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German Pages [400] Year 2005
Lorenz Dittmann Die Kunst Cézannes
Lorenz Dittmann
Die Kunst Cézannes Farbe — Rhythmus — Symbolik
§
2005
BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
Gedruckt mit Unterstützung der Präsidentin der Universität des Saarlandes, Saarbrücken, der Saarland Spielbank G m b H , Saarbrücken, der Stiftung für die deutsch-französische kulturelle Zusammenarbeit, Saarbrücken, und einer großzügigen Zuwendung der Stiftung Kunst, Kultur u n d Soziales der Sparda-Bank Südwest e. G., Saarbrücken.
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Selbstbildnis mit Malermütze, 1881/82. Bayerische Staatsgemäldesammlungen München, Neue Pinakothek. R. 510 © 2005 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Ursulaplatz 1, D-50668 Köln Tel. (0221) 913 90-0, Fax (0221) 913 90-11 [email protected] Lithographie: MediaCologne GmbH, Hürth Druck und Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer" GmbH, Bad Langensalza Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier. Printed in Germany ISBN 3-412-11605-X
INHALT
Vorwort
Theorie: Zola, Baudelaire, Balzac, Cézanne
VII
1
Farbe
45
Landschaften
83
Cézanne — Balzac — Baudelaire: Bilder und Texte
129
„Kartenspieler" und „Badende"
167
Bildnisse
201
Stilleben
223
Zeichnungen und Aquarelle
253
Rhythmus und Metrum
275
Symbolik der Kunst Cézannes
283
Cézanne und Dumesnil
285
Die Kunst Cézannes als Phänomenologie
297
„Voir l'Œuvre de Dieu! ..."
319
„Freie Natur" und Natur als „Werk Gottes"
325
Epilog: Cézanne und die Moderne
343
Bibliographie Abbildungsnachweise Namensregister
351 360 361
VORWORT
Auf die Frage: „Was ist für Sie das Meisterwerk der Natur?" antwortete Cézanne: „Ihre unendliche Vielfalt". Der „unendlichen Vielfalt der Natur" wollte Cézanne mit seiner Kunst entsprechen. Darin liegt ein wesentlicher Anspruch der von ihm erstrebten „Harmonie parallel zur Natur". Vielfalt der Natur bedingt Vielfalt der Werke. Jedes Werk Cézannes ist neu, anders als die anderen. Keine Kunst ist weniger schematisch als die Kunst Cézannes. Um diese Vielfalt zu erfassen, ist es erforderlich, sich auf die Einzelwerke in ihrer Besonderheit zu konzentrieren und alle Allgemeinaussagen in der Analyse von Einzelwerken zu begründen. Dies ist die Absicht der vorliegenden Studie. Um die Möglichkeiten der Bildkomposition Cézannes darlegen zu können, muß sie eine Vielzahl von Beschreibungen präsentieren. Sie wurden fast ausschließlich vor den Originalen formuliert. Geeint sind sie durch ihre Methode, eine phänomenologische Analyse der Farbgestaltung und eine Interpretation nach dem folgerichtigen Bildaufbau, die im Phänomen des Bildrhythmus ihr Zentrum findet. „Symbolik" schließlich zielt auf jene Dimension einer dezidierten Abweichung der Cézanne'schen Werke vom „Naturmotiv", die weder als Willkür, noch als psychoanalytisch dechiffrierbarer Mangel, noch als Folge einer auf das bloße „Sehen" reduzierten Kunstausübung gelten kann, sondern als Darstellung eines überempirischen Sinnes. Welt- und Menschenauffassung der von Cézanne verehrten Dichter Balzac und Baudelaire, Aspekte philosophischer Auslegung und nicht zuletzt Cézannes religiöser Glaube sind Kriterien der Kennzeichnung einer Symbolik der Kunst Cézannes. IN MEMORIAM KURT BADT (1890-1973) UND ERNST STRAUSS (1901-1981)
THEORIE: ZOLA, BAUDELAIRE, BALZAC, CÉZANNE
Cézannes1 Altersbriefe und die mit ihm während seiner letzten Lebensjahre geführten Gespräche enthalten eine Reihe wichtiger Aussagen Cézannes zur Kunst, vor allem zu seiner Kunst. Zu Beginn seiner künstlerischen Entwicklung aber und während seiner mittleren Jahre hat er sich nur selten über Kunst geäußert. Es ist aber anzunehmen, daß er sich oft und intensiv mit Émile Zola, mit dem er von früh an befreundet war, darüber ausgetauscht hat und so dessen Kunsturteil mitgeformt hat.2 In Zolas früher Kunstkritik ist sicher auch manches von Cézannes Urteil mit enthalten.
Zola So liegt es nahe, Einblick zu nehmen in Zolas Kunstkritik, wie sie uns in seinen Salonberichten vorliegt.3 Dabei sollen auch die Akzentverschiebungen deutlich werden, die Zola zunehmend von Cézanne trennten. Zolas erste kunstkritische Arbeiten befassen sich mit dem „Salon von 1866". Sie erschienen in einer Folge von 7 Artikeln zwischen dem 27. April und dem 20. Mai 1866 im „L'Événement". Thema der beiden ersten ist eine Charakerisierung der Jury des Salons. Der dritte Artikel trägt den Titel „Der künstlerische Augenblick" und enthält Zolas Kunsttheorie. Zola stellt fest: „Wie jeder andere habe ich meine eigene kleine Theorie, und wie jeder andere halte ich meine Theorie für die einzig richtige." Er erläutert: „Für das Publikum — und ich gebrauche das Wort hier nicht im schlechten Sinn — ist ein Kunstwerk, ein Gemälde, etwas Liebliches, was das Herz bewegt oder aufwühlt; es ist ein Blutbad, wenn die zuckenden und stöhnenden Opfer sich vor den Gewehren, die sie bedrohen, wälzen, oder es ist ein bezauberndes, blütenreines junges Mädchen, das im Mondenschein auf einen Säulenstumpf gestützt träumt. Ich will damit sagen, daß die Menge in einem Bild nur ein Motiv sieht, das sie bei der Kehle packt oder ihr Herz ergreift, und daß sie vom Künstler nichts anderes verlangt als eine Träne oder ein Lächeln. Für mich — und ftir viele Menschen, will ich hoffen — ist ein Kunstwerk hin-
1
Zur Biographie Cézannes (geb. 19. Januar 1839, Aix-en-Provence, gest. 23. Oktober 1906, Aix-en-Provence) vgl.: Isabelle Cahn: Chronologie, in: Ausstellungskatalog Cézanne. Paris, Grand Palais, etc. 1 9 9 5 , S. 5 2 8 - 5 6 9 .
2
Vgl. John Rewald: Cézanne. A Biography. New York 1986, S. 43.
3
Zitiert nach: Émile Zola. Schriften zur Kunst. Die Salons von 1 8 6 6 - 1 8 9 6 . Mit einem Vorwort von Till Neu. Aus dem Französischen von Uli Aumüller. Frankfurt/Main 1 9 8 8 .
2
Die Kunst C é z a n n e s
gegen eine Persönlichkeit, eine Individualität. Ich verlange vom Künstler nicht, daß er mich rührt oder mir schaurige Albträume beschert, sondern daß er sich selbst mit Haut und Haaren preisgibt, daß er laut und deutlich einen großen, originellen Geist, eine starke, entschiedene Natur zur Geltung bringt, die sich die Natur umfassend zu eigen macht, und daß er diese, so wie er sie sieht, vor uns hinstellt. Mit einem Wort, ich empfinde tiefste Verachtung fur belanglos Fingerfertiges, für gezielt Schmeichelhaftes, für im Studium Erlerntes und durch zähes Arbeiten vertraut Gewordenes, für all die theatralischen Historiengemälde dieses Herrn und für all die parfümierten Träumereien jenes Herrn. Doch ich empfinde tiefste Bewunderung für individuelle Werke, die mit einem Wurf aus einer kraftvollen, einzigartigen Hand kommen. Es geht hier also nicht um Gefallen oder Nichtgefallen; es geht darum, man selbst zu sein, sein unverhülltes Herz zu zeigen, energisch eine Persönlichkeit auszudrücken. Ich bin für keine Schule, weil ich fur die menschliche Wahrheit bin, die jegliche Cliquenwirtschaft und jegliches System ausschließt. Das Wort,Kunst' mißfällt mir; es enthält irgendwelche Vorstellungen von notwendigen Maßregeln, von einem absoluten Ideal. Kunst schaffen, heißt das nicht, etwas schaffen, was außerhalb des Menschen und der Natur ist? Ich möchte, daß man Leben schafft; ich möchte, daß man lebendig ist, daß man wieder schöpferisch arbeitet, abseits von allem, den eigenen Augen und dem eigenen Temperament entsprechend. Was ich vor allem in einem Gemälde suche, ist ein Mensch und nicht ein Gemälde."4 Zolas Plädoyer für eine „expressive Malerei", für eine Malerei, in der der Künstler „sein unverhülltes Herz zeigt", für eine Malerei „abseits von allem, den eigenen Augen und dem eigenen Temperament entsprechend", stimmt nun in ganz erstaunlicher Weise mit Cézannes Frühwerken überein — ohne daß Zola selbst dessen inne wurde! Dies Plädoyer für eine Malerei, in der sich „energisch eine Persönlichkeit ausdrückt", widerspricht aber auch auf das entschiedenste der in der neueren Forschung formulierten Aufassung, Cézannes Frühwerke wären Illustrationen von gleichzeitigen Erzählungen oder Romanen Zolas. Zola fährt fort: „Meiner Ansicht nach gibt es in einem Werk zwei Elemente: das Element des Wirklichen, die Natur, und das Element des Individuellen, den Menschen. Das Element des Wirklichen, die Natur, ist unveränderlich, immer gleich; es existiert für alle auf die gleiche Weise; ich würde sagen, es könnte allen erschaffenen Werken als gemeinsames Maß dienen, wenn ich annähme, daß es dabei ein gemeinsames Maß geben könnte."5 „Das Element des Individuellen hingegen, der Mensch, ist unbegrenzt veränderlich; es gibt ebensoviele verschiedene Werke wie es verschiedene Geister gibt: wenn das Temperament nicht wäre, müßten alle Bilder zwangsläufig bloße Photographien sein." Allerdings ist diese Position Zolas erkenntnistheoretisch höchst problematisch. Steht die Natur wirklich jenseits aller Veränderung? Wie ver4
L.C. S. 18, 19.
5
L . C . S . 19.
Theorie
3
hält es sich mit dem Naturhaften im Menschen? Ist das Temperament nicht selbst eine Naturanlage im Menschen? Konstituiert sich Dauer nicht erst durch den Geist? Weiter Zola: „Ein Kunstwerk ist also immer nur das Zusammenwirken eines Menschen, des veränderlichen Elements, und der Natur, des unveränderlichen Elements. Das Wort .realistisch' bedeutet für mich nichts, da ich das Reale dem Temperament unterordne. Erschafft Wahres, und ich applaudiere; erschafft vor allem Individuelles und Lebendiges, und ich applaudiere noch lauter. [...] Es ist nämlich ein anderer guter Scherz, zu glauben, es gäbe, was das Kunstschöne betrifft, eine absolute, ewige Wahrheit. Für uns, die wir uns jeden Morgen eine Wahrheit zurechtmachen, die wir bis zum Abend aufgebraucht haben, gibt es nicht nur eine volle und ganze Wahrheit. Wie jedes Ding ist die Kunst ein menschliches Produkt, eine menschliche Absonderung; die Schönheit unserer Werke wird von unserem Körper ausgeschwitzt. Unser Körper verändert sich je nach dem Klima und je nach den Sitten, und im gleichen Maße verändert sich die Absonderung." 6 Zolas Sprache ist rauh und laut: „Niemals habe ich eine derartige Anhäufung von Mittelmäßigem gesehen. Dort sind zweitausend Gemälde und dort sind keine drei Menschen. Von diesen zweitausend Gemälden sprechen fünf oder sechs eine menschliche Sprache; die übrigen erzählen Ihnen parfümierte Albernheiten. Bin ich zu streng? Dabei sage ich nur laut, was die anderen leise denken." Und: „Begabte Maler arbeiten anders. Sehen Sie sich die paar bemerkenswerten Bilder im Salon an. Sie fressen ein Loch in die Wand, sie sind beinahe ungefällig, sie schreien im gemäßigten Murmeln ihrer Nachbarn. Maler, die solche Werke farbrizieren, gehören nicht zur Zunft der eleganten Tüncher [...]. Sie sind nicht sehr zahlreich, sie leben aus sich selbst heraus, außerhalb jeder Schule." 7 Der dritte Artikel ist Edouard Manet gewidmet, dessen Werke vom Salon abgewiesen worden waren. Zola schildert zuerst den Menschen Manet. „Ich war nur einmal in Edouard Manets Atelier. Der Künstler ist von mittlerer Statur, eher klein als groß. Er hat blonde Haare und eine gesunde Gesichtsfarbe. Er ist etwa dreißig Jahre alt, seine Augen sind lebhaft und intelligent, der Mund beweglich, mitunter ein bißchen spöttisch. Das ganze unregelmäßige, ausdrucksvolle Gesicht hat irgendetwas Scharfsinniges und Energisches. Im übrigen sind seine Gebärden und seine Stimme höchst bescheiden und sanft. Der von der Masse als spottlustiger Farbenkleckser Beschimpfte lebt zurückgezogen im Familienkreis. Er ist verheiratet und fuhrt das regelmäßige Leben eines Bürgers. Er arbeitet besessen; ein Suchender, der die Natur studiert, sich selbst befragt und seinen Weg verfolgt." „Ich stand einem überzeugten Kämpfer gegenüber, einem unbeliebten Mann, der vor dem Publikum nicht zittert, der nicht versucht, das Tier zu zähmen, sondern vielmehr, es zu bändigen, ihm seine Künstlerpersönlichkeit aufzuzwingen."8 „In diesem Atelier habe ich Edouard Manet ganz und gar verstanden. 6
L.C.
7
L.C.S. 21,22.
8
L.C.
S. 20. S. 26..
4
Die Kunst C é z a n n e s
Ich hatte ihn vorher instinktiv gemocht: Seit meinem Atelierbesuch habe ich sein Talent wirklich erkannt, dieses Talent, das ich versuchen werde, zu analysieren." .Analyse" ist ein Hauptbegriff der Zola'schen Kunstkritik. Deren Elemente sind Beschreibung und Zusammenfassung der Gesamtwirkung von Werken. Zola stellt fest: „Edouard Manets Talent beruht auf Einfachheit und Genauigkeit. Wahrscheinlich hat er angesichts der unglaublichen Naturdarstellung mancher seiner Kollegen beschlossen, die Realität ganz für sich zu studieren, alles erworbene Wissen, jede überkommene Erfahrung auszuschlagen, an den Ausgangspunkt der Kunst zurückzukehren, das heißt zur genauen Beobachtung der Gegenstände. Er hat sich mutig vor ein Motiv gestellt, hat dieses Motiv in großen Farbflecken, in kraftvollen Kontrasten gesehen und hat jeden einzelnen Gegenstand in strenger Manier so gemalt, wie er ihn sah."9 Hier bedient sich Zola einer Formel, der man oft begegnet: der Künstler habe gemalt, wie er gesehen habe. Es leuchtet ein, daß bei einem wörtlichen Verständnis dieser Formel von einer künstlerischen Umsetzung und Gestaltung nicht mehr die Rede sein kann. Im übrigen bleibt es unausweisbar, daß der Künstler so gesehen habe, wie er malte. Zola erwähnt nun kurz Manets „Frühstück im Freien" und seine „Olympia", wendet dann aber seine Aufmerksamkeit Manets „Pfeifer" zu: „Doch das Werk, das mir zweifelsohne am besten gefällt und das dieses Jahr abgelehnt wurde, ist ,Der Pfeifer'. Der junge Musiker in Dienstuniform, roter Hose und Feldmütze hebt sich von einem leuchtenden grauen Hintergrund ab. Dem Betrachter zugewandt bläst er in sein Instrument. Weiter oben habe ich gesagt, Edouard Manets Talent beruhe auf Einfachheit und Genauigkeit. Dabei habe ich vor allem an dieses Bild gedacht. Ich glaube, es ist unmöglich, mit unkomplizierteren Mitteln eine stärkere Wirkung zu erzielen. Edouard Manets Temperament ist herb und setzt sich durch. Er hält seine Figuren kraftvoll fest, die Schroffheit der Natur schreckt ihn nicht ab, er geht ohne Zögern von Weiß zu Schwarz über, er stellt die verschiedenen Gegenstände, scharf voneinander abgehoben, in ihrer ganzen Kraft dar. Alles in ihm drängt ihn, in Farbflecken, in schlichten, energischen Bruchstücken zu sehen. Man kann von ihm sagen, daß er sich darauf beschränkt, die richtigen Farbvaleurs zu finden und sie anschließend auf einer Leinwand nebeneinanderzusetzen. So bedeckt sich die Leinwand allmählich mit einer soliden, kräftigen Malerei. Ich entdecke in diesem Bild einen Menschen, der wißbegierig die Wahrheit sucht und der eine einzigartige, starke, lebendige Welt hervorbringt. Sie wissen, welche Wirkung Edouard Manets Bilder im Salon erzeugen. Sie durchbohren ganz einfach die Wand. Um sie herum breiten sich die Süßigkeiten der modischen Kunstkonditoreien aus, die Bäume aus Kandiszucker und die Häuser aus Blätterteig, die Lebkuchenmänner und die Figuren aus Vanillepudding. [...] Edouard Manets Platz im Louvre ist reserviert wie der von Courbet, wie der jedes vitalen, kompromißlosen Künstlers."10 9
L.C.
S. 27.
10 L.C. S . 2 8 , 2 9 .
Theorie
5
Im folgenden Artikel, betitelt: „Die Realisten im Salon", hebt Zola positiv einzig Claude Monets Bild „Camille oder Das grüne Kleid" hervor. „Das ist ein entschiedenes, lebendiges Gemälde. Ich hatte diese kalten, leeren Säle durchwandert und war es müde, keinem einzigen neuen Talent zu begegnen, als ich diese junge Frau in ihrem schleppenden langen Kleid erblickte, die sich in die Wand hineinbohrt, als wäre dort ein Loch. [...] Ich kenne Monsieur Monet nicht, ich glaube sogar, daß ich nie zuvor eines seiner Gemälde gesehen habe. Dennoch kommt es mir so vor, als wäre ich einer seiner alten Freunde. Und das, weil sein Bild mir eine Geschichte voller Energie und Wahrheit erzählt. — Er ist ein Temperament, ein Mann in der Masse der Eunuchen. [...] Sehen Sie nur das Kleid. Es ist geschmeidig und fest. Es fällt weich, es lebt, es sagt laut, wer diese Frau ist." 11 Der Artikel schließt mit der geläufig gewordenen Definition Zolas: „Ein Kunstwerk ist ein Zipfel der Schöpfung aus der Sicht eines individuellen Temperaments". Dann wendet sich Zola, wohl auch, um seine Unabhängigkeit zu beweisen, gegen schwache Bilder eines Künstlers, den er verehrt: Gustave Courbets nämlich, der in diesem Salon zwei Bilder zeigte, die „Frau mit dem Papagei" und eine „Rast der Rehe", die, nach Auffassung Zolas, weit hinter früheren Werken Courbets zurückbleiben: „Courbet hat dieses Jahr die allzu rauhen Kanten seines Genies abgerundet, er hat mit Samtpfoten gemalt, und nun ist die Menge entzückt, findet ihn wie alle anderen und applaudiert befriedigt, daß der Meister sich ihr gebeugt hat." Zola erinnert an frühere Meisterwerke Courbets, die „Badenden" von 1853 und das 1849/50 gemalte „Begräbnis von Omans" und stellt fest, daß der Künstler zur Zeit dieser Bilder als lächerlich galt, daß er vom schockierten Publikum fast gesteinigt worden war. „Heute lacht niemand, wirft niemand Steine. Courbet hat seine Adlerklauen eingezogen, er hat sich zurückgenommen, und alle Welt klatscht Beifall, alle Welt krönt ihn mit Lorbeeren. Ich erlaube mir, eine Regel aufzustellen, die sich mir aufdrängt: Die Bewunderung der Masse steht immer im umgekehrten Verhältnis zu dem individuellen Genie. Es wird um so mehr bewundert, um so besser verstanden, je gewöhnlicher es ist." Und Zola rühmt „seinen" Courbet: „Mein Courbet ist schlicht und einfach eine Persönlichkeit." Er ist der Maler, „der sich von ganzem Herzen [...] zu der konkreten Welt um ihn herum hingezogen [fühlte], zu den dicken Frauen und den starken Männern, zu den üppigen Wiesen und Feldern. Untersetzt und kräftig hatte er den heftigen Wunsch, die wahre Natur zu umarmen. Er wollte richtige Körper und richtige Erde malen." „Die dargestellten Personen [seiner früheren Werke] waren wirklichkeitsnah, ohne gewöhnlich zu sein. Die festen, geschmeidigen Körper strotzten vor Leben. Der Hintergrund war luftig und gab den Figuren eine erstaunliche Ausdruckskraft. Die etwas gedämpfte Farbigkeit war von beinahe sanfter Harmonie, während die Genauigkeit der Farbwerte und der maltechnische Reichtum Tiefenwirkung erzeugten, so daß jedes Detail bemerkenswert plastisch erschien. Wenn 11
L.C.
S. 32.
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Die Kunst Cézannes
ich die Augen schließe, sehe ich diese soliden, lebensechten, Schönheit und Wahrheit vereinenden Gemälde aus einem Guß wieder vor mir. Courbet gehört zur Familie der Menschenmaler." 12 Aus solchen und ähnlichen Zeilen läßt sich schließen, daß Courbet der Maler ist, der die Forderungen der Zola'schen Kunsttheorie am genauesten erfüllt. 13 Im letzten Artikel dieser Folge, betitelt „Der Abschied eines Kunstkritikers" - Abschied, weil Zola seine Berichte, wegen zahlreicher Proteste des Lesepublikums, vorzeitig beenden mußte —, hebt Zola Bilder von Pissarro heraus: „Camille Pissarro ist ein Unbekannter, von dem wahrscheinlich niemand sprechen wird. Es ist mir ein Anliegen, ihm kräftig die Hand zu drücken, ehe ich gehe. Vielen Dank, Monsieur, Ihre Landschaft hat mir bei meiner Reise durch die große Salon-Wüste eine gute halbe Stunde Erholung geschenkt. Ich weiß, daß Sie mit Müh und Not zugelassen worden sind, und ich gratuliere Ihnen dazu aufrichtig. Im übrigen müssen Sie wissen, daß Sie niemandem gefallen und daß man Ihr Bild zu nackt, zu dunkel findet. Warum, zum Teufel, sind Sie aber auch so bemerkenswert ungeschickt, solide zu malen und die Natur unbefangen zu studieren? Sehen Sie nur, Sie wählen die winterliche Jahreszeit, man sieht nur ein Stück Straße, dahinter eine Anhöhe und bis zum Horizont abgeerntete Felder. Nirgends eine Augenweide. Eine nüchterne, ernste Malerei, deren mit Strenge und Festigkeit angestrebtes Anliegen Wahrheit und Genauigkeit ist. Sie sind ein Einfaltspinsel, Monsieur. Sie sind ein Künstler, den ich liebe." 14 Abschließend wiederholt Zola noch einmal die Quintessenz seiner Kunsttheorie: „Ich habe gesagt: ,Was ich vor allem in einem Gemälde suche, ist ein Mensch und nicht ein Gemälde.' Und: ,Die Kunst besteht aus zwei Elementen: der Natur, dem unveränderlichen Element, und dem Menschen, dem veränderlichen Element. Erschafft Wahres, und ich applaudiere; erschafft Individuelles, und ich applaudiere noch lauter.' Und: ,Mir geht es mehr um das Leben als um die Kunst.'" 15 Im nächsten Jahr veröffentlicht Zola einen Text „Eine neue Malweise: Eduard Manet", erschienen in der „Revue du XIXe Siècle" vom 1. Januar 1867. In dieser umfangreicheren als in den Salonberichten möglichen Abhandlung entwickelt Zola, nach einer Biographie des Künstlers, nun ausführlicher seine Kunsttheorie: „Meine Ästhetik, oder vielmehr die Wissenschaft, die ich moderne Ästhetik nennen möchte, weicht zu sehr von bisher gelehrten Dogmen ab, als daß ich es wagte, mich dazu [zu Manets Werken] zu äußern, ehe man mich voll und ganz verstanden hat. Die Auffassung der Masse von der Kunst, insbesondere von der Malerei ist, daß es das abso-
12 L.C.S. 3 6 , 3 7 . 13 Dieser Auffassung ist auch Till Neu. Vgl. sein Vorwort zu dieser deutschen Ubersetzung der Zola'schen „Salons", S. VIII-XI. 14 Zola: Salons, S. 42. 15 L.c. S . 4 3 .
Theorie
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lute Schöne gibt, das außerhalb des Künstlers angesiedelt ist, oder besser gesagt eine ideale Vollkommenheit, nach der jeder strebt und die jeder mehr oder weniger erreicht." 1866 hatte Zola festgestellt, „daß die Menge in einem Bild nur ein Motiv sieht". Ist daraus zu schließen, daß das „absolute Schöne" sich auf das „Motiv" bezieht? Zola fährt fort: „Infolgedessen gibt es ein allgemeingültiges Maß, nämlich dieses Schöne. Dieses allgemeingültige Maß wird an jedes erschaffene Werk angelegt, und je nachdem, wie weit das Werk sich ihm annähert oder davon abweicht, wird es fur mehr oder weniger gelungen erklärt. Es hat sich so ergeben, daß man das griechische Schöne als Eichmaß gewählt hat, und die über sämtliche von der Menschheit erschaffenen Kunstwerke gefällten Urteile beruhen auf der mehr oder weniger großen Ähnlichkeit dieser Werke mit den griechischen Werken." 16 Zola wendet sich mithin gegen eine klassizistische Beurteilung von Kunst, doch es darf bezweifelt werden, daß solcher Klassizismus in der „Masse" vorherrschte, noch dazu einer, der sich griechische Werke, nicht etwa römische, zum Vorbild nahm. Wie dem auch sei, Zola führt etwas später aus: „Im folgenden möchte ich meine Kunstauffassung darlegen. Ich überblicke die Menschheit, die gelebt hat und die angesichts der Natur zu jeder Zeit, in jedem Klima, unter allen Umständen das unabweisliche Bedürfnis verspürt hat, menschlich schöpferisch zu sein, Dinge und Lebewesen künstlerisch wiederzugeben. Vor mir liegt ein gewaltiges Schauspiel, von dem jeder Teil mich außerordentlich interessiert und tief bewegt. Jeder große Künstler ist aufgetreten und hat uns seine neue, persönliche Auffassung der Natur dargeboten. Dabei ist die Realität das unveränderliche Element, und die unterschiedlichen Temperamente sind die schöpferischen Elemente, die den Werken unterschiedliche Charaktere verliehen haben. In diesen unterschiedlichen Charakteren, diesen immer neuen Aspekten liegt für mich der ungeheuer menschliche Reiz von Kunstwerken. Ich wünschte, die Gemälde aller Maler der Welt wären in einem riesengroßen Saal versammelt, in dem wir das Epos der menschlichen Schöpfung Seite fur Seite lesen könnten. Und das Thema wäre stets die gleiche Natur, die gleiche Realität, und die Variationen wären die besonderen, originellen Weisen, mit denen die Künstler Gottes große Schöpfung wiedergegeben haben. In diesen riesigen Saal sollte die Masse sich begeben, um Kunstwerke vernünftig zu beurteilen. Hier ist das Schöne nichts Absolutes, kein lächerliches allgemeingültiges Maß mehr. Das menschliche Leben selbst wird das Schöne, das menschliche Element, das sich mit dem unveränderlichen Element der Realität vermischt und eine der Menschheit gehörende Schöpfung hervorbringt. In uns lebt die Schönheit und nicht außerhalb von uns. [...] Was mich interessiert, mich als Menschen, ist meine große Mutter, die Menschheit; was mich an den menschlichen Schöpfungen, an den Kunstwerken berührt und entzückt, ist, daß ich in jedem von ihnen einen Künstler, einen Bruder finde, der mir die Natur mit aller Kraft oder al-
16
L.C.S.
54,55.
8
Die Kunst C é z a n n e s
1er Sanftheit seiner Persönlichkeit in einem neuen Lichte zeigt." 17 Zola wiederholt also seine naive Trennung in die eine unveränderliche Natur oder Realität und die Vielfalt der unterschiedlichen Temperamente. In seiner Analyse Manet'scher Werke findet Zola zu eindringlichen Beschreibungen, die die Schulung seines Blickes durch Gespräche mit Cézanne verraten: „Was mir zuerst an diesen Bildern auffällt, ist eine sehr subtile Genauigkeit im Verhältnis der Farbtöne zueinander. Bei genauerem Hinsehen verstehe ich, warum. Früchte liegen auf einem Tisch und heben sich von einem grauen Hintergrund ab; je nachdem, ob die Früchte dichter oder weniger dicht beieinanderliegen, sind zwischen ihnen Farbwerte, die eine ganze Skala von Schattierungen bilden. Wenn man von einem helleren Farbton als dem wirklichen ausgeht, muß man einer immer heller werdenden Skala folgen; und man muß umgekehrt verfahren, wenn man von einem dunkleren Farbton ausgeht. Das nennt man, glaube ich, das Gesetz der Farbwerte. In der modernen Schule kenne ich nur Corot, Courbet und Edouard Manet, die sich beim Malen von Figuren konsequent an dieses Gesetz gehalten haben. Die Werke gewinnen dadurch eine einzigartige Klarheit, eine große Lebensnähe und einen besonderen Zauber. Edouard Manet geht gewöhnlich von einem helleren Farbton als dem in der Natur vorkommenden aus. Seine Malereien sind hell und lichtvoll, von einer festgefügten Blässe. Das helle Licht fällt breit ein und beleuchtet sanft die Gegenstände. Daran ist keinerlei Effekthascherei. Die Figuren und die Landschaften sind in eine heitere, leichte Helligkeit getaucht, die das ganze Bild erfüllt. Was mir anschließend auffällt, ist eine notwendige Konsequenz in der genauen Befolgung des Gesetzes der Farbwerte. Einem beliebigen Motiv gegenüberstehend, läßt der Künstler sich von seinen Augen führen, die dieses Motiv in ineinander übergehenden Schattierungen wahrnehmen. Ein an eine Wand gelehnter Kopf ist nur noch ein mehr oder weniger weißer Fleck auf einem mehr oder weniger grauen Hintergrund. Und die Bekleidung der Figur wird beispielsweise ein mehr oder weniger blauer Fleck neben dem mehr oder weniger weißen. So entsteht eine große Einfachheit, fast ohne Details, ein Komplex von genauen, subtilen Farbflecken, der dem Bild aus einigen Schritten Entfernung eine beeindruckende Plastizität verleiht. Dieses Merkmal von Edouard Manet betone ich nachdrücklich, denn es prägt sie und macht sie zu dem, was sie sind. Die ganze Persönlichkeit des Malers besteht in der Organisationsweise seines Auges: er sieht hell, und er sieht großflächig."18 Mit dieser naturalistischen Pseudo-Erklärung: „Der Maler sieht hell, er sieht großflächig" verdrängt Zola die Frage nach dem Verhältnis der Gesetze künstlerischer Mittel (hier: dem „Gesetz der Farbwerte") zur unveränderlichen Natur einerseits und den vielfältigen Temperamenten andererseits.
17
L.C.S. 55,56.
18
L . C . S . 57/58.
Theorie
9
„Was mir als drittes auffallt, ist eine etwas spröde, aber reizende Anmut." 19 Dieses Thema variiert Zola nach verschiedenen Aspekten und kommt, nach Charakterisierung einiger Werke Manets, des „Knaben mit dem Schwert", der „Lola de Valence", der „Musik imTuileriengarten", dem „Frühstück im Freien", kurz auf den „Toten Christus, von Engeln betrauert" zu sprechen: „In ihm finde ich Edouard Manet mit der Voreingenommenheit seines Blicks und der Kühnheit seiner Hand ganz und gar wieder. Es wurde gesagt, dieser Christus sei kein Christus, und ich gebe zu, daß dies möglich ist; in meinen Augen ist es ein in vollem Licht, ehrlich und intensiv gemalter Leichnam; ich mag sogar die Engel im Hintergrund, diese Kinder mit den großen blauen Flügeln, die von so zarter und eleganter Fremdartigkeit sind." 20 Diese Stelle ist aufschlußreich, weil sie die Problematik von „Realität" nach einer anderen Hinsicht beleuchtet. Danach fährt Zola fort: „1865 wird Edouard Manet wieder zum Salon zugelassen. Er stellt [...] ,Die Verspottung Christi' aus und sein Meisterwerk, die .Olympia'. Ja, ich habe Meisterwerk gesagt und nehme das Wort nicht zurück. Ich behaupte, daß dieses Gemälde wahrlich das Fleisch und Blut des Malers ist und daß er nie wieder etwas Vergleichbares schaffen wird. In ihm kommt sein Temperament vollständig zum Ausdruck, in ihm ist er ganz und gar vorhanden und nur er. [...] Auf den ersten Blick erkennt man auf dem Bild nur zwei Farbtöne, zwei grell sich voneinander abhebende Farbtöne. Details sind übrigens verschwunden. Sehen Sie sich das Gesicht des jungen Mädchens an: die Lippen sind zwei schmale rosa Linien, die Augen bestehen nur noch aus wenigen schwarzen Strichen. Nun sehen Sie sich den Blumenstrauß an, und zwar von nahem: gelbe Flecken, blaue Flecken, grüne Flecken. Alles ist vereinfacht, und wenn sie die Realität wiederherstellen wollen, müssen Sie ein paar Schritte zurücktreten. Dann geschieht etwas Merkwürdiges: jeder Gegenstand rückt in seine Ebene, Olympias Kopf hebt sich mit eindrucksvoller Plastizität vom Hintergrund ab, der Blumenstrauß wird ein Wunder an strahlender Frische. Die Genauigkeit des Auges und die Schlichtheit des Pinselstrichs haben das Wunder bewirkt. Der Maler ist ebenso verfahren wie die Natur selbst, in deutlich zusammenhängenden Flächenformen und großen Lichtzonen, und sein Werk spiegelt das Rauhe, Strenge der Natur wider."21 Diese Passage weist erneut hin auf die Schwierigkeit, Temperament und Natur reinlich voneinander zu trennen. Wenige Seiten zuvor hatte Zola geschrieben, Manet sähe „großflächig". Im selben Jahr 1867 schreibt Zola zur Weltausstellung den Text „Unsere Maler auf dem Champ de Mars", erschienen in „La Situation" vom 1. Juli 1867, der ftir unseren Zusammenhang nichts Bemerkenswertes enthält, sodann 1868 eine achtteilige Folge von Artikeln zum Salon von 1868, publiziert in „L'Événement illustré" vom 2. Mai bis 16. Juni 1868. 19 L.C.S. 58. 20 L.C.S. 66. 21 L.C.S. 6 6 , 6 7 .
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Der zweite Artikel ist wiederum Edouard Manet gewidmet, und hier bespricht Zola sein von Manet gemaltes Porträt, das ein Dokument der engen geistigen Verbindung der beiden Männer darstellt. Zola ist sehr zufrieden damit und schreibt: „Das Porträt, das er dieses Jahr ausstellt, ist eines seiner besten Gemälde. Seine Farbigkeit ist sehr intensiv und sehr harmonisch. [...] Ich fordere alle anderen Porträtisten heraus, eine Figur vergleichbar kraftvoll in einem Interieur darzustellen, ohne daß die umgebenden Stilleben den Kopf beeinträchtigen. - Dieses Porträt ist ein Komplex bewältigter Schwierigkeiten; von den Bilderrahmen im Hintergrund und dem bezaubernden japanischen Paravant zur Linken bis hin zu den kleinsten Details der Figur ist alles in einer ausgeklügelten, klaren, leuchtenden Farbskala gehalten, die so real ist, daß das Auge die Anhäufung von Gegenständen übersieht und nur ein harmonisches Ganzes wahrnimmt. — Ich gehe nicht näher auf die Stilleben, die Geräte und die Bücher ein, die auf dem Tisch herumliegen und -stehen: darin hat Edouard Manet es zur Meisterschaft gebracht. Doch ganz besonders möchte ich die auf dem Knie des Porträtierten liegende Hand hervorheben. Sie ist wunderbar ausgeführt. Das ist endlich Haut, wirkliche Haut, ohne lächerliches Trompe-l'œil. Wäre das ganze Porträt so ausgearbeitet wie diese Hand, dann hätte selbst die Masse lauthals von einem Meisterwerk gesprochen." 22 Im dritten, „Die Naturalisten" betitelten Beitrag handelt Zola erneut einfühlsam über Werke Pissarros: „Nie habe ich Gemälde von so meisterhafter Tiefe gesehen. In ihnen vernimmt man die unergründlichen Stimmen der Erde, in ihnen erahnt man das kraftvolle Leben der Bäume. Die Strenge der Horizonte, die Mißachtung alles Spektakulären, das völlige Fehlen pikanter Noten geben dem Ganzen eine epische Größe. Eine derartige Realität geht über den Traum hinaus. Die Formate sind ganz klein, und doch meint man, der weiten Flur gegenüberzustehen. — Ein Blick auf diese Werke genügt, um zu begreifen, daß hinter ihnen ein Mensch steht, eine geradlinige, unbeugsame Persönlichkeit, die unfähig ist zu lügen und aus der Natur eine reine, ewige Wahrheit macht." Und weiter heißt es: „Im diesjährigen Salon hängen zwei Wunderwerke: aber sie hängen so hoch, daß niemand sie sieht. Übrigens würden sie auch an der besten Stelle placiert vielleicht ebensowenig beachtet. Sie sind zu stark, zu einfach, zu unverfälscht für die Masse." Eines der beiden Wunderwerke ist Pissarros Bild „Hügel in Jallais": „Ein kleines Tal, einige Häuser, deren Dächer unten an einem ansteigenden Pfad sichtbar sind. Jenseits davon, im Hintergrund, ein von grünen und braunen Feldern gestreifter Hügel. So sieht die moderne Landschaft aus. Man spürt, daß der Mensch hindurchgegangen ist, daß er den Boden umgepflügt, unterteilt und dem Land ein trauriges Aussehen verliehen hat. Dieses kleine Tal, dieser Hügel sind von heroischer Schlichtheit und Unverfälschtheit."23
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S. 101. S. 104, 105.
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„Die Aktualisten" lautet der Titel des fünften Artikels. Hier nennt Zola „an erster Stelle Claude Monet" und widmet ihm eine hellsichtige Charakterisierung: Monet „hat die Milch unserer Zeit gesogen, er ist voller Bewunderung für seine Umgebung groß geworden und wird noch größer werden. Er liebt die Ansichten unserer Städte, die grauweißen Flecken, die die Häuser vor dem hellen Himmel bilden; auf den Straßen liebt er die geschäftig in Paletots hin- und herlaufenden Menschen. [...] In der Natur zieht Claude Monet einen englischen Park einem Waldstück vor. Er möchte überall die Spur der Menschen finden, er möchte immer unter ihnen leben. Wie ein echter Pariser nimmt er Paris mit aufs Land, er kann keine Landschaft malen, ohne Herren oder Damen in großer Toilette hineinzustellen. Sobald die Natur nicht den Stempel unserer Sitten trägt, scheint sie fur ihn uninteressant zu werden. — Er ist auch ein erstklassiger Maler von Seestücken. Aber er versteht das Genre auf seine Weise, und darin entdecke ich wiederum seine große Liebe für die gegenwärtigen Realitäten. Man findet in seinen Marinen immer ein Stück Mole, die Ecke eines Kais, irgend etwas, was auf einen Zeitpunkt und einen Ort hinweist. Er scheint ein Faible für Dampfschiffe zu haben. [...]" Als Beispiel nennt Zola das von der Jury abgelehnte Bild Monets „Die Mole von Le Havre": „Die Mole läuft lang und schmal auf das grollende Meer zu und reckt die dünnen, schwarzen Silhouetten einer Reihe von Gaslaternen gegen den fahlen Horizont. Einige Spaziergänger sind auf der Mole. Der Wind bläst vom offenen Meer her, peitscht die Röcke, wühlt das Meer bis auf den Grund auf und bricht sich in schlammigen, vom Schlick gelb gefärbten Wellen an den Betonblöcken. Diese schmutzigen Wellen, diese erdbraunen Wogen müssen es gewesen sein, welche die an freundlich plätschernde, spiegelglatte Seestücke aus Kandiszucker gewöhnte Jury erschreckt haben." 24 Im Artikel über „Die Landschaftsmaler" hebt Zola Johan Barthold Jongkind und seine Bilder hervor: „Ich kenne keine interessantere Persönlichkeit. Er ist ein Künstler bis ins Mark. Er hat eine so originelle Art, die feuchte, unbestimmt lächelnde Natur des Nordens wiederzugeben, daß jedes seiner Gemälde eine fremdartige, besondere Sprache spricht. Man spürt, daß er die holländischen Horizonte mit ihrem melancholischen Charme inbrünstig liebt, so wie er das weite Meer liebt, sein fahles Wasser bei trübem Wetter und sein heiteres, spiegelndes Wasser an Sonnentagen. Er ist ein Sohn unserer Zeit, die sich fur den hellen oder dunklen Fleck einer Barke, für die tausend kleinen Lebewesen im Gras interessiert. — Seine Malweise ist ebenso einzigartig wie seine Art zu sehen. Sie weist erstaunliche Großzügigkeiten, überragende Vereinfachungen auf wie bei Skizzen, die aus Angst, der erste Eindruck könne sich verflüchtigen, hastig hingeworfen sind. Man merkt, daß das ganze Phänomen sich im Auge und in der Hand des Künstlers abspielt. Er erfaßt eine Landschaft in ihrer Ganzheit auf einen Blick und setzt sie auf eine Weise um, indem er ihre Wahrheit beibe24 Le. S. 108.
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hält und seine dabei verspürte Empfindung in sie eingehen läßt. Dies bewirkt, daß die Landschaft auf der Leinwand lebt, nicht nur so wie in der Natur, sondern wie sie einige Stunden lang in einer seltenen, feinsinnigen Persönlichkeit gelebt hat." 25 In dieser und den vorher zitierten Beschreibungen von Werken Monets und Pissarros hat Zola einen Rang deskriptiver Einfühlung erreicht wie nie zuvor und niemals später. Zolas Bericht zum Salon von 1875, nun also sieben Jahre später, erschienen in der russischen Zeitschrift „Le Messager de l'Europe" vom Juni 1875, weist einen sehr anderen Charakter auf. Der zweite Abschnitt beginnt mit dem Satz: „Alle Meister unserer Epoche sind tot. [...] Übrig sind nur die Schüler." Wenig später heißt es: „Eines der auffälligsten Kennzeichen des gegenwärtigen Kunstschaffens ist [...] die vollständige Anarchie der Tendenzen. Kaum sind die Meister tot, haben die Schüler republikanische Zustände herbeigeführt." 26 Diese Vielzahl der Richtungen beschreibt Zola kritisch und Anteil nehmend. Von der „Unerschöpflichkeit" der hier zutage tretenden Produktion meint Zola: „Mit großer Kunst hat das nichts zu tun. Es gibt einfach einen Bedarf, der gestillt werden muß. Die Maler werden infolgedessen eine höhere Gattung von Arbeitern, die die von den Anstreichern begonnene Ausstattung von Wohnungen vollenden. Nur wenige Menschen haben eine Galerie; aber es gibt keinen wohlhabenden Bürger, der in seinem Salon nicht einige schöne Rahmen mit irgendeiner Malerei darin besitzt."27 Bei seinem Rundgang trifft Zola auch auf ein Bild von Edouard Manet: „Unter dem Titel ,Argenteuil' hat er eine am Seineufer beobachtete Szene eingereicht; ein Boot mit zwei Ruderern, einem Mann und einer Frau, im Hintergrund der Fluß und am Horizont das Dorf Argenteuil. Diese von einer strahlenden Sonne beleuchtete Szene fällt durch ihre lebhaften Farben auf. Doch man beliebt das Wasser des Flusses übertrieben blau zu finden, und die Scherze über dieses Wasser versiegen nicht. Der Maler hat diesen Farbton gesehen, dessen bin ich sicher; sein einziger Fehler war, daß er ihn nicht gedämpft hat. [...] Ein Stück Natur, das ohne vorbedachte Effekte, ohne falsche Beschönigung auf die Leinwand übertragen wurde. Manets Malereien entströmt die Frische des Frühlings und der Jugend. Deshalb beglückt es mich, seine Werke zwischen den nach Beinhaus riechenden Kompositionen zu betrachten." 28 Von Begeisterung, von einem Kampf fur diese neue Kunst ist bei Zola nun nichts mehr zu spüren. Zolas umfangreicher Salonbericht endet mit folgendem Résumé: „Wenn die stetige Produktion, der wir beiwohnen, auch viele mißlungene Werke hervorbringt, so ist sie gleichwohl ein Beweis von Leistungsstärke. Es ist schön, neben unserem politischen Unheil und Durcheinander eine derartige Vitalität in unserem Kunstschaf25 26 27 28
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113. 132, 133. 134. 143.
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fen zu beobachten. Und die derzeitige Anarchie in der Kunst kommt mir nicht wie eine Agonie, sondern eher wie eine Geburt vor. Unsere Künstler sind keine faselnden Greise, sondern stammelnde Säuglinge. Sie suchen, sogar unbewußt, das neue Wort, die neue Formel, die dazu beitragen wird, die charakteristische Schönheit unserer Gesellschaft freizulegen. Die Landschaftsmaler sind voranmarschiert, wie es sich gehört; sie stehen in direktem Kontakt mit der Natur; sie haben der Menge nach einer etwa zwanzigjährigen Schlacht wirkliche Bäume aufgezwungen, ein Jammer, wenn man sich die Langsamkeit des menschlichen Geistes klarmacht. Nun muß eine ähnliche Revolution noch in den anderen Kunstgattungen stattfinden. Dort ist der Kampf gerade erst aufgenommen worden. Delacroix und Courbet haben die ersten Schläge ausgeteilt; Manet setzt ihr Werk fort. Aber der Sieg ist zugegebenermaßen in nächster Zukunft nicht zu erwarten. Dazu wäre ein Malergenie nötig, das beherzt genug ist, die Realität durchzusetzen."29 Zola beginnt nun, auf einen noch ausstehenden Künstler zu hoffen. Ähnlich ist es bei Zolas Salonbericht von 1876, veröffentlicht im „Messager de l'Europe" vom Juni 1876. Hier erwähnt Zola viele Namen von Künstlern und ihre ausgestellten Werke, hebt wiederum Manets Bilder hervor, und kommt sodann auf die gleichzeitige Ausstellung der Impressionisten zu sprechen, die er charakterisiert mit Zitaten von Eugène Fromentin und Edmond Duranty. Seine eigenen Bemerkungen schließt er mit folgender Einschätzung: „Die einsetzende revolutionäre Richtung wird unsere ,Ecole française' in zwanzig Jahren gewiß verwandelt haben. Deshalb empfinde ich eine besondere Zuneigung zu den Neuerern, zu jenen, die kühn voranmarschieren, ohne zu fürchten, ihrer Künstlerkarriere zu schaden. Man kann ihnen nur eines wünschen: daß sie, ohne zu schwanken, fortsetzen, was sie begonnen haben, und daß sie in ihrer Mitte einen oder mehrere Maler finden, die begabt genug sind, um dem neuen Stil durch Meisterwerke Kraft zu verleihen."30 Eine Variante darauf formuliert Zola zwei Jahre später in den letzten Sätzen seines Berichts über „Die französische Malerei in der Weltausstellung von 1878" (in „Le Messager de l'Europe", Juli 1878): „Doch wie gesagt, die von den Impressionisten ausgelöste Revolution ist zwar ausgezeichnet, man muß aber dennoch auf den genialen Künstler warten, der die neue Formel verwirklichen wird. Die Zukunft der französischen Malerei ist gewiß; das kommende Genie wird der Beginn eines neuen Zeitalters in der Kunst sein." 31 In seiner Besprechung des Salons von 1879 (in „Le Messager de l'Europe", Juli 1879) vermerkt Zola erstmals „Fehler" bei Manet und den Impressionisten. Er schreibt: „Von 29 30 31
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S. 156. S. 190, 191. S. 224.
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Edouard Manet, der der Meister der impressionistischen Maler war, hängen ebenfalls Bilder im Salon. Dank seinem scharfen Blick, der so genau die richtigen Farbtöne unterscheidet, hat er Courbets Linie weiterverfolgt. Sein langer Kampf gegen das Unverständnis des Publikums erklärt sich durch die Schwierigkeiten, die er bei der Ausführung hat. Damit meine ich, daß seine Hand es nicht mit seinem Auge aufnehmen kann. Er hat es nicht verstanden, sich eine Technik zuzulegen; er ist der begeisterungsfähige Schuljunge geblieben, der genau wahrnimmt, was um ihn herum wirkliches Leben ist, der aber nicht sicher ist, seine Eindrücke vollständig und entschieden wiedergeben zu können. Das ist der Grund, weshalb man nie weiß, wie er sein Ziel erreichen wird und ob er es überhaupt erreichen wird. Er arbeitet planlos. Wenn ihm eines seiner Gemälde glückt, so ist es außergewöhnlich, absolut wahr und erstaunlich gekonnt. Doch bisweilen kommt er vom Weg ab, und dann werden seine Bilder unvollkommen und unausgeglichen. Kurz gesagt, in den letzten fünfzehn Jahren haben wir keinen subjektiveren Maler gesehen. Wäre sein technisches Können auf der Höhe seiner genauen Wahrnehmung, wäre er der große Maler der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts." (Leider nennt Zola keine Beispiele geglückter und nicht geglückter Werke Manets!) Weiter Zola: „Übrigens läßt bei allen impressionistischen Malern die Technik zu wünschen übrig. In der Bildenden Kunst wie in der Literatur stützt allein die Form die neuen Ideen und die neuen Methoden. Um ein bedeutender Maler zu sein, muß man das verwirklichen, was in einem lebt, sonst ist man ein Pionier. Die Impressionisten sind, wie ich meine, eben Pioniere. Eine Zeitlang hatten sie große Hoffnungen in Monet gesetzt; aber dieser scheint von einer überhasteten Produktion erschöpft zu sein. Er begnügt sich mit dem Ungefähren, studiert die Natur nicht mit der Leidenschaft der wahrhaft Schöpferischen. Alle diese Künstler geben sich zu leicht zufrieden. Sie mißachten zu Unrecht die Beständigkeit lange durchdachter Werke; deshalb muß man befürchten, daß sie nur Wegweiser für den großen Künstler der Zukunft sind, auf den die Welt wartet." 32 Wenn man diese Zeilen liest, fragt man sich, ob Zola je begriffen hat, worum es den Impressionisten ging. Und den Künstler, der „lange durchdachte Werke" schuf, Cézanne, seinen Jugendfreund, hat Zola in seinem Rang gänzlich verkannt. 1880, in seinem Bericht zum Salon dieses Jahres, publiziert in „Le Voltaire" vom 18./20. Juni 1880, meint Zola, „die Gruppe [der Impressionisten] scheint sich [...] selbst überlebt zu haben" und weiter: „man muß gestehen, daß die [se] Angriffe der Presse bei einigen [impressionistischen] Künstlern berechtigt waren, da sie sich mit allzu rudimentären Entwürfen begnügt haben. Meines Erachtens soll man sehr wohl die Natur in der Impression einer Minute erfassen; nur muß man diese Minute in einer gekonnten, vollendeten Ausführung für immer und ewig auf die Leinwand bannen." 33 Zolas Ideal ist also immer noch die „vollendete", d.h. den Pinselstrich un32 L.c. S. 229, 230. 33 L.C.S. 244,245.
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sichtbar lassende, den Malgrund vollständig bedeckende .Ausführung". Auch unter diesem Aspekt hebt er erneut Courbet hervor: „Im Grunde ist Courbet ein großartiger Klassiker, der in der Tradition von Tizian, Veronese und Rembrandt steht." Uber Cézanne schreibt Zola herablassend: „Paul Cézanne, der die Veranlagung zu einem großen Meister hat und der noch nach der richtigen Malweise sucht, steht Courbet und Delacroix näher."34 Selbst jetzt noch, 1880, sucht Cézanne, nach Meinung Zolas, „nach der richtigen Malweise"! Zolas letzter Salonbericht, dem Salon von 1896 gewidmet, veröffentlicht in „Le Figaro" vom 2. Mai 1896, erscheint nur noch als ein grämlicher Abgesang, wobei Zola allerdings nicht vergißt, sich ins rechte Licht zu setzen: „Ja, dreißig Jahre sind vergangen, und ich habe das Interesse an der Malerei ein wenig verloren. Ich bin fast im selben Milieu groß geworden wie mein Freund, mein Bruder Paul Cézanne, bei dem man heute erst daraufkommt, die genialen Züge eines gescheiterten großen Malers zu entdecken. Ich war mit der ganzen Gruppe junger Künstler befreundet, Fantin-Latour, Degas, Renoir, Guillemet und anderen, die das Leben zerstreut, bei den verschiedenen Erfolgsstationen verweht hat. [...] Nehmen wir einmal an, ich hätte dreißig Jahre lang geschlafen. Gestern noch lief ich mit Cézanne über das holprige Pflaster von Paris, getrieben von der Unrast, es zu erobern. Gestern war ich mit Manet, Monet und Pissarro, deren Bilder brutal abgelehnt worden waren, in den Salon von 1866 gegangen. Und siehe da, nach einer langen Nacht erwache ich und begebe mich in die Salons auf dem Champ de Mars und im Palais de l'Industrie. Welche Verblüffung! Welches stets unerwartete, umwerfende Wunder des Lebens, welche Ernte, deren Aussaat ich mitangesehen habe und die mich überrascht wie die unvorhergesehenste Tollheit! Was mich als erstes überwältigt, ist der alles beherrschende helle Farbton. Lauter Manets, lauter Monets, lauter Pissarros!" Nun aber bemerkt Zola einen „Mißbrauch des hellen Färb tons". Er schreibt: „Mich, der ich so verbissen für das Pleinair, für die hellen Farben gekämpft habe, mich erbittert nach und nach diese fortlaufende Reihe von blutleeren blassen Bildern von vorsätzlicher und durch die Mode verschlimmerter Bleichsucht, und ich werde von dem Verlangen nach einem brutal und düster malenden Künstler erfaßt. Das gleiche gilt ftir die tachistische Malweise. Ach, wie viele Lanzen habe ich für den Triumph des Farbflecks gebrochen! Ich habe Manet gelobt und lobe ihn noch immer, daß er die Technik vereinfacht hat, indem er die Gegenstände und Lebewesen von Luft umgeben malte, in die sie getaucht sind, und so, wie sie sich darin verhalten, einfache Flecken oft, die vom Licht aufgesogen werden. Aber hätte ich den schrecklichen Mißbrauch vorhersehen können, der nach dem Sieg der so richtigen Theorie des Künstlers mit der tachistischen Malweise getrieben werden sollte? Im Sa-
34 L e . S.247.
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Ion gibt es nur mehr Farbflecken, ein Porträt ist nurmehr ein einziger Fleck, Figuren sind nurmehr Flecken, nichts als Flecken sind Bäume, Häuser, Kontinente und Meere."35 Zola wettert weiter: „Doch der Punkt, an dem meine Überraschung in Zorn umschlägt, ist erreicht, als ich den Wahnsinn erkenne, zu dem die Theorie der Lichtreflexe innerhalb von dreißig Jahren führen konnte. Ein weiterer, von uns, den Vorläufern errungener Sieg! Wir behaupteten, daß das Licht der Gegenstände und der Figuren keineswegs einfach ist, und daß unter Bäumen zum Beispiel nackte Haut grün wird und daß es einen fortwährenden Wechsel von Lichtreflexen gibt, der berücksichtigt werden muß, wenn man einem Werk das wirkliche Leben des Lichtes verleihen will." Auch hier erkennt Zola einen Mißbrauch: „Das sind wahrhaftig verwirrende Werke, diese bunten Frauen, diese violetten Landschaften und orangen Pferde, die man uns mit der wissenschaftlichen Erklärung, sie seien infolge dieses Reflexes oder jener Zerlegung des Sonnenspektrums so beschaffen. Oh, diese Damen, die eine blaue Wange im Mondlicht und die andere Wange zinnoberrot unter einem Lampenschirm haben! Oh, diese Veduten, in denen die Bäume blau, das Wasser rot und der Himmel grün ist! Gräßlich ist das, gräßlich, gräßlich!"36 Abschließend schreibt Zola: „Ich erwache, und ich erschauere. Was denn, ist es tatsächlich das, wofür ich gekämpft habe? Für diese helle Malerei, fur diese Flecken, für diese Reflexe, für diese Zerlegung des Lichtes? O Herr, war ich verrückt? Das ist ja unsagbar häßlich, davor graut mir ja. O Nichtigkeit der Diskussionen und Nutzlosigkeit der Stile und Schulen! Ich habe den diesjährigen Salon verlassen und mich beklommen gefragt, ob mein damaliger Einsatz schlecht gewesen ist. Nein, ich habe meine Aufgabe erfüllt, ich habe einen guten Kampf gekämpft. Ich war sechsundzwanzig Jahre alt, ich stand auf Seiten der Jungen und der Guten. Was ich verteidigt habe, würde ich wieder verteidigen, denn es war die Kühnheit des Augenblicks, die Fahne, die im Feindesland aufgestellt werden mußte. Wir hatten recht, denn wir waren die Begeisterung und der Glaube. Und wie wenig Wahrheit wir auch geschaffen haben mögen, heute ist sie errungen. Und wenn der freigelegte Weg banal geworden ist, so haben wir ihn doch erweitert, damit die Kunst eines Augenblicks ihn beschreiten konnte."37 Als Resume ist zu sagen: Für Zola war Courbet der „Klassiker" der Malerei des 19. Jahrhunderts. Manet stand ihm zeitweise am nächsten, von der impressionistischen Kunst hat er sich immer weiter entfernt, und die Kunst Cézannes hat er niemals verstanden. Im übrigen zeigt sich, daß Zolas Kunsttheorie als ganze unzulänglich ist, unzulänglich auch deshalb, weil nicht zureichend reflektiert. Nur in in Zolas frühen Sa35 L . C . S. 278, 279. 36 L . C . S. 280. 37 L.c. S.283.
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lonberichten finden sich Übereinstimmungen mit Cézannes Kunstauffassung. Dies muß in aller Klarheit ausgesprochen werden, da Cézanne, vor allem durch und seit John Rewald, fast ausschließlich mit Zola und dessen Schriften in Verbindung gebracht worden ist.
Baudelaire Cézanne aber schätzte, ja verehrte Charles Baudelaire als Kunstkritiker wie als Dichter. Ein Brief an seinen Sohn vom 13. September 1906 enthält Cézannes Einschätzung des Kunstkritikers Baudelaire: „Einer, der stark ist, ist Baudelaire; sein Buch ,Art romantique' ist erstaunlich, und er täuscht sich nicht über die Künstler, die er schätzt". Noch am 28. September 1906, wenige Wochen vor seinem Tode, berichtet Cézanne seinem Sohn, er läse „die Würdigungen, die Baudelaire von Delacroix geschrieben hat", und nach dieser Mitteilung fährt er fort: „Was mich selbst anbetrifft, muß ich allein bleiben [...] ,"38 Im gleichen Sinn lauten von Joachim Gasquet überlieferte Sätze Cézannes: „Nichts ist gefährlicher für einen Maler [...], als sich mit der Literatur einzulassen. [...] Den Schaden, den Courbet durch Proudhon erlitten hat, hätte Zola mir antun können. Nur Baudelaire ist eine Ausnahme, er hat richtig von Delacroix und Constantin Guys gesprochen. Ich schätze es sehr, daß Flaubert [...] in seinen Briefen sich auf das strengste gehütet hat, von einer Kunst zu sprechen, deren Technik er nicht kennt. Das ist ganz er ..." 39 Cézanne bewunderte Baudelaires „Fleurs du Mal". Der junge Dichter Léo Larguier, der seinen Militärdienst in Aix ablegte, erzählt in seinem Artikel „Le dimanche avec Paul Cézanne" von 1901/02, Cézanne habe ihm ein Geschenk gemacht: „Er gab mir ein Exemplar der,Fleurs du Mal', als ich noch in der Kaserne war. Ich habe den Band in meinem Gepäck [...] versteckt. Ich [...] habe ihn noch immer. Es ist die gewöhnliche Ausgabe von 1899 bei Calmann-Levy. Das Buch hat einen Pappeinband, und Cézanne hat auf der letzten Seite mit Bleistift in römischen Zahlen [die Gedichtnummern] notiert. Nach diesen Angaben wären [...] die Gedichte, die Cézanne am liebsten wiederlas, die folgenden gewesen: ,Die Leuchtfeuer',,Don Juan in der Unterwelt', ,Das Ideal', ,Sed non satiata', ,Ein Aas', ,Die Katzen', ,Der freudige Tote', g e fallen am Nichts'. Der Umschlag ist mit Farbe befleckt, er hat ein paar rote und brau-
38 Paul Cézanne: Briefe. Die neue, ergänzte und verbesserte Ausgabe der gesammelten Briefe von und an Paul Cézanne, aus dem Französischen übersetzt und herausgegeben von John Rewald. Zürich 1979, S. 306, 310. - Paul Cézanne: Correspondance, recueillie, annotée et préfacée par John Rewald. Nouvelle édition révisée et augmentée. Paris 1978, S. 326, 329. 39 Gespräche mit Cézanne. Herausgegeben von Michael Doran. Aus dem Französischen von Jürg Bischoff. Zürich 1982, S. 160. - Conversations avec Cézanne. Edition critique présentée par P. M. Doran. Collection Macula. Paris 1978, S. 128.
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ne Flecken, vielleicht auch den Abdruck eines Daumens, der die Palette gehalten hatte." 40 Der Maler Émile Bernard überliefert in seinen Erinnerungen von 1904—1906 über Cézanne: „Ich fand, auf der Rückseite der .Apothéose de Delacroix', Verse, die ganz im Stile Baudelaires gehalten sind, obwohl sie von Cézanne stammen". 41 Cézanne hat also selbst im Stil Baudelaires zu dichten versucht. Daß dieses Gedicht auf der Rückseite von Cézannes „Apotheose Delacroix'" sich befand, läßt erkennen, wie sehr für Cézanne Delacroix und Baudelaire zusammengehörten. Wie Cézanne über Kunst dachte, läßt sich also wohl eher Baudelaires Kunstauffassung als derjenigen Zolas entnehmen. Baudelaire eröffnet einen ungleich tieferen historischen Horizont der Kunst als Zola und entspricht darin Cézanne, der nie aufgehört hat, im Louvre die „Alten Meister" zu studieren und nach ihren Werken zu zeichnen. Baudelaires Gedicht „Die Leuchtfeuer" („Les Phares"), wie erwähnt ein Lieblingsgedicht Cézannes, lautet, in der Prosaübersetzung von Friedhelm Kemp: 42 „Rubens, Strom des Vergessens, Garten der Trägheit, Kopfkissen frischen Fleisches, wo man nicht lieben kann, doch wo das Leben anflutet und sich unaufhörlich regt, wie Luft im Himmel und wie Meer in Meer; Leonardo da Vinci, tiefer und düstrer Spiegel, wo zauberhafte Engel mit sanftem Lächeln geheimnisträchtig uns erscheinen im Schatten der Gletscher und der Pinien, die ihr Land umschließen; Rembrandt, trauriges Siechenhaus, von Murmellauten ganz erfüllt, und nur mit einem großen Kruzifix geschmückt, wo unter Tränen das Gebet aus Unrat steigt, und jäh durchzuckt von winterlichem Strahl; Michelangelo, vage Stätte, wo Herkules zu Christus sich gesellt, und wo man mächtige Gespenster aufrecht sich recken sieht, die mit gespreizten Fingern in den Dämmerungen ihr Leichentuch zerreißen; Wut des Boxers, Schamlosigkeit des Fauns, du, der eines Troßknechts Schönheit aufzulesen wußte, du großes, hochgemutes Herz und schwächlich gelber Mann, Puget, schwermütigen Sinnes ein Kaiser über Sträflinge; 40 Gespräche mit Cézanne, S. 30, 31 - Conversations, S. 13,14. 41 Gespräche mit Cézanne, S. 96. - Conversations, S. 71/72. 42 Baudelaire: Les Fleurs du Mal. Die Blumen des Bösen. Frankfùrt/Main 1962, S. 23, 25.
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Watteau, dieser Karneval, wo scharenweise erlauchte Herzen wie Falter flammend schweifen, Säle in frischem und leichtem Schmuck, erhellt von Lüstern, von denen Narrheit auf den Tanz sich, den kreiselnden, ergießt; Goya, Albtraum voll unbekannter Dinge: ein Fötus, den man auf dem Hexensabbat siedet, eine Alte vor dem Spiegel und ganz nackt ein Mädchen, das, um die Dämonen zu versuchen, seine Strümpfe straff zieht; Delacroix, Blutsee, von bösen Engeln überflogen, umschattet von immergrünem Fichtenwald, wo unter tiefvergrämten Himmeln seltsame Fanfaren vorbeiziehn, wie von Weber ein erstickter Seufzer; Diese Verwünschungen, diese Lästerungen, diese Wagen, diese Ekstasen, diese Schreie, diese Tränen, diese De Profundis sind ein Echo, das in tausend Labyrinthen widerhallt; den Herzen der Sterblichen ist dies ein göttliches Opium! Ein Ruf ist es, von tausend Wächtern wiederholt, ein Losungswort, von tausend Stimmenträgern fortgesprochen; ein Feuerzeichen ist dies, angezündet über tausend Zitadellen, ein Hornsignal von Jägern, die in Waldestiefen sich verloren! Denn dies ist wahrlich, Herr, das beste Zeugnis, das wir von unsrer Würde geben können: inbrünstig dieses Schluchzen, das sich durch die Zeiten wälzt und am Gestade deiner Ewigkeit erstirbt!" In Baudelaires etwa um 1 8 6 0 formulierten autobiographischen Aufzeichnungen finden sich die Notizen: „Seit meiner Kinderzeit fortdauernde Neigung zu allen bildlichen Darstellungen" und „Den Kult der Bilder verherrlichen (meine große, meine einzige, meine ursprüngliche Leidenschaft)" und im „Salon von 1 8 5 9 " bezeichnet sich der Dichter als einen Menschen, der „im Innersten von der Liebe zur Malerei" ergriffen ist. 43
4 3 Zitiert, wie auch die folgenden Texte Baudelaires, nach: Charles Baudelaire: Sämtliche Werke/Briefe. In acht Bänden. Herausgegeben von Friedhelm Kemp und Claude Pichois in Zusammenarbeit mit Wolfgang Drost. München 1 9 7 7 bis 1 9 9 2 , und zwar aus den Bänden 1, 2, 5 und 7.
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Zur Einschätzung des Hintergrunds von Baudelaires Kunstkritik sei Wolfgang Drosts Schilderung der Sammelleidenschaft und der bildnerischen Fähigkeiten Baudelaires zitiert:44 „1843 zog Baudelaire auf der Ile Saint-Louis [in Paris] in das Hôtel Pimodan, ein Gebäude aus der Zeit Ludwigs XIV., mit Stuckornamentik und geschnitzten Holzverzierungen. In Erinnerung an sein Elternhaus umgab er sich dort mit einer Kollektion von Gemälden und Radierungen. Émile Deroy, der sein Porträt gemalt hat, kopierte für ihn Delacroix' ,Frauen von Algier'. Er besaß sogar ein Originalgemälde dieses großen Romantikers, ein symbolisches Haupt des ,Schmerzes'; auch hatte er die Folge von Delacroix' Lithographien zu Shakespeares .Hamlet' aufgehängt. Im Lauf der Jahre trug er [...] mehr als dreihundert Werke zusammen. [...] Die magische Anziehungskraft, die Kunstwerke auf ihn ausübten, verleitete ihn zu unüberlegten Käufen von Bildern, namentlich bei [einem nicht vertrauenswürdigen Kunsthändler] Arondel, von dem er eine ganze Anzahl,alter Meister' erstand, die mit Sicherheit nicht alle echt waren: Bassanos, ein Domenichino, eine Landschaft von Poussin, ein Kopf von Velázquez, ein Tintoretto, ein Correggio und (...) ein El Greco. Diese Werke verkaufte Baudelaire zwar zum Teil weiter, die Schulden jedoch, die er bei Arondel gemacht hatte, verfolgten ihn sein Leben lang. Baudelaire zahlte also den Tribut, den jeder Liebhaber der Kunst, ehe er Kenner wird, entrichten muß. Dabei lernte er und entwickelte sein Urteilsvermögen zu ungewöhnlicher Schärfe. Bekanntschaften und Freundschaften mit Künstlern förderten insbesondere sein Verständnis für Malerei und Graphik. Er war ein passionierter Museumsbesucher, er verkehrte mit Delacroix, Courbet, Manet, Guys, Bresdin, Préault [...] und war in den Pariser Künstlerkreisen um die Mitte des Jahrhunderts wie wenige andere zu Hause. Baudelaire war jedoch mehr als ein Liebhaber und Kenner; er trug etwas von einem echten Maler und Zeichner in sich. Schon auf dem Gymnasium in Lyon fiel seine zeichnerische Begabung auf, und er erhielt einen ersten Preis. Seine Selbstbildnisse zeigen scharfe Beobachtungsgabe und intuitive Treffsicherheit [...]. Daumier, der einige seiner Blätter besaß, [meinte, im „Petit Figaro" vom 24. Juli 1868] : ,Wenn Baudelaire die Fähigkeiten, die er der Dichtung gewidmet hat, auf die Malerei angewandt hätte, er wäre ein ebenso großer Maler wie Dichter gewesen'". Mit seinem ersten kritischen Beitrag, seiner Besprechung des „Salons von 1845", als selbständige Broschüre Mitte Mai 1845 erschienen, war der Kritiker selbst unzufrieden und soll alle unverkauften Exemplare vernichtet haben. Schon hier aber findet sich, anläßlich einer Besprechung des Bildes „Die letzten Worte Mark Aurels" von Delacroix, eine bemerkenswerte Passage: „Hat das Publikum überhaupt eine Vorstellung, wie schwierig es ist, mit Farbe zu modellieren? Die Schwierigkeit ist eine doppelte, — wer in einem einzigen Ton modelliert, bedient sich eines Wischers, die Schwierigkeit ist eine einfache; — mit Farbe modellieren heißt hingegen, in einer raschen, sponta44 Baudelaire: Werke/Briefe, Bd.l, S. 387, 388.
