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German Pages 197 [202] Year 2016
GESCHICHTLICHE LANDESKUNDE
BAND 72
HERAUSGEBER: MICHAEL MATHEUS
FRANZ JOSEF FELTEN / MICHAEL MATHEUS (HG.)
RHEINHESSEN – IDENTITÄT – GESCHICHTE – KULTUR
FRANZ STEINER VERLAG STUTTGART
FRANZ JOSEF FELTEN / MICHAEL MATHEUS (HG.) RHEINHESSEN – IDENTITÄT – GESCHICHTE – KULTUR
GESCHICHTLICHE LANDESKUNDE
VERÖFFENTLICHUNGEN DES INSTITUTS FÜR GESCHICHTLICHE LANDESKUNDE AN DER UNIVERSITÄT MAINZ
BEGRÜNDET VON LUDWIG PETRY UND JOHANNES BÄRMANN WEITERGEFÜHRT VON ALOIS GERLICH UND FRANZ J. FELTEN HERAUSGEGEBEN VON MICHAEL MATHEUS
BAND 72
FRANZ JOSEF FELTEN / MICHAEL MATHEUS (HG.)
RHEINHESSEN – IDENTITÄT – GESCHICHTE – KULTUR Vorträge zum 10. Alzeyer Kolloquium des Instituts für Geschichtliche Landeskunde an der Universität Mainz e.V. in Zusammenarbeit mit dem Altertumsverein für Alzey und Umgebung e.V. und der Arbeitsgemeinschaft Rheinhessische Heimatforscher e.V. sowie ergänzende Beiträge zur rheinhessischen Geschichte
FRANZ STEINER VERLAG
Publikation zum Jubiläum „200 Jahre Rheinhessen“ im Jahr 2016
Umschlagbild:
Oben links: „Rheinhessen schwingt“ (aus: „Weinkulturlandschaft Rheinhessen. Wege zur Verbesserung der Erlebbarkeit“, hg. v. DLR Rheinhessen-Nahe-Hunsrück, Bad Kreuznach); oben rechts: Arbeiterinnen in einer Wormser Lederfabrik, ca. 1924 (Stadtarchiv Worms); Unten
links: Die Mainzer Synagoge von 1853 in der Vorderen Judengasse (Stadtarchiv Mainz); unten
rechts: Flomborn, Ortsmitte mit Rathaus und Gehöft der Barockzeit (Archiv GDKE/Landesdenkmalpflege).
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© Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2016 Druck: Offsetdruck Bokor, Bad Tölz
Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany.
ISBN 978-3-515-11600-8 (Print)
ISBN 978-3-515-11602-2 (E-Book)
Inhaltsverzeichnis Vorwort................................................................................................................. 7 Gunter Mahlerwein Rheinhessen als Raum: Raumbildungsprozesse im 18., 19. und 20. Jahrhundert................................................................................. 9 rainer Karneth Der Rheinhessen Identität (?) – Regionale Identitäten zwischen „Volksgeist“ und Event. ..................................................................... 23 rudolf Post Dialekt und Dialektbewusstsein in Rheinhessen ............................................... 45 dieter KrienKe Zwischen Klassizismus und Traditionalismus – Baukultur und Baupolitik in der Provinz Rheinhessen ...................................... 59 Gunnar schwartinG Die Gemeindeordnung von 1821 im Großherzogtum Hessen: ein Neuanfang für Rheinhessen ......................................................................... 81 otto schätzel Rheinhessen – Weinregion mit Tradition ........................................................... 93 anton Maria KeiM Die rheinhessischen jüdischen Gemeinden unter dem Eindruck der Märzrevolution........................................................................................... 101 helMut schMahl Die rheinhessische Auswanderung nach Nordamerika .................................... 111 hedwiG Brüchert Rheinhessische Städte in der Industrialisierung – Vorreiter beim Arbeiterschutz und in der kommunalen Wohnungsfürsorge ............................ 135 MarKus würz Der Aufstieg der NSDAP in Rheinhessen 1922 bis 1933 ................................ 151 christina nieM „Die Macht aus Rheinhessen“. Zur Formierung regionaler Identität bei Fans des 1. FSV Mainz 05 ......................................................................... 165
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Inhaltsverzeichnis
VolKer Gallé Exil der Begeisterung und neues Staunen – Rheinhessische Mentalitätsmuster seit der französischen Revolution ...................................... 177 Die Autorinnen und Autoren ............................................................................ 195 Bildnachweis .................................................................................................... 197
Vorwort Rheinhessen wurde als Ergebnis der Verhandlungen auf dem Wiener Kongress im Jahr 1816 als Provinz des Großherzogtums Hessen-Darmstadt künstlich geschaffen – in einem Raum, dessen Teile bereits auf eine viele Jahrhunderte alte bedeutende Geschichte und Kultur unter unterschiedlichen Herrschaften zurückblickten. Es ist daher nicht verwunderlich, dass sich die meisten rheinhessischen Landeskinder schwer taten, sich mit ihrem neuen Staatsgebiet zu identifizieren. Im Vorfeld des Jubiläums „200 Jahre Rheinhessen“ setzten sich der Altertumsverein für Alzey und Umgebung e.V., die Arbeitsgemeinschaft Rheinhessische Heimatforscher e.V. und das Institut für Geschichtliche Landeskunde an der Universität Mainz e.V. beim zehnten „Alzeyer Kolloquium“ mit der Geschichte und verschiedenen Aspekten des Lebens in diesem Landstrich und seiner Menschen auseinander. Das Institut für Geschichtliche Landeskunde übernahm die Aufgabe, die Vorträge zu publizieren, wobei der Band noch um einige ergänzende Beiträge zu weiteren wichtigen Themen aus der Geschichte Rheinhessens erweitert werden konnte. Der grundsätzlichen Frage, ob es überhaupt so etwas wie eine rheinhessische Identität gibt, geht Rainer Karneth in seiner Betrachtung nach und lässt deren Beantwortung am Ende offen. Auch Volker Gallé beschäftigt sich intensiv mit der Befindlichkeit der Menschen dieser Region. Er spürt akribisch den Mentalitätsmustern der rheinhessischen Bevölkerung seit der französischen Revolution nach und belegt den auf dem linken Rheinufer herrschenden freiheitlichen Geist anhand zahlreicher literarischer Beispiele. Dass heute der Sport viel zur Identifikation mit einer Region beitragen kann, macht Christina Niem in ihrem Beitrag deutlich, der die Formierung einer regionalen Identität am Beispiel des Fußballvereins Mainz 05 untersucht. Die Problematik der Raumbildung in einer Staatsprovinz, bei der es sich nicht um „eine gewachsene Region, entstanden durch die vielfältigen strukturprägenden Interaktionen seiner Bewohnerinnen und Bewohner“ handelt, sondern um „die Kreation einer Provinz durch die verhandelnden Großmächte beim Wiener Kongress, über die Köpfe der Menschen vor Ort hinweg, aber auch gegen den Willen des zukünftigen Landesherrn“, steht bei Gunter Mahlerwein im Zentrum des Interesses. Ebenso wie die Existenz einer rheinhessischen Identität diskussionswürdig ist, kann auch ein rheinhessischer Dialekt nicht nachgewiesen werden, sondern es gibt in dieser Provinz mehrere, mit den jeweiligen Nachbarregionen korrespondierende Dialekte, wie Rudolf Post überzeugend ausführt. Trotz des ungewollten und künstlichen Entstehens des Staatsgebildes entwickelten sich im Großherzogtum Hessen einige Verwaltungsbereiche äußerst effizient und brachten auch für die Provinz Rheinhessen große Fortschritte. Gunnar Schwarting erläutert dies anhand der großherzoglich hessischen Gemeindeordnung von 1821, die auch für die Provinz Rheinhessen im kommunalpolitischen Bereich einen wichtigen Neuanfang und eine Modernisierung bedeutete. Dieter Krienke be-
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Vorwort
schreibt mit vielen Einzelbeispielen, die das Bild der rheinhessischen Dörfer durch die Tätigkeit von herausragenden Provinzialbaumeistern und anderen staatlichen Baubeamten nachhaltig geprägt wurde, während Hedwig Brüchert anhand der städtischen Arbeiterschutzanstalten – dazu zählen Gewerbegerichte, Arbeitsämter und die Arbeitslosenfürsorge – sowie der Wohnungsfürsorge besonders in den Städten Mainz und Worms die fortschrittliche kommunale Sozialpolitik in der Provinz Rheinhessen vor Augen führt. Wie Otto Schätzel ausführt, ist „Rheinhessen (…) seit Jahrtausenden aufgrund seiner natürlichen Ressourcen für eine intensive agrarwirtschaftliche Nutzung prädestiniert“, wobei der Wein natürlich bis heute von größter Bedeutung ist, stellt Rheinhessen doch das größte Weinanbaugebiet in Deutschland dar. Ebenso lange lebten Juden hier am Rhein, wobei in Anton Maria Keims Beitrag die Epoche der jüdischen Emanzipation im Großherzogtum Hessen und die damit zusammenhängenden Debatten im Darmstädter Landtag um die Zeit der Revolution von 1848/49 im Mittelpunkt stehen. Wir sind dem Autor, einem geschätzten Experten für die Geschichte der Juden und der demokratischen Bewegungen in Rheinhessen, dankbar für die Genehmigung zum Abdruck dieses Textes. Dr. Anton Maria Keim starb am 9. September 2016. Doch Rheinhessen war keine Insel der Glückseligen, sondern erlebte Hunger, Kriege, Elend und politische Radikalisierung ebenso wie alle anderen Regionen in Deutschland. Im vorliegenden Band können nur zwei Beispiele aus diesem vielfältigen Themenbereich angesprochen werden. Vom wirtschaftlichen Zwang zur Auswanderung in den wiederkehrenden Notzeiten im 19. Jahrhundert und dem Schicksal der Rheinhessen in Amerika erzählt der Beitrag von Helmut Schmahl, während Markus Würz den Aufstieg der NSDAP von einer unbedeutenden Splittergruppe bis zur stärksten Partei in Rheinhessen bei der Landtagswahl vom November 1931 beschreibt. Wir danken allen Autorinnen und Autoren, dass sie ihre Manuskripte zur Verfügung gestellt haben. Für die großzügige finanzielle Unterstützung bei der Drucklegung sprechen wir besonders Herrn Peter E. Eckes unseren herzlichen Dank aus. Er hat neben der Förderung vieler anderer Projekte anlässlich des 200-jährigen Bestehens von Rheinhessen auch das Erscheinen dieses Bandes möglich gemacht. Danken möchten wir auch nochmals den Organisatoren und Unterstützern des zehnten „Alzeyer Kolloquiums“, insbesondere der Verbandsgemeinde Alzey-Land und der Volksbank Alzey, sowie Dr. Hedwig Brüchert für die redaktionelle Bearbeitung der Beiträge und die Erstellung der Druckvorlagen. Wir sind sehr froh, dass der vorliegende Band im Jubiläumsjahr erscheinen kann, und hoffen, dass er hilft, einige der Fragen nach einer rheinhessischen Identität, die im Zusammenhang mit den Feierlichkeiten aufgeworfen wurden, zu beantworten. Mainz, September 2016
Die Herausgeber
Gunter Mahlerwein
Rheinhessen als Raum: Raumbildungsprozesse im 18., 19. und 20. Jahrhundert1 Erlauben Sie mir einen ungewöhnlichen Einstieg in das Thema. Als Historiker erlebe ich, wie ein Teil der eigenen Lebensspanne, nämlich die sechziger und siebziger, teilweise sogar schon die achtziger Jahre als für die Zeitgeschichtsforschung relevante Jahrzehnte behandelt und beschrieben werden. Etwa 30 Jahre, so die Faustregel, müssen vergehen, bis die nötige historische Distanz hergestellt ist, um Themen geschichtswissenschaftlich zu behandeln. Vertreter meiner Generation können also schon als Zeitzeugen befragt werden. Methodisch eigentlich unzulässig, aber anstelle einer zeitaufwändigen Interviewaktion arbeitsökonomisch geboten, stelle ich daher meine eigenen Erfahrungen und Wahrnehmungen zum Thema Raumbildung an den Beginn meiner Ausführungen. Geboren im Elternhaus in Gimbsheim sind meine ersten räumlichen Erinnerungen durch die Wahrnehmung verschiedener Zimmer, Küche, Flur, Schlafzimmer, Wohnstube und des damals noch als landwirtschaftlicher Mischbetrieb geführten Hofes mit den entsprechenden Nebengebäuden geprägt. Weitere Stationen räumlicher Erfahrung waren der Kindergarten in der Hauptstraße, die noch zum Spielen genutzten Straßen um unser Haus, das Haus meines Großvaters, schon jenseits der Hauptstraße, am Rand des für mich als Unterdörfler eher mysteriösen Oberdorfes gelegen, der Kindergottesdienst in der nahe gelegenen Kirche, dann die Volksschule, wie Elternhaus und Kirche ebenfalls im Unterdorf. Noch ominöser als das Oberdorf mit seiner Zoresgasse und Schönweibergasse erschien das dahinter liegende „Neue Viertel“ topografisch und wohl auch sozial und kulturell weit entfernt. Von meinen Eltern bewirtschaftete Äcker, Wiesen und Weinberge in Gimbsheim, Alsheim und Hangen-Wahlheim rundeten meinen Bewegungsradius ab. Mit der Anschaffung eines ersten Autos kam jetzt die damalige Kreisstadt Worms stärker in den Blick. Dort ging man einkaufen und zum Kieferorthopäden, dort arbeitete mein Vater nach dem Wechsel von der Vollerwerbs- zur Nebenerwerbslandwirtschaft in einer chemischen Fabrik, dort verbrachte ich einige Wochen im Krankenhaus. Das Auto ermöglichte auch regelmäßige Sonntagsbesuche bei der Nordpfälzer und der Odenwälder Verwandtschaft. Der Eintritt in den Turnverein, mehr noch der in den Turner-Spielmannszug, erweiterte meine geografischen Erfahrungen durch die Teilnahme an Turnfesten und „Wertungsspielen“ in Orten wie Frei-Laubersheim, 1
Dieser Text wurde von mir 2011 als konzeptuelle Vorüberlegung zu meiner seinerzeit geplanten Monografie zur rheinhessischen Geschichte verfasst. Diese ist mittlerweile erschienen: Gunter Mahlerwein: Rheinhessen 1816–2016. Die Landschaft – Die Menschen – und die Vorgeschichte der Region seit dem 17. Jahrhundert. Mainz 32016. Eine erste Fassung des Textes erschien in: Mitteilungsblatt zur rheinhessischen Landeskunde. Neue Folge 13 (2011), S. 5–19. Die Vortragsform wurde beibehalten.
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Gunter Mahlerwein
Blödesheim oder Wies-Oppenheim beträchtlich. Der Wechsel zur Realschule nach Nierstein konfrontierte mich mit Kindern aus bis dahin unbekannten Dörfern wie Selzen, Köngernheim oder Lörzweiler. Alzey übrigens war in dieser Zeit als Begriff doppelt besetzt. Der Ausspruch „Du kommst noch nach Alzey“ war als Warnung vor abweichendem Verhalten, etwa vor zu intensivem Bücherlesen, zu verstehen. „Nach Alzey fahren“ hieß Familienausflug zum Massa, wo wiederum zufällig, aber häufig die Nordpfälzer Verwandtschaft getroffen wurde. Einen Grund, in die Stadtmitte vorzudringen, gab es bis in die frühen achtziger Jahre nicht. Die Chronik meiner räumlichen Erkundungen und Vergewisserungen ließe sich noch lange fortführen. Hinzuzufügen wären noch die Erweiterungen von – im wörtlichen Sinne – Vorstellungsräumen mit medialer Hilfe in Form von Tageszeitung, Büchern, Radio, Fernseher, Telefon. Warum erzähle ich Ihnen das alles? Um Sie vertraut zu machen mit neueren Überlegungen zur Raumbildung. Jeder von Ihnen könnte ähnliche oder abweichende Geschichten von seiner räumlichen Sozialisation erzählen, könnte narrative Landkarten der Aneignung seiner Umgebung zeichnen. Mit der Sammlung dieser Geschichten befänden wir uns in der praktischen Umsetzung auch schon nicht mehr ganz neuer Diskussionen in der Soziologie und der Geografie, die auch auf die Fragestellungen der Geschichtswissenschaft einwirken. Danach geht es bei der Definition von Raum weniger um dessen physische Merkmale als vielmehr um dessen Konstruktion durch verschiedene Akteure. Raum ist demnach nur als „sozial hervorgebrachter Raum“, als „Produkt gesellschaftlicher Prozesse“ vorstellbar. Raum ist nicht vorgegeben, sondern wird durch Interaktionen, durch Handlungen und Kommunikation hergestellt und wirkt aber auch prägend auf die Akteure zurück. Für die Beschreibung von Raum erscheint daher die Zusammenschau der räumlichen Praxis der Akteure, also ihre raumprägenden und ihre vom Raum geprägten Aktionen und Interaktionen, ihre Wahrnehmung und ihre Vorstellungen von Raum notwendig. Es interessieren die Handlungen und Kommunikationen, durch die räumliche Beziehungen verdichtet werden, durch die sich räumliche Strukturen ausprägen, die wiederum zurückwirken auf die Handlungsweisen und Kommunikationsmuster, und die somit als Teil von Raumbildungsprozessen zu verstehen sind. Über das direkte lokale Umfeld hinausgehende räumliche Beziehungen können bei entsprechender Verdichtung zur Ausbildung regionaler Strukturen führen. Region wäre danach ein Ergebnis von Raumbildung durch Verknüpfungen und Vernetzungen sozialen Handelns.2 Die Entstehungsgeschichte von Rheinhessen kann kaum als Beispiel für einen Raumbildungsprozess nach diesen Kategorien herhalten. Wir reden hier nicht über 2
Aus der Fülle der Literatur zu Raum und Region wurden zur theoretischen Unterfütterung herangezogen: Martina Löw: Raumsoziologie. Frankfurt a.M. 2001; Markus Schroer: Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums. Frankfurt a.M. 2006; Alexander C.T. Geppert/Uffa Jensen/Jörn Weinhold: Verräumlichung. Kommunikative Praktiken in historischer Perspektive. In: Alexander C.T. Geppert/Uffa Jensen/Jörn Weinhold (Hg.): Ortsgespräche. Raum und Kommunikation im 19. und 20. Jahrhundert. Bielefeld 2005, S. 15–50; Thomas Bürk: Raumtheoretische Positionen in angloamerikanischen und deutschsprachigen sozial- und kulturwissenschaftlichen Publikationen seit 1997. Ein Literaturbericht. Berlin 2004/2006, online unter: http://www.forschungsnetzwerk.at/downloadpub/lit-raumtheorie.pdf (25.3.2016).
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eine gewachsene Region, entstanden durch die vielfältigen strukturprägenden Interaktionen seiner Bewohnerinnen und Bewohner, sondern wir reden über die Kreation einer Provinz durch die verhandelnden Großmächte beim Wiener Kongress, über die Köpfe der Menschen vor Ort hinweg, aber auch gegen den Willen des zukünftigen Landesherren, des hessen-darmstädtischen Großherzogs Ludwig. Als Ausgleich für das Hessen-Darmstadt entzogene Westfalen war 1816 eine neue linksrheinische hessische Provinz geschaffen worden, die nach Nachverhandlungen in Paris und Frankfurt „die Stadt Mainz und ihr Gebiet, mit Kastel und Kostheim“, den vormaligen Kreis Alzey ohne den Kanton Kirchheim-Bolanden und die ehedem zum Kreis Speyer zählenden Kantone Worms und Pfeddersheim umfasste. In Abgrenzung zu den rechtsrheinischen Provinzen Starkenburg und Oberhessen wurde sie 1817 erstmals in der Mainzer Zeitung, 1818 dann auch offiziell RheinHessen genannt.3 Die am Reißbrett geschaffene Staatsprovinz muss – wie viele andere Gebietskreationen dieser Jahre auch – als territoriales Kunstprodukt gelten. Trotzdem feiern wir nun „200 Jahre Rheinhessen“, halten wir Tagungen zur rheinhessischen Geschichte ab, gibt es Rheinhessenkrimis, die zumindest auch nicht schlechter als die Regionalkrimis anderer Gegenden sind. Wäre Rheinhessen als Verwaltungseinheit lediglich als rein institutionalisierte Region zu charakterisieren, wäre eine Beschäftigung mit seiner Geschichte und Eigenart kaum notwendig. Es scheinen doch aber die künstlichen Grenzziehungen, mit denen der Raum – in der Sprache der Raumtheoretiker als dreidimensionaler Behälter oder Container – definiert wurde, ihrerseits anders gelagerte Raumbildungsprozesse in Gang gesetzt zu haben. Wenn Raum vor allem als Konstruktion von Akteuren verstanden wird, dann ist eine Vielzahl von nacheinander und nebeneinander verlaufenden und sich überlagernden Raumbildungen vorstellbar. Individuen und Gruppen leben in und wirken mit in verschiedenen Räumen. Zu denken wäre an historische Räume, politischterritoriale Räume, Landschaftsräume, Wirtschaftsräume, Verkehrsräume, Kommunikationsräume, kulturell geprägte Räume, konfessionell geprägte Räume, Sprachräume. Es stellt sich die Frage, welchen Veränderungen diese vielfältigen Raumbezüge durch die Festlegung eines politisch-administrativ definierten Raums im Jahr 1816, ausgesetzt waren, welche Potenziale für neue Raumbildungen, aber auch welche Widerstände durch diesen politischen Akt der „Provinzialisierung“ frei gesetzt wurden und für welche der Raumbezüge die territoriale Neuordnung weitgehend folgenlos blieben. Vor der Betrachtung der „konstruierten“ Räume steht die des physischen Raumes. Trotz aller menschlichen Eingriffe können die naturräumlichen Bedingungen der Landschaft, die geologischen, topographischen und klimatischen Verhältnisse, als weitgehend vorgegeben verstanden werden. Die Lage am Rhein, der Grenze und Verkehrsweg zugleich war, die Gunst der Bodenverhältnisse und des Klimas und die abgesehen von der Rheinniederung vorherrschende hügelige Landschaftsstruktur bestimmten Siedlungsweise, demografische, ökonomische, territoriale und verkehrstechnische Entwicklungen wesentlich mit. Hier kann für den Zuschnitt der 3
Mahlerwein, Rheinhessen (wie Anm. 1), S. 16–18.
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Gunter Mahlerwein
neuen Provinz eine vergleichsweise hohe Homogenität festgestellt werden, die den Verlauf verschiedener Raumbildungsprozesse deutlich beeinflusste.4 Als historischer Raum soll in diesem Zusammenhang ein Raum bezeichnet werden, dessen Einwohner gemeinsame Erinnerungen und Erfahrungen teilten, aus ihrer eigenen Lebenszeit oder im Sinne des kollektiven Gedächtnisses vermittelt durch Erzählungen und sinnliche Wahrnehmungen über einen längeren Zeitraum hinweg. Die Bewohner der neuen Provinz Rheinhessen hatten in den Jahrzehnten vor 1816 die Revolutionskriege, die Besatzungen, das Experiment der Mainzer Republik, die Eingliederung in den französischen Staat, die französischen Reformen, die Niederlage Napoleons, die nachrückenden Truppen und erneuten Besetzungen erlebt. Die Verwüstungen der Kriege des 17. Jahrhunderts, des Dreißigjährigen und des Pfälzischen Erbfolgekrieges, von denen weite Teile des späteren Rheinhessen weitaus stärker betroffen waren als viele andere Gebiete, teilten sich den Menschen um 1800 – wenn nicht mehr über familiäre Erzähltraditionen – so doch immer noch durch stehen gebliebene Ruinen und Baulücken in Dörfern und Städten mit.5 Eher noch stärker als durch die Erinnerung an ereignisgeschichtliche Markierungen dürften die Bewohner eines historischen Raumes durch strukturelle Traditionen geprägt worden sein. Seit dem Mittelalter war die Gegend durch kleinteilige Strukturen gekennzeichnet. Besitz- und Herrschaftsrechte waren nach der Auflösung der älteren Grundherrschaft aufgesplittert und auf eine in der Praxis oft kaum noch zu überschauende Vielzahl von Herrschaftsträgern aufgeteilt. Ein großer Anteil der landwirtschaftlichen Flächen war bäuerliches Eigentum, das nach den Regeln der Realerbteilung von Generation zu Generation neu verteilt wurde. In Städten und Dörfern hatte sich allen Anpassungen an landesherrliche Forderungen zum Trotz bis zum Ende des Alten Reichs ein hohes Maß an kommunaler Autonomie erhalten, das sich in einer breiten Partizipationsbereitschaft weiter Bevölkerungsgruppen an Fragen des öffentlichen Interesses äußerte. Zersplittert war auch die territoriale Geschichte des Raums. Zwar hatte sich Kurpfalz während des Prozesses der Territorienbildung im späten Mittelalter in großen Bereichen durchsetzen können, während der Einflussbereich von Kurmainz im Wesentlichen auf den nördlichen Bereich beschränkt war. Durchsetzt wurden diese beiden Blöcke aber von allerlei gräflichen, reichsritterschaftlichen und sonstigen adligen Besitzungen, von Ganerbschaften und von Reichsstädten, was das „Durchregieren“ im Alltag erheblich erschweren konnte. Überdies konnten auch von der ortsherrschaftlichen Bindung abweichende leib- und gerichtsherrschaftliche Abhängigkeiten einzelner Personen und Personengruppen innerhalb der Gemeinden für Verwirrung sorgen. Bis in das 18. Jahrhundert kam es immer noch zu Wechseln in den Ortsherrschaften, ganz abgesehen von Auseinandersetzungen um einzelne Herrschaftsrechte.6 Die Eingliederung in das revolutionäre, dann napoleonische Frankreich ab dem Spätjahr 1797, mit der die politische Zugehörigkeit sowie die administrative Erfassung des gesamten Raumes vereinheitlicht wurde, stellte daher einen erheblichen, wenn nicht sogar den wichtigsten Einschnitt in der Geschichte 4 5 6
Mahlerwein, Rheinhessen (wie Anm. 1), S. 21f. Mahlerwein, Rheinhessen (wie Anm. 1), S. 28. Mahlerwein, Rheinhessen (wie Anm. 1), S. 28–36.
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dieses Raumes dar. Als Teil des Département Donnersberg mit der Hauptstadt Mainz stand das Gebiet des späteren Rheinhessen nun erstmals in einem staatlichen Zusammenhang.7 Die Bildung der Provinz Rheinhessen war daher keine Vereinigung, sondern vielmehr eine Ausgliederung und Abtrennung von teilweise Jahrhunderte alten räumlichen Verbindungen, etwa zur jetzt ebenfalls neu definierten Pfalz. Die Territorialgeschichte des Raumes wirkte aber noch lange nach, zum Teil bis heute. Am deutlichsten ist das an der Weiterexistenz konfessionell unterschiedlich geprägter Räume zu erkennen. Trotz aller Wanderungsbewegungen sind bis heute die kurmainzischen Gemeinden als überwiegend katholische, die kurpfälzischen als überwiegend protestantische Dörfer zu charakterisieren. Dass etwa das katholische Worms-Abenheim, in seiner Umgebung „Klein-Rom“ genannt, immer noch überdurchschnittlich „schwarz“ wählt, vor allem aber stolz darauf sein kann, 1933 innerhalb des Landkreises Worms die wenigsten Stimmen für die Nationalsozialisten abgegeben zu haben, ist zweifelsohne mit der konfessionellen Prägung seiner Bevölkerung aufgrund der ehemaligen katholischen Ortsherrschaft der Freiherren von Dalberg zu begründen. Die konfessionellen Grenzen wurden nach dem Dreißigjährigen Krieg durchlässiger. Zuwanderungen aus der Schweiz, den Niederlanden, den Mittelgebirgsregionen, aus Frankreich und Italien wurden von den Landesherren forciert, um durch die Peuplierung das Land wieder aufzubauen und Steuereinnahmen zu generieren. Vormals konfessionell einheitliche Gemeinden wurden zwei- und dreikonfessionell. Zu den katholischen, reformierten und lutherischen Bewohnern sind noch religiöse „Splittergruppen“ zu rechnen, allen voran die wegen ihrer wirtschaftlichen Erfolge hervorgehobenen Mennoniten. Große jüdische Gemeinden mit langer Tradition in den Städten, aber auch viele jüdische Familien in den Landgemeinden runden das Bild einer religiösen und konfessionellen Vielfalt in diesem Raum ab, die trotz aller Probleme und Spannungen im Alltag zu einem hohen Maß an gegenseitiger Toleranz beitrug.8 Ohne soziale Unterschiede kleinreden zu wollen, lässt sich auch für die Gesellschaftsstruktur in diesem Raum feststellen, dass es zwar sehr wohl Unterschiede zwischen armen und reichen Familien gab, gut nachvollziehbar an heute noch stehenden prächtigen Hofreiten und kleinen Tagelöhnerhäusern, dass aber aufgrund der Realerbteilung in den Dörfern, des für eine halbwegs auskömmliche Wirtschaft vergleichsweise geringen Landbedarfes und der Möglichkeit der kollektiven Nutzungen die Differenzen nicht so stark ausgeprägt waren, auch wenn Schilderungen, wie die eines Hundertjährigen, wie sie der Nieder-Saulheimer Philosophieprofessor, Bürgermeister und Landwirt Neeb 1840 wiedergab, vielleicht etwas zu idyllisierend wirken: „Es gab damals außer den adelichen Grundbesitzern keine Reiche, aber auch keine Armen, die sich wie heute hungerig zu Bette legen.“9 Die bereits erwähnten häufigen Zuwanderungen lassen es legitim erscheinen, die Einwohnerschaft ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts und durch das ganze 18. Jahrhun7 8 9
Mahlerwein, Rheinhessen (wie Anm. 1), S. 103. Mahlerwein, Rheinhessen (wie Anm. 1), S. 70–78. Mahlerwein, Rheinhessen (wie Anm. 1), S. 66–68; Johannes Neeb: Die Abschaffung des Bracheliegens einzelner Fluren. Von ihrer Schattenseite betrachtet. In: Zeitschrift für die landwirtschaftlichen Vereine des Großherzogthums Hessen 10 (1840), S. 518–521.
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dert hindurch als Einwanderungsgesellschaft mit hohem Integrationspotenzial zu bezeichnen. Zuckmayers berühmtes Wort von der Völkermühle meint nichts anderes. Das natürliche Bevölkerungswachstum des 18. Jahrhunderts und die hohe Zuwanderungsrate führten dazu, dass das spätere Rheinhessen bereits um 1800 unter den ländlich geprägten Regionen Deutschlands die höchste Bevölkerungsdichte aufzuweisen hatte.10 Diese Faktoren prägten auch den Wirtschaftsraum. Die große Mehrheit in Stadt und Land wirtschaftete im 18. Jahrhundert auskommensorientiert, in der Landwirtschaft vorrangig für die Eigenversorgung und zur Zahlung der Belastungen, innerhalb des Zunftsystems in den Städten zur Erarbeitung der „Nahrung“ vorwiegend für den innerstädtischen Markt. Trotz der hohen Bevölkerungszahlen sind weder in den Städten Manufakturen in größerem Ausmaß zu finden, noch bildete sich auf dem Land eine mit der Entwicklung in anderen Regionen vergleichbare Protoindustrie aus. Dennoch galt das kurpfälzische Oberamt Alzey als die Kornkammer der Pfalz. Der gute Boden, das günstige Klima und ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts insbesondere durch die Mennoniten vermittelte innovative Methoden führten doch bei der Minderheit der größeren Bauern zu erheblichen Überschüssen, die über Märkte etwa in Alzey, Oppenheim oder Frankenthal verkauft wurden. Der Rhein spielte natürlich als Transportweg für den Getreidehandel, vielleicht noch mehr für den Weinhandel eine eminent wichtige Rolle. Abgesehen von den flussabwärts gelegenen Absatzgebieten orientierte sich der Warenverkehr immer auch stark ins Rechtsrheinische. So kauften Getreidehändler aus Darmstadt und Frankfurt auf dem Oppenheimer Fruchtmarkt den umliegenden Bauern ihre Erzeugnisse ab.11 Die Mainzer städtischen Großhändler als Elite der Kaufmannschaft waren Teil länderübergreifender Netzwerke. Aber auch Kaufleute, die vorwiegend die lokale städtische Nachfrage bedienten, verfügten über weit gestreute Kontakte, wie etwa die Stationen Heidelberg, Straßburg, Hamburg und Erfurt eines Wormser Tuchhändlers aus dem 17. Jahrhundert zeigen.12 Der Rhein prägte den Verkehrsraum, darüber hinaus kann die weitgehend parallel verlaufende Landstraße zwischen Worms, Mainz und Bingen, Teil der uralten Straße von Basel bis Nimwegen, als wichtigste Nord-Südverbindung gelten. Bereits im 18. Jahrhundert zumindest teilweise „chaussiert“ waren Verbindungen von Pfeddersheim nach Alzey und Kreuznach als Teil der Achse Mannheim-Koblenz oder von Mainz bis Alzey. Wie an Karten des späten 18. Jahrhunderts unschwer zu erkennen, verband ein dichtes Wegenetz alle Gemeinden über die Territorialgrenzen hinweg. Es kann also durchaus von einer nach innen und außen (nach den Maßstäben des späteren Rheinhessen) gut erschlossenen Region gesprochen werden, wenn auch der Zustand vieler Straßen und Wege oft schlecht war und die territoriale Zersplitterung manche Schwierigkeiten in der Straßenführung nach sich 10 11 12
Mahlerwein, Rheinhessen (wie Anm. 1), S. 63. Mahlerwein, Rheinhessen (wie Anm. 1), S. 78–82. Mahlerwein, Rheinhessen (wie Anm. 1), S. 83–87; Gunter Mahlerwein: Die Reichsstadt Worms im 17. und 18. Jahrhundert. In: Gerold Bönnen (Hg.): Geschichte der Stadt Worms. Stuttgart 2005, S. 291–352, hier S. 339.
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zog.13 Der Rhein stellte keine Grenze dar. Das kann nicht nur am Handel beobachtet werden, sondern auch an vielfältigen Kontakten gerade der Rheinanliegergemeinden, die z. B. in Notsituationen wie im Pfälzischen Erbfolgekrieg fast geschlossen über den Rhein flüchteten und im Rechtsrheinischen für längere Zeit ausharrten.14 Was veränderte sich nun durch den Anschluss an Frankreich an diesen räumlichen Zuschreibungen? Zunächst natürlich der territoriale Bezug. Erstmals wurde der Raum des späteren Rheinhessen innerhalb des größeren departementalen Zusammenhangs politisch und administrativ zusammengefasst. Das bedeutete den Wegfall vieler Differenzen, was den alltäglichen Austausch vereinfachte: die Vereinheitlichung von Verwaltungsstrukturen, Steuern und Abgaben, den Wegfall von Zollbeschränkungen innerhalb dieses Gebietes, die Einführung gemeinsamer Maße und Gewichte und vieles mehr. Der Verkehrs- und Wirtschaftsraum wurde neu ausgerichtet in Richtung Frankreich. Exemplarisch kann dafür die 1809 begonnene Anlage der – natürlich auch für militärische Zwecke vorgesehenen – Pariser Straße von Mainz über Alzey, Kirchheimbolanden, Kaiserslautern und Homburg genannt werden.15 Die Gliederung des Departements in Arrondissements, Kantone und Gemeinden ließ nun erstmals administrative überlokale Zusammenhänge aufgrund der geografischen Lage der Gemeinden entstehen. Besonders die nach dem Prinzip der zentralen Orte praktizierte Zusammenfassung mehrerer Gemeinden zu Kantonen führte zu einer Verdichtung der Kontakte, gerade in den ersten Jahren, als die Munizipalverwaltungen der Kantone aus den Agents der beteiligten Dörfer und Städte gebildet wurden. Inwieweit das außer für die dörflichen und regionalen Amtsträger auch für andere Personengruppen galt, wäre noch näher zu untersuchen.16 Die in den Kantonshauptorten zu organisierenden Nationalfeste, etwa das Fest des Ackerbaus, zielten auf die Teilnahme vieler Kantonseinwohner und könnten, auch wenn sie nicht immer im Sinne der Erfinder umgesetzt wurden, als eine neue Form der überlokalen Kommunikation verstanden werden. Von hoher Bedeutung für den historischen Raum in dem hier verstandenen Sinne der gleichen oder ähnlichen Erfahrungen der Bewohner einer Region waren die durch die französische Herrschaft ausgelösten fundamentalen Transformationen etlicher Lebensbereiche. Bereits die Revolutionierung und die Munizipalisierung von 1792/93 bedeuteten für die Bewohner der betroffenen Städte und Gemeinden völlig neue Erfahrungen, die auch nach dem Scheitern der Mainzer Republik nicht vergessen wurden. Die Reformen der französischen Zeit, insbesondere die Agrarreformen, die Einführung der Gewerbefreiheit, die Emanzipation der Juden, die Trennung von Verwaltung und Justiz, ließen gerade im Nachhinein die Nachteile der Besetzungszeit, die militärischen Bedrückungen, die kirchenpolitischen Auseinandersetzungen, den Zwangscharakter vieler Maßnahmen, schließlich auch den Autonomieverlust der Gemeinden gegenüber dem wesentlich stärker zentralisierten Staat, in den Hintergrund treten. Als 13 14 15 16
Hans Döhn, Eisenbahnpolitik und Eisenbahnbau in Rheinhessen 1835–1914. Diss. Mainz 1957, S. 6. Gunter Mahlerwein: „mehr denn ganz verheeret – Oppenheim und Umland zwischen 30jährigem Krieg und Pfälzischem Erbfolgekrieg“. In: Oppenheimer Hefte 45/46 (2016), S. 48–69. Mahlerwein, Rheinhessen (wie Anm. 1), S. 122f. Gunter Mahlerwein: Die Herren im Dorf. Bäuerliche Oberschicht und ländliche Elitenbildung in Rheinhessen zwischen 1700 und 1850. Mainz 2001, S. 371–387.
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rheinische, manchmal auch so genannte „rheinhessische“ Institutionen, die die günstige Entwicklung der Region in Gang gesetzt hatten, wurden sie als Garanten des Fortschritts verstanden und gegen jeden Revisionismus energisch verteidigt.17 Zweifelsohne hatte die französische Okkupation zu einer neuen Raumerfahrung für die Bewohner der linksrheinischen Gebiete geführt. Erstmals konnten sie sich als Angehörige eines staatlichen Zusammenhangs verstehen, waren rechtliche und soziale Differenzen nivelliert oder ganz abgeschafft worden, konnten sie, sofern sie überhaupt überlokale Handlungsperspektiven verfolgten, mit weniger Beschränkungen agieren. Allerdings: der Rhein war jetzt tatsächlich eine Grenze geworden und das nicht nur im staatspolitischen Sinn. Wer links des Rheins lebte, hatte in den Jahrzehnten um 1800 völlig andere Erfahrungen gemacht als seine Zeitgenossen rechts des Rheins.18 Genau diese Erfahrungen bestimmten nun auch das Selbstverständnis der Region nach der Installierung der neuen hessen-darmstädtischen Provinz. Nun war die Grenze Rhein wieder aufgelöst, markierte jetzt aber umso mehr eine Trennlinie. Anders als für die rechtsrheinischen Provinzen Starkenburg und Oberhessen hatte der Großherzog bei der „Besitzergreifung“ der neuen Provinz zu betonen, dass „die Rechte des Feudalsystems, die Zehnten und Frohnden ( ) in diesem Lande unterdrückt (sind und bleiben).“ Die Zeit konnte in diesem Raum nicht mehr zurückgedreht werden. Dass also bereits mit der Kreation der neuen Provinz ihre Differenz zum restlichen Land betont wurde, ließ sie von Anfang an als mehr als eine bloße Verwaltungseinheit erscheinen. Die naturräumlichen und somit auch die wirtschaftlichen Vorzüge der Provinz kamen als Distinktionsmerkmal hinzu. Als „Wonnegau“, als „das schöne Land jenseits des Rheins“ stellte Johann Konrad Dahl, katholischer Pfarrer in Gernsheim, aber in Mainz geboren und bis 1805 im Linksrheinischen wirkend, in seiner statistisch-topographischen Beschreibung 1816 die neue Provinz vor, die ihren endgültigen Namen noch nicht erhalten hatte.19 Die guten Boden- und Klimaverhältnisse, die größere Städtedichte, die bessere Verkehrssituation, die deutlich ertragsreichere, fortschrittlichere Landwirtschaft ließ die mit dem „Großherzogthum Hessen vereinigten Lande des linken Rheinufers“, wie Dahl sie nennt, über die politischen und rechtlichen Vorteile hinaus als deutlich begünstigteren Lebensraum erscheinen. Gerade die Autoren der frühen statistischen Beschreibungen schrieben der neuen Provinz und ihren Bewohnern schon bald Eigenschaften zu, die die politischen Grenzziehungen von 1816 mehr als gerechtfertigt erscheinen lassen. Als eine der „fruchtbarsten Gegenden von ganz Deutschland“ mit einer „für die menschliche Gesundheit sowohl, als die Fruchtbarkeit des Erdreichs vortheilhafteste(n) Mi17 18 19
Mahlerwein, Rheinhessen (wie Anm. 1), S. 207–211. Mahlerwein, Rheinhessen (wie Anm. 1), S. 121–125. J. Konrad Dahl: Statistik und Topographie der mit dem Großherzogthum Hessen vereinigten Lande des linken Rheinufers. Darmstadt 1816, S. III; zu Dahl: Artikel „Dahl, Joh. Konrad“ von Philipp Walther in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 4 (1876), S. 691–692, Dig. Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: http://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB: Dahl,_Johann_Konrad&oldid=1185117 (Version vom 27. Oktober 2011, 21:47 Uhr UTC).
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schung“ des Klimas bezeichnet Dahl den Landstrich links des Rheins. Der erfahrene und bekannte Statistiker August Friedrich Wilhelm Crome lobt 1822 die auf der Bodenfruchtbarkeit, der guten Agrarpraxis, aber auch auf ihrer Bevölkerungsdichte basierende „innere Güte“ der Provinz. Die Abschaffung der Frohnden und Zehnten, der Nationalgüterverkauf und die Anlage vieler „Heerstraßen“ hätten sich sehr positiv auf die Entwicklung der Landwirtschaft ausgewirkt.20 Lassen sich die wirtschaftlichen Erfolge der Provinz über Klima, Boden und den strukturellen Wandel während der französischen Zeit vonseiten der Statistiker noch gut erklären, so scheuen sie sich doch nicht, auch Aussagen über die Bewohner der Region zu machen. Zwar erkennt Dahl, dass „Temperament, Sitten und Karakter“ der Einwohner des Departements so verschieden sind „als die Natur ihres Bodens“, was er als Folge des Nebeneinanders verschiedener Territorial- und Konfessionszugehörigkeiten ansieht. Selbst in einzelnen Dörfern träfe man auf ein „Völkchen durchaus verschieden von seinen Nachbarn“. Dennoch meint er, in der Verbindung von „deutschem Phlegma und französischer Lebhaftigkeit“ eine auf den Einfluss des Klimas und der geografischen Lage zurückzuführende „glückliche Mischung“ zu erkennen.21 Unschwer werden hier die Nachwirkungen der Diskussionen des 18. Jahrhundert über den „Nationalcharakter“ deutlich, in denen bei allem Anerkennen politischer oder religiöser Einflüsse doch letztlich das Klima als grundlegender Faktor einer kollektiven Mentalität bestimmt wurde.22 Noch weiter geht Wilhelm Hesse 1835, wenn er „den Rheinhessen“ als Stereotyp beschreibt: „Der Rheinhesse ist von starkem Körperbau, geschickt und gewandt zu allen Feldarbeiten, welche er mit Lust betreibt.“ Neben dem biologischen Argument erkennt Hesse die Bedeutung kultureller Prägungen an: „Von Natur aus mit glücklichen Anlagen und heiterem Sinn begabt, haben die äußeren Verhältnisse, in welchen sich der Rheinhesse bewegt, seine Gewandtheit im Leben erhöht.“ Allerdings seien die „gründliche Bildung und Entwickelung des Gemüthes und Geistes nicht in gleichem Schritte mit jenen äußeren Einwirkungen gefördert“ worden, weswegen eine „Prozeßsucht“ und „Unversöhnlichkeit in vielfachen Beziehungen“ oft das Zusammenleben von Familien und Gemeinden gefährdeten.23 Es war die Aufgabe der Landesbeschreibungen, Einheit herzustellen. Die Frage, inwieweit sich diese Fremdbeschreibungen der Region auf die Selbstwahrnehmung ihrer Bewohner auswirkten, ist derzeit noch kaum zu beantworten. Es 20
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August Friederich Wilhelm Crome: Handbuch der Statistik des Großherzogthums Hessen. Erster Theil, Darmstadt 1822, S. 395, 405f.; Artikel „Crome, August Friedrich Wilhelm“ von Johann Friedrich Ludwig Theodor Merzdorf in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 4 (1876), S. 606–607, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: http://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Crome,_August_Friedrich_Wilhelm&oldid=1701324 (Version vom 29. Oktober 2011, 16:33 Uhr UTC). Dahl, Statistik (wie Anm. 19), S. 42. Artikel „Nation“ in Johann Georg Krünitz: Oeconomische Encyklopädie 101 (1806), online unter: http://www.kruenitz1.uni-trier.de/xxx/n/kn01416.htm (29.3.2016); Jörg Echternkamp: Der Aufstieg des deutschen Nationalismus (1770–1840). Frankfurt a.M. 1998, S. 100–102. Wilhelm Heße: Rheinhessen in seiner Entwickelung von 1798 bis 1834. Ein statistisch-staatswirtschaftlicher Versuch. Mainz 1835, S. 72f.; Gunter Mahlerwein: Die Rheinhessen. In: Heimatjahrbuch 2016 Landkreis Alzey-Worms, S. 46–49.
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fällt auf, dass in der umfangreichen Subskribentenliste des Handbuchs von Crome von 1822 lediglich fünf Käufer aus Rheinhessen vermerkt sind. Vonseiten politischer, administrativer, publizistischer, eventuell auch mit schulischer Organisation betrauter Akteure dürften solche Texte allerdings durchaus wahrgenommen und ihre Inhalte im jeweiligen Umfeld weiter verbreitet worden sein. Der Komparatist Werner Nell betont, dass die „Rheinländer“ eine Erfindung Preußens seien, die Ethnogenese des „Rheinländers“ daher ein preußisches Produkt.24 Ähnliches lässt sich zweifellos für die Rheinhessen sagen. Wie im Rheinland wirkten auch hier durch das ganze 19. Jahrhundert Bildungsbürger, insbesondere Lehrer und Pfarrer, die häufig nicht in der Provinz geboren oder zumindest während ihrer Ausbildung nicht hier wohnhaft waren, an der Popularisierung und gleichzeitig Verwissenschaftlichung solcher Stammesbildungen mit. Die Beschäftigung mit der Geschichte, der Geografie, der Naturkunde der Provinz Rheinhessen oder einzelner Städte und Dörfer auf unterschiedlichen Ebenen im 19. Jahrhundert ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Statt diese Thematik fortzuführen und mich damit gefährlich dem Vortrag Rainer Karneths anzunähern25, möchte ich im Folgenden lieber einige Überlegungen anstellen, ob und wie sich die Aktionsräume der im neuen (– raumtheoretisch gesprochen – „Containerraum“) Raum Rheinhessen sich aufhaltenden Personen der neuen Situation angepasst haben. Dass der Raum als politischer Raum zusammenwuchs, ist wenig verwunderlich. Die bereits in der französischen Zeit begonnene Kontaktverdichtung aufgrund von Institutionenbildungen setzte sich weiter fort. Um von den Gemeinden her zu argumentieren: die politischen Akteure der lokalen Ebene lernten einander näher kennen durch Gremienarbeit auf Kantons- und Provinzebene, durch die Vorbereitung von Wahlen, schließlich auf der höchsten Ebene als Abgeordnete der Zweiten Kammer des Hessischen Landtags. Beispielhaft kann ein Zitat aus einem Brief des Badenheimers Isaak Maus stehen, der 1818 Mitglied des Provinzialrats war und von den Begleitumständen der Sitzung in Mainz berichtete: „Ich logiere, und speise im Stern, am Münsterthor, in Gesellschaft der H. H. Seiz, Brunk, Grode, Schubert, und einigemal auch Geramont, Mahlerwein p.p.“26 Gerade die Verteidigung der rheinischen Institutionen ließ auch die Gruppe der rheinhessischen Abgeordneten der zweiten Landtagskammer zusammenwachsen. Lassen sich also für eine sich neu konstituierende politische Elite zweifellos verdichtete regionale Beziehungen feststellen, so scheint auch eine entstehende politische Öffentlichkeit regionales Bewusstsein gefördert zu haben. Folgt man der Argumentation Eduard Berlets, so entwickelte sich der rheinhessische Provinzialverein des 1831 gegründeten Land24 25 26
Werner Nell: Die Rheinlandschaft als Zwischenwelt – Reflexionslücken und Befremdungsanlässe im Schatten der Moderne. In: Volker Gallé/Werner Nell (Hg.): Zwischenwelten. Das Rheinland um 1800. Worms 2012, S. 165–188. Siehe Rainer Karneth: Der Rheinhessen Identität(?) – Regionale Identitäten zwischen „Volksgeist“ und Event, in diesem Band; vgl. auch: Ders.: Rheinhessen – Identität, Modernität und keine Tracht. In: Heimatjahrbuch 2016 Landkreis Alzey-Worms, S. 114–119. Richard Auernheimer/Reinhard Siegert: Isaak Maus und sein Badenheim. Festschrift zu seinem 250. Geburtstag und zugleich ein Beitrag zur Ortsgeschichte von Badenheim. Alzey 1998, Isaak Maus, S. 123–125; Mahlerwein, Herren (wie Anm. 16), S. 435.
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wirtschaftlichen Vereins, der als Zusammenschluss größerer Landwirte ohnehin für eine überlokale Kommunikationsintensivierung sorgte, bereits in den 1830er Jahren von einer Berufsvereinigung zu einer Partei des politischen Liberalismus.27 Diese Vereinigung, seit 1845 unter Vorsitz des in Monsheim ansässigen Freiherrn von Gagern, kann noch als relativ elitär angesehen werden, die meisten seiner Mitglieder zählten als reiche Bauern regelmäßig zu den Höchstbesteuerten der Region. Eine breite politische Öffentlichkeit war ansatzweise wohl auch schon im Vormärz existent, anders wäre das starke Engagement der rheinhessischen Bevölkerung in der Revolution von 1848/49 nicht denkbar. So können für die Revolutionsjahre in 111 von 175 rheinhessischen Gemeinden demokratische Vereine nachgewiesen werden, wahrscheinlich liegt die Zahl noch höher. In mindestens 50 Dörfern kam es zur Bildung von der demokratischen Bewegung nahe stehenden Turnvereinen. Die sich auch auf provinzialer Ebene organisierende Bewegung führte ihre Anhänger in Vereins- und Volksversammlungen zusammen. Spätestens jetzt muss Rheinhessen für einen erheblichen Teil seiner Bevölkerung als politischer Raum, in dem sich politische Aktivitäten bündelten und auf den sich politische Forderungen bezogen, verstanden werden. Zum Entstehen regionaler Strukturen im Sinne der Verdichtung sozialer Beziehungen trugen wesentlich einige kulturhistorisch bedeutsame Innovationen bei. Das im Zusammenhang mit der politischen Raumbildung bereits erwähnte Vereinswesen dürfte hierbei von hervorgehobener Bedeutung gewesen sein. Die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von den Städten auch auf das Land ausgreifenden Vereine ließen Gleichgesinnte oder Personen mit ähnlichen Interessen nicht nur auf lokaler Ebene, sondern über Verbandsbildungen und Vereinstreffen und -feiern auch überlokal zusammenkommen. Auch Zeitungen waren keine Erfindungen des 19. Jahrhunderts. Aber erst jetzt wurden sie auf dem Land in nennenswerter Weise rezipiert, wie ein kursorischer Überblick über die Anzeigen zeigt, die zu einem Teil eben deutlich erkennbar auf ein ländliches Publikum zielten. Zwar ist etwa in der Wormser Zeitung der 1830er Jahre kein auf Rheinhessen oder den Kreis bezogener redaktioneller Schwerpunkt erkennbar, aber zur geografischen Horizonterweiterung dürfte die Lektüre schon beigetragen haben. Allerdings fällt auf, dass – zumindest in der für die am südlichen Rand gelegene Stadt Worms und Umland produzierten Zeitung – der traditionelle enge Bezug zur angrenzenden Pfalz weiterhin wirksam war, dass eben nicht an Rheinhessens Grenzen halt gemacht wurde. Zu einer belastbaren Aussage wäre aber noch eine intensivere Analyse der Blattinhalte und Werbeanzeigen nötig. Das Schulwesen in Rheinhessen wurde in den ersten Jahrzehnten bereits deutlich verbessert. Der Aufbau von Gemeindeschulen anstatt konfessioneller Schulen in vielen Landgemeinden nach 1816 und vor allem die Ausbildung der Lehrer in den Seminaren in Friedberg und Bensheim förderten die Vereinheitlichung von Lernbedingungen und Lehrinhalten. Auch wenn noch nicht Heimatkunde als Fach auf dem Lehrplan stand, dürfte im Rahmen des nicht zwingend vorgegebenen, von den Lehrern aber häufig aus „eigenem Antrieb“ in den Lehrkanon aufgenommenen Faches „Erdbeschreibung“ durchaus auch die Region 27
Gunter Mahlerwein: Weizen, Wein und Weihnachtsball. 100 Jahre Landwirtschaftliches Kränzchen Alzey-Worms. Alzey 2001, S. 15f.
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thematisiert worden sein. Gerade da die Lehrer ihre Ausbildung in den Provinzen Starkenburg und Oberhessen absolviert hatten, dürften die Besonderheiten Rheinhessens eine gewisse Rolle gespielt haben.28 Kann für den politisch-administrativen Bereich, die politischen Aktivitäten und das Vereinswesen ein starker Bezug auf den Raum Rheinhessen in den Jahrzehnten nach 1816 festgestellt werden, so sind für andere Lebensbereiche zunehmende, aber andere räumliche Bezüge nicht ausschließende Orientierungen auf die neue Provinz zu konstatieren. Der Ausbau des Verkehrsnetzes hatte in den 1820er Jahren zunächst noch eher lokale Bedeutung, ehe dann in den 1830ern mit der wirtschaftlichen Annäherung zwischen den deutschen Bundesstaaten auch größere und über die Staatsgrenzen reichende Straßenbauprojekte in Angriff genommen wurden. Der in anderen deutschen Staaten fast zeitgleich einsetzende Eisenbahnbau brachte Rheinhessen erst mit einiger Verspätung in den 1850er Jahren die Linien MainzWorms und Mainz-Bingen. Auch wenn sie für die Anlieger von einiger Bedeutung sein mochten, sind sie eher als Transitstrecken zu charakterisieren, die das Innere der Provinz nicht tangierten. Erst ab den späten 1860er Jahren wurden schon länger geplante Verbindungen zwischen Worms und Alzey und zwischen Mainz und Alzey realisiert, bis 1904 über Nebenstrecken eine Vielzahl von rheinhessischen Gemeinden untereinander und mit den Städten verbunden waren. Probleme in der Zusammenarbeit zwischen staatlichen und privaten Akteuren, unklare administrative Aufgabenverteilungen und nicht zuletzt auch Rivalitäten zwischen einzelnen Städten und Gemeinden verzögerten und behinderten eine rasche und rationale Bahnerschließung der Provinz Rheinhessen. Zu einer Verdichtung innerer räumlicher Beziehungen konnte sie daher erst im späten 19. Jahrhundert beitragen, gleichzeitig wurden Kontakte nach außen, etwa die traditionellen Beziehungen zwischen südrheinhessischen und pfälzischen Gemeinden oder zwischen Mainz oder Worms und dem rechtsrheinischen Raum erleichtert.29 Es scheint sich in diesem Fall also gerade nicht um eine sich aus der territorialen Vereinheitlichung von 1816 resultierende Neuordnung von Binnen- und Außenkontakten zu handeln, wobei zur Beantwortung dieser Frage noch etliche empirische Arbeit notwendig wäre. Ähnliches lässt sich für den Wirtschaftsraum sagen. Zwar dürften durch die Institutionalisierung beruflicher und wirtschaftlicher Kontakte auf provinzialer Ebene, etwa der landwirtschaftlichen oder der Gewerbevereine, später der betreffenden Kammern, ökonomische Beziehungen stark gefördert worden sein. Welche Auswirkungen aber die Schaffung der Provinz Rheinhessen auf die Warenströme und den Arbeitsmarkt gehabt hatte, lässt sich ohne aufwändige Recherchen nicht sagen. Crome hält 1825 fest, dass in Rheinhessen zwar „die Kunststraßen fast nach allen Richtungen ( ) das Land durchschneiden“, was neben dem Rhein den „inneren Verkehr“ und den „äußeren Handel“ sehr befördere. Allerdings sei „der innere Handel der Provinz Rheinhessen“ insgesamt nicht sehr bedeutend, weil die „meisten dortigen Städte zu klein“ seien. Dafür betreibe Mainz einen „einträglichen Handel ( ) mit seinen Umgebungen“ und würde, seit ausländische Weine mit hohem Zoll 28 29
Joseph Jérome: Statistisches Jahrbuch der Provinz Rheinhessen für das Jahr 1824. Mainz o.J., S. 213; Heße, Rheinhessen (wie Anm. 23), S. 285–334. Mahlerwein, Rheinhessen (wie Anm. 1), S. 186–191.
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belegt seien, über Worms und Mainz viel Wein in die beiden anderen hessischen Provinzen transportiert. Für Worms liege das Potenzial in seiner Lage an der Grenze zu Rheinbayern.30 Die Einbindung in das Großherzogtum scheint also Handelsströme deutlich beeinflusst zu haben, eine bemerkenswerte Intensivierung des innerrheinhessischen Austauschs fand offenbar aber nicht statt. Bei reichen bäuerlichen Familien ist in den Jahrzehnten nach 1816 eine regionale Ausweitung der Heiratskreise zu beobachten. Verbindungen zwischen weiter entfernten Dörfern, etwa zwischen Familien aus Blödesheim und Bodenheim, Hamm und Friesenheim, Köngernheim, Dexheim, Alsheim und Nieder-Saulheim lassen sich in dieser Dichte vorher nicht finden. Sie sind zum einen damit zu erklären, dass sozial und ökonomisch passende Heiratskandidaten und -kandidatinnen für Vertreter der bäuerlichen Oberschicht immer seltener im lokalen Umfeld zu finden waren. Dass sich die erfolgreiche Suche dann zunächst vorzugsweise auf das „neue“ Rheinhessen ausweitete, dürfte mit den Kontakten dieser Gruppe über ihre politischen Ämter und ihre Aktivitäten im landwirtschaftlichen Verein und anderen Vereinen zu erklären sein. Dass eben diese Familien meist auch deutlich größer waren als die Familien der Unter- und Mittelschicht, erweiterte das Potenzial ihrer überlokalen Kontakte. Die auf diese Weise entstehenden regionalen Verwandtschaftsnetze wären dann sicher als für viele Interessen nutzbare Kommunikationsverdichtungen mit strukturprägender Qualität zu verstehen.31 Das Konstrukt Rheinhessen wurde in den ersten Jahrzehnten seines Bestehens – so scheint es – durch unterschiedliche räumliche Praktiken seiner Bewohnerinnen und Bewohner substanziell unterfüttert. Auf der Grundlage der hier präsentierten, noch mehr Fragen als Antworten aufwerfenden Befunde könnte allerdings in aller Vorsicht die These formuliert werden, dass dies ein sozial zu differenzierender Prozess war. Nicht gerade als Elitendiskurs, aber doch als Diskurs des städtischen und ländlichen Bildungsbürgertums lässt sich das Reden und Schreiben über Rheinhessen im frühen 19. Jahrhundert verstehen. Rheinhessen als politischen, familiären und ökonomischen Aktionsraum entdeckt zu haben, dürfte zunächst auch vor allem der regionalen Oberschicht zuzuschreiben sein, auch wenn diese Exklusivität über das Vereinswesen etwas aufgeweicht wurde. Das Mobilitätsverhalten der Unterschicht dürfte wesentlich stärker von ökonomischen Notwendigkeiten geprägt gewesen sein. Man ging dorthin, wo ein Auskommen zu erwarten war. Wenn das im eigenen Dorf oder der eigenen Stadt nicht gegeben war, ging man eben woandershin, in der Region oder weiter, bis hin zur „Neuen Welt“. Rheinhessen als Raumvorstellung dürfte dabei eine geringere Rolle gespielt haben. Eher als Illustration, weniger als Beleg dieser These sollen abschließend der Schilderung meiner eigenen räumlichen Sozialisation die räumlichen Vernetzungen eines Bewohners Rheinhessens aus dem 19. Jahrhundert gegenüber gestellt werden. Quellenbedingt und da er mir besonders vertraut ist, bietet sich hierfür der 1794 geborene Landwirt und Bürgermeister Georg Jacob Hirsch aus Alsheim an. Als 30 31
August Friedrich Wilhelm Crome: Geographisch-statistische Darstellung der Staatskräfte von den sämmtlichen, zum deutschen Staatenbunde gehörigen Ländern: mit einer großen Verhältnißcharte von Deutschland. Leipzig 1825, S. 246f. Mahlerwein: Herren (wie Anm. 16), S. 58, 430–433.
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Sohn des Maire, der anders als viele seiner Zeitgenossen nicht nur die Alsheimer Schule, sondern im Anschluss auch eine Privatschule in Osthofen besucht hatte, war er schon mit 14 Jahren Bürgermeistereischreiber, bevor er mit 26 das Bürgermeisteramt selbst übernahm und für 45 Jahre innehatte. Als Mitglied des Bezirksrats und dann der zweiten Kammer des Landtags in Darmstadt war er politisch über die lokale Ebene hinaus tätig. Er saß im Vorstand des evangelischen Vereins der Gustav-Adolf-Stiftung und der evangelischen Conferenz in der Provinz Rheinhessen. Insbesondere war er aktiv im Vorstand des Landwirtschaftlichen Vereins, in dessen Auftrag er sogar mehrere Male in die Schweiz reiste. Die Beschreibung seiner Beerdigung im Jahr 1865 in der Darmstädter Zeitung kann als letztes Abbild seines Aktionsraumes genommen werden. An ihr nahmen neben der Familie, örtlichen Vereinen und der Alsheimer Einwohnerschaft zahlreiche „Fremde“ teil: die Beamten und die Bürgermeister des Kreises, „Deputationen“ auswärtiger Vereine und der Kirche. Wie an seinen politischen, kirchlichen und vereinsbezogenen Aktivitäten erkennbar ist, orientierte sich Hirsch eindeutig am Raum Rheinhessen, ohne darüber hinaus überregionale Bezüge zu vernachlässigen. Stellt man diesem schon fast als weltläufig zu charakterisierenden Vertreter der regionalen Elite eine andere zeitgenössische Biografie gegenüber, dann wird die sozial unterschiedliche räumliche Orientierung offensichtlich. Johann Abel Hirsch, ein Großcousin des Bürgermeisters aus einem verarmten Familienzweig, arbeitete in seiner Jugend als Knecht bei einem Alsheimer Bauern, später dann als Tagelöhner, Gemeindediener und Nachtwächter unter der Aufsicht seines einflussreichen Verwandten und heiratete eine Frau aus dem Alsheim zugehörigen Weiler Hangenwahlheim. Wenn auch quellenbedingt über sein Leben nicht so viel zu erzählen ist, so zeigen doch bereits diese wenigen Stationen, um wie viel enger sein Aktionsradius war. Deutlich wird das auch am Verwandtschaftsnetz der beiden Vertreter der Familie Hirsch. Während Georg Jakob über auswärtige Ehepartner seiner Kinder, Geschwister, Neffen und Nichten 17 überlokale verwandtschaftliche Kontakte aufzuweisen hatte, die immer auch für ökonomische oder politische Interessen nutzbar gewesen sein könnten, waren es im Falle Johann Abels nur vier.32 Die Aneignung der neuen Provinz durch seine Bewohner geschah in unterschiedlichen Intensitäten, gehorchte unterschiedlichen Logiken, Notwendigkeiten und Interessen und konnte von lokalen und überregionalen Raumbezügen überlagert werden. Dass das auch noch im frühen 21. Jahrhundert gilt und dass trotz aller Verkehrs- und Kommunikationsrevolutionen und Globalisierungstendenzen noch Lebensformen möglich sind, die sich lokal und nicht regional oder gar überregional definieren, zeigt das Beispiel meiner vor wenigen Jahren im Alter von 90 Jahren gestorbenen Nachbarin aus dem Oberdorf, wohin ich mittlerweile trotz aller Bedenken gezogen bin, Frau Oswald. Befragt nach einer möglichen Ausweitung ihres Aktionsradius, speziell zum Nachbardorf und Sitz unserer Verbandsgemeinde hin, hatte sie geantwortet: „Was soll ich dann in Eich?“
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Mahlerwein: Herren (wie Anm. 16), S. 53, 431.
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Der Rheinhessen Identität (?) – Regionale Identitäten zwischen „Volksgeist“ und Event. Trotz der Platzierung im Programmablauf und des grundsätzlich anmutenden Titels bietet dieser die Tagung abschließende Beitrag1 weder ein Resümee dieses Kolloquiums noch eine Zusammenschau oder gar ein Destillat der Ausführungen der Mitreferenten. Vor allem aber liefert er keine Handlungsempfehlungen. Das Vorhaben ist bescheiden. Es soll hier schlicht die Frage nach der „regionalen Identität Rheinhessens“ oder – wie es im Veranstaltungsprogramm heißt – „Der Rheinhessen Identität (?)“ gestellt werden. Manchen, zumal einen gebürtigen Rheinhessen, mag diese Frage befremden, weiß er doch, was und wer er ist. Zumindest für den Referenten erwies sich diese Frage jedoch als eine Gleichung mit mehreren Unbekannten. Und solche Gleichungen – man erinnere sich an die Schulzeit – bereiten in der Regel Probleme. Sucht man nach einer Lösung, so ist es empfehlenswert, sich an die bewährten mathematischen Verfahrensregeln zu halten und die Gleichung erst einmal Schritt für Schritt nach den einzelnen Unbekannten aufzulösen; in der Hoffnung, dass man schlussendlich zu einem halbwegs befriedigenden Ergebnis gelangt. Identität Ich beginne zunächst mit dem Begriff der Identität. Dieser zählt zu den modernen Schlüsselwörtern nicht nur der Alltagssprache, sondern auch zahlreicher wissenschaftlicher Disziplinen, der Kulturwissenschaften ebenso wie der Soziologie oder der Psychologie. Abgeleitet von dem lateinischen Abstraktum „identitas“, das wiederum auf das Pronomen idem = derselbe zurückgeht, hatte der Begriff seinen ursprünglichen Ort in der Philosophie und der Logik. In Form der für einen philosophischen Laien frappierend banalen Identitätsgleichung A=A erhielt er dort seine besondere philosophische Dignität. Für den Psychologen bedeutet Identität hingegen in einer ersten Annäherung den „Inbegriff relativ zeitüberdauernder Merkmale, in denen sich die Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit eines Individuums manifestiert“.2 Dies heißt aber nicht, dass es bei der Identität „nur ums Unterscheiden“ geht, um die Akzentuierung der Besonderheit, der Eigentümlichkeit im Gegensatz zu anderen, sondern der Begriff verweist zugleich auch auf das, was ein Individuum mit anderen verbindet, d.h. auf 1 2
Obgleich der Vortragstext überarbeitet wurde – dies nicht nur bezüglich der Literaturhinweise –, ist dem vorliegenden Beitrag stellenweise die mündliche Diktion noch deutlich anzumerken. Norbert Bischof: Das Kraftfeld der Mythen. Signale aus der Zeit, in der wir die Welt erschaffen haben, München, Zürich 1996, S. 569.
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Gemeinsamkeiten.3 In diesem Sinne gibt es also auch eine gemeinsame Identität von Kollektiven, größeren und kleineren, an denen der einzelne irgendwie teilhat. Alois Hahn spricht diesbezüglich von „partizipativen Identitäten“.4 Die Merkmale, an denen die Identität festgemacht wird, mögen zwar auf objektiven Gegebenheiten basieren, gleichwohl ist die Identität, so der Psychologe Norbert Bischof, dem ich mich im Weiteren anvertraue, jedoch ein subjektiver Begriff. D.h., sie richtet sich nicht nach den Eigenschaften, die man besitzt, sondern nach denen, die man zu haben glaubt, die man an sich wahrnimmt oder wahrhaben will, die man sich erdenkt oder aber verleugnet, als wesentlich oder leicht wandelbar erachtet. Die Gründe für die Zuschreibung bestimmter Eigenschaften liegen zum Teil beim Einzelnen selbst, in seiner Lebensgeschichte mit ihren speziellen Widerfahrnissen, den Erfolgserlebnissen ebenso wie in den Misserfolgen. Zum anderen sind sie aber auch ganz entscheidend das Resultat sozialer Definitionen, das Ergebnis der Zuschreibungen und Etikettierungen Anderer. Soll heißen: in meine Identität geht auch immer „das Eigenschaftsprofil mit ein, das die Mitwelt an mir wahrnimmt, die Weise wie sie mich kategorisiert, unter dem allgegenwärtigen Einfluss aller gerade geltenden Vorurteile, kollektiv geglaubten Selbstverständlichkeiten, Überzeugungen des Zeitgeistes“.5 Identität, wie ich sie bislang vorgestellt habe, kann man zusammenfassend als die Antwort auf die Frage: „Wer bin ich?“ umschreiben. Psychologisch ist sie ihrem Ursprung nach aber zunächst einmal eine Wahrnehmungskategorie, die es bereits Tieren ermöglicht, zwei separate Phänomene als ein und dasselbe wahrzunehmen, ohne dass sie – dies ist wichtig – in ihrer Erscheinung gleich sein müssen. In ihrer stammesgeschichtlich älteren Form begegnet sie uns Norbert Bischof zufolge zunächst als zeitüberbrückende bzw. diachrone Identität. Sie bildet die Klammer, durch die der Wahrnehmungsapparat zeitlich aufeinanderfolgende Phänomene mit einer als durchgehend erlebten „Schicksalslinie“ verbindet, so dass sie als verschiedene Erscheinungsweisen ein und desselben Trägers wahrgenommen werden. Oder anders gewendet: „Diachrone Identität verknüpft ein jetzt wahrgenommenes Ding mit der Erinnerungsspur eines früher wahrgenommenen und besagt, dass es sich immer noch um dasselbe Ding handelt“6, so dass es zu einem späteren Zeitpunkt und/oder an einem anderen Ort wiedererkannt bzw. wiedergefunden werden kann.7 3 4 5 6 7
Siehe hierzu die Unterscheidung von „Ich-Identität“ und „Wir-Identität“, die Norbert Elias in seiner Studie „Wandlungen der Wir-Ich-Balance“ vornimmt. In: Ders.: Die Gesellschaft der Individuen, hg. v. Michael Schröter, Frankfurt am Main 1987, hier: S. 210. Alois Hahn: Konstruktionen des Selbst, der Welt und der Geschichte, Frankfurt am Main 2000, S. 13–79. Bischof, Kraftfeld (wie Anm. 2), S. 570. Norbert Bischof: Psychologie. Ein Grundkurs für Anspruchsvolle, Stuttgart 2008, S. 352. So bleibt etwa für einen Springbock ein Raubtier, das er hinter einem Gebüsch verschwinden sah, „unwahrnehmbar vorhanden“. Wenn das Raubtier auf der anderen Seite des Busches wieder auftaucht, ist es für den Bock kein neues, sondern genau dasselbe Raubtier, das zuvor hinter dem Busch verschwunden war. In Ruhe kann er deshalb an dieser Stelle weiter grasen. S. hierzu Bischof, Psychologie (wie Anm. 6), S. 105ff.; Doris Bischof-Köhler: Soziale Entwicklung in Kindheit und Jugend. Bindung, Empathie, Theory of Mind, Stuttgart 2011, S. 56f.
Der Rheinhessen Identität (?)
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Entwicklungsgeschichtlich jünger ist die sog. synchrone Identität, bei der es um die Identifikation von gleichzeitig an separaten Orten wahrgenommenen bzw. erlebten Phänomenen geht. Im Gegensatz zur diachronen Identität wird hier statt einer zeitlichen Distanz eine räumliche überbrückt. Stammesgeschichtlich ist die synchrone Identität mit dem Erwerb einer inneren, mentalen Probebühne des Verhaltens, mit Vorstellungstätigkeit und Phantasie bei den Menschenaffen verbunden.8 Durch die synchrone Identität wird dabei eine Beziehung zwischen Vorstellungsinhalt und realem Objekt gestiftet. Ist die Fähigkeit zur synchronen Identifikation erst einmal verfügbar, wird weiterhin auch die Bildung von Symbolen möglich. Ein Sachverhalt steht dabei für einen anderen (aliquid stat pro aliquo): sei es ein sprachlicher Ausdruck für die Sache, die er bedeutet (semantische Relation), sei es, dass ein reales Objekt einen gedachten Sachverhalt repräsentiert, wie etwa die weiße Lilie die Jungfrau Maria. Aber auch zwischen Wahrnehmungsgegebenheiten können Identitätsrelationen hergestellt werden, so dass z. B. eine Portraitzeichnung als Abbild der dargestellten Person erscheint. Vor allem aber bietet die synchrone Identifikation eine Voraussetzung für das Selbsterkennen und die Ausbildung eines Bewusstseins vom eigenen Selbst. Dieses ist für jede Form von Simulation auf der Vorstellungsebene unerlässlich, da man sich hierbei nicht nur Objekte, sondern auch sich selbst an einem anderen Ort, in einem anderen Situationszusammenhang vorstellen können muss. Man muss dafür „im Geiste“ gleichsam neben sich treten und auf sich selbst zurückschauen, reflektieren können oder anders formuliert: man muss sich mit den Augen eines bzw. der Anderen betrachten können. In der Psychologie und Soziologie, prominent durch George Herbert Mead9, wurde hierfür die Unterscheidung zwischen zwei verschiedenen Aspekten der IchErfahrung üblich: dem „I“ (Ich) als dem unreflektierten Selbstempfinden und dem „Me“ (Mich) als dem Objekt der Selbstbetrachtung, das einem reflektierend sozusagen in der Außenperspektive gegenwärtig wird, wobei beide, „I“ und „Me“, in einer Beziehung der synchronen Identität stehen, so dass das „I“ sich als identisch mit dem „Me“ erlebt. Mit inhaltlichen Qualitäten reichert sich das „Me“ dabei im sozialen Umgang mit Anderen an. Durch deren Reaktionen auf das eigene Verhalten konstituiert und konturiert sich ein Selbstkonzept. Für diesen grundlegenden entwicklungspsychologischen Prozess wurde der Begriff des „looking glass self“ (Charles Cooley) eingeführt, der darauf abstellt, dass sich Identität wesentlich durch die Vermittlung des „sozialen Spiegels“ bildet.10
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Einem Schimpansen, der in seiner Vorstellung überlegt, wie er durch das Verschieben der Kiste in seinem Käfig an eine unter der Decke hängende Banane gelangt, muss es gegenwärtig sein, dass die von ihm in der Phantasie bewegte Kiste dieselbe ist, die tatsächlich noch unverändert in der Ecke des Käfigs steht, s. Bischof, Psychologie (wie Anm. 6), S. 352f.; Bischof-Köhler, Entwicklung (wie Anm. 7), S. 68ff. George Herbert Mead: Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus, Frankfurt a. M. 1968. Siehe Bischof-Köhler, Entwicklung (wie Anm. 7), S. 273ff.; Jens B. Asendorpf: Persönlichkeitspsychologie, Heidelberg 2009, S. 109ff.
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Nur scheinbar haben die hier vorgestellten Ausführungen zur Genese der Identitätskategorie vom eigentlichen Thema, der Frage nach der rheinhessischen Identität, weggeführt. Vergegenwärtigt man sich aber noch einmal das soeben zur Kategorie der synchronen Identität Ausgeführte, dann wird der Bezug zum Thema deutlich. Die synchrone Identität weist nämlich zwei Aspekte auf: Zum einen die erwähnte Abbildhaftigkeit des einen Identitätsträgers für den anderen (Begriff für Sache, Lilie für Maria), zum anderen die Eigenschaft, dass sie, ebenso wie die diachrone Identität, verschiedene Sachverhalte auf einen gemeinsamen Wesenskern bezieht, diese mit einer Schicksalslinie verbindet bzw. zu einer Schicksalseinheit verknüpft. Und hier kann auch die Region ins Spiel kommen. Denn vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach den „Identitätsgegenständen“, die Frage, so der Psychologe Karl Haußer, ob und wie „ein Gegenstand aus dem Fluss vielfältiger und zahlreicher Alltagserfahrungen ein identitätsrelevanter Gegenstand wird“.11 Denn dass die Region tatsächlich eine gewisse subjektive Bedeutung und damit Bedeutsamkeit als Identitätsgegenstand hat, dafür sprechen nicht zuletzt Haußers eigene empirische Untersuchungen. Diese zeigen, dass die Heimatregion diesbezüglich tatsächlich eine gewisse Relevanz besitzt, wenngleich von nachgeordnetem Rang, nach Ausbildung bzw. Beruf und Beziehungen resp. Partnerschaften.12 Kollektive Identitäten Bislang wurde von Identität nur in Bezug auf Individuen, fokussiert in der Frage „Wer bin ich?“ gesprochen. Eine andere Frage ist, ob es analog hierzu so etwas wie eine kollektive Identität einer Region überhaupt gibt, die sich in der Frage „Wer sind wir?“ erschließt. Die Identität dieses Wir ist ersichtlich von einer anderen Qualität als die Identität einer Person; denn wer ist der Träger dieser Identität? Ein Kollektiv hat weder einen Körper noch ist es ein Subjekt mit einem auf sich bezogenen Bewusstsein. Allerdings wurde lange Zeit unter romantischen Vorzeichen postuliert, dass Kollektiven (insbesondere Völkern und Nationen) so etwas wie eine spezifische „Geistigkeit“ eigne, auf die sich die Identität des Kollektivs zurückführen lasse. So rekurrierte Mitte des 19. Jahrhunderts z.B. Wilhelm Heinrich Riehl in dem von ihm gezeichneten „rheinischen Volksbild“ immer wieder auf einen durchaus vitalen und zudem nachwirkend virulenten „Volksgeist“ als Träger der Identität der Pfälzer (und auch der Rheinhessen).13 Sieht man jedoch von bestimmten überindividuellen bzw. „korporativen Akteuren“ ab, wie sie soziologisch in Gestalt von Organisationen namhaft gemacht werden (s.u.), gibt es keine kollektive Entität sui generis, der man eine kollektive Identität zuschreiben könnte. Kollektive sind nichts anderes als „Verflechtungszusam11 12 13
Karl Haußer: Zur subjektiven Bedeutsamkeit und Bedeutung von Heimat als regionaler Identität. In: Zeitschrift für Kultur- und Bildungswissenschaften der Universität Flensburg 10 (2000), S. 16–23, hier: S. 20. Ebenda, S. 22. Wilhelm Heinrich Riehl: Die Pfälzer. Ein rheinisches Volksbild, Neustadt a. d. Weinstraße 1973. Der von Riehl namhaft gemachte „Volksgeist“ konnte dabei mehr oder weniger biologisch begründet sein.
