Rezeption und Reflexion 3518291017, 9783518291016

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Rezeption und Reflexion
 3518291017, 9783518291016

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Rezeption und Reflexion Zur Resonanz der Systemtheorie Niklas Luhmanns außerhalb der Soziologie Herausgegeben von Henk de Berg und Johannes F. K. Schmidt

Niklas Luhmann hat eine soziologische Theorie entwickelt, die alle wichtigen Funktionsbereiche der Gesellschaft behandelt und damit in ein Konkurrenzverhältnis zu solchen Beschreibungen tritt, die in wissenschaftlichen Disziplinen angefertigt werden, welche sich auf die Beobachtung je eines gesellschaftlichen Funktionssystems spezialisiert haben. Diese Fachdisziplinen sind durch spezifische Loyalitäten zu ihren eigenen Traditionen sowie zu dem Operieren ihres jeweiligen Funktionsbereichs gekennzeichnet, so dass eine einfache Übernahme der soziologischen Fremdbeschreibung unwahrscheinlich ist. Auf der Grundlage dieser von der Luhmann'schen Gesellschaftstheorie selbst nahe gelegten Annahme wird mit dem vorliegenden Band der soziologischen Systemtheorie außerhalb der Soziologie diskutiert.

Suhrkamp

Inhalt Vorwort ........................ • •·· • • •·· • ·· ··· · ··· ·· ··· ··· ·

7

Johannes F. K. Schmidt: Die Differenz der Beobachtung .................... •. •••••••• •

8

Einführende Bemerkungen zur Luhmann-Rezeption

Andre Kieserling: Die Soziologie der Selbstbeschreibung .............. •••.·•·••••

38

Über die Reflexionstheorien der Funktionssysteme und ihre Rezeption der soziologischen Theorie

Univ. i Bibliott ;_n • Bie!efe: 1

Klaus A. Ziegert: Rechtstheorie, Reflexionstheorien des Rechtssystems und die Eigenwertproduktion des Rechts ................... .

93

Andreas Göbel: Politikwissenschaft und Gesellschaftstheorie ............ . 134 Zu Rezeption und versäumter Rezeption der Luhmann'schen Systemtheorie

Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einheitsaufnahme Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei Der Deutschen Bibliothek erhältlich. suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1 501 Erste Auflage 2000 © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2000 Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Druck: Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden Printed in Germany Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus und Rolf Staudt I 2 3 4 5 6 -

05 04 03 02 or oo

Henk de Berg: Kunst kommt von Kunst ................................. . 175 Die Luhmann-Rezeption in der Literatur- und Kunstwissenschaft

Hans-Ulrich Dallmann: Von Wortübernahmen, produktiven Missverständnissen und Reflexionsgewinnen ........................ , . , . • . , , •

222

Niklas Luhmanns Systemtheorie in der theologischen Diskussion

Jürgen Kaube: Wechselwirkungslosigkeit ................................. • Anmerkungen zum Verhältnis von Systemtheorie und Wirtschaftswissenschaft

Giancarlo Corsi: Zwischen Irritation und Indifferenz ...................... • Systemtheoretische Anregungen für die Pädagogik

2 54

Jean Clam: Unbegegnete Theorie ......................... . ............ .

Vorwort

Zur Luhmann-Rezeption in der Philosophie

Niels Werber: Medien der Evolution ................. . ................... .

322

Zu Luhmanns Medientheorie und ihrer Rezeption in der Medienwissenschaft

Fritz B. Simon: Namedropping .............................. . ............ . Zur erstaunlich großen, bemerkenswert geringen Rezeption Luhmanns in der Familienforschung

Jost Bauch: Selbst- und Fremdbeschreibung des Gesundheitswesens ................................ . ..... . ........... . Anmerkungen zu einem absonderlichen Sozialsystem

Kai-Uwe Heilmann: » ... und ein größeres Stück Landschaft mit den erloschenen Vulkanen des Marxismus.« ................ .

411

Oder: Warum rezipiert die Bewegungsforschung Luhmann nicht?

Albert Scherr: Luhman1;1s System~heorie als soziologisches Angebot an Reflex10nstheonen der Sozialen Arbeit ................. . 44° Klaus Dammann: Luhmannianische und Luhmannesque Gedanken in der Verwaltungsreflexion ................. . ...... . . . ........ . Zu den Autoren

································ ····· ····· ··· 5II

Die Herausgabe eines Sammelbandes, der den Anspruch erhebt, seine Einheit durch eine Orientierung aller Beiträge an einer gemeinsamen Fragestellung zu gewinnen, ist in der Regel kein leichtes Unterfangen. Eine zusätzliche Erschwernis stellt dann der Versuch dar, die Gemeinsamkeit der Beiträge durch eine zweigleisige Orientierung herzustellen, wie es der vorliegende Band mit der Unterscheidung von Rezeption und Reflexion vorschlägt. Die Idee, Berichte über die Rezeption der Theorie Niklas Luhmanns außerhalb der Soziologie mit Denkfiguren zu strukturieren, die dieser Theorie selbst entstammen, hat sich unseres Erachtens aber als fruchtbar erwiesen. Unseren Autoren sei für ihr großes Engagement bei der Erstellung der Texte gedankt, das durch die teilweise wohl zumutungsreichen Erläuterungsbedürfnisse der Herausgeber notwendig war, und für ihre Geduld angesichts der relativ langen Entstehungszeit des Buches. Henk de Berg dankt dem Artsand H umanities Research Board für die Finanzierung eines Forschungssemesters, in dem die Arbeit an dem vorliegenden Band möglich wurde. Friedhelm Herborth sind wir für sein Interesse und die frühe Unterstützung dieses Buchprojekts sowie fü r seine Empfehlung, den Band auch nach seinem Ausscheiden aus dem Suhrkamp-Verlag in das stw-Programm aufzunehmen, verpflichtet. Dr. Bernd Stiegler danken wir für die Entscheidung, den Band nunmehr zu publizieren. H enk de Berg/ Johannes F. K. Schmidt Sheffield / Bielefeld, im Juni

2000

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Johannes F. K. Schmidt Die Differenz der Beobachtung Einführende Bemerkungen zur Luhmann-Rezeption

Die Systemtheorie Niklas Luhmanns ist von ihrem Anspruch her eine Universaltheorie: Sie will als soziologische Theorie alles Soziale behandeln können. Folge dieses Anspruchs ist ein überaus umfangreiches und komplexes Gesamtwerk, das sich in über 70 selbständigen Schriften und nahezu 500 Aufsätzen niedergeschlagen hat.1 Mit Blick auf die Gesellschaft als den für die Soziologie als eigenständige wissenschaftliche Disziplin konstituierenden Gegenstand gibt es bei Luhmann dann auch keine thematische Beschränkung, denn alles Handeln, ob nun wirtschaftliches, wissenschaftliches, künstlerisches, rechtliches, politisches oder religiöses ist soziales Handeln und vollzieht damit Gesellschaft. Im Laufe der über dreißigjährigen Erarbeitung der Gesellschaftstheorie Luhmanns kam es deshalb zwangsläufig und bereits mit den ersten Texten zu einem ständigen und vielfältigen Kontakt zu Fachdisziplinen außerhalb der Soziologie. Einerseits war Luhmanns Theoriearbeit selbst durch eine extrem breite Rezeption wissenschaftlicher Forschungen jenseits der Soziologie gekennzeichnet.2 Andererseits war die systemtheoretische Beschreibung der Gesellschaft zunächst wesentlich eine Beschreibung der Funktionssysteme der Gesellschaft: Während die Soziologie auf die einschlägige Monographie - die Veröffentlichung der Gesellschaftstheorie Die Gesellschaft der Gesellschaft - bis zum Jahre 1997 warten musste, konnten die sich für einschlägig erachtenden Disziplinen schon früher auf die entsprechenden großen Monographien 1 Vgl. für eine neuere Übersicht das Schriftenverzeichnis Niklas Luhmanns im Heft 1/r998 der Zeitschrift Soziale Systeme. 2 Ohne Zweifel war die Breite dieser Rezeption wiederum äußerst selektiv und bezieht sich häufig auf Außenseiterpositionen im jeweiligen Fachgebiet, wie die Experten entsprechender Forschungsgebiete immer wieder kritisch feststellen (vgl. exemplarisch Damerow 1998, S.431 ff.; Flasch 1998, S. 472ff.). In manchen Fällen muss allerdings auch ein fast vollständiger Verzicht auf die Rezeption des Erkenntnisstands anderer wissenschaftlicher Disziplinen konstatiert werden (vgl. den Beitrag von Jürgen Kaube).

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zu dem jeweiligen Funktionssystem zugreifen; die Publikationen zu Wirtschaft ( 1988), Wissenschaft (1990 a), Recht (1993) und Kunst (1995) bauten dabei - mit Ausnahme des Buches über das Wirtschaftssystem - auf vielfältige Vorarbeiten auf, die auch in Diskussion mit den entsprechenden Fachwissenschaften entstanden waren. Die nunmehr aus dem Nachlass veröffentlichten Monographien zur Religion (2000 a) und zur Politik (2000 b) waren Mitte der neunziger Jahre ebenfalls bereits weitgehend fertiggestellt; zumindest für die Religion konnte die Luhmann'sche Theorie dabei auf eine - allerdings bereits weiter zurückliegende - ausführliche Diskussion mit Theologen zurückblicken (vgl. dazu den Beitrag von Hans-Ulrich Dallmann), während der Kontakt zur Politikwissenschaft immer eher durch wechselseitige Zurückhaltung, wenn nicht durch Zurückweisung geprägt war (vgl. den Beitrag von Andreas Göbel). Mit den genannten Beschreibungen der Funktionssysteme der Gesellschaft tritt die soziologische Systemtheorie zumindest auf den ersten Blick in ein spezifisches Konkurrenzverhältnis zu den etablierten (wissenschaftlichen) Beschreibungen der gesellschaftlichen Funktionssysteme; damit gibt es nicht nur eine Mehrzahl von Beschreibungen desselben Gegenstands, vielmehr stehen diese Beschreibungen durch die Anlage der Theorie Luhmanns als Gesellschaftstheorie auch in einem besonderen Verhältnis zueinander. Der vorliegende Band versucht vor diesem Hintergrund, die Kontakte zwischen der Luhmann'schen Soziologie und den entsprechenden Fachwissenschaften zu dokumentieren; die Begriffe »Rezeption« und »Reflexion«, die das Buch im Titel führt, markieren die beiden wesentlichen Interessen, die mit der Dokumentation verfolgt werden.

I.