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nen, komplizierten Tätigkeit zuerst das logische Verhältnis von Schatten und Licht, sodann den treffenden und harmonischen Ton zu finden. Mit anderen Worten: ist der Schatten grün und das Licht rot, so gilt es, auf Anhieb eine Harmonie aus Grün und Rot — dunkel das eine, leuchtend das andere - zu finden, die den Eindruck eines einfarbigen, kreisenden Gegenstandes hervorruft." 45 Mit Farbe zu modellieren war für Cézanne ein Hauptproblem seiner künstlerischen Verwirklichung. Teile der Baudelaire sehen Bemerkung sind unmittelbar auf Cézannes Kunst anwendbar. Baudelaires zweiter Salonbericht, der „Salon 1846", wiederum als eigene Broschüre erschienen, im Mai 1846, enthält Überlegungen allgemeiner Art, nämlich kurze Abhandlungen, betitelt „Wozu Kritik?", „Was ist Romantik?" und, als dritte: „Über die Farbe". 46 Dies ist ein erstaunlicher Text, für den, wie Wolfgang Drost vermutet, Baudelaire zumindest einige Kapitel des über 700 Seiten umfassenden Standardwerks von Eugène Chevreul „De la loi du contraste simultané des couleurs", Paris 1839, gelesen haben muß. Chevreuls Erkenntnisse aber waren so neu nicht. Schon Goethe hatte in seiner „Farbenlehre" von 1810 die Simultankontraste der Farben beschrieben, und später Delacroix in einer Aufzeichnung von 1832. Darauf ist zurückzukommen. Eigenartig aber erscheint, wie Baudelaire die Farben aus dem Naturgeschehen heraus entwickelt. Baudelaire schreibt: „Denken wir uns eine schöne Stelle in der Natur, wo alles in voller Freiheit grünt, sich rötet, stäubt und schillert, wo alle Dinge in ihrer unterschiedlichen Färbung, je nach der Zusammensetzung der Moleküle, von Sekunde zu Sekunde, wie Licht und Schatten wandern, sich verändern und durch das Arbeiten der inneren Wärme in fortwährender Vibration befinden, die die Linien zittern macht und das Gesetz der ewigen, allgemeinen Bewegung vervollständigt." Offenbar ist hier eine unausgesprochene Naturphilosophie enthalten. Baudelaire fährt fort: „Etwas Unermeßliches, mitunter blau und oft grün, erstreckt sich bis an den Himmelsrand: das ist das Meer. Die Bäume sind grün, die Wiesen grün, das Moos grün; das Grün schlängelt sich in den Baumstämmen [man wird erinnert an Cézannes späteren, durch Gasquet überlieferten Ausspruch: „Nun gibt es nur noch Farben [...], diesen Aufstieg der Erde zur Sonne .. ." 47 ], die noch nicht reifen Halme sind grün; das Grün ist der Grundton der Natur, weil das Grün sich leicht mit allem anderen Farben vermählt." (Und Baudelaire gibt eine Anmerkung:,Außer mit seinen Erzeugern, Gelb und Blau; ich spreche hier jedoch von reinen Tönen. Denn diese Regel ist auf den transzendenten Koloristen nicht anwendbar, der von Grund auf die Wissenschaft des Kontrapunkts beherrscht.") „Was mir zunächst auffällt, ist, daß überall das Rot den Ruhm des Grünen singt - Klatschrosen im Gras, Mohnblumen, Papageien usw. — das Schwarz, — soweit es vor45 L.C. B d . l , S . 132. 46 L.C. B d . l . S . 201-206. 47 Gespräche mit Cézanne, S. 141. — Conversations, S. 113.
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handen ist, - diese einsame, nichtssagende Null, kommt dem Roten und Blauen zu Hilfe. Das Blau, der Himmel also, ist von leichten weißen Flocken oder grauen Massen unterbrochen, die auf glückliche Weise seine grelle Eintönigkeit lockern; und, wie der Dunst der Jahreszeit — winters oder sommers — die Konturen umspielt, mildert oder verzehrt, gleicht die Natur einem Kreisel, den man in eine so rasche Bewegung setzt, daß er uns grau erscheint, obwohl er alle Farben in sich einschließt." „Die Säfte steigen und, als eine Mischung von Grundelementen, entfalten sie sich in Mischtönen; [erneut gibt sich eine ontologische Auffassung von Farbe kund] Bäume, Felsen, Granit spiegeln sich in den Gewässern und lassen dort ihren Widerschein; alle durchscheinenden Gegenstände [nach Drost „etwa die Blätter eines Baumes, die Sonnenstrahlen oder farbige Reflexe durchschimmern lassen"] fangen von nah und fern Licht und Farbe ein. Wie das Gestirn des Tages vorrückt, ändern die Farben ihre Valeurs, bewahren jedoch immer ihre natürlichen Zu- und Abneigungen und hören nicht auf, durch wechselseitige Zugeständnisse in Harmonie miteinander zu leben. Langsam wandern die Schatten, verjagen oder löschen die Farben in dem Maße, als das selber weitergewanderte Licht andere erneut zum Klingen bringen will. Die Farben senden sich gegenseitig ihre Reflexe zu [ein wichtiges Gestaltungselement bei Delacroix wie bei Cézanne!], und indem sie ihr Aussehen durch eine Lasur transparenter und entlehnter Eigenschaften verändern, vervielfältigen sie ihre melodiösen Verbindungen ins Unendliche und erleichtern sie. Wenn der große Feuerball in die Fluten hinabsinkt, ertönen von allen Seiten rote Fanfaren; eine blutfarbene Harmonie bricht am Horizont hervor, und das Grün färbt sich in reichem Purpur. Alsbald aber treiben große blaue Schatten in rhythmischer Kadenz die Menge der orangen und zartrosa Töne vor sich her, die gleichsam ein fernes, abgeschwächtes Echo des Lichtes sind." [So beschreibt Baudelaire die Erscheinung von komplementären Simultankontrasten in der Natur.] „Diese große Symphonie des Tages, die ewige Variation der Symphonie von gestern, diese Folge von Melodien, bei der die Verschiedenheit immer aus dem Unendlichen hervorgeht, dieser vielstimmige Hymnus ist die Farbe. Man findet in der Farbe die Harmonie, die Melodie und den Kontrapunkt" [den Kontrast]. „Die Farbe ist also der Zusammenklang zweier Töne. Der warme Ton und der kalte Ton, in deren Gegenüberstellung die ganze Theorie der Farbe besteht, können nicht absolut definiert werden: sie bestehen nur in ihrem Verhältnis zueinander. Die Lupe ist das Auge des Koloristen. Ich will daraus nicht folgern, daß ein Kolorist peinlich genau die Farbtöne studieren muß, die auf sehr begrenztem Raum miteinander verschmelzen. Denn nimmt man einmal an, jedes Molekül sei mit einem besonderen Farbton ausgestattet, so müßte die Materie unendlich teilbar sein;" [— hierzu merkt Drost an, daß „die von Baudelaire gebrauchte Wendung .matière divisible à l'infini' mit Leibniz' Formulierung in der französischen Fassung seiner,Monadologie' (1714)
48
Baudelaire: Werke/Briefe, Bd. 1, S. 2 0 1 , 2 0 2 .
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identisch" ist (§ 65) — ] „und da im übrigen die Kunst nur eine Abstraktion ist, wobei das Detail dem Ganzen geopfert wird, gilt es vor allem, sich mit den großen Massen zu beschäftigen." [Dieser Gesichtspunkt kehrt in veränderter Form bei Delacroix wieder.] „Aber ich wollte beweisen, daß, falls dies möglich wäre, jede noch so große Anzahl von Tönen, wofern sie nur logisch nebeneinandergesetzt sind, natürlicherweise miteinander verschmelzen würden nach dem Gesetz, das sie beherrscht." Cézanne wird später schreiben: „Malen heißt eine Harmonie zwischen zahlreichen Verhältnissen erfassen, sie in eine eigene Farbskala übertragen, indem man sie nach einer neuen und originellen Logik entwickelt."49 Niemals aber verschmelzen bei Cézanne die Farben miteinander. Und, nochmals die ontologische Basis seines Farbverständnisses artikulierend, schreibt Baudelaire: „Die chemischen Verwandtschaften sind der Grund dafür, daß die Natur keine Fehler in der Anordnung dieser Töne begehen kann; denn für sie sind Form und Farbe eins."50 Auch bei Cézanne sind Form und Farbe eins. Erlaubt dies gleichfalls eine ontologische Interpretation? Baudelaire faßt zusammen: „Die Harmonie ist die Grundlage der Theorie der Farbe. Die Melodie ist die Einheit in der Farbe oder die allgemeine Farbe. Die Melodie verlangt einen Abschluß; sie ist ein Ganzes, in dem jede Wirkung zu einer Gesamtwirkung beiträgt. So hinterläßt die Melodie im Geiste eine tiefe und dauernde Erinnerung. Den meisten unserer jungen Koloristen fehlt es an Melodie. Um auf die rechte Weise festzustellen, ob ein Bild melodisch ist, sollte man es aus einer Entfernung betrachten, die weder den Gegenstand noch die Linien erkennen läßt. Ist es melodisch, hat es bereits einen Sinn und hat bereits seinen Platz im Repertorium der Erinnerung eingenommen. Stil und Gefühl in der Farbe werden von der Wahl, und die Wahl wird vom Temperament bestimmt. Es gibt heitere und übermütige Töne, übermütige und traurige, reiche und heitere, reiche und traurige, gewöhnliche Töne und originelle. So ist Veroneses Farbe ruhig und heiter. Delacroix' Farbe ist oft klagend, und Catlins Farbe oft furchterregend."51 Für Cézanne formulierte Kurt Badt: „Seine Bildstrukturen sind effektiv musikalisch, sie sind Musik der Farben."52 Schließlich spricht Baudelaire noch ein anderes Problem an, das für Cézanne von großer Bedeutung ist: „Man fragt oft, ob ein und derselbe Mensch zugleich ein großer Kolorist und ein großer Zeichner sein könne. Ja und nein; denn es gibt verschiedene
49 Gespräche mit Cézanne, S. 34, - Conversations, S. 17. 50 Baudelaire: Werke/Briefe, B d . l , S. 203. 51 Der amerikansche Maler George Catlin (1796-1872) stellte Themen aus dem Leben der Eingeborenen am Missouri dar und veröffentlichte 1841 „Illustrations of the Manners, Costums and Conditions of the North American Indians". Vgl. Baudelaire: Werke/Briefe, B d . l , S. 453, 454. 52 Kurt Badt: Die Kunst Cézannes. München 1956, S. 28 ff.
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Arten von Zeichnungen. In der Feinheit der Zeichnung besteht die besondere Qualität eines reinen Zeichners, und diese Feinheit schließt den Pinselstrich aus: aber es gibt geglückte Pinselstriche, und der Kolorist, der die Natur durch die Farbe wiederzugeben hat, würde durch die Unterdrückung eines geglückten Pinselstrichs oft mehr verlieren, als die Bemühung um eine größere Strenge in der Zeichnung ihm einbringen könnte. Die Farbe schließt die hohe Zeichenkunst gewiß nicht aus, die von Veronese etwa, der vor allem mit der Gesamtheit der Teile und den großen Massen arbeitet; wohl aber schließt sie die detaillierte Zeichenweise aus, die Konturierung der Einzelheit, da hier der Pinselstrich stets die Linie schluckt. Die Vorliebe für Atmosphäre, die Wahl von bewegten Gegenständen verlangen die Anwendung von fließenden und verschwimmenden Linien. Ausschließliche Zeichner handeln nach einem umgekehrten und dennoch analogen Verfahren. Da ihre Aufmerksamkeit darauf gerichtet ist, die Linien zu verfolgen und in ihren geheimsten Schwingungen einzufangen, haben sie keine Zeit, Luft und Licht, beziehungsweise deren Wirkungen zu sehen; sie bemühen sich sogar, sie nicht wahrzunehmen, um dem Grundsatz ihrer Schule nicht zu schaden. Man kann folglich zugleich Kolorist und Zeichner sein, jedoch nur in einem gewissen Sinn. Ebenso wie ein Zeichner durch die Gestaltung großer Massen ein Kolorist sein kann, so kann ein Kolorist auch durch eine vollständig logische Gesamtlinienfuhrung Zeichner sein; aber im Detail schließen sich diese Darstellungsweisen jeweils aus. Die Koloristen zeichnen wie die Natur; ihre Figuren sind auf natürliche Weise durch den harmonischen Kampf der Farbmassen umrissen. Die reinen Zeichner sind auf Abstraktionen bedachte Philosophen und Erzeuger von Quintessenzen. Die Koloristen sind epische Dichter." 53 Cézanne formuliert: „Die reine Zeichnung ist eine Abstraktion. Zeichnung und Farbe sind nicht unterschieden, da ja alles in der Natur farbig ist. Beim Malen zeichnet man auch. Der richtige Ton ergibt gleichzeitig Licht und Modellierung des Gegenstandes. Je mehr die Farbe harmoniert, um so deutlicher wird die Zeichnung. Kontraste und Verhältnisse der Töne, darin liegt das ganze Geheimnis der Zeichnung und der Modellierung." 54 Der folgende Abschnitt in Baudelaires „Salon von 1846" ist Eugène Delacroix gewidmet und beginnt mit dem Satz: „Die Romantik und die Farbe führen mich geradewegs zu Eugène Delacroix" und wenig später gesteht der Autor, daß er nun den ihm „liebsten und sympathischsten Gegenstand" behandle. Siebenmal hat sich Baudelaire über Delacroix geäußert, 1845, 1846, 1855, 1861, 1862, 1863 und 1864. Auch in der Bewunderung Delacroix' stimmt Cézanne mit Baudelaire überein. Wohl 1864 hatte Cézanne Delacroix' „Dantebarke" kopiert, später, 1885/90 und erneut um 1900, Delacroix' „Frau vor dem Spiegel" („Le Lever") variiert (R. 594, 872), zwischen 1890 und 1894 Delacroix' „Hagar in der Wüste" kopiert (R. 745). Mit Vic53
Baudelaire: Werke/Briefe, B d . l , S. 2 0 5 , 2 0 6 .
54
Gespräche mit Cézanne, S. 33. - Conversations, S. 16.
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tor Chocquet, der frühzeitig Werke Cézannes kaufte, fühlte sich dieser auch in der Bewunderung Delacroix' verbunden. Chocquet hatte zuvor Werke von Delacroix gesammelt. Am 11. Mai 1886 schreibt Cézanne an Chocquet, daß Delacroix als Vermittler zwischen ihm und sich selbst gedient habe. 55 Während des Verkaufs der Sammlung von Victor Chocquet im Juli 1899 erwarb Vollard ein großes, um 1848/50 entstandenes Blumenaquarell von Delacroix, das Cézanne sehr bewunderte und schenkte es später Cézanne, und dieser kopierte es zwischen 1902 und 1904 als Ölgemälde für sich selbst (R. 894). 1902 schreibt Charles Camoin an Cézanne, daß in Baudelaires Gedicht „Les Phares" („Die Leuchttürme") von nun ab eine Strophe, nämlich eine über Cézanne, fehle. 56 Vom 12. Mai 1904 datiert ein Brief Cézannes an Emile Bernard mit der Bemerkung, er würde mit Redon „von Herzen einig [sein] mit seinen Gefühlen und seiner Bewunderung fur Delacroix", und daß er nicht wüßte, ob seine schwankende Gesundheit ihm je erlauben würde, seinen „Traum, eine Apotheose von Delacroix zu malen", zu verwirklichen. 57 Nach Joachim Gasquet habe Cézanne vor Delacroix' „Frauen von Algier" gesagt: „Wir stecken alle in diesem Delacroix drin" und habe dieses Bild und seinen Schöpfer mit dem höchsten Lob bedacht 58 und noch Ende September 1906 liest Cézanne, wie schon erwähnt, die „Würdigungen, die Baudelaire über das Werk von Delacroix geschrieben hat" 59 . Im Briefwechsel Cézannes mit Zola aber spielt Delacroix keine Rolle. Angesichts dieser lebenslangen Verehrung Delacroix' und Baudelaires durch Cézanne ist es gerechtfertigt, sich Baudelaires Delacroix-Verständnis genauer zu vergegenwärtigen. 1846 betont Baudelaire: „Delacroix geht [...] von dem Grundsatz aus, daß ein Bild vor allem die innersten Gedanken des Künstlers wiedergeben soll, der das Modell beherrscht wie der Schöpfer die Schöpfung; und aus diesem Grundsatz geht ein zweiter hervor, der ihm auf dem ersten Blick zu widersprechen scheint, - daß die materiellen Mittel der Ausführung sehr großer Sorgfalt bedürfen. - Delacroix bekennt eine fanatische Hochachtung fur die Sauberkeit des Werkzeugs und die Vorbereitung der Materialien. - Da die Malerei in der Tat eine Kunst des tiefen Nachsinnens ist und eine Unzahl von Fähigkeiten in ihr unmittelbar zusammenwirken müssen, soll die Hand, wenn sie sich an die Arbeit macht, auf möglichst wenig Widerstand stoßen, um die göttlichen Befehle des Gehirns mit der Raschheit eines Sklaven ausführen lassen; sonst entschwebt das Ideal."60
55 56 57 58
Cézanne. Briefe, S. 2 1 1 . — Correspondance, S. 226. Cézanne: Briefe, S. 264. - Correspondance, S. 2 8 1 . Cézanne: Briefe, S. 282. — Correspondance, S. 3 0 1 . Gespräche mit Cézanne, S. 1 7 4 - 1 7 6 . - Conversations, S. 140 - 1 4 2 .
59 Cézanne: Briefe, S. 310. - Correspondance, S. 329. 60 Baudelaire: Werke/Briefe, Bd.l, S. 213.
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Delacroix' und Baudelaires Naturbezug ist sehr anders als der von Zola geforderte. Baudelaire stellt fest: „Für Eugène Delacroix ist die Natur ein unerschöpfliches Wörterbuch, dessen Seiten er durchblättert und mit einem sicheren, tiefdringenden Auge befragt, und diese Malerei, die vor allem aus der Erinnerung hervorgeht, spricht auch vor allem zur Erinnerung. Die Wirkung auf die Seele des Betrachters entspricht den Mitteln des Künstlers. Ein Bild von Delacroix,,Dante und Vergil' zum Beispiel, hinterläßt immer einen tiefen Eindruck, dessen Intensität mit der Entfernung zunimmt. Da er stets das Detail dem Ganzen opfert und sich scheut, seine Konzeption durch die Mühsal einer deutlicheren und kalligraphischeren Ausführung in ihrer Lebendigkeit zu beeinträchtigen, erfreut er sich des Vollbesitzes einer unfaßbaren Originalität, die die innige Vertrautheit mit seinem Gegenstand ist. Wo eines vorwaltet, muß der Rest gerechterweise die Kosten tragen. Eine scharf ausgeprägte Vorliebe fordert Opfer, und jedes Meisterwerk ist nur ein anderer Auszug aus der Natur."61 In seiner „Theorie des künstlerischen Opfers" entspricht Baudelaire in gewisser Hinsicht Delacroix, der an mehreren Stellen seines Tagebuches darauf zu sprechen kommt. Kurt Badt hat in seiner Studie „Eugène Delacroix. Werke und Ideale"62 Delacroix' „Begriff des künstlerischen Opfers" behandelt. In einer Eintragung vom 21. April 1853 notierte Delacroix: Mozart „ist durch seine vollendete Form allen überlegen. Weder bei ihm noch bei Racine erhalten die schönen Stellen durch die Nachbarschaft geschmackloser Züge oder verfehlter Wirkungen einen erhöhten Glanz. Was uns an diesen beiden Männern als ein Mangel erscheint, wird sie für ewig in den Augen der Menschheit heiligen und auf eine Höhe heben, die nur sehr selten erreicht wird. Nach diesen Werken oder, wenn man will, neben ihnen kommen die, welche bedeutende Nachlässigkeiten oder Fehler aufweisen, die sie vielleicht verunstalten, dem Eindruck aber im Verhältnis zu der mehr oder minder großen Schönheit der Gesamtwirkung nur wenig schaden. Rubens ist voll solcher Nachlässigkeiten oder Flüchtigkeiten."63 Unter dem 28. April 1853 heißt es: „Die Malerei kann nur dann wirken, wenn man der Wirkung das eine oder das andere opfert, nur kann ich nicht leiden, daß der Künstler uns das als Willkür empfinden läßt." Und etwas später: „Ich möchte - und ich glaube es oft zu treffen —, daß das Opfer nicht zu merken und das Interesse nichtsdestoweniger in gehöriger Weise hervorgehoben sei. Das kann man, ich betone es nochmals, nur durch Opfer erreichen."64 Wiederum, am 9. Mai 1853: „Köstlicher Morgen. Ich kam zur ,Eiche von Antin' [bei Champrosay] und erkannte sie nicht, so klein schien sie mir. Ich konnte neue Beobachtungen über die Wirkung unvollendeter Werke, Skizzen, Untermalungen usw. machen, entsprechend denen, die ich frü-
61 L.C. S. 214. 62 Köln 1965, S. 9 0 - 9 2 . 63 Zitiert nach: Eugène Delacroix: Mein Tagebuch. Aus dem Französischen und mit einer Einleitung von Erich Hancke [...]. Zürich 1993, S. 108. 64 L.c. S. 109,110.
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her aufgeschrieben habe. Ich finde, daß das Mißverhältnis in der Proportion eine ähnliche Wirkung tut. Die vollendeten Künstler setzen gerade wegen ihrer Vollendung weniger in Erstaunen. Sie haben keine Ungleichheiten, die einen fühlen lassen, wie vollkommen und proportioniert das Ganze ist. Als ich mich dem prächtigen Baume näherte und unter seinen riesigen Asten stehend nur einzelne Partien ohne ihre Beziehung zum Ganzen erblickte, da wurde ich von dieser Größe frappiert. Das veranlaßte mich zu dem Schluß, daß Michelangelo einen Teil der Wirkung, die seine Statuen hervorbringen, gewissen Mißverhältnissen oder unvollendeten Teilen verdankt, die den Eindruck der vollendeten Teile verstärken."65 Und kurz darauf: „Ich habe gesagt, daß die Skizze eines Gemäldes, eines Denkmals ..., daß also jedes Werk der Phantasie, dem Teile fehlen, mehr auf die Seele wirken muß, und zwar auf Grund dessen, was diese ihm hinzutut, indem sie den Eindruck dieses Gegenstandes in sich aufnimmt. Ich füge hinzu, daß die vollkommenen Werke, wie die eines Racine oder eines Mozart, vor allem auf den ersten Blick nicht so viel Wirkung hervorbringen wie diejenigen der ungenauen oder flüchtigen Genies, deren hervorragende Teile das um so mehr sind, als es daneben andere gibt, die matt oder ganz schlecht sind."66 Am 23. April 1854 nimmt Delacroix diese Überlegungen wieder auf: „Die erste Idee, der Entwurf, gewissermaßen das Ei oder der Keim, ist durchaus nicht vollständig. Er enthält vielleicht das Ganze, aber nun muß man dieses Ganze, das nichts anderes ist als die Vereinigung aller Teile, herausarbeiten. Was gerade aus dem ersten flüchtigen Entwurf den treffendsten Ausdruck der Idee macht, das ist nicht etwa die Unterdrückung der Details, sondern ihre vollständige Unterordnung unter die großen Züge, die zunächst wirken sollen. Die größte Schwierigkeit besteht also darin, im Bilde zu dieser Unterordnung der Details zurückzukehren, die doch die Komposition selbst ist. - Ich weiß nicht, ob ich mich täusche, aber ich glaube, daß selbst die größten Künstler stark gegen diese Schwierigkeit, die ernsteste von allen, zu kämpfen hatten. Hier zeigt es sich mehr als jemals, wie falsch es ist, den Details durch den Reiz oder die Koketterie der Ausführung so viel Interesse zu verleihen, daß man es nachher tödlich bedauert, sie aufzuopfern, wenn sie dem Ganzen schaden. - Hier sehen sich die Herren, die mit leichtem und geistvollem Striche ihre Torsi und ausdrucksvollen Köpfe malen, in ihrem Triumph beschämt. Ein Bild, das nacheinander aus einzelnen Stücken, die sorgfältig vollendet und nebeneinander gestellt werden, zusammengesetzt wird, scheint ein Meisterwerk und der Gipfel der Geschicklichkeit, solange es nicht vollendet ist, d.h. solange die Fläche nicht bedeckt ist. Denn für diese Maler, die jedes Detail gleich fertig machen, heißt Vollenden die Leinwand bedeckt haben. [...]" „Wenn aber der letzte Strich getan ist, wenn der Baumeister dieser Anhäufung von getrennten Partien den Giebel seines buntscheckigen Hauses aufgesetzt und sein letztes Wort gesagt hat, dann sieht man nur Lücken oder Gedränge und nirgends Ordnung. Das Interesse, das man in jeden Gegenstand gelegt hat, geht in der 65
L.C.S. 114, 115.
66
Badt: Delacroix, S. 102.
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Verwirrung verloren; was eine bestimmte und schöne Ausführung zu sein schien, wird nun durch den Mangel an Opfern zur Trockenheit. [...] Die großen Künstler gehen von einem bestimmten Punkte aus, und die Hauptschwierigkeit liegt für sie darin, in der langsamen oder eiligen Ausführung des Werkes auf diesen reinen Ausdruck zurückzukommen." 67 Diese Überlegungen Delacroix' zum Verhältnis von Details und ganzheitlicher Komposition sind wichtig auch fur das Problem von Vollendung und Nichtvollendung bei Cézanne. Am 26. September 1874 hatte Cézanne an seine Mutter geschrieben: „Ich muß stets weiterarbeiten, doch nicht etwa, um zu jener Vollendung zu gelangen, die die Bewunderung der Dummen erregt. - Denn jene Vollendung, die man im allgemeinen so schätzt, ist nichts anderes als das Ergebnis handwerklichen Könnens und macht jedes Werk, das so entsteht, unkünstlerisch und gewöhnlich. Ich darf nur um der Genugtuung willen, wahrer und künstlerischer zu sein, nach größerer Vollendung streben." 68 Zurück zu Baudelaires Delacroix-Artikel von 1846! Hier gelangt Baudelaire zu der bemerkenswerten Aussage, Delacroix habe „vielleicht allein in unserem ungläubigen Jahrhundert religiöse Bilder ersonnen, die weder leer und kalt sind wie Preisarbeiten, noch pedantisch, mystisch oder neu-christlich wie die Bilder all dieser Kunstphilosophen, die aus der Religion eine archaisierende Wissenschaft machen, und die es für nötig halten, vor allem die Symbolik und die frühe Uberlieferung zu kennen, um die religiöse Saite zu berühren und zum Klingen zu bringen." 69 Als Beispiel nennt er Delacroix' „Pietà" von 1844 in der Pariser Kirche Saint-Denis du Saint-Sacrement, seinen „Christus am Ölberg" von 1827 in St. Paul-St. Louis, Paris, und seinen 1836 gemalten „Heiligen Sebastian". „Um aber zu erklären, was ich eben behauptete", fährt Baudelaire fort, „ — daß allein Delacroix religiöse Bilder zu malen versteht, — will ich den Betrachter auf folgendes hinweisen: wenn seine interessantesten Bilder auch fast immer diejenigen sind, deren Gegenstand er selber wählt, das heißt die frei erfundenen Gegenstände, — so entspricht doch die ernste Trauer seines Temperaments vollkommen unserer Religion, die eine Religion universaler Trauer ist und die, eben ihrer Katholizität wegen, dem Individuum seine volle Freiheit läßt und nicht mehr verlangt, als in der Sprache eines jeden gefeiert zu werden, - wenn er den Schmerz kennt und wenn er Maler ist." 70 Diese Äußerung beleuchtet Baudelaires Auffassung des Katholizismus, mit der vielleicht bis zu einem gewissen Grade auch Cézanne übereinstimmt.
67
Hancke, S. 1 4 8 - 1 5 0 .
68
Cézanne: Briefe, S. 138. - Correspondance, S. 148.
69
Baudelaire: Werke/Briefe, B d . l , S. 2 1 5 .
70
L.C. S . 2 1 6 .
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Zur anläßlich der Pariser Weltausstellung 1855 präsentierten Schau von Bildern Delacroix' veröffentlichte Baudelaire am 3. Juni 1855 in „Le Pays" einen Artikel, der zu Beginn eine Beschreibung des Gesamteindruckes gibt: „Angesichts der fünfunddreißig Gemälde Delacroix' ist der erste Gedanke, der sich des Beschauers bemächtigt, der eines ausgefüllten Lebens, einer beharrlichen, unablässigen Liebe zur Kunst. Welches Bild ist das beste? Es wäre kaum ausfindig zu machen. Welches das interessanteste? Man kann es nicht entscheiden." 71 Nach einer Charakterisierung einzelner Werke, dem „Dante und Vergil", dem „Einzug der Kreuzfahrer in Konstantinopel", der „Jüdischen Hochzeit" , „Romeo und Julias Abschied", der „Löwenjagd", will Baudelaire „mehrere unwiderlegliche Wahrheiten" feststellen: ,Als erstes ist folgendes hochbedeutsame Faktum anzumerken: sieht man ein Bild Delacroix' aus allzu großer Entfernung, um seinen Gegenstand untersuchen, ja überhaupt erkennen zu können, so hat das Gemüt dennoch bereits einen reichen, glücklichen oder schwermütigen Eindruck empfangen. Es ist, als ob diese Malerei, wie die Hexenmeister und Magnetiseure, was sie beseelt, weithin ausstrahlte. Dieses einzigartige Phänomen erklärt sich aus der Macht des Koloristen, aus der vollkommenen Ubereinstimmung der Töne und der (im Kopf des Malers prästabilierten) Harmonie zwischen der Farbe und dem Gegenstand. Es ist, als ob diese Farbe — man vergebe mir derartige Gewagtheit des Ausdrucks für etwas, das so leicht nicht in Worte zu fassen ist, von sich selbst her denke, gleichviel, welche Dinge sie umkleide."72 Drost erinnert in seinem Kommentar daran, daß sich diese hohe Auffassung von Farbe einzig mit derjenigen Delacroix' selbst vergleichen lasse, der in seinem Journal unter dem 6. Juni 1851 notiert hatte: „Gegen die allgemeine Anschauung möchte ich sagen, daß die Farbe eine viel geheimnisvollere und vielleicht mächtigere Kraft ausübt; sie wirkt gewissermaßen ohne unser Wissen." 73 Cézanne hat, Gasquet zufolge, vor dem „Motiv" formuliert: „Ich nehme rechts, links, hier, dort, überall diese Farbtöne, diese Abstufungen, ich mache sie fest, ich bringe sie zusammen [...]. Sie bilden Linien, sie werden Gegenstände, Felsen, Bäume, ohne daß ich daran denke. Sie nehmen ein Volumen an, sie haben einen Wirkungswert. [...] Aber wenn ich die geringste Ablenkung habe, die leiseste Schwäche fühle, besonders wenn ich einmal zu viel hineindeute, [...] wenn ich beim Malen denke, wenn ich dazwischenkomme, [...] dann entwischt alles."74 Baudelaire fährt fort: „Hinzu kommt, daß diese wunderbaren Akkorde seiner Farbe uns oft anregen, von Harmonie und Melodie zu träumen und oft nimmt man von diesen Bildern einen gleichsam musikalischen Eindruck mit. Der Dichter hat diese schwer bestimmbaren Empfindungen in Versen auszudrücken versucht, deren Selt71 Baudelaire: Werke/Briefe, Bd.2, S. 244. 72 L e . S. 250. 73 L.C. S . 4 3 0 . 74 Gespräche mit Cézanne, S. 136. - Conversations, S. 109.
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samkeit man ihnen wohl ihrer Aufrichtigkeit wegen durchgehen läßt." Und Baudelaire zitiert die entsprechende, hier wiederholte Strophe seines Gedichts „Die Leuchttür« me : „Delacroix, Blutsee, von bösen Engeln überflogen, umschattet von immergrünem Fichtenwald, w o unter tiefvergrämtem Himmel seltsame Fanfaren vorbeiziehn, wie von Weber ein erstickter Seufzer."
Dann kommentiert der Dichter sich selbst: Blutsee·, das Rot; — von bösen Engeln überflogen: Supranaturalismus; — immergrüner Fichtenwald·, das Grün, die Komplementärfarbe des Roten; — tiefuergrämter Himmel: der aufgewühlte, gewittrige Hintergrund seiner Bilder, — die Fanfaren und Weber. Vorstellungen von romantischer Musik, wie die Harmonien seiner Farbe sie in uns wecken."75 Den Begriff „Supranaturalismus" hatte Baudelaire schon im Delacroix-Abschnitt seines „Salons von 1846" gebraucht, und zwar mit einem Zitat nach Heinrich Heine: „Hier seien einige Zeilen von Heinrich Heine zitiert [aus dessen Schrift über die ,Gemäldeausstellung in Paris 1831', französisch in Heines Buch ,De la France' 1833 erschienen, und auf Decamps bezogen], die Delacroix' Methode recht gut erklären, eine Methode, die, wie bei allen kraftvollen Konstitutionen, das Ergebnis seines Temperaments ist: ,In der Kunst bin ich Supernaturalist. Ich glaube, daß der Künstler nicht alle seine Typen in der Natur auffinden kann, sondern daß ihm die bedeutendsten Typen, als eingeborene Symbolik eingeborener Ideen, gleichsam in der Seele geoffenbart werden. Ein neuerer Ästhetiker, welcher,Italienische Forschungen' geschrieben [Heine meint die Untersuchungen von Carl Friedrich von Rumohr, die 1827/31 erschienen waren], hat das alte Prinzip von der Nachahmung der Natur wieder mundgerecht zu machen gesucht, indem er behauptete: der bildende Künstler müsse alle seine Typen in der Natur finden. Dieser Ästhetiker hat, indem er solchen obersten Grundsatz für die bildenden Künste aufstellte, an eine der ursprünglichsten dieser Künste gar nicht gedacht, nämlich an die Architektur, deren Typen man jetzt in Waldlauben und Felsengrotten nachträglich hineingefabelt, die man aber gewiß dort nicht zuerst gefunden hat. Sie lagen nicht in der äußeren Natur, sondern in der menschlichen Seele.'"76 Gerade die „abstrakteste" der bildenden Künste, die Architektur, diente Heine somit als Beispiel seines „Supernaturalismus". In seinem Kommentar weist Drost daraufhin, daß Delacroix bereits 1824, am 14. Mai, in seinem „Journal" notiert habe: „Beim Malen der Dinge malt man seine Seele" und: „Das Neue liegt in dem schöpferischen Geist und nicht in der gemalten Natur", und er sprach von dem Glück, „sich zu malen" und seine „Seele in tausend Formen zu zeigen".77 75 Baudelaire: Werke/Briefe, Bd.2, S. 250, 251. 76 L.c. Bd.l, S. 212, 213. 77 L.C. Bd.l,S. 447.
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Baudelaire vertieft diesen Gedanken im dritten Artikel seines Berichts über den „Salon 1859", der in der „Revue française" am 1. und 20. Juli 1859 veröffentlicht wurde. Unter dem Titel „Die Königin der Fähigkeiten" schreibt Baudelaire hier: „Auf tausend verschiedene Arten haben wir in letzter Zeit sagen hören: .Kopiert die Natur; und nichts als die Natur. Es gibt keinen höheren Genuß und keinen schöneren Triumph als eine vortreffliche Kopie der Natur.' Und diese kunstfeindliche Doktrin beanspruchte, nicht nur in der Malerei angewendet zu werden, sondern in allen Künsten, sogar im Roman, sogar in der Poesie. Diesen mit der Natur so zufriedenen Doktrinären wäre ein Mann mit Einbildungskraft gewiß berechtigt entgegenzuhalten: ,Ich finde es überflüssig und müßig, das, was ist, darzustellen, weil nichts, was ist, mich befriedigt. Die Natur ist häßlich, und ich ziehe die Ungeheuer meiner Phantasie den vorhandenen Trivialitäten vor.' Es wäre jedoch philosophischer gewesen, die betreffenden Doktrinäre zu fragen, einmal, ob sie sich auch so sicher seien, daß diese äußere Natur auch wirklich existiert, oder, falls diese Frage allzu sehr danach angetan schiene, sie mit beißendem Spott zu reizen, ob sie auch gewiß seien, die ganze Natur zu kennen, alles, was in dieser Natur enthalten ist. Ein Ja hierauf wäre die prahlerischste und abgeschmackteste Antwort gewesen. Soweit ich diesen abenteuerlichen und schmählichen Verirrungen zu folgen vermochte, wollte die Doktrin besagen, — ich erweise ihr die Ehre zu glauben, daß sie besagen wollte: Der Künstler, der wahre Künstler, soll in seinen Schilderungen sich an das halten, was er sieht und was er fühlt. Er soll wirklich seiner eigenen Natur treu sein. Wie den Tod soll er es scheuen, sich der Augen und Gefühle eines anderen zu bedienen, er mag noch so groß sein; denn dann wären die Hervorbringungen, die er uns gibt, in bezug auf ihn Lügen und keine Wirklichkeiten. Sollten die Pedanten jedoch, von denen ich rede [...], sich gegen diese Auslegung verwahren, so möge die Annahme genügen, sie wollten lediglich sagen: ,Wir haben keine Einbildungskraft, und wir dekretieren, daß niemand welche haben wird.'" Diese Sätze sind auch fiir eine Beurteilung der Zola'schen Kunsttheorie hilfreich. Im folgenden rühmt Baudelaire die Einbildungskraft als „Königin der Fähigkeiten": „Die Einbildungskraft hat den Menschen die sittliche Bedeutung der Farbe [man fühlt sich an Goethe erinnert], des Umrisses, der Klänge und Düfte gelehrt. Sie hat, am Anfang der Welt, die Analogie und die Metapher geschaffen. Sie zerlegt die ganze Schöpfung, und mit den angehäuften Materialien, die sie nach Regeln anordnet, deren Ursprung in den tiefsten Tiefen der Seele zu suchen ist, schafft sie eine neue Welt, ruft sie die Empfindung des Neuen hervor. Da sie die Welt geschaffen hat (man kann das wohl sagen, glaube ich, sogar in einem religiösen Verstände), so ist es nur gerecht, daß sie die Welt regiert. [...]" 78 „Die Einbildungskraft ist die Königin des Wahren, und das Mögliche ist eine der Provinzen des Wahren. Sie ist in der Tat dem Unendlichen verwandt."79 78 Baudelaire: Werke/Briefe, Bd.5, S. 140, 141. 79 L.C. S. 142.
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„Die Herrschaft der Einbildungskraft" lautet der Titel des nächsten Abschnitts. Hier greift Baudelaire auf seinen zuvor formulierten Satz „Wie die Einbildungskraft die Welt erschaffen hat, so regiert sie diese auch" zurück und zitiert zur Bestätigung aus „The Night Side of Nature or Ghosts and Ghost Seers", „Die Nachtseite der Natur oder Geister und Geisterseher", London 1848, 3. Aufl. 1852, von Catherine Crowe (um 1800—1876), einer Sammlung übernatürlicher Erzählungen, die Baudelaire spätestens seit 1857 bekannt war, als er seine „Neuen Anmerkungen zu Edgar Poe" veröffentlichte.80 Er zitiert diese Zeilen: „By imagination, I do not simply mean to convey the common notion implied by that much abused word, which is only fancy, but the constructive imagination, which is a much higher function, and which, in as much as man is made in the likeness of God, bears a distant relation to that sublime power by which the Creator projects, creates, and upholds his universe." „Mit imagination will ich nicht lediglich die mit diesem so häufig mißbrauchten Wort verbundene Vorstellung ausdrücken, welche einfach Phantasie ist, sondern vielmehr die schöpferische Einbildungskraft, die eine sehr viel höhere Funktion darstellt, und die, insofern der Mensch nach dem Gleichnis Gottes erschaffen ist, eine entfernte Verbindung mit jener erhabenen Macht behält, durch welche der Schöpfer sein Universum entwirft, erschafft und erhält."81 Ein Satz Cézannes lautet: „Die Kunst ist eine Religion. Ihr Ziel ist die Erhebung des Denkens."82 Dann kommt Baudelaire auf Delacroix zu sprechen und dessen Ausspruch: „Die Natur ist nur ein Wörterbuch" und nimmt Delacroix zum Kronzeugen fur die so verstandene Einbildungskraft: „Für diesen großen Maler waren, sind, will ich sagen, alle Teile der Kunst, von denen der eine diesen, der andere jenen für das Wichtigste hält, insgesamt nur sehr bescheidene Dienerinnen des einen höheren Vermögens, der Einbildungskraft."83 Delacroix hatte die Natur als „Wörterbuch" bezeichnet in damals unveröffentlichten Notizen, und sich über die Einbildungskraft, die Phantasie, mehrmals in seinem Tagebuch geäußert, so am 27. Apri 1824: „Ich denke, [die Quelle des Genies] ist die Phantasie (l'imagination) allein, oder, was auf dasselbe hinauskommt, eine Empfindlichkeit der Organe, die den einen sehen läßt, wo andere nichts sehen, und ihn auf eine besondere Art sehen läßt."84 Oder, am 8. August 1856: „Die schönsten Kunstwerke sind die, in welchen sich die Phantasie [fantaisie] des Künstlers am klar-
80 Vgl. den Kommentar in Baudelaire: Werke/Briefe, Bd.5, S. 323, 324, und: Richard Beilharz: Fantaisie et Imagination chez Baudelaire, Catherine Crowe et leurs prédécesseurs allemands. In: Gérald Antoine (Ed.): Baudelaire. Actes du Colloque de Nice (25-27 mai 1967) Paris 1968, S. 31—40, mit Hinweisen auf Schriften von Schelling-Schülern. 81 Baudelaire: Werke/Briefe, Bd.5, S. 144, 145. 82 Gespräche mit Cézanne, S. 32. - Conversations avec Cézanne, S. 15: „L'art est une religion. Son but est l'élévation de la pensée." 83 L.c. S. 145, 146. 84 Hancke: Delacroix, S. 14.
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sten ausspricht," 85 oder 1857, aus Delacroix' Notizen für ein „Wörterbuch der schönen Künste": „Phantasie [Imagination]. Sie ist die wichtigste Eigenschaft des Künstlers. Dem Amateur ist sie nicht weniger nötig. Ich begreife nicht, wie ein Mensch ohne Phantasie Bilder kaufen kann; er ersetzt jedenfalls das, was ihm in obiger Beziehung fehlt, durch Eitelkeit. Nun besitzen, so merkwürdig es erscheinen mag, die meisten Menschen keine Spur von Phantasie. Sie haben nicht nur nichts von der glühenden oder eindringlichen Einbildungskraft, die ihnen die Dinge lebhaft malte, die ihnen sogar ihre Ursachen aufdeckte, sondern sie haben nicht einmal das klare Verständnis für Werke, in denen die Phantasie dominiert. Die Anhänger des Grundsatzes, daß nil in intellectu quod non fueritprius in sensu, behaupten diesem Prinzip zufolge, daß die Phantasie nur eine Art Erinnerung sei. Sie werden indessen zugeben müssen, daß alle Menschen Eindrücke und Gedächtnis haben, sehr wenige aber die Phantasie, die sich doch aus beiden Elementen zusammensetzen soll. Die Phantasie des Künstlers stellt sich nicht nur dies oder jenes Objekt vor, sie kombiniert sie auch für den zu erreichenden Zweck; sie macht Gemälde, Bilder, die sie nach ihrem Gefallen komponiert. Wie sollte man durch Erfahrung die Fähigkeit der Komposition erlangen können?" 8 6 Diese Notiz Delacroix' ist wichtig, weil sie Phantasie mit der Fähigkeit zu komponieren verbindet, und damit vorausweist auf Cézanne, dessen Werke, — von seinen frühen abgesehen — keine Phantasic-Motive aufweisen. In seinem umfangreichsten und letzten Artikel über Delacroix, dem in der „Opinion nationale" vom 2. September, 14. und 22. November 1863 erschienenen Nachruf „Eugène Delacroix, Werk und Leben", faßt Baudelaire nochmals alle seine Gedanken über den Künstler zusammen und stellt an den Anfang eine Würdigung der Gesamtperson und ihrer Kunst: „Was ist denn dieses mysteriöse Etwas, das Delacroix zum Ruhme unseres Jahrhunderts besser übersetzt hat als irgendein anderer? Es ist das Unsichtbare, das Unfaßbare, der Traum, die Nerven, es ist die Seele-, und dies [...] mit keinen anderen Mitteln als Umriß und Farbe. Hierin hat er alle übertroffen; mit der Vollkommenheit eines vollendeten Malers, mit der Strenge eines scharfsinnigen Schriftstellers, mit der Beredsamkeit eines leidenschaftlichen Musikers. Es ist dies übrigens eines der Kennzeichen des geistigen Zustandes unserer Zeit, daß die Künste danach trachten, wenn sie einander schon nicht ergänzen, sich doch zumindest gegenseitig neue Kräfte zu verleihen. — Delacroix ist von allen Malern derjenige, von dem die größte Suggestivkraft ausgeht, dessen Werke, selbst wenn man zweitrangige und untergeordnete auswählt, am stärksten zum Denken anregen und uns die größte Anzahl poetischer Gefühle und Gedanken ins Gedächtnis zurückrufen, die zwar schon bekannt sind, die man jedoch für immer in der Nacht der Vergangenheit begraben glaubte." 87
85
L.C.
86
L.C.S. 2 1 7 , 2 1 8 .
S. 187.
87
Baudelaire: "Werke/Briefe, Bd.7, S. 271.
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Zu Delacroix' Naturbezug wiederholt Baudelaire fast wörtlich Passagen seiner Ausführungen zum „Salon von 1859", „denn keine Umschreibung könnte die Worte aufwiegen, die ich seinerzeit fast unter dem Diktat des Meisters niedergeschrieben habe: „,Die Natur ist nur ein Wörterbuch', wiederholte er häufig. Um die Reichweite dessen, was dieser Satz besagt, zu erfassen, muß man sich die zahlreichen gebräuchlichen Verwendungsweisen eines Wörterbuchs vergegenwärtigen. Man sucht dort die Bedeutung der Wörter, die Entstehung der Wörter, die Etymologie der Wörter; schließlich entnimmt man ihm alle Elemente, aus denen ein Satz und eine Erzählung sich zusammensetzen; niemand ist aber jemals auf den Gedanken verfallen, das Wörterbuch selber für eine Komposition im dichterischen Verstände des Wortes zu halten. Die Maler, die der Einbildungskaft folgen, entnehmen ihrem Wörterbuch die Elemente, die mit ihrer Vorstellung übereinstimmen; indem sie diese Elemente mit einer gewissen Kunst zurichten, verleihen sie ihnen jedoch eine völlig neue Physiognomie. Diejenigen, denen die Einbildungskraft fehlt, schreiben das Wörterbuch ab. ^ j« 88 Und noch einmal beschreibt Baudelaire die übergegenständliche Wirkung eines Bildes von Delacroix: „Ein Gemälde von Delacroix, das man aus allzu großer Entfernung erblickt, um den Reiz der Umrisse abschätzen oder die mehr oder minder dramatische Qualität des Sujets beurteilen zu können, durchdringt uns bereits mit einer übernatürlichen Wollust. Eine magische Atmosphäre scheint sich auf uns zubewegt zu haben und uns nun zu umhüllen. Düster, und dennoch köstlich, leuchtend, doch ruhevoll, beweist dieser Eindruck, der sich unserem Gedächtnis für immer einprägt, daß wir es mit dem wahren, dem vollkommenen Koloristen zu tun haben. Und die Untersuchung des Sujets, wenn man nähertritt, vermindert dieses ursprüngliche Vergnügen nicht, noch fügt sie ihm etwas hinzu, weil dessen Ursprung anderswo liegt und mit gedanklicher Schärfe nichts zu tun hat."89 Dem entspricht die letzte Eintragung in Delacroix' Tagebuch, unter dem Datum 22. Juni 1863 (Delacroix verstarb am 13. August dieses Jahres): „Es ist die erste Pflicht eines Bildes, ein Fest fur die Augen zu sein. Ich will damit nicht sagen, daß es nichts vorzustellen brauche; es ist wie mit den schönen Versen ... aller Verstand der Welt kann sie nicht davor bewahren, schlecht zu sein, wenn sie das Ohr beleidigen. Man sagt: Gehör haben. Nicht jedes Auge ist fähig, die Schönheiten der Malerei zu würdigen. Viele sehen falsch oder schlecht; sie sehen die Objekte, aber nicht ihren Reiz."90
88 Le. S. 274. 89 L.C.S. 2 8 0 , 2 8 1 . 90 Hancke: Delacroix, S. 2 5 1 .
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Balzac Cézanne kannte und schätzte — wie die Werke Baudelaires - die Romane Honoré de Balzacs. Cézanne schätzte offenbar vor allem Balzacs visionäre Kraft. Joachim Gasquet berichtet in seinem 1912/13 geschriebenen, 1921 publizierten Buch über Cézanne, das sicher nicht wortwörtlich vertrauenswürdig ist, immerhin aber viele bemerkenswerte Details enthält: „Wir kamen aus der .Galerie des Maschines' des Salon. Wir waren hingegangen, um den Balzac von Rodin wiederzusehen. Cézanne hatte eine Photographie davon gekauft, um sie mir zu schenken." Uber Rodins „Balzac" habe Cézanne gesagt: „Wahrhaftig, er hat ihn mit wunderbarer Klugheit geschaffen, mit diesen Augen, die die Welt einsaugen und sich ebenso leidenschaftlich über ihr schließen, Augen, die aussehen, als ob sie schwarz von all dem Kaffee geworden wären, den Balzac unaufhörlich trank. [...] Und dieser Block, wissen Sie, man sollte ihn bei Nacht sehen, von unten stark beleuchtet, [...] in dem nächtlichen Fieber von Paris, wo man diesen Dichter und seine Romane selbst lebendig spürt."91 Cézanne identifizierte sich mit Gestalten aus Balzacs Romanen. Briefe an Émile Bernard unterzeichnete er am 15. April und ähnlich am 12. Mai 1904 mit der Floskel: „einen schönen Kuß des Père Goriot fur die Kinder und meine besten Empfehlungen an ihre liebe Familie", anspielend auf Balzacs Roman „Le Père Goriot"92. In seinem Cézanne-Artikel von 1904 berichtet Emile Bernard: ,Ais ich eines Abends vom,Chef-d'œuvre inconnu', dem Ungekannten Meisterwerk, und von Frenhofer, dem Helden des Dramas von Balzac sprach, erhob er sich vom Tisch, stellte sich vor mich hin, klopfte mit dem Zeigefinger an seine Brust und bekannte sich durch mehrfache Wiederholung dieser Geste, ohne ein Wort zu sagen, zu der Person des Romans. Er war so ergriffen, daß ihm Tränen in die Augen traten. Einer, der ihm im Leben zeitlich vorangegangen war, der aber einen prophetischen Geist besaß [Balzac also], hatte ihn verstanden."93 Cézanne erläuterte nicht, worin er sich mit dem Maler Frenhofer identifizierte. Bernard aber nahm als Motto seines Artikels einen Satz aus Balzacs ,Ungekanntem Meisterwerk': „Frenhofer ist ein Mensch, der höher und weiter sieht als die übrigen Maler."94 Eine Zeichnung Cézannes von 1868/71 stellt wahrscheinlich Frenhofer dar. Frenhofer war fur Balzac das Beispiel eines Künstlers, der an der Realisierung seines Hauptwerks scheitert. Zola hatte in seinem 1886 erschienenen Roman ,L'Œuvre', der ohne Balzacs ,Ungekanntem Meisterwerk' von 1837 nicht denkbar ist, den Maler Claude Lantier an der Realisierung seines Hauptwerkes scheitern lassen. In diesem Maler Lantier verarbeitete Zola Erinnerungen an die gemeinsame Jugend mit Cézanne und verband sie mit 91 92 93 94
Gespräche mit Cézanne, S. Cézanne: Briefe, S. 281 f. Gespräche mit Cézanne, S. Gespräche mit Cézanne, S.
158 f. — Conversations, S. 127 f. Correspondance, S. 300 f. 87. - Conversations, S. 65. 47. - Conversations, S. 30.
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Zügen hauptsächlich Manets. Cézanne erkannte sich darin wieder, er fand sich dargestellt als einen Versager und als einen, der sich erhängt, weil ihm sein Werk nicht glückt. Cézanne konnte bei Zola erfahren95: Claude betrachtete „das Bild mit glühendem, starrem Blick, in dem die gräßliche Qual über seine Unfähigkeit brannte. Nichts Klares, nichts Lebendiges entstand mehr unter seinen Fingern, der Busen der Frau war in schweren Farbtönen zu dick aufgetragen; dieses angebetete Fleisch, das nach seinen Träumen aufstrahlen sollte, beschmutzte er, es gelang ihm nicht einmal, es an die richtige Stelle zu setzen. Was war denn bloß mit seinem Schädel los, daß alle seine Anstrengungen so fruchtlos blieben? Konnte er wegen eines Augenfehlers nicht mehr richtig sehen? Konnte er sich nicht mehr auf seine Hände verlassen, weil sie ihm den Gehorsam verweigerten? Er wurde immer verrückter, weil er sich ärgerte über diese unbekannte Eigenschaft, die ihn manchmal so glücklich schaffen ließ und ihn andere Male so dumm und unfruchtbar machte, daß er die allereinfachsten Anfangsgründe des Zeichnens vergaß." „Mit der ganzen Hand hatte er ein sehr breites Palettenmesser ergriffen; und mit einem einzigen Zug kratzte er langsam und tief den Kopf und den Busen der Frau ab. Das war ein richtiges Morden, ein Zermalmen: alles verschwand in einem schlammigen Brei." Oder: „Zehnmal wurde die Gestalt von vorn angefangen, wieder aufgegeben, völlig umgearbeitet. Ein Jahr, zwei Jahre verstrichen, ohne daß das Bild fertig wurde; mitunter war es fast fertig, und am nächsten Morgen wurde es wieder abgeschabt und mußte gänzlich neu gemacht werden." „Mit diesem Bild wurde er niemals fertig, das stand nun fest. Je verbissener er drauflosarbeitete, um so größer wurde die Zerfahrenheit, um so dicker trug er die schweren Farbtöne auf, um so schwerfälliger und flüchtiger das Bemühen beim Zeichnen." Uber das Ende des Malers Claude heißt es: „Claude hatte sich an der großen Leiter angesichts seines mißratenen Werkes erhängt. [...] Im Hemd hing er dort, mit nakkten Füßen, gräßlich mit seiner schwarzen Zunge und seinen aus den Höhlen getretenen blutunterlaufenen Augen, entsetzlich vergrößert in seiner reglosen Starre, das Gesicht dem Bild zugewandt, ganz nahe dem Weib mit dem wie eine mystische Rose erblühten Geschlecht, als habe er ihr mit seinem letzten Röcheln seine Seele eingehaucht und sie noch mit seinen starren Pupillen angeschaut." Kurz vor Schluß des ganzen Buches findet sich der Satz: .„Zumindest ist das mal einer, der folgerichtig und tapfer gehandelt hat' fuhr Sandoz [der Schriftsteller, Pseudonym für Zola] fort. ,Er hat seine Unfähigkeit eingestanden und hat sich umgebracht.'" Cézanne antwortet am 4. April 1886 von Gardanne aus: „Mein lieber Emile, ich erhielt soeben ,L'Œuvre', das Du mir freundlicherweise gesandt hast. Ich danke dem Autor der ,Rougon-Macquart' für diesen gütigen Beweis seines Gedenkens und bitte ihn, mir zu gestatten, ihm in Erinnerung an die vergangenen Jahre die Hand zu drücken. Ganz der Deine unter dem Impuls der verflossenen Zeiten. Paul Cézanne." 96
95 Zitiert nach der deutschen Übersetzung von Hans Baltzer, München 1976, S. 75, 81, 393, 557, 574, 591. 96 Cézanne: Briefe, S. 210. - Correspondance, S. 225.
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Mit diesem Brief, der zweimal die Erinnerung an die Vergangenheit beschwört, endet die Korrespondenz Cézanne — Zola. Die beiden sahen sich nie mehr wieder. An einem Septembermorgen des Jahres 1902, nach Erhalt der Nachricht vom Tode Zolas, schloß sich Cézanne für den Rest des Tages in seinem Atelier ein, um mit seiner Trauer allein zu sein. Pierre Laubriet geht in seiner grundlegenden Untersuchung „Un Catéchisme Esthétique. Le Chef-d'œuvre inconnu de Balzac" (Paris 1961) auch auf das Verhältnis des Zola'schen Romans zum Text Balzacs ein und kommt zu folgendem Resümé: „ L'Œuvre, geschrieben gegen die idealistische Kunst der Romantiker, deren Theorien ein Frenhofer darlegt, eine Persönlichkeit schildernd, die wie ein verzerrtes Bild von Frenhofer erscheint, kranker und närrischer als er, feindlich dem Mythos der Kunst, der alle Opfer, vor allem das der Liebe fordert, erscheint uns allmählich als ein wiederholtes Chef-d'œuvre inconnu, aber wiederholt gegen es selbst. Das Problem des Genies, das der prometheischen Anstrengung des Menschen, die Größe des künstlerischen Kampfes gegen das Unmögliche, die Liebe der Schöpfung, sind heruntergebracht auf eine ererbte Neurose, auf die Malerei eines Versagers und sein krankhaftes Unvermögen, auf eine anormale Sexualität. Wenn Zola Balzac wiederaufgenommen hat, hat er ihn herabgesetzt. Irrtum, zu verdanken seiner Parteinahme als Theoretiker, zu verdanken dem Unverständnis dem Vorbild gegenüber, das er gewählt hat, Cézanne, der von ihm als Zauderer, als Impotenter angesehen wurde. Indem er Lantier beerdigt, kehrt Zola-Sandoz der Zukunft der Malerei den Rücken. Wir werden sehen, daß Balzac, obwohl er Frenhofer sterben läßt, den Weg für neue Versuche offen hält: ist es nicht seltsam, daß sich Cézanne nicht in der Persönlichkeit bei Zola, sondern im Frenhofer Balzacs wiederfinden sollte? Ist dies nicht ein besserer Beweis der Wahrheit der Balzac'schen Schöpfung, trotz der Romantik, deren sie beschuldigt werden kann?"97
97 In meiner Übersetzung. Ich danke Frau Dr. Anne Funke für die Durchsicht dieser Übersetzung. Der französische Text: Pierre Laubriet: Un Catéchisme Esthétique. Le Chef-d'œuvre inconnu de Balzac. Paris 1961, S. 150: „L'Œuvre écrite contre l'art idéaliste des romantiques, tels qu'un Frenhofer en exposait les théories, campant un personnage qui est comme l'image outrée de Frenhofer, plus malade et plus fou que lui, hostile au mythe de l'art qui exige tous les sacrifices, en particulier celui de l'amour, nous apparaît peu à peu comme un Chef-d'œuvre inconnu refait, mais refait contre lui-même. Le problème du génie, celui de l'effort prométhéen de l'homme, la grandeur de la lutte de l'artiste contre l'impossible, l'amour de la création, sont ramenés à une névrose héréditaire, à la peinture d'un raté et de son impuissance maladive, à une sexualité anormale. Si Zola a repris Balzac, il l'a rapetissé. Erreur due à ses partipris de théoricien, due à l'incompréhension du modèle qu'il avait choisi, Cézanne, considéré par lui comme un velléitaire, un impuissant. En enterrant Lantier, Zola-Sandoz tournait le dos à l'avenir de la peinture. Nous verrons que Balzac, quoiqu'il fasse disparaître Frenhofer, laissait la voie ouverte à de nouvelle tentatives: n'est-il pas étrange que Cézanne se soit retrouvé, non dans le personnage de Zola, mais dans le Frenhofer balzacien? Peut-il être preuve meilleure de la vérité de la création de Balzac, malgré le romantisme, dont elle pouvait accusée?"
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Diese Charakteristik ist auch fur das Verständnis der Kunst Cézannes grundlegend. Denn sie wird noch — und wieder — weithin im Horizont Zolas interpretiert, als bedingt durch eine „sexualité anormale", so von Merleau-Ponty, Reff, Meyer Schapiro, Clark u.a. So ist es nötig genauer zu erfassen, wer der Balzac'sche Frenhofer war. Balzac kennzeichnet ihn als einen genialen Maler, als den Schöpfer herrlicher Werke, eines frühen Frauenbildnisses, das der junge Poussin als ein Werk Giorgiones identifizieren möchte, als einen fähigen Künstler, der vor den Augen Poussins und des Meisters Pourbus dessen „Heilige Maria Ägyptiaca" in -staunenerregender Schnelligkeit und Treffsicherheit verbessert, den Poussin als „Gott der Malerei", als „die Kunst selbst" bewundert. Aber Frenhofer will mehr. Balzac charakterisiert ihn als einen dämonischen, zeitweise entrückten Menschen: Poussin „bemerkte etwas Diabolisches in dieser Gestalt". „Dieser Greis mit den weißen Augen, aufmerksam und dann wieder stumpfsinnig, war für ihn mehr als ein Mensch geworden; er erschien ihm wie ein seltsamer Genius, der in einer unbekannten Sphäre lebte." 98 Seit zehn Jahren arbeitet er an einem Bild der „Catherine Lescault", der „Belle Noiseuse", der schönsten Frau, in der er das Leben selbst darstellen möchte, die zu atmen, die sich zu erheben scheint. Nach langem Zögern zeigt er sie endlich den beiden Malern, aber Poussin und Pourbus erkennen nichts davon. Poussin spricht es aus: „Ich sehe nur wirr aufgehäufte Farbmassen, zusammengehalten von einer Vielheit bizarrer Linien, die eine Mauer von Malerei bilden." 99 Frenhofer wollte — gottgleich — die Wirklichkeit selbst erschaffen, in langem Nachdenken und jahrzehntelanger Arbeit, — und daran scheitert er! Frenhofers Theorie ist zweigeteilt, wie Laubriet in sorgfältiger Analyse darlegt. Einerseits fordert Frenhofer, „Aufgabe der Kunst ist nicht, die Natur zu kopieren', sondern ,den Geist, die Seele, die Physiognomie der Dinge, der Wesen erfassen', das heißt die Form oder die Ursache, die diese Wirkungen in der Natur erzielt. Man muß hinter der sichtbaren Figur, die ein augenblicklicher, partieller und flüchtiger Ausdruck ist, die Essenz des dauernden Seins, die sie verbirgt, entdecken. [...] Auftrag des Künstlers ist also die Ablehnung der Kunst als einfache Reproduktion; sein Auftrag ist vor allem Untersuchung und Rekonstruktion: in der Entdeckung und Ubersetzung der verborgenenen Wirklichkeit erschafft er einen neuen Aspekt der Erscheinung, macht er sie gewissermaßen transparent." 100 Andererseits will Frenhofer einen „réalisme ab98 Nach Laubriet: Poussin „aperçut quelque chose de diabolique dans cette figure." (S. 205) „Ce vieillard aux yeux blancs, attentif et stupide, devenu pour lui plus qu'un homme, lui apparut comme un génie fantasque qui vivait dans une sphère inconnue". (S. 220) 99 Nach Laubriet: „Je ne vois là que des couleurs confusément amassées et contenues par une multitude de lignes bizarres qui forment une muraille de peinture." (S. 236) 100 Laubriet, S. 90: „Comme le dit Frenhofer à Pourbus, il ne faut pas .copier la nature' mais .saisir l'esprit, l'âme, la physionomie des choses et des êtres', c'est-à-dire la forme ou la cause qui a donné tels effets dans la nature. Il faut découvrir derrière la figure apparente, qui est une expression momentanée, partielle et
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solu" erreichen, wenn er sein Bild der schönen Kurtisane zu einem lebendigen, atmenden Wesen machen möchte, das aber nichts mehr sichtbar werden läßt von dem die Wirklichkeit Begründenden. „Was er in seiner Malerei zum Relief rundet, ist seine Art, die Illusion eines realen Körpers zu erzielen: Die Transparenz der Haut, das Spiel des Lichtes auf den Haaren, die Bewegung der Büste, die Schatten der Konturen, den Halbschatten unter den Augenlidern, das schimmende Weiß der Brust. Es scheint, daß er sich mehr fur die äußere Erscheinung interessiert als fur den Ausdruck, den sie vermitteln sollte."101 An diesem Widerspruch, so Laubriet, scheitert Frenhofer: „Frenhofer, der nicht zu arbeiten brauchte, um zu leben - er ,hatte das Unglück, reich geboren zu sein' — hat sich seinen Trugbildern überlassen. Er war verzehrt vom Ehrgeiz, sie ganz genau auf der Leinwand wiederzugeben, und da diese Visionen von ihrem eigenen Leben beseelt sind, bis hin zu dem Punkt, daß sie vor seinen Augen wirklich zu leben scheinen, wie es die in Halluzinationen geborenen Phantome tun, so versteht man, daß für ihn das ideale Vorbild mit dem lebenden Modell verschmilzt und daß der ästhetische Idealismus sich in seinen Augen mit einem absoluten Realismus vermischt. Diese Verwirrung ist der Grund seines Scheiterns."102 Cézanne konnte Frenhofer nicht als Vorbild für einen „réalisme absolu" betrachten, auch ein gottgleiches, prometheisches Schaffen lag ihm fern. Frenhofer, resümiert Laubriet, „hatte die luziferische Versuchung, sich zu Gott zu machen, indem er die Natur zwingen wollte, sich in eine neue und persönliche Schöpfung umzugestalten. Cézanne erweist ihr, im Gegensazu dazu, die Ehrerbietung dessen, der in ihr den Abglanz Gottes erkennt."103 Das ist in derTat der entscheidende Unterschied. Und Laubriet beschließt seinen Vergleich mit einer von Émile Bernard überlieferten Aussage Cézannes. Bernard fragt Cézanne: „Soll man malen, was wir sehen, wie wir es zu sehen glauben, oder eine theoretische Ausbildung empfangen [...], die uns erlaubt, Wer-
fugace de l'être permanent quelle cache, son essence. [...] La mission du peintre [...] c'est donc le refus de l'art considéré comme une simple reproduction; il est avant tout recherche et reconstruction: en découvrant et en traduisant la réalité cachée, il crée de l'apparence un aspect nouveau, la rend, pour ainsi dire, transparente." 101 Laubriet, S. 92: „Ce qu'il met en relief dans sa peinture, c'est la façon dont il a réussi à donner l'illusion d'un corps réel: la transparence de la peau, la jeu de la lumière sur les cheveux, le mouvement de la poitrine, les ombres des contours, la pénombre sous les paupières, la blancheur luisante du sein. Il semble qu'il s'intéresse bien davantage à l'apparence extérieure qu'à l'expression dont elle doit être le truchement." 102 Laubriet, S. 93: „Frenhofer, qui n'a pas à produire pour vivre - , il ' a eu le malheur de naître riche' - s'est laissé prendre à ses mirages. Il a été saisi de l'ambition de les rendre exactement sur la toile, et, comme ces visions sont animées de sa vie propre, au point qu'elles lui paraissent réellement vivre sous ses yeux, comme le font les fantômes nés de l'hallucination, on comprend alors que pour lui le modèle idéal se confonde avec le modèle vivant et que l'idéalisme esthétique se confond à ses yeux avec le réalisme absolu. Cette confusion est la cause de son échec." 103 L.C., S. 193: „Frenhofer enfin a eu la tentation luciférienne de se faire dieu, en voulant forcer la nature à se refondre dans une nouvelle et personnelle création. Cézanne au contraire a montré pour elle le respect de celui qui y voit le reflet de Dieu."