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menhänge“ (Norbert Elias) von Handlungen und Kommunikation. Und in einem solchen Zusammenhang wird man auch die kollektive Identität zu verorten haben. Kollektive Identitäten wären demnach, um einen heute gerne gebrauchten Begriff zu verwenden, „Diskursformationen“. Sie werden in Prozessen der Kommunikation „konstruiert“ und objektivieren sich in Vorstellungen, Bildern, Symbolsystemen, Deutungs- und Handlungsmustern, Normen, Wertorientierungen, kurz: in Sinnzusammenhängen bzw. -ordnungen, die selbst aber immer ein Gegenstand unablässigen Aushandelns und sicherlich auch interessensgeleiteter Zurichtung sind. Kollektive Identitäten fungieren dabei als Identitäts- und damit Identifizierungsofferten, die es den Mitgliedern eines Kollektivs erlauben, sich als Zugehörige dieses Kollektivs, eines „Wir“, zu fühlen, zu verstehen und ggf. nach außen erkennbar werden zu lassen.14 Eine in diese Richtung gehende Definition von kollektiver Identität stammt von dem Ägyptologen und Kulturwissenschaftler Jan Assmann, der „unter einer kollektiven oder Wir-Identität (…) das Bild [versteht], das eine Gruppe von sich aufbaut und mit dem sich deren Mitglieder identifizieren. Kollektive Identität ist eine Frage der Identifikation seitens der beteiligten Individuen. Es gibt sie nicht ‚an sich‘, sondern immer nur in dem Maße, wie sich bestimmte Individuen zu ihr bekennen. Sie ist so stark oder schwach, wie sie im Denken und Handeln der Gruppenmitglieder lebendig ist und deren Handeln zu motivieren vermag“.15 Die zitierte Definition Assmanns stellt prima facie zwar auf die kulturelle Dimension der kollektiven Identität ab. Implizit verweist sie aber auch auf deren emotionale Seite. Kollektive Identifikationsangebote sprechen stets auch die Gefühlsebene an, legieren sich mit einem „Wir-Gefühl“. Kollektive Identitäten besitzen, darauf weist der Soziologie Hartmut Esser hin, eben nicht nur eine „kühl-kognitive“, sondern auch eine „heiß-emotionale“ Dimension.16 Mit kollektiven Identitäten geht zugleich, dies sei betont, in der Regel auch der Vergleich und die Abgrenzung mit bzw. von Anderen einher, die sicherlich nicht unproblematische Tatsache, dass sie auch über „Alteritäten“ konstruiert und konturiert werden. Zur kollektiven Identität gehört, so der Soziologe Robert Hettlage, „die Abgrenzung gegen NichtIdentisches“, die Dialektik von Inklusion und Exklusion.17 Ein treffendes Bild für das hier vorgestellte Verständnis von kollektiver Identität hat der Rechtswissenschaftler v. Bogdandy mit dem Vergleichsbeispiel eines aus 14 15 16 17
Aleida Assmann: Einführung in die Kulturwissenschaft, Berlin 2006, S. 219ff.; s. auch dies.: Zum Problem der Identität aus kulturwissenschaftlicher Sicht. In: Leviathan. Zeitschrift für Sozialwissenschaft 3 (1993), S. 238–253. Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992, S. 132. Hartmut Esser: Soziologie. Spezielle Grundlagen, Bd. 6: Sinn und Kultur, Frankfurt a. M., New York 2001, S. 341. Robert Hettlage: Identitätsmanagement. In: WeltTrends Nr. 15 (1997), S. 7–23, hier S. 17f. Mittels sozialpsychologischer Experimente konnten auf der Ebene von Kleingruppen eindrucksvoll die Mechanismen der Gruppenidentifikation und -abgrenzung demonstriert werden. Allein eine unterschiedliche und dabei zufällige Kategorisierung von Gruppen führte, wie H. Tajfel Anfang der 1970er Jahre in seinen „minimal group“-Experimenten zeigte, zu einer Bevorzugung der Mitglieder der Eigengruppe, wobei selbst dann die Mitglieder der eigenen Gruppe begünstigt wurden, wenn dies dem Eigeninteresse der Versuchsteilnehmer zuwiderlief.
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zahlreichen Einträgen bestehenden „kollektiven Wörterbuchs“ gefunden, zu dem – vergleichbar Wikipedia – prinzipiell alle Mitglieder des Kollektivs Beiträge leisten können (ob sie es tun, ist eine andere Frage).18 Kollektive Identitäten gelten mithin, ich wiederhole mich, aus heutiger Sicht als relativ veränderliche „Konstrukte“; sie sind keine substantialistisch bzw. essentialistisch zu verstehenden Entitäten.19 Regionale Identitätsbildung muss demzufolge stets als ein Prozess verstanden werden, als ein Prozess der „Regionalisierung“, des „Regionalisierens“ oder aber des „Machens von Region“. „Region building“ lautet der entsprechende Begriff in der englischsprachigen Fachliteratur.20 Konkret wird es, wenn man fragt, wer solche Identitätsofferten tatsächlich lanciert, wie, warum und womit. Bevor ich diese Fragen aufgreife, muss ich zunächst auf meine nächste Unbekannte, den Begriff der Region, eingehen. Region Auch mit diesem Begriff tun sich die Wissenschaften schwer. Zwar existiert eine vielzitierte Begriffsdefinition aus der Geographie bzw. Raumforschung, wonach eine Region „ein geographisch bestimmter Raum mittlerer Größenordnung [ist], der als zusammenhängend angesehen wird“.21 Aber auch eine solche, sehr offene Begriffsbestimmung ist keineswegs unproblematisch, sondern bedarf weiterer Klärungen sowohl hinsichtlich des a) Raumbezugs (geographisch bestimmter Raum), b) des Maßstabsbezugs (Raum mittlerer Größenordnung) sowie c) des Sachbezugs (als zusammengehörig angesehen). Welche Probleme hierbei auftreten, zeigt sich, wenn man sich eine Typologie der in der Geographie gängigen und diskutierten Regionskonzepte betrachtet.22 Sie macht deutlich, wie verschieden die Zusammengehörigkeit einer Region und die Zugehörigkeit zu ihr gestaltet sein können. 18 19
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Armin von Bogdandy: Europäische Identität und die europäische Verfassung. In: Forschungsbericht 2004 - Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (http://www.mpg.de/822268/pdf.pdf). Trotzdem können sie – und dies ist kein Widerspruch – durchaus stabile, fest in der Psyche der Individuen verankerte Formen von kollektiven Mentalitäten bzw. Charakteren ausbilden. So hat unlängst der Volkskundler und Anthropologe Andreas Vonderach versucht, mittels empirischer Befunde historisch geprägte kollektive Muster regionaler Charakterbildungen in Deutschland herauszuarbeiten und nachzuweisen, s. Andreas Vonderach: Die deutschen Regionalcharaktere. Psychologie und Geschichte, Husum 2012. S. programmatisch hierzu Wolfgang Fach et al.: Regionenbezogene Identifikationsprozesse. Das Beispiel „Sachsen“ – Konturen eines Forschungsprogramms. In: Heinz-Werner Wollersheim et al. (Hg.): Region und Identifikation (Leipziger Studien zur Erforschung von regionenbezogenen Identifikationsprozessen, Bd. 1), Leipzig 1998, S. 1–32. Klaus Lange: Regionen. In: Handwörterbuch der Raumforschung und Raumordnung, Bd. 3, Hannover 2. Aufl. 1970, Sp. 2705–2719. S. hierzu die Typologie von Hans Heinrich Blotevogel: Auf dem Weg zu einer „Theorie der Regionalität“: Die Region als Forschungsobjekt der Geographie. In: Gerhard Brunn (Hg.): Region und Regionsbildung in Europa. Konzeptionen der Forschung und empirische Befunde (Schriftenreihe des Instituts für europäische Regionalforschungen, Bd. 1), Baden-Baden 1996, S. 44–68.
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Da gibt es 1. Beschreibungs- und Analyseregionen (Realregionen) 2. Tätigkeitsregionen ökonomischer und politisch-administrativer Organisationen (Aktivitätsregionen) 3. Wahrnehmungs- und Identitätsregionen. Relevant für unser Thema ist dabei in erster Linie das unter 3) subsummierte Regionskonzept, das Region primär als ein „mentales und soziales Konstrukt“ erachtet, das durch soziale Kommunikation geschaffen wird und einen „Aspekt der personalen und sozialen Identitätsbildung“ darstellt, wobei immer auch spezifische Interessenslagen und Macht als Determinante des sozialen Handelns Einfluss nehmen. Auch hierbei bleibt indes – und dies ist für den Geographen maßgeblich – ein erdräumlicher Bezug gewahrt. Denn die Bildung regionaler Identitäten findet schließlich, wie Heinrich Blotevogel anmerkt, nicht im luftleeren Raum, sondern in unserem Fall eben in Rheinhessen und damit in einer Real- und Aktivitätsregion statt. Zudem spielt das spezielle „Raumbild“ der Landschaft häufig eine wichtige Rolle als Anknüpfungspunkt, Katalysator und Medium regionaler Identitätsbildung.23 Speziell die „besonderen“, unverwechselbaren Orte, die eigentümliche Gestalt einer Landschaft gelten dabei als Ankerpunkte regionaler Identifikation.24 Für einen historisch orientierten Kulturwissenschaftler steht hingegen weniger der spezifisch geographische Aspekt im Vordergrund – wenngleich ich später noch einmal darauf zurückkomme –, sondern ihn interessiert zunächst einmal, inwieweit Region als „mentales und soziales Konstrukt“ geschichtlich fundiert ist. Geschichte tritt hierbei jedoch weniger als Wissenschaft in Erscheinung, sondern in erster Linie als Gedächtnis, als Erinnerungsreservoir. Die Geschichte begegnet hier vornehmlich, wie der Philosoph Hermann Lübbe wortspielerisch formulierte, unter dem Aspekt ihrer „Identitätspräsentationsfunktion“.25 Es geht mithin um das, was heute bevorzugt unter dem Begriff des kollektiven bzw. kulturellen Gedächtnisses kulturwissenschaftlich abgehandelt wird26 und wohlfeil im Geschenkschuber z.B. unter dem Titel „Deutsche Erinnerungsorte“ im Buchhandel angeboten wird.27 Unter einem kollektiven Gedächtnis wird dabei die Art und Weise verstanden, wie Kollektive (Groß- und Kleingruppen, Familien ebenso wie Firmen, Regionen oder sogar Nationen) durch einen selektiven und perspektivischen Bezug auf ihre Vergangenheit Identitätsofferten schaffen. Sie bedienen sich dabei unterschied23 24 25 26
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Ebenda, S. 60. So Detlev Ipsen: Landschaft im Fluss. In: Franz J. Felten/Harald Müller/Heidrun Ochs (Hg.): Landschaft(en): Begriffe, Formen, Implikationen (Geschichtliche Landeskunde, Bd. 68), Stuttgart 2012, S. 25–38, hier: S. 32. Hermann Lübbe: Die Identitätspräsentationsfunktion der Historie. In: Ders.: Praxis der Philosophie. Praktische Philosophie. Geschichtstheorie, Stuttgart 1978, S. 97–122. Als Überblicksdarstellung s. Nicolas Pethes: Kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorien zur Einführung, Hamburg 2008. Eingebunden in die Form des „Open Peer Commentary” wird die kulturwissenschaftliche iche che Gedächtnistheorie in einer ehelichen Parallelaktion von Aleida Assmann („Vier Formen des Gedächtnisses”) und Jan Assmann („Das kulturelle Gedächtnis”) in der Zeitschrift: Erwägen – Wissen – Ethik. Streitforum für Erwägungskultur, Jg. 13 (2002), H. 2, präsentiert. Etienne François/Hagen Schulze (Hg.): Deutsche Erinnerungsorte, Bd. I–III, München 2001.
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lichster symbolischer Medien, die von mündlich tradierten Erzählungen (z.B. Mythen), schriftlichen Texten über Bilder, Denkmäler, Jahrestage, Orte, Straßennamen bis hin zu Festen und Feiern, Bräuchen und Ritualen reichen. In ihnen werden Erinnerungen unter dem Gesichtspunkt: „Was war in der Vergangenheit so wichtig, dass es bleibend im Gedächtnis des Kollektivs bewahrt werden muss oder sollte?“28 objektiviert, auf Dauer gestellt und können so, vermittelt durch die verschiedensten Instanzen (z. B. Schulen, Museen oder Medien), zur Bildung und Festigung einer spezifischen Wir-Identität beitragen. Relativ leicht wird man ein Tableau kollektiver Erinnerungen zusammenstellen können, die als symbolische Kristallisationspunkte für die nationale Identität der Deutschen fungier(t)en. Herrmann der Cherusker dürfte darin ebenso seinen Platz finden wie das Nibelungenlied, der Volkswagen ebenso wie Neuschwanstein, Adolf Hitler genauso wie die Bundesliga oder die D-Mark. Und Rheinhessen? Was bedeutet dies nun aber für Rheinhessen? Sicherlich wird jeder Rheinhesse dem bekannten Heimatforscher Schulrat Franz Joseph Spang beipflichten können, der ein für den schulischen Gebrauch bestimmtes Heimatbuch für die rheinhessische Jugend Anfang der 1950er Jahre mit dem Titel „Mir ist in meiner Heimat vieles teuer“ versah.29 Doch was ist dieses Viele, was sind die identitätsrelevanten historischen Erinnerungsposten, die in spezifischer Weise das Selbstverständnis dieser Region und ihrer Bewohner heute prägen? Hier wird es jedoch schwierig, denn Rheinhessen ist als politisch-administrative Region historisch ein relativ junges Gebilde, das zudem auch keinen langen Bestand hatte.30 Erst 1816 hatte man auf dem Wiener Kongress den nördlichen Teil des damaligen französischen Donnersberg-Departements, das selbst wiederum Ende des 18. Jahrhunderts aus einem vielteiligen Territorienmosaik im Nachklang der Französischen Revolution als Verwaltungseinheit geschaffen worden war, dem Großherzog von Hessen-Darmstadt zugesprochen. Bis 1945 gehörte Rheinhessen – wie es der Name suggeriert – als Provinz zu Hessen, zunächst zum Großherzogtum Hessen-Darmstadt, ab 1918 zum Volksstaat Hessen. Nach dem Zweiten Weltkrieg bildete Rheinhessen einen Regierungsbezirk des neuen Bundeslandes Rheinland-Pfalz, der aber 1968 zusammen mit der Pfalz zum neuen Regierungsbezirk Rheinhessen-Pfalz vereint wurde. Als im Jahr 2000 im Zuge einer Umstrukturierung der Landesverwaltung die Regierungsbezirke in Rheinland-Pfalz aufgelöst und die Bezirksregierungen in die Aufsichts- und Dienstleistungsdirektion (ADD) bzw. Struktur- und Genehmigungsdirektionen (SGD) Nord und Süd überführt wur28 29 30
So Dietz Bering: Artikel „Kulturelles Gedächtnis“. In: Nicolas Pethes/Jens Ruchatz (Hg.): Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon, Reinbek bei Hamburg 2001, S. 329– 332, hier: S. 330. Franz Joseph Spang: Mir ist in meiner Heimat vieles teuer. Ein Heimatbuch für die rheinhessische Jugend, Teil 1, Mainz 1951. S. hierzu immer noch Klaus Dietrich Hoffmann: Die Geschichte der Provinz und des Regierungsbezirks Rheinhessen 1816–1985, Alzey 1985.
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den, verlor Rheinhessen endgültig seine politisch-administrative Grundlage als Region.31 Bezeichnenderweise wird auch von ausgewiesenen Rheinhessen-Experten konstatiert, dass sich hier, so Wolfgang Bickel, „kein regionales Selbstbewusstsein“ ausbilden konnte, „zumal die Voraussetzungen für eine rheinhessische Identifikation erst 1816 geschaffen wurden“.32 Und auch Volker Gallé gelangt zum selben Befund, wenn er von der „fragilen regionalen Identität Rheinhessens“ spricht.33 So war z.B. noch bis Anfang des 20. Jahrhunderts zumindest aus Mainzer Perspektive die Zuordnung Alzeys und des Alzeyer Lands zur Pfalz weit verbreitet. „Hinter Nieder-Olm beginnt die Pfalz“, lautete eine gängige diesbezügliche Redewendung; dort leben die Pfälzer Bauern und produzieren ihren Pfälzer Wein, was aus Mainzer Sicht wenig schmeichelhaft gemeint war.34 Eine gemeinsame Identität der Bewohner der neuen hessischen Provinz Rheinhessen hatte sich offensichtlich bis in das 20. Jahrhundert hinein allenfalls in Ansätzen ausgebildet, trotz des Diktums von Franz Joseph Spang und Heinrich Wothe aus dem Jahr 1930, wonach die ganze damalige Provinz Rheinhessen „eine räumlich, wirtschaftlich und geistig zusammenhängende Landschaft“ darstelle, das sich in ihrem Vorwort zu dem Band „Rheinhessen. Ein Heimatbuch“ findet.35 Jedenfalls wurde noch Anfang der 1930er Jahre seitens des Verkehrsvereins Worms mit der Selbstbezeichnung „Hessische Pfalz“ für den südöstlichen Teil Rheinhessens, das „Wormser Land“, geliebäugelt („Vun Worms bis hinner Alze schallt’s: Erhalt dich Gott, mei hessisch Pfalz!“).36 Und auch 80 Jahre später tut sich mancher Rheinhesse schwer mit dem von Spang und Wothe damals deklarierten Zusammenhang, vor allem wenn man diesen im Sinne eines Bewusstseins einer regionalen, inhaltlich spezifizierten rheinhessischen Verbundenheit bzw. Identität versteht. So bemerkte unlängst der Mainzer Fastnachter und Kabarettist Herbert Bonewitz – ein genauer Beobachter seiner Mitmenschen und seiner Umwelt – dass „der Einheimische sich selbst nicht unbedingt 31 32 33 34
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http://de.wikipedia.org/wiki/Regierungsbezirk_Rheinhessen-Pfalz. Wolfgang Bickel (Hg.): Rheinhessen: Zeugnisse seiner Geschichte (Quellenlesehefte zur Regionalgeschichte), Frankfurt a. M. 1994, S. 7. Volker Gallé: Kultur in Rheinhessen – Institutionalisierung als Weg zur Identität. Vortrag auf der Mitgliederversammlung Rheinhessen Marketing am 27. Juni 2005 in Mainz. Gleichwohl ist Gallé seit langem bemüht, Versatzstücke einer rheinhessischen Identität namhaft zu machen. Wilhelm Hoffmann: Rheinhessische Volkskunde, Frankfurt a. M. 1980, S. 12f. Die Bezeichnung des inneren Rheinhessen als Pfalz war in territorialgeschichtlicher Sicht ungenau und z.T. auch falsch, gleichwohl kam in ihr die richtige, wenngleich vage historische Erinnerung zum Ausdruck, wonach neben zahlreichen anderen Herrschaftsgebieten bzw. -flecken das (kur-) pfälzische Territorium einen Großteil des späteren Rheinhessen bildete, mit Alzey als dessen regionalem Zentrum. Franz Joseph Spang/Heinrich Wothe: Vorwort. In: Heinrich Wothe (Hg.): Rheinhessen. Ein Heimatbuch, Frankfurt a. M. 1978 (Unveränderter Nachdruck der Ausgabe von 1930), S. I. Auch Wilhelm Flegler konstatiert 1912, dass „Rheinhessen (…) eine innere Einheit [bildet], und das Bewußtsein davon lebt in den Bewohnern mit großer Kraft, stärker wohl als das Gefühl, Angehörige des Großherzogtums Hessen zu sein, Von ihnen könnte man (…) sagen: Rheinhessen wollen sie sein, und nur als Rheinhessen hessisch“, ders.: Rheinhessen in der Zopfzeit, Darmstadt 1912, S. 2. Sehr viel zurückhaltender ist diesbezüglich Wilhelm Hoffmann (wie Anm. 34), S. 12. Rheinhessische Volksblätter v. 8.7.1932.
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Noch Ende des 19. Jahrhunderts geht es kurz hinter Biebelnheim „in die Pfalz“ (Kartenskizze der Bahnlinie Bodenheim-Alzey)
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als ‚Rheinhesse’“ sehe, „sondern mit ausgeprägtem Lokalpatriotismus eher als Mainzer, Wormser, Alzeyer, Finther oder ‚Gunsenemmer‘ [Gonsenheimer].“37 Und selbst die Mundartforschung kommt, entgegen populären Versuchen, Rheinhessisch als eigene, lexikalisch fassbare Mundart zu präsentieren38, zu der ernüchternden Feststellung, dass „keine Mundart [existiert], die ‚Rheinhessisch‘ genannt wird, und zwar in dem Sinne, dass es sich um eine Varietät handelt, die sich eindeutig von anderen Mundarten abgrenzen ließe“.39 Sicherlich mag, zieht man einen Schluss aus den zugegebenermaßen nicht sehr tief schürfenden geschichtlichen Explorationsbemühungen, das konstatierte defizitäre Rheinhessenbewusstsein etwas mit dem fehlenden historischen „Zeitanker“ zu tun haben (Gundolf Baier40), an dem sich eine regionale Identität hätte festmachen können.41 Eine befriedigende Erklärung ist mit dem Verweis hierauf jedoch nicht zu gewinnen. Denn im Gegensatz zu Rheinhessen wird man der Pfalz vor dem Hintergrund einer bis 1816 teils ähnlichen, z.T. identischen Geschichte wohl kaum ein ausgeprägtes regionales Selbstbewusstsein absprechen können, das die Pfälzer bis heute auszeichnet,42 im Übrigen aber auch schon Mitte des 19. Jahrhunderts von Wilhelm Heinrich Riehl konstatiert wurde, der das „energische provinzielle Selbstbewusstsein“ der Pfälzer vermerkte.43 Weiterführend dürfte deshalb der Erklärungsversuch von Rosemarie Wehling sein, der im Sinne der oben erwähnten Dialektik von Identität und Alterität auf einen geringer ausgeprägten „sozialen Randkontrast“ (Norbert Bischof), auf eine weniger scharf profilierte Abgrenzung gegenüber den neuen, nach-napoleonischen Landesherrschaften – hier dem Großherzogtum Hessen-Darmstadt, dort dem Königreich Bayern – abstellt. Wehling schreibt: „Zwar hatte sich auch in Rheinhessen eine gewisse regionale Identität entwickelt, begünstigt durch einen ‚Provinzialrat, 37 38 39 40 41
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Herbert Bonewitz: Leit, was Leit!, in: Wirtschaftsbild 59. Jg., Juni 2009, S. 33. S. z.B. Hartmut Keil: Rheinhessisches Mundartlexikon. Ein heiteres Glossar mit über 2400 Ausdrücken, Schimpfwörtern und Redewendungen, Ingelheim 2009. Rudolf Post: Die Mundarten in Rheinhessen. Erforschung – Grenzen – Besonderheiten. In: Alzeyer Geschichtsblätter H. 38 (2010), S. 51–74, hier: S. 55. Gundolf Baier: Bedeutung räumlicher Identität für das Städte- und Regionenmarketing (http:// whz-cms-10.zw.fh-zwickau.de/gb/DOWNLOAD/Artikel%20regionale%20Identitaet%20 2001.pdf), S. 1–19, hier: S. 13. Das gilt auch für die explorativen Bemühungen zur Schaffung einer regionalen Identität für die „Metropolregion Rhein-Neckar“, die, so der Historiker Jörg Peltzer, „ohne die Legitimität der Vergangenheit auskommen müssen“. Ders.: Geschichte(n) im Fluss: Einleitende Bemerkungen zu Genese und Wandel kollektiver Identitäten in der Metropolregion Rhein-Neckar. In: Volker Gallé et al. (Hg.): Kurpfalz und Rhein-Neckar. Kollektive Identitäten im Wandel (Schriftenreihe des Instituts für Fränkisch-Pfälzische Geschichte und Landeskunde, Bd. 13), Heidelberg 2008, S. 19–30, hier: S.30. So der Befund von Jürgen Müller: Die Pfalz und ihre Pfälzer. In: Michael Geiger (Hg.): Geographie der Pfalz, Landau 2010, S. 336–351. In die gleiche Richtung zielt auch eine Bemerkung H. Fenskes. Wenn man ihm glauben darf, hatte auch die Auflösung des Regierungsbezirkes Pfalz und die nachfolgenden administrativen Umgestaltungen keine weiteren Auswirkungen auf das Selbstbewusstsein der Pfalz: „Das pfälzische Identitätsbewusstsein blieb von diesen Maßnahmen (…) unberührt.“ (http://www.historisches-lexikon-bayerns.de/artikel/artikel_ 44564#29). Riehl, Die Pfälzer (wie Anm. 13), S. 234.
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der die Provinz repräsentierte, wenngleich die regionale Identität schwächer ausgebildet blieb als in der Pfalz. Die Ursachen liegen wohl in der geringeren Fläche und Bevölkerung der Provinz, dem schwächeren Staatsbewusstsein und der geringeren Bedeutung des Großherzogtums im Vergleich zu Bayern, in der räumlichen Nähe zur Hauptstadt und den alten Provinzen, in der konfessionellen Übereinstimmung der Mehrheit der Bevölkerung (Protestanten) in allen Landesteilen mit dem Herrscherhaus, der Verwandtschaft in Sprache und Mentalität und nicht zuletzt der integrationsfördernden Politik des Großherzogtums.“44 Zumindest Ansätze eines regionalen Selbstbewusstseins erwuchsen, darauf wies Wilhelm Hoffmann in seiner „Rheinhessischen Volkskunde“ hin, aber auch in Rheinhessen aus der kontrastierenden Positionierung der neuen, dem Großherzogtum Hessen-Darmstadt zugeschlagenen Provinz gegenüber dem „fremden, insbesondere überrheinischen Volkstum, der Regierung und Landesherrschaft“. Während man sich sonst in Rheinhessen immer noch mit „Pfalz“ und „Mainzer Land“ benenne – Hoffmann schreibt dies Anfang der 1930er Jahre! – wird diesem gegenüber „der sonst, namentlich im Mainzer Land, nicht allzuhäufig gebrauchte Name ‚Rheinhessen‘ mit Stolz betont und geltend gemacht“.45 Einen weiteren, sicherlich nicht weniger wichtigen Grund für den bemerkenswerten Unterschied zwischen der Pfalz und Rheinhessen hat Wehling mit dem Verweis auf den rheinhessischen „Provinzialrat“ zumindest indirekt angesprochen: die Existenz von Institutionen, die als Träger und Protagonisten eines regionalen Geschichtsbewusstseins und Selbstbildes in der Pfalz seit dem 19. Jahrhundert fungierten – so der Bezirk Pfalz als regionale Selbstverwaltungskörperschaft, der Historische Verein der Pfalz mit seinem Historischen Museum in Speyer, die Pfälzische Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften, die in zahlreichen Publikationen die Pfalzforschung beförderte, oder aber der mitgliederstarke, verschiedene lokale und soziale Gruppen integrierende Pfälzerwaldverein, der stets auch aktiv Heimatpflege betrieb.46 Vergleichbare „kollektive Akteure“ indes fehlten und fehlen in Rheinhessen. Es gab hier keine bayerische Bezirksstruktur, die Historischen Vereine – sieht man von den Rheinhessischen Heimatforschern ab – waren und sind lokal oder allenfalls auf das nähere Umland hin ausgerichtet („Altertumsverein für Alzey und Umgebung“). Nicht zu Unrecht hat deshalb Volker Gallé unlängst die Notwendigkeit der Institutionalisierung der Kultur als Weg zu einer rheinhessischen Identität reklamiert. Gerade der Name Gallé macht aber auch deutlich, dass es nicht zuletzt einzelne Akteure waren (und sind), die gleichsam als Kristallisationskerne für die Ausbildung einer regionalen Identität fungier(t)en. In Bezug auf die Pfalz wäre hier prominent etwa an Volkskundler des 19. Jahrhunderts, wie August Becker und Wilhelm Heinrich Riehl, zu denken, an die wiederum im 20. Jahrhundert ein Namensvetter des ersteren, Albert Becker, anknüpfen konnte. Ihre volkskundlich-histori44 45 46
Rosemarie Wehling: Die politische Kultur der Region. In: Volker Gallé et al. (Hg.): Kurpfalz und Rhein-Neckar (wie Anm. 41), S. 145–174, hier: S. 161f. Wilhelm Hoffmann (wie Anm. 34), S. 12. S. hierzu Celia Applegate: Zwischen Heimat und Nation. Die pfälzische Identität im 19. und 20. Jahrhundert, Kaiserslautern 2007.
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sche „Parallelaktion“, die von zahlreichen weiteren Regional- bzw. Heimatforschern sowie von Literaten und bildenden Künstlern flankierend begleitet wurde, erwies sich als ungleich wirkkräftiger als der volkskundliche Monolith des Bechtolsheimer Pfarrers Wilhelm Hoffmann, dessen „Rheinhessische Volkskunde“ zudem erst 1932 erschien.47 Solche Persönlichkeiten bilden soziologisch gesehen, so hat es Arnold Gehlen formuliert, gleichsam „Institution(en) in einem Fall“.48 Wie Institutionen allgemein stellen sie Vermittlungsinstanzen kultureller Sinn- und Wissensproduktion dar. Sie kreieren „Leitideen“, verschaffen ihnen gesellschaftliche Geltung, helfen diese „auf Dauer“ zu stellen“ und durch Wertungs- und NormieVolker Gallé bei der Arbeit für Rheinhessen rungsstilisierungen verbindlich zu im Redaktionsausschuss des Heimatjahrbuchs Alzey-Worms machen. Vor allem aber verkörpern sie als Person die institutionellen Prinzipien und Geltungsansprüche, lassen sozusagen das „Wort Fleisch werden“, bringen dieses zur Darstellung, verschaffen ihm Präsenz.49 In Rheinhessen fehlten und fehlen indes nicht nur entsprechende kulturelle Institutionen, sondern auch und gerade – vielleicht mit Ausnahme des genannten Volker Gallé – Persönlichkeiten, die als „Institution in einem Fall“ nicht nur ideell so etwas wie eine rheinhessische Identität generieren können, sondern sie zugleich als Person, ja als personifiziertes Symbol, charismatisch verkörpern und präsentieren. Identitätsbildung aus dem „Geist der Wirtschaft“? So überrascht es auch nicht, dass die jüngsten Aktivitäten zur Schaffung bzw. Profilierung einer rheinhessischen Identität auch nicht von Institutionen kommen, die sich um die regionale Geschichtskultur kümmern, sondern von Organisationen der regionalen Wirtschaft: von der Initiative Rheinhessen Marketing e.V., von der für den Fremdenverkehr zuständigen Rheinhessen-Touristik GmbH sowie der Marketingorganisation der Winzer, der Rheinhessenwein e.V. Die Stärkung der Identität 47 48 49
Wilhelm Hoffmann (wie Anm. 34). Arnold Gehlen: Die Seele im technischen Zeitalter. Sozialpsychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft, Hamburg 1967, S. 118. SFB 537 „Institutionalität und Geschichtlichkeit“. Eine Informationsbroschüre, Dresden 1997, S. 15ff.
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Rheinhessens ist für sie dabei primär Teil strategischer Marketing-Konzepte, mit dem die Wirtschaftsregion Rheinhessen sich im nationalen und internationalen Wettbewerb der Regionen als unverwechselbar zu platzieren und behaupten sucht. Es geht dabei insbesondere um die Schaffung eines speziellen, unverwechselbaren „Images“, um die Etablierung der Marke „Rheinhessen“.50 Zwar steht bei all diesen Unternehmungen letztlich die Außenperspektive im Vordergrund, d.h. es geht primär um ein „Marketing nach außen“. Aber auch Marketingexperten ist bewusst, dass eine wesentliche und damit unverzichtbare Voraussetzung hierfür das „Marketing nach innen“ bildet – „denn die Grundlage für eine glaubwürdige Kommunikation nach außen ist die Identifikation der eigenen Bürger mit der (...) Region“.51 Diese Grundüberzeugung bestimmt auch die Aktivitäten der hiesigen Touristiker. Zwar zielen auch diese auf die Profilierung der Außensicht auf Rheinhessen. Aber ohne eine entsprechende „Identität der Menschen in und mit der Region“, darüber ist man sich im Klaren, lässt sich der „Aufbau eines unverwechselbaren Tourismusprogramms“, in dem das „authentische Rheinhessen“ im Mittelpunkt stehen soll, nicht oder nur schwer realisieren.52 Es überrascht sicherlich nicht, wenn ähnlich lautende Bekundungen auch von Verbandsfunktionären des hiesigen Weinbaus zu vernehmen sind: „Wir brauchen“, so der Präsident des Weinbauverbandes Ingo Steitz, „ein starkes Bekenntnis aller Rheinhessen zu ihrer Heimat“. Und dies seiner Ansicht nach auch und gerade deshalb, weil „Rheinhessen (...) eine Region [ist], die weder geographisch noch politisch in einem Lehrbuch zu finden ist. Niemand außer den Winzern ist gesetzlich gezwungen, diesen Begriff als Herkunftsnachweis zu führen. Daher ist nach Auflösung des Regierungsbezirkes Rheinhessen 1968 auch ein gewisser Identitätsverlust eingetreten. Dem versuchen wir entgegenzusteuern.“53 Kompensiert werden soll dieser Identitätsverlust dabei nicht zuletzt von den zahlreichen, vom Dienstleistungszentrum für den ländlichen Raum in Oppenheim ausgebildeten Kultur- und Weinbotschaftern, die es – wie man vor einiger Zeit in der AZ lesen konnte – als eine ihrer wesentlichen Aufgaben erachten, „eine regionale Identität zu schaffen“. Denn „nicht wenige Menschen, die hier leben, kennen die eigene Geschichte nicht und wissen auch nicht, was die Region alles zu bieten hat“.54 Damit bin ich wieder bei meinem Thema: Region, regionale Identität als Konstrukt, als Gestaltungsmöglichkeit und -aufgabe. In diesem Prozess des Regionalisierens sind sehr unterschiedliche Akteure mit den verschiedensten Interessen involviert, so dass es, wie die Mainzer Volkskundlerin Hildegard Frieß-Reimann be50 51 52 53 54
S. z.B. Stefan Herzog: Rheinhessen – auf dem Weg zur Marke. In: Willkommen in Rheinhessen. Ausgabe 2007, S. 3. Baier: Bedeutung (wie Anm. 40), S. 15. Erlebnis Weinkulturlandschaft Rheinhessen. Projekte und Kooperationen für die Zukunft der Region, hg. von Rheinhessen Marketing e.V. (o. J.). Interview mit Ingo Steitz, in: Forum Rheinhessen. Eine Sonderveröffentlichung des Rheinhessen Marketing e.V. (o. J.). Das Statement von Barbara Reif findet sich in dem Artikel „Mittwochs in Rheinhessen“ in der Allgemeinen Zeitung v. 2.12.2006, S.5.
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merkte, auch für die Zukunft eine Frage bleibt: „Welche Instanzen und Gruppen sind mit daran beteiligt, eine regionale Besonderheit zu erhalten und weiter zu entwickeln? Sind es in erster Linie die Einwohner, die Raumplaner oder die Redakteure in den Medien, ist es die Rheinhessenwerbung oder sind es die vielfältigen Publikationen über Rheinhessen?“55 Erlebnisgesellschaft und rheinhessische Identität Geht man im Folgenden tatsächlich einmal von den Bewohnern dieser Region, den Rheinhessen, aus und schaut, wie diese den überörtlichen Raum nutzen, was sie in ihrem überlokalen Umfeld tun, dann zeigen sich möglicherweise Varianten „alltäglicher Regionalisierung“, die nur wenig gemeinsam haben mit dem, was in der Außendarstellung als regionale rheinhessische Identität firmiert und hierfür nutzbar gemacht werden soll. Was ist Rheinhessen für Jemanden, der sich in Saulheim ein schmuckes MassaHaus gebaut hat, der tagtäglich nach Rüsselsheim zu seinem Arbeitsplatz pendelt, dessen Kollegen, mit denen er tagsüber mehrere Stunden zusammenarbeitet, aus Südhessen oder Aschaffenburg kommen, der seine Frau, eine Norddeutsche, beim Studium in Aachen kennen gelernt hat, dessen Kinder kaum Dialekt verstehen, geschweige denn sprechen – zumal deren Banknachbarn in der Schule Kemal und Swetlana heißen und nicht nur kein Rheinhessisch, sondern mitunter auch Deutsch nur eingeschränkt beherrschen –, der samstags zum Großeinkauf nach Gensingen zu „Globus“ fährt, seine Möbel in einem schwedischen Möbelhaus in Wallau erstanden hat, die Freizeit vor allem im Fitness-Center oder im Internet verbringt und seinen Gästen am liebsten den günstigen Chianti-Wein von Aldi serviert, der sehr gut zu den asiatischen Gerichten passt, die seine Frau bevorzugt kocht? Sicherlich, das skizzierte Beispiel mag karikierend überzeichnet sein, gleichwohl – cum grano salis – trifft es die Lebensrealität vieler heutiger Rheinhessen, zumal der Neubürger. Und es findet auch seine Bestätigung in einer empirischen regionalwissenschaftlichen Studie, die vor einigen Jahren von Frankfurter Volkskundlern in Hessen, im Vogelsberg- und im Main-Kinzig-Kreis zum Thema „Region. Heimaten der individualisierten Gesellschaft“ durchgeführt wurde.56 Statt einer regionalen Identität der Bewohner dieser Kreise fanden die Forscher57 sehr unterschiedliche Profile räumlicher Orientierungen, die sie zu insgesamt sieben „raumspezifischen Typen“ bündelten: Die „Regionalisten“ als zumindest potentiell aktive Träger einer regionalen Identifikation bildeten hierbei jedoch nur eine Minderheit (7%). Die größte Gruppe stellten die sog. „Lokalpatrioten“ (36%), die sich als einem örtlichen Lebenszusammenhang zugehörig definierten, 55 56 57
Hildegard Frieß-Reimann: Rheinhessen – zum Profil einer Region. In: Weinbrief der Weinbruderschaft Rheinhessen (2000), S. 96–107, hier: S. 104. Heinz Schilling und Beatrice Ploch (Hg.): Region. Heimaten der individualisierten Gesellschaft (Schriftenreihe des Instituts für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie der Universität Frankfurt am Main, Bd. 50), Frankfurt a. M. 1995. Eva Läufer und Gabriele Müller, Menschen und Lebenswelten. Eine Typologie ihrer Raumbezogenheit. In: Schilling/Ploch (Hg.), Region (wie Anm. 56), S. 245–275.
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dann folgten die „Insulaner“ (23%), deren Leben sich überwiegend zurückgezogen in den eigenen vier Wänden abspielt, während die drittgrößte Gruppe – in die ich auch meinen Beispiel-Rheinhessen einordnen würde – von den „Regionnutzern“ (16%) gebildet wurde, die die Region als Netz von Angeboten ohne tiefere Bedeutung gebrauchen. Sie bedienen sich zwar der Region, fühlen sich ihr gegenüber aber nicht verantwortlich. „Die Region erscheint ihnen austauschbar: Ein universelles, standardisiertes Nutzungsareal“, das durch ein „Nutzungsviereck“ aus Wohnen, Arbeiten, Einkaufen und Freizeit individuell markiert wird. Eine der Aussagen zu der Interviewerfrage, was ihr in der Region am meisten fehle, um glücklich zu sein, beantwortete eine der Personen dieser Gruppe lapidar mit dem Satz: „Mir fehlt ein BMW 535“. Interessanterweise, darauf hat der Tübinger Kulturwissenschaftler Kaspar Maase aufmerksam gemacht, zeigen aber die parallel zu den standardisierten Befragungen durchgeführten Intensivinterviews, dass auch die Angehörigen der zuletzt genannten Gruppe, die scheinbar keine Bindung zu ihrer Region aufwiesen, sehr wohl Bilder der Region hatten, Vorstellungen von ihr besaßen und formulierten. Region erscheint hier jedoch in erster Linie als „Quelle persönlicher ästhetischer Erfahrungen“, die sich mit bestimmten „Blicken“, einem bestimmten „Gang“ verknüpften. Es ist die Landschaft, es sind Raumbilder, die für sie die Region symbolisierten.58 Vielleicht sollte man – ich beziehe mich dabei weiterhin auf Kaspar Maase – die Frage nach der regionalen Identität der Rheinhessen einmal in dieser Richtung weiterverfolgen. Dafür sprechen auch die Befunde der Kultursoziologie, die eine Dominanz der Erlebnisorientierung in unserer spätmodernen Gesellschaft diagnostizierte. Von Gerhard Schulze stammt das Mitte der 1980er Jahre geprägte entsprechende soziologisch-gesellschaftsdiagnostische Begriffsetikett: „Erlebnisgesellschaft“.59 Das grundlegende Lebensproblem der meisten Menschen besteht demnach im Gegensatz zu früher – und dieses früher datiert bis in die 1950er Jahre – nicht mehr darin, das eigene Überleben unter den Bedingungen von Not und Mangel zu sichern. Wir verfolgen stattdessen heute das „Projekt des schönen Lebens“. Handlungsleitend ist für uns der Wunsch nach befriedigenden, angenehmen, intensiven, außergewöhnlichen, kurz: nach schönen, positiv bewerteten Erlebnissen. Vor diesem Hintergrund erscheint auch die Region zunehmend als „Erlebnisraum“, der eine Vielzahl von relativ leicht zugänglichen Erlebnismöglichkeiten beinhaltet.60 Region erschließt und formiert sich, aus dieser Perspektive betrachtet, vornehmlich als „ein verdichteter Kommunikationsraum“. Dieser kommt, so der Volkskundler Hermann Bausinger, zustande „über die Integration subjektiver Erfahrungshorizonte, eng verbunden mit der Reichweite der persönlichen Interessen,
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Kaspar Maase: Nahwelten zwischen „Heimat“ und „Kulisse“. Anmerkungen zur volkskundlich-kulturwissenschaftlichen Regionalitätsforschung. In: Zeitschrift für Volkskunde 94. Jg. (1998), I. Halbjahresband, S. 53–70. Gerhard Schulze: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt am Main, New York 1993. Maase, Nahwelten (wie Anm. 58), S. 64.
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und er wird geprägt durch die vielen individuellen, sich aber zu einer Figuration zusammenfügenden Kontaktgeflechte“.61 Als ein Raum verdichteter Kommunikation erscheint Region im Kontext der Erlebnisgesellschaft sozusagen als erlebnisorientierte „Diskursformation“.62 Die Individuen tauschen untereinander Informationen aus, die ihre Chance zum Herbeiführen schöner Episoden bzw. Erlebnisse erhöhen („Weißt du schon, kennst du schon …“). Man gibt Tipps über hervorragende Restaurants und urige Weinstuben weiter, erfährt, wo der angesagte Winzer ist, erhält den Hinweis auf eine ambitionierte Kleinkunstbühne in Saulheim, schwärmt von den Wormser Nibelungenfestspielen, wird neugierig auf die geschilderten Möglichkeiten wunderschöner Spaziergänge rund um den Petersberg. Als Erlebnisraum kann sich die Region Kaspar Maase zufolge zum anderen aber auch und gerade dem öffnen, was nach außen hin in Form von Selbstbildern bzw. Autostereotypen als das vermeintlich Besondere, das Spezifische oder Eigene der Region kommuniziert wird, sei es in den Werbematerialien der Touristiker und der Weinwirtschaft, in werbeorientierten Lifestyle-Magazinen wie „VivArt“, sei es im Hörfunk, dem Dritten Programm des SWR („Fahr mal hin“), auf der Rheinhessen-Seite der Allgemeinen Zeitung oder in Gallés Rheinhessenführer. Hier werden Bilder mit Erlebnisreiz geschaffen, die es auch dem Einheimischen erlauben, eine Erfahrung in den gesuchten Status des Schönen zu erheben, so wie man es als Tourist im Umgang mit fremden Gegenden gelernt hat. Der Blick und die Wertschätzung von außen lassen, zurückprojiziert, plötzlich auch die Backesgrummbeere wieder interessant werden, der Rheinhessenwein scheint angesichts der andauernden Elogen auf die „neuen Wilden“ des hiesigen Weinbaus doch seine Qualitäten zu haben, die vermeintlich eintönige, ausgeräumte Landschaft kann ob ihrer Offenheit, den Aus- und Weitsichten, die sie bietet, genossen werden. Kommerziell geprägte, positiv gestimmte stereotype Images avancieren mithin zu Anknüpfungspunkten für regionale Identifikationsprozesse (looking glass self), bieten sozusagen ein kognitives wie emotionales Reservoir zur Befriedigung des allgemeinen Bedürfnisses nach einer positiven Selbsteinschätzung, einer positiv gestimmten kollektiven Identität, wie es die sozialpsychologische „Theorie der sozialen Identität“ postuliert.63 Die vermeintlich oberflächlichen, äußerlichen Stereotype bzw. Images regionaler Selbstdarstellungen können unter den Bedingungen einer erlebnisorientierten Weltsicht, darauf weist der Marburger Volkskundler Harm-Peer Zimmermann hin, durchaus „Rückhalt und Orientierung, Gefühls- und Verhaltenssicherheit, Interpre61
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Hermann Bausinger: Kulturen – Räume – Grenzen. In: Hildegard Frieß-Reimann/ Fritz Schellack (Hg.): Kulturen, Räume, Grenzen. Interdisziplinäres Kolloquium zum 60. Geburtstag von Herbert Schwedt (Studien zur Volkskultur in Rheinland-Pfalz, Bd. 19), Mainz 1996, S. 7–24, hier: S. 18. Grundlage für die folgenden Ausführungen bildet der bereits zitierte Aufsatz von Maase, Nahwelten (wie Anm. 58), S. 53–70. Zu dem auf den Forschungsarbeiten von H. Tajfel und J. C. Turner basierenden spezifisch sozialpsychologischen Konzept „sozialer Identität“ s. Bernd Simon/ Roman Trötschel: Soziale Identität. In: Hans-Werner Bierhoff/Dieter Frey (Hg.): Handbuch der Sozialpsychologie und Kommunikationspsychologie (Handbuch der Psychologie 3), Göttingen u.a. 2006, S. 684–693.
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tationen und Gewissheiten über die Richtigkeit eines Standpunkts und einer Handlung“ vermitteln. Ja, man könne möglicherweise sogar sagen, so zieht er vorsichtig den Schluss aus seinen Überlegungen zum Verhältnis von „Identität und Image“, dass „in marktwirtschaftlich geprägten und erlebnisorientierten Gesellschaften (…) die leichteren und eingängigeren Images mehr und mehr die weniger flexiblen, nämlich komplexeren, historisch nicht selten schwerfälligen oder sperrigen Identitäten“ ersetzen. Denn „als kompakte Vorstellungen sind Images vielfältig und effektiv einsetzbar, und zwar nicht nur für Werbe- und Marketingzwecke, sondern auch als Angebote, auf die sich ein lokales Selbstbewusstsein stützen kann, wie auf eine Identität“.64 Um nochmals das Beispiel der Landschaft aufzugreifen, so liefert das im Jahr 2006 gestartete Leitprojekt „Erlebniswert Landschaft“, das im Auftrag des Dienstleistungszentrums Ländlicher Raum Rheinhessen-Nahe-Hunsrück durchgeführt wurde, entsprechende Ansätze zur Kreierung von erlebnisorientierten, ästhetischen Images der rheinhessischen Landschaft. Auch hierbei geht es primär um die „Förderung des Weintourismus in Rheinhessen“; auch hier steht letztlich wieder die marketingorientierte Außenperspektive im Vordergrund. Aufgabe des beauftragten Projektbüros war die Erarbeitung von Handlungsempfehlungen zur Verbesserung des rheinhessischen Landschaftsbildes mit dem Ziel, „das Besondere an Rheinhessen herauszuarbeiten und Gestaltungsmöglichkeiten zu entwickeln, die diese Besonderheiten besser erlebbar machen“.65 Implizit geht es hierbei zugleich aber auch um eine Neujustierung dessen, was der Volkskundler Wilhelm Heinrich Riehl Mitte des 19. Jahrhunderts als das „landschaftliche Auge“ bezeichnete.66 Kulturwissenschaftlich gesprochen handelt es sich dabei um die Schaffung eines anderen Deutungsrahmens für die Wahrnehmung der Landschaft, um neue Wahrnehmungsmuster und ästhetische Codes, die eine veränderte Sicht, einen neuen Blick auf die Landschaft eröffnen und nahelegen. Denn Landschaft, so schreibt der Volkskundler und Denkmalpfleger Wolfgang Seidenspinner in seiner beispielgebenden regionalgeschichtlichen Studie „Die Erfindung des Madonnenländchens“, ist immer auch „ein Konstrukt und basiert auf einer bestimmten Verstehensdisposition, auf einem kulturellen Voraussetzungssystem, in dem sich ästhetische Vorbilder und Konventionen mit Ideen, Werten, Normen und Sehgewohnheiten verbinden“.67 64
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Diese Aussagen formulierte H.-P. Zimmermann im Zusammenhang eines Projektes zur „Popularität der Brüder Grimm in Hessen“. Aufgabenstellung war es zum einen, grundlegende Informationen über deren Popularität in Hessen einzuholen. Zum anderen sollte untersucht werden, inwieweit die Bedeutung der Brüder Grimm im öffentlichen Bewusstsein breiter Bevölkerungskreise verankert ist und wie sich dieses Bewusstsein äußert und auswirkt, s. Harm-Peer Zimmermann: Zwischen Identität und Image. Die Popularität der Brüder Grimm in Hessen. Einleitung. In: Ders. (Hg.): Zwischen Identität und Image. Die Popularität der Brüder Grimm in Hessen (Hessische Blätter für Volks- und Kulturforschung N.F., Bd. 44/45), Marburg 2009, S. 13–26, hier: S. 17. Weinkulturlandschaft Rheinhessen. Wege zur Verbesserung der Erlebbarkeit, hg. vom Dienstleistungszentrum Ländlicher Raum, Rheinhessen-Nahe-Hunsrück und der Rheinhessen-Touristik GmbH, o. O. o. J. (2010). Im Internet abrufbar unter http://gutenberg.spiegel.de/buch/1213/4. Wolfgang Seidenspinner: Die Erfindung des Madonnenländchens. Die kulturelle Regionalisie-
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Bereits 1930 hat Jakob Klippel – allerdings ohne bleibenden Nachhall – in einer Abhandlung über die „Die rheinhessische Landschaft“ versucht, mittels einer explizit ästhetischen Kategorisierung eine solche neue Deutungsformel für die hiesige Landschaft zu generieren. Sein assoziativer Brückenschlag hin zur avantgardistischen Kunstrichtung der Weimarer Zeit, der Neuen Sachlichkeit – der Begriff wurde 1925 anlässlich einer Ausstellung in der Mannheimer Kunsthalle geprägt – ließ die vermeintlich monotone „Agrarsteppe“ Rheinhessens plötzlich als zeitgemäß-moderne „hohe Schönheit“ erblühen, verwandelte die möglicherweise eintönig, ja langweilig anmutende rheinhessische Landschaft68 in „die neue Schönheit der neuen Sachlichkeit“ – „Weite Blicke (...) in die fruchtbaren Täler, die Ebenen gleichen, bis hin zu den scharfgeschnittenen Hügeln mit ihren Weinbergen, nur vereinzelt ein Baum oder Strauch im Blickfeld, überall die gerade Linie vorherrschend, wie sie der Ackerbau vorschreibt, alles Sachlichkeit und Einklang zwischen Landschaftsform, Boden und Vegetation: das ist Rheinhessen.“ 69 Und auch in dem aktuellen Projekt „Weinkulturlandschaft Rheinhessen“ geht es um solche Wahrnehmungsmuster und Interpretationsschemata für das „landschaftliche Auge“ der Touristen wie der Einheimischen. Neu definiert, anders gerahmt, so die Überzeugung der Projektverantwortlichen, können die charakteristischen Besonderheiten der rheinhessischen Landschaft ihre speziellen Reize entfalten, kann deren Erlebbarkeit und damit ihre Wertschätzung verbessert werden, und nicht zuletzt kann auf diese Weise die scheinbar bis dato nur latent existierende Identifikation der Einheimischen mit ihrer Region verstärkt werden. Da ist die reizvolle Silhouette der Rheinhessen umgebenden Mittelgebirgszüge, da ist die besondere Ästhetik der landschaftlichen Schlichtheit Rheinhessens (nicht Monotonie), ist die gleichsam schwingende Landschaftsmorphologie, da sind die sich sanft erhebenden Tafelberge, ist vor allem aber die lichtdurchflutete Weite, die fast allgegenwärtige Weitsicht, die Rheinhessen in großen Dimensionen erlebbar macht. Von daher verwundert es nicht, dass die Eigenart der rheinhessischen Landschaft mittlerweile auch in der offiziösen Rheinhessen-Hymne, in Gallés „Hiwwellied“, besungen wird. Der Versuch, sich der regionalen Identität über die Erlebnisdimension zu nähern, ist mithin keineswegs so außergewöhnlich, wie es zunächst vielleicht anmutet. Das Regionalmarketing hat ihn längst für sich entdeckt. Nebenbei bemerkt hat man in diesem Zusammenhang aber auch den alten mentalitätsgeschichtlichen Analogieschluss vom Land auf die Leute revitalisiert, wie ihn etwa Wilhelm Heinrich Riehl Mitte des 19. Jahrhunderts ausgiebig in seiner Beschreibung der Pfälzer praktizierte. Hat man erst die Weite, die Offenheit der rheinhessischen Landschaft für
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rung des Badischen Frankenlands zwischen Heimat und Nation (Zwischen Neckar und Main. Schriftenreihe des Vereins Bezirksmuseum e.V. Buchen, H. 30), Buchen 2004, S. 71. So mutete sie noch der in Alzey geborenen Schriftstellerin Elisabeth Langgässer in ihrem ersten größeren Prosawerk, der „Kindheitsmythe“ Proserpina aus der Mitte der 1920er Jahre an. Dort heißt es: „In dem rheinischen Hügelland, dessen eintönige und unbewaldete Bodenwellen nach Südwesten in die pfälzischen Berge zu münden beginnen …“. Jakob Klippel: Die rheinhessische Landschaft. In: Heinrich Wothe (Hg.): Rheinhessen. Ein Heimatbuch, Frankfurt a. M. 1978 (Unveränderter Nachdruck der Ausgabe von 1930), S. 1–23, hier: S.1.
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Rheinhessen „schwingt“.
sich neuentdeckt, so liegt der Analogieschluss auf eine entsprechende charakterliche Eigenart bzw. Mentalität der Rheinhessen offensichtlich nahe: „Eine offene Geisteshaltung passt zur Weite der Landschaft.“70 Davon abgesehen bietet eine Sichtweise, die Region als Erlebnisraum versteht, nicht zuletzt auch die Möglichkeit, einen regionalen Bundesligaklub und damit den durch und durch kommerzialisierten Fußballsport als wichtigen Bestandteil regionaler Identitätsbildung wahrzunehmen.71 Denn gerade der Fußball kann populäre, medial verstärkte Erlebnis-Anlässe und Erlebnis-Reize liefern, über die sich mitunter ein besonders stark begründetes regionales Wir-Gefühl ausbilden kann. Regionale Identifikation ist nämlich nicht nur eine kognitive Sache, sondern auch und vor allem eine emotionale. Dies zumal, als sich mit Mainz 05 in den letzten Jahren ein Fußballverein in der Bundesliga etabliert hat, der im Selbstverständnis wie in der Außenwahrnehmung als der „Rheinhessen-Club“ firmiert.72 Allerdings stehen dem Mainzer Alleinvertretungsanspruch für Rheinhessen bis dato ältere, über Jahrzehnte gewachsene fußballerische Loyalitätsbeziehungen zum
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So in Vivart. Magazin für Kultur und Lebensart Heft 1 (2009), S. 8. Wer die (klein-)bäuerlich geprägte Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Rheinhessens kennt, mag hier zwar stutzen, aber gut … Hierzu s. z.B. die empirisch angelegte Diplomarbeit aus der Geographie von Mirko Twardy aus dem Jahr 2010, http://www.zfw.tu-dortmund.de/wilkesmann/fussball/_publi/Diplomarbeit_ Twardy.pdf S. hierzu den Beitrag von Christa Niem in diesem Band sowie dies.: „Im Schatten des Doms“ – Fußballfankultur und Fastnacht in Mainz. In: Volkskunde in Rheinland-Pfalz 28/2013, S. 5–22.
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1. FC Kaiserslautern73 entgegen, die sich offensichtlich erst allmählich, vor allem bei den jüngeren Generationen, zu lösen beginnen. So sind die „Roten Teufel“ auch in Rheinhessen nach wie vor mit ihren Fanclubs präsent und besitzen eine große Anhängerschaft, wenngleich auch der langjährige Vorsitzende der Fanclubs der Region Rheinhessen-Pfalz, Klaus Becker aus Hochborn, einräumen muss, „dass gerade die Jungen der Region Rheinhessen/Pfalz in Scharen zu den 05ern ‚überlaufen‘“.74 Kultursoziologisch interessant erscheint der Vorschlag, Region als Erlebnisraum zu verstehen, insbesondere auch deshalb, weil uns gegenwärtig solcherart Erlebnisse immer häufiger in der Form des Events dargeboten werden.75 D.h., die kulturellen Rahmenbedingungen des Erlebens werden organisatorisch so zugerichtet, dass außergewöhnliche Erlebnisse bzw. außeralltägliche Erlebnisqualitäten in wie auch immer gestalteten Paketen – gleichsam mit Empfängergarantie – als in der Regel kommerzielle Angebote zur Verfügung stehen und nachgefragt werden können. Und die Zahl derartiger Event-Offerten, auch und gerade regionaler Art, nimmt rasant zu; immer mehr Akteure bewegen sich auf diesem Feld, bieten entsprechende Events an: Unternehmen, Weingüter, die oben angesprochenen Kultur- und Weinbotschafter, aber auch Vereine, Gemeinden, ja Museen. In der Soziologie wird längst von einem Zeitalter der Event-Kultur gesprochen, dessen Signum die zunehmende Eventisierung sei.76 In unseren spät- bzw. postmodernen Gesellschaften, die gekennzeichnet sind von Individualisierung, Pluralisierung und Multoptionalität, in der traditionale Formen der Sozialbindung zunehmend erodieren, fungieren Events gleichsam als neue Formen der Vergemeinschaftung; sie bieten, so der Koblenzer Soziologe Winfried Gebhardt, eine der wenigen Möglichkeiten, die es noch erlauben, auf der Basis geteilter, emotional berührender Erlebnisse – zumindest situativ – die Erfahrung von Einheit und Ganzheit zu machen.77 Wenn diese soziologische Beschreibung unserer gesellschaftlichen Gegenwart zutrifft, so hat dies auch Folgen für die Identitätsbildung, von Individuen wie Kollektiven. Kulturell vordefinierte, festgefügte, konsistente und dauerhafte Identitäten 73
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Zum 1. FC Kaiserslautern als regionalem Identitätsstifter s. Markwart Herzog: „Lautern ist eine große Sportfamilie!“ Fußballkultur als Faktor städtischer und regionaler Identität. In: Wolfram Pyta (Hg.): Der lange Weg zur Bundesliga. Zum Siegeszug des Fußballs in Deutschland, Münster 2004, 183–214 Betze“-Fahne hängt auf Halbmast. In: Allgemeine Zeitung v. 2.5.2010, S. 12. Allgemein zu Events s. z.B. Birgit Mandel: Event. In: Verena Lewinski-Reuter/Stefan Lüddermann (Hg.): Glossar Kulturmanagement, Wiesbaden 2011, S. 49–55; aus spezifisch kultursoziologischer Sicht s. Winfried Gebhardt, et al. (Hg.): Events. Soziologie des Außergewöhnlichen (Erlebniswelten, Bd. 2), Opladen 2000. S. Winfried Gebhardt: Die Verszenung der Gesellschaft und die Eventisierung der Kultur. In: Udo Göttlich et al. (Hg.): Populäre Kultur als repräsentative Kultur. Die Herausforderung der Cultural Studies (Fiktion und Fiktionalisierung, Bd. VI), Köln 2. Aufl. 2010, S. 290–308. So Winfried Gebhardt mit Blick auf die Eventisierung der Religion in einem Vortrag anlässlich einer Konferenz vom 11.-13.9.2007. Hier zitiert nach dem überarbeiteten Vortragsmanuskript von Winfried Gebhardt: „Wie ticken die eigentlich – und wie gehen unsere Uhren …?“ Über sog. „christlich-fundamentalistische“ Gruppierungen und die Frage nach der Empfänglichkeit für „einfache Antworten“. Ein religionssoziologischer Blick, überarbeitetes Ms. (o.J.), S. 1–16, hier: S. 7.
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lösen sich auf; Identitätsbildung wird reflexiv, wird zur Identitätsarbeit von „BastelExistenzen“, die sich „Patchwork-Identitäten“78 schaffen, die immer mehr den Charakter von punktuellen, von „situativen Identitäten“ annehmen.79 Und hier schließt sich der Kreis. Versteht man Events als „situative Vergemeinschaftungen“80, über bzw. durch die sich solcherart situative Identitäten bilden, so könnte man die oben skizzierten Formen einer erlebnisorientierten und -fundierten regionalen Identität als situative Teilidentität, als Teilstück heutiger Flickwerk-Identitäten verstehen.81 Insofern könnten regionale Events durchaus als situative Ankerpunkte regionaler Identität oder besser regionaler Identifikation fungieren. Denn warum sollte man sich nicht bei einem Konzert von Volker Gallé oder der Dautenheimer Bembelsänger, bei einem Hoffest rheinhessischer Winzer in Flörsheim-Dalsheim, bei einem Gemarkungsrundgang mit den Siefersheimer Kräuterhexen oder bei einem Heimspiel des Rheinhessen-Clubs Mainz 05 zumindest situativ eins mit Rheinhessen fühlen, zum Rheinhessen werden – „Opelaner“ ist man morgen wieder. Ich hoffe, dass meine Ausführungen die Erwartungen nicht ganz enttäuscht haben. Ich hatte mehr Fragen als Antworten angekündigt und ich glaube Ihnen genug Fragen unterbreitet zu haben. Gesprächsgrundlagen sind also gegeben. Was ich nicht geliefert habe, ist eine Auflösung der Gleichung: Die regionale Identität Rheinhessens ist ... Man erinnere sich aber bitte an die eigene Schulzeit. Es ist das Schicksal vieler Gleichungen, dass Sie sich zumindest im ersten Zugriff als nicht lösbar erweisen.82
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So der Sozialpsychologe Heiner Keupp. S. z.B. ders.: Patchworkidentität – riskante Chancen bei prekären Ressourcen. Im Internet verfügbar unter http://www.ipp-muenchen.de/texte/ keupp_dortmund.pdf . Zum Begriff der „situativen Identität“ s. Hartmut Rosa: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt a. M. 2005, S. 362–390; gegenüber Vorstellungen einer völligen Flexibilisierung der Identitätsbildung unter den Bedingungen der Spätmoderne beharrt H. Rosa, sicherlich zu Recht, darauf, dass auch weiterhin eine „rudimentäre transsituationale Einheit und Kontinuität des Selbst“ als Voraussetzung der Identitätsbildung existiert, ebenda: S. 374ff. Winfried Gebhardt: Flüchtige Gemeinschaften: Eine kleine Theorie situativer Event-Vergemeinschaftung, In: Dorothea Lüddeckens/Rafael Walthert (Hg.): Fluide Religion. Neue religiöse Bewegungen im Wandel. Theoretische und empirische Systematisierungen, Bielefeld 2010, S. 175–188. Auch der Soziologe Bernhard Giesen weist auf die neue Qualität kollektiver Identitäten unter den Bedingungen der Erlebnisgesellschaft hin. Er stellt fest: „Kollektive Identität, die ehemals auf der Vorstellung einer dauerhaften Bindung beruhte, wird nun von den wechselnden Gezeiten des Unterhaltungsmarktes bewegt.“ S. ders.: Kollektive Identität. Die Intellektuellen und die Nation, Ausg. 2, Frankfurt a.M. 1999, S. 333. Ein weiterer, anders gelagerter Versuch der Annäherung an die Frage nach der rheinhessischen Identität findet sich in dem Aufsatz des Autors: Rheinhessen - Identität, Modernität und keine Tracht. In: Heimatjahrbuch des Landkreises Alzey-Worms 51/2016, S. 114–119.
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Dialekt und Dialektbewusstsein in Rheinhessen Das Thema „Dialekt und Dialektbewusstsein in Rheinhessen“ enthält zwei Perspektiven, nämlich einerseits eine linguistisch-dialektologische Perspektive und andererseits eine metalinguistisch-mentalitätsgeschichtliche. Da könnten zum ersten Aspekt etwa folgende Fragen gestellt werden: - Was weiß die dialektologische Forschung über die Mundarten in Rheinhessen? - Gibt es dialektale Besonderheiten, die ausschließlich auf Rheinhessen zutreffen? - In welchem Zusammenhang steht Rheinhessen mit den Mundarten benachbarter Regionen? - und schließlich: Kann man von einer „rheinhessischen Mundart“ sprechen? Beim zweiten Themenkomplex, also dem metalinguistisch-mentalitätsgeschichtlichen, wären folgende Fragen denkbar: - Hat eine doch relativ junge politische Gebietsfestlegung Auswirkungen auf das sprachliche Selbstbewusstsein einer Region? - Wie haben die Bewohner ihre jeweilige Mundart vor und nach der Gründung einer Provinz namens „Rheinhessen“ bezeichnet? - Existiert ein sprachliches Identitätsgefühl, das sich als „Rheinhessisch“ manifestiert? - Gibt es Hinweise, dass das gemeinsame sprachliche Identitätsgefühl schwindet, nachdem „Rheinhessen“ als politisch-geographische Größe (Provinz, Regierungsbezirk) nicht mehr existiert? Wie die letzte Frage andeutet, ist „Rheinhessen“ als Bezeichnung einer politischadministrativen Einheit ein relativ junges und dazu kurzlebiges Gebilde. Denn es wurde erst 1818 als Bezeichnung für jene linksrheinischen Gebiete geprägt, die nach dem Wiener Kongress zum Großherzogtum Hessen-Darmstadt kamen. Rheinhessen war danach neben Oberhessen und Starkenburg eine Provinz dieses Großherzogtums mit einigen Besonderheiten, die sich aus der ehemaligen französischen Verwaltung ableiteten.1 Nach der Zeit des Großherzogtums und des Volksstaates Hessen war „Rheinhessen“ ab 1946 der Name für einen der insgesamt fünf Regierungsbezirke des neugegründeten Landes Rheinland-Pfalz, der 1968 mit der Pfalz zum Regierungsbezirk „Rheinhessen-Pfalz“ vereinigt wurde. Mit der Auflösung der Regierungsbezirke in Rheinland-Pfalz zum Jahre 1999 verschwand auch „Rheinhessen“ als politisch-administrative Einheit von der Bildfläche. Lediglich in der Bezeichnung eines Weinbaugebietes hat „Rheinhessen“ als Gebietsbezeichnung bis heute überlebt. 1
Siehe Karl-Georg Faber: Die rheinischen Institutionen, in: Johannes Bärmann/Alois Gerlich/ Ludwig Petry (Hg.): Hambacher Gespräche 1962 (Geschichtliche Landeskunde, 1). Wiesbaden 1964, S. 20–40.
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1. Die Etablierung von „Rheinhessisch“ als Dialektbezeichnung Sechs Jahre nach der Schaffung des Begriffs „Rheinhessen“, also im Jahr 1824, erschien in der Müllerschen Buchhandlung, Mainz, ein Büchlein mit dem Titel „Etwas zum Lachen“, zunächst anonym, doch in späteren Auflagen dann unter Nennung des Autors, nämlich Friedrich Lennig.2 Lennig wurde 1796 in Mainz geboren und starb ebenda im Jahr 1838. Sein Büchlein enthält einzelne Gedichte und gereimte Dialoge meist humoristischen Charakters, einige davon in Mundart. So auch das Zwiegespräch „Der Perückenmacher und der Bauer“, das Lennig mit dem Untertitel „Eine Fastnachtsposse im pfälzischen Dialekte“ einführt. Hier liefern sich ein galanter Perückenmacher, der natürlich Hochdeutsch spricht, und ein Bauer in seinem Landdialekt ein witziges Wortgefecht mit versöhnlichem Schluss. Interessant für unsere oben angesprochene Fragestellung ist die Klassifizierung Lennigs, der das, was der Bauer spricht, als „pfälzischen Dialekt“ bezeichnet, wobei jedoch der Bauer angibt, er sei in „Nerrersalem“ (s. Abb. 1), also Nieder-Saulheim, zuhause, einem Ort etwas mehr als 10 km südlich von Mainz. Lennig klassifiziert also den Nieder-Saulheimer Dialekt als „Pfälzisch“. In späteren, stark erweiterten Auflagen seines Büchleins „Etwas zum Lachen“ überschreibt Lennig alle seine Mundartgedichte im Inhaltsverzeichnis weiterhin mit „Gedichte in Pfälzer Mundart“. Nach dialektgeographischen Analysen entspricht aber der bei Lennig dargebotene Dialekt vornehmlich dem alten Gonsenheimer und Mombacher Dialekt.3 Lennig selbst wird von dem Volkskundler Wilhelm Heinrich Riehl in seiner 1857 erstmals erschienenen Monographie „Die Pfälzer. Ein rheinisches Volksbild“ als pfälzischer Mundartautor vorgestellt.4 Riehl sieht in dem Dialekt Lennigs den „nördlichsten Ausläufer der pfälzischen Mundart“, die sich vom Donnersberg „durch Rheinhessen bis Mainz hinüberzieht“.5 Dabei kann man unterstellen, dass Riehl wusste, wovon er sprach, denn er ist nahe bei Mainz in Biebrich geboren, ging in Wiesbaden zur Schule und hat in seinen umfangreichen kulturhistorischen Studien6 detaillierte Kenntnisse über die regionalen und politischen Gegebenheiten dieses Raumes gewinnen können. Lennig und Riehl sind aber keine Ausnahme. So schreibt Friedrich Wiest in einem 1841 erschienenen Aufsatz über den Mainzer Dialekt, dass dieser „ein veredeltes Pfropfreis des pfälzer Dialekts“7 sei. Leider sind die Quellen, die etwas über die Mundarten in Rheinhessen im 19. Jahrhundert beitragen können, sehr dünn. Dies betrifft sowohl Äußerungen über als auch Darstellungen in Mundart. So finden sich in den einschlägigen Landesbe2 3 4 5 6 7
Friedrich Lennig. Etwas zum Lachen. Mainz 1824, 70 Seiten. Zahlreiche weitere und vermehrte Auflagen. Franz Valentin: Geschichtlich-geographische Untersuchungen zu den Mundarten rings um Mainz. Erlangen 1934, S. 8. Wilhelm Heinrich Riehl: Vier Dichter. In: ders.: Die Pfälzer. Ein rheinisches Volksbild. Neuauflage Neustadt 1973, S. 224–230. ebd. S. 228. z. B. Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Socialpolitik. Stuttgart 1851– 1869; Kulturstudien aus drei Jahrhunderten. Stuttgart 1859. Friedrich Wiest: Ueber den Dialekt und die Redeweise der Mainzer. In: Das Rheinland wie es ernst und heiter ist. Mainz Jg. 5. 1841, Nr. 33 vom 18. März, S. 129–131.
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Abb. 1: Auszug aus Friedrich Lennig, Etwas zum Lachen. Mainz 1. Aufl. 1824, S. 16 u. 19
schreibungen8 der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vereinzelt zwar Hinweise auf die Bevölkerung Rheinhessens mit ihrem Volkscharakter und ihrer Lebensweise, aber nirgendwo wird die regionaltypische Mundart erörtert. Und auch die Mundartliteratur ist im 19. Jahrhundert in Rheinhessen, verglichen mit der in der bayerischen Pfalz, sehr bescheiden. Neben den oben erwähnten Gedichten Lennigs sind an nennenswerter Mundartliteratur aus dem 19. Jahrhundert für Rheinhessen lediglich meist anonyme mundartliche Einsprengsel in Mainzer Fastnachtszeitungen, dann Gedichte, Schwänke, Lokalpossen und Liedtexte aus dem Umfeld der Mainzer Fastnacht u. a. von Wendelin Weiler und Jean Dremmel sowie die Ende des 19. Jahrhunderts erschienenen Gedichtbände des Pfarrers Elard Briegleb aus dem Wormser Raum zu nennen. Eine Durchsicht der Mainzer Fastnachtszeitungen des 19. Jahrhunderts zeigt das schon seit Lennig vertraute Bild: Häufig tritt hier der Typus des „Pfälzer Bauern“ auf, ein Bauer aus dem Hinterland von Mainz, der sich in seiner Landmundart meist über seine Erlebnisse in der Stadt verbreitet. Also z. B.: „Der Pfälzer Bauer
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Johann Andreas Demian: Beschreibung oder Statistik und Topographie des Großherzogthums Hessen nach Originalquellen und eigener Ansicht, bearb. von J. A. Demian. Teil 1. Statistik. Mainz 1824; Teil 2. Topographie. Mainz 1825. – Georg Wilhelm Justin Wagner: Statistischtopographisch-historische Beschreibung des Großherzogtums Hessen. Teil: 2. Provinz Rheinhessen. Darmstadt 1830. – Wilhelm Heße: Rheinhessen in seiner Entwickelung von 1798 bis Ende 1834: ein statistisch staatswirthschaftlicher Versuch; mit einer Charte von Rheinhessen und einer lithographirten Tafel. Mainz 1835. – Philipp Alexander Ferdinand Walther: Das Großherzogthum Hessen nach Geschichte, Land, Volk, Staat und Oertlichkeit, beschrieben von Ph. A. F. Walther. Darmstadt 1854.
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beim vorjährigen Carnevalsumzug“9, „Der französische Soldat bei dem Pfälzer Bauer“10, „Erzählung eines Pfälzer Bauern, welcher den großen Masken-Zug von 1840 in Mainz wider Willen mitmachen mußte“11 oder „Gespräch zwischen einem Mainzer und einem Pfälzer Bauern“12. Auch in den zahlreichen Publikationen von Wendelin Weiler, des Herausgebers der Mainzer Humoristischen Blätter in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, findet sich wieder der Typus des „Pfälzer Bauern“, z. B. in der Publikation „Reise eines Pfälzer Bauers nach Amerika“13. Auch in den drei zwischen 1891 und 1906 erschienenen Bänden „Mainzer Volks-Humor“ des Mainzers Jean Dremmel wird die Landmundart um Mainz herum als „Pfälzer Dialekt“ charakterisiert. Aus der Wormser Ecke liegen uns vom Ende des 19. Jahrhunderts die Werke des in Pfeddersheim wirkenden Pfarrers Elard BriegAbb. 2: Titelblatt von Elard Briegleb, leb vor, nämlich „Wie’s klingt am Rhei’“, GieWie‘s klingt am Rhei. Gießen 1885 ßen 1885, „Links am Rhei’ iss gut sei’“, Gießen 1899, und „Wei’schdeier-Lieder“, Gießen 1899. Alle diese Mundartbüchlein tragen den Untertitel „Mundartliche Gedichte aus der hessischen Pfalz“ (s. Abb. 2). Mit dieser Charakterisierung „Mundart aus der Hessischen Pfalz“ haben wir, knapp 80 Jahre nach der Schaffung Rheinhessens, den meines Wissens ersten Hinweis, dass durch den Zusatz „Hessisch“ die neuen politischen Realitäten auch allmählich im Zusammenhang mit der Mundart Einzug halten. Brieglebs Formulierung ist aber noch deutlich eine Kompromissform zwischen der alten Realität Pfalz und der neuen Hessen. Die in den eben genannten Beispielen erkennbare Benennungsmotivik ist natürlich aus der Territorialgeschichte des Raumes zwischen Rhein und Donnersberg zu erklären. Denn in der Zeit des Alten Reiches wurde dieser von zwei mächtigen Territorien dominiert, im Norden Kurmainz und im Süden die Kurpfalz, deren Gebiete jedoch nicht in sich abgeschlossen, sondern von Territorien vieler kleinerer Herrschaften, Ganerbschaften, Reichsritterschaften usw. unterbrochen waren. Dennoch reichte die Kurpfalz mit Orten wie Ingelheim, Wackernheim, Essenheim, Stadecken, Undenheim, Schwabsburg oder Nierstein nahe an Mainz heran, so dass aus Mainzer Sicht die „Pfalz“ gleich hinter Finthen, Nieder-Olm, Zornheim oder Na9 10 11 12 13
Mainzer Carneval-Almanach 1840, S. 91–96. Narhalla 1841, S. 41–42. Mainzer Carnevals-Signale 1842, S. 27–28. Narhalla 1860, 66–67. Mainz 1857, weitere Aufl. unter dem Titel „Der Pfälzer Bauer in Amerika“, Mainz 1877 u. ö.
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ckenheim begann. Insoweit ist es nicht verwunderlich, dass sich der alte territorialgeschichtliche Begriff „Pfalz“ für das gesamte rheinhessische Hinterland etablieren konnte – und zwar unbeschadet der Tatsache, dass viele Orte in Rheinhessen nie zum kurpfälzischen Territorium gehörten. Betrachtet man die Zuweisung „Pfälzisch“ für Dialekte in Rheinhessen genauer, so lässt sich jedoch eine differenziertere Verwendung erkennen. Denn die Zuweisung „Pfälzisch“ an die Mundarten Rheinhessens erfolgt generell nur in überblicksartigen Darstellungen von Außenstehenden, also nicht durch die Mundartsprecher selbst und in Quellen aus dem Mainzer Raum nur durch Mainzer, die damit die Landmundarten südlich von Mainz bezeichnen. Denn in den vorher schon vorgestellten Mundartpublikationen aus dem Mainzer Raum finden sich neben dem „Pfälzer Dialekt“, welcher ausschließlich der bäuerlichen Bevölkerung in den Mund gelegt wird, Mundarttexte, die als „Mainzerdeutsch“14, „Mainzer WaschweiberDialect“15 oder „Mainzerisch“16 bezeichnet werden. Die Mainzer selbst unterschieden also im 19. Jahrhundert deutlich zwischen den sie umgebenden Dorfdialekten, die sie als „Pfälzisch“, und ihrem eigenen Stadtdialekt, den sie als „Mainzerisch (Meenzerisch, Määnzerisch), Mainzerdeutsch“ u. ä. bezeichneten. So schreibt z. B. Jean Dremmel im Inhaltsverzeichnis seines ersten Bandes der Sammlung „Mainzer Volkshumor“ Folgendes: „Nachstehender Inhalt ist theils in hochdeutscher Sprache, theils in mainzer-, pfälzer-, sowie in östreichischem Dialect abgefasst.“17 Mit der Bezeichnung „Mainzerisch“ bzw. „Mainzer Dialekt“ treffen wir auf einen Typus von Mundartzuweisungen, der bis in die Gegenwart sehr verbreitet ist. Es ist der lokale, nicht der regionale Typus. Im Gegensatz zum regionalen Typus, der sich, wie z. B. „Pfälzisch, Hessisch, Bairisch“ von dem Namen einer Region bzw. eines Stammes ableitet, wird beim lokalen Typus ein Ortsname zur Namengebung herangezogen. Also z. B. „Mannemerisch“, „Frankforderisch“ oder „Kölsch“. Diese Benennung nach dem jeweiligen Ortsnamen ist gerade dem unreflektierten Mundartsprecher bis hinunter auf die kleinste Ortsebene sehr geläufig. Nach seiner Mundart befragt, wird ein Sprecher in rheinhessischen Orten spontan eher sagen, er spreche „Alzerisch“, „Wormserisch“, „Gabsemerisch“ oder auch „Gunsenummer“, „Mummerummer“, „Oppenemer Dialekt“, als dass er seinen Ortsdialekt als „Rheinhessisch“ bezeichnete. Diese Beobachtung zeigt, dass die sprachliche Identifikation doch eher noch auf die lokale Ebene gerichtet ist und weniger auf die regionale. Der lokale Typus ist im 19. Jahrhundert aber nicht nur auf den Mainzer Raum beschränkt. Auch ein im Jahr 1895 von Leonhard Kehl herausgegebenes Werk „Wormser Humor“ trägt den Untertitel „allerhand luschtige Geschichtcher in Wormser Mundart“. Es wäre interessant zu wissen, wie sich das Verhältnis von regionalem und lokalem Typus der Mundartbezeichnungen und vor allem die Zuweisung „Pfälzisch“ im 19. Jahrhundert im zentralrheinhessischen Raum oder im Raum Bingen präsentiert. Doch leider habe ich keine Quellen gefunden, die darüber Auskunft geben könnten. 14 15 16 17
Mainzer Carnevals-Signale 1842, S. 23. Narhalla 1857, S. 21. Mainzer Narrhalla-Zeitung 1878, 3. Jean Dremmel: Mainzer Volkshumor. Band 1. Mainz 1891.