Rezeption und Reflexion

Zunächst geht es in diesem Band um die Frage, welche Formen der Rezeption der Luhmann'schen Systemtheorie in den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen beobachtbar sind, die sich als wissenschaftliche Disziplinen schwerpunktmäßig mit dem Operieren einzelner Funktionsbereiche der G_~sellschaft befassen. Die folgenden Beiträge können also als Uber9

blicksbeiträge gelesen werden, die einem umfassenden, wenn auch nicht vollständigen Überblick über die zentralen Diskussionen innerhalb der verschiedenen Disziplinen geben, soweit sie im Zusammenhang mit der Rezeption der Theorie Luhmanns stehen. Nicht geleistet wird dabei in den einzelnen Beiträgen eine >spezialisierte< Einführung in die Theorie Luhmanns aus einem fachwissenschaftlich jeweils unterschiedlich akzentuierten Blickwinkel. Zwar wenden sich die am Markt befindlichen Luhmann-Einführungen (vgl. nur Fuchs 1993; Gripp-Hagelstange 1995; Horster 1997; Kiss 1990; Krause 1996; Kneer/Nassehi 1993; Reese-Schäfer 1992) primär an Studierende der Soziologie, so dass man versucht sein könnte, diese bereits nicht geringe Zahl von Publikationen3 durch die serienmäßige Erstellung von Beiträgen mit dem Titel »Einführung in Luhmann für ... wissenschaftler« exponentiell zu steigern. Der vorliegende Band beansprucht aber nicht, ein solches Programm durchzuführen, sondern setzt eine gewisse Grundkenntnis der Luhmann'schen Theorie voraus; nicht nur, weil ansonsten dem am gesamten Band interessierten Leser eine dreizehnfache Einführung in die Luhmann'sche Theorie zugemutet werden würde, sondern auch, weil eine solche dann jeweils unvermeidbar knappe Einführung der Theorie selbst kaum gerecht werden könnte. Bei der Übersicht über die in den jeweiligen Fachdisziplinen vorliegenden Diskussionen der soziologischen Beschreibungen werden vielmehr in der Regel nur knapp die Umrisse der Luhmann'schen Beschreibung des jeweiligen Funktionsbereichs skizziert, bevor eine Übersicht über die jeweilige Rezeptionsgeschichte gegeben und einige exemplarische Positionen und Hauptwerke in der Auseinandersetzung mit der Systemtheorie behandelt werden. Dabei interessiert insbesondere die Frage, ob die Adaptation der Systemtheorie auf bestimmte Problemstellungen der jeweiligen . wissenschaftlichen Disziplin reagiert und welche ,Lösungen< die Rezeption der soziologischen Systemtheorie induziert hat. Auch wird die Frage gestellt, warum es zu bestimmten Formen der Rezeption gekommen ist oder warum eine solche Rezeption 3 Der publizistische Erfolg solcher Einführungsbände wie auch die Etablierung ganzer Einführungsreihen verschiedener Verlage sollte Thema einer eigenen Studie über offensichtlich neue Formen der Rezeption in den Sozial- und Geisteswissenschaften sein.

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gerade nicht zu beobachten ist. Schließlich bietet der Rezeptionsüberblick in vielen Fällen den Autoren Anlass, Luhmanns Beschreibung des entsprechenden Funktionssystems in frage zu stellen bzw. einen eigenen Ansatz zu präsentieren, der die - aus Sicht der Fachdisziplin - Defizite des Luhmann'schen Konzepts vermeidet und trotzdem die Möglichkeiten der Systemtheorie zu nutzen versucht. Das spezifisch soziologische Interesse des vorliegenden Bandes und damit des Lesers, der sich nicht nur für einen einzigen Rezeptionsbereich interessiert, liegt dann in der Vergleichsperspektive, in der __ Beobachtung, ob die unterschiedlichen Rezeptionsstränge Ahnlichkeiten oder fundamentale Unterschiede erkennen lassen, und der Frage, worauf Unterschiede und Ähnlichkeiten zurückgeführt werden können. Von Interesse bei der Darstellung der Spezifika der Rezeption Luhmanns außerhalb der Soziologie ist die Frage nach den grundsätzlichen Bedingungen, unter denen eine soziologische Reflexion über Gesellschaft Resonanz findet in den gesellschaftlichen Bereichen (und hier speziell: in den wissenschaftlichen Disziplinen, die sich in ihren Beschreibungen zuvörderst auf diese Bereiche spezialisiert haben), über die reflektiert wird. Mit dieser Fragestellung ist ein komplizierter Zusammenhang angesprochen, der wiederum mit systemtheoretischen Denkmitteln aufgehellt werden kann (vgl. dazu und zum Folgenden ausführlich den Beitrag von Andre Kieserling), da die Luhmann'sche Theorie selbst in diesem Zusammenhang einen Begriffsapparat bereithält, auf den hier zurückgegriffen werden kann: die Unterscheidung von Fremd- und Selbstbeschreibung einerseits und den Begriff der Reflexionstheorie andererseits (vgl. bereits Luhmann 1975a; siehe auch Luhmann 1997, S. 879ff., II28ff.).4 4 Etwas weitergehend könnte man sogar behaupten, dass mit den Konzepten der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft, der Unterscheidung von Fremd- und Selbstbeschreibung, dem Begriff der Reflexionstheorie und der Annahme der operationalen Geschlossenheit unterschiedlicher Sozialsysteme die Luhmann'sche Theorie im Kern eine Theorie ihrer eigenen Rezeption bietet, wie der Untertitel des vorliegenden Bandes andeutet: Rezeption kann als »Resonanz« (vgl. dazu Luhmann 1986, S. 40 ff.) verstanden, also als ein System/Umwelt-Verhältnis konzipiert werden. Die Besonderheiten der Luhmann-Rezeption sollen im Folgenden durch die Spezifizierung der dabei implizierten System/Umwelt-Verhältnisse zumindest angedeutet werden. II

Reflexion bezeichnet die Beobachtung eines Systems durch sich selbst. Sie ist zunächst nicht daran gebunden, die Form einer Theorie zu entwickeln. Erst mit der Umstellung der gesellschaftlichen Differenzierung auf funktionale Differenzierung ist die Selbstbeschreibung der sich autonomisierenden gesellschaftlichen Teilsysteme durch eine Umstellung auf Theorie gekennzeichnet, da die gesellschaftlichen Teilsysteme ihre Reflexion individualisieren müssen, d. h. nicht mehr durch eine Einordnung in ein übergeordnetes Ganzes oder durch die Orientierung an anderen, aber vergleichbaren Fällen strukturieren können. Sollen dennoch Vergleiche durchgeführt werden, so kann dies nur durch Differenzsetzung, das heißt durch die Markierung des Unterschieds des gesellschaftlichen Teilbereichs zu anderen gesellschaftlichen Teilbereichen, also durch die Begründung der Autonomie des Teilbereichs geschehen. Dazu bedarf es begrifflicher Anstrengungen und Distanzierungen vom basalen Operieren - so dass die Umstellung der Reflexionsbemühungen auf Theorie verweist -, ohne dass der Kontakt zum jeweiligen Funktionsbereich völlig verloren geht. Deshalb sehen sich Reflexionstheorien als Beschreibungen des Systems im System zugleich - wenn auch von Funktionssystem zu Funktionssystem in unterschiedlichem Ausmaß - der Erwartung ausgesetzt, einen Beitrag zur Fortsetzung der je spezifischen Autopoiesis des gesellschaftlichen Teilbereichs zu leisten, unter anderem indem sie die Identität des Systems und damit dessen Autonomie formulieren bzw. problematisieren (klassische Fälle sind hier die Rechtstheorie und die politische Theorie). Einerseits sind Reflexionstheorien insofern durch spezifische Loyalitäten zu ,ihrem< Funktionsbereich gekennzeichnet, die eine einfache Übernahme der soziologischen Fremdbeschreibung, die sich nicht nach den ,Imperativen< der jeweiligen Funktionsbereiche richten muss und so höhere Freiheitsgrade des Beschreibens und Vergleichens hat, zunächst unwahrscheinlich machen. Andererseits führt der Rückgriff der Reflexionsbemühungen der einzelnen Teilsysteme auf Wissenschaft dazu, dass es zu einer Lösung von der strikten Orientierung am ,eigenen< Funktionssystems kommt zugunsten der Frage der Anschlussfähigkeit an wissenschaftliche Kommunikation - allerdings nicht zwingend: an Soziologie. Das Autonomieproblem des Funktionssystems, das die Reflexionstheorie 12

eigentlich lösen sollte, wird dann _nicht auton~_m _gelöst; d_er Rekurs auf Wissenschaft führt zu emem merkwurd1gen Oszillieren zwischen interner und externer Beobachtung des gesellschaftlichen Teilsystems. Es stellt sich dann die Frage, ob solche Beschreibungen des Systems noch Kontakt halten mit dem System oder ob es durch die Verwissenschaftlichung der Reflexion zu einer Annäherung der Standpunkte von ausschließlich teilsystembezogener wissenschaftlicher Beschreibung und der soziologischen Beschreibung kommt. 5 Mit Blick auf die Frage nach den spezifischen Rezeptionsbedingungen der soziologischen Gesellschaftstheorie Luhman~s gilt es also eine dreifache Differenz ins Auge zu fassen: (a) die von Soziologie und Reflexionstheorie, (b) die von (systemtheoretischer) Soziologie und wissenschaftlicher Disziplin, (c) die von wissenschaftlicher Disziplin und Reflexionstheorie. (a) Soziologie und Reflexionstheorie Die Unterscheidung von Soziologie und Reflexionstheorie ist relativ einfach nachzuvollziehen: Während Reflexionstheorien als Selbstbeschreibungen im System anschlussfähig sein müssen, nimmt die Soziologie und hier insbesondere die soziologische Systemtheorie eine dezidiert externe Position bei der Beschreibung des jeweiligen Funktionsbereichs ein; 6 zum einen, weil sie 5 Man kann natürlich auch umgekehrt (und mit einem eher normativen, also nichtsoziologischen Wissenschaftsverständnis) fragen, inwieweit solche durch reflexionstheoretische Aufgaben angereicherten Wissenschaften Wissenschaft sein können, da sie mit Aufgaben konfrontiert sind, die durch die Erkenntnistheorie als die Reflexionstheorie der Wissenschaft (siehe dazu den Beitrag von Andre Kieserling) nicht legitimiert sind. 6 Etwas anderes gilt für die Soziologie als Selbstbeschreibung der Gesellschaft. In dieser Position kann sich die Soziologie nicht außerhalb des zu beschreibenden Systems positionieren - wie es z. B. soziale Bewegungen tun (mit Folgen für die Rezeption der Luhmann'schen Theorie in der Bewegungsforschung; vgl. dazu und zu dem besonderen Verhältnis der Bewegungsforschung zu ihrem Gegenstand einerseits und der Wissenschaft andererseits den Beitrag von Kai-Uwe Heilmann) -, sondern sie muss sich selbst mit beschreiben. Darauf reagiert Luhmanns Titelgebung Die Gesellschaft der G1;sellschaft. Gleichzeitig bleibt die Soziologie aber Wissenschaft, das heißt, sie nimmt in der Gesellschaft eine Grenze in Anspruch, die erst eine Beobachtung der Gesellschaft ermöglicht. Sie ist - paradox formuliert - eine wissenschaftliche Selbstbeschreibung der Gesellschaft. Sie beobachtet zwar innerhalb der Gesellschaft, aber nicht von der Gesellschaft aus .

