingenommenheit auf das individuelle Verhalten im Verfahren und die persönliche Beziehung zu den Beteiligten beziehen. 787
II. Der rechtliche Rahmen für richterliches Handeln
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wartenden Disziplin verlangt aber, dass abfällige, höhnische, unsachliche, auf Voreingenommenheit hindeutende, beleidigende oder verletzende Äußerungen unterbleiben. Dass dies nicht selten unbeachtet bleibt, zeigen Judikate, die unangemessene richterliche Äußerungen zum Gegenstand haben (etwa „Blödsinn“; „Ich lasse mich nicht verarschen“; „Halten Sie jetzt endlich den Mund“; „Die ZPO interessiert mich nicht“; der Beteiligte sei „als ziemlich wunderlich bekannt“; ja sogar: „Sie sind so hässlich, ich würde Sie sofort betrügen“ 792). Scharfe, einseitige und unsachliche Randbemerkungen in Schriftsätzen („Quatsch“, „Unsinn“) verletzen ebenfalls die Neutralität. Auch eine unangemessene Mimik und Gestik (etwa – wie geschehen – den Kopf auf den Tisch legen und an die Stirn tippen) überschreitet die zulässige Grenze. Umgekehrt führt der Umstand, dass ein Beteiligter den Richter beleidigt, bedroht oder mit strafrechtlich relevanten Mitteln überzieht, nicht allein zur Befangenheit. Er ist auch in dieser Situation verpflichtet, – mit dem Schutz des Dienstherrn – Unparteilichkeit zu wahren793. Das Recht selbst stellt mithin sehr konkrete Anforderungen an die Disziplin und Gelassenheit des Richters und engt insoweit den Raum für berufsmoralische Pflichten deutlich ein. Ein Unterfall der Neutralitätspflicht und Unparteilichkeit ist die Pflicht zur prozessualen Gleichbehandlung der Parteien („ohne Ansehen der Person“) und die Pflicht, seiner Vertrauensstellung gerecht zu werden794. Deswegen verletzen einseitige Kontakte zu den Prozessbeteiligten unter Missachtung der Parteiöffentlichkeit (z. B. zu Zeugen; Sachverständigen; Anhörung nur einer Partei) oder unsachliche, unvertretbare oder unangemessene Bevorzugungen einer Partei bei Hinweisen zu Angriffs- oder Verteidigungsmittel diese Pflichten795. Gleiches gilt für einseitige Begründungen und Protokollierungen, für ungeprüfte und unsachliche Verdächtigungen eines Beteiligten und andere Benachteiligungen im Verfahren, wie etwa konkrete Vorgaben zum Umfang der Schriftsätze, eine vorweggenommene Beweiswürdigung, das Nichtweiterleiten von Schriftsätzen, Zurückweisung berechtigter Fragen, die verfahrenswidrige Verweigerung einer Anhörung, Entscheidung vor einer vom Richter gesetzten Anhörungsfrist, völliges Untätigbleiben trotz Anträge und Schriftsätze, Häufung schwerer Verfahrensfehler mit dem Anschein unsachgemäßer Verfahrensführung (z. B. Ablehnung eines begründeten Verlegungsantrags, weil „die Sache unbedeutend“ sei und „vom Tisch müsse“; Manipulation der Richterbank; schwerwiegende Vernachlässigung verfassungsrechtlich geschützter Rechte, insbesondere von Anhörungsrechten; 792 Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 66. Aufl., § 42, Rdnr. 15 ff.; Hüßtege, in: Thomas/Putzo, Kommentar zur ZPO, 33. Aufl., § 42 Rdnrn. 8 ff. 793 LSG Mainz, B. v. 06.05.2008 – L 3 B 126/08 AS –, zit. nach Juris, mit Anmerkung von Wehrhahn, in: Voelzke/Schlegel (Hrsg.), jurisPR-SozR15/2008 Anm. 6. 794 BGHZ 181, 36. 795 Zu den Problemen bei der Abgrenzung von der Hinweispflicht: Riedel, Unparteilichkeit (Fn. 42/D.), S. 169 ff.
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D. Elemente einer richterlichen Metaethik
Erlass eines Versäumnisurteils ohne wenigstens kurzes Zuwarten), zu knappe Frist oder Ablehnung einer Vertagung bei umfangreichen Gutachten drei Tage vor dem Termin oder ein offenkundig schikanöser Zeitpunkt für die mündliche Verhandlung (7 Uhr morgens für auswärtige Partei). Inwieweit „Druck“ auf die Beteiligten zur Befangenheit führt, ist eine Frage des Einzelfalls. Das Angebot von Strafmilderung im Falle eines Geständnisses macht regelmäßig nicht befangen796. (Angedrohte) Strafanzeigen oder -anträge des Richters, die nicht angemessen und sachlich geboten sind, also wenn sie allein als Mittel eingesetzt werden, dass ein Rechtsmittel zurückgenommen wird, begründen Zweifel an der Unbefangenheit des Richters797. Gleiches gilt für die Annahme einer nicht unerheblichen Bewirtung durch eine Partei. Eine Ladung zur mündlichen Verhandlung auf den 11.11. um 11.11 Uhr begründet nach der Rechtsprechung zwar nicht die Befangenheit. Sie ist aber – auch in Karnevalshochburgen – berufsmoralisch problematisch, weil sie die Parteien und die Rechtsprechung selbst nicht ernst nimmt. Auch die Verletzung der Fürsorgepflicht gegenüber den Parteien kann die Befangenheit begründen. Hierzu zählt es auch, wenn der Richter sich gegenüber der Presse zu den Erfolgsaussichten der Sache äußert oder die Schweigepflicht bricht. Das Verhalten des Richters bei der Rechtsanwendung und bei der Beweiswürdigung führt nur unter besonderen Umständen zur Befangenheit798. Aber auch hier kommen Verstöße gegen die Neutralität und Distanz vor, etwa wenn ausreichende, verständliche und widerspruchsfreie Feststellungen zur Tat- und Schuldfrage fehlen, wenn erheblich vom Recht mit dem Anschein von Willkür und Voreingenommenheit abgewichen wird799, wenn der Richter versucht, sich den Bindungen eines obergerichtlichen Urteils nach Zurückverweisung zu entziehen, wenn er völlig stur und uneinsichtig an seiner Rechtsauffassung ohne sachlichen Grund (vorzeitig) festhält, oder wenn die Entscheidung oder Verhandlungsführung offenkundig nicht von der erforderlichen Sorgfalt getragen ist. Auch das Verhalten nach einem Befangenheitsantrag, den einzelne Richter nicht selten als persönlichen Angriff empfinden, kann die Befangenheit begründen, so wenn etwa unrichtige Tatsachen in der notwendigen dienstlichen Äußerung enthalten sind, wenn gegen die Wartepflicht bzw. das Enthaltungsgebots gemäß § 47 ZPO verstoßen wird800 oder wenn er bei offenkundig die Befangenheit begründenden Umständen, die nicht offen zu Tage treten, die Selbstablehnung unterlässt801. 796
EGMR, NJW 2011, S. 3633. BVerfG (K), NJW 2012, S. 3228. 798 BVerfG (K), NVwZ 2009, S. 582. 799 BVerwG, NJW 2013, S. 225, 226. 800 Vgl. hierzu OVG Bremen, NJW 2011, S. 3259, insbesondere zum Verhältnis des § 47 Abs. 2 Z PO zum Anspruch auf rechtliches Gehör. 797
II. Der rechtliche Rahmen für richterliches Handeln
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Zusammenfassend kann festgestellt werden: Das deutsche Prozessrecht hält mit dem Befangenheitsrecht zur Sicherung der Neutralität und Unparteilichkeit des Richter eine Fülle von rechtlichen Begrenzungen richterlichen Verhaltens bereit, die in anderen Staaten rechtlich nicht geregelt und deshalb dort der richterlichen Berufsmoral unterliegen. ff) Pflicht zur Einhaltung des Verfahrensrechts Die Pflicht zur Gesetzesbindung verlangt auch die Bindung an das Verfahrensrecht. In besonders dramatischer Weise hat nach den Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichts eine Disziplinarkammer (!) mehrere „schwere“ Verfahrensfehler in einem Verfahren begangen, das der Würdigung eines schwerwiegenden Dienstvergehens dienen sollte802. Dabei handelte es sich um Verstöße, die auch die Rechte eines Verfahrensbeteiligten beeinträchtigten. So fehlten ausreichende und widerspruchsfreie Feststellungen zur Tat- und Schuldfrage, war der Kammer nicht bewusst, dass sie sich von den substantiiert angegriffenen strafrichterlichen Feststellungen lösen konnten, wurden gesetzlich untersagte Bezugnahmen auf Aktenteile vorgenommen, die Schuldfeststellung enthielt keine Begründung, die Schuldform wurde nicht angegeben und über zwingende Folgen der Entfernung aus dem Dienst nicht entschieden. gg) Verbot des Auftretens als Bevollmächtigter Nach § 67 Abs. 5 Satz 1 VwGO dürfen Richter zur Vermeidung des Anscheins einer Voreingenommenheit und von Interessenskollisionen nicht als Bevollmächtigte vor dem Gericht auftreten, dem sie angehören. Dies gilt auch, wenn sie in ihrer Eigenschaft als Angehörige der Gerichtsverwaltung die Prozessvertretung für den Präsidenten, dessen Behörde das verfahrensbeteiligte Land als Behörde zu vertreten hat, wahrnehmen803. Nach § 7 Nr. 10 BRAO ist eine gleichzeitige Tätigkeit als Anwalt unzulässig. f) Weitere rechtliche Amtspflichten Die Sorge für eine angemessene Veröffentlichung von Entscheidungen ist eine richterliche Amtspflicht804. Dabei wurden in den letzten Jahren eine Fülle von 801 Die Pflicht zur Selbstablehnung ist zwar streitig. Sie dürfte sich aber aus Art. 101 GG, § 38 DRiG ergeben: BGHZ 141, 95, NJW 2008, S. 1325. Hingegen besteht keine Verpflichtung, in der dienstlichen Äußerung die eigene Sachentscheidung zu rechtfertigen: BVerwG, B. v. 9.07.2008 – 6 PB 17/08 – zit. nach Juris. 802 BVerwG, DVBl. 2011, S. 43. 803 OVG NRW, NVwZ-RR 2015, S. 358. 804 EGMR, NJW, 2009, S. 3145; BVerwG, NJW 1997, S. 2694; OVG Bremen, NJW 1989, S. 926; hierzu: M. Huff, Aktuelle Fragen der Öffentlichkeitsarbeit der Justiz, in:
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D. Elemente einer richterlichen Metaethik
Rechtsgrundsätzen entwickelt, die auch der Richter zu beachten hat. Er hat den Gleichbehandlungsgrundsatz zu wahren, wenn er Entscheidungen kommerziellen Datenbanken oder Fachverlagen zur Verfügung stellt. Die Richternamen sind grundsätzlich zu offenbaren805. Wird die Veröffentlichung von den Richtern im Wege privater Nebentätigkeit veranstaltet, hat die Dienstaufsicht die Wahrung des Gleichheitssatzes zu überwachen806. Im Zusammenhang mit Pressemitteilungen vor oder nach mündlichen Verhandlungen sind einerseits die (landes-)presserechtlichen Auskunftsansprüche von Medienvertretern, das Informationsinteresse der Allgemeinheit, aber auch das Recht der Verfahrensbeteiligten zu beachten807.
III. Verbleibender Raum für Berufsmoral und richterliche Ethik jenseits rechtlicher Amtspflichten Die Untersuchung und Aufstellung dieses umfassenden Katalogs rechtlich begründeter Amtspflichten macht deutlich, dass das dienstliche und außerdienstliche Verhalten des Richters einer Fülle von Rechtspflichten unterworfen ist. Diese Pflichten dienen der umfassenden Sicherung einer uneingeschränkten Aufgabenerfüllung und des dafür notwendigen Vertrauens in ein unabhängiges und faires richterliches Handeln. Der Raum für ein außerrechtliches Normengefüge, also der Berufsmoral und einer sich auf sie beziehenden richterlichen Ethik, ist angesichts des dichten Netzes dieser Rechtspflichten schmal. Eine Übersicht dieser Rechtspflichten und ein Vergleich mit einzelnen ausländischen Richterkodizes zeigen, dass insbesondere für eine richterethische Deontologie kein Platz mehr ist und deshalb keine praktische Notwendigkeit für sie besteht (1.). Allerdings muss auch jenseits des Bedarfs nach einer Richterdeontologie geprüft werden, ob trotz der umfassend rechtlich geregelten Amtspflichten für eine an Handlungsprinzipien orientierte richterliche Tugendethik nicht ein Feld bleibt, das berufsmoralisch und -ethisch geprägt ist (2.).
DRiZ 2007, S. 309 ff. Zu den Grenzen bei Strafurteilen: ThürOVG, B. v. 13.03.2015 – 1 EO 128/15 – aufgehoben durch BVerfG (K), B. v. 14.09.2015 – 1 BvR 857/15, hierzu: Putzke/Zenthöfer, NJW 2015, S. 1777 ff. Zu den Auseinandersetzungen und zum parlamentarischen Nachspiel im Zusammenhang mit der Veröffentlichung des Urteils in der Sache Hoeneß vgl. Drucksache des BayLT-Drs. v. 17.07.2015, Nr. 17/7060. 805 BVerwG, U. v. 01.10.2014 – 6 C 35/13 – zit. nach Juris. 806 Vgl. insoweit auch § 3 Abs. 1 Satz 1 Informationsweiterverwendungsgesetz, das nach Ansicht des VGH BW, NJW 2013, S. 2045 ff. das BVerfG verpflichtet, anderen Anbietern als Juris Entscheidungen und amtliche Leitsätze, und damit auch Orientierungssätze, in gleicher Weise zu überlassen. 807 Huff, Aktuelle Fragen (Fn. 804/D.), DRiZ 2007, S. 310 f.; Trüg, Medienarbeit (Fn. 749/D.), NJW 2011, S. 1040 ff.
III. Verbleibender Raum für Berufsmoral und richterliche Ethik
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1. Absage an die Notwendigkeit einer Richterdeontologie Die nachfolgende Übersicht soll die nach deutschem Recht bestehenden Rechtspflichten gegliedert nach den maßgeblichen richterethischen Grundsätzen exemplarischen richterethischen Kodifizierungen gegenüberstellen, wie sie in anderen Rechtsordnungen ausformuliert wurden: Unabhängigkeit Pflicht, sich unabhängig zu halten
Deutsches Recht
Richterethische Kodizes (Exemplarisch)
Art. 33 Abs. 5, 92, 97 GG; Prinzipien von Bangalore Ausschluss- und Befangen- (im Folgenden: PB) heitsregeln (1.1 ff.)808; C. 1, 3 (C) Code of conduct – CoC (USA) Art. 1, 2 8 Ital. Codice de deontologia (Im Folgenden. Cdd)809
Pflicht, die Gewaltenteilung Art. 20 Abs. 2 und 3 GG; zu achten § 4 DRiG Pflicht, den gesetzlichen Richter zu wahren • Pflicht zur Zuständigkeitsprüfung
Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG
Pflicht zur Amtstracht
Art. 33 Abs. 5 GG
C. 2 (A), 4 CoC (USA)810, PB (1.3, 4.11 a), b)), Art. 8 Cdd PB (2.5 Nachsatz)
§§ 17 ff. GVG
Unparteilichkeit Pflicht zur Unparteilichkeit Art. 92, 97 GG; AusPB (1.2, 2.1 ff., 2.5, 4.3 ff., und Neutralität schluss- und Befangenheits- 4.14, 5.2, 5.5); C. 3 CoC regeln (USA)811; Art. 1, 2 und 9 Cdd Pflicht zur Mäßigung und Zurückhaltung
808
Art. 33 Abs. 5 GG; § 39 DRiG
C. 4 und 5 CoC (USA)812, PB (2.4, 4.3, 4.6), Art. 1, 8 und 9 Cdd
Prinzipien von Bangalore (siehe oben Fn. 18/C.). Vgl. zum Text Fn. 156/II. 810 Die berufsmoralischen Regelungen in den USA sind zum Teil enger, zum Teil weiter: vgl. für die Tätigkeit an Hochschulen bzw. für die Regierung: Sandhaus, Richterliche Ethik (Fn. 890/C.), S. 480 f. 811 Regelung des kompletten Befangenheitsrechts als berufsmoralische Regelung nach Sandhaus, Richterliche Ethik (Fn. 890/C.), S. 481. 812 Hierzu Sandhaus, Richterliche Ethik (Fn. 890/C.), S. 481: Niederlegung des Richteramtes bei Kandidatur für politisches Amt. 809
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D. Elemente einer richterlichen Metaethik
Integrität
Deutsches Recht
Treuepflicht • Pflicht, Verfassung zu verteidigen
Art. 33 Abs. 5, 98 Abs. 2 und 5 GG; §§ 9, 38 DRiG
Pflicht zur Eidesleistung
§§ 21 Abs. 2 Nr. 1, 38 DRiG
Pflicht zur Amtsverschwie- Art. 33 Abs. 5 GG; § 43 genheit DRiG; §§ 353 und d StGB
Richterethische Kodizes (Exemplarisch) PB (3.1, 4.2)
PB (4.10), Art.53 Cdd
Pflicht zur Unbestechlichkeit • Verbot der Annahme von Geschenken, Belohnungen oder sonstigen Vorteilen
Art. 92 GG; §§ 46, 71 DRiG i.V. m. § 61 BBG; § 34, 2 und 3 BeamtStG; §§ 331 ff. StGB
PB (4.7 ff., 4.14 ff.), C. 2 (b), 4 CoC (USA); Art. 2, 10 Cdd
Pflicht zum vertrauensvollen Verhalten
Art. 33 Abs. 5 GG; § 42 BeamtStG
PB (3.2, 4.1), Art. 1 Cdd
Pflicht zum vollen Einsatz
Art. 33 Abs. 5 GG; §§ 46, 71 DRiG i.V. m. Beamtenrecht
PB (6.1), Art. 3 Cdd
Fortbildungspflicht; Pflicht Art. 33 Abs. 5 GG; Bunzur fachlichen Qualifikadesrichter: § 46 DRiG, tion § 61 Abs. 2 BBG; § 38 DRiG; §§ 5 ff. DRiG
PB (6.3 f.), C. 3 (A) (1) CoC (USA); Art. 3 Cdd
Pflicht zu bestimmten Nebentätigkeiten
§ 42 DRiG
PB (6.2)
Verbot bzw. Beschränkung von Nebentätigkeiten • Verbot als Schiedsrichter Schlichter aufzutreten
§§ 40, 41 DRiG; §§ 46, 71 C. 4. CoC (USA)813, PB DRiG i.V. m. Beamtenrecht (4.11 a) ff. 6.1)
Verbot als Anwalt tätig zu sein
§ 7 Nr. 10 BRAO
Gerechtigkeit
§ 38 DRiG
Schutzpflicht für Grundund Menschenrechte
Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 2 und 3 GG
PB (5.1, 6.4), C. 2 (C) CoC (USA); Art. 9 und 11 Cdd
Bindung an Recht und Gesetz
Art. 20 Abs. 2 und 3, 97 Abs. 1, 100 GG; § 38 DRiG; § 339 StGB
PB (Einleitung), C. 3 CoC (USA); Art. 11 Cdd
Verbot zu schädigen
§ 839 BGB; §§ 239 ff. StGB, §§ 343 ff. StGB
PB (6.5)
813 814
C 4 (A) CoC (USA)814, PB (4.12 ff.)
Hierzu Sandhaus, Richterliche Ethik (Fn. 890/C.), S. 480. Hierzu Sandhaus, Richterliche Ethik (Fn. 890/C.), S. 480.
III. Verbleibender Raum für Berufsmoral und richterliche Ethik Gerechtigkeit Willkürverbot und Gleichbehandlungsgebot
Deutsches Recht Art. 3 GG
463
Richterethische Kodizes (Exemplarisch) PB (5.1 ff.), Art. 12 Cdd
Fairness Pflicht zum fairen Verfahren • Verbot der übermäßig strengen Handhabung verfahrensmäßiger Schranken • Gebot der sachgerechten Auslegung von Anträgen • Gebot der Wahrung der Waffengleichheit der Beteiligten
Art. 2 Abs. 1 i.V. m. Art. 20 PB (2.4, 5.1 ff., 6.5), C. 3 Abs. 3 GG/Art. 6 EMRK; (A CoC (USA); Art. 11 Cdd § 26 Abs. 1 DRiG
Pflicht, rechtliches Gehör zu gewähren • Pflicht Akteneinsicht zu gewähren, • Aufklärungspflicht
Art. 103 GG
z. B. § 139 ZPO, § 86 VwGO Art. 3, 20 Abs. 3 GG
Im Rahmen der jeweiligen Prozessordnung
Pflicht zur sozialstaatlichen Art. 20 Abs. 1 GG Rechtsprechung Wahrheit
PB (5.1)
§ 38 DRiG; § 348 StGB; § 123 BGB
§§ 169 ff. GVG Pflicht zur Öffentlichkeit des Verfahrens § 173 GVG • Pflicht zur öffentlichen Entscheidung Pressegesetze; § 70 BBG • Amtspflicht auf Veröffentlichung von Entscheidungen Gebot der bestmöglichen Sachaufklärung
PB (6.5), C. 3. CoC (USA); Art. 11 und 12 Cdd
C. 3 (A) CoC (USA) Art. 6 Cdd
Art. 2 Abs. 1 i.V. m. Art. 20 PB (6.5), Art. 3 Cdd Abs. 3 GG/Art. 6 EMRK
Aufklärungs- und Hinweis- Art. 103 GG; § 139 ZPO, pflichten § 86 VwGO
PB (6.5), Art. 12 Cdd
Gewährung von Rechtsschutz Pflicht zur Rechtsschutzgewährung • Dienstpflicht • Pflicht zum vollen Einsatz
Art. 19 Abs. 4, 20 Abs. 3, 92 GG Art. 33 Abs. 5 GG; §§ 46, 71 DRiG i.V. m. § 61 BBG bzw. § 34 BeamtStG
PB (6.5), C. 3 (A) CoC (USA); Art. 3, 11 Cdd
464
D. Elemente einer richterlichen Metaethik
Gewährung von Rechtsschutz
Deutsches Recht
Richterethische Kodizes (Exemplarisch)
Pflicht, das Verfahren zu Art. 19 Abs. 4, 20 Abs. 3 PB (6.5), C 3 (A) CoC betreiben; Verbot der Untä- GG; Disziplinarrecht; (USA); Art. 3. 11 Cdd tigkeit § 336 StGB; gesetzl. Fristen Pflicht, in angemessener Zeit zu entscheiden
Art. 19 Abs. 4, 20 Abs. 3 PB (6.5), C 3 (A) CoC GG; § 26 DRiG; §§ 198 ff. (USA); Art. 3 Cdd GVG; § 839 BGB
Pflicht, die anerkannten Methoden einzuhalten
Art. 20 Abs. 2, 3 GG
PB (6.5)
Pflicht zur Begründung der Art. 20 Abs. 2, 3 GG; Pro- Art. 12 Cdd Entscheidung zessrecht Pflicht zum geordneten Verfahren
§ 139 ZPO, §§ 169 ff. GVG PB (6.6); C. 3 (A) CoC (USA)
Abstimmungspflicht im Spruchkörper
§ 195 GVG
Pflicht zur Sorgfalt
Art. 20 Abs. 2, 3 GG; PB (6.2 ff.), C. 3 CoC §§ 46, 71 DRiG i.V. m. Be- (USA); Art. 3 Cdd amtenrecht; § 38 DRiG
PB (1.4)
Pflicht zur Eingliederung in Art. 33 Abs. 5 GG; § 26 den Dienstbetrieb Abs. 1 DRiG; Disziplinarrecht
PB (1.5, 3.2, 6.2), C 3 (B) CoC (USA); Art. 4 Cdd
Pflicht zur Erfüllung der Arbeitszeit (nicht Einhaltung der Dienstzeiten)
Art. 33 Abs. 5 GG; §§ 46, 71 DRiG i.V. m. Beamtenrecht
PB (6.5)
Streikverbot
Art. 33 Abs. 5 GG
Durch eine Darstellung der rechtlich begründeten und sanktionierten Dienstund Amtspflichten und durch einen Vergleich mit bestehenden richterlichen Ethikkodizes lässt sich feststellen, dass es keiner deontologischen Richterethik bedarf. Der Raum für außerrechtliche konkrete berufsmoralische Ge- und Verbote ist zu gering. 2. Bedarf und Möglichkeiten einer richterlichen Tugendethik Die oben festgestellte rechtliche Unzulässigkeit und der mangelnde Bedarf einer Richterdeontologie, also einer Sollens- oder Pflichtenethik des Richters, erledigt das Problem seiner Berufsmoral aber nicht. Über alle definierten Rechtspflichten hinaus verweist das Richterrecht, insbesondere der Amtseid, auf das Ethos des richterlichen Amtes815. Dass es jenseits von Ge- und Verboten, die im 815
Isensee, Vom Ethos des Interpreten (Fn. 118/D.), S. 390.
III. Verbleibender Raum für Berufsmoral und richterliche Ethik
465
Wesentlichen durch rechtliche Amtspflichten bestimmt werden, weitere normative Verhaltenserwartungen an die Art und Weise der richterlichen Amtsausübung gibt, die sich auf die Haltungen gegenüber Prozessbeteiligten sowie gegenüber den Kollegen und Mitarbeitern, in und gegenüber der Öffentlichkeit, in politischen Fragen, gegenüber der Rechtsidee oder auf die Haltung des Richters zu sich selbst beziehen, ist offenkundig. Offenkundig deshalb, weil sie im Falle ihrer Verfehlung jenseits des Vorgehens mit den Mitteln des Rechts (Befangenheitsanträge, dienstaufsichtliche und disziplinarische Maßnahmen, Rechtsmittel, Schadensersatz- und Entschädigungsklagen) Anlass zur Empörung, Widerspruch und Konflikt führen. Prägnant fasst dies Heussen zusammen: „Wenn ein Richter für sein Verhalten rechtliche Spielräume hat, sollte er sich ethisch so verhalten, dass er die Grundlagen seiner eigenen Tätigkeit nicht in Frage stellt oder gar zerstört: Sie bestehen im Vertrauen des Staates und der Prozessbeteiligten auf der richtigen Interpretation seiner Rolle im Rechtssystem und seinem unbedingten Willen, Willkür zu vermeiden und der Gerechtigkeit im Verfahren und im Ergebnis eine faire Chance zu sichern.“ 816 Der mögliche Inhalt dieser außerrechtlichen normativen Verhaltenserwartungen wird im folgenden Kapitel herzuleiten sein. Dabei muss hier nur so viel festgestellt werden: Nicht in rechtliche Kategorien zu übersetzende Haltungen der Fürsorge, Mitmenschlichkeit, Zurückhaltung, Sorgfalt, Anstrengungsbereitschaft, Wille zur umfassenden Rechtsanwendung, Offenheit, Zugänglichkeit, Mut, Gelassenheit, Verständlichkeit etc. lassen sich nicht oder nur schwer in konkrete moralische Ge- und Verbote übersetzen, sie könnten aber Gegenstand einer Tugend- oder Strebensethik des Richters sein. Diese Ethik könnte zum einen die rechtlichen Pflichten ergänzen und ihre Beachtung sicherstellen. Zum anderen wirkt sie auf den Richter in der Art einer Optimierung eigener Stärken und Ressourcen, um die innere Unabhängigkeit zu wahren. Sie verweist auf die Realisierung eines Richterideals, dass als Leitbild den Bestimmungen des Grundgesetzes und dem Richterrecht zugrunde liegt. Aus der normativen Offenheit und dem zurückhaltenden moralischen Anspruch der Tugendethik, insbesondere seinem nicht unmittelbar bindenden Charakter, könnte sich daher – wie oben geschehen – nicht nur dessen rechtliche Zulässigkeit ableiten lassen. Sie wäre dadurch für das richterliche Berufsfeld auch die sachliche angemessenste Form richterlicher Berufsmoral. Sie betreibt keine Verhaltenssteuerung durch schwer zu rechtfertigende, nichtrechtliche Geund Verbote an den Richter, sondern wirkt in Realisierung richterlicher Handlungsprinzipien auf dessen Haltungen in verschiedenen Bewährungsfeldern. Die richterliche Unabhängigkeit wäre nicht berührt, zum einen weil sie keine konkreten Handlungsvorgaben für richterliches Entscheidungsverhalten aufstellt, son-
816
Heussen, Berufsethik (Fn. 6/A.), NJW 2015, S. 1927, 1933.
466
D. Elemente einer richterlichen Metaethik
dern allenfalls nachträglicher Maßstab ist, ob der Richter den Forderungen seines Berufes folgte. Zum anderen bietet sie Bewertungen an, die bei einer richterlichen Selbst- oder Kollegialberatung für moralische Dilemmata Entscheidungshilfe sein könnte. Allerdings soll nicht verhehlt werden, dass sie – werden diese Maßstäbe und Bewertungen im Einzelfall verfehlt – Grundlage eines moralischen Urteils werden können, eben dem berufsmoralischen Urteil des Richters über sich selbst oder der Kollegen bzw. der Prozessbeteiligten oder Außenstehenden über ihn.
E. Prinzipien einer normativen richterlichen Ethik Als Ergebnis der vorangegangenen Ausführungen kann festgehalten werden, dass – anders als einer Richterdeontologie – in Deutschland einer richterlichen Tugendethik weder rechtliche, insbesondere verfassungsrechtliche Einwände noch ihre praktische Überflüssigkeit entgegengehalten werden können. Sie ist mithin rechtlich möglich. Für sie besteht aber auch Bedarf. Für den Raum berufsmoralischer Bewährung und hierauf bezogener Forderungen sind im Folgenden die Struktur, normative „Dichte“ und die möglichen Inhalte einer richterlichen Tugendethik näher zu bestimmen. Es ist auch zu fragen, ob und wie sie sich normativ begründet und herleitet, insbesondere ob sie rechtsfrei, d.h. als eine vom Recht völlig gelöste Berufsmoral denkbar ist, und welche Prinzipien, Werte und hieraus abgeleitete Haltungen sie prägen1. Unter Werten versteht man dabei die bewussten oder unbewussten Orientierungsstandards und Leitvorstellungen, von denen sich Individuen und Gruppen bei ihrer Handlungswahl leiten lassen2. Haltungen sind in einem längeren Einübungs- und Aneignungsprozess erworbene Persönlichkeitseigenschaften, die bei konkreten Entscheidungen ein prinzipien- und wertegeleitetes Verhalten erwarten lassen. Dieser Ansatz steht im Gegensatz zu einer durch Regeln begründeten Ethik, die stets strikt einzuhalten sind. Zunächst ist grundsätzlich festzustellen, dass es hier nicht um eine universale, aus dem „Wesen“ des Richterberufs abgeleitete Tugendethik gehen kann, sondern – bescheidener und realistischer – um eine derzeit in und für deutsche Richter bestehende. Diese Beschränkung, die sich zum einen bereits aus dem Konzept der Tugendethik als kontextbezogene Moral, zum anderen mit den nationalen Besonderheiten richterlicher Tätigkeit und mit der rechtlichen Durchnormierung richterlichen Verhaltens im jeweiligen Staat erklärt, führt dazu, dass die Begründung einer richterlichen Ethik für deutsche Richter von einer Reihe von Problemen entlastet ist. Denn bekanntermaßen ist die Herleitung ethischer Regeln, im Sinne einer deontologischen Ethik, allgemein mit dem Letztbegründungsproblem 1 Tugendethiker weisen zwar Prinzipien und Pflichten, die bestimmen, was zu tun ist und was nicht, als generelle moralische Normen grundsätzlich zurück (vgl. Rippe/Schaber, in: K. P. Rippe/P. Schaber (Hrsg.): Tugendethik, Stuttgart 1998, S. 8 f.). Sie benötigen aber für die moralische Beurteilung von Handlungssituationen normative Maßstäbe, die die jeweils maßgebliche Tugend prägen. Auch wenn die Tugendethik eine Ableitung aus moralischen Normen vermeiden will, lässt sich der Zusammenhang – dies zeigt sich auch im Folgenden – nicht vermeiden. 2 Horn, Art. Wert, in: O. Höffe, Lexikon (Fn. 15/A.), S. 344 f.
468
E. Prinzipien einer normativen richterlichen Ethik
und dem Risiko des infiniten Diskurses bzw. Regresses belastet. Die richterliche Berufsethik wäre es dann nicht, wenn es zulässig wäre, die Inhalte einer richterlichen Tugendethik als angewandte Ethik aus den für den Richterberuf verfassungsrechtlich vorgegebenen Rechtsprinzipien und -werten im Sinne einer Suche nach den durch sie geforderten moralischen Haltungen und Dispositionen, also Tugenden, abzuleiten. Dies böte zum einen die Chance – anders als in der allgemeinen Ethik – bei ihrer Regeldefinition nicht an dem Problem des Dilemmas der Letztbegründung ethischer Werte zu scheitern und zum anderen entsprechend den Begründungsmustern der angewandten Ethik Maßstäbe für die Beurteilung der Haltungen des Richters – damit indirekt auch für sein Verhalten – zu gewinnen. Umgekehrt müsste sich dieser Ansatz mit dem berechtigten Einwand auseinandersetzen, dass Recht und Moral, sei es in der Herleitung, sei es im Anwendungsbereich, grundsätzlich zu trennen sind. Dabei macht der zwingende Zusammenhang zwischen Recht und Moral im richterlichen Berufsfeld schnell klar, dass eine richterliche Ethik keine „reine“ 3 Tugendethik, die allein den moralischen Maßstab an die Haltung des Richters anlegt, sondern nur eine „gemischte“ Tugendethik sein kann, die also (rechtliche) Prinzipien, Werte, aber auch Regeln berücksichtigen muss4. Damit geht es im Folgenden um die Beantwortung der dritten Teilfrage der Problemexposition aus dem Kapitel D., nämlich um die normativ-inhaltlichen Probleme der richterlichen Ethik.
I. Tugendethik als Modell der richterlichen Ethik 1. Begriff, Struktur und Probleme der Tugendethik Bevor allerdings der normative Gehalt bzw. der Bestand normativ geprägter Haltungen einer richterlichen Tugendethik entwickelt werden kann, ist zunächst über das im Kapitel B5 bereits Geleistete hinaus das grundsätzliche Konzept der Tugendethik, ihr Begriff, ihre Herleitung und Struktur zu umreißen: Die Tugendethik6 steht nach heutigem ethischem Verständnis zum einen neben der Pflichtenethik, die das jeweils sittlich gebotene und verbotene Handeln zum Gegenstand hat (deontologische Ethik), und zum anderen neben der ethischen Güterlehre, die die anzustrebenden Ziele, Zwecke und Güter menschlichen Ver3 Vgl. zum Unterschied zwischen „reiner“ und „gemischter“ Tugendethik: Rippe/ Schaber, Tugendethik (Fn. 1/E.), S. 16. 4 Zum Verhältnis von Norm- und Tugendethik: J. Schuster, Moralisches Können. Studien zur Tugendethik, Würzburg 1997, S. 27 f., 51 f., 85 f. 5 Vgl. dort: III. 6. c). 6 Vgl. grundlegend Ch. Halbig, Der Begriff der Tugend und die Grenzen der Tugendethik, Berlin 2013. Zum Folgenden: Art. Tugendethik, in: Prechtl/Burkhard, Metzler Lexikon der Philosophie, S. 628.
I. Tugendethik als Modell der richterlichen Ethik
469
haltens, allgemeiner ihre Folgen, näher betrachtet (teleologische Ethik, z. B. Utilitarismus)7. Die ethischen Theorien, die die menschlichen Tugenden untersuchen, betrachten und bewerten demgegenüber in erster Linie die Person des Handelnden8. Die ethische Qualität einer Handlung ist dabei dann gut, wenn die handelnde Person tugendhaft ist9. Thomas von Aquin formulierte: „Tugend ist, was den, der sie hat, gut macht und sein Werk gut sein lässt“ 10. Es geht also nicht in erster Linie um die Erfüllung moralischer, heteronom vorgegebener Pflichten, sondern die selbsterzieherische Einübung von Grundhaltungen11, die nicht allein dem Besitz, sondern letztlich der Verwirklichung eines ethisch anerkannten Wertes oder Prinzips im Handeln dienen. Die Tugendethik bleibt damit auf die Realisierung eines sittlichen Gutes (insbesondere des „guten Lebens“ 12) gerichtet und legt dessen angemessene Anwendung auf den Einzelfall in eine ethisch geübte autonom agierende Person. Damit löst sich die Tugendethik weder vollständig von der Deontologie noch von der ethischen Güterlehre, sondern versucht sie zu integrieren, wenn auch der maßgebliche Bewertungsaspekt die handelnde Person und ihre Haltungen sind. Zentraler Begriff dieses ethischen Konzepts ist die Tugend13 (griech. retÞ14; lat. virtus15). „Tugend“ leitet sich im Deutschen etymologisch von „taugen“ oder „Tauglichkeit“ ab und bezeichnet damit zunächst die Eigenschaft einer Person, die sie zum Erreichen eines bestimmten Zwecks oder zum Erfüllen einer wertvollen Leistung befähigt. „Eine Tugend ist eine erworbene menschliche Eigenschaft, deren Besitz und Ausübung uns im allgemeinen in die Lage versetzt, die Güter zu erreichen, die einer Praxis inhärent sind, und deren Fehlen wirksam verhindert, solche Güter zu erreichen.“ 16 Diese Eigenschaft ist dabei positiv und als 7 Vgl. zur Unterscheidung der Haupttypen der Ethik (Deontologie, Teleologie, Tugendethik): Quante, Einführung (Fn. 315/B.), S. 126 ff. 8 Vgl. Rippe/Schaber, Tugendethik (Fn. 1/E.), S. 10. 9 Vgl. Höffe, Art. Tugend, in: O. Höffe, Lexikon (Fn. 15/A.), S. 319. 10 S. Th. I–II q 55 a 3; zur Tugendethik des Thomas von Aquin: D. Hübner, Einführung in die philosophische Ethik, Stuttgart 2014, S. 138 ff. 11 Hierzu S. Radic, Die Rehabilitierung der Tugendethik in der zeitgenössischen Philosophie. Eine notwendige Ergänzung gegenwärtiger Theorie in der Ethik, Berlin 2011, S. 60 f. 12 Quante, Einführung (Fn. 315/B.), S. 139 f. 13 Höffe, Art. Tugend, in: O. Höffe, Lexikon (Fn. 15/A.), S. 317 ff. Art. Tugend, in: Mittelstraß (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Bd. 4, S. 344 ff. J. P. Wills Art. Tugend, in: Düwell u. a., Handbuch Ethik (Fn. 41/A.), S. 534. Art. Tugend, in: Prechtl/Burkhard, Metzler Lexikon der Philosophie, S. 627. 14 Zur Übersetzung von „arete“ in das deutsche Tugend ist allerdings zu beachten, dass in der Antike eher die nicht normative Vorstellung von Tauglichkeit oder „Gutheit“ (gut für) gemeint war. 15 Das lateinische Wort „virtus“ leitet sich von „vir“ („Mann“) ab. Es könnte mit dem alten Wort „Mannhaftigkeit“ also vor allem als Tapferkeit verstanden werden. 16 MacIntyre, Verlust der Tugend (Fn. 61/A.), S. 255 f.
470
E. Prinzipien einer normativen richterlichen Ethik
erstrebenswert bewertet, wie die Begriffe „vorzüglich“ oder „vortrefflich“ 17 signalisieren, die den „Tugendhaften“ auszeichnen. Dabei ist sie im modernen ethischen Verständnis nicht nur passiv – etwa als lobenswerte Charaktereigenschaft – zu verstehen, sondern ist als Haltung oder Befähigung aktiv auf die Verwirklichung eines ethischen Wertes oder Gutes ausgerichtet (moralisches Können). Tugenden einer Person, die stets im Mittelpunkt der Tugendethik stehen, beziehen sich also auf Ziele und erhalten dadurch ihren ethischen Gehalt. Maßgeblich für die Tugend ist ihr Erwerb. Sie kommt dem Menschen nicht kraft seines Personseins, seines Stands, seiner Stellung oder des Berufs automatisch zu18, sondern ist im Wege eines Prozesses der Gewöhnung und Einübung erst zum Bestandteil des eigenen Handlungs- und Haltungsrepertoires zu machen, das dann den moralischen Charakter prägt19. Diese Einübung kann zur Kultivierung der Emotionalität und Sozialität20 beitragen und so ein höheres Maß rationalen Handelns fördern. Der Erwerb wiederum setzt damit indirekt die Freiheit voraus, den Erwerbsprozess in Gang zu setzen oder nicht. Der Gedanke dieses Erwerbsprozesses steht bereits am Beginn der philosophischen Tugendethik und mündet in eine Tugendlehre21. Er setzt außerdem die Bereitschaft und das sittliche Können voraus22, in Verantwortung die Tugenden bzw. das Ziel, auf das die Tugend gerichtet ist, im konkreten Handlungsfall anzustreben. Die Umsetzung im Einzelfall verlangt die Fähigkeit, dispositionsgerecht zu handeln, die regelmäßig wiederum durch die Tugenden Mut, Klugheit, Besonnenheit und Geduld geprägt sind23. Der maßgebliche und bis heute wegweisende Begründer der Tugendethik war Aristoteles24, der ausgehend von der These, dass Glück durch das tugendhafte 17 Art. Tugend, in: Prechtl/Burkhard (Hrsg.), Metzler Lexikon der Philosophie, S. 627. 18 Vgl. Art. Tugend, in: Prechtl/Burkhard (Hrsg.), Metzler Lexikon der Philosophie, S. 626 ff., wo dieser Aspekt auch aus der Entwicklung des griechischen Denkens abgeleitet wird. 19 Zum Problem des Charakters im moralischen Sinne bzw. Charakter als Persönlichkeit sowie dem Prozess der Aneignung Schuster, Moralisches Können (Fn. 4/E.), S. 13 f.; Feindt, Beamtenethos (Fn. 3/B.), DÖD 1981, S. 3. 20 In diesem Sinne: Radic, Rehabilitierung (Fn. 11/E.), S. 135 ff., 150 ff. 21 Art. Tugendlehre, in: Prechtl/Burkhard (Hrsg.), Metzler Lexikon der Philosophie, S. 628 f. 22 Hierzu Schuster, Moralisches Können, (Fn. 4/E.). Höffe, Art. Tugend, in: O. Höffe, Lexikon (Fn. 15/A.), S. 317. 23 Vgl. Rippe/Schaber, Tugendethik (Fn. 1/E.), S. 11. 24 Vgl. Hübner, Einführung (Fn. 10/D.), S. 110 ff. sowie Höffe, in: Rippe/Schaber, Tugendethik (Fn. 1/E.), S. 42 ff. Natürlich kann Platon und der in seinen Dialogen auftretende Sokrates insoweit nicht auf die Seite gestellt werden. Aber Sokrates – in der Darstellung des Platon – ist kein Wissenschaftler und Platon verfolgt in seiner Politeia ein eher geschlossenes, statisches, nicht aber wie ein offenes, handlungsorientiertes Tugendkonzept; vgl. hierzu Art. Tugend, in: Prechtl/Burkhard (Hrsg.), Metzler Lexikon der Philosophie, S. 627 ff. Platon hat allerdings im Zusammenhang mit der Entwick-
I. Tugendethik als Modell der richterlichen Ethik
471
Leben im „gelungenen Leben“ zusammenfallen25, dem Begriff der Tugend einen besonderen Stellenwert in seiner Lehre eingeräumt hat. Für ihn bedarf es nämlich für die Ausübung der Wahlfreiheit, die das Handeln zum angestrebten Ziel führen können, leitender Kriterien, die er in der Vernunftgemäßheit und der Tugend sieht26, „. . . weil die Willenswahl ohne Klugheit und ohne Tugend nicht recht geraten kann. Diese lässt uns das Ziel bestimmen, jene die Mittel dazu gebrauchen.“ 27 Aristoteles grenzt den Tugendbegriff von bloßen Fertigkeiten und Techniken ab, die keine moralische Qualität haben28. Maßgeblich ist für ihn die Ausrichtung auf die Vernunft. Er unterscheidet demgemäß einerseits zwischen Verstandes- oder dianoetischen Tugenden, die von Wissen, Einsicht, Weisheit, Kunst und Klugheit (phronesis) geprägt sind, aber durch belehrenden Unterricht entstehen und wachsen. Andererseits grenzt er diese von Charakter- oder ethischen Tugenden29 ab, die auf das Wahrnehmen, Empfinden und Verlangen nach einem bestimmten Gut (bei Aristoteles der Eudaimonia) ausgerichtet sind, und von der Vernunft, insbesondere der Klugheit gesteuert werden können30. Sie werden praxisbezogen durch kluge Entscheidung und Gewöhnung an sittliche Grundhaltungen erworben. Zur Erkenntnis und näheren Bestimmung dessen, was jeweils „angemessen“ oder tugendhaft ist, bietet er seine Mesotes-Lehre (Weg der „Mitte“ oder des rechten Maßes) an: „Die Mitte aber liegt zwischen zwei Schlechtigkeiten, dem Übermaß und dem Mangel. (. . .) Darum ist die Tugend hinsichtlich ihres Wesens und der Bestimmung ihres Was-Seins eine Mitte (Mesotes), nach der Vorzüglichkeit und der Vollkommenheit aber das Höchste.“ 31 Ihrer Gattung nach ist „die Tugend ein Verhalten der Entscheidung [auch Haltung oder „Hexis“], begründet in der Mitte in Bezug auf uns, einer Mitte, die durch Vernunft bestimmt wird, und danach, wie sie der Verständige bestimmen
lung der grundlegenden Tugenden die Kardinaltugenden formuliert: Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Mäßigung: Hierzu Höffe, Art. Tugend, in: O. Höffe, Lexikon (Fn. 15/A.), S. 318; zum platonischen Tugendkonzept allgemein: Hübner, Einführung (Fn. 10/D.), S. 101 ff.: Die zentrale individuelle Tugend der Gerechtigkeit liegt danach in der Erhaltung des harmonischen Gleichgewichts der Seelenteile; bezogen auf den Staat in der harmonischen Erfüllung der dem jeweiligen Stand zukommenden Aufgaben und Befähigungen. 25 Hierzu auch: O. Höffe, Lebenskunst und Moral, München, 2007. 26 Art. Tugend, in: Prechtl/Burkhard (Hrsg.), Metzler Lexikon der Philosophie, S. 627. Nach Halbig, Begriff (Fn. 6/D.), S. 11, bemüht sich die Tugendlehre um ein Verständnis, was Tugenden sind: ihrer Ontologie, Epistemologie und ihrer handlungstheoretischen Bedeutung. 27 Aristoteles, Nikomachische Ethik (Fn. 21/B.), 1145, a3–6. 28 Hübner, Einführung (Fn. 10/D.), S. 115 f. 29 Hierzu zählt Aristoteles: Tapferkeit, Besonnenheit, Großherzigkeit, Hilfsbereitschaft, Ehrbewusstsein, Seelengröße, Sanftmut, Wahrhaftigkeit, Höflichkeit, Gewandtheit, Gerechtigkeit; hierzu im Einzelnen: Hübner, Einführung (Fn. 10/D.), S. 123 ff. 30 Hübner, Einführung (Fn. 10/D.), S. 117 f. 31 Aristoteles, Nikomachische Ethik (Fn. 21/B.), 1106, b37, 1107, a8.
472
E. Prinzipien einer normativen richterlichen Ethik
würde.“ 32 In diesem Sinne ist etwa die Tapferkeit die Mitte zwischen Feigheit und Tollkühnheit, die Besonnenheit die Mitte zwischen Zügellosigkeit und Stumpfheit, Großzügigkeit die Mitte zwischen Verschwendung und Kleinlichkeit oder Geiz. Die Klugheit mithin leitet dabei sowohl die kognitive Entscheidung für das jeweils mittlere und ihre Umsetzung in konkretes Handeln. Die im vorliegenden Zusammenhang einer richterlichen Ethik besonders bedeutsame Tugend ist die Gerechtigkeit. Aristoteles unterscheidet – anders als Platon – zwischen der Gerechtigkeit33 im weiteren Sinne (iustitia generalis), die neben der Gesamtheit aller ethischen Tugenden auch die Achtung der Gesetze erfasst (iustitia legalis), und im engeren Sinne (iustitia specialis), die die angemessene Haltung des Zuteilens und Korrigierens und zwar sowohl im austeilenden (iustitia distributiva) wie im ausgleichenden Sinne (iustitia commutativa), meint. Betrifft erstere den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und den Gleichheitsgrundsatz, spricht der zweite eher die Fairness im Austausch zwischen Privaten bzw. den Ausgleich bei Vergehen an. Bei Thomas von Aquin ist die Gerechtigkeit die Kardinaltugend des Willens, der kein Ort von Leidenschaften ist und stattdessen in direkter Wahl die äußeren Handlungen bestimmt34. Tugend ist demnach und zusammenfassend eine vorzügliche und konstante Haltung, die in Freiheit durch die Vernunft bestimmt wird und die man durch Einübung bzw. Erziehung erwerben muss. Wenn Tugenden so verinnerlicht sind, handelt der Mensch um der Tugend willen und tut dies aus Neigung. Die Übung kann damit den Charakter des Handelnden dauerhaft prägen35, seine moralische Disponiertheit strukturieren36 und ein Muster liefern, wie er bei auftretenden Entscheidungssituationen jeweils richtig und angemessen entscheidet. Die Tugend wird damit zum Habitus der Person37. Mit dem Primat der Tugend soll sichergestellt sein, dass als richtig empfundene moralische Normen und Regeln konkret durchgesetzt werden. Damit wird auch deutlich, dass sich die Tugendethik nicht radikal von deontologischen oder teleologischen Ethikkonzepten entfernt, sondern eher auf deren Wirksamkeit achtet38. Hauptvertreter der nachaufklärerischen39 und einer an Aristoteles angelehnten40 Begründung der Tugendlehre ist neben Elisabeth Anscombe41 vor allem42 32
Aristoteles, Nikomachische Ethik (Fn. 21/B.), 1106, b36. Hübner, Einführung (Fn. 10/D.), S. 125 ff. 34 Hübner, Einführung (Fn. 10/D.), S. 143 f. 35 Höffe, Art. Tugend, in: O. Höffe, Lexikon (Fn. 15/A.), S. 317. 36 Wills, Art. Tugend, in: Düwell u. a., Handbuch Ethik (Fn. 41/A.), S. 534. 37 Wills, Art. Tugend, in: Düwell u. a., Handbuch Ethik (Fn. 41/A.), S. 535. 38 Vgl. Rippe/Schaber, Tugendethik (Fn. 1/E.), S. 13 f. 39 Vgl. zur Begriffsgeschichte: Wills, Art. Tugend, in: Düwell u. a., Handbuch Ethik (Fn. 41/A.), S. 534 f. Tugendethische Konzepte wurden am Beginn der Moderne zugunsten deontologischer und teleologischer zurückgedrängt. Erst seit den 50er Jahren 33
I. Tugendethik als Modell der richterlichen Ethik
473
Alaisdair MacIntyre43. In seinem Hauptwerk „After Virtue. A Study in Moral Theory, 1981“ (dt. 1995: Der Verlust der Tugend) versuchte er in – zum Teil polemischer – Abgrenzung zur „rationalistischen“ und letztlich deontologischen Moral der Aufklärung seit Kant44, bei dem „Tugendhaftigkeit“ in der Verwirklichung der Pflicht bestehe, seine Fähigkeit zu vernunftbestimmtem und am kategorischen Imperativ gemessenen Handeln zu gebrauchen45, die Tradition der Tugendethiken wiederbeleben46. MacIntyre hält die Ansätze der aufklärerischen Handlungsethiken, die Kriterien moralisch richtiger Entscheidung in den Mittelpunkt rückten, für ebenso gescheitert wie den Utilitarismus und die (analytische) Metaethik47. Sie seien als universalistische Begründungs- und Erklärungskonzepte auch deshalb gescheitert, weil sie keine konkrete Orientierung lieferten. Er richtete sein Augenmerk auf die moralisch angemessenen Haltungen, Einstellungen, Dispositionen und Charaktermerkmale, deren Maßstäbe aus der jeweiligen moralischen Gemeinschaft und sozialen Lebenswelt abzuleiten sind und in die sich der jeweilige Akteur einüben sollte. Dieser Kontextbezug der Tugend, der auch ihren Inhalt prägt, wurde von kommunitaristischen Autoren wie Michael Sandel, Michael Walzer und Charles Taylor ausgebaut. Einen universellen, d. h. allgemeingültigen Kern besitzen Tugenden allerdings dann „nur“, als sie – im Gefolge aristotelischen Denkens – auf die Vervollkommnung des Menschen gemäß seinen Anlagen und zum Zweck der Harmonie des Menschen mit sich selbst zielen. Der Zurückweisung universaler Geltung der Tugendethik treten allerdings andere Tugendethiker entgegen48.
des 20. Jahrhunderts erleben sie eine Wiederbelebung; hierzu Hübner, Einführung (Fn. 10/D.), S. 146 ff. 40 Vgl. zu den Möglichkeiten und Grenzen einer Berufung der modernen Tugendethiker auf Aristoteles: Rippe/Schaber, Tugendethik (Fn. 1/E.), „Aristoteles’ universalistische Tugendethik“, S. 42 ff. 41 Vgl. Rippe/Schaber, Tugendethik (Fn. 1/E.), S. 7 ff. 42 Neben E. Anscomb, die die Rehabilitierung der Tugendethik Ende der 50er Jahre begründete, B. Williams, P. Foot und M. Nussbaum. 43 Hierzu Hübner, Einführung (Fn. 10/D.), S. 147 f. Radic, Rehabilitierung (Fn. 11/ E.), S. 68 ff. 44 Art. „Tugend“, in: Prechtl/Burkhard, Metzler Lexikon der Philosophie, S. 627. Zur Kritik am Utilitarismus aus tugendethischer Sicht: M. Stocker, in: Rippe/Schaber (Hrsg.), Tugendethik, S. 19 ff. insbesondere S. 22 ff. 45 In der klassischen Formulierung Kants (Metaphysik der Sitten, Teil 2): „Tugend ist die Stärke der Maxime des Menschen in der Befolgung seiner Pflicht“. 46 Diesen Prozess zeichnet Radic, Rehabilitierung (Fn. 11/E.), S. 57 ff. differenziert nach. 47 Hierzu und zum Folgenden vgl. Art. Tugendethik, in: Prechtl/Burkhard, Metzler Lexikon der Philosophie, S. 628. Zu Recht kritisch: Höffe, in: Rippe/Schaber (Hrsg.), Tugendethik, S. 42 ff. 48 Höffe, in: Rippe/Schaber, Tugendethik (Fn. 1/E.), S. 53 f. und Nussbaum, ebenda, S. 114 ff.