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Abb. 3: Der Erstbeleg für „rheinhessische Mundart“
Für das 19. Jahrhundert lässt sich also abschließend festhalten: Die Vereinigung der ehemals disparaten Territorien zu einer Provinz „Rheinhessen“ zeigt im Hinblick auf die Bezeichnungen der dort gesprochenen Mundarten noch keinerlei Spuren. Nirgendwo wird im 19. Jahrhundert eine Mundart mit „Rheinhessisch“ bezeichnet. Statt dessen finden sich noch zahlreiche Zuweisungen „Pfälzisch“, die den davorliegenden territorialen Gegebenheiten Rechnung tragen. Im 20. Jahrhundert ändert sich dieses Bild allmählich. Im Gebrauch des 19. Jahrhunderts steht noch Rudolf Heilgers aus Worms, der seinen 1911 in erster Auflage erschienenen Gedichtband „Dreimol hoch mei’ Muttersproch!“18 mit dem Untertitel „Heitere Dichtung in hessisch-pfälzischer Mundart“ versieht. Ebenso sein Nachfolgewerk „Bohne unn Böhncher“19. Der erste Beleg für die Zuweisung „rheinhessische Mundart“ (s. Abb. 3) findet sich meines Wissens im Jahr 1912, also knapp hundert Jahre nach der Gründung Rheinhessens, nämlich im Untertitel eines Mundart-Theaterstücks von Wilhelm Briegleb. (Er ist der Sohn des schon genannten Elard Briegleb.) Es handelt sich um das in mehreren Auflagen herausgegebene Theaterstück „De Rothaus-Reformader“ mit dem Untertitel „Volksstück in sechs Bildern in rheinhessischer Mundart“20. Die in diesem Stück verwendete Mundart zeigt die Charakteristik des Wormser Raums. 18 19 20
Rudolf Heilgers: Dreimol hoch mei’ Muttersproch! Worms 1911. Zahlreiche weitere Auflagen. Rudolf Heilgers: Bohne unn Böhncher. Worms 1921. Wilhelm Briegleb. De Rothaus-Reformader. Groß-Umstadt 1912.
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Verfolgt man nun die Bezeichnungen der Autoren für ihre verwendete Mundart, so dauert es doch noch mehrere Jahrzehnte, bis sich „Rheinhessisch“ immer mehr durchsetzt. Zunächst finden sich noch zahlreiche lokale Bezeichnungstypen, z.B. Franz Kampe aus Alzey mit: - Alzer Stickelcher. Alzey 1920, - Alzer Gebappel. Gedichte und Erzählungen in Alzeyer Mundart. Alzey 1924, - Echt Alzerisch. Alzey 1952. Weitere Beispiele wären: - August Fürst: Bei uns in Meenz! Eine Sammlung heiterer Reime in Mainzer Mundart. Mainz 1929, - Heinrich Esch: Erlauschtes und Erlebtes. Gedichte in Wackernheimer Mundart. Mainz 1958, - Hans Gundrum: Ebbes vum Hebbes. Heitere Mainzer Gedichte. Mainz 1970, - Adam Nussbickel; Rheinhessische Schnurren und Erzählungen in Zotzenheimer Mundart. Bad Kreuznach 1982, - Rudolf Kroll: Bibel uff Määnzerisch. Mainz 1985. Auch die 1976 erstmals erschienene Anthologie „Gelacht, gebabbelt un gestrunzt“21 von Hans-Jörg Koch verwendet – in Anlehnung an die literarische Vorlage von Heinrich Bechtolsheimer – den Untertitel „Fröhliche Mundart zwischen Rhein und Donnersberg“ und nicht etwa „Fröhliche rheinhessische Mundart“ bzw. „Fröhliche Mundart aus Rheinhessen“. Eine Statistik von selbständig erschienenen Mundartpublikationen aus Rheinhessen (Abb. 4) zeigt deutlich, dass Mitte der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts die
Abb. 4: Lokale und regionale Mundartbezeichnungen in Titeln von Erstausgaben rheinhessischer Mundartpublikationen zwischen 1900 und 2010
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Hans-Jörg Koch: Gelacht, gebabbelt un gestrunzt. Fröhliche Mundart zwischen Rhein und Donnersberg. Alzey 1976, mehrere Auflagen.
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Veröffentlichung von mundartliterarischen Werken in Rheinhessen deutlich zunimmt. Zur gleichen Zeit häuft sich auch die Selbstbezeichnung des verwendeten Dialekts als „Rheinhessisch“ oder „rheinhessische Mundart“. Zuvor fand sich „rheinhessisch“ lediglich in der oben schon erwähnten Publikation von Wilhelm Briegleb aus dem Jahr 1912 und in einer 1932 in Berlin erschienenen Veröffentlichung mit dem Titel „Die Wunnerkur. E Rhoihessisch Gespenster-Geschicht“ von Hans Ewald. Von 1984 ab ist dann fast in jedem Jahr ein Werk erschienen, das die darin verwendete Mundart als „Rheinhessisch“, „Rhoihessisch“ oder ähnlich ausgibt. Spitzenwerte erreicht diese Selbstbezeichnung erst im 21. Jahrhundert, wo häufig zwei und mehr Nennungen pro Jahr auftauchen, im Jahr 2002 sogar fünf. Gebräuchlich bleiben aber auch lokale Mundartbezeichnungen wie „Mainzerisch“ und „Wormserisch“, die vor 1984 fast ausschließlich zu finden sind, wobei unter ihnen Zuschreibungen wie „Mainzerisch“, „Meenzer Dialekt“ usw. den Löwenanteil ausmachen. So tauchen in den zahlreichen Mundartpublikationen der Mainzerin Inge Reitz-Sbresny über ein Dutzend Mal Zuschreibungen wie „Mainzer Mundart“, „Määnzer Gebabbel“ u.ä. auf, aber nur einmal „Erzählungen und Gedichte auf Rheinhessisch“22. Welches sind nun die möglichen Ursachen für die Zunahme der Selbstbezeichnung „Rheinhessisch“ ab den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts? Eine bedeutende Rolle hierbei dürfte der „Rheinhessische Mundartwettbewerb“ spielen, der auf Initiative von Hansjürgen Doss im Jahr 1985 erstmals durchgeführt wurde und der 2014 zum fünfzehnten Male stattfand. Bei diesem Wettbewerb können Mundartbeiträge aus den Sparten Prosa, Lyrik, Drama und Lied eingereicht werden, von denen die besten Beiträge von einer sachkundigen Jury prämiert werden. Preisgekrönte Texte wurden dann zwischen 1987 und 1999 in fünf Bänden mit dem Titel „Mir Rhoihesse, Gedichtscher un Geschischtcher“ mit der Folgebandzählung „zweites“ bis „fünftes Bändsche“ von Hansjürgen Doss herausgegeben,23 ab dem Wettbewerb 1999 dann von Volker Gallé unter den Titeln „Es Babbelbuch“ (2003) und „Es zwodde Babbelbuch“ (2010), beide mit dem Untertitel „Texte in rheinhessischer Mundart“24. Sieht man diese Publikationen durch, so ist dort sowohl in den einführenden Texten als auch in verschiedenen Beiträgen immer wieder von „rheinhessischer Mundart“ die Rede. Eine weitere Ursache für die Zunahme von „Rheinhessisch“ als Mundartbezeichnung auf den Titelseiten von Mundartpublikationen dürfte auch verlegerischem Interesse im Sinne eines besseren Absatzes der Bücher geschuldet sein. Denn von einem Untertitel „Gedichte in rheinhessischer Mundart“ dürfte sich ein größerer Käuferkreis angesprochen fühlen als z. B. von „Gedichte in Zotzenheimer Mundart“. Blicken wir nun auf zwei Jahrhunderte „Rheinhessen“ zurück, so kann festgestellt werden, dass die Bewohner dieses Gebietes ihre Mundart in den ersten hun22 23 24
Inge Reitz-Sbresny: Redde mer vom Woi. Erzählungen und Gedichte auf Rheinhessisch. Mainz 1986. Mir Rhoihesse. Geschichtscher un Vezählsches. Erausgegewwe von Hansjürgen Doss. Wörrstadt 1987; Zweites Bändsche. Wörrstadt 1989; Drittes Bändsche. Wörrstadt 1991; Viertes Bändsche. Wörrstadt 1993; Fünftes Bändsche. Hamm/Rhh. 1999. Es Babbelbuch. Texte in Rheinhessischer Mundart. Herausgegeben von Volker Gallé. Ingelheim 2003; Es zwodde Babbelbuch. Texte in rheinhessischer Mundart. Ingelheim 2010.
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dert Jahren niemals und in den Jahrzehnten danach nur ganz selten als „Rheinhessisch“ bezeichneten. Häufige Nennungen von „Rheinhessisch“ u.ä. finden sich erst Ende des 20. Jahrhunderts, also in einer Zeit, als „Rheinhessen“ als politisch-administrative Einheit schon nicht mehr existierte. Die Identifizierung der Mundartsprecher mit „Rheinhessisch“ ist also sehr neu und wohl auch nicht überall durchgängig erfolgt, besonders bei Mundartsprechern in den städtischen Zentren Mainz oder Worms, bei denen sich dank ihrer ehemals bedeutenden Stellung ein gewisser lokaler Stolz erhalten hat. Ein Mainzer wird seinen Dialekt selbstverständlich als „Määnzerisch“ bezeichnen und die Feststellung, er spreche „Rheinhessisch“, als gelinde Zumutung empfinden. Es war ja auch für die Mainzer eine starke Kränkung, als ihre Stadt, die im Mittelalter und in der frühen Neuzeit eine bedeutende Stellung innerhalb des Deutschen Reiches innehatte, nach dem Wiener Kongress zu einer Provinzhauptstadt herabgesunken war und von einer Hauptstadt Darmstadt her regiert wurde, die aus Mainzer Sicht ein unbedeutendes Nest war. 2. Die Mundarten in Rheinhessen in der dialektologischen Forschung Nachdem zunächst das sprachliche Selbstverständnis der Bewohner der ehemaligen Provinz Rheinhessen in Teilaspekten erörtert wurde, soll nun – wie schon am Anfang angedeutet – die Stellung der Mundarten Rheinhessens innerhalb der dialektologischen Forschung zur Sprache kommen. Hier interessiert vor allem die Frage, die auch von mundartinteressierten Laien immer wieder gestellt wird, ob es denn eine „rheinhessische Mundart“ gebe. Wenn sich hinter dieser Frage die Vorstellung verbirgt, dass so eine Mundart einerseits viele gemeinsame Merkmale sowohl in Lautung, Morphologie, Syntax und Wortschatz in sich vereinigt und sich andererseits scharf und unverwechselbar von benachbarten Mundarten abgrenzt, so kann man nicht von einer rheinhessischen Mundart sprechen. Es wäre doch auch sehr unwahrscheinlich, dass die sprachimmanenten Strukturen und Besonderheiten einer Mundart sich zufällig mit den Grenzen decken, die aufgrund politischer Umbrüche erst vor 200 Jahren gezogen wurden. Denn Mundarten haben ja in unserem Gebiet eine über tausendjährige Geschichte, in der sie sich herausgebildet und ihren heutigen Zustand erreicht haben. Und wenn überhaupt geschichtliche Gegebenheiten, wie alte Stammesgrenzen, spätmittelalterliche Territorien, Verkehrsströme, Sprachbewegungen25 usw., auf die Mundarten Einfluss genommen haben, dann liegen diese weit vor der Zeit der Gründung Rheinhessens. Betrachten wir die traditionelle Gliederung der deutschen Dialekte, die im Wesentlichen durch sprachhistorische und dialektgeographische Forschungen im 19. Jahrhundert begründet wurde, so wird das Gebiet, das heute Rheinhessen genannt wird, zum Rheinfränkischen gezählt. Diese Zuweisung betrifft auch frühere Zeit25
Die Beziehungen zwischen Sprache und Geschichte wurde in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts besonders von der sogenannten „Bonner Schule“ betont; vgl. dazu: Hermann Aubin u. a. (Hg.): Kulturströmungen und Kulturprovinzen in den Rheinlanden. Sprache, Geschichte, Volkskunde. Bonn 1926.
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Abb. 5: Die rheinhessischen Mundarten als Untermundarten des Rheinfränkischen
stufen des Deutschen, auch schon die althochdeutsche Zeit26, also den Zeitraum von 750 bis 1050. Es ist nämlich so, dass schon die frühesten Schriftzeugnisse des Deutschen regionale Besonderheiten aufweisen, je nachdem, an welchem Schreibort oder in welchem Kloster sie niedergeschrieben wurden. Man spricht in diesem Fall von Schriftdialekten, die natürlich Reflexe gesprochener Sprache darstellen, ohne dass man allerdings jede phonetische Feinheit der damals gesprochenen Sprachen darin erkennen kann. Nach der im 19. Jahrhundert einsetzenden dialektgeographischen Forschung, welche die Einteilung der deutschen Dialekte anhand von Sprachlinien leistete, die sich vor allem aus verschiedenen Stadien der sogenannten Zweiten Lautverschiebung ergaben, wird unser rheinhessisches Gebiet ebenfalls zum Rheinfränkischen gezählt27 (s. Abb. 5). Von den oberdeutschen Dialekten, zu denen neben Bairisch und Alemannisch auch das Süd- und Ostfränkische zählen, grenzt sich das Rhein26 27
Eine Karte zu den Mundarten des Althochdeutschen findet sich bei Stefan Sonderegger: Althochdeutsche Sprache und Literatur. Berlin 3. Aufl. 2004, S. 78. S. Karte zur Gliederung der deutschen Mundarten in: Werner König: dtv-Atlas Deutsche Sprache. 14. Aufl. München 2004, S. 230f..
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fränkische dadurch ab, dass es im Laufe der Sprachgeschichte anlautendes p- und in- und auslautendes geminiertes -pp-, -pp nicht zu pf verschoben hat. Rheinfränkisch sagt man also noch Pund, Appel, Kopp, in den oberdeutschen Dialekten aber Pfund, Apfel, Kopf. Im Nordwesten stößt an das Rheinfänkische dann das Moselfränkische, welches daran erkennbar ist, dass es das t in bestimmten Kleinwörtern noch erhalten und nicht zu s verschoben hat. Also moselfränkisch dat, wat, allet, et, rheinfränkisch aber das, was, alles, es. Das Rheinfränkische bildet also einen schmalen Streifen zwischen der Appel-Apfel- und der dat-das-Linie, der von der deutsch-französischen Sprachgrenze in Lothringen bis hinauf nach Kassel reicht. Nach der traditionellen Dialekteinteilung zerfällt das Rheinfränkische dann wieder in drei Untermundarten, nämlich Hessisch, Pfälzisch und Lothringisch. Trennlinien zwischen diesen Untermundarten sind zwischen Hessisch und Pfälzisch die festfescht-Linie und zwischen Pfälzisch und Lothringisch die Eis-Iss-Linie. Betrachtet man die Lage Rheinhessens im Gefüge dieser Sprachlinien, so stellt man fest, dass nach dieser Definition ein kleiner Teil nördlich der fest-fescht-Linie schon zum Hessischen, der weitaus größere Teil aber zum Pfälzischen gezählt wird. Das Pfälzische in der Definition der traditionellen Dialektgeographie ist ein sehr ausgreifendes Gebilde, denn es erstreckt sich nicht nur auf Rheinhessen, sondern auch auf Teile des Saarlandes, des Hunsrücks, des Rheingaus und auf große Teile des südlichen Odenwaldes. Das sind meist Gebiete, in denen sich die Bewohner keinesfalls mehr als Pfälzer verstehen. Diese eben vorgestellte Dialektgliederung stützt sich auf nur wenige, mehr oder weniger zufällig ausgewählte Sprachlinien. Es gibt aber auch Gliederungsversuche, die auf einem mehr systematischen Ansatz beruhen, wie die Gliederung des Wiener Dialektologen Peter Wiesinger. Er gliedert die Dialekte anhand ihres Vokalsystems und kommt dabei zu einer Gliederung, die sich durch Kernregionen und teils breite Übergangszonen auszeichnet.28 Hier ist das Rheinfränkische eine vom Hessischen getrennte Mundart und umfasst in etwa die Gebiete Rheinhessen, Pfalz und das rechtsrheinisch gegenüber liegende Gebiet. Wir können also festhalten, dass die Mundarten in Rheinhessen nach beiden Definitionssystemen als Untermundarten des Rheinfränkischen anzusehen sind. Eine eigene Mundart „Rheinhessisch“ findet sich aber in keinem dieser wissenschaftlichen Einteilungssysteme. Betrachtet man nun die Mundarten im engeren rheinhessischen Raum, etwa um exklusive sprachliche Gemeinsamkeiten zu entdecken, also Dialekteigenheiten, die in ganz Rheinhessen gelten, außerhalb Rheinhessens jedoch nicht, so begibt man sich auf eine mühsame, ja weitgehend erfolglose Suche. Denn es gibt keine sprachliche Eigenheit, kein besonderes Wort oder eine spezielle grammatische Konstruktion, die alle Rheinhessen, und nur die, eindeutig als solche verriete. Denn meist ist es so, dass man bei einer „typisch“ rheinhessischen Form, wie z. B. ich hunn für „ich habe“, feststellen muss, dass diese doch nicht in ganz Rheinhessen gilt und andererseits, dass sie in bestimmten an Rheinhessen angrenzenden Regionen auch vorkommt. So hört man, um bei unserem Beispiel zu bleiben, in Teilen Rheinhes28
Peter Wiesinger: Phonetisch-phonologische Untersuchungen zur Vokalentwicklung in den deutschen Dialekten. 2 Bände, Berlin 1970.
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Abb. 6: Die Formen von „ich habe“ und „ich bin“ in Rheinhessen und seiner Nachbarschaft
sens auch ich honn oder im Raum Worms auch ich habb, ich häbb, während ich hunn auch in Teilen der Nordpfalz oder auch Hessens gebraucht wird. Vergleichbare Ergebnisse hat man bei dem rheinhessischen ich sein für „ich bin“. Auch im Bereich der Wortgeographie finden sich viele Beispiele, wo die Mundarten in Rheinhessen je nach Region verschiedene Bezeichnungen für ein und dieselbe Sache aufweisen. Man nennt dieses Phänomen in der Sprachwissenschaft Heteronymität. Als Beispiel mögen die Benennungen für die Beule am Kopf gelten, die in Rheinhessen Ditzel, Knippel, Horn, Bause oder Knuppe genannt werden kann.29 Weitere Heteronyme bilden z. B. die Bezeichnungen für die Grille mit Hammelmaus, Heimelmaus, Kricksel, Krickselmaus, Krickelmaus bzw. -maisje30 oder für den Löwenzahn mit Milchpusch, Eierpusch, Ochsepusch.31 Markant sind auch Unterschiede innerhalb der Formenlehre, wofür hier exemplarisch die Partizipbildung der starken Verben genannt sei. Im Zentralrheinhessischen werden sie stets ohne -e am Ende gebildet, also gebroch, gedrosch, gesung, genumm statt gebroche, gedrosche, gesunge, genumme, wie es an der Rheinfront zu hören ist. Bisweilen sind diese Formen im Zentralrheinhessischen auch noch ohne das Präfix ge- gebildet, wie funn neben gefunne32 oder troff neben getroffe33. Ähnlich gehen kumm neben gekumme, gebb neben gegewwe und blebb neben gebliwwe. Trotz der vielfältigen Binnendifferenzierung der Mundarten in Rheinhessen und ihren zahllosen Gemeinsamkeiten mit ihren Nachbardialekten grenzen sie sich auch bisweilen gemeinsam von Nachbarmundarten ab, zumindest abschnittsweise. Dies soll hier am Beispiel34 der Abgrenzung der rheinhessischen (linksrheinischen) Mundarten zu ihren östlichen (rechtsrheinischen) Nachbarn gezeigt werden: 29 30 31 32 33 34
Südhessisches Wörterbuch, bearb. von Rudolf und Roland Mulch. 6 Bände, Marburg/Darmstadt 1965–2010, Karte I, 25. Südhessisches Wörterbuch, Karte III, 30. Südhessisches Wörterbuch, Karte II, 2. Südhessisches Wörterbuch, Karte II, 46. Südhessisches Wörterbuch, Karte I, 100. Alle Beispiele beruhen auf Karten des Südhessischen Wörterbuchs, s. o.
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linksrheinisch Grumbeer Dinjer Palme Kolt Porbel Kornworm Koosgrie
rechtsrheinisch Kartoffel Weißbinder Buchs Laafel/Lääfel Poche Hamschter Loser/Rekrut
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neuhochdeutsch Kartoffel Tüncher Buchsbaum grüne Walnussschale Impfpustel Hamster Musterungspflichtiger
Die letztgenannte rheinhessische Besonderheit ist natürlich geschichtlich bedingt, denn die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht mit der Einschreibung in Konskriptionslisten ist ja eine „Errungenschaft“ der französischen Republik, zu der Rheinhessen zwischen 1797 und 1814 gehörte. Es gibt jedoch einige Wörter, die – zumindest weitgehend – als rheinhessische Kennwörter gelten können. Eines ist das Wort Potthammel, Poothammel, das in weiteren Varianten und Umdeutungen, wie Bohrehammel, Bohrhammel, Boddemer, Bodemer, Borremer, Boremer oder Bonemer, als Bezeichnung für die Stechmücke gilt. Die Herkunft des Wortes ist nicht eindeutig geklärt. Fast nur noch als Flurname, aber typisch rheinhessisch ist das Wort Klauer35 als Bezeichnung für eine Gruppe von Weidenbüschen oder Bäumen. Es ist in Urkunden Rheinhessens schon seit dem 13. Jahrhundert bezeugt. Die eben vorgestellten Details lassen Rheinhessen als in sich differenzierte und kaum geschlossene Mundartlandschaft erscheinen. Es ist weitgehend eine Übergangslandschaft.36 Als Resümee könnte das hervorgehoben werden, was schon Karl Schramm in seinem treffenden Essay „Dialekt in Rheinhessen“37 im Jahr 1973 so gesagt hat: „Einen rheinhessischen Dialekt gibt es nicht, aber natürlich gibt es einen Dialekt, noch besser: Dialekte in Rheinhessen“. Man kann aber dennoch von „rheinhessischer Mundart“ sprechen, wenn man darunter keine sprachsystematische, sondern lediglich regionale Zuweisung versteht. Also im Sinn von: Dialekte, die sich im Gebiet Rheinhessens herausgebildet haben und dort gesprochen werden. Diese Sichtweise vertreten auch schon Friedrich Maurer und Arthur Szogs, die Autoren des Abschnittes „Volkssprache“38 in Wilhelm Hoffmanns „Rheinhessischer Volkskunde“ vom Jahr 1932. Auch sie betonen, dass es keine scharfe Abgren35 36
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Wolfgang Kleiber/Wolf-Dietrich Zernecke: Der Klauer. Ein rheinhessischer Flurname. Dokumentation und Deutung (Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz. Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse 1996 Nr. 7). Mainz 1996. Vgl. hierzu: Hans Froeßl: Sprachbewegungen in Rheinhessen in althochdeutscher und mittelhochdeutscher Zeit. Masch.-schr. Diss. Mainz 1950; Friedrich Maurer: Sprachschranken, Sprachräume und Sprachbewegungen im Hessischen. Hessische Blätter für Volkskunde 28 (1930), S. 43–109; Rudolf Mulch: Sprachbewegungen im hessischen Raum. In: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 17 (1967), S. 20–57. Karl Schramm: Dialekt in Rheinhessen. Mainz 1973. Friedrich Maurer/Arthur Szogs: Die Volkssprache. In: Wilhelm Hoffmann: Rheinhessische Volkskunde. Bonn 1932, Nachdruck Frankfurt 1980, S. 111–134 (mit 6 Sprachkarten).
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Rudolf Post
zung zu den umliegenden Mundarten gibt, und sie betonen vor allem die starken Beziehungen der südlichen rheinhessischen Mundarten zu denen in der Pfalz. Zweihundert Jahre nach der Gründung Rheinhessens zeigt sich, dass dieser politische Gründungsakt zwar keine Auswirkungen auf die Mundarten, aber – mit einer Verzögerung von mehr als hundert Jahren – auf das Sprachbewusstsein der Bewohner gehabt hat. Wenn es auch keine politischen Grenzen mehr gibt, die ein politisch-administratives Gebilde namens „Rheinhessen“ umschließen, so haben sich doch bei großen Teilen der Menschen mentale Grenzen herausgebildet, innerhalb derer sie sich als „Rheinhessen“ verstehen. Dies ist verstärkt gegen Ende des 20. und am Anfang des 21. Jahrhunderts zu beobachten, wo nicht nur die Selbstbezeichnung „rheinhessische Mundart“ ihren Durchbruch erlebt, sondern auch „Rheinhessenkrimis“, „Rheinhessenkochbücher“, „Rheinhessen-Reiseführer“ und „Rheinhessen-Weihnachtsbücher“ die Buchhandlungen überschwemmen, wo eine „Rheinhessentouristik“ begründet und ein „Geographischer Mittelpunkt Rheinhessens“ eingeweiht wird. Es scheint so, dass in diesem Umfeld die rheinhessische Mundart noch lange überleben wird. Ich hoffe es jedenfalls.
Dieter Krienke
Zwischen Klassizismus und Traditionalismus – Baukultur und Baupolitik in der Provinz Rheinhessen Vorbemerkung Vorliegender Beitrag1 befasst sich mit dem Verhältnis von Baukultur und Baupolitik in der Provinz Rheinhessen zwischen dem frühen 19. Jahrhundert und den 1920er Jahren. Im vorgegebenen Rahmen können hier allerdings nur einige der zentralen Aspekte zur Sprache kommen. Ausgehend von den Erfahrungen aus der denkmalpflegerischen Inventarisation konzentriere ich mich daher auf das ländliche Bauwesen. Im Zuge der Arbeit an den Denkmaltopographien für die Kreise Alzey-Worms und Mainz-Bingen konnte der historische Baubestand der Region erstmals auf breiter empirischer Grundlage untersucht werden. Aufgrund der flächendeckenden Erfassung der im Sinne des Denkmalschutzgesetzes relevanten Bauten und der damit im Zusammenhang erstellten ortsbaugeschichtlichen Analysen ließen sich für das jeweilige Gebiet die spezifischen Merkmale der historischen Hauslandschaft herausarbeiten.2 Während die drei Bände für den Kreis Mainz-Bingen bereits seit 2011 vorliegen,3 sind nun auch die ersten beiden für den Kreis Alzey-Worms mit der Verbandsgemeinde Alzey-Land und der Stadt Alzey erschienen.4 In einem nächsten Schritt erfolgt die Bearbeitung des Altkreises Worms, beginnend mit der Verbandsgemeinde Wonnegau. Was die allgemeinen Hinweise zum Bauwesen Rheinhessens und die Nennung konkreter Beispiele von Bauten im Folgenden betrifft, sei hier summarisch auf die betreffenden Bände der Denkmaltopographie verwiesen. Wichtige Anregungen bei der Beschäftigung mit der rheinhessischen Baukultur gaben mir die Beiträge von Hildegard Frieß-Reimann, die bereits beim Fünften Alzeyer Kolloquium 1986 Fragen des dörflichen Bauens in der Region aufgegriffen 1 2 3
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Der zugrunde liegende Vortrag wurde für den Druck überarbeitet, ergänzt und aktualisiert. Zur Methode der Denkmaltopographie vgl. Michael Huyer/Dieter Krienke/Ulrike Weber: 25 Jahre Denkmaltopographie Rheinland-Pfalz. Eine Erfolgsgeschichte. In: Die Denkmalpflege 68 (2010), S. 32–40. Dieter Krienke (Bearb.): Kreis Mainz-Bingen (Denkmaltopographie Bundesrepublik Deutschland; Kulturdenkmäler in Rheinland-Pfalz Bd. 18.1–18.3). Worms 2007–2011. – Auch die ursprünglich ländlich geprägten Vororte der Städte Mainz und Worms sind bereits erfasst: Dieter Krienke (Bearb.): Stadt Mainz. Vororte mit Nachträgen zu Band 2.1 und 2.2 (Denkmaltopographie Bundesrepublik Deutschland; Kulturdenkmäler in Rheinland-Pfalz Bd. 2.3). Worms 1997; Irene Spille: Stadt Worms (Denkmaltopographie Bundesrepublik Deutschland; Kulturdenkmäler in Rheinland-Pfalz Bd. 10). Worms 1992. Michael Huyer/Dieter Krienke (Bearb.): Kreis Alzey-Worms (Kulturdenkmäler in Rheinland-Pfalz Bd. 20.1 und 20.2; Denkmaltopographie Bundesrepublik Deutschland). Worms 2013 u. 2014.
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Dieter Krienke
hat.5 Eine Gesamtdarstellung der Baukultur in der Provinz Rheinhessen bleibt allerdings ein Desiderat. Meine Ausführungen wollen darum auch nicht mehr sein als ein Vorbericht, zumal die denkmaltopographischen Untersuchungen bislang nicht abgeschlossen sind. Im Mittelpunkt der Betrachtung stehen die Bestrebungen von staatlicher bzw. institutioneller Seite. Diese zielten auf die Erneuerung des ländlichen Kommunalund Privatbauwesens sowie anfangs auch auf eine Einflussnahme auf konfessionelle Bauvorhaben ab, wie sie besonders in den ersten drei Jahrzehnten nach der Angliederung unseres Gebietes an das Großherzogtum Hessen wie auch am Anfang des 20. Jahrhunderts erneut zum Tragen kamen. Denn die Förderung der Landwirtschaft sowie der Ausbau der Infrastruktur des ländlichen Raums zählten von Beginn an zu den Hauptanliegen der hessischen Regionalpolitik. Regionale Bautradition Zwar wurde Rheinhessen erst 1816 politisch definiert und dann bald zum geographischen Begriff. Doch hatte sich schon zuvor eine gemeinsame Bautradition in der Gegend zwischen Rhein, Nahe und Nordpfälzer Bergland herausgebildet. Dies lag zum einen an den gleichen bzw. ähnlichen natürlichen Voraussetzungen, wie Klima, Topographie und Geologie, was z. B. im Hinblick auf die Baumaterialien von Bedeutung war. Auch ähnliche wirtschaftliche und soziale Verhältnisse sowie einschneidende politische Ereignisse, wie Kriegszerstörungen und herrschaftliche Verordnungen, beeinflussten die Entwicklung des regionalen Bauens maßgeblich. Freilich lassen sich nicht Flomborn, Ortsmitte mit dem Rathaus und Gehöft der Barockzeit scharfe räumliche Begrenzungen der Bautraditionen ausmachen. So verläuft etwa der Übergang zur vorderpfälzischen Hauslandschaft oder auch zu der des Nahelandes durchaus fließend. Der überkommene Baubestand sowie historische Ansichten vermitteln uns ein vielfältiges Bild der landschaftsgebundenen Baugewohnheiten in der Barockzeit. Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren die Ortsbilder Rheinhessens durch Gebäude aus der Wiederaufbauphase nach den Zerstörungen von 1689 im Pfälzischen Erbfolgekrieg bestimmt. Nicht selten lag der Anteil der nur eingeschossigen, meist recht ärmlichen Bauten bei bis zu 50% des Bestandes. Als typisch erweist 5
Hildegard Frieß-Reimann: Bauen in rheinhessischen Dörfern. In: Das Dorf am Mittelrhein. 5. Alzeyer Kolloquium (Geschichtliche Landeskunde 30). Stuttgart 1989, S. 229–240.
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sich die Mischbauweise bei den zweigeschossigen Wohnhäusern: Über dem Erdgeschoss aus verputztem Kalk-, Sand- oder Porphyrbruchstein-Mauerwerk erhebt sich ein oft reiches Fachwerk, das die zeittypische Schmuckfreude dokumentiert. Während das Steinmaterial in der Regel vor Ort oder in der näheren Umgebung zur Verfügung stand, musste wegen der Waldarmut Rheinhessens Eichenholz vom Donnersberggebiet oder vorderen Hunsrück herangeschafft werden. Für Dachkonstruktionen wurde häufig aus dem Schwarzwald über Neckar und Rhein herangeflößtes Nadelholz verbaut. Der doppelgeschossige Steinbau blieb dagegen noch lange allenfalls herrschaftlichen Bauten und solchen hervorgehobener Funktion, wie Rat- oder Pfarrhäusern, vorbehalten. Die hessische Bauverwaltung Es stellt sich zunächst die Frage, wie sich die Angliederung an das Großherzogtum Hessen auf das regionale Bauen auswirkte. Daher lassen Sie uns erst einmal einen Blick auf die Anfänge der hessischen Bauverwaltung werfen, hat diese doch, wie im Folgenden zu erörtern, die Entwicklung der Baukultur in Rheinhessen nachhaltig mitgeprägt. Der direkte staatliche Einfluss äußert sich anfangs vor allem in der zentralen Planung öffentlicher und konfessioneller Bauten und deren Wirkung als Vorbild für den privaten Bauherrn. Das Bauwesen wurde anfangs vom Oberbaukolleg in Darmstadt geleitet, das 1821 in der dritten Sektion der unter Finanzminister du Thil neu gegründeten Oberfinanzkammer aufging. Deren Aufgabenfeld umfasste neben der „Vollziehung allen neuen Bauwesens und Unterhaltung aller Domanial- und Staatsgebäude“ u.a. den Straßen-, Fluss und Dammbau. Allerdings bewährte sich diese Neuordnung nicht: Schon im darauffolgenden Jahr wurde die betreffende Sektion als eigenständige Oberbaudirektion aus der Oberfinanzkammer herausgelöst und als deren erster Direktor Oberfinanzkammerdirektor Claus Kröncke eingesetzt. Der Oberbaudirektor zeichnete für bedeutende Bauprojekte selbst verantwortlich, genehmigte Bauanträge und verteilte die Aufgaben an die Landbaumeister. In den unmittelbaren Zuständigkeitsbereich der Oberbaudirektion fiel nun außerdem das schon in der Landgrafschaft Hessen-Darmstadt seit 1803 den Provinzialkollegien unterstellte Zivilbauwesen. Das besondere Verdienst Krönckes bestand daher in der unverzüglichen Neuorganisation des nachgeordneten Zivilbaupersonals in den Provinzen.6 Der Darmstädter Hofarchitekt Georg Moller nahm seit 1812 eine hervorgehobene Stellung in der obersten Baubehörde ein, auch wenn er als Dienstältester erst 1842 zum Oberbaudirektor avancierte. Wie kein anderer übte Moller in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen bedeutenden, nicht zuletzt stilbildenden Einfluss auf das hessische Bauwesen aus, so dass man von den Baubeamten seines Umkreises auch von der „Mollerschule“ spricht.7 Zum ersten Landbaumeister für die Pro6
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Dagobert Karenberg: Die Entwicklung der Verwaltung in Hessen-Darmstadt unter Ludewig I. (1790–1830). (Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte 20). Darmstadt 1964, S. 123–127; vgl. auch Georg Wilhelm Justin Wagner: Statistisch-topographisch-historische Beschreibung des Großherzogthums Hessen. Bd. 4: Statistik des Ganzen. Darmstadt 1831, S. 223f. Zu Leben und Werk vgl. Marie Frölich/Hans-Günther Sperlich: Georg Moller. Baumeister der
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vinz bzw. den Baubezirk Rheinhessen wurde der tatkräftige Friedrich Schneider aus Mainz bestimmt, von Hause aus Steinmetzmeister. Er übte dieses Amt zwischen 1817 und 1832 aus.8 Die Dienstinstruktion von 1823 verpflichtete die Landbaumeister, die „alles öffentliche Bauwesen zu besorgen hatten“ bei größeren Bauvorhaben auch im Hinblick auf das „Kommunal- und Geistliche Bauwesen“ zur Einreichung der Kostenvoranschläge und Risse bei der Oberbaudirektion, die diese baufachlich prüfte und zur abschließenden Genehmigung weiterreichte (§ 2). Als unverzichtbare Anforderungen an die von den Landbaumeistern geplanten Neubauten galten, ganz im Sinne des antiken Architekturtheoretikers Vitruv „Dauerhaftigkeit, Bequemlichkeit und Schönheit, Provinzialbaumeister Ignaz Opfermann soweit dieselbe dem Zwecke des Gebäudes angemessen und ohne unnöthigen Kostenaufwand erreicht werden kann“ (§ 6). Der die allgemeinen Bauvorschriften enthaltende § 8 wendet sich daher hauptsächlich gegen die Fachwerkbauweise: „Die Umfassungswände neuer Gebäude sollen in der Regel massiv, von Bruchsteinen, Backsteinen, Lehmsteinen, oder von Pisée9, ganz ohne Holz aufgeführt, und auch die hölzernen Wände im Innern so viel möglich vermieden werden.“10 Die Kreiseinteilung wurde in den rechtsrheinischen hessischen Provinzen 1832, in Rheinhessen aber erst 1835 eingeführt. Doch schon in einem Edikt von 1832 richtete man auch dort das Amt des Kreisbaumeisters für die neu geschaffenen Baubezirke ein, „um dem Civil-, Straßen- und Wasserbau (…) eine sorgfältigere Ausführung zu sichern“. Der unmittelbar der Oberbaudirektion unterstellte Kreisbaumeister, dem Inspektoren und Aufseher zur Seite standen, sollte ein „wissenschaftlich gebildeter Techniker“ sein, was den Anspruch dieser Aufgabe verdeutlicht. Die rheinhessischen Baubezirke wurden zunächst aufgrund der fortbestehenden Kantonalverfassung aus der Franzosenzeit gebildet: 1. Mainz; 2. Nieder-Olm/Ober-Ingelheim; 3. Bingen/Wöllstein; 4. Alzey/Wörrstadt; 5. Oppenheim/Osthofen; 6. Worms/ Pfeddersheim. Der Kreisbaumeister des ersten Bezirkes der Provinz nahm gleichzeitig die Aufgaben eines Provinzialbaumeisters wahr, zu denen besondere Bauvor-
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Romantik. Darmstadt 1959; Georg Moller. Symposium aus Anlass seines 150. Todestages am 13. März 2002 im hessischen Landtag (Schriften zum Föderalismus und Landesparlamentarismus 10). Wiesbaden 2004. HStAD Best. S. 1 (biographische Informationen), http://www.hadis.hessen.de/ (09.02.2013). Stampflehm. Regulativ für die Geschäftsführung bei dem Civilbauwesen und zur Instruction für die Großherzoglichen Landbaumeister (9. Mai 1823), S. 109–131. In: Großherzogliches Hessisches Regierungsblatt (1823) Nr. 14, S. 109–132.
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haben in der gesamten Provinz gehörten.11 Erster Kreisbaumeister des Kreises Mainz und Provinzialbaumeister wurde Ignaz Opfermann. Er war wie Moller aus der Karlsruher Schule von Friedrich Weinbrenner hervorgegangen und Gehilfe des Baudirektors Georg Arnold gewesen, von dem im Folgenden die Rede sein wird. Opfermann plante z. B. die Synagoge von 1853 in Mainz, Kirchen in Nieder-Olm und Guntersblum, darüber hinaus Bahnhofsbauten an der Rheinstrecke.12 Die Kreisbauämter führten die Baugenehmigungsverfahren im Privatbauwesen durch. Die Bauherren hatten mit den Baugesuchen umfassende Planunterlagen (Lageplan, Grundrisse, Schnitte, Ansichten) einzureichen. Diese Bauakten haben sich großteils erhalten und befinden sich in den Gemeindearchiven.13 Sie bilden die zentrale Quelle zur Baukultur in Rheinhessen zwischen ca. 1840 und dem Zweiten Weltkrieg. Die Tätigkeit der Baubeamten prägte nachhaltig das Bild der rheinhessischen Dörfer. Nach ihren Plänen entstanden zahlreiche öffentliche Bauten wie Rathäuser und Schulen, Kirchen und Pfarrhäuser, die bis heute zum Typischen der rheinhessischen Ortsbilder beitragen. Dem Zeitgenossen signalisierten sie die Zugehörigkeit zum Großherzogtum, die Fürsorge des Großherzogs und der neuen Darmstädter Regierung, die versuchte, den Infrastrukturbedarf einer sprunghaft wachsenden Bevölkerung zu befriedigen. Ludwigshöhe – ein Dorf wird geplant Die personelle Kontinuität in der rheinhessischen Bauverwaltung seit napoleonischer Zeit verkörpert Zivilbaudirektor Georg Arnold, der sich bereits als Intendant der Straßen und Brücken im Departement Donnersberg bewährt hatte. 1764 in Straßburg geboren, studierte er bis 1785 an der Dresdener Bauakademie. Ab 1798 leitete er die Direktionen des Straßen- und Brückenbaus und des Civilbauwesens, somit den Ausbau der „Route Impériale“ zwischen Mainz und der Departementgrenze wie auch der „Route de Charlemagne“ von Mainz nach Bingen. An seine Mitwirkung erinnert inschriftlich ein Straßendenkmal von 1807 bei Nieder-Ingelheim. Auch entwarf Arnold die Marktbrunnen in Nieder-Ingelheim und Bingen. Seine Übernahme in den hessischen Staatsdienst hatte er Georg Moller zu verdanken, war er doch der Schwager seines Karlsruher Lehrers Friedrich Weinbrenner. 1816 bis 1831 war er erneut für Straßen, Brücken und Dämme und damit für das großangelegte Straßenbauprogramm in der Provinz zuständig.14 11
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Edict, die Organisation der Baubeamten in den Provinzen des Großherzogthums betreffend (14. September 1832). In: Großherzogliches Hessisches Regierungsblatt (1832) Nr. 78, S. 589– 592; Regulativ für den bei dem geistlichen, Stiftungs- und Gemeindebauwesen zu beobachtenden Geschäftsgang der Großherzoglichen Kreisbaumeister. In: ebd., S. 592–596. Zu Opfermanns Tätigkeit in Rheinhessen vgl. SiIvia Speckert: Ignaz Opfermann (1799–1866). Ausgewählte Beispiele seiner Bautätigkeit im Umkreis der Stadt Mainz. Magisterarbeit Mainz 1989; Auszüge ohne Anmerkungen in: Festschrift 150 Jahre Evangelische Kirche zu Eich am Rhein 1845–1995. [Eich 1995], S. 14–18. Die Gemeindearchive sind meist bei der zuständigen Verbandsgemeinde oder im Landesarchiv Speyer, nur vereinzelt bei der Ortsgemeindeverwaltung deponiert. Jürgen Rainer Wolf: „… in den Flammen der Belagerung von 1793 als ein Brandopfer für
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Einer ungewöhnlichen Herausforderung sah sich Baudirektor Arnold im Jahre 1820 gegenüber. Nachdem das am Rhein gelegene Dorf Rudelsheim immer wieder katastrophale Überflutungen heimgesucht hatten, wurden die Räumung und Neugründung der Ortschaft an anderer Stelle verfügt. Die städtebauliche Neukonzeption der Dorfanlage löste Arnold aufgrund seiner langjährigen Erfahrungen vorbildlich. Am 25. August 1823 erfolgte die offizielle Grundsteinlegung. Die Namengebung nach dem regierenden Großherzog Ludwig I. hob die erst seit Kurzem bestehende Landeszugehörigkeit hervor.15 Arnold wählte für die Neugründung einen Platz am Fuße des Plateaus in weitgehend hochCivilbaumeister Georg Arnold wasserfreier Lage. Vorgegebene Hauptachse war die Landstraße Mainz-Worms, an der sich das übrige Straßenraster ausrichtete. In der Achse der Querstraße war in Hanglage der Platz für die Kirche vorgesehen. Der erste Katasterplan16 zeigt nur den Ortsbereich östlich der Straße. Um beim Hochwasserschutz sicher zu gehen, baute man dort einen Deich. So erhielt das Dorf einen für Rheinhessen ganz ungewöhnlichen, durchdachten und geordneten Grundriss, der sich zwar am Vorbild barocker bzw. klassizistischer Stadtplanung orientierte, doch bei der Konzeption der Hofanlagen sich auch auf die landschaftstypischen Muster bezog. Die traditionelle kleinbäuerliche Wirtschaftsweise spiegelt sich dort in der Regelhaftigkeit und bescheidenen Dimensionierung der Parzellen wider. Im Ortsgefüge ist die soziale Differenzierung deutlich ablesbar: An der Landstraße und der vorderen Dorfstraße liegen Hofanwesen mit Giebelhaus und Querscheune, traditionelle Hakenhöfe und einzelne Dreiseithöfe. In der hinteren Dorfstraße dagegen reihen sich die Kleinhäuser der Unterschicht mit nur geringfügigen Nebengebäuden. Insgesamt handelt es sich dabei um anspruchslose eingeschossige Haustypen, massive Putzbauten unter Satteldach. Auf das landschaftstypische Hoftor wurde verzichtet.
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Deutschlands Rettung zum grösstentheil untergegangen …“. Briefe und Gutachten Georg Mollers zum Wiederaufbau des Mainzer Doms in den Jahren 1822–1830. In: Mainzer Zeitschrift 79/80 (1984/85), S. 192 u. 193, Anm. 12; Ernst Emmerling: Der Erbauer des Ingelheimer Rathausbrunnens Georg Arnold. In: Heimat-Jahrbuch Kreis Mainz-Bingen 13 (1972), S. 91–93. Johann Brilmayer: Rheinhessen in seiner Vergangenheit. Gießen 1905, S. 268–270; Heinrich Bechtolsheimer: Die Provinz Rheinhessen in den beiden ersten Jahrzehnten ihres Bestehens. In: Beiträge zur rheinhessischen Geschichte. Festschrift der Provinz Rheinhessen zur Hundertjahrfeier 1816–1916. Mainz 1916, S. 62–64; Festschrift 175 Jahre Ludwigshöhe. 9. August 1997. Obertshausen 1997, passim. LASp Best. W 42 Nr. 948.
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Öffentliches und konfessionelles Bauwesen Mit den Finanzmitteln der neu eingerichteten Baufonds für Kirchen und Schulen17 konnte die hessische Regierung auf das konfessionelle und kommunale Bauen in beträchtlichem Maße einwirken. Die herrschende, staatlich propagierte Stilrichtung ist in einer ersten Phase vor allem der durch Georg Moller vermittelte strenge Klassizismus der Weinbrennerschule. So wird die von dem Mainzer Stadtbaumeister Augustin Wetter18 entworfene evangelische Kirche in Badenheim (1827–1829) durch eng gruppierte, rundbogige Oberlichtfenster in Rechteckblenden gegliedert. Die Empore stützen glatte dorische Säulen, wie wir sie dann auch in den zeitgenössischen Stallgewölben wiederfinden. Jene in GrolsGrolsheim, evangelische Kirche Ansicht von Süden heim ist ein gutes Beispiel für eine zeittypische, äußerst schlichte Kleinkirche. Ihr Entwerfer war sehr wahrscheinlich Landbaumeister Friedrich Schneider. Der Turm kam erst 1912 hinzu. Als interessante Beispiele der klassizistischen Überformung von Barockbauten lassen sich Schneiders Planungen für den Wiederaufbau der seit der Belagerung von Mainz 1793 zerstörten katholischen Kirche von Weisenau (1825)19 sowie für den Umbau der einstigen Deutschordenskomturei in Ober-Flörsheim in eine evangelische Kirche samt Schule (1828) hervorheben.20 Sehr früh, nämlich schon 1820/22, bezog Friedrich Schneider mit der evangelischen Kirche in Sprendlingen Anfang der 1830er Jahre gotisierende Elemente wie Fenstergewände mit Maßwerknasen und Spitzbogenfriese in die gestalterische Gesamtkonzeption ein. Möglicherweise lag dem Baumeister daran, sich auf den altehrwürdigen Vorgängerbau zu beziehen, dessen spätgotischer Turm übernommen wurde. Eine ähnliche Grundhaltung lässt die Planung eines Westturms durch Augustin Wetter für die spätgotische Simultankirche in Gau-Odernheim (1830–1833) erkennen, wo es sich bereits um eine spätklassizistisch gefärbte Neugotik handelt.
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Vgl. Anm. 10 u. 11. Er entwarf auch die katholische Kirche in Bodenheim. Sein Sohn Peter und der Enkel Karl Wetter traten wiederum als hessische Baubeamte in Rheinhessen in Erscheinung. Peter Wetter: 1832–1837 Kreisbaumeister im Baubezirk Alzey/Wörrstadt, 1838–1849 im Baubezirk NiederOlm/Ober-Ingelheim; Karl Wetter: 1879/80 am Kreisbauamt Alzey tätig. HStAD Best. S. 1 (biographische Informationen), http://www.hadis.hessen.de/ (09.02.2013). Dieter Krienke: Die katholische Pfarrkirche Mariä Himmelfahrt in Mainz-Weisenau: Ein Überblick zur Bau- und Kunstgeschichte. In: Pfarrkirche Weisenau 1312–2012. Mainz 2011, S. 29–74, hier: S. 44. LASp Best. H 51 Nr. 509. Der Plan wurde allerdings nur im Hinblick auf die Schule realisiert.
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Ober-Flörsheim, Entwurf zum Umbau der Deutschordenskomturei in eine Kirche samt Schulgebäude von 1828
Nieder-Olm, Altes Rathaus mit katholischer Kirche
Mit den Neubauten von Kirchen, Schulen, Rathäusern und Pfarrhäusern im Stil des Klassizismus begann in der Provinz die Erneuerung und Erweiterung der Baustrukturen.21 Marktflecken und Dörfer veränderten nach und nach ihr Gesicht. Die Einführung einer modernen Kommunalverwaltung machte den Bau neuer Rathäuser erforderlich. Die stattlichsten Beispiele errichtete 1827 Landbaumeister Friedrich Schneider in den Marktflecken Ober-Ingelheim und Nieder-Olm. Ihren 21
Hierbei erkannte man auch einen bemerkenswerten beschäftigungspolitischen Effekt (Bechtolsheimer, Provinz, wie Anm. 15, S. 110).
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repräsentativen Charakter verdanken sie der zusätzlichen Funktion als Sitz des kantonalen Friedensgerichtes. Es handelt sich um typenhafte Walmdachbauten mit Giebelrisalit und zentralem Balkon. Das Erdgeschoss hat rundbogige Gliederungen. Das Ober-Ingelheimer Beispiel ist zusätzlich mit einer Erdgeschossbänderung am Risalit, seitlichen Torbögen und Glockendachreiter versehen. Im Gegensatz zu den älteren Rathäusern Rheinhessens entfiel die Halle im Erdgeschoss, wo – wie in Ober-Ingelheim – nunmehr die Feuerspritze Bechenheim, Wohnstallhaus in der Weedegasse (Foto 1987) ihren Platz hatte. Die Einführung der allgemeinen Schulpflicht und das Bevölkerungswachstum bewirkten eine behördlich zentral geplante Schulbautätigkeit, die in diesem Umfang ohne Vorbild war. 1820 wurde ein Provinzialbaufond eingerichtet, aus dem das Schulbauprogramm gefördert wurde. Ein Baubüro bei der Staatsregierung versammelte „junge Techniker für das Civilbauwesen“, die sich der Aufsicht von Planung und Ausführung widmeten.22 Die Entwürfe lieferten die Landbaumeister bzw. dann die Kreisbaumeister, die den Wirtschaftlichkeitsbestrebungen mit der Entwicklung von Typenbauten Ausdruck verliehen. Die Ergebnisse sind eindrucksvoll: Bis 1834 erstellte man in Rheinhessen ganze 126 Neubauten, 35 ein- und 91 zweistöckig, mit insgesamt 228 Schulsälen.23 Alle wurden „von Stein erbaut, die Fundamente tief und stark gemacht (…)“ und mit „solid gewölbten Kellern (…) versehen“, galt doch der althergebrachte Fachwerkbau als unzureichend. Auch an die „Bequemlichkeit“ und die ungestörte Lernatmosphäre war gedacht: Der Bauplatz sollte nämlich „möglichst fern von den Geräuschen der Straße“ liegen, der Schulsaal von drei Seiten aus belichtet und eine geeignete Toilettenanlage vorhanden sein. In Anbetracht des erwarteten Schülerzuwachses sollten die Bauten auf Erweiterung angelegt sein.24 Man wollte also kostengünstig, nachhaltig, funktional und vorausschauend bauen – was ganz sicher der rheinhessischen Mentalität entgegen kam. Als ein frühes, eher singuläres Beispiel sei das eingeschossige Schulhaus von 1824 in Dietersheim vorgestellt,25 das Landbaumeister Friedrich Schneider der Einwohnerzahl des Dorfes entsprechend bescheiden dimensionierte. Als einzige ausgeprägte klassizistische Stilmerkmale kommen der Flachgiebel über dem Eingang 22 23 24 25
Wilhelm Heße: Rheinhessen in seiner Entwickelung von 1793 bis Ende 1834. Ein statistisch staatswirthschaftlicher Versuch. Mainz 1835, S. 285. Heße, Rheinhessen (wie Anm. 22), S. 294. Heße, Rheinhessen (wie Anm. 22), S. 294f. LASp Best. U 291 Nr. 35: „Aufriß und Durchschnitte eines in der Gemeinde Dietersheim neu zu erbauenden Schulhauses. Entworfen und ausgefertigt durch den unterzeichneten Ghzl. hessischen Landbaumeister. Mainz den 7ten July 1824 Fr. Schneider.“
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und der Dreiecksgiebel des Zwerchhauses vor. Die Kombination von Einraumschule und Wohnstallhaus erweist sich als wirtschaftliche Raumlösung. An der Fassade lässt sich die Stallnutzung allerdings nicht ablesen. Das Erdgeschoss ist wegen der Hochwassergefahr durch die Nahe hoch aufgesockelt. Rechts liegt der Schulsaal. Im Dachgeschoss, dessen Raumnutzung durch die Hinzufügung des – in der ländlichen Architektur neuen – Zwerchhauses optimiert wurde, sind Lehrerwohnung und Heuspeicher untergebracht. In Dietersheim fehlt das sonst in den Raumprogrammen vorgesehene Zimmer für die Gemeindeverwaltung. Landbaumeister Schneider hat sich in Dietersheim bewusst dafür entschieden, an den in der Region seit Jahrhunderten verwurzelten Bautyp des Wohnstallhauses anzuknüpfen. Er ist in ein- oder zweigeschossiger Variante des 17./18. Jahrhunderts für Rheinhessen dokumentiert. Die einstige Stallfunktion ist aber, soweit solche Bauten noch existieren, wegen Umbau und Modernisierung nur selten erkennbar geblieben. Häufig wurden die Schulen wirkungsvoll in die Nähe zur Kirche und anderen öffentlichen Bauten platziert, wie etwa 1830 in Gau-Bischofsheim. Das dortige Schulhaus vertritt wie das Beispiel in Biebelnheim von 1825 den für Rheinhessen kennzeichnenden Standardtyp. Dabei konnte der Grundriss nach den lokalen Bedürfnissen modifiziert werden. In Biebelnheim wurden etwa Schul- und Rathausnutzung unter ein Dach gebracht. Als weitere denkmalwert erhaltene Beispiele lassen sich Badenheim, Büdesheim, Gau-Odernheim, Framersheim, Klein-Wintern -heim, Nackenheim und Nieder-Ingelheim aufführen. Die eingeschossige Variante findet sich z. B. in Bornheim, Lonsheim und Dromersheim. Es sind in der Regel traufständige Putzbauten. Das mäßig geneigte Satteldach Gau-Bischofsheim, katholische Kirche und Schulhaus erhebt sich über weit auskragendem Konsolgesims. Das barocke Krüppelwalmdach kommt nicht mehr vor. Die Giebel sind durch das umlaufende Traufgesims als flache Dreiecke ausgebildet, in denen sich Thermenfenster öffnen. Dieses hier versatzstückhaft eingesetzte Motiv kennen wir bereits von den Rathäusern. Die klassizistische Architektur bezog sich Bornheim, Schulhaus damit auf den spätantiken
Baukultur und Baupolitik in der Provinz Rheinhessen
Monumentalgewölbebau: Die großen Halbkreisöffnungen sind in der Mitte durch ein Pfeilerpaar gegliedert. Zeittypisch erscheint die entschiedene Horizontalbetonung durch ein Gurtgesims. Glockendachreiter und Giebelserliana des Dromersheimer Beispiels (1827–1830) stellen dagegen schon ungewöhnlich aufwändige Zutaten dar.
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Biebelnheim, Hauptstraße 14
Hoforganisation und Bauernhaus Die öffentliche Bautätigkeit sollte erklärtermaßen den entscheidenden Impuls für das private Bauwesen geben. Dem Schulhausbau war dabei die Vorbildrolle für das bäuerliche Wohnhaus zugedacht, insbesondere was kostengünstige und solide Ausführung betraf. Diese sollte dann auch das Aus für den Fachwerkbau bedeuten. Reich begüterte Landwirte leisteten sich tatsächlich in den 1830er und 40er Jahren annähernde Kopien der klassizistischen Schulhaus-Typenbauten, wie Beispiele in Biebelnheim (Hauptstraße 14), Bodenheim (Schönbornplatz 4) und Guntersblum (Alsheimer Straße 11 von 1836) in anschaulicher Weise verdeutlichen. Eine städtebaulich beherrschende Ecklage kennzeichnet den „Burghof Oswald“ in GunGuntersblum, Alsheimer Straße 11 tersblum, der beachtliche 7:4 Fensterachsen misst. Obligatorisch sind Halbkreisfenster im ausgeprägten Dreiecksgiebel und kassettiertes Volutenkonsolgesims unter der Traufe. Als Besonderheit fällt die Verdoppelung des Thermenfenster-Motivs an dem oben genannten Dreiseithof in Biebelnheim auf, der bezeichnenderweise gegenüber der wohl für ihn in der Gestaltung vorbildlichen Schule liegt. Das giebelständige Wirtschaftsgebäude daneben ist durch eine Fassadenbildung in der Art eines Wohnhauses kaschiert. Die im Stil des Klassizismus neu errichteten Bauten entsprachen dem Repräsentationsbedürfnis einer sich formierenden dörflichen bzw. regionalen Elite,26 die sich 26
Zum politischen, wirtschaftlichen und sozialen Hintergrund vgl. Gunter Mahlerwein: Die Herren im Dorf. Bäuerliche Oberschicht und ländliche Elitenbildung in Rheinhessen 1700–1850
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der architektonischen Ausdrucksformen „hoheitlicher“ Bauten bediente. Dies dürfte sich aus der Identifizierung mit der ihr zugewachsenen Rolle als staatstragende Modernisierer im Großherzogtum, dessen Bürger sie erst seit Kurzem waren, erklären. Nicht nur die öffentlichen Bauten, sondern auch die Wohnhäuser der wohlhabenden Bauern und Gutsbesitzer machten somit die neue politische Zugehörigkeit in den Ortsbildern Rheinhessens augenfällig. Eine vergleichbare Entwicklung lässt sich mit der „Landverschönerung“ in der 1816 bayerisch gewordenen Pfalz beobachten, die allerdings einen weitaus umfassenderen, dezidiert programmatischen Charakter erlangte.27 Wilhelm Heße konstatierte 1835 zwar das ländliche Bauwesen betreffend: „Die meisten Hofraithen sind zu beengt, weil sie in einer Zeit, in welcher der Ackerbau und die Viehzucht noch auf niedriger Stufe sich befanden, gegründet wurden (…)“, und stellte dennoch den Erfolg der Bemühungen von staatlicher Seite, auch im Hinblick auf ästhetisch befriedigende Lösungen, heraus: „Die landwirthschaftliche Bauart ist besonders seit fünfzehn Jahren wesentlich verbessert worden. Viel hat hierzu die Aufführung solider Schulhäuser beigetragen, indem hierdurch den Landsleuten Muster gegeben wurden, mit dem selben Kostenaufwande dauerhaftere Gebäude von gefälligerer Form, als dies früher der Fall war, zu bauen.“28 Musterpläne für den rheinhessischen Bauernhof Eine aussagekräftige Quelle im Hinblick auf die Bauentwicklung der Provinz in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind die Katasterpläne der hessischen Vermessung29. Sie geben Auskunft über die Vielfalt der landschaftsgebundenen Hofformen. Haken-, Parallel- und Dreiseithöfe wie unregelmäßige Varianten bestimmten damals das verdichtete Dorfgefüge, das sich nunmehr über die bereits im Spätmittelalter gezogenen Grenzen hinaus ausdehnte. Die Förderung des landwirtschaftlichen Bauwesens stellte neben den Infrastrukturmaßnahmen eine Priorität der hessischen Regierung dar. Der Regierungspräsident von Rheinhessen, Freiherr von Lichtenberg, widmete sich mit Engagement diesem Thema und gründete 1831 den Landwirtschaftlichen Verein der Provinz Rheinhessen, dem er als erster Präsident vorstand. Bevölkerungszunahme und wachsende Ernteerträge führten in diesen Jahrzehnten zu einem regelrechten Boom im ländlichen Bauwesen. Ein aufschlussreiches Dokument für die Bemühungen, „auf ein zweckmäßigeres landwirthschaftliches Bauwesen hinzuwirken“, ist das 1843 erschienene Tafelwerk „Entwürfe von Muster=Plänen für das ländliche Bauwesen“, herausgegeben von
27 28 29
(Veröffentlichung des Instituts für europäische Geschichte Mainz, Abt. für Universalgeschichte Bd. 189; Historische Beiträge zur Elitenforschung Nr. 2). Mainz 2001. Clemens Jöckle: Landverschönerung, Staatsbauwesen und Denkmalpflege in der bayerischen Pfalz zu Anfang des 19. Jahrhunderts. In: Pfälzer Heimat 31 (1980), S. 90–97. Heße, Rheinhessen (wie Anm. 22), S. 70. Die Katasterpläne des 19. Jh. (Parzellenkarten samt Fortschreibungen) sind meist in den Gemeindearchiven überliefert. Die Exemplare der Katasterverwaltung wurden inzwischen vom Katasteramt Alzey großteils an das Landesarchiv Speyer abgegeben.
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den Landwirtschaftlichen Vereinen der hessischen Provinzen.30 Die Pläne waren nach Region, Betriebsart und Betriebsgröße systematisiert. Sie sollten Bauhandwerkern, Baugewerkschulen und der Bauverwaltung als Grundlagenwerk dienen. Man wollte „für solche Gegenden, welche in ihrer seitherigen Bauart, nach Klima und landwirthschaftlicher Betriebsweise, ein charakteristisches Bild darbieten, das vorhandene Bessere aufnehmen“. Bewusst behält man hier die in den 1830er Jahren etablierte Stilwahl, allerdings in der weniger strengen Form des Spätklassizismus, bei und will an dieser Stelle nicht anderen, d.h. den aufkommenden historisierenden Tendenzen vorgreifen. Man brachte also Baumeister und Landwirte zusammen, die ausgehend von der regionalen Bautradition und den neuesten Erkenntnissen der Agrarwissenschaft gemeinsam Vorschläge für eine funktionale, zukunftsfähige Hoforganisation entwickelten. Und tatsächlich wurden im Lande zahllose Bauten dieser Grundhaltung realisiert. Bezüglich Rheinhessen wurden Musterpläne für vier Hoftypen (Grund- und Aufrisse) erarbeitet. Den Anfang macht der Plan für das Kleinbauernanwesen. Besondere Rücksicht galt der „hier herrschende(n) Vorliebe, die größere Fronte des Hauses gegen die Straße zu stellen und selbst an kleinen Gebäuden Thorfahrten zu haben. (…) Der Gewohnheit, einen kleinen Viehstall im Hause zu sehen, wurde insoweit nachgegeben, dass der Stall von Hause aus wenigstens keinen Zugang hat und mit massiven Umfassungswänden eingeschlossen ist.“31 Torfahrt, Traufständigkeit und Wohnstall-Kombination werden somit als typisch rheinhessische Bautraditionen verstanden. Auch viele Baugesuche enthalten das ganze 19. Jahrhundert hindurch gerade bei den Anwesen der dörflichen Unterschicht diese bauliche Lösung. Der Hausgrundriss zeigt den jetzt immer häufigeren durchgehenden Hausflur, der hier eine Küche aufnimmt. Diese im Grunde altertümliche Form der Flurküche ist allerdings wohl nur eher selten verwirklicht worden. Der Zwang, sparsam mit der zur Verfügung stehenden Grundfläche umzugehen, wird hier deutlich. Die Scheune fehlt. Heu, Stroh und Frucht lagert man auf dem Hausdachboden. Im Aufriss besitzt das Haus eine erwartungsgemäß schlichte, symmetrisch gegliederte Fassade und einen Kniestock, der die bessere Ausnutzung des Speichers ermöglicht – eine Neuheit in Rheinhessen. Das Beispiel für den Hof des Bauern mittlerer Bedeutung ist ein Dreikanter mit traufständigem Wohnhaus.32 Auch hier ist der Hofraum von der Straße durch das eineinhalbgeschossige Wohnhaus abgeschirmt. Zwischen Wohnhaus und Scheune sind Gesindestube, Kleinviehställe und Kelterhaus eingeschoben. Zur Stallscheune wird erläutert: „Bei den Stallungen ist auf die in Rheinhessen verbreiteten Kreuzgewölbe Rücksicht genommen.“ Diese werden hier also schon damals als kennzeichnende rheinhessische Bauform vorausgesetzt.33 Der Hofgrundriss veranschaulicht
30 31 32 33
Entwürfe von Muster=Plänen für das landwirthschaftliche Bauwesen im Großherzogthum Hessen. Darmstadt 1843, [S. 1f.] Entwürfe (wie Anm. 30), [S. 3] u. Tafel III. Entwürfe (wie Anm. 30), [S. 3f.]. Vgl. unten.
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oben: Musterplan für den mittleren Landwirt, 1843 unten; Musterplan für den Kleinbauern, 1843
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oben: Musterplan für den Gutsbesitzer, 1843 unten: Musterplan für den kleinen Landwirt, 1843
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jedenfalls die landschaftstypische gemischte Wirtschaftsweise mit Feldbau, Weinbau und Viehhaltung. Es folgt der Vorschlag für die „Oeconomien mit Weinbau“34 der Gutsbesitzer. Die repräsentative Großzügigkeit des Wohnhauses wird hier als Ausdruck eines gehobenen bürgerlichen Lebensstils aufgefasst: „Bei dem Raume des Wohnhauses sind die dort allgemein bessere Lebensweise, vorherrschender Sinn für Gastfreundschaft, unterstützt durch einen ziemlich hohen Grad von Wohlstand, in Berechnung gekommen.“35 Es fallen die beiden freilich recht kleinen Ziergärten neben der Scheune ins Auge, deren bewegtes Wegenetz sie als Miniaturausgabe Englischer Landschaftsgärten erscheinen lässt. Auch hier versucht man den neuen Bedürfnissen der privilegierten Bauherrn nachzukommen, womit man dem gesellschaftlichen Wandel der letzten drei bis vier Jahrzehnte im ländlichen Raum Rechnung trug. Die Straßenfront des weitläufigen Vierseithofes wird regelrecht inszeniert. Zwischen zwei niedrigen Seitenflügeln der Ökonomie mit Torfahrten erhebt sich schlossartig der durch ein Walmdach hervorgehobene Baukörper. Das spätklassizistische Fassadenschema bleibt in dieser Form bis um die Wende zum 20. Jahrhundert für das große Bauernhaus bestimmend: symmetrische Anlage mit zentralem Portal, Hervorhebung der Beletage-Fenster durch Gesimsverdachungen und Sohlbankgesims. Das Walmdach war früher eher hoheitlichen Bauten oder solchen besonderer Funktion wie Adelshöfen oder Pfarrhäusern vorbehalten. Auch hier dokumentiert sich der Anspruch der dörflichen Elite in anschaulicher Form. Die Ökonomie verdeutlicht stark differenzierte Funktionszusammenhänge. Den beachtlichen Umfang der zu erwartenden Ernteerträge verdeutlicht die Anordnung der beiden übereck gestellten Scheunen. Die durchweg gewölbten Stallungen nehmen den ganzen rechten Flügel der Anlage ein: zwei dreischiffige Rindviehställe für 12 Tiere, Jungviehstall und ein achtteiliger Pferdestall. Dazwischen ist das Brennhaus eingestellt, um der Feuersicherheit willen auch dieses eingewölbt. Weiterhin ist der am weitesten in Rheinhessen verbreitete spätklassizistische Haustyp36 dargestellt, das Traufenhaus zu fünf Fensterachsen, wie man sie an jeder Ortsdurchfahrt sieht. Es wird in dem zugehörigen Hof auch die seit dem Eppelsheim, Kirchmühle, Gewölbestall (Foto 1960) 18. Jahrhundert bezeugte Tradition der 34 35 36
Entwürfe (wie Anm. 30, Tafel XI-XIV. Entwürfe (wie Anm. 30), [S. 5]. Entwürfe (wie Anm. 30), Tafel XIII u. XIV.
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rechteckigen Toranlage fortgeführt, hier mit Nebenpforte. Die kleinen Halbkreisfenster der Stallungen kann man noch als Reduktion der Thermenfenster an den Wohngebäuden auffassen. Aber sie sind hier durch die Rundungen der Gewölbekappen im Innern konstruktiv bedingt. Etwas gezwungen wirkt wiederum in diesem Zusammenhang der eingeplante Garten, hier als „klassischer Bauerngarten“ mit streng symmetrischem „barockem“ Grundriss. Die im Grunde fortschrittlichen Vorschläge zu den Gärten setzten sich aber erst allmählich und wenn, dann – wie z.B. verbreitet in Nierstein – in weitaus großzügigerer Form durch. Die Nutzgärten lagen übrigens schon immer hinter der Scheune. Der Gewölbestall als staatlich propagierte Bauform Über die um die Mitte des 19. Jahrhunderts allerorts in Rheinhessen errichteten gewölbten Viehställe, heute regionales „Alleinstellungsmerkmal“ für Tourismus und Weinvermarktung, habe ich neue Erkenntnisse im jüngsten Jahrbuch der Landesdenkmalpflege mitgeteilt.37 An dieser Stelle darf es daher bei wenigen Beobachtungen bleiben. Die Propagierung der Gewölbeställe stellt ein gutes Beispiel für die offizielle Einflussnahme auf das Baugeschehen der Provinz dar, zumal sie als Symbol des Fortschritts wahrgenommen wurden. Wichtiges Organ war dabei die Zeitschrift für die landwirtschaftlichen Vereine des Großherzogtums Hessen: 1842 erging dort ein entsprechender Aufruf des Freiherrn von Lichtenberg zum Bau solcher Ställe. Er unterstützte das umfassende Kursangebot für Bauhandwerker durch den Eisenberger Maurermeister Franz Ostermeyer, der ein unkomplizierteres Einwölbverfahren für die Kreuzgewölbe aus Backstein entwickelt hatte. Damit begann eine freilich
Büdesheim, Burgstraße 87, Gewölbestall, Bauplan von 1857 37
Vgl. Dieter Krienke: Rheinhessische „Kuhkapellen“. Gewölbte Viehställe als Zeugnisse ländlicher Baukultur. In: Baudenkmäler in Rheinland-Pfalz 2006–2008. Mainz 2010, S. 31–35; dort weitere Literatur.
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recht kurzlebige Erfolgsgeschichte. Pionier war der Osthofener Georg Friedrich Best, der 1830 den ersten Gewölbestall in Rheinhessen erbauen ließ – nicht zufällig ein Exponent der fortschrittlichen Gutsbesitzer. Kannte man zuvor nur herrschaftliche Marställe in dieser Bauart, so bemächtigten sich nun auch die rheinhessischen Landwirte der Ausdrucksmittel der Herrschaftsarchitektur. Sogar großherzogliche Beamte befassten sich mit der Bauaufgabe, so z.B. 1857/58 in Büdesheim (Burgstraße 87) der Bauaufseher Heinrich Scheuer:38 Auf dem Grundriss des Bauplans ist als Besonderheit neben dem Stall eine zweijochig gewölbte Gesindestube eingezeichnet. Im Musterbuch von 1843 empfiehlt man übrigens für das männliche unverheiratete Gesinde „Hängbritschen im Stalle selbst als Schlafstätten“.39 Traditionalismus und Funktionalismus: der Darmstädter Baurat Wilhelm Thaler Nach dem Ausscheiden des Freiherrn von Lichtenberg aus dem Amt 1845 hatte sich kaum mehr etwas im Hinblick auf die Förderung des landwirtschaftlichen Bauwesens in der Provinz getan. Mit der Gründerzeit wuchs der Einfluss historischer Baustile. Neben die verputzten und natursteinsichtigen Bauten, traten dem Zeitgeschmack entsprechend seit dem dritten Viertel des 19. Jahrhunderts solche aus Backsteinen, deren Massenproduktion auch in der Region aufgenommen worden war. Städtische Bauformen drangen in den ländlichen Raum vor und veränderten den Charakter der Dörfer. Erst kurz nach der Jahrhundertwende erkannte man daher erneut die Notwendigkeit, die Landwirte in Fragen des Bauens zu unterstützen. Denn das ländliche Bauwesen geriet vor allem durch die damals aktuelle Heimatschutzbewegung, die ein bodenständiges, landschaftsgebundenes Bauen forderte, erneut ins Blickfeld – nicht nur im Hinblick auf die Zweckmäßigkeit der Hoforganisation, sondern auch auf die äußere Gestaltung sollten die Bauern Unterstützung erfahren. So wurde 1908 der „Bauberatungsdienst der Landwirtschaftskammer für das Großherzogtum Hessen“ in Darmstadt gegründet, Bauinspektor Wilhelm Thaler zu dessen Leiter ernannt.40 Der 1874 in Ortenberg geboreneThaler war seit 1899 als Regierungsbauführer beim Hochbauamt Darmstadt tätig, befasste sich aber auch mit der Aufnahme historischer Bauten. Die neue Beratungsstelle sollte dafür Sorge tragen, „daß zweckmäßig, einfach und billig gebaut wird“ und „(…) die Bauten ihre Zweckbestimmung zeigen, aller überflüssiger Schmuck vermieden wird“. Sie sollten „sich von den Formen des städtischen Bauwesens fernhalten und einen einfachen ländlichen Charakter tragen.“41 Dies war ganz im Sinne einer bodenständig aufgefassten Reformarchitektur, die auf den historistischen Aufwand verzichtete und sich, wie etwa von dem Architekturtheoretiker Paul Schultze-Naumburg propa38 39 40 41
Stadtverwaltung Bingen (Bauamtsarchiv), Baugesuch Nr. 3633: „Plan zu einem neu zu erbauenden Oeconomiegebäude für Herrn August Braden zu Büdesheim. / Gezeichnet von H. Scheuer Gr. Bauaufseher zu Büdesheim im Mt März 1857“. Entwürfe (wie Anm. 30), [ S. 4]. HStAD Best. S 1 (biographische Informationen), http://www.hadis.hessen.de/ (09.02.2013). Die Landwirtschaft im Großherzogtum Hessen : Rückblick auf die Tätigkeit der landwirtschaftlichen Vereine von 1882–1906 und Bericht der Landwirtschaftskammer für das Großherzogtum Hessen für die erste Wahlperiode 1907–1911. Darmstadt 1912, S. 358.
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giert, an die schlichten ländlichen Bauformen zwischen Spätbarock und Klassizismus der Zeit um 1800 anlehnen wollte. Thaler dürfte sich in diesem Zusammenhang auch mit dem damals in der Region einflussreichen Darmstädter Architekten Friedrich Pützer auseinandergesetzt haben. Nach dem Ersten Weltkrieg setzte Thaler seine Tätigkeit ab 1919 im „Bauamt der Landwirtschaftskammer für Hessen“ fort. 1926 publizierte er in der Reihe „Deutschlands Landbau“ das Buch „Hessen. Das ländliche Bauwesen“, herausgegeben von der Landwirtschaftskammer für Hessen.42 Im Vorwort stellt er heraus, dass „bei Neubauten den Anforderungen der modernen Technik Rechnung zu tragen ist in Bauformen, die an die alte bewährte Bauweise möglichst anklingen und jedenfalls nicht als Fremdkörper im Landschaftsbild oder Straßenbild empfunden werden.“ Dabei sollen fortschrittliche Konstruktionsweisen eingebracht werden, wie der Eisenbetonbau. Weiterhin führt er aus: „Was die Wohnhäuser anlangt, so sind in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts die städtischen Bauformen im Übermaß auf das Land verpflanzt worden, und es muss die Aufgabe des Architekten sein, wieder mehr an die alten überlieferten Bauweisen anzuknüpfen.“43 Zugespitzt mag man ihn also als Vertreter eines „funktionalistischen Traditionalismus“ bezeichnen. Mit dieser Grundhaltung entwarf Wilhelm Thaler – nach Ausweis der Gemeindebauakten – für Rheinhessen viele Wohnhäuser, Hofanlagen und Ökonomien,44 aber auch Genossenschaftsbauten wie die Ober-Ingelheimer Markthalle in bodenständigen Bauformen, die man heute gemeinhin unter dem Begriff Heimatstil zusammenfasst. Zu den bedeutenden Entwürfen Thalers gehört die großflächige Vierkantanlage, 1911/12 für Georg Michel in Undenheim (Staatsrat-Schwamb-Straße 59) erbaut.45 Das Hauptgebäude verzichtet mit den Eckerkern nicht völlig auf historistische Versatzstücke, entspricht also nicht ganz den eigenen Vorgaben im Hinblick auf eine schlichte Formgebung. Hier gab Thaler also dem Undenheim, Staatsrat-Schwamb-Straße 59 Repräsentationswillen des Gutsbesitzers nach. Er legt großen Wert auf die malerische Wirkung, wie auch 1927 beim Entwurf für ein Haus in Friesenheim (Hauptstraße 16). Deutlich ist das Bemü42 43 44 45
W[ilhelm] Thaler (Bearb.): Hessen. Das ländliche Bauwesen (Deutschland Landbau). Berlin 1926. Thaler, Hessen (wie Anm. 42), S. 3. Vgl. auch Rolf-Konrad Becker: Planen für die Landwirtschaft. Das Bauamt der Landwirtschaftskammer Hessen und seine Projekte im heutigen Landkreis Alzey-Worms. In: HeimatJahrbuch Landkreis Alzey-Worms 45 (2010), S. 202–205. Thaler, Hessen (wie Anm. 42), S. 50.