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ke aus uns selbst zu schaffen, das heißt, die Natur mit unseren Ideen zu verbinden?" — Cézanne: „Ich folge dem ersten Weg; die wirkliche Anschauung der Welt wurde noch nicht dargestellt. Der Mensch hat sich zu sehr um alles was er macht, bemüht." - Bernard: „Ist das nicht der Geist?" - Cézanne: „Ich wende mich an den Geist des Pater omnipotens und ich sage: Was kann ich besser machen als Er?"104 Um aber die „intelligence du Pater omnipotens" zu erfassen, um Natur als „reflet de Dieu" zu erkennen, kann Cézanne eine Strecke lang Frenhofer folgen, und zwar in dem Bereich, den Frenhofer skizziert in seiner Forderung an den Künstler nach einer Begründung der sichtbaren Natur: .Aufgabe der Kunst ist nicht, die Natur zu kopieren, sondern sie auszudrücken! [...] Wir müssen den Geist, die Seele, die Physiognomie der Dinge, der Wesen erfassen. Wirkungen! Wirkungen! Sie sind die Zufälligkeiten des Lebens, nicht das Leben selbst. Eine Hand [...] hängt nicht nur mit dem Körper zusammen, sie drückt seinen Gedanken aus und fuhrt ihn weiter, einen Gedanken, den man wiedergeben muß. Weder der Maler noch der Dichter noch der Bildhauer dürfen die Wirkung von der Ursache trennen; denn beide hängen unauflöslich zusammen!"105 Auch Cézanne fordert, den „Geist der Natur" zu erfassen und konnte bei Frenhofer sich darin bestätigt finden. Frenhofer bewundert Raffael: „Seine große Überlegenheit kommt aus dem inneren Sinn, der bei ihm die Form zu sprengen scheint. Die Form ist in seinen Gestalten, was sie für uns ist, eine Art Dolmetscher, der die Ideen und Gefühle mitteilt, eine umfassende Poesie."106 Wirkungen in ihren Ursachen zu begründen, in Formen Ideen zu vermitteln, das sind auch Ziele der Kunst Cézannes, allerdings in einer Weise, die mit Frenhofer nichts mehr zu tun haben. „Ursachen", „Ideen" sind für Cézanne begründet in der Natur als Schöpfung Gottes. Cézanne „versank in die Suche nach dem Absoluten", auch das berichtet Gasquet 107 und fugt hinzu: „Der Band der philosophischen Studien [Balzacs], in dem das ,Peau de Chagrin', Jesus Christus in Flandern', ,der versöhnte Melmoth', ,das unbe104 „Faut-il peindre ce que nous voyons tel que nous croyons le voir, ou recevoir une éducation théorique [...], qui nous permette ensuite de faire des ouvrages tirés de nous-mêmes, c'est-à-dire associant la nature à nos conceptions? - Cézanne: Je penche pour le premier moyen; la vision réelle du monde n'a pas encore été écrite. L'homme s'est trop cherché en tout ce qu'il fait. - Bernard: N'est-il pas l'intelligence? Cézanne: Je me tourne vers l'intelligence du Pater onmipotens et je dis: Que puis-je faire de mieux que Lui?" Laubriet, S. 193 nach Emile Bernard, Souvenirs sur Paul Cézanne, Paris 1925, S. 80-82. 105 Meine Ubersetzung folgt weithin der Übersetzung von Eva Rechel Mertens in: Honoré de Balzac, Meisternovellen, Zürich 1953, S. 205, 206. — „La mission de l'art n'est pas de copier la nature, mais de l'exprimer! [...] Nous avons à saisir l'esprit, l'âme, la physionomie des choses et des êtres. Les effets! les effets! mais ils sont les accidents de la vie, et non la vie. Une main [...] ne tient pas seulement au corps, elle exprime et continue une pensée qu'il faut saisir et rendre. Ni le peintre, ni le poète, ni le sculpteur ne doivent séparer l'effet de la cause qui sont invinciblement l'un dans l'autre!" Balzac, zitiert nach Laubriet, S. 2 1 0 , 2 1 1 . 106 „[...] sa grande supériorité vient du sens intime qui, chez lui, semble vouloir briser la Forme. La forme est, dans ses figures, ce qu'elle est chez nous, un truchement pour se communiquer des idées, des sensations, une vaste poésie." Balzac, zitiert nach Laubriet, S. 211. 107 Joachim Gasquet: Cézanne. Übersetzung von Elsa Glaser. Berlin 1930, S. 52.
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kannte Meisterwerk', ,die Suche nach dem Absoluten' enthalten sind, war ganz abgenutzt, schmutzig und aus dem Leim gegangen. Es war eines seiner Lieblingsbücher." „Die Suche nach dem Absoluten" ist der Roman des Alchimisten Balthasar Claes. An ihm, wie an vielen anderen Gestalten der „Comédie humaine", wird eine Grundstruktur im Kosmos der Balzac'schen Romane sichtbar, die Bedeutung der „Energie", der „Energie" in ihren verschiedensten Ausprägungen, als Liebesleidenschaft, als Dynamik des Geldes in wirtschaftlichen und sozialen Prozessen, als Obsession im künstlerischen und wissenschaftlichen Tun. Ernst Robert Curtius hat in seinem BalzacBuch diesem Phänomen spannende Kapitel gewidmet. 108 Madeleine Ambrière hat es in ihrer umfangreichen Untersuchung „Balzac et la Recherche de l'Absolu" genau erörtert. 109 In Cézannes Kunst zeigt sich „Energie" als Quelle der Bewegung und, künstlerisch gestaltet, als Grund des seine Werke bestimmenden Rhythmus, eines Rhythmus als Bewegung hin zur alles verursachenden Energiequelle der Natur, zum Licht der Sonne. Es ist dies ein natürliches Licht. Gleichwohl sei auch erinnert an die große Predigt des Doktor Sigier in Balzacs Roman „Les Proscrits" („Die Verbannten"), den Cézanne wohl kannte. Sie endet mit den Sätzen: „Uberschreitet die Kreise, gelanget zum Thron! Gott ist gütiger als ihr, er öffnet seinen Tempel all seinen Geschöpfen! Aber vergesset nicht das Beispiel Moses! Ziehet die Schuhe aus, bevor ihr das Heiligtum betretet, entfernt jeden Flecken, lasset nichts Körperliches an euch, sonst werdet ihr verzehrt werden, denn Gott - Gott ist das Licht." 110 Cézanne, so darf vermutet werden, entsprach in seiner Auffassung des Bezugs von Natur und Kunst weder der Theorie Zolas noch derjenigen Baudelaires. Er entsprach nicht Zolas „Naturalismus", wenngleich dessen Begriff des „Temperaments" wohl nicht ohne Cézannes Hilfe formuliert worden war. Cézanne entsprach aber auch nicht Baudelaires und Delacroix' Auffassung von Natur als „Wörterbuch" und ihrer Hochschätzung der „Einbildungskraft". Er entsprach in manchem der Balzac'schen Auffassung der Welt als eines Kosmos der Energie. Doch sind auch hier tiefgreifende Unterschiede festzustellen. Für Cézanne ist die Natur Richtmaß aller Theorie. Aufschlußreich fur Cézannes Naturzuwendung ist folgende Stelle in einem Brief vom 8. September 1906 an seinen Sohn, geschrieben also nur wenige Wochen vor seinem Tode: „Schließlich will ich Dir sagen, daß ich als Maler vor der Natur hellsichtiger werde, doch daß bei mir die Realisierung meiner Empfindungen immer sehr mühselig ist. Ich kann nicht die Intensität erreichen, die sich vor meinen Sinnen entwickelt, ich besitze nicht jenen wun108 Ernst Robert Curtius: Balzac. Bonn 1923, S. 73ff., 107 ff., 135 ff, etc. - Vgl. auch Emst Robert Curtius: Wiederbegegnung mit Balzac. In: Curtius: Kritische Essays zur europäischen Literatur. 2. Aufl., Bern 1954, S. 169-188. 109 Madeleine Ambrière: Balzac et la Recherche de l'Absolu. Paris 1999, S. 558-568. 110 Zitiert nach der deutschen Ubersetzung von Hete Maass „Die Verbannten". In: Honoré de Balzac: Das ungekannte Meisterwerk. Erzählungen. Zürich 1998, S. 289.
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dervollen Farbenreichtum, der die Natur belebt. Hier, am Ufer des Flusses, vervielfachen sich die Motive; dasselbe Sujet, unter einem anderen Blickwinkel gesehen, bietet ein Studienobjekt von äußerstem Interesse und von solcher Mannigfaltigkeit, daß ich glaube, ich könnte mich während einiger Monate beschäftigen, ohne den Platz zu wechseln, indem ich mich bald mehr nach rechts, bald mehr nach links wende."111 Was aber fasziniert Cézanne an der Natur? In einem undatierten, „Bekenntnisse" betitelten Text antwortet Cézanne auf die Frage: „Welches ist nach Ihnen das Meisterwerk der Natur?": „Ihre unendliche Vielfalt".112 Eine berühmte Aussage Cézannes, formuliert in einem Brief an den Maler Charles Camoin vom 22. Februar 1903, lautet:,Alles ist, besonders in der Kunst, im Kontakt mit der Natur entwickelte und angewandte Theorie."113 In dieser Dichotomie von „Natur" und „Theorie" ist aber „Natur" das Grundlegende. In einem Brief vom 28. Januar 1902 an denselben Empfänger heißt es: „Man spricht in der Tat mehr und wohl auch besser über Malerei, wenn man sich vor dem Motiv befindet [also in der Natur], als wenn man sich in rein spekulativen Theorien ergeht, in denen man sich recht häufig verirrt."114 An den Maler Emile Bernard schrieb Cézanne am 25. Juli 1904: „Ich will nicht theoretisch recht haben, sondern angesichts der Natur." 115 Auch das Studium der bewunderten Meister im Louvre steht fiir Cézanne im Zeichen der .Arbeit nach der Natur". Sein Rat an Camoin vom 3. Februar 1902 lautet: „Machen Sie, wenn Ihnen das zusagt, Studien nach den großen dekorativen Meistern Veronese und Rubens, doch so, als wenn Sie nach der Natur arbeiteten [...]. Aber Sie tun vor allem gut daran, nach der Natur zu studieren."116 Im gleichen Sinne schreibt Cézanne am 23. Dezember 1904 an Emile Bernard: „Ihr Bedürfnis, einen moralischen und intellektuellen Stützpunkt in Werken zu finden, die man sicher nicht übertreffen wird, veranlaßt Sie zu beständigem Aufpassen, zu unablässigem Suchen nach den von Ihnen vermuteten Interpretationsmitteln, die Sie gewiß dazu führen werden, Ihre Ausdrucksmittel vor der Natur zu erfühlen; und seien Sie überzeugt, daß Sie an dem Tage, da Sie sie besitzen werden, ohne Mühe und an Hand der Natur die von den vier oder fünf großen Venezianern angewandten Mittel wiederfinden können." 117 Ein Brief vom 12. Mai 1904, ebenfalls an Émile Bernard, enthält die Passage: „Der Louvre ist ein gutes Lehrbuch, doch darf er immer nur ein Vermittler sein. Das wahre und großartige Studium, das es zu unternehmen gilt, ist das der Mannigfaltigkeit
111 Cézanne: Briefe, S. 304, 305. - Correspondance, S. 324. 112 Gespräche mit Cézanne, S. 128. - Conversations, S. 103. 113 114 115 116 117
Cézanne: Cézanne: Cézanne: Cézanne: Cézanne:
Briefe, S. Briefe, S. Briefe, S. Briefe, S. Briefe, S.
275. 262. 285. 263. 288.
-
Correspondance, Correspondance, Correspondance, Correspondance, Correspondance,
S. S. S. S. S.
293. 279. 304. 280, 281. 308.
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des Naturbildes."118 Ausführlicher formuliert Cézanne Ähnliches in einem undatierten Brief des Jahres 1905 an Bernard: „Der Louvre ist das Buch, in dem wir lesen lernen. Doch dürfen wir uns nicht damit begnügen, die schönen Formeln unserer berühmten Vorgänger beizubehalten. Suchen wir, uns von ihnen zu entfernen, um die schöne Natur zu studieren; trachten wir danach, ihren Geist zu erfassen, und bemühen wir uns, uns unserem persönlichen Temperament entsprechend auszudrücken."119 Den „Geist" der „schönen Natur", die „Mannigfaltigkeit des Naturbildes" will Cézanne erfassen und darstellen. Deshalb tritt bei ihm an Stelle des „Wörterbuchs" Natur der Louvre als „Lehrbuch", als „gutes Lehrbuch" — für das Studium der Natur. Doch es gibt auch andere Sätze Cézannes, die als Elemente seiner Kunsttheorie aufzufassen sind, die aber nichts mit dem Studium der Natur zu tun haben. Sie finden sich in von Cézannes Sohn zusammengetragenen, von Léo Larguier veröffentlichten Notizen: „VIII. Der Adel der Vorstellung zeigt uns die Seele des Künstlers. X. Der Künstler empfindet Freude, weil er den anderen Seelen seine Begeisterung vor dem Meisterwerk der Natur, deren Mysterium er zu besitzen glaubt, mitteilen kann. XV. Die Kunst ist eine Religion. Ihr Ziel ist die Erhebung des Denkens. XVI. Wer nicht den Sinn für das Absolute (die Vollkommenheit) hat, der gibt sich mit ruhiger Mittelmäßigkeit zufrieden."120 Diese sehr persönlichen Aufzeichnungen führen in das verborgene Zentrum der Cézanne'schen Kunsttheorie. Auch sie haben mehr gemeinsam mit Delacroix' und auch Baudelaires Gedanken als mit Zolas Auffassungen. Uber den Zusammenhang der darin formulierten Thesen und Cézannes Vorstellung über den Bezug von Kunst und Natur sagen sie nichts aus. So bleibt Cézannes Kunsttheorie fragmentarisch; umso wichtiger aber werden diese Fragmente fur eine angemessene Interpretation der Kunst Cézannes.
118 Cézanne: Briefe, S. 282. - Correspondance, S. 302. 119 Cézanne, Briefe, S. 294. - Correspondance, S. 313/314. 120 Gespräche mit Cézanne, S. 31, 32. - Conversations, S. 14, 15. - Zusatz während der Drucklegung: Vgl. dazu ausführlich: Bertram Schmidt: Cézannes Lehre. Kiel 2004, vor allem S. 6 2 - 6 7 , 2 2 6 - 2 3 7 , 257-287.
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Thema dieses Kapitels ist die Farbgestaltung der französischen Malerei des 19. Jahrhunderts im Hinblick auf die Kunst Cézannes. Von Farbe war auch schon im ersten Kapitel die Rede. Hier werden nun die wichtigsten Ergebnisse der kunsthistorischen Koloritforschung zusammengefaßt, auch sie mit zahlreichen Bezugnahmen zu Künstleräußerungen. Das Fundament dieser Forschung legte Ernst Strauss. In seinem Aufsatz „Zur Wesensbestimmung der Bildfarbe"1 unterscheidet Ernst Strauss, ausgehend von den beiden „Urqualitäten" jeder Farbe, ihrem Bunt- (oder Unbunt-) Gehalt und ihrer Eigenhelligkeit (bzw. Eigendunkelheit), drei Gestaltungsprinzipien der Bildfarbe: „Dominiert im Gesamteindruck einer Malerei offensichtlich die Buntkomponente der Farben, so stehen diese, unabhängig von ihrem Buntheitsgrad, ihrer Anzahl, Ausbreitung und Lage, über das ganze Bild hin in Kontrasten zusammen, deren Stärkegrad sich nach der Größe der Abstände zwischen den einzelnen Buntheiten bemißt, die selbst wiederum durch kleinere Stufen von Buntheiten unterteilt oder miteinander verbunden werden. Jeder dieser Buntheiten kommt ein durch die Kontrastgrenze oder Konturlinie deutlich definierter Bezirk im Bildfeld zu. Das Bildlicht geht in diesem Falle aus der Totalität der Eigenhelligkeiten sämtlicher Bildfarben hervor. In dem Maße, wie sich in einer Malerei diese Bedingungen erfüllt finden, liegt ihr ein spezifisch koloristisches Prinzip zugrunde. Wird hingegen der Bildaspekt vorwiegend durch Licht (gleichgültig in welchem Spannungsgrad) und Dunkel (gleichgültig in welchem Dichtegrad) bestimmt, dann bilden die äußeren Pole des Kolorits nicht zwei nach Qualität oder Helligkeitsgrad extrem verschiedene Buntwerte, sondern die zum Luminösen erweiterten, gleicherweise im Licht wie im Dunkel aufgehenden Helligkeitskomponenten der Bildfarben, unter Einschluß der Buntheiten und in Durchdringung mit diesen. Die Verbindung der Farben geschieht dann nicht so sehr stufenweise, als vielmehr in verschmelzenden oder verschwebenden Übergängen. Gegensätze ergeben sich in diesem Falle nicht durch eine Gefälle zwischen unterschiedlichen begrenzbaren Buntheiten, sondern durch die Polarität von Licht und Finsternis. Alle farbigen Bildelemente erscheinen in einem transitorischen Zustand und in der gleichen dynamischen Spannung, wie sie auch schon an der einzelnen Farbe bei ihrer Wendung vom Licht ins Dunkel zu beobachten ist. Ein solches Gestaltungsprinzip läßt sich als das luminaristische bezeichnen." Für diese Unterscheidung ist es wesentlich, auch die Erscheinungsweise der Farbe in die Betrachtung und Analyse mit einzubeziehen: Strauss schreibt dazu: „Ein lumi1
Als Vortrag erstmals 1 9 6 9 formuliert, zitiert nach: Ernst Strauss: Koloritgeschichtliche Untersuchungen zur Malerei seit Giotto und andere Studien. Hrsg. von Lorenz Dittmann. München, Berlin 1983, S. 1 1 - 2 6 , Zitate auf den S. 2 3 - 2 6 .
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nös-lichthafter Eindruck der Farbe wird immer da bestehen, wo sie sich im Zustand innerer Angespanntheit, als Medium des Dunkels im Zustand innerer Gelöstheit befindet. Erst aus dem Spannungszustand des Glänzens, Strahlens, Leuchtens, Glühens kann luminöses Bildlicht hervorgehen. Die luminose Farbe muß erregbar, noch über ihre zuständliche Buntheit hinaus steigerungsfähig wirken bis zum reinen, .scheinenden' Licht, die dunkle entsprechend auflösbar in reines Dunkel. Sie muß labilen, transitorischen Charakter haben, im Gegensatz zum .statischen' Charakter der einfachhellen (einfach-dunklen) Farbe. Licht und Dunkel wirken als luminose Bildelemente am unmittelbarsten da, wo sie in ihrer komplementären Wechselbeziehung gleichzeitig wahrgenommen werden, und zwar weniger in schroffer Gegenüberstellung als in gleitendem, verschmelzendem Ubergang. In einer luminösen Malerei muß die Quellkraft des Lichts durchdringend genug erscheinen, um die Buntheiten von innen aus über sich hinauszuheben, zu spiritualisieren. Sie erhellt die Farbe nicht so sehr, als daß sie sie verklärt. Dementsprechend kann das ästhetische Dunkel den Dunkelheitsgrad einer Buntheit nicht eigentlich vertiefen. Aber in dem Maße, wie das Dunkel die Buntheit .umflort', verhindert es sie an ihrer vollen Entfaltung, kann es sie sozusagen schon im Keim ersticken." Zu diesen beiden Grundmöglichkeiten kommt eine dritte. Strauss stellt fest: „Schließlich ist noch ein drittes Prinzip farbiger Zuordnung zu unterscheiden, das insofern als eine Synthese aus den beiden anderen angesehen werden kann, als es darauf abzielt, mittels farbiger Kontraste und ausschließlich durch sie, lichthafte Wirkung hervorzubringen. Doch sind sowohl diese Kontraste wie auch die aus ihnen resultierenden Wirkungen anderer Art. Denn bei seiner Anwendung werden die kontrastierenden Buntwerte nicht als mehr oder weniger ausgebreitete einfarbige Flächen eingesetzt, unter Wahrung einer und der gleichen jeweils durch den Gegenstand bestimmten individuellen Farbe, sondern entweder als subtile Abstufungen, Nuancierungen eines vorgegebenen Farbwertes - oder aber auch als eine Mikrostruktur aus Partikel und kleinsten Fleckenformen unterschiedlicher Farbe. Diese als .divisionistisch' bezeichneten Verfahren bewirken, bei angemessener Entfernung vom Bilde, eine ,optische Mischung' der Farbteile im Auge des Betrachters, die im ersten Falle eine Belebung und Intensivierung der Buntheit, im letzteren den Eindruck eines auf der Stelle schwingenden Lichtmediums hervorruft. Die Weiterbildung dieses Verfahrens aus der bereits auf der Farb teilung beruhenden impressionistischen Technik und seine konsequente Ausbildung zu einem umfassenden System ist die epochemachende Tat Seurats; er selbst hat seine Errungenschaft als ,Chromo-Luminarismus' bezeichnet. Der Name legt nahe, bei einer systematischen Einsetzung klein- und vielteiliger Buntheiten zur Hervorbringung eines lichthaften Aspektes von der Befolgung eines chromatischen Prinzips zu sprechen." Zur historischen Rolle dieses dritten Prinzips merkt Strauss an: „Diese dritte Begriffsbildung ist umso dringender erforderlich, als uns immer deutlicher erkennbar wird, eine wie große Bedeutung der Technik der geteilten Farbe in der europäischen Malerei schon seit der Antike zukommt, wo immer sie der Erhöhung der farbigen Ein-
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dringlichkeit und zugleich der Veranschaulichung des .erregten' vibrierenden Lichts zu dienen hatte. Die pompejanische Wandmalerei verwendet sie zur Versinnlichung und .Pointierung' eines unirdischen, .submarinen' Lichts, auf ihr beruht die Struktur des antiken wie des mittelalterlichen Mosaiks. Und verfolgen wir es auf seinem Wege durch die gesamte neuzeitliche Malerei, so wird offenbar, daß selbst das ihm anscheinand so wesensfremde Helldunkel sich — zumindest teilweise — seiner bedienen konnte; es sei hier, um nur die merkwürdigsten Fälle hervorzuheben — an die Faktur in Werken des mittleren und späten Tizian, Vermeers oder Watteaus, im Hinblick auf das 19. Jahrhundert an die Technik Constables und vor allem Delacroix' erinnert. Als ein Phänomen eigener Art ist die Koloristik Cézannes anzusehen, der die Möglichkeiten malerischen Chromatismus freilich zu ganz anderen Gestaltungsabsichten verwendete als die älteren Meister und die Neoimpressionisten strenger Observanz. Farbgeschichtlich aber ist von Bedeutung, daß es der Chromatismus Cézannes gewesen ist, von dem sowohl die Kubisten wie die Initiatoren der .befreiten Farbe' ihren Ausgang nahmen, nicht aber der reine Kolorismus eines Matisse." Mit den letzten Bemerkungen deutet Strauss die Durchdringung der farbigen Gestaltungsprinzipien an und weist auf die Bedeutung des chromatischen Prinzips ftir die Farbgestaltung Cézannes hin. Von diesem phänomenologischen Ansatz aus seien Grundzüge der Farbgestaltung in der französischen Malerei des 19. Jahrhunderts dargelegt. Eugène Delacroix (1798-1863) eröffnet diese Entwicklung. Wie bei keinem anderen Maler des 19. Jahrhunderts durchdringen sich bei ihm künstlerische Verwirklichung und Nachdenken über Probleme der Farbgestaltung. Seine Tagebücher enthalten, wie schon bei der Erörterung der Baudelaire'schen Kunsttheorie angedeutet, wichtige farbtheoretische Reflexionen und Notizen über Beobachtungen farbiger Phänomene. Sie beziehen sich aber nie ausschließlich auf Probleme der künstlerischen Technik, ist doch, wie Baudelaire am 18. Juli 1850 notiert, alle „materielle Malerei nur die Brücke zwischen dem Geist des Künstlers und dem des Betrachters."2 Delacroix entwarf eine Farbenordnung, die in ihrer Einfachheit selbstverständlich erscheint. Ein während Delacroix' Marokko-Reise im ersten Halbjahr 1832 benutztes Skizzenbuch enthält auf der fünfletzten Seite ein Dreieck mit den Spektralfarben, wodurch er sich Rechenschaft über das Verhältnis von Grund- und Mischfarben und die Beziehung von Gegenfarben ablegte. An der Spitze des Dreiecks steht Rot, links unten Gelb, rechts unten Blau. Diesem Schema ist ein Text beigegeben, der übersetzt lautet: „Die drei Grundfarben bilden die drei Sekundärfarben. Wenn man diesen die ihnen gegenüberliegende Grundfarbe hinzufugt, hebt man sie auf, d.h. man erhält den nötigen Halbton. - Wenn man aber Schwarz hinzufügt, gewinnt man den Halbton
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Hierzu auch: Lorenz Dittmann: Farbgestaltung und Farbtheorie in der abendländischen Malerei. Eine Einführung. Darmstadt 1987, S. 261 ff., 283-305.
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nicht, sondern man verschmutzt die Farbe, deren wahrer Halbton sich in der gegenüberliegenden Farbe findet. — Wir haben grüne Schatten im Rot gesehen, im Kopf von zwei kleinen Fischen. Der gelbe hatte violette Schatten, der blutigere und rötere hatte grüne Schatten." Bei seinem Farbenschema geht Delacroix im wesentlichen mit Goethes Farbordnung überein. Es läßt sich schwer feststellen, inwiefern Delacroix mit Goethes Farbenlehre vertraut war. Goethes Schema ist ja auch anders, es stellt einen Kreis dar und ordnet Blau links unten, Gelb rechts unten an.3 Goethe schreibt in seiner 1810 erschienenen „Farbenlehre" — in der der Begriff „Komplementärfarben" aber nicht vorkommt - im Abschnitt „Totalität und Harmonie" der Abteilung „Sinnlich-sittliche Wirkung der Farbe": „805 Wenn das Auge die Farbe erblickt, so wird es gleich in Tätigkeit gesetzt, und es ist seiner Natur gemäß auf der Stelle eine andre, so unbewußt als notwendig, hervorzubringen, welche mit der gegebenen die Totalität des ganzen Farbenkreises enthält. Eine einzelne Farbe erregt in dem Auge, durch eine spezifische Empfindung, das Streben nach Allgemeinheit. 806 Um nun diese Totalität gewahr zu werden, um sich selbst zu befriedigen, sucht es neben jedem farbigen Raum einen farblosen, um die geforderte Farbe an demselben hervorzubringen. 807 Hier liegt also das Grundgesetz aller Harmonie der Farben, wovon sich jeder durch eigene Erfahrung überzeugen kann, indem er sich mit den Versuchen, die wir in der Abteilung der pysiologischen Farben angezeigt, genau bekannt macht. 808 Wird nun die Farbentotalität von außen dem Auge als Objekt gebracht, so ist sie ihm erfreulich, weil ihm die Summe seiner eignen Tätigkeit als Realität entgegenkommt. Es sei also zuerst von diesen harmonischen Zusammenstellungen die Rede. 809 Um sich davon auf das leichteste zu unterrichten, denke man sich in dem von uns angegebenen Farbenkreise einen beweglichen Diameter und führe denselben im ganzen Kreise herum, so werden die beiden Enden nach und nach die sich fordernden Farben bezeichnen, welche sich denn freilich auf drei einfache Gegensätze zurückführen lassen. 810 Gelb fordert Rotblau Blau fordert Rotgelb Purpur fordert Grün und umgekehrt." Einige Absätze später folgt ein für Goethe höchst bezeichnender Kommentar: „813 So einfach also diese eigentlich harmonischen Gegensätze sind, welche uns in dem engen Kreise gegeben werden, so wichtig ist der Wink, daß uns die Na3
Vgl. dazu: Friedrich Georg Kempter: Dokumente zur französischen Malerei in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Diss. München 1968, S. 120.
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tur durch Totalität zur Freiheit heraufzuheben angelegt ist, und daß wir diesmal eine Naturerscheinung zum ästhetischen Gebrauch unmittelbar überliefert erhalten." Nicht um Naturalismus also geht es Goethe, sondern um einen Weg von Natur zur Freiheit - durch Totalität. In diesem Sinne ist auch der folgende Absatz zu verstehen: „814 Indem wir also aussprechen können, daß der Farbenkreis, wie wir ihn angegeben, auch schon dem Stoff nach eine angenehme Empfindung hervorbringe, ist es der Ort zu gedenken, daß man bisher den Regenbogen mit Unrecht als ein Beispiel der Farbentotalität angenommen, denn es fehlt demselben die Hauptfarbe, das reine Rot, der Purpur, welcher nicht entstehen kann, da sich bei dieser Erscheinung so wenig als bei dem hergebrachten prismatischen Bilde das Gelbrot und das Blaurot zu erreichen vermögen." Damit nimmt Goethe indirekt gegen Newton Stellung. Auch Newton hatte ja schon, in seinen 1704 erschienenen „Opticks", die Farben kreisförmig angeordnet, die sieben „principal colours": „Red", „Orange", „Yellow", „Green", „Blew", „Indigo" und „Violet", dabei aber „Violet" zu „Red" zurückgebogen. — Der Farbkreis ist also konstruktiv ergänzt. In Newtons Färb kreis aber gibt es keine „physiologischen", das Auge betreffenden farbigen Gegenüberstellungen, auf die Goethe und Delacroix "Wert legen. Goethe verweist in seinem zitierten Text auf die Versuche in der Abteilung „Physiologische Farben". Ein Absatz daraus (im Abschnitt „Farbige Schatten") lautet: „75 Auf einer Harzreise im Winter [vom 29. November bis 16. Dezember 1777] stieg ich gegen Abend vom Brocken herunter, die weiten Flächen auf- und abwärts waren beschneit, die Heide von Schnee bedeckt, alle zerstreut stehenden Bäume und vorragenden Klippen, auch alle Baum- und Felsenmassen völlig bereift, die Sonne senkte sich gegen die Oderteiche hinunter. Waren die Tage über, bei dem gelblichen Ton des Schnees, schon leise violette Schatten bemerklich gewesen, so mußte man sie nun für hochblau ansprechen, als ein gesteigertes Gelb [also Orange] von den beleuchteten Teilen widerschien. Als aber die Sonne sich endlich ihrem Niedergang näherte und ihr durch die stärkeren Dünste höchst gemäßigter Strahl die ganze, mich umgebende Welt mit der schönsten Purpurfarbe überzog, da verwandelte sich die Schattenfarbe in ein Grün, das nach seiner Klarheit einem Meergrün, nach seiner Schönheit einem Smaragdgrün verglichen werden konnte. Die Erscheinung ward immer lebhafter, man glaubte sich in einer Feenwelt zu befinden, denn alles hatte sich in die zwei lebhaften und so schön übereinstimmenden Farben gekleidet, bis endlich mit dem Sonnenuntergang die Prachterscheinung sich in eine graue Dämmerung und nach und nach in eine mond- und sternhelle Nacht verlor." Goethes Beobachtung farbiger Schatten in einer Schneelandschaft läßt sich unmittelbar vergleichen mit Delacroix' Beobachtung farbiger Schatten an Fischen. Delacroix verwandte diese Entdeckung zwar nicht systematisch für seine Kunst, für alle impres-
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sionistische Malerei aber wird die Darstellung farbiger Schatten ein Hauptmittel der Farbgestaltung. An Fischen hatte Delacroix, so läßt seine Aufzeichnung vermuten, erstmals komplementärfarbige Schatten entdeckt, andere Beobachtungen solcher Kontrastphänomene kommen hinzu. Ein Beispiel: Als Delacroix, „bemüht, die Leuchtkraft des Goldtones in den Mänteln des Dogen und der Senatoren in seinem Bild ,Marino Fallero' zu steigern, in den Louvre fahren wollte, um Rubens' Vorgehen zu studieren, wurde er von einer Kutsche mit gelbem Verdeck abgeholt, dessen Schatten ihm zart violettfarbig erschienen. Begeistert von dieser Entdeckung soll er sofort in sein Atelier zurückgekehrt sein, den entsprechenden Schattenpartien Spuren violetter Farbe beigemischt und die erwünschte Steigerung der Farbintensität erreicht haben." „Um die Komplementärfarbpaare in exakter Weise zu finden, ordnete Delacroix die Farben auf einem Karton in kleinen Häufchen kreisförmig an. In der Mitte dieses Farbkreises befestigte er einen drehbaren Zeiger. So konnte er sowohl die unmittelbare Nachbarschaft wie auch, mit Hilfe des Zeigers, die diametral liegenden Komplementärpaare der Farben feststellen."4 Auch das hatte Goethe gedanklich schon vorweggenommen: Absatz 811 seiner „Farbenlehre" lautet: „811 Wie der von uns supponierte Zeiger von der Mitte der von uns naturgemäß geordneten Farben wegrückt, ebenso rückt er mit dem anderen Ende von der entgegengesetzten Abstufung weiter, und es läßt sich durch eine solche Vorrichtung zu einer jeden fordernden Farbe die geforderte bequem bezeichnen. Sich hierzu einen Farbenkreis zu bilden, der nicht wie der unsre abgesetzt, sondern in einem stetigen Fortschritte die Farben und ihre Ubergänge zeigt, würde nicht unnütz sein, denn wir stehen hier auf einem sehr wichtigen Punkt, der alle unsre Aufmerksamkeit verdient." Mit diesem vielteiligen Farbkreis nimmt Goethe gedanklich aber auch den 72-teiligen Farbkreis Chevreuls vorweg. 1839 erschien „De la loi du contraste simultane des couleurs" von Michel-Eugène Chevreul (1786-1889), Professor fur Chemie und Direktor der Färberei der französischen Gobelin-Manufaktur. Er schuf damit den umfassenden Versuch einer systematischen Farbästhetik. Der zentrale Forschungsgegenstand Chevreuls war aber nicht der Zusammenhang von Farbe und Licht, sondern die Harmonie der Farben und deren Begründung durch das Gesetz der komplementären Beziehungen und der Simultankontraste. Chevreul war ausgegangen von der Beobachtung, daß nebeneinanderliegende Farben in ihrer optischen Zusammensetzung und in der Höhe des Tons mehr oder weniger verändert erscheinen, wenn man sie gleichzeitig betrachtet, und daß die Veränderung der optischen Zusammensetzung „genau diejenige ist, welche sich ergibt, wenn man mit jeder von beiden Farben die ergänzende von der sie berührenden Farbe [also die Komplementärfarbe] mischt." Nur bei den Komplementärfarben selbst tritt keine Veränderung der Qualität, sondern nur eine Steigerung der Intensität ein, da ja die hervorgerufene Ergänzungsfarbe mit der vorhandenen Komplementärfarbe identisch ist. Daraus leitet Chevreul sei4
Nach Kempter, I.e. S 122, 123.
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nen ersten Hauptsatz über die Harmonie ab: „Die ergänzende Verbindung ist jeder in der Harmonie des Kontrastes überlegen. Die Töne müssen dabei so viel wie möglich von der gleichen Höhe sein, um die schönste Wirkung hervorzubringen." Chevreul veranschaulicht das mit dem sechsteiligen Farbkreis. Walter Hess beschreibt wichtige Gesichtspunkte des weiteren Vorgehens Chevreuls5: „Durch sechs weitere Farben, die jeweils genau die Mitte zwischen ihren Nachbarn einnehmen sollen (durch Mischung zu gleichen Teilen), entsteht ein Kreis mit zwölf Sektoren. Wenn man nun beliebige Farbenpaare herausgreift, so lassen sich die zu erwartenden, durch Simultankontrast verursachten Veränderungen am Kreis ablesen. Bei großen Intervallen (z.B. Gelb und Rot) wird der Kontrast verstärkt, sie wirken gespannt, befriedigen weniger als die Komplementärfarben, solange die dritte ergänzende Farbe (in unserem Falle Blau) nicht hinzutritt. Noch ungünstiger, meint Chevreul, werden die Verhältnisse bei kleinen Intervallen (z.B. Rot und Orange). Nah benachbarte Qualitäten dagegen (z.B. Gelb und Gelbgrün) wirken wie Modifikationen der gleichen Farbe und daher wohlgefällig. So kommt Chevreul zu seiner Unterscheidung der Harmonie des Ahnlichen und der Harmonie des Kontrastes, welche die Neoimpressionisten in ihre Theorie übernommen haben. Wenn man die Unterschiede der Tonhöhen (also der Helligkeitstufen) mit einbezieht, so besteht Harmonie des Ahnlichen bei geringem Tonunterschied innerhalb der gleichen Farbqualität und bei nah benachbarten Qualitäten von ungefähr gleicher Tonhöhe; Harmonie von Kontrasten besteht bei großer Verschiedenheit im Ton innerhalb der gleichen Qualität, bei großem Ton- [also Helligkeits-] Unterschied nah benachbarter Qualitäten und bei weit voneinander entfernten Qualitäten von gleicher Tonhöhe, bei Komplementärfarben auch von verschiedener Tonhöhe. Im letzten Falle ist die Einheit in der Verschiedenheit gegeben durch die Tatsache, daß die Farben sich zur komplementären Totalität ergänzen, so daß bei gleichzeitigem Qualitäts- und Tonkontrast doch Harmonie entsteht. Chevreul breitet noch eine Fülle von Einzelbeobachtungen aus, besonders auch über das Verhältnis der reinen Farben zu Schwarz, Weiß und Grau und zu den gebrochenen Farben, wobei er betont, daß er hier seinem persönlichen Empfinden gefolgt sei und wissenschaftliche Begründungen oder Regeln nicht habe finden können. Chevreul erhebt nicht den Anspruch, ein geschlossenes System der Farbenharmonien durch eine wissenschaftliche Theorie begründet zu haben, wie die Neoimpressionisten [die sich auf ihn berufen] glauben möchten. Jedes harmonische Verhältnis enthält Ubereinstimmung und Gegensatz, alles Nähere ist [nach Chevreul] Sache der Empfindung und Erfahrung, nicht der Maße und Gesetze. Greifbar ist nur die Komplementärbeziehung und die Wirkung der Simultankontraste." Chevreul entwickelte daraus einen 72teiligen Farbenkreis, dessen Radien außer den drei Primärfarben die primären Mischungen Orange, Grün, Violett sowie sechs weitere sekundäre Mischungen darstellen. Die so entstandenen Sektoren werden 5
Walter Hess: Das Problem der Farbe in den Selbstzeugnissen der Maler von Cézanne bis Mondrian. München 1953, Neuauflage Mittenwald 1981, S. 149-150.
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nochmals in je sechs Zonen gegliedert. Jeder Radius ist nach Art einer Leiter in 20 Abschnitte unterteilt, die die verschiedenen Helligkeits- bzw. Dunkelheitsstufen jeder Farbe angeben.6 Er bildet nun die Grundlage der angedeuteten Harmonielehre. Von prinzipieller Bedeutung aber ist Chevreuls Farbenlehre wegen der ihn ihr vollzogenen Unterteilung und Aufgliederung aller Farben. Delacroix soll gegen 1850 versucht haben, Chevreul kennenzulernen; es war aber zu keinem Zusammentreffen gekommen. 7 Delacroix bedurfte aber einer „von außen kommenden" Farbenlehre, wenn überhaupt, dann nur zur Bestätigung. Komplementärkontraste wandte Delacroix zumeist aber unabhängig von Licht und Schatten an. Einige Beispiele seien genannt 8 : „Mit größter Reinheit tritt der Rot-GrünKontrast in der,Tigerjagd' des Louvre zutage. Grün ist hier die Landschaft und auch das Gewand des herbeieilenden Arabers. Mit ihm kontrastiert das scharlachrote Gewand des Kämpfenden." „Bei der Jüdischen Hochzeit' ist der von unten gesehene Balkon rot, seine Brüstung grün, wie auch der umlaufende Balkon. Dieser Balkon ist in dem unterschiedliche Braunwerte enthaltenden Bild zu einem dominierenden Farbträger geworden. In der Kuppel des Palais du Luxembourg kontrastiert das orangerote Gewand des Homer mit dem grünen des Horaz." „Im Skizzenbuch der Marokkoreise (1832) schrieb Delacroix bei Figuren, deren Ausführung er vorsah, die Namen der zu verwendenden Farben an die betreffenden Stellen der Zeichnung. So notierte er sich beim Gewand einer Frau, daß die Bluse gelb, der Stoffeinsatz an der Brust aber violett sein sollte. Der Vorhang eines Interieurs im selben Heft trägt ebenfalls oben die Beschriftung ,violet' und unten ,jaune'. Auf einer anderen gezeichneten Figur ist lediglich das Koptuch gelb und violett aquarelliert." „Ein Bild kann auf nur zwei Komplementärfarben aufgebaut sein, doch können auch eine Vielzahl komplementärer Töne zusammenwirken, wie dies bei allen großen Werken von Delacroix der Fall ist. Als ein hervorragendes Beispiel sei die .Vertreibung Heliodors aus dem Tempel' in Saint-Sulpice, Paris, erwähnt, bei welcher sich ein reiches Spiel von Komplementärfarben um das neutralfarbige Pferd entfaltet: Im unteren Bildteil ist es der häufig wiederholte und reich nuancierte Rot-Grün-Kontrast; Goldgelb-Violett dominiert im oberen, sich um das Pferd schlagenden Bogen. BlauOrange-Gegensätze finden sich häufig im Bild, jedoch an untergeordneten Stellen. Neben dem Komplementärkontrast kannte Delacroix auch andere Arten des Kontrastes: Helle und dunkle Farben, Orange und Grün, Grün und Rosa vermögen ebenfalls einen gemilderten Kontrast zu bilden." Hinzu kommt der Kontrast kalter und warmer Farben: Delacroix notierte sich, daß ein Werk, das im Gesamten warm erscheinen soll, mit sehr warmen Farben begonnen werden müsse und dann mit gro6 7 8
Vgl. Thomas Lersch: Artikel „Farbenlehre", in: Reallexikon zur deutschen Kunstgeschichte. Bd 7 (Lieferung 74/75). Stuttgart 1974, Sp. 2 4 9 - 2 5 1 . Vgl. Baudelaire: Werke/Briefe, Bd. 1, S. 443. Nach Kempter, I.e. S. 123 - 1 2 5 .
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ßer Vorsicht kalte Farben hinzuzufügen seien, — und so umgekehrt bei kalter Gesamtwirkung. Und häufig verwendete er auch beide Farbgruppen zusammen. So notierte er etwa, während er an der „Heiligen Magdalena" malte, daß die Lichter kalt und die Schatten warm dargestellt werden sollen, und zwar fast ohne Unterschied der Farbhelligkeit.9 Paolo Veronese habe damit einen Großteil seiner bewunderungswürdigen Einfachheit erzielt. Die Beobachtung farbiger Schatten führt zur weiteren Differenzierung der Bildfarbe. Die Bildgestaltung wird auch hier begleitet von Beobachtungen in der Natur. Aufschlußreich dafür ist eine Tagebuchnotiz vom 7. September 1856 10 : „Ich sehe von meinem Fenster einen Parkettleger, der, bis zum Gürtel nackt, in dem offenen Gang (galérie) arbeitet. Ich bemerke, indem ich seine Farbe mit der äußeren Mauer vergleiche, wie starkfarbig die Mittelfarben (demi-teintes) seines Fleisches im Vergleich zu den leblosen Massen sind. Ich habe dasselbe vorgestern auf der Place Saint-Sulpice beobachtet, wo ein Junge in der Sonne auf eine Statue des Brunnens gestiegen war: mattes Orange in den hellen Partien, die lebhaftesten Violetts als Ubergang zum Schatten und goldene (das ist orangefarbene) Reflexe in den Schatten, die der Sonne entgegenstanden. Das Orange und das Violett herrschten abwechselnd vor und mischten sich. Der goldene Ton enthielt Grün. Das Fleisch hat seine wahre Farbe nur in der freien Luft: (,en plein air') und besonders in der Sonne. Wenn ein Mensch seinen Kopf an das Fenster hält, ist er ein ganz anderer als im Innern des Zimmers; daher die Dummheit der Atelierstudien, die bestrebt sind, diese falsche Farbe wiederzugeben." Piron überliefert in seiner Publikation von 1885 folgende Notiz Delacroix':11 „Ich sehe von meinem Fenster den Schatten der Leute in der Sonne auf dem Sande des Hafens. Der Sand des Terrains ist an sich violett, wird aber von der Sonne vergoldet. Der Schatten der Menschen ist so violett, daß das Terrain gelb wird. Ist es kühn, zu behaupten, daß im Freien, zumal bei einem Fall wie dem vorliegenden, der allgemeine Reflex sich als Produkt des Terrains, das, von der Sonne beleuchtet, gelb ist, und des blauen Himmels ergibt, und daß diese beiden Farben notwendig ein Grün ergeben?" (Badt erläutert: Gemeint ist hier der allgemeine Reflex auf irgendwelche auf dem Strand befindliche Objekte, deren Lokalfarben also nach Grün hin gebrochen scheinen müssen.) Delacroix fügte hinzu, daß man diese Wirkung bei voller Sonne am stärksten sieht. Aber auch wenn das Licht nachläßt, muß das Verhältnis der Farben zueinander das gleiche sein. „Wenn der Erdboden infolge fehlender Sonne weniger golden erscheint, wird auch der Reflex weniger grün sein." Das Problem des Reflexes wird auch Cézanne stark in Anspruch nehmen. 9 10 11
Kempter, I.e. S. 116/117. - Delacroix: Journal, 10. Juli 1847. Zitiert nach der Übersetzung von Kurt Badt: Eugène Delacroix. Werke und Ideale. Drei Abhandlungen. Köln 1963. S. 66. Vgl. Kempter, 1. c. S. 126/127; - Badt: Delacroix, S. 67.
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Nach einem Bericht von Pierre Andrieu, des Schülers und Assistenten von Delacroix (in: La Galerie Bruyas, Musée de Montpellier, 1876), wählte dieser in seiner Reifezeit für Licht, Lokalton, Halbschatten, Schatten und Reflex stets kontrastierende Farben, „zum Beispiel: Schatten violett, Licht gelb, Lokalton rot, Halbschatten blaugrau." Solche Teilung und Kontrastierung der Farben ist die Grundlage ihrer „Verkettung" (ihres „enchaînement"), eines für Delacroix zentralen Gestaltungsprinzips, das Cézanne in veränderter Form wiederaufgreifen wird. Farbteilung wird aber fur Delacroix auch das künstlerische Mittel zur Verwandlung des Helldunkels. Ernst Strauss hat dem Zusammenhang von Farbteilung und Helldunkel bei Delacroix eine eindringliche, auch für die Beurteilung der Cézanne'schen Farbigkeit wichtige Studie gewidmet.12 Ihre zentralen Gesichtspunkte seien referiert: War das Helldunkel in der Malerei des 17. und 18. Jahrhunderts ein „höchstes künstlerisches Ordnungsprinzip", ein Prinzip von „universalem Charakter", so dient nun fur Delacroix das Helldunkel „als Mittel zur Versinnlichung, Steigerung oder Vertiefung der im jeweiligen Bildvorwurf bereits gegebenen Gehalte. Der Urgegensatz Licht-Finsternis dramatisiert nun die Gehalte, er schafft Spannung, [...] wirkt als eine bewegte und bewegende Kraft im Bilde, nicht mehr ruhend und verklärend wie in aller älteren Malerei. Mit deren unirdischem Licht verglichen, erscheint das Licht bei Delacroix auch da, wo die Komposition sich in ihm zentriert, ruheloser, wie aus geringerer Distanz wirkend, eher heftig ins Dunkel einbrechend als organisch aus ihm empordringend. Das Dunkel selbst steht seinem Charakter nach der Finsternis nahe; in geringer Dichte hat es etwas Verhangenes, Düsteres. Oft wirkt es bedrohend oder lastend [...]; seiner Beziehung zum Licht fehlt das Schwebende. Man könnte von einer .sinnlich-sittlichen Wirkung' des Helldunkels bei Delacroix sprechen, die dem Eindruck des Tragischen, Ausweglosen, Todesnahen in seinen Gemälden zugrundeliegt, nicht allein in den großen Hauptwerken der frühen und mittleren Epoche (,Dante und Vergil', ,Der Tod des Sardanapal', .Griechenland auf den Ruinen von Missolunghi', ,Der 28. Juli'), sondern auch, vielfach sogar noch ostentativer, in Werken der Reifezeit wie in der Bostoner .Grablegung Christi', dem ,Tod des Valentin' in der Bremer Kunsthalle, den verschiedenen Fassungen der .Schiffbrüchigen' oder der ,Medea'. Auch ein zeitliches Moment scheint mit dem Dunkel Delacroix' verbunden: indem es den dargestellten Vorgang umhüllt oder durchdringt, entrückt es ihn aus der Nähe des Gegenwärtigen. Das Uberzeitliche seiner Motive erscheint von vornherein seiner Fantasie unter dem Aspekt des Dunkels. Es fällt auf, daß auch die eigenen visuellen Erlebnisse und Erfahrungen, wie die der marokkanischen Reise, eine dunkle Tönung annehmen, sobald sie sich aus der Erinnerung ins Bild umsetzen. Als ein bezeichnendes Beispiel hierfür seien die beiden Fassungen der .Femmes d'Alger' von 1834 und 1847 (Louvre und Montpellier) genannt."13 12
„Zur Frage des Helldunkels bei Delacroix", erstmals 1964 erschienen, wiederabgedruckt in: Strauss: Koloritgeschichtliche Untersuchungen, S. 135-151.
13
Strauss, I.e. S. 137.
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Hier sei daran erinnert, daß Baudelaire in seinem großen Nachruf 1863 geschrieben hatte: „Das Werk Eugène Delacroix' erscheint mir mitunter wie eine Art Mnemotechnik der Größe und der angeborenen Leidenschaft der Menschheit des Alls. Dieser einzigartige und völlig neue Vorzug Delacroix', der ihm erlaubte, einfach durch die Linie die menschliche Gebärde, und sei sie noch so heftig, auszudrücken und durch die Farbe das, was man die Atmosphäre des menschlichen Dramas oder den Seelenzustand des Schöpfers nennen möchte - dieser durchaus originelle Vorzug hat ihm immer die Sympathie aller Poeten erworben [...]." Auch Cézannes Frühwerke sind von einem ausdrucksbetonten Dunkel bestimmt. Die Leistung Delacroix', durch die er die Erscheinungsform des traditionellen Helldunkels verändert hat, basiert nun vor allem auf der Behandlung der Farbe als Aufbauelement des Bildes. Delacroix' Neuerungen in der Farbgestaltung, so Strauss, „gründen alle in der fundamentalen Erkenntnis, die er am 23. September 1846 im Tagebuch notiert: .Constable sagt, daß das Grün seiner Wiesen deswegen so viel besser sei, weil es aus einer Menge verschiedener Grüns zusammengesetzt ist. Die gewöhnlichen Landschafter behandeln das Grün als einen einzigen Ton, und deshalb ist es so wenig intensiv. Was er vom Grün der Wiesen sagt, kann man auf alle anderen Farben anwenden.'"14 „Indem Delacroix Constables Behandlungsweise einer bestimmten Farbe, des Grüns, zum Prinzip erhebt, d.h. fiir alle Farben die Möglichkeit vorsieht, um in gegebenen Fällen durch Unterteilung ihres Buntwerts zu einer besonderen Eindringlichkeit zu gelangen, schafft er eine Fülle neuer, unter sich verwandter und doch selbständiger Qualitäten. Gleichzeitig entstehen, da die Teilung nur vermittels kleiner Stufungen erfolgen kann — in mehr oder minder starken ,Gefallen' statt durch ein Ineinandervertreiben der Werte - Kontraste zwischen den neu gewonnenen Nuancen. Solange die Unterteilungen nur innerhalb einer Grundfarbe erfolgen, ergeben sich vorwiegend nur Helligkeitsgegensätze zwischen den einzelnen Stufen (wie im Falle des ,Wiesengrüns' bei Constable); sobald jedoch diese Stufen von der Grundfarbe abweichen und auch entferntere Farbwerte an ihre Stelle treten, entsteht ein System von Kontrasten aus den Buntwerten selbst, das schließlich den gesamten Farbbereich umspannen kann [und in das sich auch die erwähnten Kontrastbeziehungen von Lichtton, Lokalton, Halbton, Schatten, Reflex eingliedern]. Von dieser Erweiterung hat Delacroix den ausgiebigsten und verschiedenartigsten Gebrauch gemacht, ihr gelten zum größten Teil seine wichtigsten theoretischen Überlegungen. Was sein Verfahren für die Bereicherung der malerischen Mittel bedeutet, läßt sich am ehesten ermessen, wenn man erwägt, daß die durch die Farbteilung entstehenden Kontrastbeziehungen von grundsätzlich anderer Art sind als die Farbgegensätze zwischen den als,teintes uniformes' wirkenden Bildpartien: während diese die farbige Bildwirkung im Großen, ,nach außen hin' bestimmen, legen die Farbteilungen gleichsam das Innere der Farbe bloß; es sind, Kleinstrukturen' und als solche zunächst auf kleinem Raum erkennbar. 14
Nach der Übersetzung von Erich Hancke: Eugène Delacroix: Mein Tagebuch. S. 30.
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Beide Kontrastprinzipien sind stets gleichzeitig in Delacroix' Malerei wirksam, nur ihr jeweiliger Anteil an der Bilderscheinung ändert sich — oft sogar in Werken innerhalb einer und derselben Schafifensperiode."15 Auch bei Cézanne finden sich, seit seinen Werken der mittleren Zeit, zumeist diese beiden Kontrastprinzipien wirksam. „Die ästhetischen Wirkungsmöglichkeiten, die Delacroix durch seine Verallgemeinerung des Constable'schen Verfahrens der Bildfarbe erschloß, ergaben sich auf Grund der optischen Mischung der Farbstufungen, die sich im betrachtenden Auge vollzieht. Durch Delacroix wird sie - wohl zum ersten Mal in der Geschichte der neueren Malerei - mit vollem Bewußtsein als künstlerisches Mittel anerkannt und in die Bildwirkung einbezogen. Seine Neuerung betrifft einmal den Buntwert der Farbe, insofern als die Brechungen eines und des gleichen Tons dessen Intensivierung bewirkten und die Paarung verschiedenfarbiger Partikel einen dritten, neuen Farbwert erzeugen konnten. Sie betrafen aber auch — der vielleicht noch bedeutungsvollere Schritt - die Erscheinungsweise der Farbe als Mittlerin des Bildlichts und Bilddunkels. Nicht so sehr in ihrer Differenzierung lag das Entscheidende als darin, daß die optische Mischung der farbigen Partikel Lichtwirkungen suggerieren konnte, die mit den bisher gebräuchlichen malerischen Mitteln nicht erzielbar waren. Mit andern Worten: Durch das Zusammenwirken von 5w»iqualitäten entstand ein neuer optischer Wert: jene spezifische vibrierende Helle, die wie ein feinster ätherischer Stoff sich über die aus geteilten Farben gebildeten Komplexe zu breiten scheint, ihnen etwas von der Wirkung reflektierten Lichts mitteilt und schließlich auch auf das Aussehen der Bilddunkelheiten zurückwirkt."16 Während auf Frühwerken Delacroix' Farbteilungen erst an einzelnen Bildstellen erscheinen, wird erstmals am „Einzug der Kreuzfahrer in Konstantinopel" von 1840 (Louvre) „in einem großformatigen Gemälde Delacroix' die Farbteilung nicht allein in den Lichtregionen erkennbar, sondern ebenso in den vom Licht abgewandten Partien. Von diesen wird der weitaus größte Teil der Bildfläche eingenommen; gegen den helleren Bildgrund profiliert, schließen sie sich, nur zweimal von betonten Helligkeiten unterbrochen, zu großen Massen zusammen, die zunächst den Eindruck bestimmen. Bei längerer Betrachtung aber scheinen diese sich zu zerteilen: an Stelle eines alles umgreifenden optischen Dunkels treten tief- oder gedämpft-farbige Komplexe hervor, die in ihrer Gesamtheit wohl ein Dunkel ergeben, aber der Erscheinung natürlicher' Schatten in allen Abstufungen doch näher stehen als dem gemeinsamen Tiefengrunde des Helldunkels der älteren Malerei. Das Dunkel ist nicht mehr total geschieden vom Licht, sondern hat Fühlung mit ihm genommen, erscheint verschieden stark durchhellt. Die Aufhellung, und sei sie noch so gering, wirkt jedoch nicht als Verdünnung oder Abschwächung des Dunkels zur Trübe, sondern als dessen Festigung und Belebung mittels des farbigen Kontrastes. Schon dadurch, daß die gegen die Schattenbezirke sich absetzenden Helligkeiten selbst durch Farbteilung zustande 15
Strauss, I.e. S. 1 4 0 , 1 4 1 .
16
Strauss, I.e. S. 1 4 2 , 1 4 3 .
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kommen, beeinflussen sie das Dunkel nach der farbigen Seite hin. Zudem bilden sie auf Grund der gleichartigen technischen Behandlung mit diesen ein Ganzes, das selbst wieder wie ein farbiger Kontrast im Großen wirkt. [...]" „Mit der Verwendung der geteilten Farbe auch als Äquivalent des Dunkels in seinen verschiedenen Erscheinungsformen hat Delacroix nicht allein neue koloristische Möglichkeiten geschaffen, sondern gleichzeitig einen entscheidenden Schritt zur Aufhebung des optischen Dunkels getan." 17 In seinem Spätwerk, in seinen Wandbildern in Saint-Sulpice, geht Delacroix noch einen Schritt darüber hinaus. Aufzeichnungen dieser Jahre lassen die neue Problemsituation erkennen. Am 5. Mai 1852 vermerkt er in seinem Tagebuch: „Man soll sein Bild so anlegen, als zeige sich sein Gegenstand bei bedecktem Himmel ohne Sonne (,temps couvert, sans soleil'), ohne abgesetzte Schatten. Es gibt grundsätzlich weder Lichter (,clairs') noch Dunkelheiten (Schatten, ,ombres'). Es gibt für jeden Gegenstand eine farbige Masse, die von allen Seiten verschiedenartig reflektiert wird. Man stelle sich bei dieser Szene, die sich im Freien bei grauem Wetter (,temps gris') abspielt, vor, daß ein Sonnenstrahl plötzlich die Gegenstände beleuchte; dann wird man Lichter und Schatten in der üblichen Weise erhalten; das sind aber reine Zufälle. Diese tiefe Wahrheit, die seltsam erscheinen mag, macht das ganze Verständnis der Farbe in der Malerei aus! Seltsam! Sie ist nur von einer sehr kleinen Anzahl großer Maler verstanden worden, selbst unter denen, die man als Koloristen rühmt." 18 Auch Cézanne fordert für sein Arbeiten im Atelier „temps gris clair".19 Zwei Jahre später, am 29. April 1854, wiederholt Delacroix Vergleichbares in anderer Form: „Je mehr ich über die Farbe nachdenke, desto mehr entdecke ich, daß der reflektierte Halbton das Prinzip ist, das herrschen muß, denn er gibt tatsächlich den wahren Ton, den Ton, der den Gehalt ausmacht, der in dem Gegenstand zählt und ihn existieren läßt. Das Licht... ist wirklich nur etwas zufällig Hinzukommendes (,un véritable accident'). Die wahre Farbe ist im reflektierten Halbton; darunter verstehe ich diejenige, die das Gefühl der Dichtigkeit und der vollständigen Verschiedenheit gibt, die einen Gegenstand vom anderen trennen soll." 20 „Delacroix geht aus von dem in der französischen Ateliersprache geläufigen Begriff der demi-teinte, d.h. von der Farbe, wie sie sich an den Dingen nur bei diffusem Licht (,temps gris') zeigt, während sie bei jeder Art aktiver, auftreffender Beleuchtung zusätzlich ins Licht gehoben bzw. [...] zum Schatten vertieft wird; sie verändert dann den ihr eigentümlichen Buntgehalt oder bewahrt ihn nur noch unter bestimmten Bedingungen in einem nicht mehr unmittelbar vom Licht berührten Mittelton. Diese demi-teinte wird für Delacroix zum Grundmaterial seiner farbigen Konzeption. Er begreift sie zunächst als einen verdichteten, in ihrer Verdichtung fast als greifbare Sub17 18 19 20
Strauss, I.e. S. 144/145. Zitiert nach Badt: Delacroix, S. 64/65, mit leichten Änderungen. Conversations avec Cézanne, S. 7. - Gespräche mit Cézanne, S. 23. - Ambroise Vollard: En écoutant Cézanne, Degas, Renoir. Paris 1942, S. 58. Zitiert nach Badt: Delacroix, S. 65.
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stanz wirkenden Buntwert (,masse colorée'), dem er seine Eigenart in jedem Falle zu erhalten sucht. Deshalb will er, zumal in der ersten Anlage des Bildes, das aktive Licht, in welchem er nur einen .véritable accident'erblickt, ebenso wie die Schatten, als farbverändernde Elemente nach Möglichkeit ausgeschlossen wissen. Aus dem Ensemble der nur sich selbst überlassenen demi-teintes allein soll die farbige Grundstruktur hervorgehen. Das Prinzip des Bildaufbaus primär aus den Eigenwerten der demi-teinte soll aber auch dann noch erkennbar bleiben, wenn im weiteren SchafFensvorgang dargestelltes, .einfallendes' Licht als farbhöhender Faktor hinzukommt. Es ergibt sich dann ein künstlerisches Problem, dessen Lösung Delacroix tief beschäftigt hat: sind einmal die durch das höchste Licht hervorgehobenen Partien gegeben, so treten die in demi-teinte bereits angelegten Bildteile, allein schon nach den Gesetzen des simultanen Helligkeitskontrastes hinter diese zurück, erscheinen mehr oder weniger stark beschattet, jedenfalls auf eine andere, tiefere Helligkeitsstufe versetzt. In dieser neuen Situation ergeben sich zweierlei Wirkungsmöglichkeiten für die Farbe: sie kann tatsächlich Schattendunkel suggerieren unter der Gefahr, an Buntgehalt einzubüßen. Sie kann aber auch — und dahin geht Delacroix' Bemühen — dazu gebraucht werden, ihren ,ton vrai' nach Möglichkeit zu erhalten. In diesem Falle wirkt sie gleichsam durch den über ihr lagernden hauchdünnen Schattenflor hindurch nach der Art farbiger Reflexe. Damit muß jedoch keineswegs eine Einschränkung ihres Buntgehalts verbunden sein. Im Gegenteil: gerade in ihrem Bestreben, sich auch noch in der neuen, durch den Kontrast zum höchsten Licht entstandenen Situation zu behaupten, kann die Buntheit sich um so nachhaltiger durchsetzen. Man versteht jetzt, weshalb Delacroix von der demi-teinte reflétée spricht und in ihr die reinste Farberscheinung überhaupt erblicken kann."21 Derartige Überlegungen muß auch Cézanne vollzogen haben, wie viele seiner Landschaften erkennen lassen, und einige Äußerungen Cézannes nahelegen: „Licht und Schatten sind ein Farbverhältnis, die zwei Haupterscheinungen unterscheiden sich nicht durch ihre allgemeine Intensität, sondern durch ihren eigenen Klang. "„Zeichnen Sie, doch es ist der Reflex, der umhüllt; das Licht ist, infolge des allgemeinen Reflexes, die Hülle."22 21 22
Strauss, I.e. S. 145/146. Gespräche mit Cézanne, S. 32, 65. — Conversations avec Cézanne, S. 16: „La lumière et l'ombre sont un rapport de couleurs, les deux accidents principaux diffèrent non par leur intensité générale mais par leur sonorité propre." - S. 46: „Dessinez, mais c'est le reflet qui est enveloppant. La lumière par le reflet général C'est l'enveloppe." - Es ergeben sich hier teilweise Ubereinstimmungen zwischen Delacroix und Cézanne mit dem Maler Frenhofer der Balzac'schen Erzählung „Le Chef-d'œuvre inconnu": „La nature comporte une suite de rondeurs qui s'enveloppent les unes dans les autres. Rigoureusement parlant, le dessin n'existe pas! [...] La ligne est le moyen par lequel l'homme se rende compte de l'effet de la lumière sur les objets; mais il n'y a pas de lignes dans la nature où tout est plein: c'est en modelant qu'on dessine, c'està-dire qu'on détache les choses du milieu où elles sont, la distribution du jour donne seule l'apparence au corps! Aussi, n'ai-je pas arrêté les linéaments, j'ai répandu sur les contours un nuage de demi-teintes blondes et chaudes qui fait que l'on ne saurait précisément poser le doigt sur le place où les contours se rencontrent avec les fonds. De près, ce travail semble cotonneux et paraît manquer de précision, mais à deux pas, tout se raffermit, s'arrête et se détache; le corps tourne, les formes deviennent saillantes, l'on sent l'air
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„Als Delacroix seine hier mitgeteilten Überlegungen zur Farbe niederschrieb, beschäftigt ihn bereits die Konzeption der beiden großen Wandbilder fiir Saint-Sulpice. [Ausgeführt wurden sie zwischen 1856 und 1861.] Daß sie ihm bei deren Ausführung als Richtschnur dienten, wird durch sie beispielhaft veranschaulicht. Es fällt nicht schwer, sich ihre Bildwelt tatsächlich als,Szenen bei gedecktem Tageslicht' vorzustellen, die,durch einen Lichtstrahl plötzlich erhellt' werden. Obschon Licht als einwirkende Kraft im Bilde selbst gezeigt wird, — besonders eindringlich in J a k o b s K a m p f mit dem Engel' am rechten Bildrand durch das intensiv helle Gelb der Staubwolke um die Herde und die Reitergruppe — erscheint die über die gesamte Bildfläche gebreitete gedämpfte Helligkeit doch nicht als Folge der Ausstrahlung von Bildlicht aus einer bestimmten Richtung. Vielmehr beruht sie primär auf der spezifischen Helligkeit der Dingfarben selbst, die so gewählt sind, daß sie im Gesamteindruck einen Helligkeitsgrad ergeben, wie er dem diffusen Licht der Wirklichkeit entspräche, trotzdem aber noch als .masses colorées' voll zur Geltung kommen. Dies gilt für die weit ausgebreiteten Regionen von tiefem und fahlem Grün (Bäume und Erdboden) und die kleineren Flächen von Grau (Bach, Engelsflügel) ebenso wie für die Gruppe der beiden Ringenden und das Stilleben im Vordergrund. In diesen beiden Komplexen erscheinen die demi-teintes nur in verhältnismäßig kleinen, scharf begrenzten Bezirken vom,rayon de soleil' berührt, zum weitaus größeren Teil gleichen sie sich durch ihre ,Reflexhelligkeit' der Tonhöhe des Bildganzen an. Noch offenkundiger als in Jakobs K a m p f beruht die farbige Komposition der .Vertreibung des Heliodor aus dem Tempel' auf den Wirkungsmöglichkeiten der demi-teinte reflétée. Denn der dominierende Eindruck einer wie gefilterten, .blonden'
circuler tout autour. Cependant je ne suis pas encore content, j'ai des doutes. Peut-être faudrait-il ne pas dessiner un seul trait, et vaudrait-il mieux attaquer une figure par le milieu en s'attachant d'abord aux saillies les plus éclairées, pour passer ensuite aux portions les plus sombres. N'est-ce pas ainsi que procède le soleil, ce divine peintre de l'univers." [Der letzte Satz erinnert an einen Ausspruch Courbets, der die Sonne allerdings nicht „le divin peintre de l'univers" nennt.] Der Balzac-Text zitiert nach: Pierre Laubriet: Une Catéchisme Esthétique. Le Chef-d'œuvre inconnu de Balzac. Paris 1961, S. 219. Die (von mir leicht veränderte) deutsche Übersetzung von Eva Rechel-Mertens lautet: „Die Natur besteht aus einer Abfolge von Rundungen, die ineinander übergehen. Streng genommen gibt es die Zeichnung nicht! [...] Die Linie ist ein Mittel, durch das der Mensch sich die Wirkung des Lichtes auf die Dinge klarmacht; aber in der Natur, in der alles ausgefüllt ist, gibt es keine Linien; man zeichnet, indem man modelliert, das heißt, man löst die Dinge aus ihrer Umgebung heraus; nur die rechte Verteilung des Lichtes gibt dem Körper den Anschein der Wirklichkeit! So habe ich denn auch nicht bei den Linien haltgemacht; ich habe über die Konturen eine Wolke von warmen goldenen Halbtönen gelegt, so daß man nicht genau den Finger auf die Stelle legen kann, wo die Umrisse sich mit dem Hintergrund berühren. Von nahe gesehen, wirkt solche Arbeit flockig und scheinbar ungenau; aber in einer Entfernung von zwei Schritten wird alles wieder fest, nimmt Gestalt an und löst sich ab; der Körper rundet sich, die Formen treten hervor, man fühlt, wie Luft das Ganze umspült. Doch bin ich noch nicht ganz zufrieden, ich hege noch immer Zweifel. Vielleicht sollte man nicht mit einem Strich zeichnen, sondern eine Figur von der Mitte aus anlegen und zunächst mit den hellsten Partien beginnen, um dann zu den dunkelsten überzugehen. Macht es denn so nicht die Sonne, der göttliche Maler des Universums?" (Honoré de Balzac, Meisternovellen, Zürich 1953, S. 218/219.)
