Die Farbe Rot: Ursprünge und Geschichte des Kommunismus 9783406714269

"Du schließt die Augen und schaust in die Sonne, und durch deine Lider hindurch siehst du die Farbe deines Blutes –

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German Pages 1133 [1149] Year 2017

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Table of contents :
Inhalt
Prolog: Die Farbe Rot
Erstes Buch: Kommunismus als Weltgeschichte
Teil I: Ex Occidente – Von den Ursprüngen
1. Die Spur der roten Fahne
2. Kommunismus als Weltgeschichte
Teil II: Die alte Welt des Kommunismus
1. Revolutionen der alten Welt
2. Die Großen Erzählungen
3. Von Platons Staat zum Reich Christi
Teil III: Die Entdeckung der Zukunft
1. Millenarismus und Moderne
2. Die eine Welt und ihre Schrecken
3. The Pursuit of Happiness
Teil IV: Das Zeitalter der Revolution
1. Die Furien des Verschwindens
2. Der Traum der Großen Kommunion
3. Phantome der Freiheit
4. Eine Neue Welt
Zweites Buch: Das Marx’sche Momentum
Teil V: Die Geburt der modernen Welt
1. Die Wahrheit des Diesseits
2. Der große Bruch
3. Das Gespenst des Proletariats
Teil VI: Sozialistische Gründerzeit
1. Ein neuer Horizont
2. Die Partei Marx
3. Vom Anstoß zur Bewegung
4. Fülle des Lebens
Teil VII: Age of Empire
1. Freier Handel, schwarze Haut
2. Staaten, Kriege, Revolutionen
3. Der europäische Sozialismus
4. Das Marx’sche Momentum
Drittes Buch: Warum Russland?
Teil VIII: In Oriente – Der Osten wird rot
1. Das entgrenzte Imperium
2. Die Dämonen der Intelligenzija
3. Marx in Russland
4. Das Korn und die Gerste
Teil IX: Vom Weltkrieg zur Weltrevolution
1. Wetterleuchten – Das Jahr 1905
2. Sturmvögel
3. Menschheitsdämmerung – August 1914
4. Auferstehung – März 1917
Teil X: Marsch ins niemandsland
1. Elementarkräfte – Juli 1917
2. «Es schwindelt» – November 1917
3. Russland in Blut gewaschen
4. Phönix und Asche
5. Das neue alte Reich
Viertes Buch: Der Kommunismus in seinem Zeitalter
Teil XI: Der rote planet
1. Phantome einer Weltrevolution
2. Das kommunistische Momentum
3. Im Gehäuse des Wahns
4. A Tale of Two Empires
Teil XII: Die postkommunistische Situation
1. Wege der Auflösung
2. Das Gespenst des Kapitals
Epilog: Das weiße Rauschen
Nachwort
Anmerkungen
Bildnachweis
Personenregister
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Die Farbe Rot: Ursprünge und Geschichte des Kommunismus
 9783406714269

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GERD KOENEN

Die Farbe Rot Ursprünge und Geschichte des Kommunismus

C.H.Beck

Mit 42 Abbildungen

1. Auflage. 2017 © Verlag C.H.Beck oHG, München 2017 Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg Umschlagabbildung: © Jessica Hyde/Getty Images ISBN Buch 978 3 406 71426 9 ISBN eBook 978 3 406 71427 6 Die gedruckte Ausgabe dieses Titels erhalten Sie im Buchhandel sowie versandkostenfrei auf unserer Website www.chbeck.de. Dort finden Sie auch unser gesamtes Programm und viele weitere Informationen.

Inhalt

Prolog Die Farbe Rot

Erstes Buch Kommunismus als Weltgeschichte

TEIL I: EX OCCIDENTE – von den ursprüngen 1. Die Spur der roten Fahne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 Rouge et Bleu  18 – Russisch Rot  21 – Chinas rote Sonnen  24 – Rotes Leuchten, schwarze Schatten  26

2. Kommunismus als Weltgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 Am Anfang war – das Wort?  34 – Weltgeschichte und Universal­ geschichte  43 – »Die Menschheit kehrt heim«  48

Teil II: Die alte Welt des Kommunismus 1. Revolutionen der alten Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 Wann ist der Mensch ein Mensch? 56  – Urgemeinschaft und Stamm  58 – Staaten, Kriege, Religionen  64

2. Die Großen Erzählungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 Das verstörende Erbe der Alten  70  – Die absteigenden Weltzeit­ alter  77 – Verloren ist das große Dau  81

3. Von Platons Staat zum Reich Christi . . . . . . . . . . . . . . . 84 Athen und Atlantis – und Sparta  84 – Christliche Armutspredigt und Reichtumsproduktion  91

Teil III: Die Entdeckung der Zukunft 1. Millenarismus und Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 «Vorläufer des neueren Sozialismus»?  102 – Religiöser Kommunis­ mus und Kapitalismus 109

2. Die eine Welt und ihre Schrecken . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 Der Raum der Zukunft 116  – Revolutio, Renovatio, Restaura­ tio  118 – Die enge Welt Utopias  121

3. The Pursuit of Happiness . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Interest will not lie  131 – Vom Reichtum der Nationen  135 – Das Ich unter der Tatarenmütze  141

Teil IV: Das Zeitalter der Revolution 1. Die Furien des Verschwindens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 Geschichtliche Rückversicherungen  148 – Die Macht des Irrever­ siblen  152 – Terror und Moral  158

2. Der Traum der Großen Kommunion . . . . . . . . . . . . . . . 165 Kommunismus und Eros  165 – Eine kurze Geschichte der «Intelli­ genz» 167  – Vom Höllensturz zur Großen Gemeinschaft 171  – Eine Diktatur der Aufgeklärten  176

3. Phantome der Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 Friede den Hütten, Krieg den Palästen  186 – Nachkrieg, Jugend, «Julisonne»  193 – Das magische Medium der Presse  197 – Reli­ gionen, Nationen, Massen, Klassen  200

