Resonanz - Rhythmus - Synchronisierung: Interaktionen in Alltag, Therapie und Kunst 9783839435441

This book traces the integrative power of the disputed concept of resonance - as an intermediary between different direc

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Table of contents :
Inhalt
Resonanz, Rhythmus und Synchronisierung: Interdisziplinäre Perspektiven
1. Resonanz denken: Theoretische Annäherungen an ein komplexes Phänomen
Resonanz und Interaktion: Eine philosophische Annäherung anhand zweier Proben
Resonanz in der Soziologie: Positionen, Kritik und Forschungsdesiderata
Synchronisation in Interaktion: Eine interdisziplinäre Annäherung an multimodale Resonanz
Rhythmus in internationalen Videokonferenzen
2. Resonanz und Rhythmus: Schwingung, Klang und Kinetik
Wie Resonanz emergiert: Antworten aus der Physik
Resonanz wiederherstellen: Exemplum Instrumentenbau
Resonanz und Stimmung: Musikalische Paradigmen im historischen Spannungsfeld von Anthropologie, Ästhetik und Physiologie
Rhythmus ist nicht alles, aber ohne Rhythmus ist alles nichts
3. Resonanz im Dialog: Synchronisierung, Multimodalität und Verstehen
Gemeinsamkeit erleben und wiederherstellen: Über Synchronisierung im Gespräch
Zum Konzept der Gestenresonanz in der Dialogischen Syntax
Resonanz: sich verbinden und sich lösen
Wenn Wissenschaft und Praxis räsonieren und resonieren: Eine Annäherung zwischen interaktionslinguistischer Empathieforschung und Mediationspraxis
4. Resonanz in therapeutischer Arbeit
Resonating Minds: Interaktion in der Psychotherapie
Momente der Bindung: Erkenntnisse aus der Bindungsforschung und therapeutische Dyade
Beziehung und Bezogenheit in der Therapieprozessforschung
Über Resonanz in einer psychoanalytischen Kurzzeittherapie
Synchronie in dyadischer Interaktion: Verkörperte Kommunikation in Psychotherapie, Beratung, Paargesprächen
Resonanz und Rhythmus im Shiatsu
5. Resonanz als Widerhall der Geschichte
The voice was lost, right now, here: Szenisch-narrative und musikalisch-künstlerische Rekonstruktion eines Zeitzeugnisses der Shoah
Über Worte und Bewegungen: Eine empirische Analyse von moments of meeting in videographierten Zeitzeugengesprächen
Handlungsdialoge: Bewegungsanalytische Perspektiven auf ein Zeitzeugengespräch
6. Resonanz in ästhetischer Erfahrung: Tanz, Bild und Filmmusik
Synchronisierungen von Bewegungen im zeitgenössischen Tanz: Zur Relevanz von somatischen Praktiken in den Arbeiten von Jefta van Dinther
Music should be felt: Resonanz in der Filmmusik
Das Fremde und das Eigene: Resonanz im Bild in der Kunsttherapie
Dynamisierung von Bildräumen oder Resonanz als ästhetische Strategie gelingenden Lebens
Nach-Hall
Autorinnen und Autoren
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Resonanz - Rhythmus - Synchronisierung: Interaktionen in Alltag, Therapie und Kunst
 9783839435441

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Thiemo Breyer, Michael B. Buchholz, Andreas Hamburger, Stefan Pfänder, Elke Schumann (Hg.) Resonanz – Rhythmus – Synchronisierung

Edition Kulturwissenschaft | Band 108

Thiemo Breyer, Michael B. Buchholz, Andreas Hamburger, Stefan Pfänder, Elke Schumann (Hg.)

Resonanz – Rhythmus – Synchronisierung Interaktionen in Alltag, Therapie und Kunst

Dr. Jürgen und Irmgard Ulderup Stiftung Graduiertenkolleg DFG GRK 1624 »Frequenzeffekte in der Sprache« International Psychoanalytic University

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: die Herausgeber Umschlagabbildung: Daniel Alcón López Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-3544-7 PDF-ISBN 978-3-8394-3544-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Resonanz, Rhythmus und Synchronisierung: Interdisziplinäre Perspektiven

Thiemo Breyer, Stefan Pfänder | 9

1

RESONANZ DENKEN: THEORETISCHE ANNÄHERUNGEN AN EIN KOMPLEXES P HÄNOMEN Resonanz und Interaktion: Eine philosophische Annäherung anhand zweier Proben

Thiemo Breyer, Alexander Gerner | 33 Resonanz in der Soziologie: Positionen, Kritik und Forschungsdesiderata

Dietmar J Wetzel | 47 Synchronisation in Interaktion: Eine interdisziplinäre Annäherung an multimodale Resonanz

Stefan Pfänder, Hermann Herlinghaus, Carl Eduard Scheidt (in Zusammenarbeit mit Claas Lahmann) | 65 Rhythmus in internationalen Videokonferenzen

Sigrid Norris | 85

2

RESONANZ UND RHYTHMUS: S CHWINGUNG, KLANG UND KINETIK Wie Resonanz emergiert: Antworten aus der Physik

Andreas Buchleitner | 105 Resonanz wiederherstellen: Exemplum Instrumentenbau

Ralf Schumann | 117

Resonanz und Stimmung: Musikalische Paradigmen im historischen Spannungsfeld von Anthropologie, Ästhetik und Physiologie

Marie Louise Herzfeld-Schild | 127 Rhythmus ist nicht alles, aber ohne Rhythmus ist alles nichts

Michael Oertel, Lars Konieczny | 145

3

RESONANZ IM DIALOG: S YNCHRONISIERUNG, MULTIMODALITÄT UND V ERSTEHEN Gemeinsamkeit erleben und wiederherstellen: Über Synchronisierung im Gespräch

Elke Schumann | 161 Zum Konzept der Gestenresonanz in der Dialogischen Syntax

Elisabeth Zima | 177 Resonanz: sich verbinden und sich lösen

Karl Metzler | 195 Wenn Wissenschaft und Praxis räsonieren und resonieren: Eine Annäherung zwischen interaktionslinguistischer Empathieforschung und Mediationspraxis

Maxi Kupetz, milan | 207

4

RESONANZ IN THERAPEUTISCHER ARBEIT Resonating Minds: Interaktion in der Psychotherapie

Erhard Mergenthaler | 225 Momente der Bindung: Erkenntnisse aus der Bindungsforschung und therapeutische Dyade

Anna Buchheim | 249 Beziehung und Bezogenheit in der Therapieprozessforschung

Ingrid Erhardt | 269

Über Resonanz in einer psychoanalytischen Kurzzeittherapie

Michael B Buchholz | 283 Synchronie in dyadischer Interaktion: Verkörperte Kommunikation in Psychotherapie, Beratung, Paargesprächen

Wolfgang Tschacher, Fabian Ramseyer | 319 Resonanz und Rhythmus im Shiatsu

Wilfried Rappenecker | 335

5

RESONANZ ALS W IDERHALL DER GESCHICHTE The voice was lost, right now, here: Szenisch-narrative und musikalisch-künstlerische Rekonstruktion eines Zeitzeugnisses der Shoah

Andreas Hamburger, Susanne Metzner | 351 Über Worte und Bewegungen: Eine empirische Analyse von moments of meeting in videographierten Zeitzeugengesprächen

Jasmin Bleimling | 377 Handlungsdialoge: Bewegungsanalytische Perspektiven auf ein Zeitzeugengespräch

Veronika Heller | 391

6

RESONANZ IN ÄSTHETISCHER E RFAHRUNG: TANZ, BILD UND FILMMUSIK Synchronisierungen von Bewegungen im zeitgenössischen Tanz: Zur Relevanz von somatischen Praktiken in den Arbeiten von Jefta van Dinther

Gabriele Brandstetter | 409 Music should be felt: Resonanz in der Filmmusik

Günter A Buchwald | 429

Das Fremde und das Eigene: Resonanz im Bild in der Kunsttherapie

Doris Titze | 439 Dynamisierung von Bildräumen oder Resonanz als ästhetische Strategie gelingenden Lebens

Marion Lauschke | 461 Nach-Hall

Michael B Buchholz, Andreas Hamburger | 477

Autorinnen und Autoren | 487

Resonanz, Rhythmus und Synchronisierung Interdisziplinäre Perspektiven T HIEMO B REYER & S TEFAN P FÄNDER

1 E INLEITUNG Die Titelbegriffe dieses Bandes werden seit langem in unterschiedlichen Disziplinen theoretisch diskutiert und experimentell erforscht. Zu den entsprechenden Forschungsbereichen und Anwendungsgebieten gehören insbesondere Philosophie, Psychologie und Linguistik. Außerdem wurden die Konzepte Synchronisierung und Resonanz auch außerhalb des universitären Kontextes in vielfältiger Weise verwendet, so zum Beispiel in der Sozialarbeit oder in der Psychotherapie. Die doppelte Aufgabe, die sich unser Sammelwerk vor diesem Hintergrund stellt, ist, sowohl die Disziplinen untereinander in einen Dialog zu bringen als auch Brücken zu diversen Arbeits- und Praxisfeldern zu schlagen. In den genannten wissenschaftlichen Disziplinen werden die Begriffe Resonanz, Rhythmus und Synchronisierung vor allem mit Bezug auf den körperlichen Ausdruck diskutiert. Auffallend dabei ist, dass Untersuchungen zur körperlichen Synchronisierung den verbalen Ausdruck häufig ausblenden. Ein multimodales Verständnis von Kommunikation, das die Körperlichkeit in den Fokus rückt, kann jedoch auf den sprachlichen Ausdruck nicht verzichten. Umgekehrt gilt aber ebenso, dass die linguistische Forschung erst in jüngster Zeit beginnt, die körperliche Dimension des Sprechens hinreichend ernst zu nehmen. Im Sinne des angestrebten interdisziplinären Dialogs ist es uns daher ein Anliegen, Synchronisierungen und Resonanzherstellungen sowohl in körperlicher als auch in sprachlicher Interaktion zu beschreiben. Ferner haben die Leitkonzepte dieses Bandes in der Literatur sowohl biologische als auch soziokulturelle Fundierungen erfahren. Beide Forschungsstränge mündeten in Versuche einer integrativen Theorie der sozialen Interaktion, wie

10 | B REYER/PFÄNDER etwa bei Chapple (1970, 1982), dessen Ansatz Condon (1982) aufgegriffen und weiterentwickelt hat, wobei er den Begriff des entrainment stark macht, der insbesondere auch die rhythmischen Ressourcen von sich aufeinander einschwingenden Partizipanten thematisiert. Diese frühen Ansätze werden unter anderem von Gill (2007, 2012) weitergeführt. In jüngster Zeit wurden die Phänomene von Resonanz und Synchronisierung nicht zuletzt mit zwei gesellschaftlichen Problemfeldern in Beziehung gesetzt: Burnout und Fremdenfeindlichkeit. (1) Im Bereich des burnout werden derzeit neue Therapieformen entwickelt, die den Körper und das leibliche Selbstempfinden ins Zentrum rücken. Die zugrundeliegende Idee ist hier, dass körperliche Resynchronisierung helfen kann, ein psychisches Gleichgewicht im Angesicht von Überlastung wiederzufinden. (2) Mit Blick auf die Flüchtlingskrise in Europa und die vielerorts angestiegene Xenophobie wird ebenfalls nach Möglichkeiten der (Wieder-)Aufnahme von Resonanz mit fremd erscheinenden kulturellen Konfigurationen und Menschen aus anderen Gesellschaftssystemen gesucht. Eine Hoffnung, die sich mit dem Konzept verbindet, ist, dass eine bessere Synchronisierung auf unterschiedlichen Ebenen und damit eine Stärkung der zwischenmenschlichen und interkulturellen Resonanz zu einer affektiven Entspannung und Angstreduktion führen könnte.

2 R ESONANZ Der Begriff Resonanz wird, wie bereits angeklungen ist, in unterschiedlichen Disziplinen und in unterschiedlicher Definition verwendet. In der Physik bezeichnet er ein mechanisches Phänomen, nämlich die Verstärkung einer Oszillation. Da jedes Objekt über eine ihm eigene Resonanzfrequenz verfügt, tritt es in Resonanz, wenn es durch eine Bewegung bzw. Welle mit dieser Frequenz stimuliert wird. Die Wortbedeutung hat sich im Bereich der Akustik ausdifferenziert, wo Resonanz die Fähigkeit bezeichnet, einen Klang fortdauern zu lassen, zum Beispiel in einem Zimmer oder im Resonanzinnenraum eines Gegenstands. Resonanz kann deshalb als akustische Figur (Lichau/Tkaczyk/Wolf 2009) und akustische Metapher rekonstruiert werden, die auf die Stimmung von Instrumenten als Resonanzkörpern und korrelativ sowohl auf die Dimensionen des leiblich-musikalischen Einschwingens durch den Musizierenden1 als auch des

1

Mit Nennung der männlichen Funktionsbezeichnungen ist in allen Beiträgen dieses Bandes, sofern nicht anders gekennzeichnet, immer auch die weibliche Form mitgemeint.

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subjektiv-ästhetischen Mitschwingens eines Hörers beim Ertönen von Musik verweist. In der Phonetik findet man das physikalische Phänomen der Resonanz, wenn die Hohlräume des Sprechorgans von einem durch Vibration der Stimmbänder erzeugten Ton durchströmt werden. In den Neurowissenschaften geht man davon aus, dass Resonanz ein Schlüssel zum Verständnis von Interaktion in weiträumigen neuronalen Netzwerken ist. Durch die Synchronisierung von Schwingungsfrequenzen kann die Aktivität von Nervenzellen verstärkt werden, so dass sich bestimmte Signale weiter ausbreiten. Wie alle Konzepte unterliegen auch die von uns thematisierten Leitbegriffe semantischen Entwicklungen und Transformationen, wobei Synchronisierung und Rhythmus stärker auf die zeitliche Dimension verweisen, Resonanz hingegen mehr auf die materielle Schwingung und somit die Räumlichkeit. Im Sprachgebrauch sowohl im wissenschaftlichen als auch im praktischen Kontext werden die Begriffe nicht selten synonym verwendet. Einige Autoren markieren jedoch einen Unterschied und reservieren Resonanz für solche Phänomene, in denen ein passives Gegenüber von einem eher aktiven Aktanten affiziert wird. Resonanz ist in diesem Sinne ein gerichtetes Phänomen, bei dem der Impuls von einem Interaktanten ausgeht und den anderen in Schwingung versetzt. Synchronisierung wird demgegenüber häufig als reziproker Prozess verstanden, bei dem beide Interaktanten aktiv daran mitwirken, dass eine gemeinsame Schwingung gefunden wird. In der Linguistik – die für unseren Band eine wichtige Rolle spielt und deshalb hier etwas detaillierter eingeführt wird – ist der Begriff der Resonanz von Du Bois und Giora (2014) vorgeschlagen worden, die sie als katalytische Aktivierung syntaktischer Affinitäten über mehrere Äußerungen hinweg (»catalytic activation of [syntactic] affinities across utterances«, ebd.: 351) definieren. Diese Affinitäten sind leicht erkennbar, wenn sie in zeitlich direkt aufeinanderfolgenden Äußerungen vorkommen. Die Autoren betonen jedoch, dass auch weiter ausgreifende Resonanzformen in die Analyse einbezogen werden sollten: »Affinities are easy to perceive when the paired utterances are immediately adjacent in conversation, but they are by no means ruled out when distances are greater, as the phenomena of literary allusion and prior text attest. By the same token, dialogic syntax is implicated whether the parallel utterances come from two speakers or one. Dialogic syntax is not about syntax used in dialogue, but engagement with the words of those who have spoken before«. (Ebd.: 352, Hervorhebung TB/SP)

12 | B REYER/PFÄNDER Die Autoren betonen den an Bakhtin erinnernden Begriff des Dialogischen, wenn sie von »dialogischer Syntax« (ebd.: 359) sprechen, obwohl der offensichtlichste Fall derjenige ist, bei dem ein Sprecher seine Äußerung auf der Grundlage einer zeitlich kopräsenten Äußerung eines Gesprächspartners konstruiert (»when one speaker constructs an utterance based on the immediately co-present utterance of a dialogic partner«, ebd.). Das schließt aber den Widerhall einer Äußerung desselben Sprechers nicht aus (zur Eigenresonanz vgl. Breyer/Gerner in diesem Band). Die Alignierung der Äußerungen desselben Sprechers oder zweier Sprecher kann mithilfe von Digrammen visualisiert werden, die Strukturen auf verschiedenen Abstraktionsebenen paarweise anordnen. So kann sich die Resonanz auf sich wiederholende Lexeme oder Affixe, den Parallelismus der syntaktischen Struktur oder die Äquivalenz grammatikalischer Strukturen beziehen (ebd.: 359). Aus struktureller Sicht konzentriert sich die dialogische Syntax somit auf die Assoziierung von Zusammenstellungen syntaktischer Zeichen, die andernfalls voneinander unabhängig wären (»structural coupling of otherwise independant syntactic configurations of signs«, ebd.: 352). In der funktionalistischen kognitiven Linguistik wird der Begriff der Resonanz also als ein Phänomen betrachtet, das sich im Laufe des Gesprächs herausbildet; sie bezeichnet das Wiederaufgreifen von Strukturelementen durch den Gesprächspartner, der diese Elemente im Sinne seiner eigenen kommunikativen Ziele recycelt. Die theoretische Prämisse eines derartigen Forschungsansatzes betrachtet die sprachlichen Formen und/oder die Strukturen als offen. Mit anderen Worten: Den sprachlichen Elementen wird ein Resonanzpotenzial zuerkannt, auch wenn letzteres erst im Laufe einer Interaktion in Echtzeit zum Tragen kommt. Der große Vorteil der Resonanztheorie besteht in dem Postulat eines Faktors, der die Möglichkeit eröffnet, das Sprachwissen des Teilnehmers zu erfassen: »Resonanz kann nur dann real sein, wenn sie für die Gesprächsteilnehmer real ist.« (Ebd.: 3) Dies setzt auf Sprecherseite wiederum ein »aktives Engagement« (ebd.) voraus. Nach Elisabeth Zima (2013: 66-69) umfasst der linguistische Resonanzbegriff fünf Merkmale: (1) Resonanz beschränkt sich nicht nur auf lexikalische und/oder syntaktische Ressourcen der verbalen Interaktion. Vielmehr kann sie auch auf der Ebene der Intonation (Prosodie, Lautstärke etc.) oder der Multimodalität (Gesten, Blick etc.) analysiert werden. (2) Resonanz beschränkt sich auch nicht auf die explizite Wiederholung sprachlicher Elemente. Einerseits kann Wiederholung implizit sein, andererseits reaktiviert auch die externe Erweiterung eines Syntaxprojekts durch den Gesprächspartner die latente Struktur der beispielhaften Äußerung (vgl. Auer 2007 zum Begriff der Latenz). (3a) Resonanz ist nicht gleichbedeutend mit Identität. Bereits eine gewisse Ähnlichkeit

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kann einen Resonanzeffekt auslösen. (3b) Es wäre falsch, Resonanz lediglich im Sinne von gleichgesinnter Zusammenarbeit zu verstehen. Häufig wird Resonanz verwendet, um einen Sprecher zu einer Aussage zu bringen, die er gar nicht tätigen wollte. »Ob sie wollen oder nicht – die Sprecher erleben, wie ihre Worte in einer Art und Weise rekontextualisiert werden, die sie gar nicht beabsichtigt hatten« (Du Bois 2014 [2010]: 20). (4) Resonanz ist zeitlich nicht klar begrenzt. Häufig ist das resonante Element zeitlich naheliegend, bisweilen jedoch kann die zeitliche Differenz größer sein und sich bis zum kommunikativen Gedächtnis einer Sprachgemeinschaft erstrecken. (5) Resonanz ist bei weitem kein rein mechanisches Phänomen, also kein echohaft reproduzierender Widerhall eines vorhergehenden Elements. Sie informiert uns vielmehr über die Abstraktionsaktivitäten von Sprechern einer Sprache: »Abstraktion – mit all ihrer Kraft zur Schaffung von generalisierten Grammatikelementen – wird als ein empirisch beobachtbarer Prozess betrachtet, wenn er auf lokaler Ebene von Sprechern, die sich in einer dialogischen Interaktion in Echtzeit befinden, zur Anwendung kommt.« (Ebd.: 7)

3 R HYTHMUS

UND

S YNCHRONISIERUNG

Was die beiden anderen Kernbegriffe Rhythmus und Synchronisierung betrifft, so hat Kim (2007) eine für die Interaktionsforschung fruchtbare integrative Bestimmung vorgeschlagen. Sie definiert Synchronie als »symmetric or complementary nonverbal configurations and rhythms in face-to-face interactions, [which] engenders a cohesive and cooperative communicative relationship between interactants« (ebd.: 27). Drei Aspekte sind bei dieser begrifflichen Annäherung wichtig: Synchronisierung (1) ist nonverbal, (2) basiert u.a. auf rhythmischen Grundlagen und (3) ist situativ, wobei sie als über die jeweilige Situation hinausgehende Kompetenz beschrieben werden kann, die das kommunikative Miteinander befördert. Dabei verweist nonverbale Synchronisierung sowohl auf makromotorische Bewegungen von Körperteilen als auch auf mikromotorische Bewegungen in der Stimme: »Synchrony is an interactional state that occurs when the participants’ nonverbal behaviors, including kinesic behaviors (such as facial, hand, and bodily movements) and paralinguistic behaviors (such as the volume, pitch, and speed of vocal speech utterances) are coordinated smoothly both in form and in timing«. (Ebd.: 28)

14 | B REYER/PFÄNDER Wie Kims Konzeption anzeigt, wird als konstitutives Element bei der Definition von Synchronisierung häufig der Begriff des Rhythmus eingeführt. Ganz allgemein kann man als Rhythmus zunächst jeden regelmäßigen zeitlichen Wechsel von Elementen in einem übergreifenden Ereignisverlauf betrachten, so etwa den Tag-Nacht-Rhythmus. In der Musik bezeichnet der Begriff genauer die Gliederung musikalischer Einheiten nach einem bestimmten Taktschema. Hier ist zu unterscheiden zwischen langsamen und schnellen, Zweier-, Dreier-, Vierertakten etc., innerhalb derer sich ›schleppende‹, ›hüpfende‹ und viele weitere Arten von Schlag- und Tonsequenzen abspielen können. Der Rhythmus prägt insofern immer auch wesentlich die Stimmung, die von einem musikalischen Werk ausgeht. Generell lebt der Rhythmus von einer Periodizität, d.h. einer Wiederholbarkeit gleichartiger Muster über die Zeit hinweg, wodurch er sich begrifflich vom Ereignis unterscheidet und sich dem Prozess annähert. Für konversationelle Interaktionen sind Rhythmus und Tempo »constitutive parameters in the enactment of basic conversational patterns and are involved in issues that have been most central to conversational analysis (turn taking, preference systems, and the organization of closings).« (Auer/Couper-Kuhlen/Müller 1999: 22) Umso erstaunlicher ist es, dass diese organisierenden Prinzipien in der einschlägigen Forschung immer noch vernachlässigt werden. Entscheidend wäre für eine solche Integration aus unserer Perspektive, dass Rhythmus nicht nur und nicht vornehmlich als physikalische Größe gefasst wird, die durch Messgeräte registrierbar und mechanisch modellierbar ist, sondern mittels situativer Perzeptionen und Interpretationen – dabei weniger komponenziell, sondern mehr gestalthaft – beschrieben wird: »[T]he perception of rhythm is not directly or automatically related to (or derivative of) […] physical events. It is the human mind which perceives certain physical cues as forming a rhythmic pattern or gestalt, the human receptor of the acoustic signal must perform a number of interpretative tasks to hear its rhythm.« (Ebd.: 23)

Das gestalthafte Erlebnis ist dadurch geprägt, dass man zugleich physisch präsente Hinweise wahrnimmt und den Sinn einer rhythmischen Bewegung durch eine Form von Deutung – sei diese auch noch so implizit – erfasst. Dieser komplexe Vorgang, in dem Sinnliches mit Sinnhaftem, Materie mit Bedeutung in einem Interaktionszusammenhang verschränkt werden, bringt uns zu einer weiteren begrifflichen Differenzierung, die sich eignet, die bis hierhin exponierten Phänomene ausdrücklich auf das Verhältnis von Selbst und Anderem, also auf intersubjektive Konstellationen, zu beziehen.

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4 V ERSTEHEN

UND

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V ERSTÄNDNIS

Der Resonanzbegriff kommt auch dort zum Einsatz, wo Gefühle oder Gedanken von einer Person auf eine andere übertragen werden, wo entweder eine affektive Ansteckung ein Subjekt überkommt oder wo es sich aktiv auf ein Gegenüber einlässt, um mit diesem mitzuempfinden oder dessen Erlebnisse nachzuempfinden. Dementsprechend wird Resonanz in der Psychologie und in der Philosophie oft im Zusammenhang mit Empathie bearbeitet. Wie phänomenologische Analysen zeigen (vgl. Merleau-Ponty 1966; Waldenfels 2015), ist Empathie und das Verstehen des Fremdpsychischen nicht in erster Linie ein kognitiver Akt des expliziten Sich-Eindenkens in den Anderen, sondern baut sich in zwischenleiblichen Interaktionen und der für sie notwendigen impliziten Schwingungsfähigkeit auf. Auch die Entwicklungspsychologie (vgl. Reddy 2010; Rochat 2009) berücksichtigt immer mehr diese Form der intersubjektiven Resonanz und ihre Funktion für die frühe Ontogenese sozialer Fähigkeiten. Gegenüber den in weiten Teilen der Philosophie des Geistes dominierenden kognitivistischen Ansätzen (vgl. als Überblicksdarstellung Schlicht 2012) liefern diese Forschungen ein wichtiges Motiv, indem sie den Fokus auf die Körperlichkeit und die Kommunikativität des menschlichen Leibes legen. Zwei Effekte, die durch Synchronisierungsprozesse erreicht werden können und die in der Literatur häufig getrennt voneinander verhandelt werden, kann man im Deutschen mit Verstehen einerseits und Verständnis andererseits bezeichnen. Das Verstehen ist zunächst ein erfolgreiches Verarbeiten von Informationen zur Evaluation der Situation, also ein Erfassen dessen, was vor sich geht, was die einzelnen Elemente und Phasen einer Interaktion für den Gesamtzusammenhang bedeuten. Darüber hinaus ist es für unser Thema besonders relevant, dass interpersonale Koordination (Bernieri/Reznick/Rosenthal 1988) in einem solchen Zusammenhang davon abhängt, dass die Partizipierenden einen geteilten Bestand von Informationen besitzen, d.h. das Verstehen bis zu einem gewissen Grad teilen. Nur so kann der günstige Fall eintreten, in dem gilt: »no particular person is overburdened with or completely relieved of work, and, thus, the exchange of messages becomes efficient, clear, economical, and well timed« (Ruesch 1968 [1951]: 34). Die hierdurch ermöglichte Kohärenz begünstigt auch den rapport (Field et al. 1990) zwischen den Beteiligten, was zum Begriff des Verständnisses führt, bei dem es um die Herstellung von Gemeinsamkeit geht. Das Verständnis für den oder die anderen geht über das Verstehen der Situation und möglicherweise des gemeinsamen Handlungszieles in zweifacher Weise hinaus. Zum einen impliziert das Verständnis, dass die Gemeinsamkeit der koordinierten Aktionen den

16 | B REYER/PFÄNDER Teilnehmern eigens thematisch wird, sie sich also bewusst sind, dass hier etwas zusammen getan wird und dies keine Koinzidenz von Einzelhandlungen ist. Zum anderen leitet das Verständnis vom Bereich der rein körperlichen Synchronisierung zum Bereich der emotionalen Resonanz über, wo es um die Etablierung eines Gefühls von Gemeinschaft geht – einen »sense of being together as a unit in a solid communicative relationship« (Kim 2007: 28). Als weiterer Punkt ist zu beachten, dass Resonanz, Rhythmus und Synchronisierung, wenn wir sie als Fähigkeiten oder Möglichkeiten zum Einschwingen, Eintakten und Mitbewegen fassen, Phänomene sind, die immer in Korrelation zum jeweiligen räumlich-situationalen, habituell-personalen und sprachlichkognitiven Kontext betrachtet werden sollten. Ob sich eine interaktive Kohärenz einstellt, hängt vom Zusammenspiel dieser verschiedenen kontextuellen Faktoren ab. Die zwischenleibliche Synchronisierung, die wir als ursprüngliche Form der Resonanz angesehen haben, vollzieht sich nur, wenn die Teilnehmer in der Interaktionssituation eine intersubjektive Nahbeziehung führen können. Bei zu großer körperlicher Entfernung geht die affektive Erlebnisqualität in Bezug auf den anderen verloren, wodurch das wechselseitige Sich-Einschwingen zu einem Akt der Anstrengung wird. Auch welche Erfahrungen eine Person in ihrem Leben gemacht und welche Gewohnheitsstrukturen sie ausgebildet hat, parametrisiert die Resonanzfähigkeit. Ein empathisches Einschwingen in einen bestimmten Typus von Erfahrung, die man am anderen wahrnimmt, ist gegebenenfalls nur möglich, wenn man selbst schon einmal eine solche oder eine zumindest ähnliche Erfahrung gemacht hat. Eine besonders drastische Resonanzblockade besteht häufig bei Traumata, deren affektive Kraft Außenstehenden schwerlich zu vermitteln ist. Was die habituelle Dimension betrifft, die wesentlich mitprägt, wie man sich in eine Interaktion hineinbegibt und wie man sich in einer Situation verhält, ist zu unterscheiden zwischen Persönlichkeitsmerkmalen, die sich aus den idiosynkratischen Bedingungen einer Biographie ergeben, und soziokulturellen Faktoren, die durch Internalisierung und Wiederholung das kommunikative Handeln regulieren. Zum einen können leibliche Angewohnheiten (z.B. bestimmte Haltungen oder Bewegungsmuster) sowie kommunikative Angewohnheiten (z.B. schnelles oder langsames Sprechen), die individualtypisch von einer bestimmten Person ausgebildet werden, es einer anderen Person leichter oder schwerer machen, in eine resonante Interaktion einzusteigen, je nachdem, welche Muster bei dieser vorherrschen. Zum anderen sind sozial eingeübte und kulturell normierte Umgangsformen entscheidend dafür, wie sich Synchronisierungen und Desynchronisierungen abspielen. Die negative Konnotation des Blickkontakts zwischen bestimmten Personen(gruppen) etwa kann schon von vornherein bestimm-

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te Formen des Resonanzaufbaus verhindern. Körperhaltungen, die aufgrund sozialer Hierarchien eingenommen werden, sind ein weiteres Beispiel für die evaluative Dimension, die den Rhythmus von Interaktionen prägt. Schließlich ist der kognitive Hintergrund, also das Vorwissen, das man in eine Interaktion einbringt, zuweilen von entscheidender Bedeutung dafür, ob ›der Funke überspringt‹ oder nicht. So entfaltet beispielsweise ein Witz nur dann seine affektive Wirkung und führt zu Gelächter, wenn die Pointe vom Zuhörer verstanden wird. Gleichzeitig gibt es nichts Schlimmeres als einen Witz, bei dem der Erzähler die Pointe vermasselt, d.h. auch auf dieser Seite ist ein bestimmtes Wissen, das sich aus sprachlicher Kompetenz und performativem Geschick speist, notwendige Bedingung für eine entsprechende Resonanz beim Publikum.

5 Z USAMMENFASSUNG DER B EITRÄGE Um die so skizzierte Komplexität der Phänomene in einem interdisziplinären Rahmen vorzustellen und kritisch zu beleuchten, wurden für diesen Band Beiträge aus zum Teil sehr selten kooperierenden Wissenschaftsbereichen und Praxisfeldern zusammengeführt. In den folgenden Kurzdarstellungen wird erläutert, in welchen Erscheinungsformen Resonanz, Rhythmus und Synchronisierung in der menschlichen Erfahrung und Begegnung vorkommen und welche Effekte sie haben können. Neben diversen theoretischen Zugangsweisen wird der Blick auch auf unterschiedliche Berufsfelder gelenkt, da das Erfahrungswissen aus der nicht-universitären Praxis durch Kurzinterviews mit Praktizierenden etwa aus Musik bzw. Filmmusik, Körperarbeit und Instrumentenbau sich für die Erkenntnis dieser Phänomene als äußerst relevant erweist. Thiemo Breyer und Alexander Gerner eröffnen den ersten Teil des Bandes über Resonanz denken: Theoretische Annäherung an ein komplexes Phänomen. Dabei vollziehen sie in ihrem Beitrag zunächst eine philosophische Annäherung anhand zweier Proben an die Phänomene von Resonanz und Interaktion, nämlich (1) am ästhetischen Vollzug gemeinsamen Musizierens nach Alfred Schütz und (2) am therapeutischen Vollzug gemeinsamen Schweigens in der Psychotherapie nach Tadashi Matsuo. Einleitend geht es den Autoren um eine interdisziplinäre Orientierung: So gehen sie der Etymologie und Bedeutung des Resonanzbegriffs nach, verfolgen die Herkunft der Resonanzmetapher aus der Akustik und machen verständlich, warum das Resonanzkonzept für die gegenwärtigen Wissenschaften so attraktiv ist. Denn Resonanz meint stets mehr als eine bloße Verdopplung im Sinne einer optischen Spiegelung; Resonanz ist – wie die Autoren unter Einbeziehung von Bernhard Waldenfels und Ichirō Yamaguchi heraus-

18 | B REYER/PFÄNDER arbeiten – vielmehr eine Doppelfigur, die dynamisch zwischen Aktivität und Autonomie (im gemeinsamen Musizieren) und Passivität und Fremdbestimmtheit (im gemeinsamen Schweigen) vermittelt, ohne je einseitig aufgelöst werden zu können. Mit diesen beiden Proben gelingt es, die Vielschichtigkeit des Resonanzphänomens einleitend aufzuzeigen, die sich in der Vielfältigkeit der Beiträge des Bandes widerspiegelt. Nach dieser philosophischen Betrachtung nähert sich Dietmar Wetzel dem ›schillernden‹ Begriff der Resonanz in der Soziologie an. Dazu benennt er drei zentrale Positionen dieser Disziplin, formuliert Kritik und skizziert abschließend Forschungsdesiderata. Wetzel gibt zu bedenken, dass (1) Niklas Luhmann Resonanz zwar in seiner funktionalen und relationalen Struktur erfasst, aber eine genauere Ausdifferenzierung vermissen lässt, wie dies jüngst bei (2) Hartmut Rosa (als Stellvertreter der neueren Kritischen Theorie) und (3) Vincent Miller (als Vertreter der Sozialphänomenologie) erfolgte. Dabei legt gerade letzterer eine für den Autor anschlussfähige Analyse des Resonanzphänomens vor, da diese weder rein funktional (Luhmann), noch normativ überfrachtet (Rosa) erscheint. Damit geht Wenzel zur Darstellung seiner eigenen Forschung über und plädiert anhand der Resonanzpraktiken von Sport und Liebe für einen deskriptiven (nicht-normativen) Begriff der Resonanz – schließlich sei dieser für empirische Analysen offen und eigne sich deswegen besonders für eine verstärkte interdisziplinäre Zusammenarbeit. Passend zu diesem Plädoyer für Interdisziplinarität und Empirie unterbreiten Stefan Pfänder, Hermann Herlinghaus und Carl E. Scheidt unter Mitwirkung von Claas Lahmann ihren Vorschlag einer interdisziplinären Annäherung an Resonanz über das Phänomen der Synchronisierung in multimodaler Interaktion. Um zunächst zu erfassen, was genau unter dem Begriff der Synchronisierung zu verstehen ist, grenzen die Autoren diesen von in der aktuellen Kognitionsforschung etablierten Begriffen wie mirroring und mimicry, alignment und accommodation ab und betonen, dass im lebendigen Interaktionsgeschehen komplexe Synchronisationsprozesse ablaufen. Hiermit sind einerseits multimodale Synchronisierungen innerhalb einer Ausdrucksform gemeint (wie z.B. Blicke oder Gesten), und andererseits transmodale Synchronisierungen zwischen verschiedenen Ausdrucksformen (wie z.B. die Synchronisierung von Kopfnicken und Gestenbewegungen). Diese Multimodalität soll in ihren (1) zeitlichrhythmischen, (2) sprachlich-stimmlichen, (3) körperlich-empathischen und (4) attentionalen Dimensionen näher untersucht werden. Die Erkenntnisse hieraus können dazu beitragen, das erhellende Potenzial des Synchronisierungsgeschehens für psychologisch-psychotherapeutische, interaktionslinguistische sowie kultur- und medienwissenschaftliche Fragestellungen hervorzuheben.

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Sigrid Norris nähert sich dem Resonanzbegriff aus einer interaktionslinguistischen Perspektive über den Rhythmus in internationalen Videokonferenzen an. Aus einer Studie mit 84 Teilnehmern berichtet Norris exemplarisch von einem Skype-Gespräch zwischen einer Großmutter (in Kanada), ihrer Tochter und deren vierjährigem Sohn (beide in Neuseeland). Dabei fokussiert ihre Gesprächsanalyse insbesondere auf große und mittelgroße zeitliche (Inter-)Aktionsrhythmen der mediatisierten Handlungen zwischen den Beteiligten. So zeigt sich im Sinne einer rhythmischen Verankerung, dass bereits der Rhythmus des Alterns die Interaktion strukturiert, wie dies in offensichtlicherer Form auch durch den Tagesrhythmus der Akteure geschieht. Beispielsweise weiß die Großmutter aus eigener Erfahrung, wie es ist, ein kleines Kind zu haben, und versteht damit auch das Verhalten der Mutter, die sich während des Gesprächs immer wieder vom Laptop ab- und dem Kind zuwendet. Umgekehrt ist sich die junge Frau bewusst, dass sie verstanden wird und kann gleichzeitig der Interaktion mit ihrem Sohn nachgehen. Insgesamt versteht Norris ihre Arbeit als einen wesentlich theoretischen Beitrag, dessen Ergebnisse zu einer »Weiterentwicklung der theoretischen Auffassungen von Rhythmus in der (Inter-)Aktion« führen sollen. Andreas Buchleitner beginnt mit seinen Ausführungen darüber, wie Resonanz emergiert: Antworten aus der Physik, den zweiten Teil des Bandes über Resonanz und Rhythmus: Schwingung, Klang und Kinetik. Wie zuvor schon Norris bestimmt auch Buchleitner den Resonanzbegriff durch den des Rhythmus genauer; jedoch begreift er Resonanz nicht als das gesetzmäßige Verhältnis von kommunizierenden Personen, sondern als ein durch Perioden bestimmtes Verhältnis von menschlichen und kosmischen Rhythmen. So stellt er am Beispiel des Anstoßens einer Schaukel das Konzept der Resonanzbreite sowie am Beispiel einer schwingenden Brücke das der Resonanzkatastrophe vor. Gleichzeitig illustriert Buchleitner am Doppelpendel, wie das komplexe Wechselspiel von Resonanzen zur Quelle einer chaotischen Dynamik und dynamischen Ungewissheit wird, die unsere gesamte Wirklichkeit durchzieht – und uns so, wie Buchleitner resümiert, vor »Monotonie und Langeweile« bewahrt. Anschließend erläutert der Geigenbauer Ralf Schumann seiner Gesprächspartnerin Elke Schumann grundlegende akustische Prinzipien am Exemplum Instrumentenbau. Bei einem Besuch in seiner Werkstatt berichtet er über das Konzept, mit dem es ihm bei seiner Arbeit gelingt, Resonanz wiederherzustellen: Um spezifische klangliche Verbesserungen an Geigen vorzunehmen, so Ralf Schumann, beobachtet er, wie sein eigener Körper auf bestimmte Töne reagiert, um zunächst deren Resonanzbereiche zu identifizieren (exemplarisch nennt er Kopf, Beine und Schultern). Danach überträgt er die Erkenntnis aus diesen Erfahrungen auf den Instrumentenkörper, indem er mittels einer speziellen Klopftechnik

20 | B REYER/PFÄNDER den Bereich klanglicher Analogie festzustellen sucht und diesen mit der optimalen Klangordnung vergleicht. So kann er schon durch kleinste Formkorrekturen mittels Abschleifen und Akupunktur das Schwingungssystem der Geige verändern und Abweichungen gemäß gemeinsam mit den Musikern erarbeiteten Vorstellungen korrigieren. Auf diese Weise hilft Schumann auch dabei, Resonanzblockaden zwischen Musiker und Instrument abzubauen und so auch den ästhetischen Genuss zu steigern, den wir als Zuhörer im Resonanzraum einer musikalischen Aufführung empfinden. Marie Louise Herzfeld-Schild rekonstruiert in ihrem Beitrag musikalische Paradigmen im historischen Spannungsfeld von Anthropologie, Ästhetik und Physiologie, um das Verhältnis von Resonanz und Stimmung genauer beschreiben zu können. Um dieses Spannungsfeld zu erschließen, geht die Autorin in drei Schritten vor: (1) Zunächst umreißt sie die Verbindung von Resonanz und Stimmung in der philosophischen Anthropologie Helmuth Plessners; (2) geleitet von den hier getroffenen Bestimmungen macht sie im 18. Jahrhundert die Scharnierstelle ausfindig, an der die »Transformationen von Resonanz- und Stimmungskonzepten aus dem Akustisch-Musikalischen ins Ästhetisch-Anthropologische« stattfand; (3) abschließend blickt sie mit diesem historischen Wissen auf aktuelle Konzepte von Resonanz und Stimmung in Anthropologie, Phänomenologie und Psychotherapie. So gelingt es Herzfeld-Schild, eine metapherntheoretisch informierte conceptual history zu schreiben und den ›Bedeutungsüberschuss‹ des Resonanz- und Stimmungskonzepts sichtbar zu machen, der nicht nur in der früheren, sondern auch in der gegenwärtigen Forschung stets auf den ganzen Menschen als leibkörperliches und also empfindsames und fühlendes Wesen zielt. Dieser ganzheitliche Ansatz wird auch durch einen Bezug zur konkreten Musikpraxis bestätigt, die nun im Gespräch von Michael Oertel, Lars Konieczny, Stefan Pfänder und Elke Schumann über die Lust am Improvisieren umfassender erörtert wird. Dabei weisen die Blues-Musiker Oertel und Konieczny auf die Facetten hin, die der Titel des Beitrags (Rhythmus ist nicht alles, aber ohne Rhythmus ist alles nichts) impliziert. Ein fester Rhythmus eröffnet eine Art Resonanzraum, in dem sich die Musiker begegnen und miteinander interagieren können. Wie der Raum kann auch der Rhythmus in kleinere Elemente zerteilt, können Bereiche durch Akzentsetzungen abgegrenzt und auf vielfache Weise betont werden. So erhält der geteilte musikalische Raum eine Stimmung, einen bestimmten groove, der dazu einlädt, zu verweilen und sich auf den Moment einzulassen.

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Improvisation bedeutet hierbei, im gemeinsamen Moment des freien Spiels Resonanzräume zu erzeugen, die durch die Dynamik innerhalb der Band, aber auch zwischen Band, Publikum und Location getragen werden und deswegen immer einzigartig sind. Elke Schumann denkt in ihrem Beitrag über Synchronisierung im Gespräch nach und eröffnet damit den dritten Teil des Bandes über Resonanz im Dialog: Synchronisierung, Multimodalität und Verstehen. Über die von Pfänder et al. (s.o.) angestellten theoretisch-konzeptionellen Ausführungen hinaus, lädt Schumann den Leser dazu ein, ihre begrifflichen Erörterungen anhand zweier kurzer Videoausschnitte nachzuvollziehen: zum einen anhand des kollaborativen Reenactments eines jungen Paares, zum anderen anhand einer von Irritation geprägten Unterhaltung zweier Freunde. An diesen Beispielen zeigt Schumann auf mikroanalytischer Ebene, wie die vielfältigen Ausdrucksmodalitäten – körperliche Nähe oder Distanz, Zu- oder Abwendung, Gestik, Mimik, Blick, Tempo und Tonhöhe der Stimme, Gleichzeitigkeit und Wiederholung von Worten – in unterschiedlichen Gesprächssituationen miteinander verknüpft werden und damit für den Beobachter unterschiedliche Formen und Funktionen von Synchronisation ausweisen. So gelingt es Schumann zu rekonstruieren, wie Gesprächspartner auf unterschiedliche Weise Gemeinsamkeit erleben und wiederherstellen. Ging es bei Elke Schumann vor allem um Varianten multimodaler Resonanz, so bildet Multimodalität bei Elisabeth Zima den allgemeinen Kontext, um das Konzept der Gestenresonanz in der dialogischen Syntax (nach John W. Du Bois) zu betrachten. Dabei thematisiert sie eine Unterscheidung, die für alle dialogischen Resonanzphänomene bedeutsam sein dürfte, nämlich die zwischen unbewusster Resonanz (im Sinne von interactive alignment) und bewusster Resonanz (im Sinne von active engagement). Nachdem die Autorin einige Beispiele verbaler Resonanz anführt, wendet sie die Methode der dialogischen Syntax auf gestische Resonanz in einem informellen Dreiergespräch in einer Face-to-FaceInteraktion an. Dabei zeigt die vergleichende Analyse von Dialog und Bildsequenzen (die mittels der Eye-Tracking-Methode jeweils aus der Perspektive der Probandinnen aufgezeichnet wurden), wann und in welchem Kontext gestische Resonanz stattfindet. So gelingt es, Kriterien für einen Kernbereich bewusster Resonanz zu definieren. In ihrer dialogischen Reflexion denken Karl Metzler und Stefan Pfänder sodann gemeinsam über die menschliche Sehnsucht nach Resonanz nach. Resonanz lässt sich, so Metzler, nicht einfach mit Aufmerksamkeit identifizieren; vielmehr kommen in der Resonanz zwei Grundbedürfnisse des Menschen zusammen, die in einer dynamischen Beziehung zueinander stehen: AngenommenSein und Sich-Abgrenzen. Demgemäß geht es in Resonanzsituationen darum –

22 | B REYER/PFÄNDER wie die Autoren an Beispielen wie Paarbeziehungen, dem Besuch eines Fußballstadions oder dem Schauspiel erörtern –, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Bindung und Lösung, zwischen sich verbinden und sich lösen, zu finden. Nur so kann ein positiv geladenes Energiefeld der Resonanz entstehen, auf dessen Basis es gelingt, die Andersartigkeit des oder der Anderen zu respektieren, die Atmosphäre eines Stadions zu genießen oder ein überzeugendes Schauspiel aufzuführen. Anschließend versuchen der Mediator milan und die Interaktionslinguistin Maxi Kupetz eine Annäherung zwischen interaktionslinguistischer Empathieforschung und Mediationspraxis. Denn auch wenn eine empathische Haltung für eine gelingende Mediationspraxis zentral ist, so ist die Vermittlung dieser Haltung durch das ›Schwammige‹ des Empathiebegriffs, wie milan zu Bedenken gibt, in der Ausbildungspraxis oft schwierig. Deswegen bietet sich die Zusammenarbeit mit der konversationsanalytisch ausgerichteten Forschung bzw. der Interaktionalen Linguistik an. Das differenzierte Vokabular dieser Disziplin kann dabei helfen, das allgemeine Interaktionsphänomen der Resonanz vom spezifisch empathischen Verhalten abzugrenzen. Gleichzeitig ist es durch ihre Methodik möglich, Videomaterial aus konkreten Mediationsgesprächen zu analysieren und typische, bisher übersehene Resonanzphänomene zu erfassen. Mediatoren können diese neuen Erkenntnisse für das gezielte Training in Aus- und Weiterbildungen einsetzen, komplementär dazu können Interaktionslinguisten das Feld der Mediation »zur praxisorientierten Wissens- und Kompetenzentwicklung« nutzen. Auf diese Weise zeigt sich, was geschieht, wenn Wissenschaft und Praxis räsonieren und resonieren. Erhard Mergenthaler bietet den Auftakt zum vierten Teil des Bandes über Resonanz in therapeutischer Arbeit, der vielfältige Forschungsansätze miteinander in Beziehung bringt – psychoanalytische, neuropsychologische, bindungstheoretische und metaphorologische. Der Autor betrachtet die Interaktion in der Psychotherapie zwischen Patient und Therapeut näher und bestimmt den Therapeuten als ein resonating mind, also als jemanden, der es idealerweise schafft, »sich in die Welt des Patienten einzufühlen, mit ihm zu fühlen und mitzudenken, ›mitzuschwingen‹«. Aber wie kann über diese Fähigkeit des Therapeuten hinaus erfolgreiche Intervention im therapeutischen Prozess erklärt werden? Um diese Frage zu beantworten, untersucht Mergenthaler die komplexe Korrelation von Therapiegespräch und Gehirnaktivität anhand von drei definitorisch abgegrenzten Faktoren, die in therapeutischen Situationen miteinander verwoben sind: (1) affektive Erfahrung, (2) kognitive Bewältigung und (3) Verhaltensregulation. Indem er am Beispiel der affektiven Erfahrung skizziert, wie die Ergebnisse dieser Forschung mittels des therapeutischen Zyklusmodells in der therapeutischen

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Praxis umgesetzt werden können, wird erkennbar, (a) welche neurologischen Prozesse gelingender, aber auch misslingender, Resonanz zu Grunde liegen und (b) wie therapeutische Intervention in der Zukunft gezielter als bisher erfolgen kann. Anna Buchheim widmet sich Momenten der Bindung und erörtert, inwiefern aktuelle Erkenntnisse aus der Bindungsforschung im Kontext der Psychotherapie von Bedeutung sind. Im Zentrum ihrer Ausführungen steht die Herausforderung des Therapeuten durch die sogenannte unsicher-distanzierte Patientengruppe. Weil Personen dieser Gruppe dazu neigen, sich von ihren Problemen zu distanzieren, ist nicht die Frage Was können wir tun, um diesen Patienten zu helfen?, sondern Warum ist es so schwierig, ihnen zu helfen? (Robert Muller) die primäre. Um diese Schwierigkeit besser zu verstehen, verbindet Buchheim, wie schon zuvor Mergenthaler (s.o.), u.a. Methoden zur Erfassung von inneren Arbeitsmodellen von Bindung mit neuropsychologischen Bildgebungsverfahren zur Evaluierung von psychotherapeutischen Interventionen. Mit diesem interdisziplinären Ansatz könnte es laut der Autorin in Zukunft besser gelingen, bindungstherapeutische Forschung gezielt einzusetzen und bei schwierigen Therapeut-PatientDyaden das Ziel einer bindungsorientierten Therapie zu erreichen, nämlich dysfunktionale innere Arbeitsmodelle im Sinne eines sicheren Modells von Bindung zu reorganisieren. Auch Ingrid Erhardt konzentriert sich auf das, wie sie sagt, wesentliche Moment einer jeden erfolgreichen Therapie: die therapeutische Beziehung. Um die Beziehung und Bezogenheit in der Therapieprozessforschung zu operationalisieren, überprüft sie die Theorie der Persönlichkeitsentwicklung und Psychopathologie nach Sidney Blatt und Kollegen mittels des sogenannten Prozess-QSort-Verfahrens (PQS) nach Stuart Ablon und Enrico Jones. Dieses Instrument erlaubt es, mittels 100 standardisierter Items sowohl die Einzigartigkeit von Therapieprozessen zu erfassen als auch eine vergleichbare Datenbasis zu generieren, auf die dann spezifische Fragen der Therapieprozessforschung angewandt werden können. Mit Hilfe dieses Instruments erfasst die Autorin die Gesprächsverläufe einer dreijährigen Psychoanalyse einer Patientin mit depressiver Symptomatik und allgemeiner die Art und Weise, wie sich die Persönlichkeit von Patienten auf die therapeutische Beziehung auswirkt. Michael B. Buchholz reflektiert anschließend auf die Resonanz in einer psychoanalytischen Kurzzeittherapie und versucht, Komplexität und Kohärenz von Gesprächsausschnitten mittels (1) Metaphern-, (2) Narrations- und (3) Konversationsanalyse zu durchdringen. Lässt sich die Metapher der Resonanz, so fragt der Autor, einfach als Echo, Ansteckung oder Rückkopplung übersetzen? Und ist Resonanz damit nur ein weiteres Beispiel für Metaphern, die aus der technisch-

24 | B REYER/PFÄNDER physikalischen Welt mehr oder weniger naiv entlehnt werden? Unter Einsatz einer philosophisch und psychoanalytisch inspirierten, kognitiv-linguistischen Metapherntheorie betont er, dass es vielmehr umgekehrt sei: Resonanz – wie auch andere technische Metaphern – gehen auf »die verkörperte Person in ihren sozialkommunikativen und biographischen Bezügen« als Quelle zurück. Diese werden sodann aus einer erzählanalytischen Perspektive näher betrachtet. Hier erscheint das erzählende Ich, nach Gabriele Lucius-Hoene und Arnulf Deppermann, zwischen Selbstdarstellung und Selbstherstellung. »Wir wollen«, so bringt Buchholz dieses Verhältnis auf den Punkt, eben »nicht nur die Geschichte, sondern mit der Geschichte auch uns verstanden wissen«. Was dies aber bedeutet, insbesondere wenn das eigene Selbstverstehen gestört ist, macht er abschließend anhand des »ganz anderen Verstehens« des Therapeuten deutlich, dessen eigentümliche Resonanzbeziehung mit dem Patienten mittels der sogenannten CGDP4-Hypothese ausführlich analysiert wird. Wolfgang Tschacher und Fabian Ramseyer widmen sich dem Phänomen der Synchronie in dyadischer Interaktion als einer Form der sozialen Resonanz. Dabei konzentrieren sie sich in ihren Ausführungen auf nonverbale Synchronie, genauer: auf die verkörperte Kommunikation in Psychotherapie, Beratung, Paargesprächen. Grundlegendes theoretisches Modell ihrer Überlegungen ist die Theorie dynamischer Systeme nach Sergio Salvatore und Wolfgang Tschacher. Synchronie wird als spezifische Korrelation mindestens zweier Systeme (hier: Individuen) in der Zeit (hier: psychische Präsenzzeit) verstanden. Den Autoren geht es darum zu zeigen, dass Synchronie (1) anhand von (a) motorischen, (b) prosodischen, (c) physiologischen und (d) neuronalen Variablen gemessen und statistisch ausgewertet werden kann und (2) insbesondere für den Embodiment-Ansatz von hoher Relevanz ist. Schließlich, so die Autoren, stehen auch hier nonverbale bidirektionale Wechselwirkungen zwischen Psyche und Körper im Fokus. Damit ist dieser neue Forschungsansatz auch für die Psychotherapieforschung von zentraler Bedeutung, wo körperspezifische Synchronisation häufig vernachlässigt wurde. Wilfried Rappenecker, der Pionierarbeit in der Etablierung der Shiatsu-Ausbildung in Deutschland mit Schulen in Hamburg und Berlin leistete, spricht mit Stefan Pfänder über Resonanz und Rhythmus im Shiatsu. Anders als in der Schulmedizin geht es in einer Shiatsu-Behandlung vor allem darum, die bestehende Resonanz zwischen Behandelndem und Klienten zunächst zuzulassen, um sie wahrnehmen und beobachten zu können. Mittels des »sechsten Sinnes der Resonanz« wird der ganze Mensch in seiner Einheit von Körper, Seele und Geist spürbar. Erst so wird es möglich, die Idee des Shiatsu umzusetzen, nämlich Energieflüsse im Sinne von Wohlbefinden, Selbstheilungskraft und Gesundheit

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zu aktivieren. Dabei weist Rappenecker einerseits auf die enge Verbindung von Leiblichkeit, Emotionalität und Rhythmizität im Resonanzraum hin, betont aber auch die Herausforderung, sich auf den Klienten einzulassen, ohne sich selbst und seinen subjektiven Erfahrungsraum zu verlassen. Andreas Hamburger und Susanne Metzner eröffnen die fünfte Sektion über Resonanz als Widerhall der Geschichte. Ihr Kapitel unternimmt eine Rekonstruktion eines Zeitzeugnisses der Shoah mittels eines multimethodischen Ansatzes. Um den »Widerhall des Vergessenen zu spüren« und eine »personalisierte Leerstelle im kollektiven Geschichtsbewusstsein« zu füllen, verbinden sie zwei unterschiedliche Forschungsansätze: die szenisch-narrative Analyse und die musikalisch-künstlerische Darstellung. Damit rücken auch sie – wie schon Tschacher und Ramseyer sowie Rappenecker (s.o.) – körperliche Resonanzphänomene in den Fokus, um mehr zu verstehen, als Worte sagen können; in Bezug auf eine Situation, in der nach Shmuel B gilt: The voice was lost, right now, here. Mit der szenisch-narrativen Mikroanalyse des Videomaterials zielen die Autorin und der Autor zunächst darauf ab, unbewusste Resonanzphänomene zwischen Interviewtem und Interviewenden zu erfassen. Die darauf folgende Auswertung geschieht durch eine psychoanalytisch geschulte Expertengruppe, mit deren Hilfe sich die Lebensgeschichte des Zeitzeugen im Sinne eines »subjektiv opaken autobiographischen Narrativs« rekonstruieren lässt. Dieser Zugriff wird nun durch einen musikalisch-künstlerischen Ansatz ergänzt, der in drei Schritten zur Anwendung kommt: (1) Zunächst hört eine Musiktherapeutin nur die Klangspur des Materials, lässt diese gemäß Martin Seels Konzept der atmosphärischen Wahrnehmung auf sich wirken, um sie dann in einer freien Vokalimprovisation im Sinne der sogenannten Sonifikation zu vertonen. (2) Anschließend beschreiben neun erfahrene Musiktherapeuten ihre freien Assoziationen beim Hören dieser Improvisation, was ohne vorherige Information aus einer Höranalyse geschieht. (3) In einem dritten Schritt wird eine phänomenologisch-hermeneutische Textinterpretation von drei der neun Wortbewegungen vorgenommen, die abschließend mit den Ergebnissen der szenisch-narrativen Analyse zusammengeführt wird. Auch Jasmin Bleimling untersucht videographierte Zeitzeugengespräche von Holocaust-Überlebenden und liefert eine empirische Analyse von moments of meeting. Dabei lässt sich ihr Beitrag als eine Evaluation der Kongruenz von Worten und Bewegungen einerseits mit (statistisch-)empirischen und (psychoanalytisch-)hermeneutischen Forschungsansätzen andererseits lesen. Ihre zentrale Frage – und damit der methodische Prüfstein – ist, inwiefern beide Ansätze dazu geeignet sind, sogenannte moments of meeting oder now moments (nach Daniel Stern) zu identifizieren, die im Kontext der Zeitzeugengespräche als Ausdruck traumatischer Ereignisse im gemeinsamen Handlungsdialog zwischen

26 | B REYER/PFÄNDER den Interviewpartnern verstanden werden können. Ein besonderer metatheoretischer Beitrag dieses Kapitels besteht darin, dass Bleimling in ihren Analysen die Kongruenz der verwendeten Methoden kritisch diskutiert. Veronika Heller stellt sich mit ähnlicher Intention die Frage, auf welche Weise bewegungsanalytische Perspektiven auf ein Zeitzeugengespräch das Erinnerungsgeschehen in Handlungsdialogen verständlicher machen können. Bei ihrer Auseinandersetzung mit einem Videoausschnitt, der den Interviewer Kurt Grünberg im Gespräch mit Frau K zeigt, lässt sie sich von der These leiten, dass »gerade im leibhaftigen In-Erscheinung-Treten der Überlebenden und ihrer Gesprächspartner […] besondere Chancen der Begegnung und des Verstehens« liegen. Mittels ausführlicher Beschreibung der Szene sowie einer Motion Energy Analysis (MEA) nach Ramseyer wird das Synchronisierungsgeschehen im Sinne einer verstehenden Resonanz sichtbar und dadurch die Erinnerung im gemeinsamen Handlungsdialog zugänglich gemacht. Diese Ergebnisse halten dazu an, »den Anteil der Bewegungsdynamik an der Entstehung von Sinn und Bedeutung anzuerkennen«. Gabriele Brandstetter leitet den sechsten und letzten Teil des Bandes über Resonanz in ästhetischer Erfahrung: Tanz, Bild und Filmmusik ein. Dabei knüpfen ihre Ausführungen über Synchronisierungen von Bewegungen im zeitgenössischen Tanz zur Relevanz von somatischen Praktiken in den Arbeiten von Jefta van Dinther methodisch an den bewegungsanalytischen Ansatz der vorigen Beiträge an. Um sich dem Synchronisations- und Resonanzgeschehen im Tanz anzunähern, entfaltet die Autorin eine vielschichtige Bewegungsanalyse dreier Tänzer des Stückes Kneeding von Jefta van Dinther. Sie beschreibt (auch mit Rekurs auf Einschätzungen ihrer Arbeitsgruppe Balance, Rhythmus, Resonanz) zum einen Bewegungen und Bewegungswahrnehmung auf den Ebenen (a) der einzelnen Tänzer, (b) zwischen den Tänzern, sowie (c) zwischen Tänzern und Publikum. Andererseits vertieft sie diese Einsichten, indem sie den geistesgeschichtlichen Hintergrund skizziert, vor dem der Ansatz von van Dinther entsteht. Dessen Leistung, zwischenleibliche Resonanz zwischen den jeweiligen Akteuren mittels somatischer Praktiken zu inszenieren, wird abschließend aus einer interdisziplinären Perspektive betrachtet. So lässt sich beispielsweise fragen, inwieweit sich in den Synchronisierungsprozessen, die sich in Bewegungsanalysen von Tänzern aufweisen lassen, strukturelle Analoga zu den mehrfach diskutierten now moments in Gesprächsanalysen identifizieren lassen (vgl. Bleimling). Der Stummfilmmusiker Günter Buchwald diskutiert mit Stefan Pfänder über Resonanz in der Filmmusik. Filmmusik, so Buchwald, bewegt sich immer auf dem »schmalen Grat zwischen Manipulation bzw. Aufsaugen einerseits und In-

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tuition bzw. Hingabe andererseits«. Dies liegt darin begründet, dass wir gut gemachte Filmmusik intuitiv miterleben – sie nach Max Steiner eher fühlen als hören – und sie deswegen in der Lage ist, sowohl schöne und spielerische als auch erschreckende Assoziationen und Erinnerungen zu wecken. Betrachtet man mit diesem Wissen die zeitliche Dynamik zwischen Bild und Musik genauer, dann kann Filmmusik im Vorhinein bestimmte Antizipationen wecken sowie im Nachhinein wie ein Kommentar wirken. Diese dynamische Resonanz zwischen (bewegtem) Bild, Musik und Publikum ist für den Interviewten das ›Schillernde‹ der Filmmusik, was den Filmmusiker in seiner Tätigkeit immer wieder aufs Neue herausfordert. Doris Titze betrachtet Resonanz im Bild in der Kunsttherapie und stellt dar, wie sich das Fremde und das Eigene im Bild artikulieren. Zunächst erlaubt uns das Anfertigen eines Bildes Gefühle, Erinnerungen, Sorgen und Konfliktsituation sowie Wünsche, Hoffnungen und Ideen zu visualisieren (wie Titze an eindrücklichen Beispielen wie den Besuchern eines ehemaligen Vernichtungslagers der Nationalsozialisten oder dem Zeichner Luz der Zeitschrift Charlie Hebdo ausführt). Auf diese Weise erscheint das Bild für uns selbst und für das Gegenüber als ein »sichtbar gemachtes Nachdenken« (William Kentridge), welches so als Bezugsmedium für vielfältige therapeutische Konstellationen verfügbar wird. In Gruppen- oder Paartherapien können die Teilnehmer mit Resonanzbildern (Gisela Schmeer) ein individuell erstelltes Bild kommentieren und so mit ihrer empathischen, aber stets autonomen Sichtweise bei der Bewältigung emotional belastender Erlebnisse helfen. Auch der Therapeut kann Bilder im Sinne eines formanalytischen Spiegelbildes nutzen, um im gemeinsamen Zeichendialog konstruktive Wege aus schwierigen Situationen zu finden. Marion Lauschke reflektiert in ihrem Beitrag auf die Dynamisierung von Bildräumen und erläutert Resonanz als ästhetische Strategie gelingenden Lebens. Dabei bestimmt sie den Resonanzbegriff zunächst als ein unbewusstes Bewegt-Werden des Sehenden durch das Gesehene, genauer: des leibkörperlichen Betrachters durch das Kunstwerk. In einer Analyse der Eisenbahnbrücke über die Avenue Montmajour (Vincent van Gogh 1888) wird gezeigt, wie die dynamische Bildkomposition die Körperlichkeit des Betrachters in die Szene einbezieht und zugleich irritiert und wieder ausschließt. Welche unbewussten körperlichen Resonanzen sich dabei einstellen, präzisiert die Autorin anhand des kunstpsychologischen Begriffs der motorischen Resonanz nach Richard MüllerFreienfels. Abschließend betont sie mit dem Konzept der Elementareinheit des Verhaltens nach John Dewey die resonante Einheit zwischen Organismus und Umwelt einerseits sowie zwischen Sensorik, Motorik, Emotion und Kognition

28 | B REYER/PFÄNDER andererseits, die es uns erlaubt, den »fragilen Zustand« ästhetischer Erfahrung zu erreichen.

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1 Resonanz denken: Theoretische Annäherungen an ein komplexes Phänomen

Resonanz und Interaktion Eine philosophische Annäherung anhand zweier Proben T HIEMO B REYER & A LEXANDER G ERNER

Der Aufsatz beleuchtet das Phänomen und die Begrifflichkeit der Resonanz anhand unterschiedlicher Formen der Interaktion. Nach einer ideengeschichtlichen und metaphorologischen Situierung des Resonanzkonzepts werden einige grundlegende Differenzierungen eingeführt, die dazu beitragen, die Vielfalt der Erscheinungsformen und Effekte von Resonanz zu ordnen. Anschließend wird insbesondere die Frage nach dem Verhältnis von Aktivität und Passivität sowie die spezifische Zeitstruktur von Resonanzerfahrungen mittels zweier Proben behandelt: Als erstes Beispielszenario dient das gemeinsame Musizieren, als zweites das gemeinsame Schweigen im Kontext der Psychotherapie.

Keywords: Resonanz; Interaktion; Aktivität; Passivität; Zeitlichkeit

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1 E INLEITUNG Das Konzept und die Metaphorik der Resonanz haben in den vergangenen Jahren in der phänomenologischen Philosophie ebenso wie in den Kultur- und Sozialwissenschaften einen erheblichen Aufschwung erlebt und werden zur Erschließung unterschiedlichster Interaktionszusammenhänge verwendet. So findet der Begriff der Resonanz Verwendung zur Beschreibung der unmittelbaren Gesichtsbeziehung in der zwischenleiblichen Begegnung, die sich entwicklungspsychologisch bis in die frühesten ontogenetischen Phasen zurückverfolgen lässt, über die dialogischen Strukturen verbaler Kommunikation, die in der Soziolinguistik erforscht werden, bis hin zu den Rezeptionslinien zwischen Produzenten und Rezipienten ästhetischer oder wissenschaftlicher Werke, die in den historischen Kulturwissenschaften thematisch werden. Ihrem ideengeschichtlichen Ursprung nach sind »Resonanz-Modelle […] Übertragungsmodelle, die nach der Logik der mitschwingenden Saite funktionieren.« (Welsh 2009: 105) Dabei gibt es bei der »sympathetischen Resonanz« zwischen zwei gleichgestimmten Saiten eines Instruments stets eine Marge der Ungenauigkeit: »die Eigenfrequenz der anzuregenden Saite muss nur annähernd mit der gespielten Saite übereinstimmen. Die mögliche Abweichung oder Ähnlichkeit, die das Resonanzereignis zulässt, legt eine Metaphorik nahe, in der Fremdes zum Eigenen werden kann.« (Lichau/Tkaczyk/Wolf 2009: 19) Das Resonanzkonzept bietet also im Vergleich etwa zur optischen Metapher der Spiegelung als einer isomorphen Mimesis ein breiteres Spektrum von Anwendungsmöglichkeiten, insbesondere dort, wo es um in der Kulturwissenschaft relevante Kontextualisierungen, Historisierungen und selbstreflexive Rekursionen geht. Aus der Akustik stammend, verweist der Begriff der Resonanz im sonare auf ein hörbares Klingen, zum anderen deutet das re auf eine Richtungsbestimmung hin, nämlich auf einen Widerhall oder ein Gegenschwingen. In der Musik kann der Ton eines Instruments in einem gleich gestimmten anderen Instrument nicht nur diesen Ton in seiner messbaren Frequenz, sondern auch seine Obertöne mit aufrufen. Hier deutet sich bereits an, dass Resonanz mehr ist als eine bloße Wiederholung oder Dopplung, die sich allein durch Grade der Intensität vom auslösenden Ereignis unterscheiden würde. Resonanz spielt nicht nur als mechanisches und quantifizierbares Phänomen der homogenisierenden Übertragung, An- und Abgleichung von Schwingung, Oszillation, Vibration und Rhythmus zwischen physischen Körpern eine Rolle, sondern zeigt sich ebenso auf der Ebene der komplexen sozialen Interaktion zwischen Lebewesen und ihrer Umwelt.

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UND I NTERAKTION

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»Das Schema von Ursache-Wirkung, von Reiz-Reaktion im positivistischen Sinne erfasst dabei nur eine schmale Bandbreite des Geschehens. Die aufnehmenden Körper repetieren nicht, was sie da trifft. Sie geraten in ein Mitschwingen.« (Lippe 2010: 99) Es gibt, so betrachtet, immer einen Spielraum der Abweichung und der kreativen Emergenz, was Resonanz als heuristisches Konzept für die Beschreibung unterschiedlicher Formen der Interaktion als vielversprechend erscheinen lässt. Für die menschliche Interaktion mit Objekten und anderen Akteuren kann ein ganzes Spektrum möglicher Auslöser und Medien der Resonanz aufgespannt werden, das Werke der Kunst, Musikinstrumente, andere Leiber, kognitive Schemata und vieles mehr umfasst. So wird beispielsweise in der Literatur die Textwirkung beim Leser, in der Musik die emotionale Reaktion des Hörers auf ein Stück, beim Musizieren das immersive Erlebnis der Verschmelzung mit dem Instrument oder des flows mit anderen Musikern, in der zwischenleiblichen Begegnung die Synchronisierung von Körperbewegungen und die Interaffektivität1 als Resonanz bezeichnet. Was die Direktionalität der Resonanzbewegung betrifft, so lassen sich einige schematische Unterscheidungen treffen. Zum einen kann von einer reflektierenden Resonanz dort gesprochen werden, wo – gemäß der akustischen Metaphorik – ein Schall auf einen Gegenstand trifft und von diesem zurückgeworfen wird, ohne dass der Gegenstand selbst hiervon beeinflusst oder in Schwingung versetzt würde. Übertragen auf die zwischenmenschliche Interaktion hieße das, dass ein Akteur dem Anderen bestimmte Ausdrücke nur äußerlich ›spiegelt‹, ohne von dem mit diesem Ausdruck jeweils einhergehenden affektiven Gehalt ›im Inneren‹ betroffen zu sein und mit ihm ›mitzuschwingen‹. Zum anderen kann von einer absorbierenden Resonanz die Rede dann sein, wenn ein Schall auf einen Körper trifft, der die Fähigkeit zur Eigenresonanz2 besitzt, in diesen eindringt und in ihm weiterhallt. Auch die Kombination beider Modi ist in der In-

1

Vgl. zum Zusammenhang von affektiver Einstimmung, Resonanz und sozialer Interaktion Mühlhoff (2015), der mit seinem Konzept des In-Resonanz-Seins den erlebbaren, nicht-quantifizierbaren Überschuss der Interaffektivität betont, der über systemdynamische Synchronisierungs-, Korrelierungs- und Koordinationsprozesse sowie das homogenisierende Abgleichen ›innerlicher Gefühlszustände‹ hinausgeht.

2

Entwicklungspsychologisch gedeutet ist relevant, dass Säuglinge bereits im ersten Lebensmonat nichtvegetative Schallsignale und Gurrlaute als erste Vokalisierungen ausstoßen können, die zunächst zufällig entstehen mögen, aber in späteren Monaten zu lallartigen attentionalen Resonanzproben werden, die man als »quasi-resonant nuclei of the ›phonation stage‹ (0-1 month)« bezeichnen kann (Oller 1980: 235).

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teraktion beobachtbar, etwa wenn der Ausdruck (mimisch, gestisch oder verbal) des Einen sich in einen Eindruck des Anderen verwandelt, was dann aber auch wieder einen Ausdruck erzeugt, den der Eine wiederum wahrnehmen kann. Wichtig ist die Unterscheidung eines Mitschwingens als beidseitige Resonanz, wenn eine genuine Interaktion im Sinne dieser Zirkularität stattfindet. Dieser stärkere Begriff von Resonanz impliziert, dass keine abbildhafte Reproduktion der Sonanz vorherrscht, sondern im Re- ein Eigenbeitrag des Resonanzkörpers zum Resonanzgeschehen steckt, der dieses somit als einen kreativen Vorgang auszeichnet. Sonanz und Resonanz stehen unter diesem Gesichtspunkt in einem asymmetrischen Verhältnis. Allerdings gibt es auch schon ein initiales Einschwingen, wenn eine einseitige Resonanz eintritt, z.B. bei einer Theateraufführung, wenn Zuschauer in den emotionalen Zustand eines Schauspielers einschwingen, ohne dass dieser reziprok zurückschwingt. Ein anderes Beispiel hierfür wäre ein Fernsehzuschauer, der den Hals reckt, wenn der Torwart sich zum Fangen des Balles in die Luft schraubt. Die Fähigkeit, eine solche mitempfindende mimetische Resonanz gleichsam aus der Distanz auszulösen, haben visuelle ebenso wie akustische Medien. Begreift man Resonanz – wiederum im Sinne der Akustik, wo es um die Übertragung von Schallwellen durch die Luft geht, die als Medium fungiert – als Zwischenphänomen oder Zwischenereignis, das sich zwischen mehreren Entitäten abspielt, dann kann man im einfachsten Fall einer Dyade ferner unterscheiden zwischen Eigen- und Fremdresonanz sowie zwischen unterschiedlichen Graden der Thematizität der Resonanz für die Beteiligten. Als Beispiel für eine stark ausgeprägte und auch als solche bewusst wahrgenommene Eigenresonanz wird häufig auf flow-Erlebnisse hingewiesen, wie etwa beim Dauerlauf nach dem Überschreiten des sogenannten toten Punktes, beim Musizieren, wenn das Instrument wie ein Teil des Selbst erlebt wird, oder beim Denken, wenn einem Ideen oder Einsichten – was freilich selten genug passiert – geradezu zuzufallen scheinen. Auch wenn hier keine andere Person als Interaktant am Resonanzgeschehen mitwirkt, so ist doch auch in der Erfahrung der Eigenresonanz immer ein Element der Andersheit mitgegeben, als dasjenige, woraus man etwas empfängt. Das Einswerden mit dem Rhythmus des eigenen Körpers, die Verschmelzung mit einem externen Gegenstand wie dem Musikinstrument oder das Einwilligen in Einfälle, die man nicht einfach herbeizitieren kann, sind Beispiele für im eigenen leibkörperlichen und kognitiven Erlebniszusammenhang sich ereignende Resonanzphänomene. Natürlich gibt es aber auch zahlreiche Möglichkeiten, in der Eigenresonanz gestört zu werden, etwa durch Krankheiten oder in Überlastungssituationen. Bei anhaltender Anstrengung, Ermüdung oder Verlust der Konzentration lässt sich die Eigenresonanz nicht beliebig lange aufrechterhalten,

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wodurch der Fremdheitsaspekt des eigenen Körpers oder des Denkens im Sinne eines Widerstands bzw. Widerstreits eigens thematisch werden kann. Bei der Fremdresonanz, die ihren Ausgangspunkt im Anderen bzw. in etwas Übergreifendem (einer Atmosphäre)3 hat, stellt sich die Frage, auf welchen Erfahrungsebenen im Selbst jeweils ein Mitschwingen erzeugt wird, von der viszeral-vitalen4, der leiblich-affektiven bis zur kognitiv-sprachlichen Ebene. Wie die alltägliche Erfahrung, insbesondere aber auch die Psychologie und Psychopathologie5 zeigt, kann auch die Fremdresonanz abbrechen, etwa wenn der Andere sich plötzlich rigide verhält bzw. aus der Interaktion aussteigt, oder wenn eine Stimmung aufgrund bestimmter interner oder externer Faktoren umkippt und man sich nicht mehr als Teil eines kollektiven Zusammenhangs erlebt. In der Resonanz mit dem Anderen wird jedenfalls die Resonanz (1) der Eigenheit in der Fremdheit und (2) der Fremdheit in der Eigenheit erlebt. Man erfährt sich dabei einerseits als passiv mitgerissen, andererseits als aktiv mitschwingend. Resonanz ist so gesehen ein paradigmatisches Erfahrungsformat von Intersubjektivität. Fragen wir erneut nach der Thematizität oder dem Grad der Bewusstheit, so können wir unterschiedliche Formen der Resonanz unterscheiden: (a) unbewusste Formen wie die zwischenleibliche Synchronisierung (vgl. Tschacher/Ramseyer in diesem Band), die zwar als positive Qualität des gemeinsamen Erlebens gespürt werden kann, aber keiner direkten und bewussten Ausführungskontrolle oder Selbstreflexion zugänglich ist. Bei einer (b) empathischen Resonanz hingegen, im Rahmen derer man sich auf den Anderen emotional so zubewegt, dass man mit ihm mitfühlt und seine Freude oder sein Leid teilt, ist das Resonieren selbst durchaus bewusst – man kann sich in es sogar vertiefen und es im Verlauf der Interaktion durch zusätzliche Details anreichern. Zu

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Atmosphären kann man als »ganzheitliche räumliche Ausdrucksphänomene« bezeichnen, »die unbestimmt und diffus über die Weite des Umraums verbreitet sind. Man tritt in eine romanische Kirche und spürt die erhabene Stille der dunklen, kühlen Halle; man taucht ein in die lärmende Fröhlichkeit eines Jahrmarkts oder spürt die drückende Schwüle über der Landschaft vor einem nahenden Gewitter.« (Fuchs 2000: 213)

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William James (1884) beschreibt die Wichtigkeit der viszeralen Rhythmen wie Atemrhythmus, Herzschlag und Muskeltonus auf die affektive Situation des Leibes, die in der zwischenleiblichen Resonanz der Interaktion eines Ein-, Gegen- oder Zusammenstimmens eine wichtige Rolle spielt.

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In der phänomenologischen Psychopathologie ist Resonanz auch ein Konzept, mit dem die Vermittlungen zwischen Gehirn, Leib und Umwelt bestimmt werden (vgl. Fuchs 2008).

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unterscheiden ist hier erneut zwischen einer einseitigen Resonanz, bei der ein Subjekt (der Empathisierende) sich mit dem anderen (dem Empathisierten) einschwingt, ohne dass von diesem eine Rückschwingung ausgeht. Dies kann dann der Fall sein, wenn z.B. die Trauer einer Person so groß ist, dass sie paralysiert und zu keiner Schwingungsaufnahme fähig ist, die mitleidende Person sich durch diese Trauer jedoch affizieren lässt, also auf sie einschwingt. Beidseitige Resonanz bezeichnet demgegenüber den Modus, in dem beide sich wechselseitig aufeinander einschwingen. Eine Stimmung, die sich bis zur Euphorie hochschaukeln kann, wenn sie von den Teilnehmern durch interaktiv-verstärkende Resonanz geteilt wird und die Gemeinsamkeit des Erlebens darüber hinaus bewusst wahrgenommen und wertgeschätzt wird, ist ein Beispiel dafür, dass hier eine neue Qualität – ein Emergenzeffekt (vgl. Buchleitner, in diesem Band) – entsteht. Die folgenden beiden Abschnitte zum gemeinsamen Musizieren und zum gemeinsamen Schweigen verstehen sich nun als gedankliche Proben, die über interaktionale Strukturen der Resonanz Aufschluss geben können. Der Begriff der Probe bietet sich hierfür deshalb an, weil er zum einen auf den sondierenden Charakter der Untersuchung verweist, zum anderen aber auch auf ein Merkmal von Resonanz selbst aufmerksam macht: dass es nämlich, um bestimmte Formen interpersonaler Resonanz zu erzeugen, durchaus intensiven Probens bedarf. Ein Gemeinschaftsprojekt wie die Aufführung eines Musikstücks etwa gelingt nicht ohne ausreichende Vorbereitung und gemeinsames Üben. Im Begriff der Probe steckt in diesem Sinne (1) ein »vorbereitendes« Eruieren, ein »anschauliches Umdenken« (Husserl 2012: 389) und (2) ein notwendig in der lebensweltlichen Erfahrung fundiertes »mittätiges« Probehandeln bzw. ein Vorentwurf des Denkens. Der experimentelle Charakter dieser Proben zu Resonanz und Interaktion steht unter dem Doppelaspekt des (a) vorausgreifenden Erprobens und (b) des heuristischen Sondierens6, da in Proben zukunftsgerichtete Handlungsfähigkeit7

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Das Sondieren zielt auf einen inventiven Probenbegriff ab, der ein attentionales, interessegeleitetes Einstimmen ebenso wie ein spezifisches Sondern, also synthetisierende ebenso wie analytische Elemente, beinhaltet. Die Findigkeit der Sonde ist dabei nicht nur in der durch sie ermöglichten technisch erweiterten Suchfähigkeit zu sehen, wie etwa bei einem medizinisches Instrument (z.B. einer Zahnsonde), das Stellen abtastet und somit auf die Probe stellt, die mit der bloßen Hand nicht zu erreichen sind. Das inventive Moment der Sonde besteht vielmehr in der Erfahrbarmachung des Unvorhersehbaren durch verkörperte, ausgedehnte, eingebettete und enaktive Prozeduren der Erkenntnisgewinnung, die über den Bereich des selektiven (Aus-)Sonderns hinausgehen.

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zwischen enaktiven Improvisationsaktivitäten und gedanklichen Kompositionsentwürfen in Szene gesetzt werden können.8

2 P ROBE 1: R ESONANZ IM ÄSTHETISCHEN T UN ALFRED S CHÜTZ ÜBER DAS GEMEINSAME M USIZIEREN Die erste Probe zur Resonanz widmet sich dem sozialen Einstimmen (tuning in), wie es von dem Phänomenologen Alfred Schütz in seinem Aufsatz Gemeinsam musizieren9 beschrieben wird. An seinen Ausführungen zeigt sich, wie der intermediäre Modus von Resonanz im gemeinsamen Zuhören und Spielen zur Konstitution von Gemeinschaft beiträgt. Schütz bestimmt das musikalische Erleben als vorbegriffliche Form der interaktiven Aisthesis, die »zur Erhellung des sozialen Aspekts der Struktur der sozialen Interaktion als solcher« (Schütz 2016: 130) beitragen kann. Gleich im ersten Satz dieser Studie unterstreicht er: »Musik ist ein Sinnzusammenhang, der nicht an ein Begriffsschema gebunden ist« (ebd.: 129). Vielmehr lässt sich der musikalische Sinnzusammenhang im Vorbegrifflichen verorten, was für Schütz impliziert, dass die soziale und ästhetische Qualität des Musikmachens und seiner sozialen Einbettung von spezifischen musikalischen Notationssystemen unabhängig fungiert. Diese sind nur sekundäre technische Ausdrucksmittel, die zur konventionellen Reproduktion eines Musikstücks erforderlich sind (ebd.: 133). Wie Schütz betont, kann der Musikprozess »zu einer Klärung der Beziehung des Sich-aufeinander-Einstimmens und des Kommunikationsprozesses als solchen […] führen« (ebd.: 149). Was nun die soziale Beziehung zwischen den Mitspielenden angeht, so gründet sie »auf der gemeinsamen Teilhabe an verschiedenen Zeitdimensionen« (ebd.). Diese Teilhabe ist dreifach gegliedert: (1) als zeitliche Teilhabe »am Erlebnis des anderen in der inneren Zeit«, (2) als

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Waldenfels (2004: 238) bemerkt hierzu: »Our actions are […] more staged than produced […], running through phases of hesitation and rehearsals.«

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In den performativen Künsten wie z.B. beim Theater füllt jeder Spieler während einer Probe seine Rolle interaktiv auf der Bühne erst allmählich auf, er tastet sich vor und legt sich vorläufig seine »Äußerungen, Verrichtungen, Reaktionen zurecht« (Brecht 1994: 454). Proben bieten damit die Handlungsmöglichkeit, mit Phänomenen in ihrer Variationsbreite in vorläufigen Erkundungsphasen umzugehen.

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Dieser Text wurde 1951 zunächst auf Englisch veröffentlicht: »Making music together. A study in social relationship«, in: Social Research 18(1), S. 76-97. Im Folgenden wird er aus der deutschen Werkausgabe von 2016 zitiert.

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raumzeitlich geteiltes Proben der »Beziehung des Wechselseitig-sich-aufeinander-Einstimmens« und (3) als Erfahrung des »Wir« (ebd.: 145). Diese drei sozialen Resonanzlagen werden konstituiert im prozessual-enaktiven und gleichzeitigen »Durchleben einer gemeinsam lebendigen Gegenwart« (ebd.; vgl. Oertel/Konieczny in diesem Band). Die Gleichzeitigkeit im gemeinsamen Musizieren ereignet sich für Schütz dabei aber nicht ausschließlich durch die Teilhabe an der subjektiven Erlebniszeit der Spieler, durch die sich eine qualitative Wiedererschaffung (rekursive Poiesis) der musikalischen Gedanken des Komponisten aktualisiert. Das gemeinsame Musizieren spielt sich ebenso in einer »nahen Gesichtsfeldbeziehung« (ebd.: 148) des direkten Miterfassens der geteilten »äußeren Zeit« und eines »gemeinsamen Raumsektors« (ebd.) ab. Dieses unmittelbare Miterfassen und leibliche Affiziertsein durch die Einschaltungen der Anderen als Proben dynamischer Aufführungstätigkeit umfassen alle Ausdrücke und Haltungen der Musizierenden, wie z.B. ihre Gestik beim Spielen des Instruments. Die soziale Beziehung der als Wir empfundenen »reziproke[n] Teilhabe am Erlebnisfluß des anderen« (ebd.: 149) hat in Schütz’ Beispiel in der räumlichkörperlichen Anordnung der Kammermusiker seinen Anhaltspunkt. Dabei kann eine Sitzordnung durchaus auch als störend wahrgenommen werden, etwa wenn die Mitspieler sich nicht sehen können und somit außer Stande sind, das Gesichtsfeld und die damit einhergehende Zwischenleiblichkeit in gestischen Interaktionen zu teilen. Die durch geteilte Aufmerksamkeit charakterisierte Gesichtsfeldbeziehung beim Proben des musikalischen Wir ist auf eine kleine Anzahl von Mitaufführenden beschränkt. Im Unterschied dazu bedarf eine größere Gruppe von Musizierenden der Vermittlung eines Dritten, beispielsweise eines Chorführers, Continuospielers, Konzertmeisters oder Dirigenten, um entsprechende Synchronisierungen herzustellen. Bernhard Waldenfels hebt mit Blick auf Schütz’ Ausführungen die geteilte Erfahrung des gemeinsam Musikmachens hervor, die uns zeigt, dass der Musiker in eine intermodale Atmosphäre eingestimmt sein muss, in der Hörereignisse nicht gegen Blickereignisse auszuspielen sind, sondern er ineins spielend hört und hörend spielt. Das bedeutet, dass kein Musiker als solipsistisches Subjekt ein in sich geschlossenes egozentriertes Spiel spielt, vielmehr bedarf es nach Waldenfels (2010: 166) eines »innermusikalischen Hörens, das über das Zuhören seitens des Auditoriums weit hinausgeht«. Hierbei können drei Momente von Eigen- und Fremdresonanz differenziert werden: (1) ein Sich-Hören im originären Echo des Anderen, (2) eine innere Mehrstimmigkeit, in welcher der Leibkörper, durch den die Anderen wahrgenommen werden, »kein bloßes Registriergerät, sondern ein mitschwingender Resonanzkörper« ist, und (3) eine Mitte des

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Musizierens, die keinem der Mitspieler alleine zukommen kann, sondern in der jeder Leib auch »Züge eines Fremdkörpers annimmt« (ebd.: 170). Wichtig ist hierbei, dass in musikalischen Proben noch keine festen Rollen zwischen »Hersteller« und »Empfänger« zugewiesen sind und allem gemeinsamen Tun etwas durchaus »Improvisatorisches (ebd.: 167) eignet, bei dem es zu konvergierenden, aber eben auch divergierenden Aufmerksamkeitslenkungen im Zusammenspiel der Musizierenden kommt. Deshalb ist für Schütz das gemeinsame Durchlaufen eines zu probenden Werkes ein besonders bedeutsamer Punkt für seine Konzeption des musikalischen Sinns: »Der musikalische Sinn […] kann nur dadurch erfaßt werden, daß man in den fließenden Verlauf eintaucht und dabei die gegliederten musikalischen Ereignisse so reproduziert, wie sie sich in polythetischen Schritten in der inneren Zeit entfalten“ (Schütz 2016: 144). Polythetisch bedeutet – in der von Husserl übernommenen Terminologie – vielstrahlig, also durch mehrere aufeinanderfolgende intentionale Bezugnahmen charakterisiert. Während beispielsweise ein Satz der Geometrie (wie der Satz des Pythagoras) in seiner logischen Bedeutung monothetisch, also auf einen Blick erfasst werden kann, ohne die einzelnen Schritte seiner Herleitung oder seines Beweises durchlaufen zu müssen, ist für Schütz der Sinn eines musikalischen Werkes wesenhaft polythetisch. Im kontinuierlichen Erlebnis der einzelnen Phasen des Werkes nimmt der Musizierende ebenso wie der Zuhörer an der lebendigen inneren Zeitlichkeit teil, die auch schon für den Komponisten prägend war. Die musikalische Resonanz erstreckt sich somit über unterschiedliche Zeitdimensionen und Funktionsrollen der im musikalischen Gesamtprozess beteiligten Akteure.

3 P ROBE 2: R ESONANZ IM THERAPEUTISCHEN N ICHTTUN T ADASHI M ATSUO ÜBER DAS GEMEINSAME S CHWEIGEN Vom ästhetischen in den therapeutischen Bereich überwechselnd, soll nun die Möglichkeit von Resonanzreparaturen thematisiert werden, bei der sich die Frage stellt, inwiefern eine geteilte Passivität zwischen Selbst und Anderem die soziale und psychische Situation maßgeblich prägen kann. Wir widmen uns den Ausführungen des japanischen Phänomenologen Ichiro Yamaguchi in seinem Buch Ki als leibhaftige Vernunft (1997). Dort stellt er den Psychiater Tadashi Matsuo vor, der seine Therapie des autistischen Patienten »T« schildert.

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Yamaguchis Erörterung dessen, was im Verlauf dieser Therapie geschieht, ist eingebettet in seinen Versuch, das aus der chinesischen Naturphilosophie stammende Konzept des Ki mit der europäischen, insbesondere phänomenologischen Philosophie zu vermitteln. Im ursprünglichen Wortsinne bezeichnet Ki »die Luft oder etwas Luftartiges« (Yamaguchi 1997: 62), an dem Individuen teilhaben, das also nicht von diesen erzeugt wird, sondern als Medium der interpersonalen Begegnung vorgängig ist. Nimmt man – der akustischen Resonanzfigur folgend – die Luft als Schwingungsmedium, in dem sich Wellen ausbreiten, ernst, dann kann man sogar noch einen Schritt weitergehen: Nicht nur existiert die Luft (oder hier das Ki) zwischen den Beteiligten an einer interpersonalen Konstellation, sie erstreckt sich, indem sie ein- und ausgeatmet wird, sogar in deren leiblichen Innenraum hinein. Die so gestiftete ›luftartige‹ Verbindung besteht vor jeder expliziten (z.B. gestischen oder verbalen) Kommunikation. Für Yamaguchi ist in dem Augenblick, in dem zwei Individuen Anteil am gleichen Ki als übergreifender Atmosphäre haben, »strenggenommen noch keine Trennung des Ich vom Anderen« (ebd.: 63) gegeben. Eine solche Trennung ist ihm zufolge erst das Ergebnis einer sekundären Form des Ki, nämlich der besonderen Aufmerksamkeit, die den Anderen für das Selbst thematisch werden lässt, indem sie auf diesen fokussiert. Im Wechselspiel der Aufmerksamkeiten entsteht so eine dialogische Situation, in der Ich und Du feste Funktionsrollen besetzen. Die therapeutische Anstrengung des Psychiaters Matsuo zielt darauf, von der attentionalen Resonanz, die üblicherweise die Bewegung zwischen Arzt und Patient reguliert, zur ursprünglicheren Dimension der atmosphärischen Resonanz zurück zu gelangen, um von dort aus eine Ich-Du-Beziehung wieder aufbauen zu können. Matsuo schildert den Fall von T, der in stationäre Behandlung kommt, wo sein Zustand als autistisch beschrieben wird: Er ist unansprechbar, zeigt eine rigide Körperhaltung und liegt oft regungslos und an die Decke starrend im Bett. In dieser Starrheit ist keine leibliche, geschweige denn eine kommunikative Resonanz möglich. Leibliche Resonanz kann zunächst als »Wahrnehmung stimmungsräumlicher Phänomene« (Fuchs 2000: 197) bestimmt werden, und in der psychopathologischen Literatur wird häufig darauf hingewiesen, dass es beim Autismus, aber auch in Zuständen wie der Depression oder der Schizophrenie bereits intrasubjektiv zu einer Hemmung oder sogar zu einem Verlust der leiblichen Schwingungsfähigkeit kommt, was auch intersubjektive Auswirkungen hat, da eine »zwischenleibliche Resonanz« (ebd.: 248) mit dem Erkrankten nicht mehr hergestellt werden kann.

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Nachdem nun die Kommunikationsversuche von Seiten Matsuos scheitern, wendet er eine Technik des gemeinsamen Schweigens an, bei der Arzt und Patient eine kompassive Erfahrung teilen.10 Zwei Stufen werden von Matuso selbst unterschieden: Zunächst ist unter Schweigen (I) eine Stille zu verstehen, die der Arzt in therapeutischer Absicht vorsätzlich erzeugt, um eine Kommunikation mit dem Patienten zu grundieren. Diese intentional gerichtete und zweckhafte Relation wird von T jedoch abgelehnt, da er sie als unterschwellige Bedrohung wahrzunehmen scheint. Im Schweigen (II) dagegen ist die Stille nur mehr ein open monitoring ohne Fixierung einer Intention, das heißt die Eröffnung eines atmosphärischen Raums zwischen T und Matsuo. Hierbei »wird die vergegenständlichende und reflektierende Intentionalität in der Lebenswelt, in der sich der Geisteskranke bedroht fühlt und aus der er in die Schutzzone des Autismus zu fliehen versucht, real aufzuheben versucht.« (Yamaguchi 1997: 70) In der gemeinsam erlebten Passivität des Schweigens (II), durch die Anteilnahme am umgreifenden atmosphärischen Ki, entsteht ein Zwischenraum zwischen Matsuo und T, der die Grundlage für explizitere Formen des Austauschs – wie etwa das gemeinsame Verspeisen von Mandarinen oder das Spazierengehen – bildet. Die Resonanzform hat sich von einem Einschwingen in das übergreifende Ganze der Situation, das zunächst beide Akteure unabhängig voneinander vollziehen können, zu einem beidseitigen Sich-aufeinander-Einschwingen verlagert. Die Passivität des gemeinsamen Nichttuns im Schweigen geht also nicht nur zeitlich im Prozess der Therapie der Aktivität des wechselseitigen Tuns voraus, sondern stellt hierfür die wesentliche Konstitutionsleistung dar. Der dialogische Austausch von Gesten und Worten wird fundiert von der Schweige- und Essgemeinschaft11, die Matsuo und T dadurch aufbauen, dass sie über viele Stunden nebeneinander sitzen, spazieren und Mandarinen austauschen.