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Wissenschaft ist, und zum anderen, weil sie die unterschiedlichen Formen der Selbstbeschreibung auf ihre Ähnlichkeiten hin untersuchen will. Luhmanns Funktionssystembeschreibungen sind deshalb nicht darauf hin angelegt, eine ,nützliche, 1:heorie zu bieten in dem Sinne, dass ihre Beschreibungen eine smnvolle Anwendung innerhalb der von ihr beschriebenen gesellschaftlichen Teilbereiche erfahren sollten.7 So liest man in der Einleitung zur Kunst der Gesellschaft (1995, S. ,9): »Es geht also, was Kunst betrifft, nicht um eine hilfreiche Theorie. [... ] Es geht also nicht darum, eine Theorie anzubieten, die, wenn sie nur richtig verstanden und angewandt würde, dem Kunstsystem Erfolge garantieren [... ]könnte«. Im Gegenteil: Die soziologische Theorie kann die Spezifika des soziologischen Beobachtens nur dann ausspielen, wenn sie dezidiert keine Rücksicht auf die Frage ihrer Verwendbarkeit im beschriebenen System nimmt. (6) Soziologie und wissenschaftliche Disziplin Dass die Soziologie Wissenschaft ist, teilt sie mit den wissenschaftlichen Disziplinen, die im vorliegenden Band zur Sprache kommen. Freilich stehen diese in einem anderen Verhältnis zu d~m_gesellscha[tlichen F~nktio1:sbereich, den sie schwerpunktmaßig beschreiben, als die Soz10logie. Aus der Sicht (und der Geschichte) der Soziologie gilt, dass sie ihre Beschreibung der sozialen Realität »immer schon von anderen Beschreibungen 7 Dies ist ein wesentlicher Unterschied zum Konzept der ,Reflexivität der Modeme_engagierter< und ,distanzierter< oder besser ,interner< und >externer Selbstbeschreibung< zu unterscheiden, wobei die Paradoxie der Formulierung ,externe Selbstbeschreibung< wie auch der scheinbare Pleonasmus der Formulierung ,interne Selbstbeschreibung< auf die logischen Schwierigkeiten, die mit dieser Unterscheidung verbunden sind, hinweisen. Die Fachwissenschaften werden sich in der Regel dagegen wehren, wenn sie (von der Soziologie) als eine spezifische Form der Selbstbeschreibung von gesellschaftlichen Teilsystemen bezeichnet werden. Damit haben sie einerseits Recht: Sie sind Wissenschaften und damit primär an der Anschlussfähigkeit ihrer Kommunikation in der Wissenschaft orientiert - das wird ihnen vom ,eigenen,9 System, von der eigenen Reflex~~:mstheorie häufig in der Formulierung der Praxisferne ihrer Uberlegungen vorgeworfen. Andererseits haben sie damit auch Unrecht, denn die Referenz auf die Wissenschaft kann auch verstanden werden als eine spezifische Form der Externalisierung bzw. Objektivierung: Die Verwissenschaftlichung der Selbstreflexion des Systems dient der Generierung einer Grenze im System, über die hinweg erst das System so beobachtet werden kann, als ob es von außen beobachtet 8 Und zwar in der Praxis wie in der theoretischen Beschreibung Luhmanns; vgl. nur folgendes Zitat: » Von den Reflexionstheorien, mit denen die Funktionssysteme der modernen Gesellschaft sich beschreiben, wird zumeist ,Wissenschaftlichkeit, verlangt, was immer das dann im Einzelfall für das Rechtssystem, das politische System, für das Erziehungssystem oder für das Wirtschaftssystem besagen mag.« (Luhmann 1997, S. 890) 9 Die Formulierung verdeckt genau den Sachverhalt der unklaren Systemzuordnung wissenschaftlicher Disziplinen. Streng systemtheoretisch gedacht kann man diese Frage natürlich auch offen und die Empirie entscheiden lassen: Entscheidend ist die Frage, welche Kommunikationen an die wissenschaftliche'KÖmmunikation änschließen. Damit ist eine ,Mehrsystemzugehörigkeit< gerade nicht ausgesclrrossen. Diese theoretisch elegante Lösung ist allerdings letztlich unbefriedigend, wenn man nach dem Verhältnis, also der Differenz von wissenschaftlicher Disziplin und Reflexionstheorie fragt.

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werden würde.10 Eine theoretische Übergeneralisierung dieses Arguments sollte allerdings vermieden und der Sachverhalt, dass es dabei um eine Selbstzuschreibung der Reflexionstheorien geht, 11 nicht aus dem Auge verloren werden. Der Blick auf die Gesellschaft zeigt zusätzlich, dass sich der Grad der Wissenschaftsorientierung und damit der internen Externalisierung der Reflexion'stheorien von Funktionssystem zu Funktionssystem unterscheidet.12 Man wird also in der Regel mit Blick auf die jeweiligen Funktionssysteme eine Mehrzahl von Beschreibungen benennen können und dabei einige wenige identifizieren, die in der je funktionssystemspezifischen Kommunikation selbst anschlussfähig sind - diese werden hier >engagierte< oder ,interne Selbstbeschreibungen< genannt -, und solche, die sich in ihrer Beobachtung zwar auf einen Funktionsbereich konzentrieren, durch die Referenz auf Wissenschaft aber primär eine Anschlussfähigkeit ihrer Beschreibung in der Wissenschaft im Blick haben, ohne freilich ihre privilegierte Bindung an das beschriebene Funktionssystem völlig aufzugeben, deshalb: ,distanzierte< oder ,externe Selbstbeschreibungwissenschaft< (vgl. den Beitrag von Klaus A. Ziegert). Aufgrund der Differenz (und Distanz) von praxisorientierter Reflexionstheorie und wissenschaftsbasierter Selbstbeschreibung, die durch die Annahme der Wissenschaftsform zugleich eine (spezifische) Fremdbeschreibung des gesellschaftlichen Teilsystems darstellt, ist eine solche Rezeption aber nicht ausgeschlossen. Insofern solche wissenschaftlichen Theorien bestenfalls noch zur ,Selbstsinngebung von Reflexionseliten< (Luhmann) der jeweiligen gesellschaftlichen Teilbereiche beitragen und mit dem basalen Operieren des Systems nur noch indirekt befasst sind, scheint eine Adaptation der Luhmann'schen Theorie problemloser möglich, insbesondere dann, wenn es daneben zu einer Ausdifferenzierung einer engagierten Reflexionstheorie kommt, der die Kanonpflege des Funktionsbereichs überlassen werden kann (vgl. dazu den Beitrag von Giancarlo Corsi). Hier kann man also eine Art Nullsummenspiel erwarten: Die Resonanz der Systemtheorie setzt eine Freisetzung von Handlungszwängen, wie sie für klassische Reflexionstheorien (Theologie, Pädagogik) kennzeichnend sind, voraus, wodurch aber zugleich eine Rückwirkung der soziologischen Fremdbeschreibung durch den ,Filter< einer wissenschaftlichen Disziplin, die zumindest institutionell noch eindeutig einem Funktionsbereich der Gesellschaft zugeordnet werden kann bzw. sich durch ihre Gegenstandsorientierung diesem Funktionsbereich exklusiv zuordnet, auf die Reflexionstheorie und damit auf das basale Operieren dieses gesellschaftlichen Teilsystems eher unwahrscheinlich wird. Allerdings greift die Annahme, dass die Rezeption der soziologischen Fremdbeschreibung um so wahrscheinlicher ist, je handlungsentlasteter die aufnehmende Beschreibung eines gesellschaftlichen Teilsystems ist, zu kurz, wie die 18

Beispiele der Sozialpädagogik und der Familientherapie zeigen. Eine erfolgreiche Systemtheorie-Rezeption hat außerdem zur Bedingung, dass die Attitüde, von außen zu beobachten, von den wissenschaftsbasierten Selbstbeschreibungen übernommen wird, so dass sie den Status von Selbstbeschreibungen verlieren und damit (ebenso wie die >fremde, Soziologie) die nötige Distanz zu den handlungsorientierten, dem jeweiligen Funktionssystem verpflichteten Reflexionstheorien gewinnen. Geht die Rezeption also letztlich auf Kosten der Reflexion? Oder vollziehen die jeweiligen Funktionssysteme hier ,im Kleinenerfolgreicher Rezeption,16 sprechen will: In nicht wenigen Fällen ist eine Schulbildung in der Disziplin zu beobachten, deren Offenheit gegenüber einer fachfremden Theorie mit einer Schließung hin zum eigenen Fach korrespondiert, wenn nicht damit ,bestraft< wird. Das Zitationsnetzwerk ist dann durch eine spezifische Form der Selbstisolierung im Fach gekennzeichnet; die Rezeption der Soziologie geht auf Kosten der Anschlussfähigkeit im eigenen Fach.17 Dies scheint besonders in jenen Fällen ein typisches Verlaufsmuster zu sein, in denen die jeweilige Disziplin durch ein Theoriedefizit (z. B. die Politikwissenschaft) oder durch eine extreme Heterogenität der Paradigmen (z. B. die Rechtswissenschaft) gekennzeichnet ist.18 J~hre anderer~eits) deutlich: Während die erste Rezeptionswelle eher durch erne ,Theolog1S1erung, Luhmanns gekennzeichnet war, läuft die zweite Rezept10nswelle nun Gefahr, eine Soziologisierung der Theologie voranzutreiben (vgl. den Beitrag von Hans-Ulrich Dallmann). 14 Das ist kein spezifisches Problem systemtheoretisch orientierter Dissertationen, sondern gilt allgemein für Qualifikationsarbeiten: Wer liest schon dickleibige Promotionsarbeiten, die ihr Hauptaugenmerk auf den Nachweis legen (müssen), dass die mehr oder weniger einschlägige Literatur zum Thema gelesen worden ist? I 5 Hintergrund dieser Überlegung ist natürlich die Annahme der soziologischen Systemtheorie, dass sich die Wissenschaft über Publikationen die sich auf Publikationen beziehen, reproduziert (vgl. Stichweh 1987). ' r 6 Bewusst wird hier von >erfolgreicher,, nicht von >richtiger< Rezeption gesprochen. r 7 Strukturelle Ähnlichkeiten zur Situation der Systemtheorie in der Soziologie sind vielleicht nicht zufällig. . 1 8 _In beiden genannten Disziplinen fällt zudem ein Stellvertreterprinzip 1m Zmerverhalten auf, das aber an dem grundsätzlichen Muster nichts ändert: e_s wird hie_r_wer.,iger Luhmann, sondern in der Regel häufiger Helmut Willke (rn der_ Poht1kw1ssenschaft) und Gunther Teubner (in der Rechtswissenschaft) für die systemtheoretische Position zitiert. Trotz der institutionellen 20