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E. Prinzipien einer normativen richterlichen Ethik
Der kontextabhängige Ansatz MacIntyres lässt sich auf besondere Bereiche, insbesondere Berufe übertragen, ohne dass der von ihm begründete konservierende Zug seines moralischen Konzepts mitgedacht werden müsste. Sein Ansatz bietet allerdings insoweit den Vorteil, dass er das Konzept einer konkreten Lebensform und ihre kulturelle Prägung zur Grundlage eines konkreteren ethischen Konzepts macht. Tugendethische Konzepte sind auch der Kritik ausgesetzt49. Verfehlt wäre es allerdings, die in der Moderne teilweise dekonstruierten und als „Sekundärtugenden“ eher abwertend benutzten „bürgerlichen Tugenden“ (z. B. Ordnung, Fleiß, Pünktlichkeit, Disziplin, Sparsamkeit)50 bereits zum Anlass zu nehmen, sich vom tugendethischen Ansatz fernzuhalten51. Denn deren „instrumentelle“ oder „funktionelle“ Bedeutung ist für sich genommen zwar unbestreitbar. Auch eine an materialen Maßstäben ausgerichtete Gesellschaft und damit zusammenhängende „moralische“ oder „Primärtugenden“ 52 ist damit noch nicht begründet, aber ihre Möglichkeit noch nicht wiederlegt. Die Kritik Nietzsches („Für kleine Leute sind kleine Tugenden nötig“)53, Tugend sei nur das Ressentiment des Schwächlings und Anpassung an die bestehende Moral, trifft vor allem den Tugendbegriff und das bürgerliche Verständnis der Tugenden seiner Zeit. Das tugendethische Konzept ist damit philosophisch noch nicht insgesamt infrage gestellt. Philosophische Kritiker tugendethischer Konzepte bemängeln54, dass sie keine fundamentalen Kriterien für moralisches Handeln, insbesondere kein letztbegründetes, nur zeitbedingtes Konzept des guten Lebens liefern, dass Handlungsfolgen nicht bewertet würden und dass für moralische Dilemmata im konkreten Einzelfall oder grundlegende praktische Fragen keine Lösungskonzepte gefunden werden könnten. Weitere Einwände sind die Ausrichtung an einen anthropologischen Essentialismus, der zu wenig Raum für individuelle autonome Gewissensentscheidungen lasse55. Diese – zum Teil berechtigten – Einwände gegen die Tugendethik sind bei der Entfaltung einer richterlichen Tugendethik zwar zu bedenken, sie können – wie im Folgenden zu zeigen ist – jedoch teilweise neutralisiert werden. Insbesondere der Vorwurf, die Tugendethik stelle zu sehr 49 Vgl. Rippe/Schaber, in dieselben, Tugendethik (Fn. 1/E.), S. 14 ff. Halbig, Begriff (Fn. 6/D.), S. 315 ff. hält die Tugendethik für gescheitert. Radic, Rehabilitierung (Fn. 11/E.), S. 107 ff. 50 Hierzu Höffe, Art. Tugend, in: O. Höffe, Lexikon (Fn. 15/A.), S. 317. 51 Zu den begrifflichen Schwierigkeiten: Honecker, in: Rippe/Schaber, Tugendethik (Fn. 1/E.), S. 166 ff. 52 Vgl. zu dieser Unterscheidung Höffe, in: Rippe/Schaber, Tugendethik (Fn. 1/E.), S. 46 f. 53 Zitat nach Wills, Art. Tugend, in: Düwell u. a., Handbuch Ethik (Fn. 41/A.), S. 536; dort auch zum Folgenden. Zur Kritik von Nietzsche an der Tugend: Honecker, in: Rippe/Schaber, Tugendethik (Fn. 1/E.), S. 173 f. 54 Hierzu: Quante, Einführung (Fn. 315/B.), S. 140 f. 55 Hierzu: Quante, Einführung (Fn. 315/B.), S. 140 f.
I. Tugendethik als Modell der richterlichen Ethik
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auf den Charakter des Handelnden, nicht aber auf die normativen Grundlagen der jeweiligen Tugend ab, lässt sich für den hier zu diskutierenden Bereich nicht aufrechterhalten. 2. Das tugendethische Konzept als Modell für eine richterliche Ethik Die Begründung dafür, dass für deutsche Richter das tugendethische Konzept als Modell für eine richterliche Ethik vorzugswürdig ist, ist in den früheren Kapiteln bereits vorbereitet und grundgelegt worden. Diese Ergebnisse sind hier zunächst zusammenzufassen: Richterliche Pflichten sind in Deutschland durch das Recht weitgehend normiert. Ge- und Verbote für richterliches Handeln sind durch verfassungs- und dienstrechtliche Amtspflichten umfassend geregelt. Damit steht das für ihn grundsätzlich normativ Gebotene und Verbotene fest. Der Versuch, im berufsmoralischen Raum neben dem Recht weitere Pflichten zu begründen, fällt nicht nur schwer, weil das maßgebliche Verhalten bereits rechtlich durchnormiert ist. Sie hätten zudem die Tendenz zur Verrechtlichung, weil sie unter Umständen als disziplinarwürdige Ge- oder Verbote begriffen werden könnten. Eine deontologische Richtermoral wäre außerdem stark heteronom und deshalb im Hinblick auf die richterliche Unabhängigkeit unzulässig. Schließlich – und dies ist ein nicht unerheblicher Einwand – besteht in der normativen Begründung einer Richterdeontologie angesichts des Pluralismus der Auffassungen in der Richterschaft das Problem, hinreichenden Konsens über weitgehend anerkannte berufsmoralische Pflichten herzustellen und damit gesicherte Erkenntnisse über eine deontologische Berufsmoral der Richter zu gewinnen. Dieses Problem spitzt sich noch dadurch zu, dass bereits erheblicher Streit darüber bestehen könnte, ob überhaupt noch Raum für solche moralischen Ge- und Verbote neben den rechtlichen Amtspflichten besteht. Mit einem teleologisch-ethischen Programm dagegen lässt sich eine konkrete Richterethik kaum entwickeln. Das etwa im Utilitarismus entwickelte letzte Gut, auf das hin jede Handlung moralisch in ihren Folgen bewertet wird, betrifft zum einen das individuelle Glück des Menschen bzw. den Nutzen für die Meisten. Bezogen auf den Richter kann die Frage seines eigenen Glückes oder Nutzens aber nicht maßgeblicher Inhalt seiner Berufsethik sein. Es geht bei ihm um die Ethik eines öffentlichen Amtes. Die Frage nach dem Glück oder Nutzen der Rechtssuchenden ist zwar als Verfahrens- und Folgenelement richterlichen Handelns nicht ohne Belang, aber nicht das vordergründige Problem. Selbst wenn man als allgemeinen Nutzen das „Gemeinwohl“, „Wahrheit“ und „Gerechtigkeit“ als maßgeblichen Nutzen richterlichen Handelns definieren wollte, könnte eine utilitaristische richterliche Ethik kaum konkrete Handlungsgebote bzw. Haltungen formulieren. Allerdings wird noch zu zeigen sein, dass auch ein tugendethi-
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E. Prinzipien einer normativen richterlichen Ethik
sches Konzept ohne diese Überlegungen nicht auskommt und sie dort integriert werden können. Die Vorteile moderner tugendethischer Konzepte, die sie für eine richterliche Ethik anschlussfähig machen, liegen dagegen in folgenden Erwägungen: • Die Übernahme des tugendethischen Konzepts auf den richterlichen Berufskontext ist – wie in der rechtshistorischen Untersuchung von Richterpflichten und -haltungen gezeigt wurde56 – nicht neu. Vom Sachsenspiegel, der die Kardinaltugenden zu typischen Richtertugenden erklärt, über den bis in die frühe Neuzeit geübten Rekurs auf christlich geprägte Haltungen des Richters bis zur Forderung der Tugend der Gesetzestreue in der Kodifikationsära wurden in jeder Phase der deutschen Rechtsgeschichte zur Fundierung einer Berufsmoral neben richterdeontologische Konzepte richterliche Haltungen und Tugenden gestellt. Bereits der alte Begriff der „Jurisprudenz“ stellt auf die Klugheit als Tugend ab; sie ziele auf Verständnis, Umsicht, Vorsicht und Voraussicht als richterliche Haltung ab57. • Tugenden werden von ihren modernen Vertretern häufig gerade bestimmten Lebensbereichen und Interaktionsformen zugeordnet58. Deswegen kann die Tugendethik ein besonderes Modell für Bereichs- und Berufsethiken sein59, ohne den in der allgemeinen Ethik zwischen den relativistischen und den universalistischen Tugendethikern bestehenden Konflikt austragen zu müssen. Bei diesem „begrenzten“ Einsatz der Tugendethik prägen die „Sachgesetzlichkeiten“, die besonderen Dilemmata und die moralisch streitigen Fragen dieser Lebenswelt auch die zu erwartenden Haltungen der an diesem Kontext Beteiligten. Damit bietet es sich an, das berufliche Handeln des Richters unter diesem Blickwinkel zu betrachten. Maßgeblich ist allerdings immer, dass die Tugenddisposition des in seinem Kontext Handelnden – also des Richters – maßgebliches ethisches Kriterium ist, nicht ein bloß pragmatisches Mittel zur Verwirklichung eines Wertes oder zur Erfüllung von Pflichten. Dass der zu verwirklichende ethische Wert aber für die Ausrichtung des Handelnden und das Verständnis der jeweils anzustrebenden Tugend nicht unerheblich ist, ist ebenso unstreitig. • Eine richterliche Tugendethik stellt auf die individuelle Haltung60 des Richters ab. Sie lässt ihm in seinem jeweiligen Handeln seine Autonomie. Gleichzeitig – und hier kommt die Berufsmoral des öffentlichen Amtes ins Spiel – kann die richterliche Haltung nicht frei von einer normativen Ausrichtung sein. 56
Vgl. unter C. aber auch Stephan, Salomo (Fn. 325/C.), S. 216. Stephan, Salomo (Fn. 325/C.), S. 215 ff. 58 Hübner, Einführung (Fn. 10/D.), 146 f. 59 So ausdrücklich für den Richterberuf: Steiner, Ethosfrage (Fn. 122/A.), S. 339. 60 Der Begriff der Haltung schließt den der Tugend ein und wird im Weiteren als berufsmoralische Haltung verstanden. 57
I. Tugendethik als Modell der richterlichen Ethik
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Denn Richtertugenden müssen wegen der Funktion richterlicher Tätigkeit von der Verwirklichung rechtsethischer Werte, Prinzipien und sogar Regeln geprägt sein. Damit wird der Vorrang der Rechtsethik vor der Tugendethik verwirklicht61. Insofern lässt sich richterliche Ethik nur als „gemischte“ Tugendethik entfalten, weil das Recht Maßstäbe des richtigen Handelns (Deontologie) und der zulässigen Handlungsfolgen (Teleologie) vorgibt. • Kern jedes tugendethischen Konzepts ist: „Das höchste Ziel kann sich nur im Handeln selbst verwirklichen.“ 62 Auch der Richter wird als authentischer Vertreter und Sachwalter der rechtsethischen Grundprinzipien nur in seinem konkreten richterlichen Handeln erkennbar und öffentlich. Umgekehrt kann er diese Prinzipien durch sein Handeln verfehlen und damit diese Prinzipien in Frage stellen. Es ist als berufsethisches Konzept tauglich, weil die richterliche Praxis im Vordergrund steht. Richterliche Tugendethik wird damit aber nicht zur Deontologie, weil stets die in der Handlung sichtbare Haltung zu den rechtsethischen Werten berufsmoralisch bewertet wird, die Rückschlüsse auf seinen Charakter und seine rechtsethische Gesinnung, kurz sein Richterpersönlichkeit, zulässt. Dieses ethische Konzept ist damit letztlich auf die rechtsethische Beantwortung der Frage gerichtet: Wer ist ein guter Richter? Dabei meint „gut“ nicht den Richter, der „nur“ effizient und professionell ist, sondern den der bei Effizienz und Professionalität den an ihn gestellten rechtsethischen Anspruch nicht verfehlt. Der Begriff „gut“ 63 kann nämlich in einem moralischen und einem nichtmoralischen Sinne gebraucht werden. In außermoralischer Bedeutung heißt etwas gut, wenn es im instrumentellen Sinne gut, gut „für etwas“ ist, also für den Zweck das geeignetste Mittel ist; im vorliegenden Kontext also der effiziente und professionelle, seine Techniken beherrschende Richter. Gut im moralischen Sinne heißt etwas, dass er nicht im Hinblick auf etwas anderes oder um eines anderen willen, sondern in sich selbst gut ist64. Im vorliegenden Kontext ist der Richter in diesem Sinne „gut“, wenn er die richterlichen Tugenden besitzt und aus ihnen heraus handelt. • Die richterliche Tugendethik erfasst den beruflichen Entwicklungs- und Gewöhnungsprozess richterlicher Sozialisation und gibt positive Antworten auf seine Motivation und der Sicherung nachhaltigen und ethisch verpflichteten Handelns65. Sie ist auf eine dauerhafte Prägung der Richterpersönlichkeit ausgerichtet, die die beruflichen Tugenden verinnerlicht hat und sie aus dieser Verinnerlichung vollzieht. Es geht nicht mehr nur um schlichten Regelvollzug 61 Diesen erkennt Höffe, in: Rippe/Schaber, Tugendethik (Fn. 1/E.), sowohl bei Aristoteles als auch bei Kant. 62 Für das aristotelische: Hübner, Einführung (Fn. 10/D.), S. 115. 63 Forschner, Art. das Gute, in: Höffe, Lexikon (Fn. 15/A.), S. 127 ff. 64 Pieper, Einführung (Fn. 2/B.), S. 176 65 Nach Hübner, Einführung (Fn. 10/D.), S. 99, liegt hier der Schwerpunkt des tugendethischen Konzepts.
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E. Prinzipien einer normativen richterlichen Ethik
(Deontologie) oder um eine Folgenabschätzung des eigenen Handelns (Teleologie), sondern um den aus Überzeugung, Gewöhnung und Charakterbildung gewonnenen authentischen Vollzug der zentralen rechtsethischen Werte. Er führt im Ergebnis zu einer richterlichen Haltung. • Der richterliche Tugendbegriff kann von bloßen Routinen, Fertigkeiten und Techniken abgegrenzt werden66, die keine unmittelbare moralische Qualität haben. Berufskunst hat tendenziell keine moralische Qualität, allenfalls sekundär, insoweit als sie die Sorgfalt richterlicher Arbeit betreffen. Eine richterliche Tugendethik richtet das richterliche Handeln über diese Berufskunst hinaus auf rechtsethische Werte aus und setzt auf Haltungen, die es im Alltag ermöglichen und wahrscheinlich machen, dass die diese Werte im konkreten Handeln nicht verfehlt werden. • Eine so ausgerichtete Ethik vermeidet ein weiteres Problem, nämlich das der im vorliegenden Kontext streitigen Konkretheit berufsmoralischer Forderungen. Regelmäßig wird es wegen der Orientierungsklarheit zwar als Vorteil gesehen, dass die Inhalte der Berufsmoral konkret sind. Dies gilt aber nicht in einem umfassenden Sinn. Denn eine ausgeprägte Praxisorientierung und leichte Handhabbarkeit moralischer Normen kann zu Trivialisierung der Moral, ihrer Inflation und letztlich zur Erstarrung führen67. Im Berufsfeld des Richters kommt hinzu, dass wegen der umfassenden rechtlichen Einzelregelungen seiner Amtspflichten gar kein Bedarf an detaillierten und anwendungsorientierten berufsmoralischen Normen68, sondern eher an der Formulierung, Einübung und Wahrnehmen von Grundhaltungen besteht. Bei einer Formulierung berufsmoralischer Ge- und Verbote besteht vielmehr sogar die Gefahr einer Kollision zwischen Berufsmoral und Recht, jedenfalls einer schleichenden Verrechtlichung von berufsmoralischem Geboten, deren Verfehlung im äußersten Fall sogar zu disziplinarischen Folgen führen könnte. Eine präzise Definition könnte zur Erstarrung führen, die dann Moral nur unter dem Aspekt der bloßen Bewahrung des einmal erreichten Niveaus sähe, ohne den in einer Tugendethik liegenden Optimierungsansatz zu nutzen. Insofern könnte die Orientierung an dem Ziel, „Führe ein faires Verfahren und strebe eine positivrechtlich richtige Entscheidung an“ 69, zugleich davon entlasten, ein – letztlich immer streitiges – Regelwerk berufsmoralischer Ge- und Verbote zu erstellen, gleichzeitig aber dennoch Maßstäbe für die individuelle Ausrichtung des Richters bieten. • Die Kritik an der Tugendethik, sie liefere keine fundamentalen Kriterien für moralisches Handeln, könnte schließlich damit vermieden werden, dass die 66 67 68 69
Zu dieser Abgrenzung im Einzelnen: Halbig, Begriff (Fn. 6/D.), S. 73 ff. Sommermann, Ethisierung (Fn. 34/A.), ARSP 89 (2003), S. 86. Waechter, Berufsethik (Fn. 100/A.), BDVR-Rundschreiben 2012, S. 86. Waechter, Berufsethik (Fn. 100/A.), BDVR-Rundschreiben 2012, S. 86.
I. Tugendethik als Modell der richterlichen Ethik
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rechtsethischen Ausrichtungen der richterlichen Haltung zu einer Integration materialer Werte in das moralische Konzept führt; in ihnen liegt damit das Normative der Tugendethik. Dabei darf das Problem nicht verkannt werden, dass diese rechtsethischen Werte aus der Verfassung und damit aus geltendem Recht gezogen werden müssten. Es besteht daher zum einen das Problem des normativen Abstands der richterlichen Ethik vom Recht, zum anderen das Problem der dauerhaften Gültigkeit rechtsethischer Werte. In diesen Problemen liegen – wie im Folgenden zu zeigen ist – allerdings auch nicht unerhebliche Chancen für die Fundierung einer richterlichen Tugendethik. • Schließlich vermittelt eine Tugendethik zwischen richterlichen Pflichten (Sollensethik bzw. rechtliche Pflicht) einerseits und seinem gelungenen richterlichen Berufsleben (Strebensethik); denn der richtig und gut handelnde Richter nimmt dauerhaft eingeübte Haltungen an, die seinen Beruf positiv auszeichnen, was ihm gleichzeitig selbst und durch das Wohlwollen anderer berufliche Befriedigung, kurz Glück, verschafft. 3. Die richterliche „Haltung“ als Gegenstand berufsmoralischer Reflexion Wenn es so ist, dass – wie zu Beginn des Kapitels als leitende Fragestellung verdeutlicht – hier der normative Inhalt der richterlichen Ethik zu bestimmen ist, stellen sich bei der Hinwendung zu einer richterlichen Tugendethik grundsätzliche Probleme. Denn sie stellt nicht in den Mittelpunkt die normative Begründung des gebotenen Handelns wie die Deontologie und nicht die normative Begründung der Handlungsfolgen wie die Teleologie. Zugespitzt wird das Problem, wenn die herkömmlichen angewandten Ethiken in den Blick genommen werden, die regelmäßig vor allem eine ethische Suche nach dem im konkreten Handlungskontext konkret Gesollten aufwerfen. Im Folgenden müssen daher zur Grundlegung des auch normativen Charakters der richterlichen Tugendethik Klärungen vorgenommen werden70: a) Richterliche Ethik als „angewandte Ethik“ Ein Grundlagenproblem der „angewandten Ethik“ ist es regelmäßig, in der allgemeinen Ethik aufgewiesene normative Prinzipien und Regeln auf konkrete ethisch problematische Situationen anzuwenden, um sie moralisch beurteilen oder verantwortlich gestalten zu können. Der richterlichen Ethik könnte in diesem Sinne – wie jeder angewandten Ethik – grundsätzlich die Aufgabe zugewiesen werden, eine Methodik zu entwickeln, die die Brücke von den ethischen 70 Zum Verhältnis von Tugend- und Normethik: Schuster, Moralisches Können, (Fn. 4/E.), S. 27 ff.
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E. Prinzipien einer normativen richterlichen Ethik
Grundlagendiskursen zu den Anwendungsmöglichkeiten im konkreten Berufsfeld bauen kann. Dabei müssten zum einen die Prinzipien und Regeln gefunden oder bestimmt werden, die zu den Falltypen und einzelnen Fällen „passen“; zum anderen müssten die Prinzipien und Regeln nicht nur begründet werden, sondern auch die ganze Reihe der vermittelnden Brückenelemente, welche die Prinzipien mit einem vorliegenden Fall verknüpfen. Diese Herleitung ist wie die Begründung grundlegender Werte mit vielfältigen Wertungs- und Letztbegründungsproblemen behaftet. Dieser Ansatz ethischer Reflexion in der angewandten Ethik, die regelmäßig als deontologische bzw. normative Ethik im engeren Sinne konzipiert ist, ist im richterlichen Berufsfeld unergiebig, überflüssig und rechtlich problematisch. Anders als sonst im Verhältnis zwischen angewandter Ethik zu allgemeiner Ethik, wo auf dem Weg der bestimmenden Urteilskraft aufgewiesene und begründete ethische Prinzipien auf den besonderen Fall angewandt werden, besteht bezüglich der Berufsmoral des Richters auch nicht das Problem, dass ein adäquater oder gar unbestrittener Grundsatz herzuleiten ist bzw. bei der Deduktion unter diesen Grundsatz weitere zu rechtfertigende Prinzipien eingeführt oder Prinzipienwidersprüche ausgeräumt werden müssen. Die rechtliche Prägung des vom Richter jeweils Gesollten nimmt dieser ethischen Diskussion hier den Raum: Anwendungsprobleme rechtlicher Amtspflichten sind Rechtsprobleme keine ethischen. Dies heißt allerdings nicht, dass sich die richterliche Tugendethik gänzlich von jeder ethisch-normativen Diskussion verabschieden müsste oder könnte. Denn die Tugendethik muss ihrer eigenen Struktur nach einen Bezug zur normativen Ethik im weiteren Sinn haben, die die methodische Reflexion von Moral mit dem Ziel der Begründung und der Kritik von Moral bzw. dem Ziel einer normativen Rekonstruktion faktisch vorhandener Moral betreibt71. Denn die Tugendethik bleibt auf die Realisierung eines sittlichen Gutes gerichtet und legt dessen angemessenes Erreichen in eine ethisch geübte autonom agierende Person. Deshalb hält auch die Tugendethik daran fest, dass sie einer Grundlegung durch normative Prinzipien bedarf. Diese Prinzipien müssen auch durchgesetzt werden. Sie benötigen daher die Tugenden, die den Einzelnen befähigen, die von den Prinzipien und Werten auferlegten Verpflichtungen auch zu erfüllen. „Die Tugenden haben also eine supplementäre Funktion, die vor allem darin besteht, dass sie uns innere Motivationen liefert, die moralisches Handeln ermöglichen. Im Fall einer Pflichtenkollision verhelfen sie uns darüber hinaus dazu, die Lösung zu finden, die dem Geist des Gesetzes entspricht.“ 72 Frankena beschreibt die gegenseitige Ab-
71
Düwell u. a., Handbuch Ethik (Fn. 41/A.), S. 2 f. Auch zum Vorausgegangenen: Fragmente einer Tugendethik: www.pthv.de/filead min/user_upload/PDF_Theo/Niederschlag/Alte_Skripte/Tugendethik.pdf; Stand 22.11. 2014); dort auch das nachfolgende Zitat. 72
I. Tugendethik als Modell der richterlichen Ethik
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hängigkeit von Tugend und Prinzipien so: „Prinzipien ohne Charakterzüge sind ohnmächtig und Charakterzüge ohne Prinzipien sind blind.“ 73 Für die richterliche Ethik bedeutet das, nach den Prinzipien und Werten zu suchen, die die richterlichen Tugenden prägen und ausrichten. Dies führt zurück zu dem Problem, dass das richterliche Berufsfeld in unterschiedlicher Weise normativ verdichtet ist: b) Das Problem der „normativen Dichte“ der richterlichen Ethik Die Bestimmung des normativen Inhalts einer richterlichen Ethik unterliegt einerseits tatsächlichen Schwierigkeiten. Anderseits steht sie in enger Beziehung zum Rechtssystem, das ihr den normativen Rahmen gibt und das rechtsethische Prinzipien und Werte bereithält, die diese Schwierigkeiten mildern können: Die Schwierigkeiten der inhaltlichen Bestimmung des normativen Inhalts einer richterlichen Ethik ergibt sich aus dem Umstand, dass es derzeit mangels umfassender Untersuchung unklar ist, ob es einen hinreichend entwickelten und stabilen Konsens der Richter in Deutschland dazu gibt, welche berufsmoralischen Prinzipien, Werte und Haltungen für Richter bestehen und welche moralischen Anforderungen an den Richter zu stellen sind74. Die bisherige Diskussion in der deutschen Richterschaft, die im Kapitel C. nachgezeichnet wurde, zeigt überdies eine erhebliche Zurückhaltung, die richterliche Berufsmoral konkret und inhaltlich zu bestimmen. Die Furcht vor dienstaufsichtlichem Missbrauch einer solchen Bestimmung, aber auch die aus Gründen der Liberalität gepflegte Akzeptanz der Pluralität richterlichen Selbstverständnisses führen zu dieser Zurückhaltung. Die Frage an einen Richter „Was verstehen Sie unter ihrer Berufsmoral?“ löst regelmäßig sehr unterschiedliche Reaktionen von Ablehnung schon des Begriffes „Moral“ bis zum uferlosen und aporetischen Diskurs über seinen Inhalt aus. Die Forderung nach Unabhängigkeit wirkt schließlich jeder heteronomen Fixierung der Berufsmoral entgegen. Demgegenüber steht fest, dass das richterliche Berufsfeld durch das Recht in einer Weise normativ geprägt und „verdichtet“ ist wie kaum ein anderer Beruf. Insoweit ist die Funktion und das Handeln des Richters bereits auf Werte und Prinzipien ausgerichtet, die in der Verfassung und den Gesetzen rechtlich gefasst, häufig aber auf über dem Recht und der Moral stehende (rechts-)ethische Werte und Prinzipien verweisen. Es liegt daher nahe, zum offenkundig allein konsens73
W. K. Frankena, Ethics, 2. Aufl., Engle Wood Cliffs, 1973, S. 65. Die 2009 vom Präsidenten des Thüringer Oberlandesgerichts durchgeführte Umfrage (vgl. hierzu unter C.) betraf zwar eine Reihe von Fragen des richterlichen Selbstverständnisses, des Verhaltens und bestimmter Haltungen und ergab auch z. T. homogene Aussagen. Allerdings liegt ihr keine vollständig ausgearbeitete rechterethische Konzeption zugrunde. 74
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E. Prinzipien einer normativen richterlichen Ethik
fähigen Ausgangspunkt des sittlichen Gutes, dessen Realisierung die richterlichen Tugenden dienen und von dem sie ihre Ausrichtung erhalten, diese rechtsethischen Werte und Prinzipien zu machen. Bevor diese identifiziert werden, sind zunächst aber noch die grundsätzlichen Probleme der Begründung von moralischen Werten bzw. hierauf gerichteter Tugenden und der Rechtsgebundenheit einer richterlichen Tugendethik zu behandeln.
II. Richterliche Tugendethik und Rechtsgebundenheit 1. Das Problem der Begründung von Richtertugenden Wie zuvor betont, besteht der – auch von Richtern erhobene75 – Haupteinwand gegen eine richterliche Ethik darin, dass eine rationale, säkulare und pluralistische Haltung es nicht zulässt, unbezweifelte moralische Werte für sie anzunehmen. Zu Recht wurde auch der Einwand erhoben, es bestehe wegen dieses Pluralismus einerseits und einer letztlich individuellen inhaltlichen Bestimmung konkreter ethischer Werte durch den Richter Gefahr für die Gesetzesbindung des Richters76. Diese Einwände treffen zwar vor allem eine Richterdeontologie und damit neben dem Recht stehende Ge- und Verbote für berufsmoralisches Handeln des Richters; er betrifft tendenziell aber auch die normativen Elemente einer richterlichen Tugendethik. Das Problem der Begründung und Herleitung ethischer Prinzipien und moralischer Normen ist – soweit ihre Möglichkeit nicht ganz oder teilweise bestritten wird77 – der allgemeinen Ethik als Letztbegründungsproblematik bekannt. Die dort auftretende Aporie der Letztbegründung kann folgendermaßen beschrieben werden: Da jede Begründung eines letzten Wertes als nicht letztgültig angezweifelt werden kann und von daher seinerseits begründungsbedürftig ist, landet man in einem „unendlichen Regress“. Oder man verstrickt sich in einen Zirkelschluss, weil die Begründung einer These schon in deren Voraussetzungen logisch enthalten ist, und dreht sich argumentativ im Kreis. Oder aber man bricht den Begründungsprozess ab und beruft sich auf ein angeblich selbst-evidentes Dogma. Damit würde aber die Unfehlbarkeit dieses Dogmas behauptet und damit ein privilegierter Zugang zur Wahrheit in Anspruch genommen. Die in der allgemeinen
75 Strecker, Ethik (Fn. 59/A.), BJ 2004, S. 381, der nicht an ein System richterlicher Ethik glaubt, sondern nur an den guten Willen und das redliche Bemühen im Kampf für die Menschenrechte. 76 Smid, Rechtsprechung (Fn. 17/D.), S. 103, weist zu Recht darauf hin, dass es prozessualer Vorkehrungen bedarf, um die Gesetzesbindung der Rechtsprechung unter Umständen gerade gegen die partikuläre Ethik des jeweiligen Richters durchzusetzen. 77 So etwa in der radikalsten Form im Nihilismus. Der ethische Relativismus, Nonkognitivismus, Dezisionismus, und kritische Rationalismus halten dieses Projekt ebenfalls für fragwürdig.
II. Richterliche Tugendethik und Rechtsgebundenheit
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Ethik angegebenen vorläufigen Lösungen sind umstritten und in der Generierung materialer Ergebnisse unsicher: So bietet etwa der Fallibilismus, der keine Erkenntnis als irrtums- und vorurteilsfrei ansieht, weshalb eine ständige Überprüfung und ggf. Falsifikation erforderlich ist, keine inhaltliche Sicherheit. Der theoretische Pluralismus arbeitet (nur) mit Konstruktionen erfahrungsbezogener Hypothesen und deren Kritik. Formal ethische Begründungs- und Argumentationsregeln bieten nicht die Möglichkeit, moralische Normen inhaltlich abzuleiten, sondern bieten allenfalls einen Maßstab für die Beurteilung moralischer Normen und geben in Konfliktsituationen einen Kompass in die Hand, wie generell gehandelt werden muss, damit die Handlung als moralisch anerkannt werden kann78. Die Suche nach „unveräußerlichen ethischen Grundsätzen“ (etwa aus mit anthropologischen Ansätzen) ist stets weltanschaulich umstritten. Die ethische Tradition bietet insoweit eine Fülle von Argumentations- und Begründungsformen an: Eine formale ethische Begründungs- und Argumentationsregeln ist etwa die „Goldene Regel“79, die es in unterschiedlichen Formulierung gibt: „Was Du nicht willst, das man dir tut, das füg’ auch keinem anderen zu“ (negativ)80 oder „Behandle Deine Mitmenschen so, wie Du von ihnen behandelt werden willst“ (positiv)81. Diese Regel verlangt vor jeder Handlung, sich gedanklich in die Lage des oder der von ihr Betroffenen zu versetzen. Sie aktiviert die Haltung der Empathie82 und des Respekts unter Berücksichtigung der eigenen Interessen. Die Handlung gilt dann als moralisch, wenn sie nicht Folge eines bloß subjektiven, unmittelbaren Wollens aus einem Bedürfnis oder Interesse ist, sondern Ausdruck eines sich von seinem unmittelbaren Begehren distanzierenden und auf den Willen anderer Subjekte beziehenden, intersubjektiv vermittelten Willens. Zwar wird in der goldenen Regel eine ethische Haltung angesprochen, die für das Handeln des Richters in besonderer Weise passend und bedeutsam ist. Seine Rolle gebietet Distanz. Zunächst kritische Distanz zum tatsächlichen und rechtlichen Vorbringen der Parteien, um es auf seine Erheblichkeit für die Rechtsentscheidung und seine inhaltliche Richtigkeit und Wahrheit zu hinterfragen. Diese Art der Distanz dürfte hier aber nicht in erster Linie angesprochen sein. Die „Goldene Regel“ verlangt nämlich im Kern eine andere Form der Distanz, nämlich die Distanz des Richters zu sich selbst. Dies wird einsichtig, wenn besondere Verfahrenssituatio-
78 Vgl. zum Vorausgegangen und zum Folgenden: Pieper, Einführung (Fn. 2/B.), S. 40 ff. 79 Höffe, Art. Goldene Regel, in: O. Höffe, Lexikon (Fn. 15/A.), S. 118 f., der auf den universellen Charakter dieser Regel hinweist; auch zum Folgenden. 80 Altes Testament: Tobit 4, 15 „Was Dir selbst verhasst ist, das mute auch keinem anderen zu!“ 81 Neues Testament: Matthäus 7, 12: „Alles, was Ihr von anderen erwartet, das tut auch Ihnen!“; Lukas 6, 31: „Was Ihr von anderen erwartet, das tut ebenso auch ihnen!“ 82 Thurnherr, Angewandte Ethik (Fn. 37/A.), S. 74 f.
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E. Prinzipien einer normativen richterlichen Ethik
nen bestehen. So kann sich dem Richter in der direkten Auseinandersetzung mit den Parteien die Frage stellen, wie er selbst als „Rechtsunterworfener“ in ähnlicher Situation behandelt werden wollte. Einen hinreichend genauen, insbesondere verallgemeinerungsfähigen Maßstab liefert das aber nicht83; denn zum Maßstab werden dabei individuelle Ansichten, Neigungen und Interessen des Richters. Handelt es sich bei ihm um einen richterlichen „Gerechtigkeitsfanatiker“ oder „politisierenden“ Richter könnten die Ergebnisse berufsmoralisch bedenklich sein. Die „goldene Regel“ ist demnach nur eine teilwirksame Kontrollüberlegung (am besten eines außenstehenden Richters), von der aber keine inhaltlichen Maßstäbe zu erwarten sind. Eine Spielart dieser Regel ist das formale Prinzip der Verallgemeinerung, das seine besondere Form und Ausprägung im kategorischen Imperativ Kants gefunden hat84. Er ist keine Beurteilungsregel des Handlungswillens, sondern der Handlungsfolgen und appelliert an das Verantwortungsbewusstsein des Handelnden. Es ist auf die Universalisierbarkeit der Moral gerichtet, bietet aber regelmäßig keinen inhaltlichen Maßstab für die konkrete Entscheidung. Das Prinzip der Güterabwägung85 zielt auf ein praktisches Überlegen, das zur qualifizierten Lösung eines Wahl- oder Zielkonflikts erforderlich ist. Insbesondere nimmt es die Folgen des Handelns in den Blick, das für den einen nützlich, für den anderen schädlich sein kann. Im Wesentlichen formal dürfte auch die Diskursethik sein, die auf eine diskursive Überprüfung der Rechtmäßigkeit normativer Geltungsansprüche zielt. Auch der Versuch, aus materialen ethischen Begründungsregeln und -theorien eine für die richterliche Ethik adäquate ableiten oder sich gar auf „die“ richtige ethische Theorie86 festlegen zu wollen, erscheint kaum zu leisten87. In der allgemeinen Ethik ist somit ein Zustand der Aporie festzustellen, der sich, wollte man eine der anerkannten Begründungstheorien auf die vorliegende Berufsethik übertragen, hier fortsetzen dürfte. Damit ist die Frage aufgeworfen, ob und wie sich für die richterliche Ethik überhaupt eine normative Begründung ethischer Werte und Prinzipien geben lässt; ja es ist überhaupt zu fragen, ob hier auf eine der in der allgemeinen Ethik
83 Bezogen auf die Begründung von Gerechtigkeitskriterien: H. Dreier, „Wir hatten Gerechtigkeit erhofft . . .“, FAZ v. 05.01.2015, S. 6. 84 Vgl. Höffe, Art. Kategorischer Imperativ, in: O. Höffe, Lexikon (Fn. 15/A.), S. 157 f. 85 Horn, Art. Güterabwägung, in: O. Höffe, Lexikon (Fn. 15/A.), S. 125 ff. 86 Die insoweit entwickelten Theorien und Schulen sind unabsehbar. Hier nur eine begriffliche Übersicht über Theorien, Begründungsmuster und Schulen: Lineare, kohärentistische, reflexive, universalistische, partikularistische, teleologische, deontologische, transzendentalphilosophische Begründungsmuster, Prinzipienethik, Normenethik, Maximenethik, Situationsethik, Diskursethik, konstruktive, sprachpragmatische, materialistische, naturrechtliche Ethik, Utilitarismus. 87 Zu Recht zweifelnd: Waechter, Berufsethik (Fn. 100/A.), BDVR-Rundschreiben 2012, S. 84.
II. Richterliche Tugendethik und Rechtsgebundenheit
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entwickelten Begründungstheorien zurückgegriffen werden muss. Da im Einzelnen dargelegt und begründet wurde, dass die richterliche Ethik im deutschen Rechtskontext weder als deontologische noch als teleologische Richterethik konzipiert werden kann, entschärft sich das Problem: Weder sind normative Aussagen zu berufsmoralischen Ge- und Verboten noch zu dem Nutzen oder den Folgen richterlichen Handelns geboten. Diese finden sich letztlich alle in der Rechtsordnung. Für die für die hier angestrebte Tugendethik maßgeblichen Werte und Prinzipien dürfte eine begründete Entscheidung für eine der angebotenen normativen Theorien überflüssig sein. Denn die Suche nach „unveräußerlichen ethischen Grundsätzen“ für das richterliche Handeln88 könnte sich nämlich jenseits der möglich ethischen Begründungstheorien und ihren Aporien dem Handlungsfeld des Richters in einem Akt der Anerkennung rechtsethisch vorgegebener Dogmen direkt dem Recht entnehmen lassen. Denn die Besonderheiten des richterlichen Handlungsfeldes, das in den Mittelpunkt der Abgrenzung und Regelbildung gestellt werden muss, liegen gerade darin, dass es rechtlich-normativ weitgehenden rechtsethischen Bindungen unterliegt. Die normative Prinzipien- und Regelbildung in seinem Berufsfeld ist dadurch erleichtert, ja aufgehoben, weil das Recht, insbesondere das Verfassungsrecht, allgemeine normative (Rechts-)Prinzipien vorgibt und damit die Berufsmoral normativ in das gegebene Recht einbettet89. Dieser Weg könnte auch das Problem des Fehlens einer homogenen Ethik des Richterstandes in einer pluralistischen Gesellschaft lösen. Denn die so fundierte Tugendethik müsste nicht auf den Konsens des „jeweiligen“ Richterstandes setzen, sondern könnte auf vorgegebene Prinzipien verweisen. Der allein konsensfähige Ausgangspunkt einer richterlichen Ethik kann nur der „Wertehimmel“ des Grundgesetzes90 – also in der objektiven Wertordnung, abgeleitet aus den Grundund Menschenrechten91 sowie rechtsstaatlichen Prinzipien – sein. Sie führen als Positivierung der den Richter handlungsleitenden Werte nicht nur zu einer verfassungsgeleiteten Anwendung des Rechts, sondern auch zur Einbettung seiner Berufsmoral in einen letztverbindlichen rechtsethischen Kontext92.
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So die Zielrichtung von Titz, Ethik-Debatte (125/A.), DRiZ 2013, S. 200. Vgl. auch Strecker, Ethik (Fn. 59/A.), BJ 2004, S. 382 f., der vom kategorischen Imperativ auf den hypothetischen Imperativ heruntergeht, um handhabbare Grundsätze zu entwickeln. Er sucht sie in den verfassungsrechtlichen Grundprinzipien. Ebenso Wieacker, Gesetz und Richterkunst (Fn. 250/B.), S. 12 ff. Er setzt daneben allgemein anerkannte und durch die Tradition bestätigte allgemeine Rechtssätze, Anwendungsregeln, Richterbräuche und Standards der Rechtskultur. 90 Dieterich, Berufsethik (Fn. 873/C.), BJ 2007, S. 162. 91 Wassermann, Macht (Fn. 20/A.), DRiZ 1986, S. 205. 92 Vgl. Faller, Richterliche Unabhängigkeit (Fn. 82/D.), S. 97, der Grundgesetz als „zeitgemäße Gerechtigkeitsordnung“ beschreibt, die auch für das richterliche Verhalten die normativen Vorgaben enthält und damit seine Moral leitet. 89
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E. Prinzipien einer normativen richterlichen Ethik
Damit könnte eine so bestimmte richterliche Ethik mehrere Probleme mildern: • Die Rücknahme des Ziels, eine universale richterliche Tugendethik zu entwickeln, die sich unabhängig von einer an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit geltenden Rechtsordnung am „Wesen des Richterberufs“ orientiert, führt zwingend zur Ableitung der in der derzeit in Deutschland geltenden Rechtsordnung gegebenen rechtsethischen Werte. Damit wird das Letztbegründungsproblem vermieden, aber auch die jeweilige Ausgestaltung der nationalen Rechtsordnung respektiert. • Der Charakter der Berufsmoral des Richters als öffentliche Moral würde durch eine Verankerung in rechtsethisch vorgegebenen Werten gestärkt, ohne dass der Zusammenhang von Recht und Gewissen als ethische Quelle des Richters aufgehoben wäre. Denn sein individuelles Verhalten zum Recht und zur (öffentlichen) Richtermoral bleibt als Streben individuell und autonom. Das „Strebensergebnis“ im Sinne des Erreichens oder Verfehlens der angestrebten Werte aber ist öffentlich und daher auch öffentlich vom einzelnen Richter zu verantworten. Die Verfehlung von Recht und rechtsethischer Aufgabe ist damit auch ein Problem der Öffentlichkeit. Der Konflikt zwischen individuell generierter Berufsmoral des Richters und einer an rechtsethischen Inhalten orientierten Berufsmoral ist so abgemildert, wenn auch nicht verschwunden. • Die Ausrichtung auf rechtlich verankerte rechtsethische Werte vermeidet schließlich auch die Gefahr elitärer und nicht mehr rückgebundener Positionen einer richterlichen Aristokratie oder Kaste, die sich von ihren rechtsethischen Vorgaben der Staats- und Verfassungsordnung löst93. Insofern wird eine „höhere“ Moral von Richtern vermieden. Eine auf rechtsethischen Werten und Prinzipien gestützte richterliche Tugendethik hat allerdings neben der noch zu behandelnden „Rechtsfreiheit“ ein weiteres Problem zu lösen. Denn durch das (Verfassungs-)Recht vorgegebene rechtsethische Werte sind insofern nicht letztverbindlich, als sie einer Änderung, ja ihrer völligen Beseitigung unterliegen können. Einer so konzipierten und normativ ausgerichteten Tugendethik könnte daher der Vorwurf der Relativität und des mangelnden Schutzes in politischen Gefährdungslagen gemacht werden. Will man die Tugendethik nicht – wie etwa die kommunitaristischen Ansätze – generell als Ausdruck jeweils historisch bedingter kultureller Kontexte begreifen, wäre allenfalls auf grundlegende und zeitlose richterliche Tugenden, nämlich der Wahrheit und Gerechtigkeit, zurückzugreifen. Ob dies gelingen kann und ob insoweit nicht wieder die Letztbegründungsproblematik virulent wird, ist im Rahmen der noch zu leistenden Herleitung der maßgeblichen rechtsethischen Werte und Prinzipien zu erörtern. 93 In dieser Gefahr steht etwa Marcic, Gesetzesstaat (Fn. 26/A.), S. 286, der von den Richtern als der „von der Aristokratie von morgen“ spricht.
II. Richterliche Tugendethik und Rechtsgebundenheit
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2. Problem der „Rechtsfreiheit“ der richterlichen Ethik a) Problemexposition Die Herleitung der rechtsethischen Kategorien, auf die richterliche Tugenden ausgerichtet sind, aus dem geltenden Recht wirft die Frage auf, ob eine Ethik, die sich am Recht orientiert, überhaupt noch als Ethik selbständig ist. Präzise und zutreffend hat das Problem Wrege94 formuliert: „Fraglich ist freilich, ob eine solche rechtlich generierte – und begrenzte – Ethik gegenüber der Rechtsordnung hinreichend selbständig ist. Kann eine rechtsakzessorische Materie dem Anspruch an eine Ethik gerecht werden?“ Weiter schreibt er: „Sicher ist: Eine Moralnorm muss sich in Geltungsgrund und Verbindlichkeit von einer Rechtsnorm klar unterscheiden. Mit anderen Worten: Die richterliche Ethik darf sich nicht unter der Hand in einen Appendix der Rechtsordnung verwandeln. Das nämlich wäre selbstwidersprüchlich, denn moralische Normen schöpfen ihre Geltung gerade nicht aus rechtlicher Ermächtigung. Die richterliche Ethik darf nicht aus ihrem Begründungszusammenhang heraus in den Sog der Rechtsordnung geraten. Eine Ethik hat vielmehr im Sinne der Trennung von Staat und Gesellschaft notwendig ,staatsfrei‘ zu sein. Sie findet im wahrsten Sinne des Wortes ,im rechtsfreien Raum‘ statt. Dieser Feststellung stehen praktische Interdependenzen konkurrierender Normensysteme nicht entgegen: Selbstverständlich stehen Recht und Moral nicht beziehungslos nebeneinander. Als Eckpunkt bleibt festzuhalten, dass eine richterliche Ethik außerhalb ihres Begründungszusammenhangs konsequent rechtsfrei gehalten werden muss, auch und gerade im Hinblick auf ihre Verbindlichkeit. Etwa rechtsförmige Sanktionen – dazu gehören auch disziplinarische Maßnahmen – überschritten die Grenzen einer richterlichen Ethik.“ 95 Der von Wrege formulierte Einwand ist berechtigt; denn Moral und Recht müssen grundsätzlich als Normsphären unterschiedlicher Provenienz und unterschiedlichen Charakters geschieden werden. Allerdings geht es im vorliegenden Kontext nicht um das generelle Verhältnis von Recht und Moral oder um die Vermeidung disziplinarischer Folgen einer Berufsmoral, sondern um das Problem, ob eine Berufsmoral des Richters überhaupt „staats- und rechtsfrei“ denkbar sein kann. Dies dürfte kaum der Fall sein: Denn es geht bei ihr nicht um die individuelle Moral eines Menschen, der zufällig auch Richter ist, sondern um die öffentliche Moral eines weitgehend rechtlich geprägten beruflichen Handelns. Damit spitzt sich das Problem zu. Wenn Recht und Moral sich grundsätzlich ausschließen, könnte eine normative richterliche Ethik bereits theoretisch unmöglich sein. Auch wurde die Auffassung vertreten, dass eine deontologisch-normative Ethik des Richters nicht eigenständig sein kann, weil die Amtspflichten des Richters und die Ahndung ihrer Missachtung nahezu lückenlos rechtlich geregelt sind. 94 95
Wrege, Eckpunkte (Fn. 899/C.), MHR 4/2006, S. 16 f. Wrege, Eckpunkte (Fn. 899/C.), MHR 4/2006, S. 16 f.
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E. Prinzipien einer normativen richterlichen Ethik
Gleiches gilt für eine teleologisch-normative Betrachtung: Die Ziele und „Folgen“ richterlichen Handelns werden durch seine rechtlich vorgegebenen Aufgaben und Funktionen geprägt. Wenn man eine richterliche Ethik normativ in dieser Weise begründen wollte, geriete sie nicht nur „in die Gefahr allzu großer Rechtsnähe, insofern sie auf der begrenzten Regelbarkeit beruhende Lücken des (idealen) Rechtssystems schließt“ 96, sie dürfte ihr kaum einen normativen Raum lassen. b) Versuch einer Lösung Diese Erkenntnisse müssen aber nicht zu dem Ergebnis führen, dass eine richterliche Ethik unmöglich ist, weil das Berufs- und Handlungsfeld des Richters vollständig durch das Recht normiert ist. Dagegen sprechen zwei Argumente. Das erste Argument ergibt sich aus dem Zusammenhang von Recht und Moral. Denn Recht und Moral bzw. Recht und Berufsmoral des Richters führen in ihren normativen Fundamenten zurück zu den Grundwerten und -prinzipien, die in den Fundamentalnormen sowohl der Moral als auch der Rechtsordnung durchscheinen97. Recht und Moral haben insoweit gemeinsame Wurzeln. „Die materiellen Grundlagen des Rechts sind aus Ethikdiskursen hervorgegangen.“ 98 Insbesondere der Gehalt der Grund- und Menschenrechte, aber auch eine Fülle rechtsstaatlicher Prinzipien und Institute sind von diesen vorrechtlichen Wertverständnis geprägt und letztlich deren rechtliche Positivierung. Die Abgrenzung von Recht und Moral und damit von Rechtswissenschaft und Ethik verläuft daher nicht strikt. Deshalb müssen auch diese Übergangsphänomene in den Blick genommen werden: So gibt es – wie die Rechtsethik zeigt – bei den Grund- und Gerechtigkeitsprinzipien der Rechtsordnung enge Bezugspunkte zwischen Ethik und Recht. Durch das Recht sind rechtsethische Prinzipien und Werte normativ in einen anderen Geltungszusammenhang gestellt, ohne ihren ethischen Ursprung zu verlieren. Auf diese Grundprinzipien ist der Richter einerseits rechtlich verpflichtet. Er muss auf sie andererseits auch berufsmoralisch ausgerichtet sein, will er den Auftrag seines Amtes nicht verfehlen, wenn er das Recht anwendet ohne in bestimmten Handlungssituationen durch das Recht in seinem Verhalten vollständig gebunden zu sein. Damit können rechtsethische Prinzipien zur normativen Grundlage und zum Kompass für die richterliche Tugend werden. Jutta Limbach fasste dies so zusammen „Wenn wir uns heute nach dem Richterethos im demokratischen Staat fragen, ist uns die Verpflichtung auf die Strukturprinzipien des Grundgesetzes selbstverständlich.“ 99 96
Wrege, Eckpunkte (Fn. 899/C.), MHR 4/2006, S. 16 f. Ellscheid, Recht und Moral (Fn. 40/A.), S. 229. 98 Sommermann, Ethisierung (Fn. 34/A.), ARSP 89 (2003), S. 81. 99 J. Limbach, „Im Namen des Volkes“ – Richterethos in der Demokratie, in: DRiZ 1995, S. 425. 97
III. Begründung von Richtertugenden aus rechtsethischen Prinzipien
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Das zweite Argument ergibt sich aus der Öffnung des Rechts für moralisch zu bewältigende Entscheidungen des Richters. Das Recht lässt dem Richter ausdrücklich einen Raum eigener Entscheidungsfreiheit, der eben nicht rechtlich durchnormiert und gesteuert ist. Dieser ist für verantwortliches und zu verantwortendes Handeln offen und muss es auch sein. So eröffnet die richterliche Unabhängigkeit den Raum der Moral strukturell und im Allgemeinen. Er ist der Raum berufsmoralisch geprägten Handelns. Daneben überlässt es das Recht, insbesondere das Prozessrecht, dem Richter im konkreten Fall durch Ermessensspielräume, sein Handeln den Forderungen des jeweils von ihm durchzuführenden Verfahrens anzupassen. Zudem verlangt die Rechtsanwendung und -auslegung Wertungen, die methodisch nur eingeschränkt gesteuert und gebunden sind. Mit der Eröffnung all dieser Freiräume ergibt sich die Gefahr, dass der Richter eben nicht verantwortlich und sachgerecht, sondern willkürlich handelt. Insbesondere dort, wo in rechtlich nicht festgelegten bzw. strukturierten Bewertungsund Ermessensspielräumen Entscheidungsfreiheit eröffnet ist100, besteht diese Gefahr; deshalb „bedarf es des Vertrauens in die Lauterkeit und Verlässlichkeit des Richters als solchen.“ 101 „Die Berechenbarkeit der Interpretation hängt nicht vom Text des Gesetzes, sondern vom Rechtsbewusstsein des Interpreten ab.“ 102 Insofern könnte richterliche Ethik darauf abzielen, Orientierungsmaßstäbe und Handlungsdispositionen bei Richtern zu schaffen, die geeignet sind, nicht nur – wie das Ablehnungs- und Befangenheitsrecht – in den Augen Dritter und rechtsförmig, sondern tatsächlich und wahrhaftig freie Willkür zu bändigen103. Auch Strecker führt aus: „Ethik beginnt erst dort, wo Normen nicht weiterhelfen.“ 104 Er meint damit aber nicht, dass Ethik nichts mit Normen zu tun hätte, sondern zielt auf den rechtsethischen Kern hinter den Rechtsnormen und bei deren Anwendung. Prägen diese die Haltung des Richters, ist sichergestellt, dass die Verwirklichung rechtsethischer Prinzipien und die Berufsmoral des Richters zusammenfallen.
III. Begründung von Richtertugenden aus rechtsethischen Prinzipien 1. Rechtsethische Begründung richterlicher Haltungen Um die rechtsethischen Werte und Prinzipien näher zu bestimmen, die für die Ausrichtung der richterlichen Haltung maßgeblich sind, ist vom konkreten Be100 Zweifelnd: Waechter, Berufsethik (Fn. 100/A.), BDVR-Rundschreiben 2012, S. 84: auch hier seien Rechtsmaßstäbe anzuwenden: Zweck der Norm, Verhältnismäßigkeit. 101 Wrege, Eckpunkte (Fn. 899/C.), MHR 4/2006, S. 16 f.; Kissel, Ethik (Fn. 5/A.), DRiZ 1991, S. 269; Müller, Ethik (Fn. 132), BWVPr 1992, S. 246. 102 Isensee, Vom Ethos des Interpreten (Fn. 118/D.), S. 375. 103 Wrege, Eckpunkte (Fn. 899/C.), MHR 4/2006, S. 16 f. 104 Strecker, Ethik (Fn. 59/A.), BJ 2004, S. 378.
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E. Prinzipien einer normativen richterlichen Ethik
rufsfeld des Richters auszugehen und zu fragen, welche fundamentalen, normativ-geprägten Erwartungen an ein gelungenes richterliches Handeln gestellt werden dürfen und müssen. Ausgangspunkt könnten insoweit folgende Fragen sein: Ist nicht der Zweck und die Funktion seiner Tätigkeit bereits rechtsethisch geprägt? (a)) Welche rechtsethischen Erwartungen darf der rechtsuchende Bürger deshalb an ihn stellen? (b)) Welche Haltung muss der Richter an seine Tätigkeit stellen, will er seiner Verantwortung als Amtsträger in einem Rechtsstaat gerecht werden? (c)) a) . . . aus dem Zweck und der Funktion seiner Tätigkeit: Wahrung und Verwirklichung rechtsethischer Werte als unabhängiger Entscheider Maßgeblicher Zweck und Funktion richterlichen Handelns105 ist es, in einem geordneten Verfahren nach gesetzlichen Regeln und rechtlichen Grundsätzen abschließend über nicht anders zu lösende Konflikte zu entscheiden und dabei Rechtsschutz zu gewähren, insbesondere Machtmissbrauch von Einzelnen, des Staates oder gesellschaftlicher Gruppen zu verhindern106. Dabei ist der Richter nach geltendem Recht definiert als ein von den Konfliktparteien gelöster und von äußeren Eingriffen unbeeinflusster Amtswalter. Dieser richterlichen Rolle als unabhängiger Entscheider wird bereits eine „rechtsethische Qualität“ zugewiesen107, die eine unparteiliche, unabhängige und rechtskundige Haltung des Richters selbst verlangt. Unparteilichkeit, Unabhängigkeit und Gesetzesbindung legitimieren ihn, stellen damit aber auch grundlegende rechtsethische Postulate an sein Verhalten und seine Haltung108. In der Literatur ist der rechtsethische Wert der richterlichen Unabhängigkeit von Eichenberger nicht nur präzise herausgearbeitet worden, sondern die Beziehung dieses Wertes zu anderen rechtsstaatlichen Grundwerten überzeugend dargelegt worden109. Die richterliche Unabhängigkeit wird von ihm nicht nur als eigenständiger rechtsstaatlicher Wert betrachtet, sondern auch als Mittel zur Verwirklichung anderer materialer Grundwerte bestimmt: Maßgeblicher Zweck und Funktion richterlichen Handelns in materieller Hinsicht ist nämlich die Wahrung und Verwirklichung materialer rechtsethischer Werte110. Ohne dieses Ethos des Richters könnte eine Instrumen105 Diesen Ansatz wählt auch Rennert, Guter Richter (Fn. 5/B.), DRiZ 2013, S. 214 ff. 106 Wagner, Richter (Fn. 6/A.), S. 16 107 Kritisch hierzu Smid, Rechtsprechung (Fn. 17/D.), S. 100 ff. m.w. N. insbesondere auf Sauer, Allgemeine Prozessrechtslehre, Berlin/Köln, 1951, § 2 II S. 17. Im zustimmenden Sinne aber: Bachof, Grundgesetz und Richtermacht (Fn. 277/D.), S. 32 f. 108 Dieterich, Berufsethik (Fn. 873/C.), BJ 2007, S. 158 f. 109 Eichenberger, Richterliche Unabhängigkeit (Fn. 472/C.), S. 56 ff. 110 Markel, Richterethos (Fn. 6/A.), ÖsterrRZ 2003, S. 168; Zweigert, Charisma, (Fn. 73/A.), S. 303 f., verweist zu Recht darauf, dass eine ethisierte Rechtsordnung Rückwirkung auf die ethischen Anforderungen an den Richter stellt.