10 Waldenfels (2015: 94) weist darauf hin, dass man in gemeinsamer Erfahrung »miteinander betroffen [ist], nicht in Form individuellen Ichs oder eines kollektiven Wir, wohl aber im pluralen Dativ oder Akkusativ: uns widerfährt etwas, uns trifft etwas, etwas kommt auf uns zu. Die Anderen treten noch nicht auf als Mitsubjekte von Akten, die im Modus des Wir vollzogen werden, wohl aber als Kompatienten, die einer leiblichen Kompassion […] unterliegen«. 11 Eine im religiösen Kontext institutionalisierte Form solcher Gemeinschaft kennen wir beispielsweise von den Kartäuser-Mönchen der Grande Chartreuse, die in Philip Grönings Film Die große Stille (2005) so eindrucksvoll vorgestellt werden. Die hier beschriebenen Umgangsformen zeichnen sich durch große Geduld im schweigsamen Umgang mit sich und mit anderen aus, durch sozusagen korporatives Teilen des Schweigens, das bestimmte Formen der sozialen Kommunikation allererst ermöglicht.

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Eine besondere Rolle kommt dabei dem Ereignis zu, dass der Arzt im Beisein von T zuweilen unwillkürlich einschläft. Mit Husserl gesprochen, ist das Einschlafen ein »Fahrenlassen der Willenspositivität« (Husserl 2008: 591), das heißt ein Übergleiten in eine Passivität, in der die Intentionen und Affektionen des Wachlebens nicht mehr aufrecht erhalten werden und das Subjekt in einen anderen Bewusstseinszustand gelangt. Für das Verhältnis zwischen Matsuo und T bedeutet das, dass das normale Berufsinteresse Matsuos, also das Therapieren durch gezielte Aufmerksamkeit und Interaktion, in den Hintergrund rückt und keine beängstigende intrusive Kraft mehr ausübt. Diese Lockerung der intersubjektiven Situation erlaubt T, sich zu entspannen und sich von Matsuo nicht mehr bedrängt zu fühlen. Im Schweigen (II) sind Matsuo und T ohne objektbezogene Aufmerksamkeit kopräsent. Matsuo berichtet, wie er in diesen Phasen nicht einmal mehr an T denke und zuweilen eben einschlafe. Nach 50 Tagen, in denen er mehrere Stunden Stille pro Tag mit T verbracht hatte, sei dieser mit ihm auf dem Bett gesessen und habe ihm durch Gesten Hinweise gegeben, dass er Obst mit ihm teilen wolle. Danach konnte er T überreden, ihr gemeinsames Schweigen auf einer Parkbank im Freien zu verbringen. In seiner Reflexion auf die Therapie von T betont Matsuo die Interesselosigkeit des Schweigens (II) im Unterschied zur Intentionalität des Schweigens (I). Am Beginn der Therapie steht eine Resonanzblockade zwischen Matsuo und T, die selbst durch das von Matsuo strategisch eingesetzte attentionale Schweigen nicht durchbrochen werden kann. Im Lauf der Zeit, durch Phasen des atmosphärischen Schweigens ohne direkte therapeutische Absicht lockert sich die Blockade und es gelingt eine Resonanzreparatur. Allmählich entfaltet sich ein Dialog über elementare gemeinsame Aktivitäten. Zum Ende der Therapie (nach eineinhalb Jahren) kann T die Klinik verlassen und lebt seither, wie Matsuo berichtet, ein einfaches Leben als Fischer.

4 S CHLUSSBEMERKUNG Am Phänomen der Resonanz lässt sich die wahrnehmungs- und handlungstheoretisch bedeutsame Frage nach Aktivität und Passivität, nach Autonomie und Fremdsteuerung des Subjekts anschaulich erörtern. Historisch hat sich diese Diskussion auch über die »Resonanz der Nervensaiten entzündet, die zwischen Physiologie, Anthropologie, Literatur und Musik im 18. und frühen 19. Jahrhundert geführt wird.« (Lichau/Tkaczyk/Wolf 2009: 24; vgl. Herzfeld-Schild in diesem Band) Hier stehen sich zwei Modelle gegenüber, die das Subjekt einmal als »heteronome, passiv in Schwingung versetzte Instanz« (z.B. Krause, Schiller)

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und einmal als »autonome[s] und schöpferische[s] Subjekt« (z.B. Lessing, Smith) konstruieren (Lichau/Tkaczyk/Wolf 2009: 25). Phänomenologisch betrachtet ist Resonanz eine Doppelfigur und verschränkt beide Dimensionen auf geradezu paradigmatische Weise: Einerseits setzt Resonanz eine Bewegung voraus, die auf das Subjekt zukommt, seiner Reaktion also vorausgeht und es passiv affiziert. Um dann aber tatsächlich mitschwingen zu können, ist von Seiten des Angesprochenen eine Resonanzfähigkeit und ein wenn auch noch so minimales Gegenschwingen erforderlich, welches aktiv zu leisten ist. Die beiden Proben, die wir aus dem Bereich des Musikalischen und des Therapeutischen genommen haben, bringen dieses Wechselspiel zum Vorschein. Vergleicht man die beiden Szenarien, fällt jedoch auf, dass sie mit Blick auf das Verhältnis von Aktivität und Passivität, intersubjektiver und atmosphärischer Resonanz unterschiedliche Bewegungsrichtungen aufweisen. Beim gemeinsamen Tun des Musizierens emergiert eine umgreifende Atmosphäre der Musikalität daraus, dass die einzelnen Musiker sich aufeinander einlassen und im zwischenleiblichen Nahraum der Gesichtsbeziehung wechselseitige Angleichungen vornehmen, also enaktiv und koaktiv agieren, um eine ästhetische Performanz in der inneren Zeit zu erleben und in der äußeren zu inszenieren. Beim gemeinsamen Nichttun des Schweigens ist hingegen ein übergreifendes atmosphärisches Ki, in das die beiden Teilnehmer der Therapiesitzungen passiv eingelassen sind, die Voraussetzung für die tastende Erprobung intersubjektiver Interaktionsformen, wodurch schrittweise ein Dialog entsteht, in dem auch kommunikative Intentionen mitgeteilt werden können.

5 L ITERATUR Brecht, Bertold (1994): Journale 1. 1913-1941. Tagebücher 1913-1922. Journale 1938-1941. Autobiographische Notizen 1919-1941 [=GBA 26], Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Fuchs, Thomas (2000): Leib, Raum, Person: Entwurf einer phänomenologischen Anthropologie, Stuttgart: Klett-Cotta. Fuchs, Thomas (2008): Das Gehirn – ein Beziehungsorgan: Eine phänomenologisch-ökologische Konzeption, Stuttgart: Kohlhammer. Husserl, Edmund (2008): Die Lebenswelt. Auslegungen der vorgegebenen Welt und ihrer Konstitution. Texte aus dem Nachlass (1916-1937) [= Husserliana 39], Dordrecht: Springer.

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Husserl, Edmund (2012): Zur Lehre vom Wesen und zur Methode der eidetischen Variation. Texte aus dem Nachlass (1891-1935) [=Husserliana 41], Dordrecht: Springer. James, William (1884): »What is an emotion?«, in: Mind 34, S. 188-205. Lichau, Karsten/Tkaczyk, Viktoria/Wolf, Rebecca (2009): »Anregungen«, in: dies. (Hg.), Resonanz: Potentiale einer akustischen Figur, München: Wilhelm Fink, S. 11-32. Lippe, Rudolf zur (2010): Das Denken zum Tanzen bringen: Philosophie des Wandels und der Bewegung, Freiburg: Alber. Mühlhoff, Rainer (2015): »Affective resonance and social interaction«, in: Phenomenology and the Cognitive Sciences 14 (4), S. 1001-1019. Oller, D Kimbrough (1980): »The emergence of the sounds of speech in infancy«, in: Child Phonology 1, S. 93-112. Schütz, Alfred (2016): »Gemeinsam musizieren: Eine Studie sozialer Beziehungen«, in: ders. Schriften zur Musik (Werkausgabe, Bd. VII), hg. von Gerd Sebald und Andreas Georg Stascheid, Konstanz/München: UVK, S. 149176. Waldenfels, Bernhard (2004): »Bodily experience between selfhood and otherness«, in: Phenomenology and the Cognitive Sciences 3, S. 235-248. Waldenfels, Bernhard (2010): Sinne und Künste im Wechselspiel: Modi ästhetischer Erfahrung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Waldenfels, Bernhard (2015): Sozialität und Alterität: Modi sozialer Erfahrung, Berlin: Suhrkamp. Welsh, Caroline (2009): »Resonanz – Mitleid – Stimmung: Grenzen und Transformationen des Resonanzmodells im 18. Jahrhundert«, in: Karsten Lichau/ Viktoria Tkaczyk/Rebecca Wolf (Hg.), Resonanz: Potentiale einer akustischen Figur, München: Wilhelm Fink, S. 103-122. Yamaguchi, Ichirō (1997): Ki als leibhaftige Vernunft: Beitrag zur interkulturellen Phänomenologie der Leiblichkeit, München: Wilhelm Fink.

Resonanz in der Soziologie Positionen, Kritik und Forschungsdesiderata D IETMAR J W ETZEL

Der Beitrag widmet sich der Aktualität und Bedeutsamkeit des Resonanzkonzeptes in der Soziologie (Abschnitt 1). In einem zweiten Schritt werden verschiedene Konzepte der Resonanz in der Soziologie erläutert (Abschnitt 2). Die folgenden Positionen/Vertreter werden dabei rekonstruiert und kritisch gewürdigt: Niklas Luhmanns Systemtheorie (2.1.), Hartmut Rosa als Vertreter der neueren Kritischen Theorie (2.2.), Vincent Miller als Vertreter der Sozialphänomenologie (2.3) und eigene Arbeiten, die sowohl (sozial-)phänomenologisch als auch empirisch ausgerichtet sind (2.4). Vier Ziele werden mit diesen Rekonstruktionen und dem Beitrag insgesamt verfolgt. Im Einzelnen bestehen diese erstens im Aufzeigen der Grenzen des Resonanzbegriffs (innerhalb der Soziologie), zweitens in der Erörterung eines primär nicht-normativen Begriffs von Resonanz, drittens in der Problematisierung der Ambivalenz des Resonanzbegriffs und viertens im Verdeutlichen der Möglichkeiten einer konzisen Verwendung von Resonanz auf verschiedenen Forschungsfeldern. Dies wird in einem Fazit mit den Punkten »Einordnung, Kritik und Forschungsdesiderata« abschließend dargestellt (Abschnitt 3).

Keywords:

Resonanz; Resonanzanalytik; Soziologie; Sozialphänomenologie; Kritik

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»Von der ›Gerechtigkeit‹ und der Transparenz, von der ›Gleichheit‹ und der ›Kreativität‹, von der ›Bewegung‹, der ›Aktion‹ und dem ›Wandel‹ versprechen wir uns alles Mögliche, weil in den Worten eine vage, aber unüberhörbare Erwartung mitschwingt, die über das, was durch die Angaben des Lexikons gedeckt ist, entschieden hinausgeht. Und genau dieser Zauber, den der Klang der Worte hervorruft, ihre Imposanz, ist mythisch. Die Magie der Sprache betört uns, weil sie durch eine überwältigende, im Augenblick unanfechtbare Positivität beglaubigt ist, die nicht mehr verlangt als sich zu öffnen und die Botschaft zu vernehmen.« RALF KONERSMANN/DIE UNRUHE DER WELT

1 E INLEITUNG : R ESONANZ IN DER S OZIOLOGIE Mit Ralf Konersmann können wir dem Begriff Resonanz eine »Imposanz« attestieren, über die andere Begriffe in der Alltags- und Wissenschaftssprache nicht verfügen. In der Soziologie allerdings verhält es sich bislang etwas anders. Strukturen, System, Lebenswelt, Integration, um nur einige zu nennen, sind als Begriffe/Konzepte im soziologischen Vokabular gängiger und üblicher als Resonanz. Schneller fündig werden wir bei einem Blick in die (Sozial-)Philosophie. Wie so häufig bei zentralen Begriffen der Sozial- und Gesellschaftsanalyse, ist die gegenwärtige Auseinandersetzung mit dem Resonanzbegriff aus der Sozialphilosophie in die soziologische Diskussion eingewandert.1 Wer sich auf die Suche nach dem Begriff der Resonanz in der Soziologie begibt, stellt jedoch fest, dass der Begriff zwar Verwendung findet, aber selten eine wichtige Rolle spielt beziehungsweise gespielt hat. In soziologischen Lexika oder Wörterbüchern findet er bislang keinen Eingang. Allenfalls der Begriff der response (engl. Antwort) taucht auf, und zwar im Kontext des Behaviorismus als: »Soziol. Bezeichnung für die äußerlich wahrnehmbare Verhaltensreaktion eines Organismus, die

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Ich nenne hier stellvertretend nur den Begriff der Anerkennung, der vor allem auch über die Arbeiten von Axel Honneth, Paul Ricœur und Judith Butler in der soziologischen Diskurs- und Diskussionslandschaft an Prägnanz und Verwendungszuspruch gewonnen hat.

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IN DER

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durch einen Stimulus bzw. äußeren Reiz ausgelöst worden ist.« (Hartfiel/Hillmann 1982: 644) Obwohl hier das Motiv des Antwortens aufscheint, kann Resonanz keineswegs auf response reduziert werden, wie weiter unten noch deutlich wird.2 Trotz seiner eher randständigen Lage in der Soziologie, wäre es ein Fehler, die Beschäftigung mit Resonanz vorschnell auf aktuelle Arbeiten von Hartmut Rosa (im Anschluss an die Arbeiten Charles Taylors) einzuengen. So spielt der Begriff seit längerem in der sozialen Bewegungsforschung im USamerikanischen Kontext eine wichtige Rolle, vor allem im Zusammenhang mit dem Konzept der frame resonance (vgl. Bloemraad/Voss/Silva 2014; Connolly 2005). Ebenso existieren von Rosa unabhängige Bemühungen, die sich sozialphänomenologisch dem Begriff und dem Konzept der Resonanz nähern (Miller 2015). Vorab noch eine allgemeine Beobachtung: In vielen Arbeiten eignet dem Resonanzbegriff in der Sphäre des Sozialen etwas Überschüssiges. Wird der Begriff benannt, ausgesprochen und in Anschlag gebracht, scheint die Lösung des Problems oder gar die Rettung nicht weit zu sein. Anders gesagt: In Verbindung mit Resonanz finden sich häufig mehr als Spuren einer »mythoiden Überschüssigkeit« (Hogrebe 2006: 332), was die exakte und wissenschaftliche Verwendung dieses schillernden Begriffs nicht gerade einfacher macht. Allerdings stoßen wir auf die Grundmotivation meiner Arbeit, die explizit darin besteht, nicht nur eine Rekonstruktion der wichtigsten Resonanztheorien der Soziologie zu problematisieren, sondern die weiterführend für eine Verbindung zwischen Theorie und empirischer Resonanzanalytik plädiert. Im Einzelnen sieht die Struktur des vorliegenden Textes und der Gang der Argumentation wie folgt aus. Nach dieser kurzen Einführung bezüglich der Aktualität und Bedeutsamkeit des Resonanzkonzeptes in der Soziologie und für diese (Abschnitt 1), gehe ich in einem zweiten Schritt auf das Konzept der Resonanz in der Soziologie näher ein (Abschnitt 2). Die folgenden Positionen/Vertreter werden dabei genauer erläutert: Niklas Luhmanns Systemtheorie (2.1.), Hartmut Rosa als Vertreter der neueren Kritischen Theorie (2.2.), Vincent Miller als Vertreter der Sozialphäno-

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Eine interessante Alternative zu einem solchen Verständnis von response bietet das Konzept der Responsivität von Bernhard Waldenfels. Das Schema von Reiz und Reaktion kritisierend entwickelt Waldenfels den Zweiklang von Pathos und Response. Die pathische Dimension der Resonanz könnte ein Motiv sein, das sozialphänomenologisch betrachtet insofern Potenzial hat, als es auf den Widerfahrnischarakter des Mitschwingen-Müssens, also Nicht-Nichtantworten-Könnens abhebt (Waldenfels 2006, 2015).

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menologie (2.3) und meine eigene Arbeiten, die sowohl (sozial-)phänomenologisch als auch empirisch ausgerichtet sind (2.4). Das Ziel dieser Rekonstruktionen sowie des Beitrages insgesamt ist wesentlich ein Vierfaches. Im Einzelnen besteht es erstens im Aufzeigen der Grenzen des Resonanzbegriffs (innerhalb der Soziologie), zweitens in der Erörterung eines primär nicht-normativen Begriffs von Resonanz, drittens in der Problematisierung der Ambivalenz des Resonanzbegriffs und viertens im Verdeutlichen der Möglichkeiten einer konzisen Verwendung von Resonanz auf verschiedenen Forschungsfeldern. Dies wird in einem Fazit mit den Punkten »Einordnung, Kritik und Forschungsdesiderata« abschließend erläutert (Abschnitt 3).

2 P OSITIONEN IN DER S OZIOLOGIE Die nachfolgend dargestellten Positionen und Ansätze, die sich mit Resonanz explizit beschäftigen und diesen Begriff beziehungsweise dieses Konzept benutzen, stellen notgedrungen eine Auswahl dar.3 Dennoch handelt es sich meines Erachtens um vier wichtige soziologische Positionen, die teilweise in direkter Konkurrenz zueinander stehen (und sich dementsprechend ausschließen), sich aber auch ergänzen und insofern als in einem produktiv-kritischen Verhältnis zueinander stehend begreifen lassen. 2.1 Systemtheorie: Niklas Luhmann Niklas Luhmann (1988) benutzt die Resonanz-Metapher mehrfach in seinem Buch Ökologische Kommunikation. Und noch mehr: In gewisser Weise muss Resonanz sogar als Schlüsselbegriff der Systemtheorie verstanden werden, denn, so Luhmann selbst: »Der Begriff Resonanz weist darauf hin, daß Systeme nur

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Mit Resonanz im Kontext der Automatismen moderner Technik hat sich der philosophische Anthropologe Arnold Gehlen intensiv beschäftigt: »So faszinieren [den Menschen, DW] die analogen Vorgänge der Außenwelt kraft einer ›Resonanz‹, die sozusagen eine Art des inneren Sinnes für das Eigenkonstitutionelle im Menschen darstellt, der auf das anspricht, was dieser Eigenkonstitution in der Außenwelt ähnelt. Und wenn wir heute noch vom ›Gang‹ der Gestirne, vom ›Gang‹ der Maschine reden, so sind das keine oberflächlichen Vergleiche, sondern aus der Resonanz heraus objektivierte Selbstauffassungen bestimmter Wesenszüge des Menschen – der die Welt nach seinem Bilde interpretiert und umgekehrt sich nach Weltbildern.« (Gehlen 2007: 16-17).

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nach Maßgabe ihrer eigenen Struktur auf Umweltereignisse reagieren können.« (Luhmann 1988: 269) Wodurch sich ein System im Einzelnen irritieren lässt, und sich resonanzfähig zeigt beziehungsweise mit Resonanz antwortet, ist allerdings höchst unterschiedlich. Sicher dagegen ist: Es bedarf der Resonanz, ansonsten wäre die für die Systemtheorie grundlegende Unterscheidung zwischen System und Umwelt überhaupt nicht möglich: »Wäre diese Selektivität der Resonanz oder der Kopplung nicht gegeben, würde das System sich nicht von seiner Umwelt unterscheiden, es würde nicht als System existieren.« (Ebd.: 41) Angesichts der ökologischen Gefährdungen, die Luhmann in seinem Text problematisiert, kann aus der Sicht einer ökologisch zunehmend sensibilisierten und deshalb alarmierten Gesellschaft zu wenig an Resonanz aufgebracht werden, und zwar in dem Sinne, dass Fehlentwicklungen schlichtweg ignoriert und dementsprechend keine Gegenmaßnahmen eingeleitet werden. Soziale Systeme reagieren immer auf Kommunikationsangebote (oder ignorieren diese). Dabei gilt grosso modo: Je geringer die Resonanzfähigkeit, desto unflexibler ist das System und desto weniger Antwortfähigkeit auf die Umwelt stehen diesem zur Verfügung. Als resonanzfähig erweisen sich wiederum ganz verschiedene Systeme, ob das nun Organisationen, soziale Bewegungen, Personen oder andere Funktionssysteme sind. Ausgehend von seinen Reflexionen zur ökologischen Krise besteht für Luhmann aber auch die Gefahr eines zu viel an Resonanz, »und das System kann, ohne von außen zerstört zu werden, an internen Überforderungen zerspringen« (ebd.: 220). Dieser Überschuss an Resonanz erzeugt mitunter Angstkommunikation, wobei es nicht einfach ist, deren Angemessenheit bei potenziellen Gefährdungslagen überhaupt festzustellen. Die wichtige Frage lautet: Kann eine hochgradig funktional differenzierte Gesellschaft eine angemessene Reaktionsfähigkeit auf ökologische Unglücksfälle und Fehlentwicklungen aufbringen, sozusagen zwischen Zynismus und Hysterie? In diesem Punkt ist Luhmann durchaus optimistisch, wie Reiner Grundmann anführt. Unter Rückgriff auf die Resonanzmetapher entstehe für Luhmann in »einer Analogie zur Ausdifferenzierung des biologischen Organismus« (Grundmann 2012: 169) »Augen und Ohren, Nervensysteme und Immunsysteme, die ihrerseits nur in engen, aber evolutionär erprobten Frequenzbereichen resonanzfähig sind. Diese Reduktionen können dann durch organisierte Lernfähigkeit ausgeglichen werden« (Luhmann 1988: 218). Zwischenfazit und Kritik: Der Begriff der Resonanz (genauer dessen metaphorische Verwendung) bleiben bei Luhmann größtenteils als funktional-technisches Element in der Systemtheorie aufgehoben. Allerdings ist der Hinweis auf die unterschiedlichen Weisen des Antwortens im Sinne einer Resonanzfähigkeit ebenso

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interessant wie der strikt relationale Charakter, der bei Luhmann generell als Differenztheoretiker in seinem Theoriegebäude vorherrscht. Allerdings fehlt eine begriffliche Ausdifferenzierung oder Verfeinerung des resonanztheoretischen Vokabulars, wie dies beispielsweise bei Rosa (2016) und auch bei Miller (2015) entwickelt vorliegt. 2.2 Kritische Theorie: Hartmut Rosa Die Arbeiten von Hartmut Rosa stehen im Kontext der neueren Kritischen Theorie und haben mit Charles Taylor einen philosophischen Bezugspunkt, der in seiner Nachhaltigkeit für Rosas Denken und Schreiben kaum zu überschätzen ist (vgl. Rosa 2011).4 Allerdings vollzieht Rosa auch Absetzbewegungen, die er selbst betont: Obwohl Taylor zwischen zwei Weisen des »In-der-Welt-Seins« unterscheide, gelinge es ihm nicht, »die ›resonante‹ Form der Weltbeziehung gegenüber der ›stummen‹ als die epistemologisch, politisch und existentiell ›richtige‹ auszuweisen« (ebd.: 40). Das wiederum wird zum herausragenden Projekt einer »Kritik der Resonanzverhältnisse« von Rosa: Darin entwirft er: »eine systematische Soziologie der Weltbeziehung, welche die kulturellen, strukturellen und institutionellen Voraussetzungen, Bedingungen und Kontexte untersucht und bestimmt, unter denen Subjekte individuell und kollektiv die Welt als resonant oder aber als feindlich, gleichgültig oder stumm erfahren« (Rosa 2011: 43).

In seinem kürzlich erschienenen Hauptwerk Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung (Rosa 2016) wird vor allem darüber nachgedacht, ob und inwiefern Resonanz eine Antwort auf Beschleunigung, Entfremdung und Verdinglichung sein könnte. Dabei spielt die Idee der Anverwandlung von Welt im Unterschied zu einer einfachen Form der Aneignung eine Schlüsselrolle. So sei Resonanz eben genau »das Aufblitzen der Hoffnung auf Anverwandlung und Antwort in einer schweigenden Welt« (ebd.: 750). In einer vorweggenommenen Antwort auf potenzielle Kritiker problematisiert Rosa (ebd.: 739-762) selber einige heikle Punkte seiner Resonanztheorie. Diese werde ich nachfolgend aufgreifen, kommentieren und ergänzen.

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In diesem Beitrag kann es nicht um eine Rekonstruktion der Bezüge von Rosas Werk mit Blick auf Charles Taylor gehen.

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Zwischenfazit und Kritik:5 (1) Überschüssigkeit des Resonanzbegriffs: Resonanz erhält in den Arbeiten von Rosa wiederholt einen alles erklärenden Charakter und wird so zu einer Art »Zauberformel der Spätmoderne«, die als Antwort auf die Unbill der Moderne (»Entfremdung«) formuliert wird. Die verzauberte Welt der Romantik wurde gleichsam in und mit der Moderne entzaubert und nun, folgen wir dieser Argumentation, bedürfe es einer Art Wiederverzauberung eben dieser Welt, die als Spätmoderne ausgewiesen wird. (2) Macht und Resonanz: Neben dem emanzipatorischen Anspruch, »den Machtlosen Selbstwirksamkeit zurückzugeben« (Rosa 2016: 757), sieht Rosa mit einem an Foucault geschultem Machtverständnis durchaus die Problematik, »ob Macht Resonanz erzeugen, erzwingen oder verhindern kann« (ebd.). Meines Erachtens handelt es sich dabei um keine rein empirisch zu klärende Frage, sondern um eine der Theoriearchitektonik. Konkret gefragt: Müsste nicht gerade eine dezidiert soziologische Resonanztheorie von Anfang an Macht und Herrschaft in ihr Theoriekonstrukt einbauen, um zu einer besseren, weil realistischeren Diagnosefähigkeit postmoderner Gesellschaften zu gelangen? (3) Installation eines »normativen Monismus« (Rosa 2016: 749): Resonanz soll als »ein Metakriterium des gelingenden Lebens« etabliert werden. Damit reklamiert eine solch verfasste Resonanztheorie für sich einen geradezu hegemonialen Anspruch. Rosa schreibt diesbezüglich: »Eine Kritik der Resonanzverhältnisse bedarf dann nicht der Ergänzung durch eine Kritik der Anerkennungsverhältnisse, der Verteilungsverhältnisse, der Verständigungsverhältnisse, der Produktionsverhältnisse usw., weil sie diese immer schon integriert.« (Ebd.). In diesem Zusammenhang scheint jedoch völlig ungeklärt zu sein, wie diese Integration vonstattengehen soll, zumal dann, wenn keine Reibungsverluste in Kauf genommen werden sollen. Ein Beispiel mag dies verdeutlichen: Während Axel Honneth der Resonanztheorie lediglich für rein »psychologische Momente«6 eine Erklärungskraft zubilligt, kann Rosa umgekehrt Anerkennung eigentlich nicht länger als gleichwertige Kategorie aufnehmen, da ansonsten sein angestrebter »normativer Monismus« keinen Sinn machen würde.

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Ich konzentriere mich auf einige zentrale Punkte, da hier nicht der Ort für eine ausführliche Würdigung und Kritik der Resonanzarbeiten von Hartmut Rosa ist.

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So Honneth auf dem Resonanz-Workshop an der Friedrich-Schiller-Universität Jena vom 30.-31. Mai 2014.

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(4) Unverfügbarkeit: Schließlich leuchtet das von Rosa wiederholt angeführte Argument der »Unverfügbarkeit von Resonanz« nicht wirklich ein. Das Resonanzerlebnis als solches kann zwar in der Tat als unverfügbar oder als kontingent in seinem (Nicht-)Auftreten bestimmt werden, aber die Voraussetzungen dafür, Resonanz zu erfahren, werden doch gerade von dem Aufsuchen (und Einrichten) der Resonanzsphären befördert. (5) Zum Verhältnis von Theorie und Empirie:7 Auch wenn Rosa behauptet, Weltverhältnisse »empirisch und analytisch näher zu bestimmen« (Rosa 2016: 328), versteht er wenig später in seinem Text seine Ausführungen als (nur) »explorativ, das heißt als tastend und notwendig unvollständig«, was mir angesichts der bislang vorlegten Arbeit eine realistischere Einschätzung zu sein scheint.8 2.3 Sozialphänomenologie: Vincent Miller – Resonanz als soziales Phänomen In seiner programmatischen Arbeit Resonance as a social phenomenon (2015) rekonstruiert der britische Soziologe Vincent Miller einige Stränge der soziologischen/sozialphilosophischen Tradition, um dadurch zu einer näheren Bestimmung des Resonanzbegriffs zu gelangen.9 Ich konzentriere mich hier ganz auf diesen Bestimmungsversuch, der sich im Wesentlichen, eng an Miller angelehnt, in sechs Punkten zusammenfassen lässt: Erstens, »Resonance is an experience created in the moment, as a temporary, ad-hoc, or fleeting form of meaningful association. […] resonance is enacted and re-enacted in the present moment« (Miller 2015: 8.4). Dieser Hinweis auf das Flüchtige und die Erzeugung von Resonanz im Moment ist wichtig. Hier trifft sich die Analyse Millers in gewisser Weise mit dem Diktum von Rosa, demzufolge Resonanz immer etwas Unverfügbares haben müsse. Als zweiten Punkt erwähnt Miller: »Resonance is an ex-

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Dass Rosa hauptsächlich »behauptete Empirie« gerade in seinen Fallgeschichten auf unzulässige Weise einsetzt, bemerkt auch Jens Bisky in seiner Rezension Mehr Resonanz wagen! (2016).

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Diese empirische Lücke kann Rosa auch nicht in seinem neuen Buch Resonanzpädagogik (2016), dass er mit Wolfgang Endres verfasst hat, schließen. Es handelt sich im Wesentlichen um einen Interviewband, in dem Rosa seine Resonanztheorie auf den Klassenraum zu übertragen versucht.

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Bedauerlicherweise hat sich Miller nur in diesem Text mit Resonanz auseinandergesetzt und weitere Arbeiten sind nicht in Planung (Persönliche Mitteilung an den Verfasser).

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perience of belonging, intimacy, affinity, togetherness and mutual understanding […].« Ein Gefühl der gegenseitigen Bezogenheit, des intimen Miteinanders wird hier konstatiert. Drittens erläutert Miller: »It is a fundamental and important part of everyday experience, just not a ubiquitous one.« Obwohl Resonanz im Alltagsleben ständig vorkommen kann, ist Resonanz keineswegs selbstverständlich und auch nicht allgegenwärtig. Im Gegenteil: Es braucht die Ausbildung von Resonanzachsen oder Resonanzsphären, die eine Resonanzerfahrung wahrscheinlich werden lassen. Der vierte Punkt lautet: »Resonance is an emotional connection based on appeals to sameness or common human experiences. Without this feeling of ›sameness‹, or if appeals to common experiences go flat, then one can speak of dissonance, in which common experience and understanding is replaced by dissonant elements of uncertainty, anonymity and atomisation.« (Ebd.)

Miller entwickelt hier die Idee der Dissonanz als Gegenbegriff zu Resonanz, was eine Alternative zu Rosas Vorschlag der Entfremdung darstellt.10 Der fünfte Punkt weist auf die notwendige Bedingung der Ko-Präsenz der Akteure hin: »Resonance is embodied and experienced in physical co-presence. Part of the appeal to ›sameness‹, and the momentary or fleeting nature of resonance involves its emergence from actors being engaged in common tasks, practices, and the ›doing‹ of life. This involves the interactions of bodies, gestures, and mutual physical engagement.« (Ebd.)

Resonanz ist demnach ein nur durch Interaktion zu verstehendes relationales Phänomen, was in gewisser Weise eine empirische Analyse in konstellativrelationalen Zusammenhängen notwendig macht. Der letzte Punkt bei Miller lautet: »Resonance is an entity that can be considered distinct from the social interactions from which it emerged […].« (Ebd.). Auch diese Bestimmung scheint mir wichtig, da Resonanz als eigenständiges Phänomen (Entität) untersucht werden kann und u.a. auch von Efferveszenz11 zu unterscheiden sein muss. Zwischenfazit und Kritik: Miller gelingt mit seinem programmatischen Text eine sozialphänomenologische Bestimmung und Herleitung des Resonanzbegriffs.

10 Das wiederum ist insofern gewöhnungsbedürftig, als Dissonanz herkömmlich als Gegensatz zu Konsonanz aufgefasst wird. 11 Kollektive Efferveszenz spielt vor allem bei Émile Durkheim und dessen Religionssoziologie, genauer bei der Entstehung religiöser Glaubensvorstellungen, eine wichtige Rolle (Durkheim 1981).

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Seine Befunde decken sich in weiten Teilen mit denen der Resonanztheorie von Rosa. Im Unterschied zu diesem schießen die Analysen von Miller weniger über ihr Ziel hinaus und überfrachten den Resonanzbegriff nicht zusätzlich mit normativem Ballast. Zudem liefert er einige interessante Ideen für die Ausarbeitung einer stärker empirisch ausgerichteten Resonanzanalytik, die ich selbst in meiner eigenen Arbeit begonnen habe zu entwickeln. 2.4 Empirisch-phänomenologische Resonanzanalytik: Eigene Arbeiten In anhaltend kritischer Auseinandersetzung mit Hartmut Rosa, der philosophischen Anthropologie und den affect studies unternehme ich seit einiger Zeit den Versuch, einen soziologisch gehaltvollen Resonanzbegriff zu entwickeln, der einerseits die Fallstricke des Normativen vermeiden möchte, andererseits aber auch keine rein funktionale Bestimmung anstrebt, wie diese zuvor im Werk von Niklas Luhmann identifiziert worden ist.12 Bislang in zwei Forschungsfeldern verbinde ich eine empirische Resonanzanalytik mit phänomenologischen Beschreibungen, genauer geschieht dies exemplarisch in den Gebieten der Liebe und des Sports. (1) Sport und Resonanz: Im Feld des Sports, gerade auch in Verbindung mit einer den Körper und Leib in den Blick nehmenden Körpersoziologie, bietet sich eine Reflexion über Resonanz an (vgl. Alkemeyer 2006). Ich folge – durchaus im Einklang mit Rosa – dabei meiner Intuition, der zufolge sich postmoderne Individuen durch ein Resonanzverlangen und durch die Suche nach Anerkennung charakterisieren lassen.13 Dass diese Suche nicht per se auf bildungsbürgerliche Schichten beschränkt sein muss, wie vielleicht vermutet werden könnte, zeigt die Sphäre des Sports, genauer die Aktivitäten in Fitnessstudios. Die dort vorfindlichen Resonanzbeziehungen begreife ich in Anlehnung an die Arbeiten Rosas als Welt- und Selbstbeziehungen (vgl. Rosa 2012, 2016), die sowohl glücken als

12 Die Rolle, der Einsatz und die Verwendungsweisen von Affekten und Emotionen gerade in Verbindung mit Resonanz müssten genauer, als bislang erfolgt, untersucht werden. 13 Martin Altmeyer bestätigt diese Suche nach Resonanz aus einer psychoanalytischen Sicht. Allerdings fällt seine intendierte Zeitdiagnose sehr einseitig aus, wie er selber auch freimütig einräumt: »Den unter kritischen Intellektuellen weit verbreiteten Manipulations- oder Pathologieverdacht gegenüber der medialisierten Gesellschaft teile ich nicht. Deshalb sammle ich dafür auch keine Beweise.« (Altmeyer 2016: 9)

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auch scheitern können. In dieser Arbeit erforsche ich genauer, inwiefern Fitnesstraining eine soziale Praktik darstellt, die den Individuen hilft, ihr Resonanzverlangen (körperlich-affektiv) zu befriedigen.14 Dabei ist die Unterscheidung zwischen Anerkennung und Resonanz insofern wichtig, als sich diese Begriffe nicht aufeinander reduzieren lassen. Resonanz meint ein Antworten von anderen, aber eben nicht nur menschlichen Entitäten, sondern auch von Objekten, Dingen usw. Als affektives Moment konzipiert, kann zwischen eigen- und zwischenleiblicher Resonanz unterschieden werden (Fuchs 2003). Anerkennung dagegen ist auf die Sphäre des Sozialen beschränkt und impliziert einen klaren Bezug zweier Subjekte aufeinander: Jemand gibt Anerkennung für jemand anderes, der diese Anerkennung erfährt. Auch Rosa spricht von einem Unterschied: »Die Differenz lässt sich vielleicht am einfachsten daran erkennen, dass Anerkennung relational ist und gleichsam kompetitiv vergeben oder entzogen wird, so dass sich um sie kämpfen lässt. Anerkennung erscheint zumindest in manchen Hinsichten als ein knappes Gut im Blick auf die Liebe oder den (für Honneth so wichtigen) Wettbewerb bedeutet die Anerkennung des einen (des Siegers) nahezu zwangsläufig die Missachtung beziehungsweise Geringschätzung des Anderen (des Verlierers).« (Rosa 2016: 333)

Als Zugriff in empirischer Hinsicht hat sich ein Methodenpluralismus bewährt: Ethnographische teilnehmende Beobachtungen wurden mit informellen Gesprächen und Interviews ergänzt. So kann das Fitnessstudio im Sinne eines Mikrokosmos zur Resonanz- und Anerkennungserzeugung gedeutet werden. Durch die Allgegenwärtigkeit und Bedeutsamkeit der Metaphern der Steigerung, des Wachsens, der Disziplinierung und der Selbstwirksamkeit ist das Fitnesstraining als Praxis der Wachstumsgesellschaft verstehbar. In Absetzung von rein phänomenologischen Beschreibungen bildet die Dispositivanalyse (Bührmann/Schneider 2008) einen Rahmen, der es ermöglicht, den Diskursen und (Selbst-)Praktiken in Fitnessstudios auf die Spur zu kommen. Erst so kann eine Ausdifferenzierung nach verschiedenen Typen vorgenommen werden, die die feine Verwobenheit von Resonanz- und Anerkennungserfahrungen verdeutlicht. So kulminiert bei Typ I: Der Magersüchtige die Körpererfahrung im Fitnesstraining im Ausbleiben von Resonanz. Der Leib antwortet irgendwann nicht mehr, er verweigert die Rückmeldung. An die Stelle der ›Resonanzbesessenheit‹ tritt die Erfahrung eines kompletten Resonanzverlustes im Sinne einer radikalen Selbstentfremdung und der Erfahrung der Leere. Psychologisch lässt sich dieser

14 Vgl. dazu den Begriff der affective resonance bei Mühlhoff (2014).

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Resonanzverlust mit einem gesteigerten Suchtverhalten in Verbindung bringen, dem sich Betroffene nur schwer entziehen können. Die Sportsucht führt zum ›Ausbrennen‹ des eigenen Körpers, macht diesen verletzungsanfällig und verhindert im schlimmsten Fall jegliche eigenleibliche Resonanzerfahrung. Typ II: Die Ausgeglichene kann das vorhandene Resonanzverlangen im Fitnessstudio einlösen, ohne das richtige Maß zu verlieren. Hier könnte man sogar von einer Art der ›Resonanzvergessenheit‹ sprechen, da sich diese als Produkt der leiblichen Interaktion mit dem Körper und anderen Individuen quasi automatisch einstellt. Leib, Körper und Psyche befinden sich in einem positiven, schwingenden Verhältnis zueinander. Typ III: Der Bodybuilder wiederum kann als ›resonanzversessen‹ klassifiziert werden, zumindest was die leibliche Eigenresonanz anbelangt. Der Körper wird einem disziplinatorischen Regime unterworfen, was die Selbstanerkennung befördert und gleichzeitig die Anerkennung der anderen provozieren soll. (2) Liebe und Resonanz: In dieser Arbeit (Wetzel 2014b) beschäftige ich mich aus einer soziologisch-sozialtheoretischen Sicht mit polyamourösen (Liebes-)Beziehungen. Leitmotivisch wird die Frage verfolgt, inwiefern diese eine gelingende Lebensform darstellen, die als Reaktion auf unzufriedene, bürgerlich geprägte Zweierbeziehungen verstanden werden können. Eingebettet sind diese Überlegungen zu Liebe und Paarbeziehungen wiederum in den Rahmen resonanz- und anerkennungsanalytischer Reflexionen. Dabei plädiere ich für ein Vorgehen, das »Liebe als Beziehung« (Bethmann 2013: 90) versteht – auch, um damit Fallstricke einer unmöglichen, weil die Forschung einengende Liebesdefinition, zu umgehen. Im Text wird gezeigt, wie wir polyamouröse Beziehungen überhaupt soziologisch erfassen können. Dazu wird auch auf das Thema entfremdete Liebesbeziehungen eingegangen, um zu prüfen, ob es – im Sinne einer Antwortstrategie – mit der Polyamourie zu einer Vervielfältigung der Resonanz- und Anerkennungsbeziehungen kommt. Anhand schematisch-relationalen Darstellungen wird über die Faszination und Komplexität polyamouröser Liebeskonstellationen – auch und gerade im Vergleich mit der klassischen, dyadischen Zweierbeziehung, Auskunft gegeben. Abschließend sei auf sechs zentrale Ergebnisse der Analyse hingewiesen: (1) Resonanzanalytisch liegt der Knackpunkt bei polyamourösen Beziehungen häufig im Umgang mit der Eifersucht und den vervielfältigten Begehrensströmen. Bereits in monogamen Beziehungen stellt Eifersucht ein Problem dar, und in polyamourösen Kontexten kann sich diese Problematik vervielfältigen. Mir scheint nicht hinreichend geklärt, ob das von den Verfechtern der Polyamourie vorgetragene Konzept der Mitfreude (engl. compersion) tatsächlich mehr sein kann als eine ideologisierende Sichtweise auf Ei-

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fersucht. (2) Es gibt einen Unterscheid zwischen vorgestellter und lebbarer Intimität. Ein Hauptproblem aus einer intimitätssensiblen Perspektive besteht darin, dass sich Intimität nicht beliebig auszudehnen lassen scheint. (3) Damit polyamouröse Beziehungen gelingen können, bedarf es reifer Persönlichkeiten, die über ein gutes Selbstwertgefühl verfügen und mit Irritationen und Konflikten umzugehen in der Lage sind. (4) Die Beziehungskonstellationen sind dynamische Gebilde, die für Veränderungen offen sein müssen. Wenn etwa Kinder aus einer Beziehung resultieren, kann dies ein ›Rückfall‹ in traditionelle Beziehungsformen bedeuten – unter Umständen auch aus rein pragmatischen Überlegungen heraus. Beruflich bedingte Mobilität und Flexibilität sind weitere Punkte, die das Netzwerk einer polyamourösen Lebensform – oder Teile daraus – gefährden oder auch fördern können (5) Erforderlich scheint zudem eine hohe Frustrationsund Toleranzbereitschaft zu sein, da aufgrund der poly-konstellativen Beziehungen immer wieder neue Ansprüche von neuen Partnern auftreten können, was die Situation resonanz- und anerkennungsperspektivisch einerseits reicher und komplexer werden lässt, aber eben auch schwieriger in der konkreten Durchführung. (6) Schließlich bedarf es aus einer organisationssoziologischen Perspektive eines guten Zeitmanagements, und zwar von allen Beteiligten. Absprachen müssen relational getroffen werden, Bedürfnisse artikuliert und mit anderen Bedürfnissen in Einklang gebracht werden, etwa wenn es darum geht, Abende oder ganze Wochenenden mit einem bestimmten Partner/einer bestimmten Partnerin zu verbringen. Zwischenfazit und Kritik: Mit den beiden exemplarischen Fallbeispielen habe ich einen ersten Versuch unternommen, eine empirische Resonanzanalytik zu entwickeln, die über rein sozialtheoretische/phänomenologische Beschreibungen hinausgeht.15 Ethnografisches Material sowie Interviews, aber auch bereits vorhandene Studien (allerdings ohne resonanzanalytischen Fokus) wurden herangezogen, um Resonanz und Anerkennung als Phänomene und als Erfahrungsweisen differenzierter, als bislang geschehen, beschreiben zu können.

15 Im Sinne der angestrebten Typenbildung und des Vergleichs müsste beispielsweise erforscht werden, inwiefern der Ausgeglichene (Typ II im Sport) mit der reifen Persönlichkeit in polyamourösen Beziehungen korrespondiert. In welcher Weise sind diese Persönlichkeiten ihrerseits in die Entstehung normativer Ordnungen eingebunden und welche Formen von Resonanz, Dissonanz oder Entfremdung prägen gegebenenfalls die Interaktionen der Typen miteinander?

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Gerade im Fallbeispiel der Polyamourie sind weitere empirische Forschungen (Gruppeninterviews, ethnografische Beobachtungen usw.) notwendig, um dieses interessante Feld genauer zu durchdringen und über gegenwärtig diskutierte ›Liebes(un-)Ordnungen‹ soziologisch aufklären zu können..16

3 F AZIT : E INORDNUNG , K RITIK

UND

F ORSCHUNGSDESIDERATA

Begibt man sich auf die Suche nach dem Begriff der Resonanz in der Soziologie, so wird man durchaus fündig. Schon die Klassiker, vor allem aber auch Vertreter der philosophischen Anthropologie (Plessner 1982 und Gehlen 2007) haben sich mit dem Phänomen, wenn auch eher am Rande, auseinandergesetzt und einige Impulse für die Gegenwartssoziologie geliefert. In den letzten Jahren waren und sind es die Soziologen Niklas Luhmann, Hartmut Rosa, Vincent Miller und andere, die zu einer (Re-)Vitalisierung des Resonanzbegriffs in der Soziologie wichtige (Vor-)Arbeiten geleistet haben. Gegenwärtig ist die Resonanztheorie von Hartmut Rosa begrifflich am weitesten ausdifferenziert. Dennoch sieht sich auch dieser Ansatz Kritikpunkten ausgesetzt, die ich weiter oben angeführt habe, und die mir für eine Klärung und produktive Verwendung des Resonanzbegriffs ohne Allerklärungsanspruch wichtig erscheinen. Unter Berücksichtigung dieser Kritikpunkte werden abschließend anhand von vier zentralen Punkten die Reflexionen zum Resonanzbegriff und -konzept in der Soziologie zusammengefasst. Diese vier Themenfelder scheinen mir wichtig, um zu einem in der soziologischen Forschungspraxis valideren, d.h. noch tragfähigeren Konzept zu gelangen. Neben der Identifikation der Grenzen von Resonanz (1) geht es vor allem auch um die Entwicklung eines nicht-normativen Begriffs von Resonanz (2). Besonders wichtig erweist sich in diesem Zusammenhang der Hinweis auf die Ambivalenz des Resonanzphänomens (3). Unter Berücksichtigung dieser Punkte kann schließlich auf empirische Forschungsfelder zumindest noch kursorisch hingewiesen werden (4).

16 Ein interessanter empirischer Beitrag stellt die unveröffentlichte Masterarbeit Polyamores Leben mit Kindern (2015) von Lenya Bock dar.

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(1) Identifikation der Grenzen von Resonanz: Es gibt keine guten Gründe dafür, warum Resonanz zu einem übergreifenden »mono-normativen« Prinzip werden sollte, wie dies insbesondere Hartmut Rosa für seine Theorie anstrebt.17 Die Gefahr einer reduktionistischen, d. h. einseitigen Sicht auf soziale Phänomene ist erheblich – und der Erkenntniszugewinn im Sinne einer höheren Beschreibungsund Erklärungsleistung nicht automatisch gegeben. Genau aus diesem Grund plädiere ich für konstellativ-relationale Analysen, die historisch und räumlich situiert – dabei durchaus phänomenologisch und theoretisch inspiriert –, empirisch gesättigt und belastbar sind. (2) Entwicklung eines nicht-normativen Begriffs von Resonanz: Um einer »mythoiden Überschüssigkeit« (Hogrebe 2006: 332) bei der Verwendung des Begriffs der Resonanz entgegenzuwirken, bedarf es eines primär nicht-normativen Begriffs. Obwohl Rosa diesen Punkt explizit anspricht, durchmischen sich bei ihm immer wieder deskriptive und normative Momente. Nur eine empirisch ausgerichtete Resonanzanalytik kann noch stärker als bislang geschehen (Wetzel 2014a, 2014b) zu weiterführenden und überprüfbaren Erkenntnissen führen. Dabei ist die Soziologie auf das Zusammenspiel mit anderen Disziplinen (Neurowissenschaften, Philosophie, Psychologie, Pädagogik usw.) angewiesen. Resonanz kann dann immer noch als ein normativ wünschenswertes Prinzip einer gelingenden Lebensführung ausgewiesen werden, wie dies Hartmut Rosa nicht müde wird zu betonen (vgl. Wetzel 2014c). (3) Ambivalenz des Resonanzphänomens: Macht, Herrschaft und Kapitalismus Der von Hartmut Rosa selbst ins Spiel gebrachte Zusammenhang zwischen Macht und Resonanz, den er – wie er selber einräumt – bislang nicht untersucht hat, muss sowohl in der Theoriearchitektonik als auch in empirischen Mikrostudien seinen Niederschlag finden. In der Gegenwartsgesellschaft erhält derjenige Aufmerksamkeit, der es versteht, mit Schlüsselbegriffen oder eingängigen Zeitdiagnosen die geneigte Leser- und Zuhörerschaft für sich zu gewinnen. Hartmut Rosa ist ein unbestrittener Meister dieses Fachs. Mit seiner normativ aufgeladenen Resonanzsoziologie gelingt ihm nicht unbedingt eine kritische, konstellativ-relationale Einordnung dieses Begriffs; dafür ist ihm gewiss, wovon die meisten Forscherinnen und Forscher nur träumen können: eine nicht unerhebliche Resonanz, die durch die Alltagstauglichkeit des Begriff weit über die Sozio-

17 Auf diese Gefahr der ›Überdehnung‹ und eine daraus resultierende Konturlosigkeit des Begriffs weist auch Martin Hartmann (2016) in seiner Rezension des ResonanzBuches von Rosa hin.

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logie ihre Wirkung entfalten kann – mit positiven und negativen Konsequenzen für eine Gegenwartsdiagnose und für die möglichst exakte Analyse sozialer Beziehungen.18 (4) Ausrichtung und Entwicklung des Resonanzbegriffs in empirischen Forschungsfeldern: Unter Rückgriff auf Erkenntnisse der Affektsoziologie (affect studies), der philosophischen Anthropologie und der (Sozial-)Phänomenologie müssen theoretische Überlegungen zu Resonanz mit einer genuin empirischen Forschungsperspektive (teilnehmende Beobachtung, Netzwerkforschung u.a.) verbunden werden. Resonanz kann so als Beziehungsbegriff (was übergreifend von den meisten Resonanzforschern so gesehen wird) konzipiert werden, der in historisch-konstellativen Situationen von Bedeutung sein kann und sich auf die verschiedenen Felder des Sozialen erstreckt. Gerade die sozialen Medien und die neueren Technologien (Cyberspace usw.) können den Begriff und das Konzept der Resonanz mutmaßlich nachhaltig verändern.

4 L ITERATUR Alkemeyer, Thomas (2006): »Rhythmen, Resonanzen und Missklänge. Über die Körperlichkeit der Produktion des Sozialen im Spiel«, in: Robert Gugutzer (Hg.), Body turn: Perspektiven der Soziologie des Körpers und des Sports, Bielefeld: transcript, S. 265-295. Altmeyer, Martin (2016): Auf der Suche nach Resonanz: Wie sich das Seelenleben in der digitalen Moderne verändert, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Bethmann, Stephanie (2013): Liebe: Eine soziologische Kritik der Zweisamkeit, Weinheim/Basel: Beltz und Juventa. Bisky, Jens (2016): »Mehr Resonanz wagen! Hartmut Rosa entwirft eine Soziologie guten Lebens«, in: Süddeutsche Zeitung vom 28.07.2016, S. 14. Bloemraad, Irene/Voss, Kim/Silva, Fabiana (2014): Framing the immigrant movement as about rights, family, or economics: Which appeals resonate and for whom? IRLE Working paper, S. 112-14, http://escholarship.org/uc/item/ 3b32w33p Bock, Lenya (2015): Polyamores Leben mit Kindern. Unveröffentlichte Masterarbeit. Friedrich-Schiller-Universität Jena, Jena.

18 In Anlehnung an Gilles Deleuze könnte man hier von der Absicht sprechen, mit der Soziologie aus der Soziologie heraus zu gehen.

R ESONANZ

IN DER

S OZIOLOGIE

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4

Ein etwa in der Laser-Theorie gebräuchlicher terminus technicus (vgl.: Haken, Hermann (1983): Synergetik, zweite Auflage, Berlin: Springer).

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ein dynamisches System quasi notwendig in den Einzugsbereich einer anderen Resonanz p’:q’ befördert. Ist q’ sehr viel größer als q, bedarf es allerdings einer entsprechend längeren Zeitspanne, bis sich die Nähe zu dieser anderen Resonanz dynamisch manifestiert. Zudem hatten wir oben bemerkt, dass jeder Resonanz eine endliche Breite zukommt, was einer Argumentation allein entlang der Struktur der rationalen Zahlen Grenzen in jenem Sinne setzt, dass individuelle Breite und paarweiser Abstand unterschiedlicher Resonanzen miteinander verwobene Eigenschaften sind. In jedem Falle aber führt der große Wertebereich der möglichen Ordnungen q,q’, usw., in der Regel zu einer breiten Verteilung charakteristischer Zeitskalen, was jedes klare zeitliche Muster (wie beispielsweise die scheinbare Regelmäßigkeit des Laufs der Gestirne) verschwinden oder bestenfalls für kurze Zeitspannen aufscheinen lässt. Derlei Bewegungsmuster, die sich nicht mehr vollständig durch zeitlich unveränderliche Relationen diskreter Frequenzwerte beschreiben lassen, empfinden und definieren wir als chaotisch. Chaos ist in diesem Sinne Ergebnis der Verkettung einer Folge von Resonanzen unterschiedlichster Ordnungen q, q’, q’’, usw. Es ist Synonym für die mit dieser Verkettung einhergehende Störungsanfälligkeit der Dynamik im Grenzbereich benachbarter Resonanzen. Störungsanfälligkeit meint hier die u.U. großen Unterschiede der charakteristischen Zeitskalen eng benachbarter Resonanzen, welche sich der Struktur der rationalen Zahlen auf dem Zahlenstrahl verdanken. In dieser Sichtweise stellt sich Chaos als neue globale Qualität dar, die sich zwangsläufig aus der allgemeinen, lokalen (im Frequenzraum, sowie hinsichtlich ihrer jeweiligen Breite) Struktur von Resonanzen ergibt, ohne der Einführung irgendwelcher zusätzlichen Regeln zu bedürfen. Chaos ist daher aus dieser Warte eine emergente strukturelle Eigenschaft nichtlinearer dynamischer Systeme. Umgekehrt ist nah-resonante Dynamik, d.h. das vorübergehende Aufscheinen per klar hervortretender Frequenzverhältnisse relativ scharfer Bewegungsmuster im zeitlichen Verlauf chaotischer Bewegung (etwa eines Doppelpendels, s.u.) ein emergentes dynamisches Phänomen. In der physikalischen Welt ist der zwangsläufig vorübergehende Charakter solch plötzlichen Auftretens von Regelmäßigkeit und Ordnung nicht notwendig ephemerer (im Sinne folgenloser) Natur: Die (deterministisch unvorhersagbare) Dauer der Nah-Resonanz vermag ein Zeitfenster zu öffnen für das Einkoppeln und Mitschwingen anderer Bewegungen. Diese immanente dynamische Ungewissheit ist eine Quelle der Wandelbarkeit unserer Wirklichkeit und entzieht sich der Synchronisation, sofern letztere die Herstellung von Synchronismus mit vorgegebenen Takten meint.

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Erst diese Ungewissheit verleiht der Zeit ihre Richtung und befreit uns von der Unausweichlichkeit durch feste Frequenzverhältnisse festgeschriebener, ewiger Wiederkehr.

3 B EISPIELE Ein auch ästhetisch sehr ansprechendes und gleichzeitig minimalistisches Beispiel für chaotische Bewegung bietet das mechanische Doppelpendel, das ganz schlicht aus zwei aneinander gehängten Pendeln besteht, deren oberes wiederum über eine Drehachse fest aufgehängt ist. Besonders bemerkenswert ist hieran, dass jedes einzelne der beiden Pendel paradigmatisch für streng periodische und vorhersagbare Dynamik steht. Erst die mechanische Kopplung beider Elemente (aber eben nur dieser!) induziert chaotische Bewegung bei hinreichend großen Bewegungsenergien. Illustrationen der Doppelpendeldynamik finden sich mittlerweile natürlich im Internet, doch fehlt diesen der Charme einer realen mechanischen Konstruktion.5 Entgegen unserem, der Disparität menschlicher und kosmischer Zeitskalen geschuldeten Eindruck der Regelmäßigkeit des Laufs der Gestirne stellt sich tatsächlich heraus, dass auch die Himmelsmechanik intrinsisch chaotisch ist, doch manifestiert sich diese Eigenschaft (abgesehen von dem ein oder anderen, gelegentlichen Stelldichein mit einem Kometen oder Meteoriten) erst auf sehr langen Zeitskalen, die für unsere irdischen Belange irrelevant sind. Andere Beispiele chaotischer Dynamik finden sich im Makrokosmos wie im Mikrokosmos, vom Schmetterlingseffekt in der Klimatologie über seismologische Beobachtungen und die (inzwischen hinsichtlich ihrer Instabilität jedermann vertraute) Dynamik von Börsenkursen6, bis hin zur quantenmechanischen Dynamik von Atomen oder Molekülen.

5

Dem man sich nicht entziehen sollte! Reale Doppelpendel der erforderlichen mechanischen Stabilität und Reibungsarmut findet man in den experimentellen Sammlungen guter Physik-Fakultäten.

6

Fürchteten unsere Altvorderen noch den unergründlichen göttlichen Willen, der sich zeitweise durch allerlei unvorhersagbare Unbill der Natur oder der weltlichen Gewalten äußerte, und verlangten daher nach dessen Deutung durch Orakel unterschiedlicher institutioneller Provenienz (und nach Symbolen göttlicher Ordnung – vgl. z.B. die oben erwähnte astronomische Uhr), wird uns der ebenso unerforschliche und zu ähnlich schwer prognostizierbaren Eigenwilligkeiten neigende Wille des Marktes (nicht nur, aber leider auch) im öffentlich-rechtlichen Fernsehen heute täglich zur allerbesten Sendezeit direkt vom Parkett der Börse übermittelt. Ungeordnete und un-

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4 P HASENRAUM Das oben beschriebene Wechselspiel von Resonanzen unterschiedlicher Ordnung wird graphisch sehr anschaulich in sogenannten Poincaré-Schnitten: Der Mathematiker Poincaré erkannte als erster die chaotische Natur der Himmelsmechanik und erdachte eine Methode, diese durch Darstellung des vergröberten zeitlichen Verlaufs der Dynamik im Phasenraum eindeutig identifizierbar zu machen. Der Phasenraum ist ein abstrakter Raum, entlang dessen Koordinatenachsen beispielsweise der Impuls und der Ort eines Teilchens aufgetragen werden. Bleibt die Masse des Teilchens während der Bewegung unverändert, so lässt sich der Impuls durch die Geschwindigkeit des Teilchens ersetzen. Man macht sich leicht klar, dass die Bewegung eines Pendels mit einem vorgegebenen maximalen Ausschlag im Ortsraum (d.h. mit einer vorgegebenen Schwingungsenergie) im Phasenraum näherungsweise durch eine ellipsen- oder kreisförmige Kurve dargestellt wird: An den Umkehrpunkten der Bewegung hat die Pendelmasse die Geschwindigkeit Null und maximale Auslenkung, d.h. die Ortskoordinate wird maximal. In dem Moment, in dem das Pendel durch seine Gleichgewichtsposition (die aus Symmetrie-, d.h. praktischen Gründen mit der Ortskoordinate Null identifiziert wird) schwingt, hat die Pendelmasse (dem Betrage nach) maximale Geschwindigkeit und minimale Ortskoordinate. Stetige Interpolation zwischen diesen Extremalpunkten der Bewegung (minimaler Ort und maximale Geschwindigkeit hier, maximaler Ort und minimale Geschwindigkeit dort), zusammen mit der durch die Erfahrung gestützten Annahme, dass Geschwindigkeit und Ort zwischen ihren Minima und Maxima jeweils kontinuierlich zu- bzw. abnehmen, führt dann auf die antizipierte ellipsenähnliche Gestalt, die letztlich als Paradigma periodischer Bewegung betrachtet werden kann. Betrachten wir nun zwei sich jeweils periodisch bewegende Teilchen, so wissen wir dank obiger Überlegung, dass die jeweilige Dynamik durch einen Kreis (ggf. nach geeigneter Streckung oder Stauchung der Hauptachsen der jeweiligen Ellipsen, was einer Anpassung der verwendeten Orts- und Geschwindigkeitsmaße gleichkommt) im zugehörigen Phasenraum beschrieben wird. Wollen wir die gemeinsame Dynamik beider Teilchen in ihrem gemeinsamen Phasenraum beschreiben, der nun durch zwei Orts- und zwei Geschwindigkeitskoordinaten aufgespannt und somit vierdimensional wird, so haben wir es mit dem topologischen Produkt zweier Kreise zu tun – und dieses Objekt nennen Mathematiker und Physiker einen Torus (genauer einen 2-Torus, da topologisches Pro-

prognostizierbare (›chaotische‹) Verhältnisse führen demnach über die Zeiten zu immer gleich irrationalem Hokuspokus.

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dukt zweier Kreise). Im Alltag nennen wir das Schwimmring oder auch Donut und wir können uns die Konstruktion dieses geometrischen Objektes so vorstellen, dass wir einen Kreis mit seinem Mittelpunkt entlang des anderen Kreises führen, wobei wir die Normale der Kreisebene des mitgeführten Kreises tangential zum andern Kreis halten. Sobald der Umfang des letzteren hinter uns liegt, hat der Umfang des ersteren die Oberfläche eines Schwimmrings bzw. Donuts nachgezeichnet. Haben wir es mit N Teilchen zu tun, die sämtlich periodische Bewegungen vollführen, so spielt sich deren gemeinsame Dynamik in ihrem gemeinsamen (2N-dimensionalen) Phasenraum auf einem N-Torus ab, den man sich nur nicht mehr ganz so leicht vorstellen kann – jedenfalls nicht in unserer gewohnten dreidimensionalen Welt. Jeder Torus wird durch das Verhältnis der Perioden T1, T2,...,TN der Bewegungen der beschriebenen Teilchen charakterisiert. Resonante Tori sind solche, die in obigem Sinne resonante Dynamik von zwei oder N Teilchen repräsentieren. Ein Poincaré-Schnitt ist nun ein Querschnitt durch den Phasenraum derart, dass Tori auf (im Zuge von Koordinatentransformationen u.U. leicht deformierte) Kreise abgebildet werden. Familien konzentrischer Tori bilden in diesem Phasenraumquerschnitt zwiebelartige Strukturen und sind quasi verankert in den fundamentalen Resonanzen der Ordnungen 1:1, 2:1 und 3:1, wie in Abbildung 1 ersichtlich. Der Figur entnimmt man weiter, dass im Übergangsbereich zwischen den Tori etwa der 1:1- und der 2:1-Resonanzen glatte Kurven durch verrauschte Gebiete getrennt werden. Hier kann die Dynamik der Teilchen nicht mehr durch feste Frequenzverhältnisse beschrieben werden, die (Quasi-)Periodizität der Bewegung und ihre in wenigen Zeitskalenverhältnissen kodierbare, klare Struktur geht verloren – die Dynamik ist chaotisch. Des Weiteren erkennt man, dass die 3:1-Resonanz nicht mehr die einfache Zwiebelstruktur der 1:1- und 2:1Resonanz besitzt, sondern in drei Gruppen von jeweils vier unmittelbar benachbarten Zwiebelstrukturen aufspaltet. Dies ist die Signatur einer Verzweigung der Dynamik in neue Bewegungstypen, die bei hinreichend starker Kopplung der Bewegung der beteiligten Teilchen neu auftreten – ein emergentes strukturelles Phänomen.

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Abbildung1: Typischer Poincaré-Schnitt zur Analyse der Phasenraumstruktur eines global chaotischen dynamischen Systems, hier konkretisiert anhand der klassischen Dynamik des hochangeregten Elektrons eines Wasserstoffatoms unter dem Einfluss eines monochromatischen elektromagnetischen Feldes.

1.3

I / n0

1.1

0.9

0.7 0

π



θ Entlang der Abszisse wird die Ortskoordinate des Elektrons (hier gegeben durch den Polarwinkel auf seiner Keplerbahn), entlang der Ordinate seine Wirkung (das Integral des Impulses entlang der Keplerbahn) aufgetragen. Deutlich erkennbar sind die in den nichtlinearen Resonanzen der Ordnung 1:1, 2:1 und 3:1 verankerten Torusstrukturen, die durch die jeweiligen rationalen Verhältnisse von Feldfrequenz zu Keplerfrequenz definiert sind. Die als konzentrische zwiebelartige Struktur erkennbare 1:1-Resonanz etwa ist zentriert um den Winkel π und die Wirkung 0,8, 2:1 manifestiert sich als Paar konzentrischer zwiebelartiger Strukturen zentriert um die Winkel π/2 und 3π/2, sowie die Wirkung 1,0, 3:1 als drei Vierergruppen jeweils unmittelbar benachbarter konzentrischer Strukturen bei einer Wirkung von etwa 1,15. Der Übergangsbereich zwischen den mit 1:1 bzw. 2:1 assoziierten Tori erkennt man zudem komplizierte Strukturen unterschiedlicher Feinheit (incl. ganz kleiner, Torus-ähnlicher Strukturen), während der Bereich zwischen den Gebieten der 2:1- bzw. 3:1-Resonanz vollständig ver-

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rauscht erscheint, was wir intuitiv und zutreffend mit chaotischer Dynamik assoziieren. Diese sich stetig verfeinernden Strukturen, die sich schließlich in scheinbar unstrukturiertem Rauschen verlieren, sind ein Symptom des Wechselspiels einer Vielzahl von Resonanzen höherer Ordnung und der damit einhergehenden Verbreiterung des Frequenzgehalts der Dynamik.

5 P HYSIKALISCHES F AZIT Resonanzen sind nach unseren obigen Überlegungen ein Charakteristikum jener Bewegungstypen (im Fachjargon (Bewegungs-) Moden) physikalischer Objekte, die durch ein diskretes Frequenzspektrum mit paarweise rationalen Verhältnissen ausgezeichnet sind. Resonanzen mit unter Umständen sehr unterschiedlicher Dauer der gemeinsamen Periode der beteiligten Frequenzkomponenten können im abstrakten Raum der Bewegungsmoden sehr eng benachbart sein, was im Ablauf der beobachteten Dynamik zu einer rasch immer unübersichtlicheren Abfolge unterschiedlicher Bewegungsmuster führen kann – bis hin zu chaotischer Bewegung. Umgekehrt erlauben Resonanzen eine effiziente Übertragung von Energie zwischen den resonant gekoppelten Systemkonstituenten und die Synchronisierung von Bewegungsabläufen. In einem global chaotischen Bewegungsmuster definieren (nichtlineare) Resonanzen somit vorübergehende Phasen der Ordnung. Ihr Auftreten ist deterministischer Natur, also tatsächlich vorhersagbar, doch der konkrete Augenblick ihres Auftretens ebenso wie ihre Dauer sind aufgrund der Komplexität chaotischer Dynamik faktisch zufällig und nicht verlässlich prognostizierbar. In ihrer zeitlichen Manifestation ebenso wie hinsichtlich ihrer strukturellen Wandelbarkeit im Phasenraum haben Resonanzen – und Chaos verstanden als Konsequenz der Verkettung von Resonanzen unterschiedlicher Ordnungen – somit emergenten Charakter. Sie sind Voraussetzung der Ausbildung von Mustern in der uns umgebenden, ihrer Natur nach nichtlinearen Welt. Ihre strukturelle Vielfalt und Wandelbarkeit bewahrt uns vor Monotonie und Langeweile, ihre zuverlässige Emergenz gibt steten Anlass zu Hoffnung auf Phasen von Ruhe und Verlässlichkeit.

6 E INORDNUNG Der Begriff der Resonanz ist in der Physik mathematisch scharf definiert, bezieht sich auf eine klar beschriebene Phänomenologie und erlaubt quantitative

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Vorhersagen, denen im Hinblick auf konkrete experimentelle Szenarien eine eindeutige Interpretation zukommt. Aufbauend auf dieser mathematischen Definition lassen sich mit Hilfe strenger mathematischer Logik Konsequenzen resonanter Kopplung ableiten, die weit über die offensichtlichen und daher ohne weiteres plausiblen Merkmale resonant gekoppelter physikalischer Einheiten – etwa die Vermittlung von Kontakt und Synchronismus durch Resonanz - hinausreichen. So führt die nichtlineare, resonante Kopplung periodischer Bewegungen zur Ausbildung stabiler, womöglich nichttrivial modifizierter kollektiver Bewegungsmoden, wie sich bereits am minimalistischen Beispiel eines Doppelpendels beobachten lässt. Die Stabilität dieser kollektiven Moden ist nicht zuletzt der durch die Nichtlinearität bedingten, immanenten Beschränkung ihres Energiegehalts geschuldet, die Resonanzkatastrophen vorbeugt. Wollte man diese Eigenschaften auf soziale, interpersonelle Resonanzphänomene beziehen, so ließe sich fragen, inwiefern der Begriff der nichtlinearen Resonanz etwa im Hinblick auf die Belastbarkeit kommunikativer Resonanz oder auf die Wahrung individueller Freiheit in einer solchen interpersonellen Resonanzbeziehung relevant werden kann. Doch Vorsicht: Gegenstand der Physik sind objektivierbare, nach den Gesetzen der Logik oder materiell reproduzierbare, messbare und prognostizierbare Phänomene. Aus der mathematisch präzisen Beschreibung dieses Teils der Wirklichkeit – und aus der Beschränkung auf diesen! – folgt ihre Wirkmächtigkeit und ihr Erfolg als Wissenschaft. Den Objekten der Geistes- oder Sozialwissenschaften kommt ein zusätzlicher – und unveräußerlicher – subjektiver Aspekt zu, der mit physikalischen Begrifflichkeiten nicht fassbar ist. Es erscheint offen und klärungswürdig, inwiefern für einen daher notwendig qualitativ zu erweiternden Resonanzbegriff dieser Disziplinen das hier skizzierte physikalische Verständnis tatsächliche Relevanz entfalten kann.

Resonanz wiederherstellen: Exemplum Instrumentenbau Im Gespräch: Ralf Schumann & Elke Schumann R EDAKTION : E LKE S CHUMANN

1 G EIGENBAU –

WIE ES DAZU KAM …

ES (Elke Schumann): Wir tragen den gleichen Nachnamen, aber wir sind nicht miteinander verwandt. Ich zumindest bin auch nicht mit Robert Schumann verwandt – wie ist das bei Ihnen? RS (Ralf Schumann): Nein, ich wahrscheinlich auch nicht. Robert Schumann war zwar u.a. in Düsseldorf und ich bin in einem kleinen Ort, nicht weit davon, aufgewachsen, aber trotzdem gibt es da wohl eher keine verwandtschaftliche Beziehung. ES: Aber Sie haben auch mit Musik zu tun – nicht als Komponist, aber als Geigenbauer und in Ihrer Werkstatt sitzen wir jetzt auch… Wie sind Sie zum Geigenbau gekommen? RS: Mein Großvater hat Geige gespielt und ich auch schon als Kind. In unserer Stadt gab es keinen Geigenbauer, also musste man entweder nach Köln fahren, was damals eine kleine Weltreise war, oder man ging in das Musikgeschäft im Ort, dort arbeitete jemand, der alles reparierte, was so anfiel – Trompeten, Klarinetten, Geigen… Er hat das dann wohl auch gemacht, so gut er konnte, aber meine Geigenlehrerin schimpfte immer über die Bogenbezüge. Und da sie bemerkt hatte, dass ich handwerklich begabt bin, sagte sie zu mir: Probier das doch selber mal. So hat das angefangen. Mein Vater, ein Werkzeugmacher, hat mir dann geholfen, das Werkzeug zu besorgen. Zuerst habe ich nur meine eigenen Bögen bezogen, dann auch die von Mitschülern aus dem

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Schulorchester – zum Materialpreis. Darauf war ich sehr stolz. Später habe ich auch kleinere Reparaturen gemacht, eine eigene Geige gebaut und mich schließlich an der Geigenbauschule beworben. Das war so eine Art Nadelöhr: Von einigen hundert Bewerbern wurden vierzig Personen zur Prüfung zugelassen und davon dann zwölf ausgewählt. Ich war sehr froh, dass ich da dabei war.

2 W IE

EIN

T ON ENTSTEHT : R ESONANZ IM I NSTRUMENT

Abbildung 1: Aufbau einer Geige

R ESONANZ WIEDERHERSTELLEN

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ES: Wie funktioniert eigentlich eine Geige? Wie breitet sich der Ton im Instrument aus? RS: (steht auf, nimmt eine Geige und einen Bogen) Erstmal ist es einfach: Man hat die Saite und die wird von dem Bogen angestrichen (es ist zu sehen, wie die Saite vibriert). Die Haare des Bogens sind mit einem speziellen Harz, dem Kolophonium, bestrichen, so dass an der Saite eine gewisse Haftung erzeugt wird. Nun wird die Saite in eine Richtung gezogen, bis die Klebkraft schwächer wird, dann schnellt die Saite zurück und dieser Vorgang wiederholt sich hunderte Male in der Sekunde. Dadurch entsteht der Ton. Der Ton überträgt sich auf den Steg, der wiederum überträgt die Schwingungen auf den Korpus. Der Korpus funktioniert nun wie eine Pumpe. Auf der Diskantseite, ca. 3mm unterhalb des Steges ist der sogenannte Stimmstock; der überträgt die Schwingungen von der Decke auf die Rückseite der Geige, den Boden. Auf der Bassseite unter dem Steg verläuft der sogenannte Bassbalken, der eine Federwirkung hat (zeigt auf den oberen Teil einer Geige, die Decke). Wenn nun die Saite angestrichen wird, wird die Vibration auf den Steg übertragen – der macht dann eine leichte Kippbewegung. Da, wo der Stimmstock ist, kann sich die Decke nicht so ausdehnen, auf der anderen Seite schon. Dadurch bewegt sich die Decke wie eine Pumpe. Man kann diese Bewegungen auch mit einem Stroboskop sichtbar machen. Bei den tiefen Frequenzen ist dieser Effekt sehr stark. Bei den hohen Frequenzen verliert sich der Effekt nach und nach; die Schwingungen werden eher auf den Boden übertragen bis zum Geigenhals und zur Schnecke. Der Boden einer Geige ist aus Ahorn, also aus hartem Holz, was auf hohe Frequenzen anspricht – die Decke dagegen aus Fichte, einem weichen Holz, das eher die tiefen Frequenzen verstärkt. Es gibt also verschiedene Ebenen: einmal die Luftraumresonanz, die Übertragung von Schwingungen durch den Luftraum im Instrument und dann kommen die verschiedenen Plattenresonanzen. Im tiefen Bereich arbeitet die Decke mehr und in höheren Bereichen arbeitet der Boden mehr und in den ganz hohen der Kopf, also die Schnecke. Das sind ganz grob die physikalischen Grundlagen, mit denen man erklären kann, wie durch das Streichen mit dem Geigenbogen ein Ton entsteht.

2 R ESONANZANALOGIEN ES: Sie bauen Geigen nicht nur, sie haben auch Techniken entwickelt, mit denen sich der Klang verbessern lässt. Wo setzen Sie an? RS: Ich gehe davon aus, dass der Aufbau der Geige eine Analogie zum menschlichen Körper, zum Knochengerüst hat. Wenn wir sprechen oder singen, aktivieren wir ver-

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schiedene Bereiche im Körper, im Sinne von Resonanzbereichen. Ich beobachte, was bei bestimmten Tönen in meinem Körper passiert und wenn die Geige ein ähnliches Muster hat, dann müsste sich diese Erfahrung auch auf die Geige übertragen lassen. ES: Das klingt zunächst plausibel, aber dann fragt man sich doch, inwieweit diese Analogie tatsächlich anwendbar ist. Greifen Sie dabei auf Vorwissen zurück oder haben Sie sich dieses Verständnis im Laufe Ihrer Arbeit erarbeitet? RS: Ich beschäftige mich auch mit meiner Stimme und mit meinem Körper und ich bemerke, wo einzelne Töne bei mir im Körper ›ankommen‹. Das ist eine Wahrnehmung, die ich trainiere. Die Voraussetzung dazu hat eigentlich jeder … ES: … nur die Wahrnehmung ist nicht so fein? RS: Ja, aber jeder kennt zum Beispiel das Gefühl, (lächelnd) das im Bauch entsteht, wenn zum Beispiel eine große Trommel geschlagen wird… ES: (lachend) Ja, das kennt wahrscheinlich jeder. RS: Ausgehend von solchen Grundwahrnehmungen arbeite ich weiter. Dabei bemerke ich, dass manche Töne eher im Kopf ankommen, andere eher in den Beinen oder in der Schulter. Man muss sich sehr konzentrieren, es kostet viel Energie, denn man muss eine entspannte Grundhaltung haben und trotzdem fokussiert sein. Mit dieser Haltung arbeitete ich mit Musikern, deren Instrumente in manchen Frequenzen nicht so klingen wie sich die Musiker das wünschen. Ich lasse mir dann die Töne immer wieder vorspielen und beobachte, wo in meinem Körper sich etwas verändert – meist ist es ein leichtes Kribbeln oder ein kleiner Schmerz. Dann versuche ich, am Instrument diese Stellen zu finden. Und dazu gibt es ein bestimmtes Klopfsystem, mit dem ich arbeite (nimmt eine Geige, stellt diese auf das linke Bein). Das ist die Bassseite, da wo die tiefen Saiten sind, und das ist die Diskantseite, da wo die hohen Saiten sind – und auch die Klopftöne sind jeweils tief und hoch (beginnt mit einem kleinen Stab zu klopfen, während er weiterspricht). Und dieses Muster zieht sich ganz durch – vom unteren Teil der Geige bis zum Hals und zur Schnecke. Und wenn jetzt zum Beispiel beim Klopfen die tiefen Töne auf der Diskantseite zu hören sind oder auch die hohen auf der Bassseite, dann ist im Stimmregister irgendetwas nicht ganz in Ordnung. Wir haben ähnliche Strukturen im Knochenbau (klopft über den Schläfen an beide Seiten des Kopfes). Das zieht sich durch den ganzen Körper.

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ES: (klopft sich selbst an die Schläfen) In der Tat… Und warum, denken Sie, ist das so? RS: (lächelnd) Das weiß ich nicht. Aber ich habe dazu ganze Skelette abgeklopft und da auch ein ähnliches Muster gefunden. Es besteht im Grunde aus drei Faktoren. Ein Faktor ist – wie schon beschrieben – das Links-Rechts-Verhältnis, ein zweiter ist das Verhältnis von vorn und hinten; vorne sind die Töne tiefer als hinten an der Wirbelsäule und an der Wirbelsäule wiederum höher als an den Seiten. Und ein dritter Faktor ist eine Art Linie von unten nach oben, vom Becken bis in den Kopf; die Töne werden kopfwärts immer höher. Das ist die Grundlage. Und ich versuche nun, die einzelnen Körperregionen auf das Instrument zu projizieren. Wenn sich bei einem Instrument zeigt, dass die Tonstruktur von der Struktur des Knochengerüsts abweicht – also dem Verhältnis von rechts-links, vorne-hinten und unten-oben, dann ist auch mit klanglichen Problemen zu rechnen.

3 R ESONANZ WIEDERHERSTELLEN : D ER S TEG RS: Wenn nun bestimmte Töne nicht funktionieren, dann gibt es verschiedene Möglichkeiten, das zu regulieren. Eine Möglichkeit bietet der Steg, weil er in seiner Struktur das ganze Instrument abbildet. Und ich kann auf der Rückseite des Stegs die Decke beeinflussen und auf der Vorderseite den Boden. Ich könnte Ihnen das mal vorführen… ES: Aber ja, sehr gerne… RS: (holt eine Schülergeige und spielt eine Tonleiter aufwärts) … das klingt etwas scharf. Man kann jetzt abklopfen und hören, was funktioniert und was nicht (klopft das Instrument ab) die Bassseite ist etwas höher… und der Ton am Boden ist tiefer als der an der Decke …das sollte umgekehrt sein. (klopft den Boden des Instruments ab) ES: Sollten nicht auch die Töne in der Mitte höher sein als am Rand? RS: Ja, genau. Das Instrument ist ziemlich durcheinander. Ich nehme mir jetzt den Steg und verändere den (entfernt den Steg und feilt vorsichtig). Das ist meine neueste Entdeckung: Die Rückseite bekommt eine Innenwölbung (klopft zur Kontrolle den Steg ab). Nun, das ist noch nicht ganz perfekt, aber immerhin schon eine grobe Rich-

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tung (baut dann den Steg wieder ein und klopft die Geige ab). Ja, das klingt besser (spielt wieder eine Tonleiter auf- und abwärts) … etwas weicher, oder? ES: Ja, aber bei den hohen Tönen dachte ich… RS: … da fehlt noch was, ja (klopft weiter). Man muss dazu sagen, unter der Last – also wenn der Steg wieder eingesetzt ist – ändert sich die Abstimmung wieder. Dann muss man weiter an der Form des Stegs arbeiten (schleift am Steg, klopft die Geige ab, korrigiert weiter am Steg – insgesamt ca. 5min lang). Okay, jetzt könnte es passen (spielt eine Tonleiter). Ja, die große Schärfe ist jetzt nicht mehr zu hören, aber natürlich könnte man nun noch weiter feinjustieren. ES: Das ist wirklich eine interessante Sache: Ich sehe, wie Sie an der Geige arbeiten, ich höre dann, wie sich die Klopftöne verändern und die Geige anders, schöner klingt … und doch frage ich mich: Wie kann das denn sein? Wo ist der Zusammenhang? Überspitzt gefragt: Wie kann es sein, dass so ein bisschen Schaben am Steg so eine große Wirkung haben kann? RS: Das Schaben oder Schleifen ist ja eine Veränderung der Form – wenn auch minimal. Und es ist die Form, die die Übertragung des Klangs prägt. Man kann sich das vorstellen wie einen Frequenzfilter, durch den ich die Töne durchschicke, bevor sie dann auf den Klangkörper kommen und verstärkt werden. ES: Ja, das leuchtet mir ein, weil die Töne, die durch das Streichen der Saiten entstehen, ja eine Art Weg zurücklegen. Warum aber ändern sich auch die Klopfgeräusche? Da bleibt das Instrument doch zunächst in Ruhe? Oder kann man das so nicht sagen? RS: Ja, die Geige ist während des Klopfens in Ruhe, aber das Schwingungssystem ist weiterhin vorhanden. Man muss sich das wie ein dreidimensionales Netz vorstellen, das an bestimmten Stellen verbunden ist und auch Spannungsknoten hat. Wichtig ist, dass an verschiedenen Stellen des Instruments die gleichen Muster zu finden sind – ich hatte ja schon vorher gesagt, dass der Steg die Klangverhältnisse der ganzen Geige widerspiegelt. Im Detail ist das ein sehr komplexes Geschehen, mit dem ich zwar arbeite, das ich aber eigentlich gar nicht so genau erklären kann. Und was den Steg betrifft: Wenn der sich verändert, werden auch die Töne anders geformt, bevor sie über den Klangkörper verstärkt werden. Man kann sich den Steg als eine Art Vorverstärker oder Mischpult vorstellen. Und an diesem Mischpult kann ich jetzt die einzelnen Regler einstellen. Klar, das klingt verrückt, dass ich eine solche Wirkung durch gezieltes, feines Schleifen erreichen kann.

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ES: (lächelnd) Ja, es klingt fast wie ein Mysterium, aber der Effekt ist wirklich beeindruckend. RS: Neulich traf ich eine Amateurgeigerin, die ein Instrument von mir hatte. Und da ich gerade erst auf die Bedeutung des Stegs aufmerksam geworden war, wollte ich gerne danach schauen. Denn natürlich möchte ich, dass meine Geigen optimal klingen. Heute bekam ich von ihr eine E-Mail, in der sie schrieb, dass die Geige jetzt viel klarer klinge und dass sie schnelle Läufe inzwischen viel leichter spielen könne.

4 R ESONANZ WIEDERHERSTELLEN : AKUPUNKTUR RS: Die Arbeit am Steg ist für mich selbst noch neu, damit kann ich besonders den Geigenkörper beeinflussen. Was ich dagegen schon länger praktiziere, ist etwas, das man mit Akupunktieren des Instruments umschreiben könnte. Es begann damit, dass mir vor geraumer Zeit auf Abbildungen von alten berühmten Instrumenten, z.B. bei Stradivari-Geigen,1 winzige Einstiche aufgefallen sind. Man kann diese Einstiche damit erklären, dass damals Schablonen benutzt wurden oder dass das Zirkeleinstiche sind, wie auch immer. Meine Frage war aber: Verändern diese Einstiche den Klang? Ich habe das anschließend an Schülergeigen ausprobiert und gemerkt, dass sich die Klopfgeräusche, mit denen ich mich bis dahin schon beschäftigt hatte, tatsächlich verändern. Damit habe ich weitergearbeitet und dabei allerlei Höhen und Tiefen erlebt, wie sie eben mit einer solchen Pionierarbeit verbunden sind. Man bewegt sich ja auf unbekanntem Terrain. Und das Ausprobieren hat seinen Preis. (lächelnd) Mittlerweile aber habe ich das ganz gut im Griff. Wenn wir uns nun nochmal die Geige anschauen (nimmt die Schülergeige, an der er gerade eben den Steg bearbeitet hatte und klopft sie ab) … ja, hier am Geigenhals ist noch eine Stelle, wo der es an der Diskantseite tiefer klingt. Besonders in diesem oberen Bereich kann ich mit Akupunktur besser arbeiten und vielleicht wird dadurch auch die E-Saite noch schöner. RS nimmt einen kleinen, spitzen Zahnarztbohrer und sticht an der Bassseite vorsichtig in das Griffbrett, kontrolliert klopfend und sticht wiederholt an verschiedenen Stellen bis die Bassseite tatsächlich tiefer klingt als die Diskantseite: Nach kritischem Prüfen der E-Saite setzt er das Klopfen und Akupunktieren im Bereich von Wirbelkasten und Schnecke fort und spielt dann nochmals die Tonleiter auf und ab.

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Stradivari: italienischer Geigenbaumeister (1648-1737), gilt gemeinhin als der beste Geigenbauer; seine Geigen sind mehrere Millionen Euro wert.

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ES: (nickt lächelnd) RS: (nickt ebenfalls) Jetzt klingt sie angenehm. ES: Und was ist nun genau bei der Akupunktur passiert? Das sind ja nur winzige Veränderungen. RS: Ja, das sind nur Einstiche in einer Größe von ca. einem Zehntelmillimeter. Physikalisch betrachtet wird durch den Einstich die Ausbreitung der Schallwellen im Material an dieser Stelle reflektiert. Man kann sich die kleine Vertiefung am Instrument so vorstellen wie ein Schilfrohr im Wasser. Da geht es zunächst nicht mehr weiter, ein Teil der Schallwelle wird reflektiert und mischt sich mit den neu ankommenden Schallwellen. Wir haben also eine Überlagerung von diesen beiden Wellen, dadurch entsteht eine höhere Frequenz und die Obertöne verändern sich. Das ist eine Erklärung, die aber bislang wissenschaftlich noch nicht nachgewiesen wurde. Was man allerdings messen kann, das ist der Effekt – also die Frequenzänderung.

5 R ESONANZBEZIEHUNGEN ES: Sie zitierten vorhin aus der E-Mail der Geigerin, die nun, nachdem Sie die Geige bearbeitet haben, schnelle Läufe ›leichter‹ spielen könne. Das bedeutet ja, dass es eine unmittelbare Resonanzbeziehung zwischen dem Instrument und dem Musiker gibt. Aber was genau bedeutet ›leichter‹? RS: Das Ganze ist ja ein komplexes System. Bei den Streichinstrumenten sind dabei drei Elemente von Bedeutung: der Musiker, der Bogen und das Instrument. Wenn nun ein Ton nicht richtig ›funktioniert‹, dann versuche ich als Musiker mit meiner Muskelspannung und mit meiner Körperhaltung den Ton so zu beeinflussen, damit er so klingt, wie ich das möchte. Das ist eine große Anstrengung, (lächelnd) aber jeder gute Geiger, holt auch aus einer Zigarrenschachtel noch einen guten Klang heraus. Wenn nun das Instrument sehr unausgeglichen ist, muss man für jeden Ton eine andere Herangehensweise wählen und das machen die Musiker auch, bewusst oder unbewusst. So wissen sie dann zum Beispiel, dass sie sich im Bereich der hohen Töne mehr konzentrieren müssen, um den gewünschten Klang zu erzeugen. Manchmal kann ich das sogar selbst beobachten: Die Musiker geben die richtigen Impulse; sie machen alles richtig, aber das Instrument ist blockiert – der Ton kommt nicht ›raus‹. Diese zusätzlichen Anstrengungen können schließlich zu Verkrampfungen und auf Dauer sogar zu medizinischen Problemen führen. Nach einer kleinen Bearbeitung meinerseits

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kann es sein, dass die Musiker dann sagen, dass sie weniger Kraft im Arm brauchen oder die Schulter loslassen können. Es kann aber auch heißen, dass sie ihre gewohnte Bogenhaltung verändern müssen. ES: Das bedeutet also, dass ein unausgeglichenes Instrument Resonanzblockaden verursachen kann. Wenn ich das richtig verstanden habe, kann man sich das Spiel wie einen Kreislauf vorstellen: Der Musiker überträgt seine Muskelspannung auf das Instrument, das seinerseits auf eine bestimmte Weise erklingt und wiederum den Musiker in seiner Spielweise beeinflusst usw. Idealerweise fließt dieser Kreislauf ohne Hindernisse und entwickelt eine positive Dynamik. Resonanzblockaden dagegen führen dazu, dass immer wieder kurze Verzögerungen in diesem Kreislauf entstehen, dass es immer wieder ›hakt‹. Dadurch wird dann eine besondere Anstrengung des Musikers nötig. Wenn nun aber das Instrument korrigiert wurde und wieder ›ausgeglichen‹ ist, muss eine solche Anstrengung nicht mehr erbracht werden. RS: Ja genau, und natürlich ist das eine Erleichterung. Aber für manche Musiker ist damit auch eine große Umstellung verbunden – vor allem, wenn sie sich jahrelang eine Technik angeeignet haben, um das Instrument buchstäblich ›beherrschen‹ zu können. Die müssen auf einmal lernen, locker zu lassen und darauf zu vertrauen, dass der Ton wie von selbst kommt. Das heißt, wir haben es hier mit einer Resonanzbeziehung zu tun, die vom Spieler reguliert wird, über das Ohr, aber auch über die Knochenleitung, denn das Instrument ist ja auch (nimmt sich eine Geige und klemmt sie in Spielhaltung unters Kinn) … am Körper. Und damit ist der Körper unmittelbar mit dem Instrument verbunden und wird so ein wesentlicher Bestandteil dieser Resonanzbeziehung. ES: Wir haben nun schon ganz verschiedene Resonanzbeziehungen im Blick gehabt: Was mich noch interessiert, ist die Resonanz zwischen Ihnen, dem Geigenbauer, und den Musikern, den Geigenspielern, die Ihnen ihre Instrumente anvertrauen und mit denen Sie arbeiten. RS: In der Regel kommen die Musiker und spielen mir die Töne vor, die sie problematisch finden. Das heißt, sie geben mir einen klaren Auftrag. Dann lasse ich die Töne auf mich wirken und klopfe ausgehend von der schon beschriebenen Analogie zum menschlichen Körper diejenigen Bereiche auf der Geige ab, die dafür potenziell in Frage kommen. Es kann aber auch sein, dass ich zuerst die Geige abklopfe und meinerseits eine ›Diagnose‹ stelle, welche Töne problematisch sein könnten.

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ES: Und was passiert dann weiter? Wie handeln Sie zusammen mit den Musikern aus, ob der der Ton schließlich ›gut‹ ist? RS: Das passiert in kleinen Schritten. Ich verändere nicht alles zugleich, sondern zunächst einmal nur an einer Stelle. Dann wird gespielt und vielleicht sagt die Musikerin dann, dass sie keinen Unterschied merkt, während ich aber doch eine Veränderung höre. Aber was ich wahrnehme ist für die Musikerin nicht relevant. Das heißt, ich muss noch weiter gehen, bis die Musikerin eine Veränderung bestätigt, die in ihrem Sinne ist. Und dann gibt es aber auch den anderen Fall: Die Musikerin zum Beispiel ist ganz zufrieden und ich sage: nee, da stimmt doch was nicht (beide lachen). Und ich frage dann, ob ich noch bestimmte Dinge machen darf. Meistens wird die Veränderung dann im Vergleich zum Zustand vorher wahrnehmbar – durch einen besseren Klang, eine leichtere, angenehmere Spielweise. Damit sind wir wieder bei der Resonanzbeziehung zwischen dem Musiker und seinem Instrument und die ist noch aus anderen Gründen wichtig: Wenn nämlich dieser Kreislauf ungestört fließt, dann kann er eine Dynamik entwickeln, die auch die Zuhörer erreicht und berührt. Und diese Berührung geht wieder zum Musiker zurück. Er bekommt also einen Resonanzraum geschenkt, in den er hineinspielt, der aber auch selbst mitvibriert. Man könnte sagen, dass die Zuhörer mit ihren Körpern dem Musiker einen zusätzlichen Resonanzraum zur Verfügung stellen. ES: Das ist ein wunderbares Schlusswort, weil es auf den Weg verweist, den wir gerade im Gespräch zurückgelegt haben: von der Resonanz innerhalb des Instruments, über strukturelle Analogien zwischen Knochengerüst und Instrumentenbau, zur Resonanzbeziehung zwischen Ihnen, als Geigenbauer, und dem Instrument bzw. zwischen Ihnen und dem Musiker bis hin zu Resonanzbeziehung zwischen dem Musiker und seinem Instrument …und eben auch dem Musiker und seinem Publikum. Ich danke Ihnen herzlich für das sehr anregende Gespräch.

Resonanz und Stimmung Musikalische Paradigmen im historischen Spannungsfeld von Anthropologie, Ästhetik und Physiologie M ARIE L OUISE H ERZFELD -S CHILD

In diesem Beitrag wird der metaphorische Sprachgebrauch von Resonanz und Stimmung in den Blick genommen und auf seinen »abstrakten Kern von Wahrheit« hin untersucht. Dazu wird diesen beiden Begriffen zunächst in der philosophischen Anthropologie Helmuth Plessners nachgegangen, bevor anschließend anhand exemplarisch ausgewählter musikästhetischer und physiologischer Schriften des 18. Jahrhunderts der Beginn der Transformationen von Resonanzund Stimmungskonzepten aus dem Akustisch-Musikalischen ins ÄsthetischAnthropologische aufgezeigt wird. Abschließend werden Querverbindungen aus dem 18. über das 19. zurück ins 20. Jahrhundert gezogen und Perspektiven für aktuelle und zukünftige Forschung zum Sprachgebrauch von Resonanz und Stimmung über die Fokussierung auf die gemeinsame musikalische Basis herausgearbeitet.