4. Eine Neue Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Der Fortschritt und sein Preis  203 – Die Gärten des Frühsozialis­ mus  207 – Auftritt der«Communisten»  218

Zweites Buch Das Marx’sche Momentum

Teil V: Die Geburt der modernen Welt 1. Die Wahrheit des Diesseits . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 Der gefallene Vorhang 228  – Der kurze Weg zum «Communis­ mus»  235 – Hegel und der moderne Geschichtsbegriff  239 – Der «Proletarier» als philosophische Figur  246

2. Der große Bruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Wege in die industrielle Moderne 249  – Die malthusianische Falle  257 – Der Schwindel des Aufschwungs  263

3. Das Gespenst des Proletariats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Vom Pauper zum Proletarier 269  – Vom Barbaren zum Prome­ theus 274 – Auf der Suche nach der «Arbeiterklasse»  279

Teil VI: Sozialistische Gründerzeit 1. Ein neuer Horizont . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 Das schwierige Einfache: der Kommunismus  286 – Der ungemüt­ liche Fortschritt  296

2. Die Partei Marx . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 Soziologisches und Biografisches 303  – Marx, Engels und die «Knoten»  308 – Revolutionsstrategien 1848  312 – «Diktatur des Proletariats» und Weltwirtschaft  319

3. Vom Anstoß zur Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 Der unwahrscheinliche Gründer: Lassalle  327 – Das freie Subjekt in seiner Larve  332 – Der Kongenius als treuer Jünger  338 – Ruf und Berufung  342 – Bonapartismus à deux  349

4. Fülle des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 Traum und Schrecken der Emanzipation  356 – Liebesschlachten, Lebenskämpfe  360  – Frauen-, Arbeits- und Familienleben  369  – «Die Frau und der Sozialismus»  376

Teil VII: Age of Empire 1. Freier Handel, schwarze Haut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 Wettermaschinen der Weltwirtschaft 384  – Gebrandmarkt in schwarzer Haut  386 – Das neue Atlantis  398

2. Staaten, Kriege, Revolutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 404 Revolutionen von oben  404 – Krieg als Revolution, Revolution als Krieg  410 – Leviathan 2.0  417

3. Der europäische Sozialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422 Weltkongresse von Kapital und Arbeit  422 – Das bewegte Feld der Politik  430 – Bebels lichte, umdüsterte Welt  437

4. Das Marx’sche Momentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453 Die zwei Unvollendeten  453 – Von Marx zum Marxismus  459 – Lost in Translations  466 – Marx im Westen, Marx im Osten  469

Drittes Buch Warum Russland?

Teil VIII: In Oriente – Der Osten wird rot 1. Das entgrenzte Imperium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 480 Völker und Räume  480  – Ein «sich selbst kolonisierendes Impe­ rium» 490  – Das unendlich wachsende Reich 493  – Die defor­ mierte Gesellschaft  500 – Das neue Subjekt  510

2. Die Dämonen der Intelligenzija . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 514 Die Welt der Uljanows  514 – Die Profile des Terrorismus  519 – Der sich fortschreibende Roman  527 – Moralisch-literarische Ini­ tiationen 532

3. Marx in Russland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 539 Das kaudinische Joch des Kapitalismus  539  – Wechsel der Weg­ zeichen  549 – Die Welt der Kampfbünde  559

4. Das Korn und die Gerste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 565 Der seltsame Führer 565  – Eine Generation Revolution 569  – Durch Spaltung zur Verschmelzung  579

Teil IX: Vom Weltkrieg zur Weltrevolution 1. Wetterleuchten – Das Jahr 1905 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 596 Ein Tag, der alles veränderte  596 – Vor dem Sturm  603 – Revolu­ tion und Niederlage 1905  607 – Die Furien von Terror und Gegen­ terror 618

2. Sturmvögel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 626 Die Leere nach dem Tumult  626 – Russland als geistiger Genera­ tor  630 – Philosophische Schlachten  633 – Sektenkriege als Wei­ chenstellung  643 – Bolschewismus und Internationale  647 – «The commening revolution»  651

3. Menschheitsdämmerung – August 1914 . . . . . . . . . . . . . 656 Im Kraftfeld des Weltkriegs 656  – Gegen die Strömung 659  – Deutsch-bolschewistische Kollusionen  666 – Imperialismustheorie als Realpolitik  673

4. Auferstehung – März 1917 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 678 Russlands Zusammenbruch 678  – Mobilisierung und «Ver­ rat»  687 – Auferstehung in Rot  696

Teil X: Marsch ins niemandsland 1. Elementarkräfte – Juli 1917 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 714 Über den Rubikon  714 – Von der Revolution zur Involution  725 – Der gestrandete Leviathan 732  – Der «Agent» und der «Dikta­ tor» 739

2. «Es schwindelt» – November 1917 . . . . . . . . . . . . . . . . 744 Zwei, drei Tage des Kampfes  744 – Die Logik der Totalisierung  758

3. Russland in Blut gewaschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 777 Krieg aller gegen alle  777 – Der Separatfrieden als Kriegsakt  785 – «Lerne beim Deutschen»  794

4. Phönix und Asche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 800 Wahnsinn und Methode  800 – Das Ende der Klassen  806 – Der letzte Akt  817

5. Das neue alte Reich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 826 Stalin, der Gründer 826  – Das neue, rote Imperium 837  – Der multinationale Machtkader  841 – Das ungreifbare Russland  847

viertes Buch Der Kommunismus in seinem Zeitalter

Teil Xi: Der rote planet 1. Phantome einer Weltrevolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 856 Eine Moskauer Weltpartei  856  – Nach Westen, marsch, marsch!  863 – Vom Rhein an den Jangtse  874 – Nationalrevolutio­ näre und Faschisten  876

2. Das kommunistische Momentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . 884 Ein Weltkriegskader  884 – Sowjetrussland als U-topos  892 – Kapi­ talistische Weltkrise und Internationale 900  – Die irreversible Zäsur 902