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Durchlichtung des Bildraums kommt hier durch die Gemeinschaft schon an sich lichter Farben zustande — vor allem das Sienagelb und Grau der Architektur im oberen Bildteil - die aber im Gesamtaspekt doch wiederum leicht gebrochen, verschattet erscheinen, da ihre Helligkeit stellenweise durch die noch stärkere des einfallenden Lichts überboten wird." Fast alle Farben „sind auf diese Werte abgestimmt, indem sie die gleiche Helligkeitshöhe einhalten ohne Rücksicht auf die Unterschiede der farbigen Qualitäten. Zu dem mattfarbigen Gesamteindruck trägt wesentlich bei, daß Delacroix die an sich schon zurückgehaltenen Farben der größeren Komplexe in nahen Abständen zusammentreten läßt (etwa das grauviolette Gewand des fliegenden Engels mit dem silbrigen Graublau der Treppe und dem bläulichen Grau des Rosses), während er die entschiedeneren Intervalle den kleineren, unterteilten Partien des Vordergrundes vorbehält. [...] Vor keinem Werk Delacroix' wird so wie vor diesem verständlich, weshalb eine Malerei wie die Veroneses ihn unaufhörlich beschäftigt und von so großer Bedeutung für ihn werden mußte. Er entdeckte in ihr nicht allein den Bildwert der farbigen Kontraste, sondern die Identität von ,demi-teinte' und,ombre' - man könnte sie das,Prinzip der mittleren Bildhelligkeit' nennen - als Vorbedingung einer farbigen Wirkung, wie er sie seit seiner Reifezeit immer bewußter für Werke größeren Formats erstrebte." Anders aber als bei Veronese tritt bei Delacroix diese mittlere Bildhelligkeit', „trotz ihrer,dekorativen' Wirkungsweise doch nicht primär als ein formales, strukturelles, sondern als ein luminaristisches Mittel in Erscheinung. Sie läßt nie vergessen, daß Delacroix die,masses colorées' als .reflétées de tous cotés', als Empfänger von Licht und lichthaft einwirkenden Farben betrachtet. Die Bildfarbe ist für ihn, im allerletzten Grunde, .Abglanz', nicht .Gestalt' wie bei Veronese [...]." 23 Veronese war auch für Cézanne bewundertes Vorbild. Delacroix war ihm vermutlich auch Mittler zur Kunst Veroneses. Bei Cézanne aber wird Farbe, mit all ihren Lichtkomponenten, erneut zur „Gestalt" und seine Farbteilung dient keiner „luminaristischen" Wirkung, sondern der farbigen Gesamtharmonie. Unter dem 25. Januar 1857 notiert Delacroix fur sein geplantes „Dictionnaire des Beaux-Arts" in sein Tagebuch: „Verbindung (Liaison). Wenn wir die uns umgebende Natur betrachten, sei es eine Landschaft oder ein Interieur, so bemerken wir zwischen den Gegenständen eine Art Verbindung, welche durch die umhüllende Atmosphäre und Reflexe aller Art gebildet wird, die jedes Objekt sozusagen an einer Art allgemeiner Harmonie teilnehmen läßt. Es ist das ein Reiz, auf den die Malerei nicht verzichten kann. Doch haben durchaus nicht alle und nicht einmal alle großen Maler darauf geachtet. Die meisten scheinen nicht einmal in der Natur diese notwendige Harmonie bemerkt zu haben, die einem Werk eine Einheit verleiht, welche die Linien trotz des sinnreichsten Arrangements nicht zu schaffen vermögen. — Es erscheint fast überflüssig zu sagen, daß die Maler, die wenig nach Wirkung und Farbe fragen, sich darum gar nicht bekümmert haben; aber überraschend ist es, daß bei vielen großen Koloristen diese Qualität sehr oft vernachlässigt ist, und sicherlich in Folge eines Man23
Strauss, 1. c. S. 146, 147.
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gels an Gefühl dafür." 2 4 Diese „Liaison" bildet fur Cézanne die empirische Grundlage fur seine Darstellung jedes „Motivs" als in sich vielfältig verbundenen Kosmos, geht also über das Niveau eines „Reizes" („une sorte de charme") weit hinaus. 25 Cézanne wollte in seiner Kunst „Wirklichkeit" erfassen und darstellen. So mußte für ihn auch die Kunst Gustave Courbets (1819—1877), des Begründers des „Realismus" in der Malerei, von höchster Bedeutung werden. Courbet entwickelt die Farbigkeit seiner Bilder in der Regel aus dem Dunkel. Théophile Silvestre berichtet in seiner „Histoire des artistes vivants", Paris 1885 2 6 : „Er verfolgte die Harmonie, indem er stufenweise vom tiefsten Schatten zum höchsten Licht emporschritt, und nannte seinen letzten Pinselstrich: ,Ma dominante' [den Schlußakzent]. Nehmen Sie folgenden Vergleich, sagte er: ,Wir sind eingehüllt in die Morgendämmerung, vor den ersten Sonnenstrahlen: die Dinge sind im Raum kaum sichtbar; die Sonne taucht auf: die Formen zeichnen sich sichtbarer ab; die Sonne steigt auf: die Dinge werden immer mehr beleuchtet und gewinnen schließlich ihre volle Sichtbarkeit. N u n gut, ich verfahre in meinen Bildern, wie es die Sonne in der Natur macht.'" Ahnlich lautet ein anderer Ausspruch Courbets: „Suche nach dem dunkelsten Ton in dem Bild, das du malen willst; wenn du ihn gefunden hast, markiere die betreffende Stelle und setze diesen Ton mit Palettmesser oder Borstenpinsel drauf; wahrscheinlich wird er innerhalb seiner Dunkelzone kein Detail wiedergeben. Dann mach dich stufenweise an die weniger dichten Zwischentöne heran und versuche, sie an ihre Stelle zu setzen, ebenso dann die Halbtöne. Schließlich hast du nur mehr die Hellstellen hervorzuholen, von de24
Zitiert nach Hancke: Delacroix, S. 217.
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Kurt Badt weist an zwei Stellen des Abschnitts „Die Farbenlehre" seines Buches „Eugène Delacroix. Werke und Ideale" auf Beziehungen zwischen Delacroix und Cézanne hin: „Es sollen, so heißt es im Tagebuch [Delacroix' unter dem 14. Mai 1830], bei einem Landschaftsmotiv in jedem Halbton die zum Himmel gerichteteten Flächen bläulich, die zur Erde gewandten warm (bräunlich), die zur Seite gehenden grün oder grau sein. Entsprechend der Drehung der Flächen - es handelt sich um gewölbte Körperoberflächen - muß man diese Töne sorgfältig ändern, das ist abwandeln. Dies ist in nuce schon das Verfahren Cézannes. Das Problem ist, wie man Licht und Schatten durch FTannhäuser< represente la lutte des deux principes qui ont choisi le cœur pour principal champ de bataille, c'est-à-dire de la chair avec l'esprit, de l'enfer avec le ciel, de Satan avec Dieu.'" Darauf wird zurückzukommen sein. Staub fährt fort: „Himmel und Hölle nennt [Baudelaire] etwas später die beiden Unendlichkeiten (,deux infinis'), die jeder in sich trage, und fugt bei, der Mensch erkenne in jedem Bild einer dieser Unendlichkeiten plötzlich die Hälfte seiner selbst wieder." In einer Bewegung auf das Absolute hin sind für Baudelaire dann „auch Himmel und Hölle nur noch relative Figuren einer nur im Paradox andeutbaren Wahrheit. So zeigt sich noch im tiefsten Abgrund ein Licht, das auf das Göttliche verweist, wie andererseits auch der Himmel für den Überheblichen zum Widerschein der Hölle werden kann." (S. 31) So lautet Baudelaires Gedicht „Horreur sympathique" („Sympathisches Grauen", nach Kemp40): ,„Aus diesem wunderlichen und fahlen Himmel, aufgewühlt wie dein Geschick, was für Gedanken steigen in deine leere Seele nieder? - Gib Antwort, Wüstling!'
40 Baudelaire, I.e. S. 131.
Cézanne - Balzac - Baudelaire: Bilder und Texte
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- Unersättlich, nach D u n k l e m lüstern u n d nach Ungewissem, will ich nicht winseln wie O v i d , vertrieben aus d e m Paradies des kaiserlichen R o m . H i m m e l zerfetzt wie Strande, in euch spiegelt m e i n Stolz sich! Eure trauerschwarzen ungeheuren Wolken S i n d die Leichenwagen meiner Träume, u n d eure Blitze sind der Widerschein der Hölle, in der sich mein H e r z gefällt!."
Cézanne hat vermutlich in seinen „wilden" Bildern der Frühzeit ähnlichen Erfahrungen wie Baudelaire Gestalt gegeben, und das erst macht, wie ich glaube, in einer dem tiefen Ernst der Darstellungen angemessenen Art den geistigen Ort des religiösen Doppelbildes von ca. 1869 mit „Christus im Limbus" und der „Reuigen Magdalena" verständlich: Der Erfahrung des Abgrunds, der Hölle des Bewußtseins, werden ein Bild des „Abstiegs Christi in die Vorhölle" und damit der Errettung der Sünder aus dieser Vorhölle und ein Bild der Reue entgegengesetzt. Daß sich wie flir Baudelaire, so auch fur Cézanne, der Himmel gleichermaßen verfinstern konnte, mag ein Bild mit dem sicher unzutreffenden Titel „Die Badenden" von ca. 1870 (33 χ 40 cm. Privatsammlung. R. 159) andeuten. Von Mary Tompkins Lewis wurde es als Darstellung der Venusgrotte in Wagners „Tannhäuser" interpretiert.41 Doch auch dieses Bild geht über alles Illustrative weit hinaus. Vielmehr kann es verstanden werden als Entsprechung zu Baudelaires Gedicht „Der Deckel" („Le Couvercle"): „Er m a g hingehn, w o er will, aufs Meer, aufs L a n d , unter g l ü h e n d e m H i m m e l oder unter bleicher Sonne, ein Diener Jesu, ein H ö f l i n g der Cythere, düsterere Bettler oder gleißender Krösus, Städter, Bauer, unstet oder seßhaft, m a g sein kleines H i r n geschäftig oder träge sein, überall bedrängt den M e n s c h e n lastend der Schrecken des Mysteriums u n d nur mit b a n g e m A u g e wagt er aufzuschaun. H i n a u f z u m H i m m e l ! Dieser Kellermauer, die ihn erstickt, diesem illuminierten H ä n g e b o d e n einer komischen Oper, w o jeder Possenreiter einen blutigen B o d e n tritt;
41 Cézanne's Early Imagery, S. 189 ff.
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Der den Wüstling schreckt, den sich der Eremit in seinem Wahn erhofft: der Himmel: schwarz der Deckel des großen Topfes, darin kaum wahrnehmbar die ungeheure Menschheit kocht."
Cézanne malt in diesen Jahren aber auch Bilder der Fahrt zur Hölle und einer Entführung zur Unterwelt. 1867 entsteht ein eigenartiges Bild, „L'Enlèvement" (90,5 χ 117 cm. Cambridge, Fitzwilliam Museum. R. 121), ein Geschenk für Zola. Dargestellt ist, wie Mary Tompkins Lewis42 wahrscheinlich gemacht hat, die Entfuhrung der Proserpina durch den Unterweltsgott Pluton, nach Ovids „Metamorphosen" 5. Buch, das heißt aber, im Horizont des griechisch-römischen Mythos, eine Entfuhrung zur Strukturierung des Naturkreislaufs. Ceres, die Mutter der Proserpina, sucht ihre Tochter, erfahrt von ihrer Entfuhrung durch Pluton (bei Ovid Dis genannt), beklagt sich darüber bei Jupiter, und der oberste der Götter fallt die Entscheidung: „Jupiter aber vermittelte zwischen dem Bruder und seiner Trauernden Schwester: in Hälften zerteilt er den Kreislauf des Jahres. U n d jetzt weilt sie, die Göttin, die teil hat an beiden Bereichen, Gleich viel Monate dort bei der Mutter und gleich viel beim Gatten." 4 3
Cézanne zeigt den Gott jedoch nicht in seinem Wagen, wie Ovid ihn schildert: „Aber der Räuber beschleunigt die Fahrt, er stachelt die Rosse, Jedes mit Namen benennend, er schüttelt um Nacken und Mähnen Ihnen die Zügel, die dunkel mit Eisenstaube geschwärzt sind. Seen durchstürmt er, tiefe, [.,.]" 4 4
Und etwas später heißt es: „ [ . . . ] die entsetzlichen Rosse befeuert er, wirbelt in starkem Arme das Szepter des Königs und wirft es zutiefst in den Strudel. In den Tartarus bahnt ihm den Weg die getroffene Erde U n d empfängt den sich senkenden Wagen inmitten des Schlundes." 4 5
Hat Cézanne also die „Entführung der Proserpina" dargestellt, so akzentuierte er gerade die Menschlichkeit des Gottes und die Hilflosigkeit der Göttin.
42 Cézannes Early Imagery, S. 156, 159. 43 Publius Ovidius Naso: Metamorphosen. Herausgegeben und übersetzt von Hermann Breitenbach. Zürich 1958, S. 347, Verse 564-567. 44 Metamorphosen, I.e. S. 331, Verse 402-405. 45 Metamorphosen, I.e. S. 333, Verse 421-424.
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U m 1 8 7 0 malt Cézanne eine Kopie der „Dantebarke" von Eugène Delacroix (25 χ 3 3 cm. Privatsammlung. R. 172). Der genaue Titel des Delacroix'schen Bildes lautet: „Dante u n d Virgil setzen mit Phlegias' Hilfe über den See, der die Mauern der Höllenstadt Dite umgibt". D e m Katalog der Salon-Ausstellung v o n 1 8 2 2 gab Delacroix die Erläuterung bei: „Verdammte hängen sich an den Kahn oder versuchen, hineinzugelangen. Dante erkennt unter ihnen Florentiner." Das Bild hat die Maße 1,88 χ 2,41 m u n d befindet sich im Louvre. Cézanne konnte es n o c h i m LuxembourgM u s e u m sehen und kopieren. Das T h e m a ist d e m 8. Gesang v o n Dantes „Inferno", 2 5 - 7 5 , entnommen: 4 6 „Mein Führer stieg hinab zu ihm ins Schifflein, bedeutet' mir, daß ich ihm folgen sollte, und erst als ich hineintrat, schien's belastet, Da es uns beide aufgenommen hatte, begann sofort sein alter Kiel zu pflügen, doch diesmal tiefer in der Flut als sonst. Indes wir durch das tote Rinnsal fuhren, reckte sich einer schlammbedeckt nach mir. ,Wer bist du', sprach er, ,der zur Unzeit kommt?' Und ich: ,Ich komme, doch ich bleibe nicht. Wer bist denn aber du und bist so schmutzig?' ,Bin einer', sagt er, ,wie du siehst, der weint.' Und ich zu ihm: ,Mit Weinen denn und Klagen, vermaledeiter Geist, bleib, wo du bist! Ich kenne dich durch deinen Dreck hindurch!' Da griff mit beiden Händen er ans Schiff, doch hurtig stieß mein Meister ihn hinab und rief: .Zurück zu deinen Hundsgesellen!' Sodann umschlang er mich mit seinen Armen, die Stirne küßt er mir und sprach:,Gesegnet die Frau, die dich gebar, du edler Trotz! Ein aufgeblasner Mensch war jener einst, und etwas Gutes kennt man nicht von ihm, drum ist sein Geist hier unten so voll Wut. Es dünkt sich mancher droben königlich, der dann im Schlamm hier endigt, wie die Schweine, und nichts als Haß und Schande hinterläßt.' .Meister' sprach ich, ,es war mir eine Freude, in diese Suppe ihn getunkt zu sehen, gleich jetzt, bevor wir diesen See verlassen.'
46 Zitiert nach: Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. Deutsch von Karl Vossler. 4. Auflage. Zürich 1953. S. 5 9 - 6 1 .
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Und er zu mir: ,Noch ehe du das Ufer erblicken kannst, sollst du gesättigt sein, denn dieser Wunsch ist die Erfüllung wert.' Nicht lange währt' es, und ich durfte sehen, wie ihn die Sumpfbewohner so zerfleischten, Daß ich noch heute meinem Schöpfer danke. ,Philipp Argenti! packt ihn!' schrien alle, und dieser tolle Florentiner Geist zerbiß mit seinen eignen Zähnen sich. Wir ließen ihn, und mehr bericht ich nicht, doch schmerzhaft dröhnten plötzlich mir die Ohren. Mit aufgerissnen Augen späht ich vorwärts. Der wackre Meister sprach: ,Mein Sohn, es naht jetzo die Stadt, die vielbevölkerte, des Dis mit ihren schwerbedrängten Bürgern.' Und ich: .Schon kann ich, Meister, klar erkennen die Minarette dort im Grund des Tales, die rötlich wie aus einem Brandherd ragen.' ,Das ewige Feuer in der untern Hölle'. erklärt er mir', .durchglüht sie so von innen, daß sie dir rot erscheinen, wie du siehst.'"
Der Text ist aufschlußreich wegen der Gewaltphantasien, die Dante für das „Inferno", die Hölle, entfaltet, Phantasien von Gewalt und Rache, hinter denen Baudelaire und Cézanne weit zurückbleiben, - er ist aufschlußreich auch wegen der Diskrepanz des Delacroix'schen Bildes zu diesem Text. Delacroix zeigt nicht, wie Dante am Anblick der Qualen der Verdammten sich weidet, und er deutet diese physischen Qualen selbst nur verhalten an. Er zeigt die Verdammten auch als Verzweifelte und Leidende und Dante als Erschreckten. Cézanne steigert in seiner Kopie noch diesen Schrecken Dantes und akzentuiert die Hilflosigkeit der Verdammten, die in ihrem Inkarnat weiß aufleuchten. So kann man schon Delacroix auf dem Wege sehen zur Erfahrung der Hölle des Bewußtseins, der Hölle im eigenen Inneren, einer Hölle, die nicht als ein Fremdes, Äußeres betrachtet und von sich weggehalten werden kann. Und es sei daran erinnert, daß 1873 Arthur Rimbauds „Une Saison en Enfer" („Eine Zeit in der Hölle") erschien, die radikaler noch als Baudelaires Texte die Höllenerfahrung des Bewußtseins thematisiert. Hans Staub charakterisiert diese Dichtung im genannten Zusammenhang folgendermaßen: „Auch Rimbaud ist gegenüber seiner Epoche und einer Welt, die er ähnlich pessimistisch beurteilt wie Baudelaire, vom Verlangen nach einer reinen, unschuldigen, freien Existenz, nach dem Leben eines Sonnensohnes ergriffen. Doch die Erfahrung des Mangels führt bei ihm nicht, wie bei Baudelaire, zu einer durch die auseinandergespannten Pole ständig wachgehaltenen Sehnsucht, sondern zu einer Folge von sich ablösenden Bewegungen der Revolte, der Eroberung, der Illusionierung und der Enttäuschung. Rimbaud richtet sich
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nicht mehr in der Spannung zwischen Gott und Satan, zwischen Himmel und Hölle auf das alle Gegensätze übersteigende Absolute aus, sondern strebt vielmehr nach einer Befreiung und Verwirklichung des Menschen mit allen seinen Ansprüchen auf dieser Erde. Diese Ansprüche sind nun wesentlich mitbestimmt durch die in der religiösen Erziehung der Kindheit vermittelten Gebote und Verheißungen des Evangeliums. Seine Beziehung zu Gott führt nicht mehr ausschließlich wie die Baudelaires über das Bewußtsein der eigenen Sünde und Verdammung, sondern über die christlichen Gebote und die christliche Heilsverheißung. Allerdings hat für Rimbaud wie für Baudelaire diese Verheißung als christliche keine in der konkreten Erfahrung wirkende aufbauende Kraft mehr, sondern wird in ihrer Unbedingtheit gerade zum Fluch, der alle Versuche menschlicher Verwirklichung von vornherein entwertet." (S. 33/34) Und als Kernpunkt von Rimbauds Höllenverständnis bezeichnet der Autor die „Deutung der christlichen Verheißung und des christlichen Gebots als einer Vergiftung seines Lebens und damit als Verunmöglichung einer authentischen menschlichen Erfüllung im Sinne Rimbauds." (S. 39) Damit ist zugleich eine scharfe Grenze gezogen zur Erfahrung einer Hölle des Bewußtseins im Sinne Cézannes, der dieser mit seinen Bildern des „Christus im Limbus" und der „Reuigen Magdalena" begegnen wollte. 1869/70 entsteht auch Cézannes Bild „Mädchen am Klavier (Tannhäuser-Ouvertüre)" (57 χ 92 cm. St. Petersburg, Eremitage. R. 149. Abb. 12). Eine erste Version des Themas vollendete der Künstler im Herbst 1866. 1867 war eine zweite Fassung in Arbeit. Das Bild der Eremitage ist die dritte und einzig erhaltene Version des Motivs. Dieses Sujet muß Cézanne also sehr beschäftigt haben, aber warum? Die Tannhäuser-Ouvertüre wurde in Paris erstmals zu Beginn des Jahres 1860 gespielt, die ganze Oper hatte am 31. März 1861 Premiere. Richard Wagners Musik erregte sogleich die Bewunderung der Jüngeren und die Feindschaft der Älteren, konservativ Gesinnten. Am 1. April 1861 veröffentlicht Baudelaire einen begeisterten Artikel über den deutschen Komponisten, zu einem Zeitpunkt also, da Cézanne zum ersten Mal nach Paris kam. Zweifellos hatte Zola den wichtigen Aufsatz Baudelaires sofort gelesen und Cézanne damit bekannt gemacht, und Cézanne muß darin Gedanken gefunden haben, die ihn tief berührten. John Rewald schreibt im Œuvrekatalog der Gemälde Cézannes48: „[...] the statement that must have impressed Cézanne most deeply was probably the following: ,In the matter of art, I swear that I don't hate excess; moderation has never appeared to me the sign of a vigorous artistic nature.' Wasn't this exactly what Cézanne had meant when he declared that he had ,very strong sensations'? In a postscript in which Baudelaire deplores the enmity with which Wagner's opera had been received in 47 Vgl. Nikolai Koutovoi, Anna Barskaia, Evgenia Gueroguievskaia: Cézanne. St. Petersburg, Bournemouth 1996, S. 54. 48 Rewald, Vol.1, S. 124.
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A b b . 12 M ä d c h e n am Klavier (Tannhäuser-Ouvertüre), 1 8 6 9 / 7 0 . Staatliche Eremitage, S a n k t Petersburg. R. 149
Paris, Cézanne would have found yet another sentence that could not have leave him indifferent: All great and serious work cannot live in the human memory nor take its place in history without lively disputes.'" Die von Rewald angezogenen Bemerkungen Baudelaires erscheinen mir jedoch zu allgemein, zu unspezifisch, als daß sie Cézanne tiefer hätten inspirieren können. Die Hinweise auf „excess" und „strong sensations" lassen sich zudem mit dem in der Hauptwirkung ruhigen Bilde schwer in Verbindung bringen. Gelassen, in langen Rhythmen, breitet sich die Darstellung im Querformat aus. Die linke Bildhälfte ist, mit Mädchenkleid, Klavier und Wandsockel, nach Weiß, Schwarz, Grau gestimmt, die rechte nach Graubraun, Rotbraun (im Sofa) und Schwarz geführt. Ein weißlich-grauer Sessel schließt das Bild rechts ab. Trapeze, Zylinder, unregelmäßige Vierecke spielen im linken Bildteil eine große Rolle, sind wirksam im Kleid des Mädchens, im Stuhl und im Klavier. Große Dreiecke erscheinen in der Gewandung der Strickenden - im Kontrast von Schultertuch und Rock - , im zugespitzten Oval des Antlitzes und des Halses. Wie ein Abgrund aber scheint das Dreieck des Sessels sich zu öffnen. Wie Spuren von Raubtierpranken tappen die braunschwarzen Ornamente über das Grauweiß des Sessels. Aus den verhaltenen Formen der unregelmäßigen Vierecke links — die sich stellenweise perspektivischen Verkürzungen verdanken - spitzen sich rechts die Formen zu. Vergleichbar damit gewinnt im Purpurrötlichton des Sofas verhaltene Leidenschaft ihren Ausdruck. Die beiden Frauen wirken ganz still, ganz unbewegt und unberührt von jeder Empfindung. In den Ornamenten über den Wandsockeln aber entrollen sich wilde, gefährliche For-
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men - in Höhe der Frauenköpfe und die Formen dieser Köpfe umspielend. Sie sind dunkel und werden von heftigen, hellen Rändern begleitet und akzentuiert. Es ist schwer, sie nicht als Chiffren eines musikalischen Ausdrucks zu verstehen, des Ungebärdigen, Sinnlichen, das hier, in Höhe der Antlitze, der Stirnen ausbricht, im Kontrast zum Stillen, Verschlossenen, Unbewegten in Haltung und Gesichtsausdruck der Frauen. In den Ornamenten gewinnt das Unbewußte oder Halbbewußte, das Tiebhaft-Sinnliche seine Gestalt, in Haltung und Antlitz das Geistige. Die Ornamente ziehen von rechts nach links, steigen auf, treffen von rechts auf die Stickerin, von rückwärts auf die Klavierspielerin. Der Boden wirkt abschüssig, er gewährt keinen Halt. Seine leicht konkave Struktuierung läßt die Schrägstreifen zum Sessel hin gleiten. Dessen Arme wirken wie ausgespannt. Und kann das Klavier nicht den Ausdruck eines offenen Rachens annehmen? Im stillen Zimmer können sich Abgründe auftun, Abgründe, die sich auf die beiden jungen Frauen richten, — die Frauen, die dennoch ihre Haltung und ihre Ruhe bewahren und diese ihre Haltung und Ruhe auf das Ganze des Bildes übertragen! Es ist die Erfahrung und Darstellung zweier entgegengesetzter Prinzipien, die Cézanne mit Baudelaire verbindet und die auch in Cézannes gleichzeitig, um 1869 entstandenen Werken „Christus im Limbus" und der „Reuigen Magdalena" einerseits, in den erotischen, „wilden" Werken andererseits, zum Ausdruck kommen. Und die Verbindung besteht hier in Cézannes künstlerischer Form. Baudelaire schreibt am 18. März 1861 in seinem Artikel „Richard Wagner und der ,Tannhäuser' in Paris"49: „,Tannhäuser' stellt den Kampf der beiden Prinzipien dar, die das menschliche Herz zu ihrem vornehmsten Schlachtfeld erkoren haben, wo das Fleisch wider den Geist, die Hölle wider den Himmel, Satan wider Gott streitet. Und dieser Dualismus wird uns auch sogleich, in der Ouvertüre, mit unglaublichem Geschick vorgeführt. [...] Die Ouvertüre [...] faßt den Grundgedanken des Dramas in zwei Gesängen zusammen, der frommen Pilgerweise und dem Gesang der Lust, die hier, mit Liszt zu reden, ,als die beiden Glieder einer Gleichung aufgestellt werden, die dann im Finale ihre Lösung findet'. Die Weise des Pilgerchors erklingt als erste, mit der Autorität des höchsten Gesetzes, um sogleich den wahren Sinn des Lebens nachdrücklich anzudeuten, Gott als das Ziel, zu dem wir Pilger auf Erden alle unterwegs sind. Wie aber das innige Gottempfinden in jedem Gewissen bald den Gelüsten des Fleisches erliegt, so ertrinkt der Gesang, der das Heilige vertritt, nach und nach in den Seufzern der Wollust. Schon erhebt sich und wächst in jedem die wahre, die fürchterliche, die alles beherrschende Venus."50 „Sanftes Schmachten, von Fiebern durchschauerte, von Ängsten zerrissene Wonnen, unablässige Umkehr zu einer Wollust, die den Durst zu löschen verheißt und doch niemals löscht; wütende 49 Zitiert nach: Charles Baudelaire. Sämtliche Werke/Briefe. In acht Bänden. Hrsg. von Friedhelm Kemp und Claude Pichois in Zusammenarbeit mit Wolfgang Drost. Bd. 7: Richard Wagner — Meine Zeitgen o s s e n - A r m e s Belgien. 1860-1866. S. 89-133. 50
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Zuckungen des Herzens und der Sinne, herrische Befehle des Fleisches, das ganze Diktionär der Onomatopöien der Liebe macht sich hier vernehmlich. Endlich gewinnt das fromme Thema nach und nach wieder die Oberhand, langsam, stufenweise, und saugt das andere in einem friedlichen, strahlenden Sieg auf, einem Sieg wie den des unwiderstehlichen Wesens über das kränkliche und zügellose Wesen, des heiligen Michael über Luzifer. [...] Woher nur hat der Meister diese glühenden Klänge der Fleischeslust, diese abgründige Kenntnis des Teufels im Menschen geschöpft?" Auf diese selbstgestellte Frage antwortet Baudelaire mit der prinzipiellen Auskunft, die auch Cézanne auf sich beziehen konnte: „Jedes wohlausgebildete Gehirn trägt zwei Unendlichkeiten in sich, den Himmel und die Hölle, und in jedem Bilde einer dieser Unendlichkeiten erkennt es sogleich die eine Hälfte seiner selbst. Auf den satanischen Kitzel einer unbestimmten Liebe folgen bald Entrückungen, Verzückungen, Siegesschreie, das Ächzen der Dankbarkeit, und dann ein wildes Geheul, Anklagen des hingeschlachteten Opfers und das ruchlose Hosianna des Schlächters, als ob die blinde Roheit im Drama der Liebe immer ihren Platz einnehmen und der Sinnengenuß, nach einer unentrinnbaren Logik, zu den Wonnen des Verbrechens fuhren müßte. Wenn dann das religiöse Thema, durch das entfesselte Böse sich hindurcharbeitend, nach und nach die Ordnung wiederherstellt und sich abermals behauptet, wenn es sich von neuem in seiner ganzen machtvollen Schönheit über dieses Chaos ersterbender Lüste erhebt, empfindet die ganze Seele eine Art Erfrischung, eine Seligkeit der Erlösung; [...]." 51 Nur ganz verhalten kann Cézannes Bild der Baudelaire'schen Darlegung der zwei einander widerstreitenden Prinzipien in Wagners „Tannhäuser" entsprechen, denn Cézannes Kunst ist denkbar weit von Wagners Musik entfernt, und entsprechen kann sie ihr überhaupt nur durch Baudelaires Akzentuierung zweier gegensätzlicher Prinzipien im Inneren jedes Menschen. Im ersten Teil seines Tannhäuser-Aufsatzes zitiert Baudelaire die ersten beiden Strophen seines Gedichts „Entsprechungen" („Correspondances"52). Sie lauten, in der Prosa-Ubersetzung von Friedhelm Kemp53: „Die Natur ist ein Tempel, wo aus lebendigen Pfeilern zuweilen wirre Worte dringen; der Mensch geht dort durch Wälder von Symbolen, die ihn betrachten mit vertrauten Blicken. W i e langer Hall und Widerhall, die fern vernommen in eine finstere und tiefe Einheit schmelzen, weit wie die Nacht und wie die Helle, antworten die Düfte, Farben und Töne einander." 51
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53 Baudelaire, I.e. S. 19.
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In solcher Art von „Correspondance" stehen auch Cézannes Kunst und Baudelaires Dichtung und Denken zueinander, und Cézanne macht „Correspondance", „Entsprechung" zum Grundprinzip seiner eigenen Kunst. Bezeichnenderweise verbindet Baudelaire „Entsprechungen" mit „Symbolen", und gibt damit einen Hinweis, wie auch bei Cézanne „Symbol" und „Symbolik" verstanden werden können, nämlich als Hinweis auf „Entsprechungen".54 Nicht nur in seiner Frühzeit wurde Cézanne von Baudelaires Texten inspiriert, seine Bewunderung Baudelaires dauerte bis an sein Lebensende, und so zeigt auch ein Hauptwerk der achtziger Jahre noch Cézannes Nähe zu Baudelaire. Es handelt sich um das 1888 gemalte Bild „Mardi Gras" (102 χ 81 cm. Moskau, Puschkin-Museum. R. 618. Abb. 13) und die drei 1888/90 anschließenden Harlekin-Darstellungen (R. 619. Privatsammlung, R. 620. Washington, Nat. Gallery of Art und R. 621. Privatsammlung) „Mardi Gras" zeigt Cézannes Sohn in einem Harlekin-Kostüm, gefolgt von dessen Freund Louis Guillaume in einem Pierrot-Kostüm. Die beiden Clowns erscheinen als Gegensätze. Der weiße Pierrot ist fest und hart modelliert und bestimmt von einer Vertikalachse und einfachen Konturbögen. Den Falten seines Gewandes scheinen keine Bewegungspotentiale eigen, sie muten erstarrt, „gefroren" an, unbezogen auf eine leibliche Bewegung. Zudem wirkt die Figur wie gehalten vom Vorhang hinter ihr. Harlekin aber, in Rot und Blauschwarz, ist schlank, schmal und beweglich. Die vertikalen Rautenstreifen züngeln an ihm hoch und hinab. Die Figur scheint aufzuwachsen und sie schreitet aus mit einem gleitenden Schritt. Der Boden wirkt hier schneller und abschüssiger als unter Pierrot. Eine hellere Aura scheint vor Harlekin auszustrahlen. Dieser erste Eindruck vertieft sich bei genauerer Betrachtung. Ganz erstaunlich ist der Bezug der Vorhänge zu den Figuren. Die Faltengliederung und die Ornamente des Vorhangs hinter Pierrot lassen sich sämtlich auf Faltenformationen seines Gewandes und auf Schulteransatz, Halskrause, Hutkontur beziehen. Pierrots rechte Kontur verlängert mit dem herabgeführten Arm und dem vorgestellten Bein die Vorhangskontur nach unten.
54 Ergänzend sei angemerkt, daß schon Henri Loyrette im Pariser Cézanne-Katalog von 1995/96, S. 112, Baudelaires „zwei einander widersprechende Prinzipien" mit Cézannes Bild der „Tannhäuser-Ouvertüre" in Verbindung gebracht hat, und zwar in folgender Weise: „Cézanne, en lutte perpétuelle avec des deux .principes' comme le souligne toute son oeuvre des années 1860 et 1870, nous montre celle qui reprise et celle qui fait de la musique, celle qui semble vouée á une existance paisible et celle qui rêve la vie d'artiste. Élisabeth et Vénus - ou Marthe et Marie comme on voudra, mais on ignore laquelle a choisi la .meilleure part' - chacune dans leur monde, développent leurs talent dans le cadre étouffant d'un intérieur bourgeois. Mais pour l'heure la,musique de l'avenir', péniblement déchiffrée sur un petit piano droit, résonne encore dans le vide et ne semble soulever que les mille fleurs de la housse de chintz et les arabesques du papier peint." - Mir scheint, damit sind Baudelaires „zwei Prinzipien" nicht tief genug erfaßt.
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A b b . 13 Mardi G r a s , um 1888. Staatliches P u s c h k i n - M u s e u m für B i l d e n d e Künste, M o s k a u . R. 618
Die Raumsituation scheint sich vor unseren Augen zu verändern. Während wir dem Pierrot auf gleicher Augenhöhe gegenüberstehen, blickt Harlekin auf uns herab, und auch der nach oben gezogene Vorhang hinter ihm wendet uns seine Unterseite zu. Dieser Vorhang leitet entschieden nach rechts, ins Freie und stützt so die Bewegung des Harlekin, sein zugleich schüchternes und stolzes Schreiten. Harlekins rechte Kontur fuhrt nach unten, zum nach vorne gesetzten Fuß. Seine linke Kontur aber wendet sich zurück und nach oben, grenzt sich nachdrücklich ab von Pierrot. Um der Geschlossenheit der Gesamtkontur Harlekins ist sein zurückgesetzter Fuß derart lang. Auch kann er so eine Schrittlinie mit dem nach vorne stoßenden und sogar vom unteren Bildrand leicht überschnittenen Fuß bilden. So erinnert seine Fußstellung an die eines Seiltänzers, an einen, der seine Füße vor-, nicht nebeneinander setzen muß. Pierrot will die Pritsche Harlekins stehlen. Aber Harlekin könnte sich mit dieser Pritsche verteidigen. Ein kurzer Ruck mit der rechten Hand und Pierrot flöge sein Hut vom Kopf. Gespannte Aufmerksamkeit bestimmt das Antlitz Harlekins. Er lauscht, und Cézanne macht dies sichtbar durch das große Ohr des Harlekin. So vergegenwärtigt Harlekin das Leichte, Bewegliche, Reaktionsschnelle und eine Bewegung hin
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ins Freie, Pierrot aber, trotz seines weißen Gewandes, das Plumpe, Massige, an das Schwere Gebundene. Gerade das Lichte, Weiße wirkt hier schwer! Kurt Badt interpretierte die beiden Gestalten des „Mardi Gras" als Masken ftir Zola und Cézanne: Pierrot stelle eine Maske für Zola. Harlekin, Cézannes Sohn, vertrete ihn selbst, den Maler. Das Bild wäre eine Antwort aufZolas Roman „L'Œuvre", in dem Cézanne als Versager sich dargestellt finden mußte. Was geht vor? „Der von links heranschleichende Zola versucht dem vor ihm Gehenden das Zeichen seiner Würde zu entreißen, die Narrenpritsche, die als Pinsel des Malers zu verstehen ist. Jedoch die stolz triumphierende Haltung des Harlekin [Badt schreibt fälschlich: Pierrot] zeigt, daß dieser Anschlag mißlingen wird. Ungestört geht er seines Weges weiter, wie die Einzelwiederholungen des Harlekin-Bildnisses bezeugen. Dies ist Cézannes Gewißheit, die er ausdrückt und womit er das Kompromittierende von Zolas romanhafter Entstellung aufhebt." 55 Badts Deutung wurde von der Forschung nicht rezipiert. Weder Thedore Reff kommt auf sie zu sprechen in seinem Artikel „Harlequins, Saltimbanques, Clowns and Fools"56, noch Joseph Rishel im Katalog der großen Cézanne-Ausstellung Paris 1995/96, noch John Rewald 1996 in den betreffenden Eintragungen seines ŒuvreKataloges der Gemälde Cézannes, und Thomas Kellein meint in seinem materialreichen Band „Pierrot, Melancholie und Maske"57, Cézanne wäre es bei seinem Bild „wohl um einen formalen Versuch" gegangen. Ich bin nicht dieser Auffassung, halte es überhaupt für eine Verkennung der Kunst Cézannes, zu meinen, es gäbe in ihr, einige kleine Stilleben ausgenommen, bloß „formale Versuche". „Mardi Gras" ist das Ergebnis einer intensiven künstlerischen Arbeit und bis ins letzte durchgestaltet. Zur Beurteilung und Stützung der Badt sehen Deutung ist es nötig, auf die lange Tradition einer Identifikation des Künstlers mit dem Gaukler einzugehen. Wichtige Texte hierzu sind drei Essays von Jean Starobinski aus den Jahren 1967, 1970 und 197958. Eingangs schreibt Starobinski: „Seit der Romantik (doch gewiß nicht ohne einige Vorboten) sind der Narr, der Gaukler und der Clown die hyperbolischen und mit Absicht verzerrenden Bilder, die von sich selbst und von den Bedingungen der Kunst zu geben, den Künstlern gefallen hat. Es handelt sich dabei um ein verkleidetes Selbstbildnis, dessen Zeichenhaftigkeit die einer sarkastischen oder schmerzlichen Karikatur übertrifft. Musset, der sich in einer Beschreibung die Züge Fantasios verlieh; Flaubert, der erklärte: ,Was man auch davon halten mag, im Innersten meiner Natur steckt der Gaukler' (Brief vom 8. August 1846) ; Jarry, der sich in seiner Todesstunde mit sei-
55 Badt: Die Kunst Cézannes, S. 82. 56 Artforum, 19, No. 2, Oct. 1971, S. 3 0 - 4 3 . 57 München 1995, S. 65. 58 Zitiert nach: Jean Starobinski: Porträt des Künstlers als Gaukler. Dt. von Markus Jakob, Frankfurt/Main 1985. S. 10, 1 1 , 2 8 , 3 0 , 3 1 , 3 3 , 7 3 .
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ner parodistischen Schöpfung identifizierte: ,Père Ubu versucht jetzt zu schlafen'; Joyce, der verkündete: ,Ich bin weiter nichts als ein irischer Clown, a great joker at the universe'; Rouault, der wieder und wieder sich selbst unter der Schminke Pierrots oder des tragischen Clowns malte; Picasso inmitten seines unerschöpflichen Vorrats an Kostümen, Masken; Henry Miller, der über den Clown grübelte, ,der er ist, der er immer gewesen ist', — eine so beständig wiederholte, hartnäckig über drei oder vier Generationen immer wieder neu erfundene Attitüde erheischt unsere Aufmerksamkeit." „In der Literatur der Jahre zwischen 1830 und 1870 bildet sich zuerst, und im wesentlichen, der Mythos des Clowns heraus, dessen Ruhm später die Maler verbreiten werden." Starobinski erörtert Hauptwerke solcher Erhöhung des Clowns - es seien dabei nur die Schriftsteller herausgegriffen, deren Namen sich auch in den Briefen oder Gesprächen Cézannes finden. Zuerst bespricht Starobinski den 1842 verfaßten Artikel „Shakespeare im Funambules" von Théophile Gautier, einen Artikel über den Pierrot Jean-Baptiste Debureau im Pariser „Théâtre des Funambules", dem Theater der Seiltänzer. Gautier rühmt den Pierrot in seiner staunenerregenden Gelenkigkeit: Debureau „ging kopfüber, balancierte Leitern auf der Nasenspitze, trommelte sich mit den Absätzen auf den Nacken, tanzte auf Stelzen, beherrschte den Spagat und den Salto mortale - kurz, er war mit allen Wassern gewaschen und bewegte sich, als hätte er keine Knochen im Leibe". Für Théodore de Banville ist dann „die Leistung des akrobatischen Clowns das allegorische Äquivalent zum Schreiben des Dichters. Er versichert dies kühn im einleitenden sowie im abschließenden Gedicht seiner parodistischen Sammlung ,Odes funambulesques' aus dem Jahr 1857. Für ihn ist, wie für Gautier, die schwindelerregende Höhe die bevorzugte Dimension des Clowns; [...]. Der hyperbolische Aufschwung verleiht der Empörung des Dichters etwas von der glorreichen Attitude eines Triumphators: „[... ] Mais qu'il soit Un héros sublime ou grotesque; O Muse! Qu'il chasse aux vautours, O u qu'il dagne faire des tours Sur la corde funambulesque, Tribun, prophète ou baladin, Toujours fuyant avec dédain Les pavés que le passant foule, Il marche sur les tiers sommets O u sur la corde ignoble, mais Au-dessus des fronts de la foule."
[„Aber was er auch sei, ein erhabener oder ein grotesker Held; o Muse! Ob er Geier jage oder auf dem Hochseil des Artisten einen Bummel zu machen geruhe; ob als
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Tribun, Prophet oder als Komödiant, stets meidet er herablassend das Pflaster des gewöhnlichen Spaziergängers; er schreitet über famose Gipfel oder über das schäbige Seil - gleichviel: über den Häuptern der Menge."] In dem Gedicht mit dem Titel ,Le Clown' wird diese Überlegenheit durch die gewonnene Höhe ausgedrückt — durch das Emporschnellen im Sprung. Banville stellt sich die unwiderstehliche Eroberung des Raumes vor. Der Clown katapultiert sich, ungeachtet der ,Wunde, die an seiner Weiche klafft', hinauf in den Umkreis der Gestirne: „De la pesanteur affranchi, Sans y voir clair il eût franchi Les escaliers de Piranèse. La lumière qui la frappait Faisait resplendir son toupet Comme un brasier dans la fournaise."
[„Schwerelos hatte er, ohne auch nur darauf zu achten, über Piranesis Treppen hinweggesetzt. Das Licht, das ihn traf, ließ seinen Schöpf aufleuchten wie ein glühendes Scheit in der Hitze der Glut."] ,„Plus loin! plus haut! Je vois encor Des boursiers à la lunettes d'or, Des critiques, des demoiselles Et des réalistes en feu. Plus haut! plus loin! de l'air! du bleu! Des ailes! des ailes! des ailes!' Enfin, de son vil échafaud, Le clown santa si haut, si haut! Qu'il creva le plafond des toiles Au son du cor et du tambour, Et la cœur dévoré d'amour, Alla rouler dans les étoiles."
[„Weiter! Und höher! Noch seh ich Börsenspekulanten mit goldumränderten Brillen, Kritikaster, Fräuleins und eifernde Realisten. Höher! Weiter! Mehr Luft! Und Bläue! Flügel! Flügel! Flügel! Und endlich sprang der Clown auf seiner schäbigen Leiter hoch, so hoch! Daß er, unter Fanfarenschall und Trommelwirbel, das Zeltdach durchbrach — das Herz von Liebe verzehrt, so rollte er in die Sterne."] Eine Wende vollzieht sich mit Baudelaire. Starobinski schreibt: „Baudelaire war es, der die Motive, die bis hierher durcheinander gewürfelt vor uns auftauchen, zu höchster Dichte zusammengefaßt hat. [...] Baudelaire [...] hat dem Künstler in der Gestalt des Narren und des Gauklers die widerspruchsvolle Bestimmung zum Auf-
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stieg und zum Fall, zum Höhenflug und zum Abgrund, zur Schönheit und zum Unglück auferlegt." Belege dafür sind u.a. Baudelaires Gedicht „Der Albatros" und seine Prosagedichte „Une mort héroïque" und „Le vieux Saltimbanque". Das „Albatros"Gedicht lautet, wieder in der Prosa-Übersetzung von Friedhelm Kemp59: „Oft zum Zeitvertreib fangen die Seeleute sich Albatrosse ein, jene mächtigen Meervögel, die als lässige Reisegefährten dem Schiffe folgen, wie es auf bitteren Abgründen seine Bahn zieht. Kaum haben sie die Vögel auf die Planken gesetzt, so lassen diese Könige der Bläue unbeholfen und verlegen ihre großen weißen Flügel wie Ruder kläglich neben sich am Boden schleifen! Dieser geflügelte Reisende, wie ist er linkisch und schiaffi Er, einst so schön, wie ist er lächerlich und häßlich! Der eine neckt seinen Schnabel mit einer Stummelpfeife, der andere ahmt hinkend den Schwachen nach, wie er zu fliehen versuchte! Der Dichter gleicht dem Fürsten der Wolken, der mit dem Sturm Gemeinschaft hat und des Bogenschützen spottet; auf den Boden verbannt, von Hohngeschrei umgeben, hindern die Riesenflügel seinen Gang."
Das Prosagedicht „Le vieux Saltimbanque" lautet in Kemps Ubersetzung60: „Überall erging sich, ergoß sich, ergötzte sich das feiertägliche Volk. Es war eine jener Festlichkeiten, auf welche lange Zeit hindurch die Marktschreier, Gaukler, Tierbändiger und Budenbesitzer zählen, um die schlechten Zeiten des Jahres abzugleichen. An solchen Tagen, scheint mir, vergißt das Volk alles: Leid und Arbeit; es wird wie die Kinder. Für die Kleinen ist es ein freier Tag, auf vierundzwanzig Stunden sind sie dem Grauen der Schule entronnen. Für die Großen ist es ein Waffenstillstand, den sie mit den boshaften Mächten des Lebens geschlossen haben, ein Atemschöpfen in dem allgemeinen Ringen und Kämpfen. Selbst der Weltmann und der Mann der geistigen Arbeit können sich dem Eindruck eines solchen Volksfestes kaum entziehen. Auch sie atmen, ohne es zu wollen, von dieser Atmosphäre der Sorglosigkeit ihr Teil ein. Ich wenigstens, als ein echter Pariser, versäume es niemals, die Buden in Augenschein zu nehmen, die zu solchen Festzeiten die Schaulustigen locken. Sie machten sich freilich die fürchterlichste Konkurrenz; sie plärrten, kreischten, 59 Baudelaire, I.e. S. 17. 60 Baudelaire: Werke/Briefe, Bd. 8, S. 159-163.
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brüllten. Das war ein Getöse von Schreien, von schmetterndem Blech und berstenden Raketen. Hanswurst und Dummer August schnitten wilde Grimassen mit ihren von Wind, Regen und Sonne gebräunten und verhärteten Gesichtern; wie Komödianten, die ihrer Wirkung sicher sind, ließen sie Witze und Späße los, die der Komik Molières an Drastik und Schwerfälligkeit in nichts nachgaben. Auf ihre mächtigen Glieder stolz, mit fliehender Stirn und flachem Schädel, wie die Orang-Utans, brüsteten die Herkulesse sich majestätisch in ihren für diesen Auftritt am Vorabend frisch gewaschenen Trikots. Schön wie Feen oder wie Prinzessinnen sprangen und hüpften die Tänzerinnen im Schein der Laternen, die ihre Röcke mit Funken übersäten. Alles war nur Licht, Staub, Schreie, Freude, Tumult; die einen gaben aus, die anderen verdienten, beide gleichermaßen vergnügt. Die Kinder klammerten sich an die Röcke ihrer Mütter, um eine Zuckerstange zu bekommen, oder kletterten auf die Schulter ihrer Väter, um einen Taschenspieler besser sehen zu können, der wie ein Gott in tausend Farben gleißte. Und über allem schwebte, alle Düfte beherrschend, ein Geruch nach Schmalzgebackenem, der wie der Weihrauch dieses Festes war. Am Ende, am äußersten Ende der Zeile, der die Buden entlangstanden, erblickte ich, als hätte er sich schamhaft selber aus all diesem Glanz verbannt, einen armen Marktschreier, gebeugt, gebrechlich, altersschwach, ein Wrack von einem Menschen, der an einem Pfosten seiner Hütte lehnte; einer Hütte, die noch elender war als die des tierähnlichsten Wilden, und deren ganzen Jammer zwei tropfende, schwelende Kerzenstümpfe nur zu sehr erhellten. Überall die Freude, der Gewinst, die Verschwendung; überall die Gewißheit des Brotes für kommende Wochen; überall frenetisch überschäumende Lebenslust. Hier das völlige Elend, das Elend, das sich, um das Grauen voll zu machen, mit komischen Lumpen behängt hatte, bei denen die Not mehr als die Kunst den Kontrast bewirkte. Er lachte nicht, der Armselige! Er weinte nicht, er tanzte nicht, er gestikulierte nicht, er schrie nicht; er sang kein Lied, kein lustiges, kein klägliches, er bat, er flehte nicht. Stumm und reglos stand er da. Er hatte aufgegeben, er hatte abgedankt. Sein Schicksal war besiegelt. Doch welch tiefen, unvergeßlichen Blick ließ er über die Menge und die Lichter wandern, deren Brandung einige Schritte vor seinem abstoßenden Elend halt machte! Ich fühlte, wie die schreckliche Hand der Hysterie sich um meine Kehle spannte, und mir schien, meine Blicke wären von jenen widerspenstigen Tränen getrübt, die nicht fließen wollen. Was tun? Wozu den Unglücklichen fragen, welche Sehenswürdigkeit, welches Wundertier er in diesem stinkenden Düster, hinter seinem zerfetzten Vorhang, vorzuführen hätte? Um aufrichtig zu sein: ich wagte es nicht, und sollte der Grund meiner Scheu euch lachen machen, so gestehe ich doch, daß ich ihn zu demütigen fürchtete. Als ich mich endlich entschlossen hatte, im Vorbeigehn ein paar Münzen auf eines dieser Bretter zu legen, in der Hoffnung, daß er meine Absicht erraten würde, riß, ich weiß nicht durch welche Störung veranlaßt, ein heftiger Sog der Menge mich weit von ihm weg.
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Und, mich entfernend, versuchte ich, von diesem Anblick besessen, mir meinen jähen Schmerz zu erklären, und sprach zu mir: ,Was ich gesehen habe, war das Bild des alten Literaten, der die Generation überlebt hat, deren geistsprühender Unterhalter er war; des alten Dichters ohne Freunde, ohne Angehörige, ohne Kinder, erniedrigt durch sein Elend und den öffentlichen Undank; die Welt hat ihn vergessen, und niemand will seine Bude noch betreten." Bei Cézannes Verehrung der Werke Baudelaires ist anzunehmen, daß er auch dieses Prosagedicht gekannt hat. Er konnte sich darin wiedererkennen, in der Einschätzung, die Zola von ihm gegeben hatte, als einen, der „abgedankt hatte", dessen „Schicksal besiegelt" war. Aber er richtet mit seinem „Mardi Gras" ein Gegenbild dazu auf. Er macht Zola zum Pierrot, den, der gelenkig sein sollte, zum Aufschwung fähig, macht er schwerfällig und der Schwere verhaftet. Dem Harlekin, der mit dem Bildnis seines Sohnes ihn selbst vertritt, weist er den Schritt des Seiltänzers zu. Ihn läßt er aufwachsen, den ihn begleitenden Vorhang fuhrt er empor zur Höhe. Die literarische und die daran anknüpfende bildkünstlerische Tradition bekräftigt mithin entschieden Badts Interpretation des „Mardi Gras"-Bildes.61 Das Bild wurde 1890 von Victor Chocquet, Cézannes am engsten verbundenen Sammler, angekauft. 1904 kaufte es Sergej Iwanowitsch Schtschukin bei Durand-Ruel in Paris für seine Moskauer Sammlung. Es war unter allen Cézanne-Bildern seiner Sammlung dasjenige, das die meisten Reaktionen unter den russischen Künstlern hervorrief, wie Albert Kostenewitsch betonte.62 Wahrscheinlich haben sie gespürt, daß Cézanne hier ein die prinzipielle Situation des modernen Künstlers thematisierendes Selbstbildnis geschaffen hat. Bei der 1888/90 gemalten Wiederholung des Harlekins (100 χ 65 cm. Washington, National Gallery of Art. R. 620) ist die Ähnlichkeit mit Cézannes Sohn Paul aufgegeben. Das Blau des Hintergrundes läßt Himmel assoziieren und die Form und das silbrige Weiß der Mütze den Mond. Der Vorhang zieht nach oben, und auch die Farbflecken des Grundes steigen wolkengleich nach oben. Wie traumwandlerisch geht Harlekin vor sich hin. Ganz leise scheint er aufzutreten. Das bleiche Antlitz ist in Bläulichtönen modelliert. Es wirkt entrückt. Fuß und Vorhang werden von den Bildrändern überschnitten. So wird der Raum entgrenzt. Die Bodenzone artikulieren meist vertikale Farbstriche, die ihr die Erdenschwere nehmen. Dargestellt scheint ein „Arlequin lunaire". Was Paul Verlaine in seiner Gedichtfolge „Jadis et Naguère" 1884 von „Pierrot" sagte, wird hier, vergeistigt, von Cézanne aufgenommen:
61 Leider entgeht Starobinskis Aufmerksamkeit das „Mardi Gras"-Bild Cézannes. 62 Cézanne in Rußland. In: Die russische Avantgarde und Paul Cézanne. Ausst.Kat. H a m m 2002, S. 32/33.
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„Ce n'est plus le rêveur lunaire du vieil air Qui riait aux aïeux dans les dessus de portes; Sa gaité, comme sa chandelle, hélas! est morte, Et son spectre aujourd'hui nous hante, mince et clair. [...] Dies ist nicht mehr der Träumer, der im Mondenstrahl die Ahnen hat vergnügt im Rund von alten Toren. Sein Frohmut ging - wie seine Kerze - ach! verloren, und sein Gespenst nur sucht uns heim heut, hell und schmal. [...]" 63
G e r a d e diese M o t i v w i e d e r h o l u n g läßt das Stolze u n d Freie des „ M a r d i G r a s " - H a r l e kins u m s o deutlicher h e r v o r t r e t e n .
63 Nach: Paul Verlaine: Gedichte. Französisch mit deutscher Übertragung von Hanneliese Hinderberger. Heidelberg 1959, S. 212, 213.
KARTENSPIELER" UND „BADENDE"
Im Zeitraum zwischen 1890 und 1892 malt Cézanne zwei Fassungen von „Kartenspielern". Die wohl zuerst entstandene zeigt drei Spieler, einen Zuschauer und ein zuschauendes kleines Mädchen. Sie befindet sich in der Barnes Foundation, Merion, Pa. (135 χ 181,5 cm. R. 706). Der linke Spieler ist in einen braunen, nach Blau modulierten Anzug gekleidet, der mittlere in eine weißlich-helle Jacke, der rechte in einen schweren blauen, bräunlich aufgehellten Mantel. Hinter dem braunen linken Spieler steht ein Zuschauer in blauer Jacke und kräftig-rotem Halstuch, hinter dem rechten blauen senkt sich ein ein gelbbrauner Vorhang. So bestimmen die Klänge von Braun und Blau, Blau und Gelbbraun das Bild. Auch das Weiß des mittleren ist heilocker getönt; in hellem Braun sind bei ihm Weste und Hose gehalten. Beim Mädchen erscheinen Schwarz in Pullover und Haar. Die Wand ist hellgraublau, durchsetzt von Rosatönen, mit bläulich-bräunlichen Schatten vor allem hinter dem Stehenden. Ein dunkles, golden gerahmtes Bild betont, vom oberen Bildrand überschnitten, die vertikale Mittelachse. Rechts unter ihm hängen vier weiße Pfeifen. Etwa auf Höhe des Bildes ist links ein Bord angebracht, auf dem ein Milchkrug steht, beide von den jeweiligen Bildrändern überschnitten. Weißlich, von hellem Bräunlich getönt, ist der Tisch. Auf ihm liegt ein braunes Holzbrett, und darauf Spielkarten und eine weiße Pfeife. Es herrscht ein freies Gleichgewicht mit einer umkehrenden Bewegung von rechts nach rechts, zum Abschlußmotiv des mächtigen Vorhangs und dem von rechts einfallenden Licht entgegen. Eine zweite, beträchtlich kleinere Fassung, im Metropolitan Museum of Art, New York aufbewahrt, verzichtet auf das Mädchen (65 χ 81 cm. R. 707). Auch auf Bild und Bord mit Milchkrug verzichtet der Künstler nun. Andererseits trägt hier auch der mittlere Spieler einen Hut, und noch mächtiger ist das Einleitungsmotiv, sind die Falten des schweren Mantels beim rechts Sitzenden gebildet. Der stehende Zuschauer wird vom oberen Bildrand überschnitten. Auf dem Tisch fehlt das Holzbrett. Der Tisch neigt sich hier leicht von links nach rechts. Insgesamt ist von einer Konzentration der Figurenkomposition sprechen. Drei folgende, wahrscheinlich 1892 bis 1896 entstandene, beschränken sich auf eine Zweiergruppe von Kartenspielern, verdichten die figurale Gruppierung also noch weiter. Eine befindet sich in Schweizer Privatbesitz (97 χ 130 cm. 1892-93. R. 710), eine andere in den Londoner Courtauld Institute Galleries (60 χ 73 cm. 1893-96, R. 713), eine dritte im Musée d'Orsay (47 χ 56 cm. 1893-96. R. 714. Taf. 9). Fünf gemalte Studien, fünf Aquarellstudien (RW. 377, 378, 379, 380, 381) und vier Zeichnungen (Ch. 1092, 1093, 1094, 1095) begleiten diese Gemälde, bereiten sie vor, variieren die Gestalten. Eine gemalte Studie bezieht sich auf die Figur des Zuschauers in den ersten beiden Fassungen: Der „Mann mit Pfeife" (39 χ 30 cm.
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1892-93. R. 705) befindet sich in einer Privatsammlung. Eine Studie für den mittleren Kartenspieler der zweiten Fassung (32 χ 35 cm. 1890-92. R. 708) bewahrt das Worcester Art Museum auf. Der ehemaligen Sammlung Heinz Berggruen, nun dem Musée d'Orsay, gehört eine Studie zum rechten Sitzenden, dem Figurentyp und dem Hut nach zu schließen, bestimmt fur die Zweiergruppierungen der Kartenspieler (50 χ 46 cm. 1890-92. R. 709). Dem von links einfallenden Licht wenden sich der Kartenspieler, der in Braun und Blau modulierte Wandton rechts und das lichte, ins Weiß des Grundes sich öffnende Blau von Wand und Tisch entgegen. Eine Studie für den Kopf des linken Sitzenden der Zweiergruppen stellt das Bild in der National Gallery of Art in Washington dar (26 χ 20 cm. 1892-96. R. 711). Auch die Studie „Mann mit Pfeife" der Londoner Courtauld Institute Galleries (73 χ 60 cm. ca. 1896. R. 712) bezieht sich auf diese Figur, die sie nun aber frontal darstellt. Alle diese Werke zeigen, daß Cézanne seine Bilder von „Kartenspielern" aus Einzelstudien sorgfältig aufgebaut hat. In denselben Motivkreis gehören das Halbfigurenbild eines Bauern (55 χ 46 cm. 1890-92. Privatbesitz. R. 704), eine „Harmonie in Blau", die wohl 1891 entstandenen Halbfigurenbilder von „Rauchern" in der Kunsthalle Mannheim (92 χ 73 cm. R. 736. Taf. 10) und in der Eremitage St. Petersburg (91 χ 72 cm. R. 757), der zwischen 1893-96 zu datierende „Raucher" im Puschkin-Museum Moskau (91 χ 72 cm. R. 790), der „Stehende Bauer" der Barnes Foundation, Merion (80 χ 57 cm. ca. 1895. R. 787), anschließend an den stehenden Zuschauer der ersten beiden Fassungen, der „Bauer in blauer Bluse" des Kimball Art Museums in Fort Worth (80 χ 63,5 cm. ca. 1897. R. 826), der „Sitzende Bauer" im Museum von Hiroshima von ca. 1897 (55 χ 46 cm. R. 817), der „Sitzende Bauer" des Metropolitan Museum of Art in New York (54,6 χ 45 cm. 1898-1900. R. 827), der „Sitzende Bauer" von etwa 1900 im Pariser Privatbesitz (72 χ 58,5 cm. R. 852) und der „Sitzende Bauer", entstanden zwischen 1904-06 der National Gallery of Canada in Ottawa (90,8 χ 75,6 cm. R. 943), der überleitet zu den sieben Darstellungen des „Gärtners Vallier" oder ähnlicher Gestalten aus den Jahren 1902-1906, das Bild in Privatbesitz (107 χ 72,5 cm. R. 948), ganz in Dunkelheit zurückgenommen, das verwandte in der National Gallery of Art in Washington (197,4 χ 74,5. R. 949), das dunkle Bild im Schweizer Privatbesitz (100,3 χ 81,3 cm. 1902-06. R. 951), die lichten, frontal gezeigten sitzenden „Gärtner Vallier" der Londoner Tate Gallery (65,5 χ 55 cm. 1905-05. R. 950) und der Stiftung Sammlung E.G.Bührle, Zürich von 1906 (65 χ 54 cm. R. 953), der „Sitzende Mann" der SammlungThyssen-Bornemisza in Madrid (64,8 χ 54,6 cm. 1905-06. R. 952) und der nach rechts, dem Licht zugewandte „Gärtner Vallier" von 1906 in Privatbesitz (65 χ 54 cm. R. 954), sowie die vier Aquarellarbeiten RW. 638, 639, 640 und 641. Cézanne widmet diesem Thema mithin viele Werke über einen Zeitraum von eineinhalb Jahrzehnten hinweg. Worin liegt für ihn die Faszination dieses Motivs? Kurt Badt 1 deutete die „Kartenspieler" als „Cézannes Sieg über seinen Vater durch das in langsamer Arbeit herausgereifte Werk" - im Rückbezug auf eine frühe, im Komposi1
K. Badt: Die Kunst Cézannes, Zitate auf den Seiten 85, 74, 79, 88.
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tionellen ähnliche Zeichnung des Künstlers, die Badt interpretierte als „UgolinoZeichnung", und zwar als Umdeutung einer dantesken Szene: „Ein Vater, der seinen drei Söhnen und seinem Enkel das Haupt eines Unmenschen, der sie lange Zeit hat Hunger leiden lassen, zur Speise anbietet, ist ein in Cézannes Kopf geborenes Hirngespinst, zugleich aber eine grausame und widerliche Verzerrung einer berühmten Dante'schen Episode, der Geschichte Ugolinos, die im 32. und 33. Gesang des Inferno erzählt wird." Der Sinn dieser Zeichnung wäre: „Das Schicksal wird den .Sünder' ereilen, er wird nach seinem Tode in die Hölle kommen und ihm, dem Sohne, ausgeliefert werden, und zur Rache wird er, Cézanne, gleich Ugolino, sein Haupt verzehren, eben das Haupt, das den teuflischen Plan ersonnen hatte, ihn geistig verhungern zu lassen. Ihn und seine Kinder!" Und Cézanne „sieht seine Werke als seine Nachkommen." „Kartenspielen" versteht Badt als „Cézanne sches Symbol fur die Tätigkeit des modernen Malers". — Diese Deutung leuchtet mir nicht ein, wie ich schon in meiner Rezension des Badt sehen Buches im Wallraf-Richartz-Jahrbuch, Band XXI, Köln 1959, S. 263/264, betont habe. 2 Auch sind die „Kartenspieler" ja nur ein Motiv innerhalb einer ganzen Reihe anderer Darstellungen von Landarbeitern und Bauern. Vielmehr gründen auch die „Kartenspieler", wie Cézannes „Badende", in den Erinnerungen des Künstlers an seine Jugendzeit. Joachim Gasquet schreibt in seinem Cézanne-Buch 3 : „Durch sein ganzes Leben bewahrte er die Erinnerung an den vertrauten Umgang dieser glücklichen Tage, an diese ländlichen Streifzüge zu dem einfachen Volke und an die freie Natur. Immer wieder begann er die Bauern zu studieren, die groben Landleute mit ihrem roten Halstuch, dem schweren Blau ihrer Blusen, dem tückischen Funkeln des dunklen Weines in den Gläsern. Oft erscheint der Wein, das Brot in seinen Stilleben auf dem nackten Tisch feierlich verklärt wie von dem Glänze ländlicher Hymnen. Motive des Landlebens waren seine Leidenschaft. Zwanzigmal sah ich ihn in seinen Skizzenbüchern den Schnitter, den Sämann von Millet kopieren." Daß Cézannes Leidenschaft „Motive des Landlebens" waren, ist kaum bekannt. Es gibt auch nur wenige und seltsam anmutende Beispiele dafür. Eines ist das Bild „Landleben" („La Vie des Champs", 26 χ 33 cm, 1876-77. Privatbesitz Philadelphia. R. 282), das drei verschiedenartige Szenen nebeneinander aufreiht: ganz links ein städtisches Paar, eine schwarzgekleidete Dame, die eine Hand vor ihr Gesicht hält, und einen Herrn mit gelbem Strohhut, daneben einen Schimmel, der aus einem Eimer frißt, und davor einen sitzenden Bauern mit weißem Hemd und graublauer Hose, nahe der Bildmitte eine strack aufgerichtete bäuerliche Frau, einen Krug auf dem Kopf, einen anderen in ihrer Linken tragend, rechts einen viel kleineren Mann mit weißem Hemd und graublauer Hose, der sich an einem nicht 2 3
1980 wies auch Theodore Reff in seinem Artikel „Cézanne s .Cardplayers' and their Sources" Badts Interpretation zurück; in: Arts Magazine 55, Nov. 1980, S. 104-117, speziell S. 114-116. Zitiert nach der deutschen Ausgabe, Berlin 1930, S. 7.
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identifizierbaren Objekt, vielleicht einem Heuballen, abarbeitet. Ein schmaler Fluß trennt diese Vordergrundgruppen vom anderen Ufer. Hier steigt, hinter einem Uferrand mit Boot, ein Hügel empor, gekrönt von einem mehrteiligen, eingeschossigen Bau. Bäume rahmen die Szene links und rechts. Das Bild erstrahlt in hellen, fröhlichen Farben, in Gelb- und Grüntönen, in Weiß und Bläulich, mit einem roten Akzent nahe der Mitte und einem schwarzen links. 4 Ein anderes Beispiel sind „Les Moissonneurs" („Die Schnitter", „Die Mäher", ca. 1880, vielleicht auch später entstanden. 26 χ 41 cm. Privatbesitz Schweiz. R. 454). Die Landarbeiter machen Rast, gegliedert in zwei nahezu symmetrische Gruppen, in den Liegenden die Waagerechte betonend, im Stehenden links die Senkrechte, im Stehenden rechts beide Grundrichtungen, da er den ausgestreckten Arm reckt. Der Sitzende links neben ihm vermittelt gleichfalls zwischen Horizontaler und Vertikaler. Weit dehnen sich die Felder bis zur Kette der fernen Berge, so mit der Raumgliederung zugleich eine solche der Fläche gewinnend. Gasquet erwähnt Cézannes Studium des „Schnitters" und des „Sämanns" von Millet. Cézannes Bewunderung fur Bilder von Jean-François Millet gründete im Thematischen wie im Künstlerischen. Millets „Mann mit der Hacke" (1863, ehem. San Francisco) steht, als Dunkelsilhouette aufragend und seine Arme aus der Schräge zur Waagrechten führend, vor der dunklen Weite des Feldes. Diese Figur hat Cézanne gezeichnet. Sie erinnert an den Sich-Reckenden der „Mäher". Millets „Sämann" von 1850 (100 χ 82 cm. Museum of Fine Arts, Boston) bildet in ähnlicher Weise eine dunkelfarbige, das Dreieck umspielende Silhouette vor hellem, weißbläulichem, sich nach oben hin verdunkelndem Himmel. Cézannes Studie nach Millets „Schnitter" von ca. 1900 (21 χ 12,7 cm. Bleistift/Papier, New York. Ch. 1213) zeigt eine Rückenfigur in vergleichbarer Monumentalität aus Schräge und Gegenschräge komponiert. Als Einzelfiguren seien angefügt: „Der Gärtner" von etwa 1885 (63 χ 53 cm. Barnes Foundation, Merion. R. 525), den Zonen aus Laub und Asten wie eine Aura umgeben, und „Der Trinker" von 1898—1900 (45,7 χ 37,5 cm, ebenfalls im Besitz der Barnes Foundation. R. 818), der auf Gasquets Formulierung vom „tückischen Funkeln des Weins" verweisen mag. Gasquet fährt fort: „Einer der Vorwürfe, die ihn am längsten beschäftigten, und den er nach vielen Versuchen und geistreichen Studien endlich verwirklichte, war eine Gruppe von Kartenspielern in einem Gehöft des Jas [de Bouffan], vor dem Mantel eines einfachen Kamins, Leute in schäbigen Kleidern, um eine Flasche Wein, auf Bauernstühlen, ein junges Mädchen - war es seine Jugend im lichten Kleid? — sah ihnen zu und bediente sie. Es war eines seiner schönsten Bilder. Er kam in ihm seiner ,Formulierung', die ihm immer zu entgleiten drohte, am nächsten. Der ganze be-
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Joseph Rishel erinnert im Katalog der Pariser Cézanne-Ausstellung 1 9 9 5 / 9 6 an die französische Tradition von Pastoraldarstellungen (I.e. S. 1 6 4 ) .