Damit ist zwar der Boden für einen Theorieimport aus der Soziologie gelegt, aber gleichzeitig sind die Erfolgsaussichten der Rezeption auch von vornherein begrenzt. Im erstgenannten Fall überfordert der Theorieanspruch, den die Systemtheorie vertritt, das eigentlich eher theorieaverse Fach, im zweitgenannten Fall kann die ,Systemtheorie-Schule, im Fach ohne weiteres ignoriert werden, da genug alternative Theorieprogramme bereitstehen. Geht man über diese grundlagentheoretischen Betrachtungen hinaus, so scheinen eine Reihe weiterer, konkreterer Bedingungen identifizierbar, die die Wahrscheinlichkeit einer Rezeption der soziologischen Systemtheorie in außersoziologischen Disziplinen beeinflussen, ohne dass die in diesem Band versammelten Übersichten es schon erlauben würden, allgemeingültige Regeln zu formulieren. Dafür ist nicht nur die Fallzahl zu gering, sondern auch das empirische Bild, das die Beiträge vermitteln, zu heterogen. An erster Stelle zu nennen ist die fast vollständig fehlende Resonanz jenseits des deutschen Sprachraums. Dies stellt allerdings keine Besonderheit der Rezeption Luhmanns außerhalb der Soziologie dar, sondern gilt gleichermaßen für andere soziologische Theorien 19 wie auch für die innersoziologische Wahrnehmung Luhmanns, wie die gerade erst anlaufende (und mittlerweile auf einem gewissen Korpus von Übersetzungen basierende) Wahrnehmung in den USA und die fast vollständige Ignoranz in Frankreich zeigen. Des Weiteren fällt auf, dass in vielen Fällen von einer wirklich ernsthaften Rezeption der Luhmann'schen Theorie nicht gesprochen werden kann, sondern dass die Theorie eher als eine Art ,Steinbruch, genutzt wird, aus dem ohne theoretische KonVerankerung in der Rechtswissenschaft fällt es aber schwer, Teubner selbst noch eindeutig in der Rechtswissenschaft zu verorten (vgl. den Beitrag von Klaus A. Ziegen). Die Position eines fachinternen ,Übersetzers, der Systemtheorie, der dann als mehr oder weniger prominenter Sprecher im Fach selbst auftritt, bedürfte weiterer Erforschung. 19 So_ ist zum Beispiel die relative Prominenz der gesellschaftsdiagnostischen Uberlegungen Ulrich Becks im angelsächsischen Sprachraum auf die Publikations- und damit auch Übersetzungspartnerschaft mit Anthony Giddens zurückzuführen. Jürgen Habermas ist - auf der Grundlage der Bekanntheit der Autoren der ersten Generation der >Frankfurter Schule, - durch die rasche Übersetzung seiner Publikationen in den USA breit rezipiert worden. 21

trolle kleinere oder größere Brocken entnommen werden. Dieses auch innerhalb der Soziologie von manchen präferierte Verfahren des Umgangs mit der Theorie Luhmanns ist ein problematisches Unterfangen, denn die soziologische Systemund Gesellschaftstheorie ist wie keine andere soziologische Großtheorie für ein solches Vorgehen ungeeignet, da sie den Anspruch erhebt, aus einem Netzwerk von aufeinander verweisenden Theorien - Differenzierungstheorie, Evolutionstheorie und Kommunikationstheorie (vgl. bereits Luhmann 1975 b; siehe auch die Kapitelabfolge in Luhman_n 1997) - und sich wechselseitig bestimmenden Begriffen zu bestehen, die nicht isoliert voneinander zu verstehen sind:2° »Der Sinnbegriff zum Beispiel kann nicht angemessen erfaßt werden, wenn man den Begriff der Komplexität nicht berücksichtigt, mit dem die Begriffe Selektion und Kontingenz verbunden sind, die ihrerseits den Sinnbegriff voraussetzen; aber Sinn kann nicht unabhängig von dem Begriff des Systems definiert werden, womit der Verweis auf eine Umwelt impliziert ist, von der das System durch ein Komplexitätsgefälle unterschieden ist, und so weiter. « (Baraldi/Corsi/Esposito 1997, S. 7) 21 Damit ist nicht nur die Einführung neuer Begriffe oder der Austausch bestehender B~griffe innerhalb der Theorie nicht beliebig möglich,22 sondern 20 Statt hier detaillierter auf das komplizierte wechselseitige Bedingungsverhältnis von Kommunikations- und Medien-, Differenzierungs- und Evolutionstheorie einzugehen, mag die Kontrastierung der Metapher des ,Steinbruchs, mit der des >Baus,, mit der Jens Soentgen (1992) Luhmanns Theoriearchitektur mit viel Plausibilität beschreibt, genügen. 21 Der Glossar zu Luhmanns Theorie, aus dem dieses Zitat stammt, belegt im Ubrigen eindrucksvoll die Probleme solch zirkulärer Begriffsbildung, die für den außerhalb der Theorie Stehenden insbesondere in der Schwierigkeit des Einstiegs in die Theorie, also in der Unterbrechung der Zirkularität der Begriffskonstruktion liegen. Dass diese Zirkularität nicht mit Beliebigkeit und Strukturlosigkeit gleichgesetzt werden kann (und deshalb auch die in letzter Zeit häufiger vertretene Hoffnung, Luhmanns Theorie durch die Möglichkeiten der vernetzenden Technik wie Internet und CD-Rom gerecht zu werden, fehlgeht), zeigen die in dem Glossar vorgeschlagenen verschiedenen »Lesewege« durch die Begriffsvielfalt der Luhmann'schen Theorie (Baraldi/ Corsi/Esposito 1997, S. 12 ff.): Nicht von jedem Punkt der Theorie aus gelangt man zu jedem anderen. 22 Welche theoretischen Schwierigkeiten entstehen, zeigt zum Beispiel die sehr späte Ergänzung des Begriffs der Autopoiesis durch den der strukturellen Kopplung innerhalb der Luhmann'schen Theorie, dessen mittlerweile inflationäre Verwendung - vgl. nur Luhmann 1997, S. 776 ff., inbes. mit der lapi-

22

auch eine nur selektive Rezeption der Theorie, wie sie für die außersoziologische Bezugnahme eigentlich unvermeidbar ist denn die rezipierende Disziplin will und kann ja nicht Soziologie sein - , per se problematisch. Allerdings muss hier auch vermerkt werden, dass eine ähnliche Problematik die Luhrnann'sche Theorie letztlich selbst trifft, deren Generierungsrnechanismus wesentlich darauf beruht, ihre zentralen Begriffe aus den unterschiedlichsten Theoriekontexten zu entnehmen und dann höchst selektiv, unter bewusster Entfremdung von ihrem Herkunftskontext zu verwenden (vgl. den Beitrag von Jean Clam). Die Frage, ob die Begriffe dabei noch >richtig< verwendet werden, kann dann nicht mehr sinnvoll gestellt werden; entscheidend ist vielmehr, ob sich das so hergestellte Begriffsnetzwerk bewährt. Vor diesem Hintergrund überrascht dann zunächst die Beobachtung, dass in einigen Rezeptionsbereichen (zum Beispiel der Kunst- und Literaturwissenschaft oder der Familientherapie, in Teilen aber auch der Medienwissenschaft) nicht die gegenstandsspezifischen Überlegungen Luhmanns - also seine soziologischen Beschreibungen der jeweiligen Funktionsbereiche in der Rezeption dominieren, sondern seine grundlagentheoretischen Aussagen zum Verhältnis von psychischem und sozialem System, zum Kommunikationsbegriff, zur gesellschaftlichen Evolution.23 Andererseits verweist dieser Tatbestand darauf, dass es offenbar gerade die soziologische Distanzierung von der der jeweiligen Fachwissenschaft vertrauten Sichtweise auf den ,eigenen< Gegenstand ist, die eine Übernahme dieser Beschreibung so stark erschwert, dass eher an Konzepte der allgemeinen Theorie angeschlossen wird, obwohl damit eigentlich die Komplexitätslast der Rezeption erhöht wird. 24 daren Bemerkung: »Dieser in Kapitel 1, VI. [am Beispiel des Verhältnisses von sozialen und psychischen Systemen] erläuterte Begriff ist nicht nur auf die gesellschaftsexternen, sondern ebenso auf die gesellschaftsinternen Verhältnisse anwendbar« (S. 779) - eben auch auf fehlende begriffliche Abstimmung zurückzuführen ist. 2 3 Als Folge dieser Rezeptionsstrategie muss dann bilanziert werden, dass das eigentliche Spezifikum der Luhmann'schen Theorie, die Gesellschaftlichkeit des in Rede stehenden Phänomens herausgearbeitet _zu haben, in der Rezeption nurmehr unzureichend genutzt wird (vgl. den Beitrag von Henk de Berg). 24 Im Falle der Literaturwissenschaft liegt der Grund für die Affinität zu 23

Ein besonderer Mechanismus, der diese Komplexitätslast dann wieder schnell reduziert, findet sich in der Familientherapie, die zwar auch auf basale Theorieentscheidungen Luhmanns wie zum Beispiel die Annahme der Differenz von Bewusstsein und Kommunikation abstellt (vgl. Fritz B. Simon in diesem Band), es aber bei der Nennung dieses Konzepts, das Strukturähnlichkeit mit den Erklärungsmodellen der Familientherapie aufweist, eigentlich auch bewenden lässt. Sucht man nach herausragenden Irritationsverhältnissen der Luhmann'schen Theorie mit außersoziologischen Disziplinen, so müssen Erziehung, Theologie und Wirtschaftswissenschaften genannt werden. Im Falle der Erziehung gab es einen gezielten und zunächst nicht zufällig über einen Ko-Autor aus der Fachdisziplin (Karl Eberhard Schorr) sichergestellten Kontakt zwischen Soziologie und Pädagogik/Erziehungswissenschaft, der sogar - in den Grenzen, die der Buchdruck zulässt - dialogischen Charakter angenommen hat (vgl. den Beitrag von Giancarlo Corsi). Die Voraussetzungen einer Rezeption waren hier insofern günstig, als die Pädagogik im Zuge ihrer Institutionalisierung an der Universität und aufgrund der selbstempfundenen Widersprüche des Operierens des Erziehungssystems schon länger eine Orientierung an der Soziologie entwickelt hatte. Der Ertrag dieser Diskussion bleibt allerdings fraglich - nicht etwa, weil die systemtheoretische Irritation aufgrund der damit verbundenen Verwissenschaftlichung der Pädagogik die Differenz von Theorie und Praxis der Erziehung verstärkt hat, sondern weil die von der soziologischen Fremdbeschreibung gewählte Strategie der ständigen Provokation von Selbstverständlichkeiten der Pädagogik diese vielfach überforderte und zuvörderst zur Verteidigung der eigenen Selbstverständlichkeiten animierte. Produktiver scheint deshalb die Rezeption in der Theologie, bei der das Interesse an der Luhmann'schen Theorie auch selbstgeneriert war. Hier findet auch schon fast exemplarisch vorgeführt, wie die Differenz von Selbst- und Fremdbeschreibung, von Reflexionstheorie und Soziologie ausgeformt sein kann: von einer eher praxisorientierten und deshalb den grundlagentheoretischen Überlegungen Luhmanns zumindest zum Teil natürlich darin begründet, dass der Kommunikationsbegriff für die rezipierende Disziplin zentral ist.