Kewords:

Resonanztheorie; Nervenstimmung; Metaphorologie; Musikästhetik

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EINLEITUNG

Das akustische Phänomen der Resonanz entsteht, wenn eine angestoßene, klingende Saite durch die von ihr ausgehenden Schallwellen weitere Saiten zum Mitschwingen und Mitklingen bringt. Um eine solche akustische Resonanz weiterer Saiten erzeugen zu können, ist jedoch eine spezifische Gespanntheit aller beteiligten Saiten die zwingende Voraussetzung: Sie müssen in bestimmten, der Obertonreihe entsprechenden Verhältnissen zueinander gestimmt sein, um mitschwingen zu können. Resonanz und Stimmung sind demnach zwei Seiten derselben Medaille und in der Geistesgeschichte stets als eng verwobene Phänomene behandelt worden. Beide Begriffe sind sowohl etymologisch als auch ideengeschichtlich akustisch-musikalischen Ursprungs, wurden jedoch ausgehend von akustischem Wissensgewinn und musikalischer Praxis im Verlauf des 18. Jahrhunderts zusätzlich zu ihrer ursprünglichen Bedeutung aus diesem Zusammenhang herausgelöst und über physiologische Empfindungslehren in Ästhetik und Anthropologie übertragen. Seitdem führen sie in anderen Wissensbereichen ein Doppelleben als metaphorisch verwendete Grundbegriffe und sind insbesondere in der philosophischen Anthropologie, der Phänomenologie, der Psychotherapie und auch den Sozialwissenschaften der vergangenen Jahrzehnte in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt. Ganz aktuell spricht etwa Hartmut Rosa in seinem Buch Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung von Stimmungen als »primäre Resonanzachse[n] zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Gefühlen und Atmosphären« (Rosa 2016: 636). Dies zeigt exemplarisch, wie der physikalisch-akustische Zusammenhang von Resonanz und Stimmung auf einer metaphorischen Ebene kurzgeschlossen wird: Dem Menschen wird eine verleiblichte und zugleich entäußerte Stimmung, eine Gespanntheit der Welt gegenüber zugeschrieben, die einen potentiellen Schwingungsbereich darstellt, der Resonanz zwischen dem Menschen und der Welt überhaupt erst möglich macht (oder sie verweigert). Doch wie ist dieses metaphorische Sprechen von Resonanz und Stimmung zu verstehen? Inwieweit ist den Resonanzkonzepten der Anthropologie, Phänomenologie, Psychotherapie etc. das ursprüngliche akustisch-musikalische Resonanzphänomen eingeschrieben? Und inwieweit kann musikhistorische Forschung den zeitgenössischen Ansätzen, die die Begriffe Resonanz und Stimmung metaphorisch verwenden, hilfreiche Zusatzinformationen zum Umgang mit und zur Weiterentwicklung von ihren Resonanzkonzepten bereitstellen? In diesem Beitrag soll das akustische Resonanzphänomen, dem sich unter anderem Arbeiten aus der systematischen Musikwissenschaft (vgl. Auhagen 2009) gewidmet haben, als Hintergrundwissen vorausgesetzt, aber nicht in den

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Vordergrund gerückt werden. Vielmehr soll es darum gehen, den metaphorischen Sprachgebrauch von Resonanz und Stimmung – der sich insbesondere bei der Beschreibung von im weiteren Sinne ›emotionalen‹ Phänomenen finden lässt – mit und in seiner historischen Dimension zu begreifen1. Gerade die Spannung zwischen dem metaphorischen Sprachgebrauch seit dem 20. Jahrhundert und seinem Ursprung in den Empfindungslehren des 18. Jahrhunderts soll dabei in den Blick genommen werden. Der vorliegende Text versteht sich demnach als Beitrag einer conceptual history von Resonanz und Stimmung, der die akustischen Ursprünge dieser beiden Begriffe ernst nehmen und sich daher ihrer gedanklichen Verbindung mit der Musik innerhalb einzelner ausgewählter Stationen dieser conceptual history besonders annehmen wird. Zunächst soll dazu (I) den Konzepten von Resonanz und Stimmung in Helmuth Plessners »Resonanz- und Ausdruckstheorie« (Hog 2015: 48) innerhalb seiner philosophischen Anthropologie nachgegangen werden (Kap. 2). Daran anschließend wird (II) ein Zeitsprung ins 18. Jahrhundert vollzogen, denn mit Boris Previšić muss die »epochale Scharnierstelle […] für den Funktionswandel musikalischer Paradigmen« (Previšić 2014: 4) in den Jahrzehnten zwischen 1740 und 1800 gesucht werden. Anhand exemplarisch ausgewählter musikästhetischer und physiologischer Schriften ab 1745 soll dort der Beginn der Transformationen von Resonanz- und Stimmungskonzepten aus dem Akustisch-Musikalischen ins Ästhetisch-Anthropologische aufgezeigt werden (Kap. 3). Schließlich geht es (III) darum, die Rezeption und Transformation der beiden musikalischen Begriffe in Physiologie und Ästhetik des fortschreitenden 18. Jahrhunderts genauer zu betrachten, um den Resonanz- und Stimmungsdiskursen der gegenwärtigen Forschung aus dem Bereich der Anthropologie, Phänomenologie, Psychotherapie etc. bereichernde Differenzierungsmöglichkeiten zu eröffnen. In diesem Sinne sollen abschließend Querverbindungen aus dem 18. Jahrhundert zurück in die Gegenwart geschlagen und dabei die historischen Konzepte mit aktuellen Forschungsperspektiven zu Resonanz und Stimmung über die gemeinsame musikalische Basis miteinander ›in Resonanz‹ gebracht werden (Kap. 4).

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Denn »[n]icht Identität und Konstanz sind die Leitbegriffe metaphorologischer Rekonstruktion, sondern Zeitlichkeit und Differenz. Historisches Verstehen verwirklicht sich für sie im Auflesen einer Bedeutung, die erst in der Verbindung mit dem vom rückblickenden Kommentar zu gewährenden Vorausblick auf das, war ihr durch Kritik und Rezeption faktisch zuwuchs, zu dem wird, was sie ist.« (Konersmann 2007: 12).

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RESONANZ UND STIMMUNG BEI PLESSNER

Im Rahmen seiner Überlegungen zur Ästhesiologie und Anthropologie der Sinne widmete sich Helmuth Plessner neben anderen Ausdrucksformen des Menschen an zahlreichen Stellen seines Œuvres auch der Musik als der dem Hörsinn adäquate Kunstform, und zwar insbesondere in den Schriften Zur Phänomenologie der Musik (1925), Sensibilié et raison. Contribution à la philosophie de la musique (1936) mit seiner deutschen Zusammenfassung Zur Anthropologie der Musik (1951) sowie Die Musikalisierung der Sinne. Zur Geschichte eines modernen Phänomens (1972). In diesem letzten Text kontrastiert Plessner die Eigenschaften des Hörsinns mit denen des Sehsinns, und zwar durch genaue Betrachtungen der jeweiligen künstlerischen Kongruenzen: Musik und Kunst. Im Zentrum steht dabei die Frage, inwieweit ein »Programm der Musikalisierung der Malerei« (Plessner 1982a: 483), wie es seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts immer wieder umzusetzen versucht worden sei, überhaupt gedacht werden könne. Es geht Plessner hier nicht um eine »Musikalisierung der Welt«, wie sie etwa Rosa aus seiner soziologisch orientierten Resonanztheorie ableitet (Rosa 2016: 64), sondern ausdrücklich um eine Musikalisierung der Sinne, d.h. um eine Übertragung der modalen Eigenschaften des Hörsinns auf den Sehsinn – ein Vorhaben, das eigentlich weder mit Resonanz noch mit Stimmung viel zu tun zu haben scheint. Dennoch sind Plessners Ausführungen für die Frage des vorliegenden Beitrags durchaus relevant. Denn sie beginnen mit allgemeinen Überlegungen zum Gebrauch von Musikmetaphern: »Das Wort von einer Musikalisierung der Sinne scheint auf den ersten Blick nur eine Metapher zu sein, mit der wir unserer Neigung nachgeben, für Eindrücke aus den verschiedensten Bereichen Ausdrücke aus der Musik zu verwenden. Wir sprechen ebenso von der Dominante eines Gedankens, vom kontrapunktischen Aufbau eines Gedankenganges, wie von der Musikalität einer architektonischen Fassade – zugegeben, nicht zur Freude des nüchternen Fachmannes, aber doch bei aller Emphase aufschlußreich. Denn die Metaphern kommen nicht von ungefähr, sondern enthalten im tertium comparationis einen abstrakten Kern von Wahrheit.« (Plessner 1982a: 481)2

Im Folgenden reflektiert Plessner über seinen eigenen Gebrauch von musikalischen Metaphern am Beispiel der »Musikalisierung der Sinne«. Diese Überle-

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Inwiefern im Sprachgebrauch über Musik wiederum Metaphern aus anderen sinnlichen Bereichen Einzug gefunden haben, hat Gregor Herzfeld eindrücklich am Beispiel des Redens über ›süße‹ Klänge seit dem Mittelalter beleuchtet (vgl. Herzfeld 2012).

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gungen lassen sich ohne Weiteres auch auf andere von ihm verwendete Metaphern aus dem Bereich der Musik übertragen, so insbesondere auf seinen Gebrauch der Begriffe Resonanz und Stimmung (sowie diesen eng verwandter Begrifflichkeiten wie Durchstimmung, Resonanzkörper etc.). Ohne jeglichen Anspruch auf Vollständigkeit seien im Folgenden zwei Momente des Gebrauchs von Resonanz und Stimmung bei Plessner genauer beleuchtet, und zwar in seinem eigenen Sinne als Suche nach einem »abstrakten Kern von Wahrheit« in ihrer spezifischen Verwendung. So spricht Plessner etwa in seiner Anthropologie der Musik (1951) hinsichtlich der voluminösen Konformität von Schall und menschlichem Leib3 von letzterem als »Resonanzkörper« (Plessner 1982b: 189). Dieses Bild ist nicht neu; schon im 18. Jahrhundert stand der menschliche Leib als Resonanzkörper im Zentrum der Ausführungen. Während diese historischen Konzepte jedoch in erster Linie auf die gespannten und gestimmten Nerven-Saiten, nicht auf den resonierenden Körper gerichtet waren, konzentriert sich Plessner auf die Raumhaftigkeit, Ausgedehntheit und Voluminosität des Leibes, die ihn überhaupt erst zu einem Resonanzkörper werden lassen kann. Für Plessner haben Töne »gefühlsmäßige Wirkungen, weil sie Impulswerte für Haltung und Motorik unseres leibhaften Daseins besitzen. Deshalb werden wir von einer taktmäßig betonten Folge von Tönen mitgenommen und in ihren Rhythmus hineingezogen. Sie ›gehen durch und durch‹.« (Ebd.: 190). Rhythmus und Impulswerte der Töne und Tonfolgen wirken demnach unmittelbar auf den menschlichen Leib ein. Sie geben ihm mit ihrer und in seiner Voluminosität die Möglichkeit zur Resonanz und wirken darin »gefühlsmäßig«; eine Formulierung, die unter Rückgriff auf Plessners jüngere Schrift Lachen und Weinen. Eine Untersuchung der Grenzen menschlichen Verhaltens (1941) in ihrem ganzen Ausmaß erkennbar wird. Unter der dort verwendeten Binnenüberschrift »Die Resonanz des Gefühls« (Plessner 1982c: 345) kann herausgearbeitet werden, dass Resonanz für Plessner aufs engste mit dem emotionalen Leben der Menschen verbunden ist. Konsequenterweise zieht er in dem Moment, in dem er sich vom Resonanzkörper Leib dem Gefühl, und damit den Schwingungen im bzw. am Resonanzkörper, zuwendet, den der Resonanz eng verwandten Begriff der Stimmung hinzu, wenn er Gefühle ausdrücklich als »durchstimmende Angesprochenheiten« definiert. In diesem Kontext schließlich findet sich eine äußerst große Dichte an musikalischen Metaphern, die eng an den Leib als Resonanzkörper anschließen:

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Zu Plessners Musikphilosophie und insbesondere der »Leibähnlichkeit des Tones als Ursprung des Mitvollzugs« vgl. Geisler 2016: 121ff.

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»Als durchstimmende Angesprochenheit steht das Gefühl […] zwischen ›Reaktion‹ und ›Antwort‹. Für eine Reaktion […] ist es zu lose mit dem Anlaß verknüpft. Es wird nicht einfach (von einem Reiz) ausgelöst und gleichsam in Gang gebracht, sondern eine Qualität ›spricht‹ zum Menschen und weckt in ihm eine Resonanz. Und für eine Antwort ist das Gefühl wieder zu innig an den Anlaß gebunden. Dieser ruft nicht erst eine persönliche Stellungnahme hervor und schafft keine fragliche Situation, sondern bringt den Menschen (wenn auch über eine Distanz hinweg, dem Echo vergleichbar) zum Erklingen. Als entsprechende Schwingung, in die tiefer oder flacher, stiller oder aufgeregter der ganze Mensch gerät, hält das Gefühl zwischen Reaktion und Antwort, den beiden Typen der Entgegnung, welche das Leben kennt, die Mitte.« (Ebd.: 349f.)

Es ist durchaus bemerkenswert, dass Plessner umso mehr musikalische Metaphern verwendet, je mehr er sich mit seinem Resonanzkonzept dem zugrunde liegenden akustischen Resonanzphänomen annähert: Nicht nur verknüpft er die Rede vom Leib als Resonanzkörper mit der vom Gefühl als »durchstimmende Angesprochenheit«, nicht nur bringt er das akustische Phänomen des Echos mit dem des Erklingens in Stellung. Plessner beschreibt darüber hinaus explizit das akustische Resonanzprinzip, in dem sich gemäß der Obertonreihe »entsprechende Schwingungen« von Saiten unverzichtbare Voraussetzung sind. Bei Plessner nun ist es der ganze Mensch, der in »entsprechende Schwingungen« versetzt wird, und zwar auf zahlreiche potentielle raumhafte und motorische Weisen, »tiefer oder flacher, stiller oder aufgeregter«. Der »Kern von Wahrheit« der aus dem Bereich der Musik entstammenden Metaphern, von dem in Die Musikalisierung der Sinne die Rede ist, wird an dieser Stelle somit höchstmöglich konkret, da das anthropologische Konzept äußerst stark an dem akustischen Resonanzphänomen ausgerichtet ist. Dennoch verwendet Plessner die Begriffe Resonanz, Schwingung oder auch Durchstimmung in seiner Resonanz- und Ausdruckstheorie gänzlich vom akustisch-musikalischen Ursprung losgelöst – dieser wird metaphorisch auf den Menschen übertragen: So wie der menschliche Leib bei Plessner als musikalischer »Resonanzkörper« bezeichnet wird, so wird die Beschaffenheit und Befindlichkeit dieses menschlichen Leibes als »Durchstimmung« sowie sein motorisches, affektives und emotionales, auf die Weltbeziehung gerichtetes »Echo« als »Resonanz« erkannt. Weder Physik, Akustik noch Musik, sondern der Mensch und seine Kommunikation in der Welt sind Ausgangs- und Endpunkt dieser Überlegungen. Die akustisch-musikalischen Metaphern Resonanz und Stimmung sind somit hier bei Plessner weder in physikalischem noch musikalischem Sinne interessant, sondern werden für seine Philosophie vom Menschen, seine philosophische Anthropologie, fruchtbar gemacht.

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Die Bedeutung von Resonanz, Stimmung und verwandten Begriffen in zeitgenössischen Diskursen, die auf vergleichbaren Anthropologiekonzepten aufbauen, ist fraglos eine große. Nimmt man diesen Befund ernst, so scheint es, als würden sich gerade musikalische Begriffe für Fragen der Anthropologie besonders anbieten; ein Befund wiederum, der der trotz des sogenannten acoustic turn immer noch geringen Präsenz von Musik(wissenschaft) im interdisziplinären Gespräch zu diesem und vergleichbaren Themen seltsam konträr entgegensteht. Dabei scheint eine genauere Betrachtung der Trias Anthropologie – Ästhetik – Musik geradezu prädestiniert für Erkenntnisgewinne über den Menschen zu sein, und zwar nicht nur für gegenwärtige, sondern auch für auf die Geschichte gerichtete Fragen der Anthropologie – eine Beobachtung, die keinesfalls normativ, sondern vielmehr empirisch begründet werden kann. In diesem Sinne soll im Folgenden diese Trias Anthropologie – Ästhetik – Musik in ihrer Ausprägung im 18. Jahrhundert betrachtet werden. Denn der Blick über die so häufig als relevant angenommene Epochengrenze um 1800 hinaus auf die Rezeption und Transformation der Begriffe Resonanz und Stimmung bei den Ästhetikern und den »anthropologischen Ärzten« (vgl. grundlegend Zelle 2001) des fortschreitenden 18. Jahrhunderts fokussiert nicht nur auf die Geburtsstunden sowohl der Ästhetik als auch der Anthropologie (vgl. Schneider 1987: 122ff.), sondern kann außerdem historische Verankerungspunkte schaffen und den aktuellen Resonanz- und Stimmungsdiskursen bereichernde Differenzierungsmöglichkeiten geben.

3 RESONANZ- UND STIMMUNGSKONZEPTE IM 18. JAHRHUNDERT Bei seinen Versuchen zwischen Anthropologie und Ästhetik zu vermitteln, hat Reinhard Schneider Plessners Ansätze mit denen Johann Gottfried Herders im Sinne einer Wahlverwandtschaft kurzgeschlossen (vgl. ebd.). In der Tat scheint beispielsweise die von Plessner konstatierte Eigenschaft der Musik, als »künstliche Grenze« zwischen der zentrischen und exzentrischen Positionalität des Menschen zu wirken, indem sie durch ihre zur Resonanz auffordernden motorischen Impulswerte die Grenzübertritte in Exzentrische geradezu heraufbeschwört und die Motorik gleichzeitig jedoch ins Zentrische zurückverweist (vgl. z.B. Plessner 1982b: 198), bei Herder schon angelegt zu sein. Darüber hinaus lässt sich bei ihm auch eine starke Verwandtschaft zu Plessners leiblich orientiertem Resonanzkonzept feststellen, die jedoch gerade bei der Frage des metaphorischen Sprachgebrauchs einen entscheidenden Knackpunkt aufweist.

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Insbesondere in seiner frühen Schrift Viertes kritisches Wäldchen (1769) entwickelte Herder ein anthropologisches und empfindsames Resonanzmodell, das ganz dem wirkungsästhetischen Konzept des Mitschwingens verpflichtet und für sein weiteres Denken als paradigmatisch anzusehen ist. Seine »Philosophie des Tonartig Schönen« (Herder 1987: 140) baut auf einem psychophysiologischen Stimmungskonzept der Gehörnerven auf. Es beschreibt den Vorgang des Hörens als auf einem »Saitenspiel der Gehörfibern« basierend, »die in Zahl, in Lage, in Verhältnis gegen einander, in Länge verschieden, gleichsam auf den modificierten Schall warten« (Herder 1987: 150). Die jeweilige Art der Spannung – und damit der Stimmung – der einzelnen Saiten dieses »Saitenspiels der Gehörfibern« sowie die Qualität des auf sie treffenden Schalls führen zu unterschiedlichen Resonanzen, und das heißt bei Herder: zu unterschiedlichen Empfindungen im Menschen, die letztlich in ästhetische Gefühle übergehen. Herders »Philosophie des Tonartig Schönen« ist jedoch nur ein (wenn auch ein prominentes) Beispiel für damalige Resonanzkonzepte. Denn wie Wolfgang Scherer herausarbeitet hat, »avancierten« Resonanzkonzepte im Kontext des späten 18. Jahrhunderts zu »dem Modell schlechthin [der] musikalischen Kommunikation ›ohne Worte‹« (Scherer 2009: 88), genau der Art von »reiner Musik« also, die auch für Plessner den Grundstein seiner Untersuchungen bildete (vgl. Plessner 1982a, 1982b, 1982c). Resonanz als »Modell einer begriffslosen ›Sprache der Empfindungen‹« (Scherer 2009: 88) lässt sich im fortgeschrittenen 18. Jahrhundert in allen Bereichen des musikalischen Lebens finden: In Musikästhetik und Musikliteratur, in Anleitungen zum Instrumentalspiel4 und in der musikalischen Praxis. Dort realisierte sich das Resonanzmodell im Musizieren am Clavichord, einem Tasteninstrument, das sich damals nicht nur aufgrund seiner vergleichsweise geringen Kosten, sondern auch seiner klanglichen Möglichkeiten großer Beliebtheit erfreute. Denn im Gegensatz zu anderen Tasteninstrumenten seiner Zeit, etwa dem Cembalo oder dem Spinett, werden die Saiten des Clavichords nicht mit einem Keil gezupft, sondern durch kleine Metallplättchen (sogenannte Tangenten) angeschlagen, die gleichzeitig auf der Saite liegenbleiben und sie wie ein Steg in ihrer Schwingung begrenzen. Über die leicht ansprechenden Tasten haben die

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Die bekannteste dieser Anleitungen ist zweifellos Carl Philipp Emanuel Bachs Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen (1753), der die viel zitierten Sätze beinhaltet: »Indem ein Musickus nicht anders rühren kann, er sey dann selbst gerührt; so muß er notwendig sich selbst in alle Affeckten setzen können, welche er bey seinen Zuhörern erregen will; er gibt ihnen seine Empfindungen zu verstehen und bewegt sie solchergestallt am besten zur Mit-Empfindung« (Bach 1957: 122).

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Spieler direkten Zugriff auf die auf der Saite aufliegenden Tangenten und können so den Klang des Clavichords mitgestalten: durch Auf- und Abwiegen der Tasten können sie die Saite vibrieren, ihrem »Atmen« und ihrem »empfindsamen Ach« entsprechend »beben« lassen (ebd.: 89). Das Musizieren am Clavichord ermöglichte demnach eine Vielzahl von Resonanzphänomenen gleichzeitig: Erstens war das Instrument mit seinen gespannten und gestimmten Saiten ein Resonanzkörper im akustischen Sinne; zweitens war der spielende Mensch ein Resonanzkörper für die musikalischen Klänge des Clavichords, was sich in seinen individuellen Empfindungen manifestierte; drittens konnte der musizierende Mensch seine Empfindungen durch die spezielle Tangentenmechanik des Clavichords durch Modifikation und Vibration im Anschlag klanglich sehr viel genauer und selbstwirksamer umsetzen, als es auf jedem anderen Tasteninstrument der Zeit möglich gewesen wäre, so dass das Clavichord nicht nur zum akustischen, sondern auch zum emotionalen Resonanzkörper der Musizierenden selbst wurde; und viertens schließlich wurden die Zuhörer ebenfalls als empfindsame und empfindende Resonanzkörper in das große Ganze miteinbezogen. Für die Resonanzkonzepte der Ästhetiker des ausgehenden 18. Jahrhunderts bilden die gespannten und mitschwingenden Saiten eines Musikinstruments durchweg den Referenzpunkt. So prägte etwa Christian Friedrich Daniel Schubart in seinen 1806 veröffentlichten, doch schon in den 1780er Jahren verfassten Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst den Begriff der Cordialsaiten: der gespannten Saiten des menschlichen Herzens, das damit »gleichsam der Resonanzboden des großen Tonkünstlers« wird, »sein Hauptaccord und mit so zarten Saiten bespannt, daß sie von jeder harmonischen Berührung zusammenklingen« (zit. nach ebd.); Wilhelm Heinse beschreibt in seinem Musikroman Hildegard von Hohenthal (1796) das »Gefühl selbst« als »nicht anders als eine innere Musik, immerwährende Schwingung der Lebensnerven« (zit. nach ebd.: 90); und Herder stellt den engen Zusammenhang zur Praxis in den Mittelpunkt, wenn er schreibt, die Musik spiele »in uns ein Clavichord, das unsere eigene innigste Natur« (zit. nach ebd.: 91) sei. Es handelt sich bei diesen Beispielen aus dem späten 18. Jahrhundert nicht um rein metaphorisches Sprechen, sondern um Grenzgänger zwischen metaphorischem und buchstäblichem Sprachgebrauch, was nicht zuletzt dem Umstand geschuldet ist, dass es sich um Beobachtungen, Überlegungen und sorgfältig in Worte gefasste Formulierungen aus dem Bereich der Musik und ihrer Wirkung auf den Menschen handelt. Das Resonanzmodell der Musikästhetik des 18. Jahrhunderts zielte darauf, den ›unsichtbaren‹ Übergang von Empfindung zu Gefühl im Menschen genauer zu fassen: Körperliche Schwingungen überschreiten genau an diesem Übergang

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die Grenze zur resonierenden Seele, womit gleichzeitig die Grenze zwischen buchstäblichem und metaphorischem Sprachgebrauch von Resonanz und Stimmung lokalisiert ist. Die Frage, wie körperliche Empfindungen zu seelischen Gefühlen werden können, war jedoch nicht auf den Bereich des Machens von bzw. des Denkens und Schreibens über Musik begrenzt. So finden sich Resonanzmodelle ebenso in der damaligen Literatur, im Denken über Gesellschaft und Staat oder in der Medizin (für einen umfassenden Überblick siehe die Beiträge in Moosmüller/Previšić/Spaltenstein, erscheint 2017). Das »Modell schlechthin [der] musikalischen Kommunikation ›ohne Worte‹« (Scherer 2009: 88) wurde zu einem Modell der grundsätzlichen »Kommunikation ›ohne Worte‹« zwischen Kunst und Subjekt, zwischen Welt und Subjekt oder zwischen zwei Subjekten im intersubjektiven Miteinander. Der metaphorische Gebrauch von Resonanz und Stimmung, der genau auf die rätselhaften Schnittstellen der Weltbeziehung des Menschen gerichtet ist, kann damit als bestes Beispiel für Hans Blumenbergs Beobachtung dienen, Metaphern würden gerade dann hinzugezogen werden, wenn man an die »Grenze des begrifflich Fassbaren« (Schlechtriemen 2008: 74) gerät und »Institutionen [schafft], wo Evidenzen fehlen« (Blumenberg 2001: 411). Ein Blick auf vergleichbare Konzepte aus nicht-musikalischen Bereichen des späten 18. Jahrhunderts offenbart demnach eine umso stärkere Ablösung der Resonanz und insbesondere der Stimmung vom ursprünglich akustisch-musikalischen Bezug. So spricht etwa der Arzt Ernst Platner in seiner Neuen Anthropologie für Aerzte und Weltweise von 1790 im Zusammenhang der Wahrnehmungen und Empfindungen rein metaphorisch von der »Stimmung des Gehirns« (Platner 1790: 181), »des Nervengeistes« (ebd.: 203f.) oder »der Seele« (ebd.: 465), ohne dass ein musikalischer oder wenigstens ein modellhaft mit schwingenden Saiten verknüpfter Bezug erkennbar wäre (vgl. Herzfeld-Schild, erscheint 2017). Richtet man den Blick jedoch auf medizinische Abhandlungen vor Platner, so findet man dort psychophysiologische Resonanzkonzepte, die offenbaren, dass das Sprechen in musikalischen Paradigmen innerhalb der Medizin des 18. Jahrhunderts keineswegs immer metaphorisch war. Denn der Arzt und Philosoph Johann Gottlob Krüger entwickelte seit den 1740er Jahren eine Empfindungslehre, die von den Nerven als gespannten Saiten im menschlichen Körper ausgingen, die als solche durch ihre Schwingungen die Kluft zwischen Physis und Psyche überwinden konnten – was auf einem umfassenden, ganzheitlichen, die Dualität zwischen Körper und Seele tendenziell aufhebenden anthropologischen Verständnis gründete. Krügers Physiologie von 1745 hatte nachweislich einen großen Einfluss auf die Ästhetiker der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (neben Herder u.a. auch

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Johann Georg Sulzer und Moses Mendelssohn; vgl. Herzfeld-Schild, erscheint 2017; Welsh 2009). Aktuelle Forschung legt daher die Annahme sehr nahe, dass der Sprachgebrauch von Resonanz und Stimmung, wie er seit dem fortschreitenden 18. Jahrhundert selbst zu einem Paradigma der Empfindsamkeit wurde und von dort aus in Metaphern transformiert wurde, wenigstens mittelbar auf Krügers Physiologie zurückzuführen ist. Krügers vertrat die These, »daß der menschliche Leib wohl keiner Sache so ähnlich sei, als einem musicalischen Instrumente« (Krüger 1748: 645), und zwar ausdrücklich einer »Violine« (ebd.). Diese beruhte auf seinem Verständnis des Nervensystems, das von elastischen und gespannten Nerven ausging (im Gegensatz zu späteren Lehren, die beispielsweise den Nervensaft als Lebensgeist in den Mittelpunkt stellten). Durch eben diese Eigenschaften befänden sich die Nerven »in den Umständen, darinnen wir eine gespannte Saite auf einem musicalischen Instrumente antreffen. Solchergestalt lässt sich dasienige, was von der Bewegung solcher gespannten Saiten erwiesen worden, bey den Nerven wieder anbringen« (ebd.: 585). Durch seine »Vergleichung« (ebd.: 645) der Nervenhäute und ihrer Fäserchen mit den gespannten Saiten einer Violine kann Krüger das damalige Wissen über die akustischen Gesetzmäßigkeiten der Resonanz grundlegend in seine Überlegungen mit einbinden, was es ihm ermöglicht, seinen Blick von den Nerven auf die Empfindungswelt auszudehnen: »Wenn eine gespannte Saite angestossen wird, so geräth sie in eine zitternde Bewegung, wie wir solchen nicht nur mit Augen sehen, sondern auch gar leicht aus den Gesetzen der Elasticität erweisen können. Wenn nun die Nervenhäute nicht anders anzusehen sind, als wenn sie aus lauter solchen gespannten Saiten zusammengesetzt wären […]: so müssen sie ebenfals in eine zitternde Bewegung gerathen wenn ein anderer Cörper mit zureichender Kraft an sie anstößt. Da […] die Nervenhäute keiner andern als einer zitternden Bewegung fähig sind: so wird auch die Empfindung vermittelst der zitternden Bewegung der Nervenhäute hervorgebracht werden müssen.« (Ebd.: 585f.)

Im Gegensatz zu Plessner legte Krüger den Fokus seiner Überlegungen jedoch nicht auf die Resonanz der schwingenden Nervenfasern und demnach auf den menschlichen Leib als Resonanzkörper, sondern vielmehr auf die Qualität der Spannung, Stimmung und Schwingung dieser Nervenfasern, was sich in Herders Saitenspiel der Gehörfibern oder Schubarts Cordialsaiten widerspiegelt. Bei Krüger mündet die Berechnung der einzelnen Empfindungsqualitäten (zusammengesetzt aus je nach Temperament des Menschen unterschiedlich gearteter Nervendicke, -spannung bzw. -elastizität sowie der Größe der äußeren Einwirkung) letztlich in einem anthropologischen Stimmungssystem. Geht man mit

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Previšić davon aus, dass Krüger über die musiktheoretischen Diskurse zu den unterschiedlichen Stimmungssystemen seiner Zeit informiert war (Previšić 2012: 135ff.), so liegt hier eine Analogie zwischen den zahlreichen Möglichkeiten der Instrumentalstimmungen und den verschiedenen neurologischen ›Stimmungen‹ des Menschen überaus nahe - eine Analogie, in Krügers Worten eine »Vergleichung«, jedoch kein metaphorisches Sprechen in musikalischen Begriffen. Denn es handelt sich hier um die Übernahme eines akustischen und musikpraktischen Phänomens in die Physiologie, die alle Anteile dieser Phänomene aus dem einen in den anderen Bereich überführt – mit Ausnahme der Klanglichkeit der Phänomene selbst. Damit jedoch ist Krüger durchaus in respektabler Gesellschaft. Denn schon die Anhänger des wirkmächtigen pythagoreischen Konzepts einer gottgegebenen (Sphären-)Harmonie, das als quadriviale Seite der Musik von der Antike über das Mittelalter bis in die Renaissance das Denken und Schreiben über Musik nachhaltig prägte und im mathematischen Modus auch die wissenschaftliche Revolution und die Aufklärung überdauerte, schienen sich trotz immer wieder geäußerter Kritik am Schweigen des Makrokosmos nicht zu stören.5

5 TRANSFORMATION VON RESONANZ UND STIMMUNG: EIN AUSBLICK Mit Krügers Nervenstimmungskonzept und dessen Rezeption in der Ästhetik der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hat der historische Rückwärtsgang auf der Suche nach den Ursprüngen der Begriffstransformationen von Resonanz und Stimmung aus dem buchstäblichen in den metaphorischen Bereich einen (ersten6) Endpunkt gefunden. Dieser Punkt wurde von Krüger selbst ausdrücklich charakterisiert durch eine »schwesterliche Verbindung […] zwischen Artzneygelahrheit und Weltweisheit« (Krüger 1756: 20). Aufgrund dieses methodischen Ansatzes hat sich in der heutigen Forschung für Krüger und seine Schüler die Bezeichnung »Anthropologische Ärzte« durchgesetzt, die damit die Geburtstunde der Ästhetik und die der Anthropologie um die Mitte des 18. Jahrhunderts eng ver-

5

Zur bekannten Kritik des Aristoteles an der Unsinnigkeit der Sphärenharmonie aufgrund des fehlenden Klanges siehe Aristoteles, De Caelo 290b12ff.

6

Das Spielen der Musiktheoretiker mit dem Phänomen der Resonanz lässt sich auch in zahlreichen älteren Schriften auffinden (siehe dazu Auhagen 2009), jedoch ohne direkte Anbindung an den ›Siegeszug‹, den das Resonanz- und Stimmungsmodell in Anlehnung an Krüger ab der Empfindsamkeit bis in unsere Gegenwart hinein antreten konnte.

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knüpft und im gedanklichen Umfeld dieser Ärzte ansiedelt. Resonanz und Stimmung sind damit nicht nur als zentrale Konzepte der physiologischen Empfindungslehren dieser Ärzte zu verstehen, sondern rücken in den Mittelpunkt der aufkommenden Ästhetik und Anthropologie. Die historische Brücke, mit der von Plessners philosophischer Anthropologie über Herders »Philosophie des Tonartig Schönen« ins 18. Jahrhundert übergeleitet wurde, findet hier ihre Eckpfeiler. Auch wenn das anthropologische Wissen (insbesondere hinsichtlich des Leib-Seele-Diskurses) auf den sich gegenüberliegenden Ufern unterschiedlich charakterisiert und auch das jeweilige Wissen über die Musik und ihre Eigenschaften (insbesondere hinsichtlich ihrer Zeit- oder Raumbeschaffenheit) anders gelagert ist, so lassen sich zwischen Krüger, Herder (u.a.) und Plessner dennoch ›resonierende‹ Momente finden, die hingegen vor Krüger und nach Herder bis ins beginnende 20. Jahrhundert hinein eher im Hintergrund standen. Plessners Gedanken aktualisieren »unter neueren anthropologischen Vorzeichen« (Hog 2015: 48) die Resonanzkonzepte des 18. Jahrhunderts: So entspricht etwa Plessers Beschreibung der unterschiedlichen Schwingungsqualitäten »tiefer«, »flacher«, »stiller«, »aufgeregter« oder sein Hinweis auf die verschiedenen Temperamente des Menschen, die die Resonanz auf die »durchstimmenden Angesprochenheiten« beeinflussen können, erstaunlich stark der Empfindungslehre Krügers. Grundsätzlich ging es (unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Wissensbasis) sowohl den Denkern des 18. Jahrhunderts als auch Plessner (und ihm folgenden Autoren) darum, den Menschen in seiner Ganzleiblichkeit in den Blick zu nehmen und dabei insbesondere den Zusammenhang der Sinne zu- und untereinander im Rahmen einer Ästhesiologie verstehen zu lernen. Dieser Ansatz entspricht einer Konzentration auf Simultaneität, eine gleichberechtigte »Polyphonie« der Dinge und der Sinne, anstelle von Sukzessivität, oder auch einer künstlich hergestellten »Einstimmigkeit« der sinnlichen Wahrnehmung, die mit Michel Foucault dem historisierenden 19. Jahrhundert als Paradigma zugeschrieben werden kann (vgl. Previšić, erscheint 2017) und sich für den Hörsinn beispielsweise im bildungsbürgerlichen Ideal des unbewegt sitzenden Hörens im Dunkel des Konzertsaals (am besten noch mit geschlossenen Augen) manifestierte. Doch inwiefern können diese Verwandtschaften der heutigen Resonanzkonzepte mit denen der Anthropologie der Aufklärung für unseren heutigen Sprachgebrauch von Resonanz und Stimmung relevant sein? Verlieren diese nicht mit der veränderten anthropologischen, naturwissenschaftlichen und ästhetischen Wissensbasis die Berechtigung, überhaupt herangezogen werden zu können?

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Geht man von Plessners These eines »abstrakten Kerns von Wahrheit« bei der Verwendung von musikalischen Metaphern aus, so muss man diese Frage positiv beantworten: Die Resonanzkonzepte der Vergangenheit stellen einen Bedeutungsüberschuss dar, der zwar im metaphorischen Gebrauch nicht bewusst mitgedacht, aber dennoch stets mitgetragen und mittransportiert wird. Entschließt man sich dazu, seine Aufmerksamkeit bewusst auf diesen Bedeutungsüberschuss zu richten, dann kann dies für die gegenwärtige Resonanzforschung zu anders justierten Fragestellungen und damit auch zu neuartigen Antworten führen. Wenn Thiemo Breyer unter Bezugnahme auf Thomas Fuchs ausdrücklich betont, dass erstens der Leib »als Resonanzboden für Stimmungen [fungiert], indem er ›die stimmungsräumlichen Phänomene in seine Eigenresonanz‹ überträgt« (Breyer 2015: 49) und zweitens »[d]iese elementare Resonanzfähigkeit […] eine wesentliche Voraussetzung für Empathie« (ebd.) sei, so wird deutlich, dass das Reflektieren über den Bedeutungsüberschuss von Resonanz und Stimmung insbesondere die Bereiche der Empathie, der Einfühlung, der intersubjektiven »Synchronisierung« (ebd.) u.ä. mittangieren kann. So wäre es beispielsweise lohnenswert, im Sinne Krügers nicht nur den Leib als Resonanzkörper in den Blick zu nehmen, sondern den Fokus auch darauf zu richten, was am Leib als Resonanzkörper genau in Schwingung versetzt wird und welche Funktion wiederum die Stimmung dabei haben kann. Auch könnte unter Bezugnahme auf das akustische Resonanzphänomen die Bedeutung von emotional-intersubjektiver Resonanz als Antwort, Echo, Spiegelung etc. einer erneuten Prüfung unterzogen werden, indem etwa der Gebrauch der musikalischen Metapher Resonanz dem der visuellen Metapher Spiegelung gegenübergestellt und untersucht wird, inwieweit die Beschreibung und Benennung von Wahrnehmungsakten auf die spezifische Art der Wahrnehmung selbst verweist und wie diese Wahrnehmung wiederum strukturiert ist, um in erster Linie den visuellen oder aber den auditiven Sinn anzusprechen. Umgekehrt kann auch für die Musikphilosophie, Musikanthropologie und musikwissenschaftliche Emotionsforschung das Sprechen von Resonanz und Stimmung in nicht-musikalischen Zusammenhängen neue Ansätze und Erkenntnisse insbesondere für die Frage der emotionalen Wirkung von Musik mit sich bringen, da über den Bedeutungsüberschuss der Metaphern all diese Bereiche reziprok miteinander verbunden sind. Während in der Phänomenologie sowie in anderen Kunstwissenschaften der Stimmungs- und Resonanzbegriff wachsende Beachtung findet, öffnet sich die Musikwissenschaft diesen eher ephemeren Phänomenen jedoch immer noch recht zögerlich. Die Frage von Resonanz im Sinne der Empathieforschung kann in diesem Zusammenhang ebenfalls relevant werden. Auch wenn mit romantisierenden Heilsversprechen durch Musik vor-

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sichtig umgegangen werden sollte, so scheint insbesondere sozial- und naturwissenschaftliche Forschung tatsächlich einen engen Zusammenhang zwischen Empathie und Musik nahezulegen (vgl. zusammenfassend Clark/DeNora/Vuoskoski 2015). Die in diesem Beitrag herausgearbeiteten Wurzeln der musikalischen Metaphern in Physiologie und Musikästhetik des 18. Jahrhundert eröffnen weitere Möglichkeiten zum Verständnis des Zusammenhangs zwischen Musik, Resonanz, Stimmung, Einfühlung, Empathie etc. auch für historisch orientierte Forschung. Ein abschließender Appell richtet sich auf die grundsätzliche Aufwertung des Hörsinns für die Erforschung von intersubjektiven oder auch ästhetischen Resonanzphänomenen. Die herausragende Rolle, die der Musik aktuell etwa für das Entstehen von Atmosphären insbesondere von Gernot Böhme zugesprochen wird, zeigt die Bedeutung von Klang und auditiver Wahrnehmung im Bereich der Halbdinge, zu denen Gefühle ebenso zählen wie Resonanzen oder Stimmungen. Doch auch historische Betrachtungen ästhetischer und psychologischer Empathie- bzw. Einfühlungstheorien des späten 19. Jahrhunderts (Friedrich Theodor Vischer, Robert Vischer, Theodor Lipps, Karl Groos u.a.) offenbaren eine deutliche Sonderstellung der Musik, deren gegenstandsloses Wesen Einfühlung oder »Beseelung« auf besondere Weise ermögliche, indem es nämlich »Gefühle, inhaltsvolles, doch in wogende Stimmung versenktes Seelenleben darstellt und aufruft« (Vischer 1873b: 9). Es ist durchaus bemerkenswert, dass etwa Friedrich Theodor Vischer in seiner Kritik meiner Aesthetik (1873) gerade im Zusammenhang mit der Musik Gefühle als »Resonanz von Vorstellungen« und Resonanz wiederum als »wirkliches Verwandeln des Vorstellungs=Inhalts in Stimmung« definiert (ebd.: 10). Außerdem finden sich bei ihm unübersehbare Referenzen an die musikbasierten Nervenschwingungs- und Nervenstimmungslehren des 18. Jahrhunderts, wenn er etwa im Zusammenhang mit ästhetischen Wahrnehmungsund Einfühlungsakten ausdrücklich von »bestimmten Schwingungen […] des Nervs« und »unwillkürlich[en] Seelenstimmungen« spricht (Vischer 1873a: 142f.). Doch nicht nur das Stimmungs- und Resonanzmodell der Physiologie, auch das der empfindsamen Ästhetik klingt in den Schriften der frühen Empathieforschung an. So zitiert beispielsweise Karl Groos sowohl in seiner Einleitung in die Aesthetik (1892) als auch in der 1909 entstandenen Schrift Das ästhetische Miterleben und die Empfindungen aus dem Körperinnern genau denjenigen Satz aus der Kalligone, der auch im vorliegenden Beitrag Pate für Herders Resonanzmodell stand: »Die Musik spielt in uns ein Clavichord, das unsre eigene innerste Natur ist« (zit. nach Braungart 1995: 189).

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Nicht zuletzt kann daher über die spezifische Trias Resonanz/Stimmung – Gefühl – Musik, die durch die conceptual history von Resonanz und Stimmung genauer enthüllt wurde, grundsätzlich die Bedeutung der Musik und des Hörens für Fragen an anthropologische und phänomenologische, emotionale, atmosphärische und empathisch-intersubjektive Phänomene (neu) akzentuiert werden.

5 L ITERATUR Auhagen, Wolfgang (2009): »Die Bedeutung des akustischen Resonanzphänomens für Musiktheorien des 17. bis 20. Jahrhunderts«, in: Karsten Lichau/ Viktoria Tkaczyk/Rebecca Wolf (Hg.), Resonanz: Potentiale einer akustischen Figur, München: Wilhelm Fink, S. 75-85. Bach, Carl Philipp Emanuel (1957): Versuch über die wahre Art, das Clavier zu spielen. Erster und zweiter Teil. Faksimile-Nachdruck der 1. Auflage, hg. von Lothar Hoffmann-Erbrecht, Leipzig: Breitkopf & Härtel. Blumenberg, Hans (2001): »Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik«, in: Ders., Ästhetische und metaphorologische Schriften, Frankfurt a.M: Suhrkamp, S. 406-431. Braungart, Georg (1995): Leibhafter Sinn: Der andere Diskurs der Moderne, Tübingen: Niemeyer. Breyer, Thiemo (2015): Verkörperte Intersubjektivität und Empathie: Philosophisch-anthropologische Untersuchungen, Frankfurt a.M.: Klostermann. Clark, Eric/DeNora, Tia/Vuoskoski, Joanna (2015): »Music, empathy and cultural understanding«, in: Physics of Life Reviews, http://dx.doi.org/10.1016/j.plrev.2015.09.001 Geisler, Josephine (2016): Tonwahrnehmung und Musikhören: Phänomenologische, hermeneutische und bildungsphilosophische Zugänge, Paderborn: Fink. Groos, Karl (1909): »Das ästhetische Miterleben und die Empfindungen aus dem Körperinneren«, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 4, S. 161-182. Groos, Karl (1892): Einleitung in die Aesthetik, Gießen: J. Riecker’sche Buchhandlung. Heinse, Wilhelm (2002): Hildegard von Hohenthal. Musikalische Dialogen [1796], kommentiert und hg. von Werner Keil, Hildesheim/Zürich/New York: Olms.

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Rhythmus ist nicht alles, aber ohne Rhythmus ist alles nichts Im Gespräch: Michael Oertel, Lars Konieczny, Stefan Pfänder & Elke Schumann R EDAKTION : E LKE S CHUMANN & S TEFAN P FÄNDER

1 E INFÜHRUNG Michael Oertel, Lars Konieczny und Benjamin Berthold lernten sich vor einigen Jahren im Rahmen der Freiburger Blues Association1 kennen. Seitdem treten sie zusammen unter dem Namen »michael oertel band« auf und spielen Pop mit Blues und Singer/Songwriter-Anleihen. Michael Oertel2 spielt außerdem noch in anderen Bands mit, u.a. in der Tino Gonzales Blues Band.3 Eines der wichtigsten verbindenden Elemente der drei Musiker ist die Lust am Improvisieren – und das nicht nur im Proberaum, sondern auch auf der Bühne.

1

Freiburger Blues Association: ein Verein aktiver Bluesmusiker aus der Region Freiburg, im Mittelpunkt des gemeinsamen musikalischen Interesses stehen Blues, Bluesrock, Jazz, Funk & Soul; Ziel ist u.a. die Förderung von jungen Musikern.

2

Weitere Informationen unter: www.michaeloertelmusic.de und www.facebook.com/

3

Tino Gonzales, ein amerikanischer Gitarrist, in dessen Band Michael Oertel (neben

michaeloertelmusic. seiner eigenen) außerdem noch mitspielt. Gonzales spielte früher u.a. bei Earth Wind & Fire und Santana.

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2 R HYTHMUS

UND

T IMING

SP (Stefan Pfänder): Musik hat etwas mit zeitlicher Abstimmung zu tun und natürlich erst recht, wenn mehrere Musiker zusammen in einer Band spielen, so wie ihr. Wenn man euch zuhört, gibt es Momente von Gleichzeitigkeit, in denen ihr zusammen, ganz genau auf dem Punkt seid, so dass man euch nicht mehr als einzelne Musiker hört, sondern als Ganzes. Wie entsteht ein solches timing? Wie werden diese Momente vorbereitet? Eher längerfristig oder geht das tatsächlich innerhalb von Sekundenbruchteilen vor sich? MO (Michael Oertel): Ich denke, es gibt verschiedene Arten von timing. Eines ist eher eine Art basic rhythm. (MO klopft einen Rhythmus) Da geht es um Genauigkeit. Wenn du da zu spät bist, bist du zu spät − und wenn du zu früh bist, bist du zu früh. Insofern ist es die Aufgabe von jedem, der Musik macht, sein Rhythmusgefühl zu trainieren. Das timing aber, nach dem du fragst, das ist eher die Entscheidungsfindung, wie bzw. zu welchem Zeitpunkt Richtungen gewechselt werden. SP: Könnte man das als Verhandlung von Rhythmus bezeichnen? MO: (lächelnd) Der Rhythmus sollte ausgehandelt sein, wenn du ein Stück anfängst. (Alle lachen) Rhythmus ist die Grundlage für die Synchronizität der Band. Ich sage das auch immer meinen Gitarrenschülern: Rhythmus ist das, was eine Band zusammenhält. LK (Lars Konieczny): Dazu kommt, dass die Musik, die wir machen, sehr rhythmus-basiert ist, gerade da kommt es auf Nuancen an. Das klingt nur gut, wenn man ein exaktes timing hat. SP: Was genau ist eigentlich Rhythmus? Zeigt mal… (MO und LK nehmen ihre Gitarren, MO klopft rhythmisch auf seine Gitarre, LK steigt kurz danach ins Spiel ein.) MO: Rhythmus ist der Stimulus. Man kann einen Takt dann in weitere Einheiten unterteilen, den ›Zwischenraum‹ weiter füllen. Eine Möglichkeit besteht darin, diesen Zwischenraum weiter ›in Hälften‹ zu teilen. Das nennt man dann binär. Eine andere Möglichkeit besteht darin, dass man den Zwischenraum in Drittel teilt, also ternär. Man versucht dann, jede Note innerhalb dieser Aufteilung zu

O HNE R HYTHMUS IST

ALLES NICHTS

| 147

spielen. Dabei kannst du ein bisschen ziehen, ein bisschen vor dem beat4 spielen oder du kannst übertrieben cool spielen. (Beide spielen weiter) LK: Das hat auch mit dem musikalischen Grundverständnis zu tun, das wir alle drei haben. Wir haben ganz ähnliche Vorstellungen davon, was zum Beispiel ein groove ist und was ein groove braucht. Im Gegensatz dazu gibt es Gitarristen, songwriter zum Beispiel, die spielen meistens sehr gerade. Aber bei uns ist groove die Basis für alles. SP: Was bei mir passiert ist, während ich euch zugehört habe, ist noch etwas anderes: Ihr habt eine Art Raum entstehen lassen. Und als dieser Raum einmal etabliert war, konntet ihr in diesem Raum spielen, euch bewegen – zu spät kommen, weglaufen, den anderen einfangen und so weiter… aber der Raum blieb. Ich selber war außen, in Ruhe gelassen sozusagen… auf eine angenehme Weise. LK: Ja, es ist manchmal fast eher wichtiger, was man nicht spielt. Michi hört immer sehr genau und setzt in den Pausen Akzente. Das machen wir ohne nachzudenken, das zeichnet diese Art zu spielen aus… wie man mit diesem Raum umgeht, wie man ihn rhythmisch gestaltet. Dadurch entsteht die Spannung. MO: …hm, für mich sind das zwei verschiedene Punkte. Der erste: Du kannst auch rhythmisch tight sein und dabei wahnsinnig aufdringlich. Wichtig dabei ist die Dynamik: Was betonst du? Was ist lauter, was ist leiser? (klopft einen Takt gleichmäßig in gleichbleibender Lautstärke auf dem Tisch)… das groovt nicht. Aber wenn du genau die gleichen Schläge spielst (klopft noch einmal und variiert dabei die Lautstärke), dann hat man schon mehr groove, mit dem man sich dann verbinden kann, mit dem man weiterspielen kann. Und der zweite Punkt: Letztlich ist alles Rhythmus: unser Herz schlägt im Rhythmus, wir atmen im Rhythmus… die Sonne, die Welt funktioniert in einem Rhythmus und unsere Seele auch. Je näher man diesem Rhythmus in der Musik kommt, desto mehr kann man diesen Raum fühlen. Das hat auch etwas mit Vertrauen zu tun: Du weißt, dass dieser Schlag an dieser Stelle kommt und du fühlst dich zu Hause. SP: …genau so, ja. Währenddessen ich im Rhythmus bleibe, kann ich hören, wie ihr mit dem Rhythmus spielt. Ich kann Abweichungen als Abweichungen erkennen, genieße dabei die Zuverlässigkeit und freue mich.

4

Beat: Bezeichnung für den Taktschlag in einem Musikstück; in der Popmusik wird damit auch ein Grundrhythmus bezeichnet.

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LK: Für mich widersprechen sich diese beiden Punkte nicht, Michi. Es ist vielleicht nur eine andere Perspektive. Man antizipiert den Rhythmus, selbst wenn beats gar nicht gespielt werden. MO: (zu LK) Wir beide hatten anfangs ja manchmal Schwierigkeiten zusammenzukommen. Ich habe weit vor dem beat gespielt, wollte antreiben und Dynamik erzeugen. Du dagegen hast eher sehr entspannt hinter dem beat gespielt. Dann fehlte genau der Anker. Denn entweder man spielt als Band gemeinsam vor dem beat oder aber gemeinsam dahinter. Generell haben wir beide das gleiche rhythmische Verständnis – es kann nur sein, dass wir manche Stücke je nach Situation anders ›füllen‹. (zu SP) Idealerweise gibt es in der Band einen, der den Rhythmus hält und verankert, um den herum dann die Band spielt. Meist ist das der Schlagzeuger.

3 AUFMERKSAMKEIT , R ESONANZ

UND

F LOW

SP: Das, was ihr in Bezug auf Rhythmus beschreibt, hat mit Aufmerksamkeit zu tun. Nun gibt es verschiedene Ausprägungen von Aufmerksamkeit, eine eher gerichtete und eine eher ungerichtete… (zu MO, lächelnd) Es heißt, du bist der Chef in der Band. Wo ist dann deine Aufmerksamkeit, worauf achtest du, wenn du die Band führst? MO: Idealerweise ist meine Aufmerksamkeit überall, außer bei mir selbst. Ich versuche, jeden zu hören, jeden zu orten und mich dann in diesen Moment hineinzuversetzen. Na ja… aber eigentlich lasse ich mich generell fallen. Da passiert viel aus dem Bauch heraus: Manchmal fühlt man was, bevor man weiß, was da gerade los ist – sei es positiv oder sei es negativ. Manchmal muss ich erst auf die Suche gehen, wenn sich etwas komisch anfühlt: hinhören, hinschauen und das dann direkt ansprechen, danach oder auch gar nicht. ES (Elke Schumann): …sich in den Moment hineinfallen lassen, in das, was gerade ist und wie die anderen gerade sind? Kannst du das genauer beschreiben? MO: Es gibt da zwei Ebenen. Die erste betrifft unseren Umgang mit dem Publikum: Wollen wir etwas machen, das mit den Leuten, die uns gerade zuhören, gar nichts zu tun hat? Oder wollen wir die aktuelle Stimmung aufnehmen und daraus etwas machen? Die zweite Ebene betrifft eher uns selbst: Wenn etwas nach einer

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bestimmten Form fest eingeübt ist, dann besteht die Gefahr, dass man es nur noch abspielt oder nicht mehr ganz da ist… LK: …und wir machen vorher ja auch keinen Plan, was wir spielen werden. Wir haben natürlich ein Repertoire an Stücken, manchmal auch ganz neue Sachen und dann spielen wir die eben – aber immer nach Gefühl, was gerade passt: In welcher Stimmung sind wir? Und wie reagiert das Publikum? Am Anfang hat mich das sehr nervös gemacht. Und manchmal kam dann auch noch Michi und sagte so etwas wie: Lars, guck mal, das habe ich im Radio gehört, dieses Lied, ist ganz einfach… und das auf der Bühne! (Alle lachen) Aber es klappt irgendwie immer. Nur gibt es auch immer so einen Moment der Anspannung. (schaut zu MO) Ich würde aber sagen, ich verstehe immer mehr, wie du denkst, das Vokabular hat sich erweitert, ich verstehe die Stücke besser. Wir spielen uns immer mehr ein. (MO nickt) SP: Ich habe das Gefühl, ihr seid beim Spielen ganz im Jetzt, ganz im Moment. Ich muss gar nicht hinschauen, es passiert etwas zwischen euch. Es ist so, als ob ihr euch in dem Moment begegnet. LK: Ja, das ist der Grund, warum ich das mache. Es geht nicht darum, Geld zu verdienen. Dieser Moment, wo wir auf der Bühne spielen, der ist mir wichtig. Als wir im E-Werk gespielt haben, hat ein Inder plötzlich angefangen, sich in einer Art freestyle zur Musik zu bewegen. Und das war wirklich beeindruckend: Er hat den Rhythmus genau begriffen und ihn umgesetzt… SP: …du hast die Musik in ihm gesehen? LK: Ja, genau, man könnte auch sagen, er war in diesem Moment Teil der Band. MO: …genau das habe ich vorhin gemeint: Wenn man da mit einer fertigen setlist5 ankommt, dann nimmt man sich komplett die Möglichkeit, auf das einzugehen, was sich im Moment entwickelt. Man möchte dann auf der Bühne vielleicht anders agieren – ein Stück schneller spielen oder kürzer oder überhaupt etwas anderes. Auch ich bin immer nervös, vor allem am Anfang. Aber nach zwei, drei Liedern weiß ich, wie das Publikum ist.

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Setlist: festgelegte Reihenfolge der Lieder, die bei einem Konzert gespielt werden sollen.

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LK: Aber manchmal bist du auch völlig ratlos… (Alle lachen) MO: Ja, wenn wir das Publikum noch nicht haben. Meistens kommt dann eine Idee, wie es funktionieren könnte… mal früher, mal später. SP: Kann es auch passieren, dass die Resonanz des Publikums zu stark wird? MO: (lächelnd) Nein. Wir haben einmal im Litfass6 gespielt, mit Schlagzeuger, Akustikgitarre und Gesang. Die Kneipe war voll, die Leute standen in einem kleinen Raum – ein unglaublich hohes Energiepotenzial. Da war es komplett still, während wir gespielt haben, auch an eher ruhigen, leisen Stellen am Schluss eines Liedes. Ich habe dort einen Song zum ersten Mal gespielt, der mir sehr nahe war – und diesen Moment zu teilen und währenddessen so viel zurückzubekommen, das war unglaublich, so dass ich beim Spielen fast geheult hätte… aber zu viel Resonanz? Nein. Selbst wenn ich dann nicht mehr hätte spielen können und geheult hätte …(lächelt) trotzdem hätte ich das noch genießen können. SP: Ihr hattet vorhin von zwei Ebenen gesprochen: Das Zusammenspiel von euch Musikern miteinander und das Zusammenspiel der Band mit dem Publikum. Würdet ihr die Momente, in denen ihr euch eingespielt habt und in denen das Publikum mit euch mitgeht, als flow bezeichnen? LK: Ja, das ist wirklich eine Art Fluss, wenn wir eine Reihe von Liedern gespielt haben und die Leute mitgehen… da sind wir ganz drin. Irgendwie blendet man dann alles aus; es geht wie von selbst. SP: Was genau passiert denn da? MO: hm… wenn ich regelmäßig meditiere, dann habe ich öfter diesen Zustand der Leere oder der totalen Fülle − also die Fähigkeit, aufzunehmen, was gerade in diesem Moment passiert und daraus etwas entstehen zu lassen, wenn ich spiele. Aber man muss hier auch unterscheiden: Es kann ein einzelner von uns im flow sein oder wir alle miteinander als Band. Und dann greift es vielleicht auch noch auf das Publikum über, auf einzelne oder auch mehrere – je nachdem, wer sich davon ergreifen lässt.

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Litfass: Blues- und Rockkneipe in Freiburg.

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SP: Könnte es sein, dass es gar nicht darauf ankommt, in möglichst vielen Momenten ganz im flow oder synchronisiert mit den anderen zu sein? Liegt das Besondere vielleicht sogar eher in den kurzen Momenten, in denen diese Begegnung passiert? So gesehen wäre es ja geradezu erforderlich, dass jeder auch eigene Impulse setzt und ›sein Ding macht‹, damit diese Begegnung – immer wieder neu – entstehen kann. Ist das so? LK (zu MO): Für mich ist das wahrscheinlich anders als für dich. (zu SP) Ich habe das flow-Erleben, wenn ich einfach über nichts mehr nachdenken muss – es kommt von selbst, man könnte auch sagen: Es spielt sich selbst. Solange ich beim Spielen über Stücke nachdenken muss, komme ich nicht in diesen Fluss. MO: …bei mir ist das anders, weil wir die Lieder spielen, die ich selbst, aus meiner Seele heraus, geschrieben habe. Da muss ich gar nicht überlegen, sondern nur entscheiden, wie stark ich in das Grundgefühl des Songs hineingehe. Wenn ich in einer anderen Konstellation spiele, mit Tino zum Beispiel, dann bin ich nicht der Chef, sondern derjenige, der sich anpassen und einfinden muss… SP: …dann bist du der Lars. MO: Ja genau. Das ist komplett anders. Wenn ich mit Tino spiele, dann sind meine Augen die ganze Zeit offen und auf ihn gerichtet; ich konzentriere mich darauf, was er macht. Manchmal gibt er ein kleines Signal und das will ich sehen, sonst bin ich draußen. Aber wenn du selbst eine Band führst, kannst du sagen: Ey Leute, ich bin derjenige, den ihr anschauen müsst! Das heißt, dass die Voraussetzungen, um in einen flow zu kommen, je nach Rolle in der Band ganz unterschiedlich sind. LK: …und manchmal entwickeln sich Dinge aus der Situation heraus. Es kann sein, dass wir einfach einen schlechten Tag haben, uns dann aber ganz in einen Rhythmus grooven, in eine Melodie hinein... auch wenn wir das Stück vielleicht noch nie gespielt haben. Es geht einfach so dahin, warum auch immer. Oder umgekehrt: In Offenburg kamen wir einmal in so einer Hipster-Kneipe voller Enthusiasmus an und waren da aber eigentlich nur Dekoration. Die haben sogar die Musik weiterlaufen lassen und das Publikum hat so laut geredet, dass wir uns gegenseitig kaum hören konnten, aber selbst da hatten wir irgendwann trotzdem unseren Spaß beim Spielen. Und einmal waren wir beim Zeltmusikfestival eingeladen…

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MO: (lachend) Ja, das war toll… LK: Wir sollten in einem großen Zelt spielen, in dem man auch essen kann. Das war im Sommer und es war total heiß. Wir haben nur vor dem Techniker gespielt. Der hat uns einen wunderbaren Sound auf der Bühne gebastelt und setzte sich begeistert vor uns hin. Sonst war da niemand… MO: …und zwischendrin hat er die Technik wieder nachjustiert… LK: …und es klang auf der Bühne so toll, dass wir großen Spaß hatten, uns mit uns selbst zu beschäftigen… ja, das war ein schöner gig. MO: Das ist das, was du mitbringst; du machst Musik. Wenn zum Beispiel die Leute im Publikum nur reden, okay. Aber wir sind eingeladen, um zu spielen, also spielen wir. Und wenn ich mir das bewusst mache, dann läuft es von selbst. Ich kann spielen und beim Spielen habe ich Spaß – haben wir beide Spaß. SP: Woran genau merkt ihr, dass das Publikum mit euch mitgeht? LK: Das ist vor allem ein akustischer Eindruck – so wie bei dem Auftritt im Litfass. Wir haben selten so leise gespielt und die haben so aufmerksam zugehört und dann sind wir lauter geworden und die Leute fingen an zu tanzen. Und du bekommst am Ende eines Stückes mit, wie das Publikum darauf reagiert. Wenn dann die volle Welle kommt, dann weißt du: Das war gut! ES: Ihr habt vorhin die Situation beschrieben, in der ihr euch gegenseitig nicht gehört habt, weil die Umgebung, das Publikum zu laut war. Wenn der Rhythmus, der Beat die Grundlage ist, die das gemeinsame Spiel trägt, dann müsste es für einen Musiker relativ einfach möglich sein, im Rhythmus zu bleiben und weiterzuspielen. Was macht diese Situation so anders? LK: Es fühlt sich komplett anders an. Ich kann natürlich so vor mich hin spielen und gelegentlich hören, was die anderen tun. Aber das Gefühl, dass man die Band als einheitlichen Körper hört, das ist etwas völlig anderes. Da kann man sich fallen lassen, da können Dinge entstehen, die man nicht nur selber spielt – da entsteht ein Klang, an dem man Anteil hat. MO: Dazu kommt noch: Es gibt sehr wenige Menschen auf der Welt, die einen beat auch wirklich halten können. Es gibt zum Beispiel einen Musiker, der stellt

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für seine timing-Übungen ein Metronom an, geht dann erstmal aus dem Zimmer und macht sich einen Kaffee. Er behält den Rhythmus im Kopf und schaut danach, ob er noch in genau diesem Rhythmus ist. ›Normale‹ Leute brauchen dagegen die kleinstmögliche Unterteilung als Anker. Das ist der eigentlich kritische Punkt in Pausen – zum Beispiel in dem Stück, das wir vorhin gespielt haben. Wenn Lars’ beat nur ein klein bisschen schneller ist als meiner, dann ist die Frage: Wann kommen wir wieder zusammen? SP: Vorhin habt ihr gesagt, dass das Publikum nicht zu viel in Resonanz gehen kann. Wie ist es mit euch? Kann zwischen euch irgendwann zu viel Resonanz entstehen? So wie bei einem Hubschrauber, dessen Propeller sich drehen und mit dem Boden zu viel gemeinsame Schwingung entsteht – bis der Hubschrauber auseinanderfliegt. MO: Das ist ja das Schöne an der Musik: Wenn man da zusammen ist, (lächelnd) steigt man gemeinsam in das Flugzeug und fliegt weg. (Alle lachen) LK: Es kann natürlich passieren, dass man nach einem Konzert erschöpft ist. Am Ende eines gigs spielen wir normalerweise immer zwei Zugaben. Und einmal habe ich, ohne das abzusprechen, das zweite Stück angefangen. (zu MO) Dann hast du mich angeguckt wie ich kann nicht mehr und hast dann, statt Gitarre zu spielen, einfach auf deiner Gitarre getrommelt. Du warst richtig sauer. Dein Job ist tatsächlich der anstrengendste: Führen, Gitarre spielen und singen… SP: Rhythmus hat viel mit Atmen zu tun. Welche Rolle spielt der Atem, der Herzschlag – also ganz physiologisch gesehen? MO: Physiologisch gesehen spielt das bei mir keine Rolle. Aber der seelische Zustand ist ganz entscheidend. Das, was ich spiele, ist für mich ganz eng damit verbunden, wie ich mich fühle. Manche Songs funktionieren in einem bestimmten Zustand und in einem anderen überhaupt nicht. Und das gilt auch für ein einzelnes Stück, das ich je nach Stimmung unterschiedlich interpretieren kann. Wenn man eine ausgeglichene und strahlende Seele hat, dann entsteht daraus eine ganz andere Musik, als wenn das nicht so ist. LK: Es gibt keine zwei Konzerte, die gleich sind, und auch die Stücke spielen wir oft ganz verschieden. Manche Lieder bekommen mehr groove, andere werden eher zu einer Ballade… (zu MO) Meist gibst du eine Stimmung vor und ich versuche, mich dann da hineinzuspielen.

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SP: …(lächelnd) mehr Resonanz war nie. Dann gehst du nicht nur in seinen beat, sondern auch in seine Stimmung. LK: Ja natürlich, analytisch gesehen geht die Stimmung auch über den beat, die Geschwindigkeit, über die Dynamik. Dann bekommt ein Stück einen ganz anderen Charakter. Aber während ich spiele, analysiere ich nicht, da passiert alles intuitiv. Aber da ich im Nebenberuf ja Wissenschaftler bin,7 denke ich darüber durchaus nach. (Alle lachen) MO: Aber es passiert auch, dass ich einen Song beginne und jemand fühlt den anders − dann passe ich mich dem an. Ich sagte ja vorhin schon, dass ich viel damit beschäftigt bin, auf alle anderen zu hören, um zu verstehen, wo die anderen gerade sind. Es würde nichts bringen, wenn die anderen nur auf mich hören müssten. (Zu LK) Ich merke, wenn du einen guten Tag hast oder auch nicht… es geht dabei auch nicht nur um gut oder schlecht, sondern einfach darum, wie es gerade ist und dass man versucht, zueinander zu finden. LK: Und daraus kann das Potential entstehen, dass sich Stimmungen verändern. Es kann sein, dass es erst einmal anstrengend ist, dass es nicht funktioniert und dann plötzlich (schnipst mit dem Finger), zack, spielen wir irgendwas und sind zusammen und es ist komplett anders als zuvor.

4 K OMMUNIKATION : R EDEN MIT W ORTEN , DEM K ÖRPER UND DER M USIK SP: Wie ist das, wenn ihr miteinander Musik macht: Sprecht ihr darüber, wie ihr die Stücke spielen wollt? Oder ergibt sich das beim Spielen von selbst? MO: Es ist ein großer Unterschied, in welcher Konstellation wir spielen. Im Projekt, in dem ich die Songs schreibe, also zusammen mit Lars und Benny, da habe ich ganz konkrete Vorstellungen, wo es hingehen soll und dann kommuniziere

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Lars Konieczny ist Kognitionswissenschaftler; er lehrt und forscht am Institut für Informatik und Gesellschaft der Universität Freiburg in der Abteilung Kognitionswissenschaft.

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ich auch anders mit meinen Mitmusikern, als wenn ich zum Beispiel in einer Jam-Session8 spiele. SP: Was genau ist da anders? MO: Es geht um die Richtung, in die wir zusammen gehen. Ich bin der Überzeugung, dass einer das Ganze führen sollte, wenn man gemeinsam spielt. LK: …(lächelnd) das merkt man. (Alle lachen) (zu SP) Ja, Michi hat tatsächlich sehr konkrete Vorstellungen, z.B. wo beats sind und wo ghost notes9 sind. (zu MO) Und klar, es geht dabei um timing und darum, Platz zu lassen. Inzwischen verstehe ich immer besser, was du willst. Es genügt dann schon ein kurzer Hinweis darauf, wohin es gehen soll. MO: Ja: das Darüber-Reden ist wirklich entscheidend – vor allem, wenn es um Kritik geht. Jeder muss auch sagen können, was ihm auf die Nerven geht. LK: (zu MO) Zum Beispiel hat Benny am Schlagzeug manchmal rhythmisch andere Ideen als du. Er fühlt das Stück anders. Dann macht er Vorschläge und ich sehe immer schon an deinem Gesicht, was du denkst (schüttelt den Kopf mit kritischem Blick). Und dann braucht es eine kurze Zeit, bis er verstanden hat, dass du das überhaupt nicht willst. SP: …(lächelnd) und da hilft das gesprochene Wort. MO: …ja, auf jeden Fall. (Alle lachen) MO: So ein Song entsteht, entwickelt sich und schließlich weiß ich, wo ich ihn musikalisch gern haben möchte. Und um in diesem Prozess gut voranzukommen, ist Kommunikation sehr wichtig. Jeder von uns gibt erst einmal das Beste in die Songs hinein, das schätze ich sehr. Aber natürlich muss ich sagen, was ich möchte. Woher sollten das die Anderen sonst wissen?

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Jam-Session: jam ̶ Jargon für improvisieren und session ̶ Sitzung; Musiker, die sonst nicht zusammen in einer Band spielen, improvisieren zusammen.

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ghost notes: Noten, die ausschließlich rhythmisch angeschlagen werden und perkussiven Charakter haben, aber keinen Ton. Sie können dazu dienen, einem Rhythmus mehr Groove und Dynamik zu verleihen.

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SP: Jetzt ging es ja eher um die Proben, wie ist das bei Konzerten? MO: Ja, wovon wir jetzt gerade gesprochen haben, das sind die Proben der eigenen Stücke und ›hartes‹ Aus-Arrangieren, also die Phase, in der man Entscheidungen trifft, die künftig auch so umgesetzt werden. Aber ein größerer Teil dessen, was wir live machen, besteht darin, dass wir improvisieren. ES: Und wer führt dann während des Improvisierens oder während einer jamsession, und wie passiert das? MO: Da wechselt die Führung. Es geht innerhalb der Improvisation ja vor allem um eine Strukturierung dessen, was man macht. Geht man dynamisch ein bisschen runter, wird man lauter? Wer spielt ein Solo? Was passiert, wenn einer das Solo abgibt? Geht es dann weiter mit Gesang? ES: Woran kann ich einen solchen Wechsel der Führung erkennen? MO: …an Blicken, an kleinen Zeichen (dreht dabei leicht den Oberkörper), breaks. Ich lerne da unglaublich viel durch Tino. Mich beeindruckt seine Klarheit, mit der er während des Spielens mit der Band kommuniziert. SP: Als ich euch einmal bei einem Konzert gesehen habe, fiel mir auf, dass ihr mit den Augen kommuniziert, fast ohne den Kopf zu bewegen. Und manchmal hatte ich den Eindruck, dass ihr mit den Augen eigentlich nur das Ergebnis dessen gecheckt habt, was gerade schon passiert war. Der gegenseitige Blick war dann eher wie ein abschließendes Resümee – im Sinne von hat geklappt, wie so eine kleine Freude. Stimmt das? MO: Ja, das hängt viel mit dem Verständnis von dem zusammen, was generell in der Musik passiert. Wir schauen uns oft an, haben einfach nur Spaß und tauschen unsere Freude darüber aus, dass wir gerade miteinander Musik machen. (zu LK) Und manchmal schaue ich dich an und du denkst, ich will was von dir (alle lachen) – will ich aber gar nicht… LK: …in der Tat, solche Signale sind nicht immer eindeutig… Es gibt aber auch ganz eindeutige Zeichen. Wir wissen bei jedem Stück, wo changes sind, also wo wir in einen anderen Teil gehen und dann ist klar: Wenn Michi jetzt guckt, dann ist jetzt dieser Moment.

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SP: Bisher ging es ja viel um euch beide, aber ihr seid ja sonst zu dritt. Wie läuft das dann ab? MO: Da spielt das gemeinsame Verständnis für Musik eine große Rolle und eine ähnliche Vorstellung von dem, was man beim Musizieren macht. Ich denke, wir könnten beide nicht mit jedem spielen. Es gibt Leute, die passen, und es gibt Leute, die passen nicht. Wir sind da ziemlich deckungsgleich. Zum Beispiel merkt Benny, unser Schlagzeuger, genau, wie ich den Ton anschlage. Ich ziehe Benny und Lars mit – über die Art, wie ich spiele. SP: …über die Art, wie du spielst? Kannst du das mal demonstrieren? MO: (nimmt sich seine Gitarre, beginnt zu spielen und redet währenddessen)… wenn man in so einem groove ist… und dann (wird lauter) …dann ist da eine andere Dynamik und gerade auch im Solo, wenn ich… (spielt leiser), dann wird auch die Band leiser. Das wäre anders, wenn ich ein Solo so beginnen würde (spielt laut und kräftig). SP: Machst du nochmal den Übergang von laut zu leise? MO: (spielt) SP: Ja, ich hab das auch wahrgenommen, aber woran ist das denn erkennbar? ES: Könnten dabei bestimmte musikalische Einheiten eine Rolle spielen, die man eben nicht einfach unterbricht, so dass an bestimmten Stellen ein Übergang, zum Beispiel von laut zu leise, wahrscheinlicher wird als an anderen Stellen...? SP: …im Sinne von Phrasierungen?10 LK: Ja, das würde ich bestätigen. Die Art von Musik, die wir machen, ist eher bluesorientiert, und im Blues, noch mehr als im Jazz, wird eine Geschichte mit einer bestimmten Dramaturgie erzählt. Manchmal fängt man laut an, geht dann runter und baut es danach noch einmal auf. Und dabei gibt es Phrasen, die einen Wechsel andeuten; manche dieser Phrasen sind typischerweise eher am Ende und damit wird ein Wechsel auch eher erwartbar.

10 Phrasierung steht für die Beziehung verschiedener Töne innerhalb einer musikalischen Einheit, in Bezug auf Lautstärke, Rhythmik, Artikulation und Pausensetzung usw.

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SP: Das leuchtet mir ein. Aber ich denke, der Körper kommt da noch hinzu. Gerade hatte ich den Eindruck, dass es nicht nur um den Wechsel der Lautstärke geht, sondern dass auch die Körperspannung ganz leicht abgenommen hat. Auch der Kopf hat sich dabei leicht nach unten bewegt. MO: Ja, da sind Dinge, die völlig unbewusst passieren. Aber wahrscheinlich sind sie von außen sichtbar. Wenn du einen bestimmten Ton spielst (schlägt einen Ton an der Gitarre an und macht eine Bewegung mit hoher Körperspannung nach vorn), dann ›willst‹ du den. SP: ...und jetzt gerade auch − der ganze Oberkörper geht mit. LK: Was man bei guten Gitarristen, zum Beispiel auch bei Michi, sehen kann: Wenn der ein Solo spielt, dann hat man nicht das Gefühl, der spielt ein Instrument, sondern man hat den Eindruck, dass der Gitarrist mit dem Instrument eins ist. Der ganze Körper ist Instrument, es ist nicht mehr trennbar. Und wenn die Gitarre ein Teil des Körpers wird, dann entsteht daraus eine Harmonie beim Spielen. MO: …eigentlich bin ich immer wieder neu darüber erstaunt, was passiert, wenn man Musik macht. Musik gibt mir mehr, als sie mir nimmt; sie versorgt sich energietechnisch komplett selbst. Wenn ich zum Beispiel Ideen für Songs bekomme, dann bin nicht unbedingt ich das, der den Song schreibt, sondern ich bin einfach nur offen dafür, dass der Song gerade da ist und kann ihn umsetzen… das ist nicht bewusst, das geschieht. Ich glaube, dass Musik eine große wunderschöne Kraft ist. Und wenn du dich mit der Musik synchronisierst, dann versorgt sie dich, während du spielst. Das ist schön!

3 Resonanz im Dialog: Synchronisierung, Multimodalität und Verstehen

Gemeinsamkeit erleben und wiederherstellen Über Synchronisierung im Gespräch E LKE S CHUMANN

Ausgehend von Beobachtungen in der psychologischen Forschung, dass die Synchronisierung von körperlichen Äußerungen in dyadischen Gesprächskonstellationen mit positiv bewerteter Beziehungsqualität korreliert, werden zwei kurze Videoausschnitte vorgestellt. Mittels qualitativ ausgerichteter, multimodaler Analyse wird gezeigt, dass Synchronisierungen auf verschiedenen Ebenen zu beobachten sind (sprachlich, stimmlich und körperlich) und nicht nur dem Erleben von Gemeinsamkeit dienen, sondern auch in Momenten des Nicht-Verstehens genutzt werden, um die Gemeinsamkeit wiederherzustellen.

Keywords: Interaktion; Gesten; Multimodalität; Reenactment; Erzählen

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1 AUSGANGSPUNKTE : G EMEINSAMKEIT , S YNCHRONISIERUNG UND MULTIMODALE ANALYSE 1 »[…] if one wants to find a way of showing somebody that what you want is to be with them, then the best way to do it is to find some way of dividing a task which is not easily dividable, and which clearly can be done by either one alone. And that, I take it, obviously is done rather frequently, if not with the putting together of sentences, then with all sorts of other things.« (Sacks 1992: 147)

Wenn wir etwas miteinander tun, das wir genauso gut auch allein tun könnten – gerade dann kann sich ein starkes Gefühl von Gemeinsamkeit einstellen. Dabei, so die Beobachtung von Sacks, können nicht nur sprachliche Ressourcen, also Worte und Sätze, eine Rolle spielen, sondern auch alle möglichen anderen Dinge. Eine solche weitere Option zur Realisierung von Gemeinsamkeit stellt die gegenseitige Koordinierung von körperlichen Ressourcen zwischen zwei Gesprächsteilnehmern dar, »nonrandom, patterned, or synchronized in both timing and form« (Bernieri/Rosenthal 1991: 403). Was genau mit dem Begriff Synchronisierung gemeint ist – vor allem in Abgrenzung zu Begriffen wie matching, mimicry oder mirroring – ,bleibt jedoch oft unscharf. Delaherche et al. verweisen in diesem Zusammenhang auf die dynamische Komponente von Synchronisierungen und stellen damit die Bedeutung der zeitlichen Dimension über die der Form: » […] synchrony is the dynamic and reciprocal adaptation of the temporal structure of behaviors between interactive partners. Unlike mirroring or mimicry, synchrony is dynamic in the sense that the important element is the timing, rather than the nature of the behaviors« (Delaherche et al. 2012: 3). Die hier vorgenommene Abgrenzung lenkt den Blick auf die Prozesshaftigkeit von Synchronisierungen, die für den vorliegenden Beitrag gleichsam die Analysegrundlage darstellt. Wie die Autoren jedoch selbst betonen, kann eine Unterscheidung der Phänomene im konkreten Fall trotzdem schwierig sein, denn matching kann in manchen Fällen zugleich als Synchronisierung konzeptualisiert werden. Entscheidend für eine Abgrenzung aber ist, so Delaherche et al. (2012), dass Synchronisierungen auch zwischen verschiedenen Modalitäten auftreten können, so z.B. als Synchronisierung des Sprechrhythmus des einen Gesprächsteilnehmers mit dem Nicken des anderen. Wie aber ist es überhaupt möglich, dass sich Gesprächsteilnehmer in dieser Weise – oft sogar fast simultan – aufeinander ›einschwingen‹? Die Antwort liegt in der Fähigkeit zur Projektion und Antizipation, die ein fundamentales, inhären-

1

Ich danke zwei Reviewern für wertvolle Anregungen zu diesem Beitrag.

Ü BER S YNCHRONISIERUNG IM G ESPRÄCH

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tes Merkmal von face-to-face-Interaktionen darstellt (Auer 2005; Streeck/Jordan 2009). Dabei spielen Vorbereitungsaktivitäten eine große Rolle. Sprachlich erscheinen diese z.B. in Form von prefaces, preinvitations, preannouncements (Auer 2005: 9); solche Vorbereitungsaktivitäten können aber auch als (kaum wahrnehmbare) Körpergesten, Veränderungen der Körperpositur, Blickbewegungen usw. – also verkörpert – sichtbar werden. Neben Vorbereitungsaktivitäten stellt auch das gemeinsame Verständnis von wiederholten kommunikativen Abläufen (im Sinne von Routinisierung, Ritualisierung; Streeck/Jordan 2009) eine wesentliche Voraussetzung dar, um kommunikative Handlungen für die Gesprächsteilnehmer erwartbar werden zu lassen. Erleichtert wird eine solche Erwartbarkeit zudem, wenn ein gemeinsamer Wissenshorizont (common ground, Clark/Schaefer 1989) oder ein gemeinsamer Aufmerksamkeitsfokus vorhanden ist (shared attention, vgl. Steynberg 2015), entweder als gemeinsamer ›innerer‹, mentaler Raum wie z.B. beim Erzählen von gemeinsam erlebten Episoden oder auch als gleichzeitige Fokussierung äußerer Gegebenheiten. In den meisten Veröffentlichungen wird Synchronisierung mit einer als positiv bewerteten Beziehungsgestaltung in Verbindung gebracht (vgl. u.a. Behrends/Müller/Sziobek 2012; Bernieri/Rosenthal 1991; Miles/Nind/Macrae 2009). Während in der psychologischen Forschung aber vor allem quantitative Verfahren genutzt werden, um den Zusammenhang spezifischer Formen von Synchronisierungen (z.B. Fingertapping) mit bestimmten Parametern (z.B. Einschätzung von affiliation) zu untersuchen (vgl. Hove/Risen 2009), stehen qualitative Studien, die verschiedene Formen von Synchronisierungen fokussieren und die jeweiligen interaktiven Funktionen an bestimmten Stellen im Gespräch genauer in den Blick nehmen, größtenteils aus (vgl. aber Norris 2009). Der Fokus auf die zeitliche Abstimmung von Gesprächsaktivitäten, der dem Blick auf Synchronisierungen zugrunde liegt, findet eine Entsprechung im forschungsmethodischen Paradigma der Konversationsanalyse und Interaktionalen Linguistik, denn der Analyseschwerpunkt richtet sich hier ganz generell auf die Rekonstruktion von Äußerungen, so wie sie sich Moment für Moment in der Interaktion zwischen den Gesprächsteilnehmern entfalten. Ziel ist es, nicht nur das Wie, sondern auch das Wozu, die Funktionalität der gemeinsamen Hervorbringung von Äußerungen zu identifizieren (Deppermann 2008: 79ff). Die zeitliche Dimension von Gesprächssituationen erhält also einen zentralen Stellenwert und weist nach Deppermann und Günthner (2015) einerseits einen perspektivischen Charakter auf, denn die Gesprächsteilnehmer können sowohl retrospektiv ausgerichtet an bereits produzierte Äußerungen anknüpfen, aber auch prospektiv künftige Äußerungen antizipieren bzw. projizieren. Andererseits vollziehen sich die Gesprächsaktivitäten selbst auf einer Zeitachse, und sie kön-

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nen dementsprechend simultan oder nacheinander angeordnet sein. Aus konversationsanalytischer Sicht entsteht durch die sequenzielle Anordnung von Äußerungen der spezifische Kontext, innerhalb dessen die Gesprächsteilnehmer diese Äußerungen interpretieren. Entscheidend ist also nicht eine Äußerung an sich, sondern der sequenzielle Zusammenhang, in dem sie steht (vgl. Deppermann/ Günthner 2015). Der Körper als interaktionale Ressource rückt in den letzten Jahren auch in der konversationsanalytisch ausgerichteten Forschung zunehmend in den Fokus (vgl. Deppermann 2013). Der in diesem Zusammenhang verwendete Begriff Multimodalität bezieht sowohl die Teilnehmer- als auch die Analyseebene ein; es geht sowohl um die sprachlichen, stimmlichen und körperlichen Ressourcen der Gesprächsteilnehmer selbst, die diese in der Interaktion nutzen, als auch um die analytische Rekonstruktion des Zusammenspiels der einzelnen Ressourcen im zeitlichen Verlauf. Eine wachsende Zahl von Forschungsarbeiten thematisiert den Herstellungscharakter verschiedener Gesprächspraktiken aus multimodaler Perspektive.2 Die Synchronisierung von vergleichbaren sprachlichen, stimmlichen und körperlichen Äußerungen bzw. Äußerungsgestalten erscheint in diesem Zusammenhang mitunter als ›Teilprodukt‹ (vgl. u.a. Kupetz 2014; Rassmussen 2014; Streeck/Streeck 2002) und wurde bisher kaum einmal ins Zentrum der Analyse gestellt (vgl. aber: Lerner 2002; Zima in diesem Band3). Vor diesem Hintergrund bietet die multimodale Analyse von Videodaten eine geeignete Methode, um auf mikroanalytischer Ebene zu untersuchen, wie Synchronisierungen im Gespräch entstehen, an welchen Stellen dies geschieht und welche Formen und Funktionen zu beobachten sind.

2

Es können an dieser Stelle nur schlaglichtartig einige Untersuchungen genannt werden, ohne Anspruch auf Vollständigkeit und Systematik. Zu Empathiedarstellungen: Kupetz 2014; zur Koordination von Gehen und Sprechen: Mondada 2014; zu Körperpositur und Sprache in Reparatursequenzen: Rasmussen 2014; zu Interaktionsverhalten in psychotherapeutischen Settings: Streeck/Streeck 2002; zur Deixis in der Interaktion: Stukenbrock 2015.

3

Zima (in diesem Band) verortet ihre Überlegungen im Bereich der Dialogischen Syntax, in dem aktives engagement, im Sinne bewusster bzw. intentionaler (Wieder-) Aufnahmen von Äußerungen, eine wesentliche Voraussetzung für die Konzeptualisierung von Parallelstrukturen darstellt. Die Orientierung an Kategorisierungen wie eher automatisiert/unbewusst und eher intentional/bewusst wird im aktuellen Beitrag, vor konversationsanalytischem Hintergrund, nicht vorgenommen.

Ü BER S YNCHRONISIERUNG IM G ESPRÄCH

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Im Folgenden werden zwei Videoausschnitte vorgestellt und mit konversationsanalytischen Methoden unter Einbezug multimodaler Ressourcen analysiert (vgl. Deppermann 2008, 2013). Tontranskripte visualisieren die sprachlichen Äußerungen (teilweise auch mit ihren stimmlichen Qualitäten); dabei werden Betonungen in Großbuchstaben dargestellt, Pausen in runden Klammern und überlappendes Sprechen mit Hilfe von eckigen Klammern (Gesprächsanalytisches Transkriptionssystem 2/GAT2, Selting et al. 2009). Körperliche Äußerungen werden nur an den jeweils relevanten Stellen mit Standbildern wiedergegeben. Die Analyse der Ausschnitte macht exemplarisch deutlich, dass Synchronisierungen im Gespräch verschiedene Formen und Funktionen haben können. Das erste Datenbeispiel zeigt die Synchronisierung von sprachlichen, stimmlichen und körperlichen Ressourcen im Rahmen eines gemeinsamen reenactment; damit ist nicht nur die Herstellung von Gemeinsamkeit zwischen den Gesprächsteilnehmern verbunden, sondern auch der Versuch, das Publikum unmittelbar in das Geschehen einzubeziehen. Das zweite Datenbeispiel zeigt, wie die Synchronisierung von Handgesten und Blickqualitäten eingesetzt wird, um in Momenten des Nicht-Verstehens und der Irritation das Gesprächstempo zu verlangsamen und wieder zum gegenseitigen Verständnis, zur Gemeinsamkeit zurückzufinden.

2 G EMEINSAMKEIT

ERLEBEN

Der folgende Datenausschnitt stammt aus einem Video, in dem ein junges Paar erzählt, wie es den eigenen Eltern die Neuigkeit unterbreitet, dass es wieder Nachwuchs erwartet. Max und Lea (alle Namen wurden geändert) hatten genau geplant, wie sie über die Neuigkeit informieren wollten, aber noch ehe die geplante ›Choreographie‹ im Gespräch mit den Eltern des Paares ihre Wirkung entfalten konnte, entdeckte der zweijährige Sohn Ole beim Kramen in der mütterlichen Handtasche den Mutterpass mit den Ultraschallbildern. Die Eltern hatten ihm im Vorfeld diese Bilder mehrfach gezeigt und dabei erklärt, dass dies das Baby sei, das sich momentan noch im Bauch der Mutter befinde. Im folgenden Ausschnitt erzählen die beiden nun lächelnd, wie der Kleine auf eines der Ultraschallbilder zeigt und auf seine Weise den Nachwuchs ankündigt: Beispiel 1: Baby 34 Max: 35 36 Lea: 37 38 Max:

und in dem moment nimmt schon Ole das das so son ULtraschallbild hoch (0.6) uh (.) Bab[y] [B]Aby [((lacht)) ] [weil wir hatten] Ihm nun vorher [IMmer sch]on gesagt

166 | S CHUMANN 39 40 41 42 43 44 45 46

Lea: Max Max: Lea: Max: Lea: Max:

[ja ] da is das BAby drauf [auf dem] bIld [ja. ] °hh und Ole nimmt nur das bild und sagt (0.3) !DA! [BAby] baby [BAby] [((lacht))] [ja ]

Die beiden sitzen während der Aufnahme eng nebeneinander; Max hat im ersten Teil den Arm um Lea gelegt. Sie sprechen die meiste Zeit in die Kamera zu einem ›digitalen‹ Publikum, das ihnen über YouTube folgt. Während Max in Z. 34 erzählt, wie der kleine Sohn das Ultraschallbild nimmt und hochhält, führt er zeitgleich mit dem rechten Arm nacheinander entsprechende ikonische Gesten aus. Dazu beugt er sich zunächst vor und hält den Blick wie auf einen imaginären Gegenstand gesenkt; der Bildausschnitt (Abb. 1) zeigt allerdings nicht den Zielpunkt. Danach nimmt er den Oberkörper wieder zurück und verfolgt mit den Augen den imaginären Gegenstand, den er mit dem rechten Arm nach oben führt (Abb. 2), während Lea in die Kamera schaut. Abbildung 1

34 Max:

Abbildung 2

und in dem moment nimmt schon Ole das das so son ULtraschallbild hoch

(0.6)

Max hält den rechten Arm bis in Z. 35 hinein oben, während er außerdem in Form von Redewiedergabe die Äußerung des kleinen Sohnes imitiert und dazu stimmlich in ein hohes Tonhöhenregister wechselt. Auf diese Weise beschreibt er nicht nur, was passiert ist, sondern er stellt es auch in Form von reenactment dar (Sidnell 2006). Obwohl Lea während dieser Zeit in die Kamera schaut und nicht zu Max, bereitet sie sich ihrerseits schon auf den Fortgang der Erzählung vor, denn nachdem Max die Redewiedergabe mit dem Ausruf uh begonnen hat, formt sie bereits die Lippen, um zu Baby anzusetzen (Abb. 3).

Ü BER S YNCHRONISIERUNG IM G ESPRÄCH

| 167

Abbildung 3

35 Max: 36 Lea:

uh (.) BAb[y] [B]Aby

Überlappend mit Max steigt auch sie in die Redewiedergabe ein, und auch bei ihr ist der Wechsel in ein hohes Tonhöhenregister als Kontextualisierung der kindlichen Stimme zu hören. An dieser Stelle wird deutlich, dass Max’ Gesten nicht nur als gleichsam ›schmückendes Beiwerk‹ seiner Äußerung zu verstehen sind. Sie sind für Lea, neben den sprachlichen Äußerungen, eine zusätzliche Ressource, die den Fortgang der Erzählhandlung strukturiert und an der sie sich im Sinne von Folgeerwartungen orientieren und die Erzählung kollaborativ mitgestalten kann. Sie nimmt zwar keinen Blickkontakt zu Max auf, aber es ist sehr wohl anzunehmen, dass sie seine Bewegungen im peripheren Blickfeld wahrnimmt. Max fügt danach eine kurze Erklärung ein, warum ein Zweijähriger in der Lage ist, auf einem Ultraschallbild aus den frühen Schwangerschaftswochen ein Baby zu erkennen. Diese Erklärung wird von Lea zweimal kurz ratifiziert (Z. 38Z. 41). Daraufhin setzt er noch einmal die Äußerung seines Sohnes mittels einer Redeeinleitung relevant (Z. 42). Dazu hebt er wieder den rechten Arm und setzt schon zur Realisierung der Redewiedergabe an, als Lea ihrerseits beginnt, die begonnene Struktur zu komplettieren. Max wartet Leas Realisierung anfangs noch ab, orientiert sich an ihrer begonnenen Struktur und steigt in genau dem Moment ein, in dem der Fortgang der Äußerung für ihn in ausreichendem Maß erwartbar wird. Auf diese Weise kommt es an dieser Stelle zum chorischen Sprechen (zum Zusammenhang von reenactment und chorischem Sprechen vgl. Lerner 2002). Lea komplettiert aber nicht nur die Redeeinleitung von Max, sie nimmt auch seine ikonische Geste auf (wenn auch weniger ausgeprägt), ohne ihn dabei anzusehen (Abb. 4). Erst nachdem Max eine kleine Drehbewegung macht, wendet sie sich ihm kurz zu (Abb. 5), um direkt im Anschluss diese Drehbewegung nachzuahmen.

168 | S CHUMANN

Abbildung 4

Abildung 5

43 Lea:

!DA! [BAby] baby

43 Lea:

!DA! [BAby] baby

44 Max:

[BAby]

44 Max:

[BAby]

In der Wiederholung der Redewiedergabe zeigt sich insgesamt eine noch stärkere gegenseitige Synchronisierung als bei der ersten Realisierung; dies ist auf folgenden Modalitätsebenen beobachtbar: • sprachlich: Kokonstruktion von Äußerung und chorisches Sprechen, • stimmlich: Angleichung des Tonhöhenregisters und der Tonhöhenbewegung, • körperlich: Übernahme der Hochhaltegeste und der Drehbewegung.