III. Begründung von Richtertugenden aus rechtsethischen Prinzipien
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talisierung des Rechts zu beliebigen, insbesondere von außerhalb des Rechts liegenden Zwecken eintreten. Hier liegen die weiteren Wurzeln des Ethos der Richter111, die eine Ausrichtung des Richters auf die Wahrung der jeweils erreichten Rechtskultur fordert. Denn er hat nicht nur die grundlegenden justiziellen Gewährleistungen im konkreten Verfahren zu verwirklichen, sondern seine Entscheidungen inhaltlich am Schutz der Grund- und Menschenrechte, ihrer verfahrensmäßigen und rechtsstaatlichen Absicherung auszurichten, und damit letztlich der bürgerlichen „Freiheit“ und menschlichen „Würde“ zu dienen112. Seine Tätigkeit findet – wie der Richtereid zeigt – seine grundlegende Rechtfertigung in der Herstellung der rechtsethischen Werte von „Gleichheit“, „Gerechtigkeit“ und „Wahrheit“ durch eine willkürfreie, sachgerechte, rechtsrichtige und am Postulat der (prozessualen) Wahrheit ausgerichtete Entscheidung nach einem fairen Verfahren. Sie dient dabei letztlich dem gesellschaftlichen „Frieden“ durch Herbeiführung von Rechtsfrieden durch Wahrung des staatlichen Gewaltmonopols113. Hieraus kann ein normatives Verständnis vom Richter, seinem Verhalten und seinen Haltungen jenseits des Rechts abgeleitet werden114, deren Enttäuschung nicht nur ein Rechtsverstoß, nämlich gegen rechtliche Amtspflichten, sondern auch ein berufsmoralischer Skandal sein kann. Damit sind alle tragenden rechtsethischen Grundwerte des modernen Verfassungsstaates genannt115, zu deren Wahrung richterliches Verhalten aufgerufen ist. Nur ein von eigenen, parteipolitischen oder wirtschaftlichen Interessen unabhängiger Entscheider vermag es, diese Werte in Konfliktsituationen durchzusetzen. Dafür sind bei ihm Haltungen und Verhaltensdispositionen, kurz Tugenden, zu erwarten, die ihren normativen Gehalt aus den genannten rechtsethischen Werten ableiten. Natürlich könnte die Verankerung der richterlichen Ethik in den rechtsethischen Prinzipien der Verfassung dem Vorwurf ausgesetzt sein, es werde erneut die bestehende „rechtliche Weltanschauung“, nämlich die Wertordnung des Grundgesetzes, zum Überbau der richterlichen „Wende-Experten“ 116. Nur in diesem Falle stützt sich die Wertordnung auf eine nichttotalitäre und humane Tradition, für die die Freiheit des Einzelnen und Gerechtigkeitsfragen den Maßstab bilden.
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Böckenförde, Ethos des Juristen (Fn. 5/B.), S. 44 ff. Hierzu und zum Folgenden Eichenberger, Richterliche Unabhängigkeit (Fn. 472/ C.), S. 58 ff. 113 Zur Legitimationswirkung richterlicher Tätigkeit bezogen auf staatliches Handeln: Eichenberger, Richterliche Unabhängigkeit (Fn. 472/C.), S. 89 f. 114 Gass, Richterethik (Fn. 5/A.), S. 129. 115 Vgl. H. Dreier, „Wir hatten Gerechtigkeit erhofft . . .“, FAZ v. 05.01.2015, 6; zur Verfassungsgarantie ethischer Grundwerte, J. Isensee, Verfassungsgarantie ethischer Grundwerte und gesellschaftlicher Konsens, in: NJW 1977, S. 545, 546. 116 So der Titel eines Buches von B. Rüthers. Dieser Ansatz wurde in seinem Zentralwerk, Die unbegrenzte Auslegung (Fn. 592/C.), jedoch anhand der nationalsozialistischen Umdeutung des Rechts durch Richter entwickelt. 112
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E. Prinzipien einer normativen richterlichen Ethik
b) . . . aus der Erwartungshaltung seiner Tätigkeit gegenüber: Vertrauen in die Justiz Damit ist gleichzeitig das normative Grundverständnis richterlicher Haltung beschrieben, das die Bürger aufgrund des geltenden Rechts an den Richter und die Ausübung seines Amtes herantragen dürfen. Es geht um das normative Grundverständnis, das die Richter selbst als Haltung verinnerlichen müssen, wollen sie diesen Erwartungen gerecht werden. Diese Verhaltenserwartung ist zugleich eine Anforderung an den Richter selbst. So „färbt“ die Erwartung der Bürger auf den Richter und die von ihm erwarteten Tugenden ab und führt dazu, dass die Verwirklichung rechtsethischer Werte durch eine Person geleistet wird, von der ein ethisch besonders qualitatives Verhalten erwartet wird. Wird er dem gerecht, rechtfertigt er das Vertrauen, das in ihn und der Institution, die ihn trägt, also die Justiz, gesetzt wird. Insofern lebt im modernen Staat das „Richtercharisma“ 117 als säkularisierte Form des früher118 metaphysisch überhöhten Richteramts als Ausübung göttlicher Gewalt119 fort, allerdings mit dem Unterschied, dass dieses Charisma nicht von statischen und unkritischen Sozialstrukturen getragen und unerschöpflich „erneuert“ wird, sondern stets durch Versagen und Kritik herausgefordert ist. Die Erfüllung dieser Erwartung ist jenseits des Rechts eine Art „Kitt“, der den staatlichen Zusammenhalt mitgewährleistet120. Das Legalitätsprinzip kann justiziell nur dann wirksam werden, wenn der Richter der Überzeugung ist, dass das Recht konkretisiert werden soll. Ohne dieses Ethos des Richters bestünde im Übrigen die Gefahr einer Instrumentalisierung des Rechts zu beliebigen, insbesondere von außerhalb des Rechts liegenden Zwecken ein121. c) . . . aus der richterlichen Verantwortung seiner Aufgabe gegenüber Der Richter „trägt seine Persönlichkeit in das Urteil hinein. Deswegen kommt es darauf an, dass er als Persönlichkeit das Urteil trägt.“ 122 Der Richter trägt insofern „die Verantwortung“ 123 für seine Entscheidung124, die ihm keiner ab117
Hierzu: Zweigert, Charisma (Fn. 73/A.), S. 299 ff. Simon, Unabhängigkeit des Richters (Fn. 469/C.), S. 158 spricht von der eingetretenen „Entmythologisierung der Richterfigur“. 119 Kritisch hierzu Evers, Der Richter (Fn. 270/D.), S. 112 f. Ebenso: Voßkuhle, Bruch (Fn. 17/D.), NJW 2003, S. 2199, der „die mystische Überhöhung des Richterethos“ als Problem dafür sieht, dass unkontrollierte richterliche Hoheitsakte nicht als grundgesetzwidrig erkannt wurden. 120 Somek, Richterethos (Fn. 4/B.), ÖsterrRZ 1985, S. 265. 121 Somek, Richterethos (Fn. 4/B.), ÖsterrRZ 1985, S. 267 122 K. Peters zitiert nach: Kaufmann, Richterpersönlichkeit (Fn. 238/D.), S. 304 f. 123 Zum Problem der Inflation der Verwendung des Begriffs „Verantwortung“ und der Notwendigkeit Verantwortung als „sittlichen Zentralbegriff“ in rechtlichen Bezügen kontextbezogen zu verwenden: Dreier, Verantwortung (Fn. 33/D.), S. 9 ff. 124 Paul, Gewissen (Fn. 57/B.), S. 22 ff. 118
III. Begründung von Richtertugenden aus rechtsethischen Prinzipien
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nehmen kann und darf. Im Rahmen seiner Zuständigkeit ist ihm Handlungsbefugnis und Entscheidungsmacht verliehen, die er in Unabhängigkeit einsetzen und wegen des Entscheidungszwangs ausfüllen muss125. Insofern grenzt sich diese Verantwortung gegenüber der jedes Dritten ab. Der Begriff der Verantwortung kann in diesem Kontext in unterschiedlicher Weise gebraucht werden. Die richterliche Verantwortung ist in erster Linie eine rechtliche Verantwortung126 die Dritten gegenüber besteht. Sie besteht gegenüber den ihn beauftragenden Staat, der Justiz und den Bürgern, zu der er bei schuldhaftem Verstoß gegen Amts- und Rechtspflichten, gegen Strafgesetze oder – in den Grenzen des § 839 BGB – bei Schädigung „gezogen werden kann“. Im letzteren Fall fällt Verhaltens- und Sanktionsverantwortung127 allerdings regelmäßig auseinander. Richterliche Verantwortung ist aber auch Handlungs-, Ergebnis- und Folgenverantwortung128, die nicht ausschließlich rechtlich fundiert ist. Der Richter hat nicht nur den Urteilsspruch selbst, sondern auch den verfahrensmäßigen Weg dorthin und die Konsequenzen für die von seinem Urteil Betroffenen zu verantworten. Sie realisiert sich außerdem als spezifische Aufgaben- und Rollenverantwortung, die durch das Richter- und Prozessrecht geprägt sind und die er als Person für sein Handeln in Bezug auf dieses Recht hat129. Schließlich trägt der Richter die Verantwortung gegenüber dem Volk, in dessen Namen er sein Urteil spricht130. Insofern hat er ein transparentes Verfahren zu führen sowie in der Begründung und der Unterrichtung der Öffentlichkeit seine das Urteil tragenden Erwägungen mitzuteilen. Insofern besteht ein sozialer Druck, der auch der Kontrolle der Einhaltung seiner Berufsmoral dient131. Die Eröffnung richterlicher Unabhängigkeit und Freiheit verweist daneben auf die Berufsmoral und die sie untersuchende Ethik, der es immer um reflektierte und verantwortbare bzw. verantwortliche Praxis geht. Die Übernahme der Verantwortung132 durch den Richter ist seine Antwort auf diese Freiheit133 und seine
125 Zur „eigenständigen Handlungsmacht“ als strukturelle Voraussetzung jeder Verantwortung: Dreier, Verantwortung (Fn. 33/D.), S. 20 f. 126 H. Lenk, Zwischen Wissenschaft und Ethik, 2. Aufl., 1991, S. 26. 127 Hierzu: Dreier, Verantwortung (Fn. 33/D.), S. 15. 128 Zu deren Struktur: Lenk, Wissenschaft (Fn. 126/E.), S. 81 f.; Ropohl, Art. Technikethik, in: A. Pieper/U. Thurnherr (Hrsg.), Angewandte Ethik. Eine Einführung, München 1998, S. 264, 273. 129 Lenk, Wissenschaft (Fn. 126/E.), S. 81 f. 130 Vgl. Canivet, Richter (Fn. 175/C.), BJ 2006, S. 432 f. 131 Vgl. Canivet, Richter (Fn. 175/C.), BJ 2006, S. 432. 132 Marcic, Gesetzesstaat (Fn. 26/A.), S. 274 ff.; Höffe, Art. Verantwortung, in: O. Höffe, Lexikon (Fn. 15/A.), S. 326 f. 133 Paul, Gewissen (Fn. 57/B.), S. 8 f.; Wassermann, Richterliche Gewalt (Fn. 5/A.), S. 152 ff.; Wittmann, Richterliche Unabhängigkeit (Fn. 32/D.), S. 368.
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E. Prinzipien einer normativen richterlichen Ethik
ihm eingeräumte Entscheidungsmacht134, sie ist „autonome Verantwortung“ 135. Dabei geht es nicht nur um die pünktliche Beachtung der bestehenden Pflichten, sondern um die selbständige Übernahme und Wahrnehmung der das ganze Aufgabenfeld prägenden rechtsethischen Grundhaltung136. Diese Verantwortung ist dann eine sittliche, wenn sie nicht aufgrund zu erwartender Belohnung (z. B. Beförderung) oder Sanktion (dienstaufsichtliches Einschreiten, Haftung), sondern deshalb übernommen wird, weil sich der Richter selbst als für die Verwirklichung rechtsethischer Werte verantwortlich erkennt und sich gemäß dieser Verantwortung einsetzt. Der Appell der sittlichen Verantwortung stellt den Richter vor eine berufsmoralische Entscheidung, ob und wie er ihr nachkommt. Kommt er ihr nicht nach, hat das für ihn unter Umständen rechtliche Folgen; außerdem enttäuscht er das Vertrauen der Rechtssuchenden und derer, die ihn das Amt berufen haben. Am bedeutsamsten aber ist, dass er seiner Aufgabe als Richter, die gerade auf die Wahrung einer rechtsethisch fundierten Rechtskultur gerichtet ist, nicht „gerecht“ wird. In der richterlichen Handlung und Entscheidung müssen nämlich Rechtsanwendung und Wahrung rechtsethischer Prinzipien gewährleistet sein137. Die „Sanktion“ für die Nichtbefolgung steht allerdings regelmäßig in keinem Verhältnis zur Bedeutung der Verfehlung. Sie besteht zumeist „nur“ in der Missachtung durch Kollegen, der Anwaltschaft und – eher selten – der Öffentlichkeit. Will der Richter seiner rechtsethischen Verantwortung nachkommen, muss seine Haltung von den rechtsethischen Anforderungen geprägt und ausgerichtet sein. Hierfür besteht eine besondere moralische Verantwortung, von seinem Arbeitsergebnis nicht nur das Wohl und Wehe anderer abhängt. Im Einzelfall bestehen möglicherweise existentielle Gefährdungen anderer, die aus moralischen Gründen besondere Anstrengungen des Richters verlangen. 2. Verhaltensleitende rechtsethische Prinzipien mit richterethischem Gehalt: Rechtstreue, Fairness und innere Unabhängigkeit Die normative Ausrichtung der richterlichen Handlungen und Haltungen an der Verwirklichung rechtsethischer Prinzipien und Werte bietet der richterlichen Tugendethik einen normativen Kompass. Insbesondere die nach der Verfassungsordnung maßgeblichen Werte, der sog. objektiven Wertordnung des Grundge134 Lamprecht, Richterperson (Fn. 160/D.), BJ 2005, S. 14, 16, meint allerdings, dass Richter ihre Macht leugnen würden, weil sie die Verantwortung scheuten. Bereits 1972 hat Wassermann, Der politische Richter (Fn. 578/C.), das Problem richterlicher Macht deutlich angesprochen, S. 21 f. 135 Hoffmann-Riem, Privilegien (Fn. 45/D.), AnwBl. 1999, S. 2, 3. 136 Zur Verantwortung als ein ein komplexes Handlungsfeld Umgreifendes: Dreier, Verantwortung (Fn. 33/D.), S. 21. 137 Zu dem damit verbundenen Problem ausufernder richterlicher Macht: Mahlmann, Rechtsphilosophie (Fn. 97/B.), S. 237.
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setzes, bieten ihr Maßstab und Orientierung. Sie müssten bereits rechtlich die richterliche Haltung und Disposition dauerhaft prägen. Stellt er sein tägliches Handeln unter die Forderungen dieser Prinzipien und Werte und dient ihrer Verwirklichung, übt er sie aber auch berufsmoralisch ein. Folgendes hat er nach der Verfassungsordnung zu leisten: Schutz der Grund- und Menschenrechte sowie ihrer verfahrensmäßigen und rechtsstaatlichen Absicherung, der bürgerlichen „Freiheit“ und menschlichen „Würde“, die Herstellung von „Gleichheit“, „Gerechtigkeit“ und „Wahrheit“ durch eine willkürfreie, sachgerechte, rechtsrichtige und am Postulat der (prozessualen) Wahrheit ausgerichtete Entscheidung nach einem fairen Verfahren, Sicherung des gesellschaftlichen „Friedens“. Allerdings ist die Forderung, diese allgemeinen Prinzipien und Werte zu verwirklichen, und seine Haltungen an ihnen auszurichten mit dem Problem verbunden, dass sie einen hohen Abstraktheitsgrad haben. Eine bloß allgemeine Ausrichtung an ihnen könnte sowohl der Verwirklichung als auch der Evaluation dieser Haltungen entgegenstehen. Es muss zur Handhabbarkeit und Konkretisierung der richterlichen Tugenden daher der Versuch unternommen werden, haltungsund verhaltensleitende Rechtsprinzipien mit rechtsethischem Gehalt aufzuweisen, die zu „konkreten“ richterlichen Tugenden führen und aus denen weitere abgeleitet werden könnten. Dabei kann auf die zuvor dargestellten rechtsethischen Begründungsansätze für Verhaltensanforderungen an den Richter zurückgegriffen und unter dieser Prämisse ein Ableitungsversuch gemacht werden: Es liegt dabei nahe, aus dem oben beschriebenen Zweck und der Funktion richterlicher Tätigkeit (1. a)) als unabhängiger Entscheider nach rechtlichen Kriterien die Rechtstreue als maßgebendes rechtsethisches Prinzip abzuleiten. Vordringliche Erwartungshaltung der Bürger, aber auch anderer von seiner Tätigkeit Betroffener (1. b)), dürfte die Fairness sein. Der Aufgabe des Richters als unabhängiger Entscheider sowie seiner verantwortlichen Wahrnehmung dieser Aufgabe (1. c))entspricht die innere Unabhängigkeit. Rechtstreue, Fairness und innere Unabhängigkeit sind Haltungen die als Gesetzesbindung, rechtsstaatlicher Verfahrensgrundsatz und als richterliche Unabhängigkeit zwar im Recht unmittelbar verankert sind, die aber alle auch auf den Raum der Rechtsethik verweisen und – wie im Zusammenhang mit der inneren Unabhängigkeit im Einzelnen herausgearbeitet (vgl. Kapitel D.) – vor allem als ethischer Anspruch an den Richter ausgefüllt werden können. Der rechtsethische und normative Inhalt dieser drei richterlichen Haltungen wird im Folgenden näher herauszuarbeiten sein: a) Rechtstreue Die Rechtsgebundenheit kennzeichnet die Besonderheit des richterlichen Berufsfeldes. Diese Bindung geht dabei noch weiter als bei anderen Rechtsberufen, weil richterliches Handeln nicht nur bezüglich des materiellen Ergebnisses, sondern auch im Verfahren durch das Prozessrecht geregelt ist. Die berufliche Tätig-
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E. Prinzipien einer normativen richterlichen Ethik
keit des Richters wird daher normativ in erster Linie vom Recht bestimmt. Dies gilt zum einen für seine Tätigkeit bei der Rechtsprechung. Das Recht regelt aber auch weitgehend seine sonstigen Handlungspflichten. Das Recht bindet richterliches Verhalten aber nicht unmittelbar und quasi „automatisch“, sondern tatsächlich nur soweit, wie der Richter der Rechtspflicht zur Gesetzesbindung nachkommt und nachkommen will. Rechtsbindung wird so zum Element der Berufsmoral: „Das Programm der objektiven Rechtsverwirklichung ist der höchste berufliche Wert des Richters.“ 138 Damit kommt jenseits des Rechts eine richterliche Haltung ins Spiel, die als ein personaler Anker des Rechtsstaates angesehen werden kann, nämlich die Rechts- und Gesetzestreue des Richters. Kriele nennt Gesetzestreue neben der Gerechtigkeit139 zu Recht „die beiden Grundforderungen des richterlichen Amtsethos“ 140. Rechtstreue ist deshalb eine Haltung, die im Übergang zwischen Rechtspflicht und berufsmoralischer Haltung liegt, weil sie zwar im Einzelfall als konkrete rechtliche Forderung gilt, deren Verletzung unter Umständen dienstrechtlich durchgesetzt oder strafrechtlich sanktioniert werden kann. Daneben tritt sie dem Richter aber auch generell als nichtrechtliche normative Verhaltenserwartung der Anwälte, der richterlichen Kollegen und der rechtssuchenden Bürger entgegen, die eine moralische Fundierung hat. Rechtstreue dauerhaft zu halten, kann nur gelingen, wenn sie in einem Prozess der Einübung in eine gesetzesorientierte Auslegungs- und Anwendungspraxis, der richterlichen Sozialisation und professioneller Bildung trainiert wird und so zu einer Haltung des Rechtstreue wird. Zentrale Haltung der Rechtstreue ist der Rechtsanwendungswille141, der über das individuell-subjektive „für Recht halten“ hinaus den objektivierten Willen des Gesetzes sucht142. Er setzt zuallererst die grundsätzliche Akzeptanz der Rechtsordnung voraus143, dann die Bereitschaft zur Akribie bei der Suche nach dem im Einzelfall geltenden Recht144, den Willen, den sachlichen Entschei138
Wassermann, Richterliche Gewalt (Fn. 5/A.), S. 152. Im aristotelischen Sinne gehört die Gesetzestreue auch zur Gerechtigkeit, weil Gesetzen grundsätzlich die Erwartung entgegen gebracht wird, dass sie auf gerechte Zustände zielen. In diesem Sinne auch M. Kriele, Gesetzestreue und Gerechtigkeit in der richterlichen Rechtsfindung, in: Festschrift der Rechtswissenschaftlichen Fakultät zur 600-Jahr-Feier der Universität Köln, Köln 1988, S. 707 f., der aber auch auf das Spannungsfeld zwischen beiden abhebt. 140 Kriele, Gesetzestreue (Fn. 139/E.), S. 707. 141 Nach dem Roland Rechtsreport 2014 äußert allerdings eine Mehrheit der Richter (66 Prozent), dass aufgrund der unzureichenden Personalausstattung tatsächlich nicht genügend Zeit bleibt, die Fälle hinreichend zu prüfen. 142 Geiger, Die Unabhängigkeit des Richters (Fn. 73/D.), DRiZ 1979, S. 66. 143 Isensee, Vom Ethos des Interpreten (Fn. 118/D.), S. 396. 144 Hierzu: Kirchhof, Richterliche Rechtsfindung (Fn. 30/D.), NJW 1986, S. 2275, 2277. 139
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dungsgegenstand im Spiegel des Rechts zu verstehen und die im Sachverhalt angelegte Problemlage vor das Gesetz zu stellen, die abstrakten Maßstäbe des Gesetzes in eine konkrete Regel umzuwandeln, das Gesetz gegenwartsgerecht anzuwenden, die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung zu wahren, die Autonomie der Adressaten des Gesetzesbefehls bei der Kontrolle zu achten und bei der Auslegung bloße ergebnisgesteuerte Rhetorik zu vermeiden. Die Rechtstreue führt damit zu einer Haltung der in Vorbereitung und Begründung sorgfältigen Rechtsanwendung, der steten Suche nach der einschlägigen Norm, ihrer regelgerechten Auslegung nach sachgerechten Normhypothesen und der Herleitung der „Plausibilitätskette zwischen Urteil und Gesetz“ 145. Eine solche Haltung wird Transparenz in der Methodenwahl wahren und eine sorgfältige Suche nach dem besten Argument ebenso anstreben, wie die Wahrung der Systematik des Rechts und den Einbau in bestehende Rechts- und Wertvorstellungen (soziale Akzeptanz)146. Rechtsanwendung wird so zu einem rationalen Vorgang „lege artis“, ohne blind dafür zu sein, dass sie auch wertender Willensakt147 ist. Letzteres fordert die Entscheidungswahl zwischen rechtlich vertretbaren Alternativen als verantwortlichen Akt. Rechtstreue prägt auch das Bewusstsein für die von ihm geforderte zügige Verfahrensführung. Sie steht für einen Verzicht auf Politik im Gewande des Urteils, übernimmt aber im Rahmen der unabdingbaren Rechtsfortbildung verantwortliche Rechts- und Sozialgestaltung. Rechtstreue und Rechtsanwendungswillen prägen die „Rechtlichkeit des Richters“. Damit wird richterliches Handeln zu mehr als zu bloßer Entscheidung eines Falles. Versteht man die Rechtstreue in diesem Sinne, wird sie als Haltung zur existenziellen Grundlage des Rechtsstaates – „Richterliche Rechtstreue ist eine Existenzfrage des Rechtsstaates“ 148 – und dient insbesondere der Verwirklichung der in der Verfassung und den Gesetzen in Recht gesetzten rechtsethischen Werte. Sie richtet sich damit – wie bei einem Beamten – auch auf die dem Recht und der Moral zugrundeliegenden Grundwerte, deren Ziel es ist, neben dem innerstaatlichen Frieden, dem demokratischen Prozess und seiner (gesetzgeberischen) Ergebnisse, Rechtssicherheit und Willkürfreiheit auch eine humane Staats- und Rechtsordnung zu wahren149, die den Einzelnen als Mittelpunkt der Rechtsordnung sieht150. Die Wahrung der Rechtstreue steht im engen Zusam145 Zum Problem der unzureichenden Gesetzesbindung: Rupp, Bindung (Fn. 25/A.), NJW 1973, S.1773. 146 Wassermann, Macht (Fn. 20/A.), DRiZ 1986, S. 204. 147 Böckenförde, Ethos des Juristen (Fn. 5/B.), S. 17 ff. weist nach, dass sich das Ethos des Juristen über die Herausbildung von Auslegungs- und Rechtsanwendungsregeln herausbildete. 148 M. Rheinstein, Wer wacht über die Wächter? in: JuS 1974, S. 413. 149 Böckenförde, Ethos des Juristen (Fn. 5/B.), S. 24 f. zu den Legisten und ihrem Gesetzesethos. 150 Faller, Richterliche Unabhängigkeit (Fn. 82/D.), S. 97.
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menhang mit der Aufgabe des Richters als Treuhänder des Rechts (Art. 92 GG)151, und der Maxime des Interpretationsethos auf das „Gemeinwohl“ hin152. Mit dem von der Rechtstreue geforderten uneigennützigem Dienst am Recht153 wären Haltungen unvereinbar, bei denen das Gesetz nur (nachträgliches) Begründungsmittel einer schon zuvor aus der eigenen Moral, mit dem gesunden Menschenverstand, aus Billigkeit, aus Gründen sozialen Ausgleichs oder aufgrund eigener politischer oder weltanschaulicher Bewertungen „gefundenen“ Entscheidungen wäre. Eine Billigkeitsrechtsprechung ohne Gesetzkontext verfehlte die Rechtstreue. Dies gilt auch für eine Haltung, die die Offenheit von Rechtsnormen zum Anlass nähme, sie als Option eigener politischer Gestaltung zu begreifen, ohne methodisch fundiert weiter nach dem Willen des Gesetzgebers und dem Regelungssinn zu fragen. Aber selbst bei der Rechtsfortbildung hört – und dies klingt nur vordergründig widersprüchlich – die Rechtstreue nicht auf; denn sie hat methodische Voraussetzungen und verfassungsrechtliche Grenzen. Sie verlangt schließlich willkürfreies, sachgerechtes und rationales Vorgehen, die Offenlegung der unter Umstanden auch subjektiv geprägten Wertungen und die Gründe für die Wahl einer Methode154. Eine Abweichung von Präjudizien ist zwar zulässig, setzt aber den zuvor beschriebenen Erkenntnisprozess und eine sorgfältige Auseinandersetzung mit deren Gründen voraus155. Insgesamt führt die Rechtstreue so zu einer Zurückhaltung, Mäßigung und richterlichen Selbstbeschränkung156, die nur „widerwillig“ die von einem unklaren Gesetz geforderte Aufgabe übernimmt, das Regelungssystem weiterzuentwickeln oder – besser – zu Ende zu denken. Der Rechtsanwendungswille zähmt so den Gestaltungswillen157. Allerdings kann Rechtstreue nicht nur verstanden werden als absoluter und bedingungsloser Rechtsgehorsam. Gerade die Implementierung rechtsethischer Grundprinzipien in das Recht verlangt vom Richter, dass er deren rechtsethischen Potential unter Umständen „in Reibung“ mit dem einfachen Gesetz bringt und sie so zum Gegenpart zum Recht macht158.
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Kreth, Anspruch (Fn. 84/D.), S. 6. Isensee, Vom Ethos des Interpreten (Fn. 118/D.), S. 394 f. 153 Isensee, Vom Ethos des Interpreten (Fn. 118/D.), S. 393, stellt das „Ethos des Dienens“ an die Spitze der Maximen des Interpretationsethos; außerdem Burmeister, Praktische Jurisprudenz (Fn. 51/A.), S. 113 ff. 154 Hierzu Kriele, Gesetzestreue (Fn. 139/E.), S. 711 ff. 155 Kriele, Gesetzestreue (Fn. 139/E.), S. 716. 156 Sendler, Unabhängigkeit (Fn. 28/A.), NJW 1983, S. 1457. 157 Zum sozialen und psychologischen Prozess der Rechtsfortbildung im höchstrichterlichen Spruchkörper: Berkemann, Richterliche Entscheidung (Fn. 182/D.), KritV 1988, S. 29, 46 ff. 158 Wittreck, Funktionen (Fn. 10/A.), S. 284, weist darauf hin, dass Gesetzesgehorsam nicht zum „stumm Schalten“ des richterlichen Gewissens führen darf. 152
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b) Fairness Ähnlich wie die erste Haupttugend des Richters ist die Fairness zwar auch (verfassungs-)rechtliche Forderung und Pflicht, bezeichnet aber auch die grundlegende Haltung des Richters gegenüber den Bürgern bzw. sonstigen Prozessbeteiligten im Verfahren159. So hat die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts den Grundsatz der Fairness aus dem Rechtsstaatsprinzip, den Prozessgrundrechten sowie der verfahrensrechtlichen Seite der materiellen Grundrechte abgeleitet und ein Recht auf faires Verfahren entwickelt. Das Recht nimmt zum Teil auch ausdrücklich Bezug auf den Fairnessbegriff, etwa in Art. 6 EMRK oder Art. 52 Abs. 4 VerfBrandenburg160. Insbesondere im Strafverfahren bietet er einen rechtlichen Kontrollmaßstab161, ob der Umgang des Richters mit den Prozessbeteiligten den grundlegenden Geboten einer Verfahrensgerechtigkeit entspricht162. Dieser Charakter als äußerste rechtliche Grenze wird in der Judikatur ausdrücklich so formuliert: „Das Grundrecht auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren kann in einem Zivilrechtsstreit verletzt sein, wenn ein Gericht sein Verfahren nicht so gestaltet, wie die Parteien es auf der Grundlage der maßgeblichen Vorschriften der Verfahrensordnung von ihm erwarten dürfen. Allerdings führt nicht jeder Verfahrensfehler bereits zu einer verfassungswidrigen Verletzung dieses Grundrechts. Das ist vielmehr nur dann der Fall, wenn er spezifisches Verfassungsrecht verletzt, also nicht nur Verfahrensvorschriften des einfachen Rechts missachtet, sondern grundlegende, in den Vorschriften der maßgeblichen Verfahrensordnung zum Ausdruck kommende rechtsstaatliche Prinzipien verkannt werden.“ 163 Das Recht auf ein faires Verfahren bestimmt damit eine äußere Grenze für richterliches Verhalten im Verfahren. Es lässt aber auffüllungsbedürftigen Raum vor dieser Grenze. Aus dieser Sicht öffnet sich die rechtliche Fairnessregel mithin für darunter liegende rechtsethische Bestimmungen, die die Haltung des Richters prägen können und ihn zu einem umfassend fairen Umgang mit den Prozessparteien anleitet. Natürlich gilt für diesen Umgang auch die Haltung der Rechtstreue, die sich auf den Willen zur Anwendung des Prozessrechtes bezieht. Das Prozessrecht bestimmt aber – auch wenn es beachtet wird – häufig nur einen Raum unterschiedlicher Handlungsoptionen, deren Wahl und Einsatz vom Fairnessgedanken getragen sein kann, um insgesamt – also auch jenseits des Rechtsvollzugs – das Verfahren fair zu führen. 159 Eckertz-Höfer, Guter Richter (Fn. 119/A.), S. 6, beschreibt damit die übliche Erwartungshaltung des Bürgers gegenüber dem Richter. 160 P. Tettinger, Fairness als Rechtsbegriff im deutschen Recht, in: Der Staat, 36 (1997), S. 579. 161 Hierzu Tettinger, Fairness (Fn. 160/E.), S. 577 f. 162 Hierzu Heussen, Berufsethik (Fn. 6/A.), NJW 2015, S. 1927, 1930. 163 VerfGH des Saarlandes, U. v. 08.07.2014 – Lv 6/13 – zit. nach Juris.
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Um die jenseits rechtlicher Maßstäbe bestehenden berufsmoralischen Anforderungen näher zu bestimmen, ist zunächst der allgemeine Begriff der Fairness164 näher zu betrachten: Er stammt ursprünglich aus dem Sport und erfasste dort Eigenschaften wie ehrlich, einwandfrei, anständig, sauber, vorbildlich. Allerdings steht der Begriff der Fairness, insbesondere geprägt durch den Grundsatz des „fair trial“, auch schon immer in einem engen Zusammenhang mit Gerechtigkeitsvorstellungen, der „Justice as Fairness“ 165, auch wenn sich solche Vorstellungen z. T. auf Regeln und Verfahren zur Herstellung von politischer und gesellschaftlicher Gerechtigkeit beziehen. Bezogen auf richterliches Verhalten bzw. als richterliche Tugend kann Fairness als berufsethisches Optimierungsgebot und Aufforderung zur Umschreibung von Fairnessregeln166 definiert werden. Als „Optimierungsgebot“ ist Fairness damit ein normativer Wert und eine ethische Überzeugung167, die auf einen respektvollen und Vertrauen erweckenden168 Umgang mit den Beteiligten gerichtet ist. Sie verlangt eine umfassende und empathische Kommunikationsbereitschaft (anhören, aufklären, hinweisen) bei Ausgeglichenheit und Geduld169. Zu Recht wurde das Machtgefälle170 zugunsten des Richters im Verfahren beschrieben, ein Ausgleich gefordert und in die richterliche Kommunikationsverantwortung gestellt171. Ziel ist die Chancen- und Waffengleichheit der Beteiligten172. Umgekehrt muss der Richter aber auch in angemessener Form Respekt von den Beteiligten vor seinem Amt und der Justiz einfordern173. Fairness zielt auf Offenheit und Transparenz des Verfahrens174 statt bürokratischer Enge, auf Mündlichkeit175 statt Schriftlichkeit176, Dialog statt Monolog177, Nachvollziehbarkeit und
164 Tettinger, Fairness (Fn. 160/E.), S. 576; R. Wiederkehr, Fairness als Verfassungsbegriff, Bern 2006, S. 49. 165 Vgl. „Gerechtigkeit als Fairness“: Ein Neuentwurf von J. Rawls, E. Kelly und J. Schulte, Frankfurt 2007. 166 Tettinger, Fairness (Fn. 160/E.), S. 595 m.w. N. 167 Ebenso: Heussen, Berufsethik (Fn. 6/A.), NJW 2015, S. 1927, 1928 und 1930; Wiederkehr, Fairness (Fn. 164/E.), S. 49, 155, 216 f. 168 Tettinger, Fairness (Fn. 160/E.), S. 576. 169 Zur Forderung der „Menschlichkeit“: M. Quaas, Aus der Sicht des Anwalts – der ideale (Verwaltungs-)Richter, in: DRiZ 2001, S. 80. 170 Vgl. die Praxisfälle von Schneider, Pflichten- und Haftungsverständnis (Fn. 323/ D.), AnwBl. 1988, S. 601, 606 f. 171 Wassermann, Richterliche Gewalt (Fn. 5/A.), S. 190 ff. 172 Wassermann, Richterliche Gewalt (Fn. 5/A.), S. 195 ff. 173 Heussen, Berufsethik (Fn. 6/A.), NJW 2015, S. 1927, 1931. 174 Dieterich, Freiheit und Bindung (Fn. 38/D.), RdA 1986, S. 4. 175 Die mündliche Verhandlung darf dabei aber keine bloße Show- oder Theatervorstellung sein. 176 Gross, Visitenkarte der Justiz, in: NJW 2014, S. 3140 ff. 177 Wassermann, Richterliche Gewalt (Fn. 5/A.), S. 201.
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Verständlichkeit richterlicher Verfahrensschritte, Freistellung des Betroffenen bei richterlichen oder justiziellen Fehlern, Offenheit hinsichtlich des Ergebnisses statt starrer Vorfestlegung178, Achtung der Subjektstellung und Ernstnehmen der Parteien statt richterlicher Arroganz und elitärem Gehabe179, Ausschöpfen von zulässigen Hinweisen, angemessene und auskömmliche Fristsetzungen, angemessener Umgang mit Substantiierungspflichten180. Bezogen auf die Sachentscheidung fördert eine faire Haltung die Lebensnähe und die Richtigkeit des Ergebnisses. Allerdings besteht insoweit ein Vorrang der Rechtstreue, als einfaches Prozessrecht nicht unter Berufung auf die Idee der Fairness und der Gerechtigkeit181 überspielt werden darf. Element der Fairness ist auch eine nachvollziehbare Begründung der Entscheidung182. c) Innere Unabhängigkeit Im Zusammenhang mit dem verfassungsrechtlichen Grundprinzip der richterlichen Unabhängigkeit wurde im Einzelnen herausgearbeitet, dass die innere Unabhängigkeit zwar als rechtliche Forderung anzusprechen ist, es im Kern bei ihr aber um eine berufsmoralische Haltung geht. Richterliche Unabhängigkeit ist kein Status oder Zustand, sondern der Vollzug einer Haltung183. „Unabhängig ist der Richter, der nach seinem Habitus und Status insgesamt so strukturiert ist, dass die Qualität seiner Entscheidung und ihre achtungsvolle Anerkennung gewährleistet sind.“ 184 Diese Haltung der Eigenständigkeit und „kultivierten Souveränität“ 185 werden – wie im Einzelnen herausgearbeitet – zwar vom Recht gefordert. Sie ist aber rechtlich – soweit es nicht um eindeutige Verstöße gegen konkrete Amtspflichten, insbesondere gegen das Mäßigungsgebot oder gegen Befangenheitsregeln geht – kaum näher zu bestimmen. Insofern liegt die innere Unabhängigkeit auf der Grenze zwischen dem Recht und der Berufsmoral. Sie wurde daher als „eine ihm obliegende, verfassungsrechtlich in ihren Voraussetzungen und Konsequenzen nicht konkretisierbare Aufgabe“, die dem Amtsethos zugewiesen ist, bezeichnet186. Mit ihr sind „geistige Offenheit und charakterliche 178 Heussen, Berufsethik (Fn. 6/A.), NJW 2015, S. 1927, 1929; allerdings darf der Richter ohne Rechtsverstoß eine vorläufige Rechtsansicht äußern: BVerfGE 4, 143. 179 Hierzu Wassermann, Der politische Richter (Fn. 578/C.), S. 78 f. 180 Zu den rechtlichen Grenzen: BVerwG, LKV 2015, S. 30. 181 Tettinger, Fairness (Fn. 160/E.), S. 589 m.w. N.; BVerfG (K), NJW 1993, S. 1190, 1191. 182 Heussen, Berufsethik (Fn. 6/A.), NJW 2015, S. 1927, 1930. 183 Hierzu Kaufmann, Richterpersönlichkeit (Fn. 238/D.), S. 307 f. 184 Zweigert, Innere Unabhängigkeit (Fn. 916/C.), S. 711. 185 Zweigert, Innere Unabhängigkeit (Fn. 916/C.), S. 713. 186 Faller, Richterliche Unabhängigkeit (Fn. 82/D.), S. 97 f.; ebenso: Rudolph, Unabhängigkeit (Fn. 127/A.), DRiZ 1984, S. 141; Schilken, Sicherung (Fn. 50/D.), JZ 2006, S. 862.
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Unverführbarkeit gemeint.“ 187 Zutreffend ist auch die Aussage: „Diese innere Unabhängigkeit des Richters kann weder die Verfassung noch das Gesetz garantieren. Sie ist eine dem Richter persönlich gestellte Aufgabe. Er muss seine innere Unabhängigkeit gerade gegenüber den rechtlichen nicht fassbaren Einwirkungen bewahren.“ 188 „Hier ist (. . .) ein richterliches Amtsethos gefordert, das den Richter befähigt, sich von den Erwartungen und Wünschen Dritter frei zu machen, um ausschließlich nach Recht und Gesetz zu entscheiden, und ihm die Kraft gibt, nicht auf den Beifall der Medien zu schielen und auch die unberechtigte und zuweilen unsachliche Kritik zu ertragen.“ 189 Die innere Unabhängigkeit wird daher konsequent als zentrale persönliche Anforderung an den Richter bezeichnet190. Der Richter ist denselben Gefährdungen seines neutralen Urteils ausgesetzt wie jeder Mensch, auch wenn seine Ausbildung und berufliche Sozialisation ein distanziertes Urteilsvermögen schult. Die Facetten der Haltung, die die innere Unabhängigkeit erfordert, können folgendermaßen näher umschrieben werden: Kritische, aber wohlwollende Distanz zu den Beteiligten191 und zur Sache, Eigenständigkeit gegenüber Angehörigen der Justiz (auch im Kollegialorgan)192, ein Bewusstsein für die Beeinflussbarkeit jedes Entscheiders, insbesondere durch die veröffentlichte Meinung193, für psychologische Mechanismen bei der Entscheidungsfindung und für äußere Abhängigkeiten (auch im „Karrieresystem“), ein kritischer Blick auf die eigene Sozialisation194, die Fähigkeit zur Selbstkritik195 und -disziplin, Zähmung der Eitelkeit, insbesondere in der Öffentlichkeit, und dadurch Vermeidung sozialer Abhängigkeit, Beherrschung von Vorverständnissen und Vorurteilen196, Voreingenommenheiten und Aversionen197. Auch die Leugnung der Abhängigkeiten selbst stellt die innere Unabhängigkeit bereits in Frage: „Ein Richter, der anderen und vor allem sich selbst vormacht, bei der Entscheidungstätigkeit von seinem Mensch-Sein befreit zu sein, wird – so müssen 187
Dieterich, Berufsethik (Fn. 873/C.), BJ 2007, S. 160. Kreth, Anspruch (Fn. 84/D.), S. 4. 189 Papier, Richterliche Unabhängigkeit (Fn. 46/D.), NJW 2001, S. 1091. 190 Vgl. Quaas, Der ideale (Verwaltungs-)Richter (Fn. 169/E.), DRiZ 2001, S. 79 f. 191 Gross, Visitenkarte (Fn. 176/E.), NJW 2014, S. 3140 ff. 192 Vgl. hierzu Berkemann, Unabhängigkeit (Fn. 277/C.), S. 25. 193 Zweigert, Innere Unabhängigkeit (Fn. 916/C.), S. 719 f. 194 Zu den problematischen Auswirkungen fehlender Selbstkritik bei Tatsachenermittlung und Wertung: Zweigert, Innere Unabhängigkeit (Fn. 916/C.), S. 718 f.; vgl. auch Sendler, Zwielicht? (Fn. 47/D.), S. 320 f. 195 Quaas, Der ideale (Verwaltungs-)Richter (Fn. 169/E.), DRiZ 2001, S. 81. 196 Sendler, Zwielicht? (Fn. 47/D.), S. 311. 197 Zum hermeneutischen Problem jeder Rechtserkenntnis: Esser, Vorverständnis und Methodenwahl (Fn. 123/D.); W. Hassemer, Juristische Hermeneutik, in: ARSP 1986, S. 185 ff.; Roellecke, Bindung des Richters (Fn. 153/D.), VVDStRL 34 (1976), S. 7, 12 ff. 188
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wir vermuten – am wenigsten eine Kontrolle über die unvermeidliche Abhängigkeit seines Richtens von seiner Persönlichkeit haben.“ 198 Innere Unabhängigkeit bedeutet dabei allerdings nicht, den wohl untauglichen Versuch unternehmen zu wollen, alle Prägungen und vorgeprägte Werthaltungen in einem Zustand restloser „innerer Freiheit“ ausmerzen zu wollen199. Sie müssen vielmehr reflektiert und für die Entscheidung fruchtbar gemacht werden. Wenn Rasehorn die Rede von der inneren Unabhängigkeit ironisierend ins Psychologische bzw. KirchlichTheologische verweist200, um die politischen Freiheiten des Richters herauszuheben, übersieht er, dass innere Unabhängigkeit als Voraussetzung für unabhängige und unparteiliche Rechtsprechung mit einem eigenen politischen Standpunkt des Richters gut vereinbar ist. Da der Richter in der Rechtswirklichkeit die richterliche Unabhängigkeit mit Leben erfüllen muss, verlangt dies auch, dass er – im Amt – ein „Ethos“ der Selbstkontrolle und Zurückhaltung hinsichtlich weltanschaulicher und politischer Positionierung bei der Rechtsprechung entwickelt. Sie richtet sich auf das „Ethos der Objektivität“ 201. In diesem Sinne wird die Unabhängigkeit zu einer Eigenschaft des Richters, deren Erwerb eine ethische Anstrengung und Leistung voraussetzt202. Die insoweit geforderte Haltung ist nur „mit einem hohen Maß an sittlicher, geistiger und willentlicher Anstrengung möglich.“ 203 Ob die Anforderungen an den Richter wegen dessen herausgehobener Funktion – wie Marcic meint – zu der Forderung führen muss, dass „im Richterstand . . . die Besten der Besten eines Landes versammelt sein“ 204 sollten, die neben den juristischen Fähigkeiten eine besondere Bildung auch in ontologischen, ethischen und freiheitsgeschichtlichen Studien besitzen sollten205, erscheint fraglich, letztlich wohl zu hoch gezielt. Realistischer dürfte die Beschreibung Eichenbergers sein, der schreibt: „Begriff und Prinzip innerer Freiheit erwarten nichts Übermenschliches, aber immerhin geläuterte Persönlichkeit.“ 206 Erst die auf innerer Freiheit ruhende Persönlichkeit führt zur Selbständigkeit im Urteil und bietet über eine Unbeteiligtheit erst die Grundlage für eine neutrale Einstellung gegenüber Verfahrensbeteiligte, Unparteilichkeit und Sachlichkeit. Die Haltung der inneren Unabhängigkeit ist eine die Richterpersönlichkeit besonders prägende Tugend. Zu Recht werden sie in eine direkte Beziehung gesetzt 198 Zweigert, Innere Unabhängigkeit (Fn. 916/C.), S. 719; ebenso: Quaas, Der ideale (Verwaltungs-)Richter (Fn. 169/E.), DRiZ 2001, S. 80. 199 Hierzu Lamprecht, Richterperson (Fn. 160/D.), BJ 2005, S. 14, 17. 200 Rasehorn, Politische Meinungsäußerung (Fn. 427/D.), KritJ 1986, S. 76 f. 201 Isensee, Vom Ethos des Interpreten (Fn. 118/D.), S. 395. 202 Geiger, Die Unabhängigkeit des Richters (Fn. 73/D.), DRiZ 1979, S. 66. 203 Wipfelder, Bürger (Fn. 22/A.), DRiZ 1987, S. 119. 204 Marcic, Gesetzesstaat (Fn. 26/A.), S. 261 f. 205 Marcic, Gesetzesstaat (Fn. 26/A.), S. 277. 206 Eichenberger, Richterliche Unabhängigkeit (Fn. 472/C.), S. 53.
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und die innere Unabhängigkeit zur zentralen Persönlichkeitsausstattung und zum erwarteten Charakter des Richters erklärt207. In diesem Sinne schreibt Eichenberger auch: „Der Sache nach treten die Bedeutung der juristischen Ausbildung und der Fundierung im Volk hinter dem Moment des Persönlichkeitswertes des Richters weit zurück. Die menschlich-persönlichen Qualitäten sind wohl die wichtigsten, die gerade im Hinblick auf die richterliche Unabhängigkeit beim Organwalter vorauszusetzen sind. In ihnen liegt die wirksamste Garantie vor allem der inneren Unabhängigkeit des Richters, der bedeutungsvollste, aber am schwersten zu erfassenden Art richterlicher Unabhängigkeit, eingeschlossen.“ 208 3. Richterliche Kardinaltugenden: Wahrheit und Gerechtigkeit Der Richtereid verlangt vom Richter weitere Haltungen, die nach der philosophischen Tradition zu den Kardinaltugenden gerechnet werden. Neben dem Mut oder der Tapferkeit und der Mäßigung sind Wahrheit und Gerechtigkeit209 wesentliche Tugenden des Richters. Auch wenn ihr Inhalt im Einzelnen streitig ist, so sind sie als Forderung an den Richter als zentrale Werte einer rechtsstaatlichen Rechtsprechung unverzichtbar. Insbesondere die Gerechtigkeit (justitia) wendet sich als Tugend an den Richter als Repräsentant einer sozialen Institution210, eben der Justiz. Im Folgenden sollen die insoweit geforderten Haltungen des Richters näher beschrieben werden. a) Wahrheit Wahrheit als Haltung bezieht sich auf unterschiedliche Bereiche richterlichen Handelns. Sie betrifft natürlich und in erster Linie die Suche nach Wahrheit bezüglich der zu beurteilenden Tatsachen. Diese Suche ist zwar teilweise beschränkt durch die jeweilige Prozessordnung, weshalb außerhalb des straf- oder fachgerichtlichen Inquisitionsgrundsatzes „nur“ nach der „prozessualen“ Wahrheit zu suchen ist. In jedem Falle aber zielt die Tugend der Wahrheit – im Rahmen des Möglichen und des Angemessenen – zu einer sorgfältigen und umfassenden Tatsachenermittlung und regelgerechten Beweiswürdigung. Wahrheit als richterliche Haltung bedeutet damit auch kontrollierte, regelgerechte und sorgfältige Überzeugungsbildung. Dabei sind der Vortrag der Beteiligten, Indizien und das verfügbare bzw. prozessordnungsgemäß eingeführte Beweismaterial bzw. deren Aussagekraft in einem 207
So etwa Kaufmann, Richterpersönlichkeit (Fn. 238/D.). Hierzu Eichenberger, Richterliche Unabhängigkeit (Fn. 472/C.), S. 199. 209 Zum Problem der Trennung dieser Haltungen vor der Verabschiedung des Subsumtionsdogmas: Kaufmann, Richterpersönlichkeit (Fn. 238/D.), S. 298 f. 210 Zum Zusammenhang zwischen der Verwirklichung von „Gerechtigkeit“ und Institutionen: H. Dreier, „Wir hatten Gerechtigkeit erhofft . . .“, FAZ v. 05.01.2015, S. 6. 208
III. Begründung von Richtertugenden aus rechtsethischen Prinzipien
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komplexen intellektuellen, psychischen und emotionalen Vorgang nach dem Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung zum Abgleich zu bringen, um eine innere Überzeugung vom tatsächlichen Geschehen zu bilden211. „Überzeugung ist der psychische Vorgang, durch den die Überwindung von Zweifeln an einer Tatsache oder einem Tatsachenkomplex zum Bewusstsein kommt und zum Ergebnis wird.“ 212 Wann und unter welchen Umständen der Richter diese Überzeugung gewinnen darf oder nicht, kann ihm aber grundsätzlich nicht vorgeschrieben werden213. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist Überzeugung des Tatrichters von einem bestimmten Sachverhalt nicht eine absolute, das Gegenteil denknotwendig ausschließende Gewissheit. Vielmehr genügt ein nach der Lebenserfahrung ausreichendes Maß an Sicherheit, das vernünftige Zweifel nicht aufkommen lässt. Dabei haben solche Zweifel außer Betracht zu bleiben, die realer Anknüpfungspunkte entbehren und sich lediglich auf die Annahme einer theoretischen Möglichkeit gründen214. Insofern ist die Wahrheitsfindung in hohem Maße mit anderen berufsmoralischen Grundhaltungen verbunden, weil sie sowohl von Sorgfalt als auch von Selbstdistanz bei der (Re)Konstruktion tatsächlicher Vorgänge geprägt sein muss; hierzu gehört auch die Haltung der Rechtstreue, weil die Überzeugungsbildung einer Reihe äußerer rechtlicher Grenzen unterliegt. So muss etwa im Strafrecht auch ein Geständnis auf seine Glaubhaftigkeit überprüft werden; sich dazu aufdrängende Beweiserhebungen dürfen nicht unterbleiben215. Überzeugungsbildung bedeutet mithin sorgfältiger rechtlicher wie berufsmoralischer Umgang mit Zweifeln. Die Haltung der Wahrheit geht zwar nicht soweit, dass der Richter Wahrheitssuche um jeden Preis betreiben muss. Insofern kann die Haltung der Fairness und das Recht Grenzen gebieten. Er wird aber die „Unerweislichkeit“ von Tatsachen nicht vorschnell216 feststellen und „seine Augen schließen“ vor sich aufdrängenden Hinweisen eines anderen Ablaufs oder Geschehens. Auch die Pflicht zur Substantiierung wird er nur soweit aufbürden, wie sie dem Recht und den Möglichkeiten des Verpflichteten angemessen ist. Die Justitia ist zwar eine Figur mit verbundenen Augen; der Richter würde die damit symbolisierte Unparteilichkeit allerdings verfehlen, wenn er die seinigen nicht weit öffnen würde.
211 Zu Einzelheiten vgl. Bohne, Überzeugungsbildung (Fn. 49/B.), JZ 1971, S. 2 ff. Er unterzieht die Überzeugungsbildung nicht nur einer philosophischen (S. 38 ff.), sondern auch einer psychologischen Analyse (S. 50 ff. Zum Dreiklang: Lösungsakt, Lösungsbewusstsein, Verfikation). Insofern fordert er den Richter als umfassend Wahrnehmenden. 212 So Bohne, Überzeugungsbildung (Fn. 49/B.), JZ 1971, S. 10. 213 BGH, U. v. 10.06.1998 – 2 StR 156/98 – zit. nach Juris. 214 BGH, U. v. 13.12.2012 – 4 StR 177/12 – Rdnr. 11, zit. nach Juris m.w. N. 215 BVerfGE 133, 168 ff. 216 Zur Frage des richterlichen „Tempos“: Bohne, Überzeugungsbildung (Fn. 49/B.), JZ 1971, S. 16 f.