vereinfachten (und theologisierten) Nutzung Luhmann'scher Konzepte zu theologischen Zwecken, die tendenziell zu einer Konvergenz von Theologie und soziologischer Systemtheorie in der Theologie führt, 25 hin zu einer Auseinandersetzung, die die Differenz von Theologie und Soziologie betont und die soziologische Analyseerkenntnisse entsprechend nutzt bzw. ihre fehlgehende Analyse kritisiert, bis zu einer Rezeption, die sich als interdisziplinär, als >reine Wissenschaft< - man ist versucht zu sagen: als >normal science< - versteht und so die Differenz der Beschreibungen weitgehend ignoriert und die Theologie tendenziell soziologisiert (vgl. den Beitrag von Hans-Ulrich Dallmann). 26 Im Falle der Wirtschaftswissenschaft kann dagegen nur von » Wechselwirkungslosigkeit« gesprochen werden, wobei nicht nur die Resonanzlosigkeit auf Seiten der Wirtschaftswissenschaft vermerkt werden muss, sondern auch das offensichtlich fehlende Interesse Luhmanns an einer ernsthaften Rezeption der einschlägigen wirtschaftswissenschaftlichen Diskussionsstränge (vgl. den Beitrag von Jürgen Kaube). Letzteres verweist auf den oben bereits erwähnten Sachverhalt, dass der Irritationsgehalt in einem Irritationsverhältnis zweier operational geschlossener Systeme zwar immer durch das aufnehmende System bestimmt wird, es aber gerade dann darauf ankommt, dass die Selbstirritation auf der Grundlage des Anschlusses an bewährte Strukturen erfolgen kann. Deshalb ist es vielleicht auch weniger überraschend, dass die wissenschaftsgeschichtliche Nähe von Soziologie und entsprechender Spezialdisziplin gerade keine V< raussetzung für ein produktives Irritationsverhältnis arstellt, eher im Gegenteil, wie insbesondere die Beispiele der letztlich wenig gehaltvollen 25 Der Eindruck der Theologie, hier entstehe unter Umständen ein ,Konkurrenzproduktoffeneren< Forschungsmethoden zu testen. Solche Methoden sind mit erheblich verbesserten qualitativen Ansätzen, wie z. B. der grounded theory, im Verbund mit weit entwickelten speziellen Textanalyseprogrammen für Computer in anderen soziologischen Fachdisziplinen 37 Luhmann hat diese Kritik an der Vorstellung selbstorganisierender Systeme nie so recht nachvollziehen können und den Vorwurf der Empirielosigkeit der Systemtheorie vehement zurückgewiesen (Luhmann 1993, S. u7). Der Begriff der Autopoiesis ist selbstverständlich keine » Variable« für unmittelbare empirische Erklärung, sondern ein Begriff, der zum Umbau von soziologischer Theorie zwingt, und »erst Theorien können in ihrem Realitätsbezug beurteilt werden« (Luhmann 1993, S. 45, Fn. 15).

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weit verbreitet. Sie dürften dann die Argumente der Theorie komplexer selbstorganisierender Systeme erhärten und damit zum Recht der Gesellschaft vorstoßen, anstatt die Vorurteile, Folklore und Mythen individueller Rechtsordnungen weiter zu verstärken.

Rechtsvergleichung Auf dieses Vorgehen ist die Rechtsvergleichung spezialisiert, die ihren reflexiven Ansatz zumindest in der historischen Ausgangslage einer Kontextaufhellung für Rechtsentscheider, zu der die reine juristische Logik nicht fähig ist, mit der Rechtssoziologie teilt. Auch hier geht es, und möglicherweise viel zu wenig beachtet, um Empirie (Ziegert 1981). Wie etwa gleichzeitig auch die moderne strukturelle Sprachwissenschaft um 1900, versucht die Rechtsvergleichung über den Königsweg des empirischen Vergleichs das Recht an der Formenvielfalt der Rechtsordnungen zu spiegeln, und hier weniger theoretisch als vielmehr empirisch, das heißt anhand tatsächlich existierender Alternativen, auf seine Strukturen und Organisationsformen hin auszuloten. Der Gewinn an robusten Argumenten ist - zumindest potentiell - beträchtlich und hat den zusätzlichen Vorteil, dass sich Juristen nicht mit ohnehin beargwöhnten theoretischen Projektionen abgeben müssen. Allerdings ist dieser an sich bestechende Gedanke einer >theoriefreien Empirie, in der juristischen Praxis der Rechtsvergleichung schwer durchzuführen; der allgegenwärtige >pull of the policy audience, führt rasch dazu, nicht so sehr wissenschaftliche Erklärungen im Auge zu haben, als vielmehr Expertisen für ausländisches Recht zu entwickeln. In diesem ~in~e sin? dann auch die rechtsvergleichenden Forschungsmstitute, m Deutschland zunächst als Kaiser-Wilhelm-Institute im Dienste des imperialen Wettlaufs, bei der wirtschaftlichen und militärischen Aufrüstung institutionalisiert worden. Die spätere Rechtsvergleichung, vor allem nach dem 2. Weltkrieg nun heißen die Institute auch Max-Planck-Institute - versucht, aus dieser wissenschaftlichen Sackgasse die Lehre zu ziehen. Sie betont stärker die Rechtsvergleichung als rechtswissenschaftliche Methode und öffnet den Ansatz durch eine 119

strukturelle Betrachtung unterschiedlicher Rechtsordnungen, die durchaus systemtheoretisch ist, aber natürlich nicht so genannt wird. In ihr werden die strukturelle Anlage der verschiedenen Rechtsordnungen als Stil typisiert und Äquivalenzen nicht lediglich von den Rechtsbegriffen, sondern von den Funktionen der verschiedenen Rechtsinstitute her verglichen (Zweigert/ Kötz 1977). Trotz des typologischen und weiterhin an Rechtsbegriffen orientierten Charakters der wissenschaftlichen Praxis der Rechtsvergleichung ist offensichtlich, dass hier der Ansatz einer Reflexionstheorie gegeben ist, der eine weitaus genauere Beobachtung des Rechtssystems ermöglicht, als der Rechtswissenschaft und Rechtstheorie im Allgemeinen erlaubt ist. Dies ist umso mehr der Fall, als sich die tatsächliche Rechtspraxis als eine komplexe internationale Rechtspraxis zwischen verschiedenen Rechtsordnungen entwickelt (Möllers 1999) und damit Rechtsvergleichung tatsächlich zur Reflexionstheorie des Rechtssystems (der Weltgesellschaft) wird, die von den Rechtswissenschaften in den einzelnen Rechtsordnungen, aus den erwähnten Gründen, nicht zu leisten ist. In diesem Zusammenhang und unter den gegebenen Bedingungen ist dann auch ersichtlich, dass die Wissenschaftlichkeit der Rechtsvergleichung (im Sinne einer Erfassung komplexer Realität) erheblich gesteigert werden kann, wenn sie sich die Argumente der Theorie komplexer Systeme zunutze macht. Dies bietet sich in der komplexen Beobachtungslage der Rechtsvergleichung fast als zwingend an, ist vom methodischen Ansatz her auch keineswegs ausgeschlossen (siehe oben und Zweigert/Kötz 1977) und verspricht in der Tat einen erheblichen Wissensgewinn bei der Beurteilung von Folgen des Rechts und der Rechtsentwicklung nicht nur für einzelne Rechtsinstitute oder ihre Rechtsordnungen, sondern auch und vor allem für die Gesellschaft (Ziegert 1995 a; 1995 b; 1999 a). Kommunikationstheorie Mit der enormen Ausweitung der Informations- und Kommunikationstechnologie ist auch das Bewusstsein für die Bedeutung von Kommunikation gestiegen und hat damit - soweit das 120

Recht und seine theoretische Reflexion betroffen sind - ältere Begriffe und Konzeptionen, wie Lehren der Rhetorik oder die oben angesprochenen Argumentationstheorien, unterlaufen. Dies trifft besonders auf das moderne Recht in seinem gesamten Systemumfang zu, das mit seinen verzweigten Kommunikationswegen (wieder schiebt sich Gesetzgebungsaktivität in den Vordergrund der Beobachtung) einen gewaltigen Netzplan von Regulierungskreisen und -kreisläufen entwirft und so zur informationstechnologischen Analyse einlädt. Einen solchen Ansatz verfolgt in Deutschland vor allem Karl-Heinz Ladeur. 38 Er erreicht dadurch eine Steigerung dessen, was an Erfassung der Komplexität des Rechtssystem reflexionstheoretisch erreicht werden kann. Es kann aber, nach allem was hier gesagt wurde, bezweifelt werden, dass es sich beim Recht, wie bei der Informationstechnologie, lediglich um die Regulierung von Netzwerken, also wesentlich >Maschinen,, handelt, besonders wenn theoretisch alle Mittel der Informationskommunikation zugelassen sind. Ganz wesentlich, und als für die Binnenstruktur des Rechts bestimmend, wurde oben die Stabilisierung der Reflexivität normativen Erwartens der Gesellschaft festgestellt, die sich in einem speziellen Entscheidungsfindungssystem differenziert. Modemes Recht lässt sich also weder kommunikativ aushandeln - wie ein politisch orientierter kommunikationstheoretischer Ansatz nahe legt, den wir unten weiterverfolgen - noch lässt sich seine Funktion adäquat als Regulierung von Netzwerken ohne Bezug zu der normativen Eigenwertproduktion des Rechts beschreiben (Luhmann 1993, S. 139). Rechtspolitologie: Soziale Kontrolle und Steuerung der Gesellschaft durch Recht Eine Idee, die besonders die soziologische Jurisprudenz in den USA um 1920 inspiriert hat, war die Vorstellung eines mit Recht ermöglichten social engineering, das - zumindest im englischen Wortsinn - eine technologisch avanciertere Version des bekannten Konzepts der social control ist. Diese Vorstellung hat unter der Bezeichnung der »Steuerung durch Recht«