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scheidene Glanz des Jas, die ganze virgilhafte Seele des Malers, halten hier für immer Zwiesprache." Später berichtet Gasquet von einem Besuch Cézannes im Museum von Aix: Er blieb „vor den Kartenspielern stehen, die [Mathieu] Le Nain zugeschrieben werden [gemalt 1635/40]. - ,So möchte ich malen! . . . ' E r führte mich oft vor dieses Bild. Man sieht eine Wachtstube, darin ein paar Soldaten, ein Alter, der seine Börse zuzieht, und ein anderer, jung und blond, im Küraß, in gezierter Haltung; bei einer Flasche Wein beenden sie ihre Partie. — ,So möchte ich malen! ... ' Steckte hinter den Worten des alten Malers eine naive Ironie? Mir schien das Bild mittelmäßig. Cézanne hatte in der hellen Küche seines Gehöftes ebenfalls Kartenspieler gemalt, aber ganz anders breit, fest und wirklich, im Gegensatz zu diesen rauchigen Tönen, mit einer ganz anders lebendigen, gefühlten, durchdringenden Farbe.[...]" 5 Mit solcher Charakterisierung sagt Gasquet das Entscheidende im Verhältnis zu dem Mathieu Le Nain zugeschriebenen Bilde. Im Kapitel „Das Alter" erwähnt Gasquet den Philosophen Georges Dumesnil — auf den zurückzukommen sein wird — und berichtet von Cézannes Charakterisierung dieser Person mit den Worten: „Er ist sehr klar und sehr herzhaft, französisch. Man fühlt sich belebt, wenn die Arbeit nicht fleckt, in dem Gedanken, daß neben einem, in derselben Stadt, ein Kerl wie er über seinen Arbeitstisch gebeugt ist." 6 Erstaunlicherweise geht Gasquet dann bruchlos von der geistigen Arbeit über zur körperlichen und fährt fort: Cézanne „liebte diese Idee der Gemeinsamkeit in der Arbeit. Vor seinem Atelier in der Boulegon-Straße arbeitete eine große Eisenwerkstatt; oft stieg er des Abends hinunter, setzte sich in eine Ecke bei der Schmiede. Er war in Nachdenken versunken bei dem Atem der Arbeit, im Angesicht der Bewegung der Männer. Er verfolgte ihre tanzenden Schatten auf der Wand. Manchmal entwarf er in wenigen Zügen die im Fluge erhaschte Strophe eines Hymnus auf den Schweiß und die Arbeit. , — Rührt euch nicht', rief er mit Donnerstimme ... ,Eine Minute!' Er bedeckt sein Blatt mit knappen Strichen, dann ließ er plötzlich von seiner Arbeit ab und versank wieder in seine Schüchternheit. Er warf ein Geldstück auf den Amboß:,Trinken Sie auf meine Gesundheit ...' Und mit gesenktem Kopf eilte er davon, an den Arbeitstischen vorbei. Man sah ihn einige Tage nicht wieder. Alle Arbeiter liebten ihn sehr. Die Leute aus dem Volke haben ein dunkles Gefühl für jede Meisterschaft, und wenn mit dieser geheimen Autorität sich wie bei Cézanne noch die Einfalt und die Güte vereinen, so sind sie bereit zu jeder Ergebenheit. Ich habe einen dieser Schlosser dem alten Meister von weitem folgen sehen, als er von Hause fortging, um ihn, ohne daß er es gewahr wurde, von den Straßenjungen zu befreien, die sich damit vergnügten, ihn durch Hohngeschrei in Aufregung zu versetzen."7 Aus diesen Zeilen wird etwas von der existenziellen Nähe Cézannes zu diesen einfachen Menschen ahnbar, 5 6
Gasquet: Cézanne, I.e. S. 16. L.c. S. 85.
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sie geben einen Hinweis auf Cézannes Motivation zu seinen Bildern dieser Thematik, die nicht „Symbol" für irgend etwas anderes sein wollen, noch weniger bloß „formale Studien" sind, sondern Darstellungen gerade dieser einfachen Menschen in ihrer Würde und Größe. Cézannes unvollendetes kleines Bild „Le Foreur" („Der Bohrarbeiter", von 1 8 7 3 - 7 3 . 1 8 x 1 5 cm. Barnes Foundation. R. 229) mag diese Seite der Cézanne'schen Kunst beleuchten. Und an einer wieder späteren Stelle, kurz vor Ende des Kapitels, schreibt Gasquet: „So gering er den emporgekommenen Bürger schätzte, so sehr achtete er den geborenen Aristokraten. Aber seine wahre Leidenschaft galt dem Volke, dem Arbeiter, dem Bauern, dem Tagelöhner. Er ging eigentlich nur mit ihm um. Alle haben ihm ein liebevolles Andenken bewahrt. Er war zu ihnen von einer wahrhaft königlichen Hochherzigkeit, und nicht nur mit dem Geldbeutel, sondern vor allem mit dem Herzen und der Seele. Er hätte gerne seine Empfindungen mit ihnen geteilt, wie er sie in sein Werk eingehen ließ." 8 So ist es alles andere als ein Zufall, daß gerade die „Kartenspieler" als die monumentalsten, strengsten Bilder Cézannes in Erscheinung treten und ihre Wirkung tun. Henri Matisse berichtet über Sergej Schtschukin, den großen russischen Sammler, der schon 1903 ein Stilleben Cézannes fur seine Moskauer Sammlung kaufte, dem später weitere Werke folgen sollten: „In Paris besuchte er am liebsten die ägyptische Galerie im Louvre. Er entdeckte da stets Ähnlichkeiten mit den Bauern von Cézanne." (,A Paris, son passe-temps favori était la visite des antiquités égyptiennes au Louvre; il y décrouvrait des parallèles avec les paysans de Cézanne." 9 ) Fritz Burger vergleicht in seinem Buch „Cézanne und Hodler. Einführung in die Probleme der Malerei der Gegenwart"10 Cézannes „Kartenspieler" [die Fassung mit vier Figuren im New Yorker Metropolitan Museum of Art. R. 707] mit den damals als Bild Caravaggios angesehenen, seitdem als Werk von Valentin de Boulogne erkannten „Falschspielern" in der Dresdner Gemäldegalerie: „In keiner seiner figürlichen Darstellungen erscheint Cézanne so sehr als Klassiker wie in den mehrmals gemalten Spielern'. Caravaggios Bild in Dresden wirkt daneben wie ein Räuberroman neben einem Heldenepos. Caravaggio war ein Feind der ,Römlinge', denn er haßte das akademische Bauen. Daher die schroffen Kontraste in den Konturen, der unglücklich sich verkürzende Tisch mit den ohne Rücksicht auf die Raumgrenzen verteilten Gestalten links und rechts, das grelle Licht auf den Gesichtern vor dem Halbdunkel des Hintergrundes." „Cézanne erzählt kein Drama, sondern etwas Alltägliches, aber ohne Banalität, vielmehr mit einem Ernst, der Distanz gebietet. Zunächst imponiert die straffe Zucht im Aufbau, der nüchterne Ernst der Bildlogik: der helle Tisch in der Mitte, fast feierlich über dem Bildrand emporsteigend, die großen Gestalten zwanglos darumsitzend, 8
L.C.
S. 91.
9 Henri Matisse: Écrits et propos sur l'art. Texte, notes et index établis par Dominique Fourcade. Nouvelle édition revue et corrigée. Paris 1972, S. 118. 10 Zweite Auflage. München 1918, S. 7 9 - 8 1 .
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aber doch streng zusammengeschlossen und jede in fast patriarchalischer Würde ein monumentales Gebilde fur sich. Der Mantel des Sitzenden rechts erinnert an die biblischen Helden Masaccios mit ihrem posenfreien Ernst und ihrer Verschlossenheit. Nirgends wirkt das Stoffliche in seiner gegenständlichen Einzelheit. Alles weiß die Farbe zu vergeistigen. Aus dem alltäglichen Vorgang macht Cézanne ein Monument. Die Einfachheit besitzt hier eine vornehme Größe, die manchen mit Rücksicht auf den Gegenstand fremdartig berühren mag. Es lag nahe, hier die philiströse Behaglichkeit des kleinen Mannes oder die Brutalität des ungezügelten Lebens zu schildern. Aber es kam Cézanne darauf an, sich von jeder Milieuschilderung ferne zu halten. Keine der dargestellten Gestalten ist irgendwie näher charakterisiert und dasselbe gilt ftir die Räumlichkeit. [...] Das Licht sondert sich hier nicht in klaren Grenzen nach Hell und Dunkel, um körperliche Einzelheiten zu formen. Es ist überall und nirgends. Man muß auf Rembrandt zurückgehen, um Analogien im Prinzip zu finden. Hinter jeder Gestalt wird der große Ernst der ruhigen, künstlerischen Überlegung fühlbar: die rechts sitzende Gestalt, ein schwerer Koloß, die linke, schwächliche, etwas in den Hintergrund und nach aufwärts gerückt und die sitzende Gestalt dazwischen, farbig mit dem Tisch harmonierend, die Vermittlerin zwischen beiden. Der Gesichtsvorstellung des Künstlers entsprechend erscheint unter Lockerung der strengen Symmetrie der ideale Standpunkt des Beschauers stark nach rechts verschoben, wodurch das Auge unmerklich nach der Tiefe und Höhe geleitet wird. (Man beachte besonders, daß der schrägstehende Stuhl in Aufsicht gegeben ist und so die Kontur der Lehne nach oben geführt und an die steilen Silhouetten der stehenden Figur assimiliert wird.) [...] Keine Einzelheit lenkt die Aufmerksamkeit auf sich, nur das Schweigen waltet im Räume über den tiefgesenkten Köpfen, das tätige Schweigen, von dem Maeterlinck sagt, daß sich in ihm die großen Dinge bilden. Wozu Kartenspieler, wenn man so Großes schildern will? Aber das Große liegt nicht immer über den Großen. Cézanne sieht es überall, auch im Nichtigsten, im Alltag. Was Cézanne von der Renaissance unterscheidet, liegt eben darin, daß er ohne Mimik und Geste diesen Eindruck von Größe zu gestalten weiß. Fra Angelico und die mittelalterlichen Mystiker sahen Engel im Sternengewand dem goldenen Glanz des fernen Himmelslichtes zustreben, wenn sie an die Ewigkeit als das Land der Seligkeit dachten. Für uns Moderne liegt die Ewigkeit nicht im Jenseits, sondern im erforschten Diesseits. Das rasende Getriebe des Lebens formt in uns eine Sehnsucht nach Idealen, die andere Zeiten nie gekannt haben: nach Ruhe und Schweigen und dem heiligen, unbegreiflichen Nichts, in dem das Geschehen selbst sich auflöst. So erfaßt Cézanne die Natur auch im banalsten Gegenstand. Er ist weder ein sozialistischer Dramatiker, noch einer von denen, der der eitlen Menschheit von ihrer Schönheit und Größe erzählt. Cézannes Gestalten mögen Kinder des Alltags sein, sein Bild ist eine Welterkenntnis." Roger Fry11 beschreibt dasselbe Bild mit folgenden Worten: „It is hard to think of any design since those of the great Italian Primitives — one or two of Rembrandt's la11 Cézanne. A Study of his Development. London 1927, 2.Aufl. 1932. S. 72, 73.
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ter pieces might perhaps be cited — which gives us so extraordinary a sense of monumental gravity and resistance — of something that has found its centre and can never be moved, as this does. And yet there is no demonstrative emphasis on such an idea, it emerges quite naturally and inevitably from a perfectly sincere interpretation of a very commonplace situation. When one thinks of all the attempts that were made in the the nineteenth century by Chassériau, Puvis de Chavannes and Watts to attain this monumental quality, we get a measure of Cézanne's greatness when we see that he alone really succeeded. He alone was sincere enough to rely on his sensations and abandon all efforts at eloquence or emphasis." Und zur zweifigurigen Fassung der „Kartenspieler", die sich nun im Pariser Musée d'Orsay befindet (R. 714. Taf. 9), schreibt Fry: „The simplicity of disposition is such as might even have Giotto hesitate to adopt it. For not only is everything seen in strict parallelism to the picture plane, not only are the figures seen in almost as strict a profile as in an Egyptian relief, but they are symmetrically disposed about the central axis. And this again is, as it were wilfully, emphasized by the bottle on the table. It is true that having once accepted this Cézanne employs every ruse to render it less crushing. The axis is very slightly displaced and the balance redressed by the slight inclination of the chair back and the gestures of the two men are slightly, but sufficiently varied. But it is above all the constant variation of the movements of planes within the main volumes, the changing relief of the contours, the complexity of the colour, in which Cézanne's bluish, purplish and greenish greys are played against oranges and coppery reds, and finally by the delightful freedom of the handwriting that he avoids all suggestion of rigidity and monotony. The feeling of life is no less intense than that of eternal stillness and repose. The hands for instance have the weight of matter because they are relaxed in complete repose, but they have the unmistakable potentiality of life. This figures have indeed the gravity, the reserve and the wighty solemnity of some monument of antiquity. The little café becomes for us, in Cézanne's transmutation an epic scene in which gestures and events take on a Homeric ease and amplitude." Die Ubereinstimmung mit Burgers Beschreibung ist erstaunlich. Fry geht stärker auf Cézannes Farbe ein und betont zurecht auch die Lebendigkeit in Cézannes Bildern: „The feeling of life is no less intense than that of eternal stillness and repose." Diese Wahrnehmung muß eingehen auch in eine Aussage zu Cézannes Bildern als „Welterkenntnis", zu der Fry jedoch nichts beiträgt. Die von Fry angesprochene „Lebendigkeit" ist näher zu bestimmen. Bei den zweifigurigen Fassungen der „Kartenspieler" (R. 710, 713; Taf. 9 zeigt, wie erwähnt, die Fassung im Musée d'Orsay, Paris, R. 714) ist jeweils die rechts sitzende Figur heller als die linke. Sie wird hinterlegt von aufsteigenden Vertikalen. Die Horizontale eines Fensterbords senkt sich, in Höhe der Gesichter der beiden Spieler, leicht nach links. Nach links neigt sich auch der Tisch mit seiner Decke, nach links neigt sich die Flasche auf dem Tisch. Das Licht fällt von links auf die Bildgegenstände. Diese drängen also dem Licht entgegen, wie auf den Stilleben und den Landschaften Ce-
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zannes. Die helle Jacke des Rechten nimmt dieses Licht in seine Farbigkeit auf. Er ist auch in seiner Haltung der Angespannte, Aktive, der Linke der Gelassene, Verhaltene. In ihm kommt die Bildrhythmik zum Abschluß, in seiner Dunkelheit, seiner aufrechteren Haltung, die von der hohen Stuhllehne noch betont wird. Charakteristisch verschieden zeigen sich auch die Zipfel der Tischdecke: der rechte steigt schräg empor, der linke schließt mit Senkrechten. Die helle rechte Gestalt öffnet sich zunehmend zum rechten Bildrand. Das Bild als ganzes öffnet sich hier, gewährt dem betrachtenden Blick Einlaß und führt das Auge in Haltungen und Rhythmen nach links, zum Bildschluß und dem Licht entgegen. Der Bildraum als ganzer ist bewegt, seine Bewegung aber empfängt er von der Figur und ihrem und aller Dinge Bezug zum Licht. Zugleich erscheinen die Dinge, die durch das Fenster sichtbar werden, immer stärker als naturhafte Elemente. Der Bezug von Mensch und Natur vertieft sich, und dies verbindet die Landarbeiter und Bauern mit den „Badenden". Auch bei anderen, ja bei jedem Bild Cézannes ist eine Spannung zwischen „Ruhe" und „Lebendigkeit", „Stillness and Life" zu erkennen. Beim „Pfeifenraucher" der Mannheimer Kunsthalle (92 χ 73 cm. 1890 oder 1891. R. 756. Taf. 10) wird der Bildaufbau gleichfalls von der Figur aus bestimmt. Als einsame hebt sie sich ab vom Hintergrund. In großer Kurve steigt rechts der eingestützte Arm zur Schulter empor. Den Ansatz bildet die Hand rechts unten in grauüberflortem Ockerbraun. Im graubläulich-hellen Hintergrund betont eine bräunlichblaue Schraffenlage den Zug nach oben. Die Kurve des Hutes nimmt die der Schulter auf und schließt die Figur in Brauntönen nach oben ab. Das reichmodellierte Antlitz ist mit ocker-rot-bräunlichem Inkarnat über bräunliche Mitteltöne nach tiefem Braun klar und entschieden moduliert. Der aufgestützte Arm wird im Armel nach links hin bläulicher. Daraus wachsen Unterarm und Hand, anhebend mit Grau- und Graubläulichtönen, und dann bräunlicher werdend. Der Anzug ist dunkelfarbig, in bräunlich moduliertem Dunkelgrau gehalten; Weste und Hose sind etwas bräunlicher. Die Neutralfarben erhalten bei Cézanne eine zuvor unbekannte Individualität und Differenzierung. Der Arm stützt sich auf eine braunrote, geometrisch gemusterte Tischdecke, die in ihrer Raumgestalt schwer zu lesen ist. Bei der horizontalen Richtungsunterbrechung handelt es sich um den nach unten hängenden Rand der Dekke. Nicht zufällig wird die Gestalt des Rauchers prägnanter, eindeutiger gezeigt als das Mobiliar. Ähnlich verhält es sich mit der Zone oben links, einem vertikalen Streifen in dunklem Grau, wohl einem Ofenrohr, auf einer dunklen, bräunlichen Horizontalzone, wohl einem Kaminsims, und einem halben weißen Oval. Diese Elemente erscheinen, wie auch die Tischdecke, „abstrakter" als die menschliche Gestalt. Deren Geometrisierung bleibt eine verborgene, wirkt sich vor allem aus in der Korrespondenz aller Bildteile mit dem Ganzen des Bildes. Diese verborgene Geometrie wird getragen von der Einfachheit der Konturen und Binnenkonturen, die doch andererseits ganz dem leiblichen Rhythmus folgen. Die Einfachheit der Farben, der Klang von Grau, als Blaugrau und Braungrau, und Rotbraun, aber in mannigfaltigster Stufung, entspricht auf das Vollkommenste dieser leiblich bestimmten Geometrie. Immer wie-
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der kehrt der Blick zurück zum Antlitz, wird gefangen vom Blick des Mannes aus dunklen, schwärzlichen Pupillen. Festigkeit, Selbstbewußtsein, Distanz, aufgestaute Kraft bekunden sich darin. Das stehende weiße Dreieck des Hemdausschnitts führt hin zum Antlitz, wie auch die von einem Schattensaum begleitete Vertikale vom linken Kontur der Weste, als Mittelachse des Bildes. Der wohl 1893/96 gemalte „Pfeifenraucher" des Moskauer Puschkin-Museums (91 χ 72 cm. R. 790) ruht ebenfalls in sich, schlank und groß, und wird zugleich durchzogen von einem überfigürlichen Rhythmus, der den ganzen Bildaufbau bestimmt. Wieder führt eine lange Kurve rechts entlang des Arms nach oben, aufgenommen und variiert von der rechten Kontur des dunklen, grünblauen Vorhangs, der die Figur in ihrer Partie von Kopf, Schulter und aufgestütztem Arm foliiert. Der Ansatz dieses Armes am Körper wird ausdrücklich gezeigt, wird nicht von der Vorhangfolie verdeckt, vielmehr erscheint ein helles, bläulichweißes Dreieck, begrenzt von Arm, Oberkörper und Tischkante: ein Hinweis darauf, welchen Wert Cézanne auf die anschauliche Integrität der menschlichen Bewegung legte. Diese Bewegung ist, trotz des aufgestützten Armes, eine leichte, gelöste, aufwärtsstrebende. Bezeichnenderweise lösen sich gerade dort, wo der Ellbogen auf der Tischplatte schwer auflasten müßte, die Konturen der Armeis auf, öffnen sich zum hellen Grenzsaum der linken Vorhangskontur, der in ganz sachte nach links geneigter Vertikale nach oben fuhrt. Die bläulichen Schrägstreifen im weißlichen Grund links vom Vorhang akzentuieren diese Aufwärtsbewegung. Nichts Lastendes ist diesem Bilde eigen. Dies unterstreicht auch die wie ein Dunkelschleier wirkende Zone zwischen den Tischbeinen in Verlängerung des Vorhangs nach unten. Anschauliche Entschwerung teilt sie mit. Der Tisch selbst wirkt perspektivisch eigenartig verzerrt. Er scheint sich nach außen gleichzeitig zu verbreitern — in der Tischplatte — und zu verjüngen — in dem nach unten fallenden Teil des Tischtuches. Das purpurbraune, in sich abgestufte Tischtuch wird durch Schrägstreifen geometrisch strukturiert. Ein angeschnittenes dunkelbraunes Viereck in der unteren Bildecke links kann wohl nur als Aufsicht auf einen Hocker verstanden werden. Raumspannung, Raumweitung herrscht an dieser Bildstelle, bedingt durch die Haltung der menschlichen Figur. Und wiederum zeigt sich, daß das Mobiliar „abstrakter" gestaltet ist als die menschliche Figur.12 Die Dunkelfarbigkeit des Anzugs ist, reicher noch als beim Mannheimer „Raucher", in sich differenziert nach dunklem Rotbraun in den Schatten, mittelhellem Blaugrau meist in den Lichtpartien, vielfach farbig und den Helldunkelwerten nach in sich abgestuft und zu einem sonoren Klang von Rotbraun und Blaugrau sich vereinend. Der Hemdausschnitt nimmt die lichten Graublautöne des Grundes auf. In Rötlich-Hellbraun mit rötlichbraunen und blaugrauen Schatten ist das Antlitz modelliert, gewinnt darin seinen herrlich gelösten, sinnenden Ausdruck. 12 Vgl. mit diesen Beschreibungen das Diagramm zu Cézannes „Mann mit verschränkten Armen" (R. 850) bei Erle Loran: Cézanne s Composition. Analysis of His Form with Diagrams and Photographs of His Motifs. Berkely and Los Angeles. Third Edition 1963, S. 91.
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Ein Einleitungsmotiv bildet rechts oben das Fragment eines Bildes Cézannes, das Fragment des Porträts seiner Frau, das sich nun in Detroit befindet. Mit seinen Bläulich-, Rötlich- und Gelblichtönen schließt es sich farbig zu einer zarten, andeutenden Variation der Grundfarbentrias zusammen. Was kann es bedeuten, daß hier ein Porträt von Madame Cézanne im Hintergrund erscheint? Ist eine andere Deutung möglich, als die, Cézanne habe sich mit dem hier Dargestellten identifiziert? Auch auf anderen Darstellungen von Bauern erscheinen Bilder Cézannes im Hintergrund, so etwa beim „Bauer in blauer Bluse" von etwa 1897 (Fort Worth. R. 826) eine weibliche Gestalt mit Sonnenschirm aus einem Wandschirm (R. 1 ), den der Künstler wohl 1859 für das Arbeitsszimmer seines Vaters im Jas de Bouffan gemalt hat. Die Frau wendet sich dem Bauern zu. Der „Sitzende Bauer" der Eremitage, St. Petersburg (ca. 1891. R. 757) zeigt auf der Wand das frühe Stilleben, das sich in der Berliner Nationalgalerie befindet (R. 138, das Stilleben mit der dunklen Flasche und den drei Früchten) und die untere Zone der „Badenden" von etwa 1890/91 (54 χ 65 cm. Eremitage St.Petersburg. R. 748). Erneut wird so eine Brücke vom „Bauer" zu den „Badenden" geschlagen. Und, um dies nur noch anzudeuten, zu den „Badenden", als den naturzugewandten Menschen, ergibt sich auch ein Weg von einem Bild wie der „Ernte", „La Moisson" (45,7x 55,2 cm. Ca. 1877. Privatbesitz Japan. R. 301). Das Bild hatte Gauguin gekauft und vor seiner Abreise nach Martinique, im Frühjahr 1887, dem Pariser Kunsthändler Alphonse Portier gegeben, wo es Vincent van Gogh sah und von ihm beeindruckt war. Es ist offenbar nicht nach einem „Motiv" gearbeitet, sondern frei komponiert. Ein Schnitter arbeitet in einem Kornfeld, ein anderer ruht sich auf der Erde aus, ein dritter sitzt, eine Frau hockt rechts, neben einem Baum, auf einem Grashaufen, zwei andere Frauen bündeln die Garben in der Ferne. Dem rechten Baum entspricht ein Baum links. Hinter der ockergelben Zone des Kornfeldes wächst, in Okker und Grün, ein Berg empor, gekrönt von einer Kirche mit ihrem Turm. Weiße Wolken steigen vor blauem Himmel auf. Schon van Gogh fühlte sich an eine Landschaft der Provence erinnert. Allerdings konnte kein bestimmter Ort als Motiv ermittelt werden. So ist an einen Bezug zu einem Werk Poussins zu erinnern, zu Poussins Bild „Der Sommer: Ruth und Boas", aus dessen 1660/64 gemalter Jahreszeiten-Folge im Louvre. Mehrmals kommt Gasquet13 zu sprechen auf Cézannes Versuche, „Poussins .Ernte' auf seine Art zu malen" und beschreibt ein ähnliches Bild wie das der „Ernte": „Er denkt an das Bild der Ernte. Er malt in einer sehr weit getriebenen Skizze, von der die Sammlung Bernheim jeune eine Wiederholung besitzt, poussinhaft, aber in Wahrheit getreu nach der Natur der Felder in der Umgebung des Jas einen biblischen Acker, halb abgeerntet, im Vordergrund eine Gruppe von Landleuten, die im grellen Sonnenschein ruhen, essen und trinken. Eine Frau wartet ihnen auf. Sie sind in Hemdsärmeln und Strohhüten. Einer erhebt mit den bloßen Armen eine große Flasche zum 13 Cézanne. Deutsche Ausgabe 1930, S. 54, 89, 57.
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Trinken, und mit zurückgelegtem Kopf schlürft er einen langen Schluck Wein. Ein großer Baum erhebt sich, eine gekrümmte Kiefer. Weiter versinken andere Mäher in dem hohen Getreide, und die gelbe Woge umbrandet unter dem tiefblauen Himmel die wohlgeordneten Hügel, die ein Schloß, das Landhaus des,Teufels' [also das .Château Noir'] überragt. Hierher kehrte Cézanne zurück, er mietete es in seinen letzten Jahren, begeistert von der hohen Fassade, die den Kiefernwald des Tholonet beherrscht."
„Badende" Die „Badenden" stellen die größte Gruppe der Cézanne'schen Figurenkompositionen dar. 79 Gemälde, 39 Aquarelle und 102 Zeichnungen sind ihr zuzuzählen. Bilder Cézannes von „Badenden" wurden Gegenstand wilder freudianischer Spekulationen über Cézannes ungeordnetes Sexualleben. Darauf ist zuerst kurz einzugehen. Ein erster Beitrag hierzu erschien 1962 von Theodore Reff unter dem Titel „Cézannes Bather with outstrechted arms".14 Eine um 1874/77 geschaffene Zeichnung Cézannes aus dessen in Chicago aufbewahrtem Skizzenbuch dient dem Autor als Schlüssel fur die Deutung eines Komplexes von insgesamt 23 Werken Cézannes — Gemälden und Zeichnungen — eines „Badenden mit ausgestreckten Armen", alle zwischen 1875 und 1885 entstanden, in denen sich Cézanne selbst dargestellt habe als „an image of his own solitary condition". Reff erkennt als „hidden meaning" dieser Werke einen „antagonism of sensuality and constraint". Um welchen Konflikt es konkret geht, erschließt der Autor aus der Beobachtung, daß bei der erwähnten Zeichnung der ausgestreckte Arm mehrfach überzeichnet ist und deutet dies folgendermaßen: „It is permitted to suppose that these eccentricities result from an upward displacement of sexual energy, the raised arm standing for the penis, which is itself drawn in an erected position." „[...] the lowered arm held rigidly away from the thigh, the clenched hand frozen near the erected penis, it is almost certainly an expression of anxiety and guilt about masturbation." Meyer Schapiro weiß über die sexuelle Energie und Frustration Cézannes noch nicht so genau Bescheid. Immerhin kann er in seinem 1968 veröffentlichten Aufsatz „The Apples of Cézanne: An Essay on the Meaning of Still-life" 15 alle Apfelstilleben Cézannes in ihrer verborgenen erotischen Bedeutung „enthüllen". Er beschreibt u.a. des „Stilleben mit Cupido-Statue", gemalt etwa 1895, aufbewahrt in den Londoner Courtauld Institute Galleries (R. 786), mit der Gipsstatuette von Pugets „Amor" und einer Zeichnung [tatsächlich handelt es sich um ein Gemälde!] nach einem in Cé14
In: Gazette des Beaux Arts, 1 9 6 2 , S. 1 7 3 - 1 9 0 . Zitate auf den Seiten 1 8 0 und 1 8 1 .
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In: A r t News Annual XXXIV, 1 9 6 8 , S. 3 5 - 5 3 . Zitiert nach: Meyer Schapiro: Cézannes Äpfel. - Ein Essay über die Bedeutung des Stillebens. In: Meyer Schapiro: Moderne Kunst. - 19. und 2 0 Jahrhundert. Köln 1 9 8 2 , S. 7 - 4 8 . Zitate auf den Seiten 2 1 und 4 1 .
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zannes Besitz befindlichem Abguß des „Muskelmanns", des „Écorché", eines „zuinnerst gepeinigten männlichen Aktes, dessen oberer Teil der Rahmen abschneidet" und bemerkt dazu: „Wir dürfen diese freie und vielleicht unreflektierte Vergesellschaftung von Äpfeln, Cupido und einem leidenden nackten Mann wohl als einen Beweis für die Verknüpfung von Äpfeln mit dem Erotischen ansehen. [...] Auf dem Bild im Courtauld-Institute sind die Äpfel mit Zwiebeln kombiniert — so ungleiche Formen wie unterschiedliche Aromen, die auf die Polarität der Geschlechter verweisen." Dann schlägt Meier Schapiro die Brücke zum Apfel des Paris-Mythos. Indem Cézanne „sein Lieblingsthema mit dem goldenen Apfel des Mythos verband, gab er ihm einen erhabenen Sinn und deutete zugleich auf jenen Traum erotischer Erfüllung hin, von dem Freud und andere seiner Zeit allzu bereitwillig annahmen, er sei ein allgemeines Ziel der Sublimierungsbemühungen des Künstlers." Einen Höhepunkt gewann diese Deutungsrichtung in einem 1997 erschienenen Aufsatz von Timothy J. Clark: „Cézannes späte Badende. Auf der Suche nach einer Sprache für Meisterwerke der Moderne". 16 Hier sucht der Autor zu beweisen, daß die späten „Badenden" Cézannes „Versuch waren, eine Welt der Sexualität wiederherzustellen, die er in gewisser Weise nie verlassen hatte." Zur schreitenden Frau (der linken also) der „Großen Badenden" der Barnes Collection (R. 856) bemerkt er: Ihr „Kopf hat nicht viel von einer Metapher. Ganz wörtlich steht er für Geschlechtlichkeit, zeigt uns ein für alle Mal den Phallus — zeigt uns, was der Phallus ist, physisch, anatomisch, stofflich". Bei den „Großen Badenden" des Philadelphia Museum of Art (R. 857) sieht Clark in der Gruppe ganz rechts eine „Doppelfigur": „Die Hockende ist im Profil gezeigt, obwohl ihr Körper uns leicht zugewandt ist. Ihre Schultern sind eigenartig nach vorne geschoben und zusammengezogen. Sie werden sich nie ganz damit abfinden, Schultern zu sein. Der Grund dafür ist, daß sie zugleich Gesäßbacken und Beine sind. Sie scheinen einer zweiten Figur anzugehören, die aufrecht steht und deren Kopf, Schultern und rechter Arm etwas oberhalb zu sehen sind. Es bleibt unentschieden, welche der zwei Figuren zuerst auffällt. Doch im Nu bemerkt man beide. Und sobald das der Fall ist, wird es unmöglich, im Spiel der Flecken nur eine der beiden Lesarten gelten zu lassen, Gesäßbacken oder Schultern. Der Farbauftrag legt beides nahe. Uberzeugender, leichter als eine hockende Frau in Seitenansicht können wir in dieser Konfiguration eine Stehende als Rückenakt erkennen. Und doch kann dies nicht der letzte Schluß sein. Denn Gesicht und Haar sind so angeordnet, wie es einer Hockenden entspricht." Weiter heißt es: „Diese Figur ist der endgültige Ausdruck für Cézannes Materialismus. [...] Im Bild der sich gegenseitig imaginierenden Körper steckt eine unmittelbar entsublimierende Kraft. Fort mit der Imagination!
16 In: Klaus Herding (Hrsg.): Aufklärung anstelle von Andacht. Kunstwissenschaftliche Dimensionen bildender Kunst. Vorträge im Rahmen der Stiftungsprofessur,Wissenschaft und Gesellschaft' an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Frankfurt/M, Berlin, Bern etc. 1997, S. 7 5 - 9 1 . Zitate auf den S. 8 2 , 8 1 , 8 4 , 86, 87.
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Körper wollen physische Durchdringung oder Verschmelzung. Einfühlung ist nur leicht verhüllter Geschlechtsverkehr." Die zitierten Deutungen speisen sich aus ungenauen, wenn nicht falschen Beobachtungen und einer prinzipiellen Mißachtung Cézanne'scher „Komposition" — von allen interpretatorischen Vorurteilen abgesehen. Es seien auch die Stellungnahmen von zwei genauesten Kennern der Kunst Cézannes in die Erinnerung gerufen: Adrien Chappuis widmet im Vorwort des Textbandes seines Œuvrekataloges „The Drawings of Cézanne. A Catalogue Raisonné"17 dem Artikel von Theodore Reff einen eigenen Absatz über „General criticism of method" und erörtert eindringlich die Einseitigkeit und die Gefahr einer nur psychoanalytischen Interpretation der Werke. John Rewald schreibt in seinem grundlegenden Katalog „The Paintings of Cézanne. A Catalogue Raisonné"18: „To probe into the psyche of a man who has been dead for nine decades and on whose true character very little is known — partly because he was shy and avoided contacts, and partly because those who knew him and gave accounts of him did not fully understand his personality — is risky, to say the least. [...] Yet it is not until professional psychoanalysts have treated geniuses of the caliber of Cézanne and have gained useful insights in the working of their minds and subconscious that we can expect valid conclusions on the specific aspects of their creativity and its relation to sexual and other complexes." — Zu Meyer Schapiros Interpretation von Cézannes „Pastorale" bemerkt Rewald. „The disturbing factor about such observations is that too little is known about Cézannes psyche and personal history to provide validitation of Schapiro s attempt to apply knowledge derived from psychoanalysis. The symbolic references to a bottle and a glass and the like are too universal in application to be interpreted so specifically without pertinent history or associations that apply. Such psychological investigations reveal nothing about Cézanne" s art and remain thinly speculative where they touch upon his subconscious." Dem ist nichts hinzuzufügen. Aufschluß ist allein von den Werken zu erlangen — vorausgesetzt, man widmet ihnen die gebührende Aufmerksamkeit. Den „Großen Badenden" des Museum of Modern Art, New York (ca. 1885. 127 χ 96,8 cm. R. 555. Taf. 11) stellte Michio Hayashi 1999 in seiner Dissertation „Paul Cézanne: The Resistance of Painting"19 gemäß der eben genannten Forschungsrichtung in die Gruppe der „männlichen Badenden" ein und schrieb: „I see this series as a telling manifestation of Cézannes dilemma of sublimation, reflecting the precarious status of his subjectivity in the post-Impressionist period. The single male bathers are a kind of nodal point upon which issues of sublimation, repetition, and multiple reedings converge." Hayashi, dem es um eine Synthese von „Inhalt" und „Form" geht, 17 Greenwich, Connecticut 1973, Vol. 1, S. 17-20. 18 Ed. in collaboration with Walter Feilchenfeldt and JayneWarman, New York 1996, Vol. l , S . 2 4 6 u . 135. 19 Columbia University 1999, Zitate auf den S. 274, 2 7 6 , 2 8 0 , 281, 282, 283, 284, 286, 287.
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analysiert „the constructive stroke as a phallic substitute for the lost penis." „The Large Bather does not raise his arms. But the monumentality of the figure, with the size of the canvas much larger than preceding single Bathers, argues that it is the culmination of the entire series. Unlike other single Bathers, almost all of whom are depicted in three quarter view, this one faces the viewer squarely. Only his upper body is frontally, however, the lower body is in contraposto, so that his posture suggests both stability and advance." Für die Zweiteilung des Körpers bezieht sich Hayashi auf Meyer Schapiro: „Meyer Schapiro's impressive description of the painting well conveys this sense of complexities, irreducible either to pure formal concern or to family romance. But is it essentially a ,pure form', an .abstract' construction? I do not think so. There is in this monumental bather a complex quality of feeling, not easy to describe. [...] The upper body is immobilized by its posture; it looks inward and closes itself. The man walks, yet holds his sides (an arm position entirely unnatural for walking).This upper body is ascetic, angular, strictly symmetrical, and relatively flat, the lower body is more powerful, athletic, fleshy, modeled, and in motion — an open asymmetrical form.'" Hayashi resümiert: „The upper body exists on the picture surface; the lower is a volumetric presence in receding space." „The upper body's flatness owes much to the rough, almost arbitrary, brushwork, rendering the skin color with the same texture as the surrounding space. Since the emphatically graphic contours provide the only demarcation between the body and its surrounding space, the figureground relationship becomes anomalous, especially in the two spaces between the bather's torso and his arms." „Confused color application also brings the landscape forward to the picture plane, canceling the illusionistic order of recession still seen in the earlier examples of Bathers with Outstrechted Arms. Note, for example, how one continuous band of flatly applied blue connects the beach (?) in the foreground, the space around the bather's right leg, and the hill in the background, so that all three can be read in a single plane." Hayashis Interpretation schließt mit den Sätzen: „The displacement of sexual complex by formal complex - the raised arm as a phallic substitute — seems complete in the Large Bather, in which the whole body serves as a phallic substitute. The unresolved tension between presence (graphic intensity and monumentality) and absence (of solidity in the figure and depth in the landscape) is nothing other than the manifestation of the anxiety concerning castration as the condition of the phallic substitute. [...]" Hayashis und Schapiros Beschreibungen sind fehlerhaft und Hayashis Schluß ist falsch. Der erste Eindruck des Bildes ist der einer farbigen Harmonie von grautonigem Blau im Himmel und Wasser, Ocker im Sand, rötlicherem Ocker im Inkarnat und Grüntönen am Boden rechts, in einer gemeinsamen mittleren Helligkeit. Der farbigen Harmonie entspricht die Harmonie der Maße. Der obere Rand der Badehose fixiert die Mittelhorizontale des Bildes. Die Mittelsenkrechte verläuft durch das Fußgelenk des linken, vortretenden Beins des „Badenden", so auf das eindrücklichste den figural-tektonischen Bau des Bildes veranschaulichend. Die Strecke vom linken Bildrand bis zum
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linken Ellbogen = der Strecke vom rechten Bildrand bis zum rechten Ellbogen = etwa dem breitesten Maß des Brustkorbs = dem Maß der Hüfte = dem Maß des rechten Beins des Badenden vom Fußballen bis zum Knie = dem Maß des rechten Beins vom Knie bis zum kleinen Finger der rechten Hand = dem Maß von diesem Finger der rechten Hand bis zur Brustwarze = dem Maß von Brustwarze bis zum Haaransatz. Ahnlich sind die Maßverhältnisse auf der linken Körperhälfte der Figur: Großer Zeh bis Knie = Knie bis kleiner Finger = kleiner Finger bis Schulter = ungefähr Schulter bis oberer Bildrand. Die Strecke vom linken Bildrand bis zur Nase und bis zum Nabel = dem Maß des Oberkörpers vom linken bis zum rechten Ellbogen = der Strecke vom Gelenk des vortretenden Fußes bis zum unteren Rand der Badehose = der Strecke vom oberen Rand der Badehose bis zum Haaransatz. Bei Cézannes „Großem Badenden" handelt es sich also um eine in sich und mit dem Kosmos des Bildganzen proportionierte Figur. Mit dieser Thematik vergleichbar ist Leonardos berühmte Illustration zu einer Stelle in Vitruvs Lehrbuch der Architektur. Eine kurze Erläuterung von Sigrid Braunfels Esche sei zitiert: „Um einen x-förmig ausgestreckten Menschen lasse sich, mit dem Nabel als Mittelpunkt, ein Kreis beschreiben, der seine Finger und Fußspitzen berührt; ,Ebenso' heißt es weiter, ,wie sich am Körper ein Kreis ergibt, wird sich auch die Figur des Quadrats an ihm finden; wenn man nämlich von den Fußsohlen bis zum Scheitel Maß nimmt und wendet dieses Maß auf die [waagrecht] ausgestreckten Hände an [die in Griechenland ein Maß, das Klafter, bildeten], so wird sich die gleiche Breite wie Höhe ergeben, wie bei Flächen, die nach dem Winkelmaß quadratisch angelegt sind. Vitruv selbst [...] hat zu dieser Feststellung keine Deutung gegeben. Man hat daher, wohl zu Recht, vermutet, daß hinter diesen Angaben zuallererst ein sehr altes antikes Maßsystem steht, das allen Menschen so selbstverständlich war wie uns das Dezimalsystem; ein System, in dem der Durchmesser des Kreises - das Maß der mittleren Körperlänge eines Menschen — das Grundmaß bildet, das (mit gewissen Abwandlungen im Lauf der Geschichte) in kleinere Einheiten unterteilbar war, doch so gebraucht wurde, daß immer die größte Strecke an einem Bau ein übergeordnetes, festes Maß bildete, das nicht mehr überschritten, nur gesetzmäßig unterteilt werden durfte." 20 Auf diesem Niveau muß auch Cézannes „Großer Badender" verstanden werden, als Darstellung einer Proportion von Mensch und irdischem Kosmos aus Erde, Wasser, Himmel. Der Badende schreitet mit seinem linken Fuß voran, sein rechter stößt sich vom Boden ab. Dementsprechend verhält sich sein Oberkörper: Die linke Hälfte ist nahezu frontal gegeben, die rechte in die Tiefe verkürzt, angezeigt vor allem durch den verkürzten Winkel des rechten Armes und des Zwischenraumes zwischen Oberkörper und diesem Arm, aber auch durch die Haltung der rechten Schulter. Zwar 20 Sigrid Braunfels Esche: Aspekte der Bewegung. Umrisse von Leonardos Proportions- und Bewegungslehre. In: Festschrift Lorenz Dittmann. Herausgegeben von Hans-Caspar Graf von Bothmer, Klaus Güthlein und Rudolf Kuhn. Frankfurt am Main, Berlin, Bern etc. 1994, S. 5 7 - 7 2 . Zitat auf S. 58.
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ist diese Tiefenerstreckung flächig aufgefangen, dennoch bleibt sie wirksam, wirksam auch für die Relation der menschlichen Figur zur Landschaft, die alles andere als bloß flächig sich zeigt. Die von Meier Schapiro und Hayashi behauptete Zweiteilung des Körpers besteht nicht. Cézanne hat sich für seine Figur eines Modellfotos bedient,21 deren Figur das Gewicht auf den linken, vorgesetzten Fuß verlagert hat, den rechten zurücknimmt und nur mit den Zehen aufsetzt. Entsprechend sind die Winkel der eingestützten Arme verschieden, der rechte verkürzt, der linke nahezu frontal. Cézanne hat sich motivisch genau an das Modellfoto gehalten, die Figur aber gestrafft und ins Aufragen aufgebaut, in sich proportioniert, aus dem Vorsetzen des Fußes ein entschiedenes Schreiten gemacht, die Figur im ganzen verjüngt. Die Figur steht in engem Wechselbezug zur Landschaft. Die Konturen, die schwärzlichen Farbsäume, steigern ihr Aufragen — im Kontrast zur horizontalen Erstreckung der Landschaftszonen, die stellenweise ebenfalls durch schwärzliche Farbsäume akzentuiert sind. Die Konturen machen Körperspannungen sichtbar, vor allem verdeutlicht in den aufgebrochenen und zwischen breiteren, auch mehrfach gelegten, und schmäleren, ja ganz fehlenden Konturen der Beine. Sie verdeutlichen die Tiefenspannung des rechten, verkürzten Armes, wo am Oberarm und an der Schulter zwei und mehr Linien nebeneinander laufen, quasi-futuristisch Bewegungsmöglichkeit verbildlichend. Sie öffnen den Körper zum Licht, sichtbar besonders an der Kontur der rechten Gesichtshälfte, die, wie der ganze Körper, von links her beleuchtet ist. Von links kommt das Licht, von links her ist die Landschaft gebaut (sichtbar an den rechts kurvig schließenden Sandzungen der linken Bildhälfte), rechts schließt die Figur mit ihrem Vortreten, schließen die Landschaftsformationen das Bild. Auf das genaueste sind Figur und Landschaft zueinander gefügt. Der Winkel des (von uns aus rechten) Armes des „Badenden" entspricht unmittelbar der Abhangschräge der blauen Landschaftsformation unter ihm. Dem Aufsetzen der Zehen des zurückgesetzten Beines antworten kleine Steine im flachen Wasser, ein schwarzgrauer Schlagschatten rechts neben dem vortretenden Fuß verankert die ganze Figur im Boden und in der Horizontalen. Eine eigenartige, bogenformig nach unten führende Landschaftsform im grünen Strand rechts wiederholt Form und Bewegung des eingestützten Armes. Die Landschaft erstreckt sich in eine unausmeßbare Tiefe. Weißlichblaue Farbkomplexe rechts lassen ferne Berge erahnen. (Eine Zeichnung von 1883/86 zeigt einen „Badenden" in ähnlicher Haltung vor der Montage Sainte Victoire.22) Blau ist 21 Abgebildet in: Rewald: T h e Paintings of Paul Cézanne, Vol 1 ; S. 376. Rewald schreibt hierzu: „In fact, Cézanne here used for guidance a photograph of an academic model. [...] only in this large version of a single bather does the position of the feet correspond exactly to that of the photograph." (S. 375) 22 Abgebildet bei Rewald, I.e., S. 376. Es handelt sich um die Zeichnung Chappuis Nr. 947. Auch bei den Zeichnungen von „Badenden mit ausgestrecktem Arm" (vgl. Chappuis 3 8 4 , 3 8 5 , 3 8 6 , 3 8 7 3 8 8 , 3 8 9 , 6 3 0 , 631, 654) stehen die Gestalten in engem Bezug zur Natur und müßten nach dieser Hinsicht interpretiert werden.
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hier, wie immer bei Cézanne, „Farbe der Ferne". Blau ist Farbe des Himmels und des Wassers, es durchdringt den Strand und, als „Schatten", die Figur. Es umgibt die Figur, die Beine, die wie von einem Wasserlauf umfaßt erscheinen, und als eine „Aura" von hellerem Blau den Oberkörper. Im linken Teil dieser Aura taucht eine inkarnatfarbige Form auf als Antwort auf den Arm. Jeder Pinselstrich ist als Entsprechung zu anderen Farbformeinheiten gesetzt. Der „Große Badende" ist eine anschauliche Reflexion und Meditation über den Bezug des Menschen zur Welt als Natur. Es ist nur eine Materie in der Natur. Aus ihr bestehen Himmel, Wasser, Erde — und der Mensch. Aber der Mensch schreitet voran, mit einem vorsichtigen, bei aller Kraft wie „balancierend" wirkenden Schritt. Entschlossen und gleichmütig erfaßt er gesenkten Hauptes sein Vorangehen. Der Mensch hält die „Welt" zusammen, hält sie im Gleichgewicht. Die Landschaftsformen sind fragmentiert, der Mensch erscheint als ein Ganzer. Es ist nur eine Materie in der Natur, aber die blaue dominiert, als Farbe des Himmels. Mit seiner hellen Aura bringt der Mensch die Farbe des Himmels zur Erde. Bei Leonardo zentriert der Nabel des Menschen den Kosmos. Beim „Großen Badenden" liegt der Nabel oberhalb der Mittelhorizontalen, schon im Bereich des „Himmels". 1898 oder 1899 malt Cézanne die „Femme Nue Debout", ein großformatiges Bild (92,7 χ 71,1 cm. Private Trust New York. R. 897. Abb. 14), das im Œuvre Cézannes einzigartig ist (vergleichbar nur dem großformatigen Aquarell RWC. 387, 89 χ 53 cm, von 1898-99, im Département des Arts Graphiques des Louvre). Die Harmonie von Braunrötlichtönen bestimmt die Farbigkeit. Das Inkarnat, im Mittelton orange-ocker, in der Helligkeit weiß-gelblichocker, in den Schatten blaugrau und in einem tief schwärzlichgrünen Schatten rechts geschlossen, wird hinterlegt vom dunkelverhangenen Purpurbraun der Wand, dem nach oben hin ein rotbrauner Streifen folgt (mit einem in der rechten oberen Bildecke ausschnitthaft gezeigten Bild, orangebraun gerahmt, orangebraun und graublau in der Darstellung einer Landschaft), nach unten ein Boden in grauüberflortem kühlen Ocker (bei der Platte, auf die der linke Fuß der Frau tritt), bläulichem Grauocker in der tiefer liegenden Bodenzone und dunklerem Bläulich-Ocker im Sockel, der zur Wand vermittelt. In dieser Harmonie von Braunrötlichtönen leuchtet das Inkarnat der Frau auf. Die Frau bietet ihren Leib dem Licht dar. Wie in der Farbigkeit, so wird auch in der formalen Unterteilung der Raum von der Figur aus strukturiert. Der Wandsockel verläuft in Höhe der Knie, steigt an zum gebeugten rechten Knie der Frau, sinkt von ihrem durchgestreckten vorderen Knie aus nach rechts. Die Grenze der purpurbraunen dunklen Wand zum helleren Abschluss steigt an zum erhobenen Arm der Frau, verläuft nach rechts vom Ellbogen des die Horizontale markierenden eingestützten Armes der Frau. Wie dieser Arm die Waagrechte verkörperlicht, so eine dunkle Schattenkontur in Höhe des Gesäßes die Senkrechte. In den Grundrichtungen ragt die Frau auf. Ihre Bewegungswinkel lassen eine geometrische Struktur entstehen. Die Frau bestimmt den Bildkosmos. Die Seitenpartien links und rechts verhalten sich proportional zu Erstreckung des Leibes.
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A b b . 14 Femme Nue Debout, 1898 od.1899. Private Trust N e w York. R. 8 9 7
Die Frau ragt auf und ist von erfüllt von Lebenskraft: Sie wächst auf. Sie tritt nach vorne. Sie reckt die Arme, wie befreit in neuem, tieferem Bewußtsein, das sie dem Licht entgegenführt. Sie erfährt von innen ihren Leib. Die Größe ihrer Füße veranschaulicht die Festigkeit ihres Auftretens, die vermehrten Konturen und Binnenlinien ihres nach vorne tretenden Unterschenkels die Anspannung des Standbeins. Die Frau erfährt von innen ihren Leib und zugleich die Fremdheit und Schutzlosigkeit ihres Körpers. Blicklose dunkle Augen schauen ins Unbestimmte, aber in Richtung des Lichts. Ernst und verschlossen, ja schwermütig wirkt das Antlitz. Die Nicht-Identität von Körper und Geist mag darin angezeigt sein. Die Frau posiert für keinen Betrachter. Der Voyeur kommt nicht auf seine Kosten. Alles Ornamentale, Gefällige, alles sexuell Herausfordernde, aber auch alles durch den Maler bewußt Verhäßlichte ist dieser Frau fremd. In der Städel-Ausstellung „nackt! Frauenansichten. Malerabsichten. Aufbruch zur Moderne", Frankfurt 2003/2004, trennte sich dieses Bild nach den genannten Hinsichten von allen übrigen. Freudianische Deutungen werden an diesem Werk zunichte.
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Die „Badenden" gründen am offensichtlichsten in Cézannes Jugenderinnerungen. Cézannes Jugendbriefe sprechen davon. Gasquet, um ihm nochmals das Wort zu geben, erzählt vom jungen Cézanne und seinen Freunden: „Sie planten ein Leben der Wildnis an den Ufern der Viorne (der Arc), froh eines Bades ohne Ende, mit fünf oder sechs Büchern, nicht mehr, die ihrem Bedarf genügten."23 „Ihre höchste Freude und lyrische Begeisterung, ihre fast religiöse Verzückung, waren die Bäder in der Are, das Lesen in wassernassen Büchern, das Diskutieren unter den Weiden, nur mit der Badehose bekleidet. Der Fluß gehörte ihnen. Mit dem Ende des Frühlings nahmen sie Besitz von ihm, machten ihn zu ihrem Reich. [...]" Die „Badenden" gründen in Jugenderinnerungen, gehen in ihren maßgebenden Werken jedoch weit darüber hinaus. Anfänglich entstehen Erinnerungsbilder nach dieser Jugenderfahrung in der Natur, dann aber formt Cézanne seine Gestalten gerade bei diesem Thema nach den Vorbildern der,Alten Meister". So finden sich auch die wichtigsten Aussagen zum Thema der „Badenden" in der Untersuchung von Gertrude Berthold „Cézanne und die alten Meister. Die Bedeutung der Zeichnungen Cézannes nach Werken anderer Künsder", Stuttgart 1958. Die Ausführungen von Mary Louise Krumrine im üppig ausgestatteten Katalog der Basler Ausstellung „Paul Cézanne. Die Badenden", Basel 1989, versteifen sich dagegen aufAdditionen ikonographisch angeblich festliegender, in einem „Glossar" auflistbarer Typen von „Badenden" in Cézannes Bildern und auf willkürliche, sich psychoanalytisch gebende Deutungsbehauptungen. 24 Gertrude Bertholds Erkenntnisse aber sind ausführlich zu referieren.25 Sie schreibt: „Ganz besonders eng [...] sind durch alle Perioden von Cézannes Schaffen hindurch seine Bilder der .Badenden' mit den Werken nach älterer Kunst verbunden. Es erweist sich, daß der Wunsch, Kompositionen menschlicher Gestalten zu malen, und zwar Menschen in der Natur, Cézannes Zeichenstudien im Louvre erst veranlaßt und immer wieder inspiriert hat. Modelle in freier Natur zu malen, war für ihn unmöglich. Abgesehen von der äußeren Unmöglichkeit, Akte im Freien zu stellen und sie so lange posieren zu lassen, wie er es brauchte: Cézanne hätte wohl mit solchen Naturvorbildern in diesem Falle nichts ausgerichtet. Er brauchte mehr und anderes, als sie ihm geben konnten. Die Kunstwerke als Vorbilder vermitteln es ihm und sind deshalb mehr als ein Ersatz lebendiger Modelle für ihn. Das wird deutlich, wenn man die Bilder der ,Badenden' daraufhin ansieht, was die menschlichen Gestalten in ihnen leisten. Die Aufgabe, die Cézanne sich stellte, war: Einzelne Menschen so miteinander in einen Zusammenhang zu bringen, vereinzelte Gestalten in und mit einem Weltzusammenhang hervorzubringen. Die Bedeutung, aber auch die Schwierigkeiten dieses Unternehmens liegen auf der Hand. Während Cézanne in seinen reinen Land23 Cézanne. Deutsche Ausgabe, S. 12, 14. 24 Vgl. dazu: Christian Lenz: Basel, Kunstmuseum. Cézannes Bathers. In: The Burlington Magazine. Vol. CXXXI, November 1989, S. 795-798. 25 Berthold: Cézanne und die alten Meister, S. 35—43.
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schaftsbildern gerade von einem gegebenen Zusammenhang ausgehen kann, den er, über die Stufen seiner ihm eigenen Bildgestaltung aus der Natur herausholt, verfügt er hier, und zwar ausdrücklich und offenbar bewußt, nur über die Elemente der Komposition, die einzelnen Gestalten (er kann sie ja nur als einzelne zeichnen). Den Zusammenhang muß er hervorbringen. Diese Aufgabe ist die bedeutendste, die er sich stellt. Sie wird als Aufgabe ihm selber wohl erst in seiner letzten Lebenszeit erkennbar. So wird es verständlich, warum er selber im Alter erst .langsam Fortschritte' zu machen glaubt, zu der Zeit nämlich, als er die meisten ,Badenden' malt und diejenigen, die der Lösung am nächsten kommen. Er fürchtete stets, daß sein Alter und seine schlechte Gesundheit ,ne permettrons jamais de réaliser le rève d'art que j'ai poursuivi toute ma vie' (am 23.1.1905, weniger als zwei Jahre vor seinem Tode geschrieben). Was bedeuten nun die Kunstvorbilder für Cézannes Kompositionen der .Badenden'? Warum sind sie ihm mehr als ein Ersatz für lebende Modelle? Die Gestalten, die nach Kunstwerken geschaffen wurden, machen freie Kompositionen bei Cézanne überhaupt erst möglich. Cézanne benutzt nämlich die intensive Formkraft, insbesondere die Architektonik der von ihm gezeichneten Gestalten in den Bildern, um eine Form hervorzubringen, die sowohl über die formale Bedeutungslosigkeit aus dem Alltag abgeschriebener Bewegungen wie über die Pose von Akademiefiguren hinausfuhrt. Diese beiden, alltägliche Bewegungen und Bewegungsposen, bleiben stets auf die einzelne Figur begrenzt, belanglos fur einen Zusammenhang, während die allgemeine verbindende Form, die sich in den von Cézanne gezeichneten Kunstfiguren verkörpert, durch diese hindurch wiederum aufs Ganze wirkt. Und Cézanne ist schon in seinen frühen Figurenbildern auf dieses Ganze aus! Es wird zunächst nur andeutungsweise erreicht. Cézanne benutzt hier noch häufig Naturvorbilder. So ist in den frühen ,Badenden Männern' [,Baigneurs au repos, II'. 1875-76. 38 χ 46 cm. Privatsammlung. Skandinavien. R. 260] der Stehende vorn mit den in die Hüften gestützten Armen und der Liegende nach Naturvorbildern gemacht. Sie stehen einzeln da, die Vertikale und die Horizontale, Vorder- und Seitenansicht getrennt veranschaulichend. Erst die rechts stehende Gestalt verbindet beide in ihrer Drehbewegung, indem sie selber Vorder- und Seitenansicht in sich vereinigt, selber Vertikale und Horizontale enthält. Sie weist auf Flächen- und Tiefenerstreckung des Bildes. Auf eine sehr einfache Art erweist sich hier die verbindende Form künstlerischer Haltung einer Figur fur die Komposition Cézannes. Denn die rechte Figur in seinem Bild hat, ihrer Anlage nach, Kunstwerke zu Anregern: man vergleiche sie mit dem Merkur des Pigalle und dem antiken sandalenbindenden Hermes. Zeichnungen nach diesen beiden Gestalten sind uns aus späterer Zeit von Cézanne erhalten. In der Hintergrundfigur aber ist eine Rückenansicht des Écorché verwendet. Eine Zusammenbindung der verschiedenen Körper im Bilde beginnt erst wenige Jahre später in den frühesten Kompositionen ,Badender Frauen', in denen Cézanne auch das äußere Miteinandersein beim Baden zur Anschauung bringt — ein Zug, der sich später wieder verliert, als eine andere Art von Gemeinsamkeit geschaffen wird.
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In das wohl früheste dieser Gemälde [,Cinq Baigneuses sous des arbres', ca. 1875. 60 χ 73 cm. Priv. Slg. R. 257] sind wiederum verschiedene Vorbilder eingegangen. Aus dem Stich ,Das Urteil des Paris' von Marc Anton, dem auch Manet Gestalten für sein .Déjeuner sur l'herbe' entnahm, holte sich Cézanne Anregungen für zwei Figuren: die vom Rücken her gesehene Stehende und die Sitzende im rechten Teil der Vorlage; bei Cézanne wird letztere in ihrer Häßlichkeit zugleich eine Persiflage auf die schöne Nackte Manets, die auf dieselbe Vorlage zurückgeht. Die von vorn sichtbare Stehende, die den Arm zum Zweig des Baumes über ihr hebt, ist eine Nachbildung der Rubens'schen Najade aus der ,Landung der Maria de Medici in Marseille', deren Nachzeichnung uns aus dieser Zeit erhalten ist. Ein Bild Delacroix',,Femmes turques au bain', enthält eine ganz gleich angelegte Figur (spiegelbildlich verkehrt), und es ist durchaus möglich, daß Cézanne von diesem Bild her die Idee des in die Zweige greifenden Armes nahm — wie ihn möglicherweise auch die ganze Anlage dieses Bildes, die kunstvoll geformten Stellungen seiner Gestalten und sein Thema bestimmt haben. Wenn hier für ein einziges Bild so zahlreiche ,Vorbilder' aus verschiedenen Zeiten genannt werden können und sogar für eine Gestalt mehrere, so ist das ein Zeichen dafür, wie stark und offenbar bewußt Cézanne im Umkreis der alten Kunst nach der ihm nötigen Form suchte. Es ist nötig, über das Nachweisen solcher Vorbilder hinaus, sich dies ganz klar zu machen [...]." Dies erscheint mir als ein sehr wichtiger Satz: es geht nicht um den Nachweis von Vorbildern als solchen, sondern um die Intention des Künstlers dabei! „Cézanne versucht nun, im Bild der ,Badenden Frauen' seine Gestalten, die eigenen und die entliehenen, miteinander zu verbinden, zu einer Komposition zusammenzustellen: Die Sitzenden rechts und links schließen durch ihre Wendung ins Bild hinein das Ganze ab, sie wirken als Eckfiguren der Komposition. Links entsteht eine Gruppe aus der einen dieser Eckfiguren, der am Boden Liegenden und der zwischen beiden Stehenden, die in die Baumäste greift; eine Gruppe, die noch in verschiedenen späten,Badenden' ähnlich wiederkehrt. Sie zeichnet sich aus durch glücklich zu einem Ganzen zusammengeschlossene Körper, die eine eng verbundene Gruppe bilden. Aber auch im Ganzen des Bildes ist bei aller Unbeholfenheit der Körperbildung und bei der behelfsmäßig benutzten .naturalistischen' Situation des Badens ein Beieinandersein von Menschen erreicht, das durch die pathetisch bewegte Rückenfigur insbesondere anzeigt, wie weit die Absicht Cézannes in seinen .Badenden' über eine Szene des täglichen Lebens hinausgeht, hin auf die große bedeutende Form. Diese große Bildgesinnung läßt noch an andere Vorbilder als die bisher genannten denken. Es gibt zwei kleine Zeichnungen auf einem Blatt Cézannes nach Gestalten aus Domenichinos,Diana und ihre Gefährtinnen': eine nackte sitzende Nymphe, die sich die Füße trocknet, und Kopf und hochgeworfene Arme der Diana, der Hauptfigur des Bildes. Sie stammen etwa aus der Zeit der .Badenden'. Zwar sind sie nicht in den Bildern der .Badenden' verwendet worden. Aber: Eine Gestalt wie die
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vom Rücken gesehene Stehende mit den erhobenen Armen in Cézannes Bild so in den Bildraum zu setzen, wie es Cézanne tut, das zeigt seine Beschäftigung mit Bildern an, welche mit großen pathetischen Gesten selbstverständlich arbeiten; und wenn man einmal auf die beiden Zeichnungen nach Domenichino aufmerksam geworden ist, ergibt sich sogar eine bemerkenswerte Ubereinstimmung im Ausdruck der Bewegung dieser Stehenden mit der Diana. Es geht aber auch - bei aller Unvollkommenheit der Cézanne'schen Komposition — etwas von der Idealität der Darstellung des [siebzehnten] Jahrhunderts in Cézannes Bild ein. Die Sphäre des Bedeutenden — im Gegensatz zum Bereich des bloß Wirklichen — wird erreicht, dafür allerdings stammelnd und in der Ausdrucksweise ans Groteske streifend." Gertrude Berthold fährt nun fort: 26 „Die mythologisch gebundene Darstellung Domenichinos, ihr eigentlicher Inhalt, sagte Cézanne nichts. Er hält sich deshalb, was Inhalt und Auffassung anlangt, in der Folge an ein Bild, das — für sein Bemühen — mehr bieten konnte: Claude Joseph Vernets ,Baigneuses', ein Bild des achtzehnten Jahrhunderts, das die große Tradition von Gemälden wie Domenichinos Diana ganz offenbar fortsetzt — einzelne Figuren sind wiederzuerkennen - , das aber des mythologischen Inhalts entkleidet ist." Frau Berthold verfolgt im weiteren das Fortwirken einzelner Gestalten aus diesem Bild und anderer Vorlagen bei „Badenden" Cézannes, erwähnt aber eigentümlicherweise nicht das völlig verschiedene Verhältnis der Figuren zur Landschaft bei Vernet einerseits und Cézanne andererseits, die Kleinheit der Badenden bei Vernet, die keinen bestimmenden Bezug mehr zur Landschaft, zur Natur besitzen, und die Größe aller Badenden bei Cézanne und ihre Ubereinstimmung mit der Landschaft, eine Größe und Ubereinstimmung, die Cézannes „Badende" mit Bildern des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts — und mithin mit mythologischen Darstellungen — in Verbindung bringt und sie trennt von genrehaften Bildern wie denjenigen von Vernet. Prinzipiell ist festzuhalten: die Größe der Bildgesinnung, die Idealität, die Frau Berthold zu Recht bei Cézanne betont, ist in der alten Kunst untrennbar verbunden mit der Größe, der „Bedeutung" der Bildthemen, und bei Cézanne ist es nicht anders. Ich referiere nun nicht weiter die von Gertrude Berthold benannten, mir teilweise problematisch erscheinenden Vorlagen für einzelne Bilder Cézannes von „Badenden", sondern zitiere nur noch den Abschnitt, in dem sie die Quintessenz ihrer Beobachtungen gibt. Sie schreibt: Cézannes Badende „stellen keine wirklichen Vorgänge dar [wie mythologische oder biblische Vorgänge], sondern bestehen in der Zusammenstellung menschlicher Gestalten, einem Zusammenbestehen von Individuen zu einem Ganzen. Dieses Zusammensein ,tritt in Erscheinung'. Diese gegenüber der erzählenden Malerei ganz andere Art der künstlerischen Aussage hat Verwandtschaft mit der griechischen Kunst. In einer griechischen Statue verbindet sich im festgelegten Typus die Menschengestalt und die Bedeutung ,Gott' zu einer Einheit. Die künstlerische Ge26 L . C . S. 38.
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stalt besteht als Aussage des Seins-Zustandes der griechischen Welt. Diese besondere Erscheinungsform der griechischen Kunst kommt im Verlaufe der abendländischen Kunst mehrere Male zum Vorschein, im neunzehnten Jahrhundert aber allein bei Cézanne. Cézannes .Badende' enthalten eine Aussage gleicher Art, nur mit einem ganz bedeutenden Unterschied: Cézanne sagt nichts aus über das wirkliche, das existierende Sein seiner Zeit, er nimmt die äußere Form seiner Gestalten nicht aus eigenen Erfindungen, die als geistige Existenzen die Vorstellung der Erscheinungen der realen Welt widerspiegelten, sondern er geht auf ältere Formen der Kunst zurück. Cézanne fand keine geistige Wirklichkeit mehr vor, die ihn befähigt hätte, Naturvorbildern einen Stil von sich aus zu geben. Er macht deshalb die Form seiner Vorbilder zu Kompositionselementen seiner Bilder. Damit sind seine Bilder nicht länger Ausdruck einer wirklichen geistigen Situation, sondern Beispiele, Exempel für die Wiedergewinnung des Verlorenen. Cézanne schafft Bilder, die ein .enseignement' sein sollen, eine Lehre, damit Leben in sinnvoller Ordnung und vollkommenem Zusammensein werde. In einem Brief an Emile Bernard schreibt er (26.4.1904): ,Le peintre doit se consacrer entièrement à l'étude de la nature et tâcher de produire des tableaux qui soient un enseignement.'"27 Diese nachdenkenswerten Sätze sind in mehrfacher Hinsicht kritikwürdig: Erstens: auch in der griechischen Kunst gibt es erzählende Darstellungen, vor allem in Vasenbildern und Reliefs, ist doch der Mythos untrennbar gebunden an Erzählungen. Zweitens: in keiner späteren Phase der abendländischen Kunst konnte die „griechische Welt" als solche wiederkehren, sondern immer als eine in irgendeiner Hinsicht durch das Christentum verwandelte.28 Und, Cézanne betreffend: die Autorin übersieht in ihrer Konzentration auf die Figuren der Badenden und deren Vorbilder, den Bezug dieser Figuren zur Natur als Landschaft. Es ist aber dieser Bezug der Badenden zur Natur als Landschaft, der Cézannes Bilder einzigartig macht und nicht nur zur Wiederholung von Früherem. Weder bei Tizian, noch bei Rubens, noch bei Poussin wird dieser Bezug von menschlichen Figuren zur landschaftlichen Natur gestaltet. Und nach dieser Hinsicht gewinnt der Begriff „enseignement" eine andere Bedeutung: er meint nicht nur menschliches „Leben in sinnvoller Ordnung", sondern „menschliches Leben in sinnvoller Ordnung mit der Natur", und dies ganz gewiß nicht als .Ausdruck einer wirklichen geistigen Situation", sondern als geistige Forderung, als Forderung, die heute dringlicher ist als je zu Zeiten Tizians, Rubens' oder Poussins. Schon 1877 hatte Georges Rivière Antikisches in der Kunst Cézannes erkannt. In seinem Artikel „L'impressionniste" schrieb er am 14. April 1877 im „Journal d'Art": „M. Cézanne est, dans ses œuvres, un Grec de la belle époque; ses toiles ont le calme, la sérénité héroïque des peintures et des terres cuites antiques, et les ignorants qui rient 27 L.C. S. 4 1 , 4 2 . 28 Vgl. Lorenz Dittmann: Die Wiederkehr der antiken Götter im Bilde. Versuch einer neuen Deutung. Paderborn, München, Wien 2001.