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hen, eine individuelle Architektur zu schaffen, doch verharrt das Ganze meist eher im Schablonenhaften. Zeittypisch erscheint die Variation der allgemein als ländlich und barock aufgefassten Dachformen, wie Krüppelwalm, Fußwalm oder Mansarddach, und die Verwendung des Biberschwanzziegels. Auch die musterhaft organisierte Ökonomie des oben erwähnten Undenheimer Hofes ist der näheren Betrachtung wert. Schon lange baute man als Folge der Einführung neuer Baustoffe und Bautechniken keine Gewölbeställe mehr, und auch die nachfolgende Konstruktionsweise mit Preußischen Kappen wurde durch Betondecken abgelöst. Die Dungkaut liegt jetzt nicht mehr mitten im Hof, sondern wird in einem eigenständigen, offeUndenheim, Staatsrat-Schwamb-Straße 59, nen Bauteil untergebracht. Entwurf von Wilhelm Thaler Den Hof schließt auf der Rückseite eine Doppelscheune ab, an die rechtwinklig das Kelterhaus angebracht ist. In diesem Flügel haben, entsprechend den technischen Neuerungen, Maschinenraum und Wagenremise ihren Platz. Schon viel eher entspricht das vor 1926 von Thaler geplante Haus Ochs in Blödesheim (heute Hochborn)46 den eigenen postulierten Grundsätzen. Das barockisierende Gebäude mit seinem Bezug auf die Architektur um 1800 präsentiert sich schlicht und dennoch charaktervoll. Es erinnert an die Bautypen ländlicher Anmutung, wie wir sie auch von den Gartenstadtsiedlungen des frühen 20. Jahrhunderts kennen. Ähnlich verhält es sich mit dem villenartigen Walmdachbau in Harxheim (Obergasse 6), der 1923 von Wilhelm Thaler für die Weinkellerei von Georg Phil46
Thaler, Hessen (wie Anm. 42), S. 65.
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ipp Lotz durch Umbau eines klassizistischen Wohnhauses erstellt wurde.47 Der einzige wirklich aufwendige Akzent ist die säulengestützte Vorhalle unter Schweifdach. Den zum Garten hin unterhalb sich nach Süden öffnende Hof flankieren Kelterhallen und Weinkeller. Am Südende des raumgreifenden Gartens, in der Achse des Wohnhauses, steht hinter einem Springbrunnen das Gartenhäuschen mit PorBlödesheim (Hochborn), Wohnhaus Ochs tikus. Die geschweiften Schieferdächer als barockisierende Elemente wiederholen das Motiv des Hauseingangs. In der Pfeilerstellung aus Beton sind expressionistische Anregungen verarbeitet. Der Garten zeugt somit von dem gehobenen Lebensstil des Weinhändlers und von der Sehnsucht nach dem Residieren auf dem Lande. Dennoch schien das Problem eines angemessenen ländlichen Bauens in Rheinhessen auch in den 1930er Jahren noch nicht gelöst. Der Volkskundler Wilhelm
Harxheim, Weinkellerei Lotz 47
Thaler, Hessen (wie Anm. 42), S. 37f.
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Hofmann bewertet das bauliche Erscheinungsbild der Dörfer und damit auch die Ergebnisse der hessischen Baupolitik sehr kritisch. Ihm zufolge zeigten sich die alten Bauernhäuser48 von außen „unfraglich vorteilhafter als die anspruchsvollen, protzenhaften Gebilde des 19. Jahrhunderts, deren unsere Dorfstraßen eine große Zahl aufweisen und die zwar von erheblich vermehrtem Wohlstand und pfälzischrationalistischem Nützlichkeitssinn, aber auch von Gemütsleere und mangelndem Kunstempfinden, wie sie mit jenen oft verbunden sind, zeugen. Da herrscht die gerade Linie, die weiße Fläche, der rechte Winkel, der halbe Kreis, der rauhe Stein, wenn nicht gar der unbeworfene Backstein (…). Leider geben die vielen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstandenen Schulhäuser (…), Rathäuser und Staatsgebäude kein gutes Vorbild.“49 Den nüchtern-sachlichen Charakter der rheinhessischen Ortsbilder bedauert ebenso die Geographin Gerda Bernhard, die sich damals eingehend mit der Region befassen konnte.50 Zusammenfassung Die beiden behandelten Kapitel rheinhessischer Kulturgeschichte waren Beispiele für die direkte und indirekte Einflussnahme von politischer Seite auf das ländliche Bauwesen in der Provinz. Die Landwirtschaft stellte in Rheinhessen immer einen wichtigen ökonomischen Faktor dar, war aber auch wiederkehrenden Anpassungsprozessen unterworfen. Sowohl in der Umbruchsituation nach dem Wegfall des Feudalsystems und der Angliederung an Hessen als auch im frühen 20. Jahrhundert versuchte die offizielle Seite u.a. durch die Verbesserung des ländlichen Bauwesens die Grundlagen der bäuerlichen Betriebe zu stärken. Dabei wirkten Baufachleute und Landwirte unter der Förderung der Politik fruchtbar zusammen. Das Ziel war stets im Sinne des landwirtschaftlichen Fortschritts zweckmäßig, dauerhaft und – mit den stilistischen Mitteln ihrer Zeit - ästhetisch zufriedenstellend zu bauen. Wo es sinnvoll erschien, bezog man sich – vor allem in der Hoforganisation – bewusst auf regionale Bautraditionen. Die Baupolitik der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts prägte mit ihren zentral geplanten öffentlichen Gebäuden die Ortsbilder nachhaltig und schuf so eine Identifikationsmöglichkeit im Hinblick auf die Zugehörigkeit zum Großherzogtum. Bauinspektor Thaler von der Bauberatung der Hessischen Landwirtschaftskammer setzte sich im frühen 20. Jahrhundert die Erhaltung des „guten Alten“ und die behutsame Einpassung des Neuen ins gewachsene Dorf und in die Landschaft zum Ziel, kam jedoch mit seinen architektonischen Entwürfen kaum über das Formelhafte hinaus. Immerhin fand er da und dort Nachahmer unter den mittlerweile auch in kleineren rheinhessischen Orten niedergelassenen Architekten.
48 49 50
Gemeint sind die Bauten der Barockzeit. Wilhelm Hoffmann: Rheinhessische Volkskunde (Volkskunde rheinischer Landschaften). Bonn, Köln 1932, S. 38f. Gerda Bernhard: Die beiden Ingelheim und ihre Umgebung. Eine Studie über das Meßtischblatt Ober-Ingelheim (Rhein-Mainische Forschungen H. 15). Frankfurt am Main 1936, S. 85.
Gunnar Schwarting
Die Gemeindeordnung von 1821 im Großherzogtum Hessen: ein Neuanfang für Rheinhessen. Einige ausgewählte Aspekte und aktuelle Bezüge1 Einführung Zwar war Rheinhessen nach langen Verhandlungen 1816 an das Großherzogtum Hessen gefallen; für die Struktur und Organisation seiner Gemeinden galten indes noch die Vorschriften aus der französischen Zeit. Erst mit dem „Gesetz die Gemeindeordnung betreffend“ vom 30. Juni 1821 wurden die Grundlagen für ein „gesamthessisches“ Kommunalrecht gelegt, das in allen drei Provinzen des Landes, den „alten“, Oberhessen und Starkenburg2, sowie der „neuen“, Rheinhessen, galt. Es war insoweit modern, als es keine Unterscheidung zwischen Städten und Landgemeinden vornahm, eine Differenzierung, die z.B. in Preußen noch lange Bestand hatte. Erst 1874 wurde auch in Hessen eine eigene „Städteordnung“ erlassen. Die „Kommunalverfassung“ blieb allerdings insoweit unvollständig, als die Ebene zwischen den Gemeinden und der Provinzialregierung für Rheinhessen, die Kreise, erst wesentlich später gebildet wurde und die alte französische Kantonsverfassung vorerst bis 1835 Fortbestand hatte. Das Gesetz mit seinen 100 Artikeln ist zwar ein Produkt seiner Zeit, unterscheidet sich gleichwohl nicht unerheblich von der preußischen Städteordnung von 1808 und weist eine Reihe von Regelungen auf, die auch heute nicht ganz unbekannt sind. Insoweit hätte das Gesetzeswerk gerade in der kommunalwissenschaftlichen Literatur durchaus mehr Aufmerksamkeit verdient.3 1
2 3
Der vorliegende Text beschränkt sich auf eine Analyse einzelner Teile des historischen Gesetzeswortlauts und stellt Verbindungen zu aktuellen Bestimmungen her. Auf die tatsächliche Umsetzung nach 1821 wird nur gelegentlich Bezug genommen. Spätere Gesetzesänderungen bleiben unberücksichtigt. Der Beitrag stellt daher auch nur eine erste Auseinandersetzung mit der hessischen Gemeindeordnung dar. Es wird nicht überraschen, dass der Blickwinkel des Autors weniger aus historischer, denn aus kommunalwissenschaftlicher und -politischer Perspektive geprägt ist. Auf besondere Bestimmungen für diese beiden Landesteile wird im Weiteren nicht eingegangen. Weder in der ersten Auflage von 1956 (Erich Becker, Entwicklung der deutschen Gemeinden und Gemeindeverbände im Hinblick auf die Gegenwart) noch in der zweiten Auflage von 1981 (Christoph v. Unruh: Ursprung und Entwicklung der kommunalen Selbstverwaltung im frühkonstitutionellen Zeitalter) des Handbuchs der kommunalen Wissenschaft und Praxis findet die Gemeindeordnung des Großherzogtums Hessen Erwähnung.
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Im Wesentlichen werden in dem Gesetz die folgenden Sachverhalte geregelt: • Gemeindegebiet und -neugliederung (Art. 1 bis 9) • Gemeindeorgane (Artikel 10 bis 40) • Ortsbürgerrecht (Artikel 41 bis 54) • Vermögens- und Haushaltswirtschaft (Artikel 55 bis 99) • Schlussbestimmung (Artikel 100). Bemerkenswert umfangreich sind die Regelungen zur Vermögens- und Haushaltswirtschaft, wozu auch die Bestimmungen über die gemeinschaftliche Nutzung von Gemeindevermögen durch die Gemeindebürger (Artikel 93ff.) zählen. Mit fast 50% aller Artikel übersteigt dieser Bereich selbst die aktuelle rheinland-pfälzische Gemeindeordnung beträchtlich, in der lediglich gut 25% der Bestimmungen sich mit der Gemeindewirtschaft befassen. Noch stärker weicht hierin die großherzoglich-hessische Gemeindeordnung von der preußischen Städteordnung von 1808 ab, die stattdessen sehr differenzierte Aussagen zur inneren Verfassung und Ordnung der Städte trifft.4 Diese Fragen spielen in der hier betrachteten Gemeindeordnung hingegen nur eine untergeordnete Rolle. Die großherzoglich-hessische Gemeindeordnung atmet keinen besonderen Selbstverwaltungsgeist, wie er in der Präambel der preußischen Städteordnung von 1808 ausgedrückt ist und erst recht von jeder modernen Kommunalverfassung erwartet würde. Das hessische Werk wirkt eher nüchtern und technisch. Daneben ist der Einfluss der staatlichen Behörden beachtlich, wie er sich z.B. in der Auswahl des Bürgermeisters manifestiert. Allerdings fehlen allgemeine Bestimmungen zur Staatsaufsicht, wie dies heute am Ende jeder Gemeindeordnung üblich ist. Nebenbei bemerkt: Die preußische Städteordnung von 1808 fällt gleich in § 1 „Von der obersten Aufsicht des Staats über die Städte“ geradezu „mit der Tür ins Haus“. Struktur und Aufgaben der Gemeinden Die Gemeindeordnung von 1821 beginnt zunächst mit Bestimmungen, überhaupt fest umrissene Gemeinden und Gemeindegebiete zu finden, was angesichts der sehr differenzierten Rechtsverhältnisse der vornapoleonischen Zeit keine leichte Aufgabe war. Fast modern muten dann die Artikel 5 und 6 an, die die Aufteilung gemeinsamer Gebiete und die Zusammenlegung von Gemeinden betreffen. Es ist der gleiche Zweiklang, der auch die aktuelle Diskussion zur Verwaltungsreform in Rheinland-Pfalz bestimmt – erst die Freiwilligkeit; nur falls das nicht gelingt, folgt eine staatliche Entscheidung (Artikel 7). Während die rheinland-pfälzische Gemeindeordnung an den Beginn in § 2 GemO Ausführungen zu den Aufgaben setzt, finden sich diese Angaben – allerdings wesentlich präziser5 – in der großherzoglich-hessischen Gemeindeordnung eher 4 5
Zur Struktur der Städteordnung s. den kurzen Abriss bei August Knobsbach: Die preußische Städteordnung von 1808 (Neue Schriften des Deutschen Städtetages Heft 1). Stuttgart, Köln 1957, S. 27ff. Die rheinland-pfälzische Gemeindeordnung spricht lediglich von den „Aufgaben der örtlichen Gemeinschaft“.
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„versteckt“, nämlich in den Art. 76ff., die sich mit der Erhebung von Gemeindeumlagen für die Bestreitung gemeindlicher Ausgaben befassen. Diese sind in drei Klassen unterteilt: • Erste Klasse (Artikel 83): „Bedürfnisse für die Erhaltung und Verbesserung des eigentlichen Gemeindevermögens und seiner Realgerechtsame, z.B. Bezahlung der Gemeindeschulden und ihrer Zinsen, in so fern sie nicht für Bedürfnisse der zweiten und dritten Classe (…) aufgenommen wurden.“ • Zweite Klasse (Artikel 85): 1. „Die Kosten, welche die Verwaltung der Bürgermeisterei veranlasst. 2. Erhaltung und Verbesserung des für alle Gemeinde-Einwohner vorhandenen Vermögens, so wie Errichtung und Unterhaltung von Anstalten und Gebäuden, welche jeder in der Gemeinde wohnenden Familie nützen können z.B. das Ortspflaster, die Brücken, Brunnen, und Wasserleitungen in dem Ort, sodann nächtliche Straßenbeleuchtung …, Kirche, Pfarrhaus, Schulen Ortsgefängniß, Wachthaus, Hirtenhaus, Feuerlöschungs-Anstalten und Geräthe, Kosten für Hebammen, Leichenhäuser, Kirchhöfe. 3. Unterstützung armer Gemeinde-Einwohner, auch ärztliche Hülfe für sie, Schulunterricht für arme Kinder.“ • Dritte Klasse (Artikel 89): 1. „Kosten für Arbeiten und Anstalten (…), z.B. Erhaltung der zu benachbarten Orten führenden sogenannten Kommunications- oder Vicinal-Wege und Brücken (…), Erhaltung der Feldwege mit Brücken und Stegen, der Gemarkungsgränzen, Entwässerungsanstalten, Abzugsgraben; 2. Kriegskosten und Landesbewaffnungskosten; 3. Zinsen und Kapitalien der Schulden, welche zur augenblicklichen Erleichterung der Beitragspflichtigen zu den unter Nro. 1. und 2. ausgesprochenen Zwecken aufgenommen sind oder werden.“ Der Aufgabenkatalog ist mithin durchaus beachtlich, dafür ist selbstverständlich auch Personal nötig, wenngleich die Gemeindeordnung ausdrücklich lediglich die Funktionen des Bürgermeistereischreibers und des Ratsdieners (Artikel 17 und 19) erwähnt.6 Die Führung der Gemeinde obliegt dem Bürgermeister, den Beigeordneten und dem Gemeinderat. Zusammen bilden sie den Ortsvorstand (Artikel 10 und 11); er ist der gesetzliche Vertreter der Gemeinde, auch wenn das Tagesgeschäft dem Bürgermeister und – im Vertretungsfall – den Beigeordneten überlassen ist. Damit wird die auch heute noch gültige – in der kommunalpolitischen Praxis allerdings oft übersehene – Funktion des Gemeinderates als Teil der Verwaltung der Gemeinde sehr deutlich hervorgehoben.
6
So weist die Stadt Mainz einen Personalbestand von bald 100 Personen auf. Vgl. Friedrich Schütz: Provinzialhauptstadt und Festung des Deutschen Bundes (1814/16–1866). In: Franz Dumont/Ferdinand Scherf/Friedrich Schütz (Hg.): Mainz – Die Geschichte der Stadt. Mainz 2. Aufl. 1999, S. 385f.
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Die obrigkeitlich geprägte Sicht- und Denkweise der großherzoglich-hessischen Gemeindeordnung wird in der Reihenfolge der Bestimmungen sichtbar. Während heutige Kommunalverfassungen zunächst den Rat (zuvor im Übrigen auch noch die Einwohner) und erst danach Bürgermeister und Beigeordnete behandeln, ist dies 1821 noch anders. Bürgermeister und Beigeordnete Zunächst kommen die Regelungen, die den Bürgermeister betreffen. Er wird auf sechs Jahre gewählt,7 Wiederwahl ist möglich, aber eine erneute Kandidatur nicht zwingend (Artikel 14). Es ist dies im Übrigen die Wahlzeit, die noch heute die hessische Gemeindeordnung kennt, während in Rheinland-Pfalz acht Jahre gelten. Es handelt sich um ein Ehrenamt (Artikel 15), das „(…) praktisch für Angehörige der Oberschicht reserviert war (…), weil sich Angehörige anderer sozialer Schichten die Übernahme einer solchen ehrenamtlichen Tätigkeit gar nicht oder nur unter großen persönlichen Opfern leisten konnten.“8 Allerdings gelten auch für den Bürgermeister die disziplinarrechtlichen Vorschriften der Landesverfassung (Artikel 18). Die Wahl erfolgt nach vorheriger Bekanntmachung durch die Einwohner der Bürgermeisterei, soweit sie das Ortsbürgerrecht9 besitzen. Es ist insofern – anders als die Wahlen zu den Landständen – eine echte Urwahl. Für die Wählbarkeit ist jedoch das (restriktivere) Staatsbürgerrecht Voraussetzung; daneben gibt es noch weitere Einschränkungen, z.B. für die aktiven Staatsbeamten (Art. 35). Allerdings sind drei Kandidaten zu wählen, aus denen die Staatsregierung eine Person bestätigt (Artikel 13). Dies war keineswegs immer die Person, auf die die meisten Stimmen entfallen waren. So wurde in Worms 1831 Peter Valckenberg erneut von der Staatsregierung bestätigt, obwohl Friedrich Karl Martenstein gut 20 Stimmen mehr erhalten hatte.10 Der Bürgermeister ist – im heutigen Sprachgebrauch – Leiter der Verwaltung und Vorsitzender des Gemeinderates. Dies entspricht der rheinland-pfälzischen Gemeindeordnung, nicht hingegen der hessischen, die eine Trennung beider Funktionen kennt. Eine Ablehnung des Amtes ist im Übrigen nur möglich, wenn die Person älter als 60 Jahre ist oder für den Fall, dass „(…) nach dem Erkenntniß der vorgesetzten Regierungsbehörde die Annahme der Wahl mit dem wesentlichsten Nachtheile für die häuslichen Verhältnisse des Gewählten verbunden ist.“ (Artikel 36) Dem Bürgermeister zur Seite stehen ein oder mehrere Beigeordnete(r), die allerdings nur die Stellvertretung bei Abwesenheit des Bürgermeisters übernehmen. Der Bürgermeister kann sie jedoch auch mit einzelnen Aufgaben betrauen. Wählbarkeit, Wahl und Stellung der Beigeordneten entsprechen jenen des Bürgermeis7 8 9 10
Lediglich bei der erstmaligen Wahl nach Erlass der Gemeindeordnung ist die Wahlzeit auf drei Jahre begrenzt (Artikel 14). Manfred H. W. Köhler: Die hessische Landstadt in Vormärz und Revolution 1848/49 (1816– 1852). In: Gerold Bönnen (Hg.): Geschichte der Stadt Worms. Stuttgart 2005, S. 403f. Auf die Bestimmungen zur Erlangung des Ortsbürgerrechts (Artikel 41ff.) wird hier nicht eingegangen. Vgl. Köhler, Landstadt (wie Anm. 8), S. 407.
Die Gemeindeordnung von 1821 im Großherzogtum Hessen
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ters; ihre Wahl erfolgt erst nach Bestätigung des Bürgermeisters durch die Regierung. Auch die Beigeordneten üben ihre Funktion ehrenamtlich aus. Ihre Zahl ist nicht näher bestimmt; sie wird sich auch nach dem Umfang der Verwaltungstätigkeit gerichtet haben. Für Bürgermeistereien, die aus mehreren Gemeinden bestehen, gilt jedoch, dass in jeder Gemeinde, in der der Bürgermeister nicht wohnt, ein Beigeordneter wohnhaft sein muss. In der rheinland-pfälzischen Struktur der Bürgermeister der Ortsgemeinden innerhalb einer Verbandsgemeinde findet sich davon noch heute ein gewisser „Nachklang“. Der Gemeinderat Jede Gemeinde hat einen Gemeinderat, der je nach Gemeindegröße neun bis 30 Mitglieder umfasst. Gemeinden innerhalb einer Bürgermeisterei haben das Recht auf einen eigenen Gemeinderat, bis sie sich für einen gemeinschaftlichen Gemeinderat entscheiden (Artikel 25). Auch hier gibt es mit den Ortsgemeinderäten eine Verbindung in die Gegenwart. Die Mitgliedschaft ist wie heute noch ein Ehrenamt. Die Wahlzeit beträgt neun Jahre – das wirkt auf den ersten Blick sehr lang, muss jedoch auch vor dem Hintergrund gesehen werden, dass der Gemeinderat turnusmäßig nur einmal im Jahr (Mai oder Juni) zusammentritt (Artikel 32). Alle drei Jahre scheidet ein Drittel der Mitglieder aus (Artikel 27), eine Regelung, wie sie bereits die preußische Städteordnung von 1808 in § 86 enthielt. Die Größe des Gemeinderates Anzahl Seelen
Mitglieder Gemeinderat
20.000
9 12 15 18 30
Bei der Zusammensetzung des Gemeinderates sind zwei Besonderheiten zu beachten. Zum einen muss mindestens ein Mitglied aus jeder Gemeinde einer Bürgermeisterei dem Rat angehören (Artikel 25). Zum anderen muss ein Drittel der Ratsmitglieder aus der „höchst besteuerten Hälfte der Wählbaren gewählt werden“ (Artikel 24). Es wird nach Mehrheit abgestimmt, wobei die Stimme des Bürgermeisters bei Stimmengleichheit den Ausschlag gibt. Beschlussfähig ist der Gemeinderat, wenn ordnungsgemäß eingeladen wurde und mindestens zwei Drittel der Mitglieder anwesend sind und abstimmen (Artikel 31). Die jährliche Sitzung dient vor allem Haushaltsfragen, d.h. der Aufstellung des Haushaltsplans bzw. der Abnahme der Haushaltsrechnung (Artikel 33). Eine besondere Bestimmung betrifft Gerichtsprozesse der Gemeinde. Der Gemeinderat ist berechtigt, den Bürgermeister mit der Prozessführung zu beauftragen, sollte sich hierzu aber der Ermächtigung durch die höhere Regierungsbehörde ver-
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Gunnar Schwarting
gewissern. Denn sollte der Prozess verlorengehen, weil der Gemeinderat das Prozessrisiko grob fahrlässig eingegangen ist –„muthwilligerweise (frivol)“ – dann müssen die Ratsmitglieder, die für das Gerichtsverfahren gestimmt haben, persönlich für alle Kosten einstehen, unterliegen insoweit in gewisser Weise der Amtshaftung (Artikel 75).11 Sehr ausführlich geregelt wird das Verfahren der geheimen Wahl sowie das Recht jedes Wahlberechtigten, das Wahlprotokoll an, je nach Größe der Gemeinde, drei bis acht Tagen einzusehen. Bemerkenswert ist die Vorschrift, jeden Wahlzettel mit einer Nummer zu versehen, die es dem Wähler später ermöglicht festzustellen, ob seine Stimmabgabe auch korrekt aufgenommen worden ist (Artikel 37 Nr. 4). Daher muss im Wahlprotokoll auch die Nummer des Stimmzettels (die nur die Wähler ihrer Person zuordnen können) eingetragen werden. Die Position des Gemeindeeinnehmers und das Haushaltswesen In Artikel 55 wird bestimmt, dass die Gemeindeeinnahmen und –ausgaben ein Gemeindeeinnehmer zu besorgen hat, der im Gebiet der Gemeinde wohnhaft sein muss. Er wird nach Anhörung des Gemeinderates von der Provinzialregierung ernannt (Artikel 56). Ob allerdings ein Kämmerer unserer Zeit, mit dessen Funktion das Amt am ehesten verglichen werden kann, bereit wäre, zu den damaligen Bedingungen Gemeindeeinnehmer zu werden, muss doch bezweifelt werden. Denn er muss eine Sicherheit stellen (Artikel 57) und wird quasi auf Provisionsbasis entlohnt, nur bei höheren Einnahmevolumina12 kann eine feste Besoldung vereinbart werden (Artikel 58). Außerdem ist er strikt an den Haushaltsplan gebunden; werden von ihm Ausgaben geleistet, die nicht im Voranschlag enthalten sind, so werden sie ihm „unnachsichtlich gestrichen und zur Last geschrieben“ (Artikel 63). Der Gemeindeeinnehmer wird zur Beratung des Haushaltsvoranschlags hinzugezogen (Artikel 62); es wird zu vermuten sein, dass er auf Grund seiner Kenntnis der Einnahmen und Ausgaben den Voranschlag wesentlich mitgestaltet. Drei Monate nach Abschluss des Haushaltsjahres hat er die Gemeinderechnung aufzustellen. Legt er die Rechnung nicht fristgerecht vor, kann die vorgesetzte Behörde auf seine Kosten einen sachverständigen Dritten mit der Rechnungslegung betrauen (Artikel 65). In den Vorschriften zum Haushaltswesen finden sich einige zentrale Grundsätze der Kameralistik. So gilt die Einheit des Haushalts, Neben- oder Schattenhaushalte sind, wenn nicht ausdrücklich genehmigt, unzulässig und sogar strafbewehrt (Artikel 66). Darüber hinaus gelten die Grundsätze der Genauigkeit und der sachlichen Spezialität, indem für jeden Posten präzise eine Erläuterung zu geben ist
11 12
In der rheinland-pfälzischen Gemeindeordnung sind für derartige Beschlüsse das Aussetzungsrecht des Bürgermeisters (§ 42 GemO) bzw. das Beanstandungsrecht der Aufsichtsbehörde (§ 121 GemO) maßgeblich. Die Grenze war mit 10.000 Gulden festgelegt. Zum Vergleich: Mainz hatte 1820 ein Einnahmevolumen von rd. 238.000 Gulden, vgl. Schütz, Provinzialhauptstadt (wie Anm. 6), S. 386.
Die Gemeindeordnung von 1821 im Großherzogtum Hessen
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(Artikel 62). Im Protokoll werden überdies abweichende Meinungen einer Minderheit im Gemeinderat vermerkt. Die öffentliche Auslegung des Haushaltsplans (Artikel 62) vor seiner Genehmigung durch die vorgesetzte Behörde hat sich bis heute, z.B. in Nordrhein-Westfalen (nicht aber in Rheinland-Pfalz), erhalten. Dort entscheidet der Gemeinderat über Einwendungen von Einwohnern oder Abgabepflichtigen. Dies obliegt nach der großherzoglich-hessischen Gemeindeordnung indes der vorgesetzten Behörde im Rahmen des Genehmigungsverfahrens. Für dieses gibt es in der Gemeindeordnung keine spezifischen Hinweise. Dafür ist der Fall erwähnt, dass die vorgesetzte Behörde in einer Art Ersatzvornahme Ausgaben verfügt, zu denen nach Auffassung des Bürgermeisters oder des Gemeinderates die Gemeinde nicht verpflichtet ist. In dem Fall steht der Gemeinde der Rechtsweg offen (Artikel 64). Die Rechnungslegung erfolgt in einem dreistufigen Verfahren. Die Vorlage des Gemeindeeinnehmers wird durch den Bürgermeister geprüft. Danach legt er einen Verwaltungsrechenschaftsbericht vor, der zusammen mit der Rechnung wie der Haushaltsvoranschlag acht Tage für jedermann zur Einsicht ausgelegt wird (Artikel 67). Zusammen mit den hierzu ergangenen Bemerkungen erhält der Gemeinderat die gesamten Unterlagen zur Prüfung. Soweit der Verwaltungsrechenschaftsbericht Gegenstand der Prüfung ist, nimmt der Bürgermeister an der Sitzung nicht teil (Artikel 68). Bei dieser Formulierung ist davon auszugehen, dass er auch zur Auskunftserteilung nicht herangezogen werden kann, wie dies in § 110 Abs. 4 GemO Rheinland-Pfalz vorgesehen ist. Schließlich ist der gesamte Vorgang der vorgesetzten Behörde zu übersenden. Nach diesem Verfahren wird die Gemeinderechnung noch einmal öffentlich ausgelegt (Artikel 70). Insgesamt ist das Verfahren selbst für heutige Verhältnisse bemerkenswert transparent ausgestaltet – eine vergleichbare Bestimmung zur Offenlegung findet sich in Rheinland-Pfalz nur für den Bericht der überörtlichen Prüfung (§ 110 Abs. 6 GemO). Vermögenswirtschaft Erstaunlich muten die Vorschriften zur Vergabe an, die sowohl die Veräußerung bzw. Verpachtung von Gemeindevermögen als auch gemeindliche Liefer- und Bauaufträge erfassen. Sie dürften zu den frühesten kodifizierten Vergaberichtlinien in Deutschland zählen. Grundsätzlich ist das offene Verfahren anzuwenden, d.h. eine beschränkte oder gar freihändige Vergabe ist nur im Ausnahmefall zulässig. Dies ist – durchaus analog zur gegenwärtigen Rechtslage – möglich, wenn die Arbeiten „eine besondere Kunstfertigkeit voraussetzen“, es sich um unbedeutende Sachverhalte handelt oder Gefahr im Verzug ist (Artikel 73). Der Regelfall ist nicht das später übliche Submissionsverfahren, sondern die Versteigerung (Artikel 72). Ein „Überschlag“ hat vorauszugehen; das entspricht im Falle der Veräußerung einem Wertgutachten, bei der Auftragsvergabe einer Kostenschätzung. Dieses Vorverfahren soll die Gemeinde davor schützen, wirtschaftlich kritische Entscheidungen zu treffen. Ist hingegen kein Gebot zu erwarten, das dem Überschlag entspricht, so hat die zuständige Regierungsbehörde zu entscheiden, ob trotzdem das Versteigerungsverfahren durchgeführt werden kann.
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Die Aufnahme von Krediten ist genehmigungspflichtig; der Wortlaut lässt auf eine Einzelgenehmigung schließen. Ausgenommen hiervon sind lediglich Umschuldungen, sofern sie zu gleichen oder besseren Konditionen erfolgen können (Artikel 74). Implizit ist damit die grundsätzliche Möglichkeit zur Kreditfinanzierung gemeindlicher Ausgaben in der Kommunalverfassung angelegt.13 Der letzte Teil der Gemeindeordnung befasst sich mit Gemeindevermögen, dessen Nutzung bzw. Nießbrauch den Gemeindemitgliedern als Gesamtheit oder nur einer Gruppe von Gemeindemitgliedern zusteht.14 Das ist das auch heute vereinzelt noch bekannte Gemeindegliedervermögen bzw. Gemeindegliederklassenvermögen.15 Der beachtliche Umfang, den diese Bestimmungen im Gesamtgefüge des Rechtstextes einnehmen, macht deutlich, welche Bedeutung dieser unmittelbaren Nutzung von Realien zu der Zeit zugekommen ist. In der Gemeindeordnung wird vor allem die Rechtsposition der Berechtigten festgestellt, die durch neue Ortsbürger, auch wenn sie im Übrigen gleiche Rechte am Ort besitzen, nicht geschmälert werden kann (Artikel 93). Bis dahin Nicht-Berechtige können erst dann berücksichtigt werden, wenn neues Gemeindevermögen zur Verfügung gestellt wird (Artikel 94).16 Schließlich besteht auch die Möglichkeit der (Real-)Teilung des Vermögens unter den Berechtigten (Gemeinheitsteilung) – ggf. nach Abzug einer Grundrente für die Gemeinde (Art. 96 und 97). Gemeindeumlagen Zur Bestreitung der gemeindlichen Ausgaben dient zuallererst der Ertrag des Gemeindevermögens (Art. 76).17 Erst danach kommt eine Gemeindeumlage in Betracht, d.h. eine Abgabe der in der Gemeinde „Wohnenden oder Begüterten“ (Artikel 78). Diese Rangfolge der Deckungsmittel hat auch heute noch Bestand.18 Die Erhebung einer Gemeindeumlage muss ausführlich begründet und protokolliert werden (Artikel 77); auch wenn nicht ausdrücklich erwähnt, wird gerade im Fall der Umlageerhebung der Haushaltsvoranschlag in besonderem Maße auf die Einhaltung der Prinzipien der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit zu prüfen sein. Im Übrigen bedarf die Erhebung einer Gemeindeumlage der Genehmigung nicht der Provinzial-, sondern der höchsten Staatsregierung selbst (Artikel 79). Bei der Umlageerhebung sind die drei Klassen von Ausgaben zu beachten. Eine scharfe Sank13
14 15 16 17 18
Für die Stadt Mainz wird für 1820 eine Verschuldung von 6 Gulden, für 1870 von 22,5 Gulden pro Kopf genannt. Vgl. Schütz, Provinzialhauptstadt (wie Anm. 6), S. 386; zum Vergleich: 2012 betrugen die Schulden des Kernhaushalts der Stadt mehr als 5.500 Euro je Einwohner, nur gut 1.500 Euro entfielen davon auf Kredite für Investitionen – die übrigen gut 4.000 Euro waren Liquiditäts- oder Kassenkredite. Hierbei handelt es sich im Wesentlichen um die Allmende, die in erster Linie in den Provinzen Oberhessen und Starkenburg Bedeutung gehabt haben dürfte. Vgl. § 83 GemO; s. hierzu die sehr ausführliche Urteilsbegründung des Hessischen Staatsgerichtshofs vom 21. September 1966, Az. P.St 387. Das ist nach der rheinland-pfälzischen Gemeindeordnung ausgeschlossen. An späterer Stelle wird auch die Vermögensveräußerung genannt (Artikel 82). S. Gunnar Schwarting, Beitrag „Haushaltswirtschaft“. In: Kommunalbrevier Rheinland-Pfalz 2014. Bodenheim 2014, S. 558.
Die Gemeindeordnung von 1821 im Großherzogtum Hessen
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tionsandrohung soll die Einhaltung dieses Verfahrens durchsetzen: „Wer unbefugt eine Gemeindeumlage erhebt, oder unbefugt ihre Erhebung anordnet, muß als Erpresser vor Gericht gestellt werden.“ (Artikel 79). Die Abgabepflichtigen haben die Möglichkeit, innerhalb von vier Wochen nach Bekanntmachung Widerspruch bei der Provinzialregierung einzulegen (Artikel 80). Für die Gemeindeumlagen der zweiten Klasse von Ausgaben ist die Steuerpflichtigkeit der Einwohner der Gemeinde maßgeblich (Artikel 84), d.h. die Umlage entspricht insoweit einem Zuschlag zu bestehenden Steuern. Schwierig ist die Erhebung von Umlagen für die dritte Ausgabenkategorie, zu der auch Ortsfremde, die nur über Besitz in der Gemeinde verfügen, herangezogen werden können. Hierzu bedarf es einer gründlichen Erläuterung gegenüber denjenigen Abgabepflichtigen, die nicht in der Gemeinde wohnen; ihnen bzw. den von ihnen Bevollmächtigten steht ein Anhörungsrecht zu (Artikel 88). Im Ergebnis ist festzuhalten, dass die Gemeinde bei der Erhebung von Abgaben einem erheblichen Begründungs- und Diskussionszwang unterliegt. Schlussbemerkung Die großherzoglich-hessische Gemeindeordnung spielt in der kommunalwissenschaftlichen Diskussion bedauerlicherweise eher eine Nebenrolle. Andere Rechtsvorschriften – selbstverständlich die preußische Städteordnung von 1808 – stehen meist im Vordergrund der Diskussion. Das ist insoweit nicht ganz verständlich, als gerade die eher „technischen“ Regelungen im Großherzogtum eine Reihe von interessanten Parallelen zur Gegenwart aufweisen. In Teilen weisen die Bestimmungen von 1821 sogar über das hinaus, was in der Folgezeit bis heute die Entwicklung der Kommunalverfassungen bestimmt hat. Dass die erste hessische Gemeindeordnung nach der Neuordnung der Territorien eine Reihe von „weißen“ Flecken aufweist, ist angesichts der sehr unterschiedlichen historischen Wurzeln der Landesteile, aber auch im Hinblick auf nur wenige Beispiele in anderen Ländern durchaus verständlich. Es wäre gewiss reizvoll, die Fortentwicklung des Kommunalrechts im Großherzogtum selbst, aber auch im Volksstaat Hessen in der Zeit der Weimarer Republik nachzuzeichnen.
Otto Schätzel
Rheinhessen – Weinregion mit Tradition Geschichte und Kultur Das Land zwischen Bingen und Alzey, Mainz und Worms südlich des markanten Rheinbogens trägt seit 1816 den Namen Rheinhessen. Es hat eine jahrtausendalte Weintradition. Die alljährlich stattfindende Weinpräsentation des Weinforums im Museum für antike Schifffahrt in Mainz gibt einen nachhaltigen Eindruck von der Verbindung zwischen Wein- und Lebenskultur seit Römerzeiten. Erste offizielle Dokumente gehen auf das Jahr 733 zurück: Damals kaufte das Kloster Fulda einen Weinberg in Bretzenheim bei Mainz. 742 schenkte Karlmann, ein Onkel Karls des Großen, Kirche und Weinbergsbesitz in Nierstein dem Bistum Würzburg, weshalb wir mit dieser Schenkung über die älteste urkundliche Erwähnung einer Weinlage (Niersteiner Glöck) in Deutschland verfügen. Die Ingelheimer Kaiserpfalz zeugt von der Sympathie Karls des Großen für die Region und den Weinbau. Im 9. Jahrhundert ist der Weinanbau in Rheinhessen in 88 Gemeinden belegt. 1402 erwähnen Quellen erstmals in Worms den „Rüßling“, eine Rebsorte, die später als Riesling bezeichnet wird. Bedeutung der Agrarwirtschaft Rheinhessen ist seit Jahrtausenden aufgrund seiner natürlichen Ressourcen für eine intensive agrarwirtschaftliche Nutzung prädestiniert. Neben den Sonderkulturen wie Obst,- Wein- und SpargeRHEINHESSEN lanbau hat über viele JahrLandwirtschaftlich genutzte Fläche (LF) hunderte der Ackerbau nach Kulturarten eine dominierende BeLF Gesamt: deutung. Auf den frucht84.725 ha baren Böden hat er dem Gebiet großen Wohlstand gebracht und den rheinhessischen Bauern mit ihren z.T. großen Gehöften ein gesundes Selbstbewusstsein verliehen. Bis heute ist eine Gesamtfläche von 84.725 Hektar agrarwirtschaftlich geAbb.1: Landwirtschaftlich genutzte Fläche nach Kulturarten nutzt (Abb. 1). Hierbei (2010)
Datenquelle: Statistisches Landesamt RLP
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Otto Schätzel
sind 64% (54.000 ha) Ackerfläche und 31 Prozent (26.000 ha) beEntwicklung der Rebflächen stockte Rebfläche; 3% entfallen auf Obst- und Gemüsebau. Tendenziell sind in den letzten Jahrzehnten der Ackerbau ᴓ Ertrag: 1945: 17,6 hl/ha leicht, der Obstbau stark 1914: 99,8 hl/ha zurückgegangen, wähMosternte 1945: 216.000 hl rend der Weinbau sich 1914: 2.530.000 hl seit 1945 mehr als verdoppelt hat (Abb. 2). So hat gerade die weinbauliche Entwicklung zur Abb. 2: Entwicklung der Rebflächen in Rheinhessen Prosperität Reinhessens beigetragen. Dies hat viele Betriebsleiter in den letzten 20 Jahren dazu veranlasst, sich dem Weinbau stärker zuzuwenden und die Flaschenweinvermarktung zu intensivieren. Mit Beginn der 1980er Jahre, insbesondere nach der Glykolaffäre 1984, wurde eine wichtige Neuentwicklung eingeleitet: Die ehemals so erfolgreichen Alzeyer Neuzüchtungen, wie z.B. Huxel, Ortega, Faberrebe u.a., sind z.T. durch klassische Weißweinsorten (Riesling, Weißer und Grauer Burgunder), aber auch RHEINHESSEN durch rote Rebsorten, Betriebe mit Weinbau nach Größenklasse der Rebfläche allen voran durch Dornfelder, ersetzt worden. Seit 1979 lässt sich ein rasanter Strukturwandel in der rheinhessischen Agrarwirtschaft beobachten: Es gibt einen deutlichen Trend erstens zu Haupt-erwerbsbetrieben und zweitens zu größeren Betrieben mit einer Bewirtschaftungsfläche zwischen 10 und Abb. 3: Betriebe mit Weinbau in Rheinhessen nach Größenklasse der Rebfläche 20 ha (Abb. 3). RHEINHESSEN
Datenquelle: Statistisches Landesamt RLP„Die Rheinweine Hessens“ Datenquelle: Statistisches Landesamt RLP,
(2010)
Datenquelle: Statistisches Landesamt RLP
Rahmendaten ändern sich und bringen Dynamik in die Region Im Gebiet von Rheinhessen wohnten bis Anfang der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts ca. 500.000 Einwohner. Das waren rund 15% der Bevölkerung von Rheinland-Pfalz. Aktuell wohnen über 610.000 Menschen in den beiden Landkreisen
Rheinhessen – Weinregion mit Tradition
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Alzey-Worms und Mainz-Bingen, einschließlich der kreisfreien Städte Worms, Mainz, Bingen und Alzey. In den letzten 20 Jahren haben sich die Neubaugebiete in fast allen Ortsgemeinden stark ausgedehnt. Diese Veränderungen haben der gesamten Region eine hohe Dynamik auf allen Gebieten verliehen. Wirtschaft, Weinbau, Handwerk, Dienstleistungen und die Touristikbranche konnten sich in diesem Umfeld sehr gut entwickeln. Hinzu kommen Vorteile der geostrategischen Lage am Rande der Metropolregionen Rhein-Neckar und RheinMain. Die Nähe der Flughäfen Frankfurt und Hahn, die vielbefahrenen Nord-SüdVerbindungen A61 und A63, die Bahnlinie Basel-Amsterdam und letztlich der Rhein als meistbefahrener Fluss Europas sorgen für eine mehrdimensionale Mobilität in alle Himmelsrichtungen. Die Dörfer verändern sich mit überwiegend positiven Begleitumständen. Über die Neubaugebiete kommen Neubürger in die Ortschaften, beteiligen sich am Dorfleben, bringen sich ein und beleben die Gedanken- und Geschäftswelt. Das Wort von Stefan Andres, der die auf Napoleon zurückgehenden Straßen beschrieb, auf denen sich einsame Autos bewegten, gilt nicht mehr. „Die Autos, die auf alten noch aus Napoleons Zeiten stammenden Straßen fahren, kann man zählen, und so liegt das innere Hügelland Rheinhessens in einer bezaubernden Zeitlosigkeit da. Man lebt hier wie auf einer Insel ohne Lärm und Gestank und immer wieder begegnen wir einer Ansammlung von Dächern in einer Mulde, in der auf den Südhängen die Traube reift.“ (aus: Stefan Andres, Die Großen Weine Deutschlands. Berlin u.a. 1960)
Genau so wenig gelten heute die bis vor wenigen Jahren noch beschriebenen Unterschiede zwischen Rheinfront und dem sogenannten „Hinterland“. Rheinhessen ist zu einer vitalen und lebendigen Wirtschaftsregion mit allen Vor- und Nachteilen inmitten Europas geworden. All diese Veränderungen produzieren Chancen, aber auch Gefahren und Risiken. Die Windräder, die infolge der Energiewende wie Spargel aus dem Lößboden „wachsen“, der in manchen Teilregionen z.T. unerträgliche Fluglärm, hervorgerufen durch Starts und Landungen des Frankfurter Flughafens, die langen Staus während im Berufsverkehr auf (fast) allen Bundesstraßen und Autobahnen sind teure Preise für die unbestreitbaren Vorteile dieser Entwicklungen. Die Situation im Weinbau Die Rahmenbedingungen für die Betriebe der Weinwirtschaft sind grundsätzlich positiv. Unbestritten bleiben die Abhängigkeiten von globalen Marktdaten, wie z. B. der Weltweinproduktion und deren Nachfrage, genauso wie von der Weinrechtssituation in der Europäischen Union und letztlich dem Konsumklima in Deutschland und Rheinhessen. Abbildung 4 verdeutlicht die Situation des Weinanbaus sowie des Weinkonsums in der Welt, der EU sowie in Deutschland. Der weltweite Weinüberschuss sowie die strukturellen Überschüsse in Europa machen Deutschland zu einem der wichtigsten Weinimporteure weltweit (Abb. 4). In diesem Kontext stellt sich die Zukunftsfrage für die Weinbranche in Rheinhessen, die Frage nach der Erhaltung der Kulturlandschaft und dem Strukturwandel. 36%
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Otto Schätzel Abb. 4: Weinbau in der Welt
Weinbau in der Welt (2013/2014 Vorl.)
der Weinbaubetriebe in Rheinhessen bewirtschaften heute schon mehr als zehn Hektar Rebfläche! Damit nimmt das Anbaugebiet Rheinhessen in Deutschland eine Spitzenstellung ein (Abb. 5). Drei wichtige Tendenzen scheinen sich herauszubilden: 1. Reine Weinbaubetriebe stabilisieren sich in der Spezialisierung entweder zu größeren Fassweinbetrieben oder zu Weinbaubetrieben mit intensiver Flaschenweinvermarktung. Das sind meist Betriebe zwischen fünf und zehn Hektar. Möglicherweise werden diese Betriebe auch in der Fläche weiter wachsen. 2. Der Übergang vom Haupterwerbsbetrieb zum Nebenerwerb ist in (fast) allen Fällen die Vorstufe zur Betriebsaufgabe. Das betrifft Betriebe unter fünf Hektar. Diese freiwerdenden Flächen werden von anderen Vollerwerbsbetrieben problemlos übernommen. 3. Die Anzahl der reinen Flaschenweinvermarkter ist nur leicht rückläufig. In diesen Betrieben findet der Übergang zum Dienstleister und Touristiker statt. Das Erscheinungsbild einer attraktiven und einmaErtragsrebflächen der Betriebe nach Anbaugebieten ligen Kulturlandschaft 2012/2013 mit Ackerbau, Weinbau 16 und Obstbau, die ge14 pflegten Rheinauen und 12 die gut beschilderten 10 Wander- und Radwege sind wesentliche Fakto8 ren für eine Weiterent6 wicklung der Region, 4 für den Tourismus und 2 den Absatz von Wein 0 und anderen AgrarproMosel Rheinhessen Pfalz Württemberg Franken dukten. ha
Quelle: OIV November 2014
Abb. 5: Ertragsrebflächen der Betriebe nach Anbaugebieten 2012/13
Risiken für den Weinbau Für die weitere Entwicklung des Weinbaus in Rheinhessen und damit die Frage des Stellenwertes dieses Wirtschaftszweiges und das „Image“ des Weins dieser Region gibt es erfreuliche Stabilitäts-, aber nach wie vor auch Risikofaktoren. Nur knapp 20% der rheinhessischen Weinproduktion geht über den Vertriebsweg der klassischen Flaschenweinvermarktung. Mehr als 80% der rheinhessischen
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Rheinhessen – Weinregion mit Tradition
Weinernte gelangt über den Mostpreise Juni 2015 QbA Standard: 75 traditionellen FassweinRHEINHESSEN QbA Riesling: 80-85 QbA W. Burg.: 90 Fassweinpreise (weiß) markt mittels WeinkommisQbA Gr. Burg.: 85-90 Spätlese: 100 sionären und Weinmaklern, 138 über Erzeugergemeinschaften, wie z.B. in Bornheim und Sprendlingen, oder über Traubenerfassungen der Winzergenossenschaften an mehr oder weniger große Kellereien. Dort werden diese „Fassweine“ auf Flaschen gefüllt und gelangen an den Lebensmittelhandel Abb. 6: Fassweinpreise für rheinhessischen Weißwein und auf den Exportmarkt. Die Entwicklungen der Fassweinpreise der letzten 20 Jahre zeigen die Risikofaktoren auf. Die volatilen Preise, abhängig vom Umfang der Weinernten in Rheinhessen, Deutschland, Europa und der Welt, Spekulationen auf dem „Spotmarkt“, sich ändernde Konsumgewohnheiten, Imagefaktoren u.a. ermöglichen Gewinne in den Jahren mit guten Preisen (jenseits der Ein-Euro-Schwelle), bescheren aber auch dramatische Verluste in Jahren mit Preisen unterhalb der Ein-Euro-Schwelle (Abb. 6). Diesen Schwankungen begegnete man in der Vergangenheit mit Produktivitätssteigerungen, also Betriebsvergrößerungen, Absenkungen der Arbeitsstunden pro Hektar, z.T. mit Minimalschnittanlagen, Ertragssteigerungen und anderen Strategien. Diese Möglichkeiten sind jedoch seit Jahren weitestgehend ausgereizt bzw. aus Gründen der gesetzlichen Ertragsbeschränkungen für Qualitätsweine auf max. 10.500 Liter pro Hektar teilweise wirkungslos geworden. Übermengen müssen als Tafel- und Landweine verkauft werden, deren Marktpreise auch bei größeren Erntemengen nicht kostendeckend sind. (€/hl)
140
120
Spätlese 100
100
Qualitätswein 75
€/hl
80
60
40
20
Jun 15
Jun 14
Jun 13
Jun 12
Jun 11
Jun 10
Jun 09
Jun 08
Jun 07
Jun 06
Quelle: Eigene Erhebungen Kompetenzzentrum Weinmarkt & Weinmarketing Rheinland-Pfalz
Jun 05
Jun 04
Jun 03
Jun 02
Jun 01
Jun 00
Jun 99
Jun 98
Jun 97
Jun 96
Jun 95
Jun 94
Jun 93
Jun 92
Jun 91
0
Stand: 18. Juni 2015
Die Chancen für den rheinhessischen Weinbau Das Anbaugebiet ist ins-gesamt ein herausragend guter Standort am Rhein mit idealen natürlichen Ressourcen für Weinkultur, Weinwirtschaft, Tourismus und unbestreitbaren Kostenvorteilen in der Trauben-, Most- und Weinproduktion. Viele betriebswirtschaftliche Studien und Erhebungen belegen diese Spitzenposition von Rheinhessen. Die Bewirtschaftungsverhältnisse, Betriebsgrößen und insbesondere die Nutzung des technischen Fortschritts haben es ermöglicht, dass das Anbaugebiet Rheinhessen die Kostenführerschaft in Deutschland übernehmen konnte. Mit knapp 14 Hektar belegt Rheinhessen den Spitzenrang in der Berechnung der durchschnittlichen Betriebsgröße. Die Investitionsbereitschaft im Bauwesen und die damit verbundenen Arbeitserleichterungen in der Kellerwirtschaft und in der Weinvermarktung haben diese Entwicklungen noch verstärkt (Abb. 7). Weitere wichtige Gesichtspunkte sind die geostrategische Lage und die damit verbundenen Vorteile der Infrastruktur. Durch die Nähe zu den Ballungsgebieten
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Otto Schätzel
Euro
Rhein-Main und Rhein-Neckar ergeben sich teils noch Nettoinvestitionen der Betriebe nach Anbaugebieten 2012/13 ungenutzte Vorteile der 30.000 Verbrauchernähe und der touristischen Erschließung. 25.000 Die großräumige und ab20.000 wechslungsreiche Landschaft mit hohem Freizeit15.000 wert, die Nutzung für ak10.000 tive genuss- und erlebniso5.000 rientierte Zielgruppen (fast) jeden Alters sind eine der 0 Mosel Rheinhessen Pfalz Württemberg Franken größten Chancen Rheinhessens. Abb. 7: Nettoinvestitionen der Betriebe Die Menschen möchnach Anbaugebieten 2012/13 ten auf kurzen Wegen zu ihren Freizeitregionen gelangen. Die Dörfer, die Weinbaubetriebe mit Selbstvermarktung, Vinotheken, Gutsschänken und Straußwirtschaften haben in den letzten Jahren das Angebotsformat Rheinhessens positiv verändert. Die zunehmende Vernetzung und die Zusammenarbeit der Kommunen durch die positive Arbeit der Touristikzentrale (Rheinhessen-Touristik GmbH), das gesamte Kultur- und Erlebnisangebot der Region hat zu einer enormen Belebung der Gäste- und Übernachtungszahlen beigetragen. Die Zusammenarbeit mit den Städten Worms, Mainz, Bingen und Alzey entwickelt sich zu einem funktionierenden Tourismusnetzwerk mit hoher Professionalität. Schließlich hat die Mitgliedschaft von Mainz und Rheinhessen im globalen Netzwerk der Great Wine Capitals hierzu einen erheblichen Beitrag geleistet. Rheinhessen hat auch in den Regalen des Lebensmitteleinzelhandels, der Discountmärkte und auf den Exportmärkten einen positiveren Klang bekommen. Die alten Klischees der süßen Spät- und Auslesen mit den bekannten, aber antiquierten Namen, wie Niersteiner Gutes Domtal, OppenheiRHEINHESSEN mer Krötenbrunnen oder Entwicklung weiße Rebsorten Liebfrauenmilch, werden durch moderne trockene Weißweine mit schmeckbarer Herkunft ersetzt. Hierzu hat der Wandel des Rebsortenspiegels insbesondere der weißen Rebsorten erheblich beigetragen (Abb. 8). Rheinhessens Weißweinsorten werden seit 2014 von der Rebsorte Abb. 8: Entwicklung weißer Rebsorten in Rheinhessen Riesling angeführt. Der Datenquelle: Statistisches Landesamt RLP
Rheinhessen – Weinregion mit Tradition
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Silvaner erreicht mit 2.375 ha gleichzeitig die weltweit größte Anbaufläche und bietet enormes Zukunftspotential für eine Alleinstellung mit qualitativ hochwertigen trockenen Silvanerweinen. Die Anteile der Burgunderweine (Grau- und Weißburgunder) sind signifikant angestiegen und ergeben Chancen auf nationalen und internationalen Weinmärkten. Der hohe Ausbildungsgrad der Weinbaubetriebsleiter, seien es Diplom-Ingenieure der Forschungsanstalten oder Winzermeister und Weinbautechniker der Weinbauschulen des DLR, insbesondere in Oppenheim, haben zu einer hohen Weinbaukompetenz und Berufsmotivation beigetragen. Die ganzheitliche und nachhaltige Aus- und Weiterbildung, die neue Wein-Gedankenwelt, die vom Boden über den Weinberg bis in die Flasche übergreift, hat zu einem neuen Denken geführt. Dank zahlreicher Berichte in der Fach- und Konsumentenpresse über die Auswirkungen von Boden, Lage und Mikroklima auf die Identität und den Charakter des Weines hat sich der Terroir-Gedanke verbreitet. Es gibt heute keinen modernen und marktorientierten Winzer mehr, der sich nicht intensiv mit den ursprünglichen Fragen des Standortes, der klassischen Rebsorten und des traditionellen Weincharakters auseinandersetzt. Schon lange geht es nicht mehr nur um Oechslegrade und Alkoholgehalte, sondern es geht um die Frage der schmeckbaren Herkunft der Weine. Die junge Wein- und Winzergeneration fühlt sich mit ihrer Region verbunden und ist zum stolzen Fahnenträger Rheinhessens geworden. Hierin liegt die eigentliche „Revolution“ der Weinstile und der Qualitätsveränderung. Die junge Winzergeneration versteht den Begriff des Terroirs längst nicht mehr elitär, sondern interpretiert diesen Begriff als Herausforderung für eine neue Qualitäts- und Herkunftsorientierung. Es geht dieser Winzergeneration darum herauszufinden, welche Pflanzen sich auf welchen Standorten besonders wohlfühlen. Es gut darum herauszufinden, welche Rebsorten, Klone und Unterlagen unter welchen Bewirtschaftungsbedingungen die besten gesunden und vollreifen Trauben ergeben. Es geht den jungen Winzerinnen und Winzern darum, einen unverwechselbaren einzigartigen Wein zu produzieren, der die Identität des Standortes in sich trägt. Was alte Winzer der vorletzten Generation erzählt haben, was Qualitäts- und Herkunftspyramide Johann Philipp Bronner Erträge (l/ha) (1792–1864) über BöProfilierung! den, Lagen und Terroirs Lagentyp ? Lagenin Rheinhessen aufgewein schrieben hat, erfreut Zunahme Qualitätssteuerung sich bei den Jungwinder Unverwechselbarkeit Ortswein zern eines neuen und großen Interesses. In diesem Zusammenhang Regional/Gutswein 10.500 Regionaltyp verweist der Autor auf die Lehr- und LerninWinzer „Steuermann“ des Systems halte der Oppenheimer Abb. 9: Qualitäts- und Herkunftspyramide „Wein“ Weinbauschule, die ge-
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nau diese Lehrmeinungen seit Mitte der 90er Jahre zum Mittelpunkt der Weinbauausbildung gemacht hat. Begonnen wurde bei der vertikalen Qualitätsdifferenzierung, mit der Ertragssteuerung durch den Winzer als Steuermann des Systems. Hieraus entwickelte sich die klassische Qualitätspyramide mit den Segmenten Gutswein, Ortswein und Lagenwein. Die sogenannte horizontale Differenzierung der Terroirweine auf der Ebene der Orts- und Lagenweine wird mit rheinhessischen Winzern seit mehr als 20 Jahren in Workshops und Fachproben diskutiert. Die Themen der rheinhessischen Agrartage geben Zeugnis von den immer wieder vertieften Betrachtungsweisen der Qualitätsund Herkunftsstrategie als Chance für die Profilierung unserer Region (Abb. 9). Zusammenfassung Von Beginn seiner Gründung 1816 bis heute verfügt Rheinhessen über ein erfolgreiches und traditionsbewusstes Weinbürgertum mit kleineren Weinbaubetrieben und größeren Gemischtbetrieben. In der „französischen Zeit“ (1797–1814) wurden der klassische Adel zurückgedrängt und das Bauerntum gefördert. Hieraus erklärt und entwickelte sich das „Selbstbewusstsein“ der heutigen jungen Winzergeneration. Die aktuelle Werbekampagne der Gebietsweinwerbung Rheinhessenwein e.V. greift mit ihren Bildern von Jungwinzerinnen und Jungwinzern und dem Slogan „die Weine der Winzer“ diese Gegebenheit aktiv und psychologisch geschickt auf. Mit wachsender Internationalisierung und Globalisierung bekommen Regionen eine immer größere Bedeutung. Die aktuellen vielfältigen Initiativen in Rheinhessen, verbunden mit den Vorbereitungen auf die 200 Jahrfeier im Jahr 2016, gaben der gesamten Region auf allen Ebenen einen nie für möglich gehaltenen „neuen Drive“. Das hat Auswirkungen nicht nur auf die regionale wirtschaftliche und kulturelle Infrastruktur, sondern auf das gesamte gesellschaftliche Leben in der Region. Rheinhessen nimmt als Wachstumszentrum eine Brückenfunktion inmitten Deutschlands ein. In dieser besonderen geografischen Lage Rhein-Main und RheinNeckar liegt das eigentliche Zukunftspotential, liegen Chancen und Perspektiven für die Entwicklung von Bevölkerung, Wirtschaft und Lebensqualität. Hierbei spielt der Weinbau eine entscheidende Rolle.
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Die rheinhessischen jüdischen Gemeinden unter dem Eindruck der Märzrevolution1 Während in der ersten und zweiten Märzwoche 1848 Mainz – wie auch viele andere Städte in den rheinischen Landschaften – ganz im Zeichen der von der Revolution gewonnenen „März-Errungenschaften“ stand, eine euphorische Stimmung die Demokraten beflügelte, mutiger „Protest vor Fürstenthronen“ zelebriert wurde, scheint auf den ersten Blick für die jüdischen Gemeinden in Rheinhessen das eigene Selbstverständnis das eigentliche Thema zu sein. Gruppierungen in der großen und traditionsreichen Mainzer Jüdischen Gemeinde tragen ihre Konflikte bei der Darmstädter Regierung vor, formulieren ihre Probleme, die alles andere als Probleme demokratischer Freiheiten zu sein schienen: 2.134 Mainzer Juden wollen feierlich Abschied nehmen von der wohl über dreihundert Jahre alten Synagoge. Aber der Streit um liturgische Tradition und Reform bricht die Einheit der Gemeinde auf. Der „Orgelstreit“ verzögert Ausschreibung und Neubau der „Hauptsynagoge“, ja führt zur Absonderung einer Gruppe orthodoxer Gemeindemitglieder, die sich den Reformen verschließen: keine Orgel, kein Verzicht auf Almemor-Vorhang und Frauensynagoge. In einem Privathaus treffen sie sich zu Sondergottesdiensten. 1853 wird dann die neue Hauptsynagoge in der Margarethengasse eingeweiht, aber drei Jahre später erhalten die Orthodoxen an der Ecke Flachsmarktstraße ihr eigenes Gotteshaus. Die Reformen und die Diskussion um Tradition und Angleichung in der Liturgie sind die andere Seite der Medaille „Emanzipation und Gleichberechtigung“, die zwischen Bastillesturm (und Zugehörigkeit der linksrheinischen Landschaften zu Frankreich), Wiener Kongress, Märzrevolution und Paulskirche zu den Themen der liberalen und demokratischen Bewegung gehört. „Eingeboren, nicht eingewandert“ Im Sommer 1848 bewegte die Beratung der Grundrechte des deutschen Volkes die in der Frankfurter Paulskirche seit einem Vierteljahr tagende Nationalversammlung. Vor allem der Paragraph 13 war für die Juden von großer Bedeutung. Denn in ihm wurde die Unabhängigkeit der staatsbürgerlichen Rechte vom religiösen Bekenntnis deklariert. Moritz Mohl, der radikale Bruder des späteren liberalen Reichsjustizministers Robert von Mohl, stellte am 29. August 1848 einen Antrag im Parlament, der die Beschränkung der Rechte von Juden zum Gegenstand hatte und 1
Es handelt sich um den Text eines Vortrags, gehalten am 26. März 1998 im Mainzer Rathaus. Er basiert auf der Dissertation des Verfassers: Die Judenfrage im Landtag des Großherzogtums Hessen 1820–1849. Ein Beitrag zur Geschichte der Juden im Vormärz (Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte, 46). Darmstadt 1983.
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Sondergesetze für jüdische Bürger verlangte. Fast dreißig Jahre waren vergangen seit dem letzten hysterischen „Fieberanfall“ regional mehr oder weniger aggressiv auflebender Judenfeindschaft, dem sogenannten Hep-Hep-Aufstand. Mohl versuchte, sein restriktives Ansinnen mit traditionellen antijüdischen „Argumenten“ zu begründen, führte Wucher, Trödelhandel an, erhob den Vorwurf der Absonderung von der übrigen Gesellschaft. Spontan meldete sich ein Abgeordneter aus der politischen Umgebung des Heinrich von Gagern zu Wort und hielt eine fulminante Protestrede gegen Mohls Antrag, die in die parlamentarische Rhetorik der Frankfurter Paulskirche als bemerkenswerter Höhepunkt der Grundrechts-Diskussion eingehen sollte. Der Abgeordnete begann mit der Eröffnung, dass die Nationalversammlung den nicht-deutschsprachigen Minderheiten in Deutschland, was vor allem den polnischen Bevölkerungsanteil in Preußen betraf, die Rechtsgleichheit zugesichert habe: „Sollen wir Juden es für ein Unglück erachten, dass wir deutsch reden? Sollen wir darum schlechter behandelt werden, weil wir nicht in die Kategorie der nicht deutsch redenden Volksstämme gehören?“ Wer die Gleichstellung aller, wer die uneingeschränkte Religionsfreiheit durch Ausnahmegesetze relativiere, „schändet das höchste politische Recht (…), das zum Gemeingut aller Deutschen“ werden sollte. Der politischen und rhetorischen Überzeugungskraft des Abgeordneten gelang es, ohne nennenswerte Opposition den Grundsatz der Unabhängigkeit der Rechte vom religiösen Bekenntnis in der Nationalversammlung durchzusetzen, einen epochalen Aspekt der Grundrechte des deutschen Volkes. Der Abgeordnete hieß Gabriel Riesser, 1806 in Hamburg geboren, 1848 im Herzogtum Lauenburg in Vorparlament und Nationalversammlung gewählt, ein Mann des linken Zentrums, für den deutsche Einheit, demokratisches Wahlrecht und soziale Gerechtigkeit drei markante Eckpunkte in seinem politischen Grundsatzprogramm darstellten. Die Frage der jüdischen Emanzipation und bürgerlichen Gleichberechtigung hatte ihm früh und eindringlich – dem jüdischen Juristen blieben Anwaltszulassung, Staatsdienst und Dozentur versagt – für die allgemeinen politischen Zustände in Deutschland die Augen geöffnet. Deutlich erkannte er den Zusammenhang zwischen der jüdischen Emanzipationsfrage und der Unfreiheit, Enge und Dumpfheit der deutschen Zustände. So war er seit der Unruhe der 1830er Jahre mit einer vehementen und vielfältigen Publizistik für die jüdische Gleichberechtigung im Deutschen Bund eingetreten, mit der „kräftigsten geistvollsten Sprache“, die „Meisterstücke politischer Beredsamkeit“ hervorgebracht hätte, wie der zeitgenössische Literaturkritiker Wolfgang Menzel äußerte. Sein Frankfurter Abgeordnetenmandat nahm Riesser übrigens für eine christliche Wählerschaft wahr, in Offenheit für andere Glaubensgemeinschaften. Im August 1848 vertrat er das Parlament bei der 600-Jahr-Feier und Grundsteinlegung für die Fertigstellung des Kölner Doms, gehörte mit anderen prominenten Juden zu den Gründern des Dombauvereins und nutzte sein Auftreten in Köln, um für die nationale Einheitsidee und die Vollendung der Kathedrale zu werben. Modern gesprochen, war die Frage der Gleichberechtigung der Juden eine Frage der Minorität in einer Gesellschaft gleicher Bürger: „Eingeboren, nicht eingewandert“. Der Mainzer Publizist Ludwig Kalisch, der in den 1840er Jahren die karnevalistische Zeitschrift „Narhalla“ redigierte, zu einem der Väter des vormärzlichen politisch-litera-
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rischen Karnevals, in den „Flitterwochen der Preßfreiheit“ im März 1848 zum politischen Leitartikler der demokratischen Bewegung, im pfälzischen Aufstand für die Verfassung gar „Pressechef“ der Aufständischen wurde, hat Riessers „literarisches Talent, das er ganz der Sache des Judentums gewidmet“ habe, in seinen „Miniaturbildern aus der Paulskirche“ gerühmt. Seit 1832/33 hatte sich Riesser vorzugsweise an die deutschen Landtage gewandt mit seiner Publizistik, um auf die parlamentarischen Vertretungen gerade im deutschen Südwesten im Sinne der Herbeiführung der jüdischen Gleichberechtigung argumentativ einzuwirken. Auch der Zweiten Kammer des Hessischen Landtags in Darmstadt lag diese Publizistik vor und bewegte die Abgeordneten, vorzugsweise jene, die aus der linksrheinischen Provinz des Großherzogtums, aus Rheinhessen, ins Parlament eingezogen waren. Von der Revolution zur Emanzipation Die Geschichte der freiheitlichen Grundrechte in Deutschland ist auch in hohem Maße die Geschichte der jüdischen Emanzipation. Am Beispiel der Juden in Rheinhessen zwischen französischer Revolution und „Besitzergreifung“ des Darmstädter Großherzogs 1816 einerseits, dem Epochenjahr 1848 andererseits lässt sich paradigmatisch der parlamentarische und publizistische Kampf um das Grundrecht der völligen Gleichberechtigung und Gleichstellung aller Bürger aufzeigen. Mit der Französischen Revolution 1789 endet in Frankreich und in der Folge auch in den von Frankreich annektierten Regionen Deutschlands das jüdische Mittelalter. „Der Beginn der Mitwirkung der Juden am politischen Leben in Deutschland fällt zusammen mit dem Fortschreiten des Emanzipationsprozesses. Im Zuge dieses Vorganges, der bekanntlich am Ende des 18. Jahrhunderts einsetzte und bis über die Zeit der Reichsgründung andauerte, wurden den Juden Schritt für Schritt bürgerliche und staatsbürgerliche Rechte zugestanden, die es ihnen ermöglichten, ihre von der Umwelt jahrhundertelang unterdrückten Fähigkeiten zu aktivieren – in der Politik, aber auch in der Wirtschaft, in der sich rapide entwickelnden Industrie sowie in den vielfältigsten Bereichen der Wissenschaft und Kultur“, stellte Julius H. Schoeps fest am Beginn seines Essays zu „Gabriel Riessers Plädoyer für die Gleichberechtigung“. Der Kampf um bürgerliche Gleichberechtigung traf in den Staaten des Deutschen Bundes auf höchst verschiedene Situationen. In den linksrheinischen Regionen, die bis zum Wiener Kongress zu Frankreich gehört hatten, galt dieser Kampf vor 1848 den schmerzlichen gesetzlichen „Restbeständen“. Vor allem blieb jenes napoleonische Dekret von 1808, das, auf zehn Jahre begrenzt, jüdische Handelsaktivitäten vor dem Hintergrund alter Vorurteile und aus der jungen Emanzipation entstehender neuer Konkurrenzsituationen populistisch einschränken sollte, ein Pfahl im Fleisch der gewonnenen Gleichheit und Freiheit. Nach der hessischen „Besitzergreifung“ blieb das Dekret in Rheinhessen – wie auch in der preußischen Rheinprovinz – in Kraft, ja es wurde 1818 erneuert und neu gefasst, während es in diesem Jahre, wie in napoleonischer Zeit vorgesehen, allenthalben in Frankreich und den übrigen französischen Departements entfiel. Zum
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Kernpunkt der Emanzipationsbewegung in Rheinhessen sowohl für die jüdischen Gemeindevorstände – besonders in den Städten Mainz, Worms, Alzey und Bingen – als auch nach 1820 für die liberalen rheinhessischen Landtagsabgeordneten wurde diese diskriminierende Vorschrift, nach der jüdische Staatsbürger zum Abschluss gültiger Handelsgeschäfte eines jährlich zu erneuernden Moral- oder Moralitätspatents bedurften. Alle von nicht „patentierten“ Juden abgeschlossenen Geschäfte sollten danach ungültig sein. Ausfertigungsinstanz war die französische Präfektur auf der Grundlage zweier Zeugnisse, die Gemeinderat und jüdisches Konsistorium auszustellen hatten. Die Erneuerung dieses „Infamen Dekrets“ durch die hessische Regierung 1818 berief sich geradezu zynisch auf die bei der Besitznahme Rheinhessens 1816 versprochene Respektierung der „rheinischen Institutionen“, also jener vom Provinzialstolz energisch verteidigten Errungenschaften der Franzosenzeit, zu denen u.a. Geschworenengerichte, Gewerbefreiheit, Zivilehe, aber auch die jüdische Gleichberechtigung sowie der napoleonische Code Civil gehörten. Drei Behörden sollten künftig die „Moralität“ des Handelsmannes bekunden, nämlich Gemeinderat, jüdisches Konsistorium und hessische Provinzialbehörde. Die jüdischen Gemeinden in Rheinhessen, voran die Mainzer, hatten schon bald nach Verkündigung des napoleonischen Dekrets erste protestierende Schritte unternommen. Sie hatten eine Delegation 1808 nach Paris geschickt, um bei der kaiserlichen Regierung die Aufhebung des Dekrets zu erwirken. Die Erneuerung im Jahre 1818 wurde wohl ohne großen Protest zur Kenntnis genommen, fehlte doch offensichtlich eine vorgesehene Entscheidungsinstitution. Das synagogale Konsistorium war von Darmstadt beseitigt worden. Forderungen nach einer ähnlichen neuen Institution zeitigten kein Ergebnis. So waren, wie der Mainzer Abgeordnete Joseph Glaubrech am 28. Mai 1845 auf dem Höhepunkt des parlamentarischen Kampfes um die Beseitigung der Patente erklärte, von 1815 bis Anfang der 1830er Jahre solche Moralpatente „in Rheinhessen nirgendwo begehrt oder erteilt worden, aus dem ganz einfachen Grunde, weil ihre Erteilung (…) eine Unmöglichkeit geworden war, indem das Consistorium nicht mehr bestand.“ Am 9. Mai 1832 schärfte eine Bekanntmachung der hessischen Regierung die Einholung der Patente ein, wies auf die jährliche Erneuerungspflicht hin und nahm anstelle des aufgegebenen Konsistoriums die jüdischen Gemeindevorstände als Zeugnisaussteller in die Pflicht. Dies geschah in einer unruhigen politischen Situation – wenige Wochen später zogen auch hunderte Rheinhessen zum Hambacher Fest. Wieder einmal war mit der Einschärfung dieses Dekrets die „unvollendete jüdische Gleichberechtigung“ obrigkeitlich thematisiert worden. Am 12. Juni 1833 formulierten die Gemeindevorstände, vor allem in Mainz und Worms, ihren Protest in Darmstadt. Im September 1833 erlangte die Frage der Patente politischen und parlamentarischen Stellenwert im hessischen Landtag. Sieben Abgeordnete der Zweiten Kammer, Kertell, Trommler, Glaubrech, Brunck, Dr. Langen, Strecker und Hallwachs, brachten den Antrag auf völlige ersatzlose Beseitigung des Dekrets von 1808/18 ein, fünf von ihnen waren eng mit Mainz verbunden, zwei von ihnen führend im Mainzer Wirtschaftsleben, zwei bekannte Juristen. Wortführer war unstreitig Johann Kertell, seit 1823 hochangesehener Vizepräsident der Mainzer Handelskammer, Mitglied des Stadtrats, Präsident des Handelsge-
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richts. Die Gruppe bildete so etwas wie eine liberale „Fraktion“, die immer wieder konkrete oppositionelle Positionen gegen die Darmstädter Regierung bezog. Diese Gruppe wollte ihren Antrag zunächst nicht als Antrag zur generellen Emanzipation sehen, aber sie stellte ihn eindeutig in Zusammenhang mit den Anträgen der Abgeordneten Schenck und Neeb – dieser ebenfalls ein prominenter Rheinhesse –, die wenige Monate zuvor die großherzogliche Regierung aufgefordert hatten, die jüdischen Bürger in allen Provinzen des Großherzogtums „in allen bürgerlichen Beziehungen gleichzustellen“. Diese Anträge, Teil der oppositionellen Parlamentstaktik gegen das antiliberale und autokratische Regiment Di Thil, kamen nicht zur Verhandlung, weil das Ministerium den „wilden Landtag“ auflöste. Aber die Bewegung um die Beseitigung letzter Emanzipationshürden in Rheinhessen und die Forderung nach Gleichberechtigung ließ sich nicht mehr eindämmen. Die Publizistik, soweit die Zensur dies zuließ, sekundierte und ermunterte. Erstmals korrespondierten nun auch die linksrheinischen jüdischen Gemeinden mit den rechtsrheinischen in den Provinzen Starkenburg und Oberhessen. Dies sollte bis in die politische Bewegung des Jahres 1848 so bleiben. An der Spitze der Bewegung stand der Vorsitzende der Mainzer Gemeinde, Hartwig Dernburg. Aktiv wurden auch die jüdischen Gemeinden von Worms, Alzey, Bingen, Darmstadt, Gießen und Offenbach. Eine Delegation aus ihren Reihen wurde in Darmstadt vorstellig und begleitete die liberalen parlamentarischen Aktivitäten. Aus der Korrespondenz des Mainzer Vorstandes mit dem Wormser ist ersichtlich, dass diese Deputation erreichte, dass das Thema der Patente erneut auf die Tagesordnung der Zweiten Kammer gesetzt wurde. Am 3. Juni 1834 lag dem Landtag ein erneuter Antrag auf Abschaffung der Patente vor, eingebracht von den drei Mainzer Abgeordneten Kertell, Langen und Trommler. Das Zusammenspiel zwischen jüdischen Gemeindevorständen und liberalen Parlamentariern war nun deutlich ausgeprägt. Allerdings wurde auch dieser „aufsässige“ Landtag aufgelöst. Das Thema blieb aber auch im neuen Landtag auf der Tagesordnung. Die in diesen Jahren in ihrem Selbstbewusstsein erstarkten jüdischen Gemeinden Rheinhessens verwahren sich mit zunehmender Erregung gegen das „Entehrende, das Drückende in dem Fortbestand eines Dekrets, das mit bluttriefenden diktatorischen Federn geschrieben eine dichte Scheidewand und Eingriff in unsere bürgerlichen Rechte bildet“, wie der Vorstand der Binger Gemeinde schreibt. Bei der Beseitigung des „letzten Bollwerks gegen die völlige Emanzipation vertrauen die Vorstände der Gemeinde zunehmend auf den Mainzer Abgeordneten Joseph Glaubrech. Das Vertrauen in die parlamentarische Behandlung des Themas ist auffallend. Auf Jahre hin sind allerdings die parlamentarischen Ergebnisse enttäuschend, um so mehr, als man aus den Gemeindekorrespondenzen liest, wie Willkür und Missbrauch judenfeindlicher Dorfbürgermeister um sich greifen. Synagogenbau, Selbstbewusstsein und innere Gemeindekonflikte Seit 1830 bestimmen die innere Neuorganisation der israelitischen Gemeinden, die Suche nach Reformen im liturgischen und kultischen Bereich die Themen. Das Selbstbewusstsein der Gemeinden ist gewachsen, aber auch die inneren Konflikte
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haben zugenommen. Synagogenordnungen, Friedhofsordnungen, die hessische Rabbinerordnung, Diskussion um die deutsche Predigt, deutsche Gebete, Gesang und Orgel in der Synagoge werden begleitet von verstärktem Synagogenbau, auch in den dörflichen Judengemeinden Rheinhessens. Gebaut oder erweitert werden Synagogen 1835 in Wörrstadt, 1834/35 und 1841 in Bodenheim, 1838 in Bingen, 1840 in Pfeddersheim, Hahnheim und Framersheim, 1844 in Ebersheim, Jugenheim und Schornsheim, 1842 wird in Worms gebaut. Das deutsche Judentum sucht in diesen Jahrzehnten eine Neudefinition als Konfession. Die Modernisierung religiöser Ausdrucksformen wird diskutiert. Die Reformbewegung reicht bis zu Erschütterungen und der Festigung einer neuen Orthodoxie. Der neue Vorstand der Mainzer Gemeinde geht 1831 mit dem Ziel seine Arbeit an, mit Eifer sämtliche Gemeindeeinrichtungen zu modernisieren. Dagegen bildet sich eine innergemeindliche Opposition. Soll der Segen für den Großherzog deutsch gesprochen werden? Ist „Vermummen“ für synagogale Funktionen erforderlich? Vorausgegangen war schon 1822 eine orthodox-liberale Spaltung: Im Vorjahr, 1821, hatte sich Isaak Bernays gegen die sogenannte „Reformsynagoge“ ausgesprochen. Der Weg der Reformer ist allerdings konsequent. 1840 führt Elias Cahn in Mainz die „Konfirmation“ ein. 1841 wird der Rabbinats-Sprengel Mainz – NiederOlm – Ingelheim neu organisiert. Die alte Kantons-Gliederung ist noch zu ahnen. Im März 1846 wollen die 2.134 Mainzer Juden feierlichen Abschied nehmen von ihrer wohl mehr als 300 Jahre alten Synagoge. Der „Orgelstreit“ verzögert Ausschreibung und Neubau auf mehr als ein halbes Jahrzehnt – und führt zur Abspaltung des orthodoxen Gemeindeteils, als 1853 die neue Hauptsynagoge mit Orgel eingeweiht wird. 1854 gründet sich die Israelitische Religionsgemeinschaft, die allerdings im Gesamtverband der Mainzer Israelitischen Gemeinde verbleibt, auch wenn Marcus Lehmann, ihr prominenter Lehrer, sich nicht offiziell „Rabbiner“ nennen darf. 1856 erhält die orthodoxe Gemeinde ihre eigene Synagoge.