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E. Prinzipien einer normativen richterlichen Ethik
Die Haltung der Wahrheit betrifft als „Wahrhaftigkeit“ außerdem das Verhalten des Richters im Umgang mit den Prozessparteien und verlangt – in teilweiser Überschneidung mit dem Grundsatz der Fairness – Offenheit und Transparenz. Diese Offenheit prägt die Bereitschaft des Richters für Reflexion, Argumentation und Intersubjektivität. Ein wahrhaftiger Richter wird daher nicht die Kenntnis von Tatsachen „taktisch“ zurückhalten, um einen Bürger, der diese Tatsache nicht kennt, von seiner Rechtsverteidigung abzuhalten oder diese zu beschränken, nur um etwa eine schnelle Erledigung zu erzielen. Einen Beteiligten zu einem Vergleich zu bewegen mit der unzutreffenden Behauptung, seine Klage oder Rechtsverteidigung habe keine Aussicht auf Erfolg, ist auch angesichts einer objektiven Überlastung keine lässliche Notlüge, sondern Lüge. Im Umgang mit sich selbst zielt die Wahrheit als „Ehrlichkeit“ – in teilweiser Überschneidung mit der inneren Unabhängigkeit – auf ein Bewusstmachen des eigenen richterlichen Vorverständnisses (richterliche Hermeneutik)217. Sie dient zum einen der Selbstaufklärung über eigene Engführungen, die der Erkenntnis der jeweiligen Wahrheit entgegenstehen. Sie öffnet damit erst den Erkenntnisund Verstehensprozess: Verstanden kann nur etwas werden, das vorverstanden ist. Hierbei können Gefahren für und bei der Wahrheitssuche verhindert werden: Richterlicher Subjektivismus droht nämlich von dem, der meint (oder vorgibt), sich an objektiv Gegebenes zu halten218: „Die Richtigkeit eines richterlichen Urteils hängt (. . .) mehr oder weniger davon ab, dass der Richter seine eigene Person begreift.“ 219 Nach der Wahrheit in dem Sinne zu suchen, dass das Urteil in jeder Hinsicht Tatsachen, Gesetz und Wertordnung vollständig trifft, also „die einzig richtige Entscheidung“ ist, dürfte den Richter berufsmoralisch überfordern. Diese Wahrheit kann realistischer Weise „nur“ als regulative Idee gebraucht werden220: Der Richter hat alles zu tun, um ihr möglichst nahezukommen. Aber letztlich fordert der rechtsethische Wert der Rechtssicherheit nach dem Durchlaufen des Instanzenzugs, dass die abschließende Entscheidung gemäß dieser Idee der Richtigkeit nach besten Wissen und Gewissen auch die letzte „Wahrheit“ im Sinne eines abschließenden Machtspruchs feststellen muss. Hier kommt im übertragenen Sinne der durch die beschriebene regulative Idee gemilderte Grundsatz zur Geltung: auctoritas non veritas facit legem221.
217 Kaufmann, Richterpersönlichkeit (Fn. 238/D.), S. 302 ff.; Lamprecht, Richterperson (Fn. 160/D.), BJ 2005, S. 14, 17. 218 Kaufmann, Richterpersönlichkeit (Fn. 238/D.), S. 305 f. 219 Kaufmann, Richterpersönlichkeit (Fn. 238/D.), S. 306. 220 Hierzu: Isensee, Vom Ethos des Interpreten (Fn. 118/D.), S. 387. 221 Hierzu: Isensee, Vom Ethos des Interpreten (Fn. 118/D.), S. 386 f.
III. Begründung von Richtertugenden aus rechtsethischen Prinzipien
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b) Gerechtigkeit Die Erwartung an den Richter, er solle Gerechtigkeit schaffen, ist uralt222 und auch durch den modernen dekonstruktivistischen Diskurs zum Gerechtigkeitsproblem nicht erloschen223. Der „gerechte Richter“ ist ein bis heute gepflegter Topos. Deshalb wurde die Gerechtigkeit als ethische Forderung an den Richter auch zum inhaltlichen Bestandteil seiner Selbstverpflichtung im Richtereid. In ihr spiegeln sich alle anderen Richtertugenden wieder und fordern vom Richter entsprechende berufsmoralische Haltungen. Sie ist die zentrale Forderung an ihn, die jegliche Indifferenz zurückweist. Ebenso wie die Wahrheit bezieht sich dabei die Haltung der Gerechtigkeit auf unterschiedliche Bereiche des richterlichen Berufsfeldes: In Übereinstimmung mit der Rechtstreue (als Tugend) ist sie eine Haltung bei der Rechtsanwendung. Denn die Herstellung von Gerechtigkeit als politisches und übergesetzliches Gebot ist zunächst Aufgabe des Gesetzgebers224. Er hat im Gesetz die jeweilige Sachmaterie unter Berücksichtigung der Grund- und Menschenrechte sowie der zentralen rechtsethischen Forderungen des Rechtsstaatsprinzips abstrakt-generell zu regeln und die auf dem Spiele stehenden Werte und Interessen abzuwägen und zu gestalten225. Rechtsanwendung heißt vor diesem Hintergrund die Anwendung „vermutlich“ gerechter Gesetze. Gerechtigkeit vollzieht sich insoweit zunächst im und nach dem Gesetz. Der Richter hat die „Gerechtigkeitsbeurteilungen“ des Gesetzgebers deshalb regelgerecht zu ermitteln, nachzuvollziehen und auf den Einzelfall anzuwenden. Das Gesetz wird dabei allerdings angenommen als gut funktionierendes und gerechtes Regelsystem. Vom Richter ist daher die Bereitschaft verlangt, bei Normallagen das Gesetz als Ausdruck gerechter, jedenfalls angemessener Konfliktlösung anzuerkennen226. Insofern hat die richterliche Ethik gegenüber den gesetzlichen Gerechtigkeitsentscheidungen dienende Funktion227. Sie deckt sich insoweit weitgehend mit der Rechtstreue228. „Gerecht“ wird ein Richter aber auch dann genannt, wenn er eine lebensnahe und der Situation angemessene Entscheidung auf der Grundlage des Gesetzes in einem Akt der Einzelfallgerechtigkeit trifft. Der „gerechte Richter“ hat das „Seinige“ gegenüber dem Betroffenen getan (suum
222
Berkemann, Unabhängigkeit (Fn. 277/C.), S. 16 f. Vgl. zu den unterschiedlichen Gerechtigkeitsbegriffen: Rüthers, Rechtstheorie (Fn. 14/B.), S. 196 ff. 224 In diesem Sinne für den Beamten: F. Lindner, Der Gerechtigkeitsauftrag des Beamten, in: ZBR 2016, S. 1 ff. auch zum Folgenden. 225 Dreier, Ethik (Fn. 34/B.), S. 49 ff. 226 Kaufmann, Richterpersönlichkeit (Fn. 238/D.), S. 308. 227 Müller, Ethik (Fn. 132), BWVPr 1992, S. 246. 228 W. Huber, Das Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit, in: DRiZ 2015, S. 102, 104 f. 223
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E. Prinzipien einer normativen richterlichen Ethik
cuique), das ihm qua Amt funktional zukommt. Er ist im klassischen Sinne damit tugendhaft229. Die Tugend der Gerechtigkeit fordert vom Richter außerdem, bei der Rechtsanwendung stets kritisch darauf zu achten, ob das Gesetz selbst die verfassungsrechtlich verbürgten Gerechtigkeitserwartungen an das Recht auch erfüllt230 oder ob es als bloßes Herrschaftsmittel zur einseitigen und unausgewogenen Sicherung bestimmter Interessen dient231. Die Gerechtigkeitserwartungen an das einfache Recht finden sich insoweit in den Grundentscheidungen der Verfassung. Er kann so über Art. 100 GG zur Prüfungsinstanz für die qualitative Erwartung an das Recht werden, unter Umständen auch zu einem Sachwalter der distributiven Gerechtigkeit, die auf die angemessene Verteilung von Rechten, Gütern, Pflichten und Lasten, insbesondere die soziale Gerechtigkeit achtet. Die Orientierung an der ausgleichenden Gerechtigkeit kann ihn nach verhältnismäßigen und – im Rahmen des Gesetzes – billigen Lösungen suchen lassen. Hierzu gehört letztlich auch die Suche nach einem gerechten Ausgleich für Vergehen in einer tatund schuldangemessenen Strafe und nach einem wirksamen Schadensausgleich (iustitia correctiva)232. Diese Haltung kann ihn aber auch dazu motivieren, sich kritisch „gegen“ das Gesetz zu stellen und entweder nach einer „gerechten“, d.h. verfassungskonformen Auslegung zu suchen oder den Weg einer verfassungsrechtlichen Überprüfung über eine konkrete Normenkontrolle zu wählen. Er muss also nicht Gesetzespositivismus bis zur Unmenschlichkeit233 betreiben, sondern kann das Gesetz selbst auf einen Prüfstand der Gerechtigkeit, d.h. den im Grundgesetz derzeit verankerten rechtsethischen Prinzipien stellen. Bei diesem „Gerechtigkeitsabgleich“ kann der Richter auch selbst Rechtsprinzipien mit rechtsethischer Qualität formulieren, die noch nicht positiviert sind, aber „an einem exemplarischen Fall durch die Bewusstseinsschwelle in das juristischen Denken“ 234 einbrechen. Schließlich kann er selbst „Verfahrensgerechtigkeit“ üben, was im Wesentlichen die Erfüllung des Fairnessgebots verlangt. Auch bei der rechtlichen Bewältigung von Folgen oder Handlungen von Unrechtssystemen verlangt das Recht nicht selten die Beurteilung der Frage, ob früher ungerechtes und deswegen unanwendbares Recht gesetzt oder angewandt wurde235. Sowohl für die Folgen des NS-Systems hat insofern die Radbruch’sche Formel Hilfestellung geleistet. 229
Vgl. hierzu Rüthers, Rechtstheorie (Fn. 14/B.), S. 198. Zu dieser Aufgabe Remmers, Der politisch indifferente Richter (Fn. 719/C.), S. 165, 172 f. 231 Vgl. hierzu Berkemann, Unabhängigkeit (Fn. 277/C.), S. 24. 232 Huber, Recht und Gerechtigkeit (Fn. 228/E.), DRiZ 2015, S. 102, 104 f. 233 Böckenförde, Ethos des Juristen (Fn. 5/B.), S. 26 f. 234 J. Esser, Grundsatz und Norm, S. 53 f. 235 Vgl. hierzu z. B. BVerfGE 23, 98 zur 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25.11.1941. 230
III. Begründung von Richtertugenden aus rechtsethischen Prinzipien
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Bei drohendem Verlust der Rechtskultur, also dann wenn der Gesetzgeber zunehmend den Boden überkommener Gerechtigkeitsvorstellungen verlässt, kann die richterliche Tugend der Gerechtigkeit das Gewissen aktivieren, um etwa einen legalistisch bemäntelten Umsturz zu erschweren. Denn die Maßstäbe der Gerechtigkeit können auch an die Rechtsordnung als Ganzes oder einzelne gesetzliche Entscheidungen herangetragen werden. Die so verstandene richterliche Tugend ist deshalb von besonderer Bedeutung, weil diese Haltung in der Zeit der Krise wirken kann, wenn positives Recht sich von den grundlegenden zivilisatorischen Regeln und den in der Geschichte des Rechts entwickelten rechtsethischen Prinzipien zur sachgerechten Lösung von Gerechtigkeitsproblemen entfernt236. In einer solchen Situation kann sich der Richter zur Maßstabsbildung auf die Suche nach den unantastbaren Werten und Prinzipien begeben, ohne die ein humanes Recht nicht denkbar ist. Hier bietet sich der Rückgriff auf die in der Neuzeit von der Staats- und Rechtsphilosophie entwickelten Maßstäbe an, die an eine gerechte Staats- und Rechtsordnung gestellt wurden und werden (z. B. demokratische Selbstbestimmung, Rechtssicherheit, die Achtung fundamentaler Menschenrechte, richterliche Unabhängigkeit, das Willkürverbot; die Verhältnismäßigkeit, der Vertrauensschutz, die Vertragsfreiheit, Schadens- und Rücksichtnahmegebote, Verfahrensgarantien, Radbruch’sche Formel, . . .)237. Voraussetzung ist dabei die vollständige Verinnerlichung dieser Wertentscheidungen238. Da sie auch im Grundgesetz Niederschlag gefunden haben, kann als Maßstab neben den international anerkannten Menschenrechten etwa der Kanon fundamentaler Rechtsgrundsätze dienen, der der Ewigkeitsgarantie des Grundgesetzes unterliegt (Art. 79 Abs. 3 GG)239. Entfernt sich dagegen der Richter von diesen Maßgaben und wählt den individuellen Rekurs auf (seine) fundamentalen ethischen Werte sowie auf „die Humanität“, will er sich sogar auf die Suche nach der Idee der Gerechtigkeit240 machen, besteht allerdings ein nicht geringes Risiko, die eigenen Wertentscheidungen zum Gerechtigkeitsmaßstab zu machen. Denn es besteht erhebliche Unsicherheit und Skepsis nicht nur darüber, was im jeweiligen Einzelfall als gerecht zu gelten hat, sondern auch darüber, welche anderen grundlegenden normativen Prinzipien des äußeren Zusammenlebens maßgebliche und universale Gerechtigkeitsvorstellungen sind und ob sie stets Voraussetzungen für das Recht und seine Anwendung sind241. 236
Hierzu Kriele, Gesetzestreue und Gerechtigkeit (Fn. 139/E.), S. 719 ff. In diesem Sinne: Dreier, „Wir hatten Gerechtigkeit erhofft . . .“, FAZ v. 05.01. 2015, S. 6. 238 Wassermann, Der politische Richter (Fn. 578/C.), S. 17 f. 239 Zum rechtsethischen Gehalt der Ewigkeitsgarantie: Dreier, Ethik (Fn. 34/B.), S. 43 f. 240 Höffe, Art. Gerechtigkeit, in: O. Höffe, Lexikon (Fn. 15/A.), S. 96 ff. 241 Vgl. Dreier, „Wir hatten Gerechtigkeit erhofft . . .“, FAZ v. 05.01.2015, S. 6. 237
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E. Prinzipien einer normativen richterlichen Ethik
4. Richterliche „Sekundärtugenden“: Sorgfalt, Disziplin, Mut, zugewandte Distanz, Mäßigung Neben den vorgenannten Haltungen, die unmittelbar auf die Verwirklichung rechtsethischer Prinzipien und Werte gerichtet sind, muss der Richter solche Tugenden entwickeln, die nur mittelbar rechtsethisch begründet sind, aber für eine in diesem Sinne verantwortete Praxis unterstützend wirken. a) Sorgfalt und Disziplin als Haltung der Rechtstreue Wie jeder Beruf verlangt auch der Richterberuf die sorgfältige Anwendung der „Handwerkszeugs“. Beim Richter verlangt dies in jedem Stadium des Verfahrens, dass er konzentriert und erledigungsorientiert vorgeht und dabei eine bestimmte Denk- und Arbeitshaltung einnimmt. Er hat zunächst das schriftliche Vorbringen und die gesamten Akten gründlich und genau zu lesen,242 auf dieser Grundlage eine Hypothese zum streitendscheidenden Recht zu bilden, Norm- und Anwendungsvoraussetzungen mit gedanklicher Klarheit und Scharfsinn243 methodisch zu ermitteln, Entscheidungserhebliches von Unerheblichem, Streitiges von Unstreitigen zu trennen, die danach noch erforderlichen Beweise zu erheben, das Verfahren prozessordnungsgemäß zu führen, die mündliche Verhandlung unter Beachtung des rechtlichen Gehörs durchzuführen und schließlich eine vollstreckungsfähige und – unter Beachtung der gesetzlichen Zeitvorgaben – verständlich begründete Entscheidung zu verkünden und abzusetzen. Dies alles verlangt die Haltung der Anstrengungsbereitschaft244, kurz der Arbeits- und Selbstdisziplin245. Insofern unterstützt diese Haltung die Rechtstreue. b) Mut als Haltung der inneren Unabhängigkeit Die Haltung des Muts oder der persönlichen Tapferkeit ist nicht nur eine Kardinaltugend, sondern seit der Frühzeit auch eine Erwartung an den Richter246. Gerade die innere Unabhängigkeit ist von dieser Richtertugend nicht zu trennen. In einer Paraphrase zu der Antwort Kants auf die Frage „Was ist Aufklärung?“ 247 242 Dass dies selbst beim Bundesverfassungsgericht hin und wieder nicht getan wird und drei Richter den aufgehobenen Beschluss nicht gelesen haben, zeigt der von V. Rieble, Karlsruher Leseschwäche, myops 2011, S. 32 ff. beschriebene Fall. Hierzu BVerfG (K), NJW 2011, S. 1661 zu OLG Frankfurt, FamRZ 2011, S. 489; und Menz, FamRZ 2011, S. 452. 243 Vgl. Canivet, Richter (Fn. 175/C.), BJ 2006, S. 432. 244 Richterliche Unabhängigkeit, insbesondere die Freiheit, die Dienstzeit nicht am Gericht zu verbringen, schützt nicht den faulen Richter: Quaas, Der ideale (Verwaltungs-)Richter (Fn. 169/E.), DRiZ 2001, S. 80. 245 Hierzu eingehend: Sendler, Zwielicht? (Fn. 47/D.), S. 315 f. 246 Berkemann, Unabhängigkeit (Fn. 277/C.), S. 16 f. 247 Vgl. den Abdruck in: Bahr (Hrsg.), Was ist Aufklärung – Thesen und Definitionen, Stuttgart 1974, S. 8 ff.
III. Begründung von Richtertugenden aus rechtsethischen Prinzipien
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hat Berkemann treffend formuliert: „Unabhängigkeit ist der Ausgang aus seiner selbstverschuldeten oder doch bestehenden Abhängigkeit. Abhängigkeit ist das Unvermögen des Richters, sich seiner richterlichen Fähigkeiten ohne Einfluss anderer zu bedienen. Selbstverschuldet ist die Abhängigkeit dann, wenn die Ursachen derselben nicht am Mangel der Fähigkeiten, sondern der Entschließung und des Mutes liegen, sich ihrer ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Und so lautet der Wahlspruch: Habe Mut, dich deiner eigenen richterlichen Unabhängigkeit zu bedienen, indem Du gerecht und weise, verständig und erfahren und tapfer bist.“ 248 Mut kann sich dabei auf verschiedene berufliche Herausforderungen beziehen. Er kann bereits darauf gerichtet sein, bei der Rechtsanwendung den Zweck einer Regelung zu ergründen und dann unter Abkehr von einem ängstlichen Formalismus dem Recht zur Wirksamkeit zu verhelfen249 oder entgegen den in Medien, von artikulationsstarken Gruppen oder von Politikern klar formulierten Erwartungen eine Sache gründlich aufzuklären und dann demgemäß – und nicht nach der geäußerten Erwartung – zu entscheiden250. c) Zugewandte Distanz und Mäßigung als Haltung der Fairness Es dürfte unstreitig sein, dass „die Regulation von Distanz und Nähe zu den Grundkompetenzen von Richtern gehört und Einfluss auf die Urteilsakzeptanz und der Zufriedenheit der Parteien mit der Justiz hat.“ 251 Insofern liegen empirische Untersuchungen vor252. Der balancierte Umgang mit den Beteiligten ist insbesondere Ausdruck der Fairness im Verfahren. Als Teilfähigkeit der sozialen Kompetenz des Richters ist von dem Richter insoweit zu fordern, dass er je nach Situation und Erforderlichkeit Nähe und Empathie zu den Prozessbeteiligten oder Distanz und Autorität zeigt. Die eigentliche Tugend liegt mithin nicht darin, die jeweilige Haltung einzunehmen, sondern zu wissen und zu spüren, wann welche Haltung verlangt ist. Insofern hat er das zu zeigen, was Psychologen „Schwingungsfähigkeit“ nennen. Dieses Wissen und Gespür lässt sich nur durch Fortbildung in den Grundlagen der Kommunikation und Psychologie sowie entsprechender Übungen gewinnen253.
248
Berkemann, Unabhängigkeit (Fn. 277/C.), S. 26. Lamprecht, Die Lebenslüge der Juristen (Fn. 5/A.), S. 13 ff. 250 Vgl. etwa den Fall Tugce: FAZ vom 16.05.2015, http://www.faz.net/aktuell/ge sellschaft/kriminalitaet /urteil-im-prozess-tugce-albayrak-revision-der-verteidiger-13649 653.html. 251 R. Ludewig, Das richterliche Auftreten vor Gericht: Distanz oder Nähe, in: BJ 2013, S. 170, auch zum Folgenden. 252 Ludewig, Distanz oder Nähe (Fn. 251/E.), BJ 2013, S. 171. 253 Ludewig, Distanz oder Nähe (Fn. 251/E.), BJ 2013, S. 172. 249
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E. Prinzipien einer normativen richterlichen Ethik
Die Haltung der Distanz ist als „Zurückhaltung“ 254 in vielfältigen richterlichen Kontexten gefordert und hat einen engen Bezug zur Mäßigung, die als berufsmoralische Haltung auch eng mit der inneren Unabhängigkeit verbunden ist: Zurückhaltung gegenüber der Sache und den Beteiligten (Unbefangenheit), in seiner Entscheidungsmacht (judicial self-restraint) oder bezogen auf seine Meinungsfreiheit (Mäßigungsgebot). Die Mäßigung verlangt aber auch die Kontrolle eigener Gefühle, um Zorn und Leidenschaft im Umgang mit den Prozessbeteiligten zu dämpfen und das Prozessgeschehen vor der Emotionalisierung zu bewahren, die am Beginn der Unsachlichkeit und Willkür steht. 5. Felder richterethischer Bewährung Die beschriebenen richterlichen Tugenden können anhand typischer richterlicher Problemsituationen näher und praxisbezogen betrachtet und dadurch der konkrete Inhalt der jeweils geforderten Haltung herausgearbeitet werden. Bevor allerdings die Felder, auf denen sich der Richter mit den hier herausgearbeiteten Richtertugenden ethisch bewähren muss, näher untersucht werden, ist zusammenzufassen: Aus der Vorgabe, ein Richter müsse ein unabhängiger und unparteiischer Entscheider nach den vorgegebenen rechtlichen und gesetzlichen Maßstäben sein, ergeben sich Maßgaben für Verhalten und Einstellung des Richters bezogen auf das Verfahren und das Entscheidungsergebnis. Rechtstreue, Fairness und innere Unabhängigkeit als rechtsethische Postulate für den Richter dienen der Wahrung der Freiheit des Rechtssuchenden, der Wahrheit und der Gerechtigkeit. Diese Maßgaben können – wie oben geschehen – tugendethisch als Haltungen des Richters definiert und näher bestimmt werden, die den Charakter des „guten“ Richters ausmachen. Sie können aber auch als berufsmoralische Forderungen „mittlerer Reichweite“ aufgefasst und so als ethische Pflicht in das Gebot an den Richter gefasst werden: „Führe innerlich unabhängig ein auf die Ermittlung der Wahrheit gerichtetes faires Verfahren und strebe mit ihm eine positiv-rechtlich richtige und mit den herrschenden Gerechtigkeitsvorstellungen übereinstimmende Entscheidung an.“ Fairness wird so von einer Tugend zu einem berufsethischen Optimierungsgebot im Verfahren und zur Aufforderung, nichtrechtliche Fairnessregel einzuhalten. Aus der Rechtstreue folgen Optimierungsregeln für die Ermittlung des Sachverhalts und der Rechtsanwendung. Das Gebot der inneren Unabhängigkeit verpflichtet den Richter, für deren Gefährdung sensibel zu sein, sie zu bekämpfen und für eine innerlich offene Einstellung zu den Beteiligten und der Sache zu sorgen. Ebenso „stecken“ in den Tugenden Wahrheit und 254 Anhand der Thesen des DRB von 2013, in denen dieser Wert als maßgeblicher enthalten ist, erläuternd: Sandhaus, Richterliche Ethik (Fn. 890/C.), S. 474 f. Hierzu auch Dieterich, Freiheit und Bindung (Fn. 38/D.), RdA 1986, S. 6.
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Gerechtigkeit die ethischen Pflichten, diese letzten Werte im konkreten Einzelfall anzustreben. Bei diesem Verfahren tugendethischer Ableitung wird das aus der allgemeinen Ethik bekannte Phänomen auch für die richterliche Ethik deutlich, dass der normative Kern der Tugend auch immer als moralisches Gebot oder Pflicht „mittlerer Reichweite“ bestimmt werden kann. Dieser Ansatz führt zu einer „integrativen Ethik“, die moralische Pflicht und tugendethische Haltung, moralisches Gebot und moralische Persönlichkeit aufeinander bezieht. Hieraus lassen sich eine Reihe von nichtrechtlichen, nur berufsmoralischen Haltungen und Pflichten ableiten: Offenheit, Ausgeglichenheit und Geduld, Aufklärungsbereitschaft, Freiheit von Arroganz oder bürokratischer Enge, Respekt, Distanz und Empathie, Wissen um eigene Grenzen und Beeinflussbarkeit, Suche nach dem besten Argument, Mut zur Entscheidung, institutionelle Mitverantwortung, Verzicht auf Politik im Gewande des Urteils, Gründlichkeit in Vorbereitung und Begründung, Verständlichkeit, Zurückhaltung in und außerhalb der Verhandlung, Gerechtigkeitsliebe, Sinn für das Angemessene etc. Diese Haltungen lassen sich strukturieren und konkretisieren nach den oben beschriebenen Tugenden und nach dem jeweiligen Wirkungsfeld. Sie werden dann zu ethisch gebotenen Haltungen gegenüber den Prozessbeteiligten (a)), gegenüber der Öffentlichkeit (b)), zur Haltung im politischen Meinungskampf (c)), gegenüber den Kollegen und Mitarbeitern (d)), gegenüber der Rechtsidee (e)) und zur Haltung des Richters zu sich selbst (f)). Bezieht man die Wirkungsfelder auf die Tugenden zurück, gilt: Felder, die das Verhalten gegenüber anderen betreffen, werden von der Tugend der Fairness bzw. dem Fairnessgebot, die die das Verhalten gegenüber Gesetz und Recht betreffen, von der Rechtstreue, und das Verhalten des Richters zu sich selbst betreffen von der Tugend bzw. Pflicht zur inneren Unabhängigkeit geprägt: a) Haltung gegenüber den Prozessbeteiligten und deren Vertretern Wegen der Methodenunsicherheit und der deshalb inhaltlich unsicheren Gesetzesbindung, die die offene Flanke der Rechtstreue ist, beruht das Vertrauen und damit die Legitimation richterlichen Handelns auf einem fairen Verfahren255. Die Bedeutung der Fairness und die Folgen, die sich aus ihrer Beachtung bzw. Nichtbeachtung ergeben, zeigen sich daher am nachhaltigsten im täglichen Umgang mit den Prozessbeteiligten. Der italienische Rechtsphilosoph Luigi Ferrajoli hat das Problem der Haltung des Richters gegenüber dem Bürgern, der sich an die Erfahrung mit dem konkreten Richter erinnert, in der Art eines Spiegels folgendermaßen beschrieben: „Ausgeglichenheit oder Arroganz, Respekt vor den Menschen oder Missachtung; die Bereitschaft, ihre Argumente zur Kenntnis zu nehmen, oder bürokratische Stumpfsinnigkeit; Unparteilichkeit oder Vorurteil – wer 255
Dieterich, Freiheit und Bindung (Fn. 38/D.), RdA 1986, S. 4.
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mit dem Gericht zu tun hatte, wird sich vor allem erinnern, ob der Richter ihm Angst oder Vertrauen eingeflößt hat. Nur im letzteren Falle wird er die Unabhängigkeit des Richters als eine Garantie für ihn selbst wahrnehmen und verteidigen – als eine Garantie für seine Rechte als Bürger. Anderenfalls – da können wir sicher sein – wird ihm diese Unabhängigkeit als ein Privileg einer verhassten und furchtbaren Gewalt erscheinen.“ 256 Auf diesem Feld wird in diesem Sinne durch die Richter also selbst Vertrauen der Bürger zum Rechtsstaat aufgebaut oder beeinträchtigt257. Die Haltung der Fairness kann insoweit allgemein als die Haltung der Achtung der jeweiligen Person als Mensch konkretisiert werden (ohne Sozialstatus, also „ohne Ansehen der Person“), die erst den Respekt258 vor dem Menschen hinter dem Rechtskonflikt259 ermöglicht. Diese humane Haltung setzt Vorurteilsfreiheit, situationsangemessenes Verhalten, Selbstbeherrschung260, Empathie261, Ernsthaftigkeit, freundliche Distanz sowie Ruhe und Gelassenheit auf der Grundlage eines reflektierten Selbstbewusstseins voraus. Fairness verlangt berufsmoralisch vom Richter über die bloße rechtliche Anhörungspflicht hinaus eine zugewandte Kommunikation und Diskussion262. Diese Kommunikationsfähigkeit und -bereitschaft bezieht sich auf alle Verfahrensabschnitte: Sie verlangt konkret die tatsächliche Erreichbarkeit im oder über das Gericht für Anwälte, Sachverständige und Beteiligte jenseits der rechtlichen Anwesenheitspflichten bei Sitzungen, Beratungen und in Eilfällen. Im Zeitalter ausgefeilter technischer Kommunikationsmittel ist dies ohne die geringste Einschränkung der persönlichen Unabhängigkeit von jedem Ort aus möglich. Der Richter muss sich über das Gericht lediglich erreichbar machen, also den Kommunikationskanal öffnen. Umgekehrt ist es mit fairer Kommunikation nicht vereinbar, wenn Verfahren „wegtelefoniert“ werden, ohne das nach Lage der Dinge erforderliche offene Forum einer öffentlichen mündlichen Verhandlung zu bieten. Gleiches gilt für „Verhandlungen“ über das Telefon, bei der immer nur eine Partei263 angesprochen und nur „einseitig“ informiert wird264. Die rechtzeitige und voraus-
256
L. Ferrajoli, Plebiszitäre Demokratie und Verfassungsgarantien, in: BJ 2003,
S. 80. 257
Voss, Ins Gerede gekommen (Fn. 764/C.), DRiZ 1994, S. 448. v. Olenhusen, Thesenpapier (Fn. 126/A.), 4. These. 259 Strecker, Ethik (Fn. 59/A.), BJ 2004, S. 385 f. 260 Wipfelder, Bürger (Fn. 22/A.), DRiZ 1987, S. 120. 261 v. Olenhusen, Thesenpapier (Fn. 126/A.), 4. These. 262 Krix, Richterethik (Fn. 109/A.), S. 125; Strecker, Ethik (Fn. 59/A.), BJ 2004, S. 385 f. 263 Krix, Richterethik (Fn. 109/A.), S. 155. 264 Hierzu: Heussen, Berufsethik (Fn. 6/A.), NJW 2015, S. 1927, 1931. 258
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schauende Terminabsprache mit Prozessbeteiligten ist ein wesentlicher, häufig zur Seite geschobener Aspekt von Kommunikation mit den Prozessbeteiligten. Auch richterliche Hinweise ohne hinreichend sorgfältige Prüfung mit dem Ziel, eine verfahrensbeendende Erklärung zu provozieren, sind unfair und mit der Tugend der Rechtstreue kaum zu vereinbaren. Faire Kommunikation setzt zudem die Verwendung einer verständlichen Sprache voraus265. Sie führt erst zu der gebotenen Transparenz (z. B. verständliche Erklärung für Laien bei juristischem Streit in der Verhandlung)266. Die Vorbereitung der mündlichen Verhandlung setzt beim Eingang der Sache ein, indem verfahrensbegleitend erforderliche Hinweise gegeben werden, um zu verhindern, dass vor dem Termin das Material „zusammentelefoniert“ wird267. In der mündlichen Verhandlung, die „zwischenmenschlich“ angemessen nur geführt werden kann, wenn den Beteiligten die Namen der beteiligten Richter bekannt sind, muss eine kommunikationsförderliche Struktur und Atmosphäre bestehen. Dies setzt ein Zeitmanagement voraus, das zeitlich ein „offenes Ohr“ erst ermöglicht. Jedenfalls ist trotz Zeitdrucks die Bereitschaft zum Rechtsgespräch zu wahren. Zur Kommunikationsbereitschaft gehört auch die Bereitschaft zur Mediation268 als Ausdruck einer neuen Streit- und Verständigungskultur, die andere – nämlich konsensuale – Formen der Konfliktlösung als den „Kampf ums Recht“ in den Vordergrund stellt269. Diese kommunikativen Anforderungen sind inzwischen auch im Gesetz als Anforderungsprofil niedergelegt (§§ 5 ff. DRiG), das vom Richter neben den qualifizierten Rechtskenntnissen auch „soft skills“ erwartet, nämlich Verhandlungsmanagement, Gesprächsführung, Rhetorik, Streitschlichtung, Mediation, Vernehmungslehre und Kommunikationsfähigkeit. Umgekehrt steht einer fairen konsensualen Lösung entgegen, einen Vergleich „um jeden Preis“ und unter Einsatz von Druckmitteln und unzulässigen Einflussnahmen zu erzielen270. Faire Kommunikation verlangt rechtzeitige Hinweise271, den Hinweis auf Zweifelsfragen, insbesondere auf offene Gesetze, die eine weitreichende Wertung erfordern272.
265 Krix, Richterethik (Fn. 109/A.), S. 124; Voss, Ins Gerede gekommen (Fn. 764/C.), DRiZ 1994, S. 448. 266 Schmidt-Syaßen, Richterbild (Fn. 151/A.), MHR 1/07, S. 17. 267 Vgl. Quaas, Der ideale (Verwaltungs-)Richter (Fn. 169/E.), DRiZ 2001, S. 83. 268 v. Olenhusen, Thesenpapier (Fn. 126/A.), 4. These. 269 Hierzu Unberath, Auf dem Weg zu einer differenzierten Streitkultur, JZ 2010, S. 975 f. 270 v. Olenhusen, Thesenpapier (Fn. 126/A.), 4. These; vgl. die Untersuchungen von Gottwald/Hutmacher/Röhl/Strempel, Der Prozessvergleich, 1983, die Strategien und „Tricks“ von Richtern bei der Herstellung von Vergleichsbereitschaft aufzeigen. 271 Michaelis-Merzbach, Der unabhängige Richter (Fn. 39/D.), S. 547. 272 Hierzu: Sendler, Unabhängigkeit (Fn. 28/A.), NJW 1983, S.1458.
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E. Prinzipien einer normativen richterlichen Ethik
Die Zurückweisung unsubstantiierten Vorbringens273 ist nicht selten eine Verweigerung vertiefter Kommunikation und muss wegen der Gefahr, dass sie gegen materielle Gerechtigkeit, Wahrheit und Fairness verstößt, mit diesen Prinzipien und Werten abgewogen werden. Der faire Umgang muss letztlich in verständliche Urteile münden274, aus denen der Betroffene entnehmen kann, dass und wie er gehört wurde, und aus welchen Gründen sein Vortrag (nicht) zum Erfolg geführt hat. Fairness verlangt weiter einen Blick für Interessen der Parteien275 und für die sozialen Konsequenzen einer Entscheidung276. Sie führt dazu, rechtsfriedenschaffende Vermittlungen zwischen den Parteien anzustreben und ausgewogene Lösungsmöglichkeiten, insbesondere Vergleiche vorzubereiten und anzubieten. Wenn es das Recht zulässt, kann dieser Blick auch die Auslegung beeinflussen. Der Richter hat auch auf seine Fürsorge für die schwächere, insbesondere unvertretene Partei zu achten und dabei seine Unparteilichkeit zu wahren. Auch der Umgang mit den Anwälten verlangt Fairness. In der Erwartung, dass sie ihrer Stellung als „Organe der Rechtspflege“ und ihren berufsethischen Anforderungen gerecht werden wollen, ist ein partnerschaftlicher, wertschätzender und professioneller Umgang geboten. Dies verbietet die Abhängigkeit von Pflichtverteidigern zu „nutzen“ 277, PKH-Gewährung und Streitwertfestsetzung als Element der Steuerung von anwaltlichem Verhalten einzusetzen278 oder den Zeitdruck von Anwälten für sachwidrige richterliche Forderungen zu missbrauchen279. Wie bei der Partei hat der Richter diese Haltung gegenüber dem Anwalt „mitzubringen“ und kann sie erst verlassen, wenn dessen Verhalten oder der Partei klare und sachgerechte Begrenzungen verlangen. Zu den Haltungen, die Rechtstreue und der Wille zur Durchsetzung des Rechts fordern, gehören bei grenzüberschreitenden Parteien der Mut und die situationsangemessene Härte. Nur mit ihrer Hilfe kann unter Umständen der geordnete Rahmen für eine mündliche Verhandlung gesichert werden. Insofern ist diese Haltung auch Ausfluss der Fairness, wenn nur auf diese Weise für jeden Beteiligten der Raum zur Kommunikation eröffnet wird. Die Haltung der Distanz führt zu einer Unzugänglichkeit für Schmeichelei, Zudringlichkeiten oder Anwürfen280. Der faire Umgang mit den Beteiligten ver273 274 275 276 277 278 279 280
v. Ohlenhusen, Thesenpapier (Fn. 126/A.), 4. These. Michaelis-Merzbach, Der unabhängige Richter (Fn. 39/D.), S. 547. Michaelis-Merzbach, Der unabhängige Richter (Fn. 39/D.), S. 547. Strecker, Ethik (Fn. 59/A.), BJ 2004, S. 385 f. Titz, Luxus (Fn. 15/D.), S. 6. Böttcher-Grewe, Richter tricksen (882/C.), DRiZ 2011, S. 203. Böttcher-Grewe, Richter tricksen (882/C.), DRiZ 2011, S. 203. Wipfelder, Bürger (Fn. 22/A.), DRiZ 1987, S. 120.
III. Begründung von Richtertugenden aus rechtsethischen Prinzipien
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meidet umgekehrt richterliche Arroganz281 und „Vorführen“ der Parteien282, Unnahbarkeit und das Behandeln der Partei „als Nummer“ und die Betonung des Formalen. Die dem Mensch zugewandte Art verhindert schließlich, dass der Richter als blutleerer Rechtstechniker abweisend und weltfremd283 erscheint. b) Haltungen in und gegenüber der Öffentlichkeit284 Während im Umgang mit den Parteien in erster Linie die Haltung der „Fairness“ gefragt ist, ist in und gegenüber der Öffentlichkeit vom Richter „innere Unabhängigkeit“ und Offenheit verlangt. Dass dies auch von Richtern überwiegend so gesehen wird, zeigen entsprechende Umfragen285. Dabei geht es hier noch nicht um eigene politische Äußerungen des Richters in der Öffentlichkeit, die dem Handlungsfeld der unter dem gesetzlichen Mäßigungsgebot stehenden Haltung im politischen Meinungskampf zuzurechnen sind (vgl. insoweit unten c)), sondern um den dienstlichen Umgang mit der Presse bzw. das private Verhalten mit Öffentlichkeitsbezug. aa) Zunächst soll die allgemein geforderte Haltung im Umgang des Richters mit der Öffentlichkeit im dienstlichen Kontext beleuchtet werden. (1) Der Richter hat sich in seiner Rolle als Amtsträger grundsätzlich aktiv zur Öffentlichkeit zu verhalten. Der Richter ist in seinem Amt öffentliche Person286. Die Rechtsprechung ist eine öffentliche Angelegenheit. Dies gilt nicht nur für die mündliche Verhandlung, wo der Grundsatz der Öffentlichkeit als rechtsstaatliches Gut seit der Abschaffung der Kabinettsjustiz gilt, sondern für das gesamte Handeln der Justiz. Die Forderung der Transparenz, die auch als richterliche Tugend anzusprechen ist, muss daher – in Abwägung mit anderen Interessen, insbesondere der der Beteiligten287 – das Handeln des Richters prägen. Der Richter muss daher offen sein für Informationen an die Öffentlichkeit, insbesondere diese in bedeutenden Verfahren unterrichten. Dies wird er regelmäßig nicht selbst tun, sondern zur Wahrung seiner inneren Unabhängigkeit dem Pressesprecher des Ge281 Strecker, Ethik (Fn. 59/A.), BJ 2004, S. 385 f.; v. Olenhusen, Thesenpapier (Fn. 126/A.), 4. These. 282 v. Olenhusen, Thesenpapier (Fn. 126/A.), 4. These. 283 Sendler, Rechtsstaat (Fn. 17/A.), NJW 1989, S. 1770. 284 Zur Justizberichterstattung und ihrem geringen Umfang betreffend richterlichen Handelns: H. J. Friske/R. Herr, Gefährdet die Presse die richterliche Unabhängigkeit? in: DRiZ 1990, S. 331; Wipfelder, Bürger (Fn. 22/A.), DRiZ 1987, S. 122 f. 285 Nach dem Roland Rechtsreport 2014 sieht eine Mehrheit der Richter und Staatsanwälte von 55 Prozent eine große (42 Prozent) oder sehr große (13 Prozent) Gefahr, dass der öffentliche Erwartungsdruck bei einzelnen Prozessen die Unabhängigkeit der Gerichte beeinflussen kann. 286 VGHBW, DVBl. 2914, S. 101: Anspruch der Presse auf Namensnennung der an einer Entscheidung beteiligten Richter. 287 Vgl. hierzu BVerfGE 138, 33.
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E. Prinzipien einer normativen richterlichen Ethik
richts überlassen. Allerdings kommt dem für die Entscheidung zuständigen Richter eine Anstoßfunktion zu, indem er auf bedeutende und möglicherweise allgemein interessierende Verfahren oder Entscheidungen hinweist. Eine Haltung, sich vor Publizität zu scheuen, entspricht nicht dem öffentlichen Auftrag des Richters. Insofern ist es berufsmoralisch zweifelhaft, wenn – wie tatsächlich geschehen – Richter, die vom Bundesverfassungsgericht zu Filmaufnahmen vor und nach der Verhandlung angehalten wurden, ihren Unmut darüber äußern, indem siehe ohne Robe und „quasi in Freizeitkleidung“ zur Urteilsverkündung einziehen, um den geforderten „Pressetermin“ abzuwickeln288. Die Wahrung der Interessen der Beteiligten verlangt allerdings auch, dass zunächst geprüft wird, ob das Gericht es mit einem „Vertreter der Presse“ zu tun hat und nicht mit jemanden, der den scheinbaren Status des Pressevertreters nutzt, um auf diesem Wege an sonst ihm nicht zugängliche Informationen zu gelangen289. Umgekehrt wäre ein Drang zur Öffentlichkeit, der nicht sach-, sondern selbstbezogen motiviert wäre, keine Haltung, die dem übertragenen öffentlichen Amt entspräche, sondern richterlicher Narzissmus. Dies gilt insbesondere dann, wenn es um die Suche nach Publizität im Verfahren geht. So sind etwa besonders pointierte und durch das Verfahren nicht veranlasste Äußerungen in der mündlichen Verhandlung, die nur dem Zweck der öffentlichen Aufmerksamkeit dienen, Verhaltensweisen, die von der Tugend der inneren Unabhängigkeit und Mäßigung kaum getragen sind. Zu einer offenen und aktiven Haltung zur Öffentlichkeit gehört es, bereit zu sein, rechtsstaatliche Regeln öffentlich zu erklären und zu erläutern, etwa in Schulen im Rahmen des Rechtskundeunterrichts oder im Rahmen von Maßnahmen der Erwachsenenbildung290. (2) Problematisch für die richterliche Berufsmoral ist stets der Umgang mit den Einwirkungen oder gar mit dem Versuch der Einflussnahme durch Medien auf das Verfahren291. Insbesondere in spektakulären Strafprozessen, aber auch in bedeutenden verwaltungsrechtlichen Streitigkeiten kann die mediale Bericht288 Vgl. hierzu BVerfG (K), NJW-RR 2007, S. 1416 sowie Töpper, Oldenburger Landrecht, in: DRiZ 2007, S. 239, und Gerhardt, Das Bild der Justiz, Bilder der Justiz, ZRP 2007, S. 237, die im Einzelnen die fragwürdigen Vorgänge bei der Großen Strafkammer des LG Oldenburg schildern und bewerten. 289 Zu der Frage, wer Pressevertreter ist, vgl. Huff, Aktuelle Fragen (Fn. 804/D.), DRiZ 2007, S. 311. 290 W. Janisch, Wo sind die Richter? in: DRiZ 2009, S. 20, meint, dass Richter und ihr Sachverstand in Sachen rechtsstaatlicher Spielregeln auch in Talksendungen gefragt sind. 291 Keine Neigung der Richter zu Trotzreaktionen stellen Gerhardt/Kepplinger/Geiß, Auf dem Weg zur Wahrheit (Fn. 928/C.), ZRP 2012, S. 213 ff. fest. Vgl. auch die empirische Untersuchung von Kepplinger/Zerback, Der Einfluss der Medien auf Richter und Staatsanwälte – Art, Ausmaß und Entstehung reziproker Effekte, in: Publizistik 2009, Bd. 54, S. 216 ff.; Lamprecht, Einflüsse (Fn. 75/A.), S. 8.
III. Begründung von Richtertugenden aus rechtsethischen Prinzipien
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erstattung Erwartungshaltungen der Öffentlichkeit wiedergeben, die Druck zu einer bestimmten Entscheidung, insbesondere hinsichtlich der Strafhöhe aufbauen. So kann sich das Klima in der mündlichen Verhandlung durch die Anwesenheit von Medienvertretern verändern. In jüngerer Zeit wird die mediale Beeinflussung von Gerichten sogar als Strategie der „Litigation-PR“ nachdrücklich eingesetzt. Die Leugnung jeglicher Wirkung erscheint wenig glaubwürdig und steht auch im Widerspruch zu den tatsächlichen Erkenntnissen292. Insoweit sind die innere Unabhängigkeit und die Rechtstreue des Richters besonders herausgefordert. Nicht selten kommt es vor, dass die Erkenntnisse des Richters umfassender und ausgewogener sind als die, die medial ausgebreitet werden. Deshalb ist die Haltung des Mutes gefragt, um diese Erkenntnisse in einer von der öffentlichen Erwartung abweichenden Weise in der Entscheidung zu äußern. (3) Die innere wie äußere Unabhängigkeit und die richterliche Zurückhaltung und Mäßigung kann auch durch das öffentlich wahrnehmbare private Verhalten des Richters berührt werden, wenn seine Amtseigenschaft bekannt ist bzw. vom Richter bekannt gegeben wird. Hier gibt es eine Fülle von „Gefährdungslagen“: So ist zwar die Verwendung des Richtertitels im privaten, politischen und wirtschaftlichen Umfeld293 grundsätzlich erlaubt. Allerdings sind berufsmoralisch der jeweilige Kontext und der Zweck der Verwendung zu beachten. Denn die Übertragung eines Amtes mit der Verleihung eines Titels steht in erster Linie im öffentlichen Interesse. Auch die damit verbundene Erwartung, dass der Amtsträger geachtet wird, dient einem öffentlichen Zweck. Die Unterstützung und Durchsetzung privater Interessen ist damit nicht bezweckt; deshalb dürfte es berufsmoralisch fragwürdig sein, geschäftliche Korrespondenz oder Schreiben an Behörden in privaten Angelegenheiten mit einem ausdrücklichen Hinweis auf das Richteramt zu versehen, um eigene Interessen durchzusetzen. Aber auch die forcierte publizistische Tätigkeit stößt an berufsmoralische Grenzen, wenn diese nicht mehr nur einem Sachthema, insbesondere der rechtspolitischen Diskussion, sondern in erster Linie der Befriedigung der eigenen medialen Wahrnehmung dient. Ähnlich zweifelhaft ist die Annahme oder das Aussprechen von Einladungen mit offenkundig dienstlichem Bezug, insbesondere Einladungen von Firmen, Steuerberatern und Rechtsanwälten zur „Klimapflege“ 294. Eine hoch dotierte Vortragstätigkeit bei Interessensverbänden oder von Unternehmen kann zwar nebentätigkeitsrechtlich unproblematisch sein, aber der stillen Korruption dienen. Problematisch ist schließlich das Engagement in Vereinen mit Bezug zur Recht292 Zu den empirischen Feststellungen: R. Gerhardt, Die Richter und das Medienklima, in: ZRP 2009, S. 247 ff. 293 Hierzu L. Schüller, Ethische Prinzipien für Richterinnen und Richter: Wozu? in: Schl.Hol. RV, info 1/2006, S. 4. 294 Kreth, Anspruch (Fn. 84/D.), S. 4.
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E. Prinzipien einer normativen richterlichen Ethik
sprechungstätigkeit295. Es kommt – als gesteigerte Form – nicht selten sogar vor, in eigenen Beförderungsstreitigkeiten von sich aus die Öffentlichkeit zu suchen, um auf tatsächliche oder vermeintliche Missstände hinzuweisen. Nicht immer ist dies von einem berufsmoralischen „Notwehrrecht“ gedeckt, sondern dient der Durchsetzung höchstprivater Interessen. bb) Ein weiteres berufsmoralisches Feld ist die Art und Weise, wie der Richter versucht, selbst Einfluss auf die Öffentlichkeit zu nehmen, soweit es um die Vermittlung seiner eigenen Entscheidungen oder der Kritik der Entscheidungen seiner Kollegen geht. Hier geht es insbesondere um spezielle Fragen des Umgangs mit der Presse. Diese Unterscheidung hat auch der deutsche Richterbunds gewählt, als er 1983 Grundsätze über Äußerungen von Richtern und Staatsanwälten in der Öffentlichkeit beschlossen hat296. Nach der einleitenden Nr. 1 dieser Grundsätze betreffen sie zwar nur „die rechtliche Zulässigkeit dieser Äußerungen“. Bei näherem Hinsehen gehen sie aber über das in ihrer Nr. 2 zitierte Mäßigungsgebot, dem Äußerungen nach Inhalt und Form entsprechen müssen, hinaus und berühren Fragen der Berufsmoral297. (1) Hinsichtlich der Äußerungen über eigene Entscheidungen wird zunächst – insofern im rechtlichen Kontext – festgestellt, dass für die öffentliche Bekanntgabe und Begründung von Entscheidungen in erster Linie die jeweilige Prozessordnung maßgebend ist (1.1.). Soweit eine öffentliche Verkündung vorgesehen ist, hat es grundsätzlich dabei zu bleiben. Eine Begründung, Kommentierung und Erläuterung der eigenen Entscheidung außerhalb des Urteils bzw. der Verkündung hat daher grundsätzlich zu unterbleiben. Die Grundsätze verweisen daneben auf die Fürsorgepflicht der Justizverwaltung, den Richter vor persönlichen Angriffen wegen seiner Entscheidungen in Schutz zu nehmen (1.2.), und auf deren Verpflichtung, eine Richtigstellung zu veranlassen, soweit in der Öffentlichkeit eine Entscheidung unrichtig wiedergegeben wird (1.3.). Die Information der Presse über gerichtliche oder behördliche Entscheidungen wird grundsätzlich dem durch den Gerichtsvorstand eingesetzten Pressesprecher zugewiesen, der dies nur im Rahmen der Begründungsvorgaben des richterlichen Ausspruchs leisten darf (1.4.). Damit ist im Grundsatz eine eigene und meist für seine Unabhängigkeit problematische Pressearbeit des Richters unterbunden. Die individuelle Pressearbeit von Richtern ist nicht nur dienst- und befangenheitsrechtlich, sondern auch berufsmoralisch fragwürdig. Direkter Kontakt des Richters zu einem Journalisten im Falle negativer oder verfälschender Berichterstattung ver-
295
Krix, Richterethik (Fn. 109/A.), S. 156 Neuabdruck in: DRiZ 1999, S. 389; hierauf wird im Folgenden im Wesentlichen abgestellt. 297 Rudolph, Öffentliche Äußerungen (Fn. 415/D.), DRiZ 1987, S. 338 betont dagegen, dass diese Grundsätze nur den rechtlichen Rahmen, nicht die Angemessenheit oder den „Stil“ betreffen. 296
III. Begründung von Richtertugenden aus rechtsethischen Prinzipien
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bietet sich298. Einen Grenzbereich stellt die richterliche Urteilsbegründung in der mündlichen Verhandlung dar. Hier ist die Grenze zwischen rechtlich erforderlicher Mitteilung der Urteilsbegründung und berufsmoralisch heikler Selbstdarstellung oder gar „Abrechnung“ mit der Öffentlichkeit oder den Medien nach einem Verfahren zu wahren299. Nur wo die dienstlichen und prozessualen Wege versagen oder nicht zureichend erscheinen und schwerwiegende Missverständnisse auszuräumen sind, die das Vertrauen in die Rechtsprechung zu untergraben drohen, kann unter Umständen nach Rücksprache mit dem Gerichtsvorstand höchst ausnahmsweise eine eigene Erklärung des Richters oder Staatsanwalts angebracht sein300. Diese rechtliche und berufsmoralische Normen betreffende Vorgabe wird mit einer tendenziell rein berufsmoralischen Norm verbunden, wonach öffentliche Kritik des Richters an Entscheidungen des eigenen Spruchkörpers (außerhalb des eröffneten Dissentings)301 in aller Regel unangemessen, darüber hinaus – wenn sie das Beratungsgeheimnis preisgibt – rechtlich unzulässig ist (1.5.). Über diese Grundsätze hinaus besteht eine (auch) berufsmoralische Forderung, eigene Entscheidungen zu veröffentlichen. Denn die Veröffentlichung des Urteils und seiner Begründung eröffnet das Verständnis und die Kritisierbarkeit richterlichen Entscheidens302. Es vermindert auch das Risiko, dass sich nicht publizierbarer Entscheidungseinflüsse auf das Ergebnis auswirken. (2) Die Grundsätze verhalten sich in Umsetzung des gesetzlichen Mäßigungsgebots außerdem zu Äußerungen über Entscheidungen anderer richterlicher Kollegen. Auch Richter können danach ihre Meinung zu aktuellen, die Öffentlichkeit bewegenden Entscheidungen anderer Richter und Staatsanwälte äußern und ihre Sachkunde in die öffentliche Diskussion einbringen. Das folgt aus ihrer staatsbürgerlichen Verantwortung (2.1.). Sie dürfen bei ihren Äußerungen jedoch nicht Sachverhalte unterstellen, die nicht erwiesen sind, sie müssen in Wertungen grundsätzlich zurückhaltend sein, sie müssen in Strafsachen die Unschuldsvermutung beachten und auf die rechtsstaatlichen Verfahrensgebote insgesamt in besonderer Weise Rücksicht nehmen. Besondere Zurückhaltung ist bei Äußerungen zu schwebenden Verfahren geboten; insbesondere darf das Vertrauen in die Un298 BGH, NJW 2006, S. 3290; hierzu Huff, Aktuelle Fragen (Fn. 804/D.), DRiZ 2007, S. 311. 299 Zum Umgang der Vorsitzenden Richter mit der Urteilsbegründung in spektakulären Strafprozessen (Tugce, Kachelmann, Hoeneß) aus journalistischer Sicht: H. Prantl, Angeklagt: die Öffentlichkeit, www.sueddeutsche.de/panorama/2.220/nach-dem-tue-ur teil-angeklagt-die-Öffentlichkeit-1.2529180 [Stand: 21.06.2015]. 300 Rudolph, Öffentliche Äußerungen (Fn. 415/D.), DRiZ 1987, S. 341. 301 Rudolph, Öffentliche Äußerungen (Fn. 415/D.), DRiZ 1987, S. 343. 302 Umso wichtiger ist es, dass auch Beschlüsse über die Zurückweisung von Nichtzulassungsbeschlüssen begründet werden: Gross, Visitenkarte (Fn. 176/E.), NJW 2014, S. 3143; zum Problem der Begründung bei der Rechtsfortbildung, die auch bezogen auf den Spruchkörper Stabilisierungsfunktion hat: hierzu Berkemann, Richterliche Entscheidung (Fn. 182/D.), KritV 1988, S. 29, 53 ff. S. Seybold/J. Sander/P. Weiß: Richterliche Selbstbindung (Fn. 178/D.), ARSP 2015, S. 322 ff.