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devant les,Baigneurs', par example, me font l'effet des barbares critiquant le Parthenon. ... Cependant la peinture de M. Cézanne a la charme inexprimable de l'antiquité biblique et grecque; les mouvements des personnages sont simples et grands comme les sculptures antiques, les paysages ont une majesté qui s'impose, et ses natures mortes si belles, si exactes dans les rapports des tons, ont quelque chose de solennel dans leur vérité."29 Joachim Gasquet betont in seiner Beschreibung der nun im Philadelphia Museum of Art befindlichen „Grandes Baigneuses" von 1906 (208 χ 249 cm. R. 857) den Zusammenhang der Figuren mit der Landschaft: „Fünfzehn Frauenakte strahlen voller Lebendigkeit. Unter hohen Bäumen mit glatten Stämmen, die sich im Himmel spitzbogig treffen, und die gleichsam das lebendige Gewölbe einer natürlichen Kathedrale bilden, das sich auf eine zarte Landschaft der Ile-de-France öffnet, gehen die Frauen zum Bade am Ufer eines trägen Flusses. Eine von ihnen überläßt sich schon der Strömung, den Kopf zurückgeworfen, mit offenem Haar. Andere erheben sich. Sie bilden zwei Gruppen, acht auf einer Seite, sechs auf der andern, alle zusammengehalten durch das Weiß eines Leinentuchs, mit dem drei von ihnen am Ufer spielen, durch die Schwimmende im Mittelpunkt der Komposition und weiter, in der Ferne, auf einer Wiese vor einem Schlosse, durch die Gestalt eines Mannes, der sie betrachtet. Ist das der Sonnenblick, den er sich entschlossen hat, in menschliche Gestalt zu übersetzen, von dem Cézanne sprach, weniger symbolhaft, aber lebendiger?" Hier nimmt Gasquet Bezug auf eine Passage kurz zuvor. Sie lautet: „Der Vorwurf, der ihn dermaßen verfolgte, war eine Gruppe badender Frauen, unter Bäumen, im Grünen. Er hat dafür wenigstens dreißig kleine Entwürfe gemacht, darunter zwei oder drei sehr feine, sehr weit getriebene Bilder, außerdem eine Menge Zeichnungen, Aquarelle, Skizzenbücher, die die Schublade seiner Schlafzimmerkommode oder seines Ateliertisches nicht verließen. ,— Das wird mein Bild,' sagte er manchmal, ,mein Vermächtnis ... Aber die Mitte? Ich kann die Mitte nicht finden ... Sagen Sie, um was soll man sie alle gruppieren? Ach! Die Arabeske Poussins. Er kannte sich in allen Winkeln aus. Wo beginnt, wo endet die Linie der Körper und der Landschaft in seinem ,Bacchanale' in London, in der ,Flora' des Louvre ...? Das geht alles in eins. Es gibt keine Mitte. Ich möchte so etwas wie ein Loch, einen Strahl des Lichtes, eine unsichtbare Sonne, die alle meine Körper streift, sie badet, sie streichelt, sie leuchtender werden läßt. Das sollte die Mitte sein.'"30 Ich halte es fur sehr wichtig, daß Cézanne, Gasquet zufolge, auch seine „Badenden" in engsten Zusammenhang bringt zu „einem Strahl des Lichts", zu einer „unsichtbaren Sonne". Von da aus wäre es naheliegender, das Weiß des Tuches mit dem
29 Zitiert nach: Mary Louise Krumrine: Paul Cézanne: Die Badenden. Ausst.Kat. Kunstmuseum Basel 1989, S. 254, Anm. 4. 30 Cézanne. Deutsche Ausgabe, S. 39.
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Licht in Verbindung zu bringen als die Gestalt des fernen Mannes, wie Gasquet vorschlägt. Dieser fährt fort: „Jedenfalls ist er es [der Mann], der die ganze Szene bindet, er und die Wölbung der Bäume, das spitzbogige Fenster der Zweige und das Leintuch des Vordergrundes. Das Wasser ist tief, das Gras schillert. Die helle französische Landschaft ist rein wie ein Vers von Racine. Es ist ein sanfter Sommernachmittag. ... Die Frauen erscheinen zuerst unförmig, dick, vierschrötig, die zwei, die laufen, wie aus einem ägyptischen Relief. Man kommt näher, man betrachtet sie lange. Dann werden es feine, schlanke, göttliche Schwestern der Nymphen Jean Goujons, zarte Töchter der naiven Verkörperung der Jahreszeiten im Jas." Auch Gasquets Beobachtung einer Veränderung der Gestalten während der Wahrnehmung verdient festgehalten zu werden. Diese Veränderung gründet wohl im zunehmend klarer hervortretenden Bezug der Inkarnate zu den Ockertönen der Erde und der Baumstämme und zu den Bläulichtönen in Fluß, Himmel und Schattenlagen. Auch die weißen Leerstellen des Grundes verbinden die Frauen mit der Landschaft. „Eine", so weiter Gasquet, „eilt davon mit der Bewegung eines bestürzten Kindes, das man verfolgt; ihre Beine sieht man nicht, aber die Hand, die Finger aneinandergepreßt wie eine Tänzerin aus Kambodscha; man fühlt, wie sie munter und entzückt durch die grünen Zweige springt, die sie streifen. Eine andere kühl, olympisch, an einen Baum gelehnt, sinnt mit verlorenenen Augen. Eine hat sich zufrieden, beruhigt ausgestreckt, mit dem Ellbogen im Grase niedergelassen, ihre Freundinnen im Wasser zu betrachten; und ihr üppiger Busen, ihre massiven und harten Hinterbacken, ihre braunen Haare baden erschauernd im Licht, feucht von einem blauen Hauch wie ein Traum in seidigem Fleische. Die zwei, die sich zum Baden locken, indem sie auf die Schwimmende weisen, beben schon im Vorgefühl des zarten Streicheins der Fluten. Links [...] drängt die größte mit weitem Kriegerschritt die andern beiseite. Sie stürmt dahin. Sie ist die Kraft, die Jugend, die Gesundheit. Parallel, nur ein wenig geneigt zu dem saftdurchströmten Stamme, ist sie selbst gleichsam eine menschliche Pflanze, ein Baum, der dahinschreitet, ganz bereit zur Liebe. Und hinter ihr atmet die selbstvergessene Schläferin den gefährlichen Zauber der Wiesen, unter deren wogenden Blüten das Fieber droht. Aber die schönsten sind, glaube ich, die beiden Kauernden, königlich, herrlich, die ihrer knienden Schwester das Leinentuch reichen und die mit ihren ausgebreiteten Armen eine Maliarmes würdige Kurve schwingen [...]. Alle umgibt eine Grazie, eine Freude, ein Stolz. ... Es ist rührend, daß so viele Zweifel, Qualen, Wutausbrüche sich umgesetzt haben in soviel kindliche Zärtlichkeit, Liebenswürdigkeit und Frieden. In diesen virgilischen Spielen, diesen unschuldigen Festen, diesen naturhaften Tänzen läßt nichts mehr die gequälte Seele [...] von Cézanne ahnen. Dieses Paradies heidnischer Wogen, malerischer Akte, zarter Bäume und blauer Nacktheit zeugt nur noch von Kraft und Ausgeglichenheit." 31 31 Cézanne. Deutsche Ausgabe, S. 39-41.
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Es ist aufschlußreich, wie Gasquet, der eine Zeitlang Cézanne sehr nahe stand, dieses Bild beurteilt, wie viel Vorgangshaftes er in ihm entdeckt, und wie er die einzelnen Figuren erfaßt. Aufschlußreich ist vor allem, daß er die große Schreitende links empfindet als einen „Baum, der dahinschreitet", damit eine Identifikation von Baum und menschlich-göttlichem Wesen behauptend, wie sie in der griechischen Antike von den Nymphen verkörpert wurde. Und als „göttliche Schwestern der Nymphen Jean Goujons" bezeichnet Gasquet die Frauen dieses Bildes ausdrücklich. Beträchtlich unterscheidet sich von den „Großen Badenden" in Philadelphia die früher, zwischen 1895 und 1906 entstandene Fassung der „Grandes Baigneuses" in der Barnes Foundation, Merion, Pa., mit den Maßen 133 χ 207 cm (R. 856). Aus leuchtender Dunkelheit, aus dunklem, zugleich transparentem und opakem Grün strahlen hier die ockertonigen Inkarnate der Frauen auf, „durchsetzt mit Einsprengseln von leuchtendem Rot, Jadegrün und Dunkelblau" 32 und vor dem dunklen Blau des Himmels das bläuliche Weiß der Wolke. Ungeheuer ist hier die Kraft der Verspannung der Bildelemente und die Wucht der Figuren. Einer Göttin gleich schreitet, ein machtvoll wehendes Tuch hinter sich, links eine Nackte zur Gruppe. Die hokkenden und sitzenden Frauen scheinen sie zu erwarten und zu begrüßen, in unterschiedlichen Haltungen und wechselnden Gesten, sich ihr entgegenneigend oder vor ihr zurückweichend oder mit über dem Kopf verschränkten Armen sich ihr leiblich zu öffnen. Joseph Rishel fühlte sich bei der linken, schreitenden Figur an Diana erinnert, nicht zu Unrecht, wie mir scheint. Ist hier aber Diana, Artemis, die Göttin der Jagd und der freien Natur, gemeint, so kann bei der rechten, an den Baum wie angebunden erscheinenden und in ihrer Geschlechtszugehörigkeit unbestimmten Figur auch an den Jäger Aktaion gedacht werden und seinen Tod beim unbeabsichtigten Anblick der nackten Göttin. Eines der frühesten Bilder dieser Thematik sind die „Trois Baigneuses" des Pariser Musée d'Orsay, ein kostbar wirkendes kleines Bild (19 χ 22 cm. 1874—75. R. 258), mit kontrastreich bewegten Figuren, einer hockenden, vom Rücken gesehenen links, einer aufrecht stehenden, frontal gezeigten in der Mitte, einer kurvig in sich kauernden rechts. Von schwarzgrünen Konturen eingefaßt, heben sich die Gestalten lichthaft-hell, grüngelblich und grünbläulich verschattet, vom Grün der Landschaft und vom Blau des Himmels ab. Schwarzblau sind die Haare der linken und der mittleren. Eine bräunliche, bläulich verschattete, nur als Kopf gegenwärtige Gestalt dringt von links ein und bewirkt die Erregung der linken und der mittleren Frau. Chappuis bezeichnet diese Gestalt in den dazugehörigen beiden Zeichnungen als „Faun"33 und die „Badenden" damit indirekt als Nymphen. Schräg dringt auch ein silberweißer Baum-
32 Joseph Rishel in: La joie de vivre. Die nie gesehenen Meisterwerke der Barnes Collection. München 1993, S. 163. 33 The Drawings of Paul Cézanne, Vol. 1, Nr. 367, 368. - Vgl. auch das Aquarell RW 62 im National Museum of Wales, Cardiff.
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Die Kunst Cézannes
A b b . 15 C i n q B a i g n e u s e s , 1 8 8 5 / 8 6 . Öffentliche Kunstsammlung Basel, Kunstmuseum. R. 5 5 4
stamm von links ins Bildfeld, während rechts zwei senkrecht aufragende Pappeln die Bildbewegung schließen. Im Schimmern ihres Inkarnats wie auch in ihrer Haltung entspricht die Stehende dem weißlich aufglänzenden Stamm. Die Schrägrichtungen der Arme der ersten und der zweiten Badenden finden ihre Entsprechung in der gelblich aufleuchtenden Lichtbahn des Baumes zwischen ihnen. Das Thema von Nymphen und Faun dient der Darstellung der Nymphen als menschlich verkörperten Kräften der Natur. Nymphen sind auch die Frauen der „Cinq Baigneuses" von 1885/86 im Basler Kunstmuseum (65 χ 65 cm. R. 554. Abb. 15). Die Gestalten entsprechen dem Ort, dem sie zugehören. Die linke Schreitende gehört zu dem Baum neben und hinter ihr.
.Kartenspieler" und „Badende"
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Die Farbe ihrer Haare geht über in die Farbe des Baumstammes, ihr Leib entspricht als Flächenwert dem Baumstamm, die Kurve ihres Oberschenkels wird in der Rindenteilung des Stammes wiederholt. Ihr Tuch leitet in Farbton und Faltenelementen weiter zum Wasser. Die Sitzende am Wasser darf als Quellnymphe angesprochen werden. Ihre Füße verschwinden im Wasser, ihre Binnenkonturen betonen das Wellige. Die Stehende und die Kauernde rechts sind Baumnymphen. Es scheint, als löse sich die Kauernde aus dem Boden, und die Stehende hält ihren Arm, wie ein Baum einen Zweig entsendet. Beide zusammen lassen zwischen sich den Baumstamm aufwachsen. In ihrer Verhangenheit blattförmig wirken ihre Gesichter. Fest und geschlossen wie ein Stamm wächst auch die entfernter Stehende über der Quellnymphe, genauer: aus deren aufwärts gewandtem Antlitz, nach oben. Die Gruppierung kann gelesen werden als Zusammenhang von Quell- und Baumnymphe. Ganz locker ist das Inkarnat der „Badenden", der Nymphen, gemalt, in Elfenbeinweiß, Grauweiß, Hellgrün, Graugrün, mit höchsten Helligkeiten, die aus dem in Lichtflecken durchschimmernden Grund herrühren. Ahnlich locker sind das Tuch, das Wasser und der Himmel gemalt, dichter dagegen das Grün der Wiese und das Braun und Grün des linken Baumes, wobei hier Rinde und Baumkrone durch freigelassene Streifen des Grundes artikuliert werden. Der Farbauftrag aber erscheint in den Inkarnaten noch leichter, offener als selbst im Himmel. So wirken die Frauengestalten beweglich, wie Träger von zarten und doch entschiedenen Kräften, von Kräften der Natur, die sie haben entstehen lassen, aus Wasser, Pflanzenreich und Licht. Das Grün der Natur öffnet sich ins Inkarnat der Nymphen und ruht selbst auf einem Grund von Weiß. Die Natur hat alle Schwere verloren. Im Klang der Farben und im Schwingen des Rhythmus offenbart sich die Schönheit der Natur. In einen mythologisch bestimmten Zusammenhang gehören wohl auch die drei Werke, die unter dem Titel „La lutte d'amour" , „Der Liebeskampf' firmieren: Drei Paare — offenbar von Nymphen und Satyrn — in verschiedenen Konfigurationen erotischsexueller Begegnung in freier Landschaft. Eine erste Fassung stammt von 1879-1880 (42 χ 55 cm. Privatsammlung. R. 455), eine zweite, malerisch freiere, von etwa 1880, wird in der National Gallery of Art in Washington aufbewahrt (37,8 χ 46,4 cm. R. 456), ein Aquarell mit Gouache über Bleistift von etwa 1880 besitzt Walter Feilchenfeldt, Zürich (19 χ 24,5 cm. RW. 60). John Rewald fühlte sich bei diesen Werken an Bacchanalien Tizians erinnert. Er erwähnt Tizians „Bacchus und Ariadne" in der National Gallery London, gemalt zwischen 1520/23. Cézanne könnte dieses Werk in einem Stich gesehen haben. 34 Es wären damit die Wesen aus Bacchus' Gefolge, Satyrn, Nymphen und vielleicht Mänaden, die Cézanne hier vergegenwärtigt hat. Den „Trois Baigneuses" des Musée d'Orsay sind chronologisch vergleichbar „Les cinq Baigneurs" desselben Museums (24 χ 25 cm. 1876—77. R. 254). Kühle Gesamtfarbigkeit beherrscht das Bild, ein Klang aus kühlem Grün, lichtem Blau und zar34 T h e Paintings of Paul Cézanne, Vol. 1, S. 507, 508.
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ten, weißlich-ockerfarbenen oder weißlich-hellgrünen Inkarnaten (die jedoch weniger lichthaft wirken als die weiblichen). Ein ausgeprägter Ockerton bildet die Brücke zwischen dem als Rückenfigur dargestellten Stehenden und dem mittleren, im Wasser Befindlichen. Das Bild wirkt, als wären alle Bildgegenstände aus der Farbe entstanden: Grün, Blau und Braun entlassen aus sich Bäume, Himmel, Wasser und Menschen. Weißlich über Blaugrau schimmert der Baumstamm links, über kühlem Grün das Laub der Bildmitte. Schwarzgrüne und schwarzblaue Schattensäume rhythmisieren das Bild, fassen Menschen und Bäume zusammen und verleihen dem Bildraum unmeßbare Tiefe. Alle Farben werden in Relation zu diesen Dunkelsäumen lichthaft und zugleich tragen einige Farbbereiche „materielles" Licht in Form von aufgesetztem Weiß. Vom weißen Grund steigt ein Glitzern auf über das ganze Bild, funkelt durch schwarzgrüne und schwarzblaue Dunkelheiten. Die Menschen sind Teil der Natur — die Männer aber verharrend, die Frauen häufig bewegt. „Skizzenhaft" — aber umso herrlicher im Farbklang — wirken die späten „Baigneurs" des Musée d'Orsay, Paris (22 χ 33 cm. 1899-1900. R. 862), heller und bewegter als die früheren Darstellungen, und leuchtender, durchdrungen vom Licht des Grundes. Das Tuch des vom Rücken Gesehenen ist lichtblau wie der Himmel und das Wasser. Der linke Badende, vom Baum umgeben, ist von leicht grautonigem Blau durchdrungen, das über einem Inkarnatton aus zartem Grauocker liegt. Die blaue „Zäsur" zwischen den beiden Figuren lichtet sich ins Weißliche. Im Blau des Wassers ist ein Oberkörper nur zu ahnen, und auch der folgende, von der Seite Gesehene, geht fast ganz in der umgebenden Natur auf: Das strahlende Grün der Uferzone jenseits des Wasserlaufes durchdringt seinen Oberschenkel. Seine schwarzbläuliche Kontur setzt sich fort in den Dunkelstreifen des Baumes über ihm. Der Kopf des Vornübergebeugten verliert sich im Baum, der ihn foliiert, und desgleichen eine nur im Unterleib angedeutete Gestalt. Die Männer werden Teil eines in dunklem und hellem Grün wechselnden Rhythmus von Wiese und Bäumen sowie des Blau in Wasser und Himmel. Die Bodenzone vorne besetzt ein Ockerton. Er verbindet ihn mit dem Inkarnat des Stehenden, vom Rücken Gesehenen, der das blaue Tuch, den stärksten Farbakzent, trägt, — und damit vereinen sich Horizontale und Vertikale zur kraftvollen Strukturierung eines vielfältig bewegten farbigen Lebens, das Menschen und Natur übergreift. Gesamtfarbigkeit herrscht auch in den um 1900 entstandenen „Sept Baigneurs" der Fondation Beyeler in Riehen/Basel (37 χ 45 cm. R. 860. Taf. 12), gewonnen durch eine Modulation, die anhebt im Grau der Leinwandgrundierung in der unteren Bildmitte. Links davon erscheint Ockergelb, rechts Graublau, zuerst hell, dann ins Dunkle sich vertiefend. Aus dem Ockergelb wird Braun, dann tauchen auch hier Graublau und Grau auf, sowie darüber Grün und Orangeocker. Im Klang von Graublau und Gelbocker sind die Badenden moduliert, wobei Graublau den Schattenton abgibt. Schwarzblau sind die Konturen, die zugleich Bewegungsträger sind und sich als solche autonom setzen. Blau ist der Grund, der Himmel. Von links kommt das Licht der Sonne. Rechts wird der Himmel dunkler, rechts ist die Zone blauer Verschattung.
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Nach rechts fallen Schlagschatten. In dunkles Blau vertieft sich die Landschaft unten rechts. In den Gang des Lichtes ordnen sich die Bewegungen der Badenden ein. Ihre Rhythmik ist bestimmt vom Licht der „unsichtbaren Sonne", wie es Gasquet als Intention Cézannes überlieferte. Die Farbstriche treten als Energieträger in Erscheinung, als dunkle Flammen vor allem nahe der Bildmitte, als Zeichen einer Metamorphose zwischen menschlicher Gestalt und Naturkräften. Aus dem Grund freigelassene Hellstreifen bilden Strahlenformen in der linken oberen Bildecke, dort, wo das Licht der Sonne in das Bild einbricht. Alle Farben leuchten, vor allem das Blau, das zum in sich bewegten, von Grün- und Grautönen durchsetzten farbigen Licht wird, in seinen Dunkelheiten aber Schatten ist. Ekstatisch wenden sich die Menschen der Natur, dem Licht, dem Wasser, dem Blau des Himmels zu. Die Farblithographie von 1896/97 „Badende Männer" (als große Fassung 41 χ 50 cm) glitzert und funkelt in den Kontrasten zwischen dem Weiß des Grundes, dem Schwarz der Konturen und einem kühlen Grün, bereichert um einige Ockertöne, die sich an die Gliederungen der Wiesenmatten anlagern. Klare Ockertöne erscheinen im Gewandstück unten links, Schwarzblau-Töne im Gewandstück oder Felsblock unten rechts. Die Wolken stehen vor einem mittelgrauen, leicht blautonigem Himmel. Wolken- und Bergformen entsprechen einander. Hellgraue und leicht bläulichgraue Farbsäume haben hier das Wort. Die Verhältnismäßigkeit der hellen Intervalle und der hellen Körper-Elemente ist nun ein wichtiges Gestaltungsmittel. Die menschliche Figur wird den Naturformen engeglichen, und alle Formen entsprechen den Grundrichtungen des Bildes, die zugleich Grundrichtungen leiblichen In-der-Welt-Seins sind: Horizontale, Vertikale, Schräge und vermittelnde Kurven. Kreisförmig vollzieht sich die Bildbewegung. Sie setzt links ein mit dem Liegenden. Eine Vorbereitung bildet das Gewandstilleben unter ihm. Mit der Wiesenmatte zieht die Bewegung nach rechts und kehrt dort um. Der Badende, der seinen rechten Fuß aufstützt und den Kopf nach hinten wendet (früher studiert nach dem „Sandalenbindenden Hermes" und dem „Merkur" von Pigalle), vollzieht eine Drehbewegung und so auch das Gewandstück unter ihm. Der Baum rechts leitet zurück und in das Bild hinein, der Berg steigt auf nach links und über ihm die Wolken. Sie ziehen zum Licht der Sonne, das von links einfällt. Links, im Ausblick auf die Ferne, findet die Bewegung ihren Abschluß. Im linken Mittelgrund begrüßt ein Nackter mit hochgerissenem Arm die Sonne. Rechts neben ihm wächst steil ein Baum empor. Die Vertikalen dieser Gruppe weisen zurück auf die Horizontale des Liegenden. Die Bewegung kehrt in sich zurück, als Kreislauf des Kosmos. Die große Frontalfigur des Stehenden vereint in sich, unter der Dominanz der Vertikalen, alle Grundrichtungen: Horizontale, Schrägen, Kurven. Sind so die „Badenden" Vergegenwärtigungen des Menschen im Kosmos, so findet sich in einzelnen Darstellungen männlicher Badender ein deutlicher Hinweis auf die christliche Taufe, — wie bei den weiblichen auf den mythischen Horizont der Nymphen. Als Taufszenen sind zu verstehen Darstellungen wie die „Baigneurs" von etwa 1890 im Musée d'Orsay, Paris (60 χ 81 cm. R. 665), die „Baigneurs" von 1890/92 im Saint
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Die Kunst Cézannes
Louis Art Museum (52,7 χ 64,2 cm. R. 666) oder die Aquarelle „Baigneurs" von 1890/94 im Museum of Modern Art, New York (12,7 χ 20,6 cm. RW. 130) und RW. 132 (ca. 1888. 14,5 χ 20,6 cm. Annenberg Coli. Palm Springs, Calif.). In späten Darstellungen von „Badenden" aber verschwindet alle benennbare Thematik und vor unseren Augen entfaltet sich ekstatisches Tanzen wie in der „Esquisse de baigneurs" von 1900/1902 in der Kobayashi Gallery, Tokio (20 χ 33 cm. R. 866) oder dem Aquarell „Baigneurs", entstanden um 1900, RW. 134 (13 χ 21 cm, Bridgestone Museum of Art, Tokio. Rewald datiert ca. 1890). Oder wir sehen heiteres Treiben im Wasser vor festlich schwingenden oder erhaben aufragenden Bäumen, wie in Aquarellen von ca. 1903, RW. 609 (22,4 χ 31,5 cm. Privatbesitz Zürich) und RW. 605 von 1902/06 (21 χ 27 cm. Privatbesitz Zürich), oder gelassenes Lagern von hellen Frauen in einer grünen und blauen Fülle der Natur, so im Aquarell „Baigneuses" von 1902/06 (21 χ 27 cm. Privatbesitz Zürich. RW. 608), alles Zeugnisse eines friedvollen, freudigen Daseins von Menschen in der Natur. Immer aber und schon von früh an war dieses Dasein der Menschen oder menschenähnlicher Wesen (Nymphen) in der Natur ein rhythmisch gegliedertes - und auch darin harmonisches. Cézannes „Badende" sind in besondererWeise farbig-strahlend und rhythmisch gegliedert und gruppiert. Eine kurze Aufreihung soll auf die Fülle von Gliederungsmöglichkeiten gerade dieser Themengruppe aufmerksam machen. Cézanne beginnt mit einer Dreiergruppierung von voluminösen Frauen, die in ihrer Leiblichkeit den dicken Baumstämmen entsprechen, bei den „Trois Baigneuses" von 1876/77 (vielleicht auch früher schon entstanden; 24,8 χ 34,5 cm. Privatbesitz. R. 358). Bei einer anderen Dreiergruppe ist die Zone zwischen erster und zweiter Figur durch Gelb akzentuiert. Das Bild von 1876-77 (52 χ 54,5 cm. R. 360) kam 1936 als Stiftung von Henri Matisse, der es schon 1899 gekauft hatte, in das Musée de la Ville de Paris im Petit Palais.35 Die Dreiergruppe wird zu einer Gruppierung von vier Figuren erweitert bei den „Quatre Baigneuses" von 1877-78 (38 χ 46 cm. Tokyo, Privatbesitz. R. 363). Ähnlich erscheint bei der bildmäßig durchgearbeiteten, zwischen 1879—82 entstandenen Zeichnung die vierte Figur, eine Sitzende rechts, durch einen größeren Abstand von der geschlossener wirkenden Dreiergruppe entfernt. (Bleistift, 20,3 χ 22,3 cm. Museum Boymans-van Beuningen, Rotterdam. Ch. 514.) Eine weitere Sitzende ergänzt die Komposition zur Fünfergruppe bei den „Cinq Baigneuses" von 1877—78 (45,5 χ 55 cm. R. 365), dem Bild, das einst Picasso gehörte und nun im Musée Picasso in Paris zu sehen ist. Bei einer Zeichnung von „Fünf Badenden", der Entwurfsstudie fur die Basler „Badenden", antwortet dagegen die rechte Figur als Stehende der linken Ste-
35 Vgl· dazu: Christian Geelhaar: Die richtigen Augen der Maler. Zur Rezeption von Cézannes Badenekn. In: Ausst. Kat. Paul Cézanne: Die Badenden. Kunstmuseum Basel 1989, S. 275-303.
„Kartenspieler" und „Badende"
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henden, und die drei anderen bilden eine engere Mittelgruppe. Die Zeichnung ist quadriert und stammt von 1885-87 (Bleistift, 13,5 χ 13 cm. Ch. 517). Schon mehrere Jahre zuvor wagte sich Cézanne an größere Figurengruppen, bei denen er aber damals den Charakter der Reihung nicht überwinden konnte. So erscheinen bei den „Baigneuses" von 1875—76 (38,1 χ 46 cm. Metropolitan Museum of Art, New York. R. 256), wahrscheinlich einer der ersten Kompositionen von „Badenden", die Figuren aufgereiht als Liegende, Stehende, Sitzende, Stehende, im Wasser Stehende und eine sich nach links Beugende, in einer Landschaft, deren Elemente ähnlich kontrastreich gereiht sind. Bei den „Badenden vor einem Zelt" von 1883-85 (möglicherweise aber auch schon früher entstanden, 63 χ 85 cm. Staatsgalerie Stuttgart. R. 553) wird eine Dreiergruppe von Sitzender, Stehender, Sitzender ergänzt durch zwei weitere Figuren. Nach einer Reproduktion dieses Bildes schuf Franz Marc seine Einbandzeichnung fur Meier-Graefes erste, erstmals 1910 erschienene Cézanne-Monographie, der ersten überhaupt. Späteren Bildern ist eine flüssigere Komposition eigen. So den „Six Baigneuses", die auch den Titel „Les Ondines", „Die Nixen" tragen (gemalt etwa 1887. 33 χ 44 cm. Privatbesitz. R. 588), in klarer Akzentuierung von erster und zweiter Figur und einer abschließenden Gruppierung von vier Gestalten, mit hellen Inkarnaten in einer lichterfullten Landschaft. Die „Baigneuses" von 1890—95 der Stiftung Langmatt Sidney und Jenny Brown, Baden/Schweiz (28,5 χ 51 cm. R. 669) erfüllt ein Gesamtrhythmus. Ihm fügen sich die linke Dreiergruppe, die mittlere Zweiergruppe und die schließende Fünfergruppe harmonisch ein. Die Einzelgruppen lösen sich in eine Gesamtbewegung. Die andere Möglichkeit ist die einer klaren Trennung von linker und rechter Gruppe, wie etwa bei den „Baigneuses" im Musée Granet, Aix-en-Provence, von etwa 1890 (28 χ 44 cm. R. 668), mit einer Gruppierung, die vorbereitet auf die große Komposition der Barnes Foundation. Auch die „Grandes Baigneuses" des Museums in Philadelphia sind hier zu nennen, mit ihrer Teilung in eine Sechsergruppe links und eine Achtergruppe rechts. Als dynamische Variante hierzu können die „Baigneuses" von 1899-1904 im Art Institute of Chicago verstanden werden (51,5 χ 61,9 cm. R. 859). Einer linken Sechsergruppe antwortet hier eine rechte Siebenergruppe vor schrägen, nach rechts stoßenden Bäumen. Bei den „Baigneuses" von 1902-06, diesem herrlich gelösten Spätwerk (75,5 χ 92,5 cm. Privatbesitz. R. 877) schließlich vereinen sich die Einzelgruppen, die linke Dreiergruppe, die mittlere Vierergruppe und die in ihrer Anzahl kaum fixierbare Gruppe rechts zu einer bewegten, rhythmisch schwingenden Figurenkette. Mit einigen Beispielen von „Baigneurs" sei diese Ubersicht abgeschlossen. Auch hier stehen als erste Möglichkeit Dreiergruppen, so bei dem in Ocker, hellem Grün und Blau leuchtenden und glitzernden Bild „Le Bain" von 1880—82 (möglicherweise auch später entstanden. 35 χ 22 cm. Schweizer Privatbesitz. R. 451), zur Fünfergruppe erweitert bei den „Cinq Baigneurs" von 1879-80 im Detroit Institute of Art (34,5 χ 38,1 cm. R. 448), zur Sechsergruppe beim Bild „Le Bain" des Puschkin-Museums
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Die Kunst Cézannes
Moskau von 1892—94 (26 χ 40 cm. R. 754), wobei zwischen einer linken Dreier- und einer rechten Zweiergruppe der Kopf eines Badenden im Wasser vermittelt, oder zu einer Achtergruppe bei den „Baigneurs" von etwa 1890 im Pariser Musée d'Orsay (60 χ 81 cm. R. 665). Vier Gruppen im Mittelgrund hinterlegen hier vier Vordergrundgestalten. Cézanne verwendet häufig ähnliche Figurentypen. Diese wandelt er stets ab in immer neuen Gruppierungen und Rhythmen, und der Figurenrhythmik entspricht auf jeweils andere Weise die Rhythmik der Bäume und der Wolken, der Rhythmus der Natur. Nicht um die Erfindung von Einzelfiguren geht es Cézanne bei seinen „Badenden", sondern um die je neue, umfassendere, freiere Vergegenwärtigung eines Zusammenseins von Menschen in einer freien Natur.
BILDNISSE
Eine Erörterung des Figurenbildes und vor allem des Bildnisses in der Kunst Cézannes muß einleitend auf die unterschiedlichen Auffassungen der Forschung zu diesen Gattungen der Malerei Cézannes hinweisen. Eine radikale Position bezog der angesehene österreichische Cézanne-Forscher Fritz Novotny, der 1938 die wichtige Untersuchung „Cézanne und das Ende der wissenschaftlichen Perspektive" veröffentlichte sowie davor und danach eine Reihe anderer Beiträge zu Cézanne. In seinem erstmals 1932 erschienenen Aufsatz „Das Problem des Menschen Cézanne im Verhältnis zu seiner Kunst"1 schreibt Novotny: „Was das Element des .Menschlichen' in der Gestaltung betrifft, so ist zu sagen, daß diese Kunst gerade durch sein Fehlen bestimmt ist. Man könnte von einer .außermenschlichen' Anschauungs- und Gestaltungsart sprechen. Dieser Begriff des ,Außermenschlichen' ist so zu verstehen: Voraussetzung für das ,Außermenschliche' als Gestaltungsform in der alles umfassenden Bedeutung, die es bei Cézanne hat, ist eine Versenkung in die Betrachtung der Umwelt, die sich vom Menschen abgewendet hat, entscheidend aber ist das Fehlen jeder intellektuellen oder gefuhlshaften Anteilnahme des Menschen an dem Leben der dargestellten Dinge. Beides zusammen erst ergibt das Besondere des Problems bei Cézanne. Seine Kunst steht entwicklungsgeschichtlich an dem Ende der Epoche, die den Menschen aus dem Stoffgebiet der bildenden Kunst in höherem Maße ausgeschlossen hat als alle vorangehende Darstellung. Sie steht am Ende der letzten großen und ausschließlichsten Periode der Landschaftsmalerei, die ja als selbständige Bildgattung in der abendländischen Kunst eine verhältnismäßig kurze Vergangenheit hat. So wenig diese Tatsache allein besagt, so darf sie doch hier nicht übersehen werden als Beweis dafür, daß die Alleinherrschaft des Menschen in der Darstellung mit dem sechzehnten Jahrhundert zu Ende war. Viel bedeutender aber und tiefer reichend ist ein anderes entwicklungsgeschichtliches Faktum, das mit jenem parallel geht. Es wurde in den letzten Jahrhunderten der europäischen Malerei nicht nur das Stoffgebiet über die Sphäre des Menschlichen quantitativ erweitert, sondern es richtete sich der Blick des Menschen auch innerhalb der neuen Gegenstandswelt, der Landschaft im weitesten Sinne, auf neue Objekte, die als solche der vorangehenden Kunst nicht in dieser Art bewußt oder belanglos waren: auf
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Der im Erstdruck in der „Zeitschrift fur Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft" publizierte Aufsatz wurde wiederabgedruckt in dem Novotny „zum Abschied von der Österreichischen Galerie" in Wien gewidmeten Sammelband „Fritz Novotny: Uber das .Elementare' in der Kunstgeschichte und andere Aufsätze", Wien 1 9 6 8 , S. 6 2 - 7 8 . Danach wird zitiert. Zitate auf den Seiten 64, 65, 66, 67, 68, 69, 70, 7 1 , 73.
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Luft und Licht. Es ist dies ein Weg gleichsam aus der Welt der Objekte in eine Welt der Elemente. Die grundsätzliche Vergeistigung und Abstraktion, die dieser Ubergang darstellt, ist aber keine absolute, denn er betrifft im Grunde doch nur einen Wechsel in Materien. Nur soweit bedeutet er eine Entfernung vom Menschen, eine Einschränkung der anthropozentrischen Weltbetrachtung. Aber noch blieb die Möglichkeit, eine im Stofflichen auch noch so sehr vom Menschen entfernte Objektwelt .menschlich' zu betrachten. Die letzte Stufe des Außermenschlichen' oder richtiger: das, was im eigendichen Sinne diese Bezeichnung verdient, liegt in der —von dem Stoff des Dargestellten unabhängigen — Betrachtungsform, erst die Negation des,Menschlichen' im Subjekt bedeutete die Vollendung jenes Prozesses, der in der Entwicklung der europäischen Malerei der Neuzeit eine [...] große Rolle spielt. Er ist am deutlichsten erkennbar in der Landschaftsdarstellung, in dieser sind der entwicklungsgeschichtliche Weg und die seltenen Vorläufer am leichtesten aufzufinden." An späterer Stelle charakterisiert Novotny die Landschaftsgestaltungen C.D. Friedrichs und die des Impressionismus und erklärt: „Der unendlichen Zahl möglicher Beziehungen zwischen Mensch und Landschaft und ihrer Gestaltungen in der vorangehenden Malerei steht in der Kunst Cézannes die Beziehungslosigkeit zwischen Natur und menschlicher Empfindung gegenüber." Es folgen Aussagen über die „beispiellose Verleugnung [...] des betrachtenden und schaffenden Subjekts", den „Ausschluß des Menschlichen", die „eigenartige ,Seelenlosigkeit' oder besser: Entseeltheit der Einzeldinge, sowohl der Lebewesen als auch der unbelebten Dinge in den Bildern Cézannes" und die „ Unlebendigkeit als zentrale Eigenschaft" der Kunst Cézannes: „In puppenhafter Starrheit erscheinen die Menschen, als zeigte jede Landschaft vollkommene Windstille, so sind Laub und Wasserfläche unbewegt, aber es fehlt auch das Fühlbarmachen des bewegungslosen organischen Lebens, und von den Objekten der organischen Natur absteigend zu den anorganischen, zeigen sich auch diese wie von einer über ihre natürliche Bewegungslosigkeit hinausgehenden Starrheit erfaßt. So ist es eine Summe negativ formulierbarer Merkmale, die das Verhältnis zwischen Naturobjekt und Gestaltung in der Kunst Cézannes bestimmen: in ihr ist eine Bildwelt geschaffen, aus der alles entfernt ist, was eine gedankliche und gefühlshafte Erfassung des Lebens der dargestellten Dinge ermöglichen oder erleichtern könnte, der Stimmungsgehalt ist systematisch ausgeschieden, das Leben wie vor einem ,außermenschlichen' Blick erkaltet, der Raum entzaubert [...]." So kommt Novotny zu der Feststellung: „Es ist kein reinerer Gegensatz zu aller Ausdruckskunst denkbar als die Kunst Cézannes." Andererseits und gerade deshalb „hat Cézanne die vollendete Autonomie malerischer Gestaltung erreicht [...]. Eine von der Verstandeswelt unabhängige und ihr ebenbürtige Welt der reinen künstlerischen Anschauung zu bilden, gehört ja im allgemeinen zum Wesen der bildenden Kunst, aus diesem Wesensanteil aber den eigentlich bestimmenden künstlerischen Inhalt gemacht zu haben, ist die geistesgeschichtliche Tat Cézannes." Eigenartigerweise verbindet Novotny seine These vom ,Außermenschlichen" der Kunst Cézannes mit einer Parallelisierung Cézannes mit Kant. Novotny behauptet „ei-
Bildnisse
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ne Geistesverwandtschaft Cézannes mit dem größten Erkenntniskritiker" und meint: „Es ist ein systematischer Vergleich denkbar zwischen der Kunst Cézannes und der Philosophie Kants, der zur Erkenntnis und Erläuterung wesentlicher Eigenschaften jener Malerei dienlicher sein könnte als manche entwicklungsgeschichtlich-historische Ableitung." Schon hier zeigt sich eine Fragwürdigkeit des Begriffs des „Außermenschlichen", denn Kants Philosophie ist ja gerade nicht eine Philosophie des außermenschlichen Blicks, sondern eine Analyse der Bedingungen und der Ermöglichung menschlicher Erkenntnis, menschlichen Handelns, menschlicher Freiheit. Novotny gelangt im folgenden aber auch zu einigen positiven Aussagen, die ahnen lassen, was mit dem Bezug zu Kant gemeint sein könnte. Er schreibt z.B.: „Das ,Werden' in einem Bild Cézannes [...] hat den Sinn des Entstehens der Objekte. [...] Die Wirkung des Entstehens, des Werdens der Bilderscheinung und der einzelnen Bildobjekte in der Malerei Cézannes steht in Verbindung mit der Vorstellung von einem Grundelement, aus welchem die Objekte entstehen. Dieses ist zunächst sichtbar als homogener Stoff, aus welchem die Dinge zu bestehen scheinen: sie sind, ohne grundsätzlich durchgeführte Differenzierung der stofflichen Erscheinungen, wie aus einer Substanz gebildet. [...] Das Element, aus dem alle Dinge in der Bildwelt Cézannes geformt zu sein scheinen, ist materiell, zugleich aber wie schwerelos und, infolge des Mangels der differenzierenden Wiedergabe stofflichen Reizes, wie ein Schema der Materie. Dieses erinnert wohl am ehesten an eine Art von Urstoff, es darf aber der Versuch einer Charakterisierung der Rolle der Stofflichkeit in der Darstellungsform Cézannes nicht bei einem solchen Vergleich stehenbleiben. Verglichen mit der Naturerscheinung bedeuten die Dinge in der Gestaltung Cézannes nicht eine Urform, in bezug auf die ihnen zugrunde liegende, scheinbar gemeinsame Materie ebensowenig wie im Gebiet der räumlichen und körperlichen Erscheinung, das Urwelthafte der Landschaften, das, Grundlegende' aller Erscheinungen in der Kunst Cézannes wirkt nicht als bestimmt von objektiven Gesetzen innerhalb einer Bildwelt, sondern es ist, als wären die Vorbedingungen, die .konstitutiven Prinzipien' der Objekterscheinung fur unsere Erkenntnis mitgemalt, [... und zwar] als Hauptelemente der künstlerischen Gesamterscheinung [...]. Das bedeutsamste unter ihnen ist der Raum, an seinen Beziehungen zu den Einzelobjekten wird die Art der erscheinungshaften Grundbedingungen am deutlichsten erkennbar." In Cézannes Werken scheinen „die Dinge aus einem Ungeformten hervorzuwachsen, was besonders deutlich in den Aquarellen ist und in den Gemälden dann, wenn die Leinwand die bekannten leeren, unbemalten Stellen aufweist. [...] Es ist, als wäre der Raum als Vorbedingung der Objektwelt gestaltet und diese, die einzelnen Dinge, als seine Erscheinungsformen." Aber dies „Ungeformte" ist das Weiß als Träger des Lichts und seiner Grenzenlosigkeit und gewinnt daraus eine Bedeutung, auf die später einzugehen sein wird. Der Bezug zu Kant bestünde demnach darin, daß Cézanne die Dinge zeige gemäß den .„konstitutiven Prinzipien' der Objekterscheinung für unsere Erkenntnis". Damit ist ein wichtiger Ansatz formuliert, der es verdient, weitergeführt zu werden, wobei allerdings ein Schritt über Kant hinaus, zu Schellings Philosophie der Kunst und
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der Natur, zu vollziehen ist. Mit einem „Außermenschlichen" aber hat all dieses nichts zu tun. Novotnys Bestimmung der Kunst Cézannes als einer „außermenschlichen" ist nach dieser Hinsicht höchst fragwürdig und lädt zu Mißverständnissen ein. Ein solches Mißverständnis ist es, wenn Novotnys Bestimmung von Hans Sedlmayr aufgenommen wurde in seinem erstmals 1948 erschienenem Buch „Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symptom und Symbol der Zeit." 2 Ein Abschnitt des fünften Kapitels „Das entfesselte Chaos" trägt den Titel „Das reine Sehen (Cézanne)". Hier bezieht sich Sedlmayr auf Novotnys Untersuchung „Cézanne und das Ende der wissenschaftlichen Perspektive", Wien 1938, und auf dessen Cézanne-Band, Wien 1937, und schreibt: „Die Malerei Cézannes ist seit jeher als ein Schlüsselpunkt zum Verständnis der modernen Malerei empfunden worden. Aber die eigentümliche Stellung seiner Kunst jenseits von Impressionismus und Expressionismus ist erst in der jüngsten Forschung ganz sichtbar geworden." „Cézannes Malerei ist, ihrer inneren Absicht nach, die Darstellung dessen, was das von allen intellektuellen und gefühlshaften Beimischungen gesäuberte ,reine' Sehen in der sichtbaren Welt vorfindet. Dieser Kampf um das pure Sehen ist selbst Symptom." Danach fügt Sedlmayr einen eigenen Vergleich ein: „Es gibt in der natürlichen Erfahrung einen Zustand, der dieser von Cézanne zum Prinzip erhobenen Haltung einigermaßen entspricht. Es ist jener seltene Zustand zwischen Erwachen und vollem Wachsein, in dem sozusagen nur das Auge wach ist, während der Intellekt noch ruht. Dann erscheint die gewohnte Welt als Gefüge von Flecken und Formen verschiedener Gestalt, Farbe, Größe und ,Konsistenz'; die gewohnten Dinge warten gleichsam hinter diesem farbigen Gewebe, um aus ihm zu entstehen. [...] Der Zauber dieses Verhaltens besteht darin, daß alles neu aussieht, daß das Alltäglichste eine sonderbare ursprüngliche Frische, etwas,Elementares' gewinnt. Vor allem aber gewinnt die Farbe, befreit von ihrer Aufgabe, die Dinge zu kennzeichnen, eine nie gekannte Intensität. In dem Augenblick, in dem unser helles Wissen sich einmengt, löst sich diese Erscheinung auf, und der Zauber ist zu Ende. Die Bilder Cézannes halten diesen oder einen ähnlichen Zustand des Sehens fest. Sie lassen den, der sein Wissen zu verhalten vermag, die Welt des Alltäglichen in einer Erscheinungsweise erblicken, in der sie bedeutender, ja ,wirklicher' (seiender - wenn man so sagen darf) erscheint als die gewohnte. Indem sie uns aber ganz auf die Erlebnisse des Auges beschränkt, verschließt sich die gesehene Welt vollkommen unserer Einfühlung." Damit ist ftir Sedlmayr eine eindeutig negative Bewertung verbunden, denn er fährt an etwas späterer Stelle fort: „Dieses Prinzip ist zugleich etwas sehr,Natürliches' und etwas äußerst Künstliches. Es fordert ein Verhalten, wie es im Leben nur unter ganz bestimmten seltenen Bedingungen sich einstellt, einen Zustand äußerster Teilnahmslosigkeit des Geistes und der Seele an den Erlebnissen des Auges. In diesem Sinne ist es zu verstehen, wenn Novotny die Kunst Cézannes mit Recht als außermenschlich 2
Zitate nach der Taschenbuchausgabe, Ullstein Buch, Frankfurt am Main 1955, S. 97, 9 8 - 1 0 0 .
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und lebensfern bezeichnet, denn es ist allerdings gegen das Wesen des Menschen, aus dem Vorgang der Anschauung die anderen Sphären des Menschlichen zugunsten des puren Sehens so abzuziehen. Cézannes Kunst ist ein ,Grenzfall'. Sie ist wie ein schmaler Grat zwischen dem Impressionismus und dem Expressionismus, sie bereitet den Ausbruch des Außermenschlichen vor. Denn sie führt dazu, daß der Mensch im Widerspruch zur natürlichen Erfahrung mit den anderen Dingen auf eine Stufe kommt. Bald darauf wird bei Seurat der Mensch wie eine Holzpuppe, ein Mannequin oder Automat erscheinen, später wird bei Matisse seine Gestalt keine größere Bedeutung mehr haben als das Muster einer Tapete, bei den Kubisten wird er auf eine Stufe mit einem Konstruktionsmodell herabgesetzt werden. Hier grenzt das Verhalten dieser vermeintlich,reinen' Maler an das Pathologische, an jene krankhaften Erscheinungen, die in einem Versagen der Einfühlung bestehen. Alles ist in diesen Zuständen tot und fremd, die Menschen sehen nur noch äußerlich, aber sie werden sich des seelischen Lebens der anderen nicht mehr bewußt." Derart vergröbert Sedlmayr Novotnys Deutung und wendet sie ins Negative — was Novotny ganz fern gelegen hat. Es könnte scheinen, als wäre die von Sedlmayr formulierte Krankheitsdiagnose allein auf das Konto eines christlich-konservativen Kunsthistorikers zu setzen. Um so erstaunter ist man, eine ähnliche Krankheitsdiagnose, wenn auch mit gänzlich anderer Intention, auch bei Maurice Merleau-Ponty (1908—1961), dem französischen Phänomenologen, zu lesen — und auch sie in Ubereinstimmung mit Auffassungen Novotnys. Sein schon 1942 verfaßter Artikel „Der Zweifel Cézannes" erschien 1948, im selben Jahr wie Sedlmayrs „Verlust der Mitte", und auch er ist entstanden aus der Erfahrung des Zweiten Weltkriegs und als Versuch einer geistigen und politischen Neuorientierung. In deutscher Übersetzung wurde Merlau-Pontys Aufsatz aufgenommen in den von Gottfried Boehm herausgegebenen Sammelband „Was ist ein Bild?", München 1994, S. 39—59. Darin bezeugt sich das Fortwirken dieses Cézanne-Verständnisses bis in unsere Gegenwart. Ich komme darauf zurück. Doch es gibt auch andere Auffassungen. Hier ist an erster Stelle Rainer Maria Rilke zu nennen, und seine Briefe über Cézanne, die er zwischen dem 6. und 24. Oktober 1907, unter dem Eindruck der großen, mehr als fünfzig Werke versammelnden Cézanne-Gedächtnisausstellung im Pariser Herbstsalon an seine Frau Clara geschrieben hat3. Am 22. Oktober 1907 schreibt Rilke an seine Frau: „...heute schließt der Salon. Und schon, da ich zum letzten Mal von dort nach Hause gehe, möchte ich ein Violett, ein Grün oder gewisse blaue Töne wieder aufsuchen, von denen mir scheint, daß ich sie hätte besser, unvergeßlicher sehen müssen. Schon, obwohl ich so oft aufmerk3
Zitiert nach: Rainer Maria Rilke: Briefe über Cézanne. Hrsg. von Heinrich Wiegand Petzet. Frankfurt am Main 1983, S. 58-60.
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sam und unnachgiebig davorgestanden habe, wird in meiner Erinnerung der große Farbzusammenhang der Frau im roten Fauteuil so wenig wiederholbar wie eine sehr vielstellige Zahl. Und doch hab ich sie mir eingeprägt, Ziffer fiir Ziffer. [Rilke spricht vom Bildnis „Madame Cézanne im gestreiften Rock" von 1877. 72,5 x 56 cm. Boston, Museum of Fine Arts. R. 324.] In meinem Gefühl ist das Bewußtsein ihres Vorhandenseins zu einer Erhöhung geworden, die ich noch im Schlafe fühle; mein Blut beschreibt sie in mir, aber das Sagen geht irgendwo draußen vorbei und wird nicht hereingerufen. Schrieb ich von ihr? — Vor eine erdig-grüne Wand, in der ein kobaltblaues Muster (ein Kreuz mit ausgesparter Mitte +) rar wiederkehrt, ist ein roter, ganz gepolsterter niedriger Sessel geschoben; die rund gewulstete Lehne rundet und senkt sich nach vorne zu Armlehnen (die wie der Rockärmelstumpf eines Armlosen geschlossen sind). Die linke Armlehne und die Quaste, die voller Zinnober von ihr herunterhängt, haben schon nicht mehr die Wand hinter sich, sondern einen breiten unteren Randstreifen aus grünem Blau, gegen den ihr Widerspruch laut anklingt. In diesen roten Fauteuil, der eine Persönlichkeit ist, ist eine Frau gesetzt, die Hände im Schoß eines breit senkrecht gestreiften Kleides, das ganz leicht mit kleinen verteilten Stücken grüner Gelbs und gelber Grüns angegeben ist, bis an den Rand der blaugrauen Jacke, die eine blaue, mit grünen Reflexen spielende Seidenschleife vorne zusammenhält. In der Helligkeit des Gesichts ist die Nähe all dieser Farben zu einer einfachen Modellierung ausgenutzt; selbst das Braun des über den Scheiteln rund aufgelegten Haars und das glatte Braun in den Augen muß sich äußern gegen seine Umgebung. Es ist, ah wüßtejede Stelle von allen. So sehr nimmt sie teil; so sehr geht auf ihr Anpassung und Ablehnung vor sich; so sehr sorgt jede in ihrer Weise für das Gleichgewicht und stellt es her: wie das ganze Bild schließlich die Wirklichkeit im Gleichgewicht hält. Denn sagt man, es ist ein roter Fauteuil (und es ist der erste und endgültigste rote Fauteuil aller Malerei): so ist er es doch nur, weil er eine erfahrene Farbensumme gebunden in sich hat, die, wie immer sie auch sein mag, ihn im Rot bestärkt und bestätigt. Er ist, um auf die Höhe seines Ausdrucks zu kommen, um das leichte Bildnis herum ganz stark gemalt, daß etwas wie eine Wachsschicht entsteht; und doch hat die Farbe kein Übergewicht über den Gegenstand, der so vollkommen in seine malerischen Äquivalente übersetzt erscheint, daß, so sehr er erreicht und gegeben ist, doch andererseits auch wieder seine bürgerliche Realität an ein endgültiges Bild-Dasein alle Schwere verliert. Alles ist, wie ich schon schrieb, zu einer Angelegenheit der Farben geworden: Eine nimmt sich gegen die andere zusammen, betont sich ihr gegenüber, besinnt sich auf sich selbst. Wie im Mund eines Hundes bei Annäherung verschiedener Dinge verschiedene Säfte sich bilden und bereit halten: zustimmende, die nur umsetzen, und korrigierende, die unschädlich machen wollen: so entstehen im Innern jeder Farbe Steigerungen oder Verdünnungen, mit deren Hilfe sie das Berührtwerden durch eine andere übersteht. Neben dieser Drüsenwirkung innerhalb der Farbintensität spielen die Spiegelungen [...] die größte Rolle: schwächere Lokalfarben geben sich ganz auf und begnügen sich damit, die stärkste vorhandene zu spiegeln. In diesem Hin und Wider von gegenseitigem vielartigen Ein-
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fluß schwingt das Bildinnere, steigt und fällt in sich selbst zurück und hat nicht eine stehende Stelle. [...]" Jeder Satz dieser Beschreibung Rilkes ist bedenkenswert. Sie wirkt wie ein vorweggenommener Widerspruch gegen die Aussagen Novotnys und auch Merleau-Pontys. Von „Außermenschlichem" ist hier nicht die Rede, nicht von „Unlebendigkeit", „Starrheit", vom Fehlen des Ausdrucks, vielmehr von einer geradezu animalischen Lebendigkeit der Farben, vom Wissen jeder Stelle um die andere, von Gleichgewicht und Schwingen, von Ausdruck und davon, daß bei aller Bedeutung der Farbe, diese doch kein Ubergewicht über den Gegenstand habe. Und dennoch haben auch Novotny und Merleau-Ponty Wichtiges erfaßt. Offensichtlich muß man in der Kunst Cézannes mit der Vergegenwärtigung verschiedener — den jeweiligen Themen entsprechenden — Realitätsschichten rechnen. Das geht indirekt auch aus Kurt Badts Cézanne-Buch hervor. Dessen drittes Kapitel trägt den Titel: „Der Symbolismus Cézannes und das Menschliche seiner Kunst", sicher zugleich in Abwehr der Novotny'schen Bestimmung des,Außermenschlichen" der Kunst Cézannes. Aber dann kommt Badt zur Aussage, Cézanne habe, nach seiner „Umkehr", „hinter dieser Abgetrenntheit, die keine menschliche Neugier, kein Lebensinteresse, keine Stimmung, kurz keinerlei menschliche Zudringlichkeit zu durchbrechen vermögen, in der vollständigen Stille und der unüberschreitbaren Entfernung in den Dingen eine Analogie, ein irdisches Symbol des Göttlichen in seinem ewigen Bestehen und seiner ewigen Selbsterhaltung [erblickt]. Was dort als ungetrennte Einheit gedacht wird, erscheint ihm hier sichtbar an dem Verhalten der Formen der Dinge zueinander. Dies ist ihr Wesentliches, und ihr Wesen darzustellen wird die Aufgabe seiner Kunst." 4 Werden die Dinge zu „einem irdischen Symbol des Göttlichen", so werden sie damit zum Symbol eines „Ubermenschlichen". Rilkes Beschreibung dagegen benennt die enge Verbundenheit dieser Frau, „Madame Cézanne im gestreiften Rock", mit den Dingen, die sie umgeben. Fast möchte es scheinen, als komme das eigentliche Bildnis dabei zu kurz. An einer Stelle aberweist Rilke auf den spezifisch „menschlichen" Gehalt hin, nämlich mit der Bemerkung: „In der Helligkeit des Gesichts ist die Nähe all dieser Farben zu einer einfachen Modellierung ausgenutzt". Die Frau ist mit ihrer Umwelt wie verwachsen — und geht doch in ihr nicht auf. Sie löst sich von ihr im Hellsein ihres Antlitzes und auch in dessen geometrischer Klarheit und Ruhe. Rilke erfaßt intuitiv eine Besonderheit der Kunst Cézannes, die sich auch historisch verankern läßt, nämlich als Entsprechung Cézannes mit Wesenszügen der Dichtung Balzacs. Cézanne kannte und schätzte, wie schon erwähnt, Romane Honoré de Balzacs. Hier sei nur eine Ubereinstimmung erwähnt, die auf eine Reihe von Bildnissen Cézannes bezogen werden kann, nämlich die Entsprechung von Mensch und Ding als Zeichen seines Weltbezugs. 4
Kurt Badt: Die Kunst Cézannes. München 1956, S. 109/110.
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Hugo Friedrich schreibt in seinem Buch „Drei Klassiker des französischen Romans: Stendhal, Balzac, Flaubert"5: „Balzac lebt, wie seine Gestalten, in einer intimen Vertraulichkeit zur Dingwelt. Für ihn ist das Ding ein Teil der menschlichen Physiognomie selbst. Es hat expressiven Wert, der die seelische Form und das Schicksal des Menschen, zu dessen Bereich es gehört, noch einmal wiederholt. Handwerkszeuge, Kleider, Stuben, Höfe, Häuser, Gassen, Dörfer, Städte: es sind nicht Gegenstände, Sachen, tote Mittel oder schmückende Rahmen, sondern Zeugen, Zeugnisse, Prägungen, Indizien, über die der menschliche Wille und das menschliche Leiden einstmals hinweggeflutet sind, so daß sie darauf verweisen." „Weil das Ding immer auf den Menschen zurückverweist, von dessen Fluidum es berührt wird, hat es eine in jedem Augenblick gegenwärtige physiognomische Bedeutung. Man kann von einer menschlichen Werthaltigkeit der Balzac'schen Dingwelt sprechen." Léo Larguier nahm diese Betrachtungsweise auf, als er in seinem 1901/02 formulierten, 1925 publizierten Artikel „Le dimanche avec Paul Cézanne" schrieb: „Hätte man Cézannes Eßzimmer Balzac persönlich gezeigt, ohne ihm zu sagen, daß ein großer Maler dort zu essen pflegt, so hätte er sich ziemlich getäuscht, dessen bin ich sicher. - Ohne Zweifel hätte er diese nackten Mauern, diese sechs Stühle, diesen runden Tisch aus gebeiztem Nußbaum und dieses bescheidene Büfett, das nur von einem Litermaß und einer Fruchtschale geschmückt wurde, irgendeinem bescheidenen Rentner ohne Erinnerungen zugeschrieben, einem Witwer oder Junggesellen, denn nichts ließ darauf schließen, daß auch eine Frau hier lebte. — Ah! Vater Cézanne war kein Kuriositätensammler; er hatte nie daran gedacht, die Künstlerart anzunehmen, sich eine Einrichtung fiir den modischen Künstler zusammenzustellen (...). Er besaß nur das, was ein älterer, alleinstehender Mann unbedingt braucht, der etwas Kleines ißt und keine Zeit darauf verschwendet, nach dem Mittagessen orientalische Zigaretten zu rauchen und einen Kaffee zu schlürfen. — An der Wand ein gerahmtes Kreuz der Ehrenlegion und auf dem Kamin eine Pfeife: man hätte sich bei einem alten Kapitän in Pension wähnen können. Der schwarze Mantel von Madame Brémond, seiner Dienerin, auf dem Stuhl, und der unfehlbare Zauberer der ,Comedie Humaine' [also Balzac] selbst hätte geglaubt, sich in der Provinz bei einer Witwe in bescheidenen Verhältnissen zu befinden ... "6 Wenn also für Cézannes eigene Existenz keine Dinge Zeugnis ablegen können, so waren für den Künstler bei anderen Menschen deren Dinge, mit denen sie lebten, untrennbar mit ihnen verbunden. Dies belegt auch ein Bericht Gasquets in seinem Cézanne-Buch7: Als [Cézanne], „nach Ubereinkunft mit seinen Schwestern und auf Familienbeschluß gegen Ende seines Lebens den Jas verkaufen mußte, erinnere ich mich noch seiner Unschlüssigkeit, seiner Seelenkämpfe und seiner Verzweiflung. Ich erinnere mich vor allem eines Abends, wie er feierlich bei uns eintrat, mit erloschenen Zügen, von einem Schluch5 6 7
4. Auflage, Frankfurt am Main 1961, S. 110, 111. Gespräche mit Cézanne, S. 27. - Conversations, S . l l . Cézanne. Deutsche Ausgabe von Eva Glaser. Berlin 1930, S. 7 f.
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zen erstickt, durch plötzlich aufsteigende Tränen erleichtert. In einer Dämmerungsstunde hatte man, ohne ihm etwas zu sagen, während er malte, törichterweise die alten Möbel des väterlichen Zimmers, die er wie Reliquien bewahrte, verbrannt. — Verstehen Sie, ich wollte sie zu mir nehmen. ... Sie haben nicht gewagt, sie zu verkaufen, sie waren ihnen lästig. — Staubfänger, armselige Dinge! ... Da haben sie sie verbrannt auf dem Dreschboden.... Auf der Tenne!...' Unwillkürlich stand das Bild vor seinen Augen.,— Und ich, der sie behütet hatte wie meine Augäpfel. ... Diesen Sessel, in dem Papa der Ruhe pflegte. [Cézanne hatte ihn 1866 einmal in diesem Sessel gemalt.] ... Diesen Tisch, es war immer der gleiche seit seiner Jugend, an dem er all seine Rechnungen geführt hat. [...] Und da, sehen Sie, verbrennt man mir alles, was mir von ihm blieb ' Seine Jugend stieg in ihm empor. ,— Wie sich das alles verändert hat', sagte er. Aber sein wunderbares Gedächtnis bevölkerte den Schatten mit tausend Erinnerungen, Wesen und Dingen, die der Zufall einer Begegnung, einer Häuserecke, eines Ladenschildes, eines Vorübergehenden, heraufbeschwor. ,Unbelebte Dinge, habt ihr doch eine Seele, Die sich an unsere Seele heftet und sie zwingt zu lieben?' murmelte er." Ahnlich erzählt Maurice Denis in seinem „Journal", wie Cézanne, „der seine über alles geliebte Mutter verloren hat, die kleinen Dinge, die ihn an sie erinnern, aufbewahrt [...]. Eifersüchtig darauf, zerstört seine Frau eines Tages diese Andenken. Cézanne, die Dummheiten seiner Frau gewohnt, kommt heim, findet nichts mehr vor, verschwindet und bleibt mehrere Tage auf dem Land."8 Bei dieser Einstellung nimmt es nicht Wunder, daß Cézanne in seinen Bildnissen oft die Nähe von Menschen und Dingen, die menschliche Werthaltigkeit der Dingwelt mit dargestellt hat. Beim etwa 1888 entstandenen „Porträt von Madame Cézanne" (99 χ 77 cm. Detroit, Institute of Art. R. 607) wirkt das Antlitz der Frau mürrisch-verschlossen und könnte auf eine Entfremdung zwischen dem Maler und seiner Frau schließen lassen, — wie sie äußerlich wohl auch bestanden haben mag. Farben und Formen aber sprechen eine andere Sprache. Das Bild erfüllt ein sanfter Farbklang, der Akkord von Graublau und Hellbraun. Das Graublau des Kleides wird stellenweise von Braun durchdrungen, das Sandbraun des Grundes von Graublau, das sich in der Tapete rechts zu leise herabtropfenden bläulichen Blättern verdichtet. Ein Vorhang scheint die Frau in sich zu bergen. Am linken Bildrand festigt er sich zylindrisch, begleitet die Kontur des rechten Arms der Frau, antwortet der Ärmelabschluß mit einer verwandten Kurve. Zur linken Schulter der Frau fuhrt eine zarte Schräge herab, aus der sich, wie Wellen, die braunen, bläulich durchsetzten Farbstriche entfalten und zur oberen rechten Bildecke hin verklingen. Im Inkarnat des Antlitzes und auch im Vorhang links daneben tauchen Rottöne auf, die in einem Grünlich-Bezirk des Rocks, am unteren Bildrand, ihr komplementäres Echo finden. Alle Bildbewegung aber gewinnt in der Mittelachse, der Vertikale im Gewand von Madame Cézanne, ihren Halt.
8
Vgl. Gespräche mit Cézanne, S. 227/228, Anno. 1. - Conversations, S. 184, Anm. 1.
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Das Bildnis von „Madame Cézanne im gelben Sessel" der Fondation Beyeler, Riehen/Basel (Madame Cézanne au fauteuil jaune. 81 χ 65 cm. 1888—90. R. 651. Taf. 13) ist bestimmt vom herrlichen Klang aus sonorem Weinrot im Kleid, dunklem Okker im Sessel, lichtem Graublau in der Wand und warmem Grau im Wandsockel. Die Helligkeit sammelt sich im Antlitz, seinem rosig überhauchten Elfenbeinton und seinen aus dem Grunde ausgesparten Lichtsäumen. Das ockergelblich aufgehellte Schwarzbraun der Haare bildet einen kraftvollen Abschluß. Licht wirkt hier auf mehrfache Weise: Zum einen als Beleuchtung, die, von links einfallend, schwarzrote Schatten im Kleid der Frau bewirkt, — und damit zur Festigkeit des Rots beiträgt - , graublaue, irreale Schattenschleier auf der Wand rechts von der Figur hervorruft, das Antlitz der Frau bestrahlt und zugleich damit im Licht und durch das Licht modelliert. Zum anderen tritt Lichthaftes als Durchlichtung in Erscheinung. Das Graublau der Wand hellt sich rechts um das Frauenantlitz herum auf und wird hier gelblicher. Der braunschwarze Wandsockel erscheint leicht nach oben gewölbt, läßt damit eine Assoziation an den Horizont aufkommen und steigert so den Graublauton der Wand in seiner atmosphärischen Wirkung. Aber auch der Wandsockel wirkt in seinem linken Teil wie durchlichtet und leitet damit den Prozeß einer Verdichtung der Farbe nach innen zu ein. Viel dichter und stofflicher als der Sockel ist das Grauocker des „gelben" Sessels gegeben. Dicht im Plastischen, „Voluminaren" aber wirkt erst das ins Purpur reichende Weinrot des Kleides. Ornamente erscheinen nur im Sessel. Das Gewand läßt „Ornamentales" weithin zurücktreten. Die Bewegungen des Stoffes sind hier vielmehr Zeichen von Kraft und Festigkeit. Eine virtuelle Vertikale durchzieht die Gestalt im Bezug der Inkarnattöne in Antlitz und Händen, reichend vom Schattenkontur des Halses zur Grenze der (vom Betrachter aus) linken Hand, dort wo sie sich abhebt vom Rot des Armeis. Antlitz und Hände nehmen aufeinander Bezug, wie in Bildnissen Tizians. So ist Madame Cézanne zwar untrennbar verbunden mit den Dingen, die sie umgeben, und dennoch von ihnen getrennt, im Lichthaften wie im Voluminaren. Ihr Blick geht in die Weite. Gelassen und gelöst, in sich beschlossen, aufrecht auch in ihrer Ruhe, so stellt Cézanne sie dar. Die Farben bilden eine Gesamtharmonie aus der modifizierten Trias der Grundfarben, aus Purpur, Braungelb und Graublau, - mithin eine „Farbfigur" der ,Alten Meister" wieder aufnehmend — , nun aber verbunden mit dem Dual von Braun und Grau. Braungelb und Graublau erscheinen in annähernd derselben Helligkeit. Gelb ersteht aus Braun und Blau aus Grau. Der helle Wandsockel, in dem Graublau und Ocker einander durchdringen, stellt gleichsam den „Grundton" der Farbigkeit dar, und das Inkarnat erscheint als lichthafte Variation der Trias aus Gelb, Rot und Blau. Eine Erinnerung an Rubens-Inkarnate stellt sich ein. Cézanne aber öffnet das Inkarnat in weiße Lichtspitzen des Grundes. Das monumentale Bild der „Frau mit der Kaffeekanne", gemalt um 1895, im Besitz des Musée d'Orsay, Paris (130 χ 97 cm. R. 781. Abb. 16) wird von einem Blau im Gewand der Frau bestimmt, nun aber von einem kräftigen Ton, der sich im Ober-
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A b b . 16 Frau mit Kaffeekanne, um 1895. M u s é e d'Orsay, Paris. R. 781
körper der Dargestellten sammelt. Eine leichte Neigung nach links oben bildet die Grundrichtung der Bildrhythmik. Sie geht aus von der Figur und durchwirkt die Horizontal-Vertikal-Gliederung der in Braun und Blaugrau gehaltenen Wand. In der beleuchteten Hälfte des Antlitzes konzentriert sich, mit Ockergelb, Ockerbraun, Karminrot, wiederum die Helligkeit der Figur und des ganzen Bildes. Diese Lichtstelle legt es nahe, die Neigung der geometrischen Ordnung auf das von links einfallende Licht zu beziehen. Schon Joachim Gasquet hat derartiges bemerkt. Ein Satz seines Buches lautet: Cézanne „wird sich bemühen, auf einem Gesicht, auf einem Möbel die geheime Wirkung der Sonne, die sie lebendig erhält, zu verfolgen." 9 In der Tat bestimmt die „geheime Wirkung der Sonne" fast alle Werke Cézannes in ihrer Rhythmik der Farbformen. Einfach und entschieden gliedern Falten das Gewand der Frau. Sie orientieren sich an der klaren Vertikalfalte, der nach links verschobenen Mittelachse des Bildes. Links streben die Falten in einem weitgespannten Winkel nach oben — auch die Rhythmik 9
Cézanne. Deutsche Ausgabe, S. 54.