Die Synchronisierungsleistungen werden hier möglich: • aufgrund der fortlaufenden gegenseitigen Orientierung in der aktuellen Erzähl-

situation, die durch die körperliche Nähe und Präsenz geprägt ist, • aufgrund des gemeinsamen mentalen Aufmerksamkeitsfokus durch die Erinne-

rung an die gemeinsam erlebte Episode, • aufgrund von Wiederholung, wahrscheinlich nicht nur innerhalb der beschrie-

benen Sequenz, sondern auch durch mehrfaches Wiedererzählen der Episode, was Routinen ausgebildet haben könnte (vgl. Barth-Weingarten/Schumann/ Wohlfahrt 2012, Streeck/Jordan 2009). Mit Blick auf die Beobachtung von Sacks (vgl. Eingangszitat) lässt sich sagen, dass die beiden Gesprächsteilnehmer im vorgestellten Ausschnitt tatsächlich alle möglichen Dinge gemeinsam tun, die auch eine Person allein hätte ›erledigen‹ können. Wozu also der zusätzliche Aufwand an dieser Stelle im gemeinsamen Gespräch? Innerhalb der Gesamterzählung stellt die ausgewählte Sequenz einen Ankerpunkt dar: Es wird thematisiert, dass nicht die Eltern selbst es sind, die nach aufwändiger Planung einer Art ›Choreographie‹ die gute Nachricht überbringen (wie aus dem Gesamtgespräch deutlich wird), sondern es ist ihr zweijähriger Sohn, der in einem kurzen Moment der Aktivität die elterlichen Pläne eher

Ü BER S YNCHRONISIERUNG IM G ESPRÄCH

| 169

beiläufig zunichtemacht. Der in der Episode gemeinsam erlebte Überraschungsmoment wird im Gespräch nicht nur sprachlich rekonstruiert, sondern kann durch das (fast) simultane gemeinsame Tun – so die These – wieder miteinander erlebbar werden. Die Redundanz der dazu verwendeten multimodalen Ressourcen schafft erst die Intensität, die als Voraussetzung für ein solches gemeinsames Erleben betrachtet werden kann. Zugleich ist die Darbietung der Szene auf ein – wenngleich in der Erzählsituation abwesendes, weil digitales – Publikum gerichtet, das durch die Inszenierung der Kinderstimme gleichsam auf die Position der beobachtenden Eltern verwiesen wird und auf diese Weise die Situation als ›Quasibeteiligte‹ nacherleben kann. Besonders vor dem Hintergrund des YouTube-Formats, in dem die unmittelbare körperliche Präsenz fehlt und der Videokontakt in jedem Moment unterbrochen werden kann, scheint ein solcher ›emotionaler Inklusionsversuch‹4 durch ein kollaboratives reenactment äußerst funktional. Das gemeinsame Erleben wird damit potenziell auf die Zuschauer hin ausgeweitet.

3 G EMEINSAMKEIT

WIEDERHERSTELLEN

Im folgenden Datenbeispiel geht es weniger um das Erleben von Gemeinsamkeit als vielmehr um einen Moment, in dem die gemeinsame Orientierung unklar ist. Anne und Luc (Namen geändert) sind befreundet, kein Paar. Sie unterhalten sich über das Musizieren: Sie spielt Klarinette und übt sehr viel, er spielt Klavier und komponiert auch selbst. Die Frage, ob beide schon einmal miteinander musiziert haben, negiert Luc mit dem Verweis auf das höhere Spielniveau von Anne, mit dem er nicht mithalten könne. Anne versucht nun, diese generalisierte Aussage abzuschwächen, indem sie ihn mit einer früheren Äußerung zitiert, nach der er einfach wenig Erfahrung darin habe, Partituren klassischer Werke zu spielen. Luc reagiert zunächst irritiert auf diese Aussage, und beide versuchen daraufhin, zu klären, wovon gerade die Rede ist. Beispiel 2 : Ravel 06 Anne: c’est jUste que t’es pas habituÉ à: jouer une partition c’est tOut (0.3)

06 Anne:

4

Es ist nur so, dass du es nicht gewöhnt bist, eine Partitur zu spielen das ist alles

Für diese Formulierung danke ich Michael Buchholz.

170 | S CHUMANN 07 Luc:

tu riGOLES

07 Luc:

Machst du Witze

08 Anne: bAh [c’est ce que t’avais DIT]

08 Anne:

[Das ist das was du gesagt hast

09 Luc:

[ah le piaNO lÀ

] ]

09 Luc:

[ah das Stück da

]

10 Pause (1.8) 11 Anne: le truc de:: raVEL

11 Anne: das Stück von Ravel 12 Luc: de raVEL

12 Luc:

von Ravel

13 Pause (1.1) 14 Luc: au finAl j’ai pas réussI à l’impriMER

14 Luc

letztlich habe ich es nicht geschafft, das auszudrucken

15 Anne: ah BON

15 Anne:

ach so

Beide sitzen während des Gesprächs mit etwas Abstand nebeneinander auf einem Sofa, die Oberkörper einander leicht zugewandt. Luc nimmt während der Äußerung von Anne in Z. 06 Blickkontakt zu ihr auf (Abb. 6 und Abb. 7). An der Haltung der beiden Gesprächsteilnehmer (Abb. 6 und Abb. 7) ändert sich auch während Lucs irritierter Nachfrage (Z. 07) noch nichts. Abbildung 6

Abbildung 7

06 Anne: c’est jUste que t’es pas habituÉ à: jouer une partition C’est tOut (0.3)

Anne verweist daraufhin verbal auf Lucs frühere Aussage (Z. 08). Dabei führt sie während c’est mit dem rechten Arm eine Geste mit nach oben geöffneter Hand aus (Abb. 8; zu palm up/open hand vgl. Streeck 2007;). Dadurch wird die Aussage als Angebot oder Bitte kontextualisiert, was zudem auch aus der Nachfolgeäußerung von Luc deutlich wird: Er äußert überlappend einen Vorschlag zum Verständnis der Ausgangsäußerung von Anne und bezieht sich dabei auf ein Klavierstück, über das die beiden vorab gesprochen hatten. Ähnlich wie Anne führt auch er eine Geste mit nach oben geöffneter Hand aus; er nutzt dazu den linken Arm und streckt zugleich den Zeigefinger aus.

Ü BER S YNCHRONISIERUNG IM G ESPRÄCH

| 171

Auch er bietet also mit dieser Geste einen Rückverweis auf das vorangegangene Gespräch an (Z. 09, Abb. 8). Abbildung 8

08 Anne: bAh [c’est 09 Luc:

ce que t’avais dit]

[ah le piaNO lÀ

]

Anne nimmt den rechten Arm nach ihrer Äußerung wieder in die Ausgangsposition zurück; auch Luc macht mit dem linken Arm zunächst eine kurze Bewegung zurück, dann aber hält er die Geste auch noch während der Pause. Aus dem nachfolgenden turn wird deutlich, dass Luc damit wiederum eine Aufforderung an Anne richtet, der sie nachkommt, indem sie den Komponisten des Klavierstücks benennt (Ravel), von dem vorab die Rede war (Z. 11). Während ihrer Äußerung führt schließlich auch Luc seinen Arm in die Ausgangsposition zurück. Mit Streeck (2007) könnte man sagen: »[…] was als Bieten beginnt, endet als Warten darauf, dass etwas zurückgegeben wird« (Streeck 2007: 176). Luc wiederholt sofort den Namen Ravel im Sinne eines echoing (Z. 12), um sich zu vergewissern, dass dies tatsächlich der Komponist des Stücks ist und beide über das Gleiche sprechen. Anne nickt am Anfang der Pause in Z. 13 leicht. Trotzdem könnte man die gegenseitige Blickintensität während der folgenden Sprechpause als fragend bzw. prüfend deuten. Beide haben nun ihre Arme wieder abgelegt – Luc auf seinem Körper, Anne auf ihrer Trinkflasche (Abb. 9). Abbildung 9

13 Pause

(1.1)

172 | S CHUMANN

Dieser Datenausschnitt unterscheidet sich bereits in der generellen Gesprächskonstellation vom ersten: Die beiden Gesprächsteilnehmer sind lediglich befreundet, sie sprechen nicht über gemeinsam Erlebtes in einem vorab gemeinsam geplanten Setting, und sie sprechen auch nicht für ein größeres, vorgestelltes Publikum. Die Gesprächsteilnehmer können sich hier gerade nicht an einem vergleichbaren gemeinsamen mentalen Aufmerksamkeitsfokus orientieren und verfügen auch nicht in der Weise über Erzählroutinen wie das junge Paar im ersten Datenausschnitt. Der Bedarf an thematischer Aushandlung im gemeinsamen Gespräch wird dadurch potenziell höher. Dies ist im vorliegenden Ausschnitt insofern relevant, als dass eine tendenziell gesichtsbedrohende Situation gemeinsam bearbeitet werden muss. Wie im ersten Beispiel sind auch in diesem Gesprächsausschnitt Momente von Synchronisierung zu beobachten – hier aber gerade dann, wenn es darum geht, den gemeinsamen Aufmerksamkeitsfokus wiederherzustellen. Es handelt sich um Synchronisierungen, die vor allem über sprachliche und körperliche Ressourcen erreicht werden; sie sind insgesamt weniger deutlich ausgeprägt als im ersten Gesprächsausschnitt: • sprachlich: längeres überlappendes Sprechen, echoing, Sprechpausen, • körperlich: gegenseitiger Blickkontakt, Blickintensität, bietende Gesten.

Im zweiten Datenausschnitt besteht Synchronisierung vor allem in der gegenseitigen Abstimmung darüber, den Gesprächsfluss zu verlangsamen: In Z. 08 und Z. 09, in denen beide überlappend sprechen, wird Anne im Laufe ihrer Äußerung leiser; Lucs Äußerung bleibt fragmentarisch, es folgt eine Sprechpause von 1.8 s. Danach folgt mit minimalem sprachlichem Aufwand der Abgleich zum Namen des Komponisten (Z. 11 und Z. 12), dem wiederum eine Sprechpause folgt. Das bedeutet: Synchronisierungen sind nicht immer das Ergebnis von shared attention – sie können auch deren Voraussetzung sein. Die interaktionale Funktion von Synchronisierungen im Gespräch beschränkt sich somit nicht nur darauf, dass die Gesprächsteilnehmer Gemeinsamkeit erleben können. Eine andere Funktion kann darin bestehen, die Bedingungen für das Erleben einer solchen Gemeinsamkeit wiederherzustellen.

Ü BER S YNCHRONISIERUNG IM G ESPRÄCH

| 173

4 AUSBLICK Im vorliegenden Beitrag wurden zwei kurze Datenausschnitte in knapper Form analysiert, um zwei interaktionale Funktionen von Synchronisation herauszuarbeiten: Gemeinsamkeit erleben und Gemeinsamkeit wiederherstellen. Diese Befunde führen nun zu weiteren Fragen und entsprechenden Hypothesen: 1. Sind unterschiedliche Formen von Synchronisierungen bzw. Synchronisierungsmustern in kooperativen Kontexten auch mit eher unterschiedlichen Funktionen verknüpft? Der Vergleich der beiden Beispiele legt eine solche Vermutung nahe. 2. Im Anschluss an Frage 1: Wie unterscheiden sich Synchronisierungsmuster in Kontexten, die weniger durch Kooperation bestimmt sind (vgl. Delaherche et al. 2012), sondern eher durch Abgrenzung (und eventuell sogar Aggressionen), von Synchronisierungsmustern in kooperativen Settings? Unterscheiden sie sich überhaupt? 3. In welchem Verhältnis stehen die Konzepte shared attention und Synchronisierung? Bisher galt shared attention als eine der Bedingungen für das Auftreten von Synchronisierungen. Aber kann Synchronisierung auch als Bedingung für die Wiederherstellung von shared attention betrachtet werden? Dafür spricht eines der beiden Datenbeispiele in diesem Beitrag. Die qualitativ ausgerichtete, multimodale Analyse von Synchronisierungssequenzen kann die bisher vorliegenden Befunde quantitativer Untersuchungen ergänzen: Sie kann Hinweise darauf liefern, worin genau die Verbindung zwischen gegenseitiger Abstimmung körperlicher Äußerungen und positiv bewerteter Beziehungsqualität besteht. Diese Hinweise können zugleich als Impulse für künftige quantitative Untersuchungen dienen. Die vorliegende Arbeit stellt vor diesem Hintergrund eine kurze, beispielhafte Skizze dar, die sich in den Kontext interdisziplinärer Forschung einordnen lässt (vgl. Pfänder/Herlinghaus/Scheidt in diesem Band).

5 L ITERATUR Auer, Peter (2005): »Projection in interaction and projection in grammar«, in: Text 25 (1), S. 7-36.

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Barth-Weingarten, Dagmar/Schumann, Elke/Wohlfarth, Rainer (2012): »Da capo al fine? Beobachtungen zu Vorgeformtheit von Prosodie und Phonetik in retold stories«, in: Gesprächsforschung 13, S. 322-352. Bernieri, Frank J/Rosenthal, Robert (1991): »Interpersonal coordination: Behavior matching and interactional synchrony«, in: Robert Feldmann/Berard Rimé (Hg.): Fundamentals of nonverbal behavior, New York: Cambridge University Press, S. 401-432. Behrends, Andrea/Müller, Sybille/Dziobek, Isabel (2009): »Moving in and out of synchrony: A concept for a new intervention fostering empathy through interactional movement and dance«, in: The Arts in Psychotherapy 39, S. 107-116. Clark, Herbert H/Schaefer Edward F (1989): »Contributing to discourse«, in: Cognitive Science 13, S. 259-294. Delaherche, Emilie/Chetouani, Mohamed/Mahdhaoui, Ammar/Saint-Georges, Catherine/Viaux, Sylvie/Cohen, David (2012): »Interpersonal synchrony: A survey of evaluation methods across disciplines«, IEEE Transactions on Affective Computing 3 (3), S. 349-365. Deppermann, Arnulf (2008): Gespräche analysieren. Eine Einführung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Deppermann, Arnulf (2013): »Multimodal interaction from a conversation analytic perspective«, in: Journal of Pragmatics 46, S. 1-7. Deppermann, Arnulf/Günthner, Susanne (2015): »Introduction: Temporality in interaction«, in: Arnulf Deppermann/Susanne Günthner (Hg.), Temporality in interaction, Amsterdam: Benjamins, S. 1-23. Hove, Michael J/Risen, Jane L (2009): »It’s all in the timing: Interpersonal synchrony increases affiliation«, in: Social Cognition 27 (6), S. 949-960. Kupetz, Maxi (2014): »Empathy displays as interactional achievements: Multimodal and sequential aspects«, in: Journal of Pragmatics 61 (4), S. 4-34. Lerner, Gene H (2002): »Turn-sharing: The choral co-production of talk in interaction«, in: Cecilia Ford/Barbara Fox/Sandra Thompson (Hg.), The language of turn and sequence. Oxford: Oxford University Press, S. 225-256. Miles, Lynden K/Nind, Louise K/Macrae, C Neil (2009): »The rhythm of rapport: Interpersonal synchrony and social perception«, in: Journal of Experimental Social Psychology 45 (3), S. 585-589. Mondada, Lorenza (2014): »Bodies in action«, in: Language & Dialogue 4 (3), S. 357-403. Norris, Sigrid (2009): »Tempo, Auftakt, levels of actions, and practice: Rhythm in ordinary interactions«, in: Journal of Applied Linguistics 6 (3), S. 333355.

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Zum Konzept der Gestenresonanz in der Dialogischen Syntax E LISABETH Z IMA

Dieser Beitrag geht der Frage nach, wie das Resonanzkonzept der Dialogischen Syntax von John W. Du Bois (2007, 2014) auf spontan auftretende Handgestik in Face-to-Face Interaktionen angewendet werden kann. Anhand einer kurzen Sequenz aus einem Gespräch dreier Freundinnen wird diskutiert, inwiefern formal ähnliche Gesten der Gesprächsteilnehmerinnen als Gestenübernahmen bzw. funktional motivierte Gestenresonanzen anzusehen sind. Als ein zentrales Kriterium der Gestenresonanz wird dabei der Grundsatz der Dialogischen Syntax »for resonance to be real, it has to be real for the particpants« angenommen. Es zeigt sich, dass die Frage, ob SprecherInnen Gesten tatsächlich intentional übernehmen und also nicht nur (weitgehend) unbewusst spiegeln, in einigen Fällen klar bejaht werden kann. Hinweise geben hier vor allem das Blickverhalten, das Timing der Gestenproduktion und der Stellenwert der Gesten als in der Interaktion gemeinsam fokussiertes und evaluiertes Diskursthema. Darüber hinaus gibt es allerdings auch einen recht großen Graubereich, in dem Gestenparallelismen augenscheinlich sind, deren Status als intentionale Resonanz jedoch unklar bleibt.

Keywords: Dialogische Syntax; Handgesten; Parallelismus; Stance Taking

178 | ZIMA

1 D AS R ESONANZKONZEPT

DER

D IALOGISCHEN S YNTAX

In der gebrauchsbasierten kognitiv-funktionalen Linguistik ist der Begriff der Resonanz allen voran mit John W. Du Bois und seinem Modell der Dialogischen Syntax verknüpft (Du Bois 2007, 2014; Giora/Du Bois 2014). Der empirische Fokus dieses Modells liegt auf strukturellen Parallelismen in der Form von (partiellen) Wiederaufnahmen von Äußerungen in interaktionalen Gesprächen. Diese sind, so argumentiert Du Bois (2014: 360), sowohl Ausdruck als auch Folge der aktiven Auseinandersetzung (engagement) von Sprechern mit den Gesprächsbeiträgen ihrer Gesprächspartner, und zwar nicht nur auf einer rein inhaltlichen Ebene, sondern auf der Ebene der konkreten syntaktisch, lexikalischen, morphologischen oder auch phonologischen Struktur von Äußerungen. Eine Folge, aber gleichzeitig auch ein mögliches Ziel dieses Engagements ist die Herstellung von Resonanz: »The alignment of utterances yields a pairing of patterns at varying levels of abstraction, ranging from identity of words and affixes, to parallelism of syntactic structures, to equivalence of grammatical categories and abstract features of form, meaning, and function. This mapping generates dialogic resonance, defined as the catalytic activation of affinities across utterances.« (Ebd.: 360)

Resonanz situiert sich somit sowohl auf der Ebene der semantisch-pragmatischen Bedeutungskonstitution als auch auf der interaktionalen, interpersonellen Ebene. Diese doppelte Funktionalität lässt sich anhand folgenden Beispiels illustrieren: Beispiel 1: Santa Barbara Corpus of Spoken American English, Deadly Diseases SBC015: 703.380-708.860, zitiert in Du Bois (2014: 368)1 1 JOANNE; 2 3 LEONORE; 4

yet he’s still healthy. he reminds me [of my ^brother]. [he’s still walking] ^around, I don’t know how ^healthy he is.

1 Das Beispiel ist nach den Konventionen des Santa Barbara Corpus of Spoken American English transkribiert. Demzufolge entsprechen Zeilen im Transkript Intonationseinheiten. ^ sind den primär akzentuierten Silben vorangestellt. Überlappungen sind mit [ ] markiert (vgl. Du Bois et al. 1993).

G ESTENRESONANZ

IN DER

DIALOGISCHEN S YNTAX

| 179

Die Sequenz ist einem informellen Gespräch mit drei Teilnehmern entnommen. Joanne und der hier nicht verbal aktive Ken sind ein Paar, Leonore eine Freundin der beiden. Das Gesprächsthema ist der Gesundheitszustand von George, einem Freund von Joanne, der trotz erheblichen Alkoholkonsums und eines insgesamt nur geringen Gesundheitsbewusstseins, körperlich gesund zu sein scheint. Zentrales Element der Sequenz in Beispiel 1 ist die interaktionale Aushandlung der Bedeutung von healthy (gesund), wobei Leonore einen Kontrast herstellt zwischen gesund sein und noch herumlaufen (können) bzw. die Tatsache, dass George noch herumlaufen kann (he’s still walking around), als einen nicht ausreichenden Beweis für seine gute Gesundheit konstruiert. Außerhalb des unmittelbaren Kontexts der Sequenz weisen healthy und walking around weder eine enge semantische Beziehung auf, noch sind sie grammatikalisch äquivalent (Adjektiv vs. Verb). Eine semantische Beziehung entsteht hier jedoch online durch die identische Rahmung durch [he’s still X]. Zwischen healthy und walking around entsteht somit lokal Resonanz. Mit anderen Worten, [to be] walking around wird als paradigmatische Variation von healthy instanziiert und als Abschwächung der Behauptung, George sei noch gesund, interpretierbar. Diese Lesart entsteht hier jedoch nicht allein durch das Resonanzverhältnis zwischen den Gesprächsbeiträgen in Zeile 1 und 3, sondern sie wird auch in Zeile 4 des Transkripts explizit verbalisiert. So greift Leonore abermals die syntaktisch-lexikalische Struktur der Resonanzquelle aus Zeile 1 sprachlich auf, sie nimmt jedoch über die Einbettung in den Matrixsatz I don’t know und der Beifügung von how (how healthy he is), das gesund als skalares Konzept profiliert, eine andere Bewertung des Gesundheitszustands vor bzw. sie stellt die Absolutheit der Feststellung he is still healthy in Frage. Der Parallelismus und das dadurch entstehende Resonanzverhältnis dieser Sequenz illustrieren somit gleichzeitig auch eine der interaktionalen Funktionen der Resonanzaktivierung, der in der Forschung bereits recht große Aufmerksamkeit gewidmet wurde, nämlich des Managements von subjektiven Sprechereinstellungen und Bewertungen im intersubjektiven Akt des stance taking als kollaborative Aktivität von Gesprächsteilnehmern (vgl. u.a. Du Bois 2007; Haddington 2007; Niemelä 2011; Zima 2013). Beispiel 1 illustriert somit die Verortung der Resonanz im Bezug zum größeren Erkenntnisinteresse der Dialogischen Syntax an den kognitiven, sprachstrukturellen und interaktionalen Prozessen der Online-Bedeutungskonstitution im Wechselverhältnis von Sprachsystem und lokaler Aushandlung in der Interaktion. Dabei nimmt Du Bois einen konsequent dialogischen Blickwinkel ein, indem er die Struktur von Gesprächsbeiträgen als inhärent abhängig vom in der Interaktion präsenten Ko-Text beschreibt und im Sinne des Dialogismus (Bachthin

180 | ZIMA

1981[1934]; Voloshinov 1973[1921]; Linell 2009) argumentiert, dass Sprecher grundsätzlich keine Deutungshoheit über ihre Äußerungen haben, sondern »the meaning of an utterance can be changed by what comes after it, not only by what comes before. Like it or not, speakers may find their meanings recontextualized in ways they did not intend. Still, they may have to end up dealing with the retrospectively introduced implications of their words.« (Du Bois 2010: 20)

Die Untersuchung der kognitiven Vorrausetzungen und der interaktionalen Funktionen struktureller Parallelismen hat eine lange Tradition in der Linguistik, sowohl in der psycholinguistischen Priming- und Alignmentforschung (Bock 1986; Gries 2005; Pickering/Garrod 2004) als auch in der text- und gesprächsanalytischen Forschung zu den rhetorischen, gesprächsregulativen und kohäsiven Funktionen von Wiederholungen im Gespräch (Bolinger 1961; Haliday/Hasan 1976; Tannen 1989). Das Resonanzkonzept der Dialogischen Syntax geht jedoch sowohl über den Begriff des Primings als auch dem der Wiederholung hinaus. Priming beschreibt jenen kognitiven Mechanismus, wonach selbst benutzte, aber auch rezeptiv verarbeitete Sprachstrukturen eine kurze Zeitspanne kognitiv präsent bleiben und mit einem geringen kognitiven Aufwand reproduzierbar sind. Priming ist somit ein unbewusster, automatischer Denkmechanismus. Resonanz im Sinne der Definition von Du Bois als Effekt des engagement (supra) impliziert jedoch Intention und somit (zumindest auch) bewusste Kognition. Mit anderen Worten, SprecherInnen übernehmen Strukturen der Gesprächsbeiträge Ihrer GesprächspartnerInnen im Falle der Resonanzaktivierung (vgl. Bsp. 1 und 2) nicht rein automatisch und unbewusst, sondern Sie reinstantiieren sie im Sinne ihrer eigenen pragmatisch-rhetorischen Ziele. Dies ist besonders deutlich im Falle klar antagonistischer Resonanzaktivierung, die beispielsweise für politische Debatten und andere antagonistische Diskurskonstellationen und -formen charakteristisch sind (vgl. Zima 2013). Dabei werden Äußerungsteile nicht einfach wiederholt, sondern die Äußerung des Gesprächspartners wird gemäß der eigenen Sprecherintentionen und rhetorischen Zielen zerpflückt und in Teilen wiederverwertet, sodass in der eigenen Äußerung jene der Gesprächspartner (=Resonanzquellen) widerhallen, jedoch eine diametral entgegengesetzte Bedeutung bekommen.

G ESTENRESONANZ

IN DER

DIALOGISCHEN S YNTAX

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Beispiel 2: Österreichischer Nationalrat, 7.4.2005 (vgl. Zima 2013: 138) Plenarsprecherin: Abgeordnete Terezija Stoisits (die Grünen) Zwischenrufer: Abgeordneter Detlev Neudeck (FPÖ) 01 STOISITS von der f-bzö habe ich ja gar nichts anderes erwartet 02 deshalb werde ich in dem fall leidenschaftlich gegen das neue passgesetz stimmen 03 weil es nämlich genau den einzigen zweck der hier bisher formuliert wurde 04 NEUDECK das schau ich mir an 05 wie sie leidenschaftlich sitzen bleiben 06 STOISITS sicherheitsgewinn zu bieten 07 nicht erfüllt

Aus Sicht der kognitiv-funktionalen Linguistik erlauben diese Reinterpretationen Einblicke in das Ineinandergreifen der kognitiven Basismechanismen der Abstrahierung und der Extension. Diese bilden die Grundpfeiler des gebrauchsbasierten Modells (usage-based model, Barlow/Kemmer 2000), wonach Sprachnutzer Sprachstrukturen dadurch erlernen, indem sie aus dem Sprachinput rekurrente strukturelle Muster und ihre Bedeutungen/Funktionen abstrahieren und als Form-Bedeutungspaare, das heißt als Einheiten ihres Sprachsystems, mental abspeichern (entrenchment). Im Falle der Resonanzherstellung werden diese Prozesse der Abstrahierung und Extension struktureller Muster (oder Konstruktionen) im Gespräch sichtbar und in dialogischer Echtzeit beobachtbar (vgl. Du Bois 2014; Zima 2013; Brône/Zima 2014; Beispiel (1): [he’s still X], Beispiel (2): [leidenschaftlich VP]). In Bezug auf die sprachliche Ausgestaltung dieser auf Abstrahierung und Extension beruhenden Parallelismen zieht Du Bois explizit keine Grenzen: »resonance can arise between paired elements of any level of language« (ebd: 372; vgl. Zima 2013 für eine Typologie der Möglichkeiten der Resonanzaktivierung mittels expliziter Parallelismen und impliziter Wiederaufnahmen auf verschiedenen Ebenen (verbal)sprachlicher Organisation). Dies schließt prinzipiell neben verbalsprachlichen Strukturaspekten auch non-verbale Elemente von Äußerungen wie etwa Kopf- und Handgesten, Gesichtsausdrücke und Körperhaltungen mit ein. Im Gegensatz zu den verbalsprachlichen Spielarten von Parallelismen und damit einhergehender Resonanzherstellung (für einen Forschungsüberblick sei auf Du Bois 2014 und Zima 2013 verwiesen) sind die Möglichkeiten der multimodalen Resonanzherstellung bislang jedoch kaum erforscht.

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2 N ONVERBALE R ESONANZ Das Resonanzkonzept der Dialogischen Syntax wurde bisher nur in sehr vereinzelten Studien auf multimodale Daten angewandt. Garcia-Warner (2013) argumentiert in ihrer Studie zu gestischen Parallelismen im Gespräch, dass das Phänomen der gestische Resonanz nicht nur Gestenübernahmen umfasst, sondern im Sinne des Kriteriums des engagement, d.h. der aktiven, bewussten Auseinandersetzung mit der Gestik von Interaktionspartnern, vor allem in Fällen sichtbar wird, in den Gesten in veränderter Form und daher mit unterschiedlicher Semantik aufgegriffen werden. Sie zeigt demzufolge Beispiele, in denen Handgestik herangezogen wird, um Bedeutungsunterschiede zwischen Gesprächspartnern auszuhandeln und common ground (Clark 1996) zu etablieren. Arnold (2012) arbeitet zwar mit Methoden der Dialogischen Syntax (Diagraphen, vgl. Du Bois 2014) bezieht sich aber nur am Rande auf das Resonanzkonzept der Dialogischen Syntax. Sie arbeitet primär mit Gene Lerners Begriff des gestural matching (Lerner 2002) und zeigt die Rolle von sprecherübergreifenden Gestenübernahmen in hands-on-Lernaktivitäten. Ihre Daten wurden in einem Fahrradladen aufgenommen, in dem Laien von erfahrenen Monteuren in praktischen Übungen dazu angeleitet werden, ihr Fahrrad selbst zu reparieren. Gestenübernahmen dienen in diesem Kontext dem Erlernen handwerklicher Fähigkeiten sowie der Demonstration der erlernten Fähigkeiten. Beiden Studien ist somit gemein, dass sie Beispiele zeigen, in denen Gestenübernahmen (mit oder ohne Variation) zumindest teilweise in re-enactments (Sidnell 2006, Thompson/Suzuki 2014) auftreten. Dies trifft auch auf die Dissertation von Niemelä (2011) zur Resonanz in Erzählaktivitäten zu. Sie diskutiert ein Beispiel, in dem Sprecherinnen im Kontext einer second story und einer darin eingebetteten Bewertungssequenz formal ähnliche Gesten instanziieren. Das Beispiel ist allerdings so gewählt, das die Frage, ob diese Gesten tatsächlich übernommen werden und nicht vielleicht tatsächliche unabhängig voneinander verwendet werden (zufällige oder systembedingte Kookkurrenz), offen bleibt. Dieser Punkt, nämlich die Frage, wie für konkrete interaktionale Daten (1) Resonanz als bewusste Wiederverwertung von (2) Priming als unbewusste Spiegelung/Übernahme sowie (3) Kookkurrenz aufgrund von Frequenz und Konventionalisierung von Strukturen unterschieden werden kann, ist tatsächlich potenziell hoch problematisch, nicht zuletzt im Bereich nonverbaler semiotischer Modalitäten. Zima (2013) argumentiert diesbezüglich, dass das Phänomen der Resonanz, wie es Du Bois definiert, sowohl einen gesicherten Kernbereich als auch periphere Bereiche kennt, in denen die Intentionalität von beobachtbaren Parallelismen mit gesprächsanalytischen Methoden letztlich nicht nachweisbar ist. In

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den Kernbereich fallen alle Instanziierungen, in denen Resonanz ein Bedeutungsdifferenzial ausdrückt (vgl. Beispiele 1 und 2). Auch Fälle, in denen Resonanz dem intersubjektiven stance taking dient, wie etwa das von Du Bois (2014: 379f.) diskutierte Beispiel (3) erfüllen wohl das Engagement-Kriterium. Schwierigkeiten bereiten hingegen Wiederholungen von themenrelevanten Inhaltswörtern und generell hochfrequenter und für einen bestimmten Kontext hoch salienter Konstruktionen (vgl. dazu spezifisch die Diskussion in Du Bois (2014) und in Zima (2013: 62-65)). Beispiel 3: Santa Barbara Corpus of Spoken American English, Risk SBC024: 591.865-596.900 01 JENNIFER; I’m ^not going to be able to wipe this striped guy out yet. 02 I don’t ^think. 03 (0.4) 04 DAN; I’m — 05

^I’m not going to be able to ^either.

Die folgende Fallstudie greift diesen Ansatz im Sinne von eindeutigen, prototypischen Resonanzbeziehungen und Zweifelsfällen an der Grenze von Resonanz und nicht-intentionaler Kookkurenz auf und illustriert diese Unschärferelation mit Bezug zur Handgestik in einer Sequenz aus einem informellen Gespräch mit drei Teilnehmerinnen.

3 G ESTISCHE P ARALLELISMEN ZWISCHEN R ESONANZ UND K OOKURENZ Das erste Beispiel ist einem Gespräch mit drei Teilnehmerinnen entnommen (Korpus gemeinsames Erzählen, Auer/Weiß/Zima 2016). Die Gesprächsteilnehmerinnen sind miteinander befreundet. Das Gespräch hat informellen Charakter und kann als durchwegs flüssig und ungezwungen beschrieben werden. Alle drei Teilnehmerinnen trugen während des gesamten, etwa einstündigen Gesprächs mobile Eye-Tracking Brillen, die das Blickverhalten der Gesprächsteilnehmerinnen aufgezeichnet haben. Abbildung 1 zeigt zur besseren Orientierung die Perspektive einer zusätzlichen, externen Kamera auf das Interaktionsgeschehen. In den Standbildern der Abbildungen 2 entspricht der farbige Kreis dem jeweiligen Blickfokus einer Interaktionsteilnehmerin. Die Standbilder wurden aus den jeweiligen Gestenhöhepunktsphasen (stroke, McNeill 1992) der Gesten extrahiert, die im Sinne des Beitragsfokus auf mögliche Formen gestischer Resonanz als relevant erachtet

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wurden. Sie sind nummeriert und dem Zeitverlauf der Interaktion chronologisch entnommen. Die im Verbaltranskript eingefügten Nummerierungen (z.B.: *(1) o*der) verweisen auf ein Standbild in der Abbildung 2 und zeigen an, dass es zeitlich mit der jeweiligen Stelle zwischen den mit ** markierten Stellen im Transkript korreliert. Abbildung 1: Third person-Perspektive auf das Interaktionsgeschehen. Teilnehmerinnen von rechts nach links: Nora, Sarah, Laura

In den ersten zwanzig Minuten des Gesprächs unterhalten sich die drei Freundinnen über einen Film, den zwei der Gesprächsteilnehmerinnen am Tag vor der Aufnahme gemeinsam im Kino gesehen haben. Der hier präsentierte, 33 Sekunden lange Gesprächsausschnitt ist Teil der Anfangsphase dieser kollaborativen Erzählsequenz. Dem Ausschnitt unmittelbar voraus geht die von Laura und Nora gemeinsam gestaltete Erzählung des Beginns des Films. Demnach beginnt der Film damit, dass an einem Strand eine alte Flasche gefunden wird, in der ein Zettel steckt, auf dem offensichtlich Kinder geschrieben hatten, dass sie gefangen gehalten werden und um Hilfe bitten. Nora erzählt, dass die Darsteller im Film daraufhin zur Polizei gegangen sind und diese ermittelt hat, dass die Flaschenpost sieben Jahre alt sei. Der erste Gesprächsbeitrag Lauras (Zeile 1) schildert den Beginn der Ermittlungen der Kommissare. Beispiel 4: Korpus »gemeinsames Erzählen« (Auer/Weiß/Zima 2016): Irgendwas Nordisches 01 LAURA 02 NORA 03 04 05 SARAH 06 NORA 07 LAURA

und sie ham abgecheckt welche kinder vor !SIE!ben jahren verschwunden [sin ], [aber] das SIND keine= =weil irgendwie (.) in (0.42) dänemArk, irgendwie äh (.) alle zehn jahre zwei KInder verschwinden *(1)o*der so, ich dachte es war in *(2)(3)SCHWE*den? nee [hehe ] [das hat] in DÄnemark gespielt ja

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SARAH NORA LAURA SARAH

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31 SARAH

ah ok[AY] ja oder mein::< (2.3) mein kopfmäßige kopflaschtige A:rt (1.2) die isch sicherlich a Resultat (.) dadraus (-) dass I wahrscheinlich aus’m andre Bereich (2.8) zu wenig Erfolgserlebnisse verschpürt hab (2.) und dann dadrauf aus[gewiche war [mhmh (1.7) und inzwische ebe gemerkt han dass des au (.) au net (.) mi au net dorthin bringt was I eigentlich such jetz gä (2.8) dass ebe was Wesentliches fehlt un: mhmh zu wenig Erfolg hast und einfach (-) Resonanz zu °wenig Echo:° (--) für die direkte (-) Seite von Ihnen (6.0)

Der Fokusakzent im ersten Gesprächsausschnitt machte Resonanz als eine bestimmte erkennbar; sie wurde als fehlend ins Gespräch eingeführt, aber nicht weiter spezifiziert. Im zweiten Gesprächsausschnitt wird Resonanz durch T ins Gespräch eingeführt und im direkten Anschluss noch einmal mit Hilfe eines metaphorischen Bildfelds, wenig Echo wiederholt. Diese Formulierung bildet einen gewissen Kontrast, denn sie enthält eine leise Verschiebung ins Quantitative, während P eine qualitative Form, die Resonanz fehlte. Es besteht kein Zweifel, dass T seinen Patienten nicht etwa duzt, T spricht vielmehr aus der Per2

Siehe auch: »Das erste Wünschen dürfte ein halluzinatorisches Besetzen der Befriedigungserinnerung gewesen sein.« (Freud 1900: 604)

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spektive einer ›Seite‹ seines Patienten. Er artikuliert diese Stimme als Teil dessen, was er als innere Wirklichkeit von P ansieht. Diese therapeutische Operation verbindet an dieser Stelle jenen gemischten Diskurs, der als charakteristisch für die Hermeneutik (Ricœur 1994) beschrieben wurde: Die ›rationale Einsicht‹ (von P als kopflastig beschrieben, in der Tradition als intellectio) klärt die aktuellen Bezüge zur geteilten mikrosozialen Wirklichkeit, auf die hin das Selbst sich suchend entwirft; die Bildhaftigkeit der imaginatio (Ricœur entnimmt beide Begriffe der Tradition), vertieft die Bedeutung so, dass die Suchbewegung von P (was i eigentlich such) als sinnvoll aktualisiert wird. Diese Suche war in der 8. Sitzung begonnen worden, dort jedoch zunächst unter dem Namen einer Befriedigung: P:

P: P: P:

P: P: P: P: T: P: T: P: T: P:

die Nichtbefriedigung von irgendwas (---) des versetzt mi in Spannunga, (--) jetz philosophier i mol da drüber nach (2.4) und dass i mir da drüber oifach bewusster werd. (2.0) des versprech i mir in erschter linie und dann eben, (--) ja, dass i mi mit Ihne unterhalta kann. (1.8) desch sicherlich au, (3.2) wichtig (3.4) d- i erzähl Ihne ja eigentlich au Sacha, die i net jedem ezähla würde au net jedem (---) also kaum °mehr° (-) nem Freund; (.) °also net jedem Freund.° (9.7) also I a::lso wart i hier; (1.8) ah Sie verwirren mi total gerad. ((schnaubendes Lachen)) (6.7) ja vielleicht au: akzeptiert! zu werda; (3.4) vielleicht mehr Resonanz, no (2.9) vielleicht Wertung, (1.6) °hm:° ↑ (1.7) ah ja jetz verwirr ich Sie; des’s schon richtig (--) .hh (-) Verwirrung im Sinne (.) von; (--) .hhh (.) dass Sie merken dass so Ihre Antworten (--) °di:e so:° die treffats nedda Sie sind so >na ja Gott< (-) .hhh (--) hm (.) sind noch von Ihrem Gefühl! (--) entfernt (.) sind so (-) richtige alles richtige Antworten. jaja °[stimmt,° [>dann isch Metapher Abstrakt formuliert: (Ziel = Quelle) + (Ziel ≠ Quelle) -> Metapher Nur, wer das versteht, so legt Stählins Formel nahe, versteht die Metapher. Diese Ungleichungs-Gleichungen sind gerichtet, man kann sie nicht leicht umdrehen (GELD IST ZEIT), ohne dass ihr Sinn sich nachhaltig veränderte.7 Um die Metapher zu verstehen, braucht es mehr als die textlich-sprachliche Ebene, es muss die kognitive Ebene dazu kommen. Hätten wir die »Bewusstseinslage der doppelten Bedeutung« als unbewussten Operationsmodus nicht selbstverständlich 7

»The combination of openness to interpretation and strong constraints defines a challenge« (Lakoff/Turner 1989: 203). Ich verweise auf Croft/Cruse (2004) und Harder (2007).

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zur Verfügung, müssten wir Verliebte als Verrückte (er ist verrückt nach ihr) an den Psychiater überweisen. Die flottierende Verschiebung von Bedeutungen ist in musikalischer Metaphorik ausgedrückt worden. Ernst Cassirer zitiert Humboldt: »Die Menschen verstehen einander nicht dadurch, daß sie sich Zeichen der Dinge wirklich hingeben, auch nicht dadurch, daß sie sich gegenseitig bestimmen, genau und vollständig denselben Begriff hervorzubringen, sondern dadurch, daß sie gegenseitig einander dasselbe Glied der Kette ihrer sinnlichen Vorstellungen und inneren Begriffserzeugungen berühren, dieselbe Taste ihres geistigen Instruments anschlagen, worauf alsdann in jedem entsprechende, nicht aber dieselben Begriffe hervorspringen [...] Wird [...] auf diese Weise das Glied der Kette, die Taste des Instruments berührt, so erzittert das Ganze, und was als Begriff aus der Seele hervorspringt, steht im Einklang mit allem, was das einzelne Glied bis auf die weiteste Entfernung umgibt.« (Cassirer 1923: 105)

So wird, zusammen mit der Formel der »Bewusstseinslage der doppelten Bedeutung« deutlich, dass es seelische und kommunikative Bereiche gibt, die sich rationalen Anforderungen entziehen, dafür aber enorme kreative Leistungen ermöglichen. Was aber ist die sinnliche Erfahrung von Resonanz? Zieldomäne sind zwischenmenschliche Beziehungen, was aber ist die sinnliche Bildvorlage? (Ziel = ?) + (Ziel ≠ ?) -> Metapher der Resonanz Die Antwort auf diese Frage liegt darin, die Verhältnisse umzudrehen. Der Alltagsverstand (folk theory) nimmt an, dass eine Gitarre reagiert, wenn auf einem Klavier daneben gespielt wird und überträgt dieses Modell auf menschliche Beziehungen. Die Resonanzmetapher würde sich in die aus der Geschichte der Psychologie bekannten Beispiele technischer Metaphern für menschliche Beziehungen einreihen. Die Umkehrung von Zieldomäne und Bildvorlage hat eine Dekonstruktion ermöglicht, ich nenne kurz Beispiele: Prominent neben der paradigmatischen Metapher, dass Gehirne Computer seien, stehen hydraulische Analogien, von denen sich noch bei Freud Spuren finden. Dazu gehört die Redeweise, Aggressionen kanalisieren zu müssen. Das hydraulische Modell stammt von Empedokles, der ein Schüler der sog. pneumatischen Schule der Medizin im 5. vorchristlichen Jahrhundert war (McReynolds 1990). In Berkeley’s Sozialtheorie aus dem 18. Jahrhundert finden wir nicht nur moderne Neuro-Konzeptionen, wonach die animal spirits entlang der Ventrikel vom Gehirn zu den Muskeln verlaufen, sondern auch die Vorstellung, dass die von Newton entdeckte Anziehungskraft (engl. attraction) der Gestirne das metaphorische Ursprungkonzept

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für die menschliche Attraktion abgebe, so dass Menschen, die einander räumlich nahe sind, sich auch eher anziehend fänden (Leary 1977). Die physikalische attraction wurde als Bildquelle der menschlichen Anziehung so genutzt, dass sich menschliche Beziehungen als Teil der Natur erklären ließen: »Hume’s analogy between mental association and forces of physical attraction not only suggests that mental phenomena are explicable by ›laws‹ that are analogous to the laws of Newtonian philosophy; it also implies that the mind and the Newtonian cosmos have analogous structures« (Danziger/Leary 1990: 342).

Das technische Vorbild integriert hier menschlichen Geist und Kosmos. Sehen wir uns nun, mit diesen Einsichten ausgerüstet, eine technische Metapher für die Resonanz aus der 13. Sitzung an. P beginnt diese Sitzung, indem er direkt an die vorangegangene Sitzung anknüpft und mitteilt, am Ende der letzten Sitzung sei ihm noch etwas durch den Kopf gegangen. Es falle ihm beim Lesen schwer, Wichtiges von Unwichtigem zu scheiden, das gehe ihm auch in anderen Bereichen, etwa in seinen Beziehungen so, die Ambivalenz (sein Wort) spiele da überall hinein, und dann frage er halt den Therapeuten. 01 P: = na da hab I mi entschiede dass es des bequemschte war 02 T: (.) se Sie ham sich entschiede (-) und mich gefragt 03 (1.5) 04 T: was wär wenn Sie gleich, (-) anknüpfe würden 05 (2.0) 06 T: ohne mich zu fra:gen? 07 (3.0) 08 P: hhhh. mir fällt des aber schwer wenn I reinkomme gä 09 (1.0) 10 P: und °dann nasitz° >und dann< aus heiterem Himmel hh. (--) 11 anfang zu erzähle? (---) I mh I möcht dann gern n Bezug 12 irgendwie ich möcht dann son System 13 [erstreckt des schaff I zwar nicht 14 T: [Sie haben ja n Bezug (-) SIe wussten ja (.) worüber sie 15 reden wollen; 16 P: Ja!: aber I wollt nu ma das bei Ihnen au zurückrufen dass 17 Sie sich nu ma (---) dran erinnere (.) >aso wenn I jetzt 18 ag’fang hätt< ja:: bezüglich ä::h die Quintessenz aus: 19 aus: (--) Literatur zu ziehe die ich le:s oder so: .hh 20 (-) >weiß net ob ob< (.) hätt Sie dann (.) wärn Sie dann 21 gleich dabei gewesen und hätte wieder gewuscht dass dass 22 (.) I das letschte Mal scho angesprochen hätt (2.0) .hhh 23 noch so am Schluss wo scho 24 T: Ja:: nu (-) was wäre gewesen? Sie zerbrechen sich nu mein 25 Kopf (.) oder? 26 P: noa s geht ja auch um mei Interesse, (.) Ich möcht ja 27 auch ä äh Rückkopplung (.) und die kann I ja nur krie::ge 28 wenn I::: (--) sicherstelle=

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T: =sicher jaa:: P: dass dass [Sie scho wisse von was I rede] T: [sicherstelle mh mhh ] (7.5) T: is ebent (-) es hat son .hhh (1.0) Aspekt von

(1.5)

Mit Ja!: aber (Z. 16) nimmt P eine Höherstufung der Relevanz (Koerfer/Koehle 2007) vor; er stimmt T zunächst zu, macht mit dem folgenden aber zugleich deutlich, dass ihm am bisher Gesagten ein anderer Aspekt wichtig ist, nämlich dass T sich erinnere; er, P, das nun zurückrufen wolle. Dann verwendet P zwei technische Metaphern: System (Z. 12) und Rückkoppelung (Z 27). Sie dienen einer speziellen Konstellierung: P kann es bequem haben, T soll jene Entscheidungen treffen, die P schwerfallen (Z. 08). Mit was wäre wenn macht T einen anderen Vorschlag (Z. 04-06). P beginnt mit einer Rephrasierung, dass es ihm schwerfalle, dann artikuliert er genauer, dass er T in eine bestimmte emotionale Position (Gitelson 1952) bringen möchte: T soll sich erinnern, P möchte ›sicherstellen‹ (Z. 28), dass T schon wisse (Z. 30), wovon P redet. T rephrasiert die Äußerung mit sicherstellen (Z. 34). Die Modellierung seiner Erwartung in technischen Systemmetaphern dient zum Sicherstellen der Sicherstellungserwartung. Die Systemmetapher ist anschlussfähig an den sozialen Kosmos von technisch formulierten (Interventionen bei Störungen) Behandlungsvorstellungen, die den emotionalen Bedarf an Sicherheit verbergen und (damit?) zugleich verhüllt artikulieren. Jedoch, die technische Modellierung kann nicht Quelle der Erfahrung sein. Sie ist – in psychoanalytischen Begriffen – deren Abwehr. P sucht nicht technisch Rückkoppelung, sondern einen Therapeuten, der sich, der ihn erinnert. Der Preis technischer Darstellungsmetaphorik wäre Objektivierung eines Selbst, das sich gerade in seiner Subjektivität mitzuteilen versucht, aber an den Begrenzungen der technischen Metapher scheitert. Unüberhörbar ist, wie P sich in einer bedürftigen emotionalen Position sieht und den Therapeuten in einer komplementären Position wissen will. Der Befund lautet somit, dass in der folk theory der Resonanzmetapher Bildquelle und Zieldomäne – wie bei astronomischer Attraktion und menschlicher Anziehung – vertauscht wurden. Das stellt kommunikativ zwar Anschlussfähigkeit an technische Bildquellen in weitem Ausmaß her, überblendet aber die Erfahrung des Körperselbst. Nach psychoanalytischer Auffassung lassen sich technische Konstruktionen als Extensionen des Körpers betrachten, Freud spricht etwa vom Menschen als »Prothesengott« (Freud 1930: 451). Dieser Gedanke findet sich ausgearbeitet in moderner embodiment-Theorie: der Hebel als Verlängerung des Arms (Johnson 1987), das Konzept der Kausalität als Erweiterung

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der körperlichen Selbstbewegung (Johnson 1993), Mathematik als abstrakte Formulierung sinnlicher Körpererfahrung (Lakoff/Nunez 2000). Nicht Technik liefert der Resonanzmetapher ihre Vorlage, sondern embodiment: die verkörperte Person in ihren sozialkommunikativen und biographischen Bezügen.

4 N ARRATIONSFORSCHUNG Die Person ist im Fadenkreuz ihrer aktualisierten sozialen und biographischen Erfahrungen situiert. Lucius-Hoene und Deppermann (2004) sagen es so: »Das Erzählen von Selbsterlebtem ist somit sowohl Selbstdarstellung als auch interaktionell mitbestimmte und emergente Selbstherstellung, mit der das erzählende Ich [...] einen bestimmten Geltungsrahmen und soziale Konsequenzen beansprucht« (Lucius-Hoene/ Deppermann 2004: 168). Eine doppelte zeitliche Dimension ist hier zu berücksichtigen. Erzählung ermöglicht reflexive Distanzierung und setzt ein Geschehen der Chance neuer Bewertung aus. Indem die Erzählung zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit unterscheiden muss (Freeman 2015), schafft sie implizites Wissen von der Zeitlichkeit einer Erfahrung und muss dieses Wissen immer zugleich in Anspruch nehmen. Die Praxis des Erzählens, in ihrer Gerichtetheit an einen Anderen, muss von ihrem Inhalt, der Erzählung, unterschieden werden. Zuhörer oder Adressat sind jedoch nicht nur passiv-rezeptiv, die Erzählung begegnet dem »Widerstand des Anderen« (Liebsch 2012). Ohne aktive Beteiligung des Anderen, hier des Therapeuten, fände kein Erzählen, sondern ein Berichten oder das Verlesen eines Protokolls statt. Durchs Erzählen wird Erinnertes und in der Erzählung Vergegenwärtigtes als neue soziale Realität zwischen Beteiligten geschaffen. »Erinnerung ist eine Form der Begegnung« (Gibran 1997: 9), so bindet der Poet beide Aspekte zusammen. Es ist nicht nur der Informationswert der Erzählung, der Erzähler selbst will begegnen: einer Welt, die teilhat und Anteil nimmt, seine Geschichte hört und erinnert und eventuell Bewertungen verändert. Wir wollen nicht nur die Geschichte, sondern mit der Geschichte auch uns verstanden wissen. Wie aber kann es sein, dass wir, während wir einem anderen erzählen, gewiss sein können, dass er versteht und zugleich Hilfreiches dazu sagen könnte, das jedoch den eigenen, bedeutungsgebenden Rahmen verschiebt? Und wie kann das erst in Situationen geschehen, in denen unsere eigene Erzählung verwirrt, von vielen angefangenen Gesprächsfäden durchzogen wird, die liegengelassen und nicht wieder aufgegriffen werden? Wenn unsere Evaluation zu anderen Befunden kommt als die unseres Gegenübers? Dass er nur dann ver-

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steht, wenn er zugleich ganz anders versteht? Diese eigentümlich bizarre Lage ist in der Narrationsforschung immer wieder aufgegriffen worden. Sie begegnet in der therapeutischen Welt (Bergande 2012; Blass 2012) praktisch und täglich; manche geben freilich das Ziel des Verstehens auf (Fink 2012; Taubner 2012) und betonen, dass es auf anderes ankomme. Ausschließlich mit hermeneutischen Mitteln ist in der Tat ohne infiniten Regress nicht befriedigend aufzuklären, wie das Verstehen des Verstehens verstanden werden könnte (Hörisch 2011). Auch hier gibt es eine Umkehrung: Es kommt nicht nur darauf an, zu verstehen, sondern im narrativen Prozess selbst als einer, der versteht, verstanden zu werden. Dazu gibt es interessante Befunde, von denen ich einige wenige referieren möchte. Eine empirisch arbeitende Psychoanalytikerin (Harrison 2013) hat den Versuch unternommen, die rhythmische Synchronie zwischen den Mitteilungen eines Kindes und ihrem eigenen Sprechrhythmus zu analysieren; sie kann plausibilisieren, dass einer solchen Synchronisierung in therapeutischen Gesprächen eine wichtige Rolle zukommt. Andere Untersuchungen (Ramseyer/Tschacher 2014; Trevarthen/Daniel 2005) bestätigen die Bedeutung rhythmischer Synchronie. Synchronie ist auch alltäglich von Bedeutung. Positiven Stellungnahmen geht ein turn-opening smile mit leichtem Anheben der Augenbrauen (Kaukomaa/ Peräkylä/Ruusuvuori 2013), negativ-kritischer Stellungnahme geht in Sekundenbruchteilen das Absenken der Augenbrauen voraus (Kaukomaa/Peräkylä/Ruusuvuori 2014). Auch der Stimme kann eine exquisite Rolle zuerkannt werden. Narratologische Theorie (Blödorn/Langer/Scheffel 2006), linguistische Gesprächsforschung (Kupetz 2013; Pfänder/Gülich 2013) und Psychotherapieforschung (Moneta et al. 2008; Powers/Trevarthen 2010; Tomicic/Martinez/Krause 2015) konvergieren hier. Die prosodischen Untersuchungen zur Empathie (Buchholz/Reich 2015; Orsucci et al. 2013; Weiste/Peräkylä 2014) lassen ein Kohärenzprinzip beobachten: Therapeuten werden als empathisch dann wahrgenommen, wenn unterstützende Äußerungen in gleichem Maß von Kopfnicken wie von prosodischen hms praktiziert werden. Divergieren diese Praktiken (etwa: häufige hms, aber kein Nicken oder umgekehrt) schätzen Probanden sie als weniger empathisch ein (Battles/ Berman 2012; Regenbogen et al. 2012). Die Multimodalität der verschiedenen einzelsinnlichen Mitteilungen muss kohärent sein (Regenbogen et al. 2016), damit eine zuhörende Person als integer, so könnte man anfügen, wahrgenommen wird. Verstehen wäre demnach nicht besondere hermeneutische Spezialisierung, sondern basaler humanspezifischer Vollzug, Grundlage von Sprachbeherrschung und Kultur, dessen verfeinerte Handhabung dann therapeutische Kompetenz ausmacht. Ein Teilaspekt solcher Kompetenz besteht im

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Erkennen jener Situationen, in denen ein Patient Empathie erschwert. Sogenannte typische problematische Situationen (TPS) sind in der Literatur, die Empathie als Koproduktion beider Beteiligter untersucht (Wynn/Wynn 2006), meines Wissens bisher kaum beschrieben worden (Buchholz 2016). Solche Situationen, die Empathie blenden, geschickt zu handhaben, ermöglichen dann Resonanzrealisierungen einer besonderen Art. Dazu hier ein Beispiel: P klagt in der 1. Sitzung darüber, dass er sich beim Nachhause-Kommen, immer erst einmal umdrehen und etwas kontrollieren müsse: 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37

P: [(Ja so)] =verhalten also so Kontrollzwang (..) und wenn i ja so (.) zum Beispiel (.) aus der Haustür rausgeh (.) >dann net< aber wenn ich reingeh [dann guck i nach T: [hm: P: hinten= T: =ja= P: =und kontrolliere ob i auch nichts vergesse hab oder so T: wenn sie reingehen in die Haustü[re P: [Ja wenn ich rausgeh net= T: =dann: kontrolliern sie was; (1.2) P: ja was, also .hh T: und wohin gucken sie da? Wenn Sie? P: Aufn Bode, (.) in der Regel T: von Draußen also draußen gucken [Sie? P: [nee von dri >>also i geh scho in die Tür hineiwas weiß i< meine Uhr verlieren oder >n Messer oder [was weiß I was i grad bei mir hab< (..) T: [ja:; P: Also i mach das auch wenn i jetzt zum Beispiel in der Badehose bin ja; (-) und des hat mir jetzt dermaßen ((Geräusch)) (1.8) in letzter Zeit gestö:rt gö? (-) P: (na) ma könnte scho damit le:be es isch ja net so (.) auffällig (1.1)

T fragt mehrfach nach, ob die Zwangshandlung des Patienten beim Reinkommen oder Rausgehen aus der Haustür erfolge. Sein Verstehen ist im alltagssprachlichen Nachvollzug behindert, indem P seine Verneinungen und Zustimmungen

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(Z. 09-16) so platziert, das T nicht unterscheiden kann, ob sie als Antwort auf die Frage oder als ›soziale Zustimmung‹ gemeint sind. Der empathische Nachvollzug durch T wird durch eine irritierende konversationelle Praxis von P verstört. Nicht Stimme oder mimisch-gestische Bewegung, sondern die Platzierung von kleinen Gesprächspartikeln (tags) sind für diese Irritation verantwortlich. Kontrollieren ist P’s Verb für seine Handlung, auch wenn unklar bleibt, was kontrolliert wird. P führt, was ich hier zusammenfasse, den Zwang auf ein Kindheitserlebnis beim Spielen im Wald zurück. Dort hätten ihn andere Kinder genötigt, in einen Holzstapel zu klettern und ihn darin eingeschlossen, worauf er mit erheblicher Angst reagiert habe. Sich eingeengt fühlen, ist ein Thema dieses Patienten. Sehen wir uns an, was sich am Ende des Erstinterviews verändert hat: 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76 77 78 79 80 81 82

T: da ham Sie keine Ahnung was dieses Gucken bedeuten [könnte P: [ne::? Hh (4.8) T: Des >müssn=wa raus finden;< (--) was Sie da eigentlich gucken, (2.5) T: wozu Sie da gucken (.) P: >Also< (.) ich hab mir schon imma überlegt bin ich so materialistisch orientiert dass ich Angscht ham dass ich was (.) li::egen lass was vergess, aber das glaub i net; weil ich das ja im Schlafanzug mache oder in der Badehos, (-) des isch was anders (?we-?) (1.7) T: ↑hm P: esch=isch steht in keiner Re- Relation mehr mit dem was i über- (.) überwache? kontrolliere? (.) könnte? Und wollte? (.) P: [äh wie also so stark wie sich des äußert, gä?= T: [hm; T: =hm (1.2) T: .hh Ja:? Also das wird uns dann beschäftigen was Sie da gucken; (-) was Sie da suchen, (.) suchen (2.1) P: suchen kann ma schon sage ja, (---) Ich glaube nicht nur kontrollieret sondern schon suchend,= T: So klingst für mich, es=klingt=ni-, es ja ni wie’n kontrollieren, sondern wie’s suchen, (1) irgendwie sich suchen sich umgucken (1.3) P: Verstehn’se wenn ich dann mal tatsächlich was vergesse und mich umgucke dann is des noch nich a mal a Erfolgserlebnis dann isch des denn Schwachsinn hhh

Wir sehen hier eine Vielzahl von other completions (Lerner 2013), T formuliert (Z. 50-57) ein Projekt des Herausfindens. Innerhalb dieses Projekts entsteht eine Bedeutungsverschiebung von kontrollieren zu gucken, die von einem kurzen

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Narrativ gefolgt ist: P teilt mit, was er sich hinsichtlich seiner Selbstkonzeptionen und Werteinstellung schon alles dazu überlegt habe (Z. 58-71). In Zeile 72-73 nimmt T eine weitere Verschiebung des Verbs von gucken zu suchen vor, die von P sogleich ratifiziert wird (Z. 74-75) und diese Verschiebung wird subjektiv von T (so klingts für mich) perspektiviert; im so von T formulierten anderen Rahmen entsteht neue Bedeutung.8 T ›schmuggelt‹ eine kleine weitere Verschiebung mit ein: sich suchen (Z. 77-78). Diese Veränderung der Handlungsbeschreibung verstehe ich als agenda transforming utterance (Stivers 2007) – der Vorstellungsrahmen der gemeinsamen Erörterung wird transformiert. Die Kontrolle zu kontrollieren wäre paradox und Ausdruck davon, dass der kontrollierte Part dem Handelnden so fremd entgegen tritt wie seine Kontrolle. Diese Lösung bleibt im Bezugsrahmen des Zwangs, der sich immer weitere Zwänge schafft. Das artikuliert P in Zeile 6568: was er kontrollierend tun könne, steht in keiner Relation mehr. Das Narrativ dieses Patienten ist nicht kohärent (Gülich/Schöndienst 2015), seine Handlungsbeschreibung ist verstört, T konnte der Darstellung nicht folgen. P akzeptiert die Umstellung auf gucken/suchen, so entsteht die Möglichkeit eines Sinn seiner symptomatischen Handlung. Mit der unscheinbaren Transformation des Verbs emergiert ein anderer Selbstentwurf (Berán/Unoka 2015), dem Chancen auf höhere Grade der Selbstakzeptanz sich öffnen und, für die Resonanz zwischen T und P von Bedeutung, eine aussichtsreiche Kooperationsperspektive für die Behandlung. Das von T formulierte Projekt des Herausfindens lässt sich gut weiterverfolgen. In der Mitte der 3. Sitzung geschieht eine weitere Rahmenverschiebung: 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 16 17

8

P: also ich sag nich (.) ((mit verstellter weicher Stimme)) ja i war ni::e in der Zeit. (.) un immer so in mein (.) Zimmer, und les und gelernt (--) und ja::ch und gut Moped gefahre, (-)°mit° Bekannte >>gehabt die au Mopeds gehabt han und dann sin=wa=zusamme zum Grille gefahrewo es ja wohl< (---) Sie >sind in der< Grundschule; (-) .hhh (.) so’n beneidenswertes Kind gewesen; was: den: (1.6) den Ernst der La:ge noch nich geblickt hat und [dann kam plötzlich ne eiskalte= P: [na ja (.) .h ne des würd i net; T: =Ladung; (-).hh weil wenn die andern alle auf die Realschule, und Oberschule gehen, dann plötzlich merkt man dass etwas passiert! ist im Leben. P: vor allem die Trennung, dann gell, [mir waret] T: [und dann;] P: ja nemme zamma im in der klasse, [und so; und für mi] T: [is: des:;] P: war der Weg net; (.) machbar, (---) .h (---) und dann Preschtigeverluscht i; [bin an ( )] T: [Prestigeverluscht; also an allen Ecken und Enden geht da was futsch, P: mhm, (1.3) P: des war scho so; (---) [°bsonders] T: [so n jäher, (.) Abbruch, ne:r Kindheit. (2.3) P: °ja,° (1,3) T: ner verträumten; (1,7) lego P: mhm, (--) [also] T: [°kindheit°] P: war scho: krass!

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Zunächst deutete P das Erlebnis mit dem Holzstapel als relevant für seine Symptomatik und stuft die Relevanz nun zurück; Gefangensein in der Zeit gewinnt hingegen Relevanz, gründend in der besonderen (Z. 52) Erfahrung vom schulischen Prestigeverlust (Z. 48), dessen Relevanz sich zu krass (Z. 61) steigert. Zeitliche Reorganisation rückt das Thema der Einengung in andere biographische Rahmungen. Diese Konversation löst das narrative Paradox, wonach Verstehen bedeutet, anders, nämlich in einem anderen Bezugsrahmen, verstanden zu werden. P bedurfte, um sich zu verstehen, des ganz anderen Verstehens des Therapeuten.

5 D IE ANALYSE DER K ONVERSATION – DIE CGDP-4-H YPOTHESE Es ist jedoch nicht einfach der Andere, der hilft, sich zu verstehen; vielmehr muss die Konversation auf eine besondere Weise eingerichtet sein. Die Konversationsanalyse (KA) beschränkt sich methodisch meist auf Hörbares, sie hat sich jedoch längst von einem Instrument der Untersuchung von Redezügen (turns) und turn constructional units (TCU) weiterentwickelt. Sie unterscheidet Sprechaktivitäten von Organisation der Konversation (Button/Lee 1987), auf Gruß folgt Gegengruß, auf Frage Antwort, die Redezüge sind so, dass nur einer redet – und wenn nicht, setzen detailliert beschreibbare repair activities ein, um den sozialen ›Beziehungsschaden‹ (trouble) zu minimieren. Wenn also ›Durcheinanderreden‹ zu beobachten ist oder zwei Sprecher einander ihre Äußerungen ohne repair activities komplettieren, muss dem eine besondere Bedeutung zukommen. Sie sind als other completions (Lerner 2004) beschrieben worden. Die hier vorgeschlagene CGDP4-Hypothese besteht aus 4 Komponenten. Sie schlägt erstens vor, other completions als Hinweis dafür zu behandeln, dass beide Sprecher sich in einem gemeinsamen semiotischen Feld bewegen in dem Sinne, dass sie auf funktional äquivalente Bedeutungsressourcen anspielen und sich dies gegenseitig beständig anzeigen. Zweitens, kann der dabei etablierte common ground (CG) jedoch nicht als dauernd etabliert gelten, sondern ist ein Dynamischer Prozess (DP). Er kann, drittens, in 4 Stufen beschrieben werden. Er kann, viertens, von der erreichten 4. Stufe aus (oder vorher) scheitern oder auch rekursiv operieren und gleiche kognitive und konversationelle Operationen anwenden. Die 4. Stufe fungiert dann als ›Neustart‹ wie die erste Stufe. Diese vier Komponenten der CGDP4-Hypothese sollen nun im Einzelnen beschrieben werden.

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5.1 Common Ground Hutchins und Nomura (2011) sprechen von collaboratively constructed utterances (CCU): »In the most frequently studied type of collaboratively constructed utterance, one speaker begins an utterance in a way that projects possible completions. Another speaker then contributes utterance elements that are incorporated into a jointly produced utterance. The acceptance by participants of a collaboratively constructed utterance is strong evidence for the establishment of common ground understanding«. (Hutchins/Nomura 2011: 29)

Neurowissenschaftliche Befunde (Bögels/Kendrick/Levinson 2015; Bögels/Magyari/Levinson 2015) bestätigen die schon zu Anfang der KA (Sacks 1987) gemachten Beobachtungen dazu hinsichtlich Pausenlänge und Dauer von turns. Die sehr kurze Pausenlänge zwischen turns von ca. 200-400ms (im Fall von Zustimmungen) sehen diese Autoren generell als Hinweis auf aktive begleitende Gehirnaktivitäten (gemessen mit EEG), sie wäre für eine erst dann einsetzende Redeplanung viel zu kurz. Im Fall von Ablehnungen oder Verneinungen sind die Pausen um ein mehrfaches länger. Die Planung dieser Aktivitäten erfordert mehr kognitive Aktivität. Noch längere Pausen veranlassen den ersten Sprecher zu einer Nachfrage. Die Autoren beschreiben »that preferred responses mostly occurred after short gaps, but as the delay mounted to around 700ms, dispreferred responses became more frequent than preferred ones.« (Bögels/Kendrick/Levinson 2015: 2). Längere Pausen werden meist als Anzeichen für eine geringere Vertrauenswürdigkeit der Antworten aufgefasst. Weiter unterschieden wird von Hutchins und Nomura (2011) zwischen semantischen und zeitlichen Korrespondenzen. Bei ersterer beziehen sich zwei oder mehr Elemente im aktiven semiotischen Feld auf »related conceptual elements, even if they are not produced or processed simultaneously«. Davon haben wir schon einige Beispiele gesehen. Zeitliche Korrespondenz meint die enge, zeitnahe Produktion von Äußerungen so, »that they afford processing together, even if they do not refer to the same conceptual elements«. Sie formulieren: »We hpyothesize that human minds are always looking for these kinds of correspondences«. (Hutchins und Nomura 2011: 29). Mit dieser Hypothese von der Suche nach correspondence wird eine psychologische Motivierung formuliert,

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die mit der von anderen Autoren (Tomasello/Zeidler 2010) 9 vergleichbar ist. Man kann linguistische und psychologische Definitionen von common ground nebeneinander stellen: Die folgende psychologische Definition beschreibt, dass zwei Menschen ihre Überzeugung sowohl darzustellen als auch zu bestätigen versuchen, sich verstanden zu haben: »She accomplishes this by choosing her wording based on their common ground so far, and by collaborating with her partner to reach the mutual belief that he has understood her.« (WilkesGibbs/Clark 1992: 183). Die Definition eines Linguisten beschreibt kaum etwas anderes: »The pursuit and exploitation of mutual knowledge, shared expectations, and other types of common ground [...] not only serves the mututal management of referential information, but has important consequences in the realm of social, interpersonal affiliation. The informational and socio-affiliational functions of common ground are closely interlinked.« (Enfield 2006: 399)

Harvey Sacks hatte im ersten Kapitel seiner Vorlesungen (Sacks 1992) darauf hingewiesen, dass Konversationen von einer stillen Dimension des My mind is with you begleitet seien, ohne die eine Konversation zusammen brechen müsste. In meinen Augen ist das die gleichsam ›schönste‹ Formulierung für den common ground, wenn ein solches persönliches Kriterium genannt werden darf. Es zeigt, wie früh die roots of human sociality (Levinson/Enfield 2006) in der KA Beachtung fanden. Ob allerdings diese frühe Beobachtung mit der Mentalisierungstheorie in der Psychoanalyse (Jurist/Slade/Bergner 2008) konvergiert, muss anderen Diskussionen vorbehalten bleiben.10 Auch die epistemische Funktion der Konversation (Heritage 2012; Kidwell 2011) kann hier genannt werden, denn lokale und situative Wissensbestände werden beständig ausgeglichen, mit dem Ziel, dass beide wissen, was der andere weiß oder nicht weiß.

9

Ein prominenter Säuglingsforscher, Ed Tronick (2007), nimmt an, dass »humans so strongly seek states of emotional connectedness and intersubjectivity« und deren Verfehlen habe »such a damaging effect on the mental health« (Tronick 2007: 402).

10 Von Autoren einer primären Intersubjektivität (Gallagher/Hutto 2008) wird mit fulminanter Kritik an theory of mind-Theory und Simulationstheorie an den Grundlagen der Mentalisierungstheorie gerüttelt. Leudar und Costall (2009) beklagen zu Recht, dass Kritiken an der Mentalisierungstheorie von deren Vertretern allzu souverän ignoriert werden.

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5.2 Der Dynamische Prozess Mit Etablierung eines common ground wird in einer Konversation nicht nur die Geschwindigkeitsdifferenz zwischen langsam-seriellem Sprechen und schnellem Denken abgearbeitet, sondern es wird auch ständig auf die mitlaufende Vorstellungswelt verwiesen. Dies hebt eine weitere Definition heraus: »The idea being that the common ground constitutes a normative (albeit idealized) entity with which conversationalists strive to identify their information states.« (Ginzburg, 2012: 64). Der Hinweis auf die Idealisierung ist wichtig; im deutschen Sprachraum wurde (Hahn 1983) an einer Untersuchung von Ehepartnern darauf verwiesen, dass der common ground soggenannte Konsensfiktionen in Anspruch nimmt und die Konversation (unbewusst?) darauf achtet, diese nicht zu nachhaltig zu verstören. Drei Dynamiken des Prozesses lassen sich unterscheiden: (1) in einer geteilten Vorstellungswelt kann man Abkürzungen des Sprechens, Andeutungen für Temporalisierungsgewinne verwenden und dabei testen, ob der CG noch Bestand hat; (2) er schafft und erhöht emotionale Affiliation (Muntigl/Horvath 2014); (3) die Gesprächsteilnehmer regulieren wechselseitige information states, indem sie darauf achten, was der andere schon kennt oder nicht kennt und so für eine Balance des Wissens mitlaufend und in unbewusster Regulierung sorgen (Heritage 2011). Ein weiterer Aspekt hat Bedeutung für psychoanalytische Diskurse: »In this process, the minds of the interactants interact with the minds of previous generations that are embodied in material culture. Among the mediated and symbolic activities that are often carried out alongside social interaction are ones that involve inscriptions – writing, diagramming, calculating, and so on. Inscriptions are as important in the business world as they are in science labs; in fact, writing in the Western hemisphere appeared for the first time as an accounting system in the context of trade – in the function of ›external memory storage‹.« (Streeck 2011: 67).

Hier wird nicht nur formuliert, dass minds mit anderen minds interagieren, sondern auch, wie wir uns mit kulturellen Materialisierungen der minds vergangener Generationen verbinden; externe Gegenstände bilden ein Gedächtnis, das auf individuelle Gehirne nicht beschränkt werden kann. Wir bewegen uns in einer Welt von distributed cognition (Hutchins 2006).

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5.3 Die 4 Stufen und die Rekursion – ein Weg zum present moment Obwohl es von der hier untersuchten Behandlung wegen der Diskretionserfordernisse kein Videomaterial gibt, lässt sich den Transkripten entnehmen, dass common ground in einer Stufenfolge konversationell etabliert wird. Meine Hypothese kann differenziert werden: Teilnehmer tun das durch implizite Verweise auf (1) sinnlich wahrnehmbare, hörbare oder sichtbare Gegebenheiten, (2) durch Beachtung der Aufmerksamkeit des Anderen, (3) höherstufige Verlinkungen von einem zuvor berichteten Event mit einem anderen, das aktuell besprochen wird und (4) schließlich durch Kreation einer Metapher für aktuelle Interaktionsbeschreibungen. Weil hier langsame Konversation und schnelle kognitive Kreativität temporal sich treffen, entsteht, was klinisch als present moment (Bruschweiler-Stern et al. 2002, 2010) beschrieben wurde. Diese Autoren nehmen an, dass ein therapeutischer present moment entsteht, wenn zwei Vertreter institutioneller Rollen sich plötzlich als Personen wahrnehmen und wechselseitig wahrnehmen, dass sie das wahrnehmen. Im überraschten Schweigen erkennen beide, dass talk-in-interaction nicht im institutionellen Format weitergeführt werden kann. Gewinnt die persönliche Dimension die Oberhand, verwandelt sich der present moment in einen moment of meeting. Die soziale Reflexivität ist durchaus angesprochen, noch nicht aber das Temporalisierungsmoment. Darüber ist bislang klinisch, nicht aber in transkribierter Form berichtet worden. Auch hier geht meine Hypothese weiter. Die CGDP4-Hypothese nimmt an, dass es eine stufige Entwicklung gibt; etwa so, wie Gäste, die zum ersten Mal einen Besuch abstatten, ein Gemälde an der Wand ansprechen (Wie interessant? Wo haben Sie das her?) und damit ein in gemeinsamer Aufmerksamkeit vorhandenes perzeptuelles Objekt in ein konversationelles Objekt verwandeln; ein konversationelles Objekt kann sich mit anderen verbinden (link), naheliegende Gesprächsthemen können sich anschließen (etwa die Galerie, wo das gekauft wurde oder zeitlich anders gelagerte Schilderungen). Auf diese Weise wird ein common ground etabliert, wodurch die Beteiligten wissen können, was der je Andere weiß und zugleich ist eine erste Affiliation geschaffen. Alltagsgespräche bleiben meist länger auf dieser dritten Stufe der Verlinkung; sie reichern anderes narratives Material an. In der therapeutischen Situation hingegen wird der metaphorische Level nicht selten angestrebt oder er geschieht. Auf jeder dieser konversationellen Stufen sind psychologisch andere kognitive Kompetenzen erfordert. Ich fasse diese Stufen in folgender Tabelle zusammen (vgl. Buchholz 2016):

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CG-Level

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Object

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Conversational operation

Sources of both interactants

(1) perceptual

Objects in perceptual environment

Transforming into a conversational object

Joint attention

(2) conversational

Objects in conversation

Reference to conversational objects

Some fusion of perception, memory and cognitive inference

(3) linking

Linked objects

(4) metaphoricalcreational

Creating a new metaphorical object

Linking of the type A:B=A:C or A:B=C:D (where A, B, C, D are conversational objects) Creating a new metaphor for the common relational activity

Analogical reasoning

Creativity

Ich möchte nun an Beispielen zeigen, wie sich die Stufenfolge der Etablierung eines common ground im therapeutischen Dialog der hier untersuchten Behandlung entwickelt. Hier jedoch aus Gründen der Kontrastierung zunächst der An11, fang einer 4. Stunde die nicht zu der hier analysierten Kurztherapie gehört. P: [°Na ich seh schon Sie ham (.) das Mikrophon schon aufgebaut; [((starkes Rascheln)) T: JA:,! >H H< (---) ((starkes Rascheln)) P: °°hat ich schon wieder vergessen°°= T: =Ja. (4.8) ((Papiergeraschel)) T: ↑Ja (1.3) ((Rascheln hört auf))

Die Patientin eröffnet die Konversation mit einem leichten, minimal affiliativen teaser (Na). Sie teilt mit, was sie sieht und wovon sie annehmen kann, dass auch ihre Therapeutin es sieht – das perzeptuelle Objekt (Mikrofon) wird als das in 11 Dies Material stammt aus dem von der Köhlerstiftung geförderten CEMPP-Projekt (Conversation Analysis of Empathy in Psychotherapy Process). Je 15 transkribierte Sitzungen von Psychoanalyse, Verhaltenstherapie und Tiefenpsychologie (aus Anfangs-, Mittel- und Endphase der Behandlungen) werden vergleichend analysiert. Dank an Frau Professor Dr. Dorothea Huber für die Überlassung der Audio-Aufzeichnungen aus der Münchner Psychotherapie-Studie Huber/Henrich/Gastner/Klug (2011).

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die Konversation eingebracht, worauf sich beider Aufmerksamkeit (shared focal attention) richtet. Der nur als Ko-Konstruktion mögliche Übergang in die Konversation kommt mit einem kräftigen JA der Therapeutin; auch sie richtet ihre Aufmerksamkeit darauf. Die Transformation in ein konversationelles Objekt gelingt, die Therapeutin antwortet zustimmend. Jedoch, die mit dem kleinen Teaser angestrebte emotionale Affiliation erfährt keine Resonanz; das akzentuierte, sehr laut gesprochene, gedehnte JA der Therapeutin, gefolgt von raschen, ebenfalls sehr lautem Atmen, fällt sofort auf – die Patientin reagiert mit einer Veränderung ihrer Lautstärke, spricht mit leiser Stimme und schreibt sich den Vergessensirrtum zu, obwohl sie in der ersten Bemerkung kein Vergessen hatte erkennen lassen. Es ist gewiss nicht verfehlt, hier patientenseitige Empathie für die Therapeutin zu erkennen; diese Richtung von Empathie ist m.W. noch nicht beschrieben. Dieser Anfang gelangt nicht über Level 1 und 2 hinaus; das leicht dismissive behavior der Therapeutin entmutigt die Patientin. Vergleichbar ist damit der Anfang einer ebenfalls 4. Stunde aus dem Material der hier analysierten Kurzzeittherapie, mit der Leser jetzt durchaus vertraut sein sollten. Hier wird Level 3 erreicht: P: °ja° (---) Sie ham mir letschtes Mal das Schreibe mitgegebe (3.9) P: mit heutigem Datum, (--) T: °ja?° P: (?) T: °ja:,° (4.2) P: °°hoffm m ma das es durchgeht,°° (1.2) P: °naja und i sollte mir überlege, (-) tza (-) äe::r die Frage, warum i net allein sein kann oder warum mir das° °°schwer fällt°° (1.6)

P beginnt ebenfalls mit einem teaser, einem leise gesprochen ja, das stärker auf Zustimmung hin orientiert ist; auch er verweist auf ein gemeinsames perzeptuelles Objekt (das Schreiben, das er hörbar raschelnd in der Hand hält). T verzögert um 4 Sekunden seine Antwort mit einem leise gesprochenen ja, was auch hier den Übergang zum konversationellen Level ratifiziert und als resonanter continuer fungiert. P verknüpft mit einem anderen Element der gemeinsamen perzeptuellen Welt, das heutige Datum, eine weitere sehr leise unverständliche Äußerung wird erneut mit einem leisen ja beantwortet. Die stimmlichen Modulationen der ja beider ermöglichen hinreichend Affiliation und Zustimmung, so dass P nach einer wiederum 4-sekündigen Pause eine nächste interpersonell affiliative Äußerung (hoffen wir mal…) macht und zum Ausdruck bringt, dass

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der Antrag bei der Krankenkasse (darum handelt es sich offenbar) durchgeht. Das einleitende Thema ist abgearbeitet, eine Pause zur Reorganisation wird gefolgt von einer Umstellung auf den eigentlichen Sitzungsbeginn. P vergegenwärtigt, für sich ebenso wie für T, was ihm T in der letzten Sitzung aufgetragen habe. Im Vergleich lässt sich erkennen, wie der common ground gestuft etabliert wird: (1) es gibt Referenz auf eine gemeinsame Welt (letzschtes Mal, heutiges Datum), gefolgt von konversationeller Ratifizierung (ja bzw. JA durch T), sich in dieser situativ und lokal generierten Welt gemeinsam zu befinden; (2) wir sehen den balancierten Ausgleich des Informations- und Wissensstandes; (3) die Affiliation zwischen beiden wird im zweiten Vergleichsbeispiel auf Level 3 erhöht. In der 5. Stunde findet P eine originelle Metapher für das, wie T ihn behandelt, der metaphorische Level kommt zu den anderen drei Levels hinzu: 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28

P: °ha ich fühl mich hier doch auch manchma° schwach; (---) T: n:ej ich denk dass is ja das was sie beklagen, dass Sie sich hier doch noch zu sehr kontrollieren (2.2) dass das Kontrollieren heißt (.) nicht schwach sein dürfen (2.0) P: °nicht schwach sein dürfen° (4.7) P: vielleicht ja (2.1) P: oda .h andersch ausgedrückt (.) eifach net die=die f- (.) Facon verliere (.) °Facon° T: °m:hm° (5.1) P: .h oda andersch (.) noch (.) ma andersch ausgdrückt (--) Sie z-=stupfe mi imma a::n des:: verwirrt mich teilweise (.) eh äußerst sta:rk gä .h un (4.2) die Verwirrung die versuch i dann irgendwo no (2.3) °>jaund jetz wollt i mal seha was passiert wenn i [nix,] ((lachend)) T: [mhm;]= P: =wenn i net beginn;

Die Etablierung des common ground beginnt mit einem perzeptuellen Objekt; T sieht und hört, und P weiß, dass T sieht und hört, dass P nicht anfängt. Die Negation des Anfangens ist somit sicht- und hörbares Objekt, das mit P’s erster Äußerung in ein konversationelles Objekt transformiert wird. Dadurch entsteht ein scheinbares Paradox, dass er anfängt mit der Aussage, nicht anfangen zu wollen. Nach einigen prosodischen hms und gemeinsamen Atmungsaktivitäten spricht T die Relevanz (Z. 11) an; P stuft mit kleinen Partikeln bloß heut mal die Relevanz herab, dazu kommt sein Lachen; er teilt mit, dass er einen kleinen Schelmenstreich im Sinn hat. T operiert mit den Gleichungssystemen der Metapher, er beginnt mit (Z. 18) also es ist eher so…, wobei das es just das perzeptuelle Objekt des Nicht-Anfangens ist; es wird schon hier in ein Gleichungs-Ungleichungssystem gebracht. P stimmt dem neuen Bezugsrahmen vom Ausprobieren mit einem overlap zu. Damit ist der Übergang in Level 4 konversationell vorbereitet. T sichert den höheren Level des common ground, indem er das, was gerade zwischen beiden geschieht, nach Ausprobieren in die Metapher des Ringkampf übersetzt und eine agenda transforming utterance vorschlägt; P verhält sich dazu zunächst zögerlich ablehnend, bestätigt dann aber den Test des Ausprobierens mit der anschließenden Bemerkung. Er habe sehen wollen, was passiert, wenn er nicht beginnt. Hier darf man einen vergleichsweise hohen Grad an spielerischer Affiliation vermuten. Die Beobachtung, dass das 4-stufige Muster der gemeinsamen Etablierung des common ground sich nun rekursiv wiederholt, soll festgehalten werden. Das Anfangen der Stunde war zwischen T und P ein perzeptuelles Objekt, über das es schon kleine Erörterungen gegeben hatte. P bringt jetzt ein Nicht-Anfangen als äquivalentes Objekt in die Konversation und in gleicher Weise kann später die Metapher des Ringkampf in späteren Runden wiederum als ›perzeptuelles‹ Ob-

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jekt behandelt werden. Die Rekursion behandelt bereits thematisierte konversationelle Objekte erneut wie perzeptuelle Objekte, wodurch gleiche kognitiv-konversationelle Operationen anschließen können, in zweiter, dritter und weiterer Runde. Indem beide darüber streiten, ob es nun Ringkampf ist oder nicht, behandeln sie den Ringkampf so, als wäre er perzeptuelles Objekt, obwohl es eine Metapher, also ein kognitives Objekt ist. Die Metapher ist nicht nur Deskription, sie definiert situativ eine neue, kognitiv-konversationelle Welt für beide. Für einen Moment wird die Differenz zwischen Kognition und Konversation überwunden. Der vielfach kräftigere und schnellere Schwung des simultanen Formats des Denkens hat die langsamere serielle Konversation kreativ angestoßen. So entsteht ein Moment der Resonanz zweier minds durch Konversation. Die so erreichte Balance von Komplexität und Kohärenz ist die eigentümlich therapeutische Leistung, deretwegen der Aufbau von Common-Ground-Aktivitäten überhaupt begonnen wird. Wir haben gesehen, wie die Metapher auf Level 4 Komplexitätsreduktion erbringt, weil zuvor andere Stufen durchlaufen wurden. Sie reduziert interaktive Komplexität und schafft zugleich mit zwanglosem Zwang unabweisbar Kohärenz und damit neue Ordnung. Kopplung zweier minds ist zentraler, aber nur passagèr erreichbarer Zielzustand therapeutischer Konversation. Wir können nun genau beschreiben, wie das geschieht.

6 C ONCLUSIO Ist nun das Geschirr gereinigt? Komplexität und Kohärenz, die ich zu Anfang als Leistung der Analyse herausgestellt hatte, lassen sich nun auch als Leistung der Teilnehmer identifizieren. Im metaphernanalytischen Teil habe ich vorgeschlagen, Resonanz nicht als technische Metaphorik zu verstehen, sondern in einer sozialen Dimension. Viele Autoren aus Psychologie ebenso wie aus der Konversationsanalyse setzen Motive der menschlichen Verbundenheit als zentral an; ein Konzept individueller Autonomie wird relativiert. Der narrationstheoretische Teil zeigte, dass das Motiv des Verstanden-Werdens sich theoretisch in Paradoxien begibt, die aufgelöst werden können, wenn man akzeptiert, dass Verstandenwerden immer ein Anders-Verstanden-Werden bedeutet. Der konversationsanalytische Teil hat eine komplexe Hypothese über die Etablierung von common ground vorgeschlagen, die in der Bestimmung eines Moments der Resonanz einmündete. In all diesen Bereichen sind natürlich weitere Forschungen und Detaillierungen notwendig, allein schon deshalb, weil ich mich hier auf nur auf eine Behandlung bezogen habe.

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Therapeutische Interaktion versucht, Strukturen der unterkomplexen Individualisierung wieder in komplexitätsanreichernde Prozesse zu verwandeln und wenn dies gelingt, kommt es zu dem, was wir als Resonanz bezeichnen. Resonanz – das ist erste und letzte menschliche Sehnsucht und manchmal erfreuen wir uns daran, wenn wir sie in der Musik erklingen hören, vielleicht, weil sie uns an den menschlichen Sinn dafür erinnert.

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Synchronie in dyadischer Interaktion: Verkörperte Kommunikation in Psychotherapie, Beratung, Paargesprächen W OLFGANG T SCHACHER & F ABIAN R AMSEYER

Synchronie wird hier definiert als ein Prozess, bei dem sich zwei oder mehr Individuen in sozialer Interaktion koordinieren. Es entsteht eine Art sozialer Resonanz. Synchronisationsphänomene können auf dem Hintergrund der dynamischen Systemtheorie und Synergetik verstanden werden als ein Resultat von Selbstorganisation. Im Kontext der Psychologie tritt Synchronie auf verschiedenen Ebenen auf, etwa als gekoppeltes motorisches und nonverbales Verhalten, als Synchronisation physiologischer Parameter oder von Emotionen. Insofern ist Kommunikation durch die dabei entstehende Synchronie ›verkörpert‹, ohne dass dies als bewusste Nachahmung oder Spiegelung verstanden werden kann. Bisherige quantitative empirische Befunde zeigen, dass nonverbale Synchronie mit zentralen psychologischen Variablen assoziiert ist: In Psychotherapie, also in Dyaden aus Therapeut und Patient, steht Synchronie in Zusammenhang mit der therapeutischen Beziehung und mit der Selbstwirksamkeit der Patienten. Bei schizophrenen Diagnosen bestehen Verbindungen zur Symptomatik der Patienten. In Gesunden trat erhöhte Synchronie zusammen mit positivem Affekt auf. Insgesamt handelt es sich bei der Forschung zur nonverbalen Synchronie um ein sich aktuell rasch entwickelndes Feld der sozialen (Neuro-)Wissenschaft mit zahlreichen noch nicht eingehend erforschten Implikationen.

Keywords: Embodiment; soziale Resonanz; nonverbales Verhalten; Systemtheorie

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1 W AS

BEDEUTET S YNCHRONIE ? T HEORIE DYNAMISCHER S YSTEME , S YNERGETIK , E MBODIMENT

Als Synchronie bezeichnen wir einen mehr oder weniger überdauernden Prozess, bei dem zwei unterschiedliche Systeme sich in ihrem Verhalten angleichen und koordinieren. Grundlegend ist, dass wir dabei die zeitliche Entwicklung, also die Dynamiken der beiden Systeme betrachten müssen – syn und chronos bedeuten zusammen in der Zeit. Statistisch gesehen werden also die Zeitreihen, die das Verhalten der Systeme in der Zeit abbilden, miteinander korreliert sein. Der Nachweis von Synchronie ist damit eine Aufgabe der Prozess- bzw. Zeitreihenanalyse. Auf methodologische Fragen werden wir im nächsten Abschnitt genauer eingehen. Mit diesen Definitionen ist bereits gesagt, dass wir uns im Feld der Theorie dynamischer Systeme befinden (Salvatore/Tschacher 2012). Im Prinzip kann man ein System durch die Gesamtheit seiner Komponenten oder Teile beschreiben. Beispielsweise (und stark vereinfacht) sei die Emotionalität einer Person zu jedem Zeitpunkt durch die Ausprägung von sieben Basisemotionen gegeben. Die Emotionsdynamik dieser Person ist also siebendimensional, repräsentiert durch eine Zeitreihe mit sieben Komponenten. Die Emotion eines Paars ist entsprechend 14-dimensional. Wenn es nun zu einer emotionalen Synchronisierung in der dyadischen Interaktion kommen sollte, vereinfacht sich das Paarsystem: wir benötigen nun weniger als 14 voneinander unabhängige Informationen, um das System zu beschreiben. Die Komplexität des gekoppelten Systems hat sich verringert, weil die einzelnen Komponenten der Paardynamik untereinander korrelieren. Solche Prozesse der Komplexitätsreduktion treffen wir besonders bei selbstorganisierenden Systemen an. Die strukturelle Wissenschaft, die Selbstorganisationsprozesse beschreibt und mathematisch formalisiert, ist die Synergetik (Haken 1990), die interdisziplinär beobachtbare Analogien bei der Entstehung von dynamischen Synchronien, Mustern und Ordnungen herausgearbeitet hat. Vieles davon ist für die Psychologie relevant (Tschacher 1997; Haken/Schiepek 2006), denn gerade in der Psychologie interessieren die oft spontan auftretenden Musterbildungen – die Gestaltwahrnehmung ist ein Paradebeispiel. Die in diesem Band angesprochenen Phänomene von Synchronisation und Resonanz sind nach unserer Auffassung häufig Beispiele für Selbstorganisationsprozesse. Ein weiterer theoretischer Aspekt, unter dem wir Synchronisationsphänomene betrachten wollen, ist embodiment. Die seit mehreren Jahren in der Psychologie diskutierte Embodimentperspektive thematisiert die Verkörperung psychischer Systeme (Fuchs 2012; Storch et al. 2010). In diesem Zusammenhang wird

S YNCHRONIE IN

DYADISCHER I NTERAKTION

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häufig von Bidirektionalität gesprochen: Der Körper drückt einerseits Zustände und Prozesse der Psyche aus (durch Verhalten, Körpersprache usw.); die Psyche ihrerseits wird zugleich aber durch Körperzustände und -prozesse moduliert. In systemischer Begrifflichkeit ist also die Psyche in den Körper eingebettet und umgekehrt. In vielen empirischen Untersuchungen zur Synchronie werden körperliche Variablen während der sozialen Interaktion gemessen, wie etwa das Ausmaß der Körperbewegung oder physiologischer Variablen. Dann kann die in solchen körperlichen Maßen aufgefundene Synchronie mit psychischen Maßen zusammengebracht werden, wie etwa der individuellen Einschätzung des positiven und negativen Affekts. Solche Fragestellungen sind daher der Forschung zur verkörperten Kommunikation (embodied communication: Storch/Tschacher 2016) zuzuordnen, und es interessieren vor allem die wechselseitigen Zusammenhänge zwischen Körper und Psyche. Wir befassen uns im vorliegenden Kapitel mit körperlichen Prozessen und wählen für das uns interessierende Phänomen den Begriff Synchronie. Allerdings sei darauf hingewiesen, dass in diesem Band und der sozialpsychologischen Forschung in Zusammenhang mit Synchronisation und embodiment mehrere andere Begriffe oft gleichbedeutend verwendet werden. Einer davon ist Resonanz: Ein in der Akustik definiertes Zusammenklingen wird auf soziales Harmonieren übertragen, was auch als Alternative zur zunehmenden Beschleunigung gesellschaftlicher Prozesse angesehen wird (Rosa 2016). In der Sozialpsychologie wurde der biologische Begriff der Mimikry eingeführt (Lakin/Chartrand 2003), der bei Tier- und Pflanzenarten die Imitation einer anderen Art in Aussehen und Verhalten, gewissermaßen also eine Umweltanpassung zum Zweck der Tarnung und Täuschung bedeutet. Chartrand und Bargh (1999) sprechen in diesem Zusammenhang auch vom Chamäleoneffekt in der sozialen Interaktion. Weiterhin wird von (Verhaltens-) Ansteckung (contagion), Koordinationsdynamik (Temprado 2003) und Spiegeln (mirroring) gesprochen. Es erscheint uns jedoch wichtig, eine Begrifflichkeit zu verwenden, die möglichst wenig metaphorisch ist, nicht von anderen Wissenschaften bereits anders konnotiert wird, und die vor allem nicht nahelegt, dass es sich um einen bewussten Prozess des Imitierens oder Spiegelns eines Interaktionspartners handelt, was der Grundlage der Selbstorganisationstheorie widersprechen würde. Die strukturwissenschaftlichen Begriffe Synchronie und Synchronisation scheinen für eine voraussetzungsfreie Terminologie daher gut geeignet.