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E. Prinzipien einer normativen richterlichen Ethik
abhängigkeit der Rechtspflege nicht gefährdet werden (2.2.). Fragwürdig wäre auch hierbei erzeugter Druck auf die anderen Richter303. Generell problematisch ist es, wenn bei Bundesgerichten ausgeschiedene Richter, insbesondere deren Vorsitzende, die Entscheidungen ihrer Nachfolger kritisieren304. (3) Ein eigenständiges berufsmoralisches Problemfeld ist der Umgang der Richter mit öffentlicher Kritik. Gerichtliche Verfahren und richterliche Entscheidungen sind nicht nur öffentliche Angelegenheiten in dem Sinne, dass die Öffentlichkeit – vermittelt durch die Medien – über Verlauf und Ergebnis unterrichtet wird. Der Öffentlichkeit steht auch das Recht zu, gerichtliches Handeln (sei es das Verfahren, sei es das Entscheidungsergebnis) zu kritisieren. Dabei kann es aus Sicht der Richter gelegentlich zu Situationen kommen, die seine Haltung der inneren Unabhängigkeit und seinen Mut herausfordern: So ist hin und wieder in spektakulären Strafverfahren festzustellen, dass der „Boulevard“ „Stimmung macht“ und Vorverurteilungen ausspricht. Auch in verfassungs- und verwaltungsgerichtlichen Verfahren, insbesondere mit engem politischem oder weltanschaulichem Bezug, kann von Pressorganen Druck auf ein gewünschtes Ergebnis erzeugt werden. Anders als gegenüber Weisungen aus dem staatlichen Bereich hat der Richter solchen Einflussnahmen gegenüber keine äußere Handhabe, solange die Grenzen zur Nötigung und Beleidigung nicht überschritten sind305. Insofern bleiben ihm nur die Aktivierung der genannten Haltungen, das kritische Bewusstsein von seiner Beeinflussbarkeit und der Schutz durch die Dienstaufsicht. Die innere Unabhängigkeit verlangt, differenziert auf Kritik zu reagieren306. „Dünnhäutigkeit“ und „Selbstimmunisierung“ durch Verweigerung der Rezeption der Kritik steht dem entgegen. Betrifft die Kritik – sei sie „berichtend“, sei sie „streitig“ 307 – die Entscheidung selbst, ist hinsichtlich der geforderten Haltung zwischen fachlich-informierter und uninformierter Kritik zu unterscheiden. Erstere müsste die selbstkritische Reflexion anstoßen, auch wenn sie polemisch geäußert wurde308, ob künftig an der geäußerten Rechtsauffassung festzuhalten ist oder eine vertiefte Begründung erforderlich ist. Insbesondere ist zu prüfen, ob das kritisierte Richterrecht eine „politische“ oder rechtliche Begründung findet. 303
Rudolph, Öffentliche Äußerungen (Fn. 415/D.), DRiZ 1987, S. 344 f. Gross, Visitenkarte (Fn. 176/E.), NJW 2014, S. 3144. 305 M. Dehoust, Die Medien und der Schutz der Unabhängigkeit und Autorität der Justiz, in: SächsVBl. 2010, S. 236. 306 Vgl. Dehoust, Medien (Fn. 305/E.), SächsVBl. 2010, S. 238, der diese und die folgende Differenzierung näher beschreibt. 307 „Streitige Kritik“ hält nach Rieble, Der Richterkönig lebt! FAZ v. 27.05.2015, N 4, – zurückhaltend oder offensiv – Denk- und Begründungsfehler vor, sieht Systemwidersprüche und Überschreitungen der Richterkompetenz. 308 Rieble (Fn. 307/E.): „Leidenschaftlicher Streit um das richtige, systematische und dogmatische Recht bringt in aller Regel gute Ergebnisse und hilft bei der Fehlerkorrektur.“ 304
III. Begründung von Richtertugenden aus rechtsethischen Prinzipien
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Sie stärkt letztlich den Richter und die Justiz. Ist die Kritik uninformiert, verlangt die Transparenz, ggf. über Pressemitteilungen oder in den Urteilsgründen für Information zu sorgen. Ist die Kritik uninformiert und unsachlich, ist die Haltung der Gelassenheit gefordert. (4) Im außerdienstlichen Umgang mit den Medien gibt es unterschiedliche berufsmoralische Gefährdungsmomente. In den Gerichtsshows der Privatsender wirken meist frühere Richter mit. Zwar sind diese regelmäßig beurlaubt. Aus der noch bestehenden Verbindung mit dem Dienstherrn und damit der Justiz dürften nachwirkende Verpflichtungen sowohl in rechtlicher wie in berufsmoralischer Hinsicht fließen; insofern ist es auch ein berufsmoralisches Problem, wenn wirklichkeitsfernes und rechtsstaatlich unhaltbares Verhalten gezeigt wird. Denn dieses Verhalten hat nicht geringe Rückwirkung auf die tägliche Praxis309. Nicht nur dienstrechtlich, sondern auch berufsmoralisch problematisch ist es, wenn – wie geschehen – sich ein Richter in Robe für Werbezwecke in Zeitungen zur Verfügung stellt (etwa ein Sozialrichter für McDonalds). Seit neuestem ist auch die (Selbst-)Darstellung von Richtern im Internet, insbesondere in sozialen Netzwerken zum Problem richterlicher Berufsmoral geworden. Hier geht es nicht nur um guten oder schlechten Stil; in Einzelfällen kann auch die innere Unabhängigkeit leiden, teilweise sind die Einträge befangenheitsrechtlich relevant310. Dies gilt insbesondere, wenn etwa „Facebook-Freundschaften“ mit Prozessbeteiligten bestehen311. Ein neues Phänomen sind auch Kolumnen von Richtern in Tages- und Wochenzeitungen. Berufsmoralisch unproblematisch sind diese, soweit der Richter das Publikum über die rechtlichen Hintergründe aktueller Verfahren aufklärt oder sonst fachlich informiert. Auch aktuelle rechtspolitische Diskussionen können auf diese Weise sachlich unterstützt werden. Allerdings muss die Kritik von richterlichen Entscheidungen die bereits beschriebenen Grenzen einhalten. c) Haltung als Richter im politischen Meinungskampf Jenseits des rechtlich begründeten Mäßigungsgebots können unterhalb seiner Verletzung berufsmoralische Haltungen gefragt sein, soweit es um das Verhalten des Richters im politischen Meinungskampf und im Umgang mit politischen Entscheidungsträgern geht. 309 Eher zweifelnd: S. Ernst, Medien, Justiz und Rechtswirklichkeit, in: NJW 2010, S. 744. 310 Vgl. BGH, B. v. 12.01.2016 – 3 StR 482/15 – zit. nach Juris; vgl. hierzu: http:// www.spiegel.de/netzwelt/web/facebook-eintrag-eines-richters-mit-folgen-urteil-kassierta-1078910.html (Stand: 24.03.2016); vgl. auch: www.merkur-online.de/politik/face book-fotos-zweifel-richter-manfred-dauster-prozess-slamist-harun-oberlandesgerichtmuenchen-4648571.html (Stand 22.01.2015). 311 Zu Vorfällen in den USA: Wittreck, Funktionen (Fn. 10/A.), S. 272.
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E. Prinzipien einer normativen richterlichen Ethik
Es wurde zwar bereits ausgeführt, dass das Grundrecht des Richters auf eine eigene politische Meinung und auf ihre Äußerung den Raum für berufsmoralische Anforderungen im außerdienstlichen Bereich erheblich verengt. Auch der Richter kann in eine politische Partei eintreten312 und sich für sie und die von ihr vertretenen Vorstellungen engagieren313. Allerdings heißt dies nicht, dass damit das nicht gegen das Mäßigungsverbot verstoßende Verhalten in politischen Fragen beliebig oder eine bloße Stilfrage wäre. Zu Recht wird das politisches Auftreten des Richter in Zusammenhang mit der Unparteilichkeit und der inneren Unabhängigkeit als berufsmoralische Tugenden gebracht: „Den effizienten Schutz vor Beeinträchtigung sowohl der inneren als auch der äußeren Unabhängigkeit bietet eine politische Selbstbescheidung der Richters aufgrund kritischen Selbstverständnisses seiner Person, Rolle und Funktion in der Gesellschaft als ,neutraler Sachwalter‘ und ,Diener des gesamten Volkes‘. Auf sie ist in der Ausbildung und Fortbildung von Richtern nachdrücklich hinzuwirken.“ 314 Die dabei zu erwartende Haltung wird auch hier durch die Grundsätze des deutschen Richterbunds über Äußerungen von Richtern und Staatsanwälten in der Öffentlichkeit von 1983 im Groben bestimmt315. Danach können Richter und ihre Berufsverbände sich engagiert und in deutlicher Sprache an der Diskussion rechtspolitischer und allgemein politischer Fragen beteiligen (3.1.). Demagogie und Aufforderungen zum Ungehorsam gegen Gesetze sind jedoch – im rechtlichen Sinne – pflichtwidrig (3.2.). Die in den Grundsätzen vertretene Auffassung, dass die Berufsbezeichnung (Richter) der Äußerung beigefügt werden könne (4.), wurde inzwischen teilweise im verneinenden Sinne geklärt. Hieraus lässt sich, soweit dies rechtlich nicht geklärt ist, berufsmoralisch ableiten, dass der Einsatz der und der Hinweis auf die Amtsstellung im Meinungskampf außerhalb rechtspolitischer Debatten fragwürdig ist und die Unabhängigkeit in Frage stellt. Alle diesen Bereich betreffende Verhaltensweisen verlangen die Haltung der Unabhängigkeit, insbesondere eine sorgfältige Abwägung zwischen dem Gebot und der Haltung der Mäßigung und der nicht gewollten unpolitischen Indifferenz des Richters. Weder das Ausnutzen des Amtsbonus noch vollständige Distanz zur Parteipolitik oder politische Askese316 trifft die Mitte der zu erwartenden Haltung, genauso wenig wie die Annahme einer berufsmoralischen Pflicht zur politischen Betätigung317, wenn damit nicht der vom Richter zu fordernde Blick für die politischen Grundlagen des Rechts und die Folgen seiner Entscheidungen gemeint ist318. 312 Marcic, Gesetzesstaat (Fn. 26/A.), S. 264 ff., fordert strikte Enthaltsamkeit, um das Vertrauen der Justiz nicht zu untergraben. 313 Vgl. die Beispiele bei Gass, Richterethik, (Fn. 5/A.), S. 125. 314 Gilles, Unabhängigkeit (Fn. 3/C.), DRiZ 1983, S. 48. 315 Neuabdruck in: DRiZ 1999, 389. 316 Wipfelder, Unabhängigkeit (Fn. 23/A.), DRiZ 1984, S. 44. 317 So von Münchhausen, Stellung des Richters (Fn. 420/D.), DRiZ 1969, S. 4 f.
III. Begründung von Richtertugenden aus rechtsethischen Prinzipien
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Die Teilnahme an einer Demonstration in Robe ist berufsmoralisch problematisch, auch und gerade, wenn es um eigene berufspolitische Fragen geht, also etwa um Besoldungsfragen. Denn die Robe ist mehr als ein berufliches Erkennungszeichen, sondern Symbol richterlicher Neutralität sowie äußerer und innerer Unabhängigkeit. Gerade letztere verlangt, bei der Durchsetzung eigener Interessen nicht auf dieses Symbol zurückzugreifen. Die Tugend der Zurückhaltung ist auch sonst umso intensiver aufgerufen, je enger das politische Engagement mit dem Amt verbunden ist. So muss sich etwa ein Verwaltungsrichter der ersten Instanz berufsmoralisch fragen, ob ein kommunalpolitisches Engagement in der Stadt oder dem Landkreis, in dem er als Verwaltungsrichter tätig ist, mit dieser Zurückhaltung vereinbar ist. Bei der Rechtsanwendung wird er gemäß der Tugend der Rechtstreue sich selbst eines generellen und forcierten politischen Gestaltungsauftrags319 enthalten müssen. Denn im dienstlichen Bereich können berufsmoralische Grenzen früher überschritten sein. Die im Kapitel D. beschriebenen Fälle, in denen politische Statements im Urteil abgegeben wurden, mögen nach der Kernbereichstheorie gerade noch von der richterlichen Unabhängigkeit gedeckt sein. Berufsmoralische Verfehlungen sind sie allemal320. Ein Sozialrichter, der etwa die „Hartz IVReformen“ für politisch unvertretbar hält, darf nicht den Versuch unternehmen, den Vollzug des SGB II zu unterlaufen. Gerade höchste Richter, die regelmäßig berufsbedingt eine besondere Nähe zur Justizpolitik ihres Landes bzw. des Bundes haben, müssen streng zwischen sachlicher Teilnahme am Diskurs und der personenbezogenen Loyalität zu politischen Amtsträgern unterscheiden. „Solidaritätsadressen“ für politisch in Schwierigkeiten geratene Minister dürften sich – unabhängig von der dienstrechtlichen Bewertung – jedenfalls berufsmoralisch verbieten321. Umgekehrt verlangt die Wahrung der Unabhängigkeit, dass jeder direkte oder indirekte Versuch der politischen Einflussnahme den Beteiligten offengelegt sowie unmissverständlich und klar zurückgewiesen wird. Außerdem wird der Richter die Gefahr der Einflussnahme dadurch verringern, dass er seinen Willen auf berufliches Fortkommen nicht zu einem Beförderungsdrang322 steigert, der von 318 Zu Recht fordert Dieterich, Freiheit und Bindung (Fn. 38/D.), RdA 1986, S. 6, den politisch informierten, aber auch differenzierten, d.h. nicht einseitigen Richter. 319 Ein solche fordert aber H. Sendler, Unabhängigkeit als Mythos? in: NJW 1995, S. 2469. 320 Hierzu Remmers, Der politisch indifferente Richter (Fn. 719/C.), S. 165, 170 f. Sendler, Öffentlichkeit (Fn. 416/D.), NJW 1984, S. 691. 321 Vgl. hierzu Flensburger Tageblatt v. 18.02.2015: „Spitzen-Richtern droht Disziplinarverfahren – Amtsmissbrauch? Wirbel um Solidaritätsadresse für Justizministerin“: www.shz.de/lokales/kiel/spitzen-richtern-droht-disziplinarverfahren-id9000976.html [Stand: 20.04.2015]. 322 K. F. Piorreck, Politische Einflussnahme auf die Justiz im demokratischen Rechtsstaat, in: DRiZ 1993, S. 109, sieht die Gefahr eher von außen kommen.
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E. Prinzipien einer normativen richterlichen Ethik
der Exekutive und ihrer Spitze für eine direkte oder indirekte Einflussnahme genutzt werden könnte. d) Haltung gegenüber den Kollegen und Mitarbeitern323 Die Haltungen, die vom Richter gegenüber Kollegen und Mitarbeitern verlangt sind, lassen sich auch auf das hier entwickelte Tugendkonzept zurückführen. „Innere Unabhängigkeit gibt es nicht ohne kollegiale Toleranz.“ 324 Insofern geht es zum einen um die Reichweite des Gruppendrucks innerhalb der Justiz. Die Tugend, die ebenfalls angesprochen sein dürfte, ist die Fairness. In diesen beiden Tugenden sind die hier gebotenen Haltungen etwa der reflektierten Rücksichtnahme, der Gesprächsfähigkeit325 oder der Fähigkeit zum offenen und sachlichen Konflikt326, auch bezogen auf Macht- und Beziehungsstrukturen im Spruchkörper327, weitgehend enthalten. Sie führen zur Teamfähigkeit, die zu einer gegenseitigen Förderung und Motivation328 führen können. Interne Konflikte des Spruchkörpers, insbesondere in Rechtsfragen, sollten – solange keine Sondervoten zulässig sind – in sachlicher und angemessener Weise intern gelöst werden. Dies verlangt bereits das Beratungsgeheimnis. Konflikte innerhalb des Gerichts, insbesondere bezogen auf rechtlich bedeutsame Fragen an Ober- und Bundesgerichten, sollten zunächst und in erster Linie in den prozessrechtlich vorgegebenen Verfahren (Gemeinsamer Senat) oder kollegial (Richterversammlungen) gelöst werden. Die öffentliche Auseinandersetzung zwischen Mitgliedern eines Gerichts329 kann im Einzelfall geboten sein; sie verlangt aber – vor dem Hintergrund, dass jeder Richter das Vertrauen in die Justiz zu wahren hat – in besonderer Weise Sachlichkeit, Ausgewogenheit und persönliche Fairness. Die ins persönliche gehenden Auseinandersetzungen über gerichtliche Entscheidungen sind vielleicht noch von der äußeren, kaum aber von der inneren Unabhängigkeit gedeckt. Als Rechtsbeistand vor dem Gericht oder Spruchkörper aufzutreten, dem der Richter selbst angehört330, wirft angesichts der Vermeidbarkeit dieser Situation berufsmoralische Fragen auf, nämlich ob hier nicht für die Gegenpartei der Anschein erweckt wird, dass besondere Beziehungen genutzt werden sollen, und ob die Kollegen nicht in eine unhaltbare Situation gebracht werden.
323
Krix, Richterethik (Fn. 109/A.), S. 124. Berkemann, Unabhängigkeit (Fn. 277/C.), S. 25. 325 Sendler, Zwielicht? (Fn. 47/D.), S. 317. 326 Krix, Richterethik (Fn. 109/A.), S. 156; Sendler, Unabhängigkeit (Fn. 28/A.), NJW 1983, S. 1451. 327 Sendler, Mythos (Fn. 319/E.), NJW 1995, S. 2468. 328 Krix, Richterethik (Fn. 109/A.), S. 125, 156. 329 Hierzu R. Lamprecht, Ein Gericht, zwei Lager – Der BGH zwischen Anonymität und Transparenz, in: NJW 2013, S. 3563 ff. 330 Kreth, Anspruch (Fn. 84/D.), S. 4. 324
III. Begründung von Richtertugenden aus rechtsethischen Prinzipien
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Eine besondere Herausforderung ist regelmäßig der Streit zwischen Richtern um ein Beförderungsamt331. Hier kollidiert legitimes Streben nach beruflichem Fortkommen mit kollegialer Verbundenheit. Noch zugespitzter wird es, wenn die Verbundenheit fehlt oder wenn der Anschein der Ämterpatronage im Raum steht. Fairness und Rechtstreue332 können insoweit helfen, dass der Unterlegene nach einer rechtlichen Prüfung der Auswahlentscheidung diese, sollte sie im Wesentlichen rechtmäßig sein, akzeptiert und nicht aus verletztem Stolz oder aus anderen sachfremden Gründen333 ein die Beförderung blockierendes Konkurrentenstreitverfahren anstrengt. Umgekehrt hat der Ausgewählte bei rechtlichen Zweifelsfällen in Gelassenheit zu dulden, wenn die Entscheidung auf den Prüfstand gestellt wird. Zur Rechtstreue und zur Wahrung der Unabhängigkeit gehört es auch, Art. 33 Abs. 2 GG nicht dadurch zu unterlaufen, dass persönliche oder politische Beziehungen zum Entscheidungsträger im Hinblick auf anstehende Auswahlentscheidungen gesucht und gepflegt werden334. Berufsmoralisch unhaltbar – wenn nicht im Einzelfall sogar strafbar – wäre es vor der gebotenen Haltung der inneren Unabhängigkeit, wenn der Richter in vorauseilendem Gehorsam sein Entscheidungsverhalten auf die tatsächlich geäußerte oder vermutete Erwartung von Justizministern einstellte. Ob der Einsatz der Presse im Beförderungsstreit berufsmoralisch gerechtfertigt ist, hängt davon ab, ob das Auswahlverfahren rechtsstaatlich einwandfrei durchgeführt wird oder nicht. Insbesondere bei offenkundiger Ämterpatronage dürfte dieser Weg kaum vorwerfbar sein, selbst wenn auch in diesem Fall Rechtsschutz bereit steht und eine voreilige „Flucht in die Öffentlichkeit“ dienstrechtlich untersagt ist. Bei dem – nicht selten am Ende des Jahres vor der Geschäftsverteilung für das kommende Jahr stattfindende – „Kampf um das Dezernat“, in der Regel um das „interessanteste“ oder das „überschaubarste“ Dezernat, ist neben der Fairness auch die Rechtstreue gefordert. Denn es ist Aufgabe des Präsidiums, in erster Linie für eine ausgewogene, am Gedanken der zügigen Bearbeitung anstehender Verfahren orientierte Verteilung zu sorgen, nicht aber die Interessen einzelner Präsidiumsmitglieder an der „Verschonung“ ihres Spruchkörpers zu befriedigen. Ein Maßstab der Fairness im Umgang mit Kollegen ist auch, wie der Richter sich verhält, wenn ein Dezernatswechsel ansteht. Hier zeigen sich häufig problematische Haltungen: nur noch Abarbeiten leicht und schnell zu erledigender Verfahren, mangelhafte Übergabe, bloßes Weiterschieben über den Termin etc. 331 Gross, Visitenkarte (Fn. 176/E.), NJW 2014, S. 3144, meint „Postengerangel“, insbesondere wenn es um herausgehobene Stellen geht, sei generell „Gift“ für das Ansehen der Justiz, wenn sie publik würden. 332 Zur rechtsethischen Bedeutung der Auswahl der Rechtsinterpreten nach Eignungsgrundsätzen: Isensee, Vom Ethos des Interpreten (Fn. 118/D.), S. 382. 333 Vgl. hierzu: Pressemitteilung des VG Hannover vom 17.12.2004 zum Verfahren 2 B 11933/14: www.verwaltungsgericht-hannover.niedersachsen.de; FAZ v. 12.01.2015, S. 17. 334 Sendler, Mythos (Fn. 319/E.), NJW 1995, S. 2468.
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E. Prinzipien einer normativen richterlichen Ethik
Auch das Verhalten zwischen den Instanzen verlangt aus der Rechtstreue und Fairness abgeleitet Akzeptanz der Funktion der Rechtsvereinheitlichung der Obergericht, Kooperationsbereitschaft und sachlichen Umgang335. Das „Abkanzeln“ von Vorinstanzen ist – muss nicht auf „einen groben Klotz, ein grober Keil“ gesetzt werden – nicht nur stillos, sondern in der Wirkung auf das rechtssuchende Publikum und auf den richterlichen Kollegen berufsmoralisch problematisch. Gleiches gilt für „erzieherische“ Revisionsentscheidungen, um etwa das für „allein richtig“ erkannte System zu bestätigen oder der die Revision oder Berufung zulassenden Vorinstanz zu signalisieren, dass die Zulassung der Revision oder Berufung das „vornehmste Recht“ der Rechtsmittelinstanz ist. Umgekehrt darf die Haltung von Instanzrichtern gegenüber aufhebenden Entscheidungen nicht von Selbstgefälligkeit und Respektlosigkeit (Vorwurf der Weltfremdheit) geprägt sein. Schließlich zeigt sich die Haltung des Richters im Umgang mit dem „nichtrichterlichen“ Dienst in der Art, wie er ihm Aufmerksamkeit, Respekt und Höflichkeit zukommen lässt. Nicht selten lässt sich eine Erwartung bei Richtern feststellen, die das „Bedienen“ des Richters durch „Nachgeordnete“ in den Vordergrund rückt, nicht aber der gemeinsame Dienst aller an der Rechtsverwirklichung. Es gibt nicht selten Konflikte in der Justiz, weil Richter bei der Koordination ihrer richterlichen Arbeitsabläufe ohne Rücksicht auf Dienstzeiten oder Arbeitsabläufe des nichtrichterlichen Dienstes durchsetzen wollen. e) Haltung zum Recht und zur „Rechtsidee“ Die Haltung der Rechtstreue umfasst auch die Haltung zur Rechtsidee. Dabei sind im vorliegenden Zusammenhang mit „Rechtsidee“ 336 keine unwandelbare Ideen im platonischen Sinne, keine allgemeinen Grundsätze der Gerechtigkeit, keine naturrechtliche und übergesetzliche Ordnungen337, sondern die Vorstellungen von einem durch die Wertordnung des Grundgesetzes geprägten gerechten Recht und von der Erfüllung dort positivierter rechtsethischer Prinzipien gemeint, die auf der Entscheidung des Verfassungsgebers beruhen. Dieser Ansatz vermeidet die Gefahr der völligen Unbestimmtheit des Begriffs der Rechtsidee bzw. der allgemeiner rechtsethischer Prinzipien338 und greift auf einen staats-
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Krix, Richterethik (Fn. 109/A.), S. 124. Der Begriff geht wohl auf R. Stammler zurück und wird von G. Radbruch mehrfach herangezogen; vgl. von der Pfordten, in: JZ 2010, S. 1021, 1025. 337 Zu welchen Folgen die Verankerung der Rechtsprechung im vermeintlich unwandelbaren Naturrecht führen kann, zeigt die Rechtsprechung des BGH bis in die 60-er Jahre (Gleichberechtigungsgutachten, BGHZ 11, Anhang S. 34 ff. Kuppeleibeschluss, BGHSt. 6, 46 ff.). Kritisch zu dieser naturrechtlichen Ausrichtung: Kübler, Richter (Fn. 139/B.), AcP 162 (1963), S. 104, 122 ff. Wieacker, Gesetz und Richterkunst (Fn. 250/B.), S. 9 ff. 336
III. Begründung von Richtertugenden aus rechtsethischen Prinzipien
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rechtlichen Rechtsbestand zurück, der gleichzeitig gesättigt ist durch politische, historische und philosophische Erfahrungen und Erkenntnisse im Umgang mit ungerechtem, undemokratisch gesetztem und unsicherem Recht. Damit soll nicht behauptet werden, die so verstandene Rechtsidee liefere durch logische Ableitung ins Einzelne gehende Haltungs- und Handlungsanweisungen. Insoweit geht es letztlich nicht um die Gewinnung von Rechtsinhalten durch richterrechtliche oder berufsmoralische Her- und Ableitung aus einer „Idee“, sondern – auch jenseits der Gesetzesbindung nach Art. 20 Abs. 3 und Art. 97 Abs. 1 GG – um die Ausrichtung der richterlichen Haltung auf die materiellen und prozeduralen Grundwerte des Grundgesetzes. Insofern gibt sie ihm allerdings einen Kompass im täglichen, widerständigen und wandlungsreichen „Rechtsgeschäft“ an die Hand. In diesem Sinne weist sie ihn für (künftige) Systembrüche auf ein im Grundgesetz bereits niedergelegtes und grundsätzlich tragfähiges Modell hin, wie prozedural und materiell zu einem gerechten Recht gelangt werden kann. Die Rechtsidee ist nicht nur von materialen Werten getragen, sondern setzt auch die Wahrung demokratischer und rechtsstaatlicher Verfahren voraus. Die Haltung zur Rechtsidee bietet im richterlichen Kontext für eine Fülle von Verhaltensweisen und Problemlagen Orientierung: Die Haltung der Rechtstreue und zur Rechtsidee verlangt im Hinblick auf die Auslegungs- und Entscheidungsmacht des Richters ein Bewusstsein von den Grenzen der rechtsprechenden Gewalt339, die die Grundlage einer professionellen Bescheidenheit und Zurückhaltung des Richters sein können. Zu den Grenzen zählen die Beschränktheit der Wirklichkeitserkenntnis, die Gesetzesbindung und die Grenzen der Justiz im gewaltengeteilten Staat. Die Notwendigkeit der Akzeptanz dieser Grenzen ist nicht nur rechtlich geboten, sondern führt zu berufsethische Haltungen340, die in dem tugendethischen Dictum zusammenfließen: „Wahres Richtertum setzt Demut voraus.“ 341 Rechtstreue verhindert so eine Emanzipierung von Recht und Gesetz, sei es, dass das Recht als „unpraktikabel“ zur Seite geschoben wird, sei es, dass bei der Gesetzesauslegung und der Rechtsfindung in politisch und gesellschaftlich umstrittenen Rechtsgebieten die eigene individuelle richterliche Sicht des Gemeininteresses oder des gesellschaftlichen Gesamtinteresses absolut gesetzt wird. Sie hält ihn an, richterliche Entscheidungsmacht nur zur Durchsetzung des Rechts342, nicht aber zur eigenen Macht-
338 Rüthers, Rechtstheorie (Fn. 14/B.), S. 502, weist zu Recht auf die Unbestimmtheit dieses Begriffs hin. Ders. weist in: Die unbegrenzte Auslegung (Fn. 592/C.), S. 117 ff. eindrucksvoll die Auffüllung dieses Begriffs nach 1933 mit nationalsozialistischem Inhalt auf. Zur Rechtsidee in der Radbruch’schen Konzeption. Vgl. auch Kaufmann, in: Kaufmann/Hassemer/Neumann, Rechtsphilosophie (Fn. 40/A.), S. 111 ff. 339 Kissel, Grenzen (Fn. 28/A.), NJW 1982, S. 1779. 340 Kissel, Grenzen (Fn. 28/A.), NJW 1982, S. 1784 f. 341 Paul, Gewissen (Fn. 57/B.), S. 22. 342 Michaelis-Merzbach, Der unabhängige Richter (Fn. 39/D.), S. 547.
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E. Prinzipien einer normativen richterlichen Ethik
steigerung oder zur Politik im Urteilsgewande einzusetzen343. Der Richter kann in diesem Sinne nur „Politiker wider Willen“ sein344, wenn er lückenhaftes Recht anzuwenden hat. Er hat bei der Rechtsfortbildung die Rechtssicherheit und den (erkennbaren) gesetzgeberischen Willen als grundsätzlich hindernde Hürde zu empfinden, die – nur im Falle der Unklarheit des Gesetzesbefehls bzw. der fehlenden Regelung – gedanklich erst überwunden werden müssen, bevor er einen neuen Rechtssatz setzt. Sein Bewusstsein von der Relativität der (Rechts-)Erkenntnis dämpft die Gefahr einerseits der Überheblichkeit und andererseits der Entscheidungsblockade und verhindert gleichzeitig, ein Rechtshasardeur oder ein Zauderer zu werden. Diese selbstkritische Haltung zum eigenen Standpunkt345 führt zwingend dazu, dass der Richter sorgfältig und ernsthaft die Sach- und Rechtslage klärt, nicht vom gewollten Ergebnis her denkt, nach dem gesetzgeberischen Willen (Materialien, Rechtsvergleich346) sucht, der dem anzuwendenden Recht zugrunde liegt, die Wahl der Methode verantwortlich und transparent vornimmt347, bei der Rechtsfortbildung die Vorgaben der für das Rechtsgebiet maßgeblichen Rechtsprinzipien348 aufsucht und achtet sowie eine Folgenabschätzung349 vornimmt. Die Orientierung an und die Beachtung der von der Rechtswissenschaft entwickelten Dogmatik dämpfen richterlichen Subjektivismus350. Diese Zurückhaltung vermeidet auch, Recht und Rechtsprechung als Herstellung „letzter Gerechtigkeit“ zu verstehen, sie vielmehr als „Rechtsklugheit“ (Jurisprudenz) auszuüben. Zur dieser Klugheit gehört die Offenheit für andere Lösungen eines rechtlichen Problems. Die Aufgabe des Richters als Rechtsgestalter ist im Übrigen dort unproblematisch, wo er etwa richterrechtliche Einzelfälle aus Gründen der Rechtssicherheit und -klarheit zusammenfasst (Unterhaltstabellen von OLG-Senaten; Streitwertkataloge351). Sie sind solange rechtlich und berufsmoralisch nicht zu beanstanden, wie sie nur als Auslegungshilfe und Orientierungsmaßstab verwendet werden und der Richter stets die Haltung der inneren Unabhängigkeit bewahrt.
343
Isensee, Vom Ethos des Interpreten (Fn. 118/D.), S. 384. Paul, Gewissen (Fn. 57/B.), S. 27. 345 Wassermann, Macht (Fn. 20/A.), DRiZ 1986, S. 206; Wipfelder, Bürger (Fn. 22/ A.), DRiZ 1987, S. 120. 346 Marcic, Gesetzesstaat (Fn. 26/A.), S. 278. 347 S. Seybold/J. Sander/P. Weiß: Richterliche Selbstbindung (Fn. 178/D.), ARSP 2015, S. 321; Strecker, Ethik (Fn. 59/A.), BJ 2004, S. 385 f.; v. Olenhusen, Thesenpapier (Fn. 126/A.), 5. These. 348 Wipfelder, Bürger (Fn. 22/A.), DRiZ 1987, S. 122. 349 Wassermann, Macht (Fn. 20/A.), DRiZ 1986, S. 206. 350 A. Podlech, Der Gewissensbegriff im Rechtsstaat, in: AöR Bd. 88 (1963), S. 185, 220. 351 Hierzu W. Schluckebier, Rechtsauslegung, Rechtsfortbildung, Rechtspolitik – Die Rolle des Richters zwischen Gesetz und Recht, in: ZRP 2010, S. 270. 344
III. Begründung von Richtertugenden aus rechtsethischen Prinzipien
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Die Rechtstreue führt zum zwingenden Blick auf die rechtsethischen Grundlagen des Rechts, also auf den materialen Kern der Rechtsidee. Insofern müssen Richter ihr Verhältnis zu dem der Rechtsordnung zugrunde liegenden Wertsystem als Kernproblem ihrer beruflichen Haltung begreifen. Es gibt keine unpolitische, weltanschaulich neutrale, ethisch wertfreie Jurisprudenz. Wertfreies Recht wäre buchstäblich wertlos352. Diese Haltung verlangt vom Richter als Wächter des Rechts353 deshalb – im Rahmen der Verfassungsordnung – auch Widerpart gegen gesetzgeberische Willkür zu leisten354. Diese Haltung verhindert, dass der Richter seine Verantwortung „an Recht und Gesetz“ abgibt und er sich nicht mehr als verantwortlicher Entscheider für die jeweilige Falllösung sieht. Sie hält so das Bewusstsein wach, gesetzliche Entscheidungen über die Art, wie Sozialverhalten bewertet und gestaltet wird, zu prüfen und mit den Anforderungen der Verfassungsordnung abzugleichen. Dies schließt den Mut und die innere Festigkeit zu dem geforderten Widerstand ein355, die von der Haltung der inneren Unabhängigkeit getragen ist. Rechtstreue und Fairness sind Haltungen, die die tägliche Praxis prägen und so eine déformation professionelle, also die Entfernung vom Recht und sachwidrige Anwendung des Rechts, insbesondere von den Anforderungen als unabhängiger Entscheider verhindern sollen. Insoweit betrifft dies unterschiedliche alltägliche Problemfelder: • Rechtstreue und Fairness leiten bereits die reflektierte und bewusste Prioritätensetzung bei der Fallbearbeitung nach wertorientierten Grundsätzen an, etwa wenn der Richter der Bedeutsamkeit des Verfahrens und Eilbedürftigkeit für den Betroffenen den Vorrang gibt. Sie verhindern demgegenüber ein Vorgehen etwa nach dem Prinzip der „anstrengungsarmen“ Erledigung, stehen also der Suche nach dem einfachsten Fall im Dezernat entgegen. Die Haltungen der Fairness und der Rechtstreue dämpft die Erledigungsorientierung am Maßstab der „Statistik“ 356, die bereits zur Deformation in der Wahrnehmung des Falles führen kann357 – etwa bei der krampfhaften Suche nach der „dünnsten“ Stelle. Auch die gesetzlichen Beschleunigungsvorgaben können so angewendet werden, dass der anhängige Fall nicht zu einem virtuellen Fall wird, der mit dem anlassgebenden Streit nichts mehr zu tun hat358. 352 B. Rüthers, Entartetes Recht, Rechtslehren und Kronjuristen im Dritten Reich, 1994, S. 219. Und zum Voranstehenden: Kreth, Anspruch (Fn. 84/D.), S. 8. 353 Strecker, Ethik (Fn. 59/A.), BJ 2004, S. 379, der allerdings meint, hierin erschöpfe sich im Wesentlichen richterliche Ethik. 354 Marcic, Gesetzesstaat (Fn. 26/A.), S. 278. 355 Geiger, Die Unabhängigkeit des Richters (Fn. 73/D.), DRiZ 1979, S. 66. 356 Lamprecht, Einflüsse (Fn. 75/A.), S. 6 ff.; Krix, Richterethik (Fn. 109/A.), S. 156. 357 Vgl. hierzu die Studie von Schmid/Drosdeck/Koch (Hrsg.), Der Rechtsfall – ein richterliches Konstrukt, 1997 bei Lerch, Wissen oder Willkür (Fn. 926/C.), S. 225 ff. 358 Gross, Visitenkarte (Fn. 176/E.), NJW 2014, S. 3143.
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E. Prinzipien einer normativen richterlichen Ethik
• Generell ist die Art und Weise, wie der Richter zur Erledigung des Verfahrens kommen will, dann berufsmoralisch problematisch, wenn verfahrensrechtliche „Abkürzungen“ angestrebt werden. Im Mittelpunkt der Diskussion nicht nur rechtlicher Ge- und Verbote, sondern auch berufsmoralischer Haltungen stehen insoweit nichtstreitige Erledigungen im weiteren Sinne. Hierzu zählen das „Dealen“ im Strafprozess und der Vergleich. Im Kapitel D. ist bereits deutlich gemacht worden, dass insoweit eine Fülle gesetzlicher Grenzen bestehen, an die der Richter jenseits der Berufsmoral gebunden ist. Damit werden aber nicht alle Probleme erfasst. Unstreitige Erledigungen können selbstverständlich einen hohen rechtsethischen Wert haben: Sie können, wenn sie rechtlich tragfähig, vollstreckungsfähig und sachlich geboten sind, die Entscheidungsautonomie der Beteiligten wahren und – nachhaltiger als eine streitige Entscheidung – dauerhaft Rechtsfrieden schaffen. Gerade die gerichtliche Mediation ist deshalb eine rechtsstaatliche Chance. Auch können die knappen Ressourcen der Justiz und der richterlichen Arbeitskraft geschont und für andere noch konfliktträchtigere Streitigkeiten gewahrt werden. Schließlich können Deal und Geständnis im Strafrecht – neben der Ressourcenschonung359 – Voraussetzung für einen Ausgleich zwischen Täter und Opfer sowie Grundlage von Vergebung und Versöhnung werden. Die Praxis zeigt jedoch, dass tatsächlicher oder vermeintlicher Erledigungsdruck, manchmal aber auch schlichte Bequemlichkeit, die die Abfassung einer (rechtsmittelfähigen) Entscheidung vermeiden will, dazu führen, dass Richter nicht nur jeden Anstand und Respekt vor den Parteien, sondern auch vor dem Recht verlieren. Es werden der gesetzlichen Rahmen als für die schnelle Erledigung hinderlich („unpraktikabel“) beiseitegeschoben, unzulässiger Druck aufgebaut, nicht alle wesentlichen Informationen preisgegeben, mit dem Kostenrisiko gespielt, eine oder beide Parteien unsachlich angegangen etc. Berufsmoralisch besonders verwerflich sind richterliche Vergleiche, die im frappanten Widerspruch zum Recht im Gerichtssaal geschlossen werden, oder gar Vergleiche zu Lasten Dritter (künftiger Arbeitgeber, Staatskasse)360. Im Strafprozess gibt es zudem – auch in ausgesprochen öffentlichkeitswirksamen Verfahren – Hinweise, dass das Regelwerk der Strafprozessordnung zum formellen Deal und damit die dadurch gesicherte Rechtsidee (tat- und schuldangemessene Strafe) durch verschwiegene Signale (Terminierungspraxis, Umgang mit Beweisanträgen oder unklaren Tatsachen) durch den informellen Deal unterlaufen werden. Die Haltungen der Rechtstreue, Fairness, Wahrheit und Gerechtigkeit werden bei diesen Vorgehensweisen außer Acht gelassen. Umgekehrt führt die Verinnerlichung dieser Haltungen dazu, dass ein Richter den Beteiligten vor dem Ver359 Kritisch hierzu: F. Herzog, „Dealen“ im Strafverfahren – Wahrheit, Schuld – richterliche Berufsethik, in: GA 2014, S. 688 ff. 360 Böttcher-Grewe, Richter tricksen (Fn. 882/C.), DRiZ 2011, S. 203.
III. Begründung von Richtertugenden aus rechtsethischen Prinzipien
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gleich fair und wahrhaftig seine belastbare Rechtsansicht offenlegt, die Unsicherheiten in Tatsachen und Recht sowie die hieraus entstehenden Risiken ehrlich umschreibt, Fürsorge für die ökonomisch oder bildungsmäßig schwächere Seite walten und keine Vergleiche gegen das Recht vor sich abschließen lässt sowie den Vergleich vollstreckungs- und durchsetzungsfähig macht. Der Strafrichter wahrt mit den Regeln zum Deal das Recht selbst und, soweit das Recht hier die Rechtsidee schützt, auch die materiale Gerechtigkeit. Im Umgang des Richters mit den Gutachten von Sachverständigen verlangen die Haltungen der inneren Unabhängigkeit, Rechtstreue, Wahrheit und Gerechtigkeit, dass er seine Abhängigkeit von und Kritiklosigkeit gegenüber Sachverständigen weitgehend minimiert. Dies verlangt die Bereitschaft, die fachlichen Aussagen verstehen zu wollen und ihre Plausibilität zu kontrollieren. Die beschriebenen Haltungen verhindern, dass der Richter das Ergebnis „dankbar“, aber kritiklos übernimmt und froh ist, dass (vermeintlich) ein Dritter seinen Fall – in der Regel schwierigen Fall – gelöst hat. Die Haltung eigener Verantwortung bei der Auswertung von Gutachten verhindert überdies auch, dass – wie in der aktuellen Debatte um angeblich fehlerhafte familiengerichtliche Sachverständigengutachten – Richter sich nicht mit angeblich fehlenden Standards herausreden, sondern solche ermitteln bzw. festlegen. Denn am Ende hat immer der Richter zu entscheiden; er ist nicht das Opfer der Sachverständigen. In Zeiten einer vollständigen technischen Verfügbarkeit von Entscheidungen anderer Gerichte wird der Umgang mit juristischen Datenbanken zum berufsmoralischen Problem. Die Methode, bei einem (vermeintlich) erkannten Rechtsproblem die Datenbanken nicht nur auf richterliche Lösungen abzufragen, sondern „der Einfachheit“ halber diese Lösungen zu übernehmen (copy and paste), verstößt nicht selten gegen die richterliche Tugend der Sorgfalt. Auch der sonstige Umgang mit Präjudizien wird häufig zum Problem der inneren Unabhängigkeit. Sie zu zitieren ist „geliehene Autorität“ 361. Das hohe Gut der Rechtssicherheit und die Fairness gegenüber den Parteien verlangt es zwar, ihnen grundsätzlich zu folgen. Die Fortentwicklung des Rechts und der gesellschaftlichen Voraussetzungen fordert aber auch, mit ihnen in innerer Unabhängigkeit wohlbegründet zu brechen und so einen Prozess der Neujustierung anzustoßen: „Auf Gründe gestützter Widerstand gegen höchstrichterliche Entscheidungen ist keine unerwünschte Störung, sondern Antriebskraft im Räderwerk der Justiz.“ 362 Zu offenkundig wahrheitswidrigem Prozessvortrag hat sich der Richter – unter Umständen mit den Mitteln des Strafrechts – zu verhalten363. Denn die Hal361 362 363
Berkemann, Unabhängigkeit (Fn. 277/C.), S. 25. Dieterich, Freiheit und Bindung (Fn. 38/D.), RdA 1986, S. 4. Böttcher-Grewe, Richter tricksen (Fn. 882/C.), DRiZ 2011, S. 203.
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E. Prinzipien einer normativen richterlichen Ethik
tung der Wahrheit leitet die Suche nach ihr, insbesondere den Willen zur Aufklärung, und fordert Fleiß364 und Sorgfalt sowie Bearbeitungstiefe auch im Spruchkörper. Es ist insoweit nicht nur ein rechtliches Problem, ob in Spruchkörpern alle Beisitzer voll über den Prozessstoff unterrichtet sind, sei es, dass – nach der Praxis des Spruchkörpers – Aktenkenntnis nur beim Vorsitzenden und dem Berichterstatter besteht365, sei es, dass sich der „nur“ Beisitzende auch in schwierigen Fällen mit bloß mündlichen Vortrag begnügt. Berufsethisch wird jedenfalls ein existenzieller Mitvollzug aller beteiligten Richter am Urteil366 gefordert (Problem des „Beischläfers“), der durch die Erfassung des Prozessstoffes durch alle entscheidungsberufenen Richter gefördert und gesichert wird. Eine „ungefragte“ Fehlersuche (etwa bei der Kontrolle von Verwaltungsentscheidungen) ist rechtlich von der Prozessordnung und von dem jeweiligen Verfahrensgegenstand abhängig. Jenseits des Rechtlichen ist sie berufsmoralisch allerdings ambivalent: „Die Handhabung der richterlichen Fehlersuche wird stets eine Frage des Fingerspitzengefühls im Einzelfall sein.“ 367 Sie ist dort problematisch, wo der Bürger Antworten auf nicht gestellte Fragen bekommt und gleichzeitig das eigentliche Anliegen der Beteiligten aus den Augen gerät. Der Gleichheitsgrundsatz verlangt, dass bei der Strafzumessung weder ein „Prominentenbonus“ noch ein „Prominentenmalus“ zur Anwendung kommt. Deshalb kann es weder ein Zurückweichen vor Einflussreichen noch eine zugespitzte Verfolgung „großer Namen“ geben. Die Strafe muss tat- und schuldangemessen sein. Diese allgemein formulierten Rechtsgrundsätze dürften unstreitig sein; sie sollten aber auch die berufsmoralische Haltung im konkreten Fall prägen. Denn gerade die Strafzumessung ist ein richterlicher Entscheidungsvorgang, der nicht nur vom Recht, sondern auch von den berufsethischen Grundhaltungen geprägt ist. Gleiches gilt für die Strafzumessung nach einer „lokalen Justizkultur“ 368. In bestimmten Landgerichtsbezirken hält sich das hartnäckige Gerücht, dass der Zugriff auf Drogenhändler vorwiegend dort erfolgt, wo die Straferwartung am höchsten ist. Diese Form der Justizpolitik in einem Rechtsraum dürfte ebenfalls den Forderungen des Gleichheitssatzes kaum entsprechen.
364 Hierzu: Spiegel 38/1993, S. 1: „Faule Justiz – Bequeme Richter, verschleppte Prozesse“. 365 Vgl. hierzu den Konflikt um das „Vier-Augen-Prinzip“ bei den Strafsenaten des BGH: Fischer, in: NStZ 2013, S. 425, Spiegel, „Karlsruher Lotterie“ 2013 Nr. 31, S. 44 f.; Lamprecht, Einflüsse (Fn. 75/A.), S. 6 ff. m.w. N. 366 Marcic, Gesetzesstaat (Fn. 26/A.), S. 278. 367 BVerwGE 116, 188. 368 Grundlegend hierzu W. Langer, Staatsanwälte und Richter. Justizielles Entscheidungsverhalten zwischen Sachzwang und lokaler Justizkultur, Stuttgart 1994.
III. Begründung von Richtertugenden aus rechtsethischen Prinzipien
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Rechtlich und berufsmoralisch heikel ist auch die Vergabepraxis bei der Zuweisung von Geldauflagen und Bußgeldern369. Hier werden jährlich Millionen Euro außerhalb eines geordneten haushälterischen Gebarens verausgabt, wenn die Auflagen nicht dem Staatshaushalt zufließen370. Zwar gibt es in vielen Landgerichts- und Oberlandesgerichts-Bezirken oder ganzen Bundesländern Listen, in denen spendenbedürftige gemeinnützige Vereine aufgeführt sind, die die nötige Transparenz bieten und Rechenschaftspflichten erfüllen. Der Richter wird sich bei der Zuweisung aber sachgerecht verhalten müssen, das heißt eine Verteilung nach persönlichen Beziehungen sowie weltanschaulichen oder politischen Neigungen zu unterlassen haben. Eine Streuung und Abwechslung scheint fair zu sein; insoweit müsste aber zum berufsmoralischen Selbstschutz Transparenz im Wege von detaillierten Listen über die tatsächlichen Empfänger in einem Gerichtsbezirk hergestellt werden. Privat geführte Listen371 wären durch staatlich geführte Listen abzulösen. Rechtstreue und Fairness leiten auch die Praxis der Abfassung der Entscheidungsgründe. Sie fordern Gründe, die die tatsächlich maßgeblichen Entscheidungskriterien – auch für juristische Laien – transparent für die Beteiligten, aber auch für die Kritik sowohl des Rechtsmittelgerichts als auch der Öffentlichkeit zugänglich machen372. Sie und die Haltung der Wahrheit stellen sicher, dass nur die „öffentlichen“ Gründe auch die tragenden Gründe sind373 und die „eigentlichen“ Gründe nicht versteckt werden. Zur Vermeidung von Zeitverlust und der Anmaßung von nicht durch den zu entscheidenden Fall eröffneter Gestaltungsmacht sollten auch obiter dicta374 unterbleiben. Ausdruck von Bescheidenheit und fehlendem Prestigedenken ist schließlich die Korrekturbereitschaft375, sei es bei neuem Sach- und Rechtsvortrag, sei es bei aufhebender Rechtsmittelentscheidung, sei es bei der Auslegung und Anwendung von Wiederaufnahmeregelungen. Die Haltung des Richters zur Institution Justiz und den dort bestehenden Strukturen muss ebenfalls berufsmoralisch von der Haltung zur Rechtsidee geprägt sein. Auf der einen Seite verlangt die innere und äußere Unabhängigkeit, dass von außen kein Einfluss auf die richterliche Entscheidung genommen wird. 369
Vgl. die Kleine Anfrage der Bundestagsfraktion der Partei Die Linke: BT-Drs. 18/832; Antwort der Bundesregierung BT-Drs. 18/1027, S. 6 f. 370 Vgl. www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.rechnungshof-kritisiert-justiz-verteiltmillionen-ohne-kontrolle.76d50b4c-ec0b-4ded-afa7-52e170e7168b.html; https://correctiv. org/recherchen/spendengerichte/artikel/2015/04/28/pruefer-fordern-kontrolle/ [Stand: 20.05.2015]. 371 https://correctiv.org/recherchen/spendengerichte/ [Stand: 20.05.2015]. 372 Zur Notwendigkeit der öffentlichen Kritik nach abgeschlossenem Verfahren: Zweigert, Innere Unabhängigkeit (Fn. 916/C.), S. 720. 373 Morigiwa, Philosophische Grundlagen (Fn. 5/A.), SchlHAnz. 2009, S. 111. 374 Benda, Rechtsstaat (Fn. 78/A.), DRiZ 1979, S. 359. 375 Stephan, Salomo (Fn. 325/C.), S. 221.
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E. Prinzipien einer normativen richterlichen Ethik
Dies abzuwehren ist eine rechtliche Pflicht des Richters, deren Durchsetzung die moralischen Haltungen der inneren Unabhängigkeit und des Mutes verlangen. Dabei ist es umgekehrt ebenfalls eine Frage der Berufsmoral, ob der Richter den Kern seiner rechtlich gesicherten Unabhängigkeit verteidigt oder ob er diese zur bloßen Abwehr von als Zumutung empfundener Anforderungen an seine Arbeit oder seinem Verhalten bzw. von Begrenzungen seines finanziellen oder hierarchischen Status missbraucht. Egon Schneider hat in seinen „Plaudereien zur richterlichen Unabhängigkeit“ eine erschreckende Anzahl von judizierten Fällen gesammelt, in denen Richter ihre Unabhängigkeit zum „Selbstschutz“, „Titelschutz“, „finanziellen Schutz“, „Schutz vor Arbeit“, zur Anspruchsgrundlage für Sonderurlaub oder für ein ihm genehmes Dezernat oder zur Rechtfertigung schlechter Umgangsformen eingesetzt und zum persönlichen Privileg umgedeutet haben376. Hier zeigt sich, dass richterliche Ethik kein Randthema ist. Außerhalb des Kernbereichs richterlicher Unabhängigkeit verlangt die Rechtstreue die Wahrung des institutionellen Rahmens, da sie unabdingbare Voraussetzung der Realisierung richterlicher Entscheidungen in Unabhängigkeit ist. Insoweit hat der Richter auch auf der Achtung des Gerichtes zu bestehen. Dies äußert sich etwa in der Pflege justizieller Rituale (äußeres Erscheinungsbild des Richters, Robe, Aufstehen bei Eintreten des Gerichts, Sachlichkeit im Gespräch, etc.)377. Besonders gefordert sind dabei Gerichtspräsidenten oder -direktoren, die ja gleichzeitig Richter und Angehörige der Verwaltung sind378. Sie haben sowohl das Gericht als auch den einzelnen Richter bei ungerechtfertigten Angriffen und Beleidigungen in Schutz zu nehmen; sie haben aber auch darauf zu achten, dass die Organe der Rechtspflege sich an die für sie geltenden Regeln halten. Dieses Beispiel zeigt im Übrigen, dass je nach richterlicher Funktion (z. B. Einzelrichter, Beisitzer, Vorsitzender, Präsidiumsmitglied, Gerichtsvorstand) unterschiedliche berufsmoralische Anforderungen bestehen können379. Die anzutreffende Haltung von Richtern, die Justiz sei ein Dienstleistungsbetrieb, der ihm zuzuarbeiten und seine berufliche Entfaltung zu gewährleisten hat, verkennt die Mitverantwortung jedes einzelnen Richters am Gelingen „seiner Institution“. Die Bereitschaft, Aufgaben in der Gerichtsverwaltung zu übernehmen, zeigt auch das Maß an, wie stark er diese Erkenntnis und Haltung internalisiert hat.
376 E. Schneider, Plaudereien zur richterlichen Unabhängigkeit, in: AnwBl. 1990, S. 113 ff. 377 Stephan, Salomo (Fn. 325/C.), S. 221. 378 Piorreck, Politische Einflussnahme (Fn. 322/E.), DRiZ 1993, S. 109 f. 379 Eichenberger, Richterliche Unabhängigkeit (Fn. 472/C.), S. 118 ff., der die unterschiedlichen richterlichen Aufgaben in Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit zum Ausgangspunkt nimmt und unterschiedliche Bindungspostulate bzw. geforderte Haltungen beschreibt.