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der Weißflecken betont diesen Bewegungszug —, rechts führen die Falten herab. Dieser Richtungskontrast, dieser Bewegungskontrapost, strahlt auf die Wandgliederung aus. Rechts vom Antlitz der Frau sitzt die Waagrechte der Vertäfelung tiefer als links, und ein Rechteck hinter dem Haupt erscheint nochmals geteilt: rechts sinkt ein Blauton herab, links steigen Rötlich-Felder auf. Die weißlichen Blumen im Tapetenstreifen am linken Bildrand steigen nach oben und folgen der Bewegung des rechten Arms der Frau, während ihr linker nach unten führt, zum Tisch mit seinem rotbraunen Tuch, das auch in seinem Farbgewicht nach unten zieht. In halber Draufsicht erscheint der Tisch, wie von der Frau aus gesehen. Die Faltenkante der oberen Tischecke verläuft parallel zum rechten Armelende, scheint sich mit ihm zu verzahnen. Hier hellt sich auch das Rotbraun auf und verweist so auf das Ockerbraun der Hand. Nahe dem oberen Tischrand stehen in Reichweite der Hand Kaffetasse und Kaffekanne, als Zylinderformen aufragend, leicht nach links geneigt, der menschlichen Figur und dem einfallenden Licht entgegen. Das bläulich verschattete und im Schatten durch ein Reflexlicht aufgehellte Weiß der Tasse und das leicht modulierte Grau der Kanne erscheinen in ihrem Lichtbezug nach außen gewandt, die Kanne mit ihrem Metallglanz zudem in ihrer spezifischen Materialoberfläche gekennzeichnet. Dagegen sind Inkarnat und Gewand weniger nach ihrer Stofflichkeit charakterisiert. Die Frau ist dargestellt in ihrer „Lebenswelt", umgeben von den Dingen, ihren Dingen. Farben und Formen der Dinge folgen den Farben und Richtungen der menschlichen Figur. Die oft bemerkten Verzerrungen der Dinge bei Cézanne sind auch hier darin begründet, daß sie sich, als Teile einer Lebenswelt, auf den Menschen beziehen. Die Frau ist dargestellt in ihrer Lebenswelt, sie geht jedoch darin nicht auf. Sie bewahrt als Person ihre Eigenständigkeit, ihre Souveränität. Die Senkrechte, in der sie aufragt und mit der die geneigten Vertikal-Horizontal-Elemente der Wandgliederung kontrastieren, mag als anschauliches Symbol ihrer Souveränität verstanden werden. Im Gegensatz dazu neigt sich „Madame Cézanne im gelben Sessel", beim 1888/90 gemalten Bild des New Yorker Metropolitan Museum of Art (116 χ 89 cm. R. 655) nach rechts, dem hier von rechts einfallenden Licht entgegen. Hier bilden die Vertikalen am linken Bildrand ein Richtmaß, von dem aus die Bewegung fällt und sich öffnet, mit einem großen Vorhangmotiv, nach rechts, zum Licht der Sonne. Madame Cézanne hält eine Blume, eine Rose in ihrer Linken. Deren Farbe entspricht der Farbe des Kleides. Die Blätter und Blüten als Ornamente des Vorhangs drängen nach rechts, hin zum Licht der Sonne. Empfand Cézanne eine Verwandtschaft des Lebens seiner Frau zum Leben der Blumen?10
10 Der Katalog „Cézanne. Vollendet - Unvollendet" , Ostfildern-Ruit 2000, S.168, verweist bei diesem Bild auf Richard Shiffi Impressionist Criticism, Impressionist Color and Cézanne, New Haven 1973, S. 160, wonach bei Cézanne „mit dem Grad der Vollendung einer Komposition auch die perspektivischen und anatomischen Deformationen" zunähmen. Das wäre eine merkwürdige Regel in der Kunst Cézannes. Sie
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Rewald bildet in seinem Œuvrekatalog der Gemälde Cézannes beim Eintrag zu diesem Werk 11 eine Zeichnung Cézannes von 1873/76 mit einer Studie zum Bildnis seiner Frau ab:12 Hier neigt sich das Antlitz der Frau nach links, dem hier von links einfallenden Licht entgegen. In der Neigung nach rechts, zum Licht der Sonne, entspricht das New Yorker Bildnis dem Bildnis der „Madame Cézanne im roten Kleid" von 1888/90 im Museu de Arte von Sao Paulo (89 χ 90 cm. R. 652). Auch hier hält Madame Cézanne Blumen in Händen. Das helle Grün des Grundes wirkt als komplementäre Ergänzung zum Rot des Kleides. Wieder wendet sich die Frau nicht aktiv dem Lichte zu, sondern empfängt es, halb von ihm abgewandt, und neigt sich gleichwohl ihm entgegen. Frontal erscheint das Antlitz der Frau im Bildnis „Madame Cézanne in blauer Jacke", gleichfalls von 1888/90 (73,5 χ 61 cm. Houston, The Museum of Fine Arts. R. 650). Ein von links einfallendes Streiflicht erfaßt die Figur, läßt bläuliche Schattenbahnen rechts von ihrem Haupt entstehen. Sie vermitteln vom Blau der Jacke zum hellen, weißlichen Blau der Türe rechts. Die Figur neigt sich zart nach links, dem Licht entgegen. Das dichte Braun des linken Bildteils kontrastiert mit dem durchlichteten Blau von Jacke und Tür. Das Braun bezeichnet ein Buffet mit dem kraftvoll geschwungenen Seitenteil seines Aufsatzes, und, etwas grautoniger, die Tapete mit ihren tropfenförmigen Mustern. Das Ornamentale einer bürgerlichen Lebenswelt wird hier Gestalt. Aber auch diese Ornamente drängen nach links, zum Licht. Der Kragen der Jacke verzahnt sich links mit der Tropfenform der Tapete, rechts breitet er sich entspannt und mit einem Impuls zum nach unten leitenden Arm aus. Im Antlitz lichtet sich der Braunton von Möbel und Tapete und hier zentriert sich das Bild. Erneut macht Cézanne sichtbar, wie ein Mensch seiner Lebenswelt zugehört und dennoch in diesem Bezug nicht gebunden bleibt. Treffend schreibt Götz Adriani in seinem Katalogbuch „Cézanne. Gemälde." 13 zu diesem Werk: Nahezu alle Bildnisse Cézannes tragen „etwas von der Verschlossenheit, dem Verlangen nach Distanz, dem Ernst und der Einsamkeit des Künstlers in sich. Als zusätzliche Reflektoren des eigenen Menschentums bleiben die Dargestellten Fremde, denen man nicht zu nahe treten sollte. Aus der persönlichen Situation heraus geprägt, scheinen sie exemplarisch ebenso die Lage des allein auf sich verwiesenen Individuums in Betracht zu ziehen." Cézanne achtet die Andersheit des Anderen wie kein zweiter Bildnismaler, das scheint mir die Quintessenz, die aus dem genauen Sehen Cézanne'scher Bildnisse zu gewinnen ist und die diese Sätze benennen. Solche Achtung des Anderen in seiner Andersheit führte zum Mißverständnis des angeblich,Außermenschlichen" in der Kunst Cézannes. gilt jedoch nur so lange, wie man glaubt, es handle sich bei Cézannes Kompositionen bloß um die Gestaltung von „Deformationen". Davon kann jedoch keine Rede sein. 11 Vol. 1.S.423. 12 Chappuis: The Drawings of Paul Cézanne, Nr. 696 13 Köln 1993, S. 138.
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Klar wendet sich Madame Cézanne dem Licht entgegen beim schönen Bildnis des Philadelphia Museum of Art, gemalt um 1883/85 (46,4 χ 38,4 cm. R. 532), hier am oberen Bildrand begleitet von blütenbesetzten Zweigen auf ockerbrauem Grund. Das Antlitz wendet sich dem von rechts oben einfallenden Licht zu, in dieser Einfallsrichtung entfaltet sich auch das vegetabilische Motiv. Christina Feilchenfeldt referiert im Katalog „Cézanne. Vollendet — Unvollendet", 2000, S.156, die neuere Forschung zu diesem Bild und resümiert: „Es ist bis heute ungeklärt, wann und mit welcher Absicht Cézanne das Blattwerk am oberen Bildrande darstellte. Es ist durchaus möglich, daß der Künstler aus Mangel an frischen Leinwänden, beispielsweise in L'Estaque oder Gardanne, eine bereits begonnene für eine vollkommen neue Komposition verwendete und die bereits bestehenden Motive nicht übermalte. Ein derartiges Vorgehen ist im Œuvre Cézannes jedoch sehr selten festzustellen. Joseph Rishel sieht im angedeuteten Blattwerk die Absicht des Künstlers manifestiert, die Dargestellte im Freien wiederzugeben, möglicherweise auf einer Terrasse vor ähnlichem Hintergrund wie [beim gleich zu beschreibenden Bild] ,Madame Cézanne im Gewächshaus', ohne dieses Vorhaben allerdings zu Ende zu führen." Ich halte dieses Bild — bei möglicher faktischer Unvollendung - für rhythmisch und farbig durchaus vollendet und das Blattwerk für ein anschauliches „Symbol" der Entsprechung von Mensch und Natur. In einer stellenweise aquarellierten Zeichnung von etwa 1885 (30,5 χ 46 cm. Privatbesitz. RW209) vereint Cézanne die zart aquarellierte Studie einer Hortensienblüte mit einer Zeichnung des auf ein Kissen gebetten Kopfes seiner Frau Hortense Fiquet. Hier ist der inhaltliche Bezug von Blume und Frau unübersehbar. Er vergegenwärtigt einen Bezug, der, wie erwähnt, auch auf anderen Bildnissen seiner Frau zu finden ist. Vor allem auch beim Bild „Madame Cézanne im Gewächshaus" im New Yorker Metropolitan Museum of Art (92 χ 73 cm. R. 703): Auf diesem 1891/92 gemalten Bildnis erscheint die 1850 geborene Hortense Fiquet jünger als auf allen anderen, auch früheren Darstellungen. Sie sitzt, jung und voller Anmut, im Gewächshaus des Jas de Bouffan. Auch dieses Bild ist faktisch unvollendet, vollendet aber in seiner Wesensaussage, der Zugehörigkeit von Mensch und Natur im Licht. Zwar ist hier der besondere Bezug der jungen Frau Hortense zu Blumen und zum sprießenden Leben der vegetabilischen Natur gemeint, in seinen späten Bildern aber wird Cézanne auch das männliche Bildnis in einen immer enger werdenden Naturbezug stellen. „Natur" meint ja nichts Minderes bei Cézanne - im Gegenteil! Gerade die Nicht-Vollendung vergegenwärtigt das Sein von Mensch und Natur im Licht. Das Blau im Gewand der Frau verdichtet sich nach oben hin, zur Schulterpartie, die, einer Büstenplastik vergleichbar, einen kraftvollen Sockel bildet für das leicht nach links geneigte Haupt. Von links fällt das Licht ein und ist zugleich allgegenwärtig. Als Lichtfarbe in hellem Ocker umgibt es allseits Oberkörper und Haupt der Frau und bildet auch den Lichtgrund für alle Pflanzen. Der von unten anhebende Prozeß der Gestaltwerdung aus den Farben verbindet die Figur mit den Zeichen für Vegetation. Rechts vom Rock steigen grünliche Farbsäume auf, die sich nach oben
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hin zu Blüten ausformen. Im Antlitz wird der umgebende Ockerton heller und entspannt sich zur Ruhe. Cézannes Männerbildnisse zeigen seltener die lebensweltliche Umgebung der Dargestellten. Wohl 1866 malt Cézanne zehn Bildnisse seines Onkels Dominique, en face oder im Halbprofil nach rechts gewandt, oder im Profil nach links, nur den Kopf oder als Brustbild, als Mönch, mit einem Turban, als Künstler, oder in seinem gewöhnlichen Anzug. Dominique Aubert, von Beruf Gerichtsvollzieher, war ein jüngerer Bruder von Cézannes Mutter. Er hat sich mit großer Geduld dem jungen Künstler als Modell zur Verfügung gestellt. Cézanne malt ihn unter kraftvoller Verwendung des Palettenmessers in pastosem Farbauftrag, derart, daß die Farbe als Materie, als Substanz in die Erscheinung tritt. Im Pariser Musée d'Orsay befindet sich das Bildnis „Onkel Dominique als Advokat", wobei der Dargestellte beim Plädoyer gezeigt sein soll (62 χ 52 cm. R. 106). Das Erstaunliche dieses Werkes sind die Kraft und Schönheit der Farben, die herrliche Entgegensetzung von Schwarz und Weiß. Cézanne gestaltet in neuer, unnachahmlicher Weise Schwarz und Weiß als Farben, als Farben auch die Ubergänge von Grau zu den Buntfarben, zu Blau und Braun. Cézanne gestaltet farbiges Grau, Differenzierungen von Graublau, Blaugrau, Braungrau, Graubraun, er gestaltet das Inkarnat als Farbe, er macht den Grund zur Farbe, gleichberechtigt den Farben der Figur. Deshalb muß der Grund hier auch ohne jede gegenständliche Qualifikation bleiben, denn nur so kann er proportional der Figur und ihren Farben entsprechen. Damit entsteht eine Kontinuität der Farbwirkung über alle gegenständlichen Unterschiede hinweg. Die Art des Farbauftrags steigert noch die Wirkung der Farben. Denn die Farbflecken formen, sie modellieren und sind zugleich Ausdruck der Kraft und Mittel der Vergleichbarkeit aller Bildelemente. Dagegen ist im Ganzfigurenporträt des Malerfreundes ,Achille Emperaire" von 1867/68, gleichfalls im Musée d'Orsay, Paris (200 χ 122 cm. R. 139) die Gestalt in einem Lehnsessel sitzend dargestellt. Als körperlich Behinderter bedurfte Emperaire eines Haltes, eines Sessels. Dieser Sessel aber wird im Bildnis Cézannes zum Thron. Cézanne ehrt seinen körperlich hinfälligen Freund mit einem, nicht nur im Format, monumentalen Bildnis. Der Einfachheit der Formen entspricht ein zum Erhabenen gestimmter Farbklang, mit Preußischblau und blautonigem Weiß, Rubinrot und Graurosa in Gewand und Sessel. Die Gestalt wird beleuchtet von einem kalten Licht, wirft schwere Schatten auf den Sessel, Sessel und Fußschemel werfen schwärzliche Schatten auf Boden und in den Grund. Zugleich bringt die Dunkelheit des Grundes und der Schatten alle Farben zum Leuchten. In seinem um 1875 gemalten, wiederum im Musée d'Orsay aufbewahrten „Selbstbildnis"14 (64 χ 53 cm. R. 182) stellt sich der Künstler vor einem Landschaftsbild dar. Verglichen mit seinen ersten Selbstbildnissen, dem düsteren, wahrscheinlich nach 14 Einen Überblick zu diesem Bildnisthema gibt Stephen Platzman in seinem Buch „Cézanne. Die Selbst-
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einer Photographie gemalten von 1862/64 (44 χ 37 cm. Privatsammlung) und dem wilden von etwa 1866 (45 χ 41 cm. Privatsammlung New York. R. 116), die beide vor einem dunklen, schwarzen Grund erscheinen, wirkt dieser Landschaftsgrund wie eine Befreiung. Cézanne hat sich hier dargestellt vor einer Landschaft von Armand Guillaumin, dessen „Seine à Paris" von 1871, im Museum of Fine Arts in Houston aufbewahrt (so Rewald im Œuvrekatalog, Vol. 1, S.143). Diese Landschaft erscheint seitenverkehrt, da im Spiegel gesehen. Ein eigentümlich schwermütiges Bildnis steht hier vor uns, im Klang von Rotbraun, Blaubraun, Ocker, Graublau, Graugrün und Rosabräunlich, mit einem bedeutenden Anteil von Dunkelheit im Oberkörper. Das Antlitz ist vom Lichte abgewandt, die Frisur wirkt merkwürdig expressiv. Die Helligkeit konzentriert sich auf die beleuchteten Partien des Gesichts. Ihrer aufgerichteten Form antworten die Horizontalstreifen der Landschaft und des Rahmens. Der Rahmen verschmälert sich nach links zu einem dünnen Streifen, nach rechts stößt er sich von der Schulter ab, und die Bäume der Landschaft scheinen wie mit den Haarlocken verwachsen. Die Landschaft ist mit dem Antlitz verbunden, sie wirkt wie zugehörig dem „inneren" Blick des Malers. Das um 1879—1880 entstandene „Selbstbildnis mit schwarzem Filzhut" im Kunstmuseum Bern (65 χ 51 cm. R. 415. Taf. 14) ist gehalten im Klang von Schwarzgrau (Anzug), Schwarzblau (Hut), Braunrot und transparentem Graugrün links (Fenstertür) zu verhaltenem Komplementärkontrast vereint, Graublau, aufwachsend aus Braunrot und sich lichtend in Weißgrau rechts (im Ausblick auf einen Naturausschnitt) und kulminiert im blaugrau verschatteten Ockergelb des Inkarnats und in der Helligkeit des Antlitzes, beleuchtet von dem rechts, vom Rücken her einfallenden Licht und in einem Reflexlicht an der linken Gesichtskontur aufgehellt. Elegant, schmal und abweisend wirkt hier der Künstler, mit entschiedenem, von allem Zweifel und aller Scheu freiem, den Betrachter abschätzendem Blick. Nur sein rechtes Auge hat der Künstler, mit kraftvoll-schwarzer Pupille, auf den Begegnenden gerichtet, sein linkes (also von uns aus rechtes) blickt leicht nach rechts, hin zur Natur. Mit dem vorderen, mittelgrauen Arm steigt die Bildbewegung empor, öffnet sich an der Schulter mit doppelläufiger Kontur zum Naturausblick, teilt sich im Antlitz nach Dunkel und Hell und schwingt mit der Hutkrempe aus nach beiden Seiten. Die Raumsituation bleibt eigenartig unbestimmt. Vielleicht handelt es sich um eine Veranda mit einer Fenstertür links, die sich aber wiederum auf ein .Außen" öffnet (eine dunklere Fensterbahn ist über dem Hut gerade noch zu sehen), und einen atmosphärisch verhüllten Ausblick auf einen Garten, als einen Ort der Metamorphose, in dem Erde, Wasser, Bäume und Himmel in ihrem Einzelsein nur noch zu ahnen sind. Die Höhenlinien bei den Sprossen der Fenstertür bestimmen sich von der Figur aus, von Schulter, Nase, Hutkrempe. In der Figur gewinnt das Bild seine Festigkeit. Aber der
porträts". München 2001. Es versammelt 26 gemalte Selbstbildnisse Cézannes sowie 25 gezeichnete und ein lithographiertes Selbstporträt.
Taf. 9
Kartenspieler, 1 8 9 0 / 9 2 . M u s é e d'Orsay, Paris. R. 714
Taf. 10
Pfeifenraucher, 1890/91. S t ä d t i s c h e Kunsthalle Mannheim. R. 7 5 6
Taf. 11
Großer Badender, um 1885. The Museum of Modern Art, New York. R. 5 5 5
Taf. 12
Sept Baigneurs, um 1900. Fondation Beyeler, Riehen/Basel. R. 860
Taf. 13
M a d a m e C é z a n n e im gelben S e s s e l , 1 8 8 8 / 9 0 . Fondation Beyeler, R i e h e n / B a s e l . R. 651
Taf. 14
Selbstbildnis mit s c h w a r z e m Filzhut, 1879/80. Kunstmuseum Bern. R. 415
Taf. 15
Selbstbildnis vor Staffelei, um 1890. Stiftung Sammlung E. G. Bührle, Zürich. R. 670
Taf. 16
Der Junge mit der roten W e s t e , 1 8 8 8 / 9 0 . Stiftung S a m m l u n g E. G . Bührle, Zürich. R. 6 5 8
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Künstler erscheint in seiner Festigkeit als ein Lichtempfangender und als ein Lauschender, ein Hörender der Stimmen der Natur, als einer, der seine Inspiration aus der Natur empfängt. Häufig aber stellt sich Cézanne vor einem „neutralen" Hintergrund dar. Doch was heißt hier „neutral"? Die Farbe selbst wird zum Ausdrucksträger und zum Existenzmedium fur das Selbstbildnis des Malers. Nur eines sei etwas genauer betrachtet, das mit der berühmten Tschudi-Spende in die Münchner Neue Pinakothek gelangte, nach Rewald um 1881/82 gemalte „Selbstbildnis mit weißer Mütze" (55,5 χ 46 cm. R. 510. Abb. auf Umschlag). Der blautonig-graugrüne Grund verbindet sich zu einem Gesamtton mit dem grünlich getönten braunen Anzug, der blaugrün verschatteten Malermütze und dem stellenweise blaugrün verschatteten Inkarnat. Dieser Gesamtton wirkt wie eine „Umhüllung", wie ein Schleier von reflektiertem Licht, das den Dargestellten vom Betrachter distanziert, ihn entrückt, ganz in Übereinstimmung mit der aufgerichteten und doch gelassenen Haltung und mit dem ruhigen, festen Blick. Von Unsicherheit und rastloser Suche ist hier nichts mehr zu spüren. Cézanne hat sich ganz gefunden. Er ist frei geworden von allen Abhängigkeiten, ja, er selbst scheint nun den anderen, das Gegenüber, zu messen. Das Antlitz ist halb vom Lichte abgewandt, aber es sammelt das Licht, und strahlt es von sich aus. Rechts vom Gesicht, also in dessen Schattenbezirk, erscheint ein wärmeres Grün als links. Wohl um 1890 entsteht das große „Selbstbildnis mit Staffelei" der Stiftung Sammlung E. G. Bührle, Zürich (92 χ 73 cm. R. 670. Taf. 15), in ganz verhaltener Farbigkeit, der Anzug des Künstlers in farbigem Grau, ganz locker gemalt, sein Hemd weißgrau, aus bläulich-weißem Ansatz unten rechts aufsteigend in warmweißliches Licht. Der Hals ist in Grau über Ocker modelliert, mit Reflexlicht und gelbockriger Lichtkante rechts. Bart und Haare erscheinen in ähnlichem Grau wie der Anzug, und das Haupt ist, die Stirnwölbung betonend, vielfarbig modelliert, mit Abwandlungen nach Ocker, Rötlich-Ocker, Graugrünlich, Graubräunlich. Der Bläulichton des Grundes löst sich nach oben ins Helle, wo rechts lichte Rosatöne auftauchen. Wie leicht wirkt die Staffelei in ihren Ockertönen! Wie einfach ist das Antlitz gestaltet! Das rechte Auge des Künstlers scheint in eine größere Ferne (zum Spiegel) zu blicken, sein linkes Auge eher auf die Leinwand. Die Palette enthält Buntfarbakzente von Zinnoberrot (links unten) und Grün (in der Mitte und, dunkler, rechts oben). Weißbläulich aber, schwebend nahe dem oberen Palettenrand, wirkt als Entsprechung zur Aufhellung des Grundes am oberen Bildrand. Zwischen diesen Akzenten sind Abstufungen von Brauntönen gegeben und am unteren Palettenrand Schwärzlich und Schwarzblau. Schlank ragt die Figur auf. Die Mittelachse läuft durch die Vertikale von Nase und Hemdöffnung und, am unteren Bildrand, durch die beiden Weißstreifen des Hemdes. Die Palette, horizontal orientiert, stuft sich in ihrem Braunton und ihrem Winkel aus der braunen Winkelform des Wandsockels links unten. Aus der Horizontalen des Daumens richtet sich die leichte Schräge der grauen Pinsel auf. Auch die Gliede-
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A b b . 17 G u s t a v e Geffroy, 1 8 9 5 / 9 6 . M u s é e d'Orsay, Paris. R. 791
rung der von rückwärts gezeigten Leinwand und der Staffelei in Ocker und Graublau — dem Rubens-Zweiklang — leitet nach aufwärts. Cézanne zeigt sich als Maler, der die „Neutralfarben" nobilitiert, denn auch in seiner Figur wiederholt und steigert er die Aufspaltung der Farbigkeit in Grau und Braun, hinterlegt von Blautönen, die vor Weiß schweben. Der Künstler verharrt in einer Unbewegtheit, erfüllt von Leben, das sich darstellt in der entschiedenen Gegenführung von Vertikalen und Horizontalen - und ihren Abwandlungen —, in einfachen Kurven und in der ständigen Modulation der Farben. Ein besonderes Problem stellt das Bildnis des Literaten dar, fur Cézanne gegeben im Bildnis des Kritikers Gustave Geffroy, gemalt 1895/96, aufbewahrt im Pariser Musée d'Orsay (116 χ 89 cm. R. 791. Abb. 17). Das große Vorbild hierfür ist Manets 1868 gemaltes „Porträt von Zola", das Cézanne im Haus Zolas stets sehen konnte. „Zola sitzt, im Profil gesehen, mit bildeinwärts übergeschlagenem Bein auf einem Stuhl. In der Linken hält er ein aufgeschlagenes Buch, gegen die Kante des Schreibtisches gestützt. Weitere Bücher sind dahinter und daneben auf dem Schreibtisch versammelt, der parallel zur Gestalt rechts hinter ihr sichtbar wird. Farbig ausgezeichnet sind ei-
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nige Broschüren, die fächerförmig in einem Behälter stecken. Das vorderste Heft zeigt die Aufschrift ,Manet'; es ist die Streitschrift Zolas fur Manet, der zum Dank das Bild gemalt wurde. Uber den Büchern sind in der rechten oberen Bildecke in einem großen Rahmen drei Bilder zusammengefaßt: ein japanischer Holzschnitt, eine graphische Reproduktion der .Borrachos' [der ,Weintrinker'] von Velazquez und - beide überschneidend - eine Wiedergabe der Olympia. Sie weisen auf verschiedene Interessensgebiete des Dichters hin. Ein Bereich der japanischen Kunst wird auch mit der Malerei des Wandschirms angesprochen, von dem ein Feld am linken Bildrand hinter der Stuhllehne hochragt. Der Rahmen eines weiteren Bildes stellt eine horizontale Brücke vom Wandschirm zum Bild rechts dar." Soweit die einfuhrende Beschreibung von Gisela Hopp. 15 Alle Bildelemente sind flächig nebeneinander ausgebreitet und bilden eigene Bezirke, die sich untereinander im Gleichgweicht halten. Zola wird ebensosehr durch diese Dinge seiner geistigen Welt definiert wie durch seine eigene Gestalt. Cézannes Bildnis wirkt demgegenüber viel komplexer und verspannter. Die menschliche Gestalt dominiert über die Dinge seiner Welt, obgleich diese ihn nun auch nach vorne und zu den Seiten hin umgeben. Sie lassen kaum auf Geffroys besondere Interessengebiete schließen, sondern wirken durch ihre Vielzahl und auch durch ihre Unordnung, ihren Gebrauch. Zola posiert innerhalb der Gegenstände seiner Welt, Geffroy arbeitet in ihnen. Bücher stapeln sich übereinander, stehen schräg in den Regalen, die ihrerseits nach rechts abzurutschen drohen. Gehalten werden sie von der Haltung des Sitzenden, seinem Oberkörper mit den breit aufgestützten Armen, die sich mit dem etwas schräg gestellten weinroten Stuhl zum Regal hin vermittelt. Der Schreibtisch stößt mit seiner halb in Draufsicht gegebenen Platte mit Heften und Büchern, Tintenfaß, Blume und kleiner Figur, gegen den Betrachter vor. Hier liegt kein perspektivischer Fehler vor, — im Gegenteil, der Raum als Lebensraum dieses Menschen ist dargestellt, ein Raum der Tätigkeit, in dem die Dinge, mit Heidegger gesprochen, „zuhanden" sind,16 und zugleich ein Raum der Distanzierung, der Abschirmung gegen ein außen. In neuer und einzigartiger Weise hat Cézanne das Wesen der geistigen, der intellektuellen Arbeit seiner und auch noch unserer Zeit dargestellt: Das Bedrängtwerden durch eine Fülle von Büchern und den Zwang und die Konzentration, das schon Gewußte in eine neue Ordnung zu bringen. Links von Geffroy steigt eine Vertikale nach oben, der Kaminrahmen links daneben neigt sich leicht nach links. Vom konzentriert arbeitenden Menschen geht die Ordnung aus, sie existiert nicht ohne ihn17. 15 Edouard Manet. Farbe und Bildgestalt. Berlin 1968, S. 40. 16 „Das Zuhandene des alltäglichen Umgangs hat den Charakter der Nähe. Genau besehen ist diese Nähe des Zeugs in dem Terminus, der sein Sein ausdrückt, in der .Zuhandenheit', schon angedeutet. Das ,zur Hand' Seiende hat je eine verschiedene Nähe, die nicht durch Ausmessen von Abständen festgelegt ist." (Martin Heidegger: Sein und Zeit. [1927] Sechste unveränderte Auflage. Tübingen 1949, S. 102.) 17 Liliane Brion-Guerry schreibt zu diesem Bild in ihrem an Einsichten reichen Buch „Cézanne et l'expression de l'espace", Paris (1966), 1978, S. 138: „Le tableau est centré sur les mains de l'écrivain d'où rayon-
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Das Bild wirkt, trotz seiner vielfältigen farbigen Mikrostruktur, eigentümlich unfarbig, die Buntwerte sind eingebettet in Grau-, Weißgrau-, Graubraun-, Schwarzblau-Töne. Und dunkel, hermetisch wirkt der Porträtierte selbst. Seine Rechte ist in Schreibhaltung gegeben, aber ein Stift fehlt, - weil das Bild unvollendet ist, oder weil ein Stift die Übermittlung von Gedanken aufs Papier auch nicht besser darstellen könnte als das Ganze des Bildes? Sehr anders zeigt sich der „Knabe mit roter Weste", gemalt wohl 1888/90, im Besitz der Sammlung Stiftung E. G. Bührle, Zürich (79,5 χ 64 cm. R. 658. Taf. 16). Das Bild ruht farbig im Hochrot der Weste, das aber nur an der Seite seinen vollen Farbton gewinnt, vorn, an der Brust, graugebrochen verschattet ist. Nach unten hin schließt an das Rot ein wie durchlichtet wirkender Blauton an, nach links, die Rückseite des Weste besetzend, ein graugrünlich moduliertes Graugelb. So verbinden sich die Hauptfarben zu einer Abwandlung der Grundfarben-Trias. Sie wird um Grün erweitert. Grün - in drei Tönen — umgibt den Dreiklang der Grundfarben: ockerbraun gebrochen in der Hose, kühl, zum Blau führend, im Tischtuch, warm und dunkel im Vorhang. Zwischen diesen beiden Grünbereichen spannt sich das helle Graubläulich der Wand, durch einen schwarzbraunen Sockel in Höhe des Kopfes geteilt in eine dichtere, dunklere Zone oben und eine weißbläuliche unten, die ihrerseits die Folie bildet für das Weiß des Hemdes in den Armein. Die grünlich und graublau verschattete Weißbahn des (zu) langen, ruhenden Armes vorne stellt eine Lichtbahn des ganzen Bildes dar. Sie schwingt zwischen dem sinnenden Haupt, seinem in rosatonigem Ocker und durch Weißstellen des Grundes modellierten Inkarnat und dem Ockerton der Hand. Vor dem Jungen liegt ein weißes Blatt im Grün der Decke. Wie in Erinnerung versunken, wie in einen Wachtraum entrückt, stützt er seinen Kopf schwer in seine linke Hand, unfähig zu jeder Handlung. Sein Arm scheint ihm fremd zu werden. Im Disproportionalen der Gliedmaßen werden Leibeserfahrungen sichtbar. Uber seinem Kopf ist ein Aquarell an die Wand geheftet. Nur als Ausschnitt zu erkennen, läßt es eine Darstellung von „Badenden" erahnen. Das ins Dunkle gleitende Grün von Tischtuch und Vorhang findet Entsprechungen allein im traumhaft-fremden kühlen Grün später Bilder Dela-
nent, comme du moyeu d'une roue, non pas exactement de simples obliques, mais des segments brisés de direction oblique qui découpent l'espace en compartiments d'air inégaux. C'est précisément leur inégalité qui les met en mouvement. Alors, autour de ces mains immobiles, les livres, la table, le fauteuil, la cheminée, les rayons de la bibliothèque semblent se mouvoir lentement, mais cette rotation continue ne donne nullement l'impression du vertige et de l'incohérence. Cela s'explique fort bien parce que la construction volumétrique s'appuie sur les segments brisés que constituent les arêtes de la table, le dos des livres, le rebord de la cheminée et son angle, dont les rencontres et les divergences judicieusement prévues sont articulées de façon à former une armature spatiale à la fois très souple et très rigide. L'obliquité irregulière des segments rayonnants crée une succession de désaxements qui s'épaulent les uns les autres, si bien que cette poursuite instable aboutit finalement à un équilibre." Eine Schemazeichnung auf S. 137 erläutert das Gemeinte.
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croix'. Auch bei Cézanne dient es als Ausdruckträger von Erinnerung und Zukunftsahnung. Am Ende stehen "Werke, bei denen das Bildnishafte, das Individuelle, aufgeht in ein Uberindividuelles, Allgemeines. So beim „Porträt des Gärtners Vallier" von 1904/06 (100 χ 81 cm. Privatsammlung. R. 951), mit seiner Wirkung geisterhafter Dunkelheit, dem dunklen Grün und dunklem Braun des Grundes, dem Blauschwarz der Manteljacke, dem Schwarzblau der Mütze, dem Braunschwarz der Augenhöhlen. Es ist ein Bild des Alters, das den Tod erwartet, in Gelassenheit, Ruhe und Würde. Oder aber, wie beim wohl letzten Werk Cézannes, dem „Gärtner Vallier" von 1906 (65 χ 54 cm. London, Privatsammlung. R. 954): Vallier, aufrecht und gelassen sitzend — und voll dem Lichte zugewandt. Das letzte Wort behält die Entsprechung von Mensch und Licht!
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194 Werke von insgesamt 954 in Rewalds (Euvrekatalog der Gemälde Cézannes verzeichneten sind Stilleben. Stilleben stellen eine bedeutende Gattung im Gesamtwerk des Künstlers dar. Kein anderer Künstler hat den Rang von Stilleben derart hoch angesetzt wie Cézanne. Cézanne selbst hat über seine Stilleben kaum gesprochen, am ausführlichsten noch in den von Gasquet — in dessen Stilisierung — überlieferten und hier wiederholten Sätzen am Ende des Kapitels „Das Atelier" der Gasquetschen Erinnerungen: Cézanne „nimmt von dem Gestell ein Buch, seinen alten Balzac, er schlägt ,Peau de Chagrin' auf. Ja, ihr habt eure Metaphern, eure Vergleiche. Obwohl es mir scheint, wenn ihr beständig eure ,Wie's' häuft, so ist es wie bei uns, wenn unsere Zeichnung zu sehr sichtbar wird. Man muß die Leute nicht am Ärmel ziehen ... Aber wir, wir haben nichts als unsere Farbtöne, das Sichtbare ... Passen Sie mal a u f . . . Er spricht von einem gedeckten Tisch, Balzac malt hier ein Stilleben, aber in der Art von Veronese ... Ein Tischtuch ... Er liest:,... weiß wie eine Decke frisch gefallenenen Schnees, daraufbauen sich symmetrisch die Gedecke auf, von kleinen blonden Brötchen gekrönt.' In meiner ganzen Jugend habe ich das malen wollen, dieses schneeweiße Tuch ... Jetzt weiß ich, daß man nur versuchen darf, zu malen , bauten sich symmetrisch die Gedecke auf und ,νοη kleinen Brötchen'. Wenn ich .gekrönt' male, dann bin ich geliefert ... Verstehen Sie? Und wenn ich wirklich meine Gedecke und meine Brote wie vor der Natur ins Gleichgewicht bringe und farbig abstufe, seien Sie überzeugt, dann werden die Kronen, der Schnee und der ganze Schwindel darin sein .. ,"1 Eigenart und Rang der Cézanne'schen Stilleben wurden früh erkannt. Hier ist nochmals Rainer Maria Rilke das Wort zu geben mit den Cézanne-Briefen2 an seine Frau Clara. Meist sind es Stilleben, die ihn am tiefsten berührt haben. Am 7. Oktober 1907 schreibt Rilke: „Du weißt, wie ich auf Ausstellungen immer die Menschen, die herumgehen, so viel merkwürdiger finde als die Malereien. Das ist auch in diesem Salon d'Automne so, mit Ausnahme des Cézanne-Raumes. Da ist alle Wirklichkeit auf seiner Seite: bei diesem dichten wattierten Blau, das er hat, bei seinem Rot und seinem schattenlosen Grün und dem rötlichen Schwarz seiner Weinflaschen. Von welcher Dürftigkeit sind auch bei ihm alle Gegenstände: die Apfel sind alle Kochäpfel und die Weinflaschen gehören in rund ausgeweitete alte Rocktaschen. [...]" Am nächsten Tag, am 8. Oktober 1907, berichtet Rilke seiner Frau nach einem Besuch des Louvre: „Und bei diesem Blau (eines Bildnisses von Rosalba Carriera) fiel mir auf, daß es jenes bestimmte Blau des 18. Jahrhunderts ist, das überall, bei La Tour, 1 2
Gespräche mit Cézanne, S. 195/196. - Conversations, S. 158/159. Zitiert nach: Rainer Maria Rilke: Briefe über Cézanne, I.e., S. 27, 29, 30, 31, 33, 38/39, 40, 41, 55, 56.
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bei Peronnet, zu finden ist, und das noch bei Chardin nicht aufhört elegant zu sein, obwohl es da schon als Band seiner eigentümlichen Haube (auf dem Selbstbildnis mit dem Hornkneifer) recht rücksichtslos verwendet wird. (Es ließe sich denken, daß jemand eine Monographie des Blaus schriebe, von dem dichten wachsigen Blau der pompejanischen Wandbilder bis zu Chardin und weiter bis zu Cézanne: welche Lebensgeschichte!)3 Denn Cézannes sehr eigenes Blau hat diese Abstammung, kommt von dem Blau des 18. Jahrhunderts her, das Chardin seiner Prätention entkleidet hat und das nun bei Cézanne keine Nebenbedeutung mehr mitbringt. Chardin ist da überhaupt der Vermittler gewesen; schon seine Früchte denken nicht mehr an die Tafel, liegen auf Küchentischen herum und geben nichts darauf, schön gegessen zu sein. Bei Cézanne hört ihre Eßbarkeit überhaupt auf, so sehr dinghaft wirklich werden sie, so einfach unvertilgbar in ihrer eigensinnigen Vorhandenheit. [...]" Am 9. Oktober kommt Rilke auf Cézannes „Realisation" zu sprechen. Er meint, Cézanne habe nur noch gearbeitet, „[...] im Zwiespalt mit jeder einzelnen seiner Arbeiten, deren keine ihm das zu erreichen schien, was er für das Unentbehrlichste hielt. La réalisation nannte er es, und er fand es bei den Venezianern, die er früher im Louvre gesehen und wieder gesehen und unbedingt anerkannt hatte. Das Uberzeugende, die Dingwerdung, die durch sein eigenes Erlebnis an dem Gegenstand bis ins Unzerstörbare hinein gesteigerte Wirklichkeit, das war es, was ihm die Absicht seiner innersten Arbeit schien." Rilkes Begriff der „Dingwerdung" findet seine genaueste Entsprechung an den Stilleben Cézannes. Rilke fährt fort: „Dabei hatte er [Cézanne] seine Arbeit (wenn man dem Berichterstatter aller dieser Tatsachen, einem nicht sehr sympathischen Maler, der mit allen eine Weile gegangen war, — glauben darf [damit kennzeichnet Rilke vortrefflich den Maler Émile Bernard!]) auf das eigensinnigste erschwert. Bei Landschaftlichem oder Nature morte gewissenhaft vor dem Gegenstand aushaltend, übernahm er ihn doch nur auf äußerst komplizierten Umwegen. Bei der dunkelsten Farbigkeit einsetzend, deckte er ihre Tiefe mit einer Farbenlage, die er ein wenig über sie hinausführte und immer so weiter, Farbe über Farbe erweiternd, kam er allmählich an ein anderes kontrastierendes Bildelement, bei dem er, von einem neuen Zentrum aus, dann ähnlich verfuhr. Ich denke mir, daß die beiden Vorgänge, des schauenden und sicheren Übernehmens und des Sich-Aneignens und persönlichen Gebrauchens des Übernommenen, sich bei ihm, vielleicht infolge einer Bewußtwerdung, gegeneinander stemmten, daß sie sozusagen zugleich zu sprechen anfingen, einander fortwährend ins Wort fielen, sich beständig entzweiten. Und der Alte ertrug ihren Unfrieden. [...]" Schließlich erinnert Rilke an Cézannes Identifikation mit dem Maler Frenhofer aus Balzacs Novelle des „Chef d'œuvre inconnu" und stellt fest: „Nicht Zola hatte begriffen, um was es sich handelte; Balzac hatte vorausgeahnt, daß es beim Malen plötz-
3
Erst Kurt Badts Buch „Die Kunst Cézannes" enthält, anknüpfend an Rilkes Bemerkung, auf den Seiten 4 3 - 5 5 und 6 0 - 6 3 eine Geschichte des Blaus.
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lieh zu etwas Übergroßem kommen kann, mit dem keiner fertig wird." Rilkes Sicherheit des Urteils ist bewunderungswürdig. Am 12. Oktober 1907 erzählt Rilke seiner Frau von einem Besuch des Salons mit der Malerin Mathilde Vollmoeller und daß sie gesagt habe: „,Es ist wie auf eine Waage gelegt: das Ding hier, und dort die Farbe; nie weniger, als das Gleichgewicht erfordert. Das kann viel oder wenig sein: je nachdem, aber es ist genau, was dem Gegenstand entspricht.'" Und Rilke fügt hinzu: „Auf das Letztere wäre ich nicht gekommen; aber es ist eminent richtig und aufklärend den Bildern gegenüber. Auch fiel mir gestern sehr auf, wie manierlos verschieden sie sind, wie sehr ohne Sorge um Originalität, sicher, in jeder Annäherung an die tausendartige Natur sich nicht zu verlieren, vielmehr an der Mannigfaltigkeit draußen die innere Unerschöpflichkeit ernst und gewissenhaft zu entdecken." Damit hat Rilke wie nebenbei den Wesenskern der Kunst Cézannes benannt. Am 13. Oktober beschreibt Rilke noch einmal den Gesamteindruck der Cézanne-Ausstellung: „Ich war heute wieder bei seinen Bildern; es ist merkwürdig, was für eine Umgebung sie bilden. Ohne ein einzelnes zu betrachten, mitten zwischen den beiden Sälen stehend, fühlt man ihre Gegenwart sich zusammentun zu einer kolossalen Wirklichkeit. Als ob diese Farben einem die Unentschlossenheit abnähmen ein für allemal. Das gute Gewissen dieser Rots, dieser Blaus, ihre einfache Wahrhaftigkeit erzieht einen; und stellt man sich so bereit als möglich unter sie, so ist es, als täten sie etwas für einen." Derartige Erfahrungen wurden später nur selten mehr geäußert. Rilke fährt fort, und auch diese Sätze sind wichtig, weil sie hindeuten auf das Weltverhältnis der Kunst Cézannes, das in der Forschung später in ganz unterschiedlicher Weise beurteilt wurde. „Man merkt auch, wie notwendig es war, auch noch über die Liebe hinauszukommen; es ist ja natürlich, daß man jedes dieser Dinge liebt, wenn man es macht; zeigt man das aber, so macht man es weniger gut; man beurteilt es, statt es zu sagen. Man hört auf, unparteiisch zu sein; und das Beste, die Liebe, bleibt außerhalb der Arbeit, geht nicht in sie ein, restiert unumgesetzt neben ihr: so entstand die Stimmungsmalerei (die um nichts besser ist als die stoffliche). Man malte: ich liebe dieses hier; statt zu malen: hier ist es. Wobei denn jeder selbst gut zusehen muß, ob ich es geliebt habe. Das ist durchaus nicht gezeigt, und manche werden sogar behaupten, da wäre von keiner Liebe die Rede. So ohne Rückstand ist sie aufgebraucht in der Aktion des Machens. Dieses Aufbrauchen der Liebe in anonymer Arbeit, woraus so reine Dinge entstehen, ist vielleicht noch keinem so völlig gelungen wie dem Alten [Cézanne]; seine mißtrauisch und mürrisch gewordene innere Natur unterstützte ihn darin. Er hätte gewiß keinem Menschen mehr seine Liebe gezeigt, so er eine hätte fassen müssen; aber mit dieser Anlage, die durch seine abgesonderte Wunderlichkeit ganz ausentwickelt worden war, wandte er sich nun auch an die Natur und wußte seine Liebe zu jedem Apfel zu verbeißen und in dem gemalten Apfel unterzubringen für immer. [...]" Im Brief vom 21. Oktober 1907 heißt es: „... Ich wollte aber eigentlich noch von Cézanne sagen: daß es niemals noch so aufgezeigt worden ist, wie sehr das Malen un-
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ter den Farben vor sich geht, wie man sie ganz allein lassen muß, damit sie sich gegenseitig auseinandersetzen. Ihr Verkehr untereinander: das ist die ganze Malerei. Wer dazwischenspricht, wer anordnet, wer seine menschliche Überlegung, seinen Witz, seine geistige Gelenkigkeit irgend mit agieren läßt, der stört und trübt schon ihre Handlung. Der Maler dürfte nicht zum Bewußtsein seiner Einsichten kommen (wie der Künstler überhaupt): ohne den Umweg über seine Reflexion zu nehmen, müssen seine Fortschritte, ihm selber rätselhaft, so rasch in die Arbeit eintreten, daß er sie in dem Moment ihres Übertritts nicht zu erkennen vermag." Damit entspricht Rilke in erstaunlicher Weise den Eindrücken, die Joachim Gasquet aus seinen Begegnungen mit Cézanne überlieferte. Gasquets Buch wurde aber erst im Winter 1912/13 geschrieben und erst 1921 veröffentlicht.4 Rilke kannte, nach Angaben von Heinrich Wiegand Petzet, nur Émile Bernards „Souvenirs sur Cézanne", erschienen zuerst im „Mercure de France", September-Oktober 1907.5 In Gasquets Cézanne-Buch sagt Cézanne: „Der Künstler ist nur ein Empfänger von Empfindungen, ein Gehirn, ein Aufnahmegerät ... weiß Gott, ein gutes, empfindliches, kompliziertes, besonders im Vergleich zu den anderen Menschen. Aber wenn er dazwischenkommt, wenn er es wagt, der Erbärmliche, sich willentlich einzumischen in den Übersetzungsvorgang, dann bringt er nur seine Bedeutungslosigkeit hinein, das Werk wird minderwertig. [...] Sein ganzes Wollen muß schweigen. Er soll in sich verstummen lassen alle Stimmen der Voreingenommenheit, vergessen, vergessen, Stille machen, ein vollkommenes Echo sein. [...]" 6 Rilkes Briefe vom 22., 23. und 24. Oktober 1907 enthalten Farbbeschreibungen einiger Cézanne'scher Werke von ungewöhnlicher Genauigkeit. Zum „Stilleben mit der schwarzen Uhr" (54 χ 74 cm, 1867/69, Privatsammlung, R. 136) schreibt er „Seine Nature morte sind so wunderbar mit sich selbst beschäftigt. Das oft verwendete weiße Tuch zunächst, das sich wunderlich mit der überwiegenden Lokalfarbe tränkt, und die hineingestellten Dinge, die nun, jedes von ganzem Herzen, sich dazu äußern und auslassen. Der Gebrauch von Weiß als Farbe war ihm von Anfang an selbstverständlich: es bildete mit dem Schwarz die beiden Enden seiner weit offenen Palette, und in dem sehr schönen Ensemble einer steinernen schwarzen Kaminplatte mit dazu gehöriger Pendüle benehmen sich Schwarz und Weiß (letzteres an einem Tuch, das einen Teil der Platte bedeckt, herabhängend) ganz farbig neben den anderen Farben, gleichberechtigt und wie seit langem akklimatisiert. (Anders als bei Manet, wo das Schwarz wie eine Stromunterbrechung wirkt und den Farben doch noch, wie von anderswoher kommend, entgegensteht.) In dem weißen Tuch behaupten sich hell eine Kaffeetasse mit stark dunkelblauem Randstreifen, eine frische, ausgereifte Zitrone, ein geschliffenes, oben ausgezacktes Kelchglas, und, ganz links, eine große, barocke Tritonsmuschel, — sonderlingshaft und eigen im Aussehen, mit der glatten, roten Mün4 5 6
Gespräche mit Cézanne, S. 133. - Conversations, S. 106. Rilke: Briefe über Cézanne, S. 130. Gespräche mit Cézanne, S. 136/137. - Conversations, S. 109.
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dung nach vorne hingelegt. Ihr innerliches, ins Helle herausgewölbtes Karmin fordert die Wand dahinter zu einem gewittrigen Blau heraus, das der goldrahmige Kaminspiegel nebenan räumiger und vertiefter nochmals wiederholt; hier im Spiegelbild trifft es wiederum auf einen Widerspruch: auf das milchige Rosa einer Glasvase, die, auf der schwarzen Pendüle stehend, zweimal (wirklich und, etwas nachgiebiger, gespiegelt) ihren Gegensatz zur Geltung bringt. Raum und Spiegelraum sind durch diesen doppelten Anschlag endgültig bezeichnet und gleichsam musikalisch unterschieden, und das Bild enthält sie, wie ein Korb Früchte und Blätter enthält: als ob das alles ebenso einfach zu greifen und zu geben wäre. [...]" 7 Am 31. Oktober war Rilke von Paris zu einer Vortragsreise nach Prag und Breslau abgereist. In Prag konnte er, im Pavillon Manès, dem Ausstellungsgebäude der jungen tschechischen Künstlerschaft, eine Ausstellung französischer Maler sehen, mit Werken von Monticelli, Monet, Pissarro, Daumier, Van Gogh, Gauguin, Émile Bernard — und vier Bildern Cézannes. In einem Brief vom 4. November 1907, geschrieben im Zug von Prag nach Breslau, berichtet Rilke darüber seiner Frau: „... wirst Du es glauben, daß ich nach Prag kam, um die Cézannes zu sehen?" Und er beschreibt zwei Stilleben Cézannes: „Ein Stilleben, ebenso mit Schwarz beschäftigt;" [wie das gleichfalls gezeigte „Porträt von Valabrègue", es handelt sich um Cézannes erstes großes Stilleben „Le Pain et les Œufs", „Brot und Eier", 59 χ 76 cm, 1865, Cincinnati Art Museum. R. 82] „auf glattschwarzem Tisch ein langer Laib Weißbrot in natürlichem Gelb, ein weißes Tuch, ein dickwandiges Weinglas auf Fuß, zwei Eier, zwei Zwiebel, ein blechernes Milchgefäß und quer gegen das Brot gelegt, ein schwarzes Messer. Und hier, noch mehr als im Bildnis, das Schwarz ganz als Farbe behandelt, nicht als Gegenteil, und in allem farbig wiedererkannt: in dem Tuch, über dessen Weiß es ausgebreitet ist, in das Glas eingelegt, das Weiß der Eier dämpfend und das Gelb in den Zwiebeln beschwerend zu altem Gold. (So wie ich es, ohne es noch ganz gesehen zu haben, vermutete, daß Schwarz bei ihm gewesen sein müsse.) Daneben eine Nature morte mit der blauen Decke [65,5 χ 81, 5 cm. 1893/94, J. Paul Getty Museum, Malibu, Calif., R. 770]; zwischen ihrem bürgerlichen Baumwollblau und der Wand, die mit leicht wolkiger Bläulichkeit überzogen ist, ein köstlicher grau glasierter großer Ingwertopf, der sich nach rechts und links auseinandersetzt. Eine erdiggrüne Flasche von gelbem Curaçao und weiterhin eine Tonvase, zu zwei Drittel von oben nach unten grün glasiert. Auf der anderen Seite in der blauen Decke, aus einer vom Blau bestimmten Porzellanschale teilweise herausgerollte Apfel. Daß ihr Rot in das Blau hineinrollt erscheint als eine Aktion, die so sehr aus den farbigen Vorgängen des Bildes zu stammen scheint, wie die Verbindung zweier Rodin'scher Akte aus ihrer plastischen Affinität. [...]" 8 — Die Erfahrung der Kunst Cézannes hat auf Rilkes Dichtung tief eingewirkt.
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Rilke: Briefe über Cézanne, S. 63 - 6 5 . L.C., S. 68/69.
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Eine andere Weise der Aneignung der Kunst Cézannes vollzog der Kunsthistoriker, Kunstkritiker und Maler Roger Fry. In seinem Buch „Cézanne. A Study of his Development" 9 widmet Fry den Stilleben ein ganzes Kapitel, das zehnte. Hier stellt er fest, Cézanne habe in seinen Stilleben den Ausdruck seiner erhabensten Empfindungen und seiner tiefsten Intuitionen gefunden, er habe seinen Stilleben einen neuen Charakter verliehen. Nur Stilleben gewährten Cézanne genügend Ruhe und Muße, den Zeitraum, den er brauchte, um seine Idee in all ihrer Tiefe auszuloten. „[...] it is noteworthy that [Cézanne ] [...] achieved in still-life the expression of the most exalted feelings and deepest intuitions of his nature. [...] For one cannot deny that Cézanne gave a new character to his still-lifes. Nothing else but still-life allowed him sufficient calm and leisure, and admitted all the delays which were necessary to him for plumbing the depth of his idea." Fry bemerkt, man erfahre häufig gerade in Stilleben die reinste Selbstdarstellung des Künstlers, da in jedem anderen Thema die menschliche Anteilnahme, die menschliche Natur sich einmische. Andererseits fragt er, ob es der Malerei je gelungen sei, ernstere, kraftvollere Empfindungen zu wecken als es Cézannes Meisterwerke des Stillebens vermögen. „[...] it is in the still-life that we frequently catch the purest selfrevelation of the artist. In any other subject humanity intervenes." „One may wonder whether painting has ever aroused graver, more powerful, more massive emotions than those to which we are compelled by some of Cézannes masterpiece in this genre [the still-life]." In den Stilleben, so Fry, habe Cézanne seine Prinzipien der Gestaltung und seine Theorie der Form, seine Akzentuierung von Kugel, Kegel und Zylinder gebildet. Cézanne denke in Kategorien extrem einfacher geometrischer Formen, und erlaube ihnen zugleich unendliche und unendlich kleine Modifikationen an jeder Stelle durch seine visuellen Empfindungen. Dies wäre die Lösung seines künstlerischen Problems, eine Methode zu finden für die Erschaffung von Dingen, die gleichzeitig dem menschlichen Verständnis zugänglich sind, und die eine konkrete Realität besitzen, die, in jeder anderen Erfahrung, unserer Einsicht entgeht. „[...] it is in them that he appears to have established his principles of design and his theory of form [...] the sphere, the cone, and the cylinder." Cézanne „is at once thinking in terms of extremely simple geometrical form, and allowing those to be infinitely and infinitesimally modified at each point by his visual sensations. This was, in fact, his solution of the artistic problem, which is always how to find some method of creating things which are at once amenable to human understanding and have the concrete reality which, in every other experience, eludes our comprehension." Dies ist der Horizont für Roger Frys Beschreibung einiger Stilleben Cézannes, woraus ich nur eine einzige, mir wichtig erscheinende Bemerkung herausgreife. Beim Stilleben „LaTable de Cuisine" oder „Nature morte au Panier" (65 x 80 cm. 1888—90. Paris, Musée d'Orsay. R. 636) erkennt Fry, man erfahre die äußerste Einfachheit des 9
London, erstmals 1927, in zweiter Auflage 1932 erschienen. Zitate auf den Seiten 3 9 , 4 1 , 4 2 , 51, 52, 53.
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Gesamteindrucks und zugleich die unbegrenzte Mannigfaltigkeit in jedem Teil. Dieser unaufhörliche Wechsel der Malmaterie vermittle den Eindruck intensivsten Lebens. Trotz der Strenge der Formen ist alles Vibration und Bewegung. Nichts ist weniger schematisch als diese Werke, sogar wenn, wie hier, die Hauptformen fast geometrische Erscheinung aufweisen. „We thus get at once the notion of extreme simplicity in the general result and of infinite variety in every part. It is this infintely changing quality of the very stuff of the painting which communicates so vivid a sense of life. In spite of the austerity of the forms, all is vibration and movement. Nothing is less schematic than these works, even when, as here, the general forms have an almost geometrical appearance." Letztlich ist diese Wirkung ein Ergebnis von Cézannes Gleichsetzung von Modellierung und Modulation, von Konstitution der plastischen Form mit ständiger Abstufung der Farben. Frys Verdienst besteht vor allem darin, die Einfachheit der Cézanne'schen Formen mit dem menschlichen Erkenntnisvermögen in Bezug gesetzt zu haben. Roger Frys Untersuchung ist in ihrer Intensität nur zu vergleichen mit dem allerdings ausführlicheren und tiefer dringenden Werk von Kurt Badt, seinem Buch „Die Kunst Cézannes", erschienen München 1956. Badts Buch waren einige Cezanne-Aufsätze vorangegangen, andere folgten ihm nach, darunter der Artikel „Stilleben mit Frühlingsblumen von Paul Cézanne" 10 . Besprochen wird hier das nach Rewald zwischen 1889 und 1890 entstandene, ehemals in der Sammlung Bührle befindliche, heute einer anderen Schweizer Privatsammlung gehörende Stilleben R. 660 (55 χ 47 cm. Abb. 18). Diese Beschreibung kann als paradigmatische „Interpretation nach dem folgerichtigen Bildaufbau" gelten. Sie sei deshalb vollständig wiedergegeben: „So kraftvoll und unwandelbar ist die Geistigkeit der großen Künstler, daß jedes ihrer Werke das Wesen ihrer Kunst in sich trägt und zeigt. Zwar gibt es da Unterschiede in der Art, wie sie es tun. Ein Maler wie Manet, dessen Größe in der Vorurteilslosigkeit und der Freiheit bestand, den Erscheinungen des Lebens gegenüberzutreten, dessen Geist sich in seiner eigenen Beweglichkeit und einem immerwährenden Neubeginnen offenbarte, schuf immer neue, einmalige, unter sich verschieden aussehende, aber in ihrer Verschiedenheit verbundene Werke. In jedem von ihnen funkelt sein Geist, indem er sich im Glänze seiner Verwandlungen zeigt. Cézanne dagegen hat sich in nicht endenwollenden Variationen über ein einziges Thema ausgesprochen, das nun allerdings nicht in ihm selbst beschlossen lag, sondern, das Anliegen Manets weit übertreffend, auf die Ergreifung und Darstellung von Wahrheit in den Erscheinungen der alltäglichen Wirklichkeit gerichtet war. Ganz und gar nicht abstrakt, sondern auf die Fülle der konkreten Erscheinungen bezogen (wenn auch hierin gerade von Grund aus mißverstanden), ging seine Kunst auf die alltäglichsten der alltäglichen Gebilde. So auch hier. 10 Erschienen in: Die Kunst und Das Schöne Heim, 57. Jahrgang, München, Februar I960, S. 57.
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A b b . 18 Stilleben mit Frühlingsblumen, 1 8 8 9 / 9 0 . Privatsammlung S c h w e i z . R. 6 6 0
Eine Vase mit Tulpen, Goldlack und Narzissen, sie alle mit jeder nur wünschbaren Deutlichkeit klargemacht (wenn auch in Cézannes nicht leicht lesbarer Handschrift), steht auf einem Tisch, daneben liegen zwei Apfel, dahinter links der Zimmerkamin, rechts die Wand. — Aber, indem sich diese Dinge in ihrer Verschiedenheit und jedes für sich zeigen, weisen sie in ihrem Zusammenhange, der erst das Bild ausmacht, auf etwas hin, das über ihre Besonderheiten und die Stillebenhaftigkeit ihres Zusammenstehens hinausgeht, auf eine tiefere Bedeutung, die sich in der Feierlichkeit ihres einsamen Bestehens zugleich verhüllt und enthüllt anzeigt. Denn, ohne weiteres ist klar, daß in diesem Bilde mehr dargestellt ist als das stille Leben der Dinge, der Pflanzen, Früchte und Gegenstände, wie sie etwa die holländischen oder italienischen Maler des 17. Jahrhunderts gegeben haben. Nicht vom Reiz ihrer Oberflächen, nicht vom spiegelnden Glanz, von der Fülle der Naturfarben ist hier die Rede, hier ist kein Prunk oder Reichtum vor uns ausgebreitet. Dies alles ist vielmehr ausdrücklich vermieden, um Raum zu bekommen fur etwas Geistiges, das zwei gewöhnliche Äpfel und ein Strauß Gartenblumen in einer grünglasierten Vase, auf einem weißen Tische stehend (an sich selbst, als wirklich vorhanden betrachtet, eine recht merkwürdige und dürftige Zusammenstellung), auszusagen imstande sind, durch die Art, wie sie Cézanne als Kunstwerk dargestellt hat. Noch immer er-
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wecken sie den Eindruck, den sie einst bei ihrem Auftauchen hervorgerufen haben, als seien in ihnen die Dinge in ihrer Dinghaftigkeit zum ersten Male gesehen, ja entdeckt. Dies ist auch tatsächlich der Fall. Folgen wir dem Bildaufbau, der Komposition, wie sie sich als eine aufgebaute im Nacheinander ihrer Teile selbst zu verstehen gibt: Auf einer weißlichen Fläche, die nach Grün und Violett, Blau und Gelb spielt, d.h. alle diese Farben zart andeutend vorwegnimmt, die uns aber nicht horizontal entgegensteht, sondern nach vorn absinkt und aus dieser Abgrundtiefe emporgestiegen unbewegt gedacht ist, erscheinen zwei Äpfel in hoch gesteigertem Gold (Orange) und Rot. Sie bilden den Beginn, die ,Anhebung', die Eröffnung des Bildthemas, wie ein Vorspiel ganz in sich selbst beschlossen, zwei Kreis- und Kugelformen völliger Beruhigung aber auch der Isolierung. Nicht wie in der Mehrzahl europäischer Bilder setzt also diese Komposition von der linken Bildecke ein; diese vielmehr ist leer gelassen, als wäre sie nicht in die Komposition einbezogen, nicht in sie aufgenommen. Die Welt der Dinge, um die es Cézanne geht, beginnt etwa in der Bildmitte in dem zweimal wiederholten sehr intensiven und besonders betonten Apfelmotiv. In ihm erschöpft sich die ,Anhebung' und kommt zum Stehen. Von dem linken, dem größeren Apfel führt kein Weg das Auge zu den übrigen Objekten des Bildes weiter. Es bedarf zum Fortgange einer Rückkehr nach rechts, die die Rückläufigkeit der Kreisformen dieser Gegenstände begünstigt, bis zu dem Schatten des rechten Apfels, von dem es mit einem Sprunge, einem Formenintervall, einer Pause des Seins der Dinge, weitergeht in der die Vase links begrenzenden Kurve, die in ihrem unteren Teil, wo ihr Ansatz nach oben durch eine Unterbrechung markiert ist, dem Apfelumriß etwa parallel verläuft. — Mit dem Vasenkontur ist dann das Hauptmotiv der Komposition erreicht, das sich in einer Vielfalt von Schwüngen aus jenem entfaltet, zuerst in den Tulpenblättern, dann in den übrigen Gebilden, Blüten, Stengeln und weiteren Blättern. Und zwar vollzieht sich die Motiventfaltung trotz ihrer linearen Einleitung im Körperlichen, ,voluminar', wie ich sagen möchte, einen neuen Ausdruck für etwas in der Kunstgeschichte bisher Unbenanntes einführend, .voluminar' im Gegensatz zu körperlich, worunter gegenüber der Massenhaftigkeit der wirklichen Dinge die als Volumen gestaltete künstlerische Darstellungsform verstanden werden soll. Bereits die Tulpenblätter sind voluminar, eindeutig gerichtete, sich erstreckende KÔÎÇÇXformen, ebenso die Blüten, Tulpen wie Narzissen. In diesem Hauptthema des Bildes stehen dann die Blüten als in sich ruhende Gebilde gegenüber den sich hebenden und erstreckend bewegten steilen Blättern da. Zuerst begegnet die große Tulpe links der Vase; durch die Blattkurve, die sie dem Strauß verbindet, tritt eine runde Bewegung auf, die an die Apfelumschattungen mahnt; sie führt über den kleinen feststehenden gelben Blütenstern, der die untere Partie des Buketts festlegt, zu einer Schwingung rechts, welche einen Bezug zum Hintergrunde herstellt. Diese, als Wand- und Schlagschatten wiederholt, fuhrt noch einmal zu der Tischplatte zurück, wodurch in dieser anscheinend verlorenen Ecke des Bildes ein kleines reizvolles Nebenmotiv entsteht. Das Hauptmotiv jedoch geht über die gelbe Blume und unterste Blattkurven aufwärts, in die weißen Flecke der Narzis-
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sen, die zwischen den unbewegten Blätterströmen hervorbrechen; deren Schräge wird in einem genau senkrecht gestellten Blatt zum Stehen gebracht und damit das Schlußmotiv angekündigt. Dies jedoch nur für einen Moment; dann tritt links davon das neue Motiv der gelben und rotbraunen Blüten auf, senkrecht und zugleich auch halbkreisförmig entfaltet und sich zur großen Tulpe herabsenkend. So wird der Strauß in einem ,Halbschluß' geschlossen, zu dem im Gegensatz und ihn aufhebend die (unvollendete) Kaminwand mit ihren vier- und fünffach wiederholten Senkrechten tritt, die durch markierte horizontale Teilungen den Anschluß an die Tischkante gewinnen, die hier als Symbol des Horizonts der ruhenden Erde stehen mag, wie das Ganze in seinen unauflösbaren Beziehungen und Verbindungen das Bestehen der Dinge aus ihrem Zusammenstehen zum Ganzen einer Welt bezeugt." Zu Beginn seines Artikels vergleicht Badt die Kunst Cézannes mit der Manets. In der Tat verdanken Cézannes frühe Stilleben viel Manet - aber in welcher Hinsicht? Das schon öfters herangezogene Buch von Gisela Hopp „Edouard Manet. Farbe und Bildgestalt"11 enthält dazu ein wichtiges Kapitel. Hier heißt es: „Von allen denen, die Manet in den 60er Jahren umgeben, nimmt gerade derjenige die wesentlichsten Anregungen auf, der Manet am kritischsten gegenübersteht und von diesem am wenigsten beachtet wird: Cézanne. Die Phantasien nach dem .Déjeuner sur l'herbe' und der .Olympia' bezeugen eine anhaltende Beschäftigung mit Manet bis in die 70er Jahre hinein und zeigen, wie die Imaginationskraft der beiden Vorbilder diejenige Cézannes hat bewegen können. Das Ergebnis dieser Beschäftigung macht sich eindringlicher aber in der Art von Cézannes Entwicklung selber geltend: in dem Wandel von der leidenschaftlichen Gebärdensprache mit den flammenden Farbenbewegungen seiner frühen Bilder [...] zur gebändigten Energie der Stilleben um 1870." Als Beispiel der frühen Stilleben beschreibt Gisela Hopp ausführlich das von Rewald 1867—69 datierte „Stilleben mit der Zinnkanne" („Nature morte à la bouilloire d'étain". 63 χ 80 cm. Paris, Musée d'Orsay. R. 137. Abb. 19). „Auf einem von links über die ganze Bildbreite hinüberreichenden Brett von bleichem Ocker befinden sich einige rustikale Geräte, von dichtgrauem Grund abgehoben. Besonders der rechte, ,schwebende' Teil des Brettes ist dicht mit verschiedenen Dingen gefüllt, beherrscht von zwei gedrungenen nebeneinander ragenden Gefäßen: einer grau aus dem Grau des Grundes hervormodellierten Zinnkanne (deren leuchtend ockerfarbener Henkel sie nach links hin zu drängen scheint) und einem gerade hochgerichteten Tontopf von tiefglänzendem Grün mit breiter, heller Mündung. Auf der linken Seite dagegen, wo das Brett im Rahmen verankert wirkt, sind nur zwei geringe Akzente zu finden: eine Zinndose und ein Apfel von fahlkühlem Gelb (abgehoben vom bleichen Ocker des Brettes durch den Zinnoberanflug der Backe und den Schatten auf der anderen Seite). Doch werden Dose und Apfel ebensowenig als ,leicht' empfunden wie die Dinge rechts als,schwer'. Während diese empordrängend im Ausdruck ihrem Gewicht entgegenwirken und nur den der Dichte und Fülle gelten lassen, ziehen die Akzente links 11 Berlin 1968, S. 1 5 4 - 1 5 7 .