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2 M EHR

ALS EINE M ETAPHER : DIE M ETHODIK DER EMPIRISCHEN S YNCHRONIEFORSCHUNG

Die Berechnung der Synchronie zweier interagierender Individuen A und B beruht grundlegend auf der Crosskorrelationsfunktion (CCF) der beiden zeitgleich erhobenen univariaten Zeitreihen a und b dieser Individuen (eine Verallgemeinerung, die auf die lineare Definition des Korrelationsmaßes verzichtet, ist die gegenseitige Information bzw. bedingte Entropie; informationstheoretische Maße spielen jedoch in der Forschung bisher keine Rolle). Die CCF ist eine Funktion insofern, als die Crosskorrelation abhängig von einer Zeitverschiebungsvariable (dem lag) berechnet wird. Ist der lag=0, ist die Crosskorrelation identisch mit der Pearson-Korrelation von a und b. Ist der lag=15, wird die Zeitreihe a um 15 Messzeitpunkte verschoben, und dann der Korrelationskoeffizient berechnet. Die beiden Zeitreihen a, b sind charakterisiert durch die Zeitdauer des Prozesses, den sie abbilden (z.B. eine Interaktion zwischen A und B von 5 Minuten Dauer) und die Frequenz, mit der gemessen wurde (bei Videoanalysen kann diese beispielsweise 15 Hz betragen, es wurden in der Videoaufzeichnung also 15 Bilder pro Sekunde der Interaktion erhoben). Weitere Parameter der Methode entstehen durch die Berechnung der CCF: die Anzahl der zugelassenen lags bestimmt das Fenster, innerhalb dessen die Crosskorrelationen berücksichtigt werden. Wenn beispielsweise ein Fenster von 10 Sekunden betrachtet wird, bei einer Messfrequenz von 1 Hz, berechnen wir insgesamt 10 gelagte Crosskorrelationen – von lag=-5 bis lag=+5 – und zusätzlich die Korrelation bei lag=0, mithin 11 Korrelationswerte. In diesem Fall ist die Synchronie zwischen A und B durch diese 11 Korrelationswerte bezeichnet, und man wird in der Regel entscheiden, die Synchronie als Mittelwert der 11 Korrelationswerte zu definieren. Da Korrelationskoeffizienten nicht normalverteilt sind, müssen die Werte zuerst in Fisher’s Z-Werte transformiert werden, bevor ein Mittelwert berechnet wird. In allen bisherigen Studien haben wir noch zwei weitere Konventionen eingeführt, um Synchronie zu definieren. Die erste betrifft die Behandlung negativer Crosskorrelationen: da diese ebenfalls eine (antiphasische) Synchronisation repräsentieren, bilden wir nach Fisher’s Z-Transformation den Mittelwert der betragsweisen Korrelationswerte, die negativen Vorzeichen werden also weggelassen. Der entstehende mittlere Synchroniewert kann also nie negativ sein. Die zweite Konvention ist die Bestimmung vom Segmenten, in die die gemessene Zeitdauer eingeteilt wird. Beispielsweise bestimmten wir eine Segmentgröße von 60 Sekunden, in die 15-minütige Psychotherapieausschnitte jeweils aufgeteilt wurden (Ramseyer/Tschacher 2011). Also berechnen wir für jedes Segment eine eigene CCF und daraus einen mittleren Korrelationswert. Die Synchronie ist

S YNCHRONIE IN

DYADISCHER I NTERAKTION

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dann der Mittelwert über die mittleren Korrelationswerte aller Segmente (der grand-mean Z-Wert). Der Grund für die Einführung des Parameters Segmentgröße ist, dass Interaktionen oft nichtstationäre Dynamiken aufweisen. Wenn man die Berechnungen segmentweise durchführt, trägt man der Nichtstationarität besser Rechnung und kann zudem feststellen, ob und in welchem Segment der Zeitreihe, also zu welchem Zeitpunkt der Interaktion, auffällige Synchroniewerte auftreten. Die Wahl von Segmenten hat jedoch noch einen weiteren Grund. Für die Bestimmung der Bedeutsamkeit der berechneten Synchroniewerte ist es äußerst hilfreich, eine Kontrollbedingung zu besitzen. Eine elegante Art, zu einer Kontrollgruppe zu gelangen, ist die Berechnung von Pseudosynchronien durch ein geeignetes Surrogatdatenverfahren (Ramseyer/Tschacher 2010). Im Bereich der Interaktionsforschung wurde dies von Bernieri/Reznick/Rosenthal (1988) vorgeschlagen. In bisherigen Studien sind wir folgendermaßen vorgegangen: Nach der Berechnung der ›echten Synchronie‹, das heißt des grand-mean Z-Wertes der gesamten Interaktionsdauer, wiederholt man das Verfahren, jedoch mit zufällig permutierten Segmenten der Zeitreihen a und b. Die Zeitreihen a und b werden also zu Pseudozeitreihen mit ›falscher‹ Abfolge von Segmenten. Wird die Synchronie der beiden Pseudozeitreihen berechnet, erhält man eine Pseudosynchronie. Pseudosynchronien stellen also die Kontrollgruppe für die Synchronie dar. Da die zufällige Permutation für jedes Datenpaar a und b wiederholt durchgeführt werden kann, erhält man sogar eine Verteilung von Pseudosynchronien, mit deren Hilfe etwa eine Effektstärke des echten Synchroniewertes errechnet werden kann. Solche Effektstärken erlauben es, die statistische Bedeutsamkeit eines Synchroniebefunds einzuschätzen. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, eine Effektstärke zu berechnen. Wir werden in diesem Kapitel eine Effektstärke analog zu Cohen’s d verwenden. Dazu werden die Synchronien einer Stichprobe von Interaktionen berechnet sowie jeweils die zugehörigen Pseudosynchronien. Die Effektstärke der echten Synchronie einer Stichprobe ist dann die Differenz der mittleren echten Synchronien minus die mittleren Pseudosynchronien, dividiert durch die Standardabweichung der Pseudosynchronien.

3 S YNCHRONIE IN DER SOZIALEN I NTERAKTIONSFORSCHUNG Synchronisation als ein neutraler Begriff der Systemtheorie kann auf unterschiedliche Zeitskalen angewandt werden; wir können Zeiträume von vielen Jah-

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ren oder von wenigen Sekunden analysieren. Es ist daher nötig festzulegen, welche Art der Synchronie durch eine Studie untersucht werden soll. Wir beschränken uns in diesem Kapitel vollständig auf den Mikroprozess der sozialen Interaktion und beschreiben die Synchronie innerhalb der Zeitskala der psychologischen Präsenzzeit, also im Bereich weniger Sekunden (Tschacher/Ramseyer/Bergomi 2013). Diese Zeitskala erscheint uns aus theoretischen Erwägungen besonders attraktiv – schließlich agiert unser Bewusstsein und unser bewusstes Selbst ausnahmslos im wenige Sekunden währenden Hier-und-Jetzt. Zudem sind Untersuchungen kurzfristiger Prozesse in der sozialpsychologischen und klinischen Forschung nach wie vor deutlich unterrepräsentiert. Es ist selbstverständlich gleichwohl möglich, längerfristige Prozesse unter der Synchronisationsfragestellung zu analysieren. Dann kann sich die Analyse auch auf herkömmliche Datenerhebungsmethoden stützen, etwa den wiederholten Einsatz von Sitzungsbögen in der Psychotherapieforschung. Damit war es beispielsweise möglich, Belege für eine zunehmende Synchronisation in Therapiesystemen im Sinnes eines ›Ordnungseffektes‹ zu erhalten – auf einer Zeitskala von mehreren Monaten beobachteten wir eine zunehmende Ordnung und Koordination der Therapeut-Patient-Dyade (Tschacher/Grawe 1996; Tschacher/ Ramseyer/Grawe 2007). Wenn man Mikroanalysen der verkörperten Kommunikation durchführt, ist es nicht mehr möglich, sich allein auf Fragenbogendaten und subjektive Einschätzungen zu verlassen. Vielmehr kommen nun objektive Datenquellen in Frage, die mit hoher Messfrequenz erhoben werden können und zusätzlich dem Embodimentansatz Rechnung tragen. Bisher durchgeführte Studien basierten auf Zeitreihen der Körperbewegung und auf physiologischen Daten. Der Ruf nach weiterer Forschung im Bereich der Soziophysiologie (Tschacher/Brunner 1995) scheint also allmählich Gehör zu finden. Welche Maße können zur Charakterisierung der Synchronie in der verkörperten Kommunikation herangezogen werden? Es sind zunächst Maße des nonverbal-motorischen Verhaltens in Interaktionssituationen, auf denen auch die Mehrzahl bisheriger Studien basiert. Prosodie-Variablen des Stimmausdrucks bieten sich ebenfalls an. Weiterhin kommen physiologische Signale des peripheren, autonomen Nervensystems in Frage. Schließlich sind auch die Gehirne der interagierenden Personen gekoppelt, also sind Maße des zentralen Nervensystems von Interesse. Motorische Variablen: Die Teilnehmer an dyadischen Interaktionen bewegen sich ständig, auch wenn die Grobmotorik bei Interaktionen im Sitzen, wie oft in Psychotherapie gegeben, ausgeschlossen werden kann. Mehrere Studien unserer

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Berner Arbeitsgruppe basieren auf dem Verfahren der Motion Energy Analysis (MEA: Ramseyer/Tschacher 2011; Grammer et al. 1999). MEA ist eine Form der Videoanalyse, bei der vollständig computerisiert1 erhoben wird, wie viel an Bewegung (d.h. geänderte Pixel) in definierten Regionen des Videobilds stattfindet. Eine solche region of interest kann etwa der Bereich von Kopf und Torso der an der Interaktion teilnehmenden Personen sein. Je nach der Bildfrequenz der Videoaufzeichnung (oft zwischen 15 und 30 Bilder pro Sekunde) entstehen Zeitreihen hoher Auflösung, die die Kopfbewegungen repräsentieren (Abb.1). Beispielhafte MEA-Studien im Bereich der Psychotherapie sind Ramseyer/ Tschacher (2011; 2014). Dyadische nichttherapeutische Konversationen standen im Zentrum des von Tschacher/Rees/Ramseyer (2014) beschriebenen Projekts. Eine alternative Methode der Datengenerierung ist die direkte Messung motorischer Bewegung entweder mit Markern, deren räumliche Position von außen verfolgt werden kann (Altorfer/Jossen/Würmle 1997) oder mit aktigrafischen Sensoren, die selbst sensitiv für Beschleunigung sind (Psychotherapie: Ramseyer/Tschacher 2016). Abbildung 1: Prinzip der Motion Energy Analysis (MEA). Aus der Videoaufzeichnung (oben dargestellt) werden alle sich verändernden Pixel markiert (dunkel gefärbt in der mittleren Reihe). Die Zahl dieser Pixel pro Zeiteinheit wird als Bewegungszeitreihe ausgegeben (untere Reihe)

1

Software: www.psync.ch

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Abschließend sei darauf hingewiesen, dass weitere technische Entwicklungen eine direkte Bewegungserfassung auch ohne Marker oder Sensoren am Körper erlauben, etwa durch das Kinect-System, das von Microsoft ursprünglich zur Steuerung von Spielekonsolen entwickelt wurde. Eine Kinect-Analyse der Synchronie von Arbeitsdyaden berichteten Won et al. (2014). Prosodische Variablen: Es wird häufig angenommen, dass Einverständnis und Übereinstimmung bei Dyaden in Konversation am Ausmaß der prosodischen Synchronie ablesbar ist (Vaughan 2011; Niederhoffer/Pennebaker 2004). Am häufigsten wurde die Tonhöhe der Stimme (pitch) untersucht, da die Tonhöhe einen Indikator des emotionalen Ausdrucks und der Erregung darstellt. Imel et al. (2014) fanden etwa einen positiven Zusammenhang zwischen Synchronisation der Tonhöhe von Therapeut und Patient und der Empathie des Therapeuten. Allerdings gibt es auch gegensätzliche Befunde (Reich et al. 2014). Beebe et al. (2000) zeigten etwa, dass eine mittlere Ausprägung der Koordination von Mutter-Kind-Vokalisationen die Bindung des Kindes zu einem späteren Zeitpunkt (im Kindesalter von 12 Monaten) vorhersagen konnte. Peripher-physiologische Variablen: In den vergangenen Jahren gab es eine rasche Entwicklung von Geräten für die Erhebung physiologischer Daten im Feld (Tröndle et al. 2014). Die Forschungsgruppe von Jaakko Seikkula in Finnland erhob die Synchronie der Hautleitfähigkeit und Atmung in familientherapeutischen Gesprächen, die zwischen einem Paar und zwei Therapeuten stattfanden (Karvonen et al. 2016). Es ergaben sich signifikante Konkordanzen der elektrodermalen Prozesse, die vom sympathischen Nervensystem gesteuert werden. Coutinho/Silva/Decety (2014) sehen physiologische Synchronie als einen Biomarker für Empathie an. Ihre empirische Studie zur elektrodermalen Synchronie wurde in 2016 abgeschlossen, die ebenfalls deutliche Anzeichen dafür erbrachte, dass Paare hinsichtlich der elektrodermalen Prozesse synchronisiert sind. Zentralnervöse Variablen: Bildgebende Verfahren zur Messung zentralnervöser Aktivierung konnten bislang nicht in echten sozialen Interaktionen eingesetzt werden. Dies liegt vor allem am hohen apparativen Aufwand und an der Empfindlichkeit dieser Variablen für Bewegungsartefakte. Die Magnetresonanztomografie (MRT) erfordert deshalb nach wie vor das bewegungslose Liegen im Scanner. Künftige Projekte werden sich daher wahrscheinlich auf die NahInfrarotspektroskopie (NIRS)-Methode konzentrieren (Koole/Tschacher 2016; Jiang et al. 2015; Konvalinka/Roepstorff 2012).

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Weiterhin können im interpersonalen Kontext EEG-Signale verwendet werden um Synchronien zu berechnen (Lindenberger et al. 2009; Hari et al. 2015).

4 B ISHERIGE E RGEBNISSE DER S YNCHRONIEFORSCHUNG : E FFEKTSTÄRKEN UND K ORRELATE Tabelle 1 bietet eine Übersicht zu verschiedenen exemplarischen Studien, in denen eine Messung der Synchronie stattgefunden hat. Die in der Tabelle aufgeführten Effektstärken ergeben sich jeweils aus dem Vergleich mit Pseudosynchronien, wie oben dargestellt. Das Effektstärkenmaß ist als d nach Cohen angegeben, es gilt demnach die Konvention, dass ein Wert von 0.2 bis 0.5 als schwacher Effekt, von 0.5 bis 0.8 als mittlerer Effekt, ein Wert oberhalb von 0.8 als starker Effekt anzusehen ist. Die Tabelle zeigt, dass es deutliche Belege für die Existenz signifikant ausgeprägter nonverbaler Synchronie im Bereich motorischer und physiologischer Maße gibt. Diese Befundlage ist ermutigend für die quantitative Forschung, denn zahlreiche Nachweise entstanden innerhalb nur weniger Jahre. Allerdings ergibt sich ebenfalls ein Bedarf an weiterer Forschung vor allem mit prosodischen und physiologischen Variablen. Zudem sind die Effektstärken deutlich von Details der eingesetzten Methodik abhängig, wie etwa der gewählten Segmentgröße bei Surrogatdatenprüfungen (Ramseyer/Tschacher 2016). Es gilt daher, verschiedene Methoden der Bestimmung von Synchronie kritisch miteinander zu vergleichen (Altmann 2013). Der Stand der Forschung erlaubt es derzeit noch nicht, die Frage nach der inhaltlichen psychologischen Bedeutung von Synchronie verlässlich zu beantworten. Es ergaben sich bislang zwar eine Reihe von statistischen Korrelaten des Ausmaßes der nonverbalen Synchronie, die aber der Replikation bedürfen. Mehrere Analysen der Psychotherapieforschung weisen inzwischen jedoch darauf hin, dass sich in nonverbaler Synchronie die Qualität der Therapiebeziehung widerspiegelt (Ramseyer/Tschacher 2011; 2014). Diese Befunde sind gut vereinbar mit Ergebnissen sozialpsychologischer Forschung, die Mimikry mit prosozialen Effekten und Rapport assoziiert fanden (z.B. Lakin/Chartrand 2003; Paxton/Dale 2013), oder die positiven Affekt mit nonverbaler Synchronie in Zusammenhang brachten (Tschacher/Rees/Ramseyer, 2014). Weitere Zusammenhänge von Synchronie mit Wirkfaktoren der Psychotherapie wie der Selbstwirksamkeit und sicheren Bindung von Patienten (Ramseyer/Tschacher 2011) fügen sich in dieses Bild überwiegend prosozialer Effekte von Synchronie.

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Tabelle 1: Cohen’s d Effektstärken für Synchronie versus Pseudosynchronie in exemplarischen Studien. N: Anzahl der Interaktionssysteme; n: Anzahl der Synchroniemessungen; MEA: Motion Energy Analysis; BPS: Borderlinepersönlichkeitsstörung Art der Interaktion

Stichprobe

Segmentgröße [s]

erhobene Maße

Effekt stärke d

Quelle

dyadische Konversation

N=84 n=420

30

MEA

0.56 1.11

Tschacher/Rees/ Ramseyer (2014)

dyadische Konversation

N=51 n=51

30

MEA Kopf; Torso

0.86 0.62

Ramseyer/Horowitz (in Vorb.)

Psychotherapie dyadisch

N=70 n=104

60

MEA (früh/spät in Therapie)

0.59 0.50

Ramseyer/ Tschacher (2011)

Psychotherapie dyadisch

N=124 n=124

60

MEA

1.65

Dittmann et al. (in Vorb.)

Psychotherapie dyadisch

N=1 n=27

60

AktigrafieSensor

0.48

Ramseyer/ Tschacher (2016)

Paartherapie, 2 Therapeuten

N=10 n=60



Hautleitfähigkeit

1.22

Karvonen et al. (2016)

Paartherapie, 2 Therapeuten

N=1 n=54

50

MEA; Hautleitfähigkeit; Atmung

0.70 1.00 0.15

Seikkula et al. (in Vorb.)

Paargespräche

N=31 n=92

50

Hautleitfähigkeit (3 Bedingungen)

0.11 0.56 1.14

Coutinho et al. (in Vorb.)

Psychotherapie dyadisch

N=70 n=70

60

MEA Kopf; Torso

0.74 0.20

Ramseyer/ Tschacher (2014)

dyadische Konversation

N=40 n=40

60

MEA

1.33

Lozza et al. (2017)

Rollenspiele, Schizophrenie

N=27 n=378

60

MEA Kopf

0.70

Kupper et al. (2015)

klin. Interviews, BPS

N=15 n=30

20

MEA Kopf; Torso

0.40; 0.70

Ramseyer et al. (in Vorb.)

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DYADISCHER I NTERAKTION

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Eine Schizophreniestudie (Kupper et al. 2015) wies zudem darauf hin, dass es spezifische Korrelationen zwischen der Psychopathologie der Patienten und dem Ausmaß der eingegangenen nonverbalen Synchronie gab. Unabhängig eingeschätzte soziale Fertigkeiten der Patienten waren mit in den Rollenspielen gezeigter höherer Synchronie assoziiert. Negativsymptome, kognitive Desorganisation und Depression gingen dagegen einher mit niedriger Synchronie. Psychopathologie ist also auch verkörpert, bei der Schizophrenie im Sinne eines disembodiment (Martin et al. 2016a, 2016b).

5 D ISKUSSION Eine rasch zunehmende Anzahl von Studien an teilweise großen Stichproben hat zeigen können, dass in sozialen Interaktionen eine körperliche Synchronisation erfolgt, die den kommunizierenden Personen in der Regel verborgen bleibt. Nach unserer Meinung ist mit den gefundenen Effektstärken der Existenzbeweis für ein grundlegendes Phänomen der verkörperten Kommunikation erbracht worden. Auch wenn nicht mehr als ein vorläufiges Bild dieser Forschung möglich ist, können wir bereits einige Folgerungen für soziale Interaktion ableiten. Die Synchroniebefunde weisen darauf hin, dass soziale Interaktion und Kommunikation in der Regel verkörpert ist. Dies mag trivial klingen, da ja in sozialen Situationen (außer wenn sie virtuell in sozialen Medien stattfinden) die Beteiligten physisch anwesend sind. Die Befunde zeigen aber, dass die verkörperte Kommunikation einen wichtigen Anteil am sozialen Austausch hat, was von der kognitiv geprägten Forschung zur sozialen Kognition und von SenderEmpfänger-Theorien der Kommunikation lange Zeit unterschätzt wurde. Es ist also keineswegs trivial, dass der Embodimentansatz einen relevanten Beitrag zum Verständnis von sozialer Interaktion leistet. Dies wird noch unterstrichen dadurch, dass interagierende Personen sich ihrer körperlichen Synchronie meist nicht bewusst sind, ja sogar bei plötzlichem Gewahrwerden von Synchronie oft eher peinlich berührt sind. Man könnte also pointiert sagen, dass die Alltagspsychologie des sozialen Austauschs uns glauben macht, Kommunikation bestünde im wesentlichen aus dem Versenden von informativen Mitteilungen, während die Forschung zeigt, dass Kommunikation bedeutet, dass wir uns körperlich synchronisieren. Es mag zwar kein direkter Widerspruch zwischen dem Informationsverarbeitungsparadigma und dem Embodimentansatz bestehen, es wird aber doch deutlich, dass die kognitivistische Informationsverarbeitungspsychologie die Bedeutung des Körpers einseitig vernachlässigte.

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Körperliche Aspekte in den Fokus zu rücken zeitigt auch Konsequenzen für therapeutische Interaktion. Die derzeit diskutierten Wirkfaktoren der Psychotherapieforschung haben eine deutliche Lücke im Bereich körperbezogener Interventionen (Tschacher/Pfammatter 2016). Dabei gibt es sogar im Bereich der Psychotherapie schizophrener Patienten Hinweise auf die Wirksamkeit neuer körpertherapeutischer Interventionen (Martin et al. 2016b), die die mit herkömmlichen Therapien kaum beeinflussbare Negativsymptomatik verringern können. Die zunehmenden Nachweise der Relevanz von körperlicher Synchronisation werden daher in Zukunft sicherlich dazu führen, dass man Synchronieeffekte auch therapeutisch systematisch nutzbar machen wird.

6 L ITERATUR Altmann, Uwe (2013): Synchronisation nonverbalen Verhaltens: Weiterentwicklung und Anwendung zeitreihenanalytischer Identifikationsverfahren, Berlin: Springer. Altorfer, Andreas/Jossen, Stefan/Würmle, Othmar (1997): »Eine Methode zur zeitgenauen Aufnahme und Analyse des Bewegungsverhaltens«, in: Zeitschrift für Psychologie 205, S. 83-117. Beebe, Beatrice/Jaffe, Joseph/Lachmann, Frank/Feldstein, Stanley/Crown, Cynthia/Jasnow, Michael (2000): »Systems models in development and psychoanalysis: The case of vocal rhythm coordination and attachment«, in: Infant Mental Health Journal 21, S. 99-122. Bernieri, Frank J/Reznick, Stephen/Rosenthal, Robert (1988): »Synchrony, pseudo-synchrony, and dissynchrony: Measuring the entrainment process in mother-infant-interactions«, in: Journal of Personality and Social Psychology, 54, S. 243-253. Chartrand, Tanya L/Bargh, John A (1999): »The chameleon effect: The perception-behavior link and social interaction«, in: Journal of Personality and Social Psychology 76, S. 893-910. Coutinho, Joana/Silva, Patrícia/Decety, Jean (2014): »Neurosciences, empathy, and healthy interpersonal relationships: Recent findings and implications for counseling psychology«, in: Journal of Counseling Psychology 61, S. 541548. Coutinho, Joana/Silva, Patrícia/Fernandes, Eugénia/Correia, Diogo/Tschacher, Wolfgang (in Vorb.): »Electrodermal synchrony in romantic relationships during a couple’s interaction task«.

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Dittmann, Jane/Deisenhofer, Anne-Katharina/Ramseyer, Fabian/Tschacher, Wolfgang/ Boyle, Kaitlyn/Rubel, Julian/Lutz, Wolfgang (2017, in review): »A new approach to understand psychotherapeutic processes and drop-out«, in: Journal of Psychotherapy Integration. Fuchs, Thomas (2012): Das Gehirn – ein Beziehungsorgan: Eine phänomenologisch-ökologische Konzeption (4. Auflage), Stuttgart: Kohlhammer. Grammer, Karl/Honda, Masanao/Schmitt, Alain/Jütte, Astrid (1999): »Fuzziness of nonverbal courtship communication unblurred by motion energy detection«, in: Journal of Personality and Social Psychology 77, S. 487-508. Haken, Hermann (1990): Synergetik – eine Einführung: NichtgleichgewichtsPhasenübergänge und Selbstorganisation in Physik, Chemie und Biologie, Berlin: Springer. Haken, Hermann/Schiepek, Günter (2006): Synergetik in der Psychologie. Selbstorganisation verstehen und gestalten, Göttingen: Hogrefe. Hari, Riita/Henriksson, Linda/Malinen, Sanna/Parkkonen, Lauri (2015): »Centrality of social interaction in human brain function«, in: Neuron 88, S. 181193. Imel, Zac E/Barco, Jaqueline S/Brown, Halley J/Baucom, Brian R/Baer, John S/ Kircher, John C/Atkins, David C (2014): »The association of therapist empathy and synchrony in vocally encoded arousal«, in: Journal of Counseling Psychology 61, S. 146-153. Jiang, Jing/Chen, Chuansheng/Dai, Bohan/Shi, Guang/Ding, Guosheng/Liu, Li/ Lu, Chunming (2015): »Leader emergence through interpersonal neural synchronization«, in: Proceedings of the National Academy of Science USA 112, S. 4274-4279. Karvonen, Anu/Kykyri, Virpi‐Liisa/Kaartinen, Jukka/Penttonen, Markku/Seikkula, Jaakko (2016): »Sympathetic Nervous System Synchrony in Couple Therapy«, in: Journal of Marital and Family Therapy 42, S. 383-395. Konvalinka, Ivana/Roepstorff, Andreas (2012): »The two-brain approach: How can mutually interacting brains teach us something about social interaction?« Frontiers in Human Neuroscience 6, S. 215. Koole, Sander L/Tschacher, Wolfgang (2016): »Synchrony in psychotherapy: A review and an integrative framework for the therapeutic alliance«, in: Frontiers in Psychology 7, S. 862. Kupper, Zeno/Ramseyer, Fabian/Hoffmann, Holger/Tschacher, Wolfgang (2015): »Nonverbal synchrony in social interactions of patients with schizophrenia indicates socio-communicative deficits«, in: PLoS One 10, e0145882

332 | TSCHACHER/R AMSEYER

Lakin, Jessica L/Chartrand, Tanya L (2003): »Using nonconscious behavioral mimicry to create affiliation and rapport«, in: Psychological Science 14, S. 334-339. Lindenberger, Ulman/Li, Shu-Chen/Gruber, Walter/Müller, Viktor (2009): »Brains swinging in concert: cortical phase synchronization while playing guitar«, in: BMC Neuroscience 10, S. 22. Lozza, Niclà/Spoerri, Corinne/Ehlert, Ulrike/Kesselring, Marion/Hubmann, Priska/Tschacher, Wolfgang/La Marca, Roberto (2017, in Review): »Nonverbal synchrony and complementarity in unacquainted same-sex dyads: Associations with competitive behavior«, in: Journal of Nonverbal Behavior Martin, Lily/Pohlmann, Valerie/Koch, Sabine C/Fuchs, Thomas (2016a): »Back into life: Effects of embodied therapies on patients with schizophrenia«, in: European Psychotherapy 13, S. 179-194. Martin, Lily/Koch, Sabine C/Hirjak, Dusan/Fuchs, Thomas (2016b): »Overcoming disembodiment: The effect of movement therapy on negative symptoms in Schizophrenia – A multicenter randomized controlled trial«, in: Frontiers in Psychology 7, S. 483. Niederhoffer, Kate G/Pennebaker, James W (2004): »Linguistic style matching in social interaction«, in: Journal of Language and Social Psychology 21, S. 337-360. Paxton, Alexandra/Dale, Rick (2013): »Argument disrupts interpersonal synchrony«, in: Quarterly Journal of Experimental Psychology 66, S. 20922102. Ramseyer, Fabian/Tschacher, Wolfgang (2010): »Nonverbal synchrony or random coincidence? How to tell the difference«, in: Anna Esposito/Nick Campbell/Carl Vogel/Amir Hussain/Anton Nijholt (Hg.), Development of multimodal interfaces: Active listening and synchrony, Berlin: Springer. S. 182-196. Ramseyer, Fabian/Tschacher, Wolfgang (2011): »Nonverbal synchrony in psychotherapy: Coordinated body-movement reflects relationship quality and outcome«, in: Journal of Consulting and Clinical Psychology 79, S. 284-295. Ramseyer, Fabian/Tschacher, Wolfgang (2014): »Nonverbal synchrony of headand body-movement in psychotherapy: Different signals have different associations with outcome«, in: Frontiers in Psychology 5, S. 979. Ramseyer, Fabian/Tschacher, Wolfgang (2016): »Movement coordination in psychotherapy: Synchrony of hand movements is associated with session outcome. A single-case study«, in: Nonlinear Dynamics, Psychology, and Life Sciences 20, S. 145-166.

S YNCHRONIE IN

DYADISCHER I NTERAKTION

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Ramseyer, Fabian/Ebert, Andreas/Roser, Patrik/Edel, Marc-Andreas/Tschacher, Wolfgang/Brüne, Martin (in Vorb.): »Nonverbal synchrony during clinical interviews of patients with Borderline Personality Disorder: A double-blind placebo controlled study using intranasal oxytocin«. Ramseyer, Fabian/Horowitz, Len (in Vorb.): »Nonverbal synchrony of conversational interaction in healthy dyads« Reich, Catherine M/Berman, Jeffrey S/Dale, Rick/Levitt, Heidi M (2014): »Vocal synchrony in psychotherapy«, in: Journal of Social and Clinical Psychology 33, S. 481-494. Rosa, Hartmut (2016): Resonanz: Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin: Suhrkamp. Salvatore, Sergio/Tschacher, Wolfgang (2012): »Time dependency of psychotherapeutic exchanges: The contribution of the theory of dynamic systems in analyzing process«, in: Frontiers in Psychology 3, S. 253. Seikkula, Jaakko/Karvonen, Anu/Kykyri, Virpi‐Liisa/Kaartinen, Jukka/Penttonen, Markku/Tschacher, Wolfgang (in Vorb.): »Synchrony based on physiology and movement in multiperson psychotherapy settings« Storch, Maja/Tschacher, Wolfgang (2016): Embodied communication: Kommunikation beginnt im Körper, nicht im Kopf, Bern: Hogrefe. Storch, Maja/Cantieni, Benita/Hüther, Gerald/Tschacher, Wolfgang (2010): Embodiment: Die Wechselwirkung von Körper und Psyche verstehen und nutzen, Bern: Huber. Temprado, Jean-Jaques (2003): »Cognition in action: The interplay of attention and bimanual coordination dynamics«, in: Wolfgang Tschacher/Jean-Pierre Dauwalder (Hg.), The dynamical systems approach to cognition, Singapore: World Sceintific, S. 93-132. Tröndle, Martin/Greenwood, Steven/Kirchberg, Volker/Tschacher, Wolfgang (2014): »An integrative and comprehensive methodology for studying aesthetic experience in the field: Merging movement tracking, physiology, and psychological data«, in: Environment and Behavior 46, S. 102-135. Tschacher, Wolfgang (1997): Prozessgestalten: Die Anwendung der Selbstorganisationstheorie und der Theorie dynamischer Systeme auf Probleme der Psychologie, Göttingen: Hogrefe. Tschacher, Wolfgang/Brunner, Ewald J (1995): »Empirische Studien zur Dynamik von Gruppen aus der Sicht der Selbstorganisationstheorie«, in: Zeitschrift für Sozialpsychologie 26, S. 78-91.

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Tschacher, Wolfgang/Grawe, Klaus (1996): »Selbstorganisation in Therapieprozessen: Die Hypothese und empirische Prüfung der ›Reduktion von Freiheitsgraden‹ bei der Entstehung von Therapiesystemen«, in: Zeitschrift für Klinische Psychologie 25, S. 55-60. Tschacher, Wolfgang/Ramseyer, Fabian/Grawe, Klaus (2007): »Der Ordnungseffekt im Psychotherapieprozess: Replikation einer systemtheoretischen Vorhersage und Zusammenhang mit dem Therapieerfolg«, in: Zeitschrift für Klinische Psychologie und Psychotherapie 36, S. 18-25. Tschacher, Wolfgang/Ramseyer, Fabian/Bergomi, Claudia (2013): »The subjective present and its modulation in clinical contexts«, in: Timing & Time Perception 1, S. 239-259. Tschacher, Wolfgang/Rees, Georg M/Ramseyer, Fabian (2014): »Nonverbal synchrony and affect in dyadic interactions«, in: Frontiers in Psychology 5, S. 1323. Tschacher, Wolfgang/Pfammatter, Mario (2016): »Embodiment in psychotherapy: A necessary complement to the canon of common factors?«, in: European Psychotherapy 13, S. 9-25. Vaughan, Brian (2011): »Prosodic synchrony in co-operative task-based dialogues: A measure of agreement and disagreement«, Conference Paper, Interspeech 2011, S. 1865-1868. Won, Andrea S/Bailenson, Jeremy N/Stathatos, Suzanne C/Dai, Wenqing (2014): »Automatically detected nonverbal behavior predicts creativity in collaborating dyads«, in: Journal of Nonverbal Behavior 38, S. 389-408.

Resonanz und Rhythmus im Shiatsu Im Gespräch: Wilfried Rappenecker & Stefan Pfänder R EDAKTION : E LKE S CHUMANN & W ILFRIED R APPENECKER

1 W AS S HIATSU IST

UND WIE ALLES BEGANN …

SP (Stefan Pfänder): Beginnen wir ganz von vorn: Was genau ist und will Shiatsu? WR (Wilfried Rappenecker): Shiatsu ist das japanische Wort für Fingerdruck. Es wäre aber zu kurz gedacht, sich darunter nun eine reine Fingerdruckmassage vorzustellen. Shiatsu arbeitet zwar mit dem Körper, ist darauf aber nicht beschränkt. Ähnlich wie in der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) geht man von der Vorstellung aus, dass ein freies Schwingen der Energie eine wichtige Voraussetzung für unser Wohlbefinden darstellt. Energieblockaden, Energiemangel oder -überschuss an bestimmten Stellen werden als Anknüpfungspunkte betrachtet, um mit Hilfe von Körperarbeit, die Energie (Ki) wieder fließen zu lassen. Ziel ist es also, energetische Muster anzusprechen und zu stimulieren, sie auszugleichen und auf diese Weise die Selbstheilungsund Entwicklungskräfte des Menschen zu stärken. Shiatsu berührt den Menschen auf einer tiefen Ebene, körperlich, aber auch seelisch und geistig1. SP: Und wie bist du zum Shiatsu gekommen?

1

Vgl.: www.schule-fuer-shiatsu.de/shiatsu/shiatsu-2/was-ist-shiatsu.html

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WR: Das war 1981, ich kam von der Westküste der USA zurück. Dort war ich mit der Esalen-Massage2 in Berührung gekommen; danach wollte ich Massage lernen, als Hobby sozusagen. Eine Freundin meinte dann aber: Da kommt ein Japaner aus New York, guck dir mal Shiatsu an. Und dieser Kurs bei Ohashi3 hat mich tatsächlich tief beeindruckt. In der Folge habe ich zwei Ausbildungen abgeschlossen und dann begonnen, selbst zu unterrichten. Das heißt, ich unterrichte jetzt seit 1985, seit ca. 30 Jahren. Aus heutiger Sicht hatte ich damals viel zu wenig Erfahrung, um Shiatsu zu vermitteln, aber es gab sonst kaum jemanden. SP: Du hast also Pionierarbeit in Deutschland geleistet! WR: Einzelne Shiatsulehrer gab es durchaus schon, aber eben kein Netzwerk und keine Schule. Wir haben zuerst die Shiatsuschule Berlin-Hamburg gegründet und später mit einigen Leuten eine Gesellschaft für Shiatsu in Deutschland. Dabei war es uns wichtig, unabhängig vom Ohashi-Institut zu sein. Zwar haben wir uns zuerst daran orientiert, was wir selbst gelernt haben, aber nach und nach haben wir immer stärker unsere eigenen Erfahrungen in die Ausbildungsarbeit integriert.

2 R ESONANZ

ALS

R AUM

VON

M ÖGLICHKEITEN

SP: Spielt deine Ausbildung als Mediziner bis heute eine Rolle für deinen persönlichen Stil in der Behandlung? WR: Ich denke schon, aber erstmal war meine Erfahrung als Mediziner eher ein Hindernis. Es war schwer, mich überhaupt auf diese Art der Wahrnehmung einzulassen, die notwendig ist, um nachvollziehen zu können, in welcher Situation die Klientin gerade ist. Denn in einer Shiatsu-Behandlung stellt der Behandler nicht nur Fragen, er nimmt auch wahr, wie z.B. die Klientin den Raum betritt, was sie sagt und wie sie spricht usw. Man könnte sagen, der Behandler tritt in eine Resonanzbeziehung mit der Klientin. Als Arzt aber war ich anders ausgerichtet, anders erzogen. Zwar finden Re-

2

Die Esalen Massage ist eine sanfte, bewusste und strukturierte Berührung am ganzen Körper. Langanhaltende Dehnbewegungen, leichtes Wiegen und tiefe Strukturarbeit im Muskelgewebe sind zusammen mit dem energetischen Ausbalancieren des Körpers Bestandteile einer Esalen Massage. http://esalen-massage.de/was-ist-esalen/

3

Wataru Ohashi ging 1970 aus Japan in die USA und gründete 1974 in New York das Shiatsu Education Center of America (heute Ohashi-Institute), in dem er auch heute noch arbeitet und lehrt.

R ESONANZ

UND

R HYTHMUS IM S HIATSU

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sonanzphänomene natürlich auch in der Begegnung von Arzt und Patient reichlich statt, oft finden sie dort allerdings keine Beachtung und keinen Raum. Im Shiatsu geht es aber genau darum, nämlich um die Herausforderung, Resonanz zuzulassen, weil es sonst nicht »funktioniert«. Was mich letztlich positiv bestärkt hat, ist die Auseinandersetzung mit meinen Zweifeln, die ich immer wieder hatte: Vorher war ich Arzt, jetzt bin ich Masseur – was soll das denn? Was mache ich hier? Bin ich überhaupt fähig genug? Und was kann Shiatsu eigentlich? Das ist eine lebenslange Auseinandersetzung bis heute – (lächelnd) wenn auch heute weniger häufig und weniger gravierend. Aber, um auf die Frage zurückzukommen: die Tatsache, dass ich Arzt bin, prägt und vertieft auch mein Verständnis von Shiatsu. Manche Menschen dagegen bleiben, grob gesagt, auf einer esoterischen Ebene oder einer »Wohlfühlschiene« stehen und haben kein ernsthaftes Interesse daran, systematisch, immer weiter und intensiver zu schauen und zu verstehen, was da genau passiert. SP: Resonanz zulassen hast du gerade gesagt: Was braucht es denn, damit sich diese Art von Wahrnehmung entfalten kann? Oder anders gefragt: Was muss du dabei vielleicht auch draußen lassen? WR: Aus dem schulmedizinischen Gepäck muss ich – zumindest ganz zu Anfang – jegliches Konzept davon draußen lassen, »dass hier etwas zu tun ist«. Denn die Schulmedizin funktioniert ja im Wesentlichen so: Es gibt definierte Krankheiten und ich muss herausfinden, in welche dieser Schubladen der kranke Mensch gehört. Dann weiß ich, was ich zu tun habe, das ist mehr oder weniger vorgeschrieben, weil die Behandlung in der evidenzbasierten Medizin4 auf solchen Leitlinien basiert. Wenn das nicht funktioniert, dann hat entweder der Patient nicht mitgearbeitet, ich als Arzt habe einen Fehler gemacht oder die Wissenschaft ist noch nicht so weit. Es herrscht also hauptsächlich die Vorstellung, dass es auf alle Fragen eine Antwort gibt... früher oder später. Diese Vorstellung ist in der Schulmedizin durchaus berechtigt, obwohl auch jeder niedergelassene Hausarzt aus der Praxis weiß, dass vieles davon oft nicht funktioniert. Ich selbst kam damals aus der Klinik und nicht aus der Praxis – im Shiatsu musste ich diese Vorstellung dann loslassen. Das ist mir sehr schwer gefallen, (lächelnd) ich habe bestimmt zehn Jahre gebraucht. SP: Das heißt, du kommst nicht ins Behandlungszimmer und testest Parameter ab? Sondern was machst du, wenn du den Klienten begegnest…?

4

Im Rahmen evidenzbasierter Medizin werden therapeutische Entscheidungen nach Möglichkeit auf der Grundlage von empirisch nachgewiesener Wirksamkeit getroffen.

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WR: Na ja …ein bisschen macht man das schon, man hat ja seine Erfahrungen und die sind durchaus hilfreich. Ich denke sehr wohl auch schulmedizinisch, wenn jemand zu mir kommt. Als Arzt darf ich keine Warnzeichen übersehen… SP: …aber es ist mehr…? WR: Ja! Der Kern ist was anderes, nämlich, den Menschen jetzt im Moment wahrzunehmen. Gerade heute kam eine Klientin mit traumatischen Erfahrungen im Hintergrund. Ich kenne sie schon seit mehreren Jahren. Sie ist beruflich durchaus erfolgreich, ist also nicht schwer traumatisiert, aber sie stößt immer wieder auf diese Erfahrungen. Und heute erzählte sie mir etwas und auf einmal habe ich sie anders verstanden als bisher. Mir wurde während ihres Erzählens etwas klar; ich habe etwas gesehen, gefühlt, was ich vorher in dieser Form nicht gefühlt habe. SP: Hat diese veränderte Wahrnehmung auch einen Einfluss auf deine Behandlung gehabt? WR: Ja… daraufhin behandelte ich sie anders als die letzten Male. Das war zwar sehr schmerzhaft für sie, aber auf mein Nachfragen hin bestätigte sie zwischendurch immer wieder, dass das in Ordnung sei und beim Gehen bedankte sie sich mehrmals. Sie war tief berührt. SP: Und der Auslöser für dein anderes Sehen oder Fühlen waren die Worte? WR: Nein, nicht nur die Worte, sondern vor allem meine Wahrnehmung, während sie sprach. Ich habe in ihrem Rücken Muster wahrgenommen, die ich zuvor noch nicht so wahrgenommen hatte, zumindest nicht in dieser Unerbittlichkeit.

3 R ESONANZ

ALS SECHSTER

S INN ?

SP: … während sie sprach …das passt zum Thema Modalität, also zu den sprachlichen, stimmlichen und körperlichen Ausdrucksmöglichkeiten, die bei Resonanz eine Rolle spielen… während sie sprach, das heißt, du hast sie angeschaut? WR: … ich habe sie auf mich wirken lassen. Wenn du zum Beispiel vor mir sitzt, dann kann ich dich einfach nur anschauen. Oder ich kann den Kontakt erweitern und mir auch deine Wirbelsäule anschauen, man könnte auch sagen, der Zoom geht auf.

R ESONANZ

UND

R HYTHMUS IM S HIATSU

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Die Menschen fühlen sich dabei immer noch angesehen – danach habe ich schon oft nachgefragt. Und es ist wichtig: Das ist kein Dauerzustand, sondern das Schauen verändert sich permanent. SP: Jetzt hast du beim Sprechen das Sehen eng mit dem Fühlen verbunden… WR: Ja, wir haben dafür kein Verb in unserer Sprache. Am ehesten kann man sagen auf mich wirken lassen oder wahrnehmen. Vielleicht liegt das daran, dass diese Form der Wahrnehmung in unserer Kultur nicht thematisiert wird. Emotionen bilden da allerdings eine Ausnahme; wohl die meisten Menschen würden von sich sagen, Emotionen wahrnehmen zu können. SP: Sehen ist ja einer der fünf Sinne gemäß des westlichen Systems, das auch noch Hören, Schmecken, Riechen und Tasten einschließt. Wenn du von wirken lassen sprichst, gehören dann diese Sinne auch dazu? WR: Ja, alle diese Sinne gehören dazu und es gibt noch einen zusätzlichen Sinn, der für mich elementar ist: Zwei resonanzfähige Körper kommunizieren miteinander und auf diese Weise entstehen Eindrücke auf verschiedenen Ebenen und von verschiedener Qualität. Das ist immer so – die Frage ist nur, ob sie bewusst werden. Und dafür haben wir keinen Sinn in unserer Sprache. SP: …aber was ist das? Ist das wirklich ein sechster Sinn, ein anderer Sinn oder die Gesamtheit von Sinnen, in denen einzelne Sinne jeweils hervortreten können? Oder gehört das überhaupt nicht in die Reihe von Sinnen? WR:. Man könnte argumentieren, dass es sich dabei um eine Gesamtheit aller Sinne handelt und dass die Wirkung dieser Gesamtheit mehr ist als die Summe der einzelnen Sinneseindrücke. Ich glaube aber, dass es eher ein zusätzlicher Sinn ist, für den wir in unserer Sprache keinen Ausdruck haben. Dafür spricht die Tatsache, dass es bei der Wahrnehmung mit den klassischen fünf Sinnen trotz aller sinnlichen Wahrnehmung nicht zu diesem Resonanzzustand kommen muss. Ich muss mir bewusst machen, was in allen diesen Eindrücken »steckt«. SP: Ich kann etwas sehen oder hören, ohne in Resonanz zu gehen. Gilt das auch umgekehrt, kann zum Beispiel der Resonanzsinn ohne Sehen auskommen? WR: Resonanz kann ohne die einzelnen klassischen Sinne auskommen, aber wenn die Sinnesorgane nicht ausgeschaltet sind, werden sie immer mit eingeschlossen. Wenn

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ich an einen Punkt schaue, dann richte ich mein Resonanzfeld dorthin aus. Wenn ich schaue, kann ich besser fokussieren. Es geht aber auch ohne Sehen, Hören, Riechen, Schmecken – ja sogar ohne Tastsinn, obwohl der beim Shiatsu ja zentral ist. Ohne Tastsinn entsteht daraus was anderes, (lächelnd) aber das habe ich noch nicht probiert. SP. Du hattest für das Sehen die verschiedenen Einstellungen angesprochen: das direkte Schauen, das erweiterte Schauen… also eine Art Zoom. Gibt es das ähnlich auch im Tastsinn? Man könnte sich das vorstellen als berühren oder nur leicht oder kaum berühren und doch wahrnehmen…? WR: Ja, auf jeden Fall. Das hängt wie beim Schauen mit dem angesprochenen zusätzlichen Sinn zusammen, es ist nicht nur das Tasten. Mein Geist funktioniert dabei als Steuerungsorgan und mein Körper, verstanden als Körperraum, ermöglicht es. Ich kann mich auf bestimmte Bereiche im Körper konzentrieren, z.B. wenn wir mit KiProjektion5 arbeiten. Das bedeutet, dass man die eigene Aufmerksamkeit auf bestimmte Bereiche ausrichtet. Dabei ist Aufmerksamkeit nur zum Teil als intellektuelle Leistung zu verstehen, sie ist in diesem Fall eher eine Form der Präsenz hier in diesem Bereich (bildet mit beiden Armen einen Raum zwischen Brust- und Bauchraum) – sie wird aber vom Intellekt gelenkt.

4 R ESONANZRAUM : AUFRICHTUNG

UND

AUSDEHNUNG

SP: Wie ist das mit der Körperwahrnehmung? Wenn man an Redewendungen denkt wie z.B. jemandem den Rücken kehren oder jemanden mit offenen Armen empfangen, dann bekommt man den Eindruck, dass der Vorderseite und der Rückseite des Körpers in unserer Kultur jeweils unterschiedliche Haltungen zugeschrieben werden – also mit der Vorderseite eher Offenheit und Aufrichtigkeit. Gilt das für Shiatsu ähnlich? WR: Ja, es ist wichtig, in der Behandlung dem Klienten die Vorderseite zuzuwenden. Es geht aber noch weiter: Ein wichtiger Aspekt in unserer Arbeit ist – gerade auch in Bezug auf Resonanz – inwieweit sich der Behandelnde aufrichtet (hält die offene Hand vor den Brust- und Bauchbereich), wir nennen das Sich –Zeigen. Wenn der Behandelnde das nicht tut (sinkt demonstrativ zusammen), dann zeigt er sich nicht und der Empfänger empfindet die Behandlung dann völlig anders.

5

Ki Projektion ist eine sogenannte Innere Technik, bei der die behandelnde Person ihr Aufmerksamkeitsfeld auf einen Ort im Körperinneren des Klienten ausrichtet und fokussiert – und zwar über den Bereich hinaus, bis wohin die physische Berührung reicht.

R ESONANZ

UND

R HYTHMUS IM S HIATSU

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Diese Art von Kontakt, das Sich-Zeigen (richtet sich wieder auf) gibt Sicherheit, der Mensch fühlt sich mehr gesehen und tiefer berührt. SP: Wie kann man diese Wirkungen erklären? WR: Es wirkt auf das Unbewusste der Klienten beruhigend, wenn diese wissen, mit welchen Karten gespielt wird: Wenn sich der Behandelnde zeigt, dann müssen die Klienten keine Vermutungen anstellen, sie wissen, woran sie sind. Der Behandelnde wiederum kann sich weniger gut verstecken; es ist, was es ist. Die Klienten wissen, woran sie sind. SP: Wie… oder besser: Wo richtest Du Dich auf? WR: Mir ist der gesamte Körperraum hier wichtig (bewegt die offene Hand kreisend vor dem Brust- und Bauchraum); es geht hauptsächlich um die Aufrichtung des Rumpfes. Man dehnt sich in den Boden und stößt sich in gewisser Weise wieder ab. Wenn ich mit der Hand hier berühre (demonstriert den Druck mit der Handfläche auf der Matte, die daneben liegt), sinke ich ein und zugleich gehe ich in Distanz, indem ich den Abstand zwischen Hand und Schulter so groß wie möglich werden lasse und dazu muss ich mich aufrichten, sonst wäre ich blockiert. Ich meine damit aber nicht nur einfach die Aufrichtung der Wirbelsäule, sondern es ist wichtig, hier in seinem Raum zu sein (hält die Hände vor den Rumpf, abwartend). Ich bin im Brustkorb, im oberen und unteren Bauchraum – ich bin da! Dabei ist nicht nur das Hara6, der untere Bauchraum, relevant, sondern auch der Solar Plexus im oberen Bauchraum und das untere Brustbein. Dieser Bereich hier (zeigt vom unteren Brustbein hinunter bis zum mittleren Bauchraum) ist für das emotionale Erleben von großer Bedeutung, aber auch für die Begegnung mit der Welt (hält die Hand im Bereich des Solar Plexus). Das heißt, ich begegne der Welt; ich habe den Mut, mich zu öffnen, mich zu zeigen – auch dem Klienten gegenüber. Und selbst wenn ich an meinen Fähigkeiten zweifle (oder vor allem dann): Habe ich dann den Mut, dazu zu stehen wie ich bin? Das ist eine große Herausforderung. SP: … und welche Bedeutung kommt der Rückseite zu?

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In der fernöstlichen Denkweise wird der Bauchraum (japanisch: Hara) als energetisches Zentrum des Körpers gesehen. Ein starkes Hara wird als Voraussetzung für seelisches und körperliches Wohlergehen betrachtet.

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WR: die Körperrückseite ist wichtig als das Pendant zur Vorderseite, weil sie den Raum definiert oder auch ausdehnt… SP: … und aus dem Nach-Hinten-Gehen kann auch Beziehung entstehen? WR: Das ist sehr, sehr wichtig! Ich muss in der Lage sein, durch die Distanz Raum zu gewinnen, damit ich in Beziehung gehen kann. Ich muss meinen Raum erweitern. Das hat für mich viel mit Resonanz zu tun… SP: Beziehung entsteht nicht durch größtmögliche, dauerhafte Nähe, sondern im Gegenteil erst dadurch, dass zwischen Menschen Raum entsteht –ein Raum, in dem Beziehung entstehen und sich entfalten kann? WR: Ja, das ist der therapeutische Raum, den Klientin und Therapeut kreieren und der für beide unverzichtbar ist. Es braucht dafür sowohl Aufrichtung als auch Ausdehnung. SP: Wie eigentlich läuft so eine Shiatsu-Sitzung ab, beginnt die Resonanz schon mit dem Hereinkommen des Klienten? WR: Oh, das fängt schon vorher an. Mit manchen habe ich vorher schon Kontakt am Telefon, andere hören meine Stimme aus dem Nebenraum. Meist bekomme ich auch von meinen Klienten einen ausgefüllten Fragebogen mit relevanten Informationen, die natürlich auch etwas in mir bewegen. Und ab dem ersten Moment der Begegnung checken sich Therapeut und Klient gegenseitig ab, um zu prüfen: Wer ist das eigentlich? Mit wem habe ich es zu tun? Und das wird im Erstgespräch fortgesetzt. Und natürlich schaue ich die Klienten auch an, wie sie auf mich zukommen, wie sie den Gang entlang ins Behandlungszimmer gehen, aber letztlich können die Wege verschieden sein, auf denen sich Resonanz ereignet. SP: Wenn man die Resonanz zwischen Therapeut und Klientin als Resonanz zweier Systeme versteht, dann bedeutet das auch, dass jedes der beiden Systeme eine Eigenschwingung hat. Inwieweit bedeutet Begegnung, dass sich die beiden Systeme aneinander angleichen? Ist das sogar Voraussetzung für die Behandlung? WR: Nein, nicht unbedingt, aber es besteht eine starke Tendenz dazu. Dieses Angleichen, das gemeinsam Schwingen, kann sehr heilsam sein. Aber viele, die noch nicht so viel Erfahrung mit Shiatsu haben, sehen das als das Ziel schlechthin an. Dann passt sich der Atemrhythmus an, das Gefühl ist das gleiche – zumindest glaubt man das. Aber diese Form von Angleichung kann auch hinderlich sein, indem sie verdeckt, wo

R ESONANZ

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möglicherweise Konfliktpunkte liegen, im System des Klienten oder auch zwischen den beiden. Dann besteht als Behandler die Gefahr, den Menschen nicht ganz zu sehen – wobei man natürlich niemandem vollständig sehen kann. Aber in diesem Fall behindert man das, was möglich wäre. SP: Wie kann der Therapeut im etablierten Resonanzraum unterscheiden – zwischen eigenen Impulsen und Eindrücken einerseits und dem, was vom Klienten, von außen kommt andererseits? Was, von dem, was passiert, ist ›meins‹ und was ist ›nicht meins‹? WR: Das ist eine wichtige Unterscheidung, um die Dynamik innerhalb des therapeutischen Raumes besser beobachten und wahrnehmen zu können – einschließlich solcher Phänomene wie Übertragung7 und Gegenübertragung8. Innere Distanz ist hier eine wichtige Voraussetzung. Das alles gehört zur Verantwortung, die ein Therapeut in einer Behandlungssituation trägt, auch wenn man nicht immer absolut unterschieden kann, was ›meins‹ ist und was ›nicht meins‹. SP: Bedeutet das, dass Therapeuten den Resonanzraum immer wieder auch verlassen und dann neu in ihn eintreten, um die Dynamik besser wahrnehmen zu können? WR: Nein, man kann den Resonanzraum nicht verlassen. Aber man ist nicht gleichbleibend in Resonanz: Man bewegt sich im Resonanzraum, die Formen verändern sich permanent – je nachdem, womit man arbeitet, was man gerade denkt... es gibt so viele Einflussfaktoren. Für mich ist das kein starres In-Resonanz-Bleiben – eher ein immer wieder In-Resonanz-Sein, ohne Unterbrechung. Dabei spielen verschiedene Ebenen eine Rolle: die körperliche, seelische und geistige. SP: Eine Form, in der sich Resonanz manifestieren kann, wird als Spiegelung beschrieben: Es kann passieren, dass der Behandler schließlich auch Schmerzen oder

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Übertragung: psychoanalytischer Begriff, bezeichnet den Vorgang, dass ein Mensch alte – oftmals verdrängte – Affekte, Erwartungen (insbesondere Rollenerwartungen), Wünsche und Befürchtungen aus der Kindheit unbewusst auf neue soziale Beziehungen überträgt und damit reaktiviert.

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Gegenübertragung: psychoanalytischer Begriff, bezeichnet die Form der Übertragung, bei der ein Therapeut auf den Patienten reagiert und seinerseits seine eigenen Gefühle, Vorurteile, Erwartungen und Wünsche auf diesen richtet. Der Therapeut verlässt hierbei aus verschiedenen Motiven – in der Regel vorübergehend – seine neutrale Position.

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Verspannungen in bestimmten Körperregionen, z.B. in der Schulter spürt. Ist das für dich ein Thema? WR: Das ist in zweierlei Hinsicht relevant: Zum einen werden Shiatsu-Therapeuten, die ja körperlich arbeiten und dabei ihre Schultern gebrauchen, immer auch etwas in ihrer Schulter aktvieren, was dann Verspannungen oder Schmerzen verursachen kann, aber nicht muss. Zum anderen kommt es vor, dass man nach Behandlungen in merkwürdigen Zuständen ist oder Symptome des Klienten übernommen hat. Das passiert mir häufig, und umso wichtiger ist es für mich, dass ich das auch wieder loslassen kann, dass also klar ist, das ist nicht ›meins‹.

5 R ESONANZRAUM : D IE R OLLE

DER

M ERIDIANE

SP: Für das Verständnis des Shiatsu sind zwei Konzepte wichtig. Das ist zum einen das Ki als eine grundlegende einheitliche Energie, die allem Leben in seinen materiellen wie immateriellen Ausprägungen zugrunde liegt. Es wird nicht als statisch betrachtet, sondern als Größe, die sich in einem ständigen Umwandlungsprozess befindet. Und das sind zum anderen die Meridiane. Man könnte diese als Bahnen bezeichnen, in denen sich das Ki bewegt. Meridiane sind als Modell zu verstehen, so schreibt ihr in eurem Atlas9, (lächelnd) mit allen Vorteilen, weil man so Erkenntnis gewinnt und mit allen Nachteilen, weil es eben auch nur das ist, nämlich ein Modell. WR: (lächelnd) Für mich sind Meridiane in der Tat keine Glaubensfrage, sondern wirklich nur ein Modell, mit dem man spielen kann – aber es ist nicht die Wirklichkeit an sich. Es gibt wissenschaftliche Untersuchungen zu einzelnen Punkten, zum Beispiel über den Hautwiderstand, aber nicht zu Verläufen. Ich vermute, dass die Meridiane aus dem Bedürfnis entstanden sind, die Wahrnehmung der Menschen, die damals in China therapeutisch gearbeitet haben, in ein übersichtliches System zu bringen. Das entspricht unserer menschlichen Natur, wir brauchen Übersichtlichkeit, denn die Wirklichkeit ist zu komplex. Ich betrachte das als kulturelle Leistung, nicht als Abbild von Wirklichkeit. Das Modell basiert auf verschiedenen Erfahrungen, z.B. zu einzelnen Punkten, die immer wieder auffallen oder auch zu den verschiedenen Körperseiten, die Unterschiedliches über den Menschen aussagen. Zudem ist das Modell in einen kulturellen Kontext eingebettet, in frühere Annahmen darüber, ›wie die Welt ist‹.

9

Rappenecker, Wilfried/Kockrick, Meike (2011): Atlas Shiatsu: Die Meridiane des ZenShiatsu. München Urban & Fischer.

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UND

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SP. Was ist dann der Nutzen des Modells, die Benennungen in Verbindung zu Organen und zu Konzepten, die wir psychologisch nennen würden? Wenn ich als Wissenschaftler höre, dass der Dickdarm mit Loslassen zu tun hat, auch im psychologischen Sinn, dann reagiere ich skeptisch… WR: Ich sehe das mehr als Anregung, weiterzudenken, keinesfalls jedoch in dem Sinne, mich darauf zu beschränken, das auf keinen Fall. SP: Und du denkst, man kann auch meridian-frei arbeiten? WR: Ja, die Grundorientierung an unserer Schule in Hamburg und auch an der ISS Kiental, Schweiz10 ist »meridian-frei«. Das heißt die Leute machen erst eine Meridianausbildung und dann etwas nach der Mitte der Ausbildung werden die Meridiane »losgelassen«. Das heißt, die Auszubildenden müssen dann auch vier bis fünf Monate ohne Meridiane arbeiten – das ist für die einen eine Riesenherausforderung und für die anderen eine Riesenbefreiung. Das Ziel ist, dass die Auszubildenden eine Orientierung im Körper haben, die nicht primär meridianbezogen ist. Wir möchten, dass unsere Auszubildenden nicht mit der Meridianbrille gucken, sondern sich den ganzen Menschen anschauen, erfahren, auf sich wirken lassen und dann schauen: Was fällt mir hier auf? Wie gehe ich weiter in meiner Arbeit vor? SP: … »meridian-frei«: Was bedeutet das für den Resonanzraum in der Behandlung? WR: Wenn man die Meridiane gut gelernt hat und die immer »rauf und runterjuckelt«, dann muss man nicht viel wahrnehmen – dann kann man einfach machen! Wenn ich als Behandler mit dem Meridian fertig bin, so die Theorie, dann ist es gut. Die Klientin sagt womöglich auch noch: Ich war selten so entspannt, super, wunderbar – und tschüss. Und man steht da und denkt: Gute Arbeit! Aber es ist noch viel mehr möglich. Dabei sind verschiedene Formen der Wahrnehmung das Entscheidende: Ich kann die Silhouette und Körperstrukturen wahrnehmen wie in der Osteopathie und spüren, wie die Knochen beschaffen sind, das Bindegewebe usw. Shiatsu ist jedoch Energiearbeit, und Energie ist immer Raum. Das heißt, wenn ich mit dem energetischen Feld arbeite, muss ich im Raummodus sein, wie ich das nenne, um das Feld oder den Raum des Klienten wahrzunehmen. Und Raummodus ist zugleich der Resonanzmodus. Ich muss resonanzfähig sein und das ist eine große Herausforderung für die Praktiker, bei sich anzukommen.

10 Internationale Shiatsu-Schule Kiental, Schweiz: www.kientalerhof.ch

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SP: Und wie kann man das trainieren? WR: Die ganze Ausbildung ist ein Training der Präsenz in sich selbst, ein Training darin, im Raummodus, im Resonanzmodus zu sein. Das beginnt gleich am Anfang der Ausbildung und erhält dann immer mehr Gewicht. Und es ist eine große Herausforderung für die Auszubildenden; sie wachsen in unterschiedlicher Geschwindigkeit da hinein – einige ganz schnell und andere eher nicht so schnell, weil sie vielleicht den Mut noch nicht hatten, die Offenheit des Resonanzzustandes zuzulassen.

6 R ESONANZRAUM

UND

R HYTHMUS

SP: Wir haben nun schon darüber gesprochen, wie ein Resonanzraum hergestellt wird und was darin passieren kann – mich interessiert nun die zeitliche Dimension. Du sagtest vorhin, dass sich ein Behandler immer im Resonanzraum bewegt dass sich aber die Formen des In-Resonanz-Seins ständig ändern. Entsteht dabei ein bestimmter Rhythmus? WR: Bei Rhythmus denke ich zuerst an Salsa (beide lachen). Im Zusammenhang mit Shiatsu denke ich an Tiefenrhythmus, Wenn ich Schritt für Schritt an den Meridianen. entlanggehe, dann ist es das Wichtigste, den Druck, also die Tiefe an dem jeweiligen Punkt einen Moment zu halten. Ich gehe nicht nur rein und raus, selbst wenn ich sehr schnell arbeite, sondern ich bleibe immer einen Moment in der Tiefe. Wenn man so arbeitet, dann schließt sich eine Haltephase an die nächste an und dadurch entsteht tatsächlich ein eigener Rhythmus. Rhythmus bedeutet auch, dass es Schwerpunkte gibt – wenn z.B. im Vier-Viertel Takt der Schwerpunkt auf dem ersten Taktschlag liegt. Im Shiatsu liegt der Schwerpunkt des Rhythmus auf dem Kontakt in der Tiefe, nicht beim Einsinken, nicht beim Herausgehen, sondern beim In-der-Tiefe-Sein: Ich bin da, ich bin da, ich bin da! SP: Was hat der Klient davon? WR: Die Aufmerksamkeit des Klienten geht dadurch auf eine tiefere Ebene. Wir haben sozusagen zwei Körperoberflächen, eine obere und eine tiefere. Die obere wird bei einfacher physischer Berührung stimuliert, die tiefere erst, wenn ich entspannt einsinke wie im Shiatsu, ohne besonderen Druck auszuüben. Wir nennen diese Ebene die die kommunizierende Ebene, weil der Klient dem Behandler mit seiner Aufmerksamkeit in diesem Takt folgt… im Da-Sein, im Da-Sein, im Da-Sein… und er vollzieht

R ESONANZ

UND

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weitgehend nach, dass die Bewegungen dazwischen (Einsinken, Herausgehen etc.) sekundär sind, dass das Zuträgerdienste sind für das Da-Sein. SP: Das ist sehr wichtig: die Berührung an der oberen Körperoberfläche ist sekundär, das Entscheidende ist, dass der Behandler da ist…. WR: … und dass er als ganze Person da ist und nicht nur mit dem Daumen. Und das wiederum beinhaltet, sich dem anderen ganz zu zeigen, dem anderen tatsächlich zu begegnen. Davon haben wir anfangs gesprochen. SP: Der Behandler gibt also erst einmal einen Rhythmus vor. WR: Ja, der Behandler entscheidet über den Rhythmus, in dem er arbeitet, aber er geht auch auf den Klienten ein. Sein Ziel ist es, dass die Klientin sich öffnet und Hindernisse und Blockaden loslassen kann. Auf diese Weise kann auch die Resonanzfähigkeit verbessert werden. Und um das zu erreichen, variiert der Behandler auch die Geschwindigkeit, nicht aber die grundlegende Qualität des Tiefenrhythmus. SP: Und hat der Behandler irgendetwas zu tun mit dem Pulsschlag, der Atmung oder anderen physiologischen Parametern? Es gibt Klienten, die berichten, dass sie das Gefühl hatten, dass ihr Herz angenehm langsamer schlägt… WR: Es kann durchaus sein, dass infolge des Tiefenrhythmus der Stresspegel sinkt und dadurch das Herz langsamer schlägt. Das aber würde ich nicht unmittelbar auf den Rhythmus zurückführen, sondern v.a. auf die Reaktion des Menschen darauf, welche Themen angesprochen wurden und auch wie der gesamte therapeutische Raum gestaltet und strukturiert wird… ob der Mensch sich darauf einlassen und entspannen kann.

7 R ESONANZ

ALS MITFÜHLENDE

D ISTANZNAHME

WR: Bevor wir zum Ende kommen, möchte ich gerne noch über ein Thema sprechen, das mir wichtig ist… SP: …(lächelnd) ja, nur zu! WR: Das ist der Faktor des Subjektiven, den ich als Behandler nicht hintergehen kann. Was auch immer ich wahrnehme: immer ist mein ganzes Universum in dieser Wahrnehmung enthalten. Ich kann gar nicht anders als durch die Brille meiner Persönlich-

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keit zu schauen und ich muss diese Subjektivität akzeptieren. Meine Wahrnehmung von anderen ist immer verfälscht und unvollständig. Das ist etwas, das wir auch in der Ausbildung immer wieder betonen: Es ist wichtig, Mut zu dieser subjektiven Wahrnehmung zu haben und sie zugleich nicht zu verabsolutieren. Das bedeutet auch dass man sehr genau überlegt, was man den Klienten sagt… (lächelnd) und im Zweifelsfall lieber weniger. Hilfreich ist es, weniger mit Aussagen als vielmehr mit Fragen zu agieren, wie z.B.: Wie haben Sie diese Situation wahrgenommen? Und wichtig ist auch, dass ich mit meinen Formulierungen den Klienten immer den Raum für Widerspruch lasse. Diese Möglichkeit muss da sein – dafür bin ich als Behandler verantwortlich. Außerdem sollte mein Aufmerksamkeitsfokus darauf gerichtet sein, wie meine Worte aufgenommen werden, mit welcher Resonanz. Trotzdem: Selbst, wenn alles darauf hindeutet, dass die Klientin versteht und einverstanden ist – selbst dann muss ich damit rechnen, dass die Einvernehmlichkeit eventuell auf Missverständnissen beruht. SP: Wollen aber die Klienten nicht auch genau wissen, was du denkst? WR: Ach weißt du, wenn ich einmal gesagt habe, dass es viel wichtiger ist, was sie selber denken, hat sich das schnell erledigt (beide lachen). SP: Wir hatten anfangs schon darüber gesprochen: Die Behandler müssen sich beim Shiatsu auf die Wahrnehmung, auf den Resonanzraum einlassen. Du betonst jetzt noch einmal, dass man sich als Behandler zugleich auch immer wieder neu von den eigenen Eindrücken distanzieren muss. WR: Ja, auf jeden Fall! Denn es geht darum, mit den Klienten mitzufühlen, aber ohne sich dabei mit dem, was von den Klienten kommt, zu identifizieren. Für mich ist das eine radikale Entscheidung: Ich bin jetzt hier und du bist jetzt da. Ich finde, dass diese Art von Wahrnehmung deshalb auch einen spirituellen Aspekt hat. Wenn ich die Distanz behalten kann, zu dem, was ich wahrnehme – also wenn ich in Resonanz gehe, dabei aber nicht in das Schicksal des Einzelnen reingezogen werde, dann habe ich am ehesten Zugang zu den freudvollen und den schmerzlichen Aspekten des Lebens. Das ist für mich die Voraussetzung für …ja, für die Liebe zum Leben.

5 Resonanz als Widerhall der Geschichte

The voice was lost, right now, here Szenisch-narrative und musikalisch-künstlerische Rekonstruktion eines Zeitzeugnisses der Shoah A NDREAS H AMBURGER & S USANNE M ETZNER

Im Mittelpunkt des Beitrages stehen die Interaktionen in einem ZeitzeugenGespräch mit einem Holocaust-Überlebenden. Untersucht wird die Videoaufnahme der ersten Minuten des Gesprächs in lückenloser Darstellung. Methodisch wird eine Brücke geschlagen zwischen einem szenisch-narrativen und einem musikalisch-künstlerischen Zugang. Gemeinsame Grundlage ist hierbei ein psychodynamisches Theorieverständnis. Während die szenisch-narrative Mikroanalyse auf die konkordanten und komplementären Passungen hinweist, die sich an einzelnen Redezügen aufzeigen lassen, machen die Sonifikation und ihre Rückführung ins Verbale den von Anfang an wirksamen affektiven Grundtenor des Zeitzeugengesprächs fassbar.

Keywords: Zeitzeugengespräch; Shoa-Überlebende; szenisch-narrative Analyse; musikalisch-künstlerische Analyse

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1 E INLEITUNG In unserem Beitrag zum Thema Resonanz, Rhythmus und Synchronisierung rekonstruieren wir unter Zuhilfenahme von zwei unterschiedlichen Forschungsmethoden die ersten Minuten des Gesprächs mit dem Shoa-Zeitzeugen Shmuel B. Es handelt sich hierbei um ein Gespräch, das aus unterschiedlichen Perspektiven und in unterschiedlichen Ausschnitten bereits mehrfach publiziert worden ist (Hamburger 2010, 2015a, 2016b,c/Knopp 2016a,b). Hier wird nun erstmalig der Versuch unternommen, die Ergebnisse szenischnarrativer Analyse in den Kontext eines musikalisch-künstlerischen Forschungsansatzes zu stellen. Die Methodentriangulierung stellt den Versuch dar, Erkenntnisse unterschiedlicher Provenienz aufeinander zu beziehen. Unser Anliegen ist es, den Widerhall des Vergessenen zu erspüren und die Berührung, ja sogar die Ansteckung mit dem, was nicht und vermutlich niemals (mit-)schwingt, trotz der eigenen sich immer wieder durchsetzenden Gegenwehr, doch zuzulassen und einer Leserschaft zur Verfügung zu stellen. Unsere Rekonstruktionsarbeit richtet sich hier aus Platzgründen und zugleich weil wir mit unserer trans- und zugleich interdisziplinären Herangehensweise ganz neue Pfade beschreiten, zunächst auf einen kleinen Ausschnitt des Zeitzeugengesprächs. Der theoretische Referenzrahmen ist in beiden Fällen einem hermeneutischen Wissenschaftsverständnis zuzuordnen, genauer einem psychodynamischen Theoriehintergrund mit besonderem Bezug zum szenischen Verstehen im Sinne von Alfred Lorenzer (1970, 1986; vgl. dazu unten Abschnitte 2.1 und 3.1). Die besondere Bedeutung, die wir beide der (Inter-)Subjektivität und Relationalität beimessen, wird konkret an den gezeigten Forschungsprozessen sichtbar.

2 D AS Z EITZEUGENGESPRÄCH

MIT

S HMUEL B

Das unserer Rekonstruktion zugrundeliegende Datenmaterial entstammt der Yale Videotestimony Study. Beteiligt am Gespräch waren der Psychoanalytiker Dori Laub, die Co-Interviewerin Oshrit Ben Ari, die als Psychologin in dem Heim arbeitet, in dem Shmuel B. mittlerweile lebt, sowie dieser selbst, ein 1927 im heutigen rumänisch-moldavischen Grenzgebiet geborener Shoa-Überlebender, der nach dem Krieg mit kurzen Unterbrechungen etwa 40 Jahre in einer psychiatrischen Klinik untergebracht war. Wie in einer Untersuchung zur videographischen Anordnung dieses Zeitzeugengesprächs genauer dargestellt (Hamburger 2016c), beziehen sich Zeitzeugen nicht nur auf den Interviewer, sondern auch auf die Kamera (vgl. Pop-

R EKONSTRUKTION

EINES

Z EITZEUGNISSES DER S HOAH

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pe/Buchholz/Alder, 2015). Sie sind sich dessen bewusst, dass sie ihr Zeugnis durch den Interviewer hindurch einer Kette späterer Zuhörer und Zuschauer gegenüber ablegen. Die Zeugen sind sich oftmals ihrer historischen Verantwortung bewusst. Sie entlassen ihr Zeugnis in die Zeit, wissend um ihre eigene Endlichkeit.

3 S ZENISCH - NARRATIVE M IKROANALYSE DER ERSTEN SIEBEN M INUTEN DES Z EITZEUGENINTERVIEWS MIT S HMUEL B 3.1 Methode der szenisch-narrativen Mikroanalyse Die Methode der szenisch-narrativen Mikroanalyse wurde entwickelt im Kontext der Re-Analyse von Zeitzeugeninterviews von chronisch hospitalisierten Holocaustüberlebenden (Laub et al. 2010; Hamburger 2010, 2015a, 2016a; Laub/ Hamburger 2016). Mit ihrer Hervorhebung der interaktiven Dimension im Interviewgeschehen (vgl. Deppermann 2013) fügt sie sich in die performative Wende (Fischer-Lichte 2004). Das Verfahren dient zur Identifizierung von signifikanten Bezogenheitsmomenten in der Interviewinteraktion unter Einbeziehung verbaler, paraverbaler, mimischer und gestischer Signale und mit Fokus auf bewusste und unbewusste Resonanzphänomene (Boston Change Process Study Group 2008; Stern 2005 [2004]). Methodisch ist die szenisch-narrative Mikroanalyse ein kontrolliertes hermeneutisches Verfahren, analog der rezeptionsorientierten Anwendung der psychoanalytischen Methode auf kulturelle Artefakte wie Literatur und Film (vgl. Lorenzer 1986; Hamburger 2013, 2015b; Hamburger/Leube 2014). Sie beruht auf dem Prozess des analytischen Zuhörens und ist gekennzeichnet durch ein Oszillieren zwischen dem identifikatorischen Eintreten in die Szene, einer introspektiven Selbstbeobachtung dieses Prozesses und seiner theoretischen Reflexion. Sie nähert sich dem vorliegenden dokumentarischen Material mit einem ethnographischen Blick, geschult an der psychoanalytischen Auffassung von Georges Devereux (1972 [1967]), nach der in der verhaltenswissenschaftlichen Forschung die systematische Reflexion der Gegenübertragung in der Begegnung mit dem Fremden mehr zu dessen Verstehen beiträgt als bloße Erfassung von Fakten. Wesentlich ist dem psychoanalytischen Interview die Entfaltung einer unbewussten Szene zwischen Analytiker und Analysand (Lorenzer 1970; Argelander 1970), in der implizit genau das enthalten ist, was bewusst nicht erinnert werden kann. Sie entsteht mit Notwendigkeit, auch wenn sie nicht immer bemerkt oder

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gar deutend angesprochen wird. In der Re-Analyse von Videozeugnissen ist es die Aufgabe der Forscher, die Erinnerungsszene, die sich in Übertragung und Gegenübertragung zwischen Interviewtem und Interviewer gebildet hat, mithilfe einer genauen Lektüre des Materials und unter systematischer Reflexion ihrer eigenen Gegenübertragungsantworten zu rekonstruieren, zu explizieren und aus dem Material zu belegen. Es geht um eine Resonanzbildung mit dem »unbewussten Zeugnis«: »to bring the evidence materialized by the unconscious testimony into the realm of cognition« (Felman/Laub 1992: 16; vgl. Laub 2013; Bodenstab 2015). Die Identifikation dieser unbewussten Übertragungs-Gegenübertragungsszene erlaubt dann in einem zweiten Schritt die Formulierung von Annahmen über die dem Überlebenden selbst bewusst nicht mehr zugängliche Lebensgeschichte – freilich nicht auf ein faktengeschichtliches Vergangenheitsbild, sondern auf die Rekonstruktion der Brüche eines subjektiv opaken autobiographischen Narrativs. Diese Rekonstruktion kann eine merkliche Wirkung entfalten: »Sie hebt die Verweigerung von Resonanz auf, die an der Wurzel der Fragmentierung des autobiographischen Narrativs wirksam war. Der Begriff ›Zeugnis‹ ist deshalb angebracht, weil durch dieses Einlassen des Überlebenden in den sprachlichen und emotionalen Raum, sowohl in der Person der Interviewer als auch der Forscher wie auch des Publikums, dass sich diesen Zeugnissen zu öffnen bereit ist, etwas bewirkt wird. Das Zeugnis ist ein Sprechakt, denn es bewirkt nicht nur eine subjektive Erleichterung des Zeugen, sondern es füllt paradigmatisch eine personalisierte Leerstelle im kollektiven Geschichtsbewusstsein.« (Hamburger 2016c; vgl. Hamburger 2016a, b)

Das zu untersuchende Videozeugnis wird in der szenisch-narrativen Mikroanalyse zunächst von geschulten Experten unabhängig voneinander beschrieben und hinsichtlich der vorherrschenden Übertragungs-Gegenübertragungsszene in der Interviewsituation evaluiert. Die Evaluationen werden als schriftliche Randkommentare zum Transkript dokumentiert; zusätzlich erfolgt eine zusammenfassende Einschätzung für jedes Interview. Nach jedem Evaluationsdurchgang werden die Ergebnisse in einer gemeinsamen, vom Projektleiter und ggf. einem weiteren Moderator geleiteten Sitzung diskutiert und es wird versucht, einen Konsens über das bearbeitete Interview herzustellen. Auch diese Konsentierungssitzungen werden auf Tonträger mitgeschnitten und transkribiert. Die Moderatoren formulieren im unmittelbaren Anschluss an die Sitzung eine Hypothese, die der Ratergruppe abschließend noch einmal vorgestellt und ggf. einvernehmlich oder unter Dokumentation abweichender Einzelvoten abgeändert wird.

R EKONSTRUKTION

EINES

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Im Ergebnis werden alle dokumentierten Stufen des Evaluationsprozesses zusammengeführt und der Evaluations- und Konsentierungsprozess transparent zusammengefasst. Diese narrative Zusammenfassung entspricht einer klassischen klinisch-kasuistischen Rekonstruktion, jedoch mit einer dem Auftrag des Zeugnisprozesses entsprechend veränderten Zielsetzung und in Validität und Reliabilität verbessert durch die Reflexionsstufen des Forschungsprozesses sowie die Verpflichtung auf das minutiös dokumentierte Material. Im weiteren Prozess der Ausarbeitung der Methode wurden Methodentriangulierungen mit Grounded Theory (Heberlein 2015), Prosodieanalyse (Erras 2014), Motion Energy Analysis (Ramseyer/Tschacher 2011), dem therapeutischen Zyklusmodell TCM (Mergenthaler 1997, 2008) (beides bearbeitet in Bleimling, 2016) sowie der Bewegungsanalyse (Dissertation von Heller, in Vorbereitung) unternommen. Dabei treten mehr als in den früheren Anwendungen der SNMA non- und paraverbale Signalebenen in den Mittelpunkt der Analyse. 3.2 Szenisch-narrative Analyse des Gesprächsbeginns Die szenisch-narrative Mikroanalyse folgt dem Wortlaut der ersten sieben Minuten des Interviews ohne Auslassungen. Die Sequenz wird abschnittsweise diskutiert und interpretiert, wobei neben dem Wortlaut des Interviews auch die Kommentare der Rater sowie Transkriptsequenzen aus den Konsensgruppen herangezogen werden. 3.2.1 Männerdyade und neue Brücke Bereits die Gesprächseröffnung durch Dori Laub wurde von fast allen Ratern als ein signifikanter Moment empfunden: Q A Q A Q A Q A Q A

Tell me the name, year of birth and place of birth... my name... Shmuel B A little clearer B Where were you born? Chutin, Besaravia Chutin. In what year? 27', 1927 How was before, what do you recall of your far childhood, before the war, who was in the family, what memories? I went to the Cheder and worked at school

0:20 0:25

0:38 0:54

Durch konkretes Fragen (nach Namen, Geburtsort, Geburtsjahr usw.) scheint der Interviewer aktiv Kontakt zu Shmuel aufbauen und Normalität schaffen zu wol-

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len (00:31:51).1 Andere Rater empfanden dagegen den Anfang des Interviews wie eine Verhörsituation. Es entsteht eine Männerdyade, die allerdings von Zerfall bedroht ist. In der Dynamik der Gruppe bildet sich diese Bedrohung der Dyade dadurch ab, dass die Rater den Gegensatz zwischen Verhör bzw. Versachlichung und erste Brücke sehr stark pointierten und sich nicht einigen konnten – wie etwa darauf, dass ja beide Aspekte durchaus eine Rolle spielen könnten. Die Konsensgruppe zeigte hier eine der Bion’schen Grundannahme »Kampf-Flucht« vergleichbare Lagerbildung. 3.2.2 Jüngstes Geschwister Unmittelbar danach kam eine Sequenz, in der es um das jüngste Geschwister geht. Die Rater bemerkten und diskutierten, wie sehr der Interviewer darauf beharrt, dass da ein weiteres jüngstes Geschwister sein muss – eine intuitive sprunghafte Einfühlung, die schließlich auch bestätigt wird. Q A Q A Q A Q A Q A Q A Q A

At school. How many people were in the family, mom... dad...? Four children Four children. What place were you in? The fourth Fourth. And the older ones were boys/girls? Two girls and a boy And the youngest? I am the youngest brother You are the youngest. Four children, two girls and one boy. Was there another boy later on, a girl? There was another brother. He [sister. She] died at the age of one and a half At the age of one and a half. Was this during the war? No And a baby girl younger than you. What did dad do, what did he do for a living? They were, he used to sell dessert

1:05 1:11

1:42 1:54

In der Gruppe führte dies zu Konfusion und dem Eindruck einer ›magischen Verbundenheit‹, als habe der Interviewer (der den Interviewten zum ersten Mal sah und keine Vorinformationen hatte) geahnt, dass da noch ein weiteres, totes Kind gewesen sein müsse. Die Rater fragten sich, ob dieses reale und zugleich phantasierte tote Kind eine psychische Figur sein könne, eine Baby-Schwester,

1

Zeitangaben beziehen sich auf die Stelle im Audiomitschnitt der Konsensgruppe zu diesem Interviewabschnitt. Durchgestrichen sind Übersetzungsfehler, die korrekte Übersetzung steht in eckigen Klammern. In der szenisch-narrativen Mikroanalyse werden auch solche Besonderheiten nicht getilgt, sondern dokumentiert,

R EKONSTRUKTION

EINES

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die im intermediären Raum zwischen Interviewtem und Interviewer aufscheint? Sachlich stellt Shmuel richtig, dass dieses Kind schon lange vor dem Krieg mit anderthalb Jahren verstorben war, so dass Laub mit der Vermutung, dieses Kind müsse während der Kriegszeit gestorben sein, alleine bleibt. In der Diskussion der Ratergruppe ergibt sich dann eine weitere Richtigstellung: Es liegt ein Übersetzungsfehler vor. Die Rede ist nicht von einer Schwester, sondern von einem Bruder – eine Fehlleistung, die wieder zu einem Erleben von Verwirrung führt, denn die unverbundene Nebeneinanderstellung von another brother und baby girl hatte zu erheblichen Spekulationen geführt. Das Fehler-Phänomen ist nicht auszugrenzen, sondern als Stolperstelle zu interpretieren. So wie zuvor im Interviewer selbst eine ›fehlerhafte‹ Phantasie (die Vermutung, das erratene jüngere Geschwister sei im Krieg verstorben) zu beharrlichem Nachfassen und endlich zu einer ›Sackgasse‹, einem dead end geführt hat, so hat der plötzlich enthüllte Übersetzungsfehler auch der Ratergruppe diese Erfahrung vermittelt. Die in der Gruppe ausgelöste Konfusion spiegelt die Konfusion im Interviewer (die sich in der Phantasie manifestiert, dieses Kind sei ermordet worden). Beides zusammengenommen könnte – um hier eine erste, hypothetische Interpretation zu wagen – auf die sich in der Interviewszene entfaltende Fragmentierung im Patienten selbst verweisen. 3.2.3 Triangulierung Der Fortgang des Interviews zeigt in den nächsten Minuten eine weitere Wende. Q A Q A

Q A Q A Q A Q A Q A Q A Q A

And a baby girl younger than you. What did dad do, what did he do for a living? They were, he used to sell dessert Sell? Dessert. They baked by themselves and also sold by themselves. He leased plantations, among the gentiles around, leased them during autumn and returned them during spring. And made a living. But ha... it was as it was then, it was not an easy period. How was it different? It was the turn of wars Before the war, how was it different? I felt the war was close In what way? Between the Romanian and the Russian What did you see, what did you hear, how did you feel it was close? The party, the communist party Made demonstrations? There were demonstrations Was the home traditional? Traditional Tell me a little of how the Sabbath or the Holidays were. Nice, Hasidic

1:54

2:35

3:03 3:14 3:24 3:39

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What do you remember? Hasidic, Kiddush There is a picture in front of you. Describe it. They went to the synagogue. We went to the synagogue and Sabbath was normal as among Hasidim. How is the Sabbath among Hasidim? We don't know. Lighting candles, greeting the Sabbath Mom lit Mom, yes a Jewish experience Mom and the girls, together with the girls? Not the girls. Only for the married. Singles did not intervene. [Oshrit]: Only married women used to light the candles? Yes

3:44 3:49 4:06

4:29 4:40

Nachdem die Phantasie, es gebe ein totes Baby, aufgegeben werden muss, geht der Interviewer ohne Übergang zur Berufstätigkeit des Vaters über. Darin sahen zwei Rater ein Moment von Schutz: Der aufkommende Affekt mit dem toten Kind und dann wie ne Art schützende Handlung des dem Leben Zugewandte, die Ernährung und auch den Vater (01:03:20-57). Es wurden aber auch Begriffe wie Plombe (01:05:21) und Selbstschutz (01:05:44) artikuliert. War der Interviewer selbst erschrocken, dass er dieses tote Kind erraten hatte, und wollte nun an dieser Stelle nicht weiter eine magische Verbindung vertiefen, sondern das Augenmerk auf etwas so Reales wie Arbeit und Nahrung lenken (01:06:10)? Auf seine unvermittelte Frage nach dem Vater erhält der Interviewer freilich eine wenig verständliche Antwort: They were, he used to sell dessert [Nachtisch verkaufen]. Er fragt nach, und erfährt nun, dass der Vater auf zeitweilig gepachteten Flächen Obst angebaut habe, das er im Frühjahr ernten konnte. Den Ratern war dieses System nicht verständlich,2 es kamen Phantasien auf, dass die Familie in einer Art Zwischenzeit, einem sozialen Zwischenraum, gelebt habe (01:13:52) oder dass Shmuel mit der Aussage, das Obst sei im Frühjahr geerntet worden, einen Moment der Verwirrtheit erlebe (01:14:43), dass sich hier die innere Fragmentierung seines autobiographischen Erinnerns zeige, gerade da, wo er einen ersten Narrativ-Anlauf unternimmt (01:20:47). Im Interview wird dies nicht weiter geklärt, denn Shmuel gibt nun einen Themenwechsel vor, dem der Interviewer folgt. Zum ersten Mal, und sehr vorsichtig, gibt der Interviewte etwas wie Leid zu erkennen: it was as it was then, it was not an easy period. Diese kurze Passage, von Shmuels Erwähnung der schweren Zeit und Laubs Frage How was it different? wird in der Gruppe unterschiedlich empfunden.

2

Nachträglich ließ sich ermitteln: Dass Felder über eine temporäre Pacht bewirtschaftet wurden, war für Juden in der Region wohl nicht unüblich, schon aufgrund der ungünstigen Landverteilung (pers. Mitteilung, Sonja Knopp, 6.6.16).

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In der sehr detailversessenen Diskussion spiegelt sich szenisch im Gruppenklima selbst ein Moment von Desorientierung und Verwirrung. Im Interview selbst ist dies erkennbar an der Einsilbigkeit der Antworten und ihrer narrativen Unverbundenheit, die der Interviewer passager mitvollzieht, indem er die folgenden, sprunghaft vorauseilenden Assoziationen über den nahenden Krieg mit Russland und die Kommunisten zunächst durch kenntnisreiche Nachfragen unterstützt (erst später im Interview wird dies in eine historische Ordnung gebracht werden), dann aber unvermittelt wieder zurück in die Zeit vor dem Krieg geht, in die Kindheit des Interviewten: Was the home traditional? Auch diese Frage hat die Rater beschäftigt. Stellt sie, nachdem die Zeitgenossenschaft des Interviewpaares im raschen Durchgang durch die Geschichte bestätigt ist, ein Stück Distanzierung dar? Wir wissen, dass der Interviewer zwar räumlich nahe, doch in einem anderen sozialen und religiösen Kontext aufgewachsen ist als der Interviewte (Laub 2015). In den folgenden Redezügen entfaltet sich ein dichtes Bild dieser traditionellen Lebensweise – und der Interviewer fragt offen, wie ein Fremder: How is the Sabbath among Hasidim? We don't know – nur um gleich in der nächsten Frage, nachdem Shmuel das Sabbat-Ritual erwähnt hatte, doch die genaue Kenntnis der Grundrituale wieder einzubringen: Mom lit – Mom, yes a Jewish experience. Geht es hier nur um die Rekonstruktion einer alltagsgeschichtlichen Erinnerung? Im Subtext wohl doch um viel mehr. Die chassidische Erfahrung wird als das Andere, nicht Gewusste apostrophiert – die jewish experience aber als das Gemeinsame. Die erste Erwähnung der Mutter in diesem Interview ist ein Punkt, an dem das Wissen beider sich wieder begegnet. Es trennt sich aber gleich wieder, denn Laub fragt erneut nach Schwestern (Mom and the girls, together with the girls?), als greife er das Anfangsmotiv mit der Baby-Schwester wieder auf, und Shmuel korrigiert ihn: Not the girls. Only for the married. Singles did not intervene. Szenisch ereignet sich nun etwas Außergewöhnliches: Zum ersten Mal meldet sich die Co-Interviewerin, Oshrit Ben-Ari, zu Wort. Only married women used to light the candles? Zunächst scheint die Nachfrage das Moment der Unterschiedlichkeit zwischen den beiden Männern, das Laubs Frage zur Liturgie des Freitagabends offenbart hatte, reparieren zu wollen. Szenisch gesehen fällt aber auf, dass die bisher schweigsame Frau zum ersten Mal genau dann hörbar wird, als davon die Rede ist, ob neben der rituellen Bedeutung der Mutter auch unverheiratete Schwestern eine Rolle im Sabbat-Ritual übernehmen. Shmuel antwortet mit einem eher abschätzigen Seitenblick und einem sehr einsilbigen Yes. In der Ratergruppe berichteten zwei Frauen heftige Gegenübertragungsreaktionen von Ärger, dass die sich da einmischt (00:01:46-00:03:01). Die Män-

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ner blieben relativ gelassen, fanden eher, dass Shmuel der Interviewerin gegenüber kühl und zurückwiesend sei (00:04:36), die man auch als unterstützend wahrnehmen könnte oder als Stimme der Kindergeneration, die fragt und gleichzeitig stört (01:47:57). Diese Polarisierung im Empfinden der Gruppe wurde so interpretiert, dass Oshrit die Funktion der ausgeschlossenen Dritten repräsentiert, als Frau und als Sabra, in Israel geborene Jüdin. Ihre Wortmeldung wird als Einmischung empfunden. Dieses Moment spiegelt sich in der Ratergruppe wie in einem Vergrößerungsglas, ist aber schon im Interview selbst angelegt: Singles did not intervene heißt es da in einer etwas auffallenden Wortwahl.3 3.2.4 Die verlorene Stimme – eine Körpererinnerung Im Anschluss an die zurückgewiesene ›Intervention‹ der weiblichen Interviewerin lenkt der Interviewer die Aufmerksamkeit zurück auf den Festtag, genauer: auf das Essen. Es entfaltet sich nach einem sehr einsilbigen Anfang eine lebendige Erinnerung an das Fest. Diese abschließende Teilsequenz der hier diskutierten Eröffnungsszene des Interviews führt uns zurück zur Männerdyade – erst sehr viel später im Interview werden wir verstehen können, warum diese Anfangskonfiguration so bedeutsam ist (vgl. Hamburger 2015; Knopp 2015). Die auf das Vorige unmittelbar folgende Passage wurde im Mikroanalyseprojekt nicht so ausführlich untersucht wie die vorhergehenden; sie war von den Ratern weniger oft markiert worden – vermutlich, weil deren Aufmerksamkeit auf die Triangulierungsszene gerichtet war. Sie ist dennoch von großer Bedeutung, weist sie doch durch das Bedeutsam-Werden der Stimme auf das Eindringen des Körpers in die Rede hin. Q A Q A Q A Q A Q A Q A Q

3

What did you generally eat during the Sabbath evening? Plenty What? Best food Do you remember the food? Yes. Mom used to cook well What did she cook? On Sabbath she cooked whatever there was (?) those kishkesh, everything was (?). It was a Jewish home. Where there songs? Not much And on holidays? On holidays, I remember Passover mainly What can you tell of Passover?

Auch im hebräischen Original.