3. Im Gehäuse des Wahns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 909 Die Mysterien des Terrors  909 – Zur Psychologie totalitärer Ent­ grenzung 917  – Antifaschismus und Antitrotzkismus 927  – Der Vater der Völker  937

4. A Tale of Two Empires . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 941 Von der Elbe bis zum Jangtse 941  – Dialektiken des Kalten Kriegs 950  – Chinas großer Sprung ins Chaos 959  – Von der ­Stagnation zum «Umbau»  971

Teil XII: Die postkommunistische Situation 1. Wege der Auflösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 982 Politische Ökonomie des «realen Sozialismus» 982  – Humanis­ mus und Terror  989 – Condition totalitaire  995

2. Das Gespenst des Kapitals . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1003 Ende des Kommunismus? 1003  – Die Welt von 2017 1006  – Kommunismus 4.0 1015  – Glanz und Schrecken der einen Welt 1023

Epilog Das weiße Rauschen Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1035 Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1039 Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1120 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1121

PROLOG

Die Farbe Rot

D

u schließt die Augen und schaust in die Sonne, und durch deine Lider hindurch siehst du die Farbe deines Blutes – ein Karminrot. Dies ist die Farbe deiner leiblichen Existenz. Grün ist die Farbe der äußeren Vegetation. Gelb ist die Farbe der Sonne. Blau ist der Himmel über dir. Rot ist die Farbe, die dich mit allen anderen Menschen «kommunis­ tisch» verbindet. Gerade deshalb ist sie aber auch die Farbe der äußers­ ten Gegensätze und der tiefsten Trennungen. Blut bedeutet Leben oder Tod. Und wenn Blutsbande, Blutsbruderschaften, Blutopfer die intensivs­ ten Verbindungen zwischen den Menschen stiften, so bildet «eigenes und fremdes Blut» die älteste Schranke. Zugleich ist Rot jene Elementarfarbe, für die es in den meisten Spra­ chen der Welt von Beginn an ein eigenes Wort gegeben hat, gleich nach Weiß und Schwarz. Wenn sprachliches Benennen die Voraussetzung sinn­ licher Wahrnehmung ist (oder jedenfalls der Verständigung über das Wahrgenommene), dann war «Rot» die Urfarbe. Erst später kamen «Gelb» und «Grün», und als letztes das «Blau» hinzu – nicht als Farb­ schattierungen natürlich, sondern als ordnende Begriffe.1 Dass Rot besonders anregend oder aufregend wirkt, ist physiologisch messbar. Seine emotionalen Wirkungen oder assoziativen Bedeutungen bewegen sich dabei in einem weiten Spektrum, das von Liebe, Sinnlichkeit und Fruchtbarkeit über Erregung, Leidenschaft und Zorn bis zu Kampf, Krieg und Tod reicht. In der Antike war Rot die Farbe der Männlichkeit und des Kriegs, weshalb der «rote Planet» nach dem römischen Kriegs­ gott Mars benannt wurde. Zu anderen Zeiten oder in orientalischen Kulturen war Rot eher die Farbe der Weiblichkeit. Im Fernen Osten galt Rot seit alters her als die Farbe des Glücks, des Reichtums und der Ban­ nung böser Geister. In der christlichen Welt war Rot dagegen ein Symbol des Leidens Christi und seiner Nachfolger, der Blutzeugen und Märtyrer. Unter Berufung auf sie hüllten die Kirchenfürsten sich in jenen Purpur, der im vorchristlichen Rom bereits ein Zeichen von Vornehmheit, Macht und Reichtum war und es das ganze Mittelalter hindurch blieb. Aber in einer charakteristischen Volte und einem langen Akt der Gegen­

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Prolog

besetzung wurde Rot schließlich zur Farbe der volkstümlichen Aufleh­ nung und der proletarischen Rebellion. Als am 14. Juli 1889, dem hun­ dertsten Jahrestag des Sturms auf die Bastille, die Gründungsversamm­ lung der «Sozialistischen Internationale» in Paris die rote Fahne zu ihrem zentralen Emblem wählte, da schöpfte sie bereits aus einem Fundus eta­ blierter Symbolik und gespeicherter Emotionen, die, so schien es, weit in die menschliche Geschichte zurückreichten. Mit dieser Farbwahl verwies man nicht nur die buntscheckigen feuda­ len Embleme und Standarten in den Orkus der Geschichte, sondern ver­ warf auch die trennende Vielfalt der Trikoloren und Nationalfahnen. Mit der Farbe Rot erklärten die Sozialisten sich innerhalb jeder Nation und jedes Staates zur aparten «Partei des Proletariats» – und gleichzeitig zur Menschheitspartei, die die Aspirationen der Gattung vertrat und sie vor den Kataklysmen einer kapitalistischen Gesellschafts- und Wirt­ schaftsordnung zu retten versprach: nicht mehr durch den Rekurs auf irgendeine lebensferne Utopie, sondern indem die modernsten Produktiv­ kräfte, wie sie im Sommer 1889 auf der Pariser Weltausstellung unter dem neu errichteten Eiffelturm eindrucksvoll präsentiert wurden, von ­ihren destruktiven Wirkungen und den hemmenden Fesseln privater Pro­ fit- und Verwertungsinteressen befreit wurden. Konnte es einen von Menschen formulierten Anspruch geben, der grö­ ßer gewesen wäre als dieser? Der alte Friedrich Engels, legitimer Voll­ strecker von Marxens geistigem Erbe und geheimer Pate der Pariser Gründungskonferenz, rief in seiner in ganz Europa verbreiteten Grund­ lagenschrift «Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wis­ senschaft»2 noch einmal Hegels emphatischen Nachruf auf die Fran­ zösische Revolution als den Anbruch einer Herrschaft der Vernunft in ­Erinnerung: «Es war dieses somit ein herrlicher Sonnenaufgang … Eine erhabene Rührung hat in jener Zeit geherrscht, ein Enthusiasmus des Geistes hat die Welt durchschauert, als sei es zur Versöhnung des Gött­ lichen mit der Welt nun erst gekommen.»3 Jetzt schien dieser kurze Hoffnungsstrahl von einst die Heraufkunft eines neuen, noch größeren Weltzeitalters anzukündigen, das kein from­ mer Wunsch mehr war, sondern einem unaufhaltsamen Gesetz der sozia­ len Evolution folgte – bei Strafe des Untergangs.