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Karriere gemacht und wird heute in Deutschland, zusammen mit anderen Vorstellungen der politischen Anwendung von Recht, in den Reflexionstheorien der Rechtspolitologie gebündelt (Voigt 1983; 1986). Tatsächlich hat diese Idee aber vor allem in Schweden Erfolg gehabt, wo der bereits erwähnte Rechtsrealist Gunnar Myrdal in seinen Überlegungen zur politischen Ökonomie die Grundlinien des >schwedischen ModellsVerbesserung< des Rechts oder der Gesellschaft durch Recht. Wie gezeigt ist das nicht der lamentierte »restaurativ-ideologische« Schwenk der Betrachtung »in die positivistische Richtung«, sondern die Konsequenz aus der genaueren Theorie, die auf dem Boden der Beobachtung der Selbstorganisation komplexer sozialer Systeme steht. Diese Konsequenz verbietet Prognosen oder modische Regieanweisungen. Wie aber ebenfalls gezeigt, kann die Systemtheorie Anstöße zur genaueren Beobachtung an die Rechtstheorie und die Reflexionstheorien des Rechtssystems vermitteln. Die Entwicklung anspruchsvollerer Untersuchungsanordnungen und komplexer methodischer Analyseapparate zur Erhärtung der Argumente der Systemtheorie, besonders in der Rechtssoziologie und der Rechtspolitik, ist erst am Anfang. Es ist dann für die weitere Entwicklung zu erwarten, dass sich - mit einem besseren Verständnis für die Ziele der Systemtheorie und ihren praktischen Nutzen in der empirischen Erforschung einer komplexen sozialen Welt - die Rezeption zumindest ihrer Argumente, wenn auch nicht ihres wissenschaftlichen Anliegens, langfristig auf einem höheren und dann auch internationalen Niveau konsolidieren wird. Damit wird sich auch das eklektische Einsickern systemtheoretischer Argumentationshilfen in die Rechtswissenschaft verstärken - aber natürlich immer unter den Bedingungen eines dann weiter ausdifferenzierten (globalen) Rechtssystems. Diese Entwicklung einer weiteren Ausdifferenzierung setzt umgekehrt das Rechtssystem dem verstärkten Druck der Orientierungslosigkeit der Rechtsentscheider aus und damit der erhöhten Nachfrage nach wissenschaftlichem Erklärungswissen. Nicht nur der früher noch vertretbare Standpunkt der Rechtswissenschaft als Sozialwissenschaft hat sich verflüchtigt, auch die Vorstellung, »Handlungswissenschaft« zu sein, ist fragwürdig geworden (Neumann 1989, S. 388). Selbst die für die juristische Logik so zentrale Behauptung, dass es sich bei Rechtswissenschaft darum handele, richtige Entscheidungen zu finden (Büllesbach 1989, S. 3 54), stellt sich zunehmend als Missverständnis heraus (Neumann 1989, S. 391). In dieser Lage der 125

sozusagen selbst gegrabenen Grube wird die ~echts"_'issenschaft nicht an den Argumenten der Systemtheone vorbeigehen können. Damit bleibt auch zum Schluss festzuhalten, dass die oben angesprochenen »anderen Mittel« der Jurisprude_nz Ni~las Luhmanns die der soziologischen Aufklärung smd. Diese Jurisprudenz teilt mit der Rechtswissenschaft, dass auch sie in einer »Theorie der Argumentation« mündet (Neumann 1989, S. 391). Aber es handelt sich hier eben nicht um juristische, sondern um soziologische Argumente. Mit den Worten des vielleicht größten Propagandisten der soziologischen Aufklärung, Theodor Geiger - der seine Erfahrungen mit i~r unter sicher oft sehr widrigen Umständen gemacht hat - leistet soziologische Aufklärung ihren Beitrag dadurch, dass sie die Menschen »aus der Knechtschaft der Ismen und Systeme befreit - und leben läßt« (zit. in Schäfers 1987, o. S.). Die soziologische Aufklärung durch Systemtheorie kann es dabei getrost den Juristen selber überlassen, wie sie sich mit ihrer rechtlichen Argumentation einrichten. Auf jeden Fall ist dies gewiss keine »positivistische« oder »unmittelbar sozialtechnologisch gerichtete Analyse[ ... in Bereichen], wo mit den Demokratisierungstendenzen noch nicht aufgeräumt worden ist« (Büllesbach 1989, S. 3 54). Es ist vielmehr die Befreiung aus der Knechtschaft der Ideologien und Systeme durch die genauere, nämlich systemtheoretische Beobachtung oder ganz einfach das furchtlose und stachelige »Ick bün all hier!« der robusteren Argumente. Literatur Atiyah, Peter (1987), Pragmatism and Theory in English Law, London: Stevens & Communication. Beck, Anthony (1994), »Is Law an Autopoietic System?«, in: Oxford Journal of Legal Studies 14, 3, S. 401-418 . Blankenburg, Erhard (1994), »Diskurs oder Autopoiesis: Lassen sich Rechtstheorien operationalisieren?«, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 15, 2, S. rr5-125 . Büllesbach, Alfred (1989), »Systemtheoretische Ansätze«, in: Arthur Kaufmann/Winfried Hassemer (Hg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, Heidelberg: C. F. Müller, S. 33 2-356.

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10

Vgl. als vorläufigen Versuch Göbel

2000.

1 39

nen können« (Haken, zitiert nach Beyerle 1994, S. 116). Wer Luhmann derart liest und ihn damit in die große Metapherntransfermaschine zwischen Natur- und Sozialwissenschaften stellt, die sich in den achtziger Jahren um Begriffe wie Selbstorganisation, Chaos und Entropie gruppiert hat, verfehlt von Anfang an den spezifisch soziol?gisch-gesellsc~aftsth_eoretischen Zuschnitt aller sich neu etablierenden Theonebegnffe.11 Die falsche Einordnung Luhmanns in einen eigentlich nur in seinen weltanschaulich-politischen Qualitäten beobachteten Selbstorganisationsdiskurs ist das. eine, die d~raus ~esultierende spezifische Form der Lektüre semer Theonebegnffe aber das nicht minder gravierende andere. Auffällig ist vor allem, dass die Luhmann'schen Grundbegriffe in ihrer eigentümlichen theoretischen Qualität nicht mehr ernstgenommen werden, 12 so~dern zugleich forsch und assoziativ auf ihr: :"'eltanschauungsb~ldenden Effekte bzw. ihre subkutanen politischen Aussagen hm gelesen werden. Das ergibt dann Hinweise auf Luhmanns Hegelianismus, auf die Demokratisierung der Schmitt'schen Freund/ Feind-Unterscheidung in Gestalt des politischen Codes (von Beyme 1991, S. 238), »das manichäische Weltbild des binären Schematismus« insgesamt (S. 239), die tendenziell als konservativ und als Kritik gelesene ,Theorie des Wohlfahrtsstaatsteutonischen< Charakters auch außerhalb des deutschen Sprachraums durchsetzen wird - besonders wenn man ihre Attraktivität für literatur- und kunstwissenschaftliche Fragestellungen bedenkt. Für diese Attraktivität - und damit zugleich für den Umfang, in dem die hier zu besprechende Luhmann-Rezeption stattfindet, wie auch für den Zeitpunkt, zu dem sie beginnt - gibt es of English Studies (5h, 2001) ist in Vorbereitung. Die Grenzen zwischen Literatur-, Kultur- und Sozialtheorie sind im angloamerikanischen Sprachraum bekanntlich weniger scharf gezogen als im deutschen. 5 »Das was ist zu begreifen, ist die Aufgabe der Philosophie«, heißt es bekanntlich in der Vorrede zur Hegelschen Rechtsphilosophie, und es ist gerade diese Abkehr von Utopismus und kontrafaktischer Normproklamierung, die einen illusionslosen Blick auf die Gesellschaft ermöglicht, welcher weder ihre positiven noch ihre negativen Seiten ausblendet.

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mehrere Gründe. Der erste Grund besteht darin, dass Luhmann Anfang der achtziger Jahre von Handlung auf Kommunikation als den eigentlichen Gegenstand systemtheoretischer Analyse umstellte. Diese kommunikationstheoretische Wende kam selbstverständlich gerade jener Disziplin entgegen, die sich vorrangig mit Problemen der Kommunikation und Bedeutungsvermittlung beschäftigt: der Literaturwissenschaft. Als anschlussfähig erwies sich zweitens die von Luhmann ebenfalls Anfang der achtziger Jahre vollzogene autopoietische Wende. Sie versprach eine Lösung für eines der ältesten und schwierigsten literaturwissenschaftlichen Probleme, nämlich für die Frage nach dem Verhältnis von Literatur und Gesellschaft bzw. Geschichte. Luhmanns Theorie der Autonomie sozialer Systeme nährte die Hoffnung auf ein Konzept, das die Eigenständigkeit des literarisch/künstlerischen Bereichs wahrt, ohne ihn seines historisch-gesellschaftlichen Charakters zu berauben. Zwar ging Luhmann bereits vor der autopoietischen Wende von einer relativen Autonomie sozialer Systeme aus. Doch der Gedanke einer ,relativen Autonomie< der Literatur war der Literaturwissenschaft schon bekannt und wurde nicht als neu und interessant wahrgenommen. Erst mit der sehr viel präziseren Fassung von Autonomie als Autopoiese bot sich der Literaturwissenschaft die Möglichkeit, die künstlerische Spezifizität der Literatur (als kommunikative Selbstreferenz) und ihren Gesellschaftsbezug (als kommunikative Fremdreferenz) in ein neues Theoriemodell zu integrieren. Dass sich die Umsetzung in die literaturwissenschaftliche Praxis dann doch als recht schwierig erwies, darauf wird noch zurückzukommen sein. Warum Luhmanns Überlegungen eine derartige Anziehungskraft besaßen, wird noch deutlicher, wenn man sich den theoriegeschichtlichen Hintergrund vor Augen führt, vor dem sie rezipiert wurden. Obwohl sozialgeschichtliche, rezeptionstheoretische, semiotische und andere inzwischen fast klassisch zu nennende Ansätze immer noch eine wichtige Rolle spielten, wurde die literaturwissenschaftliche Diskussion in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre eindeutig von Poststrukturalismus/Dekonstruktion und vom Radikalen Konstruktivismus beherrscht. Das französisch-amerikanische Konzept der Dekonstruktion, das in Deutschland erst mit großer Verspätung rezipiert wurde und hier immer mit dem Odium des Irratio-