4:44

5:01

5:27

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A Q A Q A Q A Q A Q A Q A Q A Q A

The Seder was sacred, for instance it was very Hasidic, Hanukkah was no candle lighting, oil. It lasted everything. And the Seder evening was the Seder evening, including all content of the Hagadah. Did dad lead the Seder? Of course Who asked the Kushiot? No, they did not pay attention to me. I did not intervene, did not intervene Nevertheless, who used to ask? It was on my side You sung I was little Do you remember the Kushiot? Ma nishtana ha laila ha ze? (What changes during this evening?) Can you sing it? No, the voice was lost, I was a soloist but the voice was lost. The voice was lost. As a child you used to sing I was a soloist at school A soloist at school, so when was the voice lost? Right now, here

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5:39 6:04 6:12 6:19 6:25

6:35 6:52 7:00

Die informierten, gezielten Fragen führen zu einer Wiederbelebung der verkörperten Kindheitserinnerung. Shmuel bleibt zunächst auffallend einsilbig, beschreibt das Essen, das er sehr wohl erinnert, mit abstrahierenden Überbegriffen, als wolle er die das Weibliche, Mütterliche betreffenden Bilder und Empfindungen auf Distanz halten. Wieder benützt er den Begriff jewish, um sich auf die gemeinsame Erfahrungsbasis mit dem Interviewer zu berufen, die Unbenennbarkeit der Qualia dieser Erinnerung durch Aufruf analoger Erinnerungen beim Anderen zu heilen. Dann geht der Interviewer – auch dies aus einem nahen, teilnehmenden, sehr informierten Mitschwingen – auf den Gesang ein, der ebenfalls ein wesentliches Element der Sabbatfeier ist (Semirot). Und obwohl auch hier zunächst keine Erinnerung anspringen will (not much) bleibt der Interviewer dran, als habe er eine Witterung aufgenommen. Hört er etwas in der Stimme? Er intensiviert die Forschung, erinnert an Feiertage (bei denen Gesang eine größere Rolle spielt, auch wenn am einfachen Sabbat in der Familie nicht gesungen wurde). Und hier, beim Pessach-Fest, kann Shmuel zum ersten Mal mehr erzählen. Nachfragen nach dem Vater an dieser Stelle halten den Erzählfluss in Gang, und nun nimmt Laub den Faden der Suche nach der verkörperten Erinnerung auf: Who asked the Kushiot? fragt er, wohl wissend dass die vier rituellen Fragen (Kasches) nach der Besonderheit des Sederabends vom jüngsten Kind singend vorgetragen werden, und sein Gesprächspartner hatte ja oft betont, dass er der Jüngste war. Shmuel

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aber weicht aus: they did not pay attention to me. I did not intervene,4 und erst als Laub insistiert, antwortet er, ohne das Identität bezeugende Ich zu verwenden: It was on my side, und noch einmal vom Interviewer auf die eigene, stimmliche Erinnerung angesprochen (you sung) versucht er auszuweichen: I was little. Damit nicht genug: Gefragt nach dem Wortlaut, erinnert er die erste Frage, und wird nun sogar aufgefordert, sie zu singen, sich in den Sederabend zurückzuversetzen und wieder der Jüngste zu sein, der staunend das Geheimnis des Abends erfragt – des Abends, der der Rettung des Volkes Israel vor der Verfolgung gedenkt. Hier ist ein wesentlicher Punkt. Der Interviewer verbindet Gegenwart und Vergangenheit, er will die Stimme aus dem Chutin der Vergangenheit in die israelische Gegenwart locken; dazwischen aber liegen die Shoah und 40 Jahre Psychiatrie. Shmuels korrekte Antwort lautet: the voice was lost – und er gibt dieser Benennung des Verstummens doch noch ein Stück Erinnern auf den Weg: I was a soloist. Wir hören das Gelöschte, die Knabenstimme erscheint vor dem inneren Ohr, aber auch das Verstummen, das alles überrollt. Wenn daher Laub, als gäbe es dazu doch noch ein Narrativ, eine erzählbare Geschichte, nachfragt, wann dies geschehen sei, kann er nur das Right now, here bekommen, das auf den Punkt bringt: Genau hier und jetzt, wenn eine väterliche Figur mich wie am Sederabend auffordert, ihn nach der Bedeutung all dessen zu fragen, genau dann kann ich, der ich dies als Kind vor der Shoah so gut konnte, nicht mehr singen. Und dennoch übergebe ich dir die unhörbare Erinnerung daran, dass dies einmal anders war. Die Szene, der wir her beiwohnen, ist die zwischen dem Kind, das Shmuel in der Erinnerung noch aufgerufen hat, und dem Vater, der um Bedeutung weiß – und doch kann die Verbindung zwischen ihnen nicht zum Klingen kommen. Diese Bedeutungsdimension lässt sich heraushören, wenn man eine solche Äußerung nicht vordergründig als Orientierungsverlust und damit als Symptome einer Psychose liest, wie es vielleicht in den Jahrzehnten der Hospitalisierung immer wieder geschehen ist. 3.2.5 Coda Die Stimme also ist verloren, nicht irgendwann vor langer Zeit, sondern: hier und jetzt. Dieses ergreifende Bild zeigt wie mit einem grellen Blitz die Not der Männerdyade, der einzigen haltgebenden Beziehung, die – wie sich im Fortgang des Gesprächs zeigen wird – nach dem Tod der Mutter geblieben

4

Hier verwendet Shmuel wiederum die Formulierung ‫אני לא התערבתי‬. *ani lo hitaravti (dt.: Ich habe mich nicht eingemischt). Da es seine rituelle Aufgabe war, die Fragen zu stellen, ist dies eine deutlich ungewöhnliche Wortwahl (Dank an Jasmin Bleimling für den Hinweis).

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war. In der Vaterübertragung der Gesprächssituation reaktualisiert sich zum einen dieses einzige noch verbliebene Band nach dem Tod der Mutter; dieser Tod konnte dort aber nicht betrauert werden. Der Vater starb wenig später. Die kindliche Stimme kann nicht erinnert, in der Verkörperung nicht gefühlt werden. An dieser Stelle greift der Interviewer wiederum schützend ein, indem er – das ist einer der oberflächlich verblüffenden, in der Tiefe aber als containment äußerst stimmigen Themenwechsel – nach der Mutter fragt. Unmittelbare Antwort auf das right now, here (7:00) ist: Q

Tell a little about mom, how was she, what do you remember of her?

Im weiteren Verlauf dieses Zeitzeugengesprächs werden wir hören, wie die Mutter weit entfernt an einer Infektion starb, ein Schneesturm Vater und Sohn hinderte, sie zu begraben, und wie wenig später auch der Vater starb. Und wir werden erleben, dass Oshrit Ben Ari, die Co-Interviewerin (und dem Patienten durchaus vertraute Therapeutin), erneut ins Gespräch einsteigt und dann weit besser integriert werden kann. Bis es dahin kommt, wird aber der Interviewer selbst (und nach ihm die empathisch begleitende Forschergruppe) noch durch Abgründe der Gegenübertragungsverwirrung gehen, gekennzeichnet von Dissoziation (z.B. plötzliche, imperative Müdigkeit), Fehlleistungen und Desymbolisierung (Hamburger 2015).

4 M USIKALISCH - KÜNSTLERISCHE R EKONSTRUKTION DER ERSTEN SIEBEN M INUTEN DES Z EITZEUGENINTERVIEWS MIT S HMUEL B 4.1 Musikalisch-künstlerische Forschung In der künstlerischen Forschung art based research (Badura et al. 2015) wird entweder bei der Datengenerierung, der Datenaufbereitung oder der Datenanalyse ein experimenteller, künstlerisch-kreativer Prozess in den Untersuchungsablauf eingeführt. Damit wird auf die Tatsache reagiert, dass sich die in der Wissenschaft üblichen und etablierten Formen der Erhebung und Darstellung von Daten auf den Erkenntnisgewinn begrenzend auswirken. Im Vergleich zum wissenschaftlichen Experiment ist der künstlerisch-kreative Prozess nicht reduktionistisch, nicht wiederholbar und nicht subjekt-unabhängig. Die Kontrolle bezieht sich nicht auf Variablen sondern auf die Geschultheit, die Haltung und die Bereitschaft zur Reflexivität des künstlerischen Forschers. Gütekriterien sind analog der rekonstruktiven Sozialforschung eine systematische Verfahrensdoku-

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mentation, die Einbeziehung geschulter und unabhängiger Personen, die Berücksichtigung von Limitationen sowie die Veröffentlichung von Ergebnissen. Wie sich künstlerische Forschung vollziehen kann und was es dabei zu bedenken gilt, wird im Folgenden exemplarisch ausgeführt. 4.2 Stimmliche Interaktion als Forschungsgegenstand Die hier vorgenommene musikalisch-künstlerische Rekonstruktion richtet sich auf die stimmlichen Interaktionen des Zeitzeugengespräches, manifestiert in den auditiv wahrnehmbaren Vitalitätskonturen, den paraverbalen Kommunikationsanteilen sowie den wechselseitigen vokalen Regulationen im Dialog. Die prinzipielle Fähigkeit, vitale und affektive Regungen im Stimmklang wahrzunehmen und zu interpretieren, reicht entwicklungspsychologisch in die sehr frühe Kindheit zurück, wie sich u.a. auch anhand neuronaler Aktivitäten nachweisen lässt (Grossmann et al. 2010; Blasi/Mercure/Lloyd-Fox 2011). Diese mit naturwissenschaftlichen Methoden gewonnene Erkenntnis trifft auf eine viel ältere geisteswissenschaftliche Tradition. »Das Verständlichste an der Sprache ist nicht das Wort selber, sondern Ton, Stärke, Modulation, Tempo, mit denen eine Reihe von Worten gesprochen wird, kurz die Musik hinter den Worten« (Nietzsche 1882: Fragment 296). So kommt es nicht ganz von ungefähr, wenn im psychoanalytischen Kontext von den »musikalischen Aspekten des psychoanalytischen Dialogs« gesprochen wird (Scharff 2014) oder aus konversationsanalytischer Sicht von »Rhythm and Blues« einer psychoanalytischen Sitzung (Buchholz 2014; Buchholz/Reich 2015; Buchholz/Spiekermann/Kächele 2015). Bezogen auf die stimmliche Interaktion lässt sich mit Krämer (2006) feststellen, dass die »[...]›pathische Kommunikation‹ zutiefst verwoben ist mit der Körperlichkeit der Kommunizierenden. Wenn die Stimme hierfür so signifikant ist, dann gerade insofern sie – unter anderem – die Spur des Körpers in der Sprache [Hervorh. im Original] ist, eines Körpers allerdings, der ein Stück weit immer auch als ein ›sozialer Körper‹ zu begreifen ist.« (Ebd.: 277)

Sucht man erneut nach Vorläufern dieses Denkansatzes, so trifft man auf Friedrich Gottlieb Klopstock (1724-1803), der den Begriff der Wortbewegung 5 prägte und damit eine temporale bzw. rhythmische Struktur bezeichnet, die sich aus ei-

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Diesen Hinweis verdanke ich dem Literaturwissenschaftler Fred Lönker.

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ner konkreten sprachlichen Umgebung ableitet und mit Bedeutung versehen ist (Gellhaus 1995: 201-248). Nicht nur im übertragenen Sinne, sondern die körperliche Resonanz mit der Wortbewegung sind folglich Voraussetzung und zugleich Ergebnis von Deutung. 4.3 Entwicklung des Forschungsdesigns 4.3.1 Erster Schritt: Sonifikation als Methode der Datenaufbereitung Wenn sich das auditive Erkenntnisinteresse auf die in Rhythmus, Artikulation, Melos und Timbre gebundene Körperlichkeit, Sozialität und Kulturalität eines mündlichen Gespräches richtet, so ist als erstes die Sprachwissenschaft (Linguistik, Phonologie) die zuständige Referenzwissenschaft. Wegen der semantischsomatisch gedoppelten Wortbewegungen kann die auditive Analyse eines in einer unbekannten Sprache geführten Gesprächs, wie zwischen Shmuel B und Dori Laub nur durch eine im entsprechenden Sprachraum beheimatete Sprachwissenschaft durchgeführt werden. Nur sie verfügt über den Vergleichshorizont – metaphorisch: über den Resonanzboden –, um über die feinen und auf Besonderheiten hinweisenden Nuancen der Wortbewegungen ein geschultes Urteil (im Sinne von Daston/Galison 2007: 327-383) treffen zu können. Um die begrenzte Nachvollziehbarkeit der hebräischen Wortbewegungen im hier behandelten Zeitzeugengespräch aufzufangen, bietet sich neben Transkription und Übersetzung des auditiven Rohmaterials ein musikalisch-künstlerischer Forschungsansatz in Form einer sogenannten Sonifikation an, d.h. einer hörbaren Transformation von Datenmaterial. Unter dem Begriff versammeln sich unterschiedliche Ansätze (vgl. Schoon/Volmar 2012), so die akustische Darstellung von Unhörbarem meist mit Hilfe von moderner Medientechnologie, Praktiken des Hin- und Abhörens (z.B. Perkussion und Auskultation in der Medizin) oder die musikalische Repräsentanz von außermusikalischen Wahrnehmungsgegenständen meist durch Komponisten (z.B. John Cage Atlas Eclipticalis auf der Grundlage einer Sammlung von Sternenkarten6). Unter der Prämisse, dass eine Sonifikation zu Bedeutungsmustern führt, durch die Primärprozesshaftes und kognitive Erkenntnisse integriert werden können, wurde im ersten Schritt des insgesamt dreistufigen Untersuchungsablaufs ein Forschungsgegenstand zweiter Ordnung generiert7. Das konkrete Vorgehen

6

zu weiteren Beispielen: www.sonifyer.org/wissen/sonifikationmusik/ [21.2.2016].

7

Eine ähnliche Vorgehensweise haben Sandra Schmid (2010) und Susanne Metzner im Zusammenhang mit Interviews mit Überlebenden der Shoa gemeinsam entwickelt.

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bestand darin, dass eine Musiktherapeutin der Anweisung folgt, den Videomitschnitt des Zeitzeugengesprächs mit einer gleichschwebenden Aufmerksamkeitshaltung anzuhören, den Rekorder jedoch abzustellen, bevor sich Gedanken, Gefühle, Phantasien, Hypothesen o.ä. zu formieren beginnen. Dies entspricht einer von Martin Seel (2003) so bezeichneten atmosphärischen Wahrnehmung: »Sobald die phänomenale Präsenz eines Objekts oder einer Situation als Widerschein einer Lebenssituation aufgefaßt wird, tritt ein atmosphärisches Erscheinen [Hervorheb. im Orig.] in den Vordergrund der Beachtung.« (Ebd.: 148) Direkt im Anschluss, also gewissermaßen in einem Atemzug, sollte eine freie Improvisation mit den in einem Musiktherapieraum zur Verfügung stehenden Musikinstrumenten oder Materialien erfolgen. Mit frei ist gemeint, musikalischen Einfällen zu folgen, ohne sie lenken, einzuordnen oder zu bewerten. Voraussetzung dafür sind musikalisch-technisches Können, damit die Einfälle auch umgesetzt werden können, und Toleranz gegenüber jeglicher Art von Klangereignissen, damit auch Ungehöriges nicht aufgrund von ästhetischen Präferenzen im Keime erstickt wird. Wie bei jeder künstlerischen Kreation ist die Logik zwischen dem komplexen Wahrnehmungsvorgang, der Artikulation und der subjektiven Sinngebung weder dem handelnden Subjekt vollends bewusst noch ist sie von außen beobachtbar oder rekonstruierbar. Überhaupt ist zu bezweifeln, ob Logik diese Art von Prozessen auszeichnet. Daher wird auch nicht intendiert, Unschärfen zu beheben, denn sie sind konstitutives Merkmal einer künstlerischen Forschung. Die Schlüssigkeit des Vorgehens erweist sich im Sinne einer praxeologischen Methodologie (vgl. Bohnsack 2003) erst am Ende des Forschungsprozesses, nämlich dann, wenn eine rekonstruierende Darstellung des Gesamtzusammenhangs vorgenommen wird. 4.3.2 Zweiter Schritt: Transformation von Musik in Text Die unter dem Eindruck der ersten 7,5 Minuten des Zeitzeugengespräches entstandene freie Improvisation wurde audiographiert. Musikalisch handelt es sich um eine Vokalimprovisation von zweieinhalb Minuten Länge. Timbre und Tonhöhe der Frauenstimme liegen im Mezzosopran-Bereich, was jedoch auf der Audioaufnahme nicht sogleich als menschliche Stimme zu erkennen ist.8 Die unterschiedlich langen, von vereinzelten, winzigen Knacklauten begleiteten und überwiegend abwärts gerichteten melodischen Phrasen entsprechen in formaler Hinsicht einer Monodie, die im antiken Griechenland überwiegend der Toten-

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Die Vokalimprovisation ist auf der Webseite von Susanne Metzner zu hören: www. susannemetzner.de/?page_id=20

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klage diente oder in der Musik um 1600 als Vorläufer der Arie der affektiven Darstellung eines Textsinns – hier jedoch ohne Text. Der Rhythmus in langsamem bis moderatem Tempo sowie die (teilweise Mikro-) Tonalität sind frei gestaltet, die Dynamik bleibt etwa gleichbleibend mezzopiano. Diese audiographierte Improvisation wurde im zweiten Schritt des Experiments einer Gruppe von klinisch erfahrenen Musiktherapeuten vorgespielt und zwar ohne jegliche Angabe der Herkunft dieser Musik und mit der Vorgabe, so freimütig wie möglich alle Einfälle zu notieren, die während des Hörens in den Sinn kamen. Durch die Einbeziehung Dritter wurde die vorangegangene subjektive Verarbeitung in Form der Sonifikation objektiviert, durch die Dekontextualisierung wurden Interpretamente verhindert, die sich unweigerlich einstellen, wenn das Wort Holocaust fällt. Methodisch handelt sich dabei um eine Höranalyse (Kaden 1990), die in der Musiktherapie ein übliches und erprobtes Vorgehen im Rahmen von qualitativer Forschung ist (u.a. Metzner 2000). Nicht in Erwägung gezogen wurde eine Musikanalyse, denn in diesem Experiment ging es nicht um die Musik selbst, sondern um das, wie sie wirkt bzw. worauf sie verweist. Unter dem Eindruck der Improvisation und in einer gleichschwebenden Aufmerksamkeitshaltung entstanden insgesamt neun Texte, aus Platzgründen werden hier nur drei davon vorgestellt. 4.3.3 Dritter Schritt: Phänomenologisch-hermeneutische Text-Analyse Für die Rezeption der Texte ist es von Vorteil, wenn sie nicht nur gelesen, sondern um der Wortbewegungen willen gesprochen werden, so dass sich ein Sinn aus dem Körpererleben – Stimme, Atem, Muskelbewegungen, Tonus, Rhythmus – herauslöst. Dieser Vorschlag für den Leser ist auch Fortsetzung eines Erkenntnisinteresses, das sich auf die auditiven Qualitäten des Materials richtet. selbstversunken sich beruhigen langsam lang gezogene Töne eine andere Welt berührend -

Beim Sprechen des Textes zeigen sich zunächst eine freie Rhythmik und Phrasierung. Der Tonhöhenverlauf fällt mit Ausnahme von Zeile 6 aufgrund der unbetonten Schlusssilben ab. Außerdem ist die Wiederholung der stimmhaften Anfangs- sowie Endkonsonanten bei den Zeilen 1 und 2 bemerkenswert, was sich

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bei den Zeilen 3 und 4 auf eine Wortwiederholung ausweitet, so als würden sich die langsamen aber unregelmäßigen Bewegungen bis hierhin ausdehnen und dennoch auf der Stelle stehen. Dieser Prozess wird durch den deutlichen Tonuswechsel in der folgenden Zeile 5 aufgehalten. Eine andere Welt wirkt wie eine argumentative Einlassung. Der daraus resultierende Abstand zum Geschehen wird durch Zeile 6 wieder aufgehoben, was ein Prozessmerkmal vom Anfang des Textes wieder aufgreift: Dem Selbstversunkensein folgt die Selbstberuhigung, der anderen Welt folgt die Berührung. Aber bevor sich weiteres entwickeln kann oder sich irgendeine Form der Gewissheit einstellt, verschwindet schließlich jegliche Bewegung. Ein Sprecher hat bei der letzten Zeile die größten Schwierigkeiten der Wiedergabe, denn dieser Gedankenstrich vermittelt keine Pause, kein Stocken, keinen Abbruch, keinen Absturz, keinen Ausblick, keine aufkeimende Hoffnung, keinen Schluss, nicht einmal die Abwesenheit von ›etwas‹ sondern am meisten wohl Endlosigkeit. Der Sprecher dieses Textes müsste versuchen, so widersprüchlich das klingt, die Leere zu halten. Auffallend ist, dass alle neun Texte davon gekennzeichnet sind, dass Leere oder Absenz zum Ausdruck gebracht werden. Auffallend häufig werden Leerstellen zwischen Worten gelassen oder Zeilenumbrüche vorgenommen, die nicht inhaltlich motiviert sind, oder Pünktchenreihen verwendet. Einmal werden Anführungszeichen ohne ein Wort dazwischen gesetzt, ein andermal werden Leerzeichen hinter verklingend gesetzt, so als sollte die nachfolgende Abwesenheit besonders dokumentiert werden. Eingeborene im Urwald, einsam, suchend, wo bin ich, warte auf Antwort aber alleine Traurig, klagend – o weh, warum ich, nein, nicht mehr und immer wieder einsam, alleine, klein bin ich aber auch ausprobierend, was geht? Langsam lauter und immer wieder. Wie lang ist der Atem? Verklingend? irgendwas muss doch kommen und wieder keine Antwort, keine Resonanz im Nichts verklingendem Nein doch nicht im Urwald ...... irgendwo Was bleibt ist nichts

Deutlich länger als der erste ist dieser zweite Beispieltext und er gliedert sich in einen kurzen Absatz jeweils am Anfang (1) und Ende (4) mit zwei weiteren, längeren, jedoch deutlich voneinander getrennten Absätzen in der Mitte (2 und 3). Durch diese Konstruktion und die Fülle der Worte wird mehr Bewegung insinuiert, was sich jedoch als Trugschluss erweist, denn es sind sich wiederholende Suchbewegungen, die ohne Ergebnis, ohne Antwort immer wieder auf halber Strecke hängen bleiben. Die ineinander übergehenden Aufzählungen, Fragen, Bestimmungen sind nicht immer durch (passende) Satzzeichen gegliedert, und ein Sprecher müsste versuchen, das Atemholen möglichst unauffällig zu vollzie-

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hen, um Zäsuren zu vermeiden. Aufgrund der Textkonstruktion müsste er weiterhin die Prosodie und Dynamik möglichst gleichbleibend halten, so dass keine der Äußerungen Gewicht erhält, selbst wenn eigentlich ja Affekte wie Trauer oder Unmut aufblitzen oder sogar existentielle Fragen aufgeworfen werden: warum ich. Es gibt aber auch einige Ähnlichkeiten mit dem ersten Text. So steht am Anfang wiederum eine Silbenwiederholung. Außerdem gibt es im Mittelteil einen vorübergehenden Tonuswechsel durch die Selbstbehauptung: klein bin ich aber auch ausprobierend, was geht. Diese Festigkeit findet sich auch am Ende des Textes, als deutlich expliziert wird, dass am Ende nichts ist. Was das bedeutet, zeigt sich schrittweise. So ist bereits im dritten Absatz das zuvor noch vorhandene ich-sagende Subjekt verschwunden. Doch nicht nur das: ohne Resonanz verschwindet auch der Rest an Selbstbezüglichkeit. Der Rückbezug auf den zu Beginn selbst phantasierten Ort wird negiert, danach ganz im irgendwo aufgelöst. Anders als beim ersten Text muss der Sprecher hier jedoch das Verstummen nicht verkörpern, denn er hat eine Schlussformel zur Hand. Indes ist diese paradoxen Inhalts. Es ist das Nichts, das bleibt. So ist auch dieser Text unaufgelöst, unabgeschlossen, aussichtslos und führt in die Endlosigkeit. Klagen und Suchen werden in den meisten anderen Texten angesprochen ebenso wie die fehlenden Bezüge, die ausbleibende Resonanz und das Verschwinden. Typische Bewegungen sind kriechen, kreisen, fließen, schlängeln, in der Schwebe sein – allesamt ohne Ankommen: Nur keinen Ton treffen. Unwirklichkeit wird thematisiert und als schwindelig oder einlullend charakterisiert oder mit einer auffälligen Formulierung wie die Entfernung verschwimmt zum Ausdruck gebracht; von einer Geisterstimme ohne Körper ohne Ort ist die Rede, die Welt wird wie hinter Glas erlebt, aus einer anderen Zeit, hinter einem Schleier. In einem Text heißt es: den Schleier zu zerreißen wäre schön, aber eigentlich doch zu brutal. All diese Wortbewegungen implizieren nicht zuletzt die zugrundeliegenden Erwartungen und nicht erfüllten Hoffnungen derjenigen, die die Improvisation hören. Dies evoziert mitunter Gegenbilder, die in manchen Texten dann auch direkt zum Ausdruck kommen. Etwas klingt nach, wenn die Musik zu Ende ist, und obwohl sie auch emotionale Belastungen mit sich gebracht hat, wird bedauert, dass sie schon zu Ende ist. Trost und Beruhigung kommen in Betracht, und in einem Text ist auch von einer Mutter die Rede, die ihr Kind wickelt und tröstet. Ein Text, der die Leere nicht ans Ende, sondern in den Mittelpunkt stellt und in Bezug auf die Selbstbezogenheit den umgekehrten Weg des zweiten Beispiel-

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textes geht, aber wiederum auch Unerreichbarkeit, Ewigkeit, Unaufhörlichkeit, Negation und Unentschiedenheit zum Ausdruck bringt, ist der folgende: woa, Kleinkind oder Oberton ja keinen Ton treffen Klagegesang über? Wärme, sicher, geborgen, oder nicht? Nicht zufällig Pausen wirken besonders Es kreist um die Bezugspunkte Sterne, Sphäre, auf der Kreisbahn » « steht auf jeden Fall für ..... Warum schon aus? Kein T, K, P Irgendwie stimmig In mir klingt es noch nach Spuren im Ohr, die auf der Hörbahn kreisen Gesungen mit geschlossenen Augen, innig, aber nicht weltvergessen

Ein Sprecher dieses Textes ›darf‹ mit einem Urlaut (Stöhnen, Erstaunen?) beginnen und muss dann aber unmittelbar darauffolgend den Sprung in die ›harte‹ Welt der Relationen vollziehen. Der Text nimmt Tempo auf, es gibt klare Unterscheidungen sowie Regeln, was richtig und falsch ist. Ein Klagegesang muss einen Grund haben, aber es gibt keine Möglichkeit diesen zu erkunden; Wärme und Geborgenheit, die sich ausbreiten könnten werden schnell gestoppt; überhaupt wird nichts dem Zufall überlassen, weder in den Pausen noch auf den Kreisbahnen. Kein Raum, keine Zeit. Plötzlicher Stillstand, wie ein Loch, aus dem man nicht herauskommt. Versuch zu beharren, sich mittels Beanstandung zu behaupten. Die Konsonanten im staccato vorgetragen klingen, je nachdem wie scharf sie artikuliert werden, wie Schnellschüsse. Danach völlig unerwartet ein Diminuendo, versöhnlicher, gewährender, inniger im Ton. Es wird wahrlich nichts dem Zufall überlassen, aber die krassen Wechsel muten wie Willkür an. Die existentielle Dimension, Einsamkeit und Schicksalhaftigkeit sind zentrale Elemente der Texte. Auch wenn Schrecken oder Gewalt nie direkt benannt werden, ist keiner der Texte harmlos oder verharmlosend. Dennoch klingt wie bei dem dritten Beispieltext die Bedrohung des Subjekts hörbar an. Die zahlreichen Anzeichen für Depersonalisation und Derealisation in weiteren Texten, die fehlenden oder unterbrochenen Bezüge sowie der häufig wiederholte Ausdruck von Leere und Endlosigkeit können als Ausdruck traumatischer Erfahrung gedeutet werden und entsprechen dem von Fernando (2012) so bezeichneten Zeroprozess.

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4.4 Zusammenfassung der Ergebnisse musikalisch-künstlerischer Rekonstruktion Die Wortbewegungen, die ja am Ende einer ganzen Kette von Transformationen stehen und von vollkommen unabhängigen Personen verfasst wurden, zeugen auf beeindruckende Weise vom Trauma und von traumakompensatorischen Schemata. Sie können szenisch mit den Auswirkungen der Shoa in Verbindung gebracht werden. Gleichzeitig werden in den Texten aber die Bedrohungen des Subjekts in eine Welt eingebettet, in der jemand immer noch erwartet werden kann, in der auch Trauer gefühlt wird und in der es auch die Möglichkeit von Trost gibt. Auch dies scheint von Anfang an Bestandteil der Interaktion zwischen Shmuel B und Dori L zu sein, zumindest dann, wenn sich die Aufmerksamkeit auf die auditiven Qualitäten des Gespräches richtet. Das Ergebnis des musikalisch-künstlerischen Forschungsprozesses lässt sich dahingehend interpretieren, dass Leere und Endlosigkeit Merkmale dessen sind, was sich – in der Wahrnehmung der Sonifikation und ihrer Hörer – unmittelbar zwischen den Gesprächspartnern ausbreitet, ebenso wie Trost und Beruhigung. Wenn nicht mehr unterschieden wird, wer von beiden Gesprächspartnern welche Aspekte beitrug, könnte dies bedeuten, dass der allem Anschein nach schwer traumatisierte und jahrelang psychiatrisch hospitalisierte Zeitzeuge nicht allein im traumakompensatorischen Schema fixiert ist, sondern seinen Gesprächspartner vor der Wucht der Verletzungen schützt, ebenso wie beides auch umgekehrt der Fall sein kann. So gesehen würde das Zeitzeugengespräch auf der performativen, auditiv wahrnehmbaren Ebene nicht nur vom Schrecken handeln, sondern vom Überleben, vielleicht gar von der Möglichkeit der Versöhnung. Gleichwohl ist bei einer solchen Interpretation in Betracht zu ziehen, dass es womöglich die dazwischen geschaltete Musik war, die diese Berührung mit den Menschen geweckt hat, die das Unvorstellbare in sich und zwischen sich geborgen haben.

5 Z USAMMENFÜHRUNG Die hier erstmals zusammengestellte Kombination von szenisch-narrativer Mikroanalyse einerseits und Sonifikation mit verbaler Beschreibung und anschließender Textanalyse andererseits bedarf sicher weiterer Erfahrungen auch mit anderem Material. Beide Ansätze beziehen unabhängige Forscher(gruppen) ein, die sich empathisch in das Material einfühlen und es hermeneutisch auslegen. In unserer Untersuchung der ersten Minuten eines Zeitzeugengesprächs wird deutlich, dass bei beiden Ansätzen wahrnehmbare Resonanzen unterhalb

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der denotativen Ebene zutage traten, die sich zwar unterscheiden, jedoch aufeinander beziehen lassen. Bei der szenisch-narrativen Mikroanalyse durch psychoanalytisch geschulte Forscher kamen mehr die in der Interaktion verteilten Passungen (zwischen den Interaktanten und in der Forschergruppe) zur Geltung, auch das Bemühen nicht genau daran zu scheitern. Währenddessen brachte die musikalisch-künstlerische Analyse einen existentiellen Unterstrom zutage – bestehend aus der Bedrohung durch Leere und der Suche nach Trost, was den Dialog letztlich aber zusammenzuhalten schien. Mit beiden Ansätzen gelingt somit ein Zugang zum Vergessenen im Gespräch mit dem Shoah-Überlebenden. Eine Schlüsselfunktion scheint dabei das Phänomen Stimme einzunehmen. Dies ist insofern bemerkenswert, als dass bereits im Interview die Suche nach den lange verklungenen und ausgelöschten Stimmen der Teilnehmer an der Seder-Zeremonie einsetzt und sich über die Beschäftigung der Gruppe mit dem Eindringen der weiblichen Stimme in das dyadische Geschehen fortsetzt, bis zur Wahl der Stimme in der Improvisation und schließlich zu den Texten der unabhängigen Hörer, die sowohl den ›Klagegesang‹ als auch die Fremdheit des Stimmklangs bemerken. Die Subjektivität der Stimme, so zeigt sich retrospektiv, steht dem Bemühen um intersubjektive Versicherung bei der Rekonstruktion gegenüber. Zugleich verbindet sie alle am Zeugnis und seiner Wahrnehmung Beteiligten. Dies bezieht sich auf jenen Moment in der Originalszene des Gespräches, als beim verkörperlichten Erinnern der Kushiot das Zusammenfallen der Zeiten erkannt werden kann, worauf der Zeitzeuge in seiner knappen Formulierung verweist: The voice was lost, right now, here. Es ist die subjektive WahrNehmung des Verlorenen, das Hineinhören in die subsymbolischen Zwischentöne des Dialogs, was das Bezeugte am Ende auch für Außenstehende spürbar macht und dabei das für immer Unsagbare nicht etwa auflöst sondern bewahrt.

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Über Worte und Bewegungen Eine empirische Analyse von moments of meeting in videographierten Zeitzeugengesprächen1 J ASMIN B LEIMLING

Diese empirisch-mikroanalytische Analyse von Videozeugnissen von Holocaustüberlebenden widmet sich der Frage, inwieweit hermeneutische Befunde mit empirischen Verfahren übereinstimmen. Anhand von Videomaterial von insgesamt fünf Zeitzeugengesprächen wird untersucht, wie die von den Interviewern als von außergewöhnlichen Gegenübertragungsreaktionen geprägt identifizierten Momente mit den Ergebnissen objektiver Methodik zusammenhängen. Die Gegenübertragungsreaktionen der Konversationspartner (als Reaktion auf die re-inszenierten Traumata der Überlebenden) werden als Indikatoren für die vor allem nonverbal vermittelte traumatische Szene betrachtet. Klinische Implikationen, sowie einen Ausblick auf die interdisziplinäre tanzwissenschaftliche Kooperation (vgl. Heller in diesem Band) werden vorgestellt.

Keywords: Videozeugnis; Gegenübertragung; Interaktionsanalyse

1

Der vorliegende Beitrag basiert auf der Originalarbeit Gegenübertragung und soziales Trauma. Eine Mikroanalyse des szenischen Erinnerns der Shoah in videographierten Zeitzeugengesprächen (Dissertationsarbeit im Druck, betreut durch Wolfgang Mertens, LMU München, und Andreas Hamburger, IPU Berlin, in Kooperation mit Kurt Grünberg und Friedrich Markert aus dem Forschungsprojekt Szenisches Erinnern der Shoah am Sigmund-Freud-Institut) und ist von dort zum größten Teil wörtlich entnommen (mit freundlicher Genehmigung des Psychosozial-Verlags, Gießen).

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1 S CHLÜSSELMOMENTE IN DER INTERSUBJEKTIV VERSTANDENEN TRAUMATISCHEN S ZENE Gemeinsam mit der intersubjektiven Wende in der Psychoanalyse hat sich der Fokus von einem rein verbalen Austausch von Worten zwischen Patient und Therapeut hin zu einem nonverbalen Verstehen innerhalb der Interaktion verändert (Christian-Widmaier 2008). Das Agieren des Patienten wird heute stets in Bezug gesetzt zu dem Mitagieren des Therapeuten: Hierfür wurde der Begriff des Handlungsdialogs (vgl. Klüwer 2001; Lachauer 1990; Worm 2007) geprägt. In diesen Handlungsdialog treten auch die Überlebenden und ihr Interviewer ein. Das interdisziplinäre Konzept der now moments oder moments of meeting (Stern 2004) versucht diesen so ›nah wie möglich‹, also als das tatsächliche menschliche Erleben zu fassen. Dieses wird als ein Konglomerat aus Körper, Affekt und Kognition definiert, dass durch die Interaktion eine spezifische Gestalt annimmt, im vorliegenden Fall aufgrund des erlebten Traumas eine traumatische Gestalt. Die traumatischen Erlebnisse des Holocaust, die die Überlebenden in den Videogesprächen erinnern, werden aus psychoanalytischer Theorie peri- und posttraumatisch vor allem durch (Ab-)Spaltung und fragmentierte Speicherung beschrieben. Grünberg (2010) nutzt den Begriff der »eingekapselten Erinnerungen« bzw. der »Transplantation von Erinnerungskeimen«, um zu beschreiben, was »zwischen den beiden Gesprächspartnern passiert«. Die für die Untersuchung zugrundeliegenden Fragen sind die folgenden: Was ist ein ›Schlüsselmoment‹ innerhalb des Handlungsdialogs im Rahmen des Zeitzeugengesprächs und was lässt sich an ihm messen? Was ist es, was die traumaspezifische Interaktion auszeichnet? Wie lassen sich der erstmals von Condon und Sander (1974) beschriebene »Hörtanz«, die (A-)Synchronisation der Rhythmen von Interaktionspartnern in »Momenten der Begegnung« nach Stern (2004) anhand objektiver Methoden identifizierbar machen? Wie unterscheiden sich diese now moments vom sonstigen Gesprächsfluss? Ein Gegenwartsmoment, aus dem ein now moment in der Interaktion erwachsen kann, hat psychodynamische Relevanz: Er ist wie eine gelebte Geschichte mit dem übrigen Leben verbunden, in ihm manifestiert sich der individuelle Stil, die Persönlichkeit, die Konflikte und das Erleben der Vergangenheit. In dieser kurzen Charakterisierung offenbart sich bereits der eindeutige Zusammenhang zur psychoanalytisch verstandenen Szene bzw. Inszenierung und der ihr zugehörigen Gegenübertragungsaffekte. Als Szene wird hier die »Gesamtheit der Aspekte der spezifischen Gestaltung der psychoanalytischen Situation durch den Analysanden nach dem Muster und als Reproduktion einer früheren, infantil und/oder traumatisch bedingten Vorerfahrung« verstanden (Wolf 2008: 743).

M OMENTS OF M EETING

IN VIDEOGRAPHIERTEN

Z EITZEUGENGESPRÄCHEN

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Bei einem moment of meeting, sowie einer Analyse der psychoanalytischen Szene, liegt das Hauptinteresse in der Interaktion mit zwei oder mehr Personen, also einer gemeinsamen, interaktionell gelebten Erfahrung, die sich wiederum wechselwirkend mit dem impliziten Beziehungswissen des Einzelnen verbindet (Stern 2004). Buchholz (2016) weist daraufhin, dass die sogenannten now moments der Bostoner Gruppe bis dato aus Fallbeschreibungen extrahiert wurden und spricht sich für eine methodische Erweiterung durch eine mikro-empirische transkriptbasierte Analyse aus, die die Identifizierung der Momente aus dem klinischen Material hinsichtlich Qualität und Exaktheit erweitern kann (ebd.:1). Solch eine transkriptbasierte Analyse der now moments liefert die Grundlage für diesen Beitrag. Wenn Überlebende nun während des Zeitzeugengesprächs von unverarbeiteten Erinnerungsfragmenten eingeholt und überwältigt werden, ›verwickeln‹ sie andere Menschen. Diese Verwicklung vollzieht sich in eben jenem Handlungsdialog in der psychoanalytischen Szene und äußert sich auf der Seite der Therapeuten in konkreten Gegenübertragungsreaktionen wie Überidentifikation, Mitagieren, Verwicklungen, empathischer Überbelastung, Aggression, Angst, Scham, Mitleid, Bewunderung, usw. die nach Danieli (1994) eingeteilt werden können in: 1. Verschiedene Modi der Abwehr mit dem Ziel, nicht mit dem Trauma in Be-

rührung zu kommen, eingeschränkte Containing-Funktion der Therapeuten, 2. Affektive Reaktionen wie Mitschuld, Wut, Schuld, Scham, Voyeurismus 3. Spezifische Rollen-Inszenierungen, wie den Überlebenden als Helden anzu-

sehen und bestimmte emotional involvierte Einstellungen gegenüber der jüdischen Identität (Danieli 1994: 369). Bei der Analyse werden sowohl die Gegenübertragungsreaktionen der Interviewer selbst, als auch die Gegenübertragungsreaktionen von externen Zuschauern detailliert betrachtet. Außerdem werden diese Gegenübertragungsreaktionen mit den extrahierten bewegungsanalytischen Daten verglichen. Es wird davon ausgegangen, dass sich im Laufe der Zeitzeugengespräche der peritraumatische Abwehrmechanismus der Spaltung durch eine traumatische (Re-)Inszenierung wiederholt und sich solche Momente formal durch Brüche und Spaltung im Vergleich zu ›neutralen‹ Stellen im Video identifizieren lassen. Now moments im Gespräch sind demzufolge als ›Irritationsmomente‹ zu verstehen (vgl. Lorenzer 1968). Dieser Ansatz bettet sich in die Forschungstradition von Hamburger (2015) ein (vgl. Laub/Hamburger im Druck; sowie Hamburger/Metzner in diesem Band), in der die Gruppenreaktionen einer externen Ra-

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ter-Gruppe auf ein Videotranskript und auf die videographierte Interaktion im Vordergrund stehen. Durch die kontinuierliche Reflexion der eigenen ZuhörerPositionen wird versucht, die dynamischen Prozesse des Dialogs zu rekonstruieren: Die Bedeutung eines Verhaltens erschließt sich im sozialen Kontext.

2 M ETHODEN 2.1 Hermeneutische Einschätzungen Die involvierten Psychoanalytiker arbeiten nach dem Ansatz der multi sited ethnography (Marcus 1995). Das Ziel ist es dabei einen klinischen, als auch nichtklinischen Zugang zu Überlebenden des Holocaust zu ermöglichen und die »unbewussten Vermittlungsprozesse und -dynamiken von Verfolgungserfahrungen jüdischer Überlebender an ihre Nachkommen zu ergründen« (Grünberg/Markert 2013). Sie untersuchten mit Hilfe des auf Lorenzer (1983) beruhenden Verfahrens der Tiefenhermeneutik retrospektiv die Transkripte der Videos und generierten so in einer Intervision die psychoanalytisch bedeutsamen Szenen. Das Trauma, was die Zeitzeugen erlebten, kann hierbei nicht schlicht »erzählt werden, sondern muss auf andere Art zur Mitteilung kommen, zum Beispiel in der Form einer Übertragungsbeziehung. [...] Das traumatische Schicksal zwingt immer zur Mitteilung, zu einer Inszenierung in irgendeiner Ausdrucksform« (Holderegger 2012: S. 1108). Intrapsychische Vorgänge streben danach, interpsychisch externalisiert zu werden und spielen in der Beziehungsgestaltung zu signifikanten Anderen, wie in den hier vorliegenden Zeitzeugengesprächen eine wichtige Rolle und äußern sich verbal wie nonverbal. Die tiefenhermeneutische Auswahl und Einschätzung der bedeutsamen Stellen innerhalb der Gespräche wurde neben dem retrospektiven Rating der Interviewer selbst durch das Hinzuziehen von externen, unabhängig arbeitenden Fokusgruppen ergänzt. 2.2 Textanalyse Mittels des Textanalysesystems von Mergenthaler (2008) – ein automatisiertes Emotions- und Abstraktionsdiktionär – lassen sich die kognitiven Verarbeitungsbzw.- Sprachmuster: Relaxing (wenig Emotion, wenig Abstraktion), Reflecting (wenig Emotion, hohe Abstraktion), Experiencing (hohe Emotion, geringe Abstraktion) und Connecting (hohe Emotion, hohe Abstraktion), die emotionale Valenz, sowie der narrative Stil in den Transkripten der Gespräche messen. Letzterer kann hoch oder niedrig bzgl. Konkretheit, Klarheit, Bildhaftigkeit sein und

M OMENTS OF M EETING

IN VIDEOGRAPHIERTEN

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beruht auf Konzepten der referential activity nach Freedman/Bucci (1981). Einerseits wird makroanalytisch dem gesamten Transkript einer Sitzung ein Verarbeitungsmuster zugeteilt, andererseits mikroanalytisch Wortblöcke innerhalb einer Sitzung betrachtet. Das Transkript wird dabei in Wortblöcke (WB) von jeweils 150-200 Wörtern segmentiert. Die Verarbeitungsmuster liefern einen wertvollen Hinweis darauf, wie vergangene traumatische Erlebnisse kognitiv verarbeitet wurden und besprochen werden. In moments of meeting wurde ein erhöhter Gebrauch von Emotionswörtern bei gleichzeitig konkretem narrativen Stil erwartet. 2.3 Bewegungsanalyse Durch die computerisierte nonverbale Bewegungsauswertung (Motion Energy Analysis MEA, Ramseyer 2010) wurde das quantitative Ausmaß der nonverbalen Bewegungen, sowie die nonverbale Synchronisation (von vorab definierten Körperregionen) gemessen. Ramseyer (2010: 5) untersucht nonverbale Synchronisation zwischen zwei Interaktionspartnern als wichtige Variable in der Beziehungsqualität. Synchronisation wird von ihm als nonverbaler Angleichungsprozess verstanden, der statische, dynamische, emotionale, physiologische als auch akustische Elemente beinhaltet (ebd.: 7; vgl. Tschacher/Ramseyer in diesem Band). Die MEA misst das Ausmaß von Bewegungen in einer Sequenz von sechs Einzelbildern pro Sekunde. Für eine Minute liegt eine Zeitreihe aus 600 Werten (10 Bilder pro Sekunde) vor. So lassen sich minutenweise Vergleiche über das Ausmaß an Bewegungen anstellen. Mithilfe der Betrachtung der Interdependenzen in den Zeitreihen lässt sich zudem die dynamische Synchronisation errechnen. Eine A-Synchronizität wird hier als Indikator für einen Beziehungsabbruch, für eine ›Störung‹ im ansonsten empathisch synchronen Beziehungsund Bewegungsgeschehen hypothetisiert. Darüber hinaus wird bei der fragmentierten (traumatischen) Narration der Überlebenden von subtilen Handlungen ausgegangen, die sich auf einen Kontaktabbruch und ein existenzielles Auf-sichselbst-geworfen-sein beziehen und sich – analog zu Beobachtungen aus der Säuglingsforschung – in vermehrten selbststimulierenden und damit stressregulierenden Bewegungen (shielding behavior wie z.B. Hände ineinander reiben) äußern (Freedman/Hoffman 1967; Bucci/Maskit 2007). 2.4 Studiendesign Die Gespräche wurden nach den Regeln der Ulmer Textbank von Erhard Mergenthaler (1992) transkribiert. Anschließend wurden parallel verbale und non-

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verbale objektive Analysen der Videos vorgenommen. Hierfür wurde einerseits das Transkript textanalytisch nach der CM Methode (Mergenthaler 2008) analysiert, andererseits die nonverbalen Bewegungen der Gesprächspartner in dem Video mit der MEA-Software (Ramseyer 2010) gemessen. Jede Minute der Gesamtinterviews wird mit den Daten der sprachlichen Einschätzung, der Expertenmeinung, der Bewegungseinschätzung, der Synchronizität korreliert. Dabei wird jede Variable einheitlich codiert (relevant = 1, nicht relevant = 0), um die Übereinstimmung zwischen ihnen berechnen zu können. Zu diesem Zweck wird der Intraklassenkoeffizient (ICC) berechnet, der eine Methode zur Beurteilerübereinstimmung darstellt. Im vorliegenden Fall werden die Werte der Variablen als jeweils eine Beurteilung verstanden. Zu anschließenden Validierungszwecken wird die Interrater-Reliabilität berechnet, das heißt, die Korrelation zwischen den Einschätzungen der Interviewer und einer externen Gruppe (sowohl hermeneutische Einschätzung als auch Fragebogen), sowie die Korrelationen zwischen der externen Gruppe und den vorher durch die objektive Methodik errechneten signifikanten Stellen.

3 E RGEBNISSE Im Folgenden werden die makroanalytischen Ergebnisse der verbalen und nonverbalen Analysen über die insgesamt fünf Überlebendengespräche präsentiert. 3.1 Worte In der computerlinguistischen Textanalyse zeichneten sich die Momente besonderer Gegenübertragung durch die erhöhte Nutzung emotionaler und besonders abstrakter Wörter aus. Letztere lieferten einen empirischen Hinweis auf den psychoanalytischen Abwehrmechanismus der Intellektualisierung oder Rationalisierung. Beides entspricht den Hypothesen. Nicht hypothesenkonform erwies sich der narrative Stil, der sich in Gegenübertragungsmomenten gegenüber neutralen Stellen nicht unterschied, das heißt sowohl abstrakt als auch konkret sein konnte. Zum gehäuften Gebrauch abstrakter Worte liegt eine interessante Interpretation von Mergenthaler vor (2015, Mitschrift PICOR-Konferenz, Berlin), die er exemplarisch an einem Fallbeispiel veranschaulicht: »Fr. K vermeidet in der Erinnerung an ihren kleinen Bruder emotionale Begriffe. Sie distanziert sich durch abstrakten Sprachgebrauch. Ganz im Gegensatz dazu berichtet sie sehr emotional von den Umständen, die zum Tod der Familie führten. Es ist anzunehmen, dass

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die Episode mit dem (verhungernden) kleinen Bruder und dem von ihm benötigten Stückchen Brot unbewältigt ist und eher intellektualisiert wird. Die Erinnerungen an Vater, Bruder und Mutter dagegen kann sie zulassen, wenngleich für sie schmerzlich und mit negativen Emotionen, jedoch bereits weiter bearbeitet. Der starke Anstieg der Redeaktivität des Interviewers verbunden mit einer deutlichen Zunahme des narrativen Stils und der Abnahme der emotionalen Tönung in der Dyade kann als Gegenübertragungsreaktion verstanden werden.«

3.2 Bewegungen Über alle Gespräche hinweg fällt bei den Interaktionspartnern shielding auf, welches sich im Verlauf des Gesprächs verstärkt. Das shielding ist ebenfalls über alle Gespräche hinweg bei dem Interviewer selbst stärker ausgeprägt als bei den Befragten. Die durchschnittliche Synchronizität ist niedrig (x syn = 0,09-0,10) und verändert sich signifikant im Vergleich zwischen neutralen Stellen (Synchronizität höher) und emotional bedeutsamen Stellen (Synchronzität niedriger) im Video. Körperlich manifestieren sich die Gegenübertragungsmomente also durch vermehrtes shielding und generell auf den eigenen Körper fokussiertes Verhalten (statt auf das Gegenüber fokussiert), weniger Bewegungen, sowie eine geringere Synchronizität zwischen den Gesprächspartnern, was den Hypothesen der ›Störung‹ bzw. der ›Irritationsmomente‹ des nonverbalen Dialogs in den mit den traumatischen Erinnerungen assoziierten now moments entspricht. 3.3 Übereinstimmung der Methoden Die statistische Berechnung der Übereinstimmung (ICC) zwischen den objektivierenden Methoden, den hermeneutisch erarbeiteten Gegenübertragungen der Gesprächspartner, und der externen Gruppeneinschätzung ergab keine Übereinstimmung. Allerdings stimmten in drei von fünf Videoanalysen die tiefenhermeneutischen Einschätzungen der externen Gruppenteilnehmer über die bedeutsamen Momente mit den Einschätzungen der Interviewer signifikant überein.

4 D ISKUSSION Im Folgenden werden die wichtigsten Ergebnisse, die durch die einzelnen Methoden erzielt wurden, sowie die Validität der verwendeten Methoden diskutiert.

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4.1 Tiefenhermeneutische Ergebnisse Der tiefenhermeneutischen Arbeitsweise, die durch die Auswahl der Interviewer als Basis für die hier untersuchten now moments lieferten, lässt sich fehlende Objektivität und eine erschwerte Replizierbarkeit vorwerfen, da sie in dem subjektiven Erleben eines Individuums begründet liegt und eine detaillierte intrapersonelle Phänomenologie auf Kosten der interpersonellen Vergleichbarkeit darstellt. So liegt durch die fehlende Theoriefreiheit, die vor allem durch die psychoanalytische Theorie und die dadurch a priori beeinflusste Sichtweise die Gefahr begründet, in dem Untersuchungsmaterial zu entdecken, was von den Forschenden gesucht wird. Bemerkenswert ist trotz dieser Einschränkungen, dass das statistische Ergebnis der signifikanten Übereinstimmung der Einschätzungen der Gruppenteilnehmer mit denen der Interviewer selbst zu verzeichnen ist. 4.2 Ergebnisse der Textanalyse Vorwegnehmend lässt sich kritisch anmerken, dass die textanalytische Methode nach Mergenthaler im Vergleich zu einer linguistischen Analyse, Wörter nur hinsichtlich ihres manifesten semantischen Gehalts in emotional und abstrakt einteilen und Veränderungen in der Stimmlage nicht erfassen kann. Mit anderen Worten: Die Art und Weise, wie Wörter ausgesprochen werden, konnte durch die Textanalyse nicht betrachtet werden, was als ein nicht zu gering einzuschätzender Verlust an wertvollen Informationen geltend gemacht werden muss. Hypothesenkonform erwies sich das Ergebnis des erhöhten Nutzens emotionaler und besonders abstrakter Wörter in Momenten besonderer Gegenübertragung. Das nach Mergenthaler (Resonating Minds Theory, Mergenthaler 2008) mit einem ungelösten Trauma assoziierte Verarbeitungsmuster des experiencing als Indikator für Momente besonderer Gegenübertragung lässt sich über die hier analysierten Videos nicht bestätigen. Nach dessen Zyklusmodell wird durch das Ansprechen konfliktbehafteter Themen, die emotional erlebt werden (Emotion hoch) und wenig reflektiert werden (Abstraktion niedrig) eine Phase des experiencing eingeleitet. Im weiteren Verlauf und beispielsweise mithilfe einer gelungenen Deutung oder psychotherapeutischen Interventionen folgen positive Emotionen und eine hohe Synchronisation als Indikator für einen bearbeiteten Konflikt. Die bedeutsamen Momente in den hier vorliegenden Gesprächen zeichneten sich gegensätzlich durch negative Emotionen und eine niedrige Synchronizität aus. Eine Erklärung liefert das bereits vorgestellte Konzept des Handlungsdialogs, welches sich gerade in dem nicht explizit Gesagten und Durchlebten (experiencing) begründet, sondern in subtilen, über das Verbale hinausgehende

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Inszenierungen, welche schwer in kognitive Muster zu übersetzen sind. Die bedeutsamen Stellen der Rater entsprechen zum größten Teil dem Muster reflecting oder relaxing. Nach dem textanalytischen Zyklusmodell ist bisher nur das reflecting trauma-assoziiert. Aus psychoanalytischer Sicht können jedoch beide Muster rationalisierende Trauma-Abwehr indizieren. An dieser Stelle sei eine Beobachtung zu der Rolle der Abwehr eingefügt. Die Rolle der reifen Abwehr wurde vorab unterschätzt und proportional dazu die Rolle der frühen Abwehr überschätzt. Von früher Abwehr waren eher die Reaktionen der externen Fokusgruppenteilnehmer geprägt, die erstmalig mit den Überlebensgeschichten konfrontiert waren, als die Äußerungen der Überlebenden selbst. Dies lässt sich durch den Umstand erklären, dass das Berichten der vor über 70 Jahren erlebten Traumatisierungen zwar innerpsychisch größtmögliche Bedeutung für die Überlebenden besitzt, doch auf einer rein verbalen Ebene betrachtet (die nonverbale Ebene ist qua definitionem den frühen Phasen der psychosexuellen Entwicklung zuzuordnen) mehr reife als frühe Abwehr aktiviert. Demgegenüber stehen die Reaktionen der Rater, die erstmalig mit der Lebensgeschichte der Überlebenden konfrontiert waren und deren verbale Reaktionen – Spaltungen und Konflikte –sich eher in den Bereich der frühen Abwehrmechanismen einordnen lassen. 4.3 Nonverbale Verhaltensmuster In Momenten besonderer Gegenübertragung ließen sich hypothesenkonform ein vermehrtes shielding und körperfokussiertes Verhalten, weniger Bewegungen und eine geringer ausgeprägte Synchronizität zwischen den Interaktionspartnern verzeichnen. Wenn das Trauma angesprochen wurde, veränderten sich Bewegungen und Synchronizität ausschließlich hin zu dem negativen Pol. Wie bereits dargestellt, setzten Tschacher/Rees/Ramseyer (2014) Synchronisation als Prädiktor für Affekt ein: Eine hohe Ausprägung von Synchronizität ist mit positivem Affekt assoziiert, eine niedrige mit negativem. Im Fall der Überlebenden wurden diesbezüglich keine statistischen Analysen vorgenommen, doch deuten die mikroanalytischen Ergebnisse, die sich durch negativen Affekt und geringe Synchronizität auszeichnen, auf eine Replikation hin. King (2015) beschreibt Momente in den Therapien der angst- und affektiv gestörten Patienten, die sie ebenfalls als ›Störung‹ bezeichnet, ohne dabei einen Unterschied in ihren betrachteten Parametern und Diagnosegruppen zu finden: »Eine Begründung für die entgegengesetzte Kurve von positiver emotionaler Tönung und Synchronisation könnte losgelöst von Thema und von der Situation gesucht werden, näm-

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lich, indem man wieder das ursprünglich von Christiaan Huygens (1665, zit. nach Ramseyer 2008: 7-8) beschriebene physikalische Phänomen betrachtet: Wird ›das Setting‹ zweier Pendeluhren gestört, das heißt aus dem Takt gebracht, so brauchen die Pendel eine gewisse Zeitspanne, um sich wieder zu synchronisieren. Das Thematisieren von Konflikten und ihre Reflexion könnte eine solche ›Störung‹ darstellen, die zu einem Anstieg von Emotionen führt und ein Einpendeln verlangt. Sobald die Störung behoben ist, also der Konflikt reflektiert und Einsicht vorhanden ist, nehmen die Emotionen ab und die Synchronisation zu.« (King 2015: 51)

Dieses Ergebnis steht im Gegensatz zu früheren Studien (Ramseyer/Tschacher 2011), in denen nachgewiesen werden konnte, dass Patienten mit einer Angststörung weniger Synchronisation im Vergleich zu anderen Patientengruppen zeigen. Im Fall der Überlebenden erinnern die Ergebnisse an jene von King (2015). In den Momenten, die als ›neutral‹ eingeschätzt wurden, sind die Bewegungen synchroner als in den Störungsmomenten. Es ist in vorliegender Arbeit zwar explizit nicht von Patienten zu sprechen, dennoch berichten die Überlebenden von Symptomen, die den Angst- und affektiven psychischen Störungen zugeordnet werden können, sodass dieses eine Erklärung für die Replizierung liefert. Interessant ist weiter die Diskrepanz zwischen verbaler und nonverbaler Methodik: Nach der CM Methode benutzt beispielsweise eine Zeitzeugin vornehmlich nicht emotionale, wenig auf die eigene Biographie bezogenen Worte. Sie spricht über den Mord an der Mutter distanziert (»weggeschmissen/weggenommen«), während ihre Bewegungen (wischende Handbewegungen, erstarrter Gesichtsausdruck, depressive Sitzhaltung) die Brutalität und den Schrecken zur gleichen Zeit, wenn nicht zeitlich früher, mitteilen (vgl. Heller in diesem Band). Da die MEA-Software zwar objektive Daten zu Quantität und Synchronizität von Bewegungen liefert, aber keine Aussagen zur Qualität, also der Art und Weise der Bewegungen liefern kann, wird die Arbeit durch eine interdisziplinäre Kooperation mit der Tanz- und Bewegungswissenschaft (Prof. Gabriele Brandstetter, FU Berlin und Doktorandin Veronika Heller, FU Berlin) inhaltlich in gerade dieser qualitativen nonverbalen Analyse der Gespräche bereichert. 4.4 Methodische Übereinstimmung In der explorativen makroanalytischen statistischen Berechnung der Übereinstimmung (ICC) korrespondierten die quantitativen und qualitativen Methoden nicht miteinander, sodass von einer allgemein geringen Methodenkongruenz ausgegangen werden kann. Hoch übereinstimmend ergaben sich ausschließlich die internen als auch die externen tiefenhermeneutischen Einschätzungen der re-

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levanten Stellen in der ICC Berechnung bei drei Zeitzeugen. Dass sich die psychoanalytische Sichtweise in sich als kongruent erweist, ist ein erfreuliches Ergebnis, das sich dem Vorwurf der Replizierbarkeit der tiefenhermeneutischen Arbeitsweise entgegenstellt. Dass die empirischen Methoden allerdings über die Videos hinweg mitnichten in die qualitativen Ergebnisse übersetzt werden können, ist ein bedenkenswertes negatives Resultat.

5 AUSBLICK Es konnte in der Zusammenschau zwischen tiefenhermeneutischen Einschätzungen und den objektivierenden Methoden herausgefunden werden, dass die Momente der besonderen Gegenübertragung (hier als Momente der ›Störung‹) von einem erhöhten Nutzen emotionaler, besonders aber abstrakter Worte, sowie durch vermehrtes Shielding und körperfokussiertem Verhalten, weniger Bewegungen als auch einer geringeren Synchronizität zwischen den Gesprächspartnern charakterisiert waren. Dies deutet auf die Vereinbarkeit von Psychoanalyse und empirischer Wissenschaft hin und spricht für die Integration verschiedener methodischer Ansätze. Diese Studie sollte einen Beitrag zur Erhellung des Spannungsfeldes zwischen psychoanalytischen Einzelfallbeobachtungen und auf Generalisierbarkeit zielende empirische Methoden liefern: Die Ergebnisse der Studie machen komprimiert deutlich, dass das angesprochene Spannungsfeld zwischen Psychoanalyse und Empirie hier nicht aufgelöst werden konnte. Es gilt vielmehr diese Spannung ›auszuhalten‹ und es ist die Aufgabe zukünftiger Forschung zu klären, ob diese sich an der Unspezifität der genutzten Methoden oder an der (Nicht-)Passung der Ansätze festmacht. Gullestad (2013) spricht sich dafür aus, die ursprüngliche Auffassung Ricoeurs (1965) zu verkehren – nämlich, dass die Psychoanalyse keine beobachtende Wissenschaft sei, sondern Interpretation, zu vergleichen mit der Geschichte, das heißt, im Vordergrund stehe die Erfahrung des Individuums, artikuliert durch Sprache, kommuniziert an jemand anderen in Form eines Narrativs (Gullestad 2013: 389). Sie prägt hierfür das Schlagwort »die Seele im Körper entdecken: Das Observieren und nicht das bloße Zuhören (ist) ein notwendiger Teil des analytischen Repertoires« (ebd.). Mit anderen Worten: Psychoanalytiker sollten (ihre Patienten) mehr beobachten denn interpretieren (vgl. auch Lepper, 2009). Pally (2001) schlägt vor, die Psychoanalyse zukünftig gar als nontalking cure zu bezeichnen. Es handelt sich also darum, das Körpersprachliche zu beachten, die nonverbalen Handlungsdialoge (vgl. Heisterkamp 2002) zu analysieren. Die via regia zum Unbewussten ist nicht mehr bloß der Traum und sonstiges un-

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bewusstes Material des Patienten, sondern das Verhalten. Behandlungstechnisch wird damit impliziert, dass die Gestalt, die Art, wie der Körper sich auf der Couch befindet, ebenso wichtig ist wie der konkrete Inhalt der Assoziationen. Je mikroanalytischer die interaktionelle Betrachtungsweise dabei ist, desto eher lässt sich implizites interaktionelles Beziehungswissen bewusstmachen.

6 L ITERATUR Bucci, Wilma/Maskit, Bernard (2007): »Beneath the surface of the therapeutic interaction: The psychoanalytic method in modern dress«, in: Journal of the American Psychoanalytic Association 55, S. 1355-1397. Buchholz, Michael B (2016): Momente und ihre Menschen: Moments-Of-Meeting und Konversationsanalyse. Unveröffentlichtes Arbeitspapier, Berlin, S. 1-32. Condon, William/Sander, Louis W (1974): »Synchrony demonstrated between movements of the neonate and adult speech«, in: Child Development 45, S. 456-462. Christian-Widmaier, Petra (2008): Nonverbale Dialoge in der psychoanalytischen Therapie: Eine qualitativ-empirische Studie, Gießen: Psychosozial Verlag. Danieli, Yael (1994): »Countertransference, trauma and training«, in: John P Wilson/Lindy Jacob D (Hg.), Countertransference in the treatment of PTSD, New York: The Guilford Press, S. 368-389. Freedman, Norbert/Hoffman, Stanley P (1967): »Kinetic behavior in altered clinical states: Approach to objective analysis of motor behavior during clinical interviews«, in: Perceptual and Motor Skills 24, S. 527-539. Freedman, Norbert/Bucci, Wilma (1981): »On kinetic filtering in associative monologue«, in: Semiotica 34 (3), S. 225-249. Grünberg, Kurt (2010): »Vom Banalisieren des Traumas in Deutschland«, in: ZWST (Hg.), Konferenz: Trauma und Intervention. Zum professionellen Umgang mit Überlebenden der Shoah und ihren Familienangehörigen, S. 3048. Grünberg, Kurt; Markert, Friedrich (2013): »Von einem Günter Grass erschossen? Szenisches Erinnern der Shoah«, in: Psychoanalyse – Texte zur Sozialforschung 17, S. 192-203.

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Gullestad, Siri Erika (2013): »Die Seele im Körper entdecken. Eine Fallstudie«, in: Marianne Leuzinger-Bohleber/Robert N Emde/ Rolf Pfeifer (Hg.), Embodiment: Ein innovatives Konzept für Entwicklungsforschung und Psychoanalyse, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 385-408. Hamburger, Andreas (2015): »Refracted attunement, affective resonance: Scenic-narrative microanalysis of entangled presence in a Holocaust survivor’s testimony«, in: Contemporary Psychoanalysis 51 (2), S. 239-257. Heisterkamp, Günter (2002): Basales Verstehen: Handlungsdialoge in Psychotherapien und Psychoanalyse, Stuttgart: Klett-Cotta. Holderegger, Hans (2012): »Trauma und Übertragung«, in: Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen 66, S. 1102-1117. King, Sarah (2015): Dynamische Synchronisation: Zusammenhänge mit inhaltlichen Themen und Emotionen in der psychotherapeutischen Interaktion, Masterarbeit, Universität Bern. Klüwer, Rolf (2001): »Szene, Handlungsdialog (Enactment) und Verstehen«, in: Werner Bohleber/ Sibylle Drews (Hg.), Die Gegenwart der Psychoanalyse – die Psychoanalyse der Gegenwart, Stuttgart: Klett-Cotta, S. 347-358 Lachauer, Rudolf (1990): »Die Bedeutung des Handlungsdialogs für den therapeutischen Prozeß«, in: Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen 44, S. 1082-1099. Laub, Dori/Hamburger, Andreas (im Druck): Psychoanalysis, social trauma and testimony: Unwanted memory and the Holocaust, London: Routledge. Lepper, Georgia (2009): »The pragmatics of therapeutic interaction: An empirical study«, in: The International Journal of Psychoanalysis 90 (5), S. 10751094. Lorenzer, Alfred (1968): »Methodologische Probleme der Untersuchung traumatischer Neurosen«, in: Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen 22, S. 861-874. Lorenzer, Alfred (1983): »Sprache, Lebenspraxis und szenisches Verstehen in der psychoanalytischen Therapie«, in: Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen 37, S. 97-115. Marcus, George E (1995): »Ethnography in/of the world system: The emergence of multi-sited ethnography«, in: Annual Review of Anthropology 24, S. 95117. Mergenthaler, Erhard (1992): Die Transkription von Gesprächen: Eine Zusammenstellung von Regeln mit einem Beispieltranskript, Ulm: Universitätsverlag.

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Handlungsdialoge Bewegungsanalytische Perspektiven auf ein Zeitzeugengespräch V ERONIKA H ELLER

Der folgende Beitrag vermittelt bewegungsanalytische Zugänge zu einem narrativen Interview mit einer jüdischen Überlebenden der Shoah. Das Ziel ist es, die Bewegungswirklichkeit in ihrer Unabgeschlossenheit und Vieldeutigkeit zu beleuchten und in den Kontext der Erinnerungen zu stellen. Anhand eines knapp 30 Sekunden langen Gesprächsausschnitts wird nachvollzogen, wie sich in Passung und Synchronisierung Resonanz gestaltet und den Erinnerungsprozess prägt.

Keywords: Bewegungsanalyse; Holocaust Survivor Testimony; LMA; NEUROGES; Synchronisierung

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1 E INLEITUNG Frau K wurde 1927 in Polen geboren. Als Jüdin überlebte sie das Getto Litzmanstadt, Ausschwitz-Birkenau und Bergen-Belsen. Im Rahmen des Projekts Szenisches Erinnern der Shoah (2012 - 2015) berichtet sie – wie auch vier weitere Zeitzeugen – dem jüdischen1 Psychoanalytiker Kurt Grünberg aus ihrer Lebensgeschichte. Gut anderthalb Stunden des Gesprächs wurden mit einer von Grünberg positionierten Kamera im Wohnzimmer von Frau K aufgenommen. Diese Aufzeichnung bildet die Grundlage folgenden Beitrags, der den kinetischen Austausch innerhalb der Dyade in den Mittelpunkt der Betrachtung rückt.2 Es ist freilich nicht ganz unproblematisch, ein Zeitzeugengespräch unter der Perspektive der Körperhaftigkeit zu besprechen, wie überhaupt schon die Aufzeichnungen von Testimonies etwa durch die Shoah Foundation als Dokumentation entblößter Leiblichkeit problematisiert wurde (vgl. Michaelis 2013: 205ff). Gerade im leibhaftigen In-Erscheinung-Treten der Überlebenden und ihrer Gesprächspartner liegen jedoch besondere Chancen der Begegnung und des Verstehens. Nicht umsonst gewinnen Videoanalysen von Oral History an Bedeutung und bilden zunehmend einen festen Bestandteil schulischen Lernens zum Holocaust. Rückt man den vitalen Austausch als Fundament eines Dialogs in den Fokus, so heißt dies auch, den Anteil der Bewegungsdynamik an der Entstehung von Sinn und Bedeutung anzuerkennen. Dieser Gedanke ist keinesfalls ganz neu. Stern etwa konstatiert eine fundamentale Intersubjektivität und Leiblichkeit menschlicher Erfahrung. Ausgehend von – bereits im Säuglingsalter etablierten – Interaktions- und Austauschprozessen, beschreibt er Improvisationsstrukturen im Verhalten und Erleben, die über Formgebung, Rhythmus und Intensität von

1

Ich verweise hier deshalb auf die jüdische Herkunft, weil sie im Forschungsprojekt Szenisches Erinnern der Shoah. Zur transgenerationalen Tradierung extremen Traumas in Deutschland eine zentrale Kategorie bildet. Sie ist hier auch deshalb von Belang, weil die Gesprächspartner sich als Erinnerungsgemeinschaft verstehen, deren Beziehung weit über die Interviewsituation hinausreicht (vgl. Grünberg/Markert 2013, 2015; Bleimling in diesem Band).

2

Die Arbeit ist eingebettet in die enge interdisziplinäre Zusammenarbeit der Fachbereiche Tanzwissenschaft und Erziehungswissenschaft der FU und der IPU Berlin. Unterschiedliche Korpora werden von den Forschenden auf relevante Momente hin untersucht.

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Bewegungsabläufen erfolgen und menschliche Erfahrung zeitlebens prägen werden (vgl. Stern 1998, 2005). Aus einer solchen Perspektive heraus wird ein Gespräch zum Handlungsdialog, in dem Vermitteln und Verstehen situiert sind in der Zwischenleiblichkeit des konkreten Interaktionsgeschehens. Im Folgenden wird der körpersprachliche Austausch zwischen Frau K und Kurt Grünberg am Beispiel einer ausgewählten Sequenz genauer betrachtet. Ich möchte zunächst die Sequenz anhand des Transkripts vorstellen und herausarbeiten, wie Frau K ihre Erinnerung nonverbal als Anliegen an den Gesprächspartner vorbringt. Die Mehrdeutigkeit des Anliegens führt, wie weiterhin zu zeigen ist, zu Irritationen und wechselseitigen Versuchen, die interpersonale Balance wiederherzustellen. Anhand der dabei verlaufenden Synchronisierungs- und Angleichungsprozesse wird schließlich dargelegt, wie Erinnern hier zum gemeinsamen Projekt wird, das sich als Handlungsdialog mit einer deutlichen Steigerungsdynamik und einem klaren Abschluss entfaltet. Dieser Angleichungsprozess entpuppt sich, so möchte ich zeigen, als gemeinsames Engagement und darf schließlich auch als Beitrag zur Resonanz gelesen werden.

2 D ER R ETTUNGSVERSUCH DES C OUSINS : N ONVERBALE ASPEKTE DES E RINNERNS – ANLIEGEN VON F RAU K Es ist etwas Fragmentarisches, das den Erzählungen von Frau K anhaftet und so sind es auch nur gut dreißig Sekunden, in denen jene Begebenheit thematisiert wird, die vom Gesprächspartner (KG) später als Rettungsversuch ihres Cousins erinnert wird.3 Sie berichtet zunächst von den Gräueln der Gestapo und kommt dann recht unvermittelt auf den Verwandten zu sprechen: Frau K:

3

Damals war das Schlimmste (? der) Gestapo ist gekommen alle mussten raus. Was die haben gemacht mit die Kinder! Wenn ich sehe noch das Bild. Ich war doch jung, dann kann ich nicht einschlafen. Die haben Kinder genommen geschmissen. Kleine Kinder geschmissen (? wenn einer hat schon) äh mein Cousin ist krank geworden. Der hat gearbeitet, ist krank geworden, ist in Krankenhaus.

Bleimling nimmt u.a. hermeneutische Einschätzungen des Gesprächs vor, darunter eine retrospektive Auswertung des Gesprächs durch Kurt Grünberg und Friedrich Markert (Bleimling 2016: 109).

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KG: Frau K:

KG: Frau K: KG: Frau K: KG: Frau K:

Der war auch noch ein junger Kerl und der wollte run rüber springen. Es hat nicht gelungen, der ist auch nicht zurückgekommen. Der wollte rüber springen heißt? von von äh zweiten Stock von Krankenhaus ist er runter gesprungen und den hab ich nicht mehr gesehen. Ein junger Kerl. Damals… Er wollte sich damit, er wollte sich retten damit und ist aber dabei ums Leben gekommen. retten retten der wollte sich retten. hmhm Ich kann mich erinnern hmhm ich hab noch einen einen kleinen Bruder gehabt. Der ist ge- geboren siebenunddreissigsten jo- Jahr. siebenunddreissig.

Es ist Frau K, die hier – wie meist – das Thema einführt. Indem die Hände in Kontakt gebracht, Brustkorb und Handflächen auf einander zu bewegt werden, wird der Gestenraum in eins verkleinert und geschlossen. Die Annährung von Händen und Sternum verweisen so subtil auf das Selbst4: mein Cousin ist krank geworden. In der Umgrenzung und Markierung eines im Brustraum lokalisierten Ich bzw. Mein wird die Betroffenheit als persönlicher Belang in Abgrenzung zum Gegenüber betont. Der Blick wird abgewendet und der Gesprächspartner bleibt außen vor. Es scheint damit zunächst die Exklusivität einer persönlichen Erfahrung zu dominieren. Diese wird jedoch unmittelbar und mit einigen Erläuterungen (der war auch noch ein junger Kerl und es hat nicht gelungen, der ist auch nicht zurückgekommen) für Grünberg zugänglich gemacht. Die eigentliche dialogische Relevanz erfährt das Gesagte dabei körpersprachlich in einer deutlichen Annährungsbewegung. Im Gegensatz zu bloßen Richtungsbewegungen der Arme, etwa um nach einem Gegenstand zu greifen, wurde die affektive Komponente dieser einseitig gerichteten Körperbewegung hervorgehoben (Kestenberg-Amighi et al. 1999: 129). Folgt man der gängigen Interpretation des Kestenberg Movement Profiles (KMP), so vollzieht sich hier eine wesentliche Dimension nonverbaler Beziehungsgestaltung.5 Denn so offen auch der Bedeutungshorizont dieser Bewegung sein mag, so bleibt sie doch eine Annäherung ans Gegenüber.

4

Menschen lokalisieren ihr Selbst in der Regel im Bereich des Sternums. Zeigegesten auf andere Stellen am eigenen Körper bedeuten hingegen eine spezifische Körperteilbesetzung, wobei dann meist der Blick dem Angezeigten folgt. Ich verdanke diesen Hinweis Hedda Lausberg.

5

So vielfach übermittelt, vgl. Kestenberg-Amighi et al. 1999 und Bender 2010.

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Das Anliegen, das Frau K dabei nonverbal transportiert, hat zudem eine konzeptionelle Dimension. Frau K zeigt ihre Handflächen und damit die Geste der leeren Hände, die sich unschwer als Präsentation einer Vakanz lesen lässt. Die Hände werden rotiert und in einer repetitiven Bewegung scheint schließlich ein Raum zu entstehen, dessen Labilität sich in einer kontinuierlichen Verschiebung nach außen vermittelt. Es ist der Entwurf einer Entgrenzung, in der auch die Finger noch auseinandergebracht werden und nichts mehr zu fassen vermögen. Was sollte hierin zum Ausdruck kommen, wenn nicht die buchstäbliche Unfassbarkeit im Schicksal des Cousins? Mit dieser konfrontiert Frau K ihren Gesprächspartner, der durch die öffnende Qualität der Armführung nun körperlich und räumlich einbezogen wird, so dass der fragwürdig gebliebene Verbleib des Cousins zur Angelegenheit im Hier und Jetzt wird. Nicht etwa wären die Erinnerungen an den verschollenen Cousin per se unbestimmter als andere Lebensbilder von Frau K, auch scheint das Schicksal dieses jungen Verwandten nicht vager als das jener anderen, die im Gespräch Erwähnung finden. Die Affektmotorik im Vorstreben und Öffnen der Körperfront, die so augenscheinlich auf Grünberg gerichtet ist, wirkt als Aufforderung, der Sache nachzugehen. Es ist an der Zeit, in den Dialog einzutreten.

3 D EUTEN UND B EDEUTEN : I NTRA- UND I NTERPERSONELLE D ISKREPANZEN Lausberg hat wiederholt auf die Funktion von Körpersprache hingewiesen.6 Bewegungen sind demnach weder zufällig noch redundant. Sie spiegeln nicht nur kognitive, emotionale und intersubjektive Prozesse, sondern befördern diese und sind selbst Teil des Verstehens und Entwickelns von Gedanken. Allerdings fungiert Körpersprache dabei, wie Lausberg herausstellt, als von der verbalen Sprache durchaus unabhängiges Ausdrucksvermögen. So werden gestisch auch Informationen vermittelt, die über die verbalen Angaben hinausweisen und potentiell in Diskrepanz zum Gesagten treten können (vgl. Lausberg 2013). Betrachten wir daraufhin die Interaktionssequenz von Frau K und Kurt Grünberg erneut. Einiges spricht dafür, dass Frau K den Sachverhalt verbal bereits

6

Einen umfassenden Überblick zum Stand empirischer Gestenforschung gibt Lausberg 2013.

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abschließend dargelegt hat.7 Andererseits signalisiert sie, wie ich zu zeigen versucht habe, nachdrücklich die Unabgeschlossenheit der Angelegenheit und die Bereitschaft, diese mit dem Gesprächspartner zu teilen. Sie vermittelt so zumindest eine Mehrdeutigkeit, die Grünberg zu einer Nachfrage veranlasst: rüberspringen heißt? In Grünbergs Sprachbegleitmotorik begegnet hier eine schlaufenförmige, auswärts gerichtete Bewegung auf der sagittalen Fläche. Ein ähnliches Element zeigte auch Frau K im Zusammenhang mit dem Motiv des Rüberspringens (vgl. Tab. 1; Zeilen 2, 4) 8. In der NEUROGES – Klassifikation (Lausberg 2016a) wird dieses Element als motion quality codiert, da die Art und Weise, das Wie der Bewegung als sinngebendes Element zu dominieren scheint. Hierzu lassen sich wenigstens zwei Lesarten diskutieren. Es ist nicht ganz abwegig, dass sich auch Grünberg etwas von der transmodalen Diskrepanz im Ausdruck von Frau K mitteilt und dass er grade diese Ambiguität als Klärungsbedarf zurückgibt. Er tut dies, indem er in modifizierter Form das gestische Motiv des Rüberspringens von Frau K wieder aufnimmt und so ihrer Verknüpfung von Geste und Begriff folgt. Tatsächlich scheint die mentale Repräsentation der Dynamik, wie sie sich im Bewegungsausdruck zeigt, bei Frau K eng mit dem Erinnerungsprozess selbst verknüpft, schließlich bleibt die Koppelung Begriff-Bewegungselement sogar mit veränderter Körperteilbesetzung und neuer Platzierung im Gestenraum über den Dialog hinweg erhalten (vgl. Tab. 1; Zeile 6). Freilich ohne dass er bereits ein eigenes Konzept des Geschehens entwickeln konnte, spiegelt und übernimmt Grünberg das Element. Gemäß einer weiteren Lesart lässt sich in Grünbergs Motiv eine zusätzliche Komponente ausmachen. In der Bewegung tritt demnach eine besondere Linienführung, ein Bogen hervor, der auf die Repräsentation des »Rüberspringens« hindeutet. Grundsätzlich dominieren in dieser Lesart räumliche Komponenten, die sich zuspitzen ließen zu der unausgesprochenen Frage, worüber der Cousin denn gesprungen sei.

7

Diskutiert man den Dialog vom Ende her, so fällt auf, dass in der etwa 30 Sekunden langen Sequenz keine wesentlichen Erläuterungen mehr erfolgen. Im Abwenden von Blick und Körperfront scheinen vielmehr deutliche Signale durch Frau K gesetzt, das Thema zu beschließen.

8

Ein bekanntes Problem der bewegungsanalytischen Forschung ist die uneinheitliche Verwendung der Bezeichnungen. Aus diesem Grunde werden die aus dem NEUROGES-Analysesystem übernommenen Begriffe beibehalten und nicht ins Deutsche übertragen.

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Tabelle 1: Transkript mit Sprachbegleitbewegungen NEUROGES- Klassifikation Interviewer Kurt Grünberg Transkript

Geste: Funktion/Typus

1

Mein Cousin ist krank geworden. Der hat gearbeitet, ist krank geworden, ist in Krankenhaus.

reduction of the gesture space both hands (bh) act as a unit [modified egocentric deictic]

2

Der war auch noch bh motion presentation ein junger Kerl und in body midline der wollte run rüber springen.

3

Es hat nicht gelungen, der ist auch nicht zurückgekommen

forward to Grünberg with bh emphasis [opening with palm out]

von von

rh deictic [right, up, forward]

Transkript

4

Geste: Funktion/Typus

Interviewte Frau K

Der wollte rüber Right hand (rh) motion springen heißt? presentation/ route? emphasis: palm out

5 6

Left hand (lh): Spontaneous facial self-touch gesture (sFSTG)

äh zweiten Stock von rh: motion presentation Krankenhaus [target location: right, up, forward]

7

lh: sFSTG

ist er runter gesprungen

8

Retraction

und den hab ich Forward to Grünberg; nicht mehr gesehen. bh emphasis opening with palm out

9

Ein junger Kerl.

10

Spatial relation: route up - down

Emphasis: superimposed lh transport

11

Er wollte sich damit

Damals.

lh aborted/ anti-gravity position

12

er wollte sich rh: motion retten damit und presentation ist aber dabei emphasis palm out ums Leben gekommen.

retten retten der wollte sich retten.

lh emphasis: baton, superimposed [effort: strong, direct, bound, quick]

13

Hmmm

Shape flow

Shape flow

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Tatsächlich reagiert Frau K nun mit der Präzisierung ortsbezogener Angaben, so etwa in der deiktischen Geste mit der sie nach oben rechts deutet (und blickt) und damit zu erkennen gibt, wie sie das Geschehen verortet (vgl. Tab. 1, Zeilen 5, 6). Grünberg reagiert mit einer spontanen, gesichtsbezogenen Selbstberührung (sFSTG).9 Man darf annehmen, dass es dem Psychoanalytiker in seiner Verständnisfrage um einen hermeneutischen Zugang zum Geschehen und weniger um lokale Details geht. Dieser Logik entsprechend, übernimmt er – während Frau K Signale setzt, das Thema abzuschließen – schlussendlich selbst die Deutungsinitiative. Eine Intervention, die bei Frau K für deutliche Irritation sorgt: Sie unterbricht ihre Äußerung, die unvollendet bleiben wird (vgl. Tab. 1, Zeilen 10, 11). Die Bewegung stockt und der gestikulierende Arm wird gegen die Schwerkraft gehalten bis schließlich eine Re-Orientierung am Gegenüber erfolgt ist und die Gestikulation wiederaufgenommen wird. Während zuvor die Diskrepanz intrapersonal im Spannungsfeld von Explizitem und Impliziten bei Frau K verortet war und von Grünberg thematisiert wird, kommt es nun zu einem Bruch, der zwischenleiblich situiert ist: Die Einlassung Grünbergs unterbricht Frau K, so dass der Strom ihres Verhaltens abbricht und intentional neu ausgerichtet werden muss. An Grünberg orientiert, nimmt sie schließlich mit gesteigertem Antrieb die Gestikulation wieder auf.10 Ihre repetitive vertikale Bewegung entspricht nun dem rhythmisierenden Gestentypus, den Efron unter dem Namen baton beschrieben hat. Bei Lausberg heißt es hierzu: »Batons are up-down movements of the lower arm with a downward accent. They are often displayed repetitively. The repetitive batons create a metre or a rhythm. In phasic batons, the single accent emphasizes a certain aspect of the verbal message. Batons are displayed in synchrony with the prosody.« (Lausberg 2016b: 103)

9

Unter dem Begriff shielding werden Selbstberührungen als Mechanismus der Eigenregulation seit langem diskutiert. Bei Freedman und Grand heißt es: »Any time there is a major assault on the integrity of the psychic apparatus, shielding is likely to become dominant in the communicative situation« (Freedman/Grand 1985: 356). Unlängst haben Grunwald et al. mit Analysen hirnelektrischer Aktivität vor und nach dem Auftreten spontaner Gesichtsberührungen (sFSTG) gezeigt, dass diese Form der Eigenstimulation dem Ausgleich emotionaler Dysbalancen sowie der Informationsverarbeitung dient (vgl. Grunwald et al. 2014).

10 kraftvoll, gebunden; vgl. hierzu die Antriebslehre des Rudolf von Laban, u.a. in Kennedy 2013 und Bender 2010.

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Augenfällig ist, dass Frau K nun den Deutungsansatz des Gesprächspartners körpersprachlich mit Nachdruck versieht und vehement bestätigt. Sie bejaht und bekräftigt damit eine Interpretation deren Urheberschaft überwiegend auf Seiten Grünbergs liegt: Er wollte sich retten. Hackney schreibt: »Every movement is a whole system, highly orchestrated with interactive elements of Body, Effort, Shape and Space« (Hackney 2002: 44). In einem subtilen Zusammenspiel von Tempo, Intensität und räumlicher Gestalt fungieren diese Größen in der Interaktion im permanenten AufeinanderWirken. Und so fein der gelungene Ausdruck orchestriert ist in einem Vielklang dieser Elemente, so subtil erfolgt auch die Abstimmung zwischen den Interaktanten, in der jedes Verhalten einen Horizont an Möglichkeiten des Verstehens und Reagierens eröffnet, in dem auch der Sinn nie vollständig festzulegen wäre, sondern unbestimmbar bleiben muss und sich letztlich erst als Akt der gelungenen Balancierung erweist im Einvernehmen von Aktion und Reaktion. Hier scheint nun die interpersonelle Balance wiederhergestellt und die Interaktanten geraten vorübergehend in eine völlige Gleichartigkeit ihrer Bewegungen. Dieser Einklang im Bewegungsverhalten stellt den Höhepunkt eines Prozesses dar, der sich, wie ich im Folgenden zeigen möchte, bereits über die gesamte Sequenz als Synchronisierung abgebahnt hat.

4 S YNCHRONISATION UND STRUKTURELLE ANGLEICHUNG DER G ESTIKULATION Bereits die qualitativen Bewegungsanalysen der kurzen Interaktionssequenz von Frau K und Kurt Grünberg zum Schicksal des, wohl im Ghetto Lodsch auf unbestimmte Weise ums Leben gekommenen Verwandten, legen nahe, dass die Gesprächspartner sich auf einander ein- und abstimmen. Dieser Befund wird durch das quantitative Verfahren der Motion Energy Analysis (MEA) gestützt. Die von Ramseyer (2010) entwickelte Methode erlaubt die automatische Erfassung von Farbwertveränderungen in der Videoaufzeichnung. Da diese Veränderungen zumeist auf Bewegungen beruhen, kann das Ausmaß an Bilddifferenzen als eine Größenordnung für Körperbewegungen gelten. Dazu werden im Video Bereiche, in denen Personen lokalisiert sind, manuell markiert. Für diese Bereiche berechnet die Software Bild für Bild die Menge der Grauwertänderungen. Die so für die Personenbereiche erhobenen Zeitreihen werden korreliert und der Koeffizient gilt als Maß ihrer Synchronisation. Mit diesem Verfahren konnte etwa gezeigt werden, dass Synchronisation mit psychotherapeutisch relevanten Parametern wie Beziehungsqualität und Therapieerfolg positiv korreliert (ebd.: 5).

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Ramseyer, der die sogenannte Szene 1 und damit etwa sieben Minuten des Gesprächs von Kurt Grünberg und Frau K einer MEA-Analyse unterzieht, kennzeichnet die dreißig Sekunden, die sich mit der hier behandelten Episode weitestgehend decken, als stark synchron.11 In Abbildung 1 entspricht diese Stelle in etwa dem farbig unterlegten Abschnitt im Diagramm. Schramek kommt auf Basis des Datensatzes von Bleimling zu ähnlichem Ergebnis, wobei er gut zwanzig Minuten als Vergleichswerte heranzieht.12 Was besagt das? Vorerst lässt sich lediglich festhalten, dass Frau K und Kurt Grünberg im Austausch über den Cousin körperlich verstärkt gleichzeitig oder in zeitlich dichterer Aufeinanderfolge agieren, als sie dies in vergleichbaren Gesprächsabschnitten tun. Sie geben vermehrt Aktivitäten zu erkennen, die zudem zeitlich aufeinander abgestimmt sind. Betrachtet man die als zeitgleich identifizierten Bewegungen, sogenannte overlaps genauer (Abb. 1)13, indem man den von Lausberg vorgeschlagenen Aufbau konzeptioneller Gesten in die Analyse einbezieht (Lausberg 2016a), so fällt ein kontinuierlicher Angleichungsprozess auf. Komplexe Gesten haben eine dreigliedrige Struktur: Eingeleitet von der sogenannten transport phase erfolgt die complex phase als das Substrat der Geste, die schließlich mit einer retraction phase abgeschlossen wird. Während transport und retraction, etwa im bloßen Heben, Strecken oder Senkens eines Armes, als Vor- und Nachbereitung fungieren, vermittelt die räumlich-zeitliche Gestaltung der complex phase die eigentliche Intention, also das Zeigen, Greifen oder Bedeuten selbst (vgl. Lausberg 2016a: 21f). Was im Handlungsdialog zwischen Frau K und Kurt Grünberg auf dem MEA-Plot als sichtbare Überlappung erscheint, sind zunächst Vorbereitungsund Rückzugsbewegungen ohne intentionalen Gehalt (vgl. Anmerkungen in Abb. 1).14 So entsteht phänomenologisch auch weniger der Eindruck von Gleichzeitigkeit, als der eines wohlkoordinierten Nacheinander im Sprecherwechsel.

11 So Ramseyer mündlich auf der PICOR, Berlin 2015. 12 Ich danke Rolf Schramek für die mathematische Hilfestellung und ganz besonders Jasmin Bleimling für die Erhebung der zugrundeliegenden Daten durch MEA. 13 Als overlaps wurden jene Abschnitte auf der Zeitachse (time in frames) untersucht, in denen sowohl die Bewegungsmenge von Frau K (grüner Plot) als auch die von Kurt Grünberg (roter Plot) positive Ausschläge aufwiesen (vgl. Abb.1). 14 Ich möchte an dieser Stelle auf den ausstehenden Methoden-Vergleich verzichten.

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Abbildung 1: Bewegungsmenge auf MEA-Basis

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Im Verlauf des Dialogs treten allerdings kontinuierlich zunehmend Überschneidungen der intentionalen Anteile auf, die auch qualitativ mehr und mehr in Deckung gebracht werden. Die letzte Überlappung ist schließlich durch Übereinstimmung in Fokus und Funktion der Gesten gekennzeichnet und bildet somit die eigentliche Klimax im Angleichungsprozess (vgl. Tab. 1, Zeile 13). Es bleibt darauf hinzuweisen, dass diese Gleichartigkeit sich auch in der durch die MEA gemessenen Bewegungsmenge noch derart darstellt, dass die Plots vorübergehend auf identischer Linie zu verlaufen scheinen (vgl. Abb. 1). In der Analyse stellt sich der Prozess des Erinnerns der Frau K hier als ein Handlungsdialog mit Kurt Grünberg dar, der sich als dynamischer Angleichungsprozess mit einem deutlichen Höhepunkt entpuppt. Bleimling legt das Geschehen wie folgt dar: »Die Erzählung beruhigt sich, als Fr. K von ihrem Cousin berichtet, ›der wollte rüberspringen‹ wird undeutlich in rollende Handbewegungen verpackt. Der Interviewer scheint verwirrt zu sein, zeigt und fragt, welches das Motiv dieses ›Rüberspringens‹ gewesen sei. Fr. K antwortet auf seine Frage hin vorbei, dass er vom zweiten Stock runtersprang und lässt die Interpretation dem Interviewer offen, indem sie eine ausladende Geste mit der Hand macht ›den habe ich nicht mehr gesehen‹. Der Interviewer denkt nach, fasst sich an den Mund und kommt dann, wie der Deutungs-Einladung von Fr. K folgend, auf die Erklärung, dass der Cousin sich mit seinem Sprung nicht das Leben nehmen, sondern retten wollte. Fr. K nickt und wiederholt das Wort ›retten‹, sodass sich am Ende der Sequenz beide auf diese Version der Geschichte ›einigen‹. Auch in der Retrospektive erinnert sich der Interviewer ausschließlich an diese Version der Geschichte, eine alternative Deutung wird ausgelassen.« (Bleimling 2016: 109)

Die Einigung, die Bleimling ganz zu Recht feststellt, kündigt sich bereits im wechselseitigen Prozess der Angleichung an, der zunächst von Irritationen und Dissonanzen bestimmt ist, sie vollzieht sich schließlich im augenblickhaft geteilten Rhythmus des gleichartigen Agierens. Blicken wir zurück und rücken die Erinnerungen in den Kontext des Gesprächs (vgl. Transkript), so erfolgen diese als abrupter Einschub, als Frau K schreckliche Bilder vor Augen hat. Sie dient der Konkretisierung unbeschreiblicher Auswirkungen des Nazi-Regimes, die nun sie ganz persönlich betreffen. Ihre Botschaft war zunächst: Das ist unbegreiflich und sie ist bereit, genau diese Erfahrung mit Kurt Grünberg zu teilen. Dabei zeigt sie kein Bestreben, die Erzählgestalt sinnhaft abzuschließen. Erst durch Grünbergs Initiative erfährt das Schicksal des Cousins seine Deutungsart: Das Geschehene ist nicht weiter un-

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klar, sondern wird nachvollziehbar als der menschliche und verständliche Versuch, sich zu retten. An die Stelle der Unfassbarkeit ist eine Erklärung getreten.

5 Z UR R ESONANZ : E IN F AZIT Bisher stehen systematische Untersuchungen leiblicher Resonanz in Zeitzeugengesprächen aus. Es spricht sicher einiges dafür, interpersonelle Resonanz als Einflussfaktor auf das, was und wie es erinnert wird, zu begreifen. In ihrem Lehrbuch zur Bewegungsanalyse schreiben Trautmann-Voigt et al.: »Resonanz vollzieht sich durch Passung und Synchronisierung, beide sind Fähigkeiten, die mit einer grundlegenden Fähigkeit und Bereitschaft zur emotionalen Abstimmung auf ein Gegenüber zu tun haben« (Trautmann-Voigt et al. 2012: 97). Im Handlungsdialog zum Rettungsversuch des Cousins ließen sich eine Vielzahl von Akten wechselseitiger Anpassung feststellen, während sich die Gesprächspartner auf ein Moment nahezu vollständiger kinetischer Übereinstimmung hin synchronisierten. Dabei zeigten sich gerade im Umgang mit inter- und intrapersonalen Irritationen und Brüchen die Fähigkeiten von Grünberg und seiner Gesprächspartnerin, sich aufeinander einzulassen. Etymologisch verweist der Begriff Resonanz auch auf ein Echo, den Wiederhall. Warum gerade diese kurze Sequenz retrospektiv als bedeutsam erinnert wird, mag zunächst erstaunt haben, erschließt sich nun jedoch daraus, dass das Narrativ erst in der Interaktion Gestalt annahm und abgeschlossen werden konnte. Damit liegt die nachträgliche Relevanz der Erinnerung hier freilich weniger in der persönlichen Betroffenheit der Zeitzeugin, als vielmehr in der Bedeutung des gemeinsamen Handelns beider Gesprächspartner. Das Beispiel des Erinnerns an den Cousin von Frau K verweist so vielleicht auch auf den Stellenwert zwischenmenschlicher Resonanz in der Vermittlung wider das Vergessen.

6 L ITERATUR Bender, Susanne (2010): Die psychophysische Bedeutung der Bewegung: Ein Handbuch der Laban-Bewegungsanalyse und des Kestenberg-MovementProfiles, Berlin: Logos-Verlag. Bleimling, Jasmin (2016): Gegenübertragung und soziales Trauma: Eine Mikroanalyse des szenischen Erinnerns der Shoah in videographierten Zeitzeugengesprächen. Unveröffentlichte Dissertation, LMU München.