ERSTES BUCH

Kommunismus als Weltgeschichte

TEIL  I

Ex Occidente – Von den Ursprüngen

1. Die Spur der roten Fahne

Rouge et Bleu

I

m Sozialismus ist alles rot, die Fahnen, die Banderolen, die Drape­ rien, die Leichentücher und Sargbedeckungen, die Blumengebinde, Kränze  … und Strohblumen, die Krawatten, Halstücher, Armbinden usw.» Rote Ritualobjekte wurden obligater Teil eines jeden feierlichen Zeremoniells, dessen Suggestivität gerade in seiner ständigen Wiederho­ lung lag. Das waren Manifestationen in betont getragenem Duktus und Schritt, unterbrochen nicht selten von Attacken der Polizei, die das Zei­ gen verbotener Embleme zu verhindern suchte. Die rote Fahne bildete darin das zentrale Symbol: als Fahne «der revolutionären Einheit», «des internationalen Sozialismus», «der künftigen Universalrepublik», als «Symbol der Brüderlichkeit der Völker» und «der vom Blut der Arbeiter gefärbte Fetzen». Immer wieder waren es diese aus einem langen histo­ rischen Gedächtnis, das immer «länger» wurde, geschöpften Assoziatio­ nen, die die begleitenden Invokationen durchzogen.1 So wurde etwa im Lied des ehemaligen Kommunarden Paul Brousse «Le Drapeau Rouge» (Die rote Fahne) eine imaginäre Tradition entrollt, welche von den Barrikaden der Commune 1871 über die Revolutions­ jahre 1848, 1830 und 1789 zurück bis zu den «Aufständischen des Mittel­ alters» reichen sollte, die einst «die rote Fahne auf alle Türme pflanzten» und die «Könige erbleichen ließen»2 . In den rituellen Formeln einer sozi­ alistischen Festtagsrhetorik hieß es schließlich sogar: «Zu allen Zeiten wurde die rote Farbe von den Leidenden und Unterdrückten gewählt. War das so, weil sie dem immer erneut vergossenen Blut des Volkes glich?» Aber wie zuverlässig war diese Genealogie? Der französische Syndika­ list und Privatgelehrte Maurice Dommanget, der sich in den 1960 er Jah­ ren daran machte, alle legendären Aufstände und Rebellionen, die zur Vorgeschichte des modernen Sozialismus gezählt wurden, auf ihre Farb­ wahl hin zu untersuchen, sah sich jedenfalls eins um andere Mal in seinen Erwartungen enttäuscht.3 Stattdessen geriet er in ein verwirrendes Wech­ selspiel der Bedeutungen, das selbst höchst bezeichnend ist. Seine Suche nach der revolutionären Symbolfarbe Rot beginnt mit einer Szene, in

1. Die Spur der roten Fahne

19

welcher der (vielleicht adelige) thrakische Kriegsgefangene und ver­ sklavte Gladiator Spartacus sich nach dem Sieg über eine römische Ar­ mee ein purpurnes Tuch umlegte, das paludamentum. Das war das Rang­ abzeichen eines römischen Kommandeurs im Felde, eines Praetors oder Konsuls, als welchen die aufständische Sklavenarmee ihren Führer so­ mit proklamierte. Für die Kommunisten des 20. Jahrhunderts hat Spar­ tacus bekanntlich eine emblematische Rolle gespielt, von den «Sparta­ kisten» in Deutschland bis zu den «Spartakiaden», den sozialistischen Sport- und Jugendfesten. Tatsächlich war das Rot für Spartacus und seine Heerhaufen entlaufener Sklaven aber kein spezifisches Symbol sozialer Auflehnung, sondern das einer unbedingten militärischen Autorität. Das war eine Bedeutung, die die Farbe Rot die längste Zeit behielt. Flammend rot (und golden bestickt) war das große Reichs- und Kriegs­ banner, die «Oriflamme», unter der die Aufgebote des Königs von Frankreich im späten Mittelalter kämpften. Die eigentliche Königsfarbe war indessen das Weiß – neben einem lichten Blau, in welches Ludwig der Heilige (1214–1270) zum Zeichen seiner Treue zur Jungfrau Maria, die man seit dem 12. Jahrhundert im Rahmen eines neuen Marien­kultes in einen blauen Mantel der Unschuld zu hüllen begonnen hatte, sich nun selbst zu kleiden begann. Erst damit trat das Blau in den Kanon der ­europäischen Grundfarben ein.4 Die aufständischen Bauern der Jacquerie von 1358 sollen sich dagegen noch mit weißen Königslilien geschmückt haben, zum Zeichen, dass sie gegen die feudale Adelswillkür an die Gerechtigkeit des Herrschers appel­ lierten. Nach derselben Logik trugen die aufständischen Handwerker und Bauern in England in der Revolte von Wat Tyler und John Ball 1381 weiße Mützen und königliche Insignien, um ihr Recht beim König zu finden (der sie heimtückisch hinterging). Auch die Fahne des süddeutschen «Bund­ schuh» war weiß, mit einem aufgemalten Schuh als Zeichen des «gemei­ nen Mannes». Die aufrührerischen Bauern und Städter, die Thomas Müntzer in seinem chiliastischen Gottesreich um Mühlhausen versam­ melte, trugen auf ihrer Fahne einen farbigen Regenbogen zum Zeichen des «Ewigen Bundes» mit Gott, ebenfalls auf weißem Grund. In Purpur und Scharlachrot gehüllt prunkte dagegen in der Bildsprache aller Refor­ matoren, aufständischen Bauern, Handwerker und Ritter die «große Hure Babylon» – das römische Papsttum. Dieses Rot war die Farbe der Hölle, der Verderbnis, der Unzucht. Das Zeitalter der Reformationen und Religionskriege eröffnete über­ haupt eine erhebliche erste Verschiebung der symbolischen und sozialen