Der Neubau der Mainzer Synagoge von 1853 in der Vorderen Judengasse (später: Synagogenstraße)
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Vorboten der Märzrevolution Aus dem wachsenden jüdischen Selbstbewusstsein, das das Fortschreiten des Emanzipationsbewusstsein, der Akkulturation der rheinhessischen Juden – in den Städten, aber auch in den Dörfern – manifestiert, versteht man auch, dass es am Beginn der 1840er Jahre Ansätze gibt, den Weg zu frühen Formen einer „Bürgerinitiative“ zu erörtern. Am 12. September 1841 richten 21 prominente Mitglieder der Wormser Gemeinde eine Eingabe an den Vorstand, aufgrund der „herrschenden traurigen Verhältnisse“ sollten alle israelitischen Staatsbürger der Provinz Rheinhessen öffentlich Einspruch erheben gegen das mittelalterliche Verfahren der diskriminierenden Moralpatente. Das Dokument schließt: „Wir hoffen vom Geiste der Zeit, daß dem Recht und der Humanität am Ende der Sieg bleibt, und fühlen, daß wir nicht schweigen dürfen, wo es Pflicht ist zu reden.“ Die jüdische Bürgerinitiative kommt nicht zustande, die Vorstände bleiben beim Vertrauen auf den parlamentarischen Weg. Am 13. Februar 1845 stellte der Abgeordnete Joseph Glaubrech erneut einen Antrag im Darmstädter Landtag zur Beseitigung der Moralpatente. Er tat es in einem ungewöhnlich entschiedenen Ton. Er wolle keine „Motion“ im üblichen Sinne und in der Landtags-Praxis der letzten Jahre stellen. Er betonte den prinzipiellen Charakter des Antrags, der darauf ziele, Bestimmungen, die „ganz unpraktisch sind und nur nutzlose Härten und Vexationen herbeiführen“, endgültig zu beseitigen. Aus eigener juristischer Erfahrung geißelte er die Bestimmungen und die Durchführung der Moralpatente als „unwürdig unserer Zeit, ungerecht, hart und grausam, endlich unpraktisch“, und verlangte daher von der Staatsregierung „unverzüglich“ die Vorlage eines Gesetzesentwurfs, der die ersatzlose Beseitigung der Judenpatente ausspreche. Johann Joseph Glaubrech, 1808 in Mainz geboren und dort 1862 gestorben, war nach dem Jurastudium Polizeisekretär, Advokat-Anwalt in Mainz, 1846 Obergerichtsrat, 1832 bis 1847 und 1849/50 Mitglied der Zweiten Landtagskammer für Pfeddersheim, dann für Osthofen. Am 28. Mai 1845 wurde Glaubrechs Antrag beraten. Den Auftakt bildete eine große politische Rede des Antragstellers, der sich zum Anwalt der gesamten jüdischen Bevölkerung im Großherzogtum machte. Es war eine der eindrucksvollsten Reden zur Emanzipationsfrage im hessischen Landtag. Zum ersten Mal gab der liberale Abgeordnete ein Stichwort, das für die Märztage des Revolutionsjahres 1848 auch in den parlamentarischen Kreisen von Darmstadt eine bedeutende Rolle spielen sollte: Glaubrech gab, wie kein anderer zuvor im Landtag in dieser Schärfe, das Losungswort von der religiösen Freiheit, die auf die Bekenner jüdischen Glaubens ausgedehnt werden müsse. Es gehe nicht um Duldung – „denn wer das Recht hat zu dulden, der hat auch das Recht zu verweigern“ –, es gehe um das Grundrecht religiöser Freiheit. Glaubrech beschwor den Ungeist der Pogrome, das schreckliche Erbe der Judenfeindschaft, die immer noch bestehende Sonderstellung einer Bürgergruppe ohne bürgerliche Rechte. Die Rede gipfelte in der Forderung nach völliger vorbehaltloser Emanzipation in allen hessischen Provinzen. Der rheinhessische Abgeordnete und Generalstaatsprokurator Joseph Alois Kilian, der nach den Märzereignissen 1848 hessischer Justizminister werden sollte, unterstützte wortstark den Antragsteller. Er brachte den Verfassungsgrundsatz der
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Gleichheit auf den Punkt. Die rheinhessischen Abgeordneten prägten die Diskussion. Minister Du Thil hat später in seinen Erinnerungen bitter aus seiner reaktionären Sicht beklagt, „daß die Rheinhessen auf dem Landtage ein moralisches Übergewicht über die anderen besaßen und sie stets mit Anwendung der verschiedensten Mittel zu beschwätzen wußten“. Glaubrechts Antrag fand eine Mehrheit. Das Echo bei den Juden Rheinhessens kommt zum Ausdruck in einem Schreiben des Mainzer Gemeindevorstands an den Vorstand in Worms vom 27. Juli 1845: „Der glänzende Erfolg, welchen der Antrag des Abgeordneten Glaubrech um Aufhebung des Judenpatents in den Kammern gefeiert, hat wohl unter allen Israeliten der Rheinprovinz, ja wir dürfen sagen unter allen Israeliten des großen deutschen Reiches, das lebhafteste Gefühl der Freude und Dankbarkeit hervorgerufen.“ Dies sei ein „glückliches Zeichen der Zeit, ein Beweis, daß unsere Volksvertreter sowohl als unsere sämtlichen Mitbürger, von dem Sinne für Recht und Gerechtigkeit durchdrungen, uns brüderlich die Hand reichen“. Der Mainzer Publizist Eduard Reis sah „die schönste Ehrenrettung“ in der Beseitigung „der ebenso zwecklosen als erniedrigenden Ausnahmsregel, die leider aus unserem Jahrhundert datiert, obwohl sie die Barbarei des Mittelalters an der Stirn trägt“. Die rheinhessischen jüdischen Gemeinden feierten den Parlamentarier Glaubrech im Stil der Zeit mit Empfang und einem Ehrenpokal, „in seiner Ausführung ein wahres Kunstwerk“, dessen Schale mit eingravierter Justitia von drei Sklaven mit zerbrochenen Ketten getragen wurde. Die Inschriften lauteten: Dem wackeren Vertreter des Rechts – dem edlen Vorkämpfer der Humanität – die dankbaren Israeliten der Provinz Rheinhessen. Auf der Rückseite: Dem Landtagsabgeordneten Glaubrech gewidmet von den israelitischen Religionsgemeinden Rheinhessens.“ Die Dankadresse der Juden pries im Überschwang den Erfolg: „Der Geist hat sich Bahn gebrochen, es ist Licht geworden nach langer Nacht.“ Die Zeitgenossen waren sich bewusst, dass ein Kapitel jüdischer Geschichte Rheinhessens sich vollendet hatte, die letzte Barriere vor der völligen Gleichberechtigung war gefallen, der Unterschied zu den beiden anderen rechtsrheinischen Provinzen Hessens war allerdings wieder stärker akzentuiert. Aber der Boden für das Grundrecht der religiösen Freiheit war auch hier gelockert. „Die Zeit drängt“ – im März 1848 Mitten in den bewegten Tagen der erfolgreichen März-Revolution schreibt am 6. März 1848 der Vorstand der Alzeyer Juden an den Wormser Vorstand: „Die Zeit drängt. Wir alle lebten dieser Tage in den höchsten Erwartungen. Leider sind sie bis jetzt noch nicht in Erfüllung gegangen. Das heute von Darmstadt uns zugekommene neue Regierungsprogramm verheißt bloß ‚die freie Ausübung aller religiösen Kulte‘. Die gesetzliche Gleichstellung ihrer Bekenner in politischer und bürgerli-
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cher Beziehung ist darin nicht ausgesprochen. Es ist höchst an der Zeit, daß wir ungesäumt in Gemeinschaft energische Schritte unternehmen. Der Moment ist günstig, wer weiß, ob er je wiederkehrt.“ Der Brief spricht von einer „Eingabe an die höchste Staatsbehörde“, lädt zu einer gemeinsamen Rabbiner- und VorsteherSitzung nach Darmstadt ein. Auch die Gießener Gemeinde meldet sich am folgenden Tage bei den Rheinhessen, die „radikale Veränderung“ habe die Hoffnung begründet, „daß auch die Israeliten unseres Landes die Gleichberechtigung mit den übrigen Staatsbürgern“ erlangen würden. Der Wormser Vorstand greift die Initiativen eines „jüdischen Sonderwegs“ auf mit der Mahnung zu demokratischer Gemeinsamkeit. Er rät – aus rheinhessischer Sicht und Erfahrung: „Wir sind bei dieser ganzen Bewegung von dem Grundsatze ausgegangen, unsere Sache nicht von der allgemeinen Volkssache zu trennen, denn eine Emanzipation der Gesamtheit kann unmöglich, wenn sie prinzipiell durchgeführt werden soll, die Emanzipation einer Glaubensgenossenschaft ausschließen. (…) Unser Minister und unsere Abgeordneten, die Träger der Volksmeinung, sind gleich günstig für unsere Sache gesinnt. (…) Wir in Rheinhessen stehen dem Volksleben näher und können Ihnen vielleicht hie und da mit unserer Erfahrung in dieser Beziehung dienen (…).“ Das Vorstandsmitglied der Mainzer Gemeinde, Leopold Goldschmidt, schreibt am 18. März 1848 an die Wormser Juden, es gereiche ihm zum besonderen Vergnügen, „hiemit Ihnen die Anzeige machen zu können, daß zuverlässigen Nachrichten zufolge, nächsten Mittwoch, den 23. d. M. den Ständen das Gesetz über vollkommene Gleichberechtigung aller Kulten auf die ausgedehnteste Basis vorgelegt“ werde. Goldschmidt hatte offenbar gute Kontakte zu den rheinhessischen Volksvertretern. Das hessische Gesetz vom 2. August 1848 besagt, dass alle noch bestehenden, aus der Verschiedenheit des religiösen Bekenntnisses hergeleiteten Beschränkungen der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte aufgehoben sind. Zu den prominentesten Demokraten des Jahres 1848/49 gehört Ludwig Bamberger, einer angesehenen Mainzer jüdischen Familie entstammend. Der 1850 „in contumaciam“ zum Tode verurteilte Revolutionär, der amnestiert aus der Emigration nach Mainz zurückkehrte, die Mainzer nach 1871 im Berliner Reichstag vertrat, vom Bismarck-Berater zum strengsten Kritiker des „eisernen Kanzlers“ wurde, lobt in seinen 1899 – im Todesjahr – erschienenen Lebenserinnerungen die Mainzer Toleranz seiner Kindheit und Jugendzeit – er ist 1823 geboren. An den Kampf um die jüdische Gleichberechtigung in Rheinhessen im Vormärz und die damit in Beziehung stehenden inneren Gemeindekonflikte zwischen Reform und Orthodoxie erinnert sich der Liberale offenbar nicht. 1855 legt Karl Anton Schaab, Vizepräsident des vormaligen Großherzoglichen Kreisgerichts zu Mainz, im 94. Lebensjahre seine „schriftstellerische Laufbahn“ beendend, wie er im Vorwort bekennt, seine „Diplomatische Geschichte der Juden zu Mainz und dessen Umgebung“ bei Victor von Zabern in Mainz vor, gleichsam als Vermächtnis. Er erweist der großen Tradition des jüdischen Magenza seine Reverenz, die geglückte Emanzipation sieht er als Triumph der Humanität. Den Rückfall in die Barbarei des Mittelalters, die Horrorvision eines millionenfachen Mordes im Staatsauftrag kann er nicht ahnen.
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Literatur: Paul Arnsberg: Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Bd. 1 und 2. Frankfurt a.M. 1971. Ludwig Bergsträsser: Geschichte der politischen Parteien in Deutschland. München 7. Aufl. 1952. Anton Maria Keim: Die Judenfrage im Landtag des Großherzogtums Hessen 1820–1849. Ein Beitrag zur Geschichte der Juden im Vormärz (Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte, 46). Darmstadt 1983. Anton Maria Keim: Das jüdische Mainz im Zeitalter der Emanzipation und Gleichberechtigung. In: Argonautenschiff. Jahrbuch der Anna Seghers-Gesellschaft Berlin und Mainz 6, 1997. Anton Maria Keim: Die rheinhessischen jüdischen Gemeinden unter dem Eindruck der Märzrevolution. In: Mainz und Rheinhessen in der Revolution von 1848/49 (Mainzer Geschichtsblätter, Heft 11). Mainz 1999, S. 139–149. Erik Lindner: Gabriel Riesser. In: Die 48er. Lebensbilder aus der deutschen Revolution 1848/49. München 1998, S. 160ff. Eugen Ludwig Rapp: Chronik der Mainz Juden. Mainz 1977. Samson Rothschild: Emanzipations-Bestrebungen der jüdischen Großgemeinden Hessens im vorigen Jahrhundert. Worms 1924. Karl Anton Schaab: Diplomatische Geschichte der Juden zu Mainz und Umgebung. Mainz 1855.
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Die rheinhessische Auswanderung nach Nordamerika Einleitung Dass unsere Region – ebenso wie die Nachbargebiete am Rhein – seit jeher eine Einwanderungslandschaft ist, ist im Bewusstsein ihrer Bewohner spätestens seit Carl Zuckmayers 1946 entstandenem Bühnenstück „Des Teufels General“ verankert, in der die Hauptfigur General Harras den Rhein als die „Völkermühle Europas“ bezeichnet. Die zahlreichen Facetten dieses Wanderungsgeschehens von der Antike bis zur Gegenwart sind – im Vergleich zur benachbarten Pfalz – bisher nur ansatzweise erforscht worden. Dies ist erstaunlich, zählte doch das heutige Rheinhessen – das zu großen Teilen der Geschichtslandschaft der Pfalz zugeordnet werden kann – über Jahrhunderte zu den Gebieten mit einer besonders intensiven Auswanderungstradition. Kriege, Missernten, Teuerung und andere Faktoren bewogen zahlreiche Menschen dazu, die Gegend zwischen Mainz, Bingen, Alzey und Worms zu verlassen. Neben Preußen, Russland, Ungarn und später Brasilien, Australien und Algerien richtete sich der Strom der Wegziehenden vor allem nach Nordamerika. Die Auswanderung ins koloniale Nordamerika Bereits 1685 emigrierten die ersten Familien aus dem späteren Rheinhessen nach Pennsylvania. Es handelte sich bei ihnen um Quäker oder Mennoniten aus Kriegsheim bei Worms, die einige Jahrzehnte zuvor vom Niederrhein in die vom Dreißigjährigen Krieg verwüstete Gegend eingewandert waren.1 Kein geringerer als William Penn, der Gründer der nordamerikanischen Kolonie Pennsylvania, hätte während eines Aufenthalts in Kriegsheim 1677 zur Ansiedlung geworben. Ein Teil der 1683 gegründeten Stadt Germantown, der ältesten deutschen Siedlung Nordamerikas, trug zeitweise in Erinnerung an das rheinhessische Dorf den Namen Cresheim.2 Auch an der ersten deutschen Auswanderungswelle nach Nordamerika nach dem Kältewinter 1709 waren Bewohner des kurpfälzischen Oberamts Alzey in nennenswerter Zahl beteiligt.3 Die im Rahmen eines Kolonisationsprojekts angewor1 2 3
Vgl. Horst Gerlach: Mennoniten in Rheinhessen. In: Alzeyer Geschichtsblätter 18 (1983), S. 27. Vgl. Stephane Grauman Wolf: Urban Village: Population, Community, and Family Structure in Germantown, Pennsylvania, 1683–1800. Princeton 1976, S. 23. Vgl. Helmut Schmahl: Aufbruch nach Amerika. Die deutsche und rheinland-pfälzische Nordamerikaauswanderung im 18. und 19. Jahrhundert. In: Auswanderung nach Amerika. Vortrags-
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benen Siedler ließen sich zunächst in der Kolonie New York nieder, viele wanderten später nach Pennsylvania weiter. Da ein Großteil dieser und späterer Einwanderer aus der Pfalz stammte, wurde die englischsprachige Bezeichnung für Pfälzer (Palatines) als Sammelbegriff für alle deutschsprachigen Immigranten verwendet.4 Seit den 1730er Jahren kam es verstärkt zu Wegzügen protestantischer Untertanen aus den kurpfälzischen Oberämtern Alzey, Oppenheim und Kreuznach. Dies war zum einen auf ein starkes Bevölkerungswachstum zurückzuführen, das Arbeits- und Landmangel zur Folge hatte. Die intensive Werbetätigkeit seitens interessierter Regierungen, Großgrundbesitzer, Reeder und Kapitäne tat das ihre, um Menschen zum Aufbruch zu mobilisieren.5 Die Gegenden am Mittel- und Oberrhein galten den Werbern als besonders viel versprechende Gebiete, da sie eine hohe Bevölkerungsdichte aufwiesen und die Landesherren aufgrund der territorialen Zersplitterung die Tätigkeit der Werber nur schlecht unterbinden konnten.6 Die Quäkerkolonie Penns wurde zum weitaus wichtigsten Anlaufpunkt in Amerika.7 Zwischen 1727 bis 1740 registrierten die Hafenbehörden von Philadelphia 80, in den kommenden 15 Jahren 159 Schiffe mit deutschen Immigranten. Nach einer Unterbrechung durch den Siebenjährigen Krieg erreichten 88 weitere Schiffe Philadelphia. Die in Schüben verlaufende Auswanderung fand zwischen 1749 und 1754 ihren Höhepunkt.8 Allein 1749 trafen 7000 Passagiere aus Deutschland ein. Dies führte zu Überfremdungsängsten unter der englischen Bevölkerung Pennsylvanias, denen Benjamin Franklin 1751 mit einer drastischen Tirade gegen die integrationsresistenten „Pfälzer Bauernlümmel“ (Palatine Boors) Ausdruck verlieh. 9 Dennoch genossen die Deutschen in der Kolonialzeit einen Ruf als flei-
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veranstaltungen zur Auswanderung aus Gebieten des heutigen Rheinland-Pfalz und zur Auswanderung in die USA am 15. September 2009 im Landtag (Schriftenreihe des Landtags Rheinland-Pfalz, 43). Mainz 2009, S. 94-95; Karin Holl: Kreißer – Chrysler: Eine Auswanderungsgeschichte. Ludwigshafen 2001; demnächst auch: Gerhard Stärk: Die Armutsmigration der Pfälzer anno 1709 am Beispiel der Gemeinde Albig bei Alzey. In: Alzeyer Geschichtsblätter 40 (erscheint Ende 2016). Vgl. hierzu die Beiträge in: Karl Scherer (Hg.): Pfälzer-Palatines. Beiträge zur pfälzischen Einund Auswanderung sowie zur Volkskunde und Mundartforschung der Pfalz und der Zielländer pfälzischer Auswanderer im 18. und 19. Jahrhundert (Beiträge zur Bevölkerungsgeschichte der Pfalz, 2). Kaiserslautern 1981. Vgl. Joachim Heinz: „Bleibe im Lande, und nähre dich redlich!“ Zur Geschichte der pfälzischen Auswanderung vom Ende des 17. bis zum Ausgang des 19. Jahrhunderts (Beiträge zur pfälzischen Geschichte, 1). Kaiserslautern 1989, S. 33-46. Nachstehende Angaben, wenn nicht anders angegeben, bei Kathleen Neils Conzen: Germans. In: Stephan Thernstrom(u.a. (Hrsg.): Harvard Encyclopedia of American Ethnic Groups. Cambridge/MA 1981, S. 407. Die koloniale Auswanderung aus Rheinhessen nach Nordamerika ist bisher noch nicht systematisch erforscht worden. Von Einzelstudien seien stellvertretend genannt: Don Yoder (Hrsg.): Rhineland Emigrants: Lists of German Settlers in Colonial America. Baltimore 1981; Werner Hacker: Auswanderungen aus Rheinpfalz und Saarland im 18. Jahrhundert. Stuttgart 1987 (bisher umfangreichste namentliche Übersicht von Emigranten aus Rheinhessen). Ausführlich hierzu: Andreas Brinck: Die deutsche Auswanderungswelle in die britischen Kolonien Nordamerikas um die Mitte des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1993. Vgl. Wolfgang J. Helbich/Annette Haubold: Alle Menschen sind dort gleich: Die deutsche Amerikaauswanderung im 19. und 20. Jahrhundert. Düsseldorf 1988, S. 31.
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ßige, sparsame und geschickte Bauern, die mehr auf ihr Land und ihr Vieh achteten als auf ihren Komfort.10 Eines der wichtigsten kulturellen Zentren, nicht nur deutscher Immigranten in Pennsylvania, sondern des kolonialen Nordamerika überhaupt, war das Kloster Ephrata in Lancaster County, 60 Kilometer westlich von Philadelphia.11 Es handelte sich hierbei um eine 1735 gegründete Gemeinschaft radikaler deutscher Pietisten, die unter der Leitung des Bäckergesellen Johann Conrad Beissel aus Eberbach am Neckar sowie des aus dem pfälzischen Alsenborn ausgewanderten reformierten Pfarrers Johann Peter Müller den Versuch unternahmen, „der im aufgeklärten Europa bedrängten monastischen Lebensform eine letzte Freistatt zu sichern“.12 Der Einflusskreis des in der Wildnis von Pennsylvania lebenden charismatischen Ordensgründers Beissel erstreckte sich bald bis in die alte Heimat. Berichte an seinen in Gimbsheim in der Nähe von Worms wohnhaften Bruder führten dort in den frühen 1740er Jahren zur Bildung einer Erweckungsbewegung, der zeitweise ein beträchtlicher Teil der protestantischen Bevölkerung des Dorfes angehörte.13 Wachsende Spannungen mit der Obrigkeit und dem Dorfpfarrer sowie die sich in den 1740er Jahren dramatisch verschlechternde wirtschaftliche Situation führten dazu, dass 90 „Erweckte“ – immerhin ein Achtel der Bevölkerung – in den Jahren 1749 und 1751 nach Nordamerika auswanderten. Ihre Überfahrt wurde zumindest teilweise vom „Orden der Einsamen“ in Ephrata finanziert, obwohl sich nicht alle Einwanderer dort niederließen. Die Mitglieder des „Ordens der Einsamen“ strebten nach einem spartanischen Leben in absoluter Frömmigkeit. Die meisten Mitglieder lebten zölibatär. Gottesdienste wurden mehrmals täglich gefeiert, der Rest des Tages wurde mit Arbeit verbracht. Die Gemeinschaft war weithin autark. Sie verfügte über eine eigene Farm und betrieb Säge-, Getreide-, Öl- und Walkmühlen. Ebenso stellten die Mitglieder ihre eigenen Stoffe und Schuhe her, und es wurden Körbe geflochten. Die Schwestern kopierten Musikhandschriften und widmeten sich der Kalligraphie, Stickarbeiten und dem Spinnen. Eine besondere zivilisatorische Leistung war die seit 1742 von den Brüdern unterhaltene Druckerei. Das Papier und andere für den Buchdruck benötigte Materialien wurden sämtlich selbst hergestellt. In einer Ölmühle wurde Flachssamen zu Tinte verarbeitet und in einer Gerberei das Leder für die Bucheinbände hergestellt. Die Brüder druckten zum einen religiöse Schriften für ihren eigenen Bedarf. Ihr 10 11 12 13
Vgl. Conzen, Germans, S. 407. Zu Ephrata vgl. Jeff Bach: Voices of the Turtle Doves: The Sacred World of Ephrata. University Park/PA 2003. Karl Scherer: „ist in Pennsylvanien gezogen...“ – Eine Skizze zur Geschichte der pfälzischen Auswanderung im 17. und 18. Jahrhundert. In: Roland Paul/Karl Scherer (Hrsg.): Pfälzer in Amerika/Palatines in America. Kaiserslautern 1995, S. 29 [S. 15–18]. Die nachstehenden Ausführungen zu Ephrata basieren auf Helmut Schmahl: Radikalpietisten in der atlantischen Welt: Die Auswanderung der Gimbsheimer „Erweckten“ nach Ephrata/ Pennsylvania in den Jahren 1749 und 1751. In: Mitteilungsblatt zur rheinhessischen Landeskunde NF 7 (2005), Themenheft Alsheim/Gimbsheim, S. 17–36; vgl. auch : Jeff Bach: The Ephrata Community in the Atlantic World. In: Philip Lockley (Hrsg.): Protestant Communalism in the Trans-Atlantic World, 1650–1850. London 2016, S. 56–60.
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bedeutendste Werk, das zugleich die größte Druckleistung im kolonialen Nordamerika darstellt, war jedoch der 1748/49 publizierte Foliant 7 „Märtyrer-Spiegel der Tauffs-Gesinnten“, den der erwähnte Johann Peter Müller im Auftrag mennonitischer Gemeinden aus dem Niederländischen ins Deutsche übersetzt hatte.14 Die Pennsylvaniadeutschen waren in einem ländlichen Gebiet, das größer als die Schweiz ist,15 so zahlreich, dass sich eine eigenständige Kultur herausbildete. Sprache, Essen, Architektur, Volkskunst, Feste und andere Bereiche stellten eine Verschmelzung deutscher Traditionen mit englisch-amerikanischen Elementen dar. Diese Kultur ist in Amerika auch unter dem etwas irreführenden Namen „Pennsylvania Dutch Culture“ bekannt. Dutch bezieht sich hier nicht auf die englischsprachige Bezeichnung für die Niederlande, sondern auf den frühneuzeitlichen englischen Begriff, der alles Deutsche damit umfasste. Englische Einflüsse führten mitunter auch in diesem Raum dazu, dass Familiennamen anglisiert wurden wie bei Stouffer (Stauffer aus Ibersheim) oder Pennypacker (von Pfannebecker aus Flomborn).16 Die Auswanderung im 19. Jahrhundert Verlauf und Umfang Im 19. Jahrhundert entwickelten sich – wie in anderen deutschsprachigen Gebieten – die Vereinigten Staaten zum weitaus beliebtesten Ziel rheinhessischer Auswanderer. Zwischen 1820 und 1930 ließen sich dort rund 90% der rund sechs Millionen deutschen Immigranten nieder.17 Sie gehörten zu den größten Einwanderergruppen. Andere Länder, wie Brasilien, Argentinien, Australien, Algerien und Russland, standen nur zeitweise im Zentrum des Interesses deutscher Auswanderer, vor allem, wenn Werbung für diese Gebiete betrieben wurde oder die Vereinigten Staaten vom Bürgerkrieg oder von Wirtschaftskrisen betroffen waren. Unter französischer Herrschaft (1797–1814) waren Auswanderungen verboten. Zu ersten vereinzelten Wegzügen aus dem 1816 als hessen-darmstädtische Provinz gegründeten Rheinhessen kam es im „Hungerjahr“ 1816/1817, als das Gebiet Durchzugsgebiet zahlreicher süddeutscher Emigranten war.18 Die erste Auswanderungswelle in den folgenden Jahren war zwischen 1824 und 1826 zu verzeichnen,
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Zu Müller vgl. Scherer, Skizze, S. 32. Vgl. Don Yoder: Pennsylvania Germans. In: Thernstrom, Harvard Encyclopedia, S. 770. Vgl. Samuel Whitaker Pennypacker: Hendrick Pannebecker, Surveyor of Lands for the Penns, 1674–1754. Philadelphia 1894, S. 14. Hendrick Pannebecker wanderte 1694 von Flomborn nach Pennsylvania aus und war Landvermesser. Sein Nachfahr, der Jurist, Historiker und Gouverneur von Pennsylvania Samuel W. Pennypacker reiste in den 1890er Jahren nach Flomborn, um die Geschichte seiner Familie vor der Auswanderung zu erforschen. Vgl. die Tabelle bei Conzen, Germans, S. 410. Die in der Literatur öfters anzutreffende Feststellung, dass 1816/17 zahlreiche Wegzüge aus Rheinhessen stattfanden, ist wohl auf Heinrich Bechtolsheimers historischen Roman „Das Hungerjahr“ (Erstauausgabe Wiesbaden 1907) zurückzuführen, in dem die Auswanderung thematisiert wird.
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als zahlreiche Bauern und Handwerker aus dem Raum zwischen Alzey und Wöllstein in das junge Kaiserreich Brasilien auswanderten, dessen Regierung eine eifrige Werbetätigkeit entfaltete.19 Da im Großherzogtum Hessen vor 1861 kaum statistische Erhebungen zur Auswanderung durchgeführt wurden, lässt sich die Zahl der Wegzüge nur recht grob ermitteln. Der Umfang der legalen Wegzüge lässt sich recht zuverlässig anhand von gesetzlich vorgeschriebenen Gläubigeraufforderungen in öffentlichen Zeitungen ermitteln. Stichproben auf lokaler Ebene haben jedoch ergeben, dass die Zahl der
Legale Auswanderung aus Rheinhessen 1832–1870 (auf der Basis von Gläubigeraufforderungen)
Wegzüge ohne behördliche Erlaubnis zeitweise wesentlich höher war.20 Dies dürfte insbesondere für die Jahre 1846/47 gelten, als weite Teile Europas von einer Agrarund Handelskrise betroffen waren. Anhaltende Wirtschaftskrisen führten in unserer Region seit den frühen 1830er Jahren zu einem Anwachsen der Auswanderung.21 Die jährliche Intensität war sehr unterschiedlich. 1837 wurde mit 865 legalen Wegzügen ein erster Spitzenwert er19 20 21
Vgl. Helmut Schmahl, Verpflanzt, aber nicht entwurzelt. Die Auswanderung aus Hessen-Darmstadt (Provinz Rheinhessen) nach Wisconsin im 19. Jahrhundert (Mainzer Studien zur Neueren Geschichte, 1). Frankfurt a. M. (u. a.) 2000, S. 65. Vgl. zu dieser Problematik Schmahl, Verpflanzt, S. 31–32. Die nachstehenden Werte finden sich bei Horst Rößler: Massenexodus: die Neue Welt des 19. Jahrhunderts. In: Klaus Bade (Hrsg.): Deutsche im Ausland–- Fremde in Deutschland. Migration in Geschichte und Gegenwart. München 1992. S. 148. Grundlegend: Peter Marschalck: Deutsche Überseewanderung im 19. Jahrhundert. Stuttgart 1973.
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reicht. Während der Teuerungsjahre 1846/47 blieb die Auswanderung im Vergleich zu den Nachbargebieten recht gering, sie erreichte jedoch in den frühen 1850er Jahren, die ebenfalls von Missernten und Teuerung gekennzeichnet waren, ihren Höhepunkt. Nach dem Ende des Amerikanischen Bürgerkrieges (1865) war nochmals eine hohe Wanderungsintensität zu verzeichnen, die bis zur Reichsgründung 1871 anhielt. Nach 1880 spielte die Amerikaauswanderung in Rheinhessen keine große Rolle mehr, da aufgrund der fortgeschrittenen Industrialisierung ein größeres Arbeitsplatzangebot bestand und die Knappheit an landwirtschaftlicher Nutzfläche durch die zahlreichen Wegzüge nicht mehr so spürbar war wie zuvor. Größere Auswanderungsbewegungen nach Nord- und Südamerika gab es in Rheinhessen dann nochmals im 20. Jahrhundert in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg, aufgrund staatlicher Verfolgung in der Zeit des Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit zwischen 1949 und 1956. Wirtschaftliche und soziale Hintergründe Für den Massenexodus des 19. Jahrhunderts waren ebenso wie im Jahrhundert zuvor die misslichen wirtschaftlichen Verhältnisse von Kleinbauern, Gewerbetreibenden und Handwerkern verantwortlich, die durch Ernteausfälle und Teuerungskrisen oft prekäre Ausmaße annahmen. Eine entscheidende Rolle spielte hierbei das rasche Bevölkerungswachstum, das spätestens seit der französischen Zeit zu beobachten war. So stieg die Bevölkerung Rheinhessen zwischen 1816 und 1834 von 158.000 auf 205.000, was einer Zunahme von knapp 30 Prozent innerhalb einer Generation entsprach.22 Diese Entwicklung war vor allem auf eine Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion und eine durch verbesserte medizinische Betreuung gesunkene Sterberate zurückzuführen.23 Die in den meisten Landesteilen verbreitete Realteilung, die alle Erben gleichstellte, war von der napoleonischen Gesetzgebung bestätigt worden und führte aufgrund des steigenden Bevölkerungsdrucks in den kommenden Jahrzehnten zu einer bedenklichen Aufsplitterung der landwirtschaftlichen Nutzfläche.24 Bereits im Jahr 1817 entfielen auf jeden ländlichen Haushalt Rheinhessens durchschnittlich nur drei bis vier Hektar Grundbesitz. Knapp zwei Jahrzehnte später hatte die Besitzzersplitterung noch besorgniserregendere Ausmaße angenommen. 1834 bewirtschafteten in Alsheim bei Worms 41%, in Gau-Odernheim 76%, im Mombach bei Mainz gar 86% der landwirtschaftlichen Betriebe nur noch bis zu 2,5 Hektar Feld. In Orten, wo Weinbau oder andere Sonderkulturen eine Rolle spielten, boten solch kleine Betriebe oft ein ausreichendes Familieneinkommen, in reinen Ackerbauge22 23
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Vgl. Schmahl, Verpflanzt, S. 385. Ausführlich zu den Wirkfaktoren: Arthur E. Imhof: Einführung in die Historische Demographie. München 1977, S. 60–69; Gunter Mahlerwein: Rheinhessen 1816–2016. Die Landschaft – Die Menschen – und die Vorgeschichte der Region seit dem 17. Jahrhundert. Mainz 2015, S. 127–131. Vgl. Schmahl, Verpflanzt, S. 58–59 (dort auch die nachstehenden Werte zu rheinhessischen Gemeinden).
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meinden jedoch nicht. Viele Kleinbauern arbeiteten daher im Taglohn oder als Handwerker. Neben der Realteilung führten einige Errungenschaften aus französischer Zeit, die auch nach 1815 als so genannte „Rheinische Institutionen“ Fortbestand hatten, zu einer Verschärfung der wirtschaftlichen und sozialen Lage.25 Aufgrund der Gewerbefreiheit waren zahlreiche Handwerksberufe überbesetzt, insbesondere in der Textilindustrie, die unter englischen Billigimporten sowie unter der zunehmenden Mechanisierung zu leiden hatte. Viele Kleinbauern und Handwerker mussten sich als Taglöhner oder Saisonarbeiter verdingen. Bis zur Gründung des Deutschen Zollvereins 1834 stellten die Binnenzölle ein großes Hemmnis für den Export von Wein, Getreide und anderen Produkten in andere deutsche Staaten dar. Zu einer weiteren Verschlechterung der sozialen Lage breiter Bevölkerungsschichten kam es in den 1840er und 1850er Jahren, dem Zeitalter des „Pauperismus“ (lateinisch pauper = Armer).26 Nach den Missernten der Jahre 1846 und 1853 kletterten die Preise für Grundnahrungsmittel, wie Brot und Kartoffeln, um ein Vielfaches. In vielen Gegenden kam es zu Hungersnöten, die durch staatliche Maßnahmen, wie die verbilligte Abgabe von Lebensmitteln an Bedürftige oder Bauprojekte, kaum gelindert werden konnten.27 Ein Indiz für die große Armut, die vielerorts herrschte, sind die Abschiebeaktionen zahlreicher Gemeinden. Manche Dorfvorstände versuchten in den Jahren um 1850, die Last der Armenunterstützung von sich abzuwenden, indem sie unbemittelte Familien auf ihre Kosten nach Amerika schickten und für ihre Schulden aufkamen.28 Auf diese Weise wurden die rheinhessischen Altrheingemeinden Gimbsheim und Eich in den Jahren zwischen 1848 und 1851 226 bzw. 168 Personen los. Sonstige Auswanderungsgründe Wirtschaftliche Faktoren stellten den wichtigsten, aber nicht einzigen Grund für Auswanderungen dar. Politische Motive, insbesondere Unzufriedenheit über die obrigkeitsstaatlichen Verhältnisse, spielten mitunter auch eine wichtige Rolle, insbesondere bei den Auswanderungsbewegungen nach dem Hambacher Fest 1832 und nach der gescheiterten Revolution von 1848. Zwar betrug die Zahl der „Achtundvierziger“ lediglich ein Hundertstel der deutschen Immigranten der 1850er Jahre, es handelte sich bei ihnen jedoch um Angehörige einer bildungsbürgerlichen Elite, die in den USA einen „kaum zu überschätzenden Einfluss auf die deutschamerikanische Presse und Politik“29 gewann. Die große Bedeutung, die diesem Personenkreis oft beigemessen wird, ist darauf zurückzuführen, dass es relativ viele der Emigranten vermochten, wichtige Positionen im wirtschaftlichen, politischen und 25 26 27 28 29
Vgl. Reinhard Rürup: Deutschland im 19. Jahrhundert, 1815–1871. Göttingen 1984, S. 133. Vgl. Richard H. Tilly: Vom Zollverein zum Industriestaat. Die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands 1834–1914. München 1990, S. 12–38. Vgl. die Beispiele bei Schmahl, Verpflanzt, S. 55. Vgl. Schmahl, Verpflanzt, S. 98. Wolfgang Helbich/Walter D. Kamphoefner/Ulrike Sommer: Briefe aus Amerika. Deutsche Auswanderer schreiben aus der Neuen Welt 1830–1930. München 1988, S. 13.
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kulturellen Leben der Vereinigten Staaten zu bekleiden. Stellvertretend für die rheinland-pfälzischen Achtundvierziger, die in die USA gingen, sei Germain Metternich genannt. Germain Metternich wurde 1811 in Mainz als Sohn des ehemaligen Vizepräsidenten des Rheinisch-Deutschen Nationalkonvents von 1793 Matthias Metternich geboren.30 Er schlug zunächst die militärische Laufbahn ein, die jedoch ein jähes Ende fand, als Metternich sich in der freiheitlichen Bewegung des Vormärz engagierte. Unter anderem war er der Leiter des Mainzer Kontingents beim Hambacher Fest im Mai 1832. Aufgrund seiner politischen Betätigung wurde er mehrmals festgenommen, schließlich gelang ihm die Flucht in die Schweiz. Nach Beginn der Revolution im Frühjahr 1848 ernannte ihn der Oberst der Mainzer Bürgerwehr, Franz Zitz, zu seinem Adjutanten. Außerdem war Metternich Leiter einer speziellen „Turnereinheit“ und Mitglied im Zentralausschuss der deutschen Demokraten in Frankfurt. Weiterhin beteiligte er sich am badisch-pfälzischen Aufstand und flüchtete anschließend wiederum in die Schweiz. Als man ihn dort auswies, wanderte er 1850 nach New York aus. Auch in seiner neuen Heimat engagierte er sich in der sozialistischen Turnerbewegung. Als entschiedener Gegner der Sklaverei meldete er sich im amerikanischen Bürgerkrieg im April 1861 freiwillig zur Unionsarmee und fiel 1862 kurz vor dem Sieg der Nordstaaten auf der Atlantikinsel Tybee (South Carolina). Religiöse Motive spielten im 19. Jahrhundert für die Auswanderung aus Rheinhessen keine nennenswerte Rolle mehr. Allenfalls während des Kulturkampfes in den 1870er Jahren war unter Katholiken mancherorts, wie in Gau-Algesheim, eine erhöhte Wegzugsbereitschaft zu verzeichnen.31 Die häufige Auswanderung von Juden dürfte aufgrund ihrer aus napoleonischer Zeit herrührenden Emanzipation hauptsächlich nicht auf religiöse, sondern ökonomische Motive zurückzuführen sein. Einige rheinhessische Juden gelangten in Amerika zu Berühmtheit, wie der Bankier und Politiker Aron (August) Belmont aus Alzey, der eine maßgebliche Rolle bei der Neugestaltung der Demokratischen Partei in den 1850er und 1860er Jahren spielte.32 Neben den bereits erwähnten Ursachen gab es noch eine Reihe persönlicher Motive, die Menschen bewogen, sich von der Heimat zu lösen. Furcht vor Strafverfolgung, Abenteuerlust, mehrjähriger Militärdienst und Streit mit Angehörigen gehören ebenso dazu wie der Schritt entlassener Strafgefangener oder auch lediger Mütter, den sozialen Makel durch Auswanderung von sich zu streifen.33
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Vgl. Anton Maria Keim: Germain Metternich – vom Mainzer Revolutionär zum amerikanischen Turner-General. In: Lebendiges Rheinland-Pfalz Heft 13 (1976), S. 86–88. Vgl. Conzen, Germans, S. 410. Zu August Belmont vgl. Irving Katz: August Belmont: A Political Biography. New York 1968; Dieter Hoffmann: „...wir sind doch Deutsche: Zur Geschichte und Schicksal der Landjuden in Rheinhessen (Alzeyer Geschichtsblätter, Sonderheft 14). Alzey 1992, S. 80; Gerhard Holzer: August Belmont (1813 Alzey – 1890 New York). In: Marlene Jochem u. a. (Hrsg.): Aufbruch nach Amerika 1709–2009: 300 Jahre Massenauswanderung aus Rheinland-Pfalz. Kaiserslautern 2009, S. 103–106. Vgl. die Beispiele bei Schmahl, Verpflanzt, S. 106–108.
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Die Reise – Haltung des Staates zu Auswanderungen Die Entscheidung zur Auswanderung war ein schwerwiegender Schritt, der gut überlegt und vorbereitet sein musste. Meist parallel zur Beantragung einer Auswanderungserlaubnis veräußerten die Wegziehenden ihren Besitz und schlossen mit einem Agenten einen Vertrag, der ihre Seereise regelte. Die Beförderung von Auswanderern stellte im 19. Jahrhundert ein lukratives Geschäft dar. Alle größeren deutschen, französischen, niederländischen, belgischen und englischen Reedereien waren an ihr beteiligt.34 Mainz und andere Städte am Rhein waren aufgrund ihrer günstigen Verkehrslage Sitz zahlreicher in- und ausländischer Schiffsagenturen. Den bedeutendsten Anteil an der Auswanderungsbeförderung hatte zeitweise die 1845 in Mainz gegründete Agentur des Engländers Washington Finlay, der Vertreter der amerikanischen Paketschiffe von Le Havre nach New York und New Orleans war. Wegen der großen Nachfrage zählte sein Unternehmen schon bald 66 Unteragenturen in Süddeutschland und im Rheinland. Meist waren die Unteragenten Handelsleute oder Wirte, die wie ihre Auftraggeber intensiv Werbung in Zeitungen und Anzeigenblättern betrieben. Da es immer wieder zu Übervorteilungen und betrügerischer Werbung kam, wurden den Auswanderungsagenturen von staatlicher Seite strenge Auflagen für ihren Geschäftsbetrieb erteilt. Dem Schutz der Emigranten dienten diese Verordnungen nur bedingt, denn sie konnten Prellereien im Ausland nicht Einhalt gebieten. Die Einstellung der einzelnen deutschen Staaten gegenüber der Auswanderung war unterschiedlich. Zwar war in allen Staaten des Deutschen Bundes das Recht auf Wegzug verbürgt, falls keine Verpflichtungen bzw. Verbindlichkeiten gegenüber dem Staat bzw. Privatpersonen bestanden. In den preußischen und bayerischen Gebieten des späteren Landes Rheinland-Pfalz befürchteten die Behörden seit den 1840er Jahren angesichts des Weggangs zahlreicher Arbeitskräfte und Militärpflichtiger eine Entvölkerung ganzer Landstriche, und sie warnten eindringlich vor den vielfältigen Risiken, die mit der Auswanderung verbunden waren.35 Eine liberalere Haltung nahm hingegen die hessen-darmstädtische Regierung ein, die in der Auswanderung ein soziales „Überdruckventil“ sah. So bezeichnete Innenminister du Thil in den 1840er Jahren die rasch wachsende Bevölkerung als „das größte Übel, an welchem ein Staat leiden kann.“ Seiner Einschätzung nach „würde das Großherzogtum glücklicher sein, wenn es gegen 100.000 Einwohner weniger hätte“.36
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Alle Angaben in diesem Abschnitt finden sich, wenn nicht anders angegeben, bei Schmahl, Verpflanzt, S. 133–135. Vgl. Heinz, Bleibe im Lande, S. 224–228; Cornelius Neutsch: Der Westerwald: eine idealtypische Auswanderungsregion des 19. Jahrhunderts? In: Walter G. Rödel/Helmut Schmahl (Hrsg.): Menschen zwischen zwei Welten: Auswanderung, Ansiedlung, Akkulturation, Trier 2002, S. 68–70. Heinrich Ulmann (Hrsg.): Denkwürdigkeiten aus dem Dienstleben des Hessen-Darmstädtischen Staatsministers Freiherrn du Thil 1803–1848. Stuttgart 1921 (ND Osnabrück 1957), S. 522.
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Siedlungsverhalten rheinland-pfälzischer Einwanderer im 19. Jahrhundert Die Besiedlung der Vereinigten Staaten erfolgte im 19. Jahrhundert in atemberaubendem Tempo. Bis zum weitgehenden Abschluss der euroamerikanischen Landnahme – 1890 gab die Zensusbehörde bekannt, dass die USA vollständig besiedelt seien – folgten Deutsche der allgemeinen Westwärtsbewegung.37 Die Masse ließ sich in den Nordatlantikstaaten sowie den westlich angrenzenden Gebieten nieder. Die wirtschaftlichen Zentren des Nordostens mit ihrem großen Bedarf an Arbeitskräften waren ebenso attraktiv wie das riesige fruchtbare Gebiet des Mittleren Westens, wo die Einwanderer in Stadt und Land gleichermaßen zu finden waren. Zudem entsprach das Klima in diesem Teil der USA am ehesten mitteleuropäischen Verhältnissen.38 1870, nachdem die Auswanderung aus Rheinhessen ihren Höhepunkt überschritten hatte, lebten in den Staaten an der Atlantikküste rund 630.000 Deutschgebürtige bzw. 37% ihrer Volksgruppe.39 Den weitaus größten Anteil hiervon hatte der Staat New York (317.000 Personen), wo jeder fünfte deutsche Einwanderer ansässig war. In der gleichnamigen Hafenmetropole bevölkerten sie ganze Bezirke (Little Germanies), und sie stellten auch einen Großteil der Bevölkerung der aufblühenden Industriestädte am Eriekanal, wie Buffalo, Rochester und Syracuse. Pennsylvania blieb ebenfalls ein beliebtes Ziel deutscher Immigranten, dort betrug 1870 ihre Zahl 160.000 Personen. Der Anteil der dortigen deutschstämmigen Bevölkerung war jedoch bedeutend höher als in New York. Es handelte sich hierbei um Nachfahren deutscher Einwanderer des 18. Jahrhunderts, die auch noch nach mehreren Generationen zum großen Teil dem pennsylvanisch-deutschen Kulturkreis zugeordnet werden konnten. 937.000 Personen, mehr als die Hälfte der deutschen Einwanderer, lebten 1870 im Mittleren Westen. In den bevölkerungsreichsten Staaten Illinois und Ohio stellten sie mit 204.000 bzw. 183.000 Einwanderern die zahlenmäßig stärksten Kontingente. Auch waren sie die größte ethnische Gruppe in wenig dicht besiedelten Landstrichen, vor allem im unteren Mittleren Westen. Aus den weiter nördlich gelegenen Staaten ragt Wisconsin heraus. 162.000 Deutschgebürtige prägten das dortige Bevölkerungsbild wesentlich deutlicher als ihre Landsleute in den Nachbarstaaten Iowa (66.000) und Michigan (64.000). Der westlich des Mississippi gelegene Staat Missouri mit der Stadt St. Louis wies mit 114.000 Deutschen ein weiteres beachtliches Kontingent auf. Im Süden der Vereinigten Staaten ließen sich im 19. Jahrhundert nur wenige Deutsche nieder. 1870 lebte lediglich jeder zwanzigste Deutschgebürtige dort. Das Klima schreckte viele Einwanderer ab, überdies gab es in vielen Gebieten angesichts der mit Sklaven betriebenen Plantagenwirtschaft wenig Bedarf an Immigranten. Ausnahmen bildeten lediglich Kentucky mit 30.000 Deutschen, insbesondere in den unmittelbar am Ohio gelegenen Bezirken, Texas (24.000) sowie Louisiana
37 38 39
Vgl. die Übersicht bei Rößler, Massenexodus,, S. 157–161. Vgl. Schmahl, Verpflanzt, S. 111. Zu den Censusdaten von 1870 vgl. die Tabelle bei Schmahl, Verpflanzt, S. 408–409.
Verteilung der deutschgebürtigen Bevölkerung 1870 (1 kleiner Punkt: 100 im deutschsprachigen Europa Geborene)
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(19.000). In Texas waren Auswanderer aus dem Raum Bingen häufig zu finden.40 New Orleans, die Metropole Louisianas, wies eine große Kolonie von Einwanderern aus der bayerischen Rheinpfalz auf.41 Noch seltener als in den Südstaaten waren Deutsche im Gebiet zwischen den Rocky Mountains und dem Pazifik anzutreffen. Lediglich Kalifornien wies mit 30.000 deutschen Immigranten 1870 eine beachtliche Zahl auf. Jüdische Rheinhessen zählten in dem Staat am Pazifik bereits zur Zeit des „Goldrauschs“ in den Jahren nach 1849 zu den Siedlern.42 Wanderungsformen: Die Bedeutung der Kettenwanderung „(…) nur wenige Jahre vergingen, da drang aus den jungen Kolonien die Nachricht in das alte Vaterland, wie wohl es den einst Armen und Elenden im neuen Lande gehe, wie sie ein eigen Hab und Gut bewirtschafteten; wie sie mit jedem Axtschlag, den sie führten, mit jeder Furche, die sie zogen, den mühsam errungenen Besitz befestigten; wie sie nicht mehr unter der Leitung von vornehmen Herren standen, sondern selbstdenkend und selbstbestimmend im freien Lande schalteten. Die Sehnsucht nach wirthschaftlicher, religiöser und in manchen Fällen politischer Selbständigkeit hatte die ersten Pioniere in das Land gezogen. Nun, da sie ihr Ziel erreichten, folgte der Verwandte dem Verwandten, der Freund dem Freunde, der Nachbar dem Nachbar, der Landsmann dem Landsmann in das vielversprechende und viel haltende junge Land.“43 40
41 42
43
Zur Texasauswanderung vgl. bspw. Jerry G. Jordan: German Seed in Texas Soil: Immigrant Seed in Texas Soil: Immigrant Farms in Nineteenth-Century Texas. Austin 41994; Karl Greifenstein: Von Büdesheim nach Mentz, Texas – Die Auswanderung von Bingen in die USA während des 19. Jahrhunderts. In: Heimatjahrbuch Kreis Mainz Bingen 1990, S. 115–119. Zur Situation deutscher Auswanderer in New Orleans um 1850 vgl. Helmut Schmahl: Alles nur Schein, nur Humbug ...“: Die Reise des Alzeyer Lehrers Franz Joseph Ennemoser (1807–1886) nach New Orleans. In: Alzeyer Geschichtsblätter 36 (2008), S. 86–111. Der 1827 in Kriegsheim geborene Salomon Süs (Solomon Sweet) war für die Auswanderung zahlreicher rheinhessischer Juden aus der Gegend zwischen Alzey und Worms verantwortlich. Süs wanderte 1845 über New York nach Chicago aus. Er arbeitete einige Zeit als Kutscher in Ogle County/Illinois und als Angestellter in Milwaukee. 1850 reiste Sweet über New York und den Isthmus von Panama nach San Francisco. Zunächst arbeitete er in einem Geschäft in Stockton und ging 1851 als Goldsucher und Krämer in die Minen von Mariposa County. 1857 kam Sweet nach Visalia, wo er zwei Jahre später ein Geschäft eröffnete. 1860 heiratete er die New Yorkerin Annie Philips, mit der er zahlreiche Kinder hatte. Nach wechselnden Geschäftsteilhabern wurden 1879 Sweets aus Eppelsheim stammende Neffen Adolph und Leon Levis Teilhaber seines Unternehmens. Weitere Geschäftszweige Sweets waren Viehzucht und Ackerbau. Auf großen Landflächen produzierte er zudem Südfrüchte. Er war Teihaber der California Fruit and Wine Land Company, die Rosinen, Orangen, Oliven, Mandeln und Pfirsische anbaute. Einen Teil seines Kapitals investierte er in zwei lokale Eisenbahngesellschaften sowie in das Palace Hotel in Visalia. 1899 verstarb Sweet in San Francisco. Er war aktiver Freimaurer und karitativ als Gönner und Vorstandsmitglied des jüdischen Waisenhauses in San Francisco tätig. Vgl. J. M. Guinn: History of the State of California and Biographical Record of the San Joaquin Valley, California. Chicago 1905, S. 856. Wilhelm Hense-Jensen: Wisconsin’s Deutsch-Amerikaner bis zum Schluß des neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1, Milwaukee 1900, S. 50.
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Als Wilhelm Hense-Jensen diese Zeilen 1900 schrieb, hatte die deutsche Einwanderung weitgehend ihr Ende gefunden. Seine Charakterisierung zeigt trotz ihres verklärenden Grundtenors, dass die Auswanderung im 19. Jahrhundert oft keine Reise ins Ungewisse war. Viele Immigranten, insbesondere in neu besiedelten Gebieten, wo Land günstig zu erwerben war, suchten die Nähe von Landsleuten und ließen sich in Gruppenansiedlungen nieder.44 Vielfach erhielten diese Settlements ihre Prägung durch Kettenwanderungen, die sich über Jahrzehnte hinzogen. Kettenwanderungen aus Deutschland in die USA sind bisher kaum erforscht, da die Quellenlage hierfür oft sehr schlecht ist. Zu den wenigen dokumentierten Fällen gehört eine Serie von Auswanderungen aus rheinhessischen Dörfern nach Wisconsin in den Jahrzehnten vor dem amerikanischen Bürgerkrieg.45 Diese Kettenwanderung wurde von Franz Neukirch ausgelöst, der sich 1839 in der Gegend von Milwaukee an der damaligen euroamerikanischen Siedlungsgrenze niederließ. Briefe des ehemaligen Försters animierten bereits ein Jahr später Bewohner seines langjährigen Wohnortes Guntersblum und der Nachbardörfer zur Übersiedlung nach Wisconsin. In den kommenden Jahren wurde das Gebiet zum bevorzugten Ziel zahlreicher Emigranten aus der Gegend zwischen Oppenheim, Wörrstadt und Alzey. In manchen Dörfern hielt die Auswanderung über ein Jahrzehnt an, mitunter wurden ganze Verwandtschaftskreise verpflanzt. Zunächst siedelten die Rheinhessen vor allem nordwestlich von Milwaukee in Washington County, wo es ihnen in den 1840er Jahren gelang, ein relativ geschlossenes Siedlungsgebiet in vier Townships zu bilden. Viele Familien profitierten von günstigen Landverkäufen der amerikanischen Regierung. Als das Angebot an Regierungsland in Washington County knapp wurde, zogen neu ankommende Rheinhessen seit 1847 in das rund 50 Kilometer nordöstlich gelegene Township Rhine in Sheboygan County. Landsleute, die zuvor einige Jahre in Germantown gelebt hatten, schlossen sich ihnen an, so dass Rhine den Charakter einer Tochterkolonie von Germantown erhielt. Auch in Milwaukee, der größten Stadt Wisconsins, und anderswo ließen sich Rheinhessen nieder. Um 1860 dürfte ihre Zahl im ganzen Staat rund 2.000 Personen betragen haben. Eine weitere bedeutende rheinhessische Gruppenansiedlung befand sich in Perkins Grove in der Mitte des Staates Illinois, 150 km südwestlich von Chicago gelegen.46 Sie entstand in der Nähe der Kleinstadt Mendota durch eine Kettenwanderung, an der vor allem Familien aus dem Selz- und Welzbachtal beteiligt waren. 1842 gelangte Jakob Betz aus Engelstadt als einer der ersten Siedler in die kurz zuvor für die euroamerikanische Landnahme erschlossene Gegend. Gemeinsam mit der Familie seiner aus Wöllstein stammenden Frau Elisabetha Betz gründete er eine Farm, die sich durch sukzessive Landkäufe auf knapp 1.300 acres (520 Hektar) vergrößerte. Betz animierte seine in Engelstadt wohnenden Verwandten 1844 zur 44 45 46
Wegweisend zum Thema Kettenwanderungen: Walter D. Kamphoefner: The Westfalians: From Germany to Missouri. Princeton 1987. Die nachstehenden Angaben beziehen sich auf Schmahl, Verpflanzt, S. 109–147. Vgl. die Übersicht bei Heiko Schmuck: Pioniere aus dem Selz- und Welzbachtal. Die ersten Siedler von Perkins Grove in Illinois. In: Heimatjahrbuch Landkreis Mainz-Bingen 2002, S. 204–207. Gründliche genealogische Studien zu den Pionierfamilien legte Art Ladenburger vor: Ders.: Mendota Area German Pioneers. 2 Bde. Mendota/IL 2003.
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Auswanderung. Bereits ein Jahr spätere trafen Familien aus der Nachbargemeinde Ober-Hilbersheim in Illinois ein. Diese wiederum waren in den 1850er Jahren die Triebfeder für zahlreiche Übersiedlungen aus Gemeinden in den heutigen Verbandsgemeinden Gau-Algesheim, Wörrstadt, Wöllstein und Nieder-Olm, sodass bis zum Ende der Einwanderungswelle gut 1.000 Rheinhessen sich neben anderen deutschen Immigranten in der Gegend niederließen. Die Siedler lebten weit verstreut in kleinen Holzhütten auf ihrem von der Regierung günstig erworbenen Land. Die Grassteppe musste zunächst in harter Arbeit umgebrochen und eingezäunt, das Vieh gegen Wölfe geschützt werden. Auf dem Land des Ober-Hilbersheimers Jakob Körper wurde um 1850 eine evangelisch-unierte Kirche errichtet. Der aus Nieder-Hilbersheim stammende Balthasar Theiß stiftete 1853 ein Grundstück zur Errichtung einer katholischen Kapelle. Auch der örtliche Gesangverein wurde um 1854 von einem Ober-Hilbersheimer, Heinrich Eich, gegründet. Mit der Anbindung an das landesweite Eisenbahnnetz wenige Jahre später „gehörte Perkins Grove endgültig nicht mehr zur Wildnis der American Plains“.47 Landwirtschaft der Deutschamerikaner Jeder vierte erwerbstätige deutsche Einwanderer war im 19. Jahrhundert in der Landwirtschaft beschäftigt.48 Wie zur Kolonialzeit galten sie auch im Mittleren Westen als besonders gründliche Landwirte. Viele Immigranten in neu besiedelten Gebieten erwarben ihr Gebiet vom amerikanischen Kongress zum günstigen Preis von 1,25 Dollar pro acre (1 acre = 0,40 Hektar).49 1862 wurde der Homestead Act (Heimstättengesetz) erlassen, der den Siedlern gegen eine geringe Gebühr 16 acres Regierungsland vermachte, falls sie sich dazu verpflichteten, es fünf Jahre lang zu bewirtschaften und zu bewohnen.50 Die Bodenpreise waren für deutsche Verhältnisse sehr günstig, allerdings waren beträchtliche Mittel für die Anschaffung von Arbeitsgeräten u. ä. notwendig. Der Alltag auf einer nordamerikanischen Farm, insbesondere an der Siedlungsgrenze, unterschied sich grundlegend von dem in einem jahrhundertealten deutschen Dorf. Hilfskräfte waren meist rar und teuer, der Kontakt zu den oft Meilen entfernt wohnenden Nachbarn schwierig. Weiterhin waren zahlreiche handwerkliche Kenntnisse notwendig, über die nicht jeder Bauer aus Deutschland verfügte. Bei der Fruchtfolge und beim Düngen konnten sich Farmer auf ihre Erfahrung aus Europa verlassen, ansonsten musste alles neu geschaffen werden und Produkte angepflanzt werden, deren Absatz gesichert war. Dies wird beim Getreideanbau deutlich, wie die landwirtschaftlichen Erhebungen von Washington County/Wisconsin – einer der populärsten Ansiedlungsregionen von Auswanderern aus dem östlichen Rheinhessen – für die Jahre 1850 und 1860 deutlich zeigen.51 In der ersten Zeit nach der Ansiedlung übernahmen deutsche Einwanderer so viel wie nötig an 47 48 49 50 51
Schmuck, Pioniere, S. 206. Vgl. Christiane Harzig: Lebensformen im Einwanderungsprozeß. In: Bade: Fremde, S. 161. Vgl. Schmahl, Verpflanzt, S. 143. Vgl. Harzig, Lebensformen, S. 163. Ausführlich zur Landwirtschaft von Washington County: Schmahl, Verpflanzt, S. 222–244.
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amerikanischen Produktionsmethoden und bemühten sich gleichzeitig, ihre traditionelle Anbauweise so weit wie möglich beizubehalten. Der Weizenanbau war bei ihnen ebenso vorherrschend wie bei ihren angloamerikanischen oder irischen Nachbarn. Trotz der wesentlich schlechteren Vermarktungsmöglichkeiten von Roggen bestellten deutsche Farmer im Gegensatz zu anderen Siedlern beträchtliche Flächen mit ihrem traditionellen Brotgetreide. Mais und Ahornsirup waren unbekannte Produkte für die Immigranten, sie begannen jedoch gleich nach der Ankunft mit deren Erzeugung, wenn auch in wesentlich bescheidenerem Ausmaß als Angloamerikaner. Mit der Zeit näherten sich die Produktionsgewohnheiten der Gruppen immer weiter an. Als die Bedeutung des Weizens aus Wisconsin auf den Märkten nachließ, erfolgte der Übergang zur Milchwirtschaft. Dieser Schritt wurde zunächst von Angloamerikanern vollzogen, bis zur Mitte der 1880er Jahre zogen auch die Deutschstämmigen nach. Handwerk, Bierbrauerei und Weinbau Handwerker bildeten im 19. Jahrhundert das größte Kontingent erwerbstätiger deutscher Einwanderer. Bei der Volkszählung von 1870 stellten sie 37% der berufstätigen Deutschamerikaner. Je ein weiteres Viertel war in der Landwirtschaft bzw. als Arbeiter beschäftigt und 13% übten Handelsberufe aus.52 Deutsche Handwerker und gelernte Arbeiter genossen in den Vereinigten Staaten im 19. Jahrhundert – und weit darüber hinaus – einen ausgezeichneten Ruf. Besonders häufig waren sie im Nahrungssektor als Bäcker, Metzger und Brauer anzutreffen, daneben galten Schreiner, Zigarrenmacher und Schneider als ebenfalls typisch deutsche Handwerke. Weitere deutsche Domänen waren die Berufe des Hoteliers, Saloonbesitzers, Friseurs, Malers und Musikers. Unterrepräsentiert waren Deutschamerikaner bei Tätigkeiten, die ausgezeichnete englische Sprachkenntnisse und mitunter eine akademische Ausbildung erforderten, wie Doktor, Rechtsanwalt, Lehrer oder Büroangestellter. Weibliche Berufstätige waren primär als Wäscherinnen, Schneiderinnen sowie im Gaststättensektor tätig. Viele rheinhessische Einwanderer lebten in geordneten finanziellen Verhältnissen. „Bilderbuchkarrieren“ wie in den Fällen des Holzbarons Frederick Weyerhaeuser aus Nieder-Saulheim53 oder des Emaillefabrikanten Sebastian Walter aus Ober-
52 53
Vgl. Conzen, Germans, S. 413 (dort auch die nachstehenden Angaben zum Handwerk). Der 1852 ausgewanderte Friedrich Weyerhäuser (*1834 Nieder-Saulheim, †1914 Pasadena/ Kalifornien) war zunächst Arbeiter in einem Sägewerk, das er später kaufte. Daneben erwarb er Anteile an zahlreichen anderen Holzunternehmen und gründete 1872 die Mississippi River Boom and Logging Company, eine Gesellschaft, die alle Holzstämme verarbeitete, die auf dem Mississippi verschifft wurden. 1900 erwarb Weyerhaeuser 364.000 Hektar Waldland im pazifischen Nordwesten und gründete die Weyerhaeuser Company. Bei seiner Gründung war das Unternehmen das größte seiner Art in den USA, heute nimmt es weltweit den ersten Platz ein. 1904 stiftete Frederick Weyerhaeuser seiner Heimatgemeinde eine Sängerhalle, die noch heute Zentrum des kulturellen Geschehens in Saulheim ist. Vgl. Judith Koll Healy: Frederick Weyerhaeuser and the American West. Minneapolis 2013.
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Die Pabst Brewery in Milwaukee (um 1900)
Flörsheim54 blieben jedoch rare Ausnahmen. Viele Deutschamerikaner bevorzugten konservative und bewährte Geschäftsstrategien und waren weniger risikobereit und innovativ als Angloamerikaner, die das Gros der Millionäre stellten. Ihren Gewinn investierten viele Deutsche lieber in Grundbesitz als für spekulative Unternehmungen. Aufstiegschancen boten sich ihnen vor allem in Bereichen, in denen sie traditionell über das beste Know-How verfügten oder für die es einen großen deutschamerikanischen Absatzmarkt gab, wie die Bierproduktion. Die Bierbrauerei war zweifelsohne der wichtigste Beitrag, den rheinhessische Einwanderer im 19. Jahrhundert für das Wirtschaftsleben der Vereinigten Staaten geleistet haben.55 Die drei größten Brauereien der USA um die Wende zum 20. Jahrhundert wurden von Familien aus unserer Region geleitet: die Anheuser-Busch Brewery in St. Louis, die Pabst Brewery und die Schlitz Brewery, beide in Milwaukee. 54
55
Sebastian Walter (*1848 Ober-Flörsheim, †1922 Milwaukee) wanderte 1866 als 17jähriger Spenglergeselle zu Verwandten nach Milwaukee aus. Als Teilhaber der Blechwaren- und Emaillefabrik Kieckhefer Brothers, die zeitweise der größte Betrieb ihrer Art in den USA war, kam er zu beträchtlichem Wohlstand. Seine Heimatgemeinde bedachte der kinderlose Industrielle mit verschiedenen Schenkungen und Stiftungen, darunter ein 1901 in seiner Gegenwart eingeweihtes Denkmal für die Veteranen des Deutsch-Französischen Krieges von 1870/71. Der Platz vor dem Ober-Flörsheimer Rathaus, auf dem sich das Monument befindet, wurde in Walterplatz umbenannt. Vgl. Helmut Schmahl: „... denn in Deutschland ist ja kein Glück mehr zu hoffen ...“. Zur Lebensgeschichte der Auswandererfamilie Walter in Ober-Flörsheim und Wisconsin, USA. In: Alzeyer Geschichtsblätter 26 (1992), S. 36–54; Ders.: Das Ober-Flörsheimer Kriegerdenkmal und sein Stifter Sebastian Walter. Kirchheimbolanden 2001. Zur Bedeutung rheinhessischer Einwanderer für das amerikanische Brauwesen vgl. Schmahl, Verpflanzt, S. 245–253.
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Die noch heute bestehende Anheuser-Busch Brewery in St. Louis wurde 1870 von Braumeister Eduard Anheuser (aus Kreuznach) und seinem Schwiegersohn Adolphus Busch (aus Mainz-Kastel) gegründet.56 Bereits ein Vierteljahrhundert zuvor, 1844, hatte der aus dem rheinhessischen Mettenheim stammende Philipp Best in Milwaukee eine Brauerei ins Leben gerufen, die sich unter seinem Schwiegersohn, dem Thüringer Frederick Pabst, zu einem landesweiten Konzern entwickelte.57 1858 übernahm der Mainzer Joseph Schlitz ebenfalls in Milwaukee einen Brauerbetrieb, der zum Zeitpunkt seines Todes (1875) jährlich 70.000 Barrels (8,4 Millionen Liter) Bier produzierte.58 Es ist kein Zufall, dass diese und andere Brauer aus einer traditionellen Weinbauregion stammten. Einige von ihnen hatten vor ihrer Auswanderung das Küferhandwerk erlernt und waren daher mit der Wein- und Bierproduktion gleichermaßen vertraut.59 Auch im Weinbau und -handel Nordamerikas spielten Rheinhessen eine wichtige Rolle.60 So reisten die in Milwaukee ansässigen Weinimporteure John P. Kissinger (aus Selzen) und Adam Orth (aus Eich) regelmäßig zum Weinkauf in ihre alte Heimat am Rhein. Allein Orth importierte zwischen 1857 und 1867 104.000 Gallonen (knapp 400.000 Liter) Weine in die USA. Von den zahlreichen deutschamerikanischen Winzerbetrieben, die im 19. Jahrhundert in klimatisch begünstigten Regionen der USA entstanden, sei stellvertretend das 1876 gegründete Weingut der aus Mainz stammenden Brüder Jacob und Frederick Beringer im kalifornischen Napa Valley genannt.61 Es ist das älteste bis heute bestehende Unternehmen in dieser renommierten Weinbauregion. Religiöses Leben In den ländlichen Gebieten waren die Kirchen vor allem während der Besiedlungsphase Hauptzentren des geistlichen und kulturellen Lebens.62 Während in Städten 56
Vgl. Matthias Dietz-Lenssen: Vom Kasteler Wirtssohn zum amerikanischen Brauereimogul: Adolphus Busch ist Begründer der Anheuser-Busch-Brauerei. In: Mainz: Vierteljahreshefte für Kultur, Politik, Wirtschaft, Geschichte 26 (2006), Heft 2, S. 34–39. 57 Vgl. Thomas Childs Cochran: The Pabst Brewing Company: The Model of an American Business. New York 1948. 58 Vgl. Schmahl, Verpflanzt, S. 263–264. 59 Zahlreiche weitere Kurzbiographien ausgewanderter Brauhandwerker aus Rheinhessen finden sich in: One Hundred Years of Brewing: A Complete History of the Progress made in the Art, Science and Industry of Brewing in the World (…). Chicago 1903 (ND 1973). 60 Vgl. Schmahl, Verpflanzt, S. 254–255. 61 Friedrich Ludwig Beringer (*1840 Mainz) und Jacob Friedrich Beringer (*1845 Mainz) waren Söhne des Buchbinders Konrad Ludwig Beringer und seiner Ehefrau Anna Maria Katharina Schuchard (Stadtarchiv Mainz, Familienregister Nr. 7115). Friedrich wanderte 1862 nach New York aus, sein Bruder folgte ihm 1868. Friedrich war zunächst Mälzer, Jacob arbeitete in einer Weinhandlung. In den frühen 1870er Jahren eröffneten sie ihr eigenes Unternehmen in Kalifornien. Vgl. Kevin Goldberg: „Jacob Beringer“ . In: William J. Hausman (Hrsg.): Immigrant Entrepreneurship: German-American Business Biographies, 1720 to the Present: Bd. 2 http:// immigrantentrepreneurship.org/entry.php?rec=4 . 62 Die nachstehenden Ausführungen zu Kirchengemeinden rheinhessischer Siedler in Wisconsin stützen sich auf Schmahl, Verpflanzt, S. 293–319 (dort weiterführende Literatur).
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die deutsche Bevölkerung oft aus den verschiedensten Gegenden stammte, gab es auf dem Land – wie bereits dargelegt – Settlements, in denen Einwanderer aus einem geographisch eng umgrenzten Raum die Mehrheit stellten. Aus diesem Grund ist es wenig erstaunlich, dass sich dort mintunter nicht nur deutsche Kirchengemeinden, sondern – zumindest in den ersten Jahrzehnten – solche mit spezifisch landsmannschaftlicher Prägung bildeten. Dies wird anhand des Beispiels der rheinhessischen Gruppenansiedlung (Darmstädter Settlement) von Washington County/ Wisconsin deutlich. Die 1842 in der Mitte des Townships Germantown in Wisconsin gegründete evangelische Christuskirche wurde im Volksmund „Hunsrücker Kirche“ genannt, weil die meisten ihrer Mitglieder aus der Gegend zwischen Kreuznach und Simmern stammten. Etwa drei Kilometer südöstlich im gleichen Township befand sich die 1843 gegründete evangelische St. Johannesgemeinde, die auch als „Darmstädter Kirche“ bekannt war. Da die meisten rheinhessischen Immigranten im Südosten Wisconsins protestantisch waren, gründeten sie – nach dem Vorbild der evangelischen Kirche in ihrer alten Heimat – ausschließlich Gemeinden evangelisch-unierter Prägung. Andere Einwanderer aus Rheinhessen schlossen sich protestantischen Glaubensrichtungen an, die in ihrer Herkunftsregion unbekannt waren. Prediger verschiedener Gemeinschaften missionierten im Darmstädter Settlement, was in Richfield zur Gründung der Emmanuelgemeinde der methodistisch geprägten Evangelischen Gemeinschaft (1852) und der First Presbyterian Church of Richfield (1862) führte. Manche Immigranten standen den traditionellen Formen des christlichen Glaubens fern und waren bereits in Rheinhessen mit dem Deutschkatholizismus in Berührung gekommen. Die 1844 als Reaktion auf die Trierer Rockwallfahrt gebildete Religionsgemeinschaft war stark rationalistisch geprägt und wurde nach dem Scheitern der Revolution von 1848/49 zum Sammelbecken vieler Demokraten. In den frühen 1850er Jahren bildeten Einwanderer in den meisten Townships des Darmstädter Settlements Freie Gemeinden, die von den freisinnigen Ideen Eduard Schröters zu Milwaukee, vormals Prediger der Deutschkatholiken in Worms, geprägt waren.63 Zu den Grundsätzen dieser Gemeinden gehörten die Ablehnung aller kanonischen Schriften, Gleichstellung von Mann und Frau sowie Heranbildung von freien Menschen durch Unterweisung in Geschichte, Philosophie und Sittenlehre. Jedem Mitglied sollte es freigestellt sein, ob es an eine höhere Macht glauben wollte oder nicht. Organisatorische Probleme führten bereits nach wenigen Jahren zur Schwächung dieser Bewegung im ländlichen Wisconsin. Presse und Literatur Die Zeitung war in den Vereinigten Staaten im 19. Jahrhundert bereits ein Massenmedium. 1847 schrieb ein rheinhessischer Auswanderer seinen Verwandten, man treffe in der Umgebung von Milwaukee kaum einen Farmer, der nicht wenigstens eine deutschsprachige Wochenzeitung abonniert habe.64 63 64
Vgl. Schmahl, Verpflanzt, S. 320–333. Vgl. Schmahl, Verpflanzt, S. 274.
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Die deutschsprachige Presse hatte zwei entgegengesetzte Wirkungen.65 Zum einen verzögerte sie das Erlernen der englischen Sprache, da man den Inhalt in der vertrauten Muttersprache lesen konnte. Auf der anderen Seite hatten deutsche Zeitungen in den Vereinigten Staaten die gleiche Aufmachung wie englischsprachige Blätter und standen meist im Dienst einer politischen Partei. Sie dienten der Instrumentalisierung der Deutschen für einen politischen Zweck, und noch wichtiger: Sie machten die Adoptivbürger mit Regierungsform, Lebenssitten und Kultur der Amerikaner vertraut. Auch einige rheinhessische Auswanderer betätigten sich als Verleger bzw. Journalisten deutschsprachiger Zeitungen in den Vereinigten Staaten. Der bekannteste von ihnen war der Rechtsanwalt Emil Preetorius (1827 Alzey – 1905 Saint Louis), der sich als Jurastudent in der Revolution von 1848 engagiert hatte und nach deren Niederschlagung nach Amerika emigrierte. Preetorius gründete 1862 in Saint Louis seine erste Zeitung „Die neue Zeit“. Nach der Fusion mit der „Westlichen Post“ 1864 entwickelte sich dieses Blatt zur zweitgrößten deutschsprachigen Zeitung der USA. Daneben war Preetorius in der Republikanischen Partei aktiv und bekämpfte die Sklaverei, die in seinem Heimatstaat geduldet wurde.66 Im Amerikanischen Bürgerkrieg organisierte er die Rekrutierung von Regimentern deutscher Einwanderer, die für die Nordstaaten kämpfen sollten. 1862 wurde Preetorius zum Mitglied des Repräsentantenhauses von Missouri gewählt. Der Zeitungsverleger Jakob Feudner (1854 Uffhofen – 1931 Oshkosh/Wisconsin) war ein Beispiel für rasche Akkulturation. Er war 1869 in den Staat Indiana gekommen, wo er zunächst als Bäcker gearbeitet hatte. 1875 wurde er Drucker im Verlag der englischsprachigen Zeitung „The Rushville Republican“. 1884 erwarb er den Mehrheitsanteil dieser Provinzzeitung, zwischen 1903 und 1918 war er ihr alleiniger Besitzer.67 Im 19. Jahrhundert entwickelte sich allmählich eine deutschamerikanische Literaturszene, die bislang nur in Ansätzen erforscht ist.68 Von den zahlreichen Schriftstellern und Dichtern erreichten nur wenige überregionale Bedeutung, wie der Lyriker Konrad Nies aus Alzey (1861–1921).69 1883 wanderte der Bäckersohn und gelernte Schauspieler aus und trat auf Bühnen in Cincinnati, Buffalo, Milwaukee und anderen Städten mit hohem deutschsprachigem Bevölkerungsanteil auf. Seinen Lebensunterhalt bestritt er hauptsächlich als Deutschlehrer an einer High School in Newark. Zwischen 1887 und 1890 gab Nies in New York die Zeitschrift „Deutsch-amerikanische Dichtung“ heraus. Er veröffentlichte weiterhin mehrere 65 66 67 68 69
Vgl. Susan J. Kuyper: The Americanization of German Immigrants: Language, Religion, and Schools in Nineteenth Century Rural Wisconsin. Diss. (masch.) University of Wisconsin 1980, S. 31. Vgl. Manfred H. W. Köhler: Die besten Deutschen sind auch die besten Amerikaner – Zum 100. Todestag des aus Alzey stammenden Nestors der amerikanischen Journalistik Emil Preetorius (1827–1905). In: Heimatjahrbuch des Landkreises Alzey-Worms 40 (2005), S. 70–72. Vgl. seinen Nachruf im Rushville Republican vom 1.7.1931. Vgl. das biographische Kompendium deutschamerikanischer Dichterinnen und Dichter, die in ihrer Muttersprache publizierten: Robert E. Ward: A Bio-Bibliography of German-American Writes, 1670-1970. White Plains/NY 1985. Vgl. Regine Wieder: The Rediscovery of Konrad Nies. In: Yearbook of German-American Studies 34 (1999), S. 141–152.