nalen behaftet blieb, galt vielen als unverantwortliche Ermutigung zu einem unwissenschaftlichen Drauf-los-Interpretieren. Der von Vertretern der Empirischen Literaturwissenschaft ins Spiel gebrachte Radikale Konstruktivismus stieß aus entgegengesetzten Gründen auf Kritik: Für ihn stellten Interpretationen lediglich individuelle Leserkonstruktionen dar, die nicht empirisch überprüft werden und deshalb auch nicht Aufgabe der Literaturwissenschaft sein könnten. Zwischen diesen beiden Extremen von dekonstruktiver Deutungsanarchie und radikalkonstruktivistischem Deutungsverdikt bot die Systemtheorie einen Mittelweg (vgl. Prangel 1993). Die Dekonstruktion betrachtete alles als sprachlich vermittelt, Sprache als prinzipiell endlosen Prozess von Bedeutungsverschiebung und Interpretation als Teil dieses Prozesses: Nicht mehr die Durchführung einer konsistenten Interpretation war das Ziel, sondern das Aufzeigen des ,Spiels, der Sprachzeichen. Die Systemtheorie stand quer zu diesem Anarchismus, da sie »von Sprache auf Kommunikation umstellt und unter Kommunikation eine stets faktisch stattfindende, empirisch beobachtbare Operation versteht« (Luhmann 1990, S. 14). Sie unterschied sich aber zugleich von den radikal-konstruktivistischen und anderen empirisch-literaturwissenschaftlichen Ansätzen, deren Augenmerk entweder auf den Lektüreprozess (Lesen als Form der Informationsverarbeitung) oder auf die institutionellen Bedingungen des literarischen Lebens (Buchmarkt, Funktion der Literaturkritik, Rolle der Massenmedien etc.) gerichtet war. Denn entgegen solchen un- und antihermeneutischen Perspektiven stellte Luhmann - wie insbesondere die Bände Gesellschaftsstruktur und Semantik (1980; 1981; 1989; 1995) und das Buch Liebe als Passion (1982) bewiesen - ein auch interpretativ nutzbares Theorieangebot bereit. Als in den neunziger Jahren dann der New Historicism und die Interkulturelle Literaturwissenschaft an Einfluss gewannen, war das für systemtheoretisches Denken Bedrohung und Chance zugleich. Der vor allem auf den Arbeiten des amerikanischen Renaissance- und Shakespeare-Experten Stephen Greenblatt sowie auf der Kulturanthropologie Clifford Geertz' aufbauende New Historicism und viele Varianten Interkultureller Literaturwissenschaft betrachteten Kulturen als Texte (als selbstgesponnene Bedeutungsgewebe) und Texte als Praktiken, 1 79

die kulturspezifischen Regeln, einer ,Poetik der Kultur, unterworfen sind. Insofern boten diese Ansätze »ein geisteswissenschaftlich höchst bemerkenswertes Entdifferenzierungskonzept im Zeitalter immer noch zunehmender wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Ausdifferenzieru_ng« (Voßkamp 1999, S. 1_89). Für diejenigen, die der Annahme emer cultural poetics skeptisch gegenüberstanden, bot Luhmanns Theorie der A1:topoiese sozialer Systeme nicht nur die realistischere Konzeption, sondern auch die bessere Möglichkeit, die Spezifik der Literatur/ Kunst herauszuarbeiten. 6 Diesen primären Gründen für den literatur- und kunstwissenschaftlichen Aufstieg der Systemtheorie lassen sich weitere hinzufügen. So erscheint es plausibel, dass Lu_~manns in der ersten Hälfte der achtziger Jahre stattfindende Ubernahme der differenz- und beobachtungslogischen Gedankenfiguren Gregory Batesons, Gotthard Günthers und George Spencer Browns den Kurswert der Systemtheorie in der bevorzugt differenzund erkenntnistheoretisch argumentierenden ,Postmoderne, erhöhte.7 In den neunziger Jahren dürfte dann die Krise des Marxismus das Interesse an der Systemtheorie noch verstärkt haben. Dabei war die Systemtheorie wohl nicht zuletzt deshalb so interessant, weil sie sowohl als Marxismus-Kritik als auch als neue Supertheorie rezipiert werden konnte. Allerdings ist bei diesen allgemeinen Erklärungen (,Postmoderne,, >Krise des Marxismusvon Mensch zu Mei:isch< ließe sich nie auf die übrige Gesellschaft übertragen. Schillers Vorschlag einer ästhetischen Erziehung mache daher nur Sinn im Kontext einer stratifikatorischen Sozialordnung, nämlich als Vorschlag einer spezifischen Form symmetrischer Oberschichtinteraktion. In Schillers Abhandlung selbst treten die beiden von Disselbeck herausgearbeiteten Theorien nicht als solche hervor. Schiller argumentiert ja _.~1icht soziologisch, sondern transzendentalanthropologisch: Uberzeugt, dass - wie ihm die Auswüchse der Französischen Revolution bewiesen - nicht politi~che oder soziale Umwälzungsversuche, sondern nur eine neue innere Verfassung des Menschen die Erneuerung der Gesells~haft herbeiführen könne, fragt er nach den Bedingungen für die wahre, harmonische menschliche Natur. In diesem Rahmen entwickelt er die Idee der ästhetischen Erziehung: Nur die Kunst könne den Menschen zu einem harmonischen und moralischen Wesen und damit zur Sozialität erziehen, da sie das

einzige Medium ganzheitlicher Erfahrung bilde. Denn als ,Spiel, und ,schöner Schein, sei die Kunst aller Nützlichkeitsaspekte, aller außerästhetischen Zwecke enthoben, und da Mittel und Zweck solchermaßen in ihr zusammenfallen, ermögliche sie eine Synthese der - in anderen gesellschaftlichen Bereichen auseinanderstrebenden - rationalen und sinnlichen Komponenten des Menschen. Die Abhandlung scheint also nur eine Theorie zu enthalten, die freilich in vielerlei Hinsicht widersprüchlich und ambivalent ist. So präsentiert Schiller das Ergebnis der ästhetischen Erziehung - den ästhetischen Zustand - das eine Mal als Durc_hgangsstadium auf dem Weg zur Moralität, das andere Mal Jedoch als Endziel, als den einzigen Zustand, in dem man wirklich man selbst sein kann. Die Existenz solcher Widersprüche und Ambivalenzen lässt sich jedoch erklären, wenn man die transzendentalanthropologisch verschränkten Ideen zur ästhetischen Erziehung, zur Rolle des Geschmacks, zu Spiel und Schein etc. soziologisch-systemtheoretisch entzerrt, indem man sie auf unterschiedliche gesellschaftsstrukturelle Voraussetzungen bezieht. Das jedenfalls ist Disselbecks Anliegen und darin besteht das Neue seiner Untersuchung. Wie soll man Disselbecks Untersuchung bewerten? Die Antwort auf diese Frage hängt nicht unwesentlich davon ab, welche Anforderungen man an die systemtheoretische Literaturwissenschaft stellt. Deutlich ist, dass Disselbeck die bisherige Forschung nicht völlig revolutioniert. Denn dass Schillers Abhandlung moderne, auf die Romantik vorausweisende Elemente enthält, zugleich aber traditionelle Aufklärungsideen transpo~tiert, ist an sich nicht neu. Auch ist die Abhandlung schon seit ihrem Entstehen Gegenstand ästhetik-, literatur- und kunsttheoretischer Diskussionen. Erwartet man also »a reconsideration of the traditional canon«, das heißt »significant revisions in the types of texts we read or the reasons why we read them« (Holub 1994, S. 150), so wird man enttäuscht. Disselbecks Untersuchung bringt, darin hat Holub recht, kein ideologiekritisches »rethinking of the heritage« mit sich (S. 1 51 ). Dasselbe gilt für andere genetisch-soziologisch orientierte Studien, ja fü r die systemtheoretische Literaturwissenschaft allgemein. Im Gegensatz zu Holub erscheint mir dies aber nicht als Nachteil. Die systemtheoretische Literaturwissenschaft in all ihren Varia184

tionen ist ebenso wie die Systemtheorie selbst (vgl. Luhmann 1991 a) in erster Linie historisch interessiert. Sie spricht nicht für oder gegen bestimmte Gruppierungen, Textsorten, Texte etc., sondern ihr geht es um die wissenschaftliche Rekonstruktion historischer Entwicklungen.8 So besehen stellt Disselbecks zwar nicht revolutionäre, wohl aber stärker als die bisherige Schiller-Forschung sozialgeschichtlich, nämlich soziologisch-systemtheoretisch argumentierende Untersuchung durchaus neue und literaturwissenschaftlich brauchbare Erkenntnisse bereit. Indessen lässt sich nicht leugnen, dass die Nähe zu traditionellen sozialgeschichtlichen und historisch-kontextualistischen Ansätzen die Gefahr einer bloßen Umformulierung bestehender Forschungsergebnisse in das Luhmann'sche Vokabular mit sich bringt. Das gilt insbesondere für die hier unter der Kategorie der genetisch-soziologischen Hermeneutik zusammengefassten Studien. Ihr Problem besteht darin, dass sie zwar hermeneutisch, also interpretativ orientiert sind, aber nicht über ein methodisches Interpretationskonzept verfügen. Diese methodologische ,Offenheit< führt dann manchmal zu äußerst fruchtbaren Analysen und Deutungen (so z. B. bei Stanitzek 1989), manchmal aber auch lediglich zu luhmannisierenden Duplizierungen von Altbekanntem (so z. B. über weite Strecken bei Hoffmann 1997). Außerdem verführt das Fehlen eines Interpretationskonzepts die genetisch-soziologische Hermeneutik nur allzu leicht dazu, Texte einseitig als Widerspiegelungen gesellschaftlicher Entwicklungen zu deuten. Dieses Problem soll im Folgenden durch eine Analyse von Gerhard Plumpes Werther-Interpretation beleuchtet werden.

8 Dass damit kein Anspruch auf ontologische, sondern nur auf wissenschaftliche (vorläufige, prinzipiell revidierbare und theoriegeleitete) Wahrheit erhoben wird, hat Luhmann selber immer wieder betont (vgl. insbesondere Luhmann 1990) und wird auch in der systemtheoretischen Literaturwissenschaft allgemein akzeptiert.