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Teil I: Ex Occidente – Von den Ursprüngen

Farbgebungen – die uns hier nur deshalb und insoweit interessieren, als Farben «kulturelle Gebilde» sind, die sich bei aller Ambivalenz deuten und entziffern lassen. So stand zum Beispiel das puritanische oder ge­ schäftsmäßige Schwarz, in das die städtischen Bürger und vor allem die Protestanten sich jetzt zunehmend kleideten, in einem betonten Gegen­ satz zum Kunterbunt der Höfe, des Adels und des hohen Klerus. Unter­ halb von alledem lag die Sphäre der physischen Arbeit, in der seit dem Mittelalter ein verwaschenes Bleu aus Weid (als dem billigsten Färbemit­ tel) dominierte, während das vornehmere und seltenere Azurblau aus dem teuren, importierten Lapislazuli gewonnen wurde, also dem Adel und Patriziat vorbehalten blieb.5 Ab dem 17. Jahrhundert eroberte dann jedoch Indigo, ein koloniales Plantagenprodukt, die Märkte und machte das Blau zur Uniformfarbe von Soldaten und Matrosen wie zur textilen Massenfarbe des beginnenden Manufaktur- und Industriezeitalters. Parallel zu all diesen Alltagsverwendungen war das Blau seit der frü­ hen Neuzeit in der europäischen Malerei entdeckt worden. Waren es im Hochmittelalter nur die Abbildungen der Maria sowie einige berühmte Kirchenfenster (wie in der Kathedrale von Chartres), in denen ein sakra­ les Blau dominierte, so wurden auf den Gemälden der Renaissance-Zeit auch die irdischen Himmel immer blauer (statt grünlich, rötlich oder so­ gar golden), und mit ihnen die Meere. Das ging mit der Entdeckung von Licht und Schatten, von Perspektive und räumlicher Tiefe einher. Das Blau als die Farbe der Tiefe und Innerlichkeit wurde schließlich auch zur Farbe der Melancholie. Dies war der Humus, aus dem die «blaue Blume» der Romantik wuchs und noch ein Jahrhundert später der «Blaue Reiter» seine Spiritualität schöpfte oder auch der «Blues» der schwarzen Musik seine Trauer bezog.6 Hätte eine Geschichte der Farben irgendeine Triftigkeit für die Fragen, um die es uns in diesem Buch geht? Einige Verbindungslinien sind un­ schwer zu erkennen, gerade in der Entgegensetzung der Urfarbe Rot zur Spätfarbe Blau, die wir vage mit der Lebenswelt eines westlichen (atlan­ tischen) Stadtbürgertums und von da aus sogar mit dem «Geist des Kapi­ talismus» in Verbindung bringen könnten – in einem ambivalenten Be­ deutungsspektrum, das von Methodik, Arbeitsdisziplin und neutraler Sachlichkeit über maritime Weltläufigkeit bis zur Romantik, der Melan­ cholie, dem Blues oder dem «Cool» reichte. Die Farbe Rot würde sich dagegen in einem deutlich unterschiedenen Bedeutungsspektrum bewe­ gen, das historisch tiefer reicht, sich als kämpferische, politische Gegen­ farbe zum modernen Blau aber erst mit diesem parallel und also recht

1. Die Spur der roten Fahne

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spät entwickelt hat. Klar ist andererseits, dass dort, wo politisch und emblematisch wirklich «alles rot» wurde, nämlich in der Welt der öst­ lichen Sozialismen des 20. Jahrhunderts, noch ganz eigene Bedeutungen ins Spiel gekommen sein müssen, die in dieser abendländischen Farben­ lehre nicht aufgehen.

Russisch Rot Als die Partei der Bolschewiki, der radikale Flügel der russischen Sozial­ demokratie, sich im März 1918, kurz nach ihrem erfolgreichen, aber noch ganz ungewissen Machtstreich, in «Kommunistische Partei Russlands (Bolschewiki)» umbenannte und im Frühjahr darauf im belagerten Mos­ kau bereits die Gründung einer neuen, dritten und diesmal «Kommunis­ti­ schen Internationale» verkündete, da war das ein kühner Akt der Usur­ pation. Siebzig Jahre nach der Proklamation des «Manifests der Kommu­ nistischen Partei» im März 1848 reklamierte sie damit einen historisch gewordenen Titel exklusiv für sich, auf den sie selbst zuvor nur sporadisch rekurriert hatte.7 Jetzt erklärte Lenin, ihr Führer und Spiritus Rector, dies sei der «wissenschaftlich einzig richtige» Name der Partei.8 Bei dieser Umbenennung ging es weniger um den Begriff des Kommu­ nismus, der auch in programmatischen Texten europäischer Sozialdemo­ kraten als historisches Erbe oder als Fernziel durchaus noch auftauchte, als vielmehr um eine radikale Neuausrichtung der eigenen Partei – durch eine möglichst kategorische und sichtbare Abgrenzung von allen Par­ teien der im Weltkrieg kompromittierten und zerfallenen Sozialistischen Internationale, und gleichzeitig durch ihre praktische Umformung zu e­ inem politisch-militärischen Machtorden, der sich zum Kern einer neu zu begründenden, demokratisch-zentralistisch organisierten «Weltpartei des Proletariats» erklärte. Das war die entscheidende Neuerung. Sie machte die als «Sektionen» der Moskauer Internationale sukzessiv gegründeten Kommunistischen Parteien aller Länder erst tatsächlich zu «Parteien neuen Typs» und die Leninisten zu den Begründern einer völlig neu- und einzigartigen Weltbewegung. Zugleich bemächtigten die Bolschewiki sich eines ganzen Fundus his­ torischer Begriffe und Symbole, die in den Katastrophen des Weltkriegs ihre alte, emphatische Bedeutung weithin verloren hatten und wie weg­ geworfene Feldzeichen die Schlachtfelder bedeckten. Dabei bedienten sie sich virtuos der verbreiteten Stimmungen einer «Menschheitsdämme­