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A b b . 19 Stilleben mit Zinnkanne, 1867/69. M u s é e d'Orsay, Paris. R. 137
den Druck der umgebenden weiten Flächen auf sich. Der Apfel ist als einziger Gegenstand ganz von der Fläche des Brettes eingefangen und der lagernden Schwere des horizontalen Bandes unterworfen, das seinerseits die ungebrochene, lastende Weite der Graugrundfläche - vom Akzent der Zinndose angezogen - über sich hat. [...] Alle diese einzelnen Gegenstände sind von einem kalkweißen Tuch zusammengefaßt, das - mit schwärzlichen Schatten gebauscht und gefaltet - nach jeder Seite einen Zipfel ausschickt und einen dritten breit in der Mitte des Brettes frontal über die Kante hängen läßt, die schwärzliche Schattenzone des Brettes durchstoßend. So kommt durch das Brett eine zentrierende Note in die Komposition. Die Zweiheit im Rhythmus der gereihten Gegenstände wird jedoch nicht aufgehoben, im Gegenteil durch das schwarze Messer - indem es schräg über das Tuch zur senkrechten Grenzlinie der rechten Gerätegruppe hinstößt - zur Zweiteilung hin verschärft. Der rechte Teil des Tuches ist wie abgeschnitten und mit zwei Zwiebeln in lebhaften Farben (die rechte rotbraun, violettbraun mit grünen Blättern die andere) und zwei bleichweißen Eiern vor den beiden ragenden Gefäßen und mit diesen zusammengedrängt. Der größere Teil wird dagegen der linken Bildhälfte zugewiesen, wo sich über bleichem Ocker sein noch
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bleicheres Weiß - vom fahlgelben Akzent des Apfels ausgehend und von dem der Zinndose erneut angetrieben - zur herabstoßenden Ecke hin entfaltet. So sind die beiden ursprünglich eng verwachsenen Bildseiten mit verschieden gearteten Kräften gegeneinandergesetzt, für deren Verhältnis sich die bewahrten verbindenden Momente (das Brett und das konzentrierende Tuch) nur spannungssteigernd auswirken. Rechts ist drängende Fülle wesentlich für den Eindruck, links Weite. Mit der Weite verbindet sich lastende Schwere, die in den Akzenten gesammelt wird und in dem Tuch eine mit fahlhell aufbrechenden Farben in die Tiefe treibende Richtung annimmt. Auch rechts bleiben die fahlen Farben wirksam, dringen mit dem Brett, dem Tuch und dem Grund hinüber; aber ihre Macht ist gebrochen und ihr Ausdruck verwandelt sich durch die schwellend hochdrängende Kraft der Dinge. Schon die graue Kanne mit den bleichen Eiern zu Füßen setzt sich mit einem anderen Ausdruck durch, vollends der Tontopf mit seinem starken Grün über den braunrötlichen Zwiebeln und der heileuchtenden Mündung. Beide Bereiche steigern sich in der Kraft des verschiedenen Ausdrucks zur Mitte, zum scheidenden Messer hin - derart, daß zwischen der herabstoßenden Tuchecke und dem hochstrebenden Topf eine strenge, einander fordernde Gegnerschaft der Formgebärden entsteht, beide — in gleicher Nähe zur Bildachse — an dieser ausgerichtet. Alle Kräfte, die mit den Gegenständen auf dem Brett in horizontaler Ausbreitung gegeneinandergesetzt sind, scheinen damit hier — an der Bildachse — zu kreuzförmiger Ausstrahlung aneinanderzuprallen." Wichtig erscheint mir an dieser Interpretation die Auffassung des Bildes als eines Spannungs- und Kräftegleichgewichts, die Erfassung von Richtungstendenzen in Dingen und Farben, die Erkundung von Ausdrucksqualitäten in Dingen und Farben, sowie deren Entprechungen und Kontrasten. Einige der ausdrucksqualifizierenden Farbbenennungen halte ich im übrigen für problematisch. Gisela Hopp fährt fort: „Die beschriebenen Dinge sind mit pastosen, dicht ineinandergreifenden Farbstrichen verlebendigt. Ein Strich drängt den anderen hervor, je nach dem Volumen des Gegenstandes auch im Ton variierend. In verfeinerter Art ist es die gleiche Farbenbewegtheit, wie sie in früheren Bildern vom themenbestimmten, leidenschaftlichen Ausdruck hervorgetrieben wurde. Innerhalb der sachlichen Welt ruhig geordneter Dinge erzeugt sie nun aber aus eigener Kraft ansetzend — nach dem Beispiel von Manet — gegenstandsbildend ein geheimes Empfindungsleben. Stoffliche Eigenheiten, aus denen Manet einen so großen Reichtum an Empfindungsdifferenzierungen schöpft, läßt Cézanne allerdings nur wenig zur Entfaltung kommen. Es überwiegt der Eindruck einer kompakten Materialität, an welcher sich die Kraft der Farbformung beweisen muß. So vergegenwärtigen sich die verschiedenen Ausdrucksintentionen der Farben in den Gegenständen in verwandter intensiver Art. Gleichwohl entsteht auch bei Cézanne ein Eindruck von Reichtum. Er beruht aber mehr auf der Kraft und Erfülltheit der Aussagen als auf wechselnder Vielfalt. Das in den Dingen erzeugte Leben wirkt sich auch auf die gegenseitigen Verhältnisse, den Rhythmus in der Komposition aus und erweitert sich in diesem. Was die
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Gegenstände an Aussagegehalt erfüllt, bekommt je nach der Art der Verhältnisse im Bildfeld Bedeutung und Sinn. Das Prinzip der Paarung wird in den beiden Gefäßen rechts mit so betonter Gewichtigkeit und mit Zwiebeln und Eiern in so drängender Fülle angesprochen, daß in diesem Teil des Bildes Vorstellungen von Zeugung und Leben schlechthin entstehen, am lebhaftesten im tiefgrün ausgezeichneten Tontopf. Die entgegengesetzt mit bleichem Weiß aus bleichem Ocker in Schattentiefe hineinstoßende Tuchecke dagegen scheint Todeshinweise zu enthalten und vom Apfel als einem Zeichen des Herbstes auszugehen. Das schwarze Messer kennzeichnet eindringlich die scharfe Scheide zwischen beiden Bereichen. Dennoch bleibt der ,Bereich des Lebens' dem anderen eng verwachsen (durch das von links hinüberreichende Brett und den in gleicher Richtung unter dem Messer hinwegdrängenden Zipfel des weißen Tuches), als ob seine Wurzeln im Jenseitigen zu suchen seien. Dementsprechend ist sein Verhältnis zu ihm auch nicht einfach im Gegensatz zu verstehen. Beide Mächte scheinen der gleichen Urkraft zu entstammen und lassen diese selbst beim kontrastierenden Aufeinanderprallen im einander bedingenden Verhältnis noch erkennen." Auch wenn man dieser Interpretation nicht in allen Punkten zu folgen vermag, so ist mit ihr doch angedeutet, daß Cézannes Stilleben in neuer und einzigartiger Weise von Weltgehalt, von menschlicher Bedeutsamkeit erfüllt sind. Als Quintessenz ihrer Auffassung über das Verhältnis von Cézannes Stilleben zur Kunst Manets stellt Hopp fest: „So wird in den .sachlichen' Gegenständen des Stillebens durch die gestaltende Kraft der Farben ein Sinngehalt von einer Bedeutungsschwere und einem Ernst lebendig, wie Manet ihn nur in großen Figurenkompositionen zu erreichen sucht, an überkommenen Gattungsbegriffen festhaltend. Der Art nach unterscheiden sich Manets Stilleben zwar nicht von seinen großen Kompositionen. Für sich genommen erregen sie in entsprechender Weise Empfindungen und Imaginationen wie innerhalb der Figurendarstellungen (etwa im .Déjeuner dans l'atelier' oder im .Déjeuner sur l'herbe'). Sie sind in der Regel aber nicht mit so schwerem, schicksalhaftem Vorstellungsgut belastet. Erst Cézanne hebt die Rangunterschiede zwischen den Bildgattungen ganz auf." Erst Cézanne hebt die Rangunterschiede zwischen den Bildgattungen ganz auf, dies ist die wichtigste Aussage in diesem Zusammenhang, erst Cézanne erhebt Landschaften und Stilleben zu Aussagen über Welt und Schicksal, vergleichbar Figurenbildern. — Was kann über das in diesen Forschungsbeiträgen Formulierte hinausgehend noch an Cézannes Stilleben erkannt und ausgesagt werden? In den folgenden Beschreibungen wird sich mein Augenmerk vor allem auf die Farbe und auf die rhythmische Gestalt ausgewählter Stilleben Cézannes konzentrieren. Beim soeben betrachteten „Stilleben mit der Zinnkanne" ist dabei nachzutragen, daß es in sich vereint die Farbklänge Grau und Braun - wie erwähnt, das neben der Trias der Grundfarben wichtigste koloristische Gestaltungsmittel der neuzeitlichen Male-
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rei — Schwarz und Weiß, Grün und Rot. Auch die Skala von Schwarz nach Grau und Weiß wird im Zinnkrug präsentiert, in der rechten Hälfte des Tuches in den Kontrast von warmem Weiß und Schwarz verdichtet, in der linken Hälfte, unter der Dominanz von kaltem Weiß, um Grautöne bereichert. Das Grün des Kruges steht rechts neben der Bildmitte. Grün vermittelt als Buntfarbe zum Braun, Braun selbst vermittelt zwischen Bunt- und Neutralfarben, leitet über zu Grau, Grau steht in der Mitte zwischen Weiß und Schwarz. So repräsentieren die Farben hier in ihrer Komposition zugleich die Ordnung und Totalität der Farbwelt, eine Ordnung und Totalität, die erst von Cézanne in dieser Konsequenz erkannt und gestaltet wurde und dennoch keine „individuelle" Note seiner Farbgestaltung darstellt, sondern eine in sich selbst gültige, objektive Ordnung. Der Zweiklang Braun und Grau verbindet eine wärmere Farbe, Braun, mit einer kühleren, Grau. Diese Unterscheidung macht es sinnvoll, auch das Weiß zu teilen in einen wärmeren Teil (rechts) und einen kühleren (links), sinnvoll im Hinblick auf eine Logik innerhalb der Farbwelt selbst, parallel zu der von Gisela Hopp aufgezeigten, im Ausdruck der Bilddinge gründenden Bedeutungsdimension der Farben. Für die von Frau Hopp für das „Stilleben mit der Zinnkanne" vorgeschlagene Interpretation spricht, daß sich in Cézannes Frühwerk ein aussagestarkes Beispiel in der Tradition der „Vanitas"-Stilleben findet, das Stilleben „Totenkopf und Kerzenleuchter", gemalt um 1866 (47,5 χ 62,5 cm. Schweizer Privatbesitz. R. 83). Es gehört, zusammen mit einem anderen nicht vollendeten und nicht ganz zweifelsfreien, 1864—65 zu datierenden „Stilleben mit Totenkopf und Zinnkanne" (59,5 χ 48 cm. Peter Nathan, Zürich. R. 81) zu seinen frühesten Stilleben überhaupt und bezeugt, welche Bedeutungsdimension Cézanne mit seinen Stilleben verband. Das „Stilleben mit Totenkopf und Kerzenleuchter" vereint offensichtliche „Vanitas-Symbole", den Totenschädel und die fast ganz abgebrannte Kerze mit einem Gebetbuch und einer Rose, gemalt in kühnen, die Farbmaterie dicht modellierenden Strichen und Flecken und, in ihrer Düsternis, intensiven Ausdrucksmacht der Farben. Und wiederum repräsentiert sich darin ein Hinweis auf die Totalität der Farbwelt, mit dem Klang von kühlem Grau und Ocker und einem ganz verhaltenen Komplementärkontrast aus Rosa und Grün. Den Ockerton des Schädels wiederholt etwas heller der vordere Teil des Tisches. Die Seiten des religiösen Buches führen Grau und Ocker zum Weiß empor, im düsteren Gold des Kerzenleuchters wird Ocker zur Dunkelheit herabgestimmt. Entschieden kontrastiert die Vertikale des Leuchters mit der Horizontalen der Tischplatte. So gewinnt die Aussage des Stillebens durch seine Komposition das Endgültige, ein Endgültiges, das aber, mit dem den Bildschluß festigenden Gebetbuch, auf Transzendenz verweist. Das Auffallende des von Hugo von Tschudi für die Berliner Nationalgalerie erworbenen und dieser 1906 übergebenen „Stillebens mit Früchten und Geschirr" (64 χ 80 cm; nach Rewald 1867/69 entstanden; Museumsdatierung: um 1871. R. 138. Taf. 17) sind die isolierten Schlagschatten. Inken Freudenberg schreibt in ihrer aus einer Frankfurter Dissertation hervorgegangenen Publikation „Der Zweifler Cézan-
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ne"12: „Cézanne sieht Licht und Schatten nicht als Hell und Dunkel, sondern als ein Farbverhältnis zweier Töne. Und da für ihn in jeder Begegnung zweier Farbtöne eine Emotion liegt, wohnt auch dem Schattenton - in seiner Beziehung zum Lichtton eine emotionale Qualität inne. Der Schatten wäre demnach Träger eines psychischen Momentes innerhalb der Komposition — ein neuartiges und Cézanne eigenes Verständnis." Und weiter: „Das, was eigentlich Hintergrund ist, drängt sich in den Vordergrund. Unter dem forschenden Auge des Betrachters scheint der Schatten aktiv zu werden — ist es noch die Flasche, die einen Schatten wirft, oder bewegt sich der Schatten aus seinem Hintergrunddasein heraus und bemächtigt sich des Bildes? Diese Erfahrung eines Schattens, der ein Eigenleben entwickelt, findet sich vergleichbar bei Gustave Flaubert. In einer eindrucksvollen Passage der „Versuchung des heiligen Antonius", die in Auszügen 1856 und 1857 in der Zeitschrift ,L'Artiste' erschien, zeichnen in der ersten Szene vor einer Einsiedlerhütte die Arme des christlichen Kreuzes Schatten auf den Sand. Plötzlich werfen sie sich nach vorne und bilden gleichsam zwei große Hörner, Antonius schreit auf, dann verschwinden sie wieder wie nach einer Täuschung. Doch kehren sie, feiner als natürliche Schatten, in der folgenden Szene wieder: Es ist der Teufel. Daß Cézanne für solche Bilder und Erfahrungen empfänglich war, zeigt sich spätestens dann, wenn er das im Gemälde gefundene Motiv des emotional aufgeladenen Schattens [...] in einer Bleistiftzeichnung, einem Skizzenblatt mit verschiedenen Vorstudien für die ,Pastorale' wieder aufnimmt." Im folgenden wendet sich die Autorin dieser Zeichnung und Cézannes Gemälde „Pastorale" zu und schließt: Die frühen Stilleben Cézannes „erwachsen aus seinen unruhigen Bildern des Lebens und fügen sich ihnen wieder ein. Den ,reinen' Stilleben bleibt die Unruhe des Lebens eigen [...]." Dieses Stilleben also sei Zeugnis nur von Cézannes „Unruhe des Lebens", mit dem isolierten Schatten als Konnotation des Negativen. Doch auch hier ist es nötig, die Gesamtwirkung und die Gesamtkomposition des Stillebens genau zu betrachten. Dies ist — so mein Eindruck — kein bedrohliches und bedrohtes, sondern ein schönes und kraftvolles Bild. Die abgehobenen Schatten könnten für sich bedrohlich wirken, aber sie werden durch das schöne, und dabei karge, nicht wie bei Manet kostbar gemachte Grau des Grundes ihrer Bedrohlichkeit ledig. Die Bildbewegung setzt ein mit dem Grau des Tischtuches, das an seiner linken Ecke prägnant die Kistenkante nachformt, dann aber, nach rechts hin, bauschiger wird und heller und gelblicher, hindrängt zum beleuchteten Teil der Kiste (auf der die Dinge hier stehen) mit Tuchfalten, Teller, Tasse, Milchkrug. Die Falten bilden eine genaue rhythmische Komposition mit Kurven und parallel geführten Schrägen, wobei weiße Lichtkanten mit schwarzen Schattenbahnen abwechseln — es sind die Wülste einer expressiv zusammengeknüllten, übereinandergeschlagenen Decke - und das Licht ist früher als der Schatten. Aus den Falten des Tischtuches schiebt sich ein Oval — Rewald vermutet, es handle sich hier möglicherweise um ein Bügelbrett (aber es 12 Heidelberg 2001, S. 118, 119, 120.
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kann auch ein tuchbedeckter Teller sein) —, jedenfalls wird damit eine Kurvenform gewonnen, die vorbereitet auf die sphärischen und zylindrischen Formen der Dinge, die weiße Tasse mit ihren schwarzblauen Ornamenten, das Milchkännchen in etwas wärmerem Weiß und die anschließenden Früchte. Hier setzen nun auch die schwarzen Schlagschatten ein, kurvig begrenzt hinter „Bügelbrett" und Tasse. Die Milchkanne bleibt ohne Schlagschatten an der Wand, vielmehr steigt über ihr an der Wand die mächtige Schattenform der Flasche auf - ohne beleuchtungsmäßig rationalen Zusammenhang mit der Flasche selbst. Dieser Schatten erscheint kompositionell, bildzeitlich vor dem Ding, das ihn wirft. Aber er ist leicht nach links geneigt — wie auch schon Tasse und Kanne — und verweist damit auf die Flasche sowie die sie umgebenden Dinge. Große kugelige Gebilde fuhren zwischen Tasse und Kanne nach vorne, eine gelbe Zitrone und zwei Zwiebeln in Graurosa und Rosagrau. Sie leiten zum kräftigsten Buntfarbakzent des Bildes, dem strahlenden Zinnoberrot eines Apfels, der nahe der Bildmitte immer wieder den Blick auf sich zieht. Etwas näher dem Schwarz der Flasche gelagert, hält er doch auch deren schwarzen Schlagschatten in seinem Bann. Er bildet das rechte Glied einer sich schwebend haltenden rautenförmigen Gruppe, zusammen mit drei Früchten (vielleicht Zitronen?) in kühlem, starkem Gelb. Nicht anders denn als Zeichen des Lebens, eines starken, sich selbst tragenden Lebens, können diese Früchte aufgefaßt werden. Aus ihnen wächst die Flasche empor in unergründlich tiefem, starkem Schwarz. Sie bildet mit dem Milchtopf und seinem satten Grün und in sich ruhendem Braun eine Gruppe. Eine große graurosafarbene Zwiebel leitet zurück zur Früchtegruppe, und das leuchtende Rot des Apfels schlägt farbig die Brücke zum Braun und Grün des Topfes. Auch Flasche und Topf sind leicht nach links geneigt, dem von links einfallenden Licht entgegen, das auch, mit einem weißen Streifen, das Schwarz der Flasche aufbricht. In der Gruppe von Früchten, Flasche und Topf finden Bildaufbau und Bildrhythmnik ihren Abschluß, der offen bleibt der Zuwendung zum Licht. Unter diesem Aspekt kann die Isolierung der Schatten verstanden werden als Hinweis, daß Flasche und Topf ihre Schatten zurücklassen durch ihre Wendung zum Licht. Nicht nur ein „unruhiges Leben" bezeugt dieses Stilleben, sondern die Festigung und sich selbst haltende Stärke dieses Lebens in seiner Erfahrung des Lichts. Die Zeit um 1872 Π 3 repräsentiert das Stilleben „Grüne Apfel" (26 χ 42 cm. Paris, Musée d'Orsay. R. 213). Auf reich in Grautönen moduliertem, links vorne in helles Braun sich verwandelndem Grund liegen, von oben gesehen, zwei große und zwei kleine Apfel und Blätter, in kühlem, hellem Grün, zu einer rhythmisch gegliederten Kreisform zusammengefaßt. Von links oben fällt Licht ein, das in weißen Flecken die kugeligen Äpfel aufhellt und den Grund entfestigt und zu einem Färb- und Schattengeschehen macht. Weiß ist Lichtfarbe auch im Stilleben „Dahlien in einer großen Delfter Vase" (1873, 73 χ 54 cm. Paris, Musée d'Orsay. R. 223). Im Weiß der Blumen kulminiert die Komposition des ganzen Bildes. Dies Weiß steht aber (noch) nicht in unmittelbarem Bezug zu dem von links vorne einfallenden Licht. Die Delfter Vase aber wen-
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det ihr beidseitig gerahmtes Ornamentfeld, ihre (>Ansichtsseite", nach links, dem Licht entgegen, und so auch die gelbrote Blume links. Das kühle, verhaltene Grün einiger Zweige nähert sich dem Grau der Wand, dieses dem gleichhellen Braun des Bodens. Farbgrenzen sind hier nur zu ahnen, erscheinen wie verhüllt von einem zarten grauen Schleier, dem atmosphärischen Medium. Das Ockergelb in einzelnen Blumen und in Zweigen ist Kundgabe des Verblühens, dem das Weiß entschieden kontrastiert. Im verborgenen Streit zwischen Leben und Sterben obsiegt das Leben. 1877 entsteht das „Stilleben mit der Suppenschüssel" (65 χ 83 cm. Paris, Musée d'Orsay. R. 302. Abb. 20). Es wurde in Camille Pissarros Atelier gemalt. An der Wand hängen eine Landschaft Pissarros und ein Bild mit Gänsen, sicher ebenfalls von Pissarro gemalt, aber nicht mehr erhalten. Cézanne hat nun die impressionistische Darstellungsmethode aufgenommen. Sie zeigt sich in einer Aufhellung der Palette, und zwar einer Palette von 5w«rfarben. Schwarz und Weiß, bildbestimmende Werte beim Berliner „Stilleben mit Früchten und Geschirr", sind nun eingegliedert in eine Folge von Buntfarbstufen. Die Bildrhythmik aber ist sehr verwandt jener des früheren Stillebens. Sie entfaltet sich aus
A b b . 2 0 Stilleben mit Suppenschüssel, 1877. Musée d'Orsay, Paris. R. 3 0 2
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der Basis des Bildes, der braunroten Tischdecke, die mit dem Weiß, Gelb und Blau ihrer Muster die Hauptfarben der Komposition anklingen läßt. Kühles Gelb folgt in den Äpfeln, stellenweise moduliert nach Rot und Rotbraun, und im Fruchtkorb zu einem Elfenbeinton aufgehellt. Der Schlagschatten von Tisch und Korb steigt aus dunklem Graublau auf zu einem hellen, partienweise von Rosagrau durchsetzten Graublau-Ton, der zur hellsten Stufe, dem Ton der Wand, des Bildgrundes, vermittelt. Links vom Fruchtkorb jedoch überlagert ein Graublau-Bezirk das Braunrot der Tischdecke. Rot scheint sich hier in Graublau zu verwandeln, — in einer neuen Eigenbewegung der Farben, ohne Legitimation durch Schatten. Der beim „Stilleben mit Früchten und Geschirr" so prominente Schlagschatten der Flasche fehlt jetzt völlig. Die Schatten haben ihre emotionale Kraft verloren. Transformation aller Bildelemente in Farben bedeutet auch neue Kraft und Bejahung des Lebens, wie sie sich gleichfalls kundtut in der Aufnahme von Landschafts- und Tierbild als Schmuck der Wand. Die Farben der Früchte gehen über in den unteren Teil des Tierbildes, als Hinweis auf die Kontinuität des Lebendigen in der Natur. Das Gelb und Braunrot in Früchten, Korb und Tischdecke rahmt Blaugrau in Schatten und Decke, und damit erscheint eine verhaltene Variante der Trias der Grundfarben. Der Bildaufbau schließt mit dem Akkord von Schwarz und Weiß, dem sonoren, warmen Schwarz der Flasche, und dem bläulichgrauen Weiß der Suppenschüssel, das in seinen Ornamenten Gelb und Blau nochmals wiederkehren läßt. Die Komposition ist von einem neuen Gehalt als Bildornament bestimmt, das vor allem die Form des Früchtekorbes prägt und in der Wiederholung seines Schwunges in dem der Gänsehälse sich zeigt. Eine neue Gelöstheit — auch der Lebensbewältigung — wird darin sichtbar. Stilleben sind, anders als Landschaften, vom Künstler frei disponierbar. Auch in seinen Stilleben sucht und gestaltet Cézanne die „Mannigfaltigkeit des Naturbildes". Gleichwohl bleibt die Anzahl seiner Kompositions-Typen und die Anzahl der von ihm gemalten Stilleben-Gegenstände beschränkt. Und die Stilleben lassen sich auch nach dem dargestellten Hintergrund datieren. Cézanne kommt es hier nicht, genausowenig wie in seinen Landschaften, auf den größtmöglichen Wechsel der Motive an, sondern auf die unaufhörliche Variation vergleichsweise weniger Typen. Das „Stilleben mit Früchten, Milchkanne, Karaffe und Schale" (46,2 χ 55,3 cm. St. Petersburg, Eremitage. R. 427) entstand 1879-1880. Es wurde schon 1903 von dem Moskauer Sammler Sergej Iwanowitsch Schtschukin (1854—1936) gekauft, als erstes Cézanne-Gemâlde einer russischen Sammlung. Der Bildgrund ist hier in einem Akkord von graumoduliertem Braun — dem Ton des Tisches — und gründurchsetztem Graublau — der Tapetenfarbe — gehalten, einem Akkord, den Cézanne liebte und den er, wie erwähnt, schon in den Bildgründen von Rubens, einem seiner verehrten .Alten Meister", entdecken konnte. Aus dem Blaugrau der Tapete wird das Bläulichweiß der bemalten Schale rechts emporgestuft, eine noch höhere Stufe in der BlaugrauWeiß-Skala nimmt die aufgetürmte weiße, blauverschattete Serviette ein. In der Karaffe und der hohen, schlanken Milchkanne kehrt diese Farbreihe nach links hin zum
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A b b . 21 Stilleben mit Obstschale, Äpfeln, Brot, 1879/80. S a m m l u n g O s k a r Reinhart ,Am Römerholz', Winterthur. R. 4 2 0
Ton der Tapete und zur Dunkelheit zurück. Das dunkle Braun des Tisches aber öffnet sich zum Hellbraun des Brotes und zum Gelb der Zitronen. Sie fassen die Rottöne von zwei Äpfeln zwischen sich. Im dunkleren und im orangetonigen Rot der beiden Äpfel links kommt diese Farbenreihe zum Abschluß. Die „Melodie" der Farben ist zugleich Rhythmik der Farbformen, ist deren Bewegung hin zum Licht, das von links in das Bild einfällt. Nach links wölbt sich die Schale, die Serviette steigt, einem Bergmassiv vergleichbar, in diese Richtung auf, Karaffe und Kanne neigen sich leicht nach links, und auch die Blätter des Tapetenmusters wachsen auf nach links, dem einfallenden Licht entgegen. Das Muster der Blumentapete dieses Stillebens kehrt u.a. wieder beim gleichfalls 1879/80 entstandenen „Stilleben mit Obstschale, Äpfeln und Brot" der Sammlung Oskar Reinhart, Winterthur, „Am Römerholz" (55 χ 74,5 cm. R. 420. Abb. 21), einer ausgeprägt asymmetrischen Komposition, der ein starker Kontrast zwischen der Helligkeit im blau verschatteten Weiß von Obstschale und Tischtuch und der Dunkelheit im Braun des Tisches und im Blaugrau der Tapete entspricht. Von links fällt das Licht ein. Z u m Licht drängen Brot, Tischtuch, Früchte, Obstschale und Tapetenmuster. Die Kraft dieses Drängens zum Licht geht zusammen mit der wachsenden Stärke des Kontrasts zwischen farbiger Helligkeit und farbiger Dunkelheit. Die Früch-
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te sind in relativ dunklen Farben gehalten. Am dunkelsten wirkt das Rot der Äpfel, benachbart dem Braun des Tisches, am hellsten das Gelb des Apfels in der Obstschale ganz links, also dem einfallenden Licht am nächsten. Die Faltungen des Tuches bilden komplexe Winkelformen, die sich, über Quermotive hinweg, einordnen einem Zug nach links. Nur drei Aussagen Cézannes habe ich gefunden, die sich entfernt auf die Lichtzuwendung der Dinge seiner Stilleben beziehen lassen. Joachim Gasquet berichtet in seinem Cézanne-Buch 13 : „Der Maler Le Bael, der später in der Umgebung von Paris Cézannes Nachbar war und den Cézanne liebgewann, hat mir erzählt, mit welcher Sorgfalt er die Valeurs seiner Stilleben vorbereitete, wie er z.B. in seinen Pfirsichen einen Ton nach dem anderen vorsichtig anlegte, bis die Früchte sich im Licht mit den Tönen, die er suchte, darboten. [...]" Und aus den „Fumées dans la Champagne" von Edmond Jaloux zitierte Gasquet: „Eines Tages betrachtete [Cézanne] beim Frühstück bei uns die Aprikosen und die Pfirsiche, die in einer Schale lagen. Er sagte zu uns: ,Schauen Sie, wie das Licht die Aprikosen zärtlich liebt, es nimmt sie ganz auf, es dringt in ihre Haut, macht sie überall hell. Aber es ist geizig zu den Pfirsichen, von denen es nur eine Hälfte licht erscheinen läßt.'" 14 Im Kapitel „Das Atelier" seines Buches finden sich, in Gasquets eigener Ausdrucksweise, die Sätze: „Wenn man mit fulligen Strichen die Haut eines schönen Pfirsichs umschreibt, die Melancholie eines alten Apfels, so ahnt man in den Reflexen, die sie tauschen, den gleichen lauen Schatten des Verzichtes, die gleiche Liebe der Sonne, dieselbe Erinnerung an den Tau, eine Frische. ... " 1 5 Aber die Werke selbst sprechen eine klare Sprache, und für Cézanne war es dieselbe Natur, der er in Landschaften und Stilleben begegnete. Die Landschaftsmotive aber zeigten ihm, in wechselndem Grade, immer ihre Bewegung zum Licht. Motivisch ist das um 1885 gemalte „Stilleben mit Birnen" im Kölner Wallraf-Richartz-Museum — Fondation Corboud (38 χ 45 cm. R. 556. Abb. 22) ganz einfach: Birnen liegen in verschiedenen Gruppierungen auf einer flachen Schale und auf einer Holzplatte, dazu kommen ein weißes Tischtuch und ein streifig geteilter Grund. Aber diese wenigen Elemente bilden ein Ensemble höchster Dynamik und größten Reichtums an Variationen. Die Holzplatte ruht auf einem Gestell aus schrägen Stützen, — ein von Cézanne nicht wiederholtes Motiv der Basis für die Dinge. So wird schon hier alles Statische ausgeschieden. Mit einer Schrägform setzt die Bildkomposition ein, der ockerfarbenen Stütze rechts vor graubläulichem Grund. Auch hier also der Klang von Ocker und Graublau: Ockerbraun wird von der horizontalen Holzplatte aufgenommen und dann von einem nach links, also in der Gegenrichtung zur einleitenden Stütze, aufwärtsführenden und dabei heller werdenden Schrägstreifen des Hintergrundes. 13 Deutsch 1930, S. 57, Anrn. 1. 14 Ebenda, S. 73, Anm. 1. 15 Vgl. Gespräche mit Cézanne, S. 194. - Conversations, S. 157.
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A b b . 2 2 Stilleben mit Birnen, um 1885. Wallraf-Richartz-Museum - Fondation C o r b o u d , Köln. R. 5 5 6
In der Zone über ihm schwingen Modulationen von Graublau und Ocker und verleihen ihm den Charakter atmosphärischer Leichtigkeit. Auf der Holzplatte setzen die Farbformelemente ein mit einer Gruppe dreier Früchte nahe dem rechten Bildrand, wovon nur die oberste klar als Birne sich zu erkennen gibt, die beiden anderen mit einer Kreis-, einer Kugelform sich begnügen. Ihr Grün hat noch viel mit dem Ocker gemeinsam. Die Birnen auf der Schale steigern das Grün. Die zwei unteren wenden sich nach links, die oberste nach rechts. Mit einer roten Frucht schließt die Früchtegruppe, und auf sie folgt, als reich ausgebildetes Schlußmotiv, das weiße, bläulich und grünlich verschattete Tuch. Immer stellen in Cézannes Stilleben die Tücher die der freien ornamentalen Gestaltung offenen Elemente dar. Hier drängt es nach links, dem einfallenden Licht entgegen, staut sich in Kurven zum linken Bildrand hin und vereint in seinen Gliederungen die Schrägmotive von Holzgestell und Hintergrund mit den Kurvenmotiven der Birnen. Mit einem dünnen Streifen stemmt es sich gegen die einleitende Stütze, mit ihren Kurvenbäuschen variiert es, in Wiederholungen und Umkehrungen, die Rundformen der Birnen. Das Auge wird nicht müde, immer neue
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Entsprechungen zu entdecken. Entstanden ist ein souveränes Werk der Kunst, das, nach dem Vorangegangenen zu schließen, auch Souveränität und innere Freiheit der Lebensführung erahnen läßt. In anderen Stilleben kehrt Cézanne zu größerer Einfachheit zurück, so in dem um 1890 gemalten „Stilleben mit Pfirsichen, Birnen, Milchkanne und Zuckerdose" im Puschkin-Museum, Moskau (61 χ 90 cm. R. 664), das Iwan Morosov 1912 für seine Sammlung erwarb. Es wird farbig dominiert von dem gedämpften, graublau verschatteten Weiß in Tischtuch, Teller, Dose und floreal ornamentierter Kanne und der bläulichen und bräunlichen Helligkeit der Wand, kontrastiert gegen die Neutral- und Halbneutralfarben Grau und Braun, die an vielen Stellen des Tisches und des Fußbodens ineinander übergehen. Schwärzlichblaue Dunkelheit führt im Wandsockel von der rechten oberen Bildecke, vom Braun eines Stuhlbeins, zur linken oberen Tischecke, die sich hier ins Graue verändert. In das Weiß des Tischtuches sind das Grün, Orange, Rot und Gelb der Birnen und der Pfirsiche eingebettet, auch vielfach ineinander überführt und mit graublauen Schattensäumen an das Weiß angeschlossen. So verbinden sich alle Farben in durchgehender Kontinuität und prägen sich dennoch zu klaren Eigencharakteren aus. Der Kontinuität und ständigen Modulation der Farben entspricht der Verweisungszusammenhang der Formen. Eine Gesamtbewegung durchzieht auch dieses Bild, mit dem Tischtuch aufsteigend von rechts und über viele Wellen, die Falten und Früchte aus sich entlassen, strömend nach links und dort zu ihrem Abschluß kommend. Der Früchteteller wächst nach links, Dose und Kanne sind leicht nach links geneigt. Auch die Raumbewegung führt hierhin, in den Nahraum, mit dem sich senkenden schwarzblauen Wandsockel zum Standort des Malers und des Betrachters. Von links fällt auch das Licht der Sonne in das Bild. Scheinbare motivische Einfachheit kennzeichnet die berühmte „Blaue Vase" von 1889/90 im Pariser Musée d'Orsay (62 χ 51 cm. R. 675. Taf. 18). Das Bild erklingt in einer Harmonie von Blau, dem Zusammenklang des klaren, lichten Blaus der Vase mit dem gebrocheneren Blau der Wand. Darin eingelagert sind Rot-Blau-Akkorde — in der Geranie und zusammen mit dem Rot des Apfels neben der Vase — und Akkorde von Rot-Weiß-Blau, Weiß-Blau, Blau-Grün, Komplementärkontraste von Rot und Grün. Mit den Blaubezirken harmonieren die Ockergelbbereiche im Tisch und in der senkrecht aufsteigenden Seitenfläche der Zwischenwand (deren Raumsituation nicht eindeutig fixiert ist)16. Es bildet sich somit eine Anspielung auf die Trias der Grundfarben, Blau, Rot und Gelb, verbunden mit dem Komplementärkontrast Rot-Grün, den schon erwähnten Akkorden und dem vielfältigen Zusammenspiel na16 Im Katalog der Cézanne-Ausstellung, Paris, Grand Palais 1995 etc., S. 329 heißt es: „Le meuble sur lequel le vase est posé semble être une table plutôt qu'un bureau, car il est placé de bias par rapport au mur. L'espace paraît s'enfoncer derrière lui avant d'atteindre le mur, dans lequel une ouverture bordée de blanc révèle une autre cloison ornée de bandes rouges horizontales. - Les murs plâtrés, la lumière chaude et égale, l'assortiment de fleurs et tout particulièrement cette bouteille de rhum qu'on trouve dans d'autres toiles peintes dans le Midi signalent une pièce provençale, sans doute une des salles du rez-de-chaussée du jas de Bouffan. [...]"
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her Farbintervalle: Blau wird nach Blauviolett moduliert in den Iris-Blüten oben, nach Dunkelgraublau in den großen Blättern links. Aus dem Ockergelb der Tischplatte stuft sich das Gelb des Apfels und das der Dose. Einen Abschluß zum linken Bildrand vollzieht das Rotbraun der Rumflasche vor violett getöntem Grund. Cézannes „Blaue Vase" vereint in sich die relevanten Buntfarbkontraste der neuzeitlichen Malerei und stellt sie in eine neue Kontinuität der Bezüge. Rot zentriert, Weiß flattert schmetterlingsgleich dem von links einfallenden Licht entgegen, wie auch die Vase mit ihren Blumen, die Apfel, die Dose, die Zwischenwand nach links, dem Licht entgegen sich neigen. Blau ist die Vase, blau der Schattenraum, blau ist die Atmosphäre, in der die Dinge stehen. Zartbläuliche Säume umziehen den Vasenkörper. Ockergelblich sind Tischplatte und Seitenfläche der Zwischenwand, die Zonen, die das Licht auf sich versammeln. Dingfarben und Atmosphäre-Farben gleichen sich einander an. Es entsteht die „enveloppe", die „Umhüllung" von Dingen in der Farbe des Schattens, Blau, — am eindringlichsten sichtbar am Kontur der Vase. Aus diesen Reflex- und Schattensäumen kommen die Dinge dem Licht der Sonne entgegen. Die beiden Früchte unten rechts sind kaum modelliert, erscheinen wie Dinge „in statu nascendi" - und die eigenartige Raumsituation kann verstanden werden als Demonstration der Entstehung von Raum aus Farbschichten. Cézanne läßt Raum aus Farbe entstehen, mag auch die dargestellte Raumsituation dabei bisweilen schwer lesbar werden. Als ein Beispiel hierfür sei genannt das „Stilleben mit Früchten und Ingwertopf' der Stiftung Langmatt Sidney und Jenny Brown, Baden/Schweiz (33 χ 46 cm. 1890-93. R. 736). Den ersten Akzent bildet das vielfarbige Weiß des Tischtuches links vorne, dem von links einfallenden Licht am nächsten. Es zeigt rosagraue Töne im Licht, graublaue in den Schatten und rahmt eine Frucht in ruhigem Gelbocker und in klarer, vollkommener Kugelform. Hinter ihr steht der Ingwertopf, rosaviolett im Licht, blau im Schatten. Der Grund in ockerdurchsetztem Graublau ist für ihn geschaffen und endet mit ihm. (Motivisch erkennbar ist hier nur eine blaue Metallkanne.) Das Gelb der Frucht und das Violett des Ingwertopfes schließen sich zu einem Komplementärkontrast zusammen. Als Mittelteil der Komposition folgt rechts ein roter Apfel - die Mittelsenkrechte des Bildes akzentuierend - mit grünem, gelbumrandetem Blatt auf einem leicht verzogenen, nach links, zum Licht sich verbreitenden weißen blauverschatteten Teller. Den Schluß bildet eine Dreiergruppe von Früchten, ein wie in die Ferne entrückter rotbräunlich-gelblichgrüner Apfel und schließlich, voreinander gelegt, ein leuchtend zinnoberroter Apfel, der zum Grün der Birne hin gelblicher wird, verbunden mithin zu einem weiteren Komplementärkontrast. Den Grund der Früchte aber bildet eine Raumecke in Braun — motivisch schwer zu orten - , dann kommen Schrägen (wohl angelehnte Leinwände) in Braun und weißlich aufgehelltem Blaugrau. Hier kehrt die Bildbewegung um, führt wieder nach innen, die Schrägen zeigen sich verwandt den Schrägen des einleitenden weißen Tuches, das Braun des Raumstücks wächst aus dem Braun des Tisches und dieses läßt das Gelb der einleitenden Frucht aus sich entstehen. Ein Werk vollkommener farbi-
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ger Ordnung, — einer lebendigen, in Bewegung und Gegenbewegung sich entfaltenden Ordnung! Beim Stilleben „Steingutkrug (Pichet de Grès)" der Fondation Beyeler, Riehen/Basel (38 χ 46 cm. 1893/94. R. 743) ist extreme Ausschnitthaftigkeit (der Krug wird vom oberen Bildrand abgeschnitten) gleichfalls gerechtfertigt aus der Konsequenz der Farbgestaltung. Der Grund differenziert sich — in annähernd gleichen Quantitäten — nach Ocker (in der Tischplatte) und Graublau (in der Bodenzone). Hinzu kommt das gebrochene Blau des Vorhangs und das helle Blau im Fruchtteller. Der Krug erscheint in seinem Violettgrau als Verbindung von Graublau und Ocker. Aus dem Ocker wird das Gelb der Äpfel gestuft, von Gelb fuhrt der Weg zum Rot des rechten Apfels. Rot fordert Grün. Es bildet sich ein Chiasmus von Rot und Grün in den Früchten. Grün wiederum leitet über zu Graublau. Bildaufbau ist hier Aufbau aus dem Bildgrund, geht vom Umfassenden zum Einzelnen. Der Grund ist zugleich der „Boden" der Dinge, und damit Teil eines umfassenderen Grundes, des Schwerebezugs aller Dinge, der selbst wiederum dem Lichtbezug antwortet: Auch hier drängen alle Dinge dem von links einfallenden Licht entgegen. Als ein Gegenbeispiel in Lichtrichtung und Lichtzuwendung sei das Aquarell des „Stillebens mit angeschnittener Wassermelone" (31,5 χ 47,6 cm. RW 564. Taf. 21) genannt, das um 1900 entstanden sein wird und sich in der Fondation Beyeler in Riehen/Basel befindet. Hier stufen sich die Bilddinge von links nach rechts zum Licht, das von rechts einfällt, herab. In klaren, durch Vertikalbahnen gegliederten Stufen führt die Bildrhythmik nach rechts unten, zur dort angedeuteten Tischkante. Es wechseln Kugel- und Zylinderformen, in Gefäß, Brenner, Melone und Melonenscheibe, mit horizontal-vertikal begrenzten, kristallin anmutenden Farbzonen, wohl Gläsern, Flaschen und Streifen des Hintergrundes, in Ocker, Grün, Graublau verschiedener Helligkeits- und Farbtonstufen und mit karminroten Akzenten. Nahe der Mittelsenkrechten weist ein Löffel in die Tiefe, d.h. fast senkrecht nach oben, ein graublaues Messer daneben richtet sich nach rechts hinten. Die Bilddinge werden schwer lesbar. Sie scheinen einander stellenweise zu durchdringen, scheinen sich ineinander zu spiegeln. Alle Farben und Formen öffnen sich in das Weiß des Papiergrundes. Das Weiß stellt Beleuchtungslicht dar, sichtbar vor allem an der Melone, und ist zugleich weit mehr als das, nämlich der Lichtraum aller Dinge. Noch einmal sei hier Cézannes Bemerkung in einem Brief an Victor Chocquet vom 11. Mai 1886 zitiert: „Der Himmel und die grenzenlosen Dinge der Natur ziehen mich immer an und bieten mir die Gelegenheit, mit Freude zu sehen." „Toujours le ciel, les choses sans borne de la nature m'attirent, et me procurent l'occasion de regarder avec plaisir."17 Diese Aussage darf wohl auch auf das Licht und den Lichtraum bezogen werden. Wie verhalten sich Licht und Blick zueinander?
17 Cézanne: Briefe, S. 212. - Correspondance, S. 226.
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Friederike Kitschen schreibt in ihrer aspektereichen Dissertation „Cézanne. Stilleben"18 über das 1888/90 gemalte „Stilleben mit Ingwertopf und Korb" (65 χ 80 cm. Paris, Musée d'Orsay. R. 636): „Der Raum hinter dem Tisch ist nach oben klappend in Aufsicht dargestellt [gemeint ist der Boden], die weder der Ansichtigkeit des linken Möbels noch der halben Aufsicht des vorderen Tisches entspricht. Auch in diesem Bild ist die Tischfläche unter dem Tuch gebrochen, ihre linke Kante nach außen gezogen. Auffällig sind die unterschiedlichen Ansichten, in denen die Stillebengegenstände wiedergegeben sind. Die gemusterte Zuckerdose und einige Früchte sind von vorne, der Ingwertopf deutlich von oben gesehen. Auf den Korb blickt man gleichzeitig von vorne und von oben, auf das Milchkännchen von schräg links. Selbst die Kanten der Möbel und Leinwände auf der linken Bildseite scheinen unterschiedlichen Fluchtpunkten zuzustreben." Im folgenden erörtert sie die in der Forschung öfters bemerkte Mehransichtigkeit der Dinge in Cézannes Stilleben als „Prozeß eines sich selbst bewußten Sehens". Stilleben dienten im Werk Cézannes, ihr zufolge, „der reflektierten Äußerung künstlerischen Selbst-Bewußtseins". Aber damit ist die Besonderheit der Phänomene im Werk Cézannes nicht zureichend erfaßt. Vielmehr ist die Mehransichtigkeit der Dinge in manchen seiner Stilleben ausdrücklich mit der Relation von Blick und Licht, Auge und Licht, in Verbindung zu bringen Eine Stelle im ,Atelier"-Kapitel Gasquets kann einen Hinweis dazu geben. Gasquet beschreibt hier, wie Cézanne am Porträt seines, Gasquets, Vaters arbeitet und läßt den Maler sprechen: „Sein Auge ist nicht mehr das gleiche ... Ein unmeßbares Teilchen, ein Atom von Licht hat sich verändert, von innen heraus, und ist dem immer gleichbleibenden oder beinahe immer gleichbleibenden Lichtstrom begegnet, der von den Fenstern hereinfällt."19 18 Ostfildern- Ruit bei Stuttgart 1995, Zitate auf S. 115/116 und S. 170. Zu den beiden „Stilleben mit Früchten und Ingwertopf' in Baden/Schweiz (R. 736, im obigen Text beschrieben) und Washington (R. 735) bemerkt sie: „In diesen Bildern ist die zentrale Motivgruppe, der Ingwertopf mit Obstteller, Birnen und Tuch, bis in die Falten des Tuches hinein identisch." (S. 127) Dagegen ist festzuhalten, daß sich die beiden Stilleben charakteristisch unterscheiden: In der Badener Fassung kommt das Licht von links, in der Washingtoner von rechts, und dementsprechend ändern sich Komposition und Rhythmus. - Kürzer handelt Friederike Kitschen über Cézannes Stilleben in ihrem Aufsatz „Malen, Sehen, Denken, Fühlen - Cézannes Stilleben", in: Brigitte Buberl (Hrsg.): Cézanne - Manet - Schuch. Drei Wege zur autonomen Kunst. München 2000, S. 9 9 - 1 1 0 . Katharina Schmidt formuliert in ihrem Beitrag „Cézannes letztes Stilleben" eine eindringliche, genau dem Bildaufbau folgende Beschreibung dieses Werkes. (In: Katharina Schmidt [Hrsg.] : Cézanne - Picasso Braque. Der Beginn des kubistischen Stillebens. Ostfildern-Ruit 1998. S. 15-33) Gottfried Boehm betont in seinem Aufsatz „Die Sprache der Dinge. Cézannes Stilleben" (ebenda, S. 35-53) die Notwendigkeit des „ruhigen, die Simultaneität achtenden" (S. 46), des „simultanen, das heißt, bewegungsarmen Blicks" (S. 53). - Nach meinen eigenen Erfahrungen bedarf es bei der Betrachtung von Werken Cézannes, auch seiner Stilleben, des sukzessiven, und das heißt stets auch: des lebendigen Blicks, eines Blicks, der alle Sukzessivität immer erneut zur Simultaneität synthetisiert und Simultanes immer erneut rhythmisch differenziert. 19 Gespräche mit Cézanne, S. 189. - Conversations, S. 153: „Son œil n'est pas le même ... Une infinitésimale proportion, un atome de lumière a changé, du dedans, et s'est rencontrée avec la nappe toujours la même, qui tombe du vitrage. [...]"
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Diese Bemerkung läßt vermuten, daß Cézanne der Auffassung Goethes nahestand, die dieser in der Einleitung seiner „Farbenlehre" von 1810 so formulierte: „Das Auge hat sein Dasein dem Licht zu danken. Aus gleichgültigen tierischen Hilfsorganen ruft sich das Licht ein Organ hervor, das seinesgleichen werde; und so bildet sich das Auge am Lichte fürs Licht, damit das innere Licht dem äußeren entgegentrete. Hierbei erinnern wir uns der alten ionischen Schule, welche mit so großer Bedeutsamkeit immer wiederholte: nur von gleichem werde gleiches erkannt, wie auch der Worte eines alten Mystikers [Plotin], die wir in deutschen Reimen folgendermaßen ausdrücken möchten: W ä r ' nicht das A u g e sonnenhaft, W i e könnten wir das Licht erblicken? Lebt' nicht in uns des G o t t e s eigne Kraft, W i e könnt' uns Göttliches entzücken?" 2 0
Cézanne wiederholt sich niemals. Auch der Bezug zwischen Bilddingen und Licht wird immer neu erkundet und gestaltet. Beim „Stilleben mit Blumen und Früchten" der Alten Nationalgalerie Berlin, entstanden wahrscheinlich 1890 und wohl schon 1907 von Eduard Arnold und Robert von Mendelssohn der Nationalgalerie gestiftet (65,5 χ 82 cm. R. 676. Taf. 19) steigt ein mächtiges weißes Tischtuch von links her auf, einsetzend mit einer Zangenform vor Dunkelheit am unteren Bildrand links. Dann senkt sich das Tuch nach rechts, bildet einen weißen Grund für den Topf der Blumen. Der rückwärtige Teil des Tuches führt, in kraftvoller Aufgipfelung, nach links zurück. Der Hintergrund ist geteilt in einen hellen, bläulichweißen Streifen rechts und eine breitere, dunkle, schwarzgrüne Zone links. Die Blumen stehen vor dieser dunklen Zone und wenden sich nach links, dem von dort einfallenden, aber durch Schattensäume kaum sich bemerkbar machenden Licht entgegen. Der Streifen rechts scheint wie von Lichtwellen überflutet. Die helle, bläulichbraune Stuhllehne löst sich in diese Lichtbewegung, die als ein Bereich der Potentialität wirkt, aus der die Blätter des Straußes erst entstehen. Nach links hin steigen und senken sich, in gesonderten Bahnen, die kleinen hellgrünen und die großen dunkelgrünen Blätter, die weißen und die zartlilatonigen Blüten, während die beiden roten Blumen (wohl Mohnblumen) sich eher vom Licht abwenden. In genauen Entsprechungen sind die Früchte gelagert: zwei liegende grüne Birnen wenden sich, links und rechts, einander zu, zwei stehende gelbe Birnen antworten einander — links und rechts —, in einer hellvioletten Pflaume schließt links die Komposition der Früchte und in ihr auch die Bewegung der Blätter und der Blüten. Die Faltenrhythmik des weißen Tischtuches fuhrt, wie erwähnt, im unteren Teil nach rechts, im obe-
20 Vgl. dazu: Arthur Zajonc: Die gemeinsame Geschichte von Licht und Bewußtsein. Deutsch von Hainer Kober. Reinbek bei Hamburg 1994, S. 394 - 3 9 9 .
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ren nach links, so auf ihre Weise das Prinzip des Ausgleichs, des Gleichgewichts veranschaulichend, das sich auch in der Teilung des Grundes in farbige Helligkeit und farbige Dunkelheit bekundet. Eine Reihe später Landschaften sind im Kontrast von tiefen Farben zu farbig leuchtenden Partien gehalten, in einer farbigen Erneuerung des neuzeitlichen Helldunkels. Innerhalb der Stilleben kann das Berliner Bild den Ausgleich der kosmischen Potenzen von Licht und Dunkel veranschaulichen. Das um 1900 gemalte „Stilleben mit Fayencekrug und Früchten" der Sammlung Oskar Reinhart (,Am Römerholz', Winterthur, 73x 100 cm. R. 848. Taf. 20), ein großes, prachtvoll-freies Bild, ist im Klang von Graublau und Braun gehalten. Graublau, von Ockerbraun durchdrungen, ist der Wandgrund rechts. Ihm nähert sich das vielfarbige Weiß im Tuch, Fayencekrug und Teller. Nicht mehr ist also Weiß in Kontrast gesetzt zu den anderen Bildfarben, vielmehr herrscht nun Gesamtfarbigkeit, aufruhend auf dem Akkord von Graublau und vielfältig in sich differenziertem Braun, das sich steigert in den orangeroten Früchten, die zugleich mit dem Graublau in einen verhaltene Komplementärkontrast treten. Die Bildmitte akzentuiert der Fayencekrug, das Auge wird jedoch zuerst angezogen vom aufstrahlenden Gelb der Apfel rechts, die dem von links einfallenden Licht entgegenblicken. Leicht nach links neigen sich die Vertikalen im graublauen Grund und der Krug, das Tuch steigt an seiner rechten Kontur mit spitzen Winkeln nach oben und senkt sich dann leicht nach links. Die drei Hauptstücke des Tuches sind zu rhythmisch verwandten Formen unterschiedlicher Bewegungsintensität ausgebildet, der unterste Teil des Vorhangs entspricht dem rechten Teil des Tuches. Form- und Farbspiegelungen finden sich allenthalben. Das Glas rechts neben dem Krug verschwindet fast in der Farbe des graublauen Grundes, spiegelt sich aber im großen Blumenmotiv des Kruges, Früchte spiegeln sich in Vorhangmotiven, diese wiederum in Ornamenten des Kruges. Symmetrie und Asymmetrie durchdringen einander. Neun Früchte sind im Teller links zu einer Gruppe versammelt, neun rechts auf dem Tisch räumlich verteilt. Vorhang und Tuch stellen Variationen rhythmischer Farbformbewegungen dar. Nur Cézanne zeigt in seinen Stilleben die Bewegung der Bilddinge zum Licht - oder, wie hier, das Gleichgewicht von Licht und Farbdunkel. Viele Maler aber haben vor ihm das verschiedene Verhalten der Dinge zum Licht beobachtet und dargestellt, meist aber als passives Empfangen. Dazu nur einige wenige Bemerkungen: In Ansätzen findet sich auch eine aktive Antwort eines Bilddinges auf das Licht, so etwa in einem „Stilleben mit Birnen in einem Fruchtkorb", gemalt von Camille Pissarro 1872 (aufbewahrt in einer New Yorker Privatsammlung), wo sich der runde Korb dem von rechts einfallenden Licht öffnet, oder in einem 1871/72 entstandenen „Stilleben mit Äpfeln" von Gustave Courbet (Den Haag, Museum Mesdag), wo auf der Erde liegende Apfel dem von links einfallenden Licht entgegen zu drängen scheinen. Courbets in der Hamburger Kunsthalle aufbewahrtes „Blumenstilleben" von 1855 zeigt einen großen Strauß, von dem einige gelbe und weiße Blüten zum bläu-
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lich-weißen Himmel und seinem Licht sich öffnen. Boden und linke Wandzone sind in einem warmen, mittelhellen Grau gehalten. Aber der Strauß wird nicht als ganzer von einer Bewegung hin zum Licht erfaßt. Auch in Manets Stilleben wenden sich Blumen zum Licht, so in seinen um 1882 gemalten „Nelken und Klematis in einer Kristallvase" (Paris, Musée d'Orsay), jedoch in einer die unmittelbare Wahrnehmung nicht überschreitenden Darstellung. In Manets „Stilleben mit Fischen und Austern" von 1864 (Chicago, Art Institute) bleibt es bei einer reinen Darbietung der Stilleben-Dinge in einem Beleuchtungslicht, wie sie der Künstler schon in Stilleben des 17.Jahrhunderts finden konnte. Dagegen erfaßt Cézanne den Bezug von Licht und Ding in einer anderen Tiefe und in prinzipieller Weise, in einer Art, vergleichbar einer naturphilosophischen Thematisierung des Bezugs von Licht und Materie. In seinen späten Stilleben greift Cézanne das Motiv des Totenkopfes wieder auf. Die Schädel wenden sich dem Lichte zu. Damit gewinnt das Licht eine metaphysische, eine religiöse Bedeutung. Es kann nicht anders verstanden werden denn als anschaulicher Hinweis auf eine letzte Uberwindung des Todes. Zwischen 1900 und 1904 entsteht das aquarellhaft zarte „Stilleben mit Totenkopf und Leuchter" der Staatsgalerie Stuttgart (61 χ 50 cm. R. 823). Es lebt aus dem Kontrast von kühlem Blaugrau und gelblichen Ockertönen. Es ist „unvollendet" — in dem Sinne, daß die Leinwand nicht überall mit Farbe bedeckt wurde. Aber die farbige Zone innerhalb des grautonigen Leinwandgrundes bildet eine rhythmisch vollständige Form, und es könnte wohl sein, daß die Korrespondenz von Lichtzuwendung des Totenkopfes und Lichthafitigkeit des Grundes hier selbst als künstlerische Aussage zu gelten hat. Im Gegensatz zu diesem Bild handelt es sich beim „Stilleben mit drei Totenköpfen auf einem Perserteppich" von 1904, aufbewahrt im Kunstmuseum Solothurn (54,5 χ 65 cm. R. 824) um ein Werk, das, so John Rewald, wohl wie kein anderes — mit Ausnahme des berühmten Bildes „Das Haus des Gehenkten" — von geduldiger und hartnäckiger Arbeit zeugt. („There is probably no other work by Cézanne, except for the famous ,La Maison du pendu' painted thirty years earlier, that bears witness to such patient and obstinate labor. A prodigious crust of paint surrounds the three skulls, the result of innumerable working sessions in which the artist applies constantly more pigment to the areas where they detach themselves from the background or from the rug on which they have assembled."21) Auch das wird kein Zufall sein. Aus den Dunkelheiten des Grundes und des Teppichs leuchten die drei Schädel auf, ein weißlicher großer, vom Licht halb abgewandter und vor ihm zwei kleinere, im Ton von altem Gold, die mit leidenschaftlichem Ausdruck sich dem Licht entgegenwenden, vor sich die dunkelroten Blumen des Tep-
21 T h e Paintings of Paul Cézanne, Vol. 1, S. 493/494.
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pichs. Keine „sinister trinity", wie Rewald meinte, ist so entstanden, sondern ein Bild der Hoffnung und des Vertrauens auf die eigene Erlösung — und nur dies kann Cézannes langdauernde Arbeit daran verständlich machen.
ZEICHNUNGEN UND AQUARELLE
Zeichnungen Die Grundlage jeder Befassung mit Cézannes Zeichnungen bildet der zweibändige „Catalogue Raisonné" „The Drawings of Paul Cézanne" von Adrien Chappuis, Greenwich, Connecticut 1973. Er verzeichnet 1223 Zeichnungen. Zur künstlerischen Beurteilung von Cézannes Zeichnungen aber ist es nötig, nochmals zum Buch von Gertrude Berthold „Cézanne und die alten Meister. Die Bedeutung der Zeichnungen Cézannes nach Werken alter Meister" zurückzukehren. In der „Einleitung" ihres Buches gelangt die Autorin zu einer wichtigen Differenzierung: „Cézanne unterschied [...] ganz deutlich zwischen ,ligne' und ,dessin', Ligne existiert für ihn nicht, sehr wohl aber dessin, und er sagt, was Zeichnung sei: Beziehungen zweier Töne, des Weiß und des Schwarz. Wo diese Beziehung im Zeichnen beachtet wird, kommt ,die Linie', nämlich die fortlaufende, zusammenhängende Konturlinie nicht zustande. Die Beziehung besteht dann nämlich sozusagen ,quer' zur Erstreckung der Konturlinien, zwischen schwarzem Strich und weißem Papier daneben. Und deswegen zeichnet Cézanne in kurzen, immer wieder unterbrochenen, oft auch verdoppelten und verdreifachten Linien."1 Mit solchem Zeichnen „quer" zur Erstreckung der Konturlinien aber folgt Cézanne einer Methode Delacroix', ohne daß die Autorin diesen Zusammenhang benennt. Allerdings verändert Cézanne diese Methode tiefgreifend. Zu Delacroix' Methode des Zeichnens sei die grundlegende Untersuchung von Kurt Badt „Eugène Delacroix, Zeichnungen. Eine Einführung auf Grund der Tagebücher des Künstlers"2 herangezogen. Hier heißt es: „Delacroix glaubte nicht an die Macht einer einzelnen Linie oder an einen besonderen Linientyp, um Schönheit hervorzubringen. Er ging sogar noch weiter und leugnete, daß die einzelne (isolierte) Linie etwas in der Kunst vermöchte. ,Eine einzelne Linie', schrieb er gegen Ende seines Lebens,,bedeutet nichts; eine zweite ist nötig, um ihr Ausdruck zu verleihen. Wichtiges Gesetz.' Diese letzten beiden Worte sind überraschend; man erwartet sie nicht im Zusammenhang mit solch einfacher Feststellung; nicht ein zweites Mal finden sie sich in den Tagebüchern. So wird es gut sein, auf sie einzugehen. In der Tat hatte Delacroix ein wichtiges Gesetz entdeckt, dessen Bedeutung auch heute noch nicht voll erkannt ist." Badt erläutert Delacroix' „wichtiges Gesetz" fol1 2
Berthold: Cézanne und die alten Meister, S. 10. Aufgenommen in das Buch Kurt Badts: Eugène Delacroix. Werke und Ideale. Drei Abhandlungen, Köln 1965, S. 9—45 (danach wird zitiert), aber schon 1951 in Baden-Baden als eigene Schrift erschienen, und zuvor im englischen Exil, unter dem Titel „Delacroix' Drawings" 1946 in Oxford.
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gendermaßen: „In der Kunst finden wir zwei Arten von Linien verwandt: man kann eine Linie derart ziehen, daß das Auge veranlaßt wird, ihrem Zuge zu folgen, dem Rhythmus ihrer Biegungen und der Eleganz und der Schönheit ihrer Bewegung. Solche Linie hat den Charakter und den Reiz eines Musters, darüber hinaus aber ,keine Bedeutung'. (Es wird sogleich deutlich werden, worauf sich dies negative Urteil bezieht.) Dann aber kann man Linien zeichnen — nicht eine einzelne; zwei zum mindesten scheinen für diesen Zweck erforderlich —, die aufeinander bezogen sind, und zwar derart, daß das Auge gezwungen wird, sie als Grenzen einer körperlichen, einer plastischen Form zu deuten, die dazwischen liegt. Diese aufeinander bezogenen Linien sind so geführt, daß das Auge daran gehindert wird, ihnen in der Längsrichtung zu folgen. Vielmehr muß es sie in einer Richtung auffassen, die von derjenigen der Linien selbst unabhängig ist. Das Auge muß von dem flächigen Stück Papier, auf dem die Linien liegen und an das sie gebunden sind, in einem neuen Akt des Verstehens sich loslösen und in die für die Anschauung körpererfüllte Vorstellungswelt des Raumes fortschreiten, die sich zugleich als Ort bestimmt. In diesem Falle haben die Linien eine ,Bedeutung', die über den Reiz ihrer eigenen Führung und ihre beschreibende Kraft hinausgehen; sie ,bedeuten' räumliche Ausdehnung und sind zugleich ausdrucksvoll, indem sie durch ihre Formen die innere Spannung, die lebendige Kraft des Körpers anzeigen, den sie sichtbar machen. Delacroix' wichtiges Gesetz aber faßt doch nur die Hälfte des Problems. Er läßt die Tatsache außer Betracht, daß auch ornamentale Einzellinien eine Kraft des Ausdrucks besitzen. Ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, war er außerstande, weil solche Linien nicht geeignet sind, das lebendig-tätige Leben auszudrücken. Im Gegenteil, sie sind dem entgegengerichtet und neigen dazu, die Kraft und die Fülle lebendiger Formen einzuschränken, zu bändigen. Ornamentale Linien hatten fur Delacroix ,keine Bedeutung', weil sie genau das vollbringen, was seine Kunst niemals erstrebte: sie verringern, beruhigen und zügeln."3 „So muß Delacroix' ,wichtiges Gesetz' auf folgende Weise neu ausgelegt werden: In der Zeichenkunst, die man eine Zauberei genannt hat, werden zwei Arten Zauberstäbe benutzt, die beide über das Leben der Dinge Macht haben. Mittels des ersten, der ornamentalen Linie beherrscht ein Künstler das Leben, indem er es sänftigt, reinigt und in eine fest bestimmte Ordnung bringt, wie das zum Beispiel in ägyptischer und gotischer Kunst, bei Botticelli, Pisanello und Raffael geschieht. Mittels des zweiten Zauberstabes, der plastischen Linie, herrscht ein Künstler über das Leben, indem er dessen Kraft und Reichtum heraustreibt, wie das Correggio, Rubens, Rembrandt, Velázquez und Delacroix taten. Dies sind die zwei Wege, die der Kunst der Linien offenstehen. Einen dritten gibt es nicht, es sei denn, einem gelänge die Synthese aus jenen beiden. Solche Synthese, die Stille und Reinheit des Lebens mit Kraft und Fülle vereinigt, ist selten vorgekommen.
3
Badt, I.e. S. 3 3 / 3 4 .
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Linien, wie sie Delacroix für bedeutungsvoll hielt und daher ständig verwandte, bestehen aus abgebrochenen, heftigen, fast roh aussehenden Strichen, unregelmäßig und [...] für sich genommen ohne Schönheit. Sie sind imstande, Erscheinungen hervorzurufen und plastisch zu formen, können jedoch in keinem Bezug mit jenem lang fortlaufenden, ungebrochenen und beherrschten Fluß verglichen werden, der der Stolz der Akademie war, und den man als ,reine' Linie zu bezeichnen pflegte. So ist es nicht [erstaunlich], daß Delacroix schrieb:,Schönheit besteht nicht aus reinen Linien', und daß er behauptete, ,die große Zeichnung ist nicht die der Akademiker.'"4 Etwas später kommt Badt auf dieses „wichtige Gesetz" noch unter einem anderen Aspekt zu sprechen, und zwar im Hinblick auf ein Buch von Jean Gigoux, betitelt ,Causeries sur les artistes de mon temps' (Paris 1885). „Jean Gigoux war ein Maler, der mit vielen Künstlern seiner Zeit bekannt war. Er berichtet folgende Geschichte: , Eines Morgens zeigte ich Delacroix einen Marmorkopf, den ich wenige Tage zuvor aus Italien mitgebracht hatte. >Ich habe ihn sehr gerneaber ich weiß nicht, ob er antik ist.< Er betrachtete ihn genau und sagte: >Nein, lieber Freund, das ist eine Arbeit der Renaissance. Sehen Sie, die Künstler des Altertums verstanden die Dinge von den Mitten her, die Renaissance aber faßte sie mittels der Linie. >Les antiques prenaient par les milieux, au lieu que la Renaissance prenait par la ligne. Passen Sie einmal auf.< Dann nahm er eine Feder, zeichnete eine Reihe von großen, mittleren und kleinen Ovalen auf ein Papier und begann, diese Ovale — oder, wenn Sie wollen, Eier — mit flüchtigen, aber klug gezogenen Strichen zu verbinden. Endlich, als er das letzte Stück gezogen hatte, zeigte er mir, — wie ein Zauberer — ein prachtvolles Pferd, das sich bäumte und mit seinen Füßen den Boden scharrte, voll von Leben und Bewegung. Er zeichnete dann noch fünf oder sechs andere in verschiedenen Stellungen und, weil mich das faszinierte und es ihm selber Vergnügen machte, später noch in derselben Art einen Mann von vorne und von hinten, sitzend und stehend usw. Delacroix fuhr fort, mit großer Begeisterung über die ,Eier' zu reden. Als ich ihn fragte, >Sagen Sie mir, wie haben Sie das herausbekommen?< antwortete er, >Mr. Gros (der Baron Gros) hatte es von den Griechen, und Géricault von Mr. Gros; da er aber damit nicht zufrieden war, fand er es selbst bei den Griechen und Etruskern heraus.