III. Begründung von Richtertugenden aus rechtsethischen Prinzipien
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Die richterliche Mitwirkung im Präsidium stellt Richter vor berufsmoralische Herausforderungen: Hierzu gehört etwa die Mut von Präsidiumsmitgliedern bei Versuchen, von außen auf die Bestellung des gesetzlichen Richters Einfluss zu nehmen380. Umgekehrt ist es berufsmoralisch problematisch, wenn – was nicht selten vorkommt – das richterliche Präsidiumsmitglied überwiegend oder gar ausschließlich die Interessen seines Spruchkörpers oder Dezernats, nicht aber die – rechtlich geforderte – sachgerechte, an der effizienten Abarbeitung orientierte und ausgewogene Verteilung zum Mittelpunkt seines Agierens macht. Diese Haltungen verlangen die Bereitschaft, für die richterliche Überzeugung Nachteile für sich durch Kollegen und durch die „Hierarchie“ in Kauf zu nehmen381. Der Wechsel zwischen Richteramt und der Tätigkeit im Justiz- bzw. Rechtspflegeministerium kann berufsmoralisch dann problematisch sein, wenn damit der Versuch verbunden ist, (politische) Vorstellungen der Exekutive in die Rechtsprechung zu implementieren. Die Mechanismen sind dabei unterschiedlich: über die Installierung von Gerichtsleitungen aus der Exekutive heraus, die parteipolitische Prägung und Steuerung des beruflichen Aufstiegs (Ämterpatronage), der Mitwirkung an Gesetzen, die der Richter später anzuwenden hat382 etc. Hier wird nicht selten die Haltung der inneren Unabhängigkeit gefordert sein. Die Haltungen der inneren Unabhängigkeit und Rechtstreue verlangt dem Richter im Hinblick auf die Haltung zur Rechtsidee auch außerdienstlich einiges ab: So können jenseits des Rechts Nebentätigkeiten eine Fülle berufsmoralischer Probleme aufwerfen, zu deren Bewältigung die genannten Haltungen beitragen. Die Rechtstreue verlangt insoweit zunächst, dass sich der Richter an das Nebentätigkeitsrecht hält und sie – wie gefordert – anzeigt oder ihre Genehmigung beantragt. Bestimmte Nebentätigkeiten sind nicht nur unproblematisch, sondern durch die genannten Haltungen sogar geboten: So ist die theoretische und praktische Ausbildung von Studenten und Rechtsreferendaren durch engagierte Richter für den rechtsstaatlich geprägten Nachwuchs von fundamentaler Bedeutung. Gerade von ihnen kann dieser Nachwuchs alle die hier als maßgeblich bezeichneten Haltungen nicht nur erlernen, sondern in der Person beispielhaft erfahren. Deshalb ist die Leitung von entsprechenden Kursen, Seminaren und Arbeitsgemeinschaften einschließlich der insoweit erforderlichen Prüfungstätigkeit – auch im Rahmen der beiden Staatsexamina – unproblematisch383. Die Ausbildungsbereit380 Vgl. den von Sendler, Unabhängigkeit (Fn. 28/A.), NJW 1983, S. 1451 f. beschriebenen Vorfall. Piorreck, Politische Einflussnahme (Fn. 322/E.), DRiZ 1993, S. 110. 381 Strecker, Ethik (Fn. 59/A.), BJ 2004, S. 385 f. 382 Für Schweden: Adelswärd, Richterethik (Fn. 146/C.), S. 433. 383 Allerdings ist straf- und disziplinarrechtlich zu ahndendes Fehlverhalten nie auszuschließen: vgl. Süddeutsche Zeitung vom 06.01.2015: www.sueddeutsche.de/bildung/
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E. Prinzipien einer normativen richterlichen Ethik
schaft gegenüber Schülern, Studenten und Referendaren ist daher berufsmoralisch geboten384. Grundsätzlich unproblematisch sind auch die wissenschaftliche Tätigkeit, insbesondere die Abfassung rechtswissenschaftlicher Schriften, also von Büchern und Zeitschriftenbeiträge, wenn sie außerhalb der Dienstzeit verfasst werden. Gleiches gilt für die Herausgabe von Zeitschriften oder deren Schriftleitungen. All diese Tätigkeiten tragen grundsätzlich dazu bei, das Recht und seine Anwendung besser zu verstehen. Sie wirken daher auf das Publikum und die Öffentlichkeit in rechtsstaatlicher Weise ein. Gleiches gilt im Grundsatz für eine entsprechende Vortragstätigkeit, wenn sie den öffentlichen Diskurs zu aktuellen und rechtspolitisch umstrittenen Fragen fördert. Von diesem Grundsatz sind unter Berücksichtigung der Haltungen der inneren Unabhängigkeit und der Rechtstreue aber Ausnahmen zu machen: Das rechtliche Mäßigungsgebot berührend und berufsmoralisch heikel kann – trotz nebentätigkeitsrechtlicher Zulässigkeit – insbesondere die schriftstellerische bzw. Vortragstätigkeit sein, die nicht nur die bisherige Rechtsprechung nachzeichnet oder umstrittene, aber noch nicht gelöste Probleme aufzeigt, sondern die beabsichtigte Weiterentwicklung der Rechtssprechungstätigkeit des eigenen Spruchkörpers andeutet oder gar ankündigt385. Wird ein Richter von Interessenvertretungen (insbesondere im Banken-, Versicherungs-, Energiewirtschafts-, Steuer- und Kartellrecht) zum Vortrag eingeladen und ihm ein großzügiges Honorar gewährt, ist dies dann kaum vertretbar, wenn er mit Verfahren befasst ist, die dem einladenden Berufs- oder Wirtschaftsverband besonders wichtig sind, das Vortragsthema sich darauf bezieht und insoweit Entscheidungen unmittelbar bevorstehen386. Ein Vortrag gegen Honorar vor einem gemeinnützigen Verein, in dem Verwandte maßgeblichen Einfluss besitzen,387 oder dem der Richter zuvor Bußgelder388 zuge-
prozess-in-niedersachsen-richter-gesteht-verkauf-von-jura-pruefungsloesungen-1.2292 301 [Stand: 16.01.2015]. 384 Krix, Richterethik (Fn. 109/A.), S. 124. 385 Neumann, Richterliche Ethik (Fn. 108/A.), DRiZ 2008, S. 101. 386 Vgl. zu Einzelfällen WirtschaftsWoche, Die fragwürdigen Nebenverdienste der Richter (Stand: 13.01.2015: www.wiwo.de/politik/deutschland/justiz-die-fragwuerdigennebenverdienste-der-richter/9680610.html): Allerdings sind diese Aussagen insgesamt eher pauschal, wenn es etwa heißt: „Im Jahr 2012 besserten nach Recherchen der WirtschaftsWoche 73 Prozent der Richter am Bundesgerichtshof (BGH) ihre Kasse mit Nebentätigkeiten auf, am Bundesverwaltungsgericht waren es 85 Prozent, am BFH 97 Prozent und am Bundesarbeitsgericht sowie am Bundessozialgericht jeweils 100 Prozent.“ Unklar ist, auf welche Nebentätigkeiten sich diese Aussagen beziehen. Vgl. auch: Der Spiegel, 26.11.2007 (www.spiegel.de/wirtschaft/richter-nebenjobs-im-fokus-der-lobby isten-a-519373.html [Stand: 17.01.2015]). 387 Vgl. www.focus.de/politik/deutschland/20-000-euro-dank-vetternwirtschaft-richterschanzt-reitverein-der-tochter-bussgelder-zu_id_3660578.html (Stand: 15.08.2014).
III. Begründung von Richtertugenden aus rechtsethischen Prinzipien
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wiesen hat389, dürften die insoweit geforderten Haltungen des Richters widersprechen. Die schriftstellerische Tätigkeit kann auch dann problematisch werden, wenn sie Erwägungen des Spruchkörpers, die – etwa nach Rücknahme des Rechtsmittels – nicht mehr Inhalt des Urteils werden konnten, für „die Zukunft“ beschreiben. Denn damit werden quasiautoritative Interpretationen und Ankündigungen geliefert, ohne dass der Richter durch ein anhängiges Verfahren „zum Spruch“ ermächtigt wäre390. Letzteres gilt auch und gerade für (richterliche) wissenschaftliche Mitarbeiter an Bundes- oder Verfassungsgerichten, die literarisch „Botschaften“ des Spruchkörpers nach einer unstreitigen Erledigung eines Musterstreites übermitteln391. Dies mag im Einzelfall für die Rechtsgemeinschaft von Vorteil sein. Mit der Aufgabe des auf die Entscheidung konkreter Rechtsfälle festgelegten Richteramts lässt sich dies jedoch kaum vereinbaren. Es zeigt auch eine Selbstüberschätzung des richterlichen Individuums oder Spruchkörpers an, wenn er auf diese Weise „seine“ Rechtsansicht unter das Volk bringen will. Eine besondere Litigation PR wäre es und berufsmoralisch fragwürdig, wenn zur Vorbereitung einer höchstrichterlichen Entscheidung eigene Aufsätze oder die befreundeter Richterkollegen lanciert würden, um die dort geäußerten Rechtsansichten zur Grundlage und zum Zitat für die nachfolgende Entscheidung zu machen392. Ebenso problematisch ist es, wenn Richter selbst ihre eigene Entscheidung gegen Kritik rechtfertigen oder wenn die Schriftleitertätigkeit eines Richters zur Steuerung von Rechtsmeinungen bzw. Abmilderung von Kritik genutzt wird393. Wer als Richter Nebentätigkeiten ohne unmittelbaren Bezug zu seiner richterlichen Tätigkeit – rechtlich zulässigerweise – ausübt, also insbesondere wirtschaftlich und gewerblich tätig wird, hat zur Wahrung seiner inneren Unabhängigkeit und der Rechtstreue zu vermeiden, dass er in seinen richterlichen Aufgaben beeinträchtigt wird394. Insoweit besteht sogar eine gewisse Vermutung für die Beeinträchtigung, weil richterliche und gewerbliche Tätigkeit sich grundsätzlich 388 Vgl. zu den Grenzen des Entscheidungsermessens und der Praxis bei der Zuteilung von Geldbußen und -auflagen die Antwort der Bundesregierung auf eine kleine Anfrage: BT-Drs. 18/1027, S. 6 f. 389 Kreth, Anspruch (Fn. 84/D.), S. 4; Neumann, Richterliche Ethik (Fn. 108/A.), DRiZ 2008, S. 101. 390 Hierzu Gross, Visitenkarte (Fn. 176/E.), NJW 2014, S. 3144 f. 391 Hierzu Bausch, Der Bundesgerichtshof gefährdet die Akzeptanz seiner Urteile, FAZ, 19.02.2014, S. 19. Hierzu auch Gross, Visitenkarte (Fn. 176/E.), NJW 2014, S. 3144 f. mit Beispielen aus der Literatur. 392 Hierzu Rieble, Der Richterkönig lebt! FAZ v. 27.05.2015, N 4, der polemisch von z. T. „nordkoreanischer Selbstverehrung“ und „mentalen Wandlitz“ spricht. 393 Hierzu Rieble, a. a. O. 394 Vgl. H. Trieflinger, Richterliche Unabhängigkeit und Nebentätigkeiten, in: BJ 2006, S. 412 ff.
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E. Prinzipien einer normativen richterlichen Ethik
ausschließen. Der Richter hat (auch) berufsmoralisch jedenfalls alles zu unterlassen, was sein Amt und das Vertrauen in die Justiz schädigen könnte395. Hierzu zählt auch der „böse Schein“, der sich auch im Umfang der Vergütung spiegeln kann396. Dabei muss die Tätigkeit nicht einmal „wirtschaftsnah“ sein. In der Arbeitsgerichtsbarkeit etwa ist es nicht selten, dass durch Vortragstätigkeit bei Gewerkschaften oder Betriebsratsschulungen oder dem Vorsitz in Einigungsstellen ein erheblicher Zuverdienst erzielt wird. Auch in anderen Gerichtsbarkeiten kann der Zuverdienst durch Nebentätigkeiten die monatliche, in Einzelfällen sogar der jährlichen Besoldung übersteigen. Bei einem erheblichen Zuverdienst besteht jedenfalls die Gefahr, dass der finanzielle Anreiz die geforderte Konzentration auf das Hauptamt beeinträchtigt. Problematisch kann es für die innere Unabhängigkeit und das Vertrauen in den Richter auch sein, wenn aktive Richter als Treuhänder für Banken und Versicherungen tätig sind. In Einzelfällen kann dies sogar zur Gefahr der Befangenheit führen397. Die Achtung des Rechts außerhalb des Dienstes verlangt die Haltung der Rechtstreue. Auch jenseits des Rahmens, den das Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht für eine rechtswidrige Tat oder eine mit Geldbuße bedrohte Handlung vorgibt, und die durch dieses oder das Disziplinarrecht geahndet werden können, verlangt sie die Wahrung des Rechts. Dies gilt etwa für private zivilrechtliche Streitigkeiten, die Steuerehrlichkeit, die Achtung des öffentlichen Baurechts etc. Zum Feld der Rechtstreue gehört es auch, dass Richter bei rechtlicher Betroffenheit der Angehörigen maßvoll handeln. Problematisch ist es auch, wenn Richter ungebührlich Einfluss auf die juristische Ausbildung ihrer Kinder nehmen398. f) Haltung des Richters zu sich selbst Ausgangspunkt für eine rechtsstaatlich geprägte Haltung des Richters zu sich selbst ist stets die Wahrung seiner inneren Unabhängigkeit399. Sich unabhängig zu halten und die anderen richterlichen Tugenden (Rechtstreue, Fairness, Wahrheit, Gerechtigkeit, Zurückhaltung) zu pflegen, dient dem Aufbau, der Entwicklung und dem Erhalt einer Richterpersönlichkeit. Die Richterpersönlichkeit beruht auf einer durch dauernde Übung verinnerlichten Haltung. Sie ist zum einen Gewähr für ein individuell geglücktes Berufsleben. Zum anderen ist sie Garant für ein nachhaltig rechtsstaatliches Handeln im Alltag. Denn es dürfte eine der schmerzlichsten, aber auch sehr eingängigen Erkenntnisse im Umgang mit rich395 Vgl. insoweit den in der Süddeutschen Zeitung vom 22.12.2014 beschriebenen Fall: www.sueddeutsche.de/wirtschaft/affaere-um-richter-tatort-osnabrueck-1.2278350 [Stand: 16.01.2015]. 396 Strecker, BJ 1996, S. 367. 397 Wenger, FAZ v. 01.06.2004. 398 Hierzu Wittreck, Funktionen (Fn. 10/A.), S. 272. 399 Wipfelder, Bürger (Fn. 22/A.), DRiZ 1987, S. 119.
III. Begründung von Richtertugenden aus rechtsethischen Prinzipien
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terlichem Verhalten sein, dass die bloß strukturellen Absicherungen, insbesondere die äußere Unabhängigkeit, allein nicht zu rechtsstaatlich gesicherten Entscheidungen führen, wenn der Entscheidungsträger nicht zu ihr innerlich befähigt ist: „Unabhängigkeit ,als solche‘ bietet offenbar noch keinerlei Gewähr für eine ,ordnungsgemäße‘, ,gesetzmäßige‘ – neutraler: eine allgemein befriedigende – Rechtspflege. Sie bietet überhaupt nichts. An ihrem Vorhandensein lässt sich allenfalls die vage Hoffnung auf unbehelligte Selbstentfaltung jurisdiktioneller Rechtschaffenheit anbinden, eine Aussicht, welche so unbestimmt ist, dass von ihr nicht einmal gesagt werden kann, dass zu ihrer Berechtigung die Unabhängigkeitsgarantie notwendig ist.“ 400 Dieses ernüchternde Fazit von Dieter Simon kann nur von den Richtern selbst, wenn nicht wiederlegt, so doch durch ein richterethisch getragenes und reflektiertes Verhalten im guten Sinne gefüllt werden. Für die dabei geforderte Haltung des Richters zu sich selbst gilt: „Selbstkritische Lebenseinstellung und ständige Reflexion eigener Abhängigkeiten sind nicht über das Dienstrecht erzwingbar.“ 401 Der Erwerb und die Erhaltung der inneren Unabhängigkeit setzt zunächst ein Bewusstsein von möglichen Abhängigkeiten und der dadurch bedingten Gefährdungen der Unabhängigkeit voraus402. Solche können unterschiedlich begründet sein: Sie können sich zum einen aus der inneren Verfasstheit und charakterlichen Geprägtheit des Richters selbst ergeben, die (vorläufiges) Ergebnis seiner Erziehung, Sozialisation, aber auch autonomer Selbstgestaltung sind; sie wird insbesondere geprägt durch seine emotionalen, physischen und psychischen Eigenschaften sowie politischen und weltanschaulichen Überzeugungen. Hierzu zählen auch Mechanismen der Wahrnehmung und der Grad seiner sozialen Kompetenz. Weiter gehören Einstellungen zum Beruf dazu, etwa ob er als bloßer Broterwerb403 oder als Berufung empfunden wird. Auch das Streben nach bestimmten beruflichen Zielen prägt die innere Unabhängigkeit, etwa der Wille zur möglichst professionellen und effektiven Rechtsprechung, zur Karriere oder der Wunsch auf ein bloß geruhsames Leben. Auf die innere Unabhängigkeit wirken in hohem Maße äußere Beziehungen zu anderen, also zu Kollegen, Vorgesetzten, Anwälten, Parteien, Politiker etc., seien sie nun neutral, freundschaftlich oder feindlich geprägt. Auch die Wirkung der Presseberichterstattung zu vom Richter bearbeiteten Fällen gehört hier dazu404. Auch Strukturen und Systeme, in die der Richter ein400
Simon, Unabhängigkeit des Richters (Fn. 469/C.), S. 57. Hager, Freie Meinung (Fn. 35/D.), NJW 1988, S. 1696. 402 Strecker, Politischer Richter (Fn. 455/D.), ZRP 1984, S. 126; Sendler, Mythos (Fn. 319/E.), NJW 1995, S. 2468; Dütz, Richterliche Unabhängigkeit und Politik (Fn. 75/D.), JuS 1985, S. 754. 403 Strecker, Ethik (Fn. 59/A.), BJ 2004, S. 385 f. 404 Zum gewandelten Verhältnis zwischen der zunehmend kritischen Presse und der traditionell öffentlichkeitsscheuen Justiz: P. Caesar, Richterliche Unabhängigkeit und 401
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E. Prinzipien einer normativen richterlichen Ethik
gebunden ist, können in dieser Weise wirken, also etwa die Familie, die Partnerschaft, der Spruchkörper, das Gericht, die politischen Verhältnisse. Die Wahrnehmung der potentiellen Beeinflussbarkeit durch solche Einwirkungen verlangt die Reflexion des Richters über seine Rolle405 in Staat, Justiz, Gericht, Spruchkörper etc. und ihrer möglichen Auswirkungen auf das eigene Urteil. Nicht selten hat der Richter aber kein hinreichendes Bewusstsein dafür, wie diese Rahmenbedingungen auf ihn und seine Entscheidung Einfluss nehmen. Insbesondere geht er häufig davon aus, dass Gefährdungen nur von „oben“ oder „außen“ kommen, während er seine eigenen inneren Abhängigkeiten nicht realisiert. Anders als in vielen sozialen Berufen ist die Neigung von Richtern, sich mit seiner „inneren Seite“ zu beschäftigen, entweder nicht stark ausgeprägt oder strukturell nicht vorgesehen. Selbsterfahrung, Super- und Intervision sind – soweit sie angeboten werden – tendenziell mit Vorbehalten versehen, obwohl doch jeder die Erfahrung der in jeder Hinsicht befreienden Wirkung eines offenen kollegialen Gesprächs gemacht hat. Ist sich der Richter der Abhängigkeit von äußeren und inneren Faktoren bewusst, verlangt seine innere Unabhängigkeit, sie in ihrer Wirkung einzuschätzen und die Unabhängigkeit zurückzugewinnen bzw. zu erhalten. Dies setzt die Bereitschaft voraus, – auch bei Gefahr von Nachteilen für das berufliche Fortkommen – Eingriffe in die richterliche Unabhängigkeit abzuwehren406, etwa durch Einflussnahmen von außen (Äußerung von Erwartungshaltungen von Vorgesetzten oder Politikern, rechtswidrige Beurteilungen, Medienattacken etc.). Mögliche „Verbindlichkeiten“ aus Wahl, Ernennung oder Beförderung gegenüber den politischen oder dienstaufsichtlichen Entscheidungsträgern407 sind zu vermeiden. Im Hinblick auf sein „forum internum“ hin verlangt die Haltung der inneren Unabhängigkeit Selbstdistanz408, die Selbstkontrolle der Motive bei der Entscheidungsfindung409, Zurückhaltung (self restraint)410, Kritikfähigkeit hinsichtlich
öffentliche Meinung, in: DRiZ 1994, S. 455 ff. Er hält allein die verantwortliche Richter-Persönlichkeit, die in innerer Unabhängigkeit auch die Folgen seiner Entscheidung für das Gemeinwesen bedenkt, für geeignet, hier zu bestehen. 405 Simon, Unabhängigkeit des Richters (Fn. 469/C.), S. 156 ff. 406 Simon, Unabhängigkeit des Richters (Fn. 469/C.), S. 23 f. 407 Vgl. Dütz, Richterliche Unabhängigkeit und Politik (Fn. 75/D.), JuS 1985, S. 748. 408 Strecker, Ethik (Fn. 59/A.), BJ 2004, S. 385 f. 409 Geiger, Die Unabhängigkeit des Richters (Fn. 73/D.), DRiZ 1979, S. 66. 410 „Der Grundsatz des judicial self-restraint, den sich das Bundesverfassungsgericht auferlegt, bedeutet nicht eine Verkürzung oder Abschwächung seiner eben dargelegten Kompetenz, sondern den Verzicht ,Politik zu treiben‘, d.h. in den von der Verfassung geschaffenen und begrenzten Raum freier politischer Gestaltung einzugreifen. Er zielt also darauf ab, den von der Verfassung für die anderen Verfassungsorgane garantierten Raum freier politischer Gestaltung offenzuhalten.“ BVerfGE 36, 1, zit. nach Juris Rdnr. 51. Hierzu auch Eichenberger, Richterliche Unabhängigkeit (Fn. 472/C.), S. 198 ff.; Rupp, Bindung (Fn. 25/A.), NJW 1973, S. 1770, meint die deutschen Richter
III. Begründung von Richtertugenden aus rechtsethischen Prinzipien
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der Professionalität in der Abarbeitung oder getroffener Wertungen411, die Wahrnehmung eigener Begrenztheit, insbesondere das Risiko der Betriebsblindheit, sowie die Akzeptanz der Tatsache, dass jedes Urteil subjektive und voluntative Elemente enthält412. Gleichzeitig müssen diese defensiven Haltungen gepaart sein mit einem gelassenen Selbstbewusstsein, In-sich-Ruhen und Mut413, die von Uneitelkeit414 begleitet werden. Aus der Haltung, der Wahrung der Menschenrechte verpflichtet zu sein415, fließt das Bewusstsein der zu verantwortenden Macht416. Die Haltung des Richters zu sich selbst umfasst auch seine „Arbeitsmoral“, d.h. Einsatzbereitschaft für seine beruflichen Anforderungen417. Dies verlangt auch die Kontrolle der eigenen – seiner weitgehend freien und unabhängigen Einteilung unterliegenden – Arbeitszeit, die mindestens dem zu entsprechen hat, die ein Beamter seiner Gehaltsgruppe ableistet418. Soweit keine gesetzliche Verpflichtung besteht, verlangen der Erhalt der Rechtstreue und die Einübung der Fairness richterliche Fortbildungs- und Bildungsbereitschaft419. Diese Bildung fördert die dauerhafte souveräne Kenntnis des Rechts. Die Haltung zur Rolle als Vertreter von Staat und Recht verlangt auch eine seinem Beruf angemessene Kleidung420, die aus Gründen der Neutralität bei der Amtstätigkeit und bei nach außen gerichtetem Handeln religiöse oder weltanschauliche Symbole oder religiös konnotierte Kleidung421 zu vermeiden hat. Umstritten ist, inwieweit das private und gesellschaftliche Verhalten des Richters von seinem Beruf geprägt sein muss. Fest steht, dass der Richter im privaten Umfeld auch als Träger einer beruflichen Rolle wahrgenommen wird und deshalb das Vertrauen in ihn wie in die Justiz leiden kann, wenn er gesellschaftliche Regeln verletzt. Dabei ist davon auszugehen, dass nicht erst eklatante Verstöße gegen die gesellschaftliche Moral dieses Vertrauen beeinträchtigen, sondern die Sensibilität früher einsetzt. Insofern spricht viel dafür, dass die Haltung der inneübertrieben insoweit; gleichzeitig kritisierte er den Anspruch von Richtern, „progressive“ Rechtsprechung zu betreiben. 411 Sendler, Unabhängigkeit (Fn. 28/A.), NJW 1983, S.1453; Wipfelder, Unabhängigkeit (Fn. 23/A.), DRiZ 1984, S. 42. 412 Sendler, Unabhängigkeit als Mythos?, NJW 1995, 2468. 413 Wipfelder, Unabhängigkeit (Fn. 23/A.), DRiZ 1984, S. 43. 414 Wipfelder, Unabhängigkeit (Fn. 23/A.), DRiZ 1984, S. 43. 415 Strecker, Ethik (Fn. 59/A.), BJ 2004, S.385 f. 416 Strecker, Ethik (Fn. 59/A.), BJ 2004, S.385 f. 417 Sendler, Unabhängigkeit (Fn. 28/A.), NJW 1983, S.1456. 418 Michaelis-Merzbach, Der unabhängige Richter (Fn. 39/D.), S. 547. 419 Marcic, Gesetzesstaat (Fn. 26/A.), S. 277; Strecker, Ethik (Fn. 59/A.), BJ 2004, S. 386; Wipfelder, Bürger (Fn. 22/A.), DRiZ 1987, S. 128 und dessen Kanon, auf den sich die Interessen des Richters richten sollten. 420 Michaelis-Merzbach, Der unabhängige Richter (Fn. 39/D.), S. 548. 421 Röger, Religionsfreiheit (Fn. 458/D.), DRiZ 1995, S. 471.
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E. Prinzipien einer normativen richterlichen Ethik
ren Unabhängigkeit – wie im Zusammenhang mit politischen Äußerungen – eine Haltung der Mäßigung verlangt und an ihn höhere moralische Anforderungen zu stellen sind als an einen Durchschnittsbürger. Kritische Konstellationen sind etwa öffentlicher übermäßiger Alkoholkonsum422 oder öffentlich wahrnehmbare sexuelle Freizügigkeit. In lokalen Bezügen hat der Richter sein gesellschaftliches Engagement, etwa in Vereinen oder anderen gesellschaftlichen Gruppen in Beziehung zu der von ihm geforderten Unabhängigkeit, aber auch zur Rechtstreue zu setzen. Deswegen hat er die dabei eingegangenen Verpflichtung und Aufgaben in Bezug zu seinen Dienstpflichten zu setzen.
IV. Zusammenfassung des Kapitels E. Jenseits einer Pflichtenethik ist rechtlich und tatsächlich Raum für eine richterliche Tugendethik. Die berufsmoralischen Tugenden können dabei aus den rechtsethischen Prinzipien der Verfassung und aus der Aufgabe des Richters als unabhängiger Entscheider abgeleitet werden, ohne dass die richterliche Ethik zu einem bloßen Annex der rechtlichen Vorgaben und dem richterlichen Dienstrecht würde. Zentrale Tugenden des Richters sind die Rechtstreue, Fairness und die innere Unabhängigkeit. Die im Richtereid zur Grundlage der richterlichen Selbstverpflichtung gemachten Tugenden der Wahrheit und Gerechtigkeit stehen daneben, wie auch die richterlichen Sekundärtugenden Sorgfalt und Disziplin sowie die zugewandte Distanz. Schließlich sind maßgebliche richterliche Tugenden die Mäßigung und der Mut. Aus diesen Tugenden lassen sich für die einzelnen Handlungsfelder konkrete Haltungen ableiten, ohne dass konkrete Ge- und Verbote formuliert werden müssten. Insofern bietet die richterliche Tugendethik hinreichend konkrete Vorgaben für die richterliche Berufsmoral, ohne die Autonomie des Richters über Gebühr einzuschränken und den Raum für ein angemessenes Verhalten im Einzelfall durch rigide Vorgaben zu eng zu machen.
422
Hierzu: Adelswärd, Richterethik (Fn. 146/C.), S. 433.
F. Mechanismen zur Implementierung und Sicherung ethischen Handelns bei Richtern Hält man die Wahrung berufsmoralischer Standards durch den Richter für ein zentrales Problem rechtsstaatlicher Rechtsprechung, stellt sich die Frage, wie der Richter „zu seiner Moral kommt“. Dies betrifft sowohl den individuellen Aneignungsprozess wie die davor liegende Bestimmung der geforderten Inhalte, also der berufsmoralischen Prinzipien, Werte und Haltungen. Im Folgenden sind daher die Mechanismen zur Formulierung, Implementierung und Sicherung ethischen Handelns bei Richtern näher zu untersuchen. Dabei soll hier der in den vorangegangenen Kapiteln hergeleitete Ansatz einer richterlichen Tugendethik auch diese Untersuchung prägen. Er wirft insbesondere die grundlegende Frage auf, ob dieser Prozess heteronom oder autonom geprägt ist bzw. sein soll, also ob die berufsethischen Anforderungen von außen vorgegeben (und kontrolliert) werden oder vom Richter selbst bestimmt werden sollen. Anders als die aus Gründen der rechtlichen Zulässigkeit und der mangelnden Erforderlichkeit zurückgewiesene Pflichtenethik setzt die hier etablierte Tugendethik mit ihren ausfüllungsbedürftigen Prinzipien und Werten auf Qualitäten des Richters und seiner Bereitschaft, sie zu verinnerlichen bzw. sie zu seiner Haltung werden zu lassen. Die Wahrung der richterlichen Unabhängigkeit, die eine geund verbotsgeleitete Steuerung im Kernbereich richterlichen Handelns verbietet, verlangt einen Prozess der Aneignung dieser Prinzipien, der – dem Charakter der tugendethischen Ausrichtung entsprechend – nicht unmittelbar zwingt. Diesem Ansatz widerspräche es, dem Richter richterliche Ethik zu „verordnen“. Vielmehr ist auf einen offenen Prozess Wert zu legen, der eine autonome Aneignung eröffnet. Ihrem Charakter entspräche daher eher ein Prozess der Diskussion, des Abgleichs von Werten und der freien Annahme durch den Richter. Allerdings widerspräche es dem Charakter der richterlichen Moral als Berufsmoral einer Amtsperson, wollte man die ethischen Verhaltenserwartungen von Bürgern, insbesondere von anderen juristischen Berufsträgern, aus diesem Prozess ausschließen. Damit ist der Zusammenhang von Ethik, Verhaltenserwartung und Selbsterziehung des Richters angesprochen, die einerseits eine autonome Aneignung eröffnet, den Richter aber nicht frei stellt von einem öffentlichen berufsmoralischen Diskurs und der dort legitimerweise geforderten Haltungen. Im Folgenden muss daher der Frage nachgegangen werden, ob und wie ethisches Handeln von Richtern gefördert werden sowie ob und in welchem Umfang es auch gefordert werden kann. Zunächst werden zwei strukturelle Bedingungen
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F. Zur Implementierung und Sicherung ethischen Handelns bei Richtern
zu umschreiben sein, die berufsethisches Verhalten überhaupt erst ermöglichen. Im Anschluss daran werden – gesteigert nach dem zunehmenden Grad der heteronomen Gestaltung und Wirkung des Implementierungsmechanismus – von der richterlichen Sozialisation über Foren für richterethische Selbst- und Fremdberatung bis zu Ethikkodizes unterschiedliche Formen der Implementierung näher betrachtet. Insofern müssen auch die Chancen und Risiken von Sanktionsmechanismen bei unethischem Verhalten von Richtern untersucht werden. Hierbei kann auf die Erfahrung in anderen Ländern mit solchen Mitteln zurückgegriffen werden. Hilfreich können auch die Handreichungen und Maßstäbe von internationalen Organisationen sein. Gerade für den richterlichen Bereich hat der Europarat Überlegungen angeboten. Aber auch die OECD hat für den „öffentlichen Sektor“ seit 1996 Kriterien entwickelt1, die dem öffentlichen Dienst des jeweiligen Landes ein „ethics management“ eröffnen: Die Hauptkriterien sind dabei die politische Bereitschaft zur Implementierung ethischer Standards, umsetzbare Verhaltenskodizes, professionelle Sozialisationsmechanismen, Koordinierungsorgane, ethisches Verhalten unterstützende Bedingungen, rechtliche Regeln, Verantwortlichkeit und Kontrolle sowie eine aktive Zivilgesellschaft2. Diese Handreichungen, Maßstäbe und Kriterien werden sich auch in den nachfolgenden Überlegungen spiegeln.
I. Grundvoraussetzungen für die Implementierung richterethischen Verhaltens 1. Sicherung der richterlichen Unabhängigkeit Grundvoraussetzung für die Zulässigkeit der Mechanismen zur Implementierung und Sicherung ethischen Handelns bei Richtern ist die Wahrung der richterlichen Unabhängigkeit. Wie bereits zur Pflichtenethik ausgeführt, müssen sich auch heteronom formulierte Tugenden an dieser rechtlichen Sicherung messen lassen3. Insbesondere ist zu prüfen, ob sie eine Wirkung auf den Richter derart haben, dass seine Entscheidungsfreiheit beeinträchtigt würde. Anders als bei der Pflichtenethik, die ja konkrete Handlungspflichten voraussetzt, sind solche Wirkung bei einer Tugendethik grundsätzlich nicht zu erwarten. Dies schon gar nicht, wenn die Tugenden – wie hier – allgemein formuliert, aus rechtsethischen Prinzipien abgeleitet sind und deshalb von der Rechtsordnung als Begrenzungen richterlichen Handelns anerkannt sind.
1
Vgl. hierzu: www.oecd.org. Hierzu: Behnke, Ethik in Politik (Fn. 226/B.), S. 77 ff., die diese Kriterien unter den Begriff der „ethischen Infrastruktur“ fasst. 3 So auch Canivet, Richter (Fn. 175/C.), BJ 2006, S. 432. 2
I. Grundvoraussetzungen für die Implementierung richterethischen Verhaltens 547
2. Sicherung der persönlichen, personellen und sächlichen Voraussetzungen für die richterliche Aufgabenwahrnehmung Die tägliche Beachtung richterlicher Haltungen, also des Rechtsanwendungswillens, der Fairness und der inneren Unabhängigkeit sowie der richterlichen Sekundärtugenden verlangt neben der Bereitschaft des Richters die erforderlichen institutionellen Rahmenbedingungen, die berufsmoralisches „Können“ erst ermöglichen4. Denn personelle und sächliche Ressourcen sichern erst tatsächlich die Bedingungen, im beruflichen Alltag angemessen Zeit und Raum zu haben, um diese Haltungen in entsprechendes Verhalten umzusetzen. Überlastung durch unzureichende Personalausstattung mit Richtern5 und nichtrichterlichem Personal sowie fehlende Zugriffsmöglichkeiten auf Literatur und Rechtsprechung führen zu schneller und oberflächlicher Arbeitsweise. Fehlende Augenhöhe mit spezialisierten Anwälten beeinträchtigt nicht nur die Verfahrens- und Ergebnisqualität, sondern unterläuft auch die Fähigkeit und Bereitschaft, die geforderten Haltungen zu leben. Es kommt zu Situationen, in denen wegen Zeit- und Entscheidungsdrucks zwanghaft ein Vergleich gesucht, ein Deal6 oder die schnelle Einstellung des Verfahrens angestrebt, die gebotene Aufklärung reduziert oder Anhörungen unterbleiben bzw. stark verkürzt werden. Die Ausstattung wird somit zu einer wesentlichen Voraussetzung, die richterliche Aufgabe verantwortungsvoll wahrzunehmen7. „Eine anhaltende Demotivierung gefährdet die innere Unabhängigkeit bis zur Ebene fatalistischer Ergebenheit.“ 8 Die Kenntnis und Einübung richterlicher Tugenden setzt außerdem auch Bildung, insbesondere Fortbildung voraus, die entweder vom Dienstherrn – wie gegenwärtig weitgehend gewährleistet – angeboten oder dem Richter – etwa durch Bildungsurlaub9 – ermöglicht werden sollte. In der Literatur wird auch die These vertreten, dass eine Verbesserung der Einkommenssituation der Richter die persönlichen Eigenschaften und Qualitäten des Richters und damit die geforderten Haltungen sichert und fördert, sei es dass bestimmte Personen vom Richterberuf 4 Zum Zusammenhang zwischen Ausstattung, Justizgewährleistung und richterlicher Unabhängigkeit: Piorreck, Politische Einflussnahme (Fn. 322/E.), DRiZ 1993, S. 112. Vgl. auch BVerfGE 36, 264 (275). 5 Hierzu Zahlen für 2002 bei G. Mackenroth/H. P. Teetzmann, Mehr Selbstverwaltung der Justiz – Markenzeichen zukunftsfähiger Rechtsstaaten, in: ZRP 2002, S. 337, 338. 6 Mackenroth/Teetzmann, Mehr Selbstverwaltung (Fn. 5/F.), ZRP 2002, S. 337, 338. 7 Titz, Schriftlichkeit (Fn. 6/A.), DRiZ 2009, S. 348; einzelne Richter ziehen hieraus sogar die Konsequenz, den Richterdienst zu verlassen: vgl. hierzu den Fall des ehemaligen saarländischen Richters D. Jungbluth: Interview „Traumjob Richter“ in NJW-aktuell, Heft 37/2014, S. 12 f. 8 Berkemann, Unabhängigkeit (Fn. 277/C.), S. 25. 9 Zweigert, Innere Unabhängigkeit (Fn. 916/C.), S. 723, forderte dies schon 1967 und meint damit einen sehr konkreten Bildungsurlaub, nämlich in den „Mutterländern der großen Rechtssysteme“, womit er vor allem Großbritannien meint.
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F. Zur Implementierung und Sicherung ethischen Handelns bei Richtern
angezogen werden, sei es dass der eingestellte Richter Raum findet, seine Persönlichkeit frei zu entfalten, sei es dass sie den Aufstieg zur Erhöhung des Einkommens weniger attraktiv macht10. Allerdings hängt die institutionelle Sicherung richterethischer Haltungen nicht allein vom Dienstherrn und den von ihm zur Verfügung gestellten Mitteln, sondern auch von den Richtern selbst ab. Maßgebliches Instrument sind dabei Präsidiumsentscheidungen über die Geschäftsverteilung. Denn mit ihnen wird der Richter „zum Fall“ bzw. „zum jeweiligen Rechtsgebiet“ gebracht. Nicht selten kommt es vor, dass „ungeliebte“, aber in ihren öffentlichen Wirkungen existentielle Dezernate Richtern zugewiesen werden, obwohl den Mitgliedern des Präsidiums bekannt ist, dass diese für das Dezernat „Handicaps“ aufweisen. Ist es etwa – um nur drei Problemfelder aufzuzeigen – richterethisch vertretbar, einem Richter ein familienrechtliches Dezernat zuzuweisen, von dem bekannt ist, dass er selbst in einer hochkonflikthaften Trennung steht bzw. erst jüngst hinter sich gebracht hat? Ist es richterethisch vertretbar, auch wenn es eine fragwürdige Tradition hat, Assessoren kurz nach dem Berufseinstieg grundsätzlich nur die „abgesoffenen“ Dezernate zuzuweisen? Ist es richterethisch vertretbar, dass in Präsidien Koalitionen gebildet werden, um jedenfalls die Spruchkörper bzw. Dezernate der Präsidiumsmitglieder nicht über Gebühr zu belasten? In allen diesen Fällen entscheiden Richter darüber, ob die richterlichen Kollegen in innerer Unabhängigkeit, fair, rechtstreu und sorgfältig arbeiten und entscheiden können. Nicht selten werden hier die Maßstäbe verfehlt. Dieser Zusammenhang, dass es bei der Gestaltung eines richterethisch förderlichen Umfelds auf die Richter selbst ankommt, muss auch im Zuge der Diskussion um die Einführung der „Selbstverwaltung der Justiz“ 11 diskutiert werden. Sollte diese Form der Justizverwaltung als Mittel der Wahl für ein gestärktes Berufsethos ins Spiel gebracht werden, sind gleichzeitig die damit verbundenen zusätzlichen Anforderungen in den Blick zu nehmen. Insofern wurden die Probleme bereits präzise umrissen: „Etwas zu kurz kam bislang eine Diskussion über die ethischen Dimensionen der Selbstverwaltung, eine Erörterung der Frage, welche Verantwortung mit mehr Entscheidungsbefugnissen einhergeht und ob die Justiz diese Verantwortung übernehmen kann und will. Welche anderen/neuen/ höheren Anforderungen sind an das Berufsethos, an das Selbstverständnis der Richter in einer Selbstverwaltungsstruktur zu stellen? Ist allen bewusst, dass mit der Selbstverwaltung weit mehr als bisher die Verpflichtung zum effektiven Schutz des Justizgewährungsanspruchs einhergeht? Ist es realistisch anzuneh10
Zweigert, Innere Unabhängigkeit (Fn. 916/C.), S. 722. Vgl. hierzu den Vorschlag des Deutschen Richterbundes, in: DRiZ 2002, S. 5 ff. und dessen Entwurf für ein Landesgesetz zur Selbstverwaltung der Justiz (Landesjustizselbstverwaltungsgesetz – LJSvG) (Stand: 1. Februar 2010); www.drb.de/cms/file admin/docs/sv_gesetzentwurf_100325.pdf [Stand 11.11.2014] sowie Mackenroth, in: DRiZ 2009, S. 79 ff. 11
II. Richterliche Sozialisation als Prozess tugendethischer Gewöhnung
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men, die Richter wollten und könnten sich aus ihrer mitunter – vielleicht berufsbedingt – abwartenden und nur reagierenden Haltung lösen? Wie viele Richter reflektieren derzeit zumindest gelegentlich jenseits des Tagesgeschäfts die Grundlagen ihres Amtsauftrags, Funktion und Verantwortung der rechtsprechenden Gewalt?“ „Wie steht es um die Fähigkeit einer sich selbst verwaltenden Richterschaft zur Selbstreinigung? Auch in der Justiz gibt es ,schwarze Schafe‘.“ 12 Insoweit sind auch für die bereits heute bestehenden Strukturen der Justizverwaltung brennende Fragen aufgeworfen, die die Einführung einer richterlichen Selbstverwaltung weiter zuspitzen dürfte. Es ist jedenfalls kaum anzunehmen, dass die berufsethischen Problemlagen gemindert würden. Denn die Haltungen bei der Rechtsanwendung würden sich nicht verändern. Nicht einmal andere Formen der Auswahl von Beförderungsämtern würden die Gefährdungen im Vorfeld von Auswahlverfahren zum Verschwinden bringen, sondern sich in anderer Form so wie vorher stellen: Abhängigkeiten von richterlichen Netzwerken in der richterlichen Selbstverwaltung oder von nicht offen zu Tage tretenden (berufs-)politischen Strukturen.
II. Richterliche Sozialisation als Prozess tugendethischer Gewöhnung Determinanten richterlichen Entscheidungsverhaltens jenseits methodischer und rationaler Regeln hängen in hohem Maße von der richterlichen Sozialisation ab13. Diese beschreibt den Prozess, wie der Richter berufliche Haltungen kennenlernt, einübt, übernimmt und zum Kern seiner richterlichen Persönlichkeit macht. 1. Die Rechtsausbildung Die berufliche Sozialisation des Richters ist ab dem Rechtsstudium über das Referendariat und die jeweils berufsqualifizierenden Examina hin im Wesentlichen dadurch geprägt, dass er auf eine methodische, rationale und sachliche Rechtsanwendung trainiert wird. Er hat geltendes Recht und Gesetz zu erfassen, Definitionen und Differenzierungen zu lernen, Anwendungsregeln zu verstehen und praktisch umzusetzen. Hierbei werden ein sachorientiertes und neutrales Urteil geschult und damit bereits Grundlagen für rechtsethische Haltungen erlernt. Der Schwerpunkt liegt – tugendethisch betrachtet – auf der Einübung bestimmter Haltungen, nämlich der Rechtstreue und Sorgfalt14. Ziel ist die Gleichmäßigkeit der Rechtsanwendung, der Rechtssicherheit und der Objektivierung des Rechts15. 12
Mackenroth (Fn. 11/F.), DRiZ 2009, S. 79, 83 f. Lerch, Wissen oder Willkür (Fn. 926/C.), S. 228 f. 14 Werle, Justizorganisation (Fn. 927/C.), S. 49 f. führt rechtssoziologische Untersuchungen an, nach denen die Aneignung „beruflicher Werte“ während des Studiums nur in geringem Maße geschehe. 15 So Peters, Gewissen des Richters (Fn. 373/A.), S. 23, 28. 13
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F. Zur Implementierung und Sicherung ethischen Handelns bei Richtern
Die Ausbildungsfächer, die die Haltung der Fairness und der inneren Unabhängigkeit fördern könnten, fristen allerdings in der Ausbildung eher ein randständiges Dasein. Ein Fach wie berufliche, gar richterliche Ethik fehlt ganz. Veranstaltungen zum theoretischen und praktischen Erwerb der „erforderlichen Schlüsselqualifikationen“ (§ 5a Abs. 3 DRiG) werden nur an manchen Universitäten angeboten. Rechtsphilosophie und Rechtsgeschichte, die ein (selbst-)kritisches Urteilsvermögen nahebringen könnten, werden in den universitären Curricula immer mehr zur Seite gedrängt. Die politische Aufgabe des Rechts wird selten thematisiert. Im Referendariat steht die praktische Ausbildung im Vordergrund, die kaum Raum lässt, die ethische Seite des Berufs zu beleuchten. Rechtsreferendare fühlen sich – nach eigener, langjähriger Erfahrung in der Ausbildung – von Nachfragen oder Ausbildungseinheiten, die diese Seite betonen, eher belästigt, halten sie doch vordergründig davon ab, examensrelevanten Stoff aufzunehmen. Dabei verkennen sie, dass auch soziale Kompetenz Prüfungsfach ist, auch wenn ein Lehrplan hierfür nicht existiert. Die Gefahr einer Erziehung zum „Rechtstechniker“ ist die Folge16. Auch muss der allgemein anerkannte Zusammenhang von Ethik und (Selbst-) Erziehung17 in den Blick genommen werden. Der Mensch ist nicht schon von Natur aus ein moralisches Wesen, sondern muss zur Moralität erzogen werden. Studenten und Referendare sollten dies zwar bereits mitbringen, soweit es die private Moral betrifft. Hinsichtlich der Berufsmoral wird man dies aber nicht erwarten dürfen. Die moralische Selbstbindung und ihr möglicher Inhalt müssen daher insoweit in irgendeiner Form „vermittelt“ werden18. Zwar gibt es in manchem Assessorenkurs bereits Einheiten, die sich auch mit Richterethik beschäftigen und – in begrenztem Umfang – auch einüben. Die Einsicht, dass Tugend nur schwer lehrbar ist, muss zur Erkenntnis führen, dass andere Formen der Einübung und richterlichen Charakterbildung nötig sind: Reflexion über die Rolle des Richters und seinen Platz im Institutionengefüge, Diskussionen über „Wahrheit und Gerechtigkeit“ anhand problematischer Fälle, konkreter Umgang mit dem Bürger19. 2. Die sensible Phase: Der berufliche Einstieg Bereits die Auswahl des richterlichen Personals zeigt, welche richterlichen Haltungen von seinem Dienstherrn besonders erwartet werden. In der „Staatsnote“ spiegelt sich die Fähigkeit wider, das Recht methodisch konsequent anzuwenden. Sie lässt mithin die Fähigkeit zur Rechtstreue, Sorgfalt und Disziplin
16 17 18 19
So schon 1972: Wassermann, Der politische Richter (Fn. 578/C.), S. 13, 83 ff. Pieper, Einführung (Fn. 2/B.), S. 143 ff. Vgl. Canivet, Richter (Fn. 175/C.), BJ 2006, S. 432. Vgl. Canivet, Richter (Fn. 175/C.), BJ 2006, S. 432 f.
II. Richterliche Sozialisation als Prozess tugendethischer Gewöhnung
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ablesen. Die Bereitschaft zu diesen Haltungen wird dabei vermutet, während die anderen Haltungen durch die Note nicht ausgedrückt werden. Die Einstellung zum Richterberuf und die Gründe ihn zu wählen, bestimmen aber im hohen Maße die Erfüllung anderer richterethischer Haltung. Liegt der Schwerpunkt für die Berufswahl auf der gesicherten Stellung, der familienfreundlichen Arbeitszeit sowie dem Erwerb von Sozialprestige und nicht auf der Leidenschaft für das Recht oder der Einsatzbereitschaft für das allgemeine Wohl steht der Berufsbeginn richterethisch unter keinem guten Stern. Durch entsprechende Auswahlverfahren wären die Motive für die Berufswahl zu ergründen und im Zweifel von der Einstellung abzusehen. Sicher führte auch die Erfahrung in anderen (juristischen) Berufen dazu, dass der Bewerber um das Richteramt eine größere Erfahrung und Lebensnähe mitbringt, die ihn auch in der Wahrung der geforderten Haltungen unterstützt20. Lässt sich richterliche Ethik weder verordnen noch lehren, muss sie Ergebnis eines Interaktionsprozesses21 zwischen richterlichem Vorbild und Berufsanfänger sein. Der ideale Prozess wäre die Einbindung des Berufseinsteigers in einen berufserfahrenen Spruchkörper, in dem eine richterethisch untadelige Entscheidungskultur herrscht. Dort ließen sich der faire und innerlich unabhängige Umgang mit Prozessbeteiligten, Kollegen und Dienstaufsicht durch Orientierung am erfahrenen Vorbild und durch kritische Nachahmung erwerben. Im Spruchkörper besteht der strukturelle Zwang, Rechtsauffassung und Verhalten im Prozess professionell zu begründen sowie Kritikfähigkeit zu entwickeln. Bei diesem Prozess wäre die richterliche Unabhängigkeit gewahrt, weil diese „Ausbildung“ gerade auf die Stärkung der Unabhängigkeit ausgelegt ist. Nur so lässt sich der rechtlich geschützt Kernbereich richterlichen Handelns wahren22 und rechtsethisch prägen. Die Praxis ist hiervon oft weit entfernt. Der Assessor wird nicht selten als unbegrenzt leistungsfähiges „Greenhorn“ betrachtet, dem am Amtsgericht horrende Dezernate zugewiesen werden, der als junger Sozialrichter in Massenverfahren eine Kammer führen oder an den Verwaltungsgerichten als Einzelrichter existentiell wichtige Asylverfahren in Größenordnungen abwickeln soll. Auch am Landgericht geht der Trend zum Einzelrichter. Die Einübung einer Rechtsprechungskultur fällt damit zu Beginn des Berufslebens bei nicht wenigen Richtern aus. Stattdessen wird erledigungsorientiertes Verhalten geschult, das zwar den rechtsethischen Wert der Zügigkeit von Verfahren erfüllt, häufig aber andere – quantitativ – nicht messbare Werte in den Hintergrund treten lässt.
20 Zu den anglo-amerikanischen Erfahrungen auch Quaas, Der ideale (Verwaltungs-) Richter (Fn. 169/E.), DRiZ 2001, S. 79 und 81. 21 Häuser, Vorfragen (Fn. 55/A.), BJ 76 (2003), S. 192. 22 Werner, Richterliche Ethik (Fn. 103/A.), BDFR FORUM 2010, S. 4.
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F. Zur Implementierung und Sicherung ethischen Handelns bei Richtern
3. Richterliche Kompensationsstrategien Der Richter, der trotz dieser Einführung in den Beruf diesen nicht als Job, sondern als richterethische Herausforderung auffasst, ist auf Kompensationsstrategien angewiesen. Neben der Selbstreflexion wird er das Gespräch mit vertrauten Kollegen suchen. Ja sogar ein Dienstvorgesetzter, der aus Sicht des Richters eine wohlwollende und differenzierte Haltung ausstrahlt, kann eine Anlaufstelle sein. Er hat außerdem die Möglichkeit, bei Fortbildungen, „über den Tellerrand“ zu blicken und historische und richterethische Veranstaltungen auszuwählen. Er kann sich aber auch Qualitäts- und Ethikzirkeln anschließen. Diese Kompensationsstrategien sind nicht nur spontane Veranstaltungen, sondern werden in der Justiz zunehmend strukturiert angeboten. Sie gehen damit über die Kompensation eines verunglückten Berufsstarts hinaus und können deshalb als organisatorisch gesicherte Implementierungsformen für richterethisches Verhalten untersucht werden. Auch sie sind daher im Folgenden näher zu betrachten.
III. Einzelne Mechanismen der Implementierung und Sicherung 1. Super- und Intervision als Setting für Selbstreflexion und kollegiale Qualitätssicherung Super- und Intervision sind in erster Linie Methoden der strukturierten und angeleiteten Selbstreflexion und kollegialen Qualitätssicherung. Bei diesen Mechanismen geht es zwar nicht in erster Linie um Fragen der Berufsmoral, sondern vielmehr um die Reflexion über die eigene Rolle, die Erwartungen an ihn als Richter, seine Wirkung auf Beteiligte, den Umgang mit Entscheidungsdilemmata, besondere professionelle Herausforderungen und Stressoren. Sie dienen auch der Verarbeitung schwieriger beruflicher Erlebnisse und Erfahrungen. Sie führen zunächst zu Fragen professioneller Problembewältigung, nicht selten zu psychologischen Fragen. In diesem Kontext werden aber häufig berufsmoralische Fragen aufgeworfen, für die im Wege der kollegialen Beratung Lösungen entwickelt werden können. Intervision (oder kollegiale Überhörung bzw. Beratung) ist dadurch geprägt, dass der Richter als einzelner oder ein ganzer Spruchkörper von einem erfahrenen und in der Methode der Intervision geschulten und angeleiteten Kollegen (Intervisor) Rückmeldungen zu der Art und Weise der richterlichen Außenwirkung erhält oder sich mit ihm zu einzelnen beruflichen Problemlagen austauscht23. Sie ist eine Form der kollegialen Beratung, insbesondere zur Verhandlungsführung und Kommunikation im weitesten Sinn24. Sie kann als Fallvortrag 23 24
M. Tiemann, Intervision, in: MHR, 2010, S. 26. R. M. Eulering, Intervision – Feedback als Chance, in: DRiZ 2014, S. 326.
III. Einzelne Mechanismen der Implementierung und Sicherung
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und Diskussion hierüber oder als Interaktionsanalyse gestaltet werden. Der Richter erhält insoweit nach einem Vorgespräch von dem seine Verhandlung besuchenden Intervisor in einem vertraulichen Kontext Rückmeldung insbesondere über „Verhandlungsstil und -atmosphäre, sprachlichen Ausdruck, Tempo, Körperhaltung und -sprache, Formalien wie Umgang mit dem Diktiergerät, Sitzungsorganisation.“ 25 Dies bezieht auch und gerade die Reaktionen der Beteiligten (Zeugen, Bevollmächtigte, Sachverständige) ein. Die Rechtsauffassung ist bei der Intervision grundsätzlich kein Thema. Aus der unter Umständen divergierenden Fremd- und Selbstwahrnehmung kann ein Prozess der Selbstüberprüfung und -wahrnehmung als Voraussetzung für Verhaltensänderung entstehen. Insofern ist auch die Wahrung der inneren Unabhängigkeit mögliche Folge einer gelungen Intervision, weil der Richter davor bewahrt wird, unter Berufung auf seine Unabhängigkeit extern angestoßene Verhaltensänderung zurückzuweisen26. Aber auch andere berufsmoralische Haltungen – wie etwa die Fairness und Sorgfalt – werden berührt, nämlich die Rückmeldung zu Aktenkenntnis, Höflichkeit, Gleichbehandlung der Parteien, Angemessenheit, Geduld, Authentizität oder Zugewandtheit. Allerdings liegt der Schwerpunkt auf der Verbesserung der Kommunikation und der Realisierung sozialer Kompetenz. Supervision wird in einem vertraulichen Kontext in der Regel von einem externen, ausgebildeten Supervisor (meist mit psychologischer Ausbildung) geleistet. Hier liegt der Fokus meist auf der Bewältigung schwieriger und den Richter existentiell herausfordernder Verfahren, Entscheidungen oder Konflikten im Dienst. Hinzu kommen berufliche Belastungssituationen seien sie qualitativ seien sie quantitativ27. Der Hauptanwendungsbereich liegt im Familien- und (Jugend) Strafrecht. Dort wird der Richter nicht selten mit hochbelastenden Konflikten und Taten konfrontiert, deren rechtsstaatliche Beurteilung auch voraussetzt, dass der Richter mit seinen Gefühlen, insbesondere seinen lebensgeschichtlichen Erfahrungen umgehen kann. Beide Implementierungsmechanismen verlangen organisatorisch Freiwilligkeit. Sie müssen vertraulich28 und ohne Einbeziehung der Dienstaufsicht stattfinden. Sie sind nur hilfreich, wenn Inter- und Supervisoren hinreichend geschult sind und professionell agieren29. Die eingesetzten Supervisionstechniken variieren da25 Eulering, Intervision (Fn. 24/F.), DRiZ 2014, S. 326; vgl. dort S. 327 auch die „Werkstattbeispiele“. 26 Eulering, Intervision (Fn. 24/F.), DRiZ 2014, S. 329. 27 G. Dördelmann/A. Hahn, Supervision – ein Erfahrungsbericht, in: DRiZ 2015, S. 206, 207. 28 Eulering, Intervision (Fn. 24/F.), DRiZ 2014, S. 326; Tiemann, Intervision (Fn. 23/F.), MHR 2010, S. 27. 29 Vgl. Eulering, Intervision (Fn. 24/F.), DRiZ 2014, S. 327 f. m.w. N. Sie verweist im Übrigen auf die Schulungsmodelle mehrerer Bundesländer und das Vorbild der niederländischen Justiz („Roermond-Modell“).