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Freedman, Norbert/Grand, Stanley (1985): »Shielding an associative organizer«, in: George Sticker/Robert Keisner (Hg.), From research to clinical practice The implications of social and developmental research for psychotherapy, New York/London: Plenum Press, S. 353-374. Grünberg, Kurt/Markert, Friedrich (2013): »Todesmarsch und Grabeswanderung – Szenisches Erinnern der Shoah: Ein Beitrag zur transgenerationalen Tradierung extremen Traumas in Deutschland«, in: Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen 67, S. 1071-1099. Grünberg, Kurt/Markert, Friedrich (2015): Szenisches Erinnern der Shoah: Zur transgenerationalen Tradierung extremen Traumas in Deutschland. Abschlussbericht zum Forschungsprojekt. Unter Mitarbeit von Lena Dierker. Sigmund-Freud-Institut Frankfurt/M. Grunwald, Martin/Weiss, Thomas/Mueller, Stephanie/Rall, Lysann (2014): »EEG changes caused by spontaneous facial self-touch may represent emotion regulating processes and working memory maintenance«, in: Brain Research 1557, S. 111-126. Hackney, Peggy (2002): Making connections. Total body integration through Bartenieff Fundamentals, New York: Gordon & Breach. Kennedy, Antja (Hg.) (2013): Bewegtes Wissen: Laban/Bartenieff-Bewegungsstudien verstehen und erleben, Berlin: Logos. Kestenberg-Amighi, Janet/Loman, Susan/Lewis, Penny/Sossin, Mark (1999): The meaning of movement: Developmental and clinical perspectives of the Kestenberg-Movement-Profile, Amsterdam: Gordon & Breach. Lausberg, Hedda (Hg.) (2013): Understanding body movement: A guide to empirical research on nonverbal behaviour. With an introduction to the NEUROGES-Coding System, Frankfurt: Peter Lang. Lausberg, Hedda (2016a): NEUROGES-Coding Manual. Modules I and II.1. NEUROGES Training 2016. Lausberg, Hedda (2016b): NEUROGES - Coding Maunal. Modules II.2 and III. NEUROGES Training 2016. Michaelis, Andree (2013): Erzählräume nach Auschwitz: Literarische und videographierte Zeugnisse von Überlebenden der Shoah, Berlin: Akademie-Verlag. Ramseyer, Fabian (2010): Synchronisation nonverbaler Interaktion in der Psychotherapie. Inauguraldissertation der Philosophisch-Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität Bern.

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Stern, Daniel N (1998): »Now Moments, implizites Wissen und Vitalitätskonturen als neue Basis für psychotherapeutische Modellbildungen«, in: Sabine Trautmann-Voigt/Martin Dornes (Hg), Bewegung ins Unbewußte: Beiträge zur Säuglingsforschung und analytischen Körper-Psychotherapie, Frankfurt/ Main: Brandes & Apsel, S. 82-96. Stern, Daniel N (2005): Der Gegenwartsmoment: Veränderungsprozesse in Psychoanalyse, Psychotherapie und Alltag. Frankfurt/Main: Brandes & Apsel. Trautmann-Voigt, Sabine/Voigt, Bernd/Wöller, Wolfgang/Sachsse, Ulrich (2012): Grammatik der Körpersprache: Ein integratives Lehr- und Arbeitsbuch zum Embodiment, Stuttgart: Schattauer.

6 Resonanz in ästhetischer Erfahrung: Tanz, Bild und Filmmusik

Synchronisierungen von Bewegungen im zeitgenössischen Tanz Zur Relevanz von somatischen Praktiken in den Arbeiten von Jefta van Dinther G ABRIELE B RANDSTETTER

Im Aufsatz wird die Frage gestellt, in welcher Weise die Qualität von Bewegungen und die Art und Weise von Bewegungssynchronisationen im zeitgenössischen Tanz durch die Arbeit mit somatischen Praktiken beeinflusst wird. Die Analyse gilt sowohl der Mikroebene von Bewegung durch Synchronisierungen von intrakorporalen Prozessen somatischer Praktiken als auch den interkorporalen Praktiken zwischen Tänzern im Verlauf einer Choreographie. Am Beispiel von Jefta van Dinthers Stück »Kneeding« werden Überlegungen angestellt zur Relevanz und Betrachter-Resonanz von »now moments« (Stern 2004).

Keywords: De/Synchronisierung; somatische Praktiken; embodied rhythms; kinesthetic empathy; entrainment; Bewegungsresonanz im Tanz

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1 S Y N C H R O N I S AT I ON

IM

T AN Z

UND

» N OW

M OM E N T S «

Rhythmische Bewegung, ihre Abstimmungen in der Interaktion von zwei oder mehreren Beteiligten, geschieht durch Prozesse von Synchronisierungen. Der Begriff Synchronisation stammt aus der Physik und Forschungen zu komplexen nichtlinearen Systemen (Pikovsky/Rosenblum/Kurths 2003). Allgemeiner gefasst – und in dieser Weise übertragbar auf Rhythmus- und Resonanzprozesse im Tanz – versteht man unter Synchronisierung einen Vorgang, bei dem mehrere Elemente oder Systeme mit distinkten rhythmischen Eigenzeiten einander wechselseitig so beeinflussen, dass sie einen rhythmischen Zusammenhang – ein rhythmisches Gleich-Schwingen etablieren. Dieser Zusammenhang kann in einer ähnlichen, im Extremfall gleich erscheinenden Zeitlichkeit bestehen (synchronicity) oder auch in einem temporär stabilisierten Muster differenter Rhythmen (polyrhythmicity oder polychronicity). Auch bei starker Annäherung der jeweiligen Rhythmen bringt die Abstimmung durch Synchronisierung jedoch keine exakte und dauerhafte Vereinheitlichung. Auch wenn sich für den Beobachter der Eindruck eines perfekten unisono – in der Musik, oder im Tanz – einstellt, so ist doch für eine Definition und Untersuchung von Phänomen der Synchronisierung entscheidend, dass Synchronisierungen nur kurz- oder mittelfristige rhythmische Gestalten etablieren. Und: dass Brüche, In and Out of Sync, (Brandstetter 2015), oder gleitende Differenzierungen von De-Synchronisierungen wesentlichen Anteil an den zeitlichen, materiellen, körperlichen und sensorischen Abstimmungsvorgängen in Bewegung haben (Condon 1982). Im Kontext der Forschungen der interdisziplinären Arbeitsgruppe (Buchho/Hamburger/Reich/Wulf) zu Fragen und Methodologien der Interaktionsanalyse und Untersuchungen zur interaktionalen Relevanz von now moments (Stern 2005) zielt der Beitrag aus der Tanzwissenschaft darauf, über Bewegungsanalyse von Tanzperformances Modelle bereitzustellen, die jene Resonanz-Momente, Zäsuren und De-Synchronisierungen in Bewegungs-Interaktionen bestimmen lassen, die als now moments bzw. als Begegnungs-Momente (Stern 2005) erfahren werden. Am Beispiel einer Performance des zeitgenössischen Tänzers und Choreographen Jefta van Dinther, Kneeding (2010) sollen Synchronisierungen und DeSynchronisierungen zwischen den drei beteiligten Tänzern betrachtet werden mit der Frage, in welcher Weise diese rhythmischen Resonanzen verlaufen, und in welcher Weise Mikrosynchronisierungen von Körperprozessen wie sie in den sogenannten somatics (Hanna 1980, 1995) praktiziert werden, darauf Einfluss haben. Kann man die Interaktionen der Tänzer und ihre Synchronisierungen in Analogie zu now moments in der Gesprächs-Interaktion beschreiben?

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Und wie werden sie als herausgehobene Momente der Begegnung und eines Jetzt erfahren; und gilt dies für die beteiligten Tänzer und für die Zuschauer gleichermaßen? Im hier gewählten Beispiel geht es zum einen um eine intrakorporale Ebene der Synchronisierung, deren Prozesse der Aufmerksamkeitslenkung und physisch-psychischer Praxis durch unterschiedliche Trainingsweisen der somatics verkörpert und aktiviert werden. Erkenntnisse der Forschungen zu embodiment (Bläsing/Puttke/Schack 2010) sowie zu entrainment – bezogen auf sensomotorische und kinästhetische Synchronisierungen (Cummins 2009; Clayton 2012; Philipps-Silver/Aktipis/Bryant 2010; Waterhouse/Watts/Bläsing 2014) – stützen die Annahmen zum Verlauf von Dynamiken und (Dys-)Balancen in embodied rhythms. Zum anderen ist eine interkorporale Ebene der SynchronisierungsVerläufe zwischen den beteiligten Tänzern Gegenstand der Beobachtung: Wie geschehen Übertragungen von Bewegungsgestalten und von Bewegungsqualitäten zwischen den beteiligten Tänzern? Welche Rhythmisierungen, Angleichungen, Verschiebungen und Verzögerungen in den Prozessen der Synchronisierung finden statt? Lassen sich die Modi der Synchronisierung und die Prozesse des Verlaufs von entrainments beobachten? Und welche rhythmisch-kinästhetischen (und emotionalen) Übertragungen spielen sich zwischen Tänzern und Zuschauern ab? Dabei geht es in der Übertragung nicht um Spiegeln (mirroring) oder simultane Reproduktion von erlernten und trainierten Bewegungsverläufen (wie etwa bei einem Marsch, oder einem Gruppentanz in einer Revue). Vielmehr geschieht die rhythmische Abstimmung – in unterschiedlichen Graden von Synchronisierung und De-Synchronisierungen – in der Performance in situ: als ZeitVerlauf, als rhythmischer ›Puls‹ in hoher und teilweise ambivalenter Komplexität der Koordination von Körper, Bewegung in Zeit und Raum. Jessica PhilippsSilver, Athena Aktipis und Gregory Bryant haben den Zusammenhang zwischen social entrainment, self-entrainment (durch Praxis und Üben bei Tänzern und Musikern) und »rhythmic responsiveness« (Philipps-Silver/Aktipis/Bryant 2010: 7) nachgewiesen – als Bedingung für eine wechselseitige Synchronisierung von Partnern im Tanz; und als Voraussetzung für »a more cohesive visual experience for observers« (ebd.). Hier ist anzumerken, dass für den Betrachter einer Tanz-Performance die mitvollziehende Wahrnehmung nicht allein auf einer visual experience basiert. Vielmehr vollzieht sie sich über multimodale kinästhetisch-sensomotorische Übertragungen, die in den Neurowissenschaften (Gallese 2013; Noë 2002, 2005; Bläsing/Puttke/Schack 2010; Singer 2008) nachgewiesen wurden. Aus der Perspektive philosophisch-phänomenologischer Analysen handelt es sich um Prozesse zwischenleiblicher Empathie bzw. Resonanz (Merleau-Ponty 1966; Wal-

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denfels 2000). In der Tanzwissenschaft sind die Phänomene von Choreographie, Empathie und Kinästhesie im Rückgriff aus Theorien sowohl der Neurowissenschaften und Empathie-Forschung als auch Phänomenologie und ästhetischer Theorie diskutiert: unter Gesichtspunkten von Prozessen des Werdens (Manning 2009), von kinesthetic empathy (Foster 2011) und kinesthetic imagination (Reynolds 2007). Die Lenkung der Aufmerksamkeit (awareness) in differenzierende Wahrnehmungs- und Erfahrungsprozesse des Spürens von intrakoporalen und interaktionalen rhythmischen Synchronisierungen wird häufig mit der Leitvokabel listening (Brandstetter 2011) bezeichnet. Für die Betrachtung eines Ausschnitts aus Jefta van Dinthers Tanzstück Kneeding möchte ich von den genannten Forschungserkenntnissen ausgehen und nach Parametern fragen, die es erlauben, die rhythmisch synchronisierenden und/oder desynchronisierenden Bewegungsverläufe der drei Tänzer in Analogie zu einer Gesprächs-Interaktion zu verstehen. Mit dem Unterschied, dass die Gesten und intermittierenden oder resonierenden Körperbewegungen nicht begleitende Gesten (zu etwa einem Dialog) darstellen, wie dies in der GesprächsInteraktionsforschung untersucht wird (Müller et. al. 2013, 2014.) Die Interaktion besteht also nicht in einem Hörtanz (Condon/Sander 1974), sondern sie ist der Tanz selbst. In welcher Weise ist diese Bewegungsinteraktion durch eine rhythmische »simultaneous co-construction« (Knoblauch 2000: 54) generiert? Und in welcher Weise zeigen sich hier – jenseits, oder noch vor jeder semantischen Bedeutungszuschreibung – emergente Prozesse dessen, was Daniel Stern »temporal feeling shape« nennt (Stern 1994, 2005)? Der gemeinsamen Arbeit der Tänzer und dem choreographischen Konzept liegt eine gemeinsame Praxis in spezifischen Trainings der somatics zugrunde (dies werde ich später genauer ausführen). Es ist ein Modus des rhythmischsynchronisierenden Mikro-Tunings, das es erlaubt, davon zu sprechen, dass diese Interaktion und Kommunikation zwar nicht auf einer symbolisch-referenziellen oder codierten semantischen Ebene verstanden werden kann (es gibt keine definierten Gebärden, oder Schritte oder Figuren). Jedoch ist der Prozess encoded, so dass er auf einer kinästhetisch-rhythmischen Wahrnehmungsebene ›erkannt‹, gespürt und ›verstanden‹ werden kann.1 Auch wenn man für den Tanz und die kinästhetisch transfundierten Modi der Abstimmung von Bewegungsver-

1

Ich übertrage hier Knoblauchs Argumentation für das Verstehen von rhythmisch (prosodischen) Dimensionen eines Gesprächs: »a communication at the nonverbal level that is encoded but not symbolically elaborated into words cannot be used at the symbolic level. It can be recognised, felt and understood on a continuous-process level only as an expected sequence of interaction« (Knoblauch 2000: 62).

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läufen nicht im üblichen Sinn von ›Sprache‹, Gestik oder (semantisch decodierbaren) Kommunikationshandlungen gesprochen werden kann, so sind die auf der körperlichen und sensomotorischen Ebene der Interaktion doch vergleichbare Prozesse zu konstatieren. Die Parameter dafür wären z.B. rhythmische Zeitsegmentierung, individuelle bzw. durch Choreographie und Körpertraining bedingte Formen der Energie, des Tempos/Dynamik (Hackney 2002). Hier ist freilich noch Raum für weitergehende vergleichende Forschung im Feld von Tanz und Gesprächsinteraktions-Analyse. Für die Diskussion des Tanzstücks Kneeding verfahre ich in folgenden Schritten der Untersuchung: Zunächst erstelle ich einen Befund von Eindrücken, Wahrnehmungen und Hypothesen, die ich aus der Sichtung des Videos des Stücks von Jefta van Dinther2 mit der Arbeitsgruppe des Projekts Balance, Rhythmus, Resonanz gesammelt habe. Sodann werde ich einen Abriss des Entstehungskontextes des Stücks geben, insbesondere zu seiner Generierung aus somatischen Praktiken. Auf dieser Basis werde ich Hypothesen zum Verständnis des Stücks aufstellen. Der Ansatz der Analyse ist hermeneutisch-tanzwissenschaftlich, mit besonderer Berücksichtigung der Qualität, Dynamik und Raumausrichtung der Bewegungen. In einem letzten Schritt sollen weiterführende Fragen zur Methodik sowohl aus tanzwissenschaftlicher als auch interdisziplinärer Perspektive angesprochen werden.

2 D AS T AN Z S T Ü C K »K N E E D I N G « V O N J E FT A V AN D I N T H E R Das Tanzstück Kneeding entspricht auf den ersten Blick nicht einem geläufigen Begriff von Tanz: Denn was wir sehen, ist nicht ein Verlauf eines nach oder zu Musik rhythmisch gegliederten Ablaufs von Tanzbewegungen, die durch spezifische Schrittmuster (wie im Ballett oder im Tango) und/oder codierte Ausdrucksgesten (wie etwa in der Pantomime oder im Ausdruckstanz) definiert wären. Was wir hingegen wahrnehmen, sind drei im Raum agierende Tänzer (vgl. Abb.1), die sich getrennt bewegen und doch in einer Art Interaktion sind: über (wechselnde) Distanzen hinweg und in unterschiedlichen Zeitintervallen. Wo wird hier Bewegung initiiert, und wie? Welche Qualität haben diese Bewegungen? Und wie synchronisieren sich die Bewegungen in den Körpern der Tänzer, und zwischen ihnen? Was teilt sich dem Zuschauer mit?

2

Die Videoaufzeichnung von Kneeding ist zugänglich unter www.jeftavandinther.com/ kneeding-video.html.

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Abbildung 1: Videostill aus »Kneeding« (2010) von Jefta van Dinther

© Jefta van Dinther, online: www.jeftavandinther.com/kneeding-video.html

2.1 Wahrnehmung von Bew egungsqalitäten Ein erster Eindruck von Zuschauern aus unserer Arbeitsgruppe sammelt und benennt in sehr treffender Weise die Übertragung jener Bewegungsprozesse, die sich hier abspielen. Es sind Verbalisierungen der Resonanzen auf die Qualität der Bewegungen, wie sie im Video gezeigt werden; Resonanzen, die in der Wahrnehmung multimodal zusammenschwingen und sensorische Eindrücke, die visuelle, kinetisch/kinästhetische und emotionale Komponenten enthalten, wiedergeben, z. B. die Beobachtung, dass die Bewegungen »gehalten«, irgendwie «gebremst« wirken; sodann, dass die Bewegungsqualität undeutlich, unstrukturiert – »gallertartig« – erscheint. Dass ein gewisses Sich-Zurückbiegen der Bewegungsimpulse in den eigenen Körper ein unbehagliches Gefühl erzeugt: nämlich den Eindruck, dass hier Kontakt gesucht wird; dass dieser Kontakt – obwohl Interaktionen in unterschiedlicher Nähe und Distanz stattfinden – (zunächst) jedoch nicht eintritt, was etwas Quälendes oder doch Frustrierendes für den Betrachter hat. Und dass es geradezu ein befreiender (»erlösender«) Augenblick sei – so eine Stimme aus unserer Arbeitsgruppe – wenn schließlich in der letzten Phase des Stücks tatsächlich ein Moment körperlicher Berührung sich ereignet. Ein Moment von Synchronizität, von Gleichschwingung; ein now moment?

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Tatsächlich verweist die Szene, in der alle drei Tänzer auf dem Boden sitzen, in Berührungsnähe (zugleich jedoch, da sitzend, in ihrer Lokomotion reduziert) am deutlichsten auf eine gesprächsanaloge Interaktion: Hier ereignen sich Kontakt und Adressierung des anderen durch Blicke; gestenähnliche Bewegungen von Kopf, Mund und Händen. Hier interagieren rhythmisch schwingende, in »pumpendem« Bewegungsmodus befindliche Körper. Es sind aus der Mitte, dem Brustkorb, aus Zwerchfell und Atem sich synchronisierende Bewegungen, ohne dass freilich ein gänzliches unisono sich einstellt. So überträgt sich der Eindruck eines interaktionalen Verlaufs in unterschiedlicher Konstellation der drei beteiligten Tänzer. Aus der Beobachtung, dass in dieser Trio-Konstellation bestimmte Bewegungsqualitäten und Formen nicht vorkommen – z. B. Laufen, Springen, kraftvolle Bewegungen, Schwünge von Körpern und Gliedmaßen, freier Bewegungs3 fluss in der Interaktion – und dass eine ganz spezifische Qualität von Bewegung dominiert, nämlich: gehalten, gebunden, aus Körpermitte und Torso initiiert und mobilisiert; die Gliedmaßen stützend (die Beine) oder in ›resultierendem‹ oder tastendem Modus (z. B. der Arme) eingesetzt. Aus diesen bewegungsanalytischen Befunden könnte man – vorläufig – als Hypothese festhalten: Die Synchronisierungen der Bewegungen intrakorporal, d. h. die Art und Weise, wie die Tänzer – offensichtlich nach einem bestimmten Schema – ihre Bewegungen generieren und die sich dabei äußernde Qualität der Bewegungen in ihren feinen De- und Re-Synchronisationen lässt sich beschreiben durch eine Situation, ein Stadium des Prä-. Gemeint ist damit das Prä-fix (sic), das in unserem Sprachgebrauch ein Stadium des vor-, des noch nicht markiert: z. B. im Wort vor-sprachlich. Dieser Modus des Prä- markiert den Eindruck, dass sich die Gebundenheit, das Gehaltene, das von innen nach außen Drängende in einer Vor-Stufe einer anderen (welcher auch immer?) Bewegungsmöglichkeit aufhält; dass eine Möglichkeit – noch nicht – erreicht ist, zugleich aber doch als Erwartungshorizont – needing – präsent ist. Ein Prä-, das also ein Bewegungspotential (noch) nicht ausschöpft; das in einem Vor-Stadium verharrt und hier in einer Art Latenz alle (auch unbekannten) Möglichkeiten dieser Interaktionen und Synchronisierungen

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Die Bestimmung der Parameter der Bewegungsqualitäten (hier: Modulation des Einsatzes von Kraft/Energie; Tonus und Duktus der Bewegung (Spannung) sowie Beobachtungen zur Initiierung und Mobilisierung von Bewegungen in Körpersegmenten (Gliedmaßen, Torso, Kopf) rekurrieren wir auf bewegungsanalytische Verfahren: nach Laban Movement-Analysis (LMA) sowie Laban/Bartenieff-Bewegungsanalyse (LBBA) vgl. Kennedy 2013 sowie MEG (Movement Evaluation Graphics nach Rick 1989 und Trautmann-Voigt/Voigt 2012).

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auslotet und erforscht. Ein Modus der Kommunikation, der ins Gespräch bringt – was in diesem begrenzten Bewegungsszenario möglich ist. Zum anderen fallen in der Beobachtung der Tänzer nicht nur eine Vielzahl rhythmischer intrakorporaler Synchronisierungen auf; sondern diese tragen sich auch in die Interaktionen zwischen den drei Tänzern weiter. Es ist deutlich, dass hier Bezugnahmen stattfinden und dass dabei die Raumaufteilung eine wichtige Rolle spielt: z. B. die Veränderungen von Nähe und Distanz. Es zeigt sich, dass durch die rhythmisch vibrierenden, pumpenden oder asymmetrisch aus der Körpermitte sich wellenden, dehnenden und kontrahierenden Rumpf-Bewegungen (die nicht in direkte haptische Berührung gehen) Kontaktangebote und Kontaktzonen ausgestellt – gleichsam in den Raum gesendet werden, ohne dass Blicke, Mimik oder Touch hierzu eingesetzt werden. So wird der Raum in-between zum Mediator, zum Resonanzraum dieser Interaktionen, in denen Bewegungsimpulse – oft in zeitlichen Verzögerungen – aufgenommen, zurückgespielt, im Trialog synchronisiert und wieder unterbrochen werden. All dies ist für den Zuschauer mehr oder weniger differenziert wahrnehmbar, über Empathie spürbar: Für einige (auch aus unserer Arbeitsgruppe) entsteht eine Empfindung des NichtVerstehens, der Verlorenheit, der Vereinzelung – ja: der Frustration. Wie kommt es dazu? Welche (nicht nur tänzerischen) Erfahrungen in Übertragung und Gegenübertragung finden hier statt? Wenn wir hier von Interaktionen und ihren Synchronisierungen reden wollen, so gilt eine Analogie zum Gespräch, zu sprachlicher Kommunikation nur bedingt. Denn für den Betrachter stellt sich der Eindruck her, dass er den Code nicht kennt; das heißt dass man die Regelhaftigkeit von pattern, von Strukturen, von kinemen – um kleinste Einheiten von Bewegungs-Morphemen probehalber so zu benennen – nicht oder jedenfalls nicht leicht ausmachen kann. Damit werden Erwartungen an eine Interaktion in Bewegung wie sie z. B. aus der Regelhaftigkeit eines pas de deux, oder pas de trois; oder eines swing-movements bekannt und lesbar sind, enttäuscht. Hingegen sind auf jener Ebene, die (subliminal) unterhalb, jenseits (trans-) oder vor (prä-) der regelhaften, der symbolisch codierten Interaktion liegen, zahlreiche und divergente Angebote der (Körper-)Äußerung und einer Kontaktaufnahme präsent. Diese sind freilich generiert aus jenem sensuellen, vitalen Bereich des Körperlichen, der im Bereich der Stimme, der Prosodie eines Gesprächs durch jene spezifische und individuelle Qualität bezeichnet wird, die Roland Barthes das »Korn der Stimme« (le grain de la voix) nannte (Barthes 1990). Eine Qualität der Bewegung, die man hier, bezogen auf die körperlichen Äußerungen und Interaktionen der Tänzer, analog das Korn der Körperlichkeit oder die Materialität der Bewegung nennen könnte.

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So gesehen befinden wir uns hier auf einer Ebene der Kommunikation – der Äußerung und der Wahrnehmung, der Möglichkeiten von Empathie und Resonanz – die jede, (auch die psychotherapeutische) Gesprächs-Situation und Intervention grundiert. Da es sich hier jedoch um ein Tanz/Kunstwerk, d. h. um eine wiederholbare Körperinszenierung für ein Publikum handelt, gehen wir davon aus, dass der Einsatz der Mittel, die Generierung der Bewegungen, die Dramaturgie und Komposition der Abläufe sowie die Reduktion von Elementen der WiederErkennbarkeit (d. h. des Faktors, der für den Zuschauer den wichtigen und lustvollen Effekt/Affekt des Wiedererkennens und Verstehens mitbringt und variiert) bewusst und ästhetisch-kritisch erfolgen. 2.2 Zum Entstehungskontext von Kneeding Zunächst zur Frage von Tanztechnik und Körperpraxis, die diesem Stück zugrunde liegt. Jefta van Dinther gehört zur Generation jener zeitgenössischen Tänzer und Choreographen, die ihre Erfahrungen mit sogenannten somatischen Praktiken zur Basis ihrer Tanzstücke machen. Was heißt das? Unter dem von Thomas Hanna eingeführten Begriff somatics (Hanna 1980, 1995) fasst man eine Reihe von systematisch ausdifferenzierten Techniken zusammen, die darauf abzielen, die Aufmerksamkeit für körperliche Prozesse so zu verfeinern, dass dies der Bewegungspraxis – und allgemein auch der Lebenspraxis – zugutekommt. Die Grenze zwischen therapeutischen Verfahren und künstlerischer Verwendung von somatics als Training ist hier fließend. Die damit verbundenen weltanschaulichen, philosophischen und ästhetischen Fragen sind in der wissenschaftlichen und pädagogischen Literatur mit unterschiedlichen Akzenten diskutiert, etwa in Studien aus der Tanzpädagogik (Eddy 2009; Green 2002), in der leibphänomenologisch orientierten Philosophie mit Richard Shustermanns Konzept der Somaesthetics (Shustermann 2008) und tanzwissenschaftlich-phänomenologischen Ansätzen (Brodie/Lobel 2012; Alarcón 2009). In der Praxis von somatics werden das Körperganze und seine Bewegung durch die Mikrosynchronisierung von Subsystemen – z. B. der Organe, der Meridiane als Energiekanäle, der Gelenke, der Faszien, der inneren Knochenstruktur (wie z. B. in der Klein-Technique) mobilisiert. Aus diesen Prozessen von Synchronisierungen und Desynchronisierungen, die in Übungen, in Workshops und Trainingspraxis den Wahrnehmungsprozess differenzieren, wird wiederum die Ausgangsdisposition gewonnen für das Kommunizieren mehrerer Körper (sensing, connectivity, vgl. Johnson 1995). Tänzer, die sich heute an unterschiedlichen Ausbildungsinstitutionen, in Workshops oder Fortbildungen mit somatischen Praktiken (Hanna 1995; Shustermann 2008; Ginot 2004) befassen, arbei-

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ten in einem künstlerischen und körperästhetischen Feld, das von wechselnden Konzepten eines Eklektizismus durchzogen ist: Eklektische Körper (Bales/NettlFiol 2008) und ebenso Bewegungs- und Trainingsformen, die zugleich eklektisch und holistisch sind: Die jeweils durch eine somatische Praxis wie z. B. Feldenkrais, Body Mind Centering (BMC), Klein-Technik, Alexander-Praxis, Yoga oder Tai Chi (um hier nur einige zu nennen und die kulturelle Vielfalt zu zeigen) integrierte Idee des Körpers und seiner Funktionen ist ganzheitlich, holistisch oder doch systemisch gedacht. Zugleich überlagern sich in einer komplementär-eklektischen Art und Weise der Auswahl unterschiedliche Praktiken und Trainings; so werden etwa Ballett, Modern, Contemporary Dance, Yoga, BMC oft gleichzeitig bzw. abwechselnd praktiziert. Die Übungspraxis somatischer Praktiken besteht nicht – wie etwa (früher) im Tanztraining – darin, dass sich die Schüler in Reihen vor/bzw. hinter dem Lehrer befinden und die Bewegungen/Schritte/Kombinationen abnehmen, kopieren. Nicht also Nachahmung ist das Aneignungsprinzip, sondern Selbstexploration, die zumeist nach Anweisungen verläuft. Die Teilnehmer des Kurses sind überall im Raum verteilt, erforschen – je nach Schwerpunkt der Stunde – ihren Körper und seine Bewegungs- und Interaktionsmöglichkeiten; Spüren, Nach-InnenWenden (listening) sind wichtige Faktoren dieser Praxis. Ebenso das sharing, das Teilen und Mit-Teilen. Die Praxis wird häufig damit abgeschlossen, dass die Teilnehmer sich im Anschluss, im Kreis sitzend, über ihre Erfahrungen austauschen. Es wird deutlich: Vieles der heute aktuellen Praxis in den somatics geht zurück auf die 70er Jahre, jene Zeit der Postmodern-Dance-Konzepte im Kontext der Judson-Church-Performer (Banes 1993; Burt 2006) Steve Paxton, Trisha Brown, Simone Forti – um hier nur wenige der für diese Entwicklung der Somatics wichtigen Namen zu erwähnen. Die Körper- und Bewegungsidee ist orientiert an einem individuellen, unhierarchischen, gender-übergreifenden und ›demokratischen‹ Ideal von ›Freiheit‹ und einer Authentizität oder ›Wahrheit‹, die sich an einer individuell-körperlichen und nicht an einer ästhetisch-formgebundenen Idee von Bewegung und Tanz orientiert. Genau dies ist der Hintergrund jener Generation zeitgenössischer Tänzer wie Jefta van Dinther, Frédéric Gries, Isabelle Schad und anderen. Dinther arbeitet mit somatischen Praktiken, insbesondere mit Body Mind Centering (BMC) (Cohen 1993) und er setzt diese Feinarbeit des embodiment und der Synchronisation von Bewegungen aus dem Innen-Erspüren des Körpers in Kneeding bewusst ein. Im Verlauf der Probenarbeit, der Generierung des Stücks erstellt er eine Art Score; eine Partitur, auf der auch der Verlauf der Raum-Orientierung und die

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Bewegungsinitiierung aus dem Körperinneren, von Organen, Flüssigkeiten und Hohlräumen her verzeichnet ist (vgl. Abb. 2). Abbildung 2: Ausschnitt aus der Notation zu »Kneeding« von Jefta van Dinther

Ausschnitt aus der Notation zu Kneeding (2010) von Jefta van Dinther, in: Scores, No 1, touché, Tanzquartier Wien (Hg), o.J., S. 65, Online: www.tqw.at/sites/default/files/Scores _1_Kern_Web_FINAL.pdf (aufgerufen am 13.02.2017).

Der Status dieser Notation ist somit nicht präskriptiv (wie z. B. eine Orchesterpartitur, die eine Ausführung vorschreibt), sondern eher im Sinn einer groben Verlaufsskizze, die in der Ausführung nur wenige Orientierungspunkte gibt und somit Freiraum für die je nach Situation veränderbare Gestaltung lässt. Body Mind Centering, zurückgehend auf Bonnie Bainbridge Cohen, ist ein Verfahren, das nicht wie andere Körperpraktiken oder Tanztechniken auf die visuelle Seite der Bewegung – z.B. das Ausführen von Figuren, das körperliche Herstellen von bestimmten Ausdrucksmustern etc. – fokussiert ist, sondern vielmehr auf das innere Spüren von basalen Resonanzen und Synchronisationen: etwa die Relation von spine (Wirbelsäule) und Organen. Die Aktivierung von verschiedenen Resonanzräumen des Atems in der Arbeit des Zwerchfells (Diaphragma); oder, vor allem: die spürende, aufmerksame Initiierung von Bewegungen aus Organen (z. B. der Leber, des Pankreas), aus Systemen (wie den Drüsen und Hormonausschüttungen) oder Flüssigkeiten – z.B. des Blut- oder Lymphkreislaufs. Die Hohlformen des Körpers wirken so als Aktivierungs- und Resonanzrhythmen

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(vgl. Abb. 3). Nicht ein klar definierbares Form-Prinzip der Bewegung (wie im Ballett, oder auch im indischen Bharatanatyam), nicht eine optische wiedererkennbare Gestalt wird aus dieser somatischen Praxis generiert. Sondern eine Mobilität, Flexibilität, eine mehr oder weniger dichte oder entspannte Bewegungsqualität, die in unterschiedliche Form-, Raum- oder Interaktion-Konzepte hineinwirkt. Abbildung 3: Anweisung zur Aktivierung von Resonanzrhythmen am Beispiel der Bauchspeicheldrüse

Ausschnitt aus dem Score zu Dance (Praticable) (2006) von Frédéric Gies, nach einem Entwurf von Alice Chauchat, Creative Commons©, Frédéric Gies©, S. 20, online: http:// fredericgies.com/wp-content/uploads/2013/07/dance_score.pdf (aufgerufen am 13.02.17).

In welcher Weise kann die somatische Praxis, die Bonnie Bainbridge Cohen für Body Mind Centering in die Formel fasste Go into your organs als tänzerisches Experiment wirksam und für Betrachter wahrnehmbar sein? Petra Sabisch interpretiert diese Praxis als eine somatisch-poetische Arbeit, da der Umgang mit anatomischem Wissen und einem Spiel mit ›Spüren‹ und Aufmerksamkeit auf das Nicht-Spürbare (z.B. die Bewegung von Zellen oder der Lymphe) neue Formen des Denkens und des künstlerischen Experiments mit dem Körper erschließt: »The implicit assumption, that it is possible to sense what exists, seems both playful and startling at once: playful because sensation demarcates on the one hand precisely that phantom limb that is constitutive of the construction of scientific facts, and startling, because here sensation is not understood as contradictory to the facticity of facts but rather

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as a means of using them in another way. That is to say, as a different experimental practice.« (Sabisch 2008: 19)

Ein Beispiel für diese Idee eines Tanzes, der den Experimentiergrund für intrakorporale und interaktionale Bewegungssynchronisierungen aus solchen spielerischen Mobilisierungen aus dem Körper in seiner polyrhythmischen Gestalt bezieht, geben auch die Zeichnungen und Bewegungsanweisungen, die als eine Art Score den Arbeitsprozess begleiten. Hier ein Beispiel aus Frédéric Gies’ Dance (praticable): Abbildung 4: Anweisung zur Aktivierung von Resonanzrhythmen am Beispiel der Lunge

Ausschnitt aus dem Score zu Dance (Praticable) (2006) von Frédéric Gies, nach einem Entwurf von Alice Chauchat, Creative Commons©, Frédéric Gies©, S. 9, online: http:// fredericgies.com/wp-content/uploads/2013/07/dance_score.pdf (aufgerufen am 13.02. 2017).

Gies hat über lange Jahre in verschiedenen Produktionen mit Jefta van Dinther zusammengearbeitet, und ist auch einer der drei Tänzer in Kneeding. Wie aus diesen Scores, aus den Bildern und Kommentaren deutlich wird, geschieht die Arbeit in den somatischen Praktiken und in den Proben-Explorationen durch eine Art Versuchs-Anordnung: Es werden Anleitungen, Anordnungen, tasks, gegeben – als Anreize und Ausgangsszenarios für die intra- und inter-korporale somatische Praxis. Dabei ist die Imagination höchst wichtig; das heißt: die Einbildungskraft, das Wissen vom Körper, seinen Strukturen, Möglichkeiten und die Vorstellungsbilder, die diese Bewegungen – aus dem Inneren – z.B. der Bauchspeicheldrüse, den Lungen – mobilisieren und übertragen. Man könnte auch sagen: diese somatische Arbeit, als eine des Spürens, des movere im körperlichen und sensorisch-emotionalen Sinn, ist durch Begriffe und Metaphern induziert (Müller et al. 2013, 2014). Womit wir als Zuschauer konfrontiert sind,

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ist eine doppelte Szene: Wir sehen die eigentümlich anmutenden Bewegungen, Synchronisationen, Rhythmen und energetischen Effekte, die die Tänzer aus dem Körperinneren initiieren; und wir erfahren, latent, die zugrundeliegenden Bilder, Vorstellungen, Phantasmen dieser Bewegungsqualitäten, ihrer Ursprünge – und der Fiktionen, die damit verbunden sind oder sein können (z.B. von Körper-Hohlräumen; oder gerade Flüssigkeiten). Dabei ist für unseren Fragezusammenhang eine weitere Information über die Konzeption dieser somatischen Praktiken und ihrer Konzepte interessant: BMC, Ideokinese, auch Feldenkrais und andere somatics legen ihren Vorstellung der somatischen Erfahrung ein Modell der Evolution zugrunde: Damit ist sowohl ein phylogenetischer Aspekt der Evolution als auch die ontogenetische Dimension der menschlichen Entwicklung angesprochen – das heißt, Wiederholung der evolutionären Stadien in Entwicklung des Embryos und der Entwicklung des Kindes bis zur Aufrichtung in Stand und aufrechten Gang. Hier gibt es eine interessante Parallele zu Hypothesen in der psychologisch-neurowissenschaftlichen Forschung zu entrainment: Philips-Silver, Atkins und Bryant (2010) vertreten die Ansicht, dass die Anlage zur Entwicklung von Synchronisationen in Bewegung in der Interaktion evolutionsbiologische Grundlagen habe. Re-Inszenierungen, Aufgabenstellungen und damit verbundene re-patternings von Körper-Fixierungen in somatischen Praktiken betreffen häufig das Durchlaufen – das verfahrende, übende re-enactment von frühen evolutionären Studien der Bewegung: von Wirbellosen (Bewegt euch, auf dem Boden liegend, wie eine Amöbe) zum Kriechen, zum Fortbewegen auf allen Vieren, bis zum aufrechten Stand. Dies geschieht in der Blick-Richtung auf die Orientierung und die Bewegungspotentiale der Wirbelsäule oder der Platzierung/und De/Re-Platzierung der inneren Organe. Ein solcher Rückgang in ältere Stadien der (evolutionären) Entwicklung ist Teil der körperlichen und sensorischen Reflexion somatischer Praktiken – und: dies trägt sich auch in Choreographien ein, die auf dieser Grundlage konzipiert sind, wie jene von Jefta van Dinther. Welche Resonanzen löst dies aus? Wie wird es Teil eines Geschehens zwischen Empathie und Widerstand des Betrachters? In einem Interview während eines Workshops erläuterte Jefta van Dinther, wie er mit BMC arbeite: alle seine Arbeiten seien aus dieser somatischen Praxis generiert. In Kneeding (und in anderen Stücken) sei er u. a. am »Verdauungskanal« interessiert gewesen: Die Vielfalt der damit assoziierten Bewegungen, der Passage von außen nach innen nach außen, sowie die sensuellen, sexuellen und nicht zuletzt die über Mund und Zunge sprachlich und stimmlich vermittelten Dimensionen körperlicher Bewegungen und ihrer Synchronisierungen mit anderen seien für ihn aus dieser Tiefenschicht neu experimentell exploriert. Diese

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Orientierung der Bewegung und der awareness nach innen und von innen nach außen besitzt einen anderen Fokus als jene Arbeiten des zeitgenössischen Tanzes, die mit Theorien wie Deleuze’s Werden, mit Bachtins Konzept eines karnevalesk umgestülpten Körpers oder Batailles Denkfigur der Verausgabung beschrieben worden sind. Wenn etwa die Performance von Xavier Le Roys Self Unfinished in der Tanzwissenschaft als Paradigma des offenen Körpers, »am Rand der Körper« (Foellmer 2009) oder als »exhausted bodies« (Lepecki 2006) interpretiert wird, zeigt sich an Konzepten und Praktiken wie jenen bei Jefta van Dinther, dass durch die Arbeit mit somatischen Praktiken ein anderer Ansatz von Bewegen und damit auch eine andere Ästhetik realisiert werden. Nicht das Außen, nicht die Figur, die Gestalt, oder die Öffnung der Körper ist hier Thema; es geht nicht (mehr) um shape und Verformungen der sichtbaren Gestalt. Auch wenn die Effekte der Arbeit ›von innen‹, aus den Hohlräumen, den Organen, dem Netz der Faszien einen nicht näher beobachtbaren und nicht vorhersagbaren Einfluss auf die Erscheinung des Körpers (als Gestalt) erhält: nicht Gestalt oder Gestalttransformation ist Thema und Ansatz der tänzerischen Körperarbeit, sondern ein beständig sich veränderndes relationales Geflecht von Bewegungs-Beziehung, das als Feedback intrakorporaler Prozesse und zusätzlich als sich beeinflussende Dynamik zwischen den Tänzern verläuft: ein Komplexititätssteigerndes Synchronisationsgeschehen. 2.3 Synchronisierungen in der Schlusssequenz Hier soll zuletzt noch einmal eine Close-up-Betrachtung einer Trio-Szene aus Kneeding erfolgen, um die Hypothese zu Beginn dieser Untersuchung mit einer Interpretation und Überlegungen zur weiterführenden Analyse aufzugreifen. Der Titel Kneeding spielt mit einer Doppelbedeutung, die sich auf das Innen und auf das Außen einer beständig in Bewegung befindlichen Materialität des Körpers bezieht. Das aus den somatischen Praktiken generierte Bewegen gleicht einem Kneten (kneading) von innen, das sich aus Dynamiken rhythmischer Körperprozesse herleitet. Zugleich sind in diesen movements auch psychische Prozesse des Begehrens, des Brauchens (needing) und der Abhängigkeit enthalten. Diese Kompilation trägt sich ein in die vorgegebene Choreographie und die Improvisation im konkreten synchronisierenden Ablauf der Performance, mit der wechselseitigen Organisation der rhythmisch interagierenden Tänzer. Dies wird in der genannten Schluss-Sequenz besonders deutlich spürbar – auch für die Zuschauer, die an drei Seiten des Theater-Raumes die Tänzer beobachten (vgl. Abb. 5): Die drei Tänzer sitzen, in Reichweite, am Boden, in einer Konfiguration, in der sie sich annähern und aufeinander zu bewegen. Jeder der Tänzer befindet sich im

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Modus von Kneeding, in dem aus dem Inneren pumpenden, wiegenden, den Rumpf umformenden und einen spezifischen Rhythmus ausprägenden Bewegungsduktus. So nehmen sie Kontakt auf, intermittierend. Abbildung 5: Videostill aus Kneeding (2010) von Jefta van Dinther,

© Jefta van Dinther, online: www.jeftavandinther.com/kneeding-video.html

Die Blicke richten sie in den Raum, zu einem der Partner, oder zu beiden und zu den Zuschauern. Damit tritt die Reflexion des Rahmens, der Theater-Situation in das Geschehen ein; eine Reflexion, die vorher so nicht da war. Hier geschieht ein Markieren, im Bewusstsein eines ›anderen‹ Außen. In dieser Szene finden erstmals während des Stücks Selbstberührungen des Körpers und des Gesichts statt; sowie auch kurze Berührungen des anderen. Dies geschieht in sehr nach innen und außen spürenden Resonanzbewegungen mit den anderen beiden Tänzern. Hier entfaltet dieses Synchronisierungsbemühen eine neue Dimension: eine Dimension von Spiel und Tanz. Das, was auf den ersten Blick gestisch wirkt – wie eingangs erwähnt, werden die Hand, Kopf- und Rumpf-Bewegungen, die angedeuteten Sprach-Artikulationsbewegungen des Gesichts, des Mundes eingesetzt – ist hervorgebracht durch intra- und interkörperliche Synchronisierungen, die aus dem ›Durchgangs-Kanal‹ des Körpers mobilisiert werden. Das Innen und das Begehren richtet sich auf das Außen: ein Aufnehmen, Einverleiben, Kauen, Verdauen und die damit verbundenen Kontaktaufnahmen. Die Interaktion wird so nicht aus einem kulturell codierten Gesteninventar entnommen und kommunika-

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tiv eingesetzt – obwohl die Bewegungsanklänge beim Zuschauer solche Lesarten und Emotionen erwecken. Das Geben und Nehmen, die Abstimmungen von Synchronisation stammen – wie erläutert – aus einer ›tieferen‹ Schicht von Körperbewegungen – aus dem sympathischen und aus dem parasympathischen System. Das lässt diese Interaktionen zugleich fremd und vertraut erscheinen. Die Dimension des Prä-, die ich vorhin als einen ›Befund‹ der Bewegungsidee und Hypothese zum Interaktions-Geschehens benannt hatte, wird hier gleichzeitig in Realzeit aktiviert und gezeigt. Die Tänzer-Performer generieren und (re-)aktivieren die Dynamiken ihrer aus somatischen Praktiken stammenden Bewegungen und ihre kommunikativen Synchronisationen im (Theater-)Raum: das heißt, als ›Schaustellung‹, zu der Zuschauer als Beobachter und (empathische) Betrachter des Geschehens eingeladen sind. Die Übertragungen zwischen Tänzern und Zuschauern bewirken Resonanzen. Diese können graduell sein oder, in Abwehr bzw. deutender (rationaler) Reflexion des Geschehens, auch de-synchronisierend und unterbrechend. Der Appell an die Zuschauer – unbewusst, über die somatische Dimension des entrainment organisiert – verläuft im Modus jenes Prä-, der sowohl körperlich als auch psychisch, und auch ästhetisch eine Auseinandersetzung (oder: ein Zulassen) des Noch-Nicht, der unfertigen, im Werden und in Umbildung befindlichen Gestalt und ihrer Kommunikationsmöglichkeiten insinuiert. Könnte genau darin – in der Verweigerung einer definierten Gestik und in der Herausforderung einer nicht schon semantisch/symbolisch codierten Körper-Interaktion – die ästhetische (kritische) Herausforderung dieser Choreographie auf der Basis somatischer Praktiken liegen? Weitere Aufschlüsse zu offenen Fragen der Deutung könnten zusätzliche Analyse-Schritte geben: die Überprüfung der hier vorgetragenen Hypothesen und Interpretationen auf mikroanalytischer Basis mittels der Laban-Bartenieff-Methode sowie eine breitere, multifaktorielle Erhebung von Daten durch Bearbeitung des Videos mithilfe von Programmen wie z. B. MEA oder Interact (vgl. Heller in diesem Band). Eine interdisziplinäre Interpretation dieser Daten, im Blick auf interaktionsanalytische Verfahren und im Blick auf Übertragungen und Synchronisationen im Dialog könnte so Perspektiven für Konversationsanalyse aus dem Gebiet der Tanzwissenschaft eröffnen.

3 L ITERATUR Alarcón, Monica (2009): Die Ordnung des Leibes: Eine tanzphilosophische Betrachtung, Würzburg: Königshauen & Neumann.

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Music should be felt: Resonanz in der Filmmusik Im Gespräch: Günter A Buchwald & Stefan Pfänder R EDAKTION : M AXIMILIAN F EICHTNER , S TEFAN P FÄNDER & E LKE S CHUMANN

1 E INFÜHRUNG : S TUMMFILM

UND

M USIK

SP (Stefan Pfänder): Günter Buchwald – Musiker, Komponist und sicherlich der Experte, wenn es darum geht, über Musik und Film zu sprechen – und zwar auch über Filme, die anders sprechen: Stummfilme. Können Sie die Lobhudelei noch ein wenig ergänzen? (lacht) Wer ist Günter Buchwald? GB (Günter A Buchwald): Ich bezeichne mich in der Regel nicht als Stummfilmpianist, sondern als Stummfilmmusiker. Denn ich spiele nicht nur Klavier, sondern auch Geige – ich komponiere und dirigiere. Ich mache alles mit Stummfilmen und das schon recht lange. Wie ich genau dazu gekommen bin, kann ich gar nicht genau sagen. Aber im Nachhinein ist mir klar, dass es so kommen musste. Schon in meiner Kindheit habe ich auf dem Klavier improvisiert. Ich habe gerne fotografiert, eine meiner Tanten war Fotografin. Meine Schwestern zeichnen und tanzen. Und genau das ist es, was im Film vorkommt: Bilder, Bewegung und Musik. 1 SP: Jetzt haben Sie in Ihrer Selbstbeschreibung das Internationale ausgelassen!

1

Weitere Informationen zu Günter Buchwald: www.stummfilmmusiker.de/de/

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GB: Ja, als ich damals in Freiburg begann, ganz lokal und provinziell, konnte ich kaum auf Vorbilder zurückgreifen, denn es gab zu dieser Zeit lediglich drei oder vier andere Stummfilmpianisten auf der ganzen Welt. Später dann habe ich mit meiner Arbeit immer weitere Kreise gezogen, ganz so wie wenn man einen Stein ins Wasser wirft: Ich ging zuerst nach Basel, dann nach Villingen im Schwarzwald, später zu den Berliner Festspielen – und von da aus in die ganze Welt. Inzwischen bin ich regelmäßig in San Francisco, Seoul, in Tokyo oder Kyoto. SP: Sie meinen tatsächlich die ganze Welt (lacht). Aber auch in Freiburg sind Sie eine Lokalgröße, etwa im Kommunalen Kino.2 Was machen Sie da? GB: Da begleite ich seit 37 Jahren einmal im Monat einen Stummfilm. SP: … einmal im Monat kann man einen Stummfilm sehen und Ihre musikalische Begleitung live miterleben. Gibt es so etwas auch in anderen Städten oder ist das einzigartig in Freiburg, ähnlich wie unser Damenbad?3 (beide lachen) GB: Als ich begann, gab es nur zwei Kommunale Kinos, in Frankfurt und in Freiburg. Das hat sich mit der Zeit herumgesprochen. Und inzwischen gibt es weltweit auch viele Stummfilmmusiker. Offenbar mag das Publikum diese Art der Präsentation, denn die Vorstellungen sind immer gut besucht. In Freiburg haben wir dieses Format weiterentwickelt: Seit über zehn Jahren gibt es eine Reihe, bei der das Philharmonische Orchester4 in die Saiten und Tasten bzw. zu den Hörnern greift, um eine orchestrale Musik für Stummfilme zu machen.

2

Das Kommunale Kino in Freiburg hat 1981 im Alten Wiehrebahnhof ein Zuhause gefunden. Auf dem nichtkommerziellen Programm stehen vor allem aktuelle, eher unbekannte und innovative, aber auch filmgeschichtlich interessante Werke. Das Veranstaltungsprogramm umfasst sowohl thematische Reihen, jährliche alternative Festivals als auch besondere Einzelveranstaltungen und lässt auf diese Weise Raum für die monatliche Vorführung eines Stummfilmes, der von Günter Buchwald begleitet wird.

3

Das Damenbad im Freiburger Lorettobad ist das letzte seiner Art in Deutschland und hat weit über die Stadt hinaus Berühmtheit erlangt. Eintritt haben tatsächlich ausschließlich Frauen (und kleine Kinder).

4

Das Philharmonische Orchester Freiburg wurde bereits 1887 gegründet und ist eines der renommiertesten Orchester der Stadt.

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IN DER

FILMMUSIK

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SP: Wie kann man sich Ihre Arbeit vorstellen? Welche Gestaltungsmöglichkeiten gibt es in der Stummfilmmusik? GB: Ich würde unterscheiden zwischen Filmmusik, die schon komponiert vorliegt, Filmmusik, die ich selbst komponiere und der Improvisation im Moment der Filmvorführung. Dadurch entstehen unterschiedliche Resonanzebenen und Freiräume. Eine Resonanzebene besteht zum Beispiel zwischen Film und Musik. Manchmal gehe ich an einen Film heran und denke (lächelnd): Wie kann ich den jetzt erträglich machen? Es gibt Filme, die haben einen schlechten Rhythmus, die haben zu viel Material, die wollen alles. Da muss ich mit der Musik sehr sparsam sein, obwohl wahnsinnig viel Action passiert, denn man kann in der Musik ein Crescendo nicht über einen Zeitraum von 10 Minuten hinweg gestalten. Also muss ich – um einem solchen Film zu ›helfen‹ – ein bisschen ›gegen ihn arbeiten‹, damit man diese Schwäche des Films nicht merkt. Eine andere Ebene ist die Resonanz zwischen Musik und Publikum: Wenn ich – zum Beispiel im Kommunalen Kino in Freiburg – am Klavier improvisiere, reagiere ich auf das Publikum. Ich merke, wie sehr die Zuschauer ›im Film drin‹ sind. Wenn ich einen Film in einem anderen Land begleite, dann nehme ich darauf Rücksicht. Früher habe ich zum Beispiel sehr viel mit Zitaten aus deutschen Volks- oder Kunstliedern gearbeitet, weil die auch einen Text transportieren. Das kann ich in einem anderen Land nicht machen, das funktioniert nicht. Dort muss ich die Musik anders gestalten. Und für ein jugendliches Publikum spiele ich wohl auch anders als für ein musikalisch gebildeteres Publikum. Wenn früher meine Klavierlehrerin im Kino saß, (lächelnd) habe ich manchmal an irgendeiner Stelle ein Zitat von einem Stück gebracht, das wir zusammen gespielt hatten. Es musste natürlich passen, aber es war meine Art, sie persönlich zu begrüßen. SP: Das heißt, Menschen können – je nach Alter, musikalischer Bildung oder Kultur – unterschiedliche Dinge mit der Filmmusik assoziieren? GB: Ja, ein Musiker kann Melodien und Töne natürlich anders wahrnehmen und einordnen. Mozart als Mozart erkenne ich nur, wenn ich Mozart kenne. Trotzdem kann ich ein Stück von Mozart auch ohne diesen Hintergrund verstehen. Und wenn jemand als Nicht-Musiker eine Oboe hört, dann denkt diese Person wahrscheinlich nicht: oh, eine Oboe, sondern nimmt vielleicht eher einen Klang wahr, der wie aus der Ferne erklingt. Die Oboe ist in der musikalischen Tradition ein Naturblasinstrument – assoziativ verbunden mit dem Thema auf dem Lande.

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So funktionieren bestimmte Kodierungen. Die damit verbundenen Assoziationen sind aber nicht beliebig, sondern sie sind mit dem Instrument und seinen Klangeigenschaften verbunden. Eine Geige kann kratzen, eine Geige kann sehr weich einsetzen und das spüren wir. Einer der berühmtesten Filmmusiker in Hollywood, Max Steiner5 hat das im Zusammenhang mit Filmmusik so zum Ausdruck gebracht: Music should be felt rather than heard.6 Auch wenn wir die Musik nicht entziffern oder kategorisieren können – zum Beispiel nach Komponist oder Gattung – so bekommen wir doch trotzdem ein Gefühl auf der Haut. Wir können die Musik rhythmisch empfinden, als tänzerisch empfinden, als langsam bewegt… SP: Wie prägt die Filmmusik einen Film? GB: Wir Stummfilmmusiker sind dazu da, den Film als Ganzes zu transportieren und wir bleiben im Hintergrund, (lächelnd) wir sind nicht die Stars. Selbst wenn die Musik nur Szenen miteinander verbindet, eine Gefühlsstimmung herstellt, so dass man sich entspannt dem Film widmen kann: sie wirkt. Das größte Kompliment, das man uns machen kann, ist, wenn die Leute sagen: Ich habe ganz vergessen, dass du Klavier gespielt hast, weil ich so im Film drin war. Dann habe ich als Filmmusiker einen guten Job gemacht.

2 W IE WIR AUF K LÄNGE REAGIEREN : R ESONANZ TRANSMODAL SP: Die Wahrnehmung von Musik und einzelnen Tönen – daran möchte ich anknüpfen. Neulich habe ich gelesen, dass Kinder nicht von hohen und tiefen Tönen sprechen, sondern von hellen und dunklen… GB: Ja, das ist ein interessantes Phänomen. Also wir sagen: tief (spielt einen tiefen Ton auf dem Klavier). Und ein Kind sagt: Das ist dunkel. Oder (spielt eine

5

Maximilian »Max« Steiner (1888-1971): österreichisch-amerikanischer Komponist und Vater der Filmmusik; zu den berühmtesten Partituren gehören CASABLANCA und VOM WINDE VERWEHT.

6

Vgl.: Ringler, Stephen M (Hrsg.) (2001): A dictionary of cinema quotations from filmmakers and critics: Over 3400 axioms, criticisms, opinions and witticisms from 100 years of the cinema. North Carolina, London: McFarland, S. 143/2324.

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hohe Tonfolge): Das ist ganz hell. Außerdem können wir tiefe Töne in der Schnelligkeit kaum unterscheiden. Es muss eben langsam sein (spielt erst langsam tiefe, dann schnell hohe Töne). In den höheren Frequenzen hören wir viele einzelne Töne, ganz klar. Das hat sicherlich mit unserem Körper zu tun, also, wie wir Töne mit dem Gehör verarbeiten. Dies hier zum Beispiel ist etwas Kleines, Schnelles (spielt eine hohe Tonfolge). SP: …klein, schnell, hell. Das sind alles Dinge, die man visuell wahrnimmt, während es hier um Töne, um das Hören geht. Vielleicht tragen diese sinnlichen Verbindungen zu diesem Gefühl für die Musik bei, von dem Steiner sprach. Spielen in diesem Zusammenhang auch die Tonarten, Dur und Moll, eine Rolle? GB: Ja, aber da geht es vor allem um den Kontrast: Ich übe zurzeit eine Mozartsonate (spielt die Sonate; in Dur, dann mit plötzlichem Wechsel zu Moll). Diese Veränderung, die spüren wir unmittelbar; es wirkt dramatisch, dafür muss man nicht zwischen Moll oder Dur unterscheiden können. Ein Musiker hört das natürlich und kennt die Theorie. Aber jeder andere hört es einfach als neue Information, die erschreckt oder zumindest aufmerksam macht. SP: Diese Wahrnehmung von Schwingung, dieses In-Resonanz-Gehen mit einem Tonwechsel geschieht so unmittelbar und intuitiv…? GB: Natürlich. Wir reagieren auf Musik und Klänge ganz ursprünglich. Das passiert zum Beispiel, wenn wir Panik haben. Ich habe einmal, das war 1979, eine sehr unangenehme Situation in Paris erlebt. Ich war damals Zeuge eines Mordes. Während des Afghanistankrieges wurde ein Mitarbeiter eines türkischen Reisebüros auf offener Straße erschossen. Ich hörte die Schüsse und interpretierte sie als Fehlzündung, da gerade in diesem Moment vor mir ein Auto startete. Es vergingen 10-20 Sekunden, bis ich sah, was tatsächlich passiert war. Ein Ton wirkt (spielt einen Ton auf dem Klavier)… in Millisekunden! Wir orientieren uns an unserem Gehör, es ist nicht abschaltbar, während wir die Augen einfach schließen können. Außerdem haben wir 360° für diese Wahrnehmung zur Verfügung, während unser Blick immer nur in eine bestimmte Richtung gehen kann. Das Gehör muss einen besonderen Stellenwert in der Entwicklung des Menschen haben, wahrscheinlich rettet uns ein solcher Wahrnehmungssinn. Denn wenn wir erst alles analysieren würden, wäre es wahrscheinlich oft schon zu spät. Unsere Instinkte sind mit dem Klang verbunden, mit alldem, was wir hören.

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SP: Oft verknüpfen wir mit bestimmten Melodien und Liedern auch ein bestimmtes Erlebnis, eine Episode aus der Vergangenheit; das kann sehr beglückend sein, oder auch sehr traurig… GB: Ja, das stimmt. Aber auch Gerüche sind mit Erlebnissen verbunden. Ich erinnere mich, dass ich neulich in Rüdesheim in ein Geschäft gegangen bin. Auf offener Straße bin ich (atmet tief durch die Nase ein) ›der Nase nach‹ gegangen – wie man ja auch sagt – und landete schließlich in einem Papiergeschäft. Es hat genauso gerochen wie das Papiergeschäft in meiner Kindheit, wo ich meine Hefte für die Schule gekauft habe. Ich wusste nicht warum, aber es war plötzlich vertraut. Das heißt, dass Gerüche eine ganz ähnliche Wirkung haben können, wie Musik. Unsere Sinne erinnern und verbinden sich mit bestimmten Dingen. Wenn die Dinge mit etwas Unangenehmen oder etwas Singulärem, also zum Beispiel einer unglücklichen Liebesbeziehung verbunden sind, dann möchte man sich nicht dran erinnern. Oder man sagt: Das möchte ich in anderen Zusammenhängen nicht hören, weil es eben mit diesem einen Ereignis oder diesem einen Menschen verbunden ist. Die Erinnerung ist gewissermaßen ›reserviert‹.

3 G EPLANTE M ANIPULATION : DIE HEITEREN UND DUNKLEN

S EITEN VON R ESONANZ

SP: Gehen wir zurück zur Filmmusik. Bernard Herrmann,7 der unter anderem auch mit Alfred Hitchcock zusammenarbeitete, wusste sehr gut um die Wirkung der Musik auf das Publikum – wie man es mit Musik lenken und auch manipulieren kann. Er soll einmal gesagt haben, er wolle den Zuschauer nicht ›aufsaugen‹. Was hat er damit genau gemeint? GB: Nun, die Musik darf nicht emotional dominieren. Musik darf nicht zu viel verraten! Manchmal macht Bernard Herrmann durch seine Musik Andeutungen, durch die bei uns ein Gefühl der Erwartung entsteht. Auf diese Weise lässt er uns als Zuschauer Dinge wissen, die der Hauptakteur nicht weiß – zum Beispiel im Film NORTH BY NORTHWEST (deutsch: DER UNSICHTBARE DRITTE): Wir, die Zuschauer, wissen immer mehr als der Hauptakteur und wir zittern immer mit. Das

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Bernard Herrmann: US-amerikanischer Stummfilmkomponist und Dirigent (19111975), bekannt u.a. durch die Komposition der Filmmusik in PSYCHO (1960).

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macht die Spannung aus. Außerdem arbeitet Herrmann mit dem Kontrast, der Überraschung – der Überraschung für uns, aber auch für den Hauptakteur. In diesem Film wird man ganz wunderbar durch die Musik ›reingelegt‹ – obwohl die Musik ja eigentlich ganz ›ehrlich‹ ist. SP: … ›reingelegt‹? GB: Ja, wenn die Agentin kommt und nur wir als Zuschauer wissen, dass es sich dabei um eine Agentin der anderen Seite handelt, dann fiebern wir natürlich mit: Mensch, jetzt redet der so viel! Die Musik ist aber ein ganz einfaches Liebesthema. Und wir denken: Ach, jetzt ein tête à tête. Und: Junge, pass doch auf! Das heißt, Hermann macht mit seiner Musik nichts anderes, als zu zeigen: die beiden lieben sich und am Ende sind sie ja auch wirklich zusammen. Das ist es, dieses Schillernde… SP: … das Schillernde, ein Spiel zwischen Bild und Ton, das ganz unterschiedliche Formen, Spannungen annehmen kann? GB: Ja, nehmen wir einen anderen Klassiker… (spielt auf dem Klavier das Motiv aus dem Film: SPIEL MIR DAS LIED VOM TOD8). Die Musik lässt in uns etwas entstehen – etwas, das sich im Kreis dreht und einen kleinen Raum bildet, obwohl wir im Bild zugleich die weite Landschaft sehen. Zugleich wiederholt die Musik das Geräusch und die quietschende Bewegung des Windrads. Wir sind in der weiten Prairie, aber an einem verlassenen, unwirtlichen Ort. Das ist der Kontrast, der die Spannung aufbaut. SP: Musik scheint einen starken Einfluss auszuüben. Kann sie auch ein Mittel sein, um Gewalt zu banalisieren? GB: Ich denke schon – ein Beispiel dafür ist die musikalische Erziehung im Kaiserreich. Zu dieser Zeit sind Kinder und Jugendliche mit schönen Märschen und vaterländischen Liedern auf den Lippen in den Krieg gezogen: Musik kann kollektivieren und manipulieren, dessen muss man sich bewusst sein. Und ja, aus dieser Perspektive hat musikalische Resonanz potenziell nicht nur diese schöne,

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SPIEL MIR DAS LIED VOM TOD: C’ERA UNA VOLTA IL WEST, Italien/USA, 1968, Regie: Sergio Leone, Filmmusik: Ennio Morricone.

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spielerische Seite, sondern auch eine dunkle, manipulative. Als Komponist muss man dazu unbedingt eine Haltung haben, ein Bewusstsein.

4 R HYTHMUS UND R ESONANZ : D AS S PIEL MIT DEM RICHTIGEN AUGENBLICK SP: Wie Sie eingangs schon sagten, Sie sind Musiker und Komponist. Sie haben unter anderem NOSFERATU9 neu vertont. Auch hier ist entscheidend, was ich als Zuschauer zuerst wahrnehme: das Bild, die Musik… oder doch beides zugleich? So gesehen ist es ein Spiel mit Millisekunden. GB: In jedem Fall ist es ein Spiel mit der Echtzeit – (lächelnd) vor allem, wenn man selbst dirigiert. Ich denke gerade daran, wie ich während der Uraufführung von NOSFERATU nicht in das richtige Tempo gekommen bin. Ich hatte folgendes komponiert: Szene A – Musik A, Szene B – Musik B und so weiter. Das war die Musik für die Parallelmontage, bei der Nosferatu mit dem Schiff ankommt und Jonathan mit dem Pferd. Das war nicht mehr synchron. Und ich habe gedacht: Ich lass es einfach so, ich forciere das Orchester nicht. Das hatte schließlich sogar einen interessanten Effekt, denn die optisch getrennten Wege waren mit den sich mischenden musikalischen Motiven so noch besser als Gleichzeitiges wahrnehmbar. Und wir sind mit dem letzten Takt dann auch synchron gelandet. Zum zeitlichen Verhältnis von Bild und Musik fällt mir noch ein anderes Beispiel ein: Ich hatte mal eine Filmmusik für einen Film eingespielt, den ich beim Arbeiten gar nicht vor Augen hatte. Ich wusste nur, es sind drei starke Bilder über die Umwelt in Berlin: Luft, Wasser und Beton. Ich hatte drei verschiedene wuchtige Akkorde komponiert. Im Studio haben wir diese Akkorde zum Film gelegt, immer Bild und Akkord gleichzeitig, aber (imitiert einen zweifelnden Gesichtsausdruck)… SP: … das wars nicht.

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NOSFERATU. EINE SYMPHONIE DES GRAUENS: deutscher Stummfilm von Friedrich Wilhelm Murnau aus dem Jahr 1922 und thematisch angelehnt an den Roman Dracula von Bram Stoker (1897).

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GB: Es gefiel uns nicht. Dann haben wir nichts anderes gemacht als: Bild, Ton, Bildschnitt, Ton, immer abwechselnd. Und wir haben sofort gesagt: (schnippt mit dem Finger) Das ist es! SP: Das interessiert mich. Sie haben jetzt beim Sprechen zuerst die Gesten ausführt und danach erst die Worte gesagt. Oft denkt man, das sei simultan, aber das ist es gar nicht? GB: Visuelle und auditive Eindrücke dürfen vor allen Dingen nicht gleichzeitig kommen! Im Film müssen wir zuerst den Bildschnitt entziffern. Dann können wir entscheiden, ob die Musik vorher schon eine Änderung vorbereitet oder danach eingespielt wird. SP: Welchen Unterschied macht es dann, ob die Musik vor oder nach dem Bild zu hören ist? Also welchen Effekt hat es, wenn die Musik danach kommt, wie im letzten Beispiel, dem Betonvorstadtfilm? GB: Das waren schreckliche Bilder – dreckiges Wasser, Betonstraßen und Baustellen. Die Musik nach dem Bild war wie ein Kommentar (spielt einen dissonanten Akkord). Und wenn nun der gleiche Akkord vor dem Bild gespielt wird, dann bereitet er vor, man, dann erwartet man etwas – (lächelnd) die Spannung ist da … dass zum Beispiel irgendetwas Schreckliches um die Ecke kommt. SP: Resonanzeffekte haben demnach auch viel mit dem richtigen Moment zu tun, im Film also mit dem Schnitt? GB: Ja, auf jeden Fall! Das habe ich in Berlin in den Filmstudios in Babelsberg erlebt, wo mir eine Cutterin, eine Schnittfrau, etwas Spannendes erklärt hat. Sie fragt den Regisseur: Ein Arzt trinkt Tee. Was hat der für ein Temperament, für einen Charakter? Wie ist seine Stimmung? Denn: Wenn man im Film zeigt, wie der Arzt seine Tasse hinstellt und nach einem Schnitt sieht man sein Gesicht im Portrait, dann vermittelt das eine bestimmte Atmosphäre, die ich intuitiv erfasse. Dieses Potenzial kann man nun ganz unterschiedlich nutzen: Einmal stellt der Arzt seine Tasse ab, gemütliche Pause, Schnitt, neues Bild: Der Arzt hat jede Zeit der Welt, er hat gerade Tee getrunken und sofort wird klar: Der Mann ist relaxed. Wenn aber in der gleichen Einstellung im Film direkt danach der Schnitt kommt, denkt man: Oh Gott, ist das ein nervöser Typ! SP: Denkt man das als Zuschauer... oder fühlt man das gleichsam mit?

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GB: Man sagt, dass man es denkt, aber es ist wohl tatsächlich eher ein Fühlen; Denken ist ja schon ein Ordnen vor dem Hintergrund des Vorwissens. Wenn ich einen Ton oder einen Rhythmus höre, dann werde ich zunächst körperlich darauf reagieren. Ich werde mitschwingen und mitwippen. Ich glaube, es ist vor allem ein deutsches Phänomen, dass man versucht hat, das Fühlen auszutreiben. Als ich in den 70er Jahren angefangen habe, als Lehrer zu arbeiten, da stand in den Lehrplänen für die Hauptschulen noch wörtlich, man solle die Kinder dazu erziehen, dass sie Musik hören, ohne mitzuschwingen. Das kommt einem Schwingungsverbot, einem Resonanzverbot gleich – völlig absurd. Aber da sind wir wieder bei der spannungsvollen Wirkung von Musik, bei dem schmalen Grat zwischen Manipulation bzw. Aufsaugen einerseits und Intuition bzw. Hingabe andererseits. SP: Ja, diese spannungsvolle Wirkung von Musik war einer unserer Ausgangspunkte. Nun danke ich Ihnen für diesen interessanten ›Rundgang‹, bei dem ich Sie begleiten durfte.

Das Fremde und das Eigene Resonanz im Bild in der Kunsttherapie D ORIS T ITZE

Kunsttherapie ist eine Therapie mit bildnerischen Mitteln, um Ebenen der Erkenntnis sinnlich zu erweitern; sie verdeutlicht im Blick verschiedener Menschen auf das gleiche Bild die Selbstverantwortung der eigenen Wahrnehmung. Bilder zeigen uns fremde und eigene Anteile unseres Wesens sowie unsere Projektionen. Wenn wir in Resonanz zu vermeintlich fremden Bilder gehen, so erhalten wir Anklänge zu unserem eigenen Befinden und erfahren von uns noch unbewussten seelischen Aspekten, denn wir können nicht mitschwingen, wenn wir nicht selbst berührt werden. Resonanzbilder (nach Gisela Schmeer) beziehen sich auf Gedanken, Bilder, Gefühle oder Situationen; sie ›schwingen mit‹ und zeigen ein persönliches, grafisches Echo. Die Transparentpapiermethode des Formanalytischen Spiegelbildes arbeitet empathisch im ressourcen-, lösungs- und handlungsorientierten Zeichendialog.

Keywords: Resonanzbild; Formanalytisches Spiegelbild; Projektion; Abstraktion; Transformation; Empathie

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S PRACHE

Der Maler und Kunsttheoretiker Hans Platschek spielt in einer Karikatur mit dem Klischee des Malers, der dem Betrachter seiner Bilder erklärt, er wäre ja lieber Schriftsteller geworden, aber er hätte nichts zu sagen (Platschek 1999: 9). Platschek wusste jedoch, dass Bilder in ihrer eigenen Sprache erzählen und gelesen werden wollen. Um Bilder lesen zu können bedarf es einer präzisen Wahrnehmung. Statt eines Schauens, das ausschließlich Informationen registriert, erfordert eine solche Wahrnehmung einen Blick, der auf sich selbst und seine eigenen Bedingtheiten achtet. Peter Matussek bezeichnet diesen schöpferischen Prozess in seinem Artikel Der selbstbezügliche Blick als »erinnerndes Sehen« (Matussek 1999). Damit meint er, dass man sich in eine Situation und Atmosphäre der Selbstbegegnung versetzt fühlt, in der Vergangenes gegenwärtig wird. Eine Selbstbegegnung innerhalb der eigenen Wahrnehmung bedeutet ein Mitschwingen mit dem Gesehenen in sorgfältiger Beobachtung. Jeder Wahrnehmungsprozess ist kreativ und projektiv, denn wir können nicht anders, als in Resonanz zu dem Gesehenen zu gehen. Wir selbst erschaffen die Bilder, die wir sehen, in unserer Vorstellung. Hans Belting spricht davon, dass gesehene Bilder zu inneren Bildern werden, solange wir leben und uns daran erinnern: Zwar empfangen wir Bilder von außen, aber wir machen sie zu unseren eigenen Bildern. [...] Unsere eigenen Bilder sind flüchtiger als die Bilder, die uns von außen entgegenkommen. Gleichwohl verleihen sie den gesehenen Bildern in uns selber eine Dauer, solange wir leben.« (Belting 1998: 35)

Im Dialog zwischen der Linie und dem Zeichnenden entwickelt sich das Bild; es entsteht ein selbst erschaffenes Gegenüber. Die Linie erschafft die Zeichnung, indem sie Spuren oder Formen prägt, Wege bahnt oder Grenzen setzt. Sie abstrahiert eine dreidimensionale Bewegung in die Fläche und setzt dadurch die Zeichnenden in Distanz zu sich selbst. Gleichzeitig erzeugt die Zeichnung Nähe, indem sich die Bewegung unmittelbar konkretisiert. Die Aussagekraft besteht in der Art und Weise der Zeichnung: Wie stark ist der Druck auf den Stift, wie verspielt oder konzentriert die Linienführung? (vgl. Titze 2012) Das Blatt Papier bietet den Widerstand für den Stift, der die Zeichnung durch seinen Druck auf die Fläche oder seine zarte Berührung charakterisiert. Die Linie ist eine visuelle Resonanz der Begegnung von Stift und Papier.

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DER

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2 R ESONANZ UND E MPATHIE Resonanz zwischen Menschen ist eine »Wechselbeziehung, in der sich Subjekt und Welt gegenseitig berühren und transformieren. Resonanz ist keine Echo-, sondern eine Antwortbeziehung« schreibt Hartmut Rosa (Rosa 2016: 298). Bei Gefühlsansteckung, welche einer »emotionalen Fusion« (Bischof-Köhler 2010: 147) gleicht, wird das Ich vom Gefühl des Anderen ergriffen, ohne sich bewusst zu sein, dass es sich hierbei um ein Gefühl des Anderen handelt (ebd.: 143). Empathische Prozesse dagegen sind durch eine emotionale Teilhabe an der subjektiven Verfassung des Anderen gekennzeichnet an Stelle einer (unreflektierten, unbewussten) Identifikation damit (ebd.: 143). Eine solche Perspektivenübernahme ist ein rationaler Mechanismus, bei dem sich das Ich bewusst in die Lage eines Anderen hineinversetzt, jedoch ohne von (dessen) Emotionen überwältigt zu werden (ebd.: 143). Eine Gefühlsansteckung entspricht einem unabgegrenzten Empfinden, dass die ganze Welt sich verschattet, weil jemand trauert und man selbst mitleidet. Empathie dagegen entspricht einer miterlebten Trauer, ohne dadurch selbst traurig zu werden. Als soziales Phänomen weist das Resonanzgeschehen Berührungspunkte mit Prozessen der Perspektivenübernahme, Empathie, unbewusster Identifikation sowie Übertragungs- und Gegenübertragungsvorgängen auf (Schmeer 2008: 18). Das Phänomen der Resonanz ist jedoch mehr als die Summe dieser Prozesse; es ist ein Beziehungsgeschehen, das Wandlung initiieren kann (vgl. Schmidt 2016). In Rollenspielen lernen Kinder in Form von Probehandlungen sowohl Perspektivenübernahme als auch Abgrenzung von Anderen.

3 K UNSTTHERAPIE Kunsttherapie ist ein Übungsfeld, das an jenes Probehandeln erinnert – es sind bildhafte Projektionen, Erinnerungen und Antizipationen eigener Handlungen und Erfahrungen der Antwortbeziehung auf die Welt. In Bildern werden diese Erfahrungen visualisiert. Ziel der Kunsttherapie ist die Stärkung der jedem Menschen innewohnenden kreativen Energie, der Selbstheilungskräfte und der Selbstverantwortung. Sie verbindet die Disziplinen der Bildenden Kunst mit therapeutischen Verfahren. Kunsttherapie arbeitet vorrangig mit den Ressourcen, den Quellen und Stärken von Menschen, ohne ihren Konflikten auszuweichen. Kunsttherapie als niederschwelliges Angebot verhilft dazu, Ängste, Hoffnungen und Wünsche zu veranschaulichen und mit Hilfe der Gestaltung überraschende Lösungen zu entwickeln. Im klinischen Kontext ist kunsttherapeutische Arbeit

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inzwischen fester Bestandteil der Therapieangebote und speziell im soziokulturellen, interdisziplinären und interkulturellen Raum gewinnt sie zunehmend an Gewicht. Kunsttherapie ist eine Therapie mit bildnerischen Mitteln, um die Ebenen der Erkenntnis sinnlich zu erfahren und zu erweitern; es geht nicht um ein Kunstschaffen von Patienten. In der Kunsttherapie besteht dennoch oft eine große Scheu der Patienten vor größeren Bildern. Mit Worten verbundene Skizzen (Emoticons, Comics) sind daher für viele, speziell für Jugendliche, eine vertraute Form der Äußerung und Kommunikation und bilden auf diese Weise sogenannte ›niederschwellige‹ kunsttherapeutische Angebote, die einen Einstieg in visuelle Äußerungen erleichtern. Die Kombination von Wort und Bild öffnet sowohl die visuelle als auch die sprachliche Seite der Verständigung. Je reduzierter Bilder sind, desto offener werden sie für projektive Ebenen und die Anregung der Vorstellungskraft. Scott McCloud zeichnet und beschreibt in einem Comic über Comics, wie die Abstraktion der Bildelemente durch ihre Universalität Identifikationsmöglichkeiten unterstützt: Ein differenziert gezeichnetes Gesicht ist ein anderes; eine stilisierte Figur dagegen könnten auch wir selbst sein (vgl. McCloud 2001). So erhöht sich die Möglichkeit zur Identifikation und Projektion anhand des Abstraktionsgrades einer Zeichnung, so bei Emoticons, Comics oder bei den im Folgenden beschriebenen Resonanzbildern. 3.1 Kunsttherapeutische Resonanzbilder In der Kunsttherapie wird oft im Gruppensetting gearbeitet. Dies fördert die Resonanz zwischen den Menschen und lässt Empathie, Identifikationen oder Projektionen sichtbar werden. Gisela Schmeers kunstpsychotherapeutische Methode des Resonanzbildes (Schmeer 2006) fokussiert, Piktogrammen ähnlich, sowohl die präzisierende Zeichensprache als auch die Kombination von Bild und Sprache: Resonanzbilder werden als eine Skizze, eine zeichnerische Mitteilung, auf einem kleinen Papierformat (18 x 21,5 cm) mit schwarzem Stift oder Filzstift gestaltet. Ein Begriff oder Satz auf der Bildrückseite ergänzt oft die Zeichnung. Charakteristisch sind seine konzentrierte Mitteilung und klare Zeichensprache. Resonanzbilder beziehen sich oftmals auf Worte, Stimmungen, Situationen oder andere Bilder. Sie visualisieren Gefühle oder konkretisieren Antworten auf ein Geschehen. Sie greifen etwas scheinbar Fremdes auf, das die Zeichnenden jedoch berührt, aufgeregt, geärgert oder nachdenklich gemacht hat. Resonanzbilder ›schwingen mit‹: »Während Teilnehmer zunächst meinen, sie beziehen sich auf und zeichnen für den anderen, stellt sich bald heraus, dass durch die Resonanz ein eigenes – oft schlafendes – Thema geweckt wurde, manchmal auch ein

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Hinweis auf eine versunkene Ressource.« (Schmeer 2008: 19). Kunsttherapeutisch relevant wird die Resonanzbildmethode unter anderem dadurch, dass die Begrenzung des Bildraumes sowie die klare Schwarzweiß-Grafik sowohl eine Verdichtung der Aussage erzeugen als auch eine Distanz zum (emotionalen) Erleben vermitteln (vgl. Schmeer 2006). Abbildung 1 zeigt das Bild eines Mannes aus einem Weiterbildungsseminar in der Gruppe. Sein Bild trägt den Titel: Es ist ein Seiltanz. Es bezieht sich auf eine berufliche Überlastung, die ihm aber auch Anerkennung einbringt. Mehrere Resonanzbilder der anderen Teilnehmer auf dieses Bild und diese Situation zeigen unterschiedliche Facetten des gleichen Themas (siehe Abbildung 2). Gleichzeitig verdeutlichen sie individuelle Blickpunkte, denn jedes Resonanzbild ist eine individuelle Variation des Bezugsbildes, wovon auch die Worte auf der Rückseite künden: (1) Im Gleichgewicht, (2) Allein mit allem, (3) Verantwortung abgeben können, (4) Tragen, Sisyphos, (5) In die Schlucht stürzen, alle sehen, (6) Tanz oder (7) Hält das Seil? Schmeer (2008) betont die Abweichung der Resonanzbilder in Inhalt und Form von dem Originalbild, auf das sie sich beziehen. Die Betrachtung enthält daher oft einen Überraschungseffekt: Ein Resonanzbild innerhalb einer therapeutischen Gruppenarbeit wird oft als Antwort für jemand anderen gezeichnet. Hier ist man freier im Denken, denn man schaut nicht auf eigene, eingefahrene (vergebliche) Lösungsmuster, sondern hat vielmehr die Potenziale des Gegenübers im Blick. So entwickeln sich Lösungen, für andere gedacht, oft zu einer Antwort auf ein eigenes Problem, denn die Antwort auf ein Gegenüber hat als ein wechselseitiges Geschehen immer auch mit dem Antwortenden selbst zu tun. Die Überraschung öffnet die Sicht auf eine neue Denk- und Erlebensebene sowohl für den Resonanzzeichner als auch für den Resonanzempfänger. Ein reframing bildet sich im Sinne eines konstruktiven, bisher ungewohnten Blickwinkels auf die eigene Situation. Sie wurde als ein visuelles Vor-Bild einer möglichen neuen Seh- und Handlungsweise bereits im Bild aktiv geübt: Eine (bildnerische) Probehandlung, die noch in den Alltag integriert werden muss.

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Abbildung 1: Es ist ein Seiltanz: Initialbild1

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Aus: Schmeer 2008: 22 (mit freundlicher Genehmigung des Sandstein-Verlags).

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Abbildungen 2: Es ist ein Seiltanz: 7 Resonanzbilder2

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Aus: Schmeer 2008: 23 (mit freundlicher Genehmigung des Sandstein-Verlags).

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3.2 Resonanz und Resilienz Das Wort Resonanz leitet sich vom lateinischen resonare ab und bedeutet soviel wie Widerhall, meist als unmittelbare Reaktion auf Ereignisse. In der Musik meint Resonanz die Klangformung und -verstärkung eines Körpers, der durch einen Ton in Schwingung versetzt wird (vgl. Buchleitner in diesem Band). Kunsttherapeutisch aufschlussreich ist die Tatsache, dass in jedem Echo diejenigen mitwirken, die dieses Echo hervorbringen; in jedem Resonanzbild spiegelt sich daher die Sehweise und Eigenart des Zeichners wider. Insoweit fasziniert gerade die Diversität eines Echos innerhalb eines gemeinsamen Inhalts: Im Vergleich der Bilder zeigt sich der individuelle Resonanzbogen. Im therapeutischen Sinne spiegelt die eigene Färbung eines (empathischen) Mitschwingens auch Resilienzfähigkeit und die entsprechenden Ressourcen. Denn wer sich mit dem Bild oder dem Erleben seines Gegenübers so stark identifiziert, dass er keinen Abstand mehr wahren kann, der schwingt so sehr im Gleichklang, dass jener Klang zerbricht. Es wäre dies eine (psychische) Resonanzkatastrophe, entsprechend der übermäßigen Eigenschwingung der TacomaNarrows-Hängebrücke in den USA, die zum Einsturz der Brücke führte (Titze 2008: 10 ff) Dies hieße, auf die seelische Ebene übertragen, seine Eigenständigkeit zu verlieren. Resilienzfähigkeit im Sinne seelischer Widerstandskraft bedeutet, dass man auch bei großem Leid seines Gegenübers bei sich selbst und seiner eigenen Wahrnehmung bleibt und empathisch abgegrenzt mitschwingt, nicht in einer Gefühlsansteckung reflexhaft die Gefühle des anderen übernimmt (s.o.). Als Therapeut bleibt man so ein stabiles, Halt schaffendes Gegenüber. Als Patient stärkt man seine Eigenständigkeit im Sinne der eigenen Resilienz. Ein Resonanzbild wirkt signifikant durch seinen Eigensinn und seine Widerständigkeit innerhalb einer Schwingungsfähigkeit. Es verdeutlicht beide Seiten der Resonanz: Die Fähigkeit zur Empathie sowie die Fähigkeit, bei sich selbst zu bleiben. Die bildnerische Resonanz verdeutlicht ein Mitschwingen mit individueller Stimme. 3.3 Abstraktion Im Rahmen einer Paartherapie bei Christian Mayer veranschaulichen zwei Resonanzbilder zum gemeinsamen Beziehungskonflikt (Abb. 3), wie rational die linke Zeichnung (3/1) und wie emotional die rechte Zeichnung (3/2) gefasst ist. Dem abstrakten Beziehungsdiagramm des Mannes, das vor allem Schnittmengen wiedergibt, steht das figurative Beziehungsdiagramm der Frau gegenüber, das Emoticons zeigt. Die Art und Weise der Gestaltung zeigt bildhaft die individuel-

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le Art und Weise des Umgangs mit der Krise auf: Zum einen den beziehungsorientiert-emotionaleren Zugang zu dem Problem, zum anderen den rationaldistanzierteren Blick darauf. Um die Krise gemeinsam durchzustehen (oder auch nicht) wäre es zunächst notwendig, die jeweils andere Sicht des Partners auf die gleiche Situation wahrzunehmen. Und sie – als zweiten Schritt – zu akzeptieren (oder auch nicht). Insoweit erweitert die grafische Information den Blick auf die Krise und den spezifischen Umgang mit der Situation. Resonanz-Zeichnungen verdeutlichen jenseits der Sprache den eigenen Zugang zur Welt. Abbildung 3: Paartherapie3

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Resonanzbilder bieten auch in anderen Kontexten Raum zur zeichnerischen Reflexion. In der Gedenkstätte Pirna Sonnenstein, einer Vernichtungsstätte der Nationalsozialisten in der Nähe von Dresden, bot Bettina Wittig Besuchern nach der Teilnahme an Führungen an, Resonanzbilder anzufertigen, um auf diese Weise ihre Eindrücke wiederzugeben und schließlich auch darüber zu sprechen Die Teilnehmer waren sehr dankbar für diese Form der nonverbalen Kommunikation, da sie durch die verstörenden Einblicke zunächst meist verstummten. In einigen Zeichnungen überwiegt die Fassungslosigkeit über das Gesehene und Gehörte (Abb. 4/1), wie dies z.B. in der abgebildeten linken Zeichnung die schutzlos liegenden Toten auf dem nackten Boden des kahlen Raumes spiegeln. In anderen Skizzen sind bereits Ressourcen zu sehen, indem etwas zu wachsen

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Aus: Mayer 2008: 90 (mit freundlicher Genehmigung des Schattauer-Verlags).

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beginnt oder ein ganzheitlicher Blick eingenommen wird. So zeigt das abgebildete rechte Bild (Abb. 4/2) die Gemeinsamkeit als Ressource: die individuelle Erfahrung des Todes eingebettet in eine von anderen mitgetragene Trauer, ein lebendig wachsender Baum (eine Trauerweide?), ein geschützter Kreis als symbolische (kosmische) Ganzheit. Diese Ressourcen des rechten Bildes bleiben sichtbar, doch auch der Schrecken im linken Bild ist gebannt; Distanz zum (emotionalen) Geschehen wird möglich und gleichzeitig führen die Bilder zurück zur Sprache. Der Leiter der Gedenkstätte war erstaunt darüber, dass die Teilnehmenden in der Abschlussdiskussion wesentlich offener und mitteilsamer waren als jene der nicht mit Resonanzbildern begleiteten Führungen. Abbildung 4: Pirna Sonnenstein4

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Es ist eine große Qualität kunsttherapeutischer Arbeit, Distanz zu Ereignissen gewinnen zu können, die einmal schädigend und beängstigend waren: Sie sind im Bild fixierte Vergangenheit. Es kann äußerst schmerzhaft sein, sie noch einmal anzusehen und nachzuerleben. Und doch erzeugt das Bild einen heilsamen Abstand: wenn ein Ereignis in ein Bild gefasst ist, ist dies bereits ein Rückblick. Jedes Bild (auch ein Foto oder Video) beinhaltet einen zeitlichen Abstand und erzählt von etwas Abwesendem. Dieses Wissen schützt in der Therapie: Das Medium selbst ist zugleich mit seiner Wirkung der Schutz vor seinen Inhalten. So sehr das Bild von einer Abwesenheit zeugt, so sehr bleibt es doch selbst anwesend, konstatiert Hans Belting: »Im Rätsel des Bildes sind Anwesenheit und Abwesenheit unauflösbar verschränkt. In seinem Medium ist es anwesend (sonst

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Aus: Wittig 2012: ohne Seitenzahlen im Anhang der Diplomarbeit.

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könnten wir es nicht sehen) und doch bezieht es sich auf eine Abwesenheit, von der es ein Bild ist.« (Belting 2001: 29-30) 3.4 Das Sichtbare und das Unsichtbare Bilder wirken sowohl in der Doppelfunktion des Abwesenden und Anwesenden als auch in jener des Schutzes und der Abwehr. »Bilderverbote und Bilderstürme [...] bestätigen die Eindringlichkeit des Bildes durch die Heftigkeit, mit der sie sie bekämpfen«, folgert Peter Matussek (Matussek 1999: 638) Ein Bild ist nicht aktiv; dennoch können wir uns von ihm in seiner materiellen Präsenz bedroht fühlen. Bilder transportieren in ihrer Materie die ihnen innewohnende Idee. Mit der Zerstörung von Kunstwerken versuchen die Menschen, die darin enthaltene Idee zu vernichten. Ein Bild ist eine von Menschen erzeugte Projektion, das diese Projektion zurückwirft und wiederum ängstigt oder hilft. Diesen Projektionscharakter verdeutlichen im Besonderen die Resonanzbilder. Empathie wird möglich, indem der Betrachter nicht mit seinem Bild oder menschlichen Gegenüber verschmilzt, sondern die eigene Position bewahrt. Therapeuten müssen die zur Empathie notwendige Distanz bewahren und Übertragungsmomente der eigenen Resonanz reflektieren. Patienten müssen manchmal vor dem Sog ihrer eigenen Bilder geschützt werden. Im Gegensatz zu früheren Zeiten, als Bilder viel Zeit zu ihrer Erschaffung benötigten, werden wir inzwischen mit digitalen Bildern geradezu überschwemmt. Ereignisse ohne Bilder werden kaum registriert; manipulierte Fotos erschaffen die Wirklichkeiten, die sie abzubilden vorgeben. (vgl. Weibel 2003) Gerade deshalb ist eine Sensibilisierung der Wahrnehmung notwendig, die eine individuelle (und gesellschaftliche) Reflexion von Resonanz auf äußere Bilder einschließt. »Wenn wir verstehen können, wie es den Bildern gelungen ist, ihre gegenwärtige Macht über uns zu erlangen, dann sind wir vielleicht in der Lage, die sie hervorbringende Einbildungskraft zurückzugewinnen.« (Mitchell 2008: 53) Jene (wieder-)gewonnene Einbildungskraft wird letztlich im Menschen selbst wirksam. Bilder vermitteln atmosphärisch verdichtete Energie und erfordern daher im kunsttherapeutischen Kontext eine achtsame Begleitung, um Gefühlsansteckungen vorzubeugen bzw. zu verdeutlichen. 3.5 Transformation Innere Bilder im Sinne einer bewussten Einbildungskraft bedeuten nach Luise Reddemann bereits eine »vorgestellte Externalisierung der Wirklichkeit«: »Der imaginäre Raum als vorgestellte Externalisierung der inneren Wirklichkeit er-

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möglicht der Patientin eine viel weitergehende Kontrolle.« (Reddemann 2001: 25) So interagieren in der psychotherapeutischen Imaginationsarbeit z.B. innere Anteile eines Menschen wie Protagonisten auf einer inneren Bühne. Dadurch werden diese Anteile, eingeschlossen auch von außen übernommene (schädigende) Introjekte, deutlicher bewusst und handhabbar, agieren nicht weiterhin ungreifbar und unkontrollierbar im Unbewussten der Menschen: Eine Externalisierung innerhalb der Psyche selbst. Geäußerte Imaginationen – als im weitesten Sinne in Materie gefasste Bilder, die auch von anderen gesehen werden können ermöglichen eine weitere Distanzierungsmöglichkeit. Zugleich berühren sie unmittelbar und wirken auf die inneren Bilder zurück in einer Annäherung der Menschen an sich selbst. Kunsttherapie setzt den defizitorientierten Krankheitsbildern als stellvertretendes Gegenüber eine sicht- und begreifbare Gestaltung entgegen. Ängste, Hoffnungen, Wünsche oder Ideen werden dargestellt und (zusammen mit anderen) angesehen. Die bildnerischen Medien vermitteln Distanzierungsmomente vom psychischen Geschehen und bieten Raum zu ihrer Gestaltung. Im Gegensatz zu Erzählungen, die bei den Hörenden unterschiedliche innere Bilder evozieren, sieht in einer materiell geäußerten Gestaltung jeder das gleiche Bild vor sich, auf er sich beziehen kann (auch wenn er wiederum, der selektiven Wahrnehmung geschuldet, nicht unbedingt das gleiche sieht). Bilder helfen im Umgang mit der Realität. Der französische Zeichner Joann Sfar schuf 2012 die Graphic Novel: Chagall in Russland. Chagall drängt in dieser Geschichte die Menschen, in seine Bilder und seine Bücher zu schlüpfen: Darin würden sie die Verfolgung überleben. In der Kunsttherapie geht es sowohl darum, eine Realität so ungeschönt anzusehen, wie sie ist, als auch um eine Antizipation z.B. eines Wunsches oder Traumes. Im Bild kann die Realität des Lebens soweit transformiert werden, dass sie erträglich wird und angesehen werden darf. Die unerträgliche Erinnerung braucht dazu eine neue Form und Fassung, soll sie den Menschen nicht verrücken. Ein geäußertes Erleben kann aktiv gehandhabt werden, denn geäußerte Bilder werden (be-)greifbar und wirken auf den Menschen zurück. Das Medium Bild verändert die Wahrnehmung. Eckehard Gattig schreibt: »Menschen brauchen Bilder, um sich mit deren Hilfe ihrer selbst gewiss zu bleiben, sich mithilfe der Bilder des Ähnlichen und Beinahe-Gleichen der eigenen Subjektivität zu vergewissern. [...] Künstler liefern dem Menschen also Identifizierungsangebote, mit denen sie ihm die Bedingungen seiner Existenz vor Augen führen. […] Die Transformationsarbeit erschafft keine neue Welt aber sie verändert die Aufmerksamkeitshaltung gegenüber der Welt und erschafft eine neue Gestalt für die Beziehung zu ihr.« (Gattig 2009: 25)

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Art Spiegelman verfremdete die Erfahrungen des Holocausts seiner Familie soweit, dass sie für ihn erträglich wurden. Sein Comic Maus. A Survivor’s Tale (1996) wurde für ihn überlebenswichtig; er thematisiert hier sowohl den Holocaust als auch seine schmerzhafte Erinnerung und die seiner Familie. Bilder sind Stellvertreter im Umgang mit dem eigenen Erleben; sie werden aktiv verfügbar in einer Distanzierung, Transformation und Aneignung. Im Buch Katharsis zeichnete der Grafiker Luz, der zu spät zur Redaktionskonferenz von Charlie Hebdo gekommen und dadurch dem Attentat entgangen war, seine Flashbacks im Jahr danach als Überlebender auf Lebenszeit (Luz 2015). Luz’ Einblicke in seine Seele lassen spüren, wie er den Albtraum zeichnend zu bewältigen sucht. Er teilt (sich) mit. 3.6 Das Eigene und das Fremde Die äußere Ebene einer Gestaltung ist nur scheinbar flach; sie öffnet imaginäre Räume: Spielräume und Beziehungsräume, Resonanzräume. Dennoch wirkt die bildnerische Erfahrung in den Alltag. Erfahrungen werden vorgebildet, auch jene, die das Leben nicht zu erlauben scheint. Das Bild als Gegenüber ist (auch) ein Fremdes: »Dass nämlich aus Sicht einer psychoanalytischen Ästhetik von der kunstästhetischen Erfahrung eines Bildes dann die Rede sein kann, wenn wir es nicht bloß kraft unserer Imagination aus seiner Fläche heraustreten lassen, es animieren, sondern es auch zulassen, dass es sich uns entzieht – fremd, flach, stumm und blind wird.«(Soldt 2009: 150)

Bilder abstrahieren das Leben in die Fläche und schaffen ein Gegenüber des Menschen. Das Bild oder Objekt als ein Gegenüber und Anderes zu sehen, ist durch seine Begrenzung möglich. »Selbst in den imaginären Raum, den ein Bild eröffnet, einzutauchen, sich in ihm zu bewegen, und nicht ›adhesiv‹ zu einem Teil eines Anderen zu werden, das dann gar kein Bild, sondern bloß noch ein Affekt ist – diese Subjektform ist konstitutiv an die erfahrbare Grenze des Bildes gebunden. [...] In dieser Hinsicht wird auch das Traumbild für den Träumer erst am Morgen zu einem Traumbild, nachdem das nächtliche visuelle Geschehen durch das Aufwachen allererst einen Rahmen erhalten hat.« (Soldt 2009: 144-145)

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Abbildung 5: Körperbild-Kommunikation5

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Aus: Titze 2007: 45 (mit freundlicher Genehmigung des Sandstein-Verlags).