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Teil I: Ex Occidente – Von den Ursprüngen

rung» (um den Titel einer zeitgenössischen Anthologie deutscher Ex­ pressionisten zu zitieren9). Lenin ließ sich im Frühjahr 1918 vom neuen Volkskommissar für Aufklärung Anatoli Lunatscharski eine Liste mit Losungen für eine revolutionäre «Monumentalpropa­ganda» vorlegen. An die erste Stelle, vor alle Umsturz- und Schlachtparo­len, setzte er die kühn ins Futurum gewendeten Verse aus den «Meta­mor­phosen» Ovids: «Ein Goldenes Zeitalter wird anbrechen, die Menschen werden leben ohne Gesetze, ohne Strafen, völlig freiwillig werden sie tun, was gut und gerecht ist.»10 Lenins Dekret über die «Monumentalpropaganda» war nur der Start­ schuss einer beispiellosen Kunst- und Propagandakampagne, die das Bild der bolschewistischen Revolution wesentlich mitgeprägt hat  – in der Erinnerung womöglich noch stärker. Inmitten der Verheerungen des Weltkriegs, der sich (wie Lenin es seit 1914 prognostiziert und seinerzeit gefordert hatte) nun auch tatsächlich in einen allgemeinen Bürgerkrieg verwandelte, in einer von Hunger und Seuchen, Zwangsarbeit und nack­ ter Gewalt gezeichneten Schreckenszeit, machten sich Künstler aller Spar­ ten und ganz unterschiedlicher Observanz daran, die Städte und Kern­ gebiete Russlands mit Plakaten und Transparenten, Monumenten und theatralischen Inszenierungen zu überziehen. Im Zuge dessen sollten nach einer von Lenin abgesegneten Liste Statuen aller möglichen Vordenker und Vorkämpfer, Apostel und Märtyrer auf die Plätze der beiden Haupt­ städte Russlands gesetzt werden: Marx und Engels als die Gründerväter eines «revolutionären Marxismus» natürlich, aber ebenso auch Anar­ chisten wie Bakunin, «Volkstümler» wie Herzen, religiöse Dichter und Denker wie Tolstoi und Dostojewski, utopische Sozialisten wie Fourier und Saint-Simon, Führer einstiger Bauernkriege wie Stenka Rasin, litera­ rische Utopisten wie Thomas Morus und Campanella, antike Revolutio­ näre wie Tiberius Gracchus oder Spartacus. Sie alle sollten sich posthum in dieser ideellen Siegesallee einer Revolution vereint finden, die – um­ fassender noch als einst die Französische – zu einer wahren Welt- und Menschheitsbefreiung führen sollte.11 Dabei verfuhren die bolschewistischen Massenerzieher umso weither­ ziger, je enger sie in ihrer repressiven politischen Praxis das Spektrum der noch gerade zulässigen politischen Meinungen und Positionen fassten. Lenin stand den in Fieberstößen und Massenumfang produzierten, mal klassizistischen und mal avantgardistischen Werken der revolutionären Künstler zum größten Teil mit grimmiger Abschätzigkeit gegenüber.12 In seinem als scholastische Marx-Exegese angelegten Zukunftsentwurf

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«Staat und Revolution» hatte er die Höherentwicklung der Gesellschaft in betont nüchterner, geradezu ätzender Prosaik einer sozialbiologischen Mutation gleichgestellt, die man zwar versuchen konnte zu beschleunigen und zu steuern, keineswegs aber beliebig utopisch auszugestalten: «Bei Marx findet sich nicht die Spur eines Versuchs, Utopien zu konstruie­ ren … Marx stellt die Frage des Kommunismus so, wie der Naturforscher die Frage der Entwicklung einer neuen, sagen wir, biologischen Abart stellen würde, wenn man weiß, dass sie so und so entstanden ist und sich in der und der bestimmten Richtung modifiziert.»13 Lassen wir die Frage beiseite, ob Lenin hier Marx (und indirekt natür­ lich Darwin) zu Recht in Anspruch nimmt. Jedenfalls ist auf den ersten Blick erkennbar, dass gerade die Kombination einer menschheitsgeschicht­ lichen Selbstbeauftragung mit einem vermeintlich streng materialisti­ schen, tatsächlich magischen Szientismus einen Gestaltungsanspruch um­ schreibt, dessen Globalität und Totalität vollkommen neuartig war. Mit der Proklamation einer «Allrussischen Sowjet-Republik», der Um­ benennung der Bolschewiki in «Kommunistische Partei Russlands» und der Aufstellung einer «Roten Arbeiter- und Bauernarmee» wurde die rote Fahne, geschmückt mit Hammer und Sichel, zur offiziellen Staatsfahne, oder vielmehr zur Fahne einer «proletarischen Diktatur», die keine ande­ ren Embleme mehr neben sich duldete, schon gar keine roten. Der an­ schließende Bürgerkrieg zwischen «Rot» und «Weiß» ließ dafür erst recht keinen Spielraum mehr: Wer sich nicht unter die bolschewistische Fahne fügte, der war per Definition «weiß». Die im Frühjahr 1919 gegründete Kommunistische Internationale dehnte diesen Geltungsanspruch nominell auf die ganze Welt aus, die sich in rote und weiße Staaten, in Revolutionäre und Konterrevolutionäre teilte. In der bolschewistischen Bildpropaganda war diese Welt in ein apokalyptisches Rot getaucht. Von den Türmen des Kreml, dem Sitz der neuen Macht, wies jetzt ein roter Stern als eschatologisches Hoffnungs­ zeichen den Proletariern aller Länder den Weg. Die feuerrot illuminierten bolschewistischen Weltbilder fanden im Wes­ ten, wo sich in jeder Haupt- oder Industriestadt in den 1920 er Jahren ein «roter Wedding» oder ein «Little Moscow» bildete, zahlreiche Anschlüsse an die älteren Bildersprachen des Sozialismus. Obwohl die dreißig oder vierzig Kommunistischen Parteien dieser Anfangsjahre durchweg minori­ tär blieben, brachte das kommunistische Rot durch seine fanatische Inten­ sität das sozialdemokratische Rot langsam zum Verblassen. Wie der

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Fahne erging es vielen Emblemen oder Liedern und schließlich auch dem marxistischen Erbe: Hier usurpiert, dort fallengelassen, wanderten sie nach und nach aus dem alten sozialistischen in den neuen kommunisti­ schen Fundus, bis sie (scheinbar) identisch geworden waren.