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Bände seiner Lyrik, die nicht nur unter Deutsch-Amerikanern, sondern auch in Deutschland Beachtung fanden. Nies fühlte sich unter anderem von der Sagenfigur Volker von Alzey inspiriert, weshalb er zeitweise den Künstlernamen Konrad von Alzey trug und die Novelle „Die Volkerfiedel“ veröffentlichte. Sein Gedicht „Die Rache der Wälder“, das die rücksichtslose Ausbeutung der Natur bei der Erschließung des amerikanischen Kontinents anprangerte, wurde auf einem Lyrikfestival in Baltimore 1904 mit einem Preis ausgezeichnet. Ein weiterer aus Alzey stammender amerikanischer Dichter war Jakob Heintz (*1833), der 1849 ausgewandert war. Er betrieb mit seinen Brüdern in New York ein Möbelgeschäft und war im New Yorker Turnverein sehr aktiv. Heintz schrieb zahlreiche Turnlieder, die er 1888 unter dem Titel „Aus Mußestunden“ veröffentlichte.70 Der gebürtige Niersteiner Wilhelm Dilg (*1837), reisender Vertreter einer Buchhandlung in Milwaukee, machte 1866 mit einer in Reime gefassten Übersetzung der späteren amerikanischen Nationalhymne auf sich aufmerksam.71 Er veröffentlichte sie in einem Gedichtband, in dem er ansonsten vorzugsweise germanische und indianische Sagen thematisierte.72 Vereinswesen Ebenso wie in Deutschland schlossen sich viele Immigranten in den USA zu Vereinen zusammen. Man pflegte die Geselligkeit unter Landsleuten und ging gemeinsamen Neigungen nach. Hauptsächlich handelte es sich hierbei um Turn-, Gesangund Unterstützungsvereine.73 In den deutschen Stadtvierteln von New York, Milwaukee, Cincinnati, St. Louis entstanden weiterhin Vereinigungen, die sich dem Theater-, Musik- und Bildungswesen widmeten. Initiatoren waren oft Intellektuelle, die Deutschland nach dem Scheitern der Revolution von 1848 verlassen hatten. Besonders landsmannschaftliche Vereine boten Neuankömmlingen gute Möglichkeiten zur Integration. Die Rheinhessen bildeten nur wenige Vereine, wie zum Beispiel den Alzeyer Krankenunterstützungsverein von New York.74 Der bekannteste „rheinhessische“ Verein war der 1859 gegründete Mainzer Carnevalsverein 70 71
72 73 74
Vgl. Heintz’ Kurzbiographie und den Abdruck einiger seiner Gedichte bei Gustav Adolf Zimmermann (Hrsg.): Deutsch in Amerika. Beiträge zur Geschichte der Deutsch-amerikanischen Literatur. Chicago 1892, S. 128. Die erste Strophe seiner Nachdichtung lautete: „Sprich, siehst du im dämmernden Morgenlicht klar / Was so stolz wir begrüßt in des Abendroths Gluten, / Dessen Streifen und Sterne in Kampfes-Gefahr / Ueber’m Walle wir sah’n in der Luft stattlich fluten? / Der Raketen Gezisch und der Bomben Gekrach / Zeigt’ uns, daß dem Feind unsre Flagg‘ nicht erlag! – / O sprich, ob das Banner, mit Sternen besä’t, / Ueber’m Lande der Freien und Braven noch weht?“ (Henricus vom See: Gedichte. Milwaukee 1866, S. 197). Zu Dilg vgl. Zimmermann, Deutsch in Amerika, S. 77–79. Vgl. Harzig, Lebensformen, S. 168–169. Am 22.6.1901 berichtete die Alzeyer Zeitung unter Berufung auf die in New York erscheinende Hessen-Darmstädter Zeitung: „Der ... Verein hat sein Versammlungslokal nunmehr in Mitglied Fritz Dörrhöfers Weinklause verlegt und fühlt sich natürlich beim langen Fritz von Alzey äußerst heimisch.“
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von New York.75 In anderen amerikanischen Städten schlossen rheinhessische Einwanderer sich Pfälzer Organisationen an. Die von Einwanderern aus der Nachbarregion veranstalteten wein- und bierseligen Feste, wie der Dürkheimer Wurstmarkt oder die Edesheimer Kerwe in Milwaukee, erfreuten sich großer Beliebtheit.76 Vereine und Feste trugen maßgeblich zur Entstehung eines deutschamerikanischen Bewusstseins bei. So stellte Franz Löher 1847 in Hinblick auf Cincinnati, wo viele Ingelheimer zu finden waren, fest: „Allen Deutschen, nicht nur in Ohio, sondern im ganzen Staatenbunde, leuchten ihre Landsleute zu Cincinnati vor, bei diesen ist das deutsche Leben am regsten und am fröhlichsten. Da sie ihre weitgedehnten Stadttheile für sich bilden, so fühlen sie kein Bedürfniß und keine Eitelkeit, mit den Englischen anders als in Geschäften und Stadtangelegenheiten zu verkehren.“77 Nativismus und Politik Die starke Präsenz deutscher Einwanderer wurde von vielen alteingesessenen Angloamerikanern mit immer größerer Sorge gesehen.78 Die Nachfahren der Puritaner gehörten verschiedenen protestantischen Kirchen an und legten großen Wert auf strenge Sonntagsheiligung. Viele von ihnen waren Anhänger der Abstinenzbewegung und forderten das Verbot des Verkaufs alkoholischer Getränke. Ihre Lebensund Denkweise unterschied sich in vieler Hinsicht von ihren deutschen Nachbarn, daher musste es zu zahlreichen Vorurteilen auf beiden Seiten kommen. Deutsche wurden von den Yankees als sparsam und fleißig eingestuft. Als Handwerker und Farmer waren sie geschätzt. Mit Missfallen wurde jedoch zur Kenntnis genommen, dass viele Deutsche den Sonntag eher zur Erholung als zur Erbauung nutzten und sie in ihren zahlreichen Gaststätten dem Alkohol in geselliger Runde zusprachen. Die Charaktereigenschaften des Yankees aus deutscher Sicht lassen sich am besten mit dem Wort smart umschreiben. Dieses Adjektiv hat zahlreiche Bedeutungen, die sich die Angloamerikaner zum Teil selbst zuschrieben, wie intelligent, geschickt, flink und schlagfertig. Deutsche dachten jedoch eher an negative Konnotationen des Wortes, wie geschäftstüchtig und gerissen. Viele deutsche Einwanderer hatten eine weit höhere Achtung für das amerikanische Regierungssystem als für die Amerikaner selbst. Mitunter behaupteten sie, die Ideale des Landes besser zu verstehen als die Einheimischen selbst, die durch Zufall in dem Land geboren worden waren. Die von der angloamerikanischen Bevölkerung abweichenden Lebensformen deutscher und irischer Einwanderer, Konkurrenzneid auf dem Arbeitsmarkt und vor allem ihre Zugehörigkeit zur katholischen Kirche (rund 1/3 der Deutschen in den USA waren katholisch) führten unter Teilen der einheimischen Bevölkerung zu Überfremdungsängsten und zur Forderung nach Beschränkung der Einwanderung. 75 76 77 78
Vgl. Matthias Dietz-Lenssen: Narrhalla-Marsch in der Neuen Welt. In: Aufbruch nach Amerika, S. 73–79. Vgl. Beispiele aus Milwaukee bei Schmahl, Verpflanzt, S. 284. Franz Löher: Geschichte und Zustände der Deutschen in Amerika. Cincinnati 1847, S. 330. Ich folge, wenn nicht anders angegeben, meiner Darstellung in Verpflanzt, aber nicht entwurzelt, S. 261–272.
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Ihren Höhepunkt erreichte die fremdenfeindliche Stimmung Anfang der 1850er Jahre, als die American Party (Know-Nothing-Party) mit dem Motto „Wessen Land ist dies eigentlich?“ („Whose country is that anyway?“) beachtliche Wahlerfolge verbuchen konnte. In vielen Städten mit starker deutscher oder irischer Präsenz kam es zu Auseinandersetzungen, beispielsweise bei den „Bierkrawallen“ (beer riots) in Chicago 1855, wo es zu Tumulten zwischen amerikanischen Polizisten und deutschen Immigranten kam, die eine Beschneidung ihres Rechtes auf Bierkonsum fürchteten.79 Mitunter kam es sogar zu Fällen von Lynchjustiz, wie in West Bend/ Wisconsin, wo im gleichen Jahr mehrere Deutsche – darunter rheinhessische Einwanderer – Lynchjustiz an einem nativistischen Angloamerikaner verübten, der wiederum einen Deutschen getötet hatte.80 Der politische Einfluss der Know-Nothings war nur von kurzer Dauer, dennoch blieben zahlreiche Vorurteile gegen deutsche Immigranten bestehen. Viele Deutsche zeigten Jahrzehnte nach ihrer Einwanderung wenig Neigung, die englische Sprache zu lernen und ihren von vielen Angloamerikanern als anstößig empfundenen Lebensstil zu ändern. Ethnisch geprägte Viertel, wie „Little Germany“ in New York oder „Over the Rhine“ in Cincinnati, deutsche Schulen, Zeitungen und Kirchengemeinden erleichterten den Immigranten zwar die Integration, zugleich wurden sie jedoch als „Zeichen mangelnder Anpassungsbereitschaft und als Rückzug in eine vermeintlich homogene ethnische Kultur verstanden“.81 Die Masse der deutschen Einwanderer identifizierte sich mit den beiden großen amerikanischen Parteien. Kleine Gruppen von Achtundvierzigern und späterer Immigranten, die aufgrund von Bismarcks „Sozialistengesetz“ auswanderten, wurden jedoch von Angloamerikanern mit Argwohn betrachtet, da sie sozialistische Ideen verbreiteten, die als unvereinbar mit den amerikanischen Grundwerten betrachtet wurden.82 Schluss Um die Wende zum zwanzigsten Jahrhundert stellten deutsche Einwanderer und ihre Kinder zehn Prozent der US-Bevölkerung. Die meisten Immigranten waren schon seit Jahrzehnten im Land, und es gab kaum noch Zuzüge aus der alten Heimat, die dem ethnischen Gemeinschaftsleben hätten neue Impulse geben können. Die Heterogenität der Deutschamerikaner, ökonomische Integration und die fortgeschrittene Akkulturation führten insbesondere in städtischen Gebieten zu einem Wandel. Zahlreiche deutschsprachige Zeitungen stellten ihr Erscheinen ein, und immer weniger Gottesdienste wurden in der Sprache Luthers gehalten. Organisationen wie der Deutsch-Amerikanische Nationalbund – bei dem der erwähnte Dichter Konrad Nies eine Rolle spielte – bemühten sich, den Wandel zu stoppen. Ihr „kultureller Chauvinismus“ 83, insbesondere ihr „Glaube an eine vermeintlich über79 80 81 82 83
Vgl. Monika Blaschke: ‚Deutsch-Amerika’ in Bedrängnis: Krise und Verfall einer ‚Bindestrichkultur’. In: Bade, Deutsche im Ausland, S. 172–173. Vgl. Schmahl, Verpflanzt, S. 210–211. Blaschke, Deutsch-Amerika, S. 173. Blaschke, Deutsch-Amerika, S. 174–175. Zitate bei Blaschke, Deutsch-Amerika, S. 177.
Die rheinhessische Auswanderung nach Nordamerika
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legene deutsche Kultur“ wurde jedoch von den meisten Amerikanern deutscher Abstammung mit Gleichgültigkeit wahrgenommen. Dennoch war die große Mehrzahl der Deutschamerikaner zu Beginn des Ersten Weltkriegs eindeutig auf der Seite ihres alten Vaterlandes. Die Kriegserklärung der Vereinigten Staaten an Deutschland am 6. April 1917 war für viele von ihnen ein schwerer Schock. Deutschamerikaner galten als suspekt; schon der Gebrauch der deutschen Sprache genügte, um ihre Loyalität in Frage zu stellen. Es entstand eine landesweite Hysterie gegen alles Deutsche. Bach und Beethoven wurden von Konzertprogrammen gestrichen, Straßen und Geschäfte umbenannt, sogar Sauerkraut zeitweise in liberty cabbage verwandelt. Diese traumatische Erfahrung hatte zur Folge, dass viele Familien mit deutschen Wurzeln nun ihre Herkunft verleugneten und sich bemühten, sich so gut wie möglich an die angloamerikanische Mehrheitsgesellschaft anzupassen. Im zwanzigsten Jahrhundert kam es immer wieder zu Auswanderungsschüben aus Rheinhessen in die Vereinigten Staaten, vor allem in den Inflationsjahren nach dem Ersten Weltkrieg, in der NS-Zeit aufgrund politisch oder rassistisch motivierter Verfolgung oder in den Nachkriegsjahren bis zum Beginn des „Wirtschaftswunders“. Es würde jedoch den Rahmen dieses Beitrags sprengen, hierauf ausführlich einzugehen. Erstaunlicherweise spielt die Auswanderung im kollektiven Gedächtnis der Rheinhessen im Vergleich zur benachbarten Pfalz oder dem Hunsrück eine untergeordnete Rolle, obwohl die Wanderungsintensität nicht viel geringer gewesen sein dürfte. Eine mögliche Erklärung hierfür könnte darin liegen, dass die Lebensverhältnisse im fruchtbaren Rheinhessen im Vergleich zu seinen benachbarten Mittelgebirgsregionen deutlich besser waren und das oft mit der Auswanderung assoziierte Thema der „Armut“ im öffentlichen Diskurs der Region keine zentrale Rolle spielte. Ein Indiz hierfür ist das euphorische Bild, das der Mainzer Regierungssekretär Joseph Jérôme bereits 1824 von Rheinhessen und seinen Ressourcen zeichnete: „Der Rheinhesse liebt das Land, auf dem er sich um sein Leben plaget; man hört nur wenig von Auswanderungen oft bei einer schrecklichen Noth, deren Beschreibung nicht zu diesem Gemälde paßt.“84 Zu diesem Zeitpunkt bereiteten sich Hunderte von Bewohnern in der Gegend zwischen Alzey und Wöllstein zur Übersiedlung nach Brasilien vor. Auch spätere Charakteristiken „des“ Rheinhessen bestätigen das Bild, dass die Massenauswanderung des 19. Jahrhunderts in der rheinhessischen Erinnerungskultur kaum präsent war. Seit den 1980er Jahren hat die verstärkte Beschäftigung mit dem Migrationsgeschehen in der orts- und regionalgeschichtlichen Forschung85 sowie in der Literatur- und Kunstszene dazu geführt, dass die Auswanderung zunehmend zu einem „lieu de mémoire“ unserer Region geworden ist. 84 85
Joseph Jérôme: Statistisches Jahrbuch der Provinz Rheinhessen. Mainz 1824, S. 45–46. Von den zahlreichen Aktivitäten seien hervorgehoben : Das von der rheinland-pfälzischen Landesregierung und zahlreichen Kooperationspartnern veranstaltete Jubiläumsjahr „1709–2009: 300 Jahre Massenauswanderung aus Rheinland-Pfalz“, das auch in Rheinhessen mit einer Ausstellung in Alzey und Mainz sowie weiteren Veranstaltungen begangen wurde, und das vom Institut für Geschichtliche Mainz aufgebaute Internetportal www.auswanderung-rlp.de, das zahlreiche Beiträge zur rheinhessischen Auswanderungsgeschichte enthält.
Hedwig Brüchert
Rheinhessische Städte in der Industrialisierung – Vorreiter beim Arbeiterschutz und in der kommunalen Wohnungsfürsorge Als das zuvor kurfürstliche Mainz mit seinem linksrheinischen Umland nach dem Wiener Kongress dem Großherzogtum Hessen zugeteilt wurde, besaß diese neu geschaffene „Provinz Rheinhessen“ nur noch geringe politische Bedeutung, so wie auch das gesamte Großherzogtum im Reigen der neu zugeschnittenen deutschen Einzelstaaten eine eher unwichtige Rolle spielte. Dies änderte sich auch nicht bis zum Ende des Kaiserreichs und mag vielleicht die geringe Wahrnehmung erklären, die diesem Gebiet durch die historische Forschung zuteil wurde.1 Doch dieses Gebiet am Rhein, das von 1797 bis 1814 als „Département Mont Tonnère“ Teil des französischen Staates war, hatte im frühen 19. Jahrhundert starke gesellschaftliche und wirtschaftliche Veränderungen erfahren. So galt hier dank des „Code Civil“ die Gewerbefreiheit. Schon bald setzte auch in der Provinz Rheinhessen die Industrialisierung ein, auch wenn diese Entwicklung im Großherzogtum, in dem es kaum Rohstoffe gab und der größte Teil der Menschen von der Landwirtschaft lebte, eher zögerlich vonstatten ging. Es bildete sich in den Kommunen eine neue lokale Führungsschicht von bürgerlichen Unternehmern heraus; und vor allem in den beiden größten Städten Rheinhessens, Mainz und Worms, stellten „Fabriken“, auch wenn sie zunächst klein waren, bald die wichtigsten Arbeitgeber dar. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts wies von den fünf größten Städten im Großherzogtum Hessen-Darmstadt allein Offenbach einen höheren Industrialisierungsgrad auf. Als ein Indiz dafür, welchen Entwicklungsschub dies für Rheinhessen bewirkte, kann ein Ereignis des Jahres 1842 betrachtet werden: In Mainz fand vom 15. September bis 15. Oktober 1842 die erste Allgemeine Deutsche Industrieausstellung statt. Dazu hatte selbstbewusst der „Gewerbverein für das Großherzogtum Hessen“ eingeladen. Mehrere hundert Unternehmen aus fast allen deutschen Einzelstaaten stellten mehrere Tage lang im Deutschhaus (dem heutigen Landtagsgebäude) und in einem großen Zelt im Hof des Deutschhauses ihre Produkte aus. Im Lauf der vier Wochen wurden mehr als 75.000 Besucher gezählt.2 1842 hielt auch die erste Dampfmaschine Einzug in Mainz, nämlich in der Möbelfabrik Anton 1
2
Die Literatur zur Urbanisierung und Industrialisierung Deutschlands widmet sich vor allem Preußen und den anderen großen Einzelstaaten. Deshalb wurden frühe Modernisierungsentwicklungen und Besonderheiten gerade in den linksrheinischen, vom Code Civil der „französischen Zeit“ geprägten Gebieten häufig übersehen. Siehe dazu Hektor Rössler: Ausführlicher Bericht über die v. d. Gewerbverein f. d. Gr. Hessen i. J. 1842 veranst. allgemeine deutsche Industrie-Ausstellung zu Mainz…, Darmstadt 1843; Friedrich Schütz: Schauplatz der ersten deutschen Industrieausstellung 1842. In: Helmut Mathy (Red.): Die erste Adresse des Landes Rheinland-Pfalz. Geschichte des Deutschhauses in Mainz, hg. vom Landtag Rheinland-Pfalz. Mainz 1990, S. 139–162.
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Hedwig Brüchert
Bembé. Die Wormser Lederfabriken folgten in den frühen 1850er Jahren nach und setzten nun ebenfalls Maschinenkraft ein. In dieser Zeit übten die Städte wegen der neu entstehenden industriellen Arbeitsplätze eine große Anziehungskraft aus, so dass die Bevölkerung durch Zuzug vom Land rasch wuchs. Die Einwohnerzahl von Mainz stieg zwischen 1850 und 1900 auf mehr als das Doppelte an; 1913, am Vorabend des Ersten Weltkriegs, zählte die Stadt (nach den ersten Eingemeindungen und einschließlich der Garnison) bereits rund 122.000 Menschen. Besonders rasch legte die Bevölkerung von Worms zu: von rund 10.000 im Jahr 1855 auf rund 40.000 bis 1900. Die Industrialisierung brachte allerdings neue Probleme für die Menschen mit sich. Immer längere Arbeitszeiten, ungesunde Arbeitsbedingungen in den Fabriken bei noch fehlenden Schutzvorschriften, eine schlechte Ernährung infolge niedriger Löhne und steigender Lebensmittelpreise sowie ungesunde Wohnverhältnisse, ausgelöst durch mangelnde sanitäre Einrichtungen und eine starke Überbelegung der Kleinwohnungen als Folge von hohen Mieten führten dazu, dass sich die Lebensbedingungen für einen großen Teil der Arbeiterschaft zunehmend verschlechterten. So stellte sich die „Soziale Frage“ in den zwei größten Städten Rheinhessens früher und dramatischer als in den Kleinstädten und Landgemeinden. Im Folgenden soll aufgezeigt werden, mit welchen Maßnahmen diese beiden Städte versuchten, den offenkundigen sozialen Missständen zu begegnen. Dabei wurden sie durch die Gesetzgebung des Großherzogtums Hessen unterstützt. In der Zweiten Kammer des Darmstädter Landtags setzten sich die rheinhessischen Abgeordneten Ende des 19. Jahrhunderts, als die Not der Arbeiterfamilien unübersehbar geworden war und die Organisationen der Arbeiterbewegung erstarkten, dafür ein, Lösungen für die sozialen Probleme zu finden. Obwohl es sich beim Großherzogtum nur um einen kleinen Einzelstaat handelte, in dem Rheinhessen wiederum die kleinste der drei Provinzen bildete, kann diese Region auf einigen Gebieten in sozialpolitischer Hinsicht reichsweit als Vorreiter angesehen werden. Ich möchte hier einerseits den Bereich der Gewerbeinspektion und der sogenannten „Arbeiterschutzanstalten“ (Gewerbegerichte, städtische Arbeitsvermittlungsstellen und kommunale Arbeitslosenunterstützung), andererseits die Wohnungsfürsorge als Beispiele herausgreifen. Die hessische Fabrikaufsicht Der Ausbau der hessischen Gewerbeinspektion war für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen von allergrößter Bedeutung. Die Gewerbeordnungsnovelle von 1878 hatte zwar bereits die Anstellung von Gewerbeaufsichtsbeamten in allen deutschen Einzelstaaten vorgeschrieben. Wegen der viel zu geringen Zahl von Beamten und uneinheitlichen Regelungen war ihre Tätigkeit jedoch zunächst wenig effektiv. Erst die durch den preußischen Handelsminister von Berlepsch im Jahr 1890 auf den Weg gebrachte Neuordnung der Gewerbeaufsicht in Preußen, die von allen Einzelstaaten übernommen wurde, führte zu einer wirksameren Fabrikaufsicht.3 3
Siehe Hans-Jörg von Berlepsch: „Neuer Kurs“ im Kaiserreich? Die Arbeiterpolitik des Freiherrn von Berlepsch 1890 bis 1896 (Politik und Gesellschaftsgeschichte, Bd.16). Bonn 1987.
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Im Großherzogtum Hessen hatte man 1878 zunächst nur einen einzigen Fabrik-inspektor ernannt. 1889 wurde das Staatsgebiet dann in zwei Aufsichtsbezirke geteilt; allerdings hatten beide Inspektoren ihren Dienstsitz noch in Darmstadt. 1894 verlegte man den Amtssitz des Inspektors für den zweiten Aufsichtsbezirk, welcher die Provinzen Oberhessen und Rheinhessen umfasste, dann nach Mainz, was zumindest für die rheinhessischen Fabrikarbeiter eine deutliche Verbesserung brachte. Der Inspektor, Theodor Baentsch, hatte in Rheinhessen nun kurze Wege und konnte regelmäßige Inspektionen vornehmen. Doch auch die Arbeiter konnten ihn leichter erreichen, wenn sie eine Beschwerde vorbringen wollten. Allerdings hatten Arbeiter oft Repressalien durch ihren Arbeitgeber zu befürchten, wenn beobachtet wurde, dass sie den Inspektor aufsuchten, so dass sie sich lange Zeit lieber an die Beschwerdekommission des Gewerkschaftskartells Mainz wandten, die dann ihrerseits mit dem Inspektor Kontakt aufnahm.4 1894 erhielten beide Inspektoren zusätzlich einen Assistenten, der vorwiegend für die Dampfkesselrevision eingesetzt wurde. 1898 wurde das Großherzogtum dann in vier Aufsichtsbezirke unterteilt; der Mainzer Inspektor war nun ausschließlich für Rheinhessen zuständig. Außerdem wurde den Inspektionen Mainz und Offenbach nun je eine Assistentin zugeteilt. Damit war das Großherzogtum Hessen der erste deutsche Staat, der weibliches Personal in der Fabrikaufsicht einsetzte, und folgte damit einer Petition des Bundes deutscher Frauenvereine aus dem Jahr 1895, welcher die Anstellung von Fabrikinspektorinnen gefordert hatte. Während einige Landtage lediglich mit Spott und Heiterkeit reagiert hatten, griffen beide Kammern des hessischen Landtags diesen Vorschlag auf und überzeugten schließlich die Regierung. Begründet hatten die Frauenvereine ihren Antrag damit, dass viele Arbeiterinnen Scheu hätten, sich mit einer Beschwerde an einen männlichen Inspektor zu wenden. Tatsächlich kam es öfters vor, dass die Beschwerden der Frauen von deren Ehemännern an den Gewerbeinspektor herangetragen wurden.5 Allerdings hatten die hessischen Assistentinnen nicht den Rang eines Inspektors und besaßen nur eingeschränkte Aufsichtsbefugnisse. Sie durften nur Fabriken inspizieren, in denen Frauen beschäftigt waren, und sie durften die Unternehmer nicht in technischen Fragen beraten. Die Einstellung von weiblichem Personal in der Gewerbeaufsicht stieß zunächst auf große Ablehnung sowohl bei den Unternehmern als auch bei den Inspektoren selbst. Auch von den Arbeiterinnen wurden sie nicht sofort akzeptiert. In Mainz besserte sich die Situation erst, nachdem 1901 die Stelle – nach dem Ausscheiden der jungen, unverheirateten ersten Assistentin – mit einer verwitweten etwas älteren Frau, Albertine d’Angelo, besetzt wurde, die offenbar mehr Autorität ausstrahlte.6 Angesichts der gegen Ende des 19. Jahrhunderts rasch steigenden Zahlen von Fabrikarbeitern beschloss die großherzogliche Regierung im Jahr 1901, den Auf4 5 6
Hedwig Brüchert-Schunk: Städtische Sozialpolitik vom Wilhelminischen Reich bis zur Weltwirtschaftskrise. Eine sozial- und kommunalhistorische Untersuchung am Beispiel der Stadt Mainz 1890–1930 (Geschichtliche Landeskunde Bd. 41). Stuttgart 1994, S. 80. Elisabeth Süersen: Die Frau im Gewerbeaufsichtsdienst der deutschen Einzelstaaten, München, Leipzig 1918, S. 7–10; vgl. auch Stephan Poerschke: Die Entwicklung der Gewerbeaufsicht in Deutschland, Jena ²1913, S. 171. Brüchert-Schunk, Sozialpolitik, S. 81f.
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sichtsbezirk Rheinhessen nochmals zu unterteilen. Die Kreise Worms, Alzey und Oppenheim wurden von der Mainzer Gewerbeinspektion abgetrennt und erhielten einen eigenen Inspektor mit Sitz in Worms. Dies war alleine durch die hohe Zahl an Arbeitsplätzen in den großen Wormser Lederfabriken geboten. 1907 erhielt jede Inspektion einen zusätzlichen Gehilfen aus der Arbeiterschaft, so dass in HessenDarmstadt nun insgesamt 15 Kräfte in der Fabrikaufsicht tätig waren.7
Arbeiterinnen in einer Wormser Lederfabrik
Die Gewerbeaufsicht hatte eine sehr positive Auswirkung auf die Wahrnehmung von Missständen in den Fabriken und auf die schrittweise Verbesserung der Arbeitsbedingungen hinsichtlich Verkürzung der Arbeitszeiten, Verbot von Sonntagsund Frauennachtarbeit, Verbot von Kinderarbeit, Arbeitssicherheitsvorschriften u.a. Allerdings durften die Inspektoren nicht alle gewerblichen Betriebe inspizieren, sondern nur „Fabriken“ mit mindestens 20 Arbeitskräften. 1897 wurden dann auch Werkstätten mit mindestens 10 Arbeitern der Aufsicht unterworfen, wenn dieser Betrieb mit einer Dampfmaschine ausgestattet war.8 Dennoch machten die Inspektoren häufig aus eigener Initiative auch auf Probleme außerhalb dieser Betriebe aufmerksam, z.B. auf die Kinderarbeit. Die jährlichen Berichte der Gewerbeinspektoren wurden gedruckt und im Landtag diskutiert, wodurch die Ergebnisse eine weite Verbreitung erfuhren. In diesen Berichten war jeweils ein eigenes Kapitel der sozialen Lage der Arbeiterfamilien gewidmet, in dem u.a. die hohen Mietpreise in den Städten thematisiert wurden. 7 8
Walter Meyer: Die hessische Gewerbe-Aufsicht seit 1890. Diss. Gießen 1929, S. 11ff. Jahresberichte der Hessischen Gewerbeinspektionen, 1897, S. 1ff.
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Gewerbegerichte Am 28. Juni 1890 beschloss der Reichstag das „Gesetz über die Einführung von Gewerbegerichten“. Es ermächtigte die Gemeindebehörden und Kommunalverbände, „nach Bedürfnis oder Zweckmäßigkeit das Gericht einzurichten“.9 Die Gemeinden mussten auch die Kosten tragen. Erst 1901 wurde die Schaffung eines solchen Gerichts für Gemeinden mit über 20.000 Einwohnern obligatorisch. Die Mainzer Bürgermeisterei legte umgehend ein Statut für ein Gewerbegericht vor. Alle beteiligten Institutionen stimmten zu, im Januar 1891 beschloss die Stadtverordnetenversammlung den Entwurf, der wenig später von der Großherzoglichen Regierung genehmigt wurde. Im März 1891 wählte die Stadtverordnetenversammlung den Beigeordneten Dr. Heinrich Gaßner zum Vorsitzenden des Gerichts. Im April wurden die Beisitzer gewählt, und am 1. Juli 1891 trat das Gremium zu seiner ersten Sitzung zusammen. Nach Aussage von Gaßner war Mainz damit die erste Stadt des Reiches, die ein solches Gericht auf der Basis des neuen Gesetzes installiert hatte.10 Die Gewerbegerichte waren Laiengerichte, die in arbeits- und sozialrechtlichen Streitigkeiten zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern rasch und billig schlichten sollten. Das Neue und Besondere an diesen Institutionen war, dass die 52 gewählten Beisitzer, von denen je zwei für jeweils zwei Kalenderwochen pro Jahr per Los zu den Sitzungen berufen wurden, zur Hälfte Arbeitnehmer- und zur Hälfte Arbeitgebervertreter waren. Mit diesem paritätisch besetzten Gericht war erstmals die Gleichberechtigung der Arbeiterschaft verwirklicht, was auch Signalwirkung für andere Gremien und die Wahlrechtsdiskussion hatte.11 Von den Arbeitern wurden diese Gerichte aufgrund ihrer Zusammensetzung im Gegensatz zu den ordentlichen Gerichten sogleich akzeptiert und stark genutzt. Um ihnen die Anrufung des Gewerbegerichts auch finanziell zu ermöglichen, hatte man im Mainzer Ortsstatut Rechtsanwälte ausgeschlossen. Das Gericht war für alle Gesellen, Gehilfen, Fabrikarbeiter und Lehrlinge zuständig, sofern sie nicht einem Innungsschiedsgericht unterstanden. Mehr als drei Viertel aller anhängigen Fälle wurden innerhalb einer Woche erledigt, meist durch einen Vergleich, Verzicht oder Zurücknahme der Klage. Nur etwa in jedem fünften Fall erfolgte ein Urteilsspruch. Die Klagen von Arbeiterseite betrafen meist säumige Lohnzahlungen, Entlassung ohne Kündigungsfrist, die verweigerte Rückgabe von Arbeitspapieren oder Verweigerung von Zeugnissen. Arbeitgeber klagten meist wegen widerrechtlichen Verlassens oder Nichtaufnahme der Arbeit. Bis zum Geschäftsjahr 1893/94 war die Zahl der Fälle bereits auf über 400 angestiegen. Das erfolgreiche Arbeiten des Gewerbegerichts und seine Akzeptanz auf beiden Seiten wurden nicht zuletzt seinem Vorsitzenden Dr. Gaßner zugute 9 10 11
Das Gewerbegericht in Mainz, in: Mainzer Anzeiger vom 11.6.1891. Ebenda; siehe auch: Aus der Geschichte des Mainzer Gewerbegerichts. In: (Mainzer) Volkszeitung vom 1.7.1927. Adelheid von Saldern: Gewerbegerichte im Wilhelminischen Deutschland. In: Wissenschaft, Wirtschaft und Technik, Studien zur Geschichte. Wilhelm Treue zum 60. Geburtstag, hg. v. Karl-Heinz Mangold. München 1969, S.190–203, hier: S. 199.
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gehalten, der auch nach seiner Wahl zum Oberbürgermeister im Jahr 1894 dieses Amt weiterhin ausübte. Er hatte überdies die Gründung des „Verbandes deutscher Gewerbegerichte“ initiiert, der sich am 11. Juni 1892 in Mainz konstituierte und dem Erfahrungsaustausch der Städte untereinander diente. Gaßner hatte bis zu seinem Tod im Jahr 1905 den Vorsitz inne. In Nachrufen wurden seine Verdienste um diesen Verband reichsweit gewürdigt.12 Auch in Worms nahm am 10. Mai 1895 ein Gewerbegericht mit paritätisch besetztem Beisitzergremium seine Tätigkeit auf.13 Die Einrichtung wirkte ebenso erfolgreich wie ihr Mainzer Pendant; diese Institutionen trugen im hohen Maße zu gerechten Urteilen bei Arbeitsstreitigkeiten und damit zur Wahrung des sozialen Friedens bei. Städtische Arbeitsnachweisstellen (Arbeitsämter) In beiden Städten wurden wenig später auch städtische Arbeitsnachweisstellen geschaffen. Von solchen seit längerem geforderten Einrichtungen erhoffte man sich, neben der Ausschaltung von unseriösen privaten Vermittlern, einen Überblick über den Arbeitsmarkt und über das Ausmaß von Arbeitslosigkeit zu erhalten. Im Deutschen Reich gab es keine Arbeitslosenstatistik und auch keine finanzielle Unterstützung für Arbeitslose. Die Arbeitsnachweise wurden in Anlehnung an die Organisationsform der Gewerbegerichte von einem paritätisch besetzten Gremium unter Vorsitz eines städtischen Beamten verwaltet.14 Die Wormser Vermittlungsstelle, seit 1894 in Vorbereitung, öffnete am 1. September 1896 ihre Pforten und konnte von Jahr zu Jahr steigende Vermittlungszahlen vorweisen. Der Einrichtung war eine „weibliche Abteilung“ angegliedert, die von einer Frau, Witwe Straub, geleitet wurde. Vorrangige Aufgabe dieser Abteilung war die Vermittlung von Dienstmädchen. Damit sollte das weibliche Dienstpersonal vor der Ausbeutung durch skrupellose private Vermittlerinnen geschützt werden – ein Missstand, der damals weit verbreitet war.15 In Mainz hatten Gespräche über die Schaffung einer Arbeitsvermittlungsstelle auf Anregung des Mainzer Gewerkschaftskartells im Jahr 1893 begonnen. Die Bürgermeisterei forderte ein Gutachten des Gewerbegerichts an zur Frage, ob ein Arbeitsamt in der Stadt notwendig sei. Diese Frage wurde eindeutig bejaht. Man einigte sich auch über das Statut, das für das zu schaffende Amt umfassende Aufgaben einschließlich der Rechtsberatung und der Führung einer Arbeitslosenstatistik vorsah. Ebenso war auch in Mainz eine „weibliche Abteilung“ vorgesehen. Aller12 13 14
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Brüchert-Schunk, Sozialpolitik, S. 106. Hedwig Brüchert: Soziale Verhältnisse und Arbeitsbedingungen in der Industriestadt Worms bis zum Ersten Weltkrieg. In: Gerold Bönnen (Hg.): Geschichte der Stadt Worms, hg. im Auftrag der Stadt Worms. Worms 2005, S. 793–823, hier: S. 810f. Frank Niess: Geschichte der Arbeitslosigkeit. Köln ²1982; siehe auch Brüchert-Schunk, Sozialpolitik, S. 112f. Durch den in Frankfurt am Main stattfindenden „Sozialen Kongreß des freien Deutschen Hochstifts“ am 8. und 9. Oktober 1893, bei dem das Thema „Städtische Arbeitsvermittlungsstellen“ auf der Tagesordnung stand, wurde eine Gründungswelle solcher Einrichtungen ausgelöst. Brüchert, Verhältnisse, S. 811.
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dings gab es in der Folgezeit lange Streit über die Besetzung der Leiterstelle des neuen Amtes. Das Gewerkschaftskartell wollte die Stelle mit einem Arbeiter besetzt sehen, da dieser die Bedürfnisse der Arbeiter am besten beurteilen könne. Die Arbeitgebervertreter waren strikt dagegen. Als man sich endlich geeinigt hatte, wurde das Statut von der Staatsregierung in mehreren Punkten beanstandet. Insbesondere die vorgesehene Rechtsberatung stieß auf Ablehnung in Darmstadt. Die Stadt überarbeitete ihr Statut nochmals, hielt aber an der Rechtsberatung fest, und schließlich stimmte die Regierung dem Entwurf im Februar 1897 zu. Aufgrund der erweiterten Funktionen über die reine Stellenvermittlung hinaus wurde die Mainzer Einrichtung von Anfang an „Arbeitsamt“, nicht nur „Vermittlungsstelle“, genannt. Besonders bemerkenswert war, dass das Mainzer Statut auch eine sogenannte Streikklausel enthielt. Im Fall eines Arbeitskampfes musste das Arbeitsamt nach Anrufung des Gewerbegerichts als Einigungsamt seine Vermittlungstätigkeit in der betroffenen Branche einstellen, um die bestreikten Fabriken nicht mit Streikbrechern zu versorgen. Am 6. Mai 1897 konnte das Mainzer Arbeitsamt endlich die Arbeit aufnehmen. Die jährlichen Vermittlungszahlen bestätigten rasch die Notwendigkeit dieser Einrichtung. Wurden im ersten Geschäftsjahr 1897/98 rund 10.000 Fälle (Stellenangebote und Gesuche) bearbeitet, betrug die Zahl zehn Jahre später bereits das Dreifache. Davon entfiel fast ein Drittel auf die weibliche Abteilung.16 Im Januar 1898 schlossen sich die öffentlichen Arbeitsvermittlungsstellen der Rhein- und Main-Gegend zu einem Regionalverband zusammen. Das statistische Amt der Stadt Frankfurt fungierte als zentrale Erfassungsstelle, an die monatliche Nachweise aller Verbandsmitglieder weitergeleitet wurden. Die dritte Konferenz des Verbandes der öffentlichen Arbeitsvermittlungsstellen der Rhein- und MainGegend wurde vom Mainzer Arbeitsamt ausgerichtet und fand am 29. Mai 1899 im großen Sitzungssaal des Mainzer Stadthauses unter Leitung von Oberbürgermeister Dr. Gaßner statt.17 Anfänge einer Arbeitslosenfürsorge Die in den 1880er Jahren auf Reichsebene beschlossenen Sozialversicherungsgesetze sahen noch keine Absicherung für den Fall von Arbeitslosigkeit vor. Die Betroffenen waren auf die traditionelle Armenunterstützung angewiesen, verbunden mit der Einschränkung bestimmter bürgerlicher Rechte, wie des Wahlrechts. Eine geringe finanzielle Unterstützung erhielten die Arbeitslosen lediglich von ihren Gewerkschaften. Da im Deutschen Reich noch keine Arbeitslosenstatistik geführt wurde, konnte die Reichsregierung allerdings auch leicht leugnen, dass Arbeitslosigkeit ein Massenphänomen und ein Handeln des Gesetzgebers dringend geboten war. Sie hätte eine Arbeitslosenversicherung nur gegen den heftigen Widerstand der Arbeitgeberlobby, insbesondere der Großindustrie, im Reichstag beschließen kön16 17
Brüchert-Schunk, Sozialpolitik, S. 114–118. Ebenda, S. 119; Protokoll der III. Conferenz der öffentlichen Arbeits-Vermittelungs-Stellen der Rhein- und Maingegend am 29. Mai 1899 zu Mainz (Stadtarchiv Mainz, 70, XXIV, II, 5).
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nen, da die Unternehmer nicht bereit waren, weitere Arbeitgeberanteile an eine Sozialversicherung zu entrichten.18 In den von einem Konjunkturtief geprägten 1890er Jahren begannen einige Städte, eigene Maßnahmen zu ergreifen, um die Folgen der Arbeitslosigkeit für ihre Bevölkerung, besonders in den Wintermonaten, abzumildern. Sie verlegten städtische Bauaufträge in die konjunkturschwachen Wintermonate und vergaben sogenannte Notstandsarbeiten; dabei handelte es sich meist zum Erdarbeiten, Flussregulierungen, das Abtragen von Festungswällen und das Schlagen von Steinen für den Straßenbau. Wichtig für die Arbeitslosen war, dass diese Notstandsarbeiten nicht als Armenunterstützung galten und deshalb auch nicht zur Einschränkung des Wahlrechts führten.19 Neben Halle an der Saale, Weißenfels, Mühlhausen i. Th., Braunschweig, Essen und Mannheim zählte Mainz zu den ersten Städten, die im Deutschen Reich Notstandsarbeiten vergaben, und zwar erstmals im Winter 1893/94. Nur in Jahren ausgesprochener Hochkonjunktur wurde diese Maßnahme ausgesetzt. Bedingung für die Zulassung zu dieser Beschäftigung war, dass der Arbeitslose seinen Unterstützungswohnsitz in Mainz hatte und dass er „gut beleumundet“ war. Familienväter sowie Personen, die Angehörige zu unterstützen hatten, wurden bei der Vergabe bevorzugt. Über die Gesuche entschied eine Notstandskommission der Stadtverordnetenversammlung, die paritätisch mit Vertretern von Arbeitgebern und Arbeitnehmern besetzt war. Die Notstandsarbeiten begannen meist Anfang Dezember und endeten Mitte bis Ende März, je nach Witterung. Gezahlt wurde ein Akkordlohn. Männer, die Schwerarbeit gewohnt waren, konnten dabei einen guten Lohn erzielen (bis zu 5 Mark am Tag); ungeübten Arbeitern gelang es dagegen kaum, den Lebensunterhalt für sich und ihre Familie mit Steinschlagen oder ähnlichen Tätigkeiten zu verdienen.20 Als im Jahr 1908 erneut eine wirtschaftliche Depressionsphase einsetzte, forderte die Stadtverordnetenversammlung die Verwaltung auf, eine Erhebung über die Arbeitslosenzahlen durchzuführen. Man ermittelte rund 1.000 Arbeitslose, von denen 700 ihren Wohnsitz in Mainz hatten. Angesichts drohender Not für viele Familien richtete das Mainzer Gewerkschaftskartell am 8. Dezember 1908 eine Eingabe an die Stadt, sich nicht auf Notstandsarbeiten zu beschränken, sondern weitergehende Unterstützungen zu gewähren. Beigefügt war eine Denkschrift, in der alle zu jener Zeit in anderen Städten praktizierten Systeme einer Arbeitslosenfürsorge beschrieben waren. Die meisten Vorteile schien das „Genter System“ zu 18
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Ebenda, S. 131f.; Anselm Faust: Funktion und soziale Bedeutung des gewerkschaftlichen Unterstützungswesens: die Arbeitslosenunterstützung der Freien Gewerkschaften im Deutschen Kaiserreich. In: Hans Mommsen/Winfried Schulze (Hg.): Vom Elend der Handarbeit. Probleme historischer Unterschichtenforschung (Geschichte und Gesellschaft, Bochumer Historische Studien, Bd. 24). Stuttgart 1981, S. 395–417, hier: S. 400f. Wolfgang R. Krabbe: Die Gründung städtischer Arbeiterschutz-Anstalten in Deutschland: Arbeitsnachweis, Arbeitslosenfürsorge, Gewerbegericht und Rechtsauskunftstelle. In: Werner Conze/Ulrich Engelhardt (Hg.): Arbeiterexistenz im 19. Jahrhundert. Lebensstandard und Lebensgestaltung deutscher Arbeiter und Handwerker (Industrielle Welt, Bd. 33). Stuttgart 1981, S. 425–445, hier: S. 434. Brüchert-Schunk, Sozialpolitik, S. 133ff.
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bieten. Das 1901 in der belgischen Stadt Gent eingeführte Unterstützungsmodell war folgendermaßen organisiert: bei Erwerbslosigkeit wurde den Betroffenen nochmals die Hälfte desjenigen Betrags aus der Stadtkasse gezahlt, den sie von ihrer Gewerkschaft erhielten oder den sie – falls sie nicht gewerkschaftlich organisiert waren – von ihren bei der städtischen Sparkasse angelegten eigenen Ersparnissen abhoben. Dadurch sollten die Arbeiter zur Vorsorge für Zeiten der Arbeitslosigkeit angehalten werden. Die Obergrenze des städtischen Zuschusses war auf einen Franken pro Tag festgesetzt. Er wurde an Nicht-Organisierte durch das Arbeitsamt, an Organisierte durch ihre Gewerkschaft ausbezahlt und längstens für die Dauer von 50 Tagen pro Jahr gewährt.21 Die Mainzer Stadtverwaltung war noch unentschlossen. Deshalb organisierten die Gewerkschaften am 2. Februar 1909 im „Goldenen Pflug“, dem Versammlungslokal der Mainzer Arbeiterschaft in der Pfandhausgasse, eine „vielhundertköpfige“ Protestversammlung von Arbeitslosen. Anschließend zog die Menge vor das Stadthaus, um eine Resolution zu überreichen. Nach mehreren Beratungen und der Entsendung einer Kommission nach Straßburg, um das dort praktizierte System (das dem Genter System ähnelte) zu begutachten, beschloss die Stadtverordnetenversammlung endlich am 26. Februar, als sich der Winter bereits dem Ende zuneigte, 10.000 Mark für eine Barunterstützung für Arbeitslose zur Verfügung zu stellen. Auch wenn die Auszahlung an zahlreiche Bedingungen geknüpft war und nur ein Teil der Arbeitslosen in den Genuss kam, stellte dieser Beschluss dennoch etwas ganz Neues, ja fast Revolutionäres dar: Die Auszahlung der Unterstützung an alle gewerkschaftlich organisierten Arbeitslosen wurde den Gewerkschaften übertragen; nicht organisierte Arbeitslose erhielten ihre Unterstützung auf der Polizeibehörde. Damit fand erstmals eine offizielle Zusammenarbeit zwischen der Stadtverwaltung und den Freien (sozialistischen) Gewerkschaften statt. Die Stadt bediente sich der gut ausgebauten Gewerkschaftsorganisation, da sie selbst auf derartige Aufgaben nicht vorbereitet war. Diese Barunterstützung konnte zwar das Problem der Arbeitslosigkeit nicht lösen, und die Sätze lagen sogar niedriger als die Unterstützungssätze des Armenamtes. Dennoch bedeutete ihre Einführung einen wichtigen Schritt nach vorn in der Sozialpolitik, weil – wie der Stadtverordnete Bernhard Adelung in der Sitzung vom 26. Februar 1909 betonte – „die Notleidenden nicht gezwungen waren, die entehrende Armenunterstützung anzunehmen, die mit einer Beeinträchtigung der bürgerlichen Rechte verbunden war“.22 Sie wies den Weg in Richtung einer echten Arbeitslosenversicherung, wie sie vom Staat jedoch erst in der Weimarer Republik eingeführt wurde. Allerdings hatten nur wenige Städte diesen Weg der Bargeldunterstützung beschritten. In Worms konnte sich die Mehrheit der Stadtverordneten nicht zu einem solchen Beschluss durchringen, sondern hielt eine Reichsgesetzgebung für erfor-
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Hansjoachim Henning: Arbeitslosenversicherung vor 1914: das Genter System und seine Übernahme in Deutschland. In: Hermann Kellenbenz (Hg.): Wirtschaftspolitik und Arbeitsmarkt. München 1974, S. 271–287. Johanna Simon: Geschichte der Arbeitslosenfürsorge in Mainz, in: (Mainzer) Volkszeitung vom 11.9.1929; Brüchert-Schunk, Sozialpolitik, S. 135–138.
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derlich.23 Vielleicht befürchteten sie, dass bei der Monostruktur der Wormser Wirtschaft, die überwiegend von der Lederindustrie geprägt war, im Fall einer Krise in dieser Branche die Stadtkassen rasch leer sein würden. Das hessische Wohnungsbeaufsichtigungsgesetz von 1893 Als zweites Beispiel für die sozialpolitische Vorreiterrolle insbesondere der rheinhessischen Städte Mainz und Worms möchte ich nun auf die Wohnungsfürsorge eingehen. Wie bereits in der Einleitung angesprochen, führten der Zuzug in die Städte infolge der Industrialisierung (Urbanisierung) und das rasche Bevölkerungswachstum in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer starken Verschlechterung der Wohnverhältnisse. Besonders betroffen waren hiervon Festungsstädte wie Mainz, die von einem Mauerring umgeben waren und keine Ausdehnungsmöglichkeit hatten. Die damit verbundenen gesundheitlichen Probleme waren unübersehbar, und seit den 1880er Jahren forderte der „Verein für öffentliche Gesundheitspflege“ gemeinsam mit weiteren Vereinen bürgerlicher Sozialreformer und der SPD-Reichstagsfraktion den Gesetzgeber regelmäßig zur Abschaffung der Missstände auf. Die Reichsregierung sträubte sich jedoch bis zum Ersten Weltkrieg dagegen, durch Gesetze einzugreifen, so dass die Kommunen, die mit den Problemen unmittelbar konfrontiert waren, selbst nach Lösungen suchen mussten. Allerdings war es auf diesem Gebiet auch sehr schwierig, Mehrheiten in den Stadtverordnetenversammlungen für entsprechende Beschlüsse zu gewinnen, da alle Maßnahmen fast zwangsläufig den Interessen von Haus- und Grundbesitzern (welche aufgrund des ungleichen Wahlrechts die Mehrheit in den Versammlungen besaßen) zuwiderlaufen mussten.24 Erstaunlicherweise wurde auf dem Gebiet der Wohnungsfürsorge das Großherzogtum Hessen, als agrarisch geprägter Flächenstaat, zum Vorreiter. Der Anstoß dazu kam aus der Zweiten Kammer der Hessischen Landstände, und zwar von dem Wormser nationalliberalen Abgeordneten Andreas Nikolaus Reinhart25, einem Lederfabrikanten. Auf seine Initiative hin führte die Darmstädter Regierung 1890 eine Erhebung über die Arbeiterwohnverhältnisse in den Städten und größeren Ortschaften des Großherzogtums durch. Sie ergab, dass die Arbeiterwohnungen „zu einem sehr erheblichen Bruchteil den im Interesse der Gesundheit zu stellenden Anforderungen nicht genügten“.26 Daraufhin wurde vom hessischen Landtag das „Gesetz über die Beaufsichtigung von Mietwohnungen und Schlafstellen“ erlassen, das am 1. Juli 1893 in Kraft trat. Es schrieb für alle Gemeinden mit mehr als 5.000 Einwohnern eine Wohnungsinspektion von kleinen Mietwohnungen vor. Damit war das 23 24 25 26
Brüchert, Verhältnisse, S. 811. Walter Steitz: Kommunale Wohnungspolitik im Kaiserreich am Beispiel der Stadt Frankfurt am Main. In: Hans Jürgen Teuteberg (Hg.): Urbanisierung im 19. und 20. Jahrhundert. Historische und geographische Aspekte (Städteforschung, Reihe A, Bd.16). Köln, Wien 1983, S.393–428. Hessische Abgeordnete 1820–1933. Biographische Nachweise für die Landstände des Großherzogtums Hessen (2. Kammer) und den Landtag des Volksstaates Hessen, bearb. v. Hans Georg Ruppel und Birgit Gross (Darmstädter Archivschriften 5). Darmstadt 1980, S. 215. Adolf Damaschke: Aufgaben der Gemeindepolitik („Vom Gemeinde-Sozialismus“). 5. Aufl. Jena1904, S. 208.
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Großherzogtum der erste deutsche Staat, der „das Mittel der staatlichen Gesetzgebung anwendete, um den Wohnungsproblemen im Land zu steuern.“27 Zur Beschleunigung der Verabschiedung des Gesetzes hatte zweifellos die Choleraepidemie beigetragen, die im Spätsommer 1892 in Hamburg gewütet und zahlreiche Opfer gefordert hatte. In allen anderen Städten befürchtete man damals ein Übergreifen der Epidemie.28 Bereits vor Erlass des hessischen Gesetzes beschloss die Wormser Stadtverordnetenversammlung, nochmals eine genaue Wohnungsaufnahme durchzuführen. Die Erhebungsbögen wurden der Vergleichbarkeit halber diesmal mit den übrigen vier größten Städten des Großherzogtums, mit Mainz, Darmstadt, Offenbach und Gießen, abgestimmt.29 Die anschließende regelmäßige Beaufsichtigung der Mietwohnungen wurde zunächst den Armenärzten übertragen, die sie mit Unterstützung durch die Ortspolizei ausübten. Vom Gesetz vorgesehen war eine straßenweise Kontrolle aller Mietwohnungen mit bis zu drei Räumen (einschließlich der Küche) in einem Turnus von zwei Jahren sowie bei allen Mieterwechseln. Auch die Schlafplätze von Untermietern sollten überwacht werden. Wegen des hohen Arbeitsaufwands sahen sich jedoch bald weder die Armenärzte noch die Ortspolizei in der Lage, diese regelmäßigen Kontrollen durchzuführen. Deshalb entschloss sich die Stadt Worms, ein eigenes Amt mit einem Wohnungsinspektor eigens für diese Aufgabe zu schaffen. Der Wormser Oberbürgermeister Köhler hielt auf dem VIII. Städtetag für das Großherzogtum Hessen im November 1899 in Bingen ein Referat, in dem er die Notwendigkeit von Wohnungsämtern betonte.30 Der Wormser Wohnungsinspektor wurde in seiner Arbeit von mehreren ehrenamtlich tätigen Mitarbeiterinnen unterstützt, die sich zu regelrechten Familienfürsorgerinnen entwickelten. So steht im Bericht der Stadtverwaltung über das Jahr 1910 zu lesen: „Sowohl in der Wohnungspflege, wie auch in der Tuberkulosen- und Säuglingsfürsorge, wirken unsere im Ehrenamte gewonnenen weiblichen Wohnungsinspektorinnen mit, die vorzugsweise in Armenvierteln herumkommen und in vielen Fällen auf Verbesserungen und Beseitigungen von Mißständen hinarbeiten.“31 Auch in Mainz hatte man noch vor Inkrafttreten des Wohnungsbeaufsichtigungsgesetzes, nämlich von März bis Juli 1893, mit Hilfe der Ortspolizei eine allgemeine Aufnahme aller Mietwohnungen vorgenommen. Der besseren Übersichtlichkeit halber wurde das gesamte Stadtgebiet in 38 Wohnquartiere oder Blöcke eingeteilt, 27
28 29 30 31
Dorothea Berger-Thimme: Boden- und Wohnungsreform in Deutschland 1873–1918. Zur Genese staatlicher Intervention im Bereich von Wohnungs- und Siedlungswesen. Frankfurt a.M./ Bern 1976, S. 177; siehe auch Rudolf Siegert: Die Wohnungsfürsorge im Großherzogtum Hessen. Diss. Gießen 1907, S. 115f., sowie Friedrich Lönne: Die Bedeutung der Wohnungsinspektion für die moderne Wohnungsfrage, erläutert an den in Hessen gemachten Erfahrungen. (Diss. Gießen). Wiesbaden 1914, S. 2. Vgl. dazu vor allem Richard J. Evans: Tod in Hamburg. Stadt, Gesellschaft und Politik in den Cholera-Jahren 1830–1910, Reinbek 1990. Stadtarchiv Worms, Verwaltungsrechenschaftsbericht Worms 1892/93, S. 90–95. Stadtarchiv Mainz, Best. 70, XV, 1, Protokoll Städtetag Großherzogtum Hessen 30.11.1899 Bingen. Stadtarchiv Worms, Verwaltungsrechenschaftsbericht Worms 1910, S. 252.
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und es wurde ein Mängelkataster erstellt. Insgesamt hatte man 7.515 Mietwohnungen, 971 Schlafstellen und 4.069 Schlafräume für Lehrlinge, Gesellen und Dienstboten erfasst, die von 18.626 Erwachsenen und 7.393 Kindern bewohnt waren.32 Ebenso wie in Worms, so wurde die Aufgabe der Wohnungsinspektion auch in Mainz zunächst den Armenärzten, unterstützt durch die Ortspolizei, übertragen, die dieses Amt wegen Überlastung jedoch bald niederlegten. Daraufhin sollte ein Architekt des Stadtbauamtes diese Aufgabe übernehmen, doch auf Dauer schaffte auch er es nicht, neben seiner übrigen Arbeit die WohnungsüberwaUngesunde Wohnverhältnisse in den engen Gassen der chung in der notwendigen InMainzer Altstadt. Hier: die Stallgasse 1912 tensität durchzuführen.33 So beschloss die Stadtverordnetenversammlung schließlich im März 1905, ein eigenes Wohnungsamt zu schaffen, das mit einem bautechnischen Beamten als Inspektor sowie dem nötigen Büropersonal ausgestattet werden sollte. Außerdem bildete man eine Kommission für Wohnungspflege, der das neue Amt unterstellt wurde. Der neu ernannte Wohnungsinspektor Nauth konnte schon bald Erfolge seiner Arbeit vorweisen. Er leitete das Amt dann über 25 Jahre lang.34 Die Jahresberichte der Wohnungsinspektoren, die veröffentlicht und jeweils den Stadtverordnetenversammlungen vorgelegt wurden, sprechen eine deutliche Sprache von den katastrophalen Wohnverhältnissen vor allem in den Altstadtbereichen. Ein großer Teil der Wohnungen war feucht und von Schimmelpilz befallen, hervorgerufen durch die starke Überbelegung der Kleinwohnungen sowie den Luftmangel in den engen Gassen und Hinterhäusern. Die drastischsten Beispiele wur32
33 34
Verwaltungsrechenschaft Grh. Bürgermeisterei Mainz 1893/94, S. 7, sowie 1894/95, S. 7–10; Dr. Heinrich Gassner: Redebeitrag auf der XXIII. Versammlung des Deutschen Vereins für öffentliche Gesundheitspflege in Köln. In: Deutsche Vierteljahrschrift f. öffentl. Gesundheitspflege, 31. Bd. (1899), S. 230–246, hier: S. 236. Brüchert-Schunk, Sozialpolitik, S. 147f. Brüchert-Schunk, Sozialpolitik, S. 150; Rückblick auf das 25-jährige Bestehen des Wohnungsamtes in: Bericht des Oberbürgermeisters 1930, S. 68.
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den vom Mainzer Wohnungsinspektor jedes Jahr aufgelistet. So lesen wir z.B. in seinem Bericht über das Verwaltungsjahr 1908/09:35 „Von den überfüllten Wohnungen, bei denen leider noch sehr häufig das Zusammenschlafen von Personen beiderlei Geschlechts von über 14 Jahren in einem Raum festgestellt wurde, verdienen folgende sehr drastische Fälle genannt zu werden: In einer aus einem Zimmer von 16,50 cbm Luftraum bestehenden Wohnung der Altstadt schliefen das Ehepaar und 2 kleine Kinder, außerdem waren in diesem Raum 2 Betten, ein Schrank und sonstiges Kleinmöbel aufgestellt. Der Mann war stark lungenkrank und die Frau hochschwanger. Die Wohnung wurde sofort geräumt. Eine Wohnung in einem älteren Gebäude der Neustadt, aus Zimmer, Alkoven und Küche bestehend, mit einem Luftraum von insgesamt 59 cbm, wurde bewohnt von dem Ehepaar und vier Töchtern von 19, 17, 10 und 6 Jahren und von drei Söhnen im Alter von 16, 11 und 9 Jahren. Eine Wohnung von einem Zimmer, ebendaselbst mit einem Luftmaß von 21,44 cbm diente 8 Personen als Schlafraum, denen nur 2 mangelhafte Betten zur Verfügung standen. Eine Wohnung von 1 Zimmer mit Alkoven wurde von dem Ehepaar, zwei kleinen Kindern und zwei Schlafgängerinnen als Schlafraum benutzt. Letztere mussten, um in den Alkoven zu gelangen, das Zimmer des Vermieters betreten. In einem aus Laden mit Küche bestehenden Wohnungsgelasse schliefen in dem ersteren Raum, der nebenbei noch als Schuhmacherwerkstätte benutzt und mittels Vorhand abgeteilt war, auch nur einen kleinen Klappflügel über der Tür zum Entlüften hatte, das Ehepaar und 8 teils erwachsene Kinder.“ In fast allen Wohnungen fehlten sanitäre Einrichtungen. Oft war nur ein einziger Abort im Hof für bis zu zehn Mietparteien vorhanden. Allerdings hatten sowohl der Mainzer Wohnungsinspektor als auch sein Wormser Kollege mit einem Problem zu kämpfen, das die wirksame Umsetzung des Gesetzes wesentlich erschwerte: Nur in den wenigsten Fällen griffen sie zum äußersten Mittel, eine völlig ungeeignete und ungesunde Wohnung zu schließen, da in beiden Städten keine preiswerten Ersatzwohnungen zur Verfügung standen. Auf diese Schwachstelle des hessischen Gesetzes hatten bürgerliche Sozialreformer schon früh hingewiesen. Die Wohnungsinspektoren drückten deshalb oft beide Augen zu, um die betroffenen Familien durch Räumung der Wohnung nicht der Obdachlosigkeit preiszugeben.36 Zunächst hatte man in beiden Städten gehofft, durch die Schaffung von Wohnungsnachweisen, die den Arbeitsnachweisstellen angegliedert wurden, in ausreichendem Maß Kleinwohnungen vermitteln zu können, doch es zeigte sich bald, dass diese Maßnahme wegen des gravierenden Wohnungsmangels nicht fruchtete. 35 36
Verwaltungsrechenschaft Grh. Bürgermeisterei Mainz 1908/09, Wohnungsinspektion, S. 98 (Auszug aus dem Jahresbericht). Karl Hugo Lindemann: Die deutsche Städteverwaltung. Ihre Aufgaben auf den Gebieten der Volkshygiene, des Städtebaus und des Wohnungswesens. Stuttgart 1901, S. 467f.; Brüchert, Verhältnisse, S. 813f.
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Das hessische Wohnungsfürsorgegesetz von 1902 Auf dem hessischen Städtetag 1899 in Bingen wurde dieses Problem erörtert. Der Wormser Oberbürgermeister Köhler führte aus: „Wohnungsinspektion und Wohnungsnachweis beseitigen aber jedenfalls die Thatsache nicht, daß in unseren Städten billige und den Grundsätzen der Hygiene entsprechende, geeignete Wohnungen nicht in genügender Zahl vorhanden sind. Daß die Privatbauthätigkeit nicht im Stande ist, diesem Mangel abzuhelfen, hat sich zur Genüge gezeigt, und es ist kein Zweifel mehr, daß es Aufgabe der städtischen Verwaltungen ist, diesem Mangel ein ganz besonderes Augenmerk zuzuwenden und auf thunlichste Abhülfe hinzuwirken, und zwar nicht nur durch Anregung auf diesem Gebiet, sondern durch eigene Theilnahme an den diesbezüglichen Bestrebungen und finanzielle Unterstützung derselben.“37 Köhler konnte stolz darauf verweisen, dass Worms auf diesem Gebiet vorangeschritten war und Ende 1897 eine „Actiengesellschaft zur Erbauung billiger Wohnungen, namentlich zum Besten von Arbeitern“, gegründet hatte. Am Grundkapital der AG in Höhe von 200.000 Mark war die städtische Sparkasse Worms mit 40.000 Mark beteiligt. Der Bürgermeister von Worms war stellvertretender Vorsitzender des Aufsichtsrats. Zwei Jahre später hatte die Aktiengesellschaft bereits 30 Häuser mit 78 Wohnungen errichtet, in denen rd. 500 Personen wohnten. Die Wohnungen waren alle mit Keller, Speicher und einem größeren Garten ausgestattet. Die Jahresmiete betrug für Wohnungen mit drei Zimmern und Küche 190 bis 250 Mark.38 Von den Mainzer Vertretern auf dem hessischen Städtetag wurde die Wormser Position unterstützt, doch andere Städte, wie Darmstadt, teilten diese Meinung nicht. Man befürchtete, dass die Städte durch eigene Wohnungsbautätigkeit zu stark belastet würden und sie in Konkurrenz zu privaten Bauherren und Genossenschaften träten. Schließlich verabschiedete der Städtetag von 1899 einen vom Mainzer Oberbürgermeister Dr. Heinrich Gaßner formulierten Kompromiss als Resolution, der es den Städten freistellte, ob sie nur unterstützend tätig werden oder in Eigenregie bauen wollten. „Der Städtetag nimmt die Anregungen, welche durch die erstatteten Referate bezüglich Hebung der Wohnungsnot gegeben sind, mit Dank entgegen und sieht es als eine der hervorragenden Aufgaben der Städte an, den bestehenden Mißständen auf dem Gebiete des Wohnungswesens mit allen zulässigen Mitteln abzuhelfen, insbesondere auch durch Einrichtung von Wohnungsämtern oder Unterstützung gemeinnütziger Baugesellschaften oder in geeigneten Fällen durch eigne Bautätigkeit.“39 Bald darauf wurde das Thema auch im hessischen Landtag beraten. Eine entsprechende Gesetzesinitiative ging wieder von dem Wormser Abgeordneten Reinhart, Mitglied der Zweiten Kammer, aus. Sie wurde in der Ersten Kammer unterstützt durch den Wormser Lederfabrikanten Freiherrn von Heyl. Am 7. August 1902 wurde das „Gesetz betreffend die Wohnungsfürsorge für Minderbemittelte“ (kurz 37 38 39
Stadtarchiv Mainz, Best. 70, XV, 1, Protokoll Städtetag Großh. Hessen 30.11.1899 Bingen, Bericht von Oberbürgermeister Köhler, Worms. Ebenda. Stadtarchiv Mainz, Best. 70, XV, 1, Protokoll Städtetag Großh. Hessen 30.11.1899 Bingen.
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„Wohnungsfürsorgegesetz“ genannt) erlassen. Es forderte die Kommunen auf, entweder selbst preiswerte Kleinwohnungen zu bauen oder gemeinnützige Bauvereine aktiv zu unterstützen. Aufgrund dieses Gesetzes unterstützte z.B. die Stadt Mainz den gemeinnützigen Bau- und Sparverein durch Bürgschaften sowie Gewährung ermäßigter Zinssätze für Darlehen und lange Tilgungszeiten. Außerdem betrieb die Stadt eine aktive Bodenpolitik und überließ Baugenossenschaften Bauland zu niedrigen Preisen. Mainz war eine der wenigen hessischen Gemeinden (insgesamt waren es acht), die einen Grundstücksfonds bildeten; der Wert belief sich 1907 bereits auf fast 7 Millionen Mark (das Doppelte des Darmstädter Fonds).40 Unterstützt wurden die kommunalen Anstrengungen durch den 1901 in Darmstadt gegründeten Ernst-Ludwig-Verein. Sein Ziel war es, die Errichtung billiger Wohnungen zu fördern. Dem Vorstand gehörten u.a. die Bürgermeister und weitere Persönlichkeiten aus Mainz und Worms an. Der Verein lenkte u.a. durch eine große Ausstellung von Arbeitermusterhäusern, geplant von bekannten Architekten und errichtet von verschiedenen Baugenossenschaften oder Arbeitgebern, starke Aufmerksamkeit auf das Thema „gesundes und praktisches Wohnen“. Die Musterhäuser wurden 1908 auf der Mathildenhöhe aufgebaut; auch eine Reihe von rheinhessischen Unternehmen und Genossenschaften waren dort mit Arbeiterhäusern vertreten; dazu erschien ein reich bebilderter Katalog. Einige der Häuser sind noch heute (allerdings an eine andere Stelle in Darmstadt versetzt) zu sehen.41 Die Forderung nach Kleinwohnungsbau in kommunaler Regie, die häufig von sozialdemokratischen Stadtverordneten erhoben wurde, wurde im Kaiserreich jedoch nicht erfüllt. Einerseits scheuten die Städte wohl das finanzielle Risiko; andererseits gab es einen massiven Widerstand der Hausbesitzer, die um ihre Mieteinnahmen fürchteten. So beschränkten sich die Aktivitäten im Bereich der Wohnbauförderung auch in den rheinhessischen Städten auf die Unterstützung von Baugenossenschaft, so in Mainz, oder, wie in Worms, auf die Beteiligung an einer Aktiengesellschaft. Die Stunde des kommunalen Wohnungsbaus sollte erst in der Weimarer Republik schlagen. Dennoch bleibt festzuhalten, dass der relativ kleine Flächenstaat Hessen-Darmstadt mit der Gesetzgebung im Bereich der Wohnungsbeaufsichtigung und Kleinwohnungsbauförderung voranging, dass die Anstöße dazu aus Rheinhessen kamen und dass die beiden größten Städte Rheinhessens, Mainz und Worms, sehr früh mit einer aktiven Wohnungsfürsorgepolitik begannen, ohne dabei irgend eine Unterstützung durch das Deutsche Reich zu erhalten. Noch vieles ließe sich sagen über die sozialpolitischen Aktivitäten und Initiativen der rheinhessischen Städte in den Jahrzehnten zwischen der Gründerkrise und dem Ersten Weltkrieg, so z.B. über die Gesundheitsfürsorge und Stadthygienisierung 40 41
Brüchert-Schunk, Sozialpolitik, S. 160f. Praktische Wohnungsfürsorge in Hessen, hrsg. v. Ernst-Ludwig-Verein Darmstadt, Hessischer Zentralverein für Errichtung billiger Wohnungen (Bd. 1, Darmstadt 1908); siehe auch: Rainer Metzendorf: Kleinwohnhäuser von 1900 bis 1914. Die Anfänge des sozialen Wohnungsbaues, in: Herausforderung Wohnungsnot. 75 Jahre Wohnbau Mainz GmbH, hrsg. v. d. Wohnbau Mainz GmbH, Mainz 1992, S. 8–23.
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oder über die Jugendfürsorge, doch musste ich mich hier auf die ausgewählten Beispiele beschränken. Interessant wäre es auch, die Städtetage des Großherzogtums Hessen näher auszuleuchten. Die Initiative zur (Wieder)- Gründung ging – nach Anfängen in den 1870er Jahren und einer längeren Pause – im Jahr 1890 von der Stadt Mainz und ihrem Bürgermeister (und späteren Oberbürgermeister) Dr. Heinrich Gaßner aus, der gemeinsam mit seinem Wormser Kollegen Köhler auf den dann fast alljährlich stattfindenden Zusammenkünften weitgehend die Themen und Ideen vorgab. Ebenso wäre die Schulpolitik des Großherzogtums Hessen mit seinem äußerst fortschrittlichen Volksschulgesetz von 1874, das u.a. die Simultanschule zur Regelschule erklärte, einer eingehenden Betrachtung wert. Die größeren rheinhessischen Städte modernisierten daraufhin ihr Volksschulwesen nicht nur im pädagogischen Bereich, sondern bauten auch die Schulgesundheitspflege bis zum Ersten Weltkrieg in vorbildlicher Weise aus. Als Stichworte seien nur genannt: Senkung der Klassenstärke bis 1914 auf 48 Kinder pro Klasse (bei gleichzeitig stark steigenden Schülerzahlen), kostenloses Schulfrühstück für bedürftige Kinder, Lernmittelfreiheit, Schulärzte, Schwimmunterricht, Jugendspiele, Kinderhorte, Werkunterricht, Schulgärten und vieles mehr. Dieses fortschrittliche Simultanschulwesen, das man hier schon so lange kannte, hatte dann zur Folge, dass die Rheinhessen bei der Abstimmung über die Schulartikel der rheinland-pfälzischen Verfassung im Jahr 1947 mit großer Mehrheit dagegen stimmten, wurde doch nun erneut die Konfessionsschule als Regelschule eingeführt. Doch dies ist ein anderes Thema.
Markus Würz
Der Aufstieg der NSDAP in Rheinhessen 1922 bis 1933 Rheinhessen gehörte nach dem Ersten Weltkrieg zu den Gebieten des Deutschen Reiches, die von alliierten Truppen besetzt wurden. Von Dezember 1918 bis Ende Juni 1930 gehörten französische Soldaten hier zum Alltag. Ihre Aufgabe war die Sicherung des Waffenstillstandes beziehungsweise der Einhaltung der Bestimmungen des Versailler Friedensvertrages. Eine Gefährdung der Sicherheit ihrer Soldaten sahen die Franzosen unter anderem in rechtsextremen, ultranationalistischen Parteien, gegen die sie in ihrer Besatzungszone vorgingen. Hiervon betroffen war auch die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Deutschlands (NSDAP) unter ihrem „Führer“ Adolf Hitler. Dies wirft die Frage auf, wie sich der Aufstieg der NSDAP in Rheinhessen bis zur Machtübernahme Adolf Hitlers Ende Januar 1933 vollzog. Wie beeinflusste die Präsenz der Franzosen die NS-Partei, und wie sind deren regionale Erfolge zu erklären? Einige Antworten auf diese Fragen gibt der folgende knappe Überblick über die Geschichte der NSDAP in Rheinhessen während der Weimarer Republik. Er fasst dabei kurz die Ergebnisse einer 2012 erschienenen Dissertation zusammen.1 Nach einem kurzen Blick auf einzelne Aspekte der französischen Besatzung und auf völkische Vorgängerorganisationen stehen drei Entwicklungsphasen der NS-Partei im Mittelpunkt: Die Frühphase der NSDAP bis 1925, der Auf- und Ausbau der Parteiorganisation bis 1930 sowie der Aufstieg zur Massenbewegung zwischen 1930 und 1933. Französische Besatzung Rheinhessen war neben Starkenburg und Oberhessen die dritte Provinz des Großherzogtums beziehungsweise Volksstaates Hessen. Sie gliederte sich bis 1938 in die fünf Kreise Alzey, Bingen, Mainz, Oppenheim und Worms. Auf die Entwicklung der NSDAP in dieser Provinz übte der Umstand der Besatzung der Region erheblichen Einfluss aus. Nach dem Waffenstillstand besetzten Truppen des bisherigen Kriegsgegners die linksrheinischen deutschen Gebiete. Rheinhessen gehörte bis zum Abzug im Sommer 1930 zur französischen Besatzungszone. Sitz der Besatzungsverwaltung war Mainz. Wichtigstes Organ der Be1
Markus Würz: Kampfzeit unter französischen Bajonetten. Die NSDAP in Rheinhessen in der Weimarer Republik (Geschichtliche Landeskunde, 70). Mainz 2012; siehe auch hier für weiterführende Literatur- und Quellenbelege. Für einen Literaturüberblick zum Nationalsozialismus in Rheinhessen siehe: Markus Würz: Die Zeit des Nationalsozialismus in Rheinhessen. Ein Überblick über die (Forschungs-)Literatur. In: Museum Alzey und Altertumsverein für Alzey und Umgebung (Hg.): „Beseelt mit Hitlergeist“ … bis zum bitteren Ende. Nationalsozialismus im Alzeyer Land. Begleitband zur Sonderausstellung im Museum Alzey (Alzeyer Geschichtsblätter, Sonderheft, 26). Alzey 2012, S. 11–29.
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satzungsmächte war die Hohe Interalliierte Rheinlandkommission mit Sitz in Koblenz (und zuletzt in Wiesbaden), welche die Sicherheit und Versorgung der alliierten Truppen im Rheinland regelte.2 Die Präsenz der Franzosen und deren bis 1925 zum Teil sehr rigide Besatzungspolitik schürten den Nationalismus in den besetzten Gebieten. Bis Mitte der 1920er Jahre gehörten Einquartierungen, Beschneidungen von Grundrechten, wie die Versammlungs- und Pressefreiheit, Eingriffe in das Post- und Telegrafengeheimnis, Beschränkungen der Bewegungsfreiheit und Wirtschaftssanktionen zum Alltag der Deutschen in den besetzten Gebieten. Dies sorgte für ein Gefühl der „Fremdherrschaft“, das nationale Empfindungen anfeuerte. Die französische Unterstützung der Kreise, die im Oktober 1923 einen separatistischen Putsch versuchten, um eine unabhängige „Rheinische Republik“ zu schaffen, verschlechterte die Beziehungen zwischen Deutschen und Franzosen zusätzlich in erheblichem Maße. Von psychologischer Bedeutung war schließlich auch, dass die Besatzung durch den „Erbfeind“ Frankreich erfolgte sowie dass der Erste Weltkrieg zuvor ausschließlich auf französischem Boden ausgetragen worden war. Ein starker Nationalismus ist der mentalitätsgeschichtliche Hintergrund für die Anfänge der NSDAP in Rheinhessen. Katastrophale Folgen für die besetzten Gebiete hatte die Wirtschaftspolitik der französischen Besatzungsverwaltung. Dreimal wurden am Rhein Zollgrenzen errichtet, die dazu führten, dass die Handelsverbindungen zwischen den besetzten und den unbesetzten Teilen des Deutschen Reiches beschnitten wurden. Import und Export von Waren aus Rheinhessen, beispielsweise des Weines, wurde dadurch erschwert und verteuert. Gleichzeitig wurde die Einfuhr von Waren aus Frankreich begünstigt. Etablierte Handelsbeziehungen wurden so nachhaltig geschädigt. Rheinhessen war bereits ab den frühen 1920er Jahren von einer ökonomischen Krise getroffen und profitierte wenig vom allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwung Mitte der 1920er Jahre. Die Arbeitslosenzahlen überstiegen deutlich den Reichsdurchschnitt, und vor allem die Landwirtschaft geriet ab 1924/25 in eine Krise. Dies ist der wirtschaftliche Hintergrund des Aufstiegs des Nationalsozialismus in Rheinhessen. Völkische Gruppierungen in Rheinhessen Die Wurzeln des Nationalsozialismus liegen in völkischen Gruppen, die nach dem Ersten Weltkrieg im gesamten Deutschen Reich wuchsen oder neu entstanden.3 Diese rechten Gruppen beriefen sich auf das „Volk“, dem auch „Volksdeutsche“ außerhalb der Staatsgrenzen angehörten – nicht jedoch jene Staatsbürger, die nicht „deutscher Abstammung“ waren. Geprägt war das Denken aller Völkischen von Rassismus und Antisemitismus, ansonsten bestanden meist sehr unterschiedliche 2 3
Zur Besatzungszeit siehe (auch zur Literatur): Würz, Kampfzeit, S. 39–72; für Rheinhessen immer noch grundlegend: Martin Süß: Rheinhessen unter französischer Besatzung (Geschichtliche Landeskunde, 31). Stuttgart 1988. Zur völkischen Bewegung in der Kaiserzeit siehe: Uwe Puschner: Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich. Darmstadt 2001; Uwe Puschner/Walter Schmitz/Justus H. Ulbricht (Hg.): Handbuch zur „Völkischen Bewegung“ 1871–1918. München 1999.