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Der eigene Traum oder das eigene Bild erhalten eine Form; erst diese Grenze macht sie zu einem Anderen. Gleichzeitig ist das Andere ein Eigenes. Ein Bild als ein von einem selbst getrenntes Gegenüber zu erfahren schafft Distanz in der Nähe. Es geht in der Kunsttherapie um den Blick in das Bild hinein und aus dem Bild heraus. Mit einer äußeren Gestalt innerer Bilder kann man konkret in Kontakt treten. Etwas, das durch den Menschen selbst gestaltet wurde, schaut ihn an, fremd und vertraut zugleich. Sich in die eigene Skulptur einzufühlen oder mit dem eigenen Bild ein Gespräch aufzunehmen, schafft ein neues Bewusstsein seiner selbst. Die Interaktion mit dem Bild als ein eigenständiges (und teilweise fremdes) Gegenüber ist ebenso wie seine Gestaltung eine aktuelle Handlung (Abb.5). Das Fremde der Gestaltung wird ein Eigenes. Das äußere Bild wird ein inneres, das weiterwirkt. Es äußert sich erneut. Manche unserer Bilder bleiben aktuell, andere verlieren im Fluss der Zeit ihre Bedeutung. Die Bilder selbst bleiben so, wie sie sind, doch geraten sie durch unsere Resonanz in Schwingung. Es entsteht eine narrative Antwortbeziehung. 3.7 Formanalytisches Spiegelbild Erzählungen bieten Anknüpfungspunkte für sequenzielle Kunsttherapieangebote. Skizzen verdeutlichen die Dynamik eines Konfliktes oft akzentuierter als ausführlich gemalte Bilder, da sie zur Konzentration anregen. Sie sind dadurch eine Hilfe sowohl für mit Worten schwer zu vermittelnden Erfahrungen als auch zur interkulturellen Verständigung. Gezeichnete Bildsequenzen sind eine wichtige, vorwiegend nonverbale Form kunsttherapeutischer Prozesse, besonders in ihrer dialogischen Variante: So fordert z.B. das im Folgenden beschriebene Formanalytische Spiegelbild vom Therapeuten Resonanzfähigkeit und Achtsamkeit sowie innerhalb seiner Spiegelung Asymmetrien ein. Das Formanalytische Spiegelbild achtet auf Inhalt und Form der Darstellung. Während der Sitzungen wird Schritt für Schritt dialogisch nonverbal gearbeitet und minimal interveniert. (Es ist angelehnt an das Progressive Therapeutische Spiegelbild von Benedetti/ Peciccia 1994, das jedoch tiefenpsychologisch arbeitet.) Es arbeiten abwechselnd der Patient und der Therapeut. Der Patient beginnt mit einer sogenannten Irritationsskizze: Er zeichnet einen kleinen Alltagskonflikt (von sich oder jemand anderem) – etwas Aktuelles, das ihn noch beschäftigt. Der Therapeut paust die Zeichnung auf ein Transparentpapier durch und korrigiert es dabei graduell hinsichtlich einer Lösungsbewegung. Danach verändert der Patient auf einem neuen Blatt wiederum minimal die Zeichnung, indem er die Vorschläge annimmt und erweitert oder auch negiert. Ein letztes Mal modifiziert der

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Therapeut auf wiederum einem neuen Pauspapier. Danach wird die gemeinsame Bildsequenz in der entstandenen Reihenfolge ausgelegt und betrachtet. Im abgebildeten Beispiel (Abb. 6: Irritationsskizze 6/1; Bearbeitungen 6/2 und 6/3) weckt bereits eine einmalige Verschiebung der rechten (bedrohlichen) Person eine Erkenntnis, die zunächst nicht bewusst wahrgenommen wurde: Die stachelige Person hat auch eine weiche Seite; auf diese könnte man sich beziehen, um nicht weiterhin verletzt zu werden (6/4). Diese Erkenntnis war so verblüffend wie erleichternd (vgl. Titze 2011). Abbildungen 6: Spiegelbildsequenz 16

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Das zweite Beispiel (Abb. 7) zeigt mit der Frage: Wie kann ich dem täglichen Elend begegnen? ein globales Problem, das in Brasilien, in dem das Seminar stattfand, ein alltägliches ist. Der Therapeut zeichnete in seinem Antwortblatt der Person, die an dem Bettler vorübergeht, ein Gesicht (Abb.7/2). Dies veranlasste den Klienten in einer erneuten Modifikation des Blattes, den Bettler aufstehen zu lassen (7/3): Beide Personen begegnen sich nun auf Augenhöhe.

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Aus: Titze 2011: 156 (mit freundlicher Genehmigung des Schattauer-Verlags).

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Darauf reagiert wiederum der Therapeut und der Bettler auf dem Bild lässt erst einmal seine Schale sinken (7/4). Abbildungen 7: Spiegelbildsequenz 27

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Die Handlungsblockade weicht in der Sequenz einem anteilnehmenden Blick: Es geht zuerst darum, den Anderen anzusehen und bewusst zu beachten. Das Beachten führte zu einem Achten; danach erst begann ein Resonanzprozess. Die globale Frage konnte in der Stunde natürlich nicht gelöst werden, aber es stellte sich die Frage, ob man selbst schon einmal missachtet wurde oder jemanden übersehen hatte. Auf seelischer Ebene wäre zu überlegen, welche eigenen inneren Anteile des Zeichners bedürftig sind und (von ihm selbst) liebevoll angesehen werden wollen. Das Nachzeichnen des Therapeuten fördert die Einfühlung in das Bild: visuell, gedanklich, emotional sowie als direkte körperliche (Zeichen-) Bewegung in einem ressourcen-, lösungs- und handlungsorientierten Prozess. Eine enge oder großzügige, verhaltene oder vehemente Linienführung kann vielfältig nachempfunden werden. Alle Bilder haben eine Subjekt- und eine Objektebene: Die

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Aus: Titze 2011: 157 (mit freundlicher Genehmigung des Schattauer-Verlags).

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Mehrschichtigkeit der Bildebene zeigt den Konflikt als aktuelle Situation mit unterschiedlichen Protagonisten als auch die innere Ebene unterschiedlicher, seelischer Anteile. Die Zeichnungs-Sequenzen veranschaulichen nachvollziehbar neue Perspektiven und beteiligen den Patienten aktiv und selbstverantwortlich. Die eigene Handlungsfähigkeit wird anschaulich: Viele Lösungsangebote sind oft (zunächst unerkannt) schon im Bild selbst enthalten. Einzelne Veränderungsschritte der im Bild erprobten Lösungen sowie die Struktur eines Konfliktes bleiben allen sichtbar vor Augen. Das Medium Bild ist zugleich eindeutig und vielschichtig. Während z.B. die Erzählung eines Traumes im Hörenden vielfältige Bilder evoziert, wird von Therapeut und Patient dasselbe gemalte Bild dieses Traumes gesehen. Dennoch entdecken beide in demselben Bild unterschiedliche Inhalte oder Schwerpunkte. Die Bildarbeit verdeutlicht im Blick verschiedener Menschen auf das gleiche Bild die Selbstverantwortung der eigenen Resonanz. Das Bild selbst bleibt ein Raum für die Vorstellungen der Betrachter und erhält einen Bedeutungszuwachs; es beginnt nach seiner Fertigstellung ein Eigenleben.

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Bilder abstrahieren, verfremden, transformieren und hinterfragen unsere Wahrnehmung. In der kunsttherapeutischen Bildarbeit mit Resonanzthemen antworten die Partner einander mit eigener Stimme innerhalb eines empathischen Miteinanders. Die aufeinander bezogenen Bilder verdeutlichen ein Beziehungsgeschehen; sie vernetzen sich gleichwertig-verbindend (sowohl-als-auch) und stehen sich nicht gegensätzlich-trennend gegenüber (entweder-oder). Bild gewordene Resonanzen können Muster eines Konfliktverhaltens sowie vorhandene Ressourcen veranschaulichen; sie zeigen nachvollziehbar neue Perspektiven auf und wirken in den Alltag: Die Gestaltung wird begreifbar. Da die Bildebene gleichzeitig und gleichwertig divergierende Inhalte präsentieren kann, ist deren Integrationsmöglichkeit bereits als Wegweiser einer neuen Perspektive vorgebildet. Alle Bilder zeigen uns fremde und eigene Anteile unseres Wesens und verdeutlichen unsere Projektionen. Wenn wir in Resonanz zu vermeintlich fremden Bilder gehen, so erhalten wir Anklänge zu unserem eigenen Befinden und erfahren von uns noch unbewussten seelischen Aspekten, denn wir können nicht mitschwingen, wenn wir nicht selbst berührt werden. Wenn wir in unseren eigenen Bildern fremde Seiten entdecken, so wissen wir, dass diese bereits in uns sind. Das geäußerte Bild ermöglicht eine Distanzierung und neue Wahrnehmung; zu-

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gleich berührt es unmittelbar: Es wandelt das innere Bild. Im Dialog der Gestaltung beeinflussen sich innere und äußere Bilder gegenseitig auch im Sinne einer Membran: »Hat man eine Zeichnung erst einmal begonnen, gibt es ein Gespräch zwischen dem, was darin erscheint, und dem, wovon man sich vorstellt, dass es erscheinen wird. Die Zeichnung wird zu einer Membran zwischen der Welt und einem selbst.« (Kentridge 2016: 1) Angela Breidbach beschreibt in einem Gespräch mit William Kentridge dessen Zeichnungen als ein »sichtbar gemachtes Nachdenken«. (Kentridge 2005: 6) Bildhafte Resonanz verdeutlich den Austausch von Subjekt und Welt: Sie schult die Wahrnehmung der Beziehung zwischen den inneren und den äußeren Bildern sowie der Menschen zueinander. Ein geäußertes Bild trägt in der Materie jene Vorstellung, die sichtbar werden möchte, und setzt der Flüchtigkeit innerer Bilder eine zeitliche Dauer entgegen; es bringt Vergangenes in die Präsenz einer gleichzeitigen Anwesenheit und Abwesenheit. Das im Außen materialisierte Bild kann von verschiedenen Menschen gleichzeitig bewusst wahrgenommen werden. Kunsttherapeutische Bildarbeit verdeutlicht daher in der Resonanz verschiedener Menschen auf das gleiche Bild die Selbstverantwortung der eigenen Wahrnehmung.

5 L ITERATUR Belting, Hans (1998): »Der Ort der Bilder«, in: Hans Belting/Lydia Haustein (Hg.), Das Erbe der Bilder: Kunst und moderne Medien in den Kulturen der Welt, München, S. 34-53. Belting, Hans (2001): Bild-Anthropologie: Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München: Fink. Benedetti, Gaetano/ Peciccia, Maurizio (1994): »Das progressive therapeutische Spiegelbild«, in: Gertraud Schottenloher (Hg.), Wenn Worte fehlen, sprechen Bilder, München: Kösel-Verlag GmbH & Co., Band 2, S. 92. Bischof-Köhler, Doris (2010): »Zusammenhang von Empathie und Selbsterkennen bei Kleinkindern«, in: Gerhard Dammann/Thomas Meng (Hg.), Spiegelprozesse in Psychotherapie und Kunsttherapie, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 143-151. Gattig, Ekkehard (2009): »Arbeit der Bilder: Die Präsenz des Bildes im Dialog zwischen Psychoanalyse, Philosophie und Kunstwissenschaft. Eine Einführung«, in: Philipp Soldt/Karin Nitzschmann (Hg.), Arbeit der Bilder: Die Präsenz des Bildes im Dialog zwischen Psychoanalyse, Philosophie und Kunstwissenschaft, Gießen: Psychosozial-Verlag, S. 15-30.

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Kentridge, William (2005): »William Kentridge, Gespräche mit Angela Beidbach: Thinking Aloud«, herausgegeben von Christian Posthofen, Köln: Walther König. Kentridge, William (2016): »William Kentridge: NO IT IS«, Folder zur Ausstellung »NO IT IS!«, Martin-Gropus-Bau, 12. Mai bis 21. August 2016, Berliner Festspiele, Kunststiftung des Bundes. Luz (2015): Katharsis, aus dem Französischen von Uli Aumüller und Grete Osterwald, Frankfurt/Main: Fischer. Matussek, Peter (1999): »Der selbstbezügliche Blick. Ein Merkmal des erinnernden Sehens und seine medialen Metamorphosen«, in: Zeitschrift für Germanistik 3, S. 637-654. Mayer, Christian (2008): Hieroglyphen der Psyche: Mit Patientenskizzen zum Kern der Psychodynamik, Stuttgart: Schattauer. McCloud, Scott (2001): Comics richtig lesen: Die unsichtbare Kunst, Hamburg: Carlsen. Mitchell, William J (2008): Bildtheorie, Berlin: Suhrkamp. Platschek, Hans (1999): Die Zeit ist ein gieriger Spieler: Über die Malerei des 20. Jahrhunderts, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt. Reddemann, Luise (2001): Imagination als heilsame Kraft, Stuttgart: Klett-Cotta. Rosa, Hartmut (2016): Resonanz: Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin: Suhrkamp. Sfar, Joann (2012): Chagall in Russland, Berlin: Avant Verlag. Schmeer, Gisela (2006): Die Resonanzbildmethode. Visuelles Lernen in der Gruppe: Selbsterfahrung – Team – Organisation, Stuttgart: Klett-Cotta. Schmeer, Gisela (2008): »Die Resonanzbildmethode: Ein Ansatz zu systematischer kunsttherapeutischer Forschung« in: Doris Titze (Hg.), Resonanz und Resilienz: Zu den heilsamen und unheilvollen Kräften menschlicher Schwingungsfähigkeit, Dresden: Sandstein, S. 18-33. Schmidt, Christina (2016): Ich und das Bild des Anderen: Wirkungsweisen der Resonanzarbeit mit Bild und Wort als integriertes Ritual in kunsttherapeutischen Gruppensitzungen. Unveröffentlichte Diplomarbeit HfBK Dresden. Soldt, Philipp (2009): »Die Subjektivität der Bilder: Eine empirische Untersuchung zur Psychodynamik kunstästhetischer Erfahrungen«, in: Philipp Soldt/ Karin Nitzschmann (Hg.), Arbeit der Bilder: Die Präsenz des Bildes im Dialog zwischen Psychoanalyse, Philosophie und Kunstwissenschaft, Gießen: Psychosozial-Verlag, S. 129-154. Spiegelman, Art (1992): Maus: A Survivor’s Tale, Pantheon Graphic Novels: München.

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Titze, Doris/HfBK Dresden (2007): »›Wir sind schon da‹: Ein Körper-BildProjekt. Dresden: Sandstein. Titze, Doris (2008) (Hg.): Resonanz und Resilienz: Zu den heilsamen und unheilvollen Kräften menschlicher Schwingungsfähigkeit, Dresden: Sandstein. Titze, Doris (2011): »Überzeichnungen«, in: Barbara Wild (Hg.), Humor in der Psychiatrie und Psychotherapie: Neurobiologie – Methoden – Praxis, Stuttgart, New York: Schattauer, S. 148-163. Titze, Doris (2012): »Die Linie im Bild. Zeichnungen im kunsttherapeutischen Kontext«, in: Doris Titze/HfBK Dresden (Hg.): Zeichen setzen im Bild. Zur Präsenz des Bildes im kunsttherapeutischen Prozess. Sandstein: Dresden, S. 117-125. Weibel, Peter (2003): »Magie und Bild: Ein Gespräch mit Birgit Richard«, in: Kunstforum international 163, Rupichterroth: Kunstforum-Verlag. Wittig, Bettina (2012): Die therapeutische Wirkung des Gedenkens. Unveröffentlichte Diplomarbeit HfBK Dresden.

Dynamisierung von Bildräumen oder Resonanz als ästhetische Strategie gelingenden Lebens M ARION L AUSCHKE

Als Resonanz wird in diesem Text zum einen ein Verhältnis zwischen Bild und Betrachter verstanden, welches als unbewusste, unwillkürliche körperliche Interaktion beginnt. Es grundiert die Interpretation eines Bildes, kann dem Betrachter durch kinästhetische Wahrnehmung bewusst werden und schließlich in eine ästhetische Erfahrung münden. Zum anderen wird mit einem Begriff von intrapersonaler Resonanz operiert, der die Verbindung zwischen sensorischem und motorischem Apparat, den Emotionen und der bewussten Wahrnehmung bezeichnet. Im ersten Teil des Textes wird am Beispiel des Bildes der »Eisenbahnbrücke über die Avenue Montmajour« von Vincent van Gogh aus dem Jahre 1888 dargestellt, inwiefern unwillkürliche körperliche Reaktionen die Entstehung des ikonischen Sinnes mitbestimmen können. Die Erklärung von motorischer Resonanz in der visuellen Wahrnehmung mithilfe eines kunstpsychologischen Ansatzes erfolgt im zweiten Teil des Textes. Der dritte und vierte Teil führen die Überlegungen zur motorischen Resonanz vor dem Hintergrund des Pragmatismus John Deweys fort und thematisieren das resonierende Verhältnis zwischen Ich und Welt als ästhetische Strategie gelingenden Lebens.

Keywords: Motorische Resonanz; intrapersonale Resonanz; Interaktion; Multimodalität der Wahrnehmung; ästhetische Erfahrung

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Es gibt keine Prüfung, die so sicher die Einseitigkeit einer Philosophie enthüllt, wie die ihrer Behandlung der Kunst und der ästhetischen Erfahrung. JOHN DEWEY/KUNST DER ERFAHRUNG

1 E INLEITUNG Sowohl die Herkunft des Begriffs Resonanz aus dem Bereich der Akustik, in dem er das Mitschwingen schwingungsfähiger Körper als Reaktion auf hinsichtlich ihrer eigenen Frequenz kompatible Klänge bezeichnet, als auch die Bereitschaft des menschlichen Körpers zur unwillkürlichen rhythmischen Mitbewegung zu Musik und nicht zuletzt die Eigenschaft von Musik, Stimmungen zu erzeugen oder zu verstärken, legen es nahe, Resonanzphänomene vor allem als Bewegungsantworten auf Klänge zu begreifen. Die Unwillkürlichkeit des InSchwingung-versetzt-Werdens durch Klänge macht den Aufforderungscharakter des Akustischen deutlich. Doch auch das traditionell mit der autonomen Betätigung der Vernunft in Verbindung gebrachte und dementsprechend als Distanzsinn etikettierte Sehen (vgl. Konersmann 1997) enthält entgegen der dominant aktiven Konnotation des Erblickens, des In-Augenschein-Nehmens und des Fokussierens ein Bewegtwerden durch visuell Wahrgenommenes, in dem der Sehende in ein resonierendes Verhältnis zum Gesehenen gerät. In Forschungen zur sozialen Kognition wurde nachgewiesen, dass Menschen eine starke Neigung haben, ihre Haltungen und Bewegungen denjenigen anderer, die sie beobachten, anzugleichen (Chartrand/ Bargh 1999). Die Spiegelneuronenforschung hat die neuronale Grundlage dafür entdeckt, dass durch visuell wahrgenommene Handlungen sowie durch das Sehen von Gegenständen, mit denen Handlungen ausgeführt werden können, Bewegungsdispositionen im Körper des Wahrnehmenden aufgebaut werden. In Publikationen von Kunsthistorikern, Philosophen und Neurowissenschaftlern wurde überzeugend dafür argumentiert, dass auch Bilder motorische Resonanzen motivieren können, indem sie die Spiegelneuronen stimulieren bzw. indem die den Bildern inhärenten Bildschemata das menschliche Körperschema affizieren (Freedberg/Gallese 2007; Umiltà et al. 2012; Krois 2011). Da Bilder Resonanzverhältnisse nicht nur ermöglichen, sondern diese auch darstellen können (Rosa 2016: 483), ist Bildwahrnehmung ein besonders geeigneter Gegenstand zur Erforschung des vielschichtigen Forschungsgegenstandes Resonanz.

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Der Begriff der Resonanz, der in diesem Text diskutiert wird, bewegt sich in einem ›Mittelfeld‹ zwischen seiner Verwendung zur naturwissenschaftlichen Erklärung vor allem physikalischer Phänomene und einem metaphorischen Gebrauch zur Bezeichnung von Feedback oder Stellungnahme. Mit ›Mittelfeld‹ soll jedoch keine Unschärfe oder Unentschiedenheit verschleiert, sondern die Vermittlung des Reiches natürlicher Notwendigkeiten mit dem kultureller ›Freiheit‹ markiert werden. So zeigen Menschen insbesondere dann chamäleonartiges Verhalten, wenn sie mit der Person, die sie beobachten, sympathisieren oder Teil der Gruppe, zu der die beobachtete Person gehört, sein möchten. Das Feuern von Spiegelneuronen ist ausgeprägt, wenn die beobachteten Bewegungen zum Bewegungsrepertoire des Beobachters gehören, und muss folglich im Kontext sozialen Lernens betrachtet werden. Bildbetrachtung vollzieht sich wie das menschliche Hören in der Spannung von reason and resonance (Erlmann 2010), denn Bilder affizieren unwillkürlich und fördern distanzschaffende Reflexion (Warburg 1998). Als Resonanz wird in diesem Text zum einen ein Verhältnis zwischen Bild und Betrachter verstanden, welches als unbewusste, unwillkürliche körperliche Interaktion beginnt. Es grundiert die Interpretation eines Bildes, kann dem Betrachter durch kinästhetische Wahrnehmung bewusst werden und schließlich in eine ästhetische Erfahrung münden. Der Beitrag stellt dementsprechend die körperlich wahrnehmbare Wirkung von Bildern ins Zentrum, ohne auf eine formale Betrachtung zu verzichten. Zum anderen wird mit einem Begriff von intrapersonaler Resonanz operiert, der die Verbindung zwischen sensorischem und motorischem Apparat, den Emotionen und der bewussten Wahrnehmung bezeichnet. Unter Resonanz wird somit sowohl ein Verhältnis zwischen Organismus und Umwelt als auch die Verbindung zwischen verschiedenen kognitiven und motorischen Ebenen des Organismus verstanden. Beide stehen in einem Wechselverhältnis zueinander.1 Im ersten Teil des Textes wird am Beispiel des Bildes der Eisenbahnbrücke über die Avenue Montmajour von Vincent van Gogh aus dem Jahre 1888 dargestellt, inwiefern Bildbetrachtung nicht auf die reproduktive Konstruktion eines souveränen Subjekts reduziert werden kann, das als Repräsentationen niederlegte Symbole entschlüsselt, sondern inwiefern unwillkürliche körperliche Reaktionen die Entstehung des ikonischen Sinnes mitbestimmen können und inwiefern gerade die Irritation der körperlichen Weltorientierung entscheidend dazu beiträgt.

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Zur Differenzierung von interpersonaler bzw. interkorporaler Resonanz und intrapersonaler Resonanz vgl. Uithol et al. 2011 und Fuchs/Koch 2014.

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Die Erklärung von motorischer Resonanz in der visuellen Wahrnehmung mithilfe eines kunstpsychologischen Ansatzes erfolgt im zweiten Teil des Textes. Zurückzuführen ist die Mitbewegung des Körpers mit wahrgenommenen Handlungen, Gegenständen und auch abstrakten Formen auf die Multimodalität der sinnlichen Wahrnehmung, welche neben der jeweils vorherrschenden Modalität eines Sinnes eine kinästhetische Komponente enthält. Während diese kinästhetische Komponente bei der Wahrnehmung akustischer Phänomene durch Bewegungsimpulse in den Gliedmaßen bis hin zu ganzkörperlichen Bewegungen des Tanzens deutlich wird, hat sie in der visuellen Wahrnehmung überwiegend den Charakter der Irritation oder des Schwindels, dem der Körper in der Regel nicht durch Mitbewegung, sondern durch Ausgleich zu antworten versucht. Der dritte und vierte Teil führen die Überlegungen zur motorischen Resonanz fort und thematisieren das resonierende Verhältnis zwischen Ich und Welt als ästhetische Strategie gelingenden Lebens. Damit wird das in den ersten beiden Teilen diskutierte Begriffsspektrum um eine ethisch-ästhetische Komponente erweitert. Die Philosophie John Deweys bildet einen geeigneten Rahmen für diese Diskussion. Denn kennzeichnend für die Philosophie Deweys ist erstens ein Primat des Praktischen, d.h. der Handlung und Bewegung als Ausgangspunkt kognitiver Prozesse, und zweitens eine Kontinuität der sensomotorischen und der kognitiven Ebenen. Drittens gibt es in Deweys Konzeption des Verhältnisses zwischen Organismus und Umwelt keine einseitige Aktivität, d.h. einen Part, der aktiv, und einen anderen, der passiv ist, sondern eine beständige Interaktivität. Viertens bietet sein Begriff der Erfahrung die Möglichkeit, resonierende und ›stumpfe‹ Weltverhältnisse zu differenzieren. Dewey zufolge befindet sich der Betrachter eines Bildes (so wie jeder Organismus in seiner Umgebung) immer schon in einer – freilich zunächst unbemerkten – Interaktion mit seiner Umwelt. Sensorik und Motorik sind sowohl bei Menschen als auch bei Tieren in einer Weise auf einander abgestimmt, dass diese Interaktion automatisch abläuft. Deweys Konzeption der menschlichen Erfahrung, dies wird im dritten Teil gezeigt, liegt eine Verbindung zwischen sinnlicher Wahrnehmung, Motorik, Emotionalität und Erkenntnis zugrunde, die als intrapersonale Resonanz bezeichnet werden kann. Alle Komponenten sind an der Entstehung einer Erfahrung beteiligt. Zwar erhebt sich der Mensch durch sein Bewusstsein über das animalische Leben. Diese Auszeichnung ermöglicht es ihm jedoch auch, »to sink below the level of the beasts« (Dewey 1980: 28), was dann geschieht, wenn die Verbindung zwischen intellektueller Tätigkeit und Sinnlichkeit abreißt: Viele alltägliche Verrichtungen des Menschen sind in einer

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Weise automatisiert, dass der Mensch nicht mehr mit seinen Sinnen an der umgebenden Welt teilnimmt. »We undergo«, so lautet die Kritik Deweys, »sensations as mechanical stimuli or as irritated stimulations, without having a sense of the reality that is in them and behind them: in much of our experience our different senses do not unite to tell a common and enlarged story.« (Dewey 1980: 27) Das bedeutet, dass sich die Erfahrung intrapersonaler Resonanz in der Interaktion zwischen Ich und Welt im Gegensatz zur Verkopplung von Sensorik und Motorik nicht automatisch einstellt, sondern ein Kennzeichen gelingenden Lebens ist. Während eine Trennung von Körper und Geist Rückzug und Enge bedeutet, ermöglicht ihre Verbindung Vitalität, Intensität und Erfüllung. Eine ästhetische Erfahrung ist für Dewey die Steigerung der gewöhnlichen Erfahrung, und so ist es eine Aufgabe der Kunst, somit auch der Bilder, Resonanzverhältnisse zu intensivieren und fühlbar zu machen. Indem Ästhetik durch den doppelten Fokus auf den wahrgenommenen Gegenstand sowie als Selbstreflexion des ästhetisch Wahrnehmenden im Medium des Kunstwerkes Weltverhältnisse sichtbar macht, kann sie als Paradedisziplin zur Erforschung von Resonanz gelten. Der Darstellung dieses Zusammenhangs ist der vierte Teil gewidmet.

2 D YNAMISIERUNG DES B ILDRAUMES : V INCENT VAN G OGHS »E ISENBAHNBRÜCKE ÜBER DIE AVENUE M ONTMAJOUR « Bewegung ist in dem Bild Eisenbahnbrücke über die Avenue Montmajour von Vincent van Gogh aus dem Jahre 1888 (vgl. Abb.1) nicht nur durch die Motivwahl thematisch: Eine das Bild dominierende, sich weit in die räumliche Tiefe ziehende sowie über den rechten Bildrand hinaus erstreckende Eisenbahnbrücke überspannt eine Straße, auf der sich Personen fortbewegen. Entlang der Trottoirs fließen Bäche. Es sind vor allem drei Gestaltungselemente, die das an sich statische Bild eines massiven Bauwerks sowie den Wahrnehmungsraum, der den Betrachter einschließt, in Bewegung versetzen: (1) die Gestaltung der Bild- und Blickachsen sowie der Fluchtpunkte, (2) Perspektivische Verzerrungen, (3) die malerische Dynamisierung der Flächen.

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Abbildung 1: Vincent van Gogh, »Eisenbahnbrücke über die Avenue Montmajour«, 1888, Öl auf Leinwand, 71 x 92 cm.

Quelle: Kunsthaus Zürich (mit freundlicher Genehmigung).

(1) Gestaltung der Bild- und Blickachsen sowie der Fluchtpunkte Das Bild ist durch zwei Diagonalen strukturiert. Die Eisenbahnbrücke erstreckt sich als Fortsetzung des Bahndamms diagonal von hinten links nach vorne rechts und teilt das Bild in einen Vordergrund (vor der Brücke), einen Mittelgrund unter der Brücke sowie einen Hintergrund. Sie führt über eine Straße, welche die zweite Achse bildet. Auf der Straße bewegen sich Menschen gehend oder in der Kutsche fahrend, in der Mehrzahl auf den Betrachter zu, aber auch in die entgegengesetzte Richtung. Die Rinnsale entlang der Trottoirs fließen, sich überproportional verbreiternd, dem Betrachter entgegen. Durch den Lichteinfall räumlich abgesetzt befindet sich hinter der Eisenbahnbrücke eine weitere Brücke, die im Unterschied zu der eckig gestalteten Eisenbahnbrücke einen Rundbogen aufweist. Die Rundbogenbrücke überwölbt eine in klares gelbes Sonnenlicht gehüllte Szenerie, in der eine in kräftigem Grün gehaltene Allee mit einer kleinen Anzahl Personen zu sehen ist. Sie bildet eine Atmosphärengrenze zwischen dieser heiteren Szenerie, welche den Fluchtpunkt der Perspektive bildet und den Blick

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des Betrachters in die Tiefe des Bildes zieht, und dem in kalten Pastelltönen gehaltenen Vordergrund des Bildes. Die ebenfalls in einem kräftigen Grün kolorierten Haufen organischen Materials im Vordergrund verweisen als Überreste auf die Naturdarstellung des Hintergrundes. Die sich im Vordergrund des Bildes auf den Betrachter zubewegenden Menschen signalisieren durch schwere Kleidung und leicht gebückte Haltung (des Mannes am linken Bildrand) Kälte und Verschlossenheit. In der Betrachtung widerstreiten mehrere Bewegungstendenzen: Während die Eisenbahnbrücke den Blick vor allem durch einen aus der trüben Farbgebung herausragenden flächig gemalten kräftigen türkisen Streifen parallel zum Verlauf der Schienen führt und der sich an die Brücke anschließende Bahndamm den Blick über den linken Bildrand hinauslenkt, zieht die heitere Szenerie des perspektivischen innerbildlichen Fluchtpunktes den Blick des Betrachters in die Tiefe. Der Bewegungsrichtung der Mehrzahl der dargestellten Personen folgend, wird der Betrachter hingegen, unterstützt durch die trübe und abweisende farbliche Gestaltung des Vordergrunds, rückwärts gedrängt. Die körperliche Orientierung des Betrachters ist durch die kontrovers gestaltete Blickführung irritiert. Das helle Gesicht der Frau vor dem durch eine Laterne beleuchteten Mittelpfeiler, die den Schnittpunkt der Diagonalen bildet, zieht den Blick des Betrachters zunächst an; die rudimentäre Gestaltung des Gesichts lässt sie jedoch, ebenso wie die anderen Personen, gespenstisch wirken. (2) Perspektivische Verzerrungen Die Multiperspektivität des Bildes,2 die zu Verzerrungen des dargestellten Bauwerks und der technischen Vorrichtungen führt, verstärkt die körperliche Empfindung von Desorientierung. Das Gleichgewichtsorgan des Menschen reagiert nicht nur auf Schwankungen des Grundes, auf dem er steht, wie an der Erfahrung eines bei Seegang schwankenden Schiffes deutlich wird, sondern auch auf Diskrepanzen zwischen dem propriozeptiv und dem visuell wahrgenommenen Raum. So kann der Blick auf einen unbewegt erscheinenden Horizont vom schwankenden Schiff aus das Gleichgewicht stabilisieren, während Störungen der visuellen Wahrnehmung körperliche Irritationen auslösen können. Der Mensch richtet sich in seiner Balance an seiner Umgebung aus. Das Gleichgewichtsorgan im Innenohr ist somit ein extrem sensibel reagierendes Reso– nanzinstrument. Am rechten Bildrand blockiert die nach vorn gezogene, aus dem perspektivischen Verlauf der Brücke ausbrechende Stützmauer den Blick und die der Straße

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Für den Hinweis auf die Multiperspektivität des Bildes danke ich Amelie Ochs.

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in die Bildtiefe folgende Bewegungsdisposition des Betrachters. Die Statik der von der Lotrechten abweichenden linken Stützmauer irritiert seinen Gleichgewichtssinn – ein Eindruck, der durch die eigentümliche Verwindung des hinteren Bereiches der mittleren Stützmauer verstärkt wird. Diese Verwindung resoniert im Körper der Frau, die, im Kreuzungspunkt gebogener Diagonalen stehend, die Straße zu überqueren scheint und somit den Verlauf der Eisenbahnbrücke aufnimmt, das eigentümlich beleuchtete Gesicht dem Betrachter jedoch entgegen ihrer Bewegungsrichtung frontal zuwendet.. Sie reflektiert dergestalt die körperlichen Irritationen, die der Betrachter des Bildes erfährt. Die oberhalb des Bahndamms verlegten Leitungen wiederum weichen von dem zu erwartenden Verlauf parallel zur Brücke ab, durchstoßen die dichte Materie des Himmels und ziehen nach oben. Die Sonne hingegen, ein glutroter Ball, steht knapp oberhalb der Brücke und folgt zusammen mit dem in Farbton und Helligkeit wie die Straße gestalteten Himmel der Schwerkraft. Die Leitungsmasten weichen ebenfalls von der Lotrechten ab und scheinen – durch die Schwere des herabsinkenden Himmels oder der Kraft der zwischen ihnen fahrenden Eisenbahn – auseinandergedrückt zu werden. Der von der Attraktivität des sonnigen Hintergrunds angezogene, jedoch auch der Bewegungsrichtung der Menschen folgende Blick des Betrachters kann sich weder an der Statik der Bauwerke stabilisieren noch an einem offenen Himmel aufrichten. (3) Malerische Dynamisierung der Flächen Van Gogh verbindet die Horizontale des Bodens, die Vertikale des Bauwerks und die Tiefe des Himmels durch einheitliche bzw. ähnliche Farbgebung in einem pastelligen Schwefelgelb sowie einem pastelligen Blaugrün und amalgamiert sie zu einem trüben, kontrastarmen Raum. Gleichzeitig löst er die Flächen der Straße, der Trottoirs, der Brückenmauern und des Himmels in Pinselstriche auf, die die Faktur des Bildes sichtbar werden und die Motorik des Künstlers hervortreten lassen. Der die Fläche parzellierende pastose Farbauftrag, welcher die Illusion der Zweidimensionalität des Bildes zerstört, lässt die Materialität der Gegenstände zum einen haptisch werden, sie zum anderen jedoch weniger solide und in sich bewegt erscheinen. Der tragende Grund der Straße, der Trottoirs und der Fläche am mittleren linken Bildrand wird durch Streifen des Pinsels strukturiert, welche die Bewegungsrichtung anzeigen, die Fortbewegung durch die entstehende Dreidimensionalität jedoch beschwerlich erscheinen lassen. Der Himmel, der direkt über der Brücke beginnt, die den Horizont somit verdeckt, ragt durch stärker pastosen Farbauftrag reliefartig in den Bildraum hinein und erhält durch chaotischen Verlauf der Pinselstriche einen zerrissenen drohenden Charakter, der durch eine glutrote Sonne weiter verstärkt wird.

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Der Bildraum, der durch antagonistische Kräfte strukturiert und dynamisiert wird, verhindert eine stabile Positionierung des Betrachters: Gegenläufige Bewegungsrichtungen dargestellter Personen, Attraktion und Repulsion heiterer und düsterer Atmosphären, Verengung und Weitung des Raumes durch einen herabgezogenen Himmel und aufsteigende Stromkabel, Amalgamierung des Lebensraumes des Menschen und des Himmels bei gleichzeitiger Parzellierung von Flächen sowie Irritation des Gleichgewichtssinnes durch Abweichungen von der Lotrechten.

3 M OTORISCHE R ESONANZ Bereits rund 100 Jahre bevor die Entdeckung der Spiegelneuronen in den Neurowissenschaften zu der Konzeption einer Theorie verkörperter Simulationen führte, die Verstehensprozesse an die körperliche Nachahmung wahrgenommener Handlungen bindet, entwickelte die im Entstehen begriffene Angewandte und Experimentelle Psychologie Theorieansätze, welche das etablierte Sandwichmodell der seriellen Folge von Reiz, bewusster Wahrnehmung und Reaktionen verwarf und motorische Resonanz in das Zentrum der Reizverarbeitung stellte. Auf der Basis der Forschung von Hugo Münsterberg (1889) erarbeitete der wie Münsterberg in Vergessenheit geratene Psychologe und Philosoph Richard Müller-Freienfels eine Psychologie der Kunst (Müller-Freienfels 1922), in der er Bewegungsantworten des Betrachters als grundlegend für die visuelle Wahrnehmung qualifizierte.3 Die direkte Weiterleitung visueller Reize an den motorischen Apparat bezeichnete er als motorische Resonanz (ebd.: 115) und bestimmte sie als »wesentliche[n] Bestandteil des Wahrnehmungs- und Denkaktes« (ebd.: 119). Müller-Freienfels zufolge ist die körperliche Mitbewegung nicht die Folge einer bewussten Wahrnehmung, sondern die motorische Reaktion ist die »Ursache des Bewußtwerdens« (ebd.: 117). Physiologisch-motorische Prozesse und das zugehörige kinästhetische Erleben werden in der Regel vernachlässigt, seien aber »von größter Bedeutung, sowohl für das geistige Ergreifen des Kunstwerkes wie für die Gefühlsresonanz dieses Erlebens« (ebd.: 115). Müller-Freienfels unterscheidet vier körperliche Reaktionen, die einen wesentlichen Bestandteil des Wahrnehmungs- und Denkaktes bilden:

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Für eine ausführlichere Darstellung dieser Ansätze vgl. Lauschke 2016.

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1. Auffassungsbewegungen, zu denen das Akkomodieren des Auges gehört, 2. Anpassungsbewegungen wie etwa die Anpassung des Gleichgewichts, durch die der Körper in ein adäquates Verhältnis zur Reizquelle gebracht wird, 3. Nachahmungsbewegungen, die im Körper des Betrachters ähnliche Muskelgefühle entstehen lassen wie diejenigen, die er betrachtet, und 4. Ableitungsbewegungen oder Ausdrucksbewegungen wie Lachen, Weinen oder Erschauern, Stutzen oder Zusammenfahren, die zwar zeitlich später erfolgen als die Auffassungsbewegungen, jedoch auf diese zurückwirken und dergestalt den Reiz formen. Im Falle des Bildes Eisenbahnbrücke über die Avenue Montmajour von van Gogh, das Müller-Freienfels zwar erwähnt, aber nicht ausführlich diskutiert, affizieren die kinästhetischen Empfindungen, die mit den durch die Achsengestaltung geführten Blickbewegungen und den Verzerrungen der Perspektive einhergehen, die emotionalen Zustände des Betrachters und damit seine Interpretation des Bildes. Auch ohne die Etikettierung van Goghs als »Maler des Bauernlebens« zu kennen und über biographische Informationen zu verfügen, die ihn als konservativen Kulturkritiker hervortreten lassen, der die Zivilisation mit der industriellen Revolution am Ende sah (Schneede 2003: 25), wird der Betrachter der widerstreitenden Kräfte am eigenen Leibe gewahr, durch die die Jetztzeit des Bildes geprägt ist. Gleich einem Benjamin’schen Engel der Geschichtsphilosophischen Thesen (Benjamin 1991) blickt der Betrachter auf den innerbildlichen Fluchtpunkt der Perspektive, die als heitere Szenerie einer präindustriellen Zeit zum Sehnsuchtsort wird, während Blick und Körper am rechten Rand durch das massive Bauwerk der Brücke blockiert werden, analog zur Bewegungsrichtung der Personen im Vordergrund und den nach vorn abfallenden Pinselstrichen der Straße sowie mit der Fließrichtung der Bäche entlang der Trottoirs rückwärts gedrängt werden und mit dem Verlauf der Leitungen an einen verschlossenen Himmel stoßen. Der Raum diesseits der Eisenbahnbrücke wird zu einem unwirtlichen Ort, in dem die Dimensionen von Himmel und Erde durch die Farbgebung verschmelzen und durch die Faktur zugleich parzellisiert werden. Das Bild entfaltet seine Bedeutung durch die Ermöglichung einer körperlichen Erfahrung gegenläufiger Kräfte, die der Diskontinuität von Dynamisierung des Lebens und Erweiterung des Lebensraumes durch die technischen Möglichkeiten der Fortbewegung und der damit einhergehenden Fragmentierung der Erfahrung analog ist.

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INTRAPERSONALE R ESONANZ MENSCHLICHER E RFAHRUNG

Während die Entwicklung einer psychologischen Theorie motorischer Resonanz aufgrund des vorherrschenden Intellektualismus des 20. Jahrhunderts in Deutschland abbrach und erst mit der Welle der neuro- und kognitionswissenschaftlichen Verkörperungstheorien wieder aufgenommen wurde, erarbeitete der USamerikanische Philosoph John Dewey seinen Pragmatismus auf der Basis von Erkenntnissen der angewandten Psychologie. Seine Erfahrungstheorie der Kunst bietet einen Rahmen, in dem Bildbetrachtung als ein Resonanzgeschehen begriffen werden kann. Denn was die Erfahrung dem Erfahrenden als Gegenstand darbietet, ist kein Gegenstand einer von ihm getrennten Welt, sondern bereits das Produkt einer Interaktion mit der Welt, in die das Subjekt immer schon eingespannt ist. Um diejenigen Prozesse der Erfahrung zu erläutern, die als Resonanz betrachtet werden können, setzt Dewey ›ganz unten‹ an, d.h. bei etwas, das er Elementareinheit des Verhaltens nennt (Dewey 1972). Durch die Konzeption dieser Elementareinheit gelingt es Dewey, einen Dualismus von Organismus und Umwelt zu überwinden und beide als Teile eines Systems zu denken. Mit einer solchen Elementareinheit will er das Stückwerk des sogenannten Reflexbogens, eines physiologischen Modells der empiristischen Psychologie, in dem Reiz, Interpretation und Reaktion als sukzessiv gedacht werden, überwinden. Denn das Reiz-Reaktionsmodell unterstellt einerseits einen passiven, von der Umwelt getrennten Organismus, der erst eines Reizes bedarf, um re-aktiv zu werden. Andererseits fallen Sensorik und Motorik auseinander, und ihre Kopplung ist kontingent. Nach Dewey sind Organismus und Umwelt aber nie getrennt und der Organismus ist nie passiv. Beide sind ständig in Bewegung, in Veränderungsprozessen begriffen und miteinander koordiniert. Selbst wenn wir nicht aufhorchen, hören wir, selbst wenn unser Auge nichts fokussiert, sehen wir, selbst wenn wir nicht balancieren, ist unser gesamter Körper durch das Körperschema permanent damit beschäftigt, die Balance zu halten und unsere Bewegungen mit der Umgebung zu koordinieren. Der Organismus befindet sich ständig in einer sensomotorischen Koordination. Jede spezifische Wahrnehmung, jedes Geräusch oder Anblick, taucht als Reiz aus dem Kontinuum dieser Koordination auf. Die Situation, das gesamte Kontinuum der Geschichte der Koordination wirkt als Matrix auf die Interpretation und Reaktion auf den sogenannten Reiz ein. Aus diesem Grund schreibt Dewey in dem besagten Aufsatz zur Elementareinheit des Verhaltens, dass »the so called response is not merely to the stimulus; it is into

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it« (Dewey 1972: 98). »Something, not yet a stimulus, breaks in upon an activity already going on and becomes a stimulus in virtue of the relations it sustains to what is going on in this continuing activity«, erklärt in dem Aufsatz Conduct and Experience diese pointierte Formulierung (Dewey 1984: 223). Die Erregungen von sensorischen Nerven bilden mit denjenigen der motorischen Nerven und Muskeln ein Kontinuum. Sensorik und Motorik bilden in der Elementareinheit des Verhaltens ein System von Resonanzen. Für die Bildbetrachtung folgt daraus, dass wir immer schon auch motorisch auf die visuellen Reize, die das Bild bietet, zu reagieren begonnen haben, bevor wir sie bewusst wahrgenommen und das Bild interpretiert haben, und dass unsere körperliche Reaktion auf das Bild das bestimmt, was wir als Bild wahrnehmen. Der Blick folgt den Bildachsen unwillkürlich und bildet aufgrund wahrgenommener dynamischer Elemente Bewegungsdispositionen aus. Unser Körper tritt in Resonanz mit dem Bild, auch wenn wir diese nicht wahrnehmen. Damit diese jedoch auch für die bewusste Wahrnehmung des Bildes relevant werden kann, bedarf es weiterer Verknüpfungen, die hier zur Unterscheidung von Resonanz als Verhältnis zwischen Ich und Welt als intrapersonale Resonanzen bezeichnet werden und die sensorische, motorische, emotionale und kognitive Ebenen miteinander verbinden. Tatsächlich geht Dewey von einer Kontinuität dieser Ebenen aus, und auch Müller-Freienfels war sich darüber im Klaren, dass motorische Resonanz für die ästhetische Erfahrung erst dann bedeutsam wird, wenn sie spürbar ist. Wenngleich unmittelbare organische Resonanzen die Basis menschlicher Erfahrung darstellen, geht sie nicht darin auf. Der Mensch kann sich der unwillkürlichen Interaktion bewusst werden, und er kann die willkürlichen Handlungen mit Aufmerksamkeit auf die Sinnesempfindungen und die Bewegungen begleiten. »Experience is the result, the sign, and the reward of that interaction of organism and environment which, when it is carried to the full, is a transformation of interaction into participation and communication.« (Dewey 1980: 28) Dies bedeutet jedoch, dass es auch menschliche Interaktionen gibt, die nicht zu einer Erfahrung werden. Dewey fährt fort: »Opposition of mind and body, soul and matter, spirit and flesh all have their origin, fundamentally, in fear of what life may bring forth. They are marks of contradiction and withdrawal.« (Dewey 1980: 28). Eine Erfahrung im Sinne Deweys ist damit kein automatisch ablaufender Prozess. Nicht jeder kognitive Vorgang wie beispielsweise eine mathematische Operation, deren Ausführung allein durch algebraischen Zeichen stimuliert wird, ist eine Erfahrung. Sobald ein Gedanke seine unmittelbar empfindbare Eigenschaft einbüßt, würde Dewey ihn noch nicht einmal als einen Gedanken bezeichnen. Auch der Automatismus, durch den es möglich wird, einmal erlernte

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Bewegungen ablaufen zu lassen, ohne sie durch das Bewusstsein zu begleiten, verhindert letztlich das Machen einer Erfahrung. Dewey zufolge ist es die »acute sensibility of response« (Dewey 1980: 157), d.h. die Durchlässigkeit für intraund interkorporale Resonanzen, die menschliche Erfahrungen im emphatischen Sinne ermöglichen.

5 ÄSTHETISCHE E RFAHRUNG ALS E RFAHRUNG VON R ESONANZ Sowenig sich Erfahrungen im Sinne Deweys von selbst einstellen, sowenig ist das Resonanzgeschehen zwischen dem Kunstwerk und dem Betrachter als kausal verursacht zu betrachten. Wissensstand und Vorerfahrung prägen als sedimentierte Geschichte vorgängiger Interaktionen das aktuelle Geschehen, das darüber hinaus von der Disposition des Betrachters abhängig ist. Bilder wirken nicht auf jeden Betrachter zu jeder Zeit auf gleiche Weise. Um sich von einem Kunstwerk affizieren zu lassen, bedarf es einer Bereitschaft, sich bestimmen zu lassen. Kunst stellt daher ein Angebot, eine Aufforderung dar, sich in ein Resonanzgeschehen verwickeln zu lassen, das durchaus auch abgelehnt werden kann. An jedem Bild, es sei denn, es ist derartig großformatig, dass es die Aufmerksamkeit erzwingt, oder die Motive haben wie beispielsweise mit einem Blick erkennbare Gewaltdarstellungen Signalwirkung, kann man unberührt vorbeigehen und sich dabei der Kulturtechnik der Resonanzunterdrückung (Rosa 2016: 122) bedienen. Resonanz mit – unter Gesichtspunkten der Form – komplexeren Bildern wie der Eisenbahnbrücke über die Avenue Montmajour lässt sich im Unterschied zu weniger komplexen wie beispielsweise den Schnittbildern von Fontana, zu denen Betrachter, wie Experimente belegt haben, instantan in ein Verhältnis motorischer Resonanz treten (Umiltà et al. 2012), nicht auf einen Schlag herstellen, sondern benötigt Zeit und die Bereitschaft, Blick und Aufmerksamkeit führen zu lassen. Motorische Resonanz des Körpers stellt sich in der Folge der Blickbewegungen entlang der Bildachsen und Perspektiven automatisch her. Die Wahrnehmung dieser körperlichen Mitbewegung kann jedoch unterbleiben. In diesem Fall scheitert auch das, was Dewey als Erfahrung bezeichnet und deren Intensivierung die ästhetische Erfahrung ausmacht. Die Möglichkeit, ästhetische Erfahrungen zu machen, setzt die Bereitschaft voraus, sich irritieren zu lassen, auf einen instrumentellen Umgang mit der Welt, auf Ökonomie und Effizienz zu verzichten, die Dinge aus dem geübten Zugriff befreien, sich etwas zeigen zu lassen. Dewey geht es bei der ästhetischen Erfahrung nicht um die Kunst im Sinne eines l’art pour l’art, sondern darum, Erfahrung, die sich auch im Alltag voll-

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zieht, im Lichte ihrer vollkommenen Realisierung durch Befreiung von außerhalb der Erfahrung selbst liegenden Zwecken zu beleuchten. Da wahrgenommene Resonanz als ästhetische Erfahrung im Unterschied zu unwillkürlicher motorischer Resonanz oder Interaktion in der Terminologie Deweys keinen Automatismus, sondern einen fragilen Zustand darstellt, der von Voraussetzungen abhängt – die Möglichkeit des Scheiterns somit konstitutiv ist –, hat sie eine ethische Dimension, einen Aspekt gelingenden Lebens: »Because the actual world, that in which we live, is a combination of movement and culmination, of breaks and re-unions, the experience of a living creature is capable of esthetic quality. The living being recurrently loses and reestablishes equilibrium with his surroundings. The moment of passage from disturbance into harmony is that of intensest life.« (Dewey 1980: 22)

Wenn Resonanz mit Hartmut Rosa als das »(momenthafte) Aufscheinen, das Aufleuchten einer Verbindung zu einer Quelle starker Wertungen in einer überwiegend schweigenden und oft auch repulsiven Welt« (Rosa 2016: 317), verstanden werden kann, ist van Goghs Eisenbahnbrücke über die Avenue Montmajour nicht nur ein prägnantes Beispiel dafür, wie Bilder motorische Resonanz motivieren können, sondern auch eine Darstellung von Resonanz unter der Bedingung von Dissonanz, die in der Figur der Frau im Schnittpunkt der Blickachsen motorische Resonanz reflektiert. Resonanz zwischen Ich und Welt in der ästhetischen Erfahrung ist kein Dauerzustand, sondern eine Phase der Erfahrung, in der Dissonanz und Resonanz sich abwechseln. Das Phänomen der Störung, mit der jede neue Erfahrung beginnt, weil Aufmerksamwerden auf etwas bereits das Ergebnis einer Störung der Interaktion ist, wird gefolgt von einer Adaption und Integration des Neuen. Die Störung der Resonanz ist Voraussetzung der Resonanzerfahrung, da nur Veränderungen fühlbar sind. Da wir aufgrund unserer Sensomotorik in einem kontinuierlichen Interaktionsverhältnis mit der Umwelt stehen und der Wechsel von Irritation und Integration konstitutiv ist für den Gang der Erfahrung, verspricht eine Sensibilisierung für Resonanz nicht nur den Genuss eines gesteigertes Lebensgefühls, sondern erscheint als vernünftige Strategie der Daseinsbewältigung: »Instead of signifying surrender to caprice and disorder, it affords our sole demonstration of a stability that is not stagnation but is rhythmic and developing« (Dewey 1980: 25). Als Absage an die aufklärerische Devise der Weltbeherrschung und eine Überbewertung des analytischen Verstandes gerät die ästhetische Konzeption eines resonierenden Weltverhältnis zu einer Herausforderung für die Philosophie: »There is

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no test«, schreibt Dewey, »that so sureley reveals the one-sidedness of a philosophy as its treatment of art and esthetic experience.« (Dewey 1980: 278)

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Nachhaltigen Eindruck hat es gemacht, als Uwe Nüssle1 auf der Resonanz-Tagung am Freiburger FRIAS im Februar 2015 den enormen Einfluss von Filmmusik auf die Wahrnehmung der action vorführte. Die berühmte Szene aus Hitchcocks Psycho, als der Protagonist nach dem Messer greift und die Duschende zu erstechen plant, im Original unterlegt mit einer aufreizenden, jagenden Musik, kann auch mit einer ganz anderen Musik unterlegt werden – und man sieht jemanden, der mit dem Messer in der einen Hand an den Kühlschrank tritt: um sich ein Stück Wurst abzuschneiden. Wenn doch nur der zerquälte Descartes diese Möglichkeiten schon zur Verfügung gehabt hätte! Meditierend stellt Descartes sich vor, er sei vielleicht die Figur des Traumes eines Anderen, nur Erfindung, nur Konstruktion. Was der moderne Film Matrix cartesianisch vorführt, wäre aber noch keine zureichende Begründung von Existenz. Weil ihm das klar ist, dekliniert Descartes den Fall durch, dass er sich in Arm oder Wange kneife und dann am Schmerzgefühl seine Existenzsehnsucht sich stabilisiere. Was aber, wenn er wieder nur träume, sich zu schmerzen? Oder dass er so geträumt werde? Eine andere Begründung zu sein, wird dringend gesucht. Die entdeckt er, indem er sein bisheriges Denken denkt. Dies Denken des Denkens ist das, was wir in moderner Terminologie als Mentalisierung bezeichnen; das Neue ist, dass wir sehr viel genauer wissen, wie das individuelle Ich tatsächlich in der Beziehung geboren wird. Das kindliche Selbst entsteht, wenn die Mutter »has her babys mind in mind« (Bateman/Fonagy 2004; Fonagy/Bateman 2008; Fonagy/Target 2008). Resonanz –

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Mitarbeiter im Medienzentrum der Universitätsbibliothek Freiburg, URL: www.ub. uni-freiburg.de/ihre-ub/bibliotheksprofil/struktur/dezernate/medienzentrum/medien service/ und: http://nuewa-fotodesign.de/

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das wäre das Wort für den sozialen Vorgang, der hier angesprochen ist. Descartes ist just dabei, den Resonanz-Verlust optimistisch zu feiern. Sehen wir ihm einen Augenblick noch dabei zu. Er ist noch ganz Individualist. Was habe ich bisher gemacht, fragt er sich? Ich habe: gezweifelt! An allem. Aber wenn ich an allem zweifle, dann muss es jemanden geben, der zweifelt und Heureka!, so wird die Formel gewonnen, die wir alle kennen: »Ich denke, also bin ich«. Das wird nun moderne Formel der Existenzbegründung. Ihr ist der Schmerz der Einsamkeit schon eingeschrieben, das Denken bezieht sich nicht auf Welt, sondern nur auf sich. Was bleibt, ist das Ich auf der einen, die Welt und ihre Menschen auf der anderen Seite. Dieser Schmerz der Trennung zerschneidet die Resonanz mit der Welt, stellt aber das Ich wieder her. Noch Fichte feiert das Ich in seiner ohnmächtigen Omnipotenz, muss sich aber schon von Hölderlin bei dessen Besuch in Jena vorhalten lassen, dass ein Ich, das keine Objekte kenne, durch die es allererst konstituiert wäre, von ihnen auch kein Bewusstsein haben, also auch kein Bewusstsein sein kann. Ein Ich aber, das kein Bewusstsein wäre, wäre – ein Nichts! So präzise, so nüchtern kann der hymnische Hölderlin bei seinem Besuch in Jena argumentieren. Und stellt die Resonanz-Bindung zwischen dem Bewusstsein und der Welt wieder her, die Descartes mit so nachhaltigen Wirkungen zerschnitten hatte. Dessen Einschreibung des Schmerzes in den Gründungsakt des individuellen Ich hat biographische Gründe. Als der Philosoph seine Meditationen 1641 niederschrieb (Borkenau 1932/1973), war ihm ein Kind, die mit der Magd Hijlena Lans gezeugte Francine, im September 1640 gestorben. Aus dieser traurigen Zeit stammt auch seine Theorie der Emotionen in den Passions de l’Ame, die dann 1649 erstmalig veröffentlicht wurden. Interessant wird hier, was er über Gefühle zu sagen hat. Er sieht sie doppelt: Emotionen seien ein »Erleiden« im Hinblick auf den, dem sie widerfahren; sie seien aber auch »Tun« im Hinblick auf das, »das macht, dass es geschieht«. Emotionen haben eine tätige und eine leidende Seite und das »Standardbeispiel« (Perler 2009: 274), an dem er das erläutert, ist – das Schneiden! Sehe man auf das Messer, erscheine das Schneiden als Tun. Mit Blick auf den vom Messer geteilten Gegenstand ist das Schneiden Erleiden. Tun und Erleiden gehören nun auch für die Emotionen zusammen. »Wendet man dies Modell auf emotionale Zustände an, heißt dies, dass eine Emotion mit Blick auf den Körper, der mit seinen Hirnzuständen auf den Geist einwirkt, ein Tun ist. Mit Blick auf den Geist hingegen, der durch die Hirnzustände affiziert wird und dadurch ein Erlebnis hat, ist sie ein Erleiden.« (Perler 2009: 274)

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So fasst der Philosoph Perler Descartes’ Emotionstheorie zusammen. Der Schmerz der Trennung von Ich und Welt war der historische Paukenschlag, mit dem das neuzeitliche Ich auf die Welt kommt. Es gründet in diesem Schmerz des Resonanzverlustes. Das Messer ist das paradoxe Symbol eines Schnitts, der zugleich verbindet. Seither ist Melancholie und Einsamkeit tiefer Grundton des modernen Subjekts (Cavell 2006a, 2006b; Lepenies 1972) – und damit der entschlossene Wille, persönliche Erfahrung und wissenschaftliche Objektivierung getrennt voneinander zu halten. Nie mehr erreicht das Subjekt sein Objekt. Das Subjekt kann nur Repräsentanzen von der Welt bilden, die in der Wissenschaft dann die Gestalt von Theorien oder Modellen annehmen. Identitätsbegründung durch das Paradoxon einer ›schneidenden Verbindung‹ – man muss nur an die vielen, sich schneidenden Patienten und Patientinnen denken – wäre dann wie ein Versuch der Selbsterhaltung nach melancholischem Selbstverlust. Erst verliert sich die Unmittelbarkeit des Zugangs zur Welt, dann erobern wir sie uns repräsentierend in wissenschaftlicher Gestalt zurück. Repräsentanz wäre Ersatz für Resonanz. So etwa können wir die philosophische Startlinie der in diesem Band versammelten Arbeiten skizzieren. Andere, wie Hartmut Rosa, haben den Begriff der Resonanz nachhaltig als grundlegend für soziale Beziehung beschrieben, grundlegender als die Anerkennung, die von Axel Honneth in weiter sozialphilosophischer Grundierung ins Gespräch gebracht wurde. Wetzel diskutiert die sozialwissenschaftlichen Aspekte von beiden grundbegrifflichen Ausrichtungen ausführlich (Wetzel 2014). Mehrere Fragen stellen sich dabei: 1. Ist Resonanz eine Metapher? Wenn ja, wofür könnte sie über die Metaphorik hinaus irgendeine Gültigkeit beanspruchen? 2. Ist Resonanz im humanen Bereich gleichbedeutend mit Empathie oder gibt es Differenzierungsnotwendigkeiten? 3. Macht es Sinn, soziale Beziehungen auf nur ein oder zwei Grundbegriffe – Resonanz und/oder Anerkennung – zu stützen? Muss man nicht von vorherein sagen, dass die soziale Welt mindestens so kompliziert ist wie die der Physik, die auch nicht mit nur einem Grundbegriff auszukommen kann? 4. Kommt der Resonanz nur ein positiver Wert zu oder gibt es auch Schwingungseffekte, die schon in der Physik, etwa bei der Konstruktion von Tragflächen, möglichst vermieden werden sollen? Sind Massenphänomene, etwa auf Fußballplätzen oder Pegida-Demonstrationen mit Modellierungen der Resonanz zu beschreiben? Wie könnte man positive von negativ-destruktiver Resonanz unterscheiden?

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Die hier versammelten Beiträge haben alle diese Fragen im Hintergrund und sind ihnen in verschiedenen Bereichen, mit verschiedenen Methoden und verschiedenen Stilen nachgegangen. Für den Bereich der Beratung und Therapie nutzen die hier zu Wort kommenden Praktiker und Theoretiker den Begriff als unverzichtbar. Dem allgemeineren Bedeutungshof von Resonanz als einer gestaltstimmigen Antwort wird in der Mikroprozessforschung aber noch seine spezifische Bedeutung wieder beigefügt. In der Physik ist Resonanz das verstärkte Mitschwingen eines Resonanzkörpers, das von einer zeitlich modulierten Einwirkung ausgelöst wird. Die Resonanzmetapher für die mitgehende, begleitende Einfühlung zwischen Mutter und Kind oder Therapeut und Patient verwendet somit einen Bezug auf zeitliche Passung. Diese Passungsprozesse sind seither ins Zentrum der Psychotherapieprozessforschung getreten. Temporale Signaturen aus der Frühzeit der menschlichen Entwicklung, wie sie in vielen sinnreichen Experimenten der Säuglingsforschung seit dem bahnbrechenden Nachweis des Hörtanzes durch Condon und Sander (1974) oder der rhythmischen Interaktion von MutterSäuglingspaaren von Beebe (1982, 2014) durchgeführt wurden, werden in zunehmendem Maße auch für das Ineinandergreifen multimodaler Abstimmungen zwischen Gesprächspartnern erforscht, wovon die Beiträge des vorliegenden Bandes zeugen. Resonanz wird als wesentliche Dimension des Zwischenmenschlichen sichtbar, wenn sich der mikroanalytische Blick der Konversationsanalyse bzw. Interaktionslinguistik den professions-praktischen Problemen in Mediation und Therapeutik (Kupetz/milan, Buchholz) nähert. Dabei geht es nicht nur um den positiven Erfolg, ein rhythmisches Mitschwingen des Anderen, des Resonanzkörpers, anzuregen – in der Interaktionspraxis spielen oftmals die Brüche in solchen Abstimmungsprozessen eine bedeutendere Rolle. Das still face experiment etwa von Tronick u.a. (1978) zeigt, dass die Verweigerung erwarteter Reaktionen beim Baby erhebliche Irritationen auslöst (und auch bei der Mutter; viele Probandinnen brachen das Experiment, bei dem sie dem Werben ihres Säuglings um Blickkontakt und Lächeln ein ausdrucksloses Gesicht entgegensetzen sollten, nach kürzester Zeit ab). Solche Erwartungsbrüche, das Nicht-Verbinden, die Entstehung und Bewältigung negativer Affektinteraktionen spielen eine bedeutsame Rolle in der psychischen Entwicklung, und unabhängig vom Verstehen des Inhalts eines Gesprächs kann oft die Affektmelodie, einschließlich ihrer Brüche und Dissonanzen, dem Zuhörer einen zutreffenden Eindruck von diesem Wechselspiel geben. Wenn sich eine Musikwissenschaftlerin und ein Psychoanalytiker zusammentun, kann sich etwa zeigen, dass der Spontangesang beim Ansehen eines Holocaust-Zeitzeugen-Interviews anderen nachträglich, aber ohne Vorkennt-

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nisse erlaubt, die empfundenen Affekte zu identifizieren (Hamburger/Metzner). Über ein anderes Zeitzeugeninterview legen en detail auch Jasmin Bleimling und Veronika Heller eindringliche Analysen vor, die aufzeigen, wie lexikalische, prosodische und mimisch-gestische Kommunikationsebenen zusammenspielen, um die now moments der gemeinsamen Erstarrung zu formen. Die Evaluation solcher Materialien durch verschiedene kooperierende Perspektiven erweist sich als extrem ergiebig. Mergenthaler trägt zur Therapeutik überzeugend die empirisch gut gestützte Theorie der resonating minds bei. Bei ihm sind es abstrakte und emotionale Worte, die Resonanz verbürgen und für die er eine eigene, weltweit anerkannte Methodik entwickelt hat; die ermittelten Häufigkeiten, die sich pro therapeutischer Sitzung ermitteln lassen, haben einen wellenförmigen Verlauf. Naheliegend ist, das Verhältnis von Resonanz und Synchronisation zu untersuchen. Zeitliche Strukturgebungen, dokumentiert auf der Mikro-Ebene, finden Wirkung in Videokonferenzen (Norris). Die Verfremdung des Gesprächsformats, seine Transponierung in einen virtuellen, durch Zusammenschaltung Getrennter erzeugten Raum, macht schlagartig erfahrbar, welche natürlichen Zeitgeber als Elemente der Abstimmung ausfallen und wie sie ersetzt werden müssen. Die Nutzung solcher Medien für die Kommunikation kann immer nur in Analogie zu Alltagskonversationen geschehen und muss sich doch dieser Analogie methodisch geradezu erwehren: Das geschieht über den in praxi gleichzeitigen Vollzug von Aspekten, die in der nachvollziehenden Analyse nur in einem Nacheinander aufgedröselt werden können: von 1. medientheoretischen Ansätzen, die insbesondere auf die Rezipientensteuerung (Beispiel: Wer wird eigentlich gerade angesprochen?) abheben, 2. diskursanalytischen Ansätzen, die auf die übergreifenden Dispositionen und Symbolregister der Gesprächsteilnehmer abheben (z.B. ›DurcheinanderReden‹) und 3. konversationsanalytischen Ansätzen, die damit zurechtkommen müssen, dass das Medium die ›normale‹ turn-sequence-activity außer Kraft setzt, weil Teilnehmer zwischen Aussagen und Reaktionen sich nur erschwert an den gewohnten kurzen Zeitintervallen orientieren können. 4. eine psychoanalytische Untersuchungsebene könnte aufweisen, wie etwa die räumlich entkoppelte Präsenz in der intergenerationellen Videoschaltung Kind-Mutter-Großmutter zwischen Kanada und Neuseeland, die Norris (in diesem Band) untersucht, Abwehr- und Projektionsleistungen der Beteiligten einfordert, die sich in unbewusstem Zusammenspiel ergänzen.

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Multimodale Analysen machen Synchronisationsnotwendigkeiten sichtbar und zugleich kann man erkennen, dass schon Teilnehmer selbst in praxi solche Analysen vornehmen müssen, wenn sie sich auf die veränderten Bedingungen des Mediums einstellen. Die Modi gehören praktisch zusammen, müssen aber in der Analyse aufgetrennt werden. Dabei geht es, wie erwähnt, in den unterschiedlichsten Gesprächssituationen keineswegs nur um ein reibungsloses Synchronisieren. Rhythmus ist nicht alles – der musikalische Rhythmus des Sprechens wird von pragmatischen Notwendigkeiten verstört; etwas soll oder muss sogar mit einem Fokalakzent betont werden, das absolut nicht in den Sprechrhythmus sich fügen will. Das macht einen der Unterschiede zur musikalischen Performance der Musiker aus. Rhythmus ist das, was eine Band zusammenhält (Oertel/Konieczny) – aber wozu dieser Zusammenhalt dann gebraucht werden kann, bestimmt der Rhythmus nur noch partiell mit. Jedenfalls ist es erst seine Störung durch intervenierende Faktoren – seien es äußerungssemantische oder pragmatische Restriktionen, oder unbewusste Stoppimpulse, die den stets riskanten Vollzug des rhythmischen Spiels interessant machen. Ungestörter Rhythmus ist Aufzugsmusik. Diese Ästhetik des Bruchs spräche für einen ideographischen Ansatz; denn den Analysemethoden, die aufs Gesetz der großen Zahl setzen, um eine Regel zu finden, entgeht allzu oft die entscheidende Bedeutung der kleinen Abweichung. Dennoch erlauben gelegentlich auch big data einen Blick ins Innere des Gesprächs. Die Komplexität der Untersuchung von Multimodalität wird bei Tschacher und Ramseyer methodisch reduziert; sie verwenden videographierte Aufzeichnungen von zwei Interaktionspartnern und erheben dabei ein sehr simples Maß: die Veränderung von Pixeln auf dem Video zeigt Bewegung der Körper an. Wenn ein Patient die Arme verschränkt und der Therapeut innerhalb eines definierten Zeitintervalls die Beine übereinander schlägt, können solche Bewegungen als motion energy auf ihre Synchronisation hin analysiert werden (MEA: motion energy analysis). Die Beobachtung ist simpel, die Analyse hingegen äußerst komplex. Aber es lässt sich zeigen, dass zwischen der so beobachteten Synchronisation eines (therapeutischen) Paares und sonstigen, unabhängigen Maßen für Beziehungsqualität gute korrelative Übereinstimmungen gemessen werden können. Freilich wird die prognostisch positive Einschätzung von maximaler Gesprächssynchronisierung durch die Autoren gelegentlich bezweifelt; die Beiträge von Bleimling und Heller sowie Hamburger und Metzner (in diesem Band) weisen darauf hin, dass Dyschronien und Brüche oft weit bedeutsamer sind. Dies erinnert an einen interessanten entwicklungspsychologischen Befund der bereits erwähnten Forschergruppe um Beatrice Beebe u.a. (2010): Die optimale Rhythmusanpassung zwischen Müttern und ihren 4 Monate alten Babies

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führten bei einer im 12. Lebensmonat durchgeführten Untersuchung der Bindungssicherheit der Kinder nicht zu dem landläufig erwarteten Ergebnis höchster Bindungssicherheit; vielmehr zeigte sich, dass diese Kinder eher der unsicheren Gruppe zuzuordnen waren. Die sicher gebundenen Kinder waren in der frühen Interaktion lediglich mittelgradig synchronisiert gewesen. Der Beitrag von Elke Schumann zeigt, ebenfalls an videographiertem Material, wie stimmliche, sprachliche und körperliche Multimodalität als Ressource bei gestörten Beziehungsregulationen genutzt wird – als ob die Teilnehmer selbst eine implizite Wahrnehmung solcher Störungen und der möglichen Reparaturmöglichkeiten davon haben und sich gegenseitig zur Verfügung stellen. Dafür stellt auch der Beitrag von Zima über Gestenresonanz einen neuartigen Befund vor; methodisch werden nicht singuläre, einzelne Gesten untersucht, sondern die Interaktion als der relevante Bezugsrahmen gibt Gesten eine neuartige Bedeutung. Was sich in der Psychoanalyse als sogenannte Relationale Wende durchgesetzt hat, findet Resonanz in den hier angesprochenen Disziplinen und ihren Beiträgen, ohne dass damit behauptet werden soll, die Psychoanalyse habe das angestoßen. Nein, es geht vielmehr darum, dass menschliche Interaktion – im Gespräch, in Medien, in der Therapeutik – den relevanten Bezugsrahmen herstellt, in dem Resonanz, Rhythmus und Synchronisation untersucht werden kann. Diese Phänomene sind mehr als Metaphern, sie sind beobachtbar, analysierbar und können in Verbindung mit anderen beobachtbaren Phänomenen des Zwischenmenschlich-Sozialen gebracht werden. Solche empirische Aufklärung der aus der intensiven, dyadischen Beobachtungssituation ermittelten Beziehungsmomente, die etwa die Boston Change Process Study Group (2012) als zentrales Agens psychoanalytischer Veränderung identifiziert hat, eröffnet ein reiches Forschungsprogramm. Der vorliegende Band illustriert die reichen Perspektiven, die mit einer solchen Untersuchung verbunden werden könnten. Am Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS) startet das interdisziplinäre Forschungsprojekt Synchronization in Embodied Interaction, in dem Perspektiven aus Kulturanthropologie (Hermann Herlinghaus, Universität Freiburg), Körperpsychotherapie (Claas Lahmann, Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Freiburg), Interaktionale Linguistik (Stefan Pfänder, Universität Freiburg), Psychotherapie (Carl Eduard Scheidt, Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Freiburg) verknüpft werden. Der Fokus liegt dabei auf dem multimodalen Zusammenspiel körperlicher Präsenz und medialer Vermittlung in der interpersonellen Kommunikation in Alltag und Therapie (siehe den Beitrag dazu in diesem Band). Eine andere interdisziplinäre Forschergruppe arbeitet unter dem Titel Balance,

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Rhythmus, Resonanz an der IPU Berlin und der FU Berlin. Fünf Arbeitsteams aus Tanz- und Bewegungswissenschaft (Gabriele Brandstetter, FU Berlin), Konversationsanalyse (Michael B. Buchholz, IPU Berlin), Psychoanalyse (Andreas Hamburger, IPU Berlin), Prosodieforschung (Uli Reich, FU Berlin) und Anthropologie (Christoph Wulf, FU Berlin) arbeiten daran, solche Beziehungsmomente an einem gemeinsamen Corpus aus Therapiesitzungen, Zeitzeugeninterviews, Schulsituationen und Tanzperformances reichhaltig multimodal zu erfassen. Die Trennung, die Descartes so schmerzhaft konstatierte, die zugleich die Anerkennung einer erforschbaren Außenwelt und des unbegreiflichen Selbstbezugs einer denkenden Sache war – sie stellt sich als kreative Fiktion heraus. Sie hat einen ungeheuren Wissenszuwachs ermöglicht, der im Ergebnis ermöglicht, die kognitiven Bausteine des Wechselspiels zu identifizieren. Es sind Bausteine aus Zeit. Ohne den Verzicht auf einen zu engen methodischen Individualismus könnten die hier beobachteten, beschriebenen und analysierten Phänomene gar nicht entdeckt worden sein. Dieser Band zeigt, dass, wer Resonanz, Rhythmus und Synchronisation nur metaphorisch verstünde, nur die Hälfte wüsste von dem, was man jetzt wissen kann. Und weiter untersuchen wird. Das wäre dann ein Beitrag dazu, die von Descartes philosophisch artikulierte Wunde der zu scharfen Trennung eines Ego von all seinen Alteri, die durch ganz andere Kräfte geschlagen wurde, vielleicht allmählich zu verbinden zu beginnen.

L ITERATUR Bateman, Anthony/Fonagy, Peter (2004): Psychotherapy for Borderline Personality Disorder, Oxford/New York: Oxford University Press. Beebe, Beatrice (1982): »Micro-timing in mother-infant communication«, in: Mary Ritchie Key (Hrg.), Nonverbal communication today, New York: Mouton, S. 169-195. Beebe, Beatrice (2014): »My journey in infant research and psychoanalysis: Microanalysis, a social microscope, in: Psychoanalytic Psychology 31 (1), S 425. doi:10.1037/a0035575 Beebe, Beatrice/Jaffe, Joseph/Markese, Sara/Buck, Karen/Chen, Henian/Cohen, Patricia/Bahrick, Lorraine/Andrews, Howard/Feldstein, Stanley (2010): »The origins of 12-month attachment: A microanalysis of 4-month mother-infant interaction«, in: Attachment & Human Development 12 (1-2), S. 3-141. Borkenau, Franz (1932/1973): Der Übergang vom feudalen zum bürgerlichen Weltbild, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

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Boston Change Process Study Group (2012): Veränderungsprozesse: Ein integratives Paradigma. Brandes & Apsel. Cavell, Marcia (2006a): Becoming a subject: Reflections in philosophy and psychoanalysis, Oxford: Clarendon Press. Cavell, Marcia (2006b): »Subjektivität, Intersubjektivität und die Frage der Realität in der Psychoanalyse«, in: Martin Altmeyer/Helmut Thomä (Hg.), Die vernetzte Seele: Die intersubjektive Wende in der Psychoanalyse, Stuttgart: Klett-Cotta, S. 178-203. Condon William/Sander Louis W (1974): »Neonate movement is synchronized with adult speech«, in Science 183, S. 99-101 Fonagy, Peter/Bateman, Anthony (2008): »Mentalization-based treatment of Borderline Personality Disorder«, in: Eliot L Jurist/Arietta Slade/Sharone Bergner (Hg.), Mind to mind: Infant research, neuroscience and psychoanalysis, New York: Other Press, S. 139-167. Fonagy, Peter/Target, Mary (2008): »Attachment, trauma, and psychoanalysis: Where psychoanalysis meets neuroscience«, in: Eliot L Jurist/Arietta Slade/Sharone Bergner (Hg.), Mind to mind: Infant research, neuroscience and psychoanalysis, New York: Other Press, S. 15-50. Lepenies, Wolf (1972): Melancholie und Gesellschaft, Frankfurt: Suhrkamp. Perler, Dominik (2008): »Descartes: Emotionen als psychophysische Zustände«, in: Hilge Landweer/Ursula Renz (Hg.), Klassische Emotionstheorien: Von Platon bis Wittgenstein, Berlin: De Gruyter, S. 269-292. Tronick, Edward/Als, Heidelise/Adamson,Lauren/Wise, Susan/Brazelton, T Berry (1978): »The infant’s response to entrapment between contradictory messages in face-to-face interaction«, in: Journal of American Academy of Psychiatry 17 (1), S. 1-13. Wetzel, Dietmar J (2014): Auf der Suche nach Resonanz und Anerkennung: Eine ethnografische Analyse moderner Subjektivierungsverhältnisse im Fitnessstudio (Working Paper 06/2014 der DFG-KollegforscherInnengruppe Postwachstumsgesellschaften, FSU Jena), www.kolleg-postwachstum.de/ sozwgmedia/dokumente/WorkingPaper/wp6_2014.pdf [zuletzt abgerufen am 03.08.2016]

Autorinnen und Autoren (in alphabetischer Reihenfolge)

Jasmin Bleimling Forschungsschwerpunkte: Qualitative und quantitative mikroanalytische Erforschung von Gegenübertragungsreaktionen in Videozeugnissen von Holocaustüberlebenden Kontakt: International Psychoanalytic University Stromstr. 1, 10555 Berlin [email protected] Gabriele Brandstetter Forschungsschwerpunkte: Zeitgenössisches Theater, Tanz und Performance; Geschichte und Ästhetik des Tanzes vom 18. Jh. bis zur Gegenwart; Virtuosität in Kunst und Kultur sowie die Beziehung von Körper, Bild und Bewegung Kontakt: Institut für Theaterwissenschaft, Freie Universität Berlin Grunewaldstr. 35, 12165 Berlin [email protected] www.geisteswissenschaften.fu-berlin.de/we07/institut/mitarbeiter/ brandstetter/index.html Thiemo Breyer Forschungsschwerpunkte: Phänomenologie; Sozialphilosophie; Philosophische Anthropologie; Philosophie des Geistes; Wissenschaftstheorie (Philosophische Grundlagen der Kognitionswissenschaft; Psychologie und Psychopathologie) Kontakt: a.r.t.e.s. Graduate School for the Humanities Universität zu Köln Albertus-Magnus-Platz, 50937 Köln [email protected] http://artes.phil-fak.uni-koeln.de/19769.html

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Anna Buchheim Forschungsschwerpunkte: Klinische Psychologie; Psychoanalyse; Klinische Bindungsforschung; Psychotherapieforschung; Präventionsforschung; Neurowissenschaften Kontakt: Universität Innsbruck Innrain 52, 6020 Innsbruck, Östereich [email protected] www.uibk.ac.at/psychologie/mitarbeiter/buchheim/ Michael B Buchholz Forschungsschwerpunkte: Qualitative Psychotherapieforschung; Konversationsund Metaphernanalyse; Analyse (biographischer) Narrationen Kontakt: International Psychoanalytic University Stromstr. 1, 10555 Berlin [email protected] www.ipu-berlin.de/hochschule/wissenschaftler/profil/buchholzmichael-b.html Andreas Buchleitner Forschungsschwerpunkte: Quantenchaos; Quanteninformation; Quantenstatistik Kontakt: Institut für Physik, Quantenoptik und -statistik Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Hermann-Herder-Str. 3, 79104 Freiburg [email protected] www.quantum.uni-freiburg.de Günter A Buchwald Berufliche Schwerpunkte: Stummfilmmusiker; Solist mit Klavier, Orgel, Violine u.a.; Duo, Trio, Quartett, Quintett mit Frank Bockius, den European Silent Screen Virtuosi; Ensemble Silent Movie Music Company; Dirigent großer Sinfonieorchester, Kammerensembles (u.a. mit Giora Feidman, Markus Stockhausen oder Bigbands); Komponist Kontakt: www.stummfilmmusiker.de/de/ (hier Möglichkeit zur direkten Kontaktaufnahme/Kontaktformular)

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Ingrid Erhardt Forschungsschwerpunkte: Therapieprozessforschung; Bindungsforschung Kontakt: Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Institutsambulanz Ismaningerstr. 22, 81675 München [email protected] www.researchgate.net/profile/Ingrid_Erhardt Alexander Gerner Forschungsschwerpunkte: Wissenschaftsphilosophie und Wissenschaftsgeschichte; Technikphänomenologie und Technikanthropologie; Erkenntnistheorie der Kognitionswissenschaften; Medienphilosophie; Philosophie der Aufmerksamkeit; Ethik, Politikberatung und Epistemologie des Kognitiven Enhancement; Sozialphilosophie; Philosophie der Integrativen Medizin; Philosophische Grundlagen der Gestenforschung; Ästhetik der performativen Künste Kontakt: Centro de Filosofia das Ciências da Universidade de Lisboa (CFCUL)/ Zentrum für Wissenschaftsphilosophie an der Universität Lissabon Campo Grande C4, 1749-016 Lissabon, Portugal [email protected] http://cfcul.fc.ul.pt/equipa/agerner.php Andreas Hamburger Forschungsschwerpunkte: Qualitative und mikroanalytische Erforschung von Videozeugnissen von Holocaustüberlebenden; psychoanalytische Supervision, Filmpsychoanalyse Kontakt: International Psychoanalytic University Stromstr. 1, D-10555 Berlin [email protected] www.ipu-berlin.de/hochschule/wissenschaftler/profil/hamburger-an dreas.html Veronika Heller Forschungsschwerpunkte: Tanztherapie; Bewegungsanalyse und -darstellung; Qualitative und mikroanalytische Erforschung von Videozeugnissen von Holocaustüberlebenden Kontakt: [email protected] http://neuroges.neuroges-bast.info/veronika-heller

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Hermann Herlinghaus Forschungsschwerpunkte: Lateinamerikanische Literaturen und Kulturen der Globalisierung: Genealogien vom 16. Jh. bis zur Gegenwart; Lateinamerikanischer Film und globale Ästhetiken; Affektforschung und Literatur; Hemisphärische Moderne und politische Philosophie Kontakt: Romanisches Seminar Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Werthmannstr. 14, 79085 Freiburg [email protected] www.romanistik.uni-freiburg.de/herlinghaus/ Marie Louise Herzfeld-Schild Forschungsschwerpunkte: Musikwissenschaft an den Schnittstellen von Philosophie, Wissen(schaft)s- und Emotionsgeschichte; Musiktheorie und Musikästhetik der Antike und des 18. bis 21. Jahrhunderts; Musikalische Avantgarde nach 1945; Musik in der Rechtsgeschichte Kontakt: a.r.t.e.s. Graduate School for the Humanities Universität zu Köln Albertus-Magnus-Platz, 50937 Köln [email protected] http://artes.phil-fak.uni-koeln.de/24151.html Lars Konieczny Kognitionswissenschaftler/Musiker Forschungsschwerpunkte: Psycholinguistik; Eye-Movements-Forschung; Kognitive Modellierung (ACT-R, Connectionist Modelling); Embodied Cognition Kontakt: Center for Cognitive Science University of Freiburg Friedrichstr. 50, 79098 Freiburg https://portal.uni-freiburg.de/cognition/mitarbeiter/konieczny/

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Maxi Kupetz Forschungsschwerpunkte: Interaktionale Linguistik, Konversationsanalyse, Multimodalitätsforschung, Verstehen und Affektivität, Kindliche Sprachentwicklung, Alltagsinteraktion und institutionelle Kommunikation Kontakt: Institut für Germanistik/Kommunikationstheorie und Linguistik Universität Potsdam Am Neuen Palais 10, 14469 Potsdam [email protected] www.uni-potsdam.de/kommunikationslinguistik/personal/kupetz. html Claas Lahmann Forschungsschwerpunkte: Grundlagen, Anwendung und Versorgungsstrukturen in Psychotherapie und Psychosomatik Kontakt: Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Hauptstraße 8, 79104 Freiburg [email protected] www.uniklinik-freiburg.de/psychosomatik/personen/lahmann.html Marion Lauschke Forschungsschwerpunkte: Philosophische Ästhetik, Bildwissenschaften, Verkörperungsphilosophie, Philosophische Grundlagen der Kognitionswissenschaften und Psychologie, Psychotherapieforschung Kontakt: Bild Wissen Gestalten, Exzellenzcluster der Humboldt-Universität zu Berlin, Charlottenstraße 42, 10117 Berlin [email protected] http://bildakt-verkoerperung.de/team/wissenschaftliche-mitarbeite rinnen/marion-lauschke/ Erhard Mergenthaler Forschungsschwerpunkte: Psychotherapieforschung; computerbasierte Textanalyse, Psychopathologie, Psychoanalyse, Gruppentherapie Kontakt: [email protected] www.researchgate.net/profile/Erhard_Mergenthaler

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Karl Metzler Berufliche Schwerpunkte: Ausbildung für Körpersprache; Tanztheater; Gebärdenarbeit; Clownskurse; Paarkurse Kontakt: Rosa-Luxemburg-Str.16, 79100 Freiburg [email protected] www.metzler-methode.de Susanne Metzner Forschungsschwerpunkte: Psychodynamische Musiktherapie; Musik-imaginative Schmerzbehandlung; Psychoanalyse und Ästhetiktheorie; Übergangsbereiche von Wissenschaft und Kunst; soziokulturelle Implikationen von Musiktherapie Kontakt: Leopold Mozart Zentrum, Universität Augsburg Maximilianstr. 59, 86150 Augsburg [email protected] www.philso.uni-augsburg.de/lmz/institute/mmm/Musiktherapie/mit arbeiter/metzner/ milan Berufliche Schwerpunkte: Gestalttherapie; Supervision; Mediation; Training Kontakt: Brunnengasse 16, 79295 Sulzburg-Laufen www.rohanda.de/42.html [email protected] Sigrid Norris Forschungsschwerpunkte: Multimodale Interaktion (Theorie und Methodik), Identitätskonstruktion, Geosemiotics Kontakt: Multimodal Research Centre, School of Communication Studies AUT University Private Bag 92006, Auckland 1142, New Zealand [email protected] https://mrc.aut.ac.nz/theory-And-method Michael Oertel Berufliche Schwerpunkte: Sänger und Bandleader in der Michael Oertel Band; Songwriter (Einflüsse aus Blues, Pop, Rock, Funk) Kontakt: [email protected] http://michaeloertelmusic.de/

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Stefan Pfänder Forschungsschwerpunkte: Multimodale Analyse, Syntax romanischer Sprachen, Kollaboratives Erzählen; Synchronisierung in der Interaktion, Korpus- und Kontaktlinguistik Kontakt: Romanisches Seminar Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Platz der Universität 3, D-79085 Freiburg [email protected] www.romanistik.uni-freiburg.de/pfaender/ Fabian Ramseyer Forschungsschwerpunkte: Nonverbales Verhalten in sozialer Interaktion; nonverbale Synchronisierung: Bewegungskoordination zwischen Interaktanten; Motion Energy Analysis (MEA), Psychotherapie Kontakt: Abteilung für Klinische Psychologie und Psychotherapie Institut für Psychologie, Universität Bern Gesellschaftsstrasse 49, 3012 Bern, Schweiz [email protected] www.psync.ch Wilfried Rappenecker Berufliche Schwerpunkte: Facharzt für Allgemeinmedizin; Shiatsu-Ausbilder; Autor/Herausgeber Kontakt: Schule für Shiatsu Hamburg Oelkersallee 33, 22769 Hamburg [email protected] www.schule-fuer-shiatsu.de/shiatsu/schule-fuer-shiatsu-hamburg/dielehrerinnen-unserer-shiatsu-ausbildung.html Carl Eduard Scheidt Forschungsschwerpunkte: Somatoforme Störungen; klinische Bindungsforschung; Psychotherapieforschung. Kontakt: Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Hauptstraße 8, 79104 Freiburg [email protected] www.uniklinik-freiburg.de/psychosomatik/personen/scheidt.html

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UND

S YNCHRONISIERUNG

Elke Schumann Forschungsschwerpunkte: Gesprochene Sprache; (Wieder-)Erzählen; Multimodale Analyse; Interaktionale Linguistik; Angewandte Gesprächsforschung Kontakt: Romanisches Seminar Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Platz der Universität 3, D-79085 Freiburg im Breisgau [email protected] http://www.romanistik.uni-freiburg.de/pfaender/schumann Ralf Schumann Berufliche Schwerpunkte: Geigenbaumeister; Instrumentenbau; Klangabstimmung; Reparatur Kontakt: Untere Gasse 20, 79244 Münstertal [email protected] www.geigenbau-schumann.de/ Wolfgang Tschacher Forschungsschwerpunkte: Psychotherapie; Psychopathologie insbesondere unter kognitionswissenschaftlicher und systemtheoretischer Perspektive; Embodiment; Kunstpsychologie; nonverbale Synchronisierung; Kontakt: Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Bern Abteilung für Psychotherapie Laupenstrasse 49, 3010 Bern, Schweiz [email protected] www.puk.unibe.ch/tschacher Doris Titze Forschungsschwerpunkte und berufliche Praxis: Formanalytische KunstTherapie, Synergien Kunst und Therapie, Zeichnung, Portrait, sequenzielle Arbeit, freie Kunst (vorwiegend Zeichnung); Leitung Aufbaustudiengang KunstTherapie Kontakt: Hochschule für Bildende Künste Dresden Aufbaustudiengang KunstTherapie Güntzstraße 34, 01307 Dresden [email protected] www.doris-titze.de/

A UTORINNEN

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Dietmar J Wetzel Forschungsschwerpunkte: Soziologische Theorien, Wirtschafts- und Kultursoziologie; Gedächtnis- und Erinnerungssoziologie; Resonanz in sozialen Beziehungen; Transformative Gemeinschaften und Lebensformen; Qualitative Sozialforschung Kontakt: Seminar für Soziologie Universität Basel Petersgraben 27, 4051 Basel, Schweiz, [email protected] www.dietmarwetzel.com/ Elisabeth Zima Forschungsschwerpunkte: Gestenresonanz; Dialogische Syntax; Kognitive Linguistik, Konstruktionsgrammatik Kontakt: Deutsches Seminar, Germanistische Linguistik Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, 79085 Freiburg [email protected] www.elisabethzima.de/

Kulturwissenschaft Eva Horn, Peter Schnyder (Hg.) Romantische Klimatologie Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2016 Mai 2016, 152 S., kart., 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3434-1 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3434-5

Fatima El-Tayeb Undeutsch Die Konstruktion des Anderen in der postmigrantischen Gesellschaft September 2016, 256 S., kart., 19,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3074-9 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3074-3

Arianna Ferrari, Klaus Petrus (Hg.) Lexikon der Mensch-Tier-Beziehungen 2015, 482 S., kart., 29,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-2232-4 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2232-8

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Kulturwissenschaft Andreas Langenohl, Ralph Poole, Manfred Weinberg (Hg.) Transkulturalität Klassische Texte 2015, 328 S., kart., 24,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-1709-2

María do Mar Castro Varela, Nikita Dhawan Postkoloniale Theorie Eine kritische Einführung 2015, 376 S., kart., 24,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-1148-9 E-Book: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-1148-3 EPUB: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-1148-3

Thomas Hecken, Moritz Baßler, Robin Curtis, Heinz Drügh, Nadja Geer, Mascha Jacobs, Nicolas Pethes, Katja Sabisch (Hg.) POP Kultur & Kritik (Jg. 5, 2/2016) September 2016, 176 S., kart., zahlr. Abb., 16,80 € (DE), ISBN 978-3-8376-3566-9 E-Book: 16,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-3566-3

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