Chinas rote Sonnen Mit welchen Bedeutungsgehalten und Valeurs die Farbe Rot sich anrei­ cherte, als sie von Emissären der Kommunistischen Internationale auch nach China übertragen wurde, wo sozialistische Traditionen und Bild­ sprachen bis dahin so gut wie unbekannt waren, ist eine Geschichte für sich. Auch wenn es sich zunächst um einen reinen Import gehandelt hat, muss dieses kommunistische Rot sich je länger, desto mehr seinerseits mit autochthonen Bedeutungen verbunden und aufgeladen haben – bis binnen drei oder vier Jahrzehnten das sozialistische China Mao Tse-tungs dasjenige Land war, in dem wirklich und buchstäblich «alles rot» war. Was nicht rot genug war, galt als «schwarz» und musste umgefärbt oder ausgemerzt werden. Etwas Drittes gab es nicht mehr. Das Feld der unterschwelligen Bedeutungsgehalte dieses chinesischen Rots scheint nirgends zusammenhängend erschlossen worden zu sein. Als nächstliegende historische Referenz hätten sich wohl die Rebellen des gewaltigen Taiping-Aufstands in der Mitte des 19. Jahrhunderts an­ geboten, die rote Stirnbänder getragen hatten. Ihr Führer Hong Xiuquan hatte in seinem autodidaktisch ausgeschmückten, synkretistischen Kos­ mos christlicher (biblischer) Erzählungen und chinesischer volksreligiöser Vorstellungen, auf die er sein «Himmelsreich des vollkommenen Frie­ dens» gründen wollte, Gott mit der Sonne assoziiert und dessen Sohn ­Jesus Christus mit dem zu den Menschen herabgestiegenen Sonnenlicht. Da er sich als den jüngeren Bruder des Gekreuzigten sah, war er selbst «Hong, die Sonne», die in einem neuen Aufgang begriffen war und mit der ein neues Zeitalter anbrach. Sicherlich spielte sein Familienname (Hong bedeutet Rot) bei dieser Farbwahl eine Rolle.14 Aber auch Resi­ duen einer uralten kosmologischen Farbenlehre aus der Han-Zeit moch­ ten darin mitspielen, wonach Rot die Farbe des Feuers, der Bewegung, der Unruhe war, das kaiserliche Gelb dagegen die Farbe der Erde, der Harmonie, der Beständigkeit. Schließlich, das war das Handgreiflichste, war Rot in der chinesischen Alltagskultur die Farbe des Glücks und der Liebe, der Fruchtbarkeit und des Reichtums.15

1. Die Spur der roten Fahne

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Der «Traum der roten Kammer» (Hong Lou Meng), jener klassische chinesische Roman aus dem 18. Jahrhundert, handelt denn auch vor allem von unerfüllter Liebe und von raffinierter Sexualität, von patriarchaler Autorität und von mütterlicher Güte, von materieller Korruption und von geistiger Schönheit, und schließlich von spiritueller Weltentsagung. Die «rote Kammer»  – das ist vor allem die magische Erinnerung des ­müden Haupthelden an eine Jugend «im Schatten junger Mädchenblüte»; ihr Rot ist also das einer geistig-sinnlichen Mädchen- und Märchenwelt, die ihn stärker fesselte als die vorgesehene Beamtenkarriere und der kon­ fuzianische Amtskanon. Man kann dieses Buch gewiss sozialkritisch nennen, aber es ist alles andere als aufrührerisch, vielmehr romantisch, individualistisch und milde esoterisch. Nach der Revolution von 1911 wurde der «Traum der roten Kammer» noch einmal zur Lektüre einer Jugendbewegung, die sich gleichzeitig die westliche Kultur und die eigenen geistigen Traditionen fieberhaft neu er­ schloss. Auch der junge Mao Tse-tung gehörte zu den begeisterten Lesern des Romans – was ihn nicht daran hinderte, 1954 persönlich den «bour­ge­ oisen Idealismus» seines bedeutendsten literaturwissenschaftlichen Inter­ preten anzuprangern und ein Jahrzehnt später das Buch selbst ungerührt auf dem Scheiterhaufen der «Kulturrevolution» verbrennen zu lassen. Ganz früh schon, Jahre vor der Machteroberung, noch im «roten Stütz­ punktgebiet» in Jenan, hatte sich Mao eine Parteihymne auf den Leib schreiben lassen, die mit der Stalin-Hymne der Sowjetunion direkt kon­ kurrierte: «Der Osten ist rot, die Sonne steigt auf / China hat einen Mao Tse-tung hervorgebracht. / Er schafft Glück und Segen für das Volk / ­Huihaijo!  – Er ist des Volkes großer Rettungsstern! Der Vorsitzende Mao liebt das Volk, / er ist unser Führer. / Für den Bau des Neuen Reichs der Mitte – / Huihaijo! – lenkt er uns auf dem Marsch voran.»16 Dass der Familienname «Mao» Osten bedeutet, machte die Assoziation seines Namens mit der aufgehenden «roten Sonne» Chinas umso ein­ facher und volkstümlicher. Mao wurde damit «zur Verkörperung des in seinem glückhaften Morgenrot aufsteigenden neuen Tages, der den abend­ lich verdämmernden Westen mit der Sicherheit eines Naturgesetzes be­ siegen wird».17 Denn China war, so Mao, nicht nur das größte aller Völ­ ker, sondern es war «zum einen arm, zum andern blank» – ein weißes Blatt, auf das sich die schönsten Schriftzeichen schreiben ließen, geführt von Kadern, die «sowohl rot wie Experten» sein mussten.18 Noch weiter gingen die Formeln, die Maos designierter Nachfolger Lin Piao am Beginn der «Kulturrevolution» in seinem täglich zu rezitierenden