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F. Zur Implementierung und Sicherung ethischen Handelns bei Richtern
bei nach den von den Beteiligten vorgebrachten und zu bearbeitenden Problemen30. Bei diesen Verfahren eröffnet sich die Möglichkeit, Belastungssituationen, kommunikative Prozesse31, Konflikte und Dilemmata zu bearbeiten und sich tugendethische zu beraten. Denn die Selbstreflexion über die eigene Rolle und Außenwirkung, über die Erwartungen an ihn als Richter und der Umgang mit Entscheidungsdilemmata führen nicht nur auf psychologische, sondern auch zu berufsmoralischen Fragen32. So können Bewältigungsstrategien entwickelt werden33, um Belastungen zu vermindern, ohne Probleme zu vermeiden oder auszublenden (etwa Entscheidungen Gutachtern oder der höheren Instanz zuschieben). Auf der Handlungsebene34 können Alternativen in schwierigen Entscheidungssituationen oder bezogen auf den konkreten Umgang mit Bürgern entwickelt werden. Die innere Einstellung zum Beruf oder zu einem bestimmten Fall kann verändert werden, wenn etwa die Haltung der strikten Kontrolle zugunsten des Loslassens der Forderung nach der „einzig richtigen“ Entscheidung gestärkt, die Fähigkeit zum Aushalten von Ambivalenzen geschult wird35. Dies setzt eine gewisse Toleranz des Richters gegenüber sich selbst voraus, nach dem Grundsatz „Richter sind auch nur Menschen“. Supervision wirkt sich schließlich unmittelbar auf die innere Unabhängigkeit des Richters aus. Sie kann dabei helfen, Selbstblockaden, emotionale Engführungen und Verstrickungen zu erkennen, zu beheben und zu verhindern36. 2. Fortbildung Auch wenn es umstritten ist, eine Fortbildungspflicht für Richter als rechtliche Dienstpflicht einzuführen, berufsmoralisch drängt es sich auf, dass die verantwortliche Ausübung des Richterberufs die beständige und breit angelegte Fortbildungsbereitschaft verlangt. Richterethisch verantwortliches Handeln setzt nämlich (auch) Wissen voraus. Dieses Wissen bezieht sich auf unterschiedliche Felder: Die Tugend der Rechtstreue verlangt fachliches Wissen im jeweils ausgeübten Tätigkeitsfeld. Dabei liegt der Schwerpunkt auf dem juristischen Wissen, das
30
Dördelmann/Hahn, Supervision (Fn. 27/D.), DRiZ 2015, S. 206, 207. Dördelmann/Hahn, Supervision (Fn. 27/D.), DRiZ 2015, S. 206, 207. Zu einem Fallbericht vgl. S. 208. 32 Vgl. Ludewig-Kedmi, Ich-Ideal (Fn. 857/C.), S. 25. 33 Vgl. Ludewig-Kedmi, Moraldilemmata (Fn. 859/C.), S. 32 f. 34 Vgl. Ludewig-Kedmi, Moraldilemmata (Fn. 859/C.), S. 26 ff. 35 Vgl. Ludewig-Kedmi, Moraldilemmata (Fn. 859/C.), S. 28. 36 Der Vorwurf von Lamprechts, Die Lebenslüge der Juristen (Fn. 5/A.), S. 9, die Richter unterlägen einer Lebenslüge, wenn sie die subjektiven Elemente der Rechtsfindung „verdrängten“ trifft im Ansatz zu. Er verkennt aber den verbreiteten Willen der Richter, sich genau auf diese Verdrängungsmechanismen einzulassen. 31
III. Einzelne Mechanismen der Implementierung und Sicherung
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bedingt durch Gesetzesänderungen und Wandlungen in der Rechtsprechung ständig auf dem Laufenden gehalten werden muss. Zur Rechtstreue gehört auch das Wissen um die dienstrechtlichen Amtspflichten, ihren Umfang und ihre Grenzen, um die die in Recht gegossenen Dienstpflichten bei jedem Handeln im Auge zu haben. Auch die Stellung des Richters im Staatsaufbau sowie Möglichkeit und Grenzen seiner Unabhängigkeit setzt besondere Kenntnisse voraus. Insoweit hilft auch ein informierter Vergleich mit anderen nationalstaatlichen Justizsystemen. Die Bearbeitung bestimmter Rechtsgebiete verlangt aber unter Umständen auch ein umfassendes nichtrechtliches Wissen. So hat zum Beispiel ein Familienrichter in hohem Maße soziale und psychologische Prozesse von Familien, Ehen und Kindern zu kennen. Ohne dieses Wissen wird er keine fundierte, also letztlich verantwortliche Entscheidung in existenziellen Konflikten treffen können. In anderen Rechtsgebieten werden völlig andere Kenntnisse verlangt. Der Finanzrichter etwa wird nicht ohne wirtschaftliches Wissen, der Verwaltungsrichter nicht ohne technisches Wissen auskommen. Jeder Richter muss, will er nicht nur im „Paragrafenturm“ sitzen bleiben, umfassendes Weltwissen besitzen, das den Menschen und seine konkrete Lebenswirklichkeit einschätzen und verstehen kann. Die richterlichen Tugenden der Fairness und der inneren Unabhängigkeit verlangen außerdem soziales Wissen und Kompetenz, die das Wissen um die eigenen Grenzen, insbesondere um die eigenen Stärken und Schwächen einschließen. Hierzu gehört die Auseinandersetzung mit den verschiedenen Formen von Einflüssen auf richterliche Entscheidungen, seien sie medial, politisch, gesellschaftlich oder psychologisch bedingt. Kommunikative und rhetorische Fähigkeiten und Formen der Konfliktbewältigung sowie ihre Grundlagen sei es im Umgang mit Parteien, sei es im Umgang mit den Medien setzen Wissen und Übung voraus. Schließlich verlangt richterethisch verantwortliches Handeln Wissen über berufsethische Prinzipien und – im Rahmen dessen – über Lösungsmöglichkeiten berufsmoralischer Konflikte. Dies schließt die Beschäftigung mit den Problemen der deutschen Justizgeschichte, rechtsphilosophischen Fragestellungen und den Formen richterlicher Qualitätssicherung ein. Fortbildungen, die von der Richterakademie37, von den jeweiligen Landesjustizverwaltungen, Berufsverbänden bei Tagungen und Kongressen angeboten werden, eröffnen Zugang zu diesem Wissen in Fülle. Insoweit ist allerdings festzustellen, dass die deutsche Richterschaft im europäischen Vergleich deutlich unterdurchschnittlich fortbildungsbereit ist38.
37 Vgl. etwa das Jahresprogramm der Deutschen Richterakademie: www.deutscherichterakademie.de. 38 Vgl. hierzu das EU-Justizbarometer; hierzu: Werner, Justizsysteme im Vergleich, in: DRiZ 2015, S. 128, 129.
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F. Zur Implementierung und Sicherung ethischen Handelns bei Richtern
3. Ethiknetzwerke oder -zirkel Die konkrete Auseinandersetzung mit berufsethischen Fragen gelingt am besten im geschützten Austausch mit Berufskollegen. Insoweit existieren unterschiedliche Formen der „richterethischen Vergemeinschaftung“. a) Vorform: Qualitätszirkel Richter, die sich mit Qualitätsstandard ihres beruflichen Handelns beschäftigen, sind auf der Suche nach der Optimierung richterlichen Verhaltens. Dabei müssen nicht sofort berufsmoralische Fragen aufgeworfen und beantwortet werden; vielmehr liegt häufig der Schwerpunkt auf der Verbesserung der dienstlichen Abläufe, des Umgangs innerhalb des Dienstes und des Umgangs mit rechtssuchenden Bürgern. Qualitätszirkel im richterlichen Bereich sind damit eher Vorformen von Ethikzirkeln. Dies liegt auch an ihrer Herkunft aus dem Bereich der Wirtschaft: „Dort sind sie als kleine, institutionalisierte Gruppen von ca. fünf bis zwölf Mitarbeitern entstanden, die sich regelmäßig treffen, um die in ihrem Arbeitsbereich auftretenden Probleme gemeinsam zu diskutieren und Verbesserungsvorschläge zu erarbeiten; nach Genehmigung der Umsetzung durch die Führungskraft obliegt die Durchführung der Verbesserung den Mitgliedern des Qualitätszirkels.“ 39 Mit Qualitätszirkeln werden heute neben den qualitätsorientierten Zielen auch effizienzorientierte und mitarbeiterorientierte Ziele verfolgt. „Zu den qualitätsorientierten Zielen ist die Vermeidung von Fehlern, die Steigerung der Kundenzufriedenheit und die Einrichtung des kontinuierlichen Verbesserungsprozesses zu rechnen. Im wirtschaftlichen Bereich sind effizienzorientierte Ziele im Wesentlichen die Steigerung der Produktivität, die Senkung von Kosten und die Vermeidung von Störungen. Hinsichtlich der Mitarbeiter werden als Ziele die Steigerung ihrer Motivation, ihre Persönlichkeitsentwicklung, die Verbesserung der sozialen Beziehungen und die Erhöhung der Arbeitszufriedenheit verfolgt. Qualitätszirkelarbeit ist deshalb eine gezielt einsetzbare Maßnahme auch der Personalentwicklung.“ 40 In den vergangenen Jahren wurde dieses Konzept auf den richterlichen Bereich übertragen, um aus der Richterschaft heraus über die Effektivierung richterlicher Arbeit nachzudenken41. Ihr Schwerpunkt lag zwar nicht unmittelbar auf ethischen Fragen. Dieses Feld ist im richterlichen Bereich aber schnell erreicht, wenn die Verfahrensqualität, insbesondere Fragen des fairen Umgangs, Gegenstand der Qualitätsdiskussion wurden. Richterethische „Qualität“ ist etwa bei folgenden Themen aufgerufen: Transparenz der Verfahrensgestaltung über richter39 Hierzu und zum Folgenden: Dörflinger/Doll/Müller, Qualitätszirkel (Fn. 254/B.): Diese Studie erfasst berufsmoralische Fragen nicht. 40 Dörflinger/Doll/Müller, Qualitätszirkel (Fn. 254/B.), S. 11 f. 41 Vgl. hierzu unter B. III. 6. a) cc).
III. Einzelne Mechanismen der Implementierung und Sicherung
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liche Hinweise, Begrenzung des Aufklärungsumfangs, angemessene Fristenbestimmungen, das Auftreten, die Erörterung und das Rechtsgespräch im Termin, die Verständlichkeit des Urteils (Urteilsqualität), die Erreichbarkeit des Richters sowie die rechtsorientierte Effizienz, wie zügiges Handeln und Entscheiden, kompetente Kommunikation, Strukturen der Qualitätssicherung (Intervision, Supervision, Manöverkritik, Monatsgespräche), Qualität der Gerichtsstrukturen (Ausstattung, Personal)42. Insoweit zeigt sich, dass die in den Qualitätszirkeln erarbeiteten Papiere zur „Qualitätssicherung“ häufig Handlungsanleitung im Wege des „Sollens“ oder „Müssens“ und damit professionelles und berufsmoralisch „richtiges“ Handeln definieren43. Gerade die Stellungnahme Nr. 11 des Beirats der Europäischen Richter – CCJE – von 2008 an das Ministerkomitee des Europarats über „Die Qualität von Gerichtsentscheidungen“ 44 zeigt den engen Zusammenhang zwischen dem rechtlichen und moralischen Gebot an den Richter, ein faires Verfahren zu führen, und der Qualität seiner Entscheidungen45. Die Frage des Richterethos wurde von den Verwaltungsrichtern in Thüringen sogar ausdrücklich zum Element der Qualitätsdebatte gemacht46. Auch die Erhaltung der eigenen Professionalität durch Fortbildung hat einen materialen und normativen Kern, indem sie Rechtskenntnisse, soziale Kompetenz und Kommunikationsfähigkeit zugunsten eines „schnelleren“ und „richtigeren“ Arbeitsergebnisses herstellt und/oder sichert. Die Qualität richterlicher Entscheidungen steht mithin in einem Dreieck aus Effizienz, Legitimität und Ethik47. Zu „Tabuthemen“ in der Qualitätszirkelarbeit wurden allerdings Themen benannt, die den geschützten Kernbereich richterlicher Tätigkeit betreffen48. Insoweit kommt die Relevanz von Ethikzirkeln ins Spiel. b) Ethikzirkel Ethikzirkel sind in der Regel lokal gebildete kollegiale Gremien, die sich freiwillig zusammenfinden und die – über die Intervision hinaus – den Schwerpunkt ihrer Diskussion auf die Bewältigung berufsmoralischer Probleme legen. Sie dienen dazu, im erweiterten Gespräch mit Kollegen die für sie maßgeblichen Richtertugenden zu erarbeiten und ggf. als eigene zu annehmen. Insoweit wurde sogar 42
Th. Schulte-Kellinghaus, Die Ressourcengarantie für die Dritte Gewalt, in: ZRP 2006, S. 169; G.F. Schuppert, Staatliche Ressourcenverantwortung für eine funktionsfähige Justiz, in: DRiZ 2006, S. 82. 43 Vgl. z. B. das Arbeitspapier der Verwaltungsrichter in NRW „Qualitätsdiskussion in der Verwaltungsgerichtsbarkeit“ vom 12.02.2005. 44 Vgl. hierzu: Mallmann, Stellungnahmen (Fn. 61/C.), BDVR-Rundschreiben 2009, S. 138 ff. 45 Vgl. dort Teil I B. 1. Nr. 21 (Fn. 266/B.). 46 Vgl. Thesenpapier „Qualitätssicherung“ vom 06.06.2006, S. 9 ff. 47 Eckertz-Höfer, Guter Richter (Fn. 119/A.), S. 32 f. zur Stellungnahme des CCJE von 2008. 48 Dörflinger/Doll/Müller, Qualitätszirkel (Fn. 254/B.), S. 39.
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die These vertreten, dass diese Form der einzige Zugang zur Richterethik überhaupt sei: „Damit bekommt die Ausarbeitung der richterlichen Ethik eine enge, aber genau bestimmbare Richtung: Es geht darum, Foren für einen außerrechtlichen Diskurs anzubieten mit dem Ziel, Entscheidungsstrukturen zu stabilisieren und transparent zu gestalten. Nicht mehr und nicht weniger. Wenig ist dies nicht.“ 49 Das Problem dieses Diskurses ist jedoch, dass es in ihm nicht darum gehen kann, dass – als „pluraler Prozess unter Einbeziehung sämtlicher Interessensvertretungen und Verbände der Richter“ 50 – neue Verhaltensregeln oder Haltungen gefunden werden oder informellen Codes abgeglichen werden. Sie unterscheiden sich von Ethikkommissionen dadurch, dass Ethikzirkel informell gebildet werden, dadurch in hohem Maße offen und freiwillig sind, und keine verbindlichen Ergebnisse produzieren. Eine erweiterte Form hiervon können Netzwerk oder Foren im Internet sein. c) Ethiknetzwerke Erweiterte Netzwerk unter Richtern sind solche, die sich etwa innerhalb einer Gerichtsbarkeit gerichtsübergreifend oder sogar rechtswegübergreifend bilden, um das zu leisten, was der örtliche Ethikzirkel nicht leistet. Ihr Nachteil ist der höhere Organisationsaufwand und der erforderliche Einsatz, wenn etwa die Treffen nicht am Dienst- bzw. Wohnort stattfinden. Der Vorteil liegt darin, dass Richter berufsmoralische Probleme aus unterschiedlichen Perspektiven und Arbeitsfeldern analysieren. 4. Ethikrat, -komitee, -kommission, -beauftragter Ethikrat, -komitee, -kommission oder -beauftragter sind Formen externer Sicherung ethischer Standards. Sie liegen jenseits individueller Selbstverpflichtung des Richters, übersteigen also den Bereich autonomen Zugangs zu „seiner Moral“. Hier ist der Zugang heteronom und daher um „die Moral der Richter“ bemüht. Sie sind in unterschiedlicher Gestaltung vorstellbar, etwa • als Beratungsorgan („Rat der Weisen“ 51), • als koordinierendes Implementierungsorgan (Steuerung des Angebots berufsethischer Fortbildung) oder
49
Wrege, Eckpunkte (Fn. 899/C.), MHR 4/2006, S. 16 f. Schüller, Ethische Prinzipien (Fn. 77/A.), SchlHA 2006, S. 148. 51 Pieper, Einführung (Fn. 2/B.), S. 107 ff. unter Hinweis auf die politischen Utopien von Platons Philosophenkönig, auf Francis Bacons „Haus Salomons“ bzw. auf die „Gesellschaft der Werke der sechs Tage“ aus Nova Atlantis und Campanellas drei hohen Staatsbeamten aus dem Sonnenstaat. 50
III. Einzelne Mechanismen der Implementierung und Sicherung
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• als Kontrollorgan für die Einhaltung der Berufsmoral (intern oder extern angerufen), das mit unterschiedlichen Befugnissen ausgestattet sein kann. a) Herkömmliche Formen von Ethikkommissionen Bevor richterliche Ethikkommissionen einer näheren Betrachtung unterzogen werden, ist ein Vergleich mit in anderen Bereichen bestehenden Ethikkommissionen notwendig, um die Grenzen der Übertragbarkeit dieses Modells auf die Berufsethik des Richters herausarbeiten zu können: Sowohl auf internationaler als auch auf nationaler und lokaler Ebene wurden seit den 1970er Jahren zunehmend Ethikkommissionen eingerichtet52. Die Arbeit von Ethikkommissionen ist das zentrale Anwendungsfeld der angewandten Ethik53. Ihre Aufgaben unterscheiden sich zum Teil stark. So existieren auf internationaler Ebene etwa Kommissionen der Politikberatung oder für Rechtsstaatsprogramme54. Auf nationaler Ebene dienen sie häufig der Politik- oder Institutionenberatung, die gesellschaftliche Orientierung in ethischen Fragen leisten sollen, etwa die zentrale Ethikkommissionen zur Wahrung ethischer Grundsätze in der Medizin und ihren Grenzgebieten bei der Bundesärztekammer oder der Nationale Ethikrat. Auf lokaler Ebene beraten sie bestimmte Institutionen, z. B. Krankenhäuser, Forschungseinrichtungen (z. B. Universitätskliniken, Max-PlanckInstitute, Institute deutsches Krebsforschungszentrum in Heidelberg) oder andere öffentliche Stellen (Landesärztekammern55). Ihnen geht es regelmäßig um die Lösung spezifischer ethischer Probleme im jeweiligen Handlungsfeld. Sie sollen Hilfestellung bei konkreten Behandlungsentscheidungen (Autonomie des Patienten, Risiken, individuelle, familiäre und ökonomische Folgen) oder bei Forschungsentscheidungen (Erkenntnisinteresse versus Gefahren für Forschungsobjekte oder die Allgemeinheit) geben. Sie leisten auch Weiterbildungen in medizinischer Ethik mit dem Ziel, die moralische Integrität der Institutionen zu stärken. Allgemeines Kennzeichen der Ethikkommissionen ist ihre Interdisziplinarität. Je nach Ebene oder Aufgabefeld wirken in ihnen Juristen, Wissenschaftler des jeweiligen Forschungsgebiets, Philosophen, Theologen, Mediziner, Psychologen, Patientenvertreter, Pflegepersonal etc. zusammen. Dadurch werden unterschiedliche Perspektiven in den ethischen Diskurs einbezogen. Voraussetzung 52 Pieper, Einführung (Fn. 2/B.), S. 106 ff., Vöneky, Recht, Moral und Ethik (Fn. 47/ B.), S. 234 ff. 53 Vgl. hierzu und auch zu dem in diesem Textabschnitt Folgenden Vieth, Angewandte Ethik (Fn. 4/A.), S. 21 ff. 54 Vgl. etwa: Rechtsstaatsprogramm der Konrad-Adenauer-Stiftung für Südamerika und Südosteuropa und die in diesem Zusammenhang verfassten Übersichten über richterliche Ethik: Roos/Woischnik, Codigos (Fn. 21/C.). 55 Vgl. etwa den Staatsvertrag über die gemeinsame Ethikkommission für Präimplantationsdiagnostik bei der Landesärztekammer Baden-Württemberg von 2014, GVBl. Thüringen 2015, S. 5 ff.
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für die jeweilige Beratung ist, dass keiner der Beteiligten selbst unmittelbar vom Beratungsergebnis betroffen ist. Ihre Arbeit ist darauf ausgerichtet, die verschiedenen relevanten Gesichtspunkte des jeweils zu beratenden Falles bzw. des Handlungsbereiches zu ermitteln. Ziele der Ethikberatung sind – im Grundsatz und die Unterschiede im Einzelnen zurückstellend – neben der Ermittlung von Entscheidungsgrundlagen die Sensibilisierung der Betroffenen des Handlungsbereiches für ethisch relevante Aspekte ihrer professionellen Tätigkeit. Die Intensität kann unterschiedlich sein. Sie kann von konkreter Fallberatung mit Empfehlung – die nicht immer klar sein muss (z. B. bloßes Aufzeigen von Handlungsstrategien) –, über die Dokumentation des sensiblen Umgangs mit problematischen Fällen (Qualitätssicherung), zur Vermittlung der praktischen Relevanz von normativen Rahmenbedingungen, standesethischen Richtlinien und internationalen Konventionen (Schnittstellenfunktion) führen. In manchen Fällen wird nur ein offener ethischer Diskurs zur Herstellung eines gegenseitigen Verständnisses geführt. Die Tätigkeit von Ethikkommissionen und -räten ist nicht ohne Kritik geblieben. In einer individualisierten und pluralen Gesellschaft ist der aufgeklärte und autonome Bürger56 keineswegs bereit, strittige Fragen an demokratisch kaum legitimierte Gremien zu delegieren. So wird nicht selten die Frage aufgeworfen, kraft welcher Kompetenz die Expertengremien Gegenstände der demokratischen Willensbildung vorentscheiden57, jedenfalls nicht unmaßgeblich mitprägen und präjudizieren. Die von den Gremien eingeführten Wertmaßstäbe sind ja in der Regel kein Geheimwissen, sondern Ausdruck gesellschaftlich vorhandener Werthaltungen. Allerdings ist auch zuzugestehen, dass die Reflexionskompetenz bestimmter Experten den gesellschaftlichen und politischen Abwägungsprozess bereichert. Insbesondere dann, wenn der Gesetzgeber Struktur, Aufgabe, Arbeitsweise und Ergebnisbedeutung klar regelt (vgl. etwa im Arzneimittelrecht) 58, sind auch die legitimatorischen Probleme letztlich nicht durchgreifend. b) Übertragung auf den richterlichen Bereich? Der Übertragung des Konzepts der Ethikkommission oder des -rates auf den richterlichen Bereich stehen bereits strukturelle Hindernisse im Weg: Die Übertragung steht nämlich unter dem strikten Vorbehalt, dass der Richter keinem Dritten Einfluss auf seine konkrete Entscheidungen geben darf. Er hat die rechtliche Dienstpflicht, sich unabhängig zu halten. Eine externe Einflussnahme auf richterlich zu verantwortende Entscheidungen bzw. ihre vorausgehenden Verfahrens56 H. E. Böttcher, Regeln für „Richterliche Ethik“, in: verdikt, 2004, S. 19; Pieper, Einführung (Fn. 2/B.), S. 111 f. 57 Düwell u. a., Handbuch Ethik (Fn. 41/A.), S. 20. 58 Vöneky, Recht, Moral und Ethik (Fn. 47/B.), S. 534 ff. und S. 581 ff.
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handlungen verstößt gegen die richterliche Unabhängigkeit. Auch wenn die richterliche Entscheidung noch so ethisch oder politisch bedeutsam ist, kommt ein berufsethischer Ratschlag oder Empfehlung einer wie auch immer zusammengesetzten Kommission nicht in Betracht. Der Richter selbst darf einen solchen auch nicht suchen. Deswegen ist hier kein Tätigkeitsfeld für die klassischerweise entscheidungsbezogene Ethikkommissionen eröffnet. Aber auch „Tugendräte“ oder „Wohlfahrtsausschüsse“ 59, die konkrete berufsmoralische Ge- und Verbote für richterliches Verhalten im richterlichen Kernbereich ex ante formulierten oder ex post überprüften, verstießen gegen die richterliche Unabhängigkeit. Denn auch hier wäre ein Eingriffspotential erreicht, das dem eines nach § 26 DRiG unzulässigen Eingriffs der Dienstaufsicht entspräche. Auch das darf der Richter nicht zulassen. Eingriffe in richterliches Handeln, dass auf eine Entscheidung gerichtet ist, sind nur über die dafür prozessual vorgesehenen Mittel bzw. bei dienst- und außerdienstlichen Verfehlungen über das Dienstrecht, insbesondere Disziplinarrecht, zulässig. Damit bleiben für den richterlichen Bereich nach der deutschen Rechts- und Verfassungsordnung nur noch beschränkte Möglichkeiten für die Ausgestaltung eines Ethikrates oder -kommission: Der Ethikrat könnte etwa als Beratungsorgan bei allgemeinen, richterethischen Fragen oder fallunabhängig zu konkreten berufsmoralischen Fragen ausgestaltet werden. Unproblematisch dürfte auch eine Tätigkeit als Implementierungsorgan sein, das Fortbildungen im richterethischen Bereich entwirft und anbietet. Solche Modelle sind auch in anderen Rechtsordnungen bekannt. c) Ausländische Vorbilder In vielen Ländern existieren Ethikkomitees, die sich in ihrer Zusammensetzung, Arbeitsweise und Aufgabenstellung stark unterscheiden. Neben Lettland60 und Frankreich sind dies vor allem Kanada, Ungarn und die Schweiz. In den USA hat das Komitee tendenziell disziplinarische Aufgaben. aa) Kanada Für „ethische Zweifelsfragen“ besteht in Kanada – wie im Kapitel C. im Einzelnen dargestellt – ein beratendes Gremium, das „Advisory Comitee of Judges“ oder „Comite consultativ des judges“, das sich aus 12 Richtern der kanadischen Provinzen, zumeist Gerichtspräsidenten, zusammensetzt. Ein vom Canadian Judicial Council und der Canadian Superior Court Judges Association vereinbartes 59
Addicks, Perücke (Fn. 100/A.), NRV-Info NRW 2007, S. 10. Dort besteht die Möglichkeit sogar eine Rüge von Kollegen anzubringen: vgl. den Bericht zum Arbeitskreis 13: Adelswärd, Richterethik (Fn. 146/C.), S. 443. 60
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Protokoll legt fest, wer in den Nominierungsausschuss berufen wird, der dann die Mitglieder des Advisory Committee ernennt. Keiner der Richter darf Präsident eines hohen kanadischen Gerichts oder dessen Vizepräsident sein, da diese Richter dem Canadian Judicial Council angehören – dem Gremium, das für die Überprüfung von Beschwerden gegen auf Bundesebene ernannte Richter zuständig ist. Dieses Komitee gibt auf Anfrage von Richtern, derzeit etwa pro Jahr 10, Vorschläge für ethisch richtiges Verhalten bei konkreten Zweifelsfällen. Die Vorschläge haben keine Bindungswirkung gegenüber dem einzelnen Richter und ziehen – im Falle ihrer Missachtung – keine Disziplinarmaßnahmen nach sich. Sie werden jedoch anonymisiert im Internet veröffentlicht, um so als Orientierung auch für andere Richter zu bieten. bb) Ungarn Vergleichbar dem kanadischen Vorbild gab es in Ungarn zur Implementierung und Sicherung richterlicher Pflichten den Landesethikrat der Richter (O-BET). Er wurde vom Landesgremium der Richtervereine aus aktiven und pensionierten Richtern gewählt und bestand aus 12 Richtern. Er wurde auf richterlichem Antrag hin tätig. Den Antrag konnte ein Richter selbst oder ein Richterkollege stellen. Der Rat konnte auch von sich aus tätig werden. Er gab als eine Art „Ethikkommission“ auf der Grundlage von „Stellungnahmen“ Antworten auf konkrete richterethische Fragen. Dabei waren die Stellungnahmen so zu verfassen, dass sie keinen bestimmten Richter rügen, sondern nur ein bestimmtes Verhalten. Allerdings bestand das Risiko, dass die nähere Beschreibung des Verhaltens die Anonymität des Richters faktisch nicht wahrte. Die Öffentlichkeit nahm die im Internet veröffentlichten Stellungnahmen wahr und trug so zur Vertrauensbildung in den Selbstreinigungsprozess bei. Es ist derzeit unklar, ob dieses Gremium noch arbeitet. cc) Schweiz Die von der Schweizer Richtervereinigung (SVR) etablierte Ethikkommission besteht aus 5 bis 9 auf zwei Jahre gewählte Mitglieder, die hauptberufliche Richterinnen und Richter sein müssen, welche ihre Tätigkeit in der Schweiz ausüben. Die Kommission kann von sich aus oder auf Anfrage hin tätig werden. Es liegt in ihrem Ermessen, womit sie sich beschäftigt. Sie bearbeitet Ethikprobleme in der Form, dass eine Frage formuliert und dazu die Empfehlung der Kommission abgegeben wird. Diese Fragen und Empfehlungen werden, thematisch wie auch chronologisch gegliedert, auf einer Webseite publiziert, welche in die Webseite der SVR integriert61 ist. Mit diesem Modell wird die Kommission von der Existenz eines Ethik-Kodex gelöst und es werden am Einzelfall orientierte Lösungen 61
www.svr-asm.ch/jcm/index.php/de/ethik (Stand: 20.05.2015).
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gesucht, die allerdings im Laufe der Jahre in ein Grundsatzpapier fließen können. Insofern ist er ähnlich ausgestaltet wie das Komitee in England und Wales. d) Richterlicher Ethikrat für Deutschland? Auch für Deutschland wurde frühzeitig ein beratendes Gremium62 nach dem kanadischen Vorbild gefordert63. Sogar in einer Empfehlung des Ministerrates des Europarates von 2010 heißt es in Kapitel VIII: „74. Judges should be able to seek advice on ethics from a body within the judiciary.“ 64 Die 4. Evaluierungsrunde der GRECO (Group of States against Corruption) forderte von Deutschland „gezielte Fortbildungsmaßnahmen und vertrauliche Beratungsangebote sowohl für Berufsrichter als auch für ehrenamtliche Richter“ einzuführen65. Für dessen Einrichtung stellen sich allerdings einige praktische Schwierigkeiten: Soll der richterliche Ethikrat für alle Richter in Deutschland oder getrennt nach den Zuständigkeiten für Bundesrichter und für die einzelnen Bundesländer errichtet werden? Wer setzt die Regeln für seine Errichtung, Zusammensetzung und Verfahrensweise fest? Der Bundes- oder Landesgesetzgeber oder die Richterverbände? Wer finanziert diese Einrichtung(en)? Wie groß ist dieses Gremium? Wer wird auf welche Weise Mitglied dieses Rates? Dürfen Angehörige der Dienstaufsicht Mitglieder sein66? Werden die Mitglieder gewählt oder ernannt? Werden nur Richter Mitglied oder auch andere rechtserfahrene Berufsträger oder sogar Bürger? Welche Qualifikation müssen die Mitglieder besitzen? Wie wird der Rat tätig? Von sich aus – durch berufsethische Stellungnahmen – oder auf Antrag bei konkreten berufsethischen Problemen? Dürfen nur Richter den Antrag stellen oder auch Anwälte oder alle von der Rechtsprechung betroffenen Bürger? Wie wird das Verfahren seiner Äußerung bzw. Beratung organisiert? Wird nur individuell beraten oder können auch öffentliche Stellungnahmen abgegeben werden? Organisiert er auch Fortbildungen? Steht er für den Gesetzgeber als Ansprechpartner zur Verfügung? Die Fülle der zu beantwortenden Fragen zeigt, dass je nach Ausgestaltung unterschiedliche Vor- und Nachteile entstünden. Folgende Vorteile wären jedenfalls
62 Kreth, Ethik (Fn. 11/D.), S. 481; Burghardt, Netzwerk (Fn. 118/A.), DRiZ 2009, S. 104. 63 Krix, Weltweit (Fn. 22/C.), DRiZ 2003, S. 152. 64 Siehe Recommendation Rec(2010)12 of the Committee of Ministers of the Council of Europe to member States on judges: independence, efficiency and responsibilities (https://wcd.coe.int/ViewDoc.jsp?id=1707137 (Stand: 26.03.2015). 65 Konkret bezogen auf Deutschland: 4. Evaluierungsrunde der GRECO (Group of States against Corruption), Korruptionsprävention in Bezug auf Abgeordnete, Richter und Staatsanwälte, Evaluierungsbericht Deutschland, 2014 (www.coe.int/greco [Stand: 26.03.2015]). 66 Bolk, Richterliche Ethik (Fn. 126/A.), NRV-info SH 11/2006, S. 19.
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zu nennen, nämlich dass richterethische Probleme in einer verfestigten Organisation stetig bearbeitet und diskutiert würden. Es könnte eine Sensibilisierung und Verbreiterung der Informationsbasis für schwierige Entscheidungssituationen geschaffen werden. Die Beständigkeit könnte zu einer Tradierung richterethischen „Know-hows“ führen. Ein solches Organ könnte – durch Stellungnahmen – sicherstellen, dass der Unterschied zwischen Disziplinarrecht und Berufsmoral gewahrt wird. Je nach Konstruktion könnte Expertenwissen (auch externes) genutzt werden und auch interdisziplinärer Zusammenarbeit organisiert werden. Sie könnte weiter als Modell der zeitgerechten Fortentwicklung der Berufsmoral des Richters dienen67. Auch als Forum der Selbstberatung68 ließe er sich einrichten. 5. Ethikkodex und Ethikrüge An die deutsche Justiz ist von Seiten des Europarates inzwischen mehrfach die Forderung herangetragen worden, Regeln berufsethischen Verhaltens zu formulieren, insbesondere einen Ethikkodex zu erstellen. In einer Empfehlung des Ministerrates von 2010 heißt es in Kapitel VIII: „72. Judges should be guided in their activities by ethical principles of professional conduct. These principles not only include duties that may be sanctioned by disciplinary measures, but offer guidance to judges on how to conduct themselves. 73. These principles should be laid down in codes of judicial ethics which should inspire public confidence in judges and the judiciary. Judges should play a leading role in the development of such codes.“ 69 Die 4. Evaluierungsrunde der GRECO (Group of States against Corruption) drängte Ende 2014 erneut Deutschland, „eine Zusammenstellung der bestehenden Regelungen für ethisches/berufliches Verhalten – begleitet durch Erläuterungen und/oder praktische Beispiele, einschließlich Orientierungshilfen zu Interessenkonflikten und damit verbundenen Fragen – zu entwickeln, allen Richtern auf wirksame Weise mitzuteilen und der Öffentlichkeit leicht zugänglich zu machen, und diese Zusammenstellung durch praktische Maßnahmen zur Umsetzung der Regelungen zu ergänzen.“ 70 Damit hat sich der durch die Existenz solcher Kodizes in vielen Ländern bestehende faktische Druck, für Deutschland nachzuziehen und einen Kodex für die Richter zu formulieren, auch institutionell
67
Kreth, Ethik (Fn. 11/D.), S. 481. Krix, Richterethik (Fn. 109/A.), S. 126, wobei die dort aufgeworfenen Fragen keines Ethikrates bedürfen. 69 Siehe Recommendation Rec(2010)12 of the Committee of Ministers of the Council of Europe to member States on judges: independence, efficiency and responsibilities (https://wcd.coe.int/ViewDoc.jsp?id=1707137 (Stand: 26.03.2015). 70 Konkret bezogen auf Deutschland: 4. Evaluierungsrunde der GRECO (Group of States against Corruption), Korruptionsprävention in Bezug auf Abgeordnete, Richter und Staatsanwälte, Evaluierungsbericht Deutschland, 2014 (www.coe.int/greco [Stand: 26.03.2015]). 68
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verstärkt; auch wenn die letzte Forderung als bloße Bitte gedeutet werden kann, nicht etwas Neues zu schaffen, sondern nur die in Deutschland bestehenden Regeln (auch rechtliche) in einem Compliance-Katalog zusammenzufassen. Ob das Thesenpapier des Deutschen Richterbundes die genannten Anforderungen erfüllt, erscheint fraglich, weil dieses 2014 bereits vorlag. Unabhängig von der – zu bezweifelnden Notwendigkeit und Zulässigkeit eines berufsmoralischen Verhaltenskodex in Deutschland (siehe Kapitel D.) – werden im Folgenden neben dem Begriff und dem möglichen Inhalt eines Kodizes dessen jeweilige Wirksamkeit sowie die Vor- und Nachteile für die Implementierung dargestellt. Schließlich werden Fragen seiner organisatorischen Erarbeitung diskutiert. a) Ethikkodex aa) Begriff Der richterliche Ethikkodex verschriftlicht die in der jeweiligen Rechtsordnung anerkannten berufsmoralischen Haltungen und/oder Verhaltensregeln der Richters bezogen auf seine dienstliche Tätigkeit bzw. sein privates Verhalten, das Auswirkungen auf den Beruf hat. Er erfasst sinnvollerweise nur nichtrechtliche Verhaltenspflichten oder rechtsethische Haltungen, weil insoweit kein Mehrwert einer Sammlung gegenüber den in Gesetzen festgelegten und publizierten Rechtspflichten besteht. Es kann zwar – wie es der Europarat fordert – für die öffentliche Transparenz richterlicher Rechtspflichten hilfreich sein, einen Katalog der rechtlichen Pflichten aufzustellen; denn sie sind in einer Fülle unterschiedlicher Gesetze geregelt oder durch nicht immer sofort zugängliche Gerichtsentscheidungen konkretisiert. Eine solche Sammlung kann aber nicht als „Ethikkodex“ bezeichnet werden, sondern höchstens als „richterlicher Compliance-Katalog“. Wegen der Trennung von richterlicher Kunst und Ethik sollten in einem Ethikkodex auch nicht bewährte Verhaltensregeln oder anerkannte Kriterien einer gelungen Justizpraxis71 aufgeführt werden. bb) Modelle Ethikkodizes gibt es in unterschiedlicher Gestaltung. Je nach denkbarem Inhalt und gesteigert nach dem Grad der Verbindlichkeit wären folgende aufzuführen: • Fallsammlungen, die berufsethische Konfliktlagen beschreibend zuspitzen72; 71 Bourquain, Förderung (Fn. 234/B.), DVBl. 2008, S. 1228 für Kodizes für gutes Verwaltungshandeln. 72 Vgl. die Fallsammlung der Kommission Ethik im sozialgerichtlichen Verfahren, in: Deutscher Sozialgerichtstag e. V. (Hrsg.), Sozialrecht – Tradition und Zukunft, Stuttgart 2013, S. 342 ff.
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• Fragenkataloge73 – wie etwa die „Säulen richterlicher Ethik“ der Schleswiger Ethikrunde –, die in der Art eines „Beichtspiegels“ der berufsmoralischen Gewissenserforschung des Richters dienen; • Allgemeines berufliches Leitbild (auch als Erklärung des guten Willens) der Justiz, einer Gerichtsbarkeit oder eines einzelnen Gerichts; • Compliance-Richtlinie 74 oder Verhaltenskodex (code of conduct), die die bestehenden beruflichen Regeln sammeln und die mit unterschiedlichen Inhalten denkbar sind: als Sammlung aller geltenden rechtlichen Verhaltenspflichten und Grundsätze mit oder ohne den anerkannten berufspraktischen Standards sowie mit oder ohne berufsmoralischen Pflichten oder rechtsethischen Haltungen75; • Sammlung ethischer Prinzipien und berufsethischer Haltungen und der insoweit zu erwartenden persönlichen Qualitäten des Richters, wie etwa die London Declaration; • Ethikkodex mit formulierten berufsmoralischen Ge- und Verboten (denkbar: aus Prinzipien abgeleitet), der einen unterschiedlichen Grad von Verbindlichkeit haben kann, nämlich – als unverbindliche Sammlung, um Richter anzuregen, über ihre berufsmoralischen Anforderungen nachzudenken, – oder als Grundlage einer individuellen oder kollektiven Selbstverpflichtung bei gegebener Beratungsmöglichkeit und ohne Sanktion oder • als Sammlung verbindlicher Verhaltenspflichten mit – interner Rügemöglichkeit durch richterliche Ethikkommission ohne dienstrechtliche Folge oder
73 Krix, Richterethik (Fn. 109/A.), S. 125; z. B. Deutschland: „Säulen richterlichen Handelns“ der Schleswiger Ethikrunde (Fn. 901/C.); Schweden: Good judicial practice – Principles and Issues (Fn. 146/C.). 74 Im Bereich der öffentlichen Verwaltung wurde das Thema „Compliance“ – mit Ausnahme der Korruptionsbekämpfung – später als in der Privatwirtschaft zum Thema. Dies hat sich inzwischen deutlich geändert. In jüngster Zeit geraten wegen ihrer Wirtschaftsnähe die Unternehmen der öffentlichen Hand zunehmend in den Fokus. Hierzu: M. Passarge, Compliance bei Unternehmen der öffentlichen Hand, in: NVwZ 2015, S. 252 ff. Zum Inhalt von Compliance-Richtlinien dort: S. 256. Vgl. auch die umfassende Übersicht bei R. Stober/N. Ohrtmann (Hrsg.), Compliance – Handbuch für die öffentliche Verwaltung, Stuttgart 2015, in dem die Justiz nicht angesprochen wird. Im Übrigen ist die Verwirklichung der Compliance im Tagesgeschehen letztlich von den Haltungen der Mitarbeiter, also von ihren verinnerlichten Tugenden, abhängig, vgl. hierzu: D. Kaufmann, Eine Frage der Haltung, NJW-Editorial 52/2015. 75 Dies fordert für Deutschland die GRECO des Europarats (Group of States against Corruption), in ihrem Evaluierungsbericht von 2014 (www.coe.int/greco [Stand: 26.03. 2015]), Rdnr. 146 ff.
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– mit nach außen bindenden Verpflichtungen mit Rüge- und Sanktionsmöglichkeit; – als vom Gesetzgeber mit Gesetzeskraft versehener „Ethikkodex“ 76. Welches Modell gewählt wird bzw. werden darf, hängt – wie in den vorangegangenen Kapiteln ausführlich dargestellt – vor allem von der Rechts- und Verfassungsordnung des jeweiligen Landes und seiner historisch gewachsenen Rechtskultur ab. cc) Vor- und Nachteile eines richterlichen Ethikkodex für die Implementierung ethischen Verhaltens Für die kontinentale, insbesondere für die deutsche Rechtskultur wurden die Vor- und Nachteile eines richterlichen Ethikkodex für die Implementierung ethischen Verhaltens in der Vergangenheit ausführlich diskutiert. Diese Diskussion hat dazu geführt, dass einige Länder, wie z. B. Schweden, – bislang – bewusst auf einen Ethikkodex verzichtet haben bzw. Modelle minderer Verbindlichkeit gewählt haben. Die in der Diskussion angeführten Argumente für und wider einen Kodex können folgendermaßen zusammengefasst werden: (1) Nachteile, Schwierigkeiten und Probleme77 Insoweit werden unterschiedliche Auffassungen vorgetragen: • Nachdem Fälle eklatanten berufsmoralischen Versagens von deutschen Richtern nicht feststellbar seien bzw. kein untragbares Ausmaß erreicht hätten, bestehe kein Bedarf für eine richterliche Ethik und einen Kodex. • Soweit das Vertrauen der Bevölkerung in die Justiz und die Richter als maßgeblicher Grund für das Erfordernis eines Ethikkodex genannt werde, handle es sich um ein schwer messbares Empfinden und sei daher ein problematischer Gradmesser78. Hinzu komme, dass nur durchsetzbares Recht letztlich dem Bürger im Umgang mit dem Richter helfe79. • Der Inhalt von Richterkodizes hänge von der nationalen Rechtslage, -kultur und -tradition ab. Danach richteten sich die Notwendigkeit, die Zulässigkeit 76
Bourquain, Förderung (Fn. 234/B.), DVBl. 2008, S. 1229. Vgl. auch die Zusammenstellung einiger der folgenden Argumente von: Adelswärd, Richterethik (Fn. 146/C.), S. 430, 435 ff. Die Mehrzahl der Richter scheint einen schriftlichen Ethikkodex mit vorgegebenen Verhaltensstandards abzulehnen: vgl. die Auswertung der Richterbefragung in Thüringen und Schleswig-Holstein Diercks, Richterliche Ethik (Fn. 932/C.), in: SchlHAnz, Sonderheft Richterliche Ethik, 2012, S. 11. 78 So auch der CCJE im Hinblick auf die Prinzipien von Bangalore http:// www.coe.int/t/dghl/cooperation/ccje/cooperation/coe_en.asp. 79 Böttcher-Grewe, Richter tricksen (Fn. 882/C.), DRiZ 2011, S. 203. 77
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und der Inhalt der Kodizes80. Es sei streng zwischen Verfahrens-, Status- und Disziplinarrecht einerseits und richterlicher Ethik andererseits zu unterscheiden. Allenfalls Länder mit prekären Justizsystemen sollten zur Kodifizierung schreiten81. • Die bedeutsamsten Verhaltenspflichten des Richters seien deshalb auch gesetzlich, insbesondere durch das Grundgesetz (Art. 20 Abs. 3 GG), die Prozessordnungen sowie Art. 6 EMRK, vor allem aber durch § 38 Abs. 1 DRiG82 geregelt und sollten es auch sein83. Nur dem demokratisch legitimierten Gesetzgeber stehe es zu, unter Abwägung mit den Anforderungen an eine funktionierende und rechtsstaatliche Justiz die Verhaltenspflichten des Richters zu definieren. Insoweit finde auch eine dienstaufsichtliche Kontrolle statt. Hinzu komme, dass in einer pluralen Justiz kaum Übereinstimmung über berufsmoralische Pflichten zu erzielen wäre84. Insbesondere müsse die Individualität des Richters gewahrt werden85 und seine Privatleben („moralischer Lebenswandel“)86 ihm überlassen werden. • Es sei schwierig und sinnvoll kaum möglich87, jenseits der bereits gesetzlich bestimmten und gerichtlich ausdifferenzierten Dienst- und Verhaltenspflichten des Richters weitere, hinreichend detailliierte Regeln festzuschreiben, die nicht bereits rechtlich radiziert seien bzw. die Hilfestellung in Einzelfällen gäben, ohne dabei zu lang, kasuistisch und detailliert zu sein.88 „Der ethischen Dimension des Richterberufs und den Fragen des Berufsethos kann kein Normengefüge gerecht werden.“ 89 • Bloß abstrakt und allgemein formulierte Prinzipien zeitigten keine Wirkung und seien daher bedeutungslos. Die Formulierung von Selbstverständlichkeiten und Banalitäten90 bei gleichzeitig „normativen Sprachgebrauch“ 91 führe nicht weiter. Sie führten eher zur Ablenkung und Verdeckung der eigentlichen Pro-
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Roos/Woischnik, Codigos (Fn. 21/C.), S. 50 f. Hierzu: Woischnik, Ethische Regeln (Fn. 43/C.), E + Z 2005, S. 4 ff.; Roos/ Woischnik, Codigos (Fn. 21/C.), S. 45 ff. 82 Baltzer, Gespenst (Fn. 69/C.), KritV 2008, S. 483 f., der die Besinnung und Beachtung der dort niedergelegten Grundsätze für ausreichend hält. 83 Addicks, Perücke (Fn. 100/A.), NRV-Info NRW 2007, S. 10; Bolk, Richterliche Ethik (Fn. 126/A.), NRV-info SH 11/2006, S. 18; Böttcher, Regeln (Fn. 56/F.), S. 18. 84 Bolk, Richterliche Ethik (Fn. 126/A.), NRV-info SH 11/2006, S. 19. 85 Böttcher, Regeln (Fn. 56/F.), S. 19. 86 Addicks, Perücke (Fn. 100/A.), NRV-Info NRW 2007, S. 10. 87 Huhs, Bericht (Fn. 83/C.), BJ 2004, S. 412. 88 Vgl. die schwedische Diskussion: Adelswärd, Richterethik (Fn. 146/C.). 89 Strecker, Ethik (Fn. 59/A.), BJ 2004, S. 386. 90 Jung, Richterbilder (Fn. 3/A.), S. 127. 91 Jung, Richterbilder (Fn. 3/A.), S. 126. 81
III. Einzelne Mechanismen der Implementierung und Sicherung
569
bleme, was auch von bloß strategischen Kodizes genutzt werde. Letztere würden nur den Anschein moralisch untadeligen Verhaltens erzeugen, hinter dem und unter dessen Schutz tatsächlich unter Umständen unanständig gehandelt werde. Eine bloße Kasuistik92 schließlich führe in die Lächerlichkeit und zur Formulierung „absurder Details“ 93. • Die Kodifizierung führe zur Begrenzung der an sich offenen Inhalte und zur Erstarrung94 des wünschenswerten Diskussionsprozesses über die berufsmoralischen Inhalte. Entscheidend sei vielmehr eine andauernde Diskussion unter den Richtern über die ethischen Aspekte ihrer Arbeit95. Eine festgeschriebene Sammlung von Regeln bewirke das Gegenteil; diese bezeichne das Ende einer Diskussion. Sie seien bloß noch anzuwenden. Ergebnis wäre möglicherweise ein „Papierkodex“ zum Abheften96 ohne Wirkung. Schließlich würden immer nur Standards von „gestern“ definiert97. Schon das Recht leite unter der Zeitbedingtheit von Moral98. • Es sei strikt zu trennen zwischen Recht und Gewissen, Moral und Ethik. Ein berufsethischer Kodex sei ungeeignet für Rechtssysteme mit strukturiertem Disziplinarrecht99. Es bestehe vielmehr die Gefahr, dass ein Ethikkodex mit einer Liste verbotenen Verhaltens100 zum Prüfkatalog für Dienstrecht101 oder gar zum Dienstrecht zweiter Klasse werde, das letztlich in das Disziplinarische abgleite102. Die Gefahr der Ausübung informellen Zwangs103, der Herstellung
92 Jung, Richterbilder (Fn. 3/A.), S. 127; Werner, Richterliche Ethik (Fn. 103/A.), BDFR FORUM 2010, S. 6. 93 Addicks, Perücke (Fn. 100/A.), NRV-Info NRW 2007, S. 10; Werner, Richterliche Ethik (Fn. 103/A.), BDFR FORUM 2010, S. 6. 94 Vgl. zur Problematik der früheren Standesrichtlinien für die Anwaltschaft: Ignor, Berufsethik (Fn. 103/A.), BRAK-Mitt. 2009, S. 203. 95 Burghardt, Netzwerk (Fn. 118/A.), DRiZ 2009, S. 104; ähnlich Titz, Schriftlichkeit (Fn. 6/A.), DRiZ 2009, S. 348. 96 Baltzer, Gespenst (Fn. 69/C.), KritV 2008, S. 485; Huhs, Bericht (Fn. 83/C.), BJ 2004, S. 412. 97 Addicks, Perücke (Fn. 100/A.), NRV-Info NRW 2007, S. 11; Böttcher, Regeln (Fn. 56/F.), S. 19. 98 BT-Drs. 3/516, S. 42, sah 1958 als ein unabweisbares Bedürfnis für die Versetzung eines Richters, wenn dessen Tochter den einzigen Anwalt vor Ort heiratet. 99 Sandhaus, Richterliche Ethik (Fn. 890/C.), S. 4823 m.w. N.; Jung, Richterbilder (Fn. 3/A.), S. 127. 100 Bolk, Richterliche Ethik (Fn. 126/A.), NRV-info SH 11/2006, S. 18; Schüller, Ethische Prinzipien (Fn. 77/A.), SchlHA 2006, S. 147; Eckertz-Höfer, Guter Richter (Fn. 119/A.), S. 32, hält dies für verständlich, aber übertrieben. 101 Bolk, Richterliche Ethik (Fn. 126/A.), NRV-info SH 11/2006, S. 19; Rudolph, Unabhängigkeit (Fn. 127/A.) DRiZ 1984, S. 143, Fn. 99. 102 Ebenso Wittreck, Funktionen (Fn. 10/A.), S. 278. 103 Bourquain, Förderung (Fn. 234/B.), DVBl. 2008, S. 1230 für Kodizes für gutes Verwaltungshandeln.
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F. Zur Implementierung und Sicherung ethischen Handelns bei Richtern
von Mustern für Beurteilungen und Anforderungsprofile, ja sogar der Disziplinierung104 müsse vermieden werden. • Eine Ethik per Dekret führe zur Begrenzung der Unabhängigkeit und sei auch dann nicht akzeptabel, wenn Richter mitwirkten und ein Diskussionsprozess vorausgehe105. Es entstehe ein Zwang zu einer von anderen auferlegten Correctness106, die den Einzelnen „auf die Linie des Corps bringen“ solle. Dies gelte auch berufsmoralische Beschränkungen, die von Richterverbänden definiert würden107. Nur eine nicht erzwingbare Selbstverpflichtung des Einzelnen mache Berufsmoral wirksam. Es bestünden deshalb auch verfassungsrechtliche Hindernisse für ihre Einführung. • Richter besäßen bereits erhebliche Sensibilität in Fragen ihrer eigenen Berufsmoral108. Nicht ein Kodex helfe weiter, sondern nur eine nachhaltige Ausbildung der Richter. (2) Vorteile und Gewinn109 Insoweit werden folgende Argumente angeführt: • Jede Berufsgruppe mit einem ethischen Selbstverständnis sollte ihr Ethos bestimmen, annehmen und beachten. Wie in der Anwaltschaft könne so ein „Appell an das Berufsethos“ 110 ausgesprochen werden, eine Erklärung des Willens, diesen Regeln zu folgen. Gerade die Aufgabe des Richters, die in der Verteidigung rechtsethischer Werte wie Gerechtigkeit, Wahrheit und Freiheit ihre Erfüllung finde, müsse sich hierzu bekennen. • Ein Kodex würde zudem der Empfehlung CM/Rec (2010)12 des Ministerrates des Europarates über die Unabhängigkeit, Effizienz und Verantwortung von Richtern Rechnung tragen.