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ideologische Vorstellungen. Im raschen Wechsel entstanden neue völkische Gruppierungen, alte lösten sich auf. Auch die NSDAP war in ihren Anfängen eine der zahlreichen Splittergruppen des völkischen Lagers in Deutschland, und das Parteiprogramm der NSDAP brachte im Kern völkische Ideen zum Ausdruck. Zahlreiche Personen fanden den Weg über andere völkische Gruppierungen und Verbände hin zur NSDAP, die sich von den übrigen Vereinigungen vor allem darin unterschied, dass sie mit Adolf Hitler eine charismatische Führungsfigur als „Trommler“ an ihrer Spitze stehen hatte. Auch in Rheinhessen bildeten sich nach 1918 eine Reihe völkischer Gruppierungen, ohne dass die Provinz eine Hochburg der Antisemiten gewesen wäre.4 Die stärkste völkische Gruppe war der Deutschvölkische Schutz- und Trutzbund (DVSTB), der in Mainz, Worms und vermutlich auch in Alzey Ortsgruppen hatte. Besonders die Mainzer Völkischen war sehr aktiv und publizierten mit dem „Rheinischen Beobachter“ eine eigene Zeitung. Die Interalliierte Rheinlandkommission löste diese Ortsgruppen 1921/22 auf. Es bildeten sich allerdings bald zum Teil konkurrierende Nachfolgeorganisationen. Die Mainzer Ortsgruppe des Deutschvölkischen Bundes sorgte im Sommer/Herbst 1921 für Aufsehen, als sie eine antisemitische Hetzkampagne gegen den Mainzer Rabbiner Dr. Sali Levi entfachte. Kurz darauf löste sie sich jedoch auf. Kurzzeitig bestanden Mainzer Ortsgruppen der Deutschsozialistischen Partei und der Deutschsozialen Partei. Neben den völkischen Gruppen hatten auch radikal nationalistische Organisationen, wie der Jungdeutsche Orden oder der Bund Oberland, einzelne Ortsgruppen in Rheinhessen, die jedoch ebenfalls 1923 von der Hohen Interalliierten Rheinlandkommission aufgelöst wurden. Viele der frühen NSDAP-Parteimitglieder entstammten diesen völkischen und nationalistischen Gruppierungen, und die ersten NS-Aktivisten einte in den meisten Fällen ihr Antisemitismus. Die Frühgeschichte der NSDAP 1922–1925 Die erste Ortsgruppe der NSDAP in Rheinhessen gründete sich in der zweiten Jahreshälfte 1922 in Worms. In ihr sammelten sich Wormser Völkische, nachdem die Besatzungsmacht die Ortsgruppe des Schutz- und Trutzbundes – vermutlich Anfang 1922 – aufgelöst hatte. Im Sommer des Jahres tauchten erstmals Flugblätter der NSDAP in der Stadt auf, und ein Männer-Stammtisch um den Architekten Ludwig Heilmann beschloss, eine Ortsgruppe der Hitler-Partei ins Leben zu rufen. Die Gründungsversammlung fand Mitte November 1922 im Lokal „Zum Summser“ statt, Heilmann wurde der erste Ortsgruppenleiter. Förderlich war dabei, dass über mehrere Personen direkte Verbindungen in die „Hauptstadt der Bewegung“ nach München bestanden. Wichtigster Kontaktmann war der in Worms geborene Student Hans Hinkel. Er gehörte seit 1921 der nationalsozialistischen Partei und später der NSDAP-Reichsleitung an. Anfang 1923 sprach Hinkel als Redner bei einer ersten Versammlung der Wormser Ortsgruppe, vermittelte vermutlich einen weiteren Redner aus der Reichsleitung und betreute die 4
Würz, Kampfzeit, S. 77–98.
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Wormser Parteigenossen, die am ersten NSDAP-Parteitag Ende Januar 1923 in München teilnahmen.5 Die Wormser Nationalsozialisten nahmen außerdem umgehend Kontakt zu anderen Ortsgruppen der Region auf. 1921/22 waren auch in Südhessen, in der Pfalz und in Nordbaden in Odernheim am Glan, Ludwigshafen, Mannheim, Zweibrücken, Pirmasens, Frankenthal, Frankfurt am Main, Darmstadt, Bensheim und Offenbach NSDAP-Ortsgruppen entstanden. Die Wormser Parteigenossen besuchten deren Veranstaltungen und brachten aus den unbesetzten Gebieten verbotene Zeitungen und Propagandamaterial mit. Der Handlungsspielraum der rheinhessischen Nationalsozialisten war dabei aufgrund der französischen Überwachung eng begrenzt. Dies verschärfte sich noch während des sogenannten Ruhrkampfes 1923 – dem deutschen Widerstand gegen die französisch-belgische Besetzung des Ruhrgebietes. Die Franzosen untersagten Parteiversammlungen, führten bei den Wormser NSDAP-Mitgliedern Hausdurchsuchungen durch, verhafteten einzelne Personen und wiesen sie aus den besetzten Gebieten aus. Um die Arbeit der Nationalsozialisten in Rheinhessen und der Pfalz abzustimmen, fand Anfang Juni 1923 eine Versammlung in Worms statt. Ein Mitglied der Münchener Reichsleitung erläuterte den Kurs der Partei während der Ruhrkrise; auch wurde besprochen, wie Propagandamaterialien und Zeitungen in die besetzten Gebiete geschleust werden konnten. Wirkung konnten die Planungen nicht mehr entfalten, denn wenige Tage später erließ die Hohe Interalliierte Rheinlandkommission ein Verbot nationalistischer Organisationen, darunter auch der NSDAP. Die Wormser Ortsgruppe wurde aufgelöst, und die NS-Aktivisten mussten verdeckt agieren, um beispielsweise Propaganda für Nachfolgegruppierungen der HitlerPartei zu betreiben. Dabei waren sie ständig von Verhaftungen und Ausweisungen bedroht. Die ersten NS-Aktivisten in Mainz sammelten sich ab Sommer 1924 unter dem Deckmantel eines Wandervereins. Sie unterhielten Verbindungen zu den Nationalsozialisten in Frankfurt am Main. Ebenfalls in der Verbotszeit organisierten sich die NS-Anhänger auf dem rheinhessischen Land. Die Präsenz der französischen Besatzungsmacht motivierte zahlreiche der frühen NS-Aktivisten. Die krisenhaften Ereignisse des Jahres 1923 (französisch-belgische Ruhrbesetzung, passiver Widerstand der Deutschen, Hyperinflation, Separatismus im Rheinland, kommunistische Umsturzversuche in Sachsen und Thüringen) heizte nationalistische Kreise an und radikalisierte einige rheinhessische Völkische.6 Spätestens der gescheiterte HitlerLudendorff-Putsch am 8./9. November 1923 machte „national eingestellte Männer“ aus den Kreisen Alzey7, Oppenheim und Worms auf die NS-Partei auf5 6
7
Würz, Kampfzeit, S. 99–105. Zum Krisenjahr 1923 siehe: Heinrich August Winkler: Der lange Weg nach Westen. Bd. 1: Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik. München 2000, S. 434–452; Ulrich Herbert: Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert. München 2014, S. 207–213. Zum Kreis Alzey siehe auch: Rainer Karneth: „Träger der Idee Adolf Hitlers“. Der Nationalsozialismus im Alzeyer Land vor 1933. In: Museum Alzey und Altertumsverein für Alzey und Umgebung (Hg.): „Beseelt mit Hitlergeist“ … bis zum bitteren Ende. Nationalsozialismus im Alzeyer Land. Begleitband zur Sonderausstellung im Museum Alzey (Alzeyer Geschichtsblätter, Sonderheft, 26). Alzey 2012, S. 43–83.
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merksam.8 Einzelne Völkische aus Bechtheim (Kreis Worms) hatten in Kontakt zur Wormser Ortsgruppe gestanden und organisierten nun eigenständig nationalsozialistisches Propagandamaterial, das sie verteilten. Auch in Guntersblum (Kreis Oppenheim) betrieben Völkische 1924 Propaganda für die Nationalsozialisten. Besonders umtriebig war ein Zirkel Völkischer aus Gau-Odernheim9 (Kreis Alzey) um den Kolonialwarenhändler Heinrich Ritter, die Ärzte Dr. Karl Schilling und Dr. Reinhold Daum sowie den Lehrer Georg Becker. Sie engagierten sich nach dem Hitler-Putsch für die NS-Partei, warben intensiv und bauten Kontakte auf. Und das erfolgreich: Bei der Reichstagswahl im Dezember 1924 stimmten knapp 14 Prozent der Wähler für die Nationalsozialistische Freiheitspartei, die in der Region ansonsten nur 0,6 Prozent erreichte.10 Auch in den Nachbargemeinden Framersheim, Dorn-Dürkheim, Gau-Heppenheim und Bechtolsheim (Kreis Alzey) erreichte die NS-Nachfolgepartei 1924 gute Wahlergebnisse. Der Einsatz der Gau-Odernheimer NS-Aktivisten zog Ermittlungsverfahren der Franzosen nach sich. Daum und Schilling wurden 1924 verhaftet, nach einer Amnestie aber rasch wieder freigelassen.11 Der Auf- und Ausbau der NS-Parteiorganisation 1925–1930 Mitte Februar 1925 hob die bayerische Landesregierung ihr nach dem Hitler-Putsch erlassenes Verbot der NSDAP auf, und die Partei gründete sich in München neu. Als Kurs wählte Hitler nun den „legalen Weg“ zur Eroberung der Macht über Wahlen und Parlamente. Die Hohe Interalliierte Rheinlandkommission hob daraufhin Ende März 1925 ebenfalls ihr Verbot der NSDAP auf. Die Franzosen betonten jedoch, sie würden die Hitler-Partei bei ordnungswidrigem Verhalten jederzeit wieder verbieten. Die französische Besatzungsverwaltung beobachtete in dem von ihr kontrollierten Gebiet bis zum Ende der Besatzungszeit im Sommer 1930 die Aktivitäten der NSDAP. Französische Beamte besuchten Treffen und Versammlungen der Nationalsozialisten und begleiteten öffentliche Umzüge. Regelmäßig berichtete die französische Geheimpolizei der Hohen Interalliierten Rheinlandkommission über die Aktivitäten dieser rechten Partei.12 Zwar wurden die besetzten Rheinlande nach der Wiedergründung der NSDAP ein Hauptzentrum der Aktivität und Propaganda der nationalsozialistischen Bewegung im Deutschen Reich. Zugleich behinderte jedoch die französische Überwachung den Neuaufbau der Partei und ihre Arbeit. Der NSDAP-Bezirksführer von Worms, Claus Selzner, bilanzierte 1927 in einem Schreiben an die Gauleitung Hessen-Darmstadt, dass aufgrund der Überwachung der Hitler-Partei durch die französische Besatzung die NSDAP der rheinhes8 9
10 11 12
Würz, Kampfzeit, S. 100. Zu Gau-Odernheim siehe auch: Michael Kißener: Gau-Odernheim. „Stütze für das nationalsozialistische Werden in Rheinhessen“. In: Ders. (Hg.): Rheinhessische Wege in den Nationalsozialismus. Studien zu rheinhessischen Landgemeinden von der Weimarer Republik bis zum Ende der NS-Diktatur. Worms 2010, S. 161–179. Ergebnis nach Thomas Klein: Die Hessen als Reichstagswähler. Tabellenwerk zur politischen Landesgeschichte 1867–1933. Bd. 3: Großherzogtum/Volksstaat Hessen 1867–1933 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen, 51/3). Marburg 1995. Würz, Kampfzeit, S. 105–118. Würz, Kampfzeit, S. 119–122.
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Markus Würz
sischen Bevölkerung besonders gefährlich erscheine. Die neugegründete Mainzer Ortsgruppe vermochte es nur unter großen Mühen, für die Kommunalwahl 1925 eine Liste aufzustellen, weil Parteigenossen im Falle ihrer Kandidatur französische Sanktionen fürchteten. Auch verweigerten die Mainzer Gastwirte der Partei die Nutzung ihrer Gasträume. Die in Gau-Odernheim seit 1923 aktiven Hitler-Anhänger wagten erst 1928 „infolge der Schwierigkeiten der Besatzung“ den offiziellen Parteieintritt und die Gründung einer Ortsgruppe. Die Franzosen ermittelten weiterhin gegen einzelne Nationalsozialisten und führten Hausdurchsuchungen durch. Ein französisches Verbot der Parteizeitung behinderte die Propagandaarbeit. Vertrieb und Verkauf des „Völkischen Beobachters“ waren bereits 1923 zeitweise von der Interalliierten Rheinlandkommission untersagt worden. Nach der Wiedergründung der Partei wurde die Zeitung in den Jahren 1926–1928 und nochmals 1929– 1930 verboten. Schließlich behinderte ein Mitte 1929 von der Rheinlandkommission erlassenes Uniformverbot die Parteiarbeit.13 Trotz der französischen Überwachung erkannten sowohl die rheinhessischen NS-Parteiaktivisten als auch die Münchener Reichsleitung die günstigen Voraussetzungen für ein breites Fußfassen in den besetzten (und den 1925 geräumten) Gebieten. Über den Kreis der Völkischen hinaus verstanden es Parteigenossen, „nationale Männer“ zu gewinnen. Oftmals hatten diese negative Erfahrungen gemacht oder Konflikte mit den Besatzungstruppen erlebt. Einen weiteren Kreis, aus dem Mitglieder und Wähler rekrutiert wurden, stellten im ländlichen Raum die Verlierer der Agrarkrise dar. Die von der französischen Besatzungspolitik mit verschuldete ökonomische Krise wussten einige rheinhessische NS-Aktivisten geschickt zu nutzen, um Unterstützung auf dem Land zu gewinnen.14 Mitglieder der Reichsführung besuchten bis 1930 aus Angst vor Repressionen der Besatzungsbehörde jedoch nur selten Rheinhessen. Lediglich Heinrich Himmler, zu dieser Zeit stellvertretender Reichspropagandaleiter und Referent für Landwirtschaftsfragen, war 1927/28 zwei Mal in der Region. Organisatorische Treffen mit den Parteigenossen aus den besetzten Gebieten fanden im unbesetzten Gebiet statt. Hitler sprach erstmals während des hessischen Landtagswahlkampfes 1931 in Mainz, also nach dem Abzug der Franzosen. Der Auf- und Ausbau der NSDAP in Rheinhessen erhielt somit wenig Unterstützung von außerhalb und war motivierten Parteigenossen der Region zu verdanken.15 In Worms16 gründete sich die Ortsgruppe im September/Oktober 1925 neu, nahm mit einer Liste an der Mitte November stattfindenden Kommunalwahl teil und konnte ein Mandat gewinnen. Als Führungsfigur setzte sich SA-Führer Claus Selzner durch, der 1926 auch Ortsgruppenleiter wurde und die Jugendorganisation Hitlerjugend (HJ) leitete. Er arbeitete intensiv für den Ausbau der Partei im Kreis 13 14 15 16
Ebenda. Ebenda. Ebenda. Zu Worms siehe auch: Fritz Reuter: Die nationalsozialistische „Machtergreifung“ in der Stadt Worms 1933. Voraussetzungen, Ereignisse, Folgen. In: Fritz Reuter (Hg.): Worms 1933. Zeitzeugnisse und Zeitzeugen. Mit den „Erinnerungen“ von Oberbürgermeister Wilhelm Rahn (Der Wormsgau; Beihefte 35). Worms 1995, S. 11–75.
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und war 1926 mitverantwortlich für die Ortsgruppengründung in Bechtheim. Hier entstand im Herbst desselben Jahres auch die erste SS-Einheit in Rheinhessen. In Mainz war der Jurist Dr. Hugo Wolf bis 1927 die starke Führungspersönlichkeit.17 Er gründete im September/Oktober 1925 die Ortsgruppe der NSDAP. Ende des Jahres betrauten die rheinhessischen Nationalsozialisten Wolf mit der Provinzialleitung, und er engagierte sich intensiv für den Aufbau neuer Ortsgruppen sowie die Propagandaarbeit, etwa als Redner. Bis 1926 entstanden so neue Ortsgruppen in Guntersblum, Udenheim (Kreis Oppenheim) und Osthofen (Kreis Worms). Die hessischen Nationalsozialisten kürten Wolf im Frühjahr 1926 sogar zu ihrem Kandidaten für die Leitung eines zukünftigen Parteigaues Hessen-Darmstadt. Ein Zwischenschritt auf dem Weg dorthin war, dass Wolf im Herbst 1926 beauftragt wurde, über Rheinhessen hinaus den Parteiaufbau in Teilen der hessischen Provinz Starkenburg sowie rund um das preußische Wiesbaden zu koordinieren. Auch die NS-Aktivisten aus Gau-Odernheim setzten ihr Engagement nach der Wiedergründung fort. Dr. Daum gründete 1925 eine Ortsgruppe in Framersheim18 (Kreis Alzey) und 1926 in Oppenheim. Auch die Gründung der Ortsgruppe Bechtolsheim ging auf den Gau-Odernheimer Zirkel zurück, der allerdings aufgrund der französischen Überwachung vor der Gründung einer eigenen Ortsgruppe zurückschreckte.19 Virulentes Problem der rheinhessischen Nationalsozialisten war die Bildung von parteiinternen Cliquen, die oftmals mehr gegeneinander als miteinander agierten. 1926/27 standen sich dabei die Anhänger Wolfs und Selzners gegenüber. Die Münchener Reichsleitung der NSDAP kritisierte daher die Arbeit Wolfs. Wolf wurde im Frühjahr 1927 nicht zum Leiter des neuen Parteigaues Hessen-Darmstadt berufen und verließ daraufhin die Hitler-Partei. Mitschuld an Wolfs Ausscheiden hatten auch die Verhältnisse in Mainz. Die Ortsgruppe hatte keine günstige Entwicklung genommen. Sie stagnierte, fiel als Radautruppe auf und wurde nach Unregelmäßigkeiten 1927 sogar aufgelöst. Nach ihrer Wiedergründung blieb Mainz bis 1930 ein „Sorgenkind“ der NSDAP, eine Reorganisation 1928 vergiftete zudem das Verhältnis der Mainzer Parteigenossen zur Gauleitung in Darmstadt.20 Nach Wolfs Austritt wurde der Wormser Selzner der wichtigste Propagandaredner, zugleich ab 1927 das Gesicht der NSDAP im Wormser Stadtrat. Auch publizierte Selzner ab April 1927 mit der „Faust“ eine hetzerische Wochenzeitung. Seine führende Rolle in Rheinhessen ließ Selzner 1927/28 sogar einen Konflikt mit dem hessischen Gauleiter Friedrich Ringshausen überstehen, den am Ende Hitler zum Vorteil Selzners entschied. Der Konflikt Selzner-Ringshausen sorgte zwar auch für
17 18
19 20
Zur Biografie Wolfs siehe auch: Markus Würz: Dr. Hugo Wolf (1896–1960). Vom NSDAPOrtsgruppengründer zum Widerstandskämpfer. In: Mainzer Geschichtsblätter 15 (2014), S. 45–69. Zu Framersheim siehe auch: Dieter Hoffmann: Framersheim. Eine Keimzelle der Bewegung. In: Michel Kißener (Hg.): Rheinhessische Wege in den Nationalsozialismus. Studien zu rheinhessischen Landgemeinden von der Weimarer Republik bis zum Ende der NS-Diktatur. Worms 2010, S. 124–126. Würz, Kampfzeit, S. 124–129. Würz, Kampfzeit, S. 137–140.
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Markus Würz
Streitereien in der Wormser Ortsgruppe, die dennoch relativ effektiv Propaganda betrieb und wuchs.21 Gezielt umwarb die NS-Partei in Rheinhessen bereits in dieser Phase die Landbevölkerung, die von einer wirtschaftlichen Krise betroffen war. Bis Ende 1929 entstand so ein Netz von Ortsgruppen, unter anderem in Uelversheim, Wintersheim, Schornsheim, Mommenheim (Kreis Oppenheim), Dittelsheim, Westhofen, Gundersheim, Blödesheim, Rheindürkheim, Heppenheim a.d.W. (Kreis Worms), Gau-Odernheim, Offenheim, Weinheim, Welgesheim, Flomborn (Kreis Alzey), Nieder-Ingelheim22, Jugenheim, Schwabenheim, Bingen, Gau-Algesheim (Kreis Bingen) und Stadecken23 (Kreis Mainz). Ab 1929 bestanden Kreisleitungen, die die Arbeit in Rheinhessen koordinierten. Auch bei den Kommunal-, Kreis- und Provinzialwahlen Mitte November 1929 war die Partei erfolgreich und erzielte Mandate: In Worms, Bechtheim, Osthofen (jeweils 3), Guntersblum (2), Rheindürkheim und Dorn-Dürkheim (1). In Gau-Odernheim stellte die Partei mit fünf Personen die stärkste Fraktion im Gemeinderat.24 Auf dem Weg zu Massenbewegung: Die NSDAP 1930–1933 Ende Juni 1930 zogen die letzten französischen Soldaten aus Mainz ab und die Besatzungszeit endete. Bereits im Vorfeld waren die französischen Überwachungsmaßnahmen reduziert worden. Der Abzug der Franzosen weitete den Handlungsspielraum der Nationalsozialisten aus und stellte den Beginn des Aufstiegs der Hitler-Partei zur Massenbewegung dar. Sympathisanten bekannten nun offen ihre Unterstützung.25 Die katastrophalen ökonomischen und sozialen Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise erschütterten das zerbrechliche politische System der Weimarer Republik, radikalisierten das politische Klima. Die NS-Partei nutzte die Lage propagandistisch aus und stieg zur stärksten politischen Kraft auf.26 In Rheinhessen setzte aufgrund der Agrarkrise der Aufschwung der Partei bereits kurz vor der Welt21 22
23
24 25 26
Würz, Kampfzeit, S. 140–146. Zu Ingelheim siehe auch: Caroline Klausing: Die „Revolution des Geistes“ oder Wie Ingelheim am Rhein nationalsozialistisch wurde. In: Michael Kißener (Hg.): Rheinhessische Wege in den Nationalsozialismus. Studien zu Rheinhessischen Landgemeinden von der Weimarer Republik bis zum Ende der NS-Diktatur. Worms 2010, S. 193–233; Markus Würz: Der Aufstieg des Nationalsozialismus. In: Hans-Georg Meyer/Caroline Klausing (Hg.): Freudige Gefolgschaft und bedingungslose Einordnung...? Der Nationalsozialismus in Ingelheim. Ingelheim 2011, S. 70–92. Markus Würz: „Gruß aus Hitlerhausen (z.Zt. noch Stadecken genannt)“ – Die Burg der NSBewegung im nördlichen Rheinhessen. In: Michael Kißener (Hg.): Rheinhessische Wege in den Nationalsozialismus. Studien zu rheinhessischen Landgemeinden von der Weimarer Republik bis zum Ende der NS-Diktatur. Worms 2010, S. 235–260. Würz, Kampfzeit, S. 147–157. Würz, Kampfzeit, S. 166–167. Michael Burleigh: Die Zeit des Nationalsozialismus. Eine Gesamtdarstellung. 2. Aufl. Frankfurt am Main 2000, S. 150–178; siehe umfassend zur Staats- und Wirtschaftskrise der Weimarer Republik: Heinrich August Winkler: Weimar 1918–1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie. München 2005, S. 352–524; Herbert, Geschichte Deutschlands, S. 284– 286, 292–301.
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wirtschaftskrise 1929 ein, wie sich an der rasant steigenden Zahl der ländlichen NSDAP-Ortsgruppen festmachen lässt. Bis Mitte 1932 erfuhr die NSDAP einen dynamischen Zuwachs bis dahin unbekannten Ausmaßes. Unmittelbar um den 30. Juni 1930, den Tag des Abzugs der französischen Truppen, wurden neue Ortsgruppen in Essenheim27 (Kreis Mainz), Hahnheim, Bodenheim28 und Nierstein29 (Kreis Oppenheim) gegründet. Besonders sprunghaft stieg die Zahl dann in den darauf folgenden Monaten und vor allem nach dem Wahlerfolg der NSDAP bei der Reichstagswahl im September 1930 an. So entstanden bis Ende 1930 Ortsgruppen in Alzey, Albig, Flonheim, Badenheim, Bormheim, Dautenheim, Gau-Heppenheim, Sprendlingen, Wöllstein, Wonsheim (Kreis Alzey), Budenheim, Gonsenheim, Hechtsheim (Kreis Mainz), Armsheim, Friesenheim, Ober-Hilbersheim, Wörrstadt (Kreis Oppenheim), Dorn-Dürkheim, Ibersheim, Pfeddersheim (Kreis Worms) und in Bingen. Auch die Mainzer Ortsgruppe erlebte einen Aufschwung und organisierte sich neu. Laut eigenen Angaben habe sie Ende Juli 1930 bereits 300 Mitglieder gezählt, Anfang des Jahres seien es nur 50 gewesen. Die Wahlergebnisse verdeutlichten die Dynamik der NS-Bewegung. Bei der Reichstagswahl am 14. September 1930 wurde die NSDAP in Rheinhessen mit 17,7 Prozent (Reichsdurchschnitt 18,3%) hinter SPD (24,8%) und Zentrum (21,7%) drittstärkste Kraft. In den Kreisen Alzey, Oppenheim und Worms schnitt sie zum Teil deutlich stärker ab und wurde in Alzey und Oppenheim stärkste, in Worms zweitstärkste Partei.30 Ergebnis der NSDAP, Reichstagswahl am 14. September 193031 NSDAP-Anteil Kreis
abs.
rel.
Alzey
5.330
25,7
Bingen
2.256
9,9
Mainz
14.425
14,4
Oppenheim
6.934
28,3
Worms
10.426
19
Rheinhessen
39.371
17,7
27 28
29 30 31
Siehe auch: Markus Würz: Die Anfänge des Nationalsozialismus in Essenheim. In: Stefan Mossel: Essenheim. Geschichte und Geschichten. Ingelheim 2013, S. 56–67. Zu Bodenheim siehe auch: Hedwig Brüchert: Bodenheim in der Zeit des Nationalsozialismus. In: Michael Kißener (Hg.): Rheinhessische Wege in den Nationalsozialismus. Studien zu rheinhessischen Landgemeinden von der Weimarer Republik bis zum Ende der NS-Diktatur. Worms 2010, S. 91–122. Zu Nierstein siehe auch: Markus Würz: Die Niersteiner NSDAP in der Weimarer Republik. In: Niersteiner Geschichtsblätter 17 (2011), S. 20–33. Würz, Kampfzeit, S. 171–176. Ergebnisse nach Klein, Reichstagswähler.
160
Markus Würz
In einigen Gemeinden erzielte sie besonders starke Ergebnisse, in Bechtheim (Kreis Worms, 29%), Bodenheim (Kreis Mainz, 24%), Dienheim (Kreis Oppenheim, 23,5%), Guntersblum (Kreis Oppenheim) und Heppenheim a.d.W. (Kreis Worms, beide 26%). Einige Gemeinden wurden zu Wählerhochburgen, wie etwa Dintesheim (Kreis Alzey, 50%), Engelstadt (Kreis Bingen, 45,6%), Gau-Odernheim (Kreis Alzey, 45,4%), Nierstein (Kreis Oppenheim, 41,5%), Stadecken (Kreis Mainz, 61%) und Uelversheim (Kreis Oppenheim, 40,7%). Dieser starke Wählerzuwachs setzte sich bei den hessischen Landtagswahlen 1931 und 1932, bei der Reichspräsidentenwahl im Frühjahr 1932 sowie bei der Reichstagswahl Ende Juli 1932 fort. Bei der Landtagswahl im November 1931 steigerte die Hitler-Partei ihr Ergebnis auf knapp 35 Prozent und wurde stärkste Partei in Rheinhessen. Die Zugewinne bei der Landtagswahl im Juni und der Reichstagswahl im Juli 1932 beschränkten sich nur noch auf wenige Prozentpunkte. Die Partei holte dabei in den mehrheitlich evangelischen Kreisen Worms, Oppenheim und Alzey deutlich stärkere Ergebnisse als in den mehrheitlich katholischen Kreisen Mainz und Bingen.32 Ergebnis der NSDAP, Landtagswahl am 15. November 1931 NSDAP-Anteil Kreis
abs.
rel.
Alzey
11.350
49,9
Bingen
6.917
29,3
Mainz
29.393
28,2
Oppenheim
13.436
49,2
Worms
22.119
38,2
Rheinhessen
83.215
35,3
Ergebnis der NSDAP, Reichstagswahl am 31. Juli 1932 NSDAP-Anteil Kreis
abs.
rel.
Alzey
13.333
52,6
Bingen
8.629
32,7
Mainz
32.180
31,1
Oppenheim
15.614
52,4
Worms
26.359
43,1
Rheinhessen
96.115
39
32
Würz, Kampfzeit, S. 177–178.
Der Aufstieg der NSDAP in Rheinhessen
161
In Stadecken (Kreis Mainz) verbesserte die NS-Partei ihre Wahlergebnisse auf über 90 Prozent, in Engelstadt (Kreis Bingen) auf knapp 90 Prozent, in Dintesheim (Kreis Alzey) auf 85 Prozent und in Essenheim (Kreis Mainz) auf nahezu 80 Prozent.33 Mit den Erfolgen bei der Landtagswahl 1931 und der Neuwahl 1932 war die Partei erstmals auch im Landtag in Darmstadt vertreten. Zur NS-Fraktion gehörten dabei auch rheinhessische Parteigenossen.34 Die Landtagsabgeordneten profitierten von Diäten, Freifahrkarten, Immunität sowie Ansehen. Der Hitler-Partei gelang es besonders, Nicht-Wähler zu mobilisieren. Die Wahlerfolge der NS-Partei variierten innerhalb der Region allerdings deutlich. Es zeigte sich ein Stadt-Land-Gefälle, das heißt, die Partei erzielte in den ländlichen Gebieten erheblich stärkere Ergebnisse als in den Städten.35 Der dynamische Zuwachs zeigte sich 1931/32 auch am starken Anwachsen der Mitgliederzahlen. Neue Ortsgruppen entstanden in Bechenheim, Erbes-Büdesheim, Frei-Laubersheim, Freimersheim, Fürfeld, Lonsheim, Nieder-Wiesen, Wahlheim, Wendelsheim (Kreis Alzey), Aspisheim, Elsheim, Grolsheim, Horrweiler (Kreis Bingen), Ensheim, Partenheim, Spiesheim, Wolfsheim, Vendersheim (Kreis Oppenheim), Eich, Eppelsheim, Hangen-Weisheim, Herrnsheim, Horchheim, Monzernheim, Nieder-Flörsheim, Ober-Flörsheim und Hamm (Kreis Worms).36 Eindrucksvoll belegt der Auf- und Ausbau der rheinhessischen SA-Standarte den Aufstieg der NSDAP. Nachdem bis 1930 zunächst alle SA-Männer im Volksstaat Hessen in einer SA-Standarte zusammengefasst waren, bewirkte der starke Zulauf, dass im Winter 1929/30 jede hessische Provinz eine eigene SA-Standarte erhielt. Aufgrund des weiteren Zulaufes wurde im Mai 1931 die Zahl der rheinhessischen SA-Stürme erweitert, und bereits 1932 musste die rheinhessische Standarte erneut geteilt werden, so dass ab Herbst drei Standarten bestanden.37 Zum dynamischen Aufschwung trug auch die 1928 begonnene Reform der Parteiorganisation bei, die die Arbeit professionalisierte und zentralisierte. Neue Unterorganisationen sprachen breitere Kreise der Bevölkerung an, um neue Mitglieder und Wähler zu gewinnen.38 Die NS-Propaganda gewann insgesamt bis 1933 an Vielfalt.39 Auf dem Land versprachen die Nationalsozialisten die Not zu lindern. Anfang 1930 setzte eine Kampagne zum Thema „Volksnot – Bauernnot“ ein. Für den Erfolg waren dabei zwei Entwicklungen entscheidend: Der NS-Partei gelang es, die Freie Rheinhessische Bauernschaft zu durchsetzen. Die Bauernschaft wirkte als Interessenvertretungsorganisation der Landwirte und schloss 1932 offiziell einen Kooperationsvertrag mit der NSDAP ab. Zudem konnte die Hitler-Partei in den ländlichen Gemein33 34
35 36 37 38 39
Ebenda; Wahlergebnisse nach Klein, Reichstagswähler. Zur NSDAP-Fraktion im hessischen Landtag siehe: Eckhart G. Franz/Manfred Köhler (Bearb.): Parlament im Kampf um die Demokratie. Der Landtag des Volksstaats Hessen 1919– 1933 (Arbeiten der Hessischen Historischen Kommission; N. F., 6; Vorgeschichte und Geschichte des Parlamentarismus in Hessen, 6). Darmstadt 1991, S. 28, 39–47, 61–63, 487–552. Würz, Kampfzeit, S.169–170. Würz, Kampfzeit, S. 179–185. Würz, Kampfzeit, S. 185–186. Würz, Kampfzeit, S. 186–197. Siehe ausführlicher: Würz, Kampfzeit, S. 197–205.
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Markus Würz
den Meinungsführer für sich gewinnen. Hatten vor 1930 vor allem soziale Vorbehalte einer Unterstützung der Hitler-Partei im Weg gestanden, so ließen bürgerliche Honoratioren, wie evangelische Pfarrer, Ärzte und Lehrer, bis 1933 auf breiter Front ihre Hemmungen gegenüber der NS-Partei fallen und verhalfen ihr so zum Durchbruch. Mehrere Parteigenossen konnten so in den Dörfern in kommunale Spitzenpositionen vordringen. Angefangen mit Heinrich Ritter in Gau-Odernheim (1930), dem ersten nationalsozialistischen Bürgermeister in Hessen, eroberten zahlreiche NS-Anhänger die Posten als Bürgermeister und Beigeordnete. Zugleich saßen mehr und mehr Nationalsozialisten in Gemeinderäten, weil Mandatsträger zur NSDAP übertraten. Ausdruck der sich wandelnden Mehrheitsverhältnisse in den Gemeinderäten der Landgemeinden waren die zahlreichen Ehrenbürgerschaften für Adolf Hitler, die bereits vor dessen Kanzlerschaft ausgesprochen wurden.40 Geringere Erfolge in der Mitglieder- und Wählerwerbung hatte die NSDAP in Rheinhessen in der katholischen Bevölkerung. Die Erklärung der katholischen Bischöfe, dass die Lehren des Katholizismus und des Nationalsozialismus unvereinbar seien – erstmals so 1930 im Mainzer Bistum formuliert – hemmte weit über das Jahr 1933 hinaus die Unterstützung, die die NS-Partei von Seiten der gläubigen Katholiken erfuhr. Auf dem Land bestärkten soziale Kontrolle und Konformitätsdruck des dörflichen Umfeldes den Zusammenhalt der katholischen Bevölkerungsteile und behinderten so die Ausbreitung der NSDAP in den mehrheitlich katholischen Gemeinden, beispielsweise in Gau-Bickelheim41 (Kreis Alzey). Bezeichnenderweise konnte die NS-Partei in einigen katholischen Gemeinden erst im Herbst 1932 erstmals Propagandaveranstaltungen abhalten, so etwa in Drais (Kreis Mainz). Das Zentrum als Partei des politischen Katholizismus vermochte es weitgehend bis zum Frühjahr 1933, seine Wählerschaft an sich zu binden.42 Der Aufstieg der NSDAP zur Massenbewegung war parteiintern in Rheinhessen weiterhin begleitet von Uneinigkeit zwischen den Parteigenossen. Die Konfliktlinien der Zeit vor 1930 lebten fort. Zugleich brachte der rasante Mitgliederzuwachs neue Probleme, beispielsweise zwischen den „Alten Kämpfern“ und den Neumitgliedern. Die Partei wuchs zu einer sozial heterogenen, volksparteilichen
40 41
42
Würz, Kampfzeit, S. 205–217. Vgl. Eva Heller-Karneth: Gut katholisch. Gau-Bickelheim und der Aufstieg des Nationalsozialismus im Alzeyer Land. In: Alzheimer, Heidrun u.a. (Hg.): Bilder – Sachen – Mentalitäten. Arbeitsfelder historischer Kulturwissenschaften. Festschrift Wolfgang Brückner. Regensburg 2010, S. 633–644; Dies.: Das „vollkommen katholische und friedliche“ Gau-Bickelheim. Zum Aufstieg des Nationalsozialismus im Alzeyer Land. In: Museum Alzey und Altertumsverein für Alzey und Umgebung (Hg.): „Beseelt mit Hitlergeist“ … bis zum bitteren Ende. Nationalsozialismus im Alzeyer Land. Begleitband zur Sonderausstellung im Museum Alzey (Alzeyer Geschichtsblätter, Sonderheft, 26). Alzey 2012, S. 112–136. Würz, Kampfzeit, S. 217–221; vgl. auch Cornelia Rauh-Kühne: Katholisches Sozialmilieu, Region und Nationalsozialismus. In: Horst Möller/Andreas Wirsching/Walter Ziegler (Hg.): Nationalsozialismus in der Region (Sondernummer der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte). München 1996, S. 213–235; Wolfram Pyta: Dorfgemeinschaft und Parteipolitik 1918–1933. Die Verschränkungen von Milieu und Parteien in den protestantischen Landgebieten Deutschlands in der Weimarer Republik (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, 106). Düsseldorf 1996.
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Sammlungsbewegung an.43 Dies zeigte sich beispielsweise in den Ortsgruppen Mainz und Worms, in denen sich unterschiedliche Parteiflügel, aber auch ältere und jüngere Parteimitglieder zum Teil feindselig gegenüberstanden.44 Die Zerstrittenheit trug mit dazu bei, dass Claus Selzner Rheinhessen verließ, um fortan im nahen pfälzischen Ludwigshafen weiterzuwirken. Eine zentrale Führungspersönlichkeit, ein „Gesicht der NSDAP“ in der Region hatte die Partei in dieser Phase daher nicht.45 Der dynamische Aufstieg endete mit der Reichstagswahl im Juni 1932, und die Partei verzeichnete bei der Neuwahl des Reichstages im November auch in der linksrheinischen Provinz Hessens Verluste. In allen fünf Kreisen verlor sie Wählerstimmen. Ergebnis der NSDAP, Reichstagswahl am 6. November 193246 NSDAP-Anteil Kreis
abs.
rel.
Alzey
12.111
49,7
Bingen
7.015
28,3
Mainz
29.191
28,3
Oppenheim
14.136
49,9
Worms
24.089
40,0
Rheinhessen
86.542
35,9
Zeitgleich zeigten sich auch parteiintern Krisensymptome, etwa zurückgehender Besuch bei Veranstaltungen. Um die Moral der Funktionäre und Parteigenossen zu stärken, organisierte der Gau Hessen-Darmstadt Anfang Dezember 1932 sogar Arbeitstagungen in Mainz und Worms. Offen wurde dabei auch der Führungsstreit zwischen Hitler und Gregor Strasser thematisiert, mit dem Ziel, den „Kampfesmut“ der Parteigenossen wieder herzustellen. Ein Stimmungswandel trat jedoch erst mit der Übertragung der Reichskanzlerschaft auf Hitler Ende Januar 1933 ein.47
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46 47
Wolfgang Schieder: Die NSDAP vor 1933. Profil einer faschistischen Partei. In: Geschichte und Gesellschaft 19 (1993), S. 152. Dazu im Detail: Würz, Kampfzeit, S. 221–232. Zu den Köpfen der NSDAP in Rheinhessen siehe auch: Franz Maier: Biographisches Organisationshandbuch der NSDAP und ihrer Gliederungen im Gebiet des heutigen Landes Rheinland-Pfalz (Veröffentlichung der Kommission des Landtages für die Geschichte des Landes Rheinland-Pfalz, 28). Mainz 2007. Ergebnisse nach Klein, Reichstagswähler. Würz, Kampfzeit, S. 232–235.
Christina Niem
„Die Macht aus Rheinhessen“ Zur Formierung regionaler Identität bei Fans des 1. FSV Mainz 05 Von einer „Prozession zum neuen Mainzer Wallfahrtsort“ berichteten Journalisten am 3. Juli 2011. Sie und mit ihnen viele Zuschauer konnten einen Umzug beobachten, der auf frappierende Weise dem Rosenmontagszug der Mainzer Fastnacht glich: „Für Stimmung sorgten verschiedene Fastnachtsvereine. Die Mainzer Ranzengarde ließ sich ebenso wenig lumpen wie die Burggrafengarde, die Nodequetscher, die Haybachfetzer oder die Mainzer Prinzengarde.“1 Flankiert wurde der Zug von Schwellköpfen mit 05-Schals um den Hals, Helau-Rufe ertönten – Fastnacht mitten im Sommer also? Es scheint so: „Ein Karnevalsverein zieht um“,2 hieß es bereits in der Vorberichterstattung der Mainzer „Allgemeinen Zeitung“, und die „Prozession zum neuen Mainzer Wallfahrtsort“ führte vom alten Bruchwegstadion zur Coface-Arena, in „unser neues Fußball-Wohnzimmer“, wie die Schlagzeile der „Mainzer Rheinzeitung“ lautete.3 Mainz 05 nahm Abschied vom Bruchweg und weihte an diesem Tag die neue Arena ein, welche seitdem Spielstätte des 1. FSV ist. Die Fußballfankultur von Mainz 05 zeigt sich hier unübersehbar angereichert mit signifikanten Elementen der Mainzer Fest- und Brauchkultur, genauer gesagt der Mainzer Fastnacht. Über diese Zusammenhänge habe ich mir an anderer Stelle Gedanken gemacht,4 hier möchte ich zur Annäherung an das Thema der Formierung von regionaler Identität das alte Stadion am Bruchweg kurz thematisieren, bevor ich mich auf Bezüge zu Rheinhessen konzentriere. Bruchweg-Sehnsucht „BruchwegSehnsucht“ nennt sich ein Fanklub, den Anhänger von Mainz 05 in der Bundeshauptstadt Berlin gegründet haben. Beispielhaft für die Gemütslagen vieler Exil-Fanklubs heißt es auf der Homepage von „BruchwegSehnsucht“:
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http://www.allgemeine-zeitung.de/sport/top-clubs/mainz-05/10915432.htm [eingesehen am 01.11.2011]. Allgemeine Zeitung Mainz vom 22.6.2011, S. 11. Sonderbeilage „Coface Arena. Unser neues Fußball-Wohnzimmer“ der Mainzer Rheinzeitung vom 25.6.2011; eine Sonderbeilage „Die Arena“ gab auch die Verlagsgruppe Rhein Main heraus, am 2.7.2011. Vgl. Christina Niem: „Im Schatten des Doms“ – Fußballfankultur und Fastnacht in Mainz. In: Volkskunde in Rheinland-Pfalz 28, 2013, S. 5–22.
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Christina Niem
Liebe Mainzer, Zugezogene, (Durch-)Reisende ... liebe 05er in Berlin! Fern ab von der Heimat des FSV? Fehlt Euch auch etwas hier im rauhen Norden? Bruchweg ist überall! Exil-Mainzer und Ur-Berliner mit 05-Herz haben sich zusammengetan, um Spieltag für Spieltag geMAINZam durch die guten wie die schlechten Zeiten zu gehen. Wir freuen uns über Anregungen, Fragen, Besuch und Zuwachs. Kommt einfach vorbei! FÜR IMMER MAINZ 05 – 1. oder 2. Liga, vor Ort oder 600 km weit weg. Denn die Sehnsucht schlägt in den Herzen! BruchwegSehnsucht.5 Das alte Bruchwegstadion, Spielstätte der 05er bis zum eingangs erwähnten Umzug im Juli 2011, steht hier im Mittelpunkt des Interesses dieser in Berlin lebenden Fans und ist Objekt der Identifikation mit Mainz 05; es symbolisiert die Liebe der „ExilMainzer“ zum Verein wie auch zur Stadt Mainz, mit deren Namen im Text gespielt wird: „GeMAINZam durch die guten wie die schlechten Zeiten zu gehen“, wird gefordert, und die Fans nehmen damit Bezug auf eine Aktion in der (Zweitliga-) Saison 2008/09, als Spieler und Trainer ein T-Shirt mit der Aufschrift „Alle für einen, einer für alle – geMAINZam zum Aufstieg!“ trugen. Die am eingangs geschilderten „Umzug“ beteiligten Akteure zitieren und inszenieren die Welt der Fastnacht als konstitutives Element der Zuneigung zu Mainz 05. Sie bringen damit ein Anderssein zum Ausdruck, indem sie lokales, nämlich ein spezifisch mainzerisches Selbstbewusstsein demonstrieren. Die in Berlin lebenden Fans bringen ihre Sehnsucht nach „Heimat“ zum Ausdruck, indem sie das Stadion als Pars pro toto für den Verein setzen. Also: Mainz, wohin man schaut? Was ist mit Rheinhessen? Bei meinem titelgebenden Zitat „Die Macht aus Rheinhessen“ handelt es sich um den Aufdruck auf einem Schal,6 den ich vor einiger Zeit im Stadion gesehen habe. Diese plakative Aussage nehme ich auf und frage nach der Relevanz von Rheinhessen für die Fans: welche Bedeutung kommt dieser Region zu? Genauer gefragt: wie funktioniert die Identifikation mit dem Verein, und welche Praktiken geben Auskunft über die Art und Weise der Formierung regionaler Identität? Fußball und regionale Identität Bis zur Saison 2003/2004 spielte der FSV zweitklassig, bis dahin gab es im Bundesland Rheinland-Pfalz nur einen Erstligaverein, den 1. FC Kaiserslautern, der eine große Fangemeinde um sich scharte, u.a. den damaligen Ministerpräsidenten, den gebürtigen Pfälzer Kurt Beck. Als Mainz 05 im Mai 2004 endlich der zuvor 5 6
http://bruchweg.fussball-fans.org/ [eingesehen am 01.11.2011]. Ein Schal mit diesem Aufdruck findet sich nicht im aktuellen Sortiment des Fan-Shops.
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zweimal knapp verpasste Aufstieg in die Bundesliga gelungen war, geriet es in der Fußballberichterstattung von Rundfunk und Fernsehen überregional stärker ins Blickfeld als zuvor. Nicht alle Reporter – besonders die in Berlin agierenden Journalisten der zu dieser Zeit führenden Fußballsendung „ran“ des Privatsenders SAT1 – konnten diesen Verein aus Rheinland-Pfalz korrekt regional einordnen und sprachen zum Verdruss der Hiesigen häufig von den „Pfälzern“ – dass es sich um „Rheinhessen“ handelte, musste erst einmal bekannt werden. Ob die Berichterstattung über Mainz 05 die Existenz von Rheinhessen generell bundesweit bekannter macht, ist denkbar, kann aber nicht belegt werden. Mit der Frage nach der identitätsstiftenden Funktion des Fußballspiels und der Fankultur betrete ich kein Neuland, bislang vorliegende Untersuchungen treffen aber nicht genau meine Fragestellung: Zwei Studien zum Phänomen der Fußballfankultur, die in jüngerer Zeit erschienen sind, fokussieren auf Frauen als Fußballfans.7 Um die Fankultur insgesamt geht es Brigitta Schmidt-Lauber, die gemeinsam mit Studierenden des Faches Volkskunde an der Universität Hamburg den Kultclub FC St. Pauli aus kulturwissenschaftlicher Perspektive untersucht und damit die „Ethnographie eines Vereins“ vorgelegt hat.8 Berücksichtigt wird natürlich auch der Bezug zum Stadtteil St. Pauli – der sich aber als urbaner Raum qualitativ stark von der ländlichen Region Rheinhessen unterscheidet. Schmidt-Laubers Projekt und ihre daraus resultierenden Beiträge zur Fankultur9 stellen eine gegenwartsbezogene Herangehensweise an das gesellschaftliche Phänomen Fußball dar, während in den Beiträgen des Tagungsbandes „Fußball und Region in Europa: Probleme regionaler Identität und die Bedeutung einer populären Sportart“ aus historischer Perspektive argumentiert wird.10 Zu einer internationalen Konferenz mit diesem Titel hatte Siegfried Gehrmann eingeladen, um die Bedeutung des Fußballs für die kulturelle Identität von Regionen näher zu betrachten. Historiker aus zahlreichen europäischen Staaten sind hier der Frage nachgegangen, „inwieweit eine solche Identität von diesem Sport geprägt werden kann, welche Traditionen in diesem Zusammenhang eine Rolle gespielt haben, wie tief sie in der Geschichte einer Region verwurzelt sein können und auf welchen gesellschaftlichen und politischen Tatsachen sie beruhen.“ Gehrmanns Resümee lautete: „Als Reaktion auf den europäischen Vereinigungsprozeß und seine nivellierende Tendenz ist ein neues Interesse an der Region und ihrer Geschichte erwacht.“11 Er selbst präsentierte anlässlich dieser Tagung Ergebnisse seiner Forschungen zur Sportgeschichte des Reviers und führt anhand der Beispiele Schalke 04 und BVB Dortmund 09 eine Identifikation vieler Menschen im Ruhrge7 8 9 10 11
Vgl. Almut Sülzle: Frauen, Fußball, Männlichkeiten. Eine ethnografische Studie im Fanblock. Frankfurt a. M. u.a. 2011; außerdem Nicole Selmer: Watching the Boys Play. Frauen als Fußballfans. Kassel 2004. Brigitta Schmidt-Lauber (Hg.): 1. FC St. Pauli. Zur Ethnographie eines Vereins (Studien zur Alltagskulturforschung 4). 3., erg. und erw. Aufl. Münster u. a. 2008. Vgl. Brigitta Schmidt-Lauber: „Der zwölfte Mann“. Die Europäische Ethnologie im Feld der Fußballfans. In: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde LXIII/112 (2009), S. 417–449. Siegfried Gehrmann (Hg.): Fußball und Region in Europa: Probleme regionaler Identität und die Bedeutung einer populären Sportart (Sport, Kultur, Veränderung 27). Münster 1999. Gehrmann: Einleitung. In: Ders., Fußball (wie Anm. 10), S. 11–15, hier S. 11.
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biet mit einem dieser Vereine auf die Tatsache zurück, dass sie anfangs dezidierte Arbeitervereine gewesen seien und damit jeweils die weitaus stärkste Bevölkerungsgruppe des Reviers repräsentiert hätten.12 Den „Mythos“ vom „wahren Fan“ dekonstruierte der Soziologe Lothar Mikos. Er stellte den Wandel des Fußballsports und seiner Fans durch die Prozesse der Professionalisierung, Kommerzialisierung und Mediatisierung unter den Bedingungen der reflexiven Moderne dar und beobachtete eine „Entterritorialisierung“ der Fans.13 Und auch der Sportwissenschaftler Dieter Jütting hat die Entwicklung einer „lokal-globalen Fußballkultur“ bereits beleuchtet.14 Ganz neue Ansätze verfolgen Philip Dine und Seán Crosson, die sich aber genereller auf Sport und seine Implikationen in Bezug auf Identitätsbildungen innerhalb Europas beziehen.15 Aktuelle Ergebnisse eines europäischen Forschungsverbundes wurden jüngst an der Universität Wien auf der Konferenz „Kick it! The Anthropology of European Football“ präsentiert.16 „Die Macht aus Rheinhessen“? Verortung der Fanklubs Das Wissen um die Geschichte und die Tradion eines Vereins ist wichtig, da es zur Konstituierung seiner Identität unmittelbar beiträgt.17 Diese Dimension klammere ich bei meiner folgenden Betrachtung weitgehend aus, sie wäre bei einer umfassenden Forschung selbstredend miteinzubeziehen. Hier schaue ich zunächst auf evidente Phänomene und auf das Agieren von Fans des 1. FSV Mainz 05 im Hinblick auf die Formierung von regionaler Identität im Allgemeinen und „rheinhessischer“ Identität im Besonderen. Um einer Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Verein und seiner eventuell regionale Identität stiftenden Wirkung bei den Fans näher zu kommen, gehe ich im Folgenden zwei Fragen nach: Wo – räumlich gesehen – befinden sich die Fans des Vereins (gemeint sind in der Folge stets die Anhänger der in der 1. Liga spielenden Fußballer) und wie bringen sie regionale Identität zum Ausdruck? Zur Annäherung an beide Fragen habe ich die Homepage von Mainz 05 zu Rate gezogen, wo Fanklubs des Vereins sich registrieren lassen können. Angegeben werden der Klub-Name, Stadt bzw. Ort sowie ein Kontakt. Die 234 aufgeführten Fan12
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Vgl. die genauere Analyse bei Siegfried Gehrmann: Fußballklubs als Mittel regionaler Identitätsbildung. „Schalke“ und „Borussia“ und das Ruhrgebiet. In: Ders., Fußball (wie Anm. 10), S. 87–96, sowie ders.: Fußball, Vereine, Politik. Zur Sportgeschichte des Reviers 1900–1940. Essen 1988. Vgl. Lothar Mikos: Mythos Fan. Fußball-Fankulturen im Kontext gesellschaftlicher Veränderungen. In: Jürgen Mittag/Jörg-Uwe Nieland (Hg.): Das Spiel mit dem Fußball. Interessen, Projektionen und Vereinnahmungen. Essen 2007, S. 479–497. Vgl. Dieter H. Jütting (Hg.): Die lokal-globale Fußballkultur – wissenschaftlich beobachtet (Edition Global-lokale Sportkultur, 12). Münster u.a. 2004. Vgl. Philip Dine/Seán Crosson (Hg.): Sport, representation and evolving identities in Europe (Cultural Identity Studies, 19). Oxford u.a. 2010; Philip Dine: Sport and identity in France. Practices Locations, Representations (Cultural Identity Studies, 14). Oxford u.a. 2012. http://www.free-project.eu/events/Pages/Identities2013.aspx [eingesehen am 19.09.2013]. Vgl. zur Vereinsgeschichte 1. FSV Mainz 05: 100 Jahre. Das Buch zum Jubiläum. Hg. vom 1. FSV Mainz 05. Mainz 2005; Reinhard Rehberg/Christian Karn: Karneval am Bruchweg. Die großen Jahre von Mainz 05. Göttingen 2008.
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klubs18 habe ich in fünf regionale Kategorien eingeteilt und anhand der Ortsangaben quantitative Zuordnungen vorgenommen. Genannt werden: 96 x Mainz 67 x weitere Orte in Rheinhessen 22 x Orte im übrigen Rheinland-Pfalz 37 x Orte in Hessen 12 x Orte im übrigen Bundesgebiet. Dem Kerngebiet der Fans von Mainz 05 möchte ich mich aus der Ferne annähern: Die Kategorie „Bundesgebiet“ umfasst folgende zwölf Städte/Orte: zweimal Berlin, ferner Dresden, Leipzig, Mansfeld, Schweinfurt, Erlangen, Mittenwald, Bernau am Chiemsee, München, Eppelborn im Saarland sowie Neustadtgödens in Ostfriesland. Dabei handelt es sich um „Exilanten“, also Mainzer und Mainzerinnen, deren Lebensmittelpunkt nicht mehr in unmittelbarer Nähe des von ihnen favorisierten Vereins liegt.19 Die geografische Annäherung führt zu den Kategorien „Orte im übrigen Rheinland-Pfalz“ mit 22 Fanklubs sowie „Orte in Hessen“ mit 37 Klubs, die näher betrachtet werden sollen. Zehn der in Hessen liegenden Klubs befinden sich in Wiesbaden. Das ist auf den ersten Blick nicht verwunderlich, die hessische Landeshauptstadt liegt ja nur einen Steinwurf weit entfernt auf der anderen Rheinseite. Zwischen beiden Städten besteht aber eine latente Konkurrenz bzw. eine gewisse Antipathie, die sich z.B. in Witzen wie diesem manifestiert: „Was ist das Beste an Wiesbaden? Der Bus nach Mainz.“ Vor diesem Hintergrund einer „gepflegten Rivalität“20 betrachtet mögen die in Wiesbaden situierten Fanklubs verwundern; aber die Erklärung liegt natürlich auf der Hand und ist allen in der Region lebenden klar: Hinter der Ortsangabe Wiesbaden verbergen sich in erster Linie die „AKKGemeinden“, also Amöneburg, Kostheim und Kastel, die rechtsrheinisch gelegenen ehemaligen Mainzer Vororte, die 1945 von den alliierten Besatzungsmächten dem neuen Bundesland Hessen und seiner Landeshauptstadt Wiesbaden zugeordnet worden sind und deren Wiederangliederung an Mainz bis heute stets aufs Neue diskutiert und thematisiert wird – insbesondere auch gern in der Mainzer Fastnacht. Weitere Fanklubs finden sich in den nur wenige Kilometer entfernt ebenfalls rechts des Rheins gelegenen Orten Ginsheim bzw. Ginsheim-Gustavsburg (6) sowie Bischofsheim (6), ferner Rüsselsheim (2), Büttelborn und Hochheim, dazu kommen einige Gemeinden im Rheingau. Am weitesten entfernt sind Rosbach im Taunus sowie Rodgau jenseits von Offenbach. Die Kategorie „übriges Rheinland18
19
20
Quelle: http://www.mainz05.de/mainz05/fans/fanclubs/alle-fanclubs.html [eingesehen am 31. 10.2013]. Für den Vortrag hatte ich im Herbst 2011 insgesamt 225 Klubs auf der Homepage vorgefunden, für die Drucklegung wollte ich die Zahlen aktualisieren; zwei Jahre später hatte sich einiges geändert: manche Klubs gab es nicht mehr, neue waren dazugekommen. Zu diesem Phänomen gibt es bislang noch keine publizierten Beiträge, ich verweise aber auf die im Fach Kulturanthropologie/Volkskunde erarbeitete Studie von Juliane Ritter: Ein Stück Heimat in der Fremde: exile Fußballfankultur am Beispiel des 1. FC Union Berlin. Unveröff. Magisterarbeit, Mainz 2013. Vgl. Annette Fimpeler (Hg.): Düsseldorf – Köln. Eine gepflegte Rivalität. Köln 2011; vgl. auch Dorothee Meigen: Lokale Rivalitäten Idar-Oberstein (Mainzer kleine Schriften zur Volkskultur, 8). Mainz 1995.
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Pfalz“ umfasst 22 Orte, wobei ein Drittel auf Stadt und Landkreis Bad Kreuznach entfällt (fünf Klubs gibt es in der Stadt, jeweils einen in Feilbingert und Hargesheim). Weiter finden sich Fanklubs am Mittelrhein, an der Nahe, auf dem Hunsrück sowie im Taunus.21 In Mainz selbst gibt es laut Homepage 92 Fanklubs, wobei drei explizit die Vororte Bretzenheim, Gonsenheim und Lerchenberg als Ortsangabe aufführen. Und in Rheinhessen existieren 67 Fanvereinigungen. Damit kann als vorläufiges Ergebnis festgehalten werden, dass die organisierten Fans von Mainz 05 zum allergrößten Teil in Mainz direkt bzw. in rheinhessischen Ortschaften zu finden sind: 96 plus 67 = 163, das sind rund 70 Prozent der 234 Klubs. Nehmen wir die Schwerpunkte „andere Rheinseite“ sowie südliches Hessen und die Orte im „übrigen RheinlandPfalz“ wie Kreuznach und Bacharach hinzu, sind wir von den Grenzen des Landkreises Mainz-Bingen nicht weit entfernt. Eine Sonderkategorie bilden die „Exil05er“, die in Berlin oder Bernau am Chiemsee „fern der Heimat“ gelandet sind – wie es die Fans auf der Homepage des Klubs „BruchwegSehnsucht“ ausdrücken. Abgesehen von den Exilanten finden sich die in Fanklubs organisierten Anhänger der 05er demnach in unmittelbarer geografischer Nähe zum 1. FSV. Einschränkend und damit quellenkritisch möchte ich anmerken, dass laut Verein auf der 05-Homepage „alle offiziellen Mainz 05 Fanclubs“ aufgeführt werden; andere wie die UltraVereinigung „Mainzer Handkäsmafia“ fehlen. Angaben darüber, wie viele oder wenige Mitglieder zu einem Fan-Klub gehören oder ob sie nach wie vor aktiv sind, werden nicht gemacht. Um meiner Fragestellung nach einer angenommenen regionalen Identität näherzukommen, möchte ich die Fanklubs nun unter einem weiteren Aspekt betrachten. „Nomen est omen“: Die Namen der Fanklubs Der Slogan „Die Macht aus Rheinhessen“ kann auf den FSV bezogen werden, aber gleichermaßen auf seine Anhänger, die – legt man die geografische Zuordnung der Fanklubs zugrunde – zum allergrößten Teil aus Rheinhessen bzw. Mainz kommen. Neben dem geografischen Befund sehe ich ein weiteres Indiz für die Identifikation mit der Region in der Namengebung: Auffällig viele Fanvereinigungen führen Mainz, rheinhessische Ortschaften, markante lokale Stätten (Bruchwegstadion, Mainzer Dom) im Namen – und viele verwenden mundartliche Ausdrücke oder kombinieren gar Mundart und regionale Bezüge. Nach dem Stellenwert von Namen in unserer Gesellschaft fragt die Namenforschung. So verweist Damaris Nübling in ihrer Einführung in die Onomastik auf die Funktionen, die Namen zukommen, z.B. als Indikatoren für soziokulturelle Entwicklungen. Sie stellt heraus, dass viele Menschen „in ihrem Namen nach verborgenen Geheimnissen, nach Aufschluss über die eigene Identität“ suchen, und sie betont aufgrund dessen: „Namen werden zur Projektionsfläche par exellence.“22 21 22
Z.B. Bacharach, Oberheimbach, Boppard, Braubach, Kaub, Dachsenhausen, Idar-Oberstein, Kastellaun. Damaris Nübling/Fabian Fahlbusch/Rita Heuser: Namen. Eine Einführung in die Onomastik (narr studienbücher). Tübingen 2012, S. 12.
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Zum großen Spektrum des Alltagsphänomens Namengebung, das interdisziplinäres Interesse auf sich zieht,23 gehören die verschiedenen Klassen von Eigennamen, nämlich Personennamen, Ortsnamen, auch Objektnamen, zu denen die Institutionennamen und damit auch die Vereine gezählt werden. Zur Namengebung führen verschiedene Faktoren, die den „Grad an Individualität, an maximaler Distinktivität, Wahrnehmbarkeit und Identifizierbarkeit“24 erhöhen, so Nübling. Zu den Benennungsmotiven zählen nicht zuletzt „Heimat“ und „Herkunft“.25 Das möchte ich im Folgenden exemplarisch belegen. Inwiefern die Mainz 05-Fans ihrem alten Bruchwegstadion hinterhertrauern, ist bislang noch nicht untersucht worden. Fünf Klubs haben sich nach dem Bruchwegstadion benannt. Die Berliner Exilanten mit ihrer „BruchwegSehnsucht“ wurden bereits erwähnt, ferner existieren Bruchwegfreunde (Wörrstadt), Bruchwegfrösche (Ober-Olm), Die BruchWegGefährten (Wiesbaden) sowie Die Bruchwegschunkler (Mainz). Neben dieser expliziten Nennung des Stadionnamens führe ich im Folgenden Beispiele auf, die ich der Liste der 234 Fanklubs entnehme, die im Oktober 2013 auf der Homepage des 1. FSV Mainz 05 aufgeführt worden sind,26 und ordne sie bestimmten Kategorien zu. Ortsbezug allgemein: 05er Freunde Nahetal (Bad Kreuznach) 1. Alzeyer Lehrerfanclub Rotstifte 05 (Mainz) Bodenummer Eselskicker (Bodenheim) Bopparder 05er (Boppard) Hassia Moguntia (Rüsselsheim) Hiwwe wie driwwe 05er (Rüsselsheim) Hochemer Riesling Stürmer (Hochheim) Hunsrückpower 05 (Dickenschied) Mosellegion 05 (Enkirch) Rosenmontag Wörrstadt (Wörrstadt) Ortsbezug, speziell Mainz-Bezug: 05er im Schatten des Doms (Bischofsheim) Brezzenummer Schobbestecher (Mainz-Bretzenheim) Haasekäste Gunsenum (Mainz-Gonsenheim) Die MainZspitzer 05 (Ginsheim-Gustavsburg)
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In Bezug auf die Volkskunde verweise ich auf die Studie von Michael Simon: Vornamen wozu? Taufe, Patenwahl und Namengebung in Westfalen vom 17. bis zum 20. Jahrhundert (Beiträge zur Volkskultur in Nordwestdeutschland, 67). Münster 1989. Nübling u.a., Namen (wie Anm. 22), S. 98; vgl. auch Marietta Calderón: Ist Austria Salzburg wieder ‚Austria Salzburg’? Überlegungen zu Namen von Sportteams und Sportteam-Fankollektiven (mit Beispielen vor allem aus dem Fußball). In: Österreichische Namenforschung 37 (2009), S. 51–67. Nübling u.a., Namen (wie Anm. 22), S. 295. Quelle: http://www.mainz05.de/mainz05/fans/fanclubs/alle-fanclubs.html [31.10.2013].
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Ortsbezug, speziell Mainz-Bezug (Mainz bzw. Meenzer): Mainz-Süd (München) Mainzer Indians (Mainz) Mainzer Punktesammler (Bodenheim) Meenzer Flehlabbe (Mainz) Meenzer Franken (Erlangen) Meenzer Mädcher (Mainz) Meenzer Metzger (Mainz) Meenzer Schlabbekicker (Mainz) Red Side Mainz (Mainz) Bekenntnis zu Rheinhessen: de Rhoihesse Club (Sprendlingen) Rheinhessen 2000 (Wörrstadt) Rheinhessen United (Oestrich-Winkel) Rheinhessenpower (Gau-Algesheim) Legion Rheinhessen (Sörgenloch) Schobbecrew Rhoihesse (Nieder-Olm) Die Kloppos aus Rheinhessen (Undenheim) Mundartverwendung: Die Bombeleescher (Mainz) Die Herzkaschper (Mainz) Die Wieschde (Framersheim) Hi-Gugger (Mainz) Hiwwe wie driwwe 05er (Rüsselsheim) Meenzer Bube-Meenzer Mädcher (Mainz) Meenzer Flehlabbe (Mainz) Mer gehn (n)immer nuff (Nieder-Olm) Nur net uffresche (Mainz) Rot-weiß gedubbde Schneckchä (Mainz) Spässjesfahrt 05 (Mainz) Subber 05 (Sörgenloch) Identifikation mit beliebten Spielern: Bum Bum Babatz (Mainz) Dimo's Dritte Hand (Hargesheim) Die Kloppler (Ingelheim) Die Kloppo's aus Rheinhessen (Undenheim) Die Kloppos (Mainz) Die BeKLOPPten (Ingelheim) FanKLOPP (Mainz) Kloppberg-Eichen (Dittelsheim-Heßloch) Rhoigekloppt (Mainz)
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Selbstcharakterisierung: Die Besten (Oppenheim) Die Standhaften (Mainz) Die Stehgugger (Saulheim) Die Wieschde (Framersheim) Die Zweitklassigen (Katzenelnbogen) Die, die immer nuff gehe (Mainz) Falsche Rheinseite (Wiesbaden) Mit dem letzten, selbstironischen Verweis auf die gern stilisierte Mainz-Wiesbaden-Rivalität schließe ich die Liste der Beispiele. Denkbar sind weitere Kategorien wie die Integration von Gaststättennamen in den Klubnamen, von Lokalen also, die Fans als Treffpunkt dienen und häufig ritueller Ausgangsort für das „Pilgern“ ins Stadion sind. Deren identitätsstiftenden Charakter wie auch denjenigen des heimischen Stadions zu untersuchen, lohnt sich gewiss.27 Jeder der aufgeführten Fanklub-Namen hat eine Bedeutung; diese ist zum einen Teil auf den ersten Blick erfassbar, zum anderen kann eine Befragung der Klubgründer weitere Aufschlüsse zu Motivation und Bedeutung für die Mitglieder erbringen. Ein solcher empirischer Ansatz mag also weitere Erkenntnisse bringen; hier beschränke ich mich im Folgenden auf eine hermeneutische Vorgehensweise und interpretiere einige Beispiele exemplarisch. Namen und was sie bedeuten In Bezug auf die Frage nach regionaler Identität scheinen mir die aufgeführten Beispiele recht aussagekräftig zu sein: Sie belegen zum einen die starke Verankerung in der Region – das zeigen die vielen rheinhessischen Gemeinden, in denen Fanklubs existieren, sowohl direkt in der Stadt Mainz als auch in ganz Rheinhessen. Dazu kommt das rechtsrheinische Gebiet: „Rechts des Rheins ist auch noch Mainz“, lautet bekanntlich der Slogan in Bezug auf die „AKK-Gemeinden“ Amöneburg, Kastel und Kostheim; und dann Rheingau, Mittelrhein, einige Gemeinden auf dem Hunsrück – alles konzentriert sich auf relativ engem Raum. Für einen hohen Grad an Identifikation mit der Region Rheinhessen spricht die mundartliche Benennung vieler Fanklubs, in erster Linie „rhoihessisch“, aber auch „hessisch“, wie es die Rüsselsheimer Fanvereinigung „Hiwwe wie driwwe 05er“ zum Ausdruck bringt. Dass die Verwendung von Mundart sowie das Dialektsprechen ein Zeichen für die Identifizierung mit einer Region oder einer sozialen Gruppe ist, braucht kaum erwähnt zu werden. Dass Dialektgebrauch situationsabhängig ist und zudem Konjunkturen unterliegt, ist ebenfalls bekannt: So ist immer wieder eine
27
Vgl. zu identitätsstiftenden Elementen wie Klub-Fahnen und -Farben, Kutten und Gesängen Michael Prosser: „Fußballverzückung beim Stadionbesuch. Zum rituell-festiven Charakter von Fußballveranstaltungen in Deutschland. In: Markwart Herzog (Hg.): Fußball als Kulturphänomen. Kunst, Kultur, Kommerz (Irseer Dialoge, 7). Stuttgart 2002, S. 269–292.
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„Renaissance des Dialekts“28 zu beobachten, die als Indikator gesellschaftlicher Prozesse gedeutet werden kann. Eine solche Entwicklung setzte Mitte der 1970er Jahre im Zuge der Prostestbewegung gegen ein geplantes Kernkraftwerk in Wyhl am Kaiserstuhl ein, als Liedermacher alemannische Protestsongs schrieben und sich das Alemannische im Dreiländereck Schweiz-Frankreich-Deutschland als allen verständliche Sprache erwies – eine Erfahrung, die ein grenzüberschreitendes Wir-Gefühl evoziert hat.29 05-Fans bringen auch eine gemeinsame Identität zum Ausdruck, wenn sie die Region Rheinhessen in ihren Klubnamen integrieren. Mehrere Fanvereinigungen haben das getan; „de Rhoihesse Club“ in Sprendlingen sowie die „Schobbecrew Nieder-Olm“ verknüpfen dabei die Ortsangabe mit der mundartlichen Bezeichnung. Die „Bodenummer Eselskicker“ verwenden ebenfalls die dialektale Variante ihres Herkunftsortes Bodenheim.30 Der Klub „Allez Hopp Mainz“ aus Groß-Winternheim spielt mit einer sprachlichen Entlehnung aus dem Französischen – das ist typisch für rheinhessische Mundarten31 –, während die 05-Fans „Alla Hopp“ aus Mainz auf einen ebenso französisch inspirierten pfälzischen Ermunterungsruf zurückgreifen. Viele Klubnamen sind mehrfach deutbar wie „Die MainZspitzer 05“ aus Ginsheim-Gustavsburg am Main, die mit Main, Mainz, der lokalen Bezeichnung „Mainspitze“ spielen und damit möglicherweise überdies andeuten wollen, dass die Mainzer spitze sind. Auch „Rhoigekloppt“ aus Mainz ist mehrdeutig: der Ball wird (umgangssprachlich) ins Tor „reingekloppt“, eine Anspielung auf Kulttrainer Jürgen Klopp ist nicht auszuschließen, und darüberhinaus mag noch eine Anspielung auf den Rhein – rheinhessisch „Rhoi“ – mitgemeint sein. Der Fanklub „KloppbergEichen“ aus Dittelsheim-Heßloch kann dank der Existenz des Dittelsheimer Kloppberges diese lokale Erhebung mit dem ehemaligen 05-Trainer Klopp verknüpfen. Und die „Harxheimer Wingertsknorze“ bringen ihren Ort mit einer regionalen Spezialität zusammen, die auf keiner Straußwirtschaftsspeisekarte fehlt. Die knappen Erläuterungen zu diesen Beispielen, von denen es noch zahlreiche weitere gibt, zeigen, dass die Klubnamen zum Teil mehrfach Konnotationen und Anspielungen auf Regionales enthalten. Damit bringen sie Wertungen und Einschätzungen zum Ausdruck und werden zur „Projektionsfläche“32 regionaler Identität, sie stellen mithilfe der Region, in der sie leben, mit der sie sich identifizieren, ihre eigene Einzigartigkeit heraus. Das stimmt auch mit der Diagnose des Volkskundlers Konrad Köstlin überein, der eine mit der Globalisierung einhergehende 28 29
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Vgl. Eckart Frahm (Hg.): Renaissance des Dialekts? Tübingen 2003. Vgl. Gisela Probst-Effah: Anmerkungen zur Dialektrenaissance der siebziger Jahre. In: Günther Noll/Wilhelm Schepping (Hg.): Musikalische Volkskultur in der Stadt der Gegenwart. Hannover 1992, S. 135–142; vgl. Thomas Lehner: Das Dreyeckland am Oberrhein. In: Jochen Kelter/Peter Salomon (Hg.): Literatur im alemannischen Raum. Regionalismus und Dialekt. Freiburg i. Br. 1978, S. 86–91. Darauf, dass in Rheinhessen „kein Dialekt, nur Dialekte“ existieren, verweist Rudolf Post in diesem Band. Vgl. dazu Rudolf Post: Die Mundarten in Rheinhessen. Erforschung – Grenzen – Besonderheiten. In: Alzeyer Geschichtsblätter 38 (2010), S. 51–74, hier S. 67f. Nübling u.a., Namen (wie Anm. 22), S. 12.
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Revitalisierung von Regionalität feststellt: „Regionales ist in allen Variationen in Gebrauch.“ 33 Die Akzentuierung des Regionalen mag eine Reaktion auf laufende Entwicklungen sein; zugleich wird das Phänomen der „Glokalisierung“ beachtet: der Soziologe Roland Robertson hat diesen Begriff geprägt, und er meint damit die Auswirkungen der Globalisierung im lokalen Kontext.34 In Bezug auf Fankulturen lässt sich ein Nebeneinander, eine Gleichzeitigkeit von Lokalem und Überregionalem konstatieren: Ein „Nullfünf“-Fan kann leicht auch Anhänger von Lazio Rom sein, denn in der vernetzten Welt hat sich längst eine Entterritorialisierung des Fußballfan-Daseins durchgesetzt.35 Ob jemand in Rheinhessen oder Südkorea lebt, jeder kann einer global vernetzten Fangemeinde beitreten oder individuell Supporter einer Fußballmannschaft werden – sei es von Real Madrid, dem FC Arsenal in London oder der Boca Juniors in Buenos Aires. Spiele können via Internet live miterlebt werden, der Zugriff auf Online-Sportmagazine und -Tageszeitungen, auf Klubhomepages und Fanforen macht eine unmittelbare Teilnahme möglich. Gleichzeitig oder auch ausschließlich kann man Fan des 1. FSV Mainz 05 sein, fest verankert in der heimatlichen Region, kann lokale oder regionale Identität demonstrieren, indem man sich als Fanklub „Rheinhessenpower“ (Gau-Algesheim“) oder „Die Wieschde“ (Framersheim) räumlich und namentlich zum „Eigenen“ bekennt, Regionalbewusstsein verdeutlicht und womöglich postmodern-ironisch daherkommt wie der Nieder-Olmer Klub „Mir gehn (n)immer nuff“… – auf den Bruchweg ist wohl gemeint. Oder sollte es sich um eine Replik auf den Mainzer Fanklub „Die, die immer nuff gehe“ handeln? Denkbar bei einer Interpretation ist auch die Bezugnahme auf das im Jahr 2005 erschienene Buch „Ich geh nimmer nuff“ des Mainzer „Profi-Fans“ Sven Hieronymus…36 Ich habe mir die Frage gestellt, wie wichtig „Rheinhessen“ für die Fans des 1. FSV Mainz 05 ist und inwiefern sich eine Identifikation mit dem Klub äußert, ob die Formierung regionaler Identität evident wird. Das Beispiel Mainz 05 zeigt meiner Ansicht nach eine deutliche Tendenz: die Anhänger – zumindest die in Fanklubs organisierten, die auf der Homepage registriert sind – befinden sich in geografischer Nähe zum FSV. Ihre Verbundenheit mit dem Verein bringen viele mit der Benennung ihres Fanklubs zum Ausdruck: häufig finden sich Bezüge zum Rhein, zur Stadt Mainz in verschiedenen Varianten, einige auch zur Großregion Rheinhessen. Ein weiteres Indiz der Identifikation mit „ihrer“ Region zeigt sich in der Verwendung mundartlicher Ausdrücke. Die Vielzahl solcher Beispiele scheint mir ein hohes Maß an regionaler Identität zu indizieren; da jedoch vergleichbare Studien fehlen, steht diese Beobachtung zunächst isoliert im Raum und harrt einer Überprüfung. Manche Interpretationen („Mir gehn [n]immer nuff“) und meine daraus resultierenden Spekulationen zeigen deutlich die Grenzen eines texthermeneutischen 33 34
35 36
Konrad Köstlin: Neue Regionalität: Muster und Diskurse. In: Jahrbuch des österreichischen Volksliedwerkes 56 (2007), S. 14–27, hier S. 16. Vgl. Roland Robertson: Glokalisierung. Homogenität und Heterogenität in Raum und Zeit. In: Ulrich Beck (Hg.): Perspektiven der Weltgesellschaft. Frankfurt a. M. 1998, S. 192–220; Reinhard Johler: Glokalisierung. Ein Konzept für die kulturwissenschaftliche Zukunft? In: Volkskunde in Rheinland-Pfalz 23, 2008, S. 124–138. Vgl. Mikos, Mythos (wie Anm. 13), S. 482f. Siehe dessen Homepage www.sven-hieronymus.de.
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Christina Niem
Ansatzes auf. Um konkrete Antworten der kulturellen Akteure, also der Fans selbst, zu erhalten, ist es notwendig, ins Feld zu gehen und mit den Methoden der Feldforschung wie Befragung und teilnehmender Beobachtung zu arbeiten. Hier sehe ich weiteren Forschungsbedarf für eine auch raumorientierte Kulturforschung, die sich mit „subjektiven Kulturräumen und den individuellen Vorstellungen von Heimat“37 auseinandersetzen mag, am besten auf empirischer Grundlage. In diesem Sinne schließe ich mit der Aufzählung einer Reihe von Fanklubs, deren Benennung appellativen Charakter hat: Alla Hopp (Mainz) Allez Hopp Mainz (Groß-Winternheim) Auf geht’s (Weiler) Auswärtssieg (Mainz) Jetzt-Erst-Recht (Zornheim) Keine halben Sachen (Mainz) Nur net uffresche (Mainz) Schieß doch endlich (Mainz) Volldampf 05 (Albig).
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So formuliert es der Mainzer Kulturanthropologe und Volkskundler Michael Simon: Kulturforschung im Raum. In: Zeitschrift für Volkskunde in Rheinland-Pfalz 16/2 (2001), S. 63–75, hier S. 74.