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3.2 Systemtheorie als genetisch-soziologische Hermeneutik II: Gerhard Plumpes Interpretation von Goethes Die Leiden des jungen Werthers

Plumpes Aufsatz »Kein Mitleid mit Werther« (1997) besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil bietet ein ,close readingSozialsystem Literatur< zu konzipieren und dessen Genese zu untersuchen« (S. 9). Sehen wir uns diesen Versuch etwas genauer an. Dabei soll der historische Aspekt der Studie unberücksichtigt bleiben (er basiert ausschließlich auf bereits bekanntem historischem Datenmaterial)ZO und das Augenmerk statt dessen auf den theoretischen gerichtet werden: auf Schmidts empirisch-literaturwissenschaftlich orientierte Modifikation der Luhmann'schen Systemtheorie. Schmidt ersetzt Luhmanns Konzept der Autopoiesis durch jenes der Selbstorganisation; er fasst nicht Kommunikationen, sondern Handlungen als Systemkomponenten; und er nimmt die von Luhmann >exkommunizierten< Menschen wieder als Systemmitglieder in die sozialen Systeme hinein. Die Gründe für diese Abweichung von Luhmanns Theorie hängen zum einen mit Luhmanns - wie Schmidt meint - »mangelnde[r] Empirieorientierung« (S. 36) zusammen, zum anderen damit, dass in Luhmanns »Theorieentwurf (erstaunlich genug) ein klarer Organisationsbegriff [fehlt], der das Verhältnis der Komponenten eines Systems untereinander und zum System 20 Um einige Stichwörter zu nennen: Geburt des freien Schriftstellers; juristische Regelung des geistigen Eigentums; Veränderungen im Bereich des Buchhandels sowie der Verlage, Bibliotheken, Zeitschriften u. dgl.; Entwicklung vom intensiven zum ex;tensiven Lesen; Herausbildung der Literaturkritik; Entstehung autonomistischer Literaturtheorien. Aus genetisch-hermeneutischer Sicht (also sehr viel stärker an der Entwicklung literarischer Kom?lunikation orientiert) wird die Entstehung eines autonomen Kunstsystems im 18. Jahrhundert von Plumpe 1995 (insbesondere S. 65-104) und Werber 1992 nachgezeichnet. 1 97

expliziert« (S. 37). Beiden Mängeln meint Schmidt über den in der radikal-konstruktivistischen Kognitionstheorie entwickelten Subjektbegriff abhelfen zu können: über die Annahme, dass Menschen (Subjekte) wegen der operationalen Geschlossenheit ihrer Gehirne erfolgreich nur auf der Basis einer Parallelisierung ihrer kognitiven Zustände - konkret: auf der Basis geteilter Wirklichkeitskonstruktionen und Handlungsregeln - interagieren können. Was bedeutet das nach Schmidt für das Literatursystem? Ebenso wie Luhmann geht Schmidt davon aus, dass die Autonomie des Literatursystems von einem binären Code garantiert wird. Anders als Luhmann postuliert Schmidt jedoch nicht schön/hässlich, sondern literarisch/nicht-literarisch als literatursystemische Leitdifferenz, welche ihrerseits, so meint er, in der gemeinsamen Orientierung der Litera!ursystemmitglieder an zwei sog. Makro-Konventionen - der Asthetik-Konvention und der Polyvalenz-Konvention - gründet. Konkret heißt das: Wenn und insofern Subjekte ihr Handeln an diesen Konventionen ausrichten, handeln sie innerhalb des Literatursystems und sichern so dessen Bestand. Dabei beinhaltet die Ästhetik-Konvention die Forderung, seine Handlungen nicht am wahr/falsch-Kriterium zu orientieren; sie setzt die nach Schmidt in anderen gesellschaftlichen Bereichen dominante Frage, auf welchen Ausschnitt aus dem geltenden Wirklichkeitsmodell sich sprachliche Handlungen beziehen, außer Kraft. Die Polyvalenz-Konvention fordert die Anerkennung der Mehrdeutigkeit als literarisch eingeschätzter Texte ein und setzt damit das in anderen gesellschaftlichen Bereichen unter normalen Umständen geltende Eindeutigkeits- und Verständlichkeitskriterium außer Kraft. Jedes handelnde Subjekt, das den Makro-Konventionen folgt, erfüllt nach Schmidt eine Handlungsrolle im Literatursystem: als Produzent (Schriftsteller), Vermittler (zum Beispiel Verleger), Rezipient (Leser) oder Verarbeiter (Kritiker). Diese Luhmann-Adaptation und-Modifikation erscheint mir aus mindestens zwei Gründen höchst anfechtbar. Erstens ist nicht einzusehen, weshalb der Aktanten- bzw. Handlungsbezug empirischer sein soll als der Kommunikationsbezug; gewiss müssen Texte/Kommunikationen interpretiert werden, aber das müssen Handlungen auch. Zweitens bedeutet Schmidts Erset198

zung des Luhmann'schen Autopoiesis-Konzepts durch ein konventionsorientiertes Systemorganisationskonzept eine radikale theoriebautechnische Priorisierung zeitlich stabiler Ordnungsprinzipien über die im stetigen Wandel begriffene Elementebene; und aus einer solchen Perspektive kann Gesellschaft nur als statische Größe in den Blick geraten. Im Schmidt'schen Ansatz konstituiert sich Sozialität über den gemeinsamen Bezug von Aktanten auf einen identisch konstruierten Realitätsbereich, das heißt über die Aktivierung einer Reihe von Handlungsmodi, die diesem Realitätsbereich intersubjektiv als adäquat gelten. Dadurch reduziert sich das Literatursystem - und a fortiori die Gesellschaft - auf einen Zusammenhang konsensueller, aufeinander abgestimmter Handlungen.21 Eine solche Optik eliminiert die Offenheit, die Diskontinuität, den Dissenscharakter gesellschaftlicher Prozesse. Sie eliminiert sie nicht, indem sie sie leugnet; sie eliminiert sie, indem sie sie als a-sozial, als für Gesellschaft nicht-konstitutiv konzeptualisiert. Was Gesellschaft als Gesellschaft konstituiert, ist nicht mehr wie bei Luhmann das, was fortwährend in Bewegung ist, sondern - ganz traditionell - das, was identisch bleibt. Damit ist eine deutliche Divergenz zwischen Luhmanns Systemtheorie und ihrer empirisch-literaturwissenschaftlichen Adaptation markiert. 22 Diese Divergenz ist primär das Ergebnis eines unterschiedlichen Umgangs mit dem von Talcott Parsons in den Mittelpunkt des soziologischen Interesses gerückten Thema der doppelten Kontingenz: der Offenheit sozialer Situationen, die aus der wechselseitigen Intransparenz der Interaktionsteilnehmer resultiert. Für Schmidt ist doppelte Kontingenz ein Problem, das beseitigt werden muss, wenn erfolgreiche soziale Interaktion möglich sein soll; und die Lösung sieht er in der Ausbildung intersubjektiver Realitätsbereiche und auf sie bezogener handlungsregulierender Konventionen. Mit einer solchen Theoriekonzeption handelt man sich aber einen Kulturdeterminismus ein, der Sozialität nur als Aggregat . 21 In Christoph Reinfandts Formulierung: Der Code literarisch/nichthterarisch »is merely a repetition of the difference between a system and its environment and does not produce options of negation within the system« ( 1995, S. 62). . 22 Was es verständlich macht, dass andere empirisch orientierte Literaturwissenschaftler von Luhmann nichts wissen wollen; vgl. nur Rusch 1993.

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norm- und konventionsgeleiteter Handlungen, und Offenheit und Konflikt entweder gar nicht oder lediglich via negationis (als Epiphänomene eines normalerweise unproblematischen sozialen Gefüges) zu Gesicht bekommt. 23 Demgegenüber »sieht Luhmann den Schwerpunkt der Systemkonstitution nicht in einer ausgezeichneten Lösungsstrategie des Problems doppelter Kontingenz, sondern im Problem selber. Nur als Problem, also indem sie gerade nicht endgültig aufgelöst und beseitigt werden kann, wird doppelte Kontigenz [sie] zum autokatalytischen Faktor für die autopoietische Reproduktion sozialer Systeme« (Künzler 1989, S. 75). Der Kulturdeterminismus lässt sich nur vermeiden, wenn man sein Gesellschafts- und Systemmodell nicht wie Schmidt auf lntersubjektivität als vermeintlich notwendiger Lösung der doppelten Kontingenz sozialer Situationen aufbaut, sondern von Kommunikation als einem Prozess ausgeht, der Komplexität und Kontingenz gleichermaßen steigert wie reduziert. Konkret für das Literatursystem bedeutet das, so scheint mir, dass man dessen Code nicht wie Schmidt mit historisch invariablen Makro-Konventionen, sondern wie Luhmann mit historisch variablen Programmen bzw. Poetiken verbinden muss. Nur so kann die Dynamik des Literatursystems in den Blick geraten. Denn Programme zeichnen sich dadurch aus, dass sie »nur Gesichtspunkte des Richtigen anbieten und durch keinerlei absolut Richtiges gedeckt sein können« (Luhmann 1986 b, S. 195-196); sie stellen Richtlinien dar, über die »Konsens oder Dissens bestehen kann« (Luhmann 1981, S. 246). Mit anderen Worten, Interpretation und Anwendung von Programmen sind nicht eindeutig vorgegeben. Da außerdem immer mehrere Programme gleichzeitig existieren, stellt sich das Literatursystem unter dieser Perspektive nicht als so oder so organisiertes Strukturganzes, sondern als heterochroner Prozess dar: als eine Anzahl heterogener, sich über Diskussion und Differenz fortentwickelnder Diskurse. Damit rückt dann auch die Semantik literarischer Texte wieder ins Zentrum des Interesses, die aus Schmidts organisationsorientiertem Systemmodell fast gänzlich herausfällt. 23 Wobei man Offenheit und Konflikt in Bezug auf die soziale Ordnung entweder als unwichtig oder als bedrohlich sehen kann - in beiden Fällen gelten sie als für Gesellschaft nicht-konstitutiv.

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3.6 Systemtheorie als literaturwissenschaftliche Analyse des Verhältnisses von Bewusstsein und Kommunikation 1: Dietrich Schwanitz und Peter Hühn zu Shakespeare und anderen Der vierte Adaptationstypus wird vor allem von anglistischen Literaturwissenschaftlern vertreten. Zu ihnen gehört Dietrich Schwanitz. Schwanitz, der mit seinen Theaterstücken und Romanen sowie jüngst mit dem Buch Bildung weit über akademische Kreise hinaus bekannt geworden ist, hat eine Reihe von systemtheoretischen Literaturinterpretationen vorgelegt, die mehrheitlich um das Problem der Trennung von Bewusstsein und Kommunikation kreisen. Favorisiertes Thema in diesen Interpretationen ist die Liebe, da sich an ihr - so Schwanitz - das Problem in besonders prägnanter Weise artikuliert: Man kann aufrichtig lieben, aber auf dem Weg der Kommunikation geht diese Aufrichtigkeit verloren, weil jede Botschaft nicht nur Information enthält, sondern auch einen Mitteilungsaspekt, einen Bezug auf die Motive und Interessen des Sprechers. Damit die Botschaft dem Erleben des Sprechers zugeschrieben (>attribuiert