104
Böttcher, Regeln (Fn. 56/F.), S. 19. Bolk, Richterliche Ethik (Fn. 126/A.), NRV-info SH 11/2006, S. 18; Böttcher, Regeln (Fn. 56/F.), S. 1 8. 106 Böttcher, Regeln (Fn. 56/F.), S. 19; Huhs, Bericht (Fn. 83/C.), BJ 2004, S. 412. 107 Böttcher, Regeln (Fn. 56/F.), S. 19. 108 Baltzer, Gespenst (Fn. 69/C.), KritV 2008, S. 483 in Auseinandersetzung mit Häuser und dessen Annahme, die Situation in der deutschen Justiz, insbesondere die Justizverwaltungsstrukturen korrumpierten die Richter auch moralisch. 109 Vgl. auch die Zusammenstellung einiger der folgenden Argumente von: Adelswärd, Richterethik (Fn. 146/C.), S. 429 f., 437 f., und Sandhaus, Richterliche Ethik (Fn. 890/C.), S. 481 f. Zum Nachfolgenden siehe auch: Mardorf, Philosophische Grundlagen (Fn. 2/B.), DRiZ 2010, S. 79; Schüller, Ethische Prinzipien (Fn. 77/A.), SchlHA 2006, S. 147; dies., Wozu? (Fn. 293/E.), S. 4; Titz, Ethik-Debatte (125/A.), DRiZ 2013, S. 201, dies., Richterliche Ethik – Wie gefährlich ist die Schriftlichkeit, in: DRiZ 2009, S. 348, dies., Eid (Fn. 99/A.), DRiZ 2009, S. 32 f. 110 Ignor, Berufsethik (Fn. 103/A.), BRAK-Mitt. 2009, S. 204. 105
III. Einzelne Mechanismen der Implementierung und Sicherung
571
• Gibt sich die Justiz ethische Verhaltensstandards und macht sie diese der Öffentlichkeit zugänglich, wird das eine wichtige Vertrauen schaffende Maßnahme darstellen111. Die Bürger hätten fortan „schwarz auf weiß“, was sie von ihren Richtern erwarten könnten. Die Regeln zeigten den Bürgern transparent112, dass sich Richter ethischer Fragen im Zusammenhang mit ihrer beruflichen Tätigkeit bewusst seien und zeigten der Richterschaft selbst, welche Ziele sie sich gesetzt habe113. Ein Kodex erzeuge einen stärkeren Motivations-, Sensibilisierungs- und Verpflichtungsgrad gegenüber den Richtern114 als bloße Fortbildungen und begründe einen heilsamen Rechtfertigungszwang in und vor der Öffentlichkeit115. Durch eine solche Erwartungssteuerung116 könne umgekehrt ein Schutz vor zu hohen Erwartungen eintreten. • Die Richter selbst würden bereits während des Prozesses zur Bestimmung ihres ethischen Standorts angeregt und durch die ausformulierten Standards zu Disziplin und zu einem bewussten, ehrlichen Umgang mit dem Thema gezwungen. Eine endlose Diskussion über ethische Grundsätze ohne ihre Fixierung führe zur Beliebigkeit117. Darüber hinaus können sie den Richtern in persönlichen Zweifelsfällen, die über das rein fachlich-juristische hinausgehen, bei der Wahl des geeigneten Verhaltens helfen. Das gelte besonders in Ländern, in denen nicht jahrhundertlange Tradition selbstverständlich definiert, was sich für einen „guten Richter“ gebühre und was nicht. • Das Gesetz regle nicht den „Berufsalltag“ des Richters, in dem die großen Werte und Haltungen nachhaltig und manchmal spontan im Einzelfall gelebt werden müssten. In einem Akt der Selbstverpflichtung und -bindung könnten weiche Verhaltensregeln und rechtsethische Haltungen, die sich gesetzgeberisch kaum erfassen ließen, umschrieben werden, wie etwa die umfassende Kommunikationsbereitschaft, der Umgang mit Vorverständnissen und die erforderliche Sorgfalt bei der Arbeit prägen, aber auch das außerdienstliche Verhalten und das „Privatleben“ 118 mit Bezug zum Richterberuf sowie der Umgang mit Medien, Kollegen oder der Justizverwaltung. • Ein Kodex könne dem einzelnen Richter helfen, Antworten in Situationen zu finden, in denen er mit ethischen Problemen konfrontiert sei. Er habe insbe-
111
Zweifelnd: Werner, Richterliche Ethik (Fn. 103/A.), BDFR FORUM 2010, S. 6. Burghardt, Netzwerk (Fn. 118/A.), DRiZ 2009, S. 104. 113 Hierzu auch: Adelswärd, Richterethik (Fn. 146/C.). 114 Kreth, Ethik (Fn. 11/D.), S. 480. 115 Schüller, Ethische Prinzipien (Fn. 77/A.), SchlHA 2006, S. 147; Krix, Ethik (Fn. 1/A.), S. 8, meint sogar ein „Pakt mit dem Bürger“ sei notwendig. 116 Schüller, Ethische Prinzipien (Fn. 77/A.), SchlHA 2006, S. 147. 117 Titz, Schriftlichkeit (Fn. 6/A.), DRiZ 2009, S. 348. 118 Krix, Richterethik (Fn. 109/A.), S. 124, 155 f. 112
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sondere Anleitungscharakter für Berufsanfänger119, Assessore und Referendare, und diene als Propädeutik für die richterliche Praxis. Denn die Anleitung durch erfahrene Kollegen sei zufällig und unvollständig120. Bei Fortbildungen könnte er Grundlage einer Diskussion über richterliche Ethik sein. • Der disziplinarische Charakter könne durch eine Präambel verhindert werden, in dem deutlich gemacht werde, dass der Kodex keinen disziplinarischen Charakter habe121. Wie das Beispiel Kanadas zeige, könne umgekehrt sogar ein institutioneller Schutz dadurch erreicht werden, dass in einem Disziplinarverfahren die Berufung auf den Rat der Ethikkommission entlastende Wirkung zukomme122. Im Einzelfall könnte auch eine Abwehr von Eingriffen von außen zurückgewiesen werden und die Selbstverantwortung gestärkt werden123: „Ethikregeln können helfen. Ein Richter, der sich daran hält, ist unantastbar, auch dann, wenn er nicht ausreichend effizient, kostengünstig oder schnell genug arbeitet.“ 124 • Kodifizierte ethische Standards, die das – berufliche – Verhalten von Richtern lenkten, stellten keine Gefahr für die richterliche Unabhängigkeit dar, sofern sie von der Dritten Gewalt selbst beschlossen würden. Insbesondere könne dadurch verhindert werden, dass Einfluss „von außen“ genommen werde125. Im Gegenteil trügen sie dann sogar zum Schutz und Festigung der Unabhängigkeit in dem Sinne bei, dass Richter in der Ausübung ihres Amtes ausschließlich Recht und Gesetz unterworfen und nur an dieses gebunden seien. Richter müssten frei von Beeinflussungen durch andere Staatsgewalten entscheiden könnten. Das sei aber nur dann der Fall, wenn Richter ihre Entscheidungen mit Integrität und unvoreingenommen, gleichsam als Hüter des öffentlichen Vertrauens fällten. Diejenigen, die eine Gefahr für die richterliche Unabhängigkeit sähen, hätten zumeist ein „geweitetes“ Verständnis von der richterlichen Unabhängigkeit. • In der Konkurrenz der Rechtsordnungen hebe ein Ethikodex auch das internationale Vertrauen126.
119
Kreth, Ethik (Fn. 11/D.), S. 480. Neumann, Richterliche Ethik (Fn. 108/A.), DRiZ 2008, S. 101; Titz, Berufsethos (Fn. 119/A.), DRiZ 2008, S. 98. 121 Schüller, Wozu? (Fn. 293/E.), S. 5. 122 Schüller, Ethische Prinzipien (Fn. 77/A.), SchlHA 2006, S. 147. 123 Huhs, Bericht (Fn. 83/C.), BJ 2004, S. 412 unter Bezugnahme auf Krix, Ethik (Fn. 1/A.). 124 Krix, Ethik (Fn. 1/A.), S. 8. 125 Titz, Schriftlichkeit (Fn. 6/A.), DRiZ 2009, S. 348. 126 Sandhaus, Richterliche Ethik (Fn. 890/C.), S. 482 f. m.w. N. 120
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dd) Prozess der Entstehung und Formulierung von Ethikkodizes Die Richterschaft in Deutschland zeigt insgesamt eher eine distanzierte Haltung zur Schaffung eines Ethikkodex127. Zwar hat der 30. Richterratschlag mehrheitlich einen Kodex und einstimmig eine Ethikkommission gefordert. Der Richter- und Staatsanwaltstag 2007 hat in seinem Thesenpapier 2007 einen Kodex empfohlen mit dem Vorbehalt, die „Verhaltensanforderungen sollen keine Regeln sein“. Wie im Zusammenhang mit der Etablierung eines Ethikrates gibt es auch zu der Frage, wer und in welchem Verfahren einen Ethikkodex entwickeln und formulieren soll, sehr unterschiedliche Auffassungen. Einigkeit dürfte darin bestehen, dass Kodizes in Form von Parlamentsgesetzen oder exekutiven Richtlinien mit der richterlichen Unabhängigkeit aus Gründen der Gewaltenteilung und wegen der besonderen Natur ethischer Regeln unvereinbar seien128. Auch die Erkenntnis, dass die Akzeptanz des Kodex auch von seinen Entstehungsbedingungen abhängt129, dürfte ebenso unstreitig sein. Streitig ist aber der – vor allem von den Richterverbänden – überwiegend vertretene Ansatz, dass der Kodex als selbstregulierendes Instrument von der Richterschaft selbst formuliert und verabschiedet werden muss. „Da eine Ethik bereits dem philosophischen Begriffsverständnis nach die autonome Selbstverpflichtung aufgrund der Überzeugung des Einzelnen darstellt, darf diese Diskussion nur von uns Richterinnen und Richtern sowie Staatsanwältinnen und Staatsanwälten geführt und mit keinerlei Sanktionen verknüpft werden.“ 130 Dies könnte etwa durch eine gewählte Vertretung oder von allen Richterverbänden wahrgenommen werden. In einem offenen, pluralistischen und demokratischen Diskussionsprozess der Richter131 sei diese Aufgabe zu lösen. Wie andere Länder zeigen (Frankreich), muss die Formulierung aber nicht bei den Richtern monopolisiert werden. Denn ihr Beruf und Amt ist öffentlich. Ihre Tätigkeit ist politik- und gesellschaftsbezogen. Deswegen liegt es nahe, Vertreter der Anwaltschaft, Wissenschaftler und Vertreter der Zivilgesellschaft als Sachwalter der organisierten bürgerlichen bzw. professionellen Interessen hinzuzuziehen, wie dies bereits bei der zweiten Auflage der Schleswiger Ethikrunde schon
127 Vgl. hierzu die Umfragen bei Richtern: Diercks, Richterliche Ethik (Fn. 932/C.), in: SchlHAnz, Sonderheft Richterliche Ethik, 2012, S. 10 ff. 128 Thesenpapier Deutscher Richter- und Staatsanwaltstag in Würzburg 2007, Nr. 4. Allerdings unterliegt selbst der Bericht der 4. Evaluierungsrunde der GRECO (Group of States against Corruption, www.coe.int/greco [Stand: 26.03.2015]), dem Irrtum, es könne einen „gesetzlichen“ Ethik-Kodex geben, Rdnr. 142, und meint, es gebe in Deutschland „Rechtsvorschriften zu ethischen Grundsätzen und Verhaltensregeln“. 129 Titz, Berufsethos (Fn. 119/A.), DRiZ 2008, S. 100. 130 Thesenpapier Deutscher Richter- und Staatsanwaltstag in Würzburg 2007, Nr. 2; ähnlich: Opinion des CCJE No. 10 „Justizverwaltungsrat im Dienst der Gesellschaft von 2007“ (Nrn. 60 und 61). 131 Schüller, Wozu? (Fn. 103/A.), Schl.Hol.RV, info 1/2006, S. 5.
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geschehen ist. Hinzu kommen erhebliche Zweifel daran, dass nur von Richtern besetzte Gremien weniger anfällig gegenüber Übergriffen oder hierarchischen „Top-down-Lösungen“ wären als klassische Justizverwaltungen132. Auch der Anwendungsbereich ist nicht unumstritten. Während die Richterverbände – wohl aus verbandspolitischen Gründen – eine Berufsethik für Richter und Staatsanwälte gemeinsam entwickeln wollen, liegt es wegen der fehlenden sachlichen Unabhängigkeit auf der Hand, diesen wesentlichen strukturellen Unterschied auch bei der Berufsethik zu berücksichtigen. ee) Zusammenfassung der eigenen Position Nach den in dieser Arbeit dargestellten Erkenntnissen ist ein Ethikkodex nur unter folgenden Voraussetzungen sinnvoll: Es müsste sich um einen Ethikkodex nur für Richter handeln. Für eine Regelung berufsmoralischer Ge- und Verbote besteht kein praktisches Bedürfnis. Denn neben dem – in Unterschied zu anderen Ländern – engmaschig geregelten (Dienst-)Recht bleibt in Deutschland kaum Raum, um konkrete berufsmoralische Verhaltenspflichten zu formulieren. Außerdem bestehen erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken dagegen, – von wem auch immer formuliert – konkrete berufsmoralische Ge- und Verbote in einem Ethikkodex zusammenzufassen. Nach der dienstgerichtlichen Rechtsprechung sind nämlich schon psychisch wirkende Einflüsse auf die richterliche Entscheidungstätigkeit unzulässig. Eine Zusammenstellung der Rechtspflichten bezüglich richterlichen Verhaltens in einem Compliance-Katalog (Verfassungs-, Dienst-, Prozess-, Straf-, Zivilrecht), wie sie etwa der Europarat anregt, erscheint für das Berufsfeld des Richters angesichts der dort zu erwartenden Rechtskenntnisse und -bindung der Richter nicht erforderlich. Für die interessierte Öffentlichkeit ergeben sie sich aus den bekanntgemachten Gesetzen. Ein Ethikkodex in Deutschland sollte sich auf die Formulierung beruflicher Haltungen (z. B. Rechtstreue, Fairness, innere Unabhängigkeit, Integrität, Gerechtigkeit, Wahrheit, Sorgfalt, Mut . . .) beschränken und durch Fallbeispiele ergänzt werden, die insbesondere die berufsmoralischen Gefährdungen aller Richter (und nicht nur der Richter durch die Dienstaufsicht) thematisiert. Insoweit liegt ein ausbaufähiges und -würdiges Papier des Deutschen Richterbundes vor. Insofern wären auch die in der bisherigen Diskussion geäußerten, aber wissenschaftlich wenig begründeten Erwartungen erfüllt, dass der Ethikkodex nur Mindeststandards133 oder Guidelines134 als soziale Regeln der Berufsgruppe135, aber keine Detailregelungen 132
So auch Wittreck, Funktionen (Fn. 10/A.), S. 271 ff. Fn. 169. Huhs, Bericht (Fn. 83/C.), BJ 2004, S. 412; Schüller, Wozu? (Fn. 103/A.), Schl.Hol.RV, info 1/2006, S. 5. 134 Schüller, Wozu? (Fn. 103/A.), Schl.Hol.RV, info 1/2006, S. 5, die dann aber z. T. fernliegende Beispiele zur Rechtfertigung eines Kodex anführt (Verwendung des Richtertitels im Briefkopf zur Sicherung seiner medizinischen Daten; Richter als Künstler). 133
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richterlichen Verhaltens enthalten sollte. Der Tugendkodex sollte nicht nur von Richtern formuliert werden, sondern sich für eine Diskussion für „interessierte Kreise“ öffnen. An dem Prozess der Erarbeitung sollten alle Richterverbände mitwirken. Als Forum könnte ein Konvent zur Erarbeitung einer richterlichen Ethik dienen, in den Richter-, Anwalts-, Staatsanwalts-, Notarverbände sowie Vertreter des öffentlichen Lebens Repräsentanten entsenden. b) Ethikrüge Die Ethikrüge ist eine – in anderen Rechtsordnungen anerkannte – Rügemöglichkeit des Bürgers, die neben den üblichen Rechtsbehelfen oder Dienstaufsichtsbeschwerden steht. Sie ist die schärfste Form der Reaktion auf unmoralisches Verhalten des Richters neben den üblichen Formen der „moralischen Sanktionen“, etwa der Empörung, moralischen Kritik oder der sozialen Missachtung, die ein „schlechtes Gewissen“ und Scham induzieren136. Sie ist eine institutionalisierte Form der moralischen Reaktion. Ob richterliche Ethikkodizes Sanktionen vorsehen sollen und dürfen, wie und von wem Verstöße gegen ethische Standards sonst sanktioniert werden können und dürfen, ist allerdings sehr umstritten. Formelle Sanktionen bei berufsmoralischen Verfehlungen sind der Ethik wesensfremd, weil es um innere Überzeugungen geht137 bzw. die Grenze zur Rechtssanktion nicht überschritten werden darf. In diesen Kontext fallen auch informelle bzw. mittelbare Rügen, etwa über Beurteilungs- und Bewertungsportale für Richter im Internet138, die Verletzungen von Rechten und ethischen Standards durch konkrete Richter oder Spruchkörper sammeln und nach dem Prinzip des „naming“, „blaming“ and „shaming“ erörtern139. Wegen der Öffentlichkeit der Verhandlung, der öffentlichen Zugänglichkeit der Entscheidungen, der Rechtsmittelfähigkeit von Entscheidungen und der Unausweichlichkeit des gesetzlichen Richters werden diese Portale für überflüssig gehalten140. Allerdings zeigt auch der Erfolg des von Egon Schneider 1992 begrün135 Krix, Ethik (Fn. 1/A.), S. 7, die dann aber berufsmoralische Verhaltenspflichten aufzählt, die überwiegend gesetzlich begründet sind. 136 v. Olenhusen, Thesenpapier (Fn. 126/A.), 2. These. 137 Schüller, Ethische Prinzipien (Fn. 77/A.), SchlHA 2006, S. 147; v. Olenhusen, Thesenpapier (Fn. 126/A.), 2. These. 138 Vgl. etwa das Forschungsprojekt „Watch the court“ der FU Berlin: http:// blogs.fu-berlin.de/soellner/ (Stand: 29.04.2015); das passwortgeschützte Richterbewertungsportal: www.marktplatz-recht.de (Stand: 28.04.2015); hierzu: Bewertungsportal für Richter, MHR 2010, S. 15: Bewertungskriterien sind: zügige Terminierung, Erreichbarkeit, Vorbereitungsqualität, Verhandlungsführung, fachliche Kompetenz, Qualität der Hinweise oder der Beweisaufnahme, Konstruktivität der Vergleichsverhandlung. 139 Zu den in Deutschland bestehenden Grenzen für Bewertungsportale: BGH, NJW 2009, S. 2888; vgl. auch: BGHZ 202, 242. 140 Vgl. Börstinghaus, Editorial des NJW-Heftes 29/2009.
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deten „Justizspiegels“, der in der Zeitschrift für Anwaltspraxis seit 1992 Fälle groben richterlichen Fehlverhaltens sammelte und publizierte, dass hierfür ein Bedürfnis besteht. Voraussetzung wäre in jedem Falle aber, dass diese Portale durch die Gestaltung des Zugangs, der Bewertungskriterien und der Kontrolle überhaupt eine sachliche Beurteilung ermöglichen. Die Ansicht, Ethikrügen seien zu vermeiden, wird nicht überall geteilt. Insbesondere in prekären Justizsystemen kann eine solche Rüge zu einer Verbesserung richterlichen Verhaltens beitragen: „Kodizes über richterliche Ethik sollten auch Sanktionen vorsehen. Regeln, deren Umsetzung den Normadressaten selbst überlassen bleibt, laufen Gefahr, bedeutungslos zu bleiben. Gerade im lateinamerikanischen Kontext könnte das Vertrauen der Bevölkerung in die Dritte Gewalt sogar weiter geschwächt werden, wenn genau diejenigen, die über andere Recht sprechen, sich davor scheuen, rechtsverbindliche Verhaltensregeln für sich selbst zu erlassen, deren Einhaltung überwacht und sanktioniert werden kann. Allerdings darf ein sanktionsbehafteter Ethik-Kodex nicht nur vage Grundsätze enthalten. Vielmehr muss aus ihm klar genug hervorgehen, wie sich ein Richter im Einzelfall zu verhalten hat, um die darin aufgestellten Verhaltensregeln zu erfüllen. Die Prinzipien von Bangalore können als Vorbild dienen, da sie nicht nur ethische Werte benennen, sondern auch die damit jeweils korrespondierenden Handlungsweisen beschreiben. Allerdings ist zu beachten, dass Verstöße gegen ethische Standards nicht von außen, sondern ausschließlich durch justizinterne Gremien sanktioniert werden dürfen. Diese sollten im Kodex reglementiert werden (Problem der Notwendigkeit des Parlamentsgesetzes bei Eingriffen in richterliches Verhalten). Jede andere Lösung würde in der Tat einen Eingriff in die Unabhängigkeit der Judikative darstellen.“ 141 Es gibt jedoch mehrere Gründe, warum die Ethikrüge in der deutschen Rechtsordnung problematisch wäre. Grundsätzlich stünde dieses Instrument einer in ethischen Angelegenheiten strukturell zu erwartenden, positiven Selbstverpflichtung142 der Richter eher entgegen. „Moralischen Sanktion“ sind im positiven Sinne entweder die moralische Wertschätzung oder im negativen Sinne das schlechte Gewissen, die Scham und Missachtung, Empörung und Kritik. Eine Ethikrüge kann zwar im letzteren Sinne als formalisierte Kritik und Empörung verstanden werden; es ist aber eher zu erwarten, dass sie sich zu einer besonderen Form der Dienstaufsichtsbeschwerde entwickelt, die – mangels Eingriffsmöglichkeiten – dienstaufsichtlich folgenlos bleiben muss. Die Etablierung einer Ethikrüge würde zudem die Bereitschaft der Richter mindern, sich auf die Fixierung berufsmoralischer Standards festzulegen. Denn dann würden selbstgewählte Standards zum Anknüpfungspunkt externer Kontrolle. Verstärkt wird
141 142
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dies dadurch, dass es – wie auch ausländische Beispiele zeigen – in der Ethikdebatte schwer fällt, die Abgrenzung zwischen Berufsmoral und Disziplinarrecht durchzuhalten143. Berufsmoralische Regeln und Prinzipien verleiten dazu, in disziplinarische Regeln144 umgemünzt zu werden. Die Gefahr besteht gerade bei einem unreflektierten Rückgriff auf die für das deutsche Recht nicht passende Bangalore-Prinzipien. Weiter besteht das Risiko, dass die Ethikrüge als weiteres Mittel neben Dienstaufsichtsbeschwerde und Rechtsbehelfen genutzt würde. Da berufsmoralische Regeln und Prinzipien sich gerade auf das Verhalten und die Haltungen des Richters in seiner rechtsprechenden Tätigkeit beziehen, besteht weiter das Risiko, dass unzulässig von außen auf den durch die Unabhängigkeit geschützten Tätigkeitsbereich zugreift. Schließlich setzt eine Ethikrüge klare moralische Ge- und Verbote voraus, die bei der hier vertretenen Tugendethik nicht geboten sind. In einigen Ländern obliegt die Rüge von Verstößen gegen die Berufsmoral den Richterverbänden, die in der Konsequenz zum Ausschluss aus dem Berufsverband führen kann. Diese Form vermeidet zwar nicht alle zuvor beschriebenen Probleme, ist aber ein Instrument, das den Charakter des Verstoßes gegen die Überzeugungen der Richterschaft moraladäquat sanktioniert. Diese Form könnte auch in Deutschland etabliert werden. c) Compliance-Management-System (CMS) in der Justiz? Die Übertragung der in der Privatwirtschaft verbreiteten systematischen Analyse, Überwachung und Ahndung aller beruflichen Regeln in der Art eines CMS145 scheitert an den strukturellen und rechtlichen Unterschieden zwischen Wirtschaft und öffentlichem, insbesondere Richterdienstrecht. Elemente eines CMS enthalten zwar auch die Mittel der klassischen Dienstaufsicht und das Rechtschutz- sowie das Disziplinarsystem. Allerdings ist das nicht rechtlich determinierte Verhalten des Richters bei der rechtsprechenden Tätigkeit aufgrund der richterlichen Unabhängigkeit einem lückenlosen CMS-System nicht zugänglich. Das sonstige dienstliche und außerdienstliche Verhalten des Richters obliegt dem Ermittlungs- und Ahndungssystem der Dienstaufsicht, die allerdings auf die Erkenntnisse des CMS zurückgreifen könnte (z. B. Risikoanalyse, Kommunikation, Schulung, Personalentwicklung, etc.).
143 Jung, Richterbilder (Fn. 3/A.), S. 126 f. auch unter Hinweis auf die kanadische Praxis. 144 Jung, Richterbilder (Fn. 3/A.), S. 127. 145 Vgl. zu den Anforderungen und den Aufbau des CMS: Passarge, Compliance (Fn. 74/F.), NVwZ 2015, S. 255 f.
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F. Zur Implementierung und Sicherung ethischen Handelns bei Richtern
6. Überwachung der Nebentätigkeit von Richtern Es könnte eine jährliche Berichtspflicht für Richter zum Umfang, Gegenstand und zur Vergütung von Nebentätigkeiten allgemein146 eingeführt werden147. Damit wäre eine präventive Wirkung zu erzielen, nicht zu viele Nebentätigkeiten zu übernehmen, und stellte gegenüber der Dienstaufsicht Transparenz und Nachvollziehbarkeit her. 7. Öffentlichkeit Die öffentliche Kontrolle richterlichen Handelns und Verhaltens obliegt seit jeher der Presse. Dabei konzentriert sie sich nicht nur auf das rechtsförmige Handeln, sondern interessiert sich häufig auch für die Richterpersönlichkeit im Verfahren. Gerade in bedeutenden Verfahren steht gerade der Vorsitzende Richter unter besonderer Beobachtung. Insoweit wirken die berufsmoralischen Verhaltenserwartungen der Öffentlichkeit unmittelbar kontrollierend. Ob – unabhängig von ihrer rechtlichen Zulässigkeit – daneben Bewertungsportale für Richter im Internet in Bezug auf die Sicherung berufsmoralischer Standards wirksam sind, ist zweifelhaft. Denn die bereits bestehenden Angebote sind fragwürdig, was die Seriosität der Tatsachenermittlung, des bewertenden Publikums und die Differenzierungsfähigkeit hinsichtlich justizieller Abläufe angeht. Im Zweifel dürften Richter diese Bewertung nicht als Gewinn oder Ansporn begreifen, sondern sie unbeachtet lassen. Bei sachgerechter Ausgestaltung wird sich die Richterschaft – wie andere Berufsgruppen, für die letztlich Richter dieses Instrument für zulässig befunden haben – diesem Bewertungsforum jedoch nicht entziehen können. 8. Richterliche Ethik und Disziplinarrecht Das Disziplinarrecht liegt jenseits der Berufsmoral. Wo der Verstoß gegen rechtliche Amtspflichten justizförmig geahndet wird, ist kein Raum mehr für Berufsmoral. Würde ein gesetzlicher „Ethikkodex“ – eine contradictio in adjecto – beschlossen, bestünde insoweit kein moralischer Kodex mehr, sondern eine Grundlage für dienst- und disziplinarrechtliche Folgen. Wo aus der Perspektive der Berufsmoral die Grenze zum Disziplinarrecht liegt, ist in mehrfacher Hinsicht unbestimmt. Dies hat auch mit der Genese rechtlicher Amtspflichten zu tun. Bereits die rechtshistorischen Untersuchungen haben ge146
In einigen Bundesländern ist eine solche Anzeige verpflichtend eingeführt. Vgl. die Forderung in der 4. Evaluierungsrunde der GRECO (Group of States against Corruption), Korruptionsprävention in Bezug auf Abgeordnete, Richter und Staatsanwälte, Evaluierungsbericht Deutschland, 2014, Rdnr. 159 (www.coe.int/greco [Stand: 26.03.2015]). 147
III. Einzelne Mechanismen der Implementierung und Sicherung
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zeigt, dass ursprünglich berufsmoralische Ge- und Verbote immer mehr verrechtlicht wurden. Dieses Phänomen besteht bis heute fort. Es ist daher schwer, – und gelingt in anderen Rechtsordnungen kaum – die feine Grenze zu bestimmen, ob richterliche Amtspflichten schon dem Recht oder noch der Berufsmoral zugeordnet werden. Dies entscheidet aber die Frage, ob an deren Verletzung disziplinarische Sanktionen geknüpft werden können. Zu Recht wird daher darauf hingewiesen, dass die Formulierung von deontologischen Richterkodizes von sich aus dazu neigen, disziplinarrechtlich als Auslegungshilfe „genutzt“ zu werden148. Diese Gefahr besteht bei den hier für Deutschland als allein zulässigen und praktisch sinnvollen tugendethischen Sammlungen nicht.
148
den.
Sandhaus, Richterliche Ethik (Fn. 890/C.), S. 488 f. m.w. N. auch zum Folgen-
G. Thesen der Arbeit I. Gegenstand richterlicher Ethik 1. Die richterliche Ethik ist eine Bereichsethik für eine besondere Berufsgruppe: Sie beschäftigt sich wissenschaftlich mit den Mitteln und Methoden der allgemeinen und angewandten Ethik mit der Berufsmoral der Richter, also den außerrechtlichen Sollensanforderungen an den Richter. Sie fragt danach, ob es jenseits des Rechts und der professionellen Klugheit begründbare moralische Anforderungen an den Richter und sein Handeln gibt und geben darf, wie sie zu begründen sind und ggf. im beruflichen Alltag anwendbar gemacht werden können. 2. Gegenstand ist nur die Berufsmoral der Richter „im engeren Sinne“, also derjenigen des Spruchrichters. 3. Richterliche Ethik beschäftigt sich nicht mit der Berufsmoral anderer Rechtsberufe, insbesondere nicht mit der der Anwälte und Notare, aber auch nicht mit der der Staatsanwälte. Sie muss der Eigenart des besonderen Dienstverhältnisses gerecht werden, um den besonderen institutionellen Anforderungen an den Richterberuf gerecht zu werden und sie praktisch zu stärken. 4. Die richterliche Ethik ist eine rechtlich geprägte – und begrenzte – Ethik, die aber gegenüber der Rechtsordnung grundsätzlich selbständig ist. Insofern untersucht sie folgende Fragen: Gibt es neben den Rechtspflichten Raum für eine Berufsmoral und darf es sie geben? Stehen die richterliche Ethik und die richterliche Moral „im rechtsfreien Raum“, ja müssen sie dort stehen oder ist das bezogen auf den Richterberuf undenkbar? 5. Ziel der wissenschaftlichen Ethik ist nicht die bloße Beschreibung des „idealen Richters“, sondern die Ergründung der Bedingungen für die Möglichkeit sowie die Erarbeitung von rational abgeleiteten moralischen Haltungen, Normen oder Werten für den Richterberuf. 6. Richterliche Ethik beschäftigt sich mit einer speziellen Berufsmoral. Sie betrifft das Verhalten und die Haltung des Richters als Richter und soweit er als solcher wahrgenommen wird. Nur soweit er in und mit seiner Person „öffentliche“ Person ist, ist sein Verhalten Gegenstand richterethischer Anforderungen. 7. Hinsichtlich der konkreten Ausgestaltung und der Theoriebildung hat sie zu klären, ob es richterliche Ethik in Deutschland als eine Richterdeontologie geben kann oder ob sie vielmehr eine richterliche Tugendethik sein muss.
II. Deskriptive richterliche Ethik
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II. Deskriptive richterliche Ethik 8. Aus der Darstellung der nationalen und internationalen Dokumente zur richterlichen Ethik lassen sich Erkenntnisse für eine vergleichende Richterethik gewinnen. Aus der historischen Betrachtung können die Entstehungsbedingungen für richterethische Kodizes und Sammlungen, insbesondere ihre jeweiligen politischen und rechtlichen Voraussetzungen abgeleitet und typisiert werden. 9. Der Erkenntnisgewinn einer historisch-genetischen Betrachtung ist es, den Ausgangspunkt der Diskussion, die Gründe für die Fixierung berufsmoralischer Regeln und die Funktion bei der Stärkung einer rechtsstaatlichen Justiz zu ermitteln. 10. Die Untersuchung zeigt, dass etwa die Kodifizierung der Richterethik in den Vereinigten Staaten ihre Ursache in den Besonderheiten der nationalen Justizentwicklung und Rechtslage hat. Die Etablierung der Ethikkodizes ging dabei nicht von staatlichen Instanzen oder der Richterschaft selbst, sondern im Wesentlichen von Anwälten aus. 11. Eine Voraussetzung für die Notwendigkeit der Formulierung richterethischer Kodizes ist die Ausgestaltung der Stellung des Richters in der jeweiligen Rechtsordnung: Ist richterliches Handeln von rechtlichen Vorgaben, seien es dienstrechtliche, seien es prozessuale, oder von der rechtlichen Steuerung durch eine Justizverwaltung weitgehend „befreit“, ist der Gefahr richterlichen Fehlverhaltens in anderer Weise als mit den Mitteln des Rechts zu begegnen, eben mit dem Mittel der berufsmoralischen Bindung und Kontrolle. 12. Einzelne Länder, wie etwa Italien, Schweiz, Frankreich und Kanada, nahmen die Erkenntnis, dass vermeintliches oder tatsächliches Fehlverhalten von Richtern innerhalb oder außerhalb des Berufes mit den herkömmlichen Mitteln des Dienst- und Disziplinarrechtes nicht vollständig erfasst und „gesteuert“ werden konnten, zum Anlass, jenseits des Rechts an die Berufsmoral zu appellieren und sie zu stärken. 13. Transformationsprozesse in der Justiz nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Systems sowie im Zuge der europäischen Einigung und die dabei eingesetzten „Werkzeuge“, wie die Richterkodizes, führten dazu, sie nicht nur auf die Umbrüche durch Systemveränderungen anzuwenden, sondern als Modell für die Transformation unterentwickelter, ineffizienter oder durch Korruption gelähmter Staaten und ihrer Justizstrukturen anzuwenden. Deshalb wurde ab dem Jahr 2000 auf internationaler Ebene die Diskussion um eine globale Richterethik in Gang gesetzt, die letztlich in die Prinzipien von Bangalore mündete. 14. Dieser Prozess wirkte auf alle Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen, internationale und supranationale Gerichte, internationale (Richter-)Vereinigungen und auf regionale Organisationen zurück. Hierdurch wurde ein breit angelegter
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G. Thesen der Arbeit
Diskurs zu Fragen richterlicher Ethik eröffnet, der zu unterschiedlichen Ergebnissen, insbesondere richterethischen Sammlungen führte. 15. Die derzeit vorliegenden richterethischen Sammlungen können inhaltlich typisiert werden. Neben ihrer Konkretheit und Verbindlichkeit unterscheiden sie sich nach Anwendungsbereich, Normcharakter und der Art und Weise, wie die Einhaltung der formulierten Prinzipien, Werte und Pflichten gewährleistet werden soll. 16. Die historische Untersuchung der richterlichen Ethik zeigt, dass durchgängige und von konkreten Ausprägungen des jeweils bestehenden Rechtssystems bzw. der jeweiligen Justizstruktur unabhängige Richterpflichten kaum festzustellen sind. Selbst die dem „Wesen“ des Richterberufs zugeschriebenen Pflichten zur Unabhängigkeit und Unparteilichkeit sind abhängig von konkreten historischen Lagen und Strukturen. 17. Die historische Betrachtung lässt auf eine zunehmende Verrechtlichung ursprünglich nur konventionell, religiös und/oder moralisch begründeter Richterpflichten schließen. Diesem Prozess lagen unterschiedliche Motive und Strömungen zugrunde: die Erfahrung mit richterlicher Willkür, der Gestaltungswille des neuzeitlichen Gesetzgebers, die Sicherung rechtsstaatlicher „Errungenschaften“ gegenüber exekutiven Ein- und Durchgriffen oder die Antwort auf historisches Versagen der Justizstrukturen und der Richter. 18. Der Prozess der Verrechtlichung der Richterpflichten, der den Raum für eine originäre, nichtrechtliche Berufsmoral zunehmend verengte, war in Deutschland in besonderer Weise und im Gegensatz zu anderen, selbst kontinentaleuropäischen Ländern von der beamtenähnlichen Stellung der Richters seit der frühen Neuzeit bis in das 20. Jahrhundert hinein geprägt. 19. Eine neuere Entwicklung ist die zunehmende „Emanzipation“ des Richters von der Exekutive. Mit der Verankerung der sachlichen und persönlichen Unabhängigkeit, der Verpflichtung, grundrechtsbezogen zu prüfen, und der Entscheidung, auch exekutive und legislative Akte der Rechtskontrolle zu unterwerfen, mussten sich die Stellung des Richters und damit auch seine Pflichten grundlegend verändern. Die Erkenntnis des Rollenwandels des Richters und die wachsende Macht führten zu der Forderung, er müsse seiner Verantwortung gerecht werden. Insoweit ist auch eine Aufgabe für eine neue richterliche Ethik formuliert. 20. Die vergleichende Betrachtung von Ethikkodizes für Richter auf internationaler Ebene, die historische Untersuchung der Entwicklung richterlicher Pflichten in Deutschland und die Sichtung der in den letzten zehn Jahren geführten Diskussion führt zu demselben empirischen Ergebnis: Der Befund und die Bestimmung dessen, was als „Berufsmoral der Richter“ als Gegenstand der wissenschaftlichen „richterlichen Ethik“ gelten kann, ist von Zeit und Ort abhängig. Er
IV. Normative richterliche Ethik
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hängt insbesondere von der jeweiligen Rechtskultur und der jeweils gepflegten grundlegenden Abgrenzung von Recht und (beruflicher) Moral ab. 21. Die bisherige Diskussion in Deutschland ist im Wesentlichen von richterlichen Beiträgen gekennzeichnet. Dabei wird sie teilweise als Abwehrdiskussion geführt. Allerdings gibt es auch unterschiedliche Versuche, durch Formulierungen von Werthaltungen bzw. Fragestellungen und Fallsituationen die richterethische Diskussion weiter zu fördern.
III. Methaethische Betrachtung 22. Die den Richtern durch die Verfassung „anvertraute“ Rechtsprechung, die innere Unabhängigkeit und der Grundsatz der nicht vollständig regelgeleiteten Gesetzesbindung für den Richter eröffnen jenseits des Rechts ein Feld „berufsmoralischer Bewährung“, setzen es sogar voraus. 23. Die Untersuchung und Aufstellung des bestehenden Katalogs rechtlich begründeter Amts- und Dienstpflichten des Richters macht deutlich, dass sein dienstliches und außerdienstliches Verhalten einer Fülle von Rechtspflichten unterworfen ist. Diese Pflichten dienen der umfassenden Sicherung einer uneingeschränkten Aufgabenerfüllung und des dafür notwendigen Vertrauens in ein unabhängiges und faires richterliches Handeln. Das Recht verengt mit seinen umfassend statuierten richterlichen Amtspflichten in Deutschland das Feld einer berufsmoralischen Pflichtenethik. 24. Die heteronome Vorgabe eines deontologisch ausgestalteten Richterkodex verstieße überdies gegen den Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit. 25. Der Richtereid hat eine besondere Bedeutung bei der Herausarbeitung einer richterlichen Ethik. Er macht deutlich, dass der Gesetzgeber vom Richter verlangt, ein Versprechen zu leisten, dass er die Fundamentalpflichten des richterlichen Berufs – seien sie rechtlich, seien sie rechtsethisch begründet – hält. Damit inkorporiert er in das Recht die berufsmoralischen Erwartungen an den Richter, eine bestimmte ethische Haltung in seinem Beruf einzunehmen, und verweist ihn gleichzeitig auf die Notwendigkeit, sein richterliches Verhalten stets an diesen Anforderungen zu messen.
IV. Normative richterliche Ethik 26. Der Raum für ein außerrechtliches deontologischen Normengefüge, also der Berufsmoral und einer sich auf sie beziehenden richterlichen Ethik, ist angesichts des dichten Netzes dieser Rechtspflichten zu eng. 27. Jenseits einer Pflichtenethik ist in der deutschen Rechtsordnung rechtlich und tatsächlich Raum für eine richterliche Tugendethik. Die berufsmoralischen
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G. Thesen der Arbeit
Tugenden können dabei aus den rechtsethischen Prinzipien der Verfassung sowie aus der Aufgabe des Richters als unabhängiger Entscheider abgeleitet werden, ohne dass die richterliche Ethik zu einem bloßen Annex der rechtlichen Vorgaben und des richterlichen Dienstrechts würde. 28. Zentrale Tugenden des Richters in diesem Sinne sind Rechtstreue, Fairness und die innere Unabhängigkeit. Die im Richtereid zur Grundlage der richterlichen Selbstverpflichtung gemachten Tugenden der Wahrheit und Gerechtigkeit stehen daneben, wie auch die richterlichen „Sekundärtugenden“ Sorgfalt und Disziplin sowie die zugewandte Distanz. Schließlich sind maßgebliche richterliche Tugenden die Mäßigung und der Mut. 29. Aus diesen Tugenden lassen sich für die einzelnen Handlungsfelder des Richters näher bestimmte Haltungen ableiten, ohne dass konkrete Ge- und Verbote formuliert werden müssten. Insofern bietet die richterliche Tugendethik hinreichend konkrete Vorgaben für die richterliche Berufsmoral, ohne die Autonomie des Richters über Gebühr einzuschränken und den Raum für ein angemessenes Verhalten im Einzelfall durch rigide Vorgaben zu sehr zu verengen.
V. Implementierung richterlicher Ethik 30. Für die Stärkung der richterlichen Berufsmoral steht eine Fülle bereits bewährter Mittel bereit, die allerdings die Erkenntnisse der richterlichen Ethik in stärkerem Maße berücksichtigen müssten. 31. Ein Ethikkodex ist nur unter folgenden Voraussetzungen sinnvoll: Es müsste sich um einen Ethikkodex nur für Richter handeln. Für eine Regelung berufsmoralischer Ge- und Verbote besteht kein praktisches Bedürfnis; sie wäre verfassungsrechtlichen Bedenken ausgesetzt. Für eine Zusammenstellung der Rechtspflichten bezüglich richterlichen Verhaltens in einem Compliance-Katalog (Verfassungs-, Dienst-, Prozess-, Straf-, Zivilrecht) erscheint für das Berufsfeld des Richters angesichts der dort zu erwartenden Rechtskenntnisse und -bindung der Richter nicht erforderlich. Für die interessierte Öffentlichkeit ergeben sie sich aus den bekanntgemachten Gesetzen. Ein Ethikkodex in Deutschland sollte sich auf die Formulierung beruflicher Haltungen beschränken und durch Fallbeispiele ergänzt werden. Der Tugendkodex sollte nicht nur von Richtern formuliert werden, sondern sich für eine Diskussion für „interessierte Kreise“ öffnen. 32. Eine formalisierte Ethikrüge stünde im Widerspruch zu einem Tugendkatalog.
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Beratung – ethische 76 f. Bereichsethik 22, 68 ff. – Entstehung 72 ff. Berichtspflicht 419 Berufsmoral 45, 70, 86 f. Beschleunigungsgebot 419, 439 f. Beurteilungen 414 f. Bulgarien 187 f. Bülow, Otto von 229 f. Caracas Declaration 123 f. CCJE 113, 133 ff. Charta der Richter in Europa 127 Chile 158 China 161 civil law 117 f. Code of Conduct for the United States Judges 147 ff., 195 Codes of Judicial Conduct 146 ff. Codice de deontologia (Italien) 164 ff. Codigo Iberoamericano de Ethica judicial 124 ff. common law 111 ff., 139, 177 f. Compliance 566, 574, 577 f. Controlling 33, 92 Dealen 34 Deontologie 53, 100 ff., 106, 138, 460 ff. – rechtliche Grenzen 360 ff., 461 ff. Deutscher Richterbund 292 ff. Dienstaufsicht 410 ff. Dienstpflichten siehe Amtspflichten Dienstrecht 378 ff. Dienstzeit 421 Dilemmata – moralische 41
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Sach- und Personenregister
Distanz 511 f. Disziplin 510 Disziplinarrecht 122, 129, 132, 136 ff., 148 f., 152 f., 159 f., 166 f., 184, 216 f., 232, 244, 251, 424 ff. Dolmetscher 23 EGMR 120 Eid siehe Richtereid Eid des Hippokrates 78 Einflussnahme – psychische 361 f. Empfehlung CM/Rec (2010)12 140 ff. Empfehlung Nr. R (94)12 128 ff., 194 England 177 f. ENJC 141 Ermahnung 415 f. Erreichbarkeit 368 Estland 178 f. Ethical Principles (Kanada) 152 ff. Ethik 61, 62 f. – allgemeine 48, 69 – angewandte 48, 68 ff., 479 ff. – Begriff 45 ff. – deskriptive 58 f. – Geschichte 57 – Grenzen 61 f. – Methoden 73 ff. – normative 59 f. – politische 71 – Prinzipien 73 ff. – spezielle 48 Ethikkodex 36, 107 ff., 137 f., 141, 565 ff. – Anwendungsbereich 195 f. – Implementierung 196 f. – Normcharakter 196 – Typen 190 ff. – Verfasser eines 361 ff. – Verschriftlichung 564 ff. – Vor- und Nachteile 567 ff. Ethikkommission, -rat, -komitee 67, 558 ff.
Ethikrüge 575 f. Ethikzirkel 302 ff., 556 ff. Eudämonie 58 Europäische Charta über die Rechtsstellung der Richterinnen und Richter 130 ff. Europäische Richtervereinigung 127 Europäischer Standard richterlicher Ethik 133 ff., 163, 194 Europäische Union 127 Europarat 127 Faires Verfahren 370 ff., 445 f. Fairness 371, 499 ff. Feuerbach, Paul Johann Anselm 228 Fortbildung 143 f., 379, 385, 554 f. Frankreich 168 ff. Fürsorgepflicht 447 f. Gerechtigkeit 78 f., 507 ff. Gesetzesbindung 218 f., 220, 228 ff., 233 f., 339 ff., 368 f., 384, 387 Gesetzlicher Richter 221 f., 224, 372 f., 448 Gesinnungsethik 71 Gewalt 22 Gewaltenteilung 368 f., 405 f. Gewissen 28, 46, 385 ff. Gewohnheit 46 Globalisierung 26 Glück 58 Guatemala 159 Haftungsrecht 439 ff. Haltung 46, 479 ff. – des Richters zu sich selbst 540 ff. – gegenüber den Prozessbeteiligten 513 ff. – gegenüber der Öffentlichkeit 517 ff. – gegenüber Kollegen und Mitarbeitern 526 ff. – im politischen Meinungskampf 523 ff. – zum Recht und der Rechtsidee 528 ff.
Sach- und Personenregister Handlungsspielräume 342 Hart, H. L. A. 64 Hinweispflicht 447 f. Implementierung 196 Individualethik 41, 71 Individualismus 27 Integrität 380 International Bar Association 120 f. Internationale Richtervereinigung – Richterdeontologie 121 f., 194 Internationaler Strafgerichtshof – Code of judicial ethics 119 f. Intervision 552 f. Italien 164 ff. Jellinek, Georg 66 Judical self restraint 25 Justizcontrolling 33 Justizgewährung 27, 367 f., 412 ff. Justizlehre 96 Kanada 151 ff., 561 f. Kant, Immanuel 63, 228 Kasuistik 77 Kelsen, Hans 64 Kernbereichslehre 416 f. Klugheit 74 Kommunikationsfähigkeit 514 ff. Korpsgeist 100 Korruption 111, 216 f., 380, 437 f. Kritikfähigkeit 522 f. Kuba 160 f. Kundenbefragung 33 Kundennähe 84, 91 f. Kunst – richterliche 89 f. Lateinamerika 123 ff., 156 ff. LAWASIA 126 f. Lebenskunst 59 Legitimität 39
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Leitbilddebatte 277 ff. Letztbegründung 482 ff. Litauen 179 f. London Declaration on Judicial Ethics 141 ff., 195 Macht 21, 142 Magna Charta der europäischen Richter 140 Mainzer Ethikrunde 306 ff. Mäßigung 511 f. – politische 136, 254 f., 257, 276 f., 523 ff. Mäßigungsgebot 238, 393 ff., 448 MEDEL 292 Mediation 34 Medien siehe Presse Metaethik 60 f., 319 ff. Methodenunsicherheit 23, 342 f. Methodenwahl 346 f. Misstrauen 21 Modellkodex 124 ff., 149 Montesqieu 218 Moral – Abgrenzung zum Recht 63 ff., 258 f., 320 ff. – Begriff 45 ff. – Begründung 28 Moraldilemmata 286 f. Moralität 47 Moralkodex 40 Moralphilosophie 52 Mut 510 f. Naturrecht 68 Nebentätigkeit 131, 136, 216, 277, 406 ff., 418, 537 f., 578 Neue Richtervereinigung 288 f. Neue Steuerungsmodelle 33, 92 Neurobiologie 56 Neuseeland 161 Norwegen 164
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Sach- und Personenregister
Oberste Richterräte 140 f. Öffentlichkeit 578 Ökonomisierung 32, 50 Opinions des CCJE 133 ff. Österreich 170 ff. Personalbedarfsberechnung 33 Pflicht 101 – zum fairen Verfahren 445 f. – zum geordneten Verfahren 446 – zur Öffentlichkeit 446 f. – zur Unparteilichkeit 448 ff. – zur Veröffentlichung 459 f. Pflichtenethik 53, 59, 100 ff. Philosophie – praktische 48 ff. – theoretische 48 ff. Polen 183 f. Politik 24 Presse 136, 143 f., 403 f., 455, 517 ff., 578 primum verum 76 Principios de Ethica Judical 125 f. Prinzipien von Bangalore 110 ff., 139, 195 Psychologie 54 f.
Qualitätsdiskussion 32, 90 f. Qualitätszirkel 302 ff., 556 f. Quantitätsdiskussion 91 ff. Rechtliches Gehör 374 f., 447 Rechtsbeugung 264 f., 432 ff. Rechtsbindung siehe Gesetzesbindung Rechtsethik 51, 79 ff., 489 ff. Rechtsfortbildung 349 ff. Rechtsfriede 23 Rechtsgehorsam 66 Rechtsgeschichte 197 ff. Rechtsidee 65 Rechtskultur 34, 35, 39 Rechtspflichten 319 ff.
Rechtsphilosophie 50 ff. Rechtspolitik 50 Rechtsprechung – Aufgabe und Funktion 325 f. – gute 94 f. – treuhänderische Ausübung 326 f. Rechtsprechungslehre 96 Rechtsprechungstheorie 96 Rechtspsychologie 54 Rechtsschutzgewährung 367 f. Rechtssoziologie 54, 312 ff. Rechtstechniker 25, 34 Rechtstheorie 51 Rechtstreue 28, 377, 495 ff. Rechtswissenschaft 62 f., 68 Residenzpflicht 216 Respekt 423 Richter – politisierende 25 Richterberuf – Geschichte 197 ff. Richter(leit)bild 32, 95 f., 277 ff. Richtereid 119 f., 205, 213 f., 233, 243 f., 250, 341, 381 ff. Richterfortbildung 302 Richterliche Ethik – Begriff 102 ff. – Implementierung 545 ff. – normative 467 ff. – Rechtsfreiheit 487 ff. – tugendethische 475 ff. – vergleichende 190 ff. Richterprivileg 443 Richterratschlag 291 f. Richterrecht 24 Richterskandal 73, 261 ff. Richterspiegel 77, 211 f., 258, 260, 288 ff. Richterstaat 24, 41 Richtertugenden 482 ff. Rousseau, Jean-Jacques 219 Rumänien 184 ff. Russland 188 f.
Sach- und Personenregister Sachverhaltsermittlung 341 f. Salzburger Beschlüsse (Österreich) 171 Schleswiger Ethikrunde 194, 303 ff. – Säulen richterlichen Handelns 293, 303 ff. Schlüsselqualifikationen 446, 515, 550 Schweden 163 Schweiz 174 ff., 562 f. Selbstberatung 120, 153, 195 Selbstverpflichtung 120, 153, 166, 184, 278, 381 Selbstverständnis – richterliches 95 f. Selbstverwaltung der Justiz 38, 256, 548 f. Singhivi Declaration 110 Sitte 46 – gute Sitten 67 Sittlichkeit 47 Slowakei 182 Slowenien 180 Sollensethik 101 Sorgfalt 510 Sozialethik 71 Sozialisation – richterliche 549 f. Sozialkompetenz 24, 379 Spezialethik 68 Sprachanalyse 60 Spruchrichter 104 Staatsphilosophie 51 Standesethik 98 Standesethos 47, 98 Standesrecht 98 Standesrichtlinien 362 f. Statut der iberoamerikanischen Richter 123 Strafrecht 432 ff. Strafvereitelung im Amt 436 f. Strebensethik 59 Streikverbot 381 Supervision 552 f Technik 26 – richterliche 89 ff.
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Teleologie 100 f. Thesen zur Diskussion richterlicher und staatsanwaltschaftlicher Berufsethik (DRB) 297 ff. Thomas von Aquin 203 f. Thomasius, Christian 63 Transparenzgebot 447 Trennungsthese 64 Treu und Glauben 67 Treuepflicht 377 Tschechien 182 Tugend 58 Tugendethik 53, 59, 100 ff., 106, 467 ff. Überzeugung – richterliche 341 f. UN siehe Vereinte Nationen Unabhängigkeit 328 ff., 366, 416 ff., 546 f. – äußere 332 f. – innere 333 ff., 501 ff. – institutionell-organisatorische 331 f. – persönliche 222 f., 224, 231, 234, 249, 332 f. – rechtsethische Bedeutung 328 ff. – sachliche 219 f., 221, 224, 231, 234, 243, 255, 332 Ungarn 180 f., 562 UNODC 111 ff. Unparteilichkeit 366, 391 Unpünktlichkeit 420 UN-Resolution 109 Urteilskraft 41, 62, 73 ff. Urteilsschelte 404 USA 83, 146 ff., 190 f. Utilitarismus 100 f. Venezuela 159 Verantwortung 21, 29, 380, 383, 492 ff. Verantwortungsethik 71 Vereinigte Staaten von Amerika siehe USA
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Sach- und Personenregister
Vereinte Nationen 108 ff. Verfassungstreue 377, 379, 384 Vergleichsverhandlungen 438 f. Verhaltenspflichten – rechtliche 87 ff. Verhaltensstandards – richterliche 135 f. Verschwiegenheit 409 Vertrauen 21, 24, 39, 324 ff., 380, 492 Verwaltungsethik 82 ff. Verwaltungshandeln – gutes 84 Voller persönlicher Einsatz 380 Vorhalt 415 f.
Wahrheit 504 ff. Wales 177 f. Weber, Max 230 f. Welser Erklärung (Österreich) 172 f. Wille – freier 56 – richterlicher 341 f. Willkür 23, 375 f. Wolff, Christian 218, 228 Zeiteinteilung 368 Zielvereinbarung 33 Ziviler Ungehorsam 30 Zwang 22