Volker Gallé
Exil der Begeisterung und neues Staunen – Rheinhessische Mentalitätsmuster seit der französischen Revolution
Einleitung In meinem Beitrag werde ich die Methode des erzählenden Denkens anwenden, genauer gesagt: Ich werde, ausgehend von Texten und Bildern, Stimmungen und zum Teil auch Metaphern aufgreifen und in Bezug zu Geschichte und Region setzen, also auf dem Hintergrund der deutschen politisch-kulturellen Geschichte in Bezug setzen zu Rheinhessen. Ich werde nach meiner Beobachtung typische Beispiele für Zeit und Raum in unserer seit 1816 neu definierten Region vorstellen und zu deuten versuchen. Am Ende wird sich daraus eine vorläufige Mentalitätsgeschichte abzeichnen. Diese Methode hat den Vorteil, dass sie durch ihr phänomenologisches Vorgehen den Beobachter in Reflexion und Diskurs mit einschließt, sozusagen als eine Art wissbegierigen Spiegel, und dadurch befähigt, Dramaturgien und Affekte wahrzunehmen und mitzudenken. Der mentalitätsgeschichtliche Ansatz, der hier ebenfalls zum Zug kommt, orientiert sich an der Annales-Schule und ihren Korrespondenten, hier vor allem Lucien Febvre, Johan Huizinga und Robert Minder. Die Epoche, auf die Bezug genommen wird, ist im Wesentlichen der Zeitraum von 1789 bis heute, die ins Auge gefasste Region der Teil des Linksrheinischen, der 1816 als Rheinhessen begrenzt wird. Die Methode des erzählenden Denkens gehört in die Tradition des phänomenologischen Denkens in der Ersten-Person-Perspektive (Edmund Husserl, Hermann Schmitz) und fußt auf den kulturwissenschaftlichen Ansätzen des iconic turn (Aby Warburg, Erwin Panofsky), der die Bedeutung der Bilder für das Denken wieder entdeckte und – verbunden über die Metaphorologie des Philosophen Hans Blumenberg – mit dem narrative turn der Erzähltheorie verknüpfte. Monika Fludernik schreibt in ihrer Einführung zur Erzähltheorie: „Wie in der Forschung immer deutlicher wird, ist das menschliche Gehirn so konstruiert, dass es viele komplexe Zusammenhänge in Erzählstrukturen oder in Metaphern fasst.“1 Auch Wissenschaft arbeitet mit Erzählstrukturen und Metaphern, insbesondere da, wo es um Theorien und Texte geht, aber auch in der Physik und ihren praktischen Anwendungen. So ist beispielsweise das Konzept der „Konstruktion von Identität“ aus den Ingenieurswissenschaften abgeleitet. Die Welt als Maschine oder als Bauwerk ist eine deistische Fantasie der frühen Aufklärung. Der Philosoph Leibniz sprach beispielsweise von Gott als einem Uhrmacher, der die perfekte Weltmaschine gebaut 1
Monika Fludernik: Erzähltheorie. Eine Einführung, Darmstadt, 3. Aufl. 2010, S. 9.
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und angeworfen habe, aber nicht mehr in ihre Entwicklung eingreife. Die moderne Kulturwissenschaft hat aber nicht nur Bilder, Erzählmuster, Mentalität und ErstePerson-Perspektive restituiert in der Wissenschaft, sondern beschäftigt sich in jüngster Zeit auch mit dem Gefühlswissen. Ute Frevert verortet das Interesse des „therapeutischen Zeitalters“ Ende des 20. Jahrhunderts an einer Theorie des Gefühls in dem von ihr 2011 herausgegebenen Sammelband „Gefühlswissen“ historisch: „Philosophen, Literatur- und Kunstwissenschaftler haben in den vergangenen Jahren gezeigt, wie Affektentheorien die antike Rhetorik, das frühneuzeitliche Theater oder die moderne Literatur geprägt haben. Das 18. Jahrhundert und die Epoche der Empfindsamkeit, aber auch die Romantik sind als Hoch-Zeiten künstlerischer Gefühlemphase identifiziert worden.“2 An anderer Stelle ergänzt sie als weitere historische Plattformen des Gefühlswissens die Lebensphilosophie um 1900 und den Existenzialismus um 1950 und verweist darauf, dass all diese Zeiträume die gefühlige Grundstimmung anders schattieren. Damit ist auch ein zeitgeistiges Interesse an Forschungsperspektiven beschrieben und in einen nachvollziehbaren historischen Kontext gesetzt. Ernst Bloch hat 1938 mit seinem Begriff der objektiven Phantasie eine Methode zur Verfügung gestellt, das Noch-Nicht-Bewusste der Gegenwart als in der Zeit bereits arbeitenden Zukunftsentwurf zu beschreiben: „Die neue Gesellschaft, womit die alte schwanger geht, kann auch den noch nicht bewussten Zustand zur theoretisch-praktischen Merkbarkeit erhöhen, vor allem zur Echtheit. Das subjektiv-reflexiv Noch-Nicht-Bewußte der Jugend, das subjektivmystische des Schöpfers erlangte dann an der auch objektiv erkannten und beherrschten Tendenz zum ersten Mal Grund.“3 Begeisterung als Mentalitätsmuster „Die Flitterwochen der Pressfreiheit“ hat Ludwig Bamberger in Band III seiner Schriften von 1895 eine Sammlung seiner Leitartikel aus dem Frühjahr 1848 in der „Mainzer Zeitung“ im Rückblick genannt. Am 16. März schreibt der 24 Jahre junge Mann: „Wir haben die Freiheit der Presse (...) aber wir haben noch mehr als das, wir haben die Freiheit des Moments! Zuckend liegt die alte Welt im Sterben, ein neu Geschlecht stürmt über ihre Leiche, und aus dem Schoß der ringsum bebenden Erde schlägt hoch zum Himmel auf der entfesselte Geist der Menschheit. Halb wach von ihrer Träume Lager aufgesprungen stehen in dem wilden Schöpfungschaos verlegen zitternd die zwergenhaften Gewalten, welche schlafend die scheintodte Welt hüteten. Jugend, deine Zeit ist da!“4 In einem weiteren Artikel vom 5. Mai beschreibt er den Moment des Aufbruchs mit den Worten: „Nicht bloß hat das Volk durch diese Bewegung bereits viel gelernt, sondern den Anstoß zu weiterem Lernen erhalten. Ein politisch nicht durchgebilde2 3 4
Ute Frevert: Gefühlswissen: Eine lexikalische Spurensuche in der Moderne, Frankfurt a. M. 2011, S. 10. Ernst Bloch: Philosophische Aufsätze zur objektiven Phantasie, Frankfurt a. M. 1985, S. 126. Ludwig Bamberger: Die Flitterwochen der Pressfreiheit, in: Gesammelte Schriften, Band III: Politische Schriften von 1848 bis 1868, Berlin 1895, S. 7f.
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tes Volk wird nicht durch Ausbildung zur Begeisterung, sondern durch Begeisterung zur Ausbildung angetrieben.“5 Die Stimmung, die Bamberger beschreibt, ist die Begeisterung oder philosophiehistorisch gesprochen der Enthusiasmus. Der Enthusiasmus besaß in der Antike einen hohen Stellenwert, so bei Platon, der den „göttlichen Wahnsinn“ je nach Gottheit dramaturgisch unterschied. Apoll stand für die Begeisterung des Sehers, Dionysos für die des Priesters, die Musen für die des Dichters und Aphrodite für die der Verliebten.6 Als „Erotik des Wissens“7 wurde er in der italienischen Renaissance wiederentdeckt. Seine Gegenspieler sind Melancholie und Nüchternheit. Sie prägen Luthers Polemik gegen die Schwärmer und die Ablehnung des Enthusiasmus durch die englischen Empiristen wie John Locke. Die populäre Vereinfachung der Aufklärung sieht in der Begeisterung nur Aberglauben, eine manische und regressive Wiederverzauberung der messbaren Dingwelt, die auf einer narzisstischen Kränkung des Ego beruht. Dieser Strang des Denkens hat Wissenschaft und Alltag ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis heute dominiert. Aber die Aufklärung hat auch einen ganz anderen Strang des Denkens, nämlich einen enthusiastischen. Von Bamberger z.B. führt er zurück über den Mainzer Republikaner Adam Lux, der an der Mainzer Universität über den Enthusiasmus promoviert hat, zu Jean-Jacques Rousseau. Bamberger konnte sich also mit Heinrich Heine und Hölderlin als Erbe von Romantik, Sturm-und-Drang und der Empfindsamkeit der Aufklärung zugleich fühlen. Im Band II seiner Schriften (1894) hat Bamberger „Charakteristiken“ gesammelt, so auch eine über vierzig Seiten von Adam Lux (1765–1793), den die Mainzer Republik als Deputierten gemeinsam mit Georg Forster nach Paris entsandte. Da er sich dort gegen die Terreur und für die Girondistin Charlotte Corday, die Marat ermordet hatte, engagierte, wurde er hingerichtet. Bamberger zitiert aus einem Brief von Lux (Mai 1792) an einen Freund, der nach England gereist war: „Allein da Sie allein und ohne Freunde sind, so nehme ich es Ihnen gar nicht übel, dass Sie in den Wäldern mit dem Ossian herumstreifen; ja in Ihrem Alter und in Ihrer Lage würde ich es selbst gerade ebenso machen: denn die Empfindungen sind nicht nur nährender, sondern zur Bildung eines Mannes selbst nützlicher als Kenntnisse: ja wenn ein Jüngling nicht bis zu einem gewissen Grad seine Seele durch die Empfindung genährt und gestärkt hat, so kann er sich nie nachher in reiferen Jahren jene wahrhaft männlichen Kenntnisse eines Rousseau, eines Cato, eines Socrates erwerben, die alle den nämlichen Weg gingen, von dem ich rede.“8 Die Ossiandichtung des Schotten Macpherson – 1760 geschrieben und als keltische Überlieferung ausgegeben – hat die mit den nordischen, manchmal den deutschen Wäldern verbundenen Freiheitsfantasien der Aufklärung über Herder und den Sturm-und-Drang bis ins 19. Jahrhundert hinein gefördert und beeinflusst noch 5 6 7 8
ebenda, S. 55. siehe Bernd Bösel: Platons Verzauberung der Welt, in: Philosophie und Enthusiasmus. Studien zu einem umstrittenen Verhältnis, Wien 2008, S. 161. ebenda, S. 63. nach Ludwig Bamberger: Adam Lux, in: Gesammelte Schriften, Band II: Charakteristiken, Berlin 1894, S. 12.
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heute die deutsche Keltophilie. Bamberger setzt den Enthusiasmus von Lux – wenn auch kritisch mittels der protestantischen Affektenlehre Kants – in Beziehung zur Rheinregion, die er über den Germanenbegriff als Gegensatz zu den französischen Kelten eindeutscht. Gleichzeitig aber schreibt er der Region eine unpreußische Leichtigkeit zu, wie sie dem Westen Europas zugeschrieben wird: „Der im übrigen echt germanische Stamm, welcher das Rheintal bewohnt, hat, sei es in seinem Ursprung, sei es seiner örtlichen Lage nach, etwas Leichtes und Oberflächliches in seinem Charakter, wodurch er sich einerseits der Pedanterie seiner Landsleute bewahrte, während es ihm andrerseits versagt blieb, den großen Ernst, die edle Tiefe bei sich zu entfalten, welche den Kern des deutschen Wesens bilden; und Lux, wiewohl in einiger Entfernung vom Rheintal geboren, hatte doch von früh an seinen Geist in dieser Luft genährt und gebildet. Er war dem Studium sehr ergeben, seine Lieblinge waren die alten Klassiker und die Franzosen seiner eigenen Zeit. Aus seinen Briefen (...) geht hervor, dass er sich in der Philosophie einzig Rousseaus System angeeignet und dieses noch dazu besonders von seiner pathetischen und sentimentalen Seite ergriffen hatte.“9 Die enthusiastische Sprache – ob bei Rousseau, Herder, Lux oder Bamberger – ist eine poetische Sprache, die sich häufig Naturbildern, Metaphern und Erzählmustern bedient, während die Nüchternheit als Gegenbild eher eine technische, konstruktivistische Sprache entwickelt hat. Der in Europa zwischen 1789 und 1849 aufbrechende politisch-kulturelle Enthusiasmus hat Rheinhessen wie das Linksrheinische überhaupt besonders geprägt, weil die Region zu dieser Zeit in die Mitte der gesellschaftlichen Bewegung gerückt war: der republikanische Aufbruch in Deutschland startete am Rhein. Eine Dominanz der Ernüchterung entwickelte sich erst nach der Niederlage 1849. Lassen wir einmal die Frage dahingestellt, ob das Frühjahr Rebellion und Revolution begünstigt, worauf Prager Frühling, Pariser Mai und eben auch die Märzforderungen von 1848 hinzuweisen scheinen. Die Frühjahrs- und insbesondere die Maimetapher wurde und wird jedenfalls seit je gern als politische Metapher für Veränderungen benutzt und spricht in Naturbildern. Der Begriff des „Völkerfrühlings“ entstand im Vormärz und wurde vor allem von dem in Frankfurt geborenen und in Paris gestorbenen Publizisten Ludwig Börne in der Zeitschrift „Die Wage. Blätter für Bürgerleben, Wissenschaft und Kultur“ ab 1818 verbreitet. Die Metapher des Blühens in der dritten Strophe des „Liedes der Deutschen“ von Hoffmann von Fallersleben greift das Frühlingsbild ebenso auf wie die Fastnacht, wenn es z.B. in der Mainzer Narrhalla im Lied „Floreslust“ heißt: „Floresei! Narretei! Ist des Faschings Feldgeschrei. Und die Lust hebt die Brust, eignen Werths bewusst. Schüttelt ab des Zwanges Joch! Schwingt die Schellenkappe hoch. Jubelsang, Freudenklang auf dem Siegesgang.“10 Man nimmt damals Bezug auf die antike Blütengöttin Flora, die in der Renaissance wiederentdeckt wurde. So schreibt Dietrich Schwanitz zu Botticellis Gemälde „Primavera“:
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ebenda, S. 11. Narrhalla-Lieder mit Bildern und Singweisen, Reprint, Mainz 1981, S. 93–95.
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„Von rechts naht sich Zephir, der Wind, und verströmt den göttlichen Atem; dabei umarmt er die Nymphe Chloris und erfüllt sie mit Geist im Bild einer Begattungsvorstellung. Chloris verwandelt sich durch die Umarmung und wird zur nächsten Figur: Flora. Diese verweist auf die zentrale Figur, die dem Bild den Namen gegeben hat: Primavera. Das alles ist auch ein Bild der Liebe. Mit Leidenschaft wendet sich der Himmel der Erde zu und verwandelt sie durch den Frühling. Dem gegenüber steht auf der linken Seite des Bildes Merkur, der Mittler zwischen Himmel und Erde, und wendet sich wieder dem Himmel zu. Er repräsentiert den Wiederaufstieg des Geistes (...). Das ist der platonische Kreislauf der Ausgießung des Geistes und seiner Rückkehr zum Himmel in Form einer kosmologischen Erotik. Und man sieht, dass die Bilder der Renaissance nur zu verstehen sind, wenn man die griechische Mythologie, die Philosophie und selbstverständlich das Personal der Liebe kennt.“11 Die „Ausgießung des Geistes und seine Rückkehr zum Himmel in Form einer kosmologischen Erotik“ sind nichts Anderes als das, was zuvor als Begeisterung, als Enthusiasmus beschrieben wurde. Der Wind ist allerdings kein Sturm – das ist eine andere Revolutionsmetapher, wie sie beispielsweise bei Georg Forster vorherrscht. Der Wind bleibt sanft, empfindsam, eher verschmelzend als verstörend, konsensual, girondistisch, rheinisch, deutsch, soweit es um föderale Traditionen und die Mischung von politischen und gesellschaftlichen Interessen geht. Die Reden der Volksversammlungen von 1848/49 sollen in Alzey, Bingen, Ingelheim, Wörrstadt und anderswo jeweils mehrere tausend Bürger gehört haben. Insofern kann die enthusiastische Sprache dieser Zeit in der Region als bestimmend eingeschätzt werden. Doch bereits im Juni 1848 erschien in der „Neuen Rheinischen Zeitung“ das bekannte Lied „Trotz alledem“ von Freiligrath, das den aufkommenden Winterwind der Reaktion beschreibt: Das war ‚ne heiße Märzenzeit, Trotz Regen, Schnee und alledem! Nun aber, da es Blüten schneit, nun ist es kalt, trotz alledem! Trotz alledem und alledem – trotz Wien, Berlin und alledem – ein schnöder scharfer Winterwind durchfröstelt uns trotz alledem! Das ist der Wind der Reaktion mit Meltau, Reif und alledem! Das ist die Bourgeoisie am Thron – der annoch steht, trotz alledem!12
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Dietrich Schwanitz: Bildung. Alles, was man wissen muß, Frankfurt a.M. 1999, zitiert nach: wikipedia, Primavera (27.11.2011). Alexander Lipping/Björn Grabendorff (Hg.): 1848 – Der Deutsche macht in Güte die Revolution. Texte und Noten mit Begleitakkorden, Frankfurt a. M. 1982, S. 142f.
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Melancholie und Ernüchterung als Mentalitätsmuster Die Niederlage der Demokraten 1849 schließlich, die Exil oder Anpassung bedeutete, wirkte lange als Trauma nach, als schmerzvolle Erinnerung, als Verlassenheitsfantasie. So heißt es noch 1928 von dem Oppenheimer Lehrer und Landtagsabgeordneten Johann Paulsackel, Gründer einer der freien Schulen Rheinhessens in dieser Zeit: „Zu den Kämpfern für demokratische Freiheit gehörte 1848 der Lehrer Paulsackel zu Oppenheim. Seinem Feuergeiste war die Dornenkrone , seinem für das Volkswohl glühenden Herzen der Dolchstoß beschieden. Er wurde seines Amtes entsetzt und musste nach Amerika auswandern. In vielen Niersteiner Häusern, so im ‚Gasthaus zum Ritter‘, hing noch vor 30 Jahren sein Bildnis.“13 Im Landtag hatte Paulsackel noch 1852 für die pädagogischen Ideale der demokratischen Bewegung – ganz in der Tradition Rousseaus – mit den Worten gestritten: „Ein nicht durch und durch gebildeter Mann ist nicht im Stand, die hohe Aufgabe der Erziehung zu lösen, ein Mann, der nicht geschützt, ein Sklave, der stets in der Angst leben muss, weil er beständig das drohende Damoklesschwert über seinem Haupt erblickt, kann unmöglich etwas Großes, Erhabenes, am allerwenigsten auf dem Gebiete der Erziehung leisten. Ein Hungriger endlich, der immer mit Kummer und mit Sorgen jedem neuen Tag entgegensieht, ist nicht im Stande, für seinen Beruf begeistert zu sein, der nur höchst notdürftig nährt.“14 Hier finden sich noch einmal alle Bildelemente des Enthusiasmus: das Große, also das über sich Hinauswachsen, das Nährende, wenn auch ganz praktisch, und schließlich die Begeisterung. Ebenfalls 1852 schreibt die im demokratischen Frauenverein Humania engagierte Mainzer Autorin Kathinka Zitz-Halein das Gedicht „Vereinsamung“, das sich sowohl auf ihre biografische als auch auf die politische Situation bezieht: Was hilfts, dass tausend Blumen blühen, im Himmel nachts die Sterne glühen, ich kann ja doch nicht glücklich sein; denn einsam wandl ich durch das Leben, die bleiche Lippe sagts mit Beben, ich bin allein, ach ganz allein. Welch spärlich Glück hab ich gefunden, das Schicksal schlug mir tausend Wunden, doch beut es keinen Labewein. Nur bittrer Wermuth füllt die schale, für mich kredenzt beim Lebensmahle, und leeren muss ich sie allein.15 Das Nährende, Leben spendende, die Resonanz findende Begeisterung sind genommen worden. Noch vier Jahre zuvor hatte sie im Gedicht „Es gährt“ gedichtet: 13 14 15
nach Manfred H. W. Köhler: Volksrechte und Erdenglück. Vormärz und Revolution von 1848/49 in Oppenheim und Nierstein. Das politische Schicksal des Oppenheimer Lehrers Johann Paulsackel (Quellen und Forschungen zur hess. Geschichte 143), Darmstadt 2005, S. 278. ebenda, S. 258. nach Oliver Bock: Kathinka Zitz-Halein. Leben und Werk, Hamburg 2010, S. 82f.
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Der Frühling naht, es grünt der Hoffnung Reis, die Wolken fliehen, die das Licht umnachten. Wer seine Ketten nicht zu brechen weiß, der ist es wert, in Ketten stets zu schmachten. Es ist jetzt Zeit mit Nachdruck zu begehren, es gährt der Most, er wird zu Wein sich klären.16 1849 erscheint von ihr das Buch „Variationen in humoristischen Märchenbildern“. Es sind Märchen für Erwachsene, „die ganz im Zeichen der demokratischen Ideale stehen“.17 Zitz-Halein schreibt in einem Brief, es seien Variationen „über den alten ewig wiederkehrenden Text der Bedrückung von Oben, des passiven Widerstandes des Volkes, der Überhebung des Mannes und der Unterordnung des Weibes.“18 Otto von Corvin, Offizier in der badisch-pfälzischen Freiheitsarmee, schrieb aus der Einzelhaft im Bruchsaler Gefängnis: „Ich habe schon so viel ertragen und – werde vielleicht noch mehr ertragen müssen. Bedenke ich, dass ich hier sieben Jahre sitzen soll, dann freilich ists, um den Verstand zu verlieren.“19 – „Depressionen kehrten immer wieder“20, schreibt Hellmut G. Haasis in seinem Buch „Spuren der Besiegten“, und er berichtet von Selbstmorden und psychischen Krankheiten im politisch-pädagogisch gewollten so genannten pennsylvanischen, also aus Nordamerika importierten System der Einzelhaft. Der württembergische Autor Ludwig Pfau dichtete in dieser Stimmung das „Badische Wiegenlied“: Schlaf‘, mein Kind, schlaf leis‘, Dort draußen geht der Preuß‘, Deinen Vater hat er umgebracht, Deine Mutter hat er arm gemacht, Und wer nicht schläft in guter Ruh‘, Dem drückt der Preuß‘ die Augen zu. Schlaf‘, mein Kind, schlaf leis‘, Dort draußen geht der Preuß‘. In der letzten Strophe hofft er auf die Auferstehung der Freiheit als Gewaltakt gegen die herrschenden Preußen: Schlaf‘, mein Kind, schlaf leis‘, Dort draußen geht der Preuß‘, Gott aber weiß, wie lang er geht, Bis daß die Freiheit aufersteht, Und wo dein Vater liegt, mein Schatz, Da hat noch mancher Preuße Platz. Schrei, mein Kindlein, schrei‘s: Dort draußen liegt der Preuß!‘21 16 17 18 19 20 21
ebenda, S. 158. ebenda, S. 91f. ebenda, S. 92. nach Hellmut G. Haasis: Spuren der Besiegten, Band 3, Reinbek 1984, S. 805. ebenda, S. 805. Lipping/Grabendorff, S. 138f.
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Anpassungsdruck, Camouflage und widerwillige Beobachtungen Neben den Optionen Exil, passiver Widerstand und Erinnerungsarbeit war auch Anpassung eine Möglichkeit zu überleben. Das gilt nicht nur für Achtundvierziger wie Bamberger, der sich als Nationalliberaler mit dem Bismarckregime arrangierte und dann als Freisinniger unter Kaiser Wilhelm doch wieder ausscherte, sondern selbst da, wo Personen sich bewusst mit dem nationalen mainstream einverstanden erklärten, bei der Beschreibung regionaler Mentalität aber doch aus der Sache heraus das Widersprechende und für sie Widersprüchliche des am Impuls der französischen Revolution orientierten Linksrheinischen zulassen mussten. Ein Beispiel dafür ist der in Biebrich geborene Begründer der Volkskunde Wilhelm Heinrich Riehl, der als Professor an der staatswissenschaftlichen Fakultät der Münchner Universität 1847 sein „rheinisches Volksbild“ über „die Pfälzer“ schrieb, zu denen er teilweise auch die Rheinhessen zählte. Im Kapitel „Deutsche Gesittung und französisches Gesetz“ heißt es: „Es spukt noch immer auswärts in vielen Köpfen das Gespenst des Franzosentums der Pfälzer. Mancher Landesunkundige meint, im pfälzischen Volk herrsche eine mächtige stille Neigung zum politischen Anschluss an Frankreich (...). Diese Ansicht (…) ist geradezu eine grundlose Verleumdung. Der Pfälzer will nicht Franzose sein, auch nicht Preuße, nicht einmal schlechtweg Deutscher oder Bayer: Pfälzer will er sein und nur als Pfälzer bayrisch oder deutsch. Und gerade dieser Partikularismus des Pfälzertums ist es, der das Volk, wunderlich genug, in den Ruf französischer Sympathien gebracht hat. Denn allerdings hat ihm Frankreich, ohne daran zu denken, seine gegenwärtige Sonderstellung gegründet (...). Wer zum ersten Mal die Pfalz durchwandert, dem treten sofort seltsame Rätsel und Widersprüche des Volkscharakters entgegen. Überall sieht er zerstörte Schlösser und Burgen und Kirchen, die Spuren weiland gebrochener Städte und verwüsteter Dörfer und überall sagt man ihm ganz ruhig, das hätten die Franzosen getan (...). Trügen die Pfälzer den bittersten Groll in der Brust gegen alles Französische, man würde es natürlich finden; stattdessen halten sie gute Nachbarschaft und haben mit leichtem Sinn das Schlimme vergessen (...). Spricht der Pfälzer von den eigentümlichsten politischen Einrichtungen seines Kreises, so führt er ihre Wurzeln zur Konstitution vom Jahre III der französischen Republik hinauf (...). Die französische Herrschaft brachte der Pfalz bekanntlich auch französische Gesetze. Ihr Fortbestand wurde im Wesentlichen durch die bayrische Verfassung gewährleistet.“22 Die Besonderheit der politischen Kultur im Linksrheinischen muss wider Willen eingestanden und gleichzeitig eingedeutscht und eingebayert werden. Dieser Prozess verlief in Rheinhessen und in Rheinpreußen ähnlich. Gleiches gilt für den in Wonsheim geborenen Pfarrer und Schriftsteller Heinrich Bechtolsheimer. In seinem 1903 erschienenen Roman „Zwischen Rhein und Donnersberg“ lässt er trotz seiner grundsätzlich ablehnenden Haltung zur Franzosenzeit die unterschiedlichen Positionen in Rheinhessen zu Wort kommen. Da streiten sich z.B. Pfarrer Flick und Maire Veith über die Bewertung der französischen 22
Wilhelm Heinrich Riehl, Die Pfälzer. Ein rheinisches Volksbild, Neuausgabe nach der Erstausgabe von 1857, Ludwigshafen 2007, S. 287–294.
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Zeit. Während Flick die antireligiöse Ideologie der Fremden kritisiert – andere Diskutanten im Pfarrhaus beschweren sich über den Zwang zur französischen Sprache und über Schikanen der Soldaten und Beamten – hebt Veith den modernen Straßenbau (Pariser Chaussee) hervor, das funktionierende Postwesen, die öffentliche Sicherheit und die Abschaffung des Zehnten.23 Das Scheitern der Revolution von 1848/49 hat in Deutschland eine politischgesellschaftliche Entwicklung begünstigt, in der der Einheitsgedanke unter Aufgabe des Freiheitsgedanken mit der industriellen Modernisierung zu einer nationalistischen Ideologie verknüpft wurde. Die nationale Form der Begeisterung gibt den Universalanspruch der Freiheit in der Individualität auf und verwirklicht sich ohne den Einzelnen im janusköpfigen Spannungsfeld von Macht und Machbarem. Das bedeutet, dass das Selbstgefühl des Einzelnen am Wir orientiert wird, sei es im Pathos der Masse oder in der Ernüchterung des Maschinellen. Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts spaltet Verstand und Gefühl voneinander ab und spielt sie gegeneinander aus. Und selbst da, wo sich Widerstand gegen diese Methode regt, schlägt zumindest die Ernüchterung durch, z.B. im marxistisch-materialistischen Schlagwort des vom Kopf auf die Füße Stellens oder in der psychoanalytischen Bindung des Affekts an den Trieb. Noch die bis heute oft frappierende Mischung des Nationalsozialismus von biologistischem Machtpathos und industrieller Modernisierung unter Eliminierung von Gewissen und Empathie als möglichen Instanzen des Individuums fußt auf dieser Identitätszerstörung. In den Grenzregionen am Rhein bedeutete das für die nicht-exilierten Menschen Anpassungsdruck, einen Bekenntniszwang zu nationalen Lagern. Die gewachsene regionale Mischidentität im Westen rutschte aus der Politik ab in Camouflage, Mentalität, Folklore, aber es blieben doch auch in dieser Situation zahlreiche Brüche und Konflikte, die offenbar werden durch wiederholte Spaltungen im Liberalismus und durch die regionalen Positionen innerhalb der sich aus der 48er Tradition herausentwickelnden Sozialdemokratie. Die Reichstagswahlen von 1871 bis 1912 in den drei rheinhessischen Wahlkreisen Mainz-Oppenheim, Bingen-Alzey und Worms zeigen zunächst eine Dominanz der Nationalliberalen, später eine Mainzer Entwicklung zum katholischen Zentrum und eine Bingen-Alzeyer zu den Freisinnigen, also den Linksliberalen sowie eine ständig wachsende Bedeutung der Sozialdemokratie. Die aus der besonderen regionalen Situation resultierenden Brüche lassen sich gut am Beispiel Ludwig Bambergers zeigen, der von 1868 bis 1890 die Region im Reichstag vertrat, zunächst als nationalliberaler Abgeordneter und 1871 im Bündnis mit Bismarck, ab 1880 als Freisinniger und Bismarcks Gegenspieler, der 1888 auf den nach 99 Tagen Regierungszeit verstorbenen und liberal orientierten Kaiser Friedrich III. setzte. Bamberger formuliert in einem Brief aus Interlaken vom 8. August 1878: „Die inhaltsleere, bloß auf Ausübung von Macht gerichtete Politik kommt immer mehr zum Durchbruch. Er [Bismarck, der Verf.] desorganisiert nicht nur, wie bisher, alle Organisation und Regierung, sondern die kümmerlichen staatserhaltenden Elemente im Volk selbst, und bei der entgegenkommenden Disposition im Volk 23
siehe auch: Volker Gallé: „Das Hungerjahr“. Ein Heimatroman und seine Theorie, in: Heimatjahrbuch des Landkreises Alzey-Worms, Alzey 2007, S. 233f.
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fragt man sich immer von neuem, ob nicht abermals alles zurückgehen werde, wie 1815 und 1848.“24 Und am 6. Juni 1887: „Wieder Hervortreten alter Unvollkommenheiten in der nationalen Lage, verquickt mit der neuen Korruption durch Bismarcks Einfluß (...). Die Sezession [Liberale Vereinigung als Teil der Freisinnigen, der Verf.], wenn weiter bestehend, hätte viele Chancen gehabt. Jetzt hat der Nationalliberalismus [Fortschrittspartei als anderer Teil der Freisinnigen, der Verf.] ihre Erbschaft angetreten. Sein Geist, pomphafte Unterwürfigkeit, ist der Ausdruck der deutschen Mittelklassen, über welche nach Ende des Kulturkampfes die angestammten Herrscher, Junker und Pfaffen wieder Herren werden. Der deutsche Parlamentarismus war eine Episode und ich in dieser Episode ein Mitspieler. Never mind.“25 Dass auch extrem nationalistische Positionen in Grenzregionen am Rhein möglich waren, zeigt ein Blick auf den in Alzey geborenen langjährigen Vorsitzenden des Alldeutschen Verbandes Heinrich Claß. Der völkisch, chauvinistisch, kolonialistisch und antisemitisch orientierte Verband bestand bis 1939 und ebnete dem Nationalsozialismus den Weg. In seinem 1912 unter Pseudonym erschienenen, vielfach, auch in der Weimarer Republik, wieder aufgelegten Buch „Wenn ich der Kaiser wär“ schreibt Claß mit Blick auf Frankreich: „Französische Publizisten reden so offenherzig über das Schicksal des Deutschen Reiches, wenn es dem gemeinsamen englisch-russisch-französischen Angriffe erliegen sollte, dass wir für den umgekehrten Fall auch kein Blatt vor den Mund zu nehmen brauchen. Das siegreiche deutsche Volk wird fordern dürfen, dass die Bedrohung durch Frankreich endlich und für alle Zeiten aufhört; also muß Frankreich zerschmettert werden. Wir müssen weiter verlangen, dass uns so viel des französischen Bodens abgetreten wird, wie wir zum Zwecke endgültiger Sicherung brauchen.“26 Mit Blick auf die Niederlande und Belgien fordert er die Annexion der Rheinmündung: „Käme es zu solcher Gestaltung der Dinge, so wären die Sünden der Habsburger und die des Wiener Kongresses wieder gut gemacht und das deutsche Volk hätte seinen uralten Besitz an der Nordsee wiedergewonnen.“27 Er verweist allerdings darauf, dass vor allem die niederländische Bevölkerung im Grund nicht erwünscht sei, weil sie „durch jahrhundertelange Kleinstaaterei geistig so verödet und engherzig geworden und zum großen Teil unter dem gedankenlosen Krämerregiment so zuchtlos“28 geworden sei. Für Belgien gelte als negativ das „Pfaffenregiment der Habsburger“, „das „Menschenmaterial“ sei „dazu noch sozialistisch unterwühlt“29. Die außenpolitische Neutralität der Schweiz ringt ihm dann aber doch eine unterschwellige Sympathiebekundung für die föderal-republikanischen Traditionen am Rhein ab, wenn er schreibt: „So eng und klein dies Gemeinwesen 24 25 26 27 28 29
Ernst Feder (Hg.), Bismarcks großes Spiel. Die geheimen Tagebücher Ludwig Bambergers, Frankfurt 1932, S. 328. ebenda, S. 339. Daniel Frymann (Heinrich Claß): Wenn ich der Kaiser wär. Politische Wahrheiten und Notwendigkeiten, 4. Aufl., Leipzig 1913, S. 151f. ebenda, S. 156. ebenda, S. 154. ebenda, S. 154.
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ist, der Geist der Unabhängigkeit und der Stolz auf sie, sind dort wirklich zu finden.“30 Auf der anderen Seite finden sich aber auch die alten Gegenwelten von 1848, die weiter virulent sind. So berichtet der 1873 in Mainz geborene Anarchosyndikalist Rudolf Rocker von der Lektüre seiner Jugend, er habe sich aus dem Bücherschrank des Patenonkels versorgt mit Wilhelm Zimmermanns „Geschichte des Bauernkrieges“ mit den Helden Thomas Müntzer und Florian Geyer, Victor Hugos Roman „Die Elenden“ und den Gedichten Ferdinand Freiligraths. Der junge Sozialdemokrat schließt sich 1890 der Bewegung der Jungen an, die gegen den Parteivorstand opponiert. Das führt ihn schließlich mit vielen Anderen in der Region zum Anarchismus und ins Exil nach Paris und London. In seinen Memoiren schreibt er: „Mainz war in meiner Jugend eine Stadt mit starkem demokratischem Einschlag. Die demokratische Gesinnung war keine reine Parteiangelegenheit; sie war dem Volke in Fleisch und Blut übergegangen und machte sich in allen Kreisen der Bevölkerung bemerkbar. Ich wurde zwei Jahre nach der Gründung des neuen Reiches geboren. Der innere Widerstand gegen die nationale Einheit Deutschlands unter der Führung Preußens war damals noch stark fühlbar im Volke. Das linke Rheinufer, Baden und Württemberg waren von jeher die demokratischsten Teile Deutschlands. Das Bürgertum in jenen Teilen des Reiches blieb lange Zeit preußenfeindlich. Und befand sich stets im offenen Widerspruch mit der Politik Bismarcks.“31 Als Wurzeln nennt er die föderalen Traditionen des deutschen Südwestens, verkörpert in Bismarcks Gegenspieler Constantin Frantz, dessen Hauptwerk 1879 in Mainz erschienen war, sowie den „beweglichen und lebhaften Charakter der rheinischen Bevölkerung, dem jede starre Regel und erzwungene Zucht in der Seele zuwider war“32 und der sich deshalb zur französischen Mentalität hingezogen fühle. Er beschreibt aber auch lange nachwirkende 48er Traditionen, so bei der „Heckergarde“, die in den Altstadtkneipen neben dem Heckerlied die Marseillaise in französisch sang und ein Spottlied auf das preußische Militär unter dem Titel „Preußenmichels Himmelfahrt“: „Die Himmelfahrt war eine besonders drastische Dichtung im Mainzer Straßendialekt. Sie beschrieb die Irrfahrten der Seele eines preußischen Unteroffiziers, der sich an weißen Rüben und Speck totgefressen hatte und nun von Stern zu Stern pilgerte, ohne Ruhe finden zu können, bis er endlich auf einem Planeten anlangte, wo die Engel in Kasernen wohnen und der liebe Gott eine mächtige preußische Pickelhaube trägt.“33 Als Refrain habe man gesungen: „Himmel-Herrgott-Sakrament! De Michel hot de Arsch febrennt.“34 Der Schriftsteller Wilhelm Holzamer aus Nieder-Olm, dessen Großvater wie Johann Paulsackel in Oppenheim eine freie Schule gegründet hatte, nachdem er von Bischof Ketteler wegen seiner liberalen Gesinnung aus dem Amt getrieben worden war, und der eine Zeit lang in Diensten des Darmstädter Großherzogs stand und an 30 31 32 33 34
ebenda, S. 157. Rudolf Rocker: Aus den Memoiren eines deutschen Anarchisten, hg. von Magdalena Melnikow und Hans Peter Duerr, Frankfurt a. M. 1974, S. 22. ebenda, S. 23. ebenda, S. 21. ebenda, S. 21
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den Jugendstilausstellungen auf der Mathildenhöhe mitarbeitete, beschreibt in seinen Romanen nicht nur dezidiert die Ereignisse der Pariser Commune als Rebellion und die politischen Schwierigkeiten der frühen Sozialdemokratie in Rheinhessen, sondern charakterisiert auch die liberale Haltung des Großherzogs als süddeutsch und rheinisch. So lässt er seinen Protagonisten im Roman „Der Entgleiste“ sagen: „Die barbarischen Völker haben immer den starken historischen Zug bewiesen. So kamen die Römer über die Griechen, die Germanen über die Römer. So kommt nun der Norden über den Süden. Und unsere älteren Kräfte, weil sie ihres Alters wegen die schwächeren sind, werden von den jüngeren, die die robusteren sind, aufgesogen und vernichtet. Aber wir haben unsere Kultur zu wahren und unser historisches, unser geistiges, unser kulturelles Besitztum zu hüten. Der Norden hat die staatliche Übermacht erhalten. Setzen wir ihm unsere kulturelle entgegen. Wir können Brachliegendes wecken, aufbauen, freimachen. Rhein und Freiheit sind für mich Synonyme, Rhein und Süden und Freiheit.“35 Durch die Anpassungsprozesse wird die Stimmung in Rheinhessen uneinheitlich, widersprüchlich, randständig, aber eine liberale Ausrichtung bleibt. Auch in der Sozialdemokratie regen sich libertäre Kräfte. Erst 1900 wird der Code Civil als geltendes Recht abgeschafft. Die gesellschaftliche Struktur ist anders als im Osten fast durchweg kleinbürgerlich, das Eigentum durch die Realteilung stark parzelliert – mit der sozialpsychologischen Folge von Gleichheitsverständnis und Neidprozessen gleichermaßen – und die religiöse Landschaft multikonfessionell mit immer neuen Abspaltungen. Ein dritter Raum im Westen In der Literatur hält sich die seit dem frühen Mittelalter virulente Fantasie eines dritten Raumes zwischen Deutschland und Frankreich, so z.B. bei dem in Bingen geborenen Dichter Stefan George, dessen Großvater aus Lothringen an den Rhein zugezogen war und der 1907 in der Sammlung „Der siebente Ring“ schreibt: Ein fürstlich paar geschwister hielt in frone bisher des weiten innenreiches mitte. bald wacht aus dem jahrhundertschlaf das dritte auch echte kind und hebt im rhein die krone.“36 Der im Elsass geborne Romanist Ernst Robert Curtius meinte dazu: „George fühlte sich durch geheime Wahlverwandtschaft dem römischen Germanien und dem fränkischen Mittelreich Lotharingien zugehörig. In sechs dunklen Rheinsprüchen hat er die Erinnerung an dieses Reich traumhaft in die Zukunft hineinbeschworen. Es wird die Herrschaft von Ost und West, Deutschland und Frankreich abschütteln.“37 Bereits 1888 hatte George in einem Brief aus London über Rheinhessen geschrieben:
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Wilhelm Holzamer: Der Entgleiste, 1907, 2. Aufl. als Privatdruck o.J., Bd. 2, S. 110. Stefan George: Der siebente Ring, Blätter für die Kunst, Berlin 1907, S. 198, Rhein: I. Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, 2. Aufl., Bern 1954, S. 19f.
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„Unser volk am Rhein hat einfach deshalb mehr spirit und mehr verve, weil es mehr mit der welt in berührung kam als das in Starkenburg und Oberhessen. Der rhein war stets eine grosse verkehrsstraße und die grossen landrouten führten durch unser land. Bei allen invasionen haben die Rheinhessen ferner am meisten nicht nur zu leiden gehabt, sondern auch profitiert und magst du sagen was du willst ich werde Dir haarklein beweisen, dass die französische herrschaft (...) kein unwichtiges moment in der ausbildung unseres volksgeistes war. Berührung mit anderen völkern anderen sitten anderer weisheit (...) ist das beste mittel zur ausrottung aller steifheit aller verblendung alles stumpfsinns aller knechtschaft kurz alles schlimmen im geschick der völker.“38 Typische Bilder dieses rheinischen Eigensinns tauchen auch bei den vom Rhein stammenden und in der Schweiz exilierten Pazifisten des Ersten Weltkriegs auf, so bei René Schickele, Hugo Ball oder auch Ernst Bloch. Letzterer formuliert in einem Aufsatz: „Die westlichen Völker fühlen ein Licht, das die schwersten Schatten löst, das Übersehenes, himmlisch Unterirdisches, plötzlich ins grellste Zentrum rückt, das die geheime ketzerische, pythagoräische, essäische, urchristliche, albigensische, wiedertäuferische Blüte, Ideengewalt der Menschenrechte, Traum Weitlings und aller Bekenner der Freiheit und Heiligung, des Utopierechts der Menschen zur Vollendung bringt (...). Der Sozialismus als Konsequenz der großen Umarmung auf dem Marsfeld ist vorerst allein im Westen möglich; als Mystik Frankreichs ist er möglich (...) die Kraft der entente cordiale, um dem gärenden Christus der übrigen Welt das Lösewort zu geben.“39 Das Bild vom gärenden Christus nimmt ein Bild auf, das wir bereits von Kathinka Zitz-Halein aus ihrem Gedicht „Es gährt“ kennen. Und nicht von ungefähr haben Bloch und Ball um 1921 antipreußische und lutherkritische Bücher geschrieben, in denen der als Schwärmer apostrophierte Thomas Müntzer wiederentdeckt wird. Die Weimarer Republik bearbeitet das Ende des 19. Jahrhunderts beginnende Spannungsfeld zwischen Kälte und Wärme, Vernunft und Gefühl weiter. Neben der neuen Sachlichkeit gibt es die ironisch gebrochene Gebrauchslyrik und die expressionistische Leidenschaft. Der Bund rheinischer Dichter um den in Wiesbaden geborenen Schriftsteller Alfons Paquet versucht trotz der nationalen Aufladung der politischen Stimmung am Rhein durch die französische Besatzung ein eigenes, europäisch orientiertes Rheinlandbild zu entwickeln. An diesem Vorhaben sind auch Autoren wie der Wormser Peter Bender oder der Mainzer Carl Zuckmayer beteiligt. Von Zuckmayer gibt es die berühmten Worte von der Völkermühle am Rhein, also der produktiven ethnisch-kulturellen Mischung, aber auch die Beschreibung des nüchternen Pragmatismus in Rheinhessen und der antipreußischen Leben-und-Lebenlassen-Mentalität im „Fröhlichen Weinberg“. Alle diese Autoren, ob von deutscher oder französischer Seite – hier z.B. der aus der Franche-Comté stammende Annales-Historiker Lucien Fébvre in seinem Rheinbuch – haben den Rhein nicht als politische Grenze verstanden, sondern als Raum der Begegnung mit unzähligen 38 39
nach Thomas Karlauf: Stefan George. Die Entdeckung des Charisma, München 2007, S. 75. Ernst Bloch: Wie ist Sozialismus möglich? In: Ernst Bloch. Kampf, nicht Krieg. Politische Schriften 1917–1919, hrsg. von Martin Korol, Frankfurt a. M. 1985, S. 568f.
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Vernetzungen im Detail. Und noch der 1910 in Guntersblum und in Worms aufgewachsene Autor Georg K. Glaser erzählt nach 1945 in seinem Schlüsselroman „Geheimnis und Gewalt“ von der Lebendigkeit der um 1800 geprägten rheinischen Tradition: „In meiner engeren Heimat hat Paris den Klang eines Wortes aus dem Märchen. Was ich auch später las und erfuhr, nahm ihm diesen Glanz nicht. Es war die Stadt Heinrich Heines, die Stadt Johann Christophs, die Stadt Hugos, Balzacs, Zolas, die Stadt Marats, Robespierres, Dantons, die Stadt der ewigen Barrikaden und der Kommune, die Stadt der Liebe, des Lichtes, der leichten Luft, des Lachens und der Lust.“40 Drei ungleiche Entwicklungen Um die Gemeinsamkeiten der linksrheinischen Regionen zu differenzieren, bietet sich ein Vergleich von Pfalz, Rheinland und Rheinhessen bezüglich der Identitätsbildung ab 1816 an. Pfalz: Aus Rhein-Bayern wurde die Rhein-Pfalz und schließlich die Pfalz, während die alte Kurpfalz rechtsrheinisch um die Residenzen Heidelberg und Mannheim und gegen den Begriff „Nordbaden“ verortet wurde. Man knüpfte in der linksrheinischen Pfalz also an eine historisch ältere Identität an und entfeudalisierte sie Ende des 19. Jahrhunderts in einem neuen Vernetzungsprozess, der vor allem über die Bezirksinstitutionen und über den Pfälzerwaldverein und seine Aktivitäten im Bereich der Naherholung erfolgte. Als Begrifflichkeit belegte man die „Pfälzer Gemütlichkeit“ und knüpfte damit sowohl an die besonders den Deutschen zugeschriebene Mentalität des Gemüts an als auch an die linksrheinische Geschichtserfahrung von multikonfessioneller Toleranz. Rheinland: Aus Rhein-Preußen wurde das Rheinland, also eine begriffliche Okkupation des gesamten am Rhein liegenden Landes, eine hegemoniale Strategie, die sich wohl aus der preußischen Dominanz in der nationalen Öffentlichkeit als auch aus der schieren Größe der Region speiste. Als Begrifflichkeit der Mentalität belegte man in der Tradition des Kölner Karnevals den „Rheinischen Frohsinn“. Rheinhessen: Rhein-Hessen blieb Rheinhessen. Eine Anknüpfung an ältere territoriale Strukturen blieb verwehrt, da sowohl der Pfalz- wie der Kurpfalzbegriff besetzt waren und der Kurmainzbegriff sich sowohl wegen des Stadtnamens als auch wegen der geistlichen Tradition in einem säkularen Zeitalter, aber auch wegen der schmalen räumlichen Basis im Linksrheinischen nicht eignete. Lediglich die Betonung wanderte mit der Zeit von der ersten auf die vorletzte Silbe, was sprachwissenschaftlich dem Zusammenwachsen eines zusammengesetzten Wortes zu einem Wort entspricht. Da regionale Strukturen verhindert wurden, zog man sich – durchaus in Bezugnahme auf ältere und bürgerlich-revolutionäre Ansätze – auf lokale Identitäten zurück. Eine Betrachtung der pfälzischen und rheinischen Identitätsbegriffe zeigt das Potenzial zu einer noch-nicht erfolgten regionalen Formulierung. Gegenüber der Pfalz empfindet sich Rheinhessen – sowohl im Selbst- wie im Fremdbild – als schneller, steht mehr für Beschleunigung denn für Verlangsamung, 40
Georg K. Glaser: Geheimnis und Gewalt, Reinbek 1994, S. 207.
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versteht sich moderner und traditionsferner – was durch den frühen Verzicht auf die Tracht zu belegen ist – und als spöttischer. Prägend sind die „Sprisch“, die rheinhessische Schlagfertigkeit. Ein passender Identitätsbegriff könnte vielleicht „Rheinhessischer Mutterwitz“ sein. Davon abgesehen, dass ein solcher Begriff – wie das Beispiel der Pfalz und des Rheinlands zeigt – dann gut funktioniert, wenn er an einem übergeordneten Begriff deutscher Identität anknüpft, sozusagen landschaftlich auswählt und beansprucht im innerdeutschen Vergleich, muss ein solcher Begriff auch erst durch Vereinbarung über Erzählen und Benutzen Akzeptanz erlangen. Der Begriff „Mutterwitz“ wird auch den „preußischen“ Berlinern unter dem Bild „Berliner Schnauze“ zugeordnet, wenn auch nur im Hintergrund. Allerdings ist der Begriff „Mutterwitz“ nicht mehr sehr gebräuchlich. Er drückt aber das Richtige aus, nämlich eine verstandesorientierte Schlagfertigkeit, die quasi „angeboren“ ist. Eine Erste-Person-Perspektive der Gegenwart Machen wir einen Sprung in die Gegenwart, ganz im Bewusstsein, dass damit allerhand übersprungen wird, was untersuchenswert ist, aber das scheint mir legitim beim Versuch einer großen regionalen Erzählung, die ohnehin durch weitere Texte aus allen Epochen und unterschiedlichen sozialen Schichten ergänzt werden und mit historischen Befunden verknüpft werden muss, um sich anzureichern und auszudifferenzieren. Wir springen damit aber auch mitten hinein in unser eigenes Leben. Die Beobachtungen sind daher noch zerstreut, weniger gebündelt und verdichtet und auch mit dem Noch-Nicht des Prinzips Hoffnung behaftet, greifen aus in die Zukunft, ohne die genauen Wege im Rückblick bereits kennen zu können, und damit wird die Stellungnahme des Betrachters als eines Bewegers noch deutlicher als im Blick auf die Vergangenheit. Seit 1. Juli 2011 gibt es jeden Freitag auf der Rheinhessenseite der AZ die Videokolumne „Lässisch rhoihessisch“. In allen Kolumnen sammeln sich die bekannten Elemente einer Lachkultur des Volkes im Karneval, wie sie von Bachtin, Burke u.a. beschrieben wurden. Es geht meist um gezielte Tabubrüche der Anstandsregeln, vor allem im Bereich des Essens und Trinkens, und das in Mundart und entsprechender „dörperlicher“ (bäurischer) Kostümierung (Kappe, Hosenträger etc.). Nachdem die Karnevalisierung der Kultur neben der Kriminalisierung mittlerweile mainstream ist, verliert sie allerdings zunehmend den Charme einer Gegenwelt und damit auch an regionaler Exklusivität, die sie insbesondere im Rheinhessen des frühen 19. Jahrhunderts durch ihre Politisierung im Zug der demokratischen Revolution gewonnen hatte. Was bleibt, sind die Mentalitätskomponenten Spott und „Sprisch“ als verbale Verteidigungsstrategien von Entzauberung. Nach der Niederlage der Demokraten 1849 wurden sie ihres spezifischen politischen Anspruchs zunehmend beraubt und fielen zurück in mittelalterliche und frühneuzeitliche Formen eines appétit pantagruélique, einer Feier der Völlerei im Stil der Romane von Rabelais aus dem 16. Jahrhundert. Quantität prägte lange Zeit und in der Selbstdarstellung häufig noch heute das Bild der Rheinhessen von sich selbst: „Wann die Worschd doppelt so dick is wie‘s Brot, kanns Brot so dick sei wie‘s will!“
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Qualität galt eher als überflüssig, hochnäsig, besserwisserisch, weltfremd. Auch die besonderen Qualitäten der Landschaft wurden kaum wahrgenommen, das Sanfte, überwiegend Himmlische. Grund und Boden – durch die Realteilung stark zergliedert – reduzierte sich meist auf die Funktion als Eigentum und Produktionsmittel. Der materialistische Zug der Aufklärung setzte sich als Pragmatismus durch: „Was hinnert, kimmt eweg!“ Bachbegradigung, Baumabholzung, Baumarkthäuser u.v.m verödeten die Landschaft bis in die achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Vor allem aus den Kreisen der Jungwinzer, die in ihrer Ausbildung andere Regionen kennenlernten und auf Direktvermarktung setzen mussten, sowie durch den Zuzug aus den nahen Ballungsgebieten mit dem Kauf und der Restaurierung alter Bausubstanz entstand seit den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts schrittweise ein neues Qualitätsbewusstsein. Unter Leitbegriffen wie Naturnähe und Terroir kam es zu einer Neuentdeckung der Landschaft, der Geschichte und der Kultur von unten, die ich als „neues Staunen“ bezeichnen möchte. Teilweise war und ist dieses „neue Staunen“ sprachlos geblieben, vielleicht weil es sich bis heute schwer tut, sich gegen den karnevalistischen mainstream eigenständig zu formulieren, aber andererseits Identitäten anderer Regionen nicht kopieren möchte. Ich habe solche Ansätze z.B. in einigen Fotografien von Robert Dieth und Iris Schröder in ihrer aktuellen Arbeit „Rheinhessen – Eine Region im Wandel“ gefunden, vor allem wenn Winzer an ihrer Erde riechen, sich über ihren Boden unterhalten, liegend unter den Rebstöcken. In diese Richtung gehören auch alle Bestrebungen einer verfeinerten regionalen Küche, gehören Anleihen an das französische savoir-vivre, Metaphern wie „rheinhessische Toscana“ u.v.m. Auch Geschichte und Kultur werden von unten her, mehr im Detail als in einer großen Initiative wiederentdeckt. Es entstehen zahlreiche „Stützpunkte regionaler Fantasie“, durch Netzwerke wie die Kultur- und Weinbotschafter, Programme wie „Rheinhessen liest“ oder „Liebfrauenland. Gotik in Rheinhessen“, die IG Weingewölbe, Kunstprojekte in der Landschaft wie die Weinheimer Weinkirche, der Offenheimer Birnenweg oder der Skulpturenweg Abenheim und Orte der Inszenierung wie die Theaterscheunen in Dautenheim und Erbes-Büdesheim sowie alte und neue Wein-Architektur. Das Sammeln und Vernetzen macht Mühe, weil es Rheinhessen, das seit 1816 immer wieder vergeblich versucht hat, eine Bezirksstruktur aufzubauen, politisch seit 2000 nicht mehr gibt und damit auch Möglichkeiten zu institutioneller Kommunikation und Koordination weitgehend fehlen bzw. nur branchenspezifisch ausgebildet sind. Das „neue Staunen“ hat den Charme einer Jugendhaftigkeit, die aus dem Nichts zu kommen scheint, aber ihm fehlen nicht nur Vernetzungsstrukturen, die es mit denen anderer Regionen aufnehmen können, sondern ihm fehlen auch große Erzählungen, die die Schätze der politisch-kulturellen Begeisterung heben, historische Linien zeichnen und regionale Zukunftsentwürfe nicht an Hand austauschbarer Clusterziele formulieren, sondern als Charakterwege einer Region. Die Verdrängung deutscher Identität nach ihrer Beschwerung durch die NS-Verbrechen hat zum Einen die Skepsis gegenüber großen Erzählungen im Allgemeinen über Jahrzehnte in der ganzen Nation zementiert, zum Anderen ergeben sich dadurch besondere regionale Schlupflöcher, gerade im Linksrheinischen. Hier haben die demokrati-
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schen Traditionen Deutschlands ihre Wurzeln, die Verweigerung gegenüber Hierarchien und die Mentalität des von unten angesetzten Konsensualen kann über die Region hinaus prägende Beispiele für europäische Entwicklungen bilden, wenn es denn gelingt, sich regional zu vereinbaren und in die Region tatsächlich zu investieren. Ich meine, dass der Weg dahin nicht allein über Politik und Marketing gehen sollte, sondern in stärkerem Maß über die Kultur, und hier über das erzählende Denken, so wie es uns französische und englische Historiker und zuletzt polnische, ukrainische und estnische Autoren vormachen. Nutzen wir den Blick der Reisefeuilletons im Stil eines Cees Noteboom. Veranstalten wir Erzähl-Workshops, um Erfahrungen, Erinnerungen und Hoffnungen untereinander ins Gespräch zu bringen und in die Verdichtung hinein zu erzählen, wie das die Märchen und Sagen in der mündlichen Überlieferung schon immer getan haben. Dabei werden die alten Erzählungen variiert, ergänzt, neu verknüpft werden. Es bedarf Zeit, um ihre Dramaturgien im Detail zu finden und zu erfinden. Wenn wir uns z.B. im Sinne von Heines Mythologie den alten Göttern zuwenden, so haben die einzelnen Götter und ihre jeweiligen Mythen eben ganz eigene Erzählstrukturen. Artemis ist nicht Athene und Athene nicht Aphrodite und Aphrodite nicht Demeter. Das gilt auch für die Überlieferungen des Mittelalters und der Neuzeit, wie ich sie z.B. oben für die Zeit nach 1789 in Rheinhessen skizziert habe. Neuland liegt nicht in der Karnevalisierung und im Regionalkrimi – letzteres ist heute überall im Überfluss zu haben und ersteres braucht seine besondere regionale Grundierung wieder –, sondern in Jugend- und Frühlingsfantasien, in Fantasien einer sanften Gartenlandschaft, in einer Gesprächskultur des Zuhörens, in einer Politik der Bürgerbeteiligung und des Bürgerengagements, in genossenschaftlichen Modellen des Wirtschaftens, in der Thematisierung eines Mehrwerts aus der Mischung von Kulturen als rheinischer Tradition und alltäglichem Zukunftsmodell, in einer Orientierung an der Freude und weniger am Stolz, in einer Lust am Schmelzenden, aber freiwillig und mit wachem Sinn. Ich plädiere dafür, dass Rheinhessen sich begeistert, und dazu gehören eben Geist und Gefühl und gesellschaftlicher Aufbruch. Nur so werden der Leib, der Raum, der Körper, die Geografie lebendig in der Zeit. Über das republikanische Potenzial der Erde am Rhein Und das schöne Bild des staunend an der Erde Riechenden, das da immer wieder mal auftaucht wie aus dem Nichts: es hat durchaus einen Bezug zur Geschichte der Begeisterung. Der französische Germanist Pierre Bertaux hat in seinem Buch „Hölderlin und die französische Revolution“41 die Metaphorik des Autors auf ihren politischen Gehalt untersucht und ist zu dem Schluss gekommen, dass Hölderlin nach 1800 die Niederlage seiner republikanischen Träume in Württemberg in das antike Bild der freien Göttersöhne fasst, die in der Mutter Erde vor dem gefräßigen Göttervater der Reaktion verborgen werden – verborgen, verschwiegen, vergessen, um dennoch eines Tages erneut zu keimen in einem neuen Frühling der Republik: 41
Pierre Bertaux: Hölderlin und die französische Revolution, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1970, S. 114ff.
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Die Tempelsäulen stehn verlassen in Tagen der Not, wohl tönet des Nordsturms Echo tief in den Hallen. Und der Regen machet sie rein, und Moos wächst und es kehren die Schwalben in Tagen des Frühlings, namlos aber ist in ihnen der Gott, und die Schale des Danks und Opfergefäß und alle Heiligtümer begraben dem Feind in verschwiegener Erde.42
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nach Bertaux, ebenda, S.122f. (Hölderlin, Der Mutter Erde, Gedichte 1800–1804).
Die Autorinnen und Autoren Dr. phil. Hedwig Brüchert, geb. 1945 in Leitmeritz (Böhmen), Historikerin, 1995– 2012 Wiss. Mitarbeiterin am Historischen Seminar bzw. am Institut für Geschichtliche Landeskunde an der Universität Mainz, Mitarbeit an stadtgeschichtlichen Ausstellungen, Veröffentlichungen zur städtischen Sozialpolitik in Mainz im 19./20. Jh., zu Frauen in der Nachkriegszeit in Rheinland-Pfalz, zur Zwangsarbeit während des Zweiten Weltkriegs im Raum Mainz und Wiesbaden sowie zur Geschichte der Mainzer Juden im 20. Jahrhundert. Volker Gallé, M.A., geb. 1955 in Alzey, Studium der Germanistik, Philosophie, Ethnologie und Volkskunde in Mainz, Magisterarbeit über Franz Kafka, Journalist, Buchautor, Mundartliedermacher. Schwerpunkt historischer Forschung: Freiheitsbewegungen am Oberrhein, Rheinhessen zur NS-Zeit, Soziale Bewegungen nach 1968. Seit 2004 Kulturkoordinator der Stadt Worms. Dr. Rainer Karneth, M.A., geb. 1957, Studium der Fächer Deutsch, Geschichte, Soziologie, Volkskunde u. Philosophie, seit 1992 Leiter des Museums der Stadt Alzey, Lehrbeauftragter an den Universitäten Würzburg u. Koblenz-Landau. Dr. phil. Anton Maria Keim†, geb. 1928 in (Mainz-)Hechtsheim, Studium der Germanistik, Geschichte, Volkskunde und Staatswissenschaften in Mainz, Pädagoge, von 1972 bis 1996 Kulturdezernent der Landeshauptstadt Mainz, zahlreiche Veröffentlichungen, u.a. „Elfmal politischer Karneval“, „Tagebuch einer jüdischen Gemeinde“, Lebendiges Rheinland-Pfalz“ 1970, „Juden in Mainz“, Beiträge für Funk, Zeitungen und Zeitschriften. Dieter Krienke, M.A., geb. 1958 in Bingen a. Rh., Studium der Geschichte, Kunstgeschichte und Italianistik in Mainz und Venedig. Seit 1988 in der Denkmalpflege, seit 1995 in der Landesdenkmalpflege/Inventarisation tätig. Publikationen: Denkmaltopographien, Beiträge zum Kirchen- und Synagogenbau sowie zur ländlichen Baukultur in Rheinhessen und der Pfalz. Mitglied der AG Inventarisation der Landesdenkmalpfleger, des wissenschaftlichen Beirats des rheinland-pfälzischen Freilichtmuseums Bad Sobernheim und des Arbeitskreises Historische Hofanlagen des RVDL/AHF Rheinland. Dr. phil. Gunter Mahlerwein, langjährige freiberufliche Tätigkeit als Historiker und Musiklehrer, seit 2009 abwechselnd wissenschaftlicher Angestellter und Lehrbeauftragter an den Universitäten Mainz und Saarbrücken, zahlreiche Publikationen zur rheinhessischen und außerrheinhessischen Geschichte 17.–20. Jh., letzte Veröffentlichungen: Rheinhessen 1816-2016. Die Landschaft – Die Menschen – und die Vorgeschichte seit dem 17. Jahrhundert, Mainz 32016; Grundzüge der Agrargeschichte Band 3: Die Moderne (1880-2010), Köln/Wien 2016.
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Die Autorinnen und Autoren
PD Dr. phil. Christina Niem, geb. 1963 in Bad Wildungen, Studium der Fächer Volkskunde, Germanistik und Geschichte; tätig im Fach Kulturanthropologie/ Volkskunde, Institut für Film-, Theater- und empirische Kulturwissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Dr. Rudolf Post, geb. 1944 in Bad Salzschlirf, Studium der Germanistik, kath. Theologie und Allgemeinen Sprachwissenschaft in Mainz; 1982 Promotion zu romanischen Entlehnungen in den Mundarten der Rheinlande. 1981-1997 Leiter der Arbeitsstelle „Pfälzisches Wörterbuch“ der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Kaiserslautern, 1998-2009 Leiter der Arbeitsstelle „Badisches Wörterbuch“ an der Universität Freiburg i. Br. Ab 2009 im Ruhestand. Otto Schätzel, geb. 1952 in Mainz, Studium der allg. Agrarwissenschaften in Stuttgart-Hohenheim und Kiel, Abschluss Dipl.-Ing. agr., Berufsschullehrer Weinbau und Kellerwirtschaft, Fachschullehrer für Agrarpolitik, Betriebslehre und Weinmarketing, Berater für Weinmarketing, 2000–2003 Direktor der Staatl. Lehr- und Versuchsanstalt und der Staatl. Weinbaudomäne Oppenheim, seit 2003 (Agrarverwaltungsreform) stellv. Leiter des DLR Rheinhessen-Nahe-Hunsrück u. Leiter der Staatl. Weinbaudomäne Oppenheim, Geschäftsführender Vorstand Rheinhessenwein e.V. Dr. habil. Helmut Schmahl, geb. 1966 in Alzey, Studium (Geschichte, Englisch, Deutsche Volkskunde) in Mainz, Promotion 1999, Habilitation 2003, Oberstudienrat am Gymnasium am Römerkastell Alzey und Privatdozent am Historischen Seminar der Universität Mainz. Forschungsschwerpunkte: Deutsche Auswanderung nach Nord- und Südamerika, rheinhessische und südwestdeutsche Landesgeschichte. Webseite: www.germanimmigrants.de. Dr. rer. publ. Gunnar Schwarting, geb. 1949 in Hamburg, 1992–2014 Geschäftsführer des Städtetages Rheinland-Pfalz, seit 2001 Honorarprofessor an der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer, Autor von Fachbüchern und zahlreichen Fachartikeln v.a. zu Kommunalen Finanzen, Management und Stadtentwicklung. Dr. phil. Markus Würz, geb. 1980 in Heidelberg; Studium der Politikwissenschaft und Mittleren und Neueren Geschichte an der Universität Mainz, 2010 Promotion, 2006–2007 Wiss. Mitarbeiter am Institut für Geschichtliche Landeskunde an der Universität Mainz e.V., 2009–2012 Wiss. Mitarbeiter am Lehrstuhl für Zeitgeschichte der Universität Mainz, 2013–2015 Wiss. Mitarbeiter der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bonn, seit 2015 Wiss. Mitarbeiter der Generaldirektion Kulturelles Erbe Rheinland-Pfalz, Koblenz.
Bildnachweis S. 32, 35 S. 42
Museum Alzey aus: „Weinkulturlandschaft Rheinhessen. Wege zur Verbesserung der Erlebbarkeit“, hg. v. DLR Rheinhessen-Nahe-Hunsrück, Bad Kreuznach S. 51 Wilhelm Briegleb, De Rothaus-Reformader, Darmstadt 1912. S. 60, 62, 64 Archiv GDKE/Landesdenkmalpflege S. 65 Foto: Rainer Reith, Oberkirchen S. 66 oben Landesarchiv Speyer Best. H 51 Nr. 509 S. 66 unten Foto: Rainer Reith, Oberkirchen S. 67 GDKE/Landesdenkmalpflege, Fotoarchiv S. 68 oben Foto: Rainer Reith, Oberkirchen S. 68 unten Foto: Dieter Krienke, GDKE/Landesdenkmalpflege S. 69 oben Foto: Michael Huyer, GDKE/Landesdenkmalpflege S. 69 unten Foto: Dieter Krienke, GDKE/Landesdenkmalpflege S. 72/73 Entwürfe von Muster-Plänen für das landwirthschaftliche Bauwesen im Großherzogthum Hessen, Darmstadt 1843, Tafeln XIII, III, XII und VI S. 74 GDKE/Landesdenkmalpflege Fotoarchiv S. 75 Stadtverwaltung Bingen, Bauamtsarchiv Nr. 3633 S. 77 Foto: Rainer Reith, Oberkirchen S. 78, 79 W[ilhelm] Thaler (Bearb.): Hessen. Das ländliche Bauwesen (Deutschlands Landbau), Berlin 1926, S. 50, 65 und 37 S. 106 Stadtarchiv Mainz S. 121 aus: Helbich/Kamphoefner/Sommer, Briefe aus Amerika, S. 20 S. 126 aus: Rudolf Cronau: Drei Jahrhunderte deutschen Lebens in Amerika. Berlin 1909, S. 391 S. 138 Stadtarchiv Worms S. 146 Stadtarchiv Mainz
geschichtliche l andeskunde Veröffentlichungen des Instituts für Geschichtliche Landeskunde an der Universität Mainz
Begründet von Ludwig Petry und Johannes Bärmann, weitergeführt von Alois Gerlich und Franz Josef Felten, herausgegeben von Michael Matheus.
Franz Steiner Verlag
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ISSN 0072–4203
Elmar Rettinger (Bearb.) Historisches Ortslexikon Rheinland-Pfalz Bd. 1: Ehemaliger Landkreis Cochem (Unter Verwendung von Vorarbeiten von Martina Bleymehl-Eiler, Klaus Eiler und Manfred Laufs) 1985. XXXVI, 343 S., 1 Kte., kt. ISBN 978-3-515-04173-7 Walter G. Rödel Mainz und seine Bevölkerung im 17. und 18. Jahrhundert Demographische Entwicklung, Lebensverhältnisse und soziale Strukturen in einer geistlichen Residenzstadt 1985. XVI, 412 S., zahlr. Diagr., 116 Tab. im Text und 14 Tab. im Anh., 6 Faltstatistiken, kt. ISBN 978-3-515-04419-6 Susanne Schlösser Der Mainzer Erzkanzler im Streit der Häuser Habsburg und Wittelsbach um das Kaisertum 1740–1745 1986. VII, 213 S., kt. ISBN 978-3-515-04595-7 Alois Gerlich (Hg.) Das Dorf am Mittelrhein Fünftes Alzeyer Kolloquium 1986 1989. VIII, 240 S., kt. ISBN 978-3-515-05151-4 Martin Süß Rheinhessen unter französischer Besatzung Vom Waffenstillstand im November 1918 bis zum Ende der Separatistenunruhen im Februar 1924 1988. XII, 359 S., 21 Abb., kt. mit Schutzumschlag ISBN 978-3-515-05270-2 Herbert Pohl Hexenglaube und Hexenverfolgung im Kurfürstentum Mainz Ein Beitrag zur Hexenfrage im 16. und beginnenden 17. Jahrhundert 1989. XIV, 373 S., 6 Abb., 4 Tab., kt. ISBN 978-3-515-05330-3
33. Heinrich Büttner Mittelrhein und Hessen Nachgelassene Studien. Hg. von Alois Gerlich 1989. XVI, 132 S., kt. ISBN 978-3-515-05178-1 34. Peter Müller Die Herren von Fleckenstein im späten Mittelalter Untersuchungen zur Geschichte eines Adelsgeschlechts im pfälzisch-elsässischen Grenzgebiet 1990. LIX, 746 S., 6 Stammtaf., 10 Fig., 7 Ktn., geb. ISBN 978-3-515-05511-6 35. Margarete A. Kramer Die Politik des Staatsministers Emil August von Dungern im Herzogtum Nassau 1991. XXII, 270 S., 1 Farbtaf., geb. ISBN 978-3-515-05888-9 36. Ute Mayer / Rudolf Steffens Die spätmittelalterlichen Urbare des Heiliggeist-Spitals in Mainz Edition und historisch-wirtschaftsgeschichtliche Erläuterungen 1992. XXXVIII, 608 S., 1 Graph., 3 Abb., 24 Tab., 9 Ktn., 6 Taf., geb. ISBN 978-3-515-05890-2 37. (erscheint nicht) 38. Sigrid Schmitt Territorialstaat und Gemeinde im kurpfälzischen Oberamt Alzey Vom 14. bis zum Anfang des 17. Jahrhunderts 1992. XII, 372 S., 3 Graph., 4 Tab., 12 Skizzen, 1 Kte., geb. ISBN 978-3-515-06069-1 39. Susanne Schlösser (Bearb.) Wahl und Krönungsakten des Mainzer Reichskanzlerarchivs 1486–1711 1993. X, 318 S., geb. ISBN 978-3-515-06068-4 40. Alois Gerlich (Hg.) Weinbau, Weinhandel und Weinkultur
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Sechstes Alzeyer Kolloquium 1993. VIII, 293 S., 11 Abb., 8 Ktn. in Kartentasche, geb. ISBN 978-3-515-06260-2 Hedwig Brüchert-Schunk Städtische Sozialpolitik vom Wilhelminischen Reich bis zur Weltwirtschaftskrise Eine sozial- und kommunalhistorische Untersuchung am Beispiel der Stadt Mainz 1890–1930 1994. XIII, 413 S., 19 Graph., 12 Abb., 38 Tab., geb. ISBN 978-3-515-06282-4 Winfried Dotzauer / Wolfgang Kleiber / Michael Matheus / Karl-Heinz Spieß (Hg.) Landesgeschichte und Reichsgeschichte Festschrift für Alois Gerlich zum 70. Geburtstag 1995. X, 452 S., 8 Graph., 9 Abb., 3 Tab., geb. ISBN 978-3-515-06540-5 Reinhard Lahr Die Mittelrheingemeinden Heimbach, Weis und Gladbach zwischen Grundherrschaft und Industrialisierung (1680–1880) Ländliche Gesellschafts- und Wirtschaftsstruktur im Umbruch 1995. XVII, 535 S., 55 Abb., 193 Tab., 24 Ktn., geb. ISBN 978-3-515-06842-0 Sigrid Schmitt Ländliche Rechtsquellen aus den kurmainzischen Ämtern Olm und Algesheim 1996. XIX, 671 S., geb. ISBN 978-3-515-06786-7 Peter Claus Hartmann (Hg.) Der Mainzer Kurfürst als Reichserzkanzler Funktionen, Aktivitäten, Ansprüche und Bedeutung des zweiten Mannes im Alten Reich 1997. VII, 229 S., geb. ISBN 978-3-515-06919-9 Kurt Düwel / Michael Matheus (Hg.) Kriegsende und Neubeginn Westdeutschland und Luxemburg zwischen 1944 und 1947 Alzeyer Kolloquium vom 27.–29. April 1995 1997. X, 258 S., geb. ISBN 978-3-515-06974-8
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Peter Claus Hartmann (Hg.) Kurmainz, das Reichserzkanzleramt und das Reich Am Ende des Mittelalters und im 16. und 17. Jahrhundert 1998. VII, 266 S., geb. ISBN 978-3-515-07246-5 Hermann Sommer Zur Kur nach Ems Ein Beitrag zur Geschichte der Badereise von 1830 bis 1914 1999. XIII, 786 S., geb. ISBN 978-3-515-07341-7 Peter Heil Von der ländlichen Festungsstadt zur bügerlichen Kleinstadt Stadtumbau zwischen Deutschland und Frankreich. Landau, Haguenau, Selestat und Belfort zwischen 1871 und 1930 1999. XII, 213 S., geb. ISBN 978-3-515-07427-8 Michael Matheus / Walter G. Rödel (Hg.) Landesgeschichte und Historische Demographie 2000. VII, 194 S., 8 Abb., 27 Fig., 21 Tab., 3 Ktn., geb. ISBN 978-3-515-07428-5 Michael Matheus (Hg.) Weinproduktion und Weinkonsum im Mittelalter 2005. VII, 199 S., 1 Graph., 18 Abb., 10 Ktn., geb. ISBN 978-3-515-06973-1 Hilmar Tilgner Lesegesellschaften an Mosel und Mittelrhein im Zeitalter des aufgeklärten Absolutismus Ein Beitrag zur Sozialgeschichte der Aufklärung im Kurfürstentum Trier 2000. XIII, 546 S., 21 Tab., geb. ISBN 978-3-515-06945-8 Elmar Rettinger Die Umgebung der Stadt Mainz und ihre Bevölkerung vom 17. bis 19. Jahrhundert Ein historisch-demographischer Beitrag zur Sozialgeschichte ländlicher Regionen 2002. LXI, 507 S., 74 Graph., 2 Abb., 157 Tab., 6 Ktn., geb. ISBN 978-3-515-07115-4 Peter Jeschke (Bearb.) Ländliche Rechtsquellen aus dem kurmainzischen Rheingau 2003. XLII, 604 S., geb. ISBN 978-3-515-08135-1
55. Michael Matheus / Walter G. Rödel (Hg.) Bausteine zur Mainzer Stadtgeschichte Mainzer Kolloquium 2000 2002. VII, 238 S., geb. ISBN 978-3-515-08176-4 56. Michael Matheus (Hg.) Funktions- und Strukturwandel spätmittelalterlicher Hospitäler im europäischen Vergleich Alzeyer Kolloquium 2005. XII, 260 S., 24 Abb., 2 Tab., geb. ISBN 978-3-515-08233-4 57. Hedwig Brüchert / Michael Matheus (Hg.) Zwangsarbeit in Rheinland-Pfalz während des Zweiten Weltkriegs Mainzer Kolloquium 2002 2005. VIII, 159 S., geb. ISBN 978-3-515-08279-2 58. Stefan Grathoff Mainzer Erzbischofsburgen 2005. XIII, 590 S., geb. ISBN 978-3-515-08240-2 59. Brigitte Flug / Michael Matheus / Andreas Rehberg (Hg.) Kurie und Region Festschrift für Brigide Schwartz zum 65. Geburtstag 2005. 455 S., geb. ISBN 978-3-515-08467-3 60. Franz J. Felten / Pierre Monnet / Alain Saint-Denis (Hg.) Robert Folz (1910–1996) Mittler zwischen Frankreich und Deutschland. Actes du colloque „Idée d’Empire et royauté au Moyen Age: un regard francoallemand sur l’oeuvre de Robert Folz“, Dijon 2001 2007. XIII, 152 S., geb. ISBN 978-3-515-08935-7 61. Brigitte Flug Äußere Bindung und innere Ordnung Das Altmünsterkloster in Mainz in seiner Geschichte und Verfassung von den Anfängen bis zum Ende des 14. Jahrhunderts 2006. X, 362 S., CD-ROM mit Urkundenbuch, geb. ISBN 978-3-515-08241-9 62. Sigrid Schmitt / Sabine Klapp (Hg.) Städtische Gesellschaft und Kirche im Spätmittelalter Kolloquium Dhaun 2004 2008. IX, 261 S., 28 Abb., geb. ISBN 978-3-515-08573-1
63. Manfred Daunke Die nassauisch-preußische Weinbaudomäne im Rheingau 1806–1918 2006. XIV, 280 S., 11 Tab., geb. ISBN 978-3-515-08934-0 64. Meike Hensel-Grobe Das St.-Nikolaus-Hospital in Kues Studien zur Stiftung des Cusanus und seiner Familie (15.–17. Jahrhundert) 2007. VIII, 357 S., 4 Ktn., geb. ISBN 978-3-515-08242-6 65. Gisela Schreiner Mädchenbildung in Kurmainz im 18. Jahrhundert Unter besonderer Berücksichtigung der Residenzstadt 2007. XIV, 267 S., geb. ISBN 978-3-515-09070-4 66. Rita Heuser Namen der Mainzer Straßen und Örtlichkeiten Sammlung, Deutung, sprachund motivgeschichtliche Auswertung 2008. XVI, 677 S., 2 Ktn., CD-ROM, geb. ISBN 978-3-515-08574-8 67. Thomas Frank / Michael Matheus / Sabine Reichert (Hg.) Wege zum Heil Pilger und heilige Orte an Mosel und Rhein 2009. 320 S., 71 Abb., 13 Tab., geb. ISBN 978-3-515-09165-7 68. Franz J. Felten / Harald Müller / Heidrun Ochs (Hg.) Landschaft(en) Begriffe – Formen – Implikationen 2012. VI, 405 S., 53 Abb., 3 Tab., geb. ISBN 978-3-515-08760-5 69. Joachim Schneider (Hg.) Kommunikationsnetze des Ritteradels im Reich um 1500 2012. VI, 232 S., 6 Abb., geb. ISBN 978-3-515-10279-7 70. Markus Würz Kampfzeit unter französischen Bajonetten Die NSDAP in Rheinhessen in der Weimarer Republik 2012. VI, 270 S., 2 Abb. und 6 Tab., geb. ISBN 978-3-515-10288-9 71. Heidrun Ochs Gutenberg und sine frunde Studien zu patrizischen Familien im spätmittelalterlichen Mainz 2014. 566 S., 16 Abb., geb. ISBN 978-3-515-10934-5
ISBN 978-3-515-11600-8