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Katechismus von «Worten des Vorsitzenden Mao Tse-tung» ausbreitete. Im Vorwort Lin Piaos heißt es: «Sobald die Gedanken Mao Tse-tungs von den breiten Massen ergriffen worden sind, werden sie … zu einer geistigen Atombombe werden, deren imponierende Macht unvergleichlich ist.»19 Das war durchaus nicht bloß metaphorisch zu verstehen: Noch bevor das «Rote Buch» erschien, hatte die Volksrepublik mit einem verzehren­ den Aufwand an finanziellen, physischen und intellektuellen Ressourcen die erste Atombombe gezündet, der wenig später bereits die erste Wasser­ stoffbombe folgen würde. Als im Oktober 1964 die Nachricht vom erfolg­ reichen Test eintraf, trat Mao in einer sorgfältig vorbereiteten Choreo­gra­ fie aus den Kulissen der Großen Halle des Volkes, in der 3500 Darsteller die revolutionäre Peking-Oper «Der Osten ist rot» uraufführen sollten. Ministerpräsident Tschou En-lai verkündete unter großem Beifall die freudige Nachricht. Mao hatte zuvor in seiner Suite hinter der Bühne ei­ nen Zweizeiler verfasst: «Die Atombombe explodiert, wenn man es ihr befiehlt. / Ah, welch eine grenzenlose Freude.»20 1967 erschien das «Rote Buch» – neben den Pekinger Originalausgaben im roten Plastikeinband, die in sämtlichen großen Sprachen der Welt in Hunderten Millionen Exemplaren verschifft wurden  – in Deutschland auch als schmuckloses Taschenbuch in einer Auflage von 75 000; bis 1971 waren es 100 000, bis 1977 140 000 Exemplare. Mit der Einleitung des deutschen Herausgebers, des Sinologen Tilemann Grimm, tritt man in die heute fremde, damals recht vertraute Welt der westlichen Mao-Faszina­ tionen ein: Ein «Rotes Buch» sei diese Sammlung von Mao-Zitaten nicht allein äußerlich, sondern weil es «so unübersehbar in den Händen der jungen Menschen die ‹rote› revolutionäre Begeisterung symbolisiert». Um mentalitätsgeschichtlich zu extemporieren: «Rot ist in China die Farbe der Lebensfreude, der Jugend und des Frühlings … So bitterernst die Auseinandersetzungen hinter den Kulis­ sen und den Fassaden der Wandzeitungen auch gewesen sein mögen – nach außen bekundet sich Freude, hochgestimmter Eifer und anschei­ nend glückliche Begeisterung.»21

Rotes Leuchten, schwarze Schatten Dass der Imperialismus ein «Papiertiger» sei, hatte Mao bereits im Jahr 1952 konstatiert. In diesem Jahr endete der Koreakrieg nach Hundert­ tausenden von Toten und Millionen Verwundeten und sozial Entwurzel­

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ten in einem sinnlosen Patt, genau an der Demarkationslinie, an der er mehr als zwei Jahre zuvor begonnen hatte. Im Juni 1950 hatten nordko­ re­a­nische Truppen diese Linie überschritten und fast den gesamten Süden überrannt, bevor sie von einem von den USA geführten Expeditions­ korps unter UN-Fahne in verheerenden Schlachten und erbarmungslosen Bombardements bis kurz vor die chinesische Grenze zurückgedrängt wur­ den – als plötzlich eine Million «Freiwillige» der chinesischen Volksarmee aus den koreanischen Wäldern und Bergen wuchsen und die US-Truppen in mörderischen Kesselschlachten wieder zurückdrängten. Den Verlust­ ziffern und der Intensität der Kampfhandlungen nach war das ein stell­ vertretend ausgetragener Dritter Weltkrieg auf engstem Raum. Die eben erst gegründete Volksrepublik China hatte mit Unterstützung der Sowjet­ union den übermächtigen USA und ihren Alliierten auf dem Schlachtfeld Paroli geboten und sich ihren atomaren Drohungen nicht gebeugt. Das rote Weltlager des Sozialismus reichte jetzt von der Elbe bis zum Jangtse. Es schien nur eine Frage der Zeit, wann es weiter wachsen würde. Auf dem Parteikongress der KPdSU im November 1952 (dem ersten seit dem Jahr 1939) lobte Josef Stalin, der wie ein schlohweißes Negativ sei­ ner selbst auf der Tribüne erschien, die Bruderparteien der KPdSU für ihre Bereitschaft, «unsere Partei in ihrem Kampf für eine lichte Zukunft der Völker zu unterstützen», und versicherte ihnen im Gegenzug, dass die Sowjetunion «die Völker in ihrem Kampf um die Befreiung» unter­ stützen werde. Er zeigte sich überzeugt, dass die Kommunisten in einer Reihe von Hauptländern des Kapitalismus wie in vielen Ländern der kolo­ nial und neokolonial ausgebeuteten Welt in absehbarer Zeit die Macht übernehmen könnten, wenn sie es verstünden, «das Banner … der natio­ nalen Unabhängigkeit und Souveränität ihrer Länder» aufzunehmen, das die Bourgeoisie über Bord geworfen habe. Schon vor dem Kongress hatte Stalin eine testamentarische Schrift mit dem harmlosen Titel «Ökonomische Probleme des Sozialismus in der UdSSR» veröffentlicht, in der sich – inmitten einer Reihe wirtschaftlicher «Gesetzmäßigkeiten» beim Aufbau des Sozialismus  – die lakonische Feststellung fand, dass es in absehbarer Zeit, so wie im Ersten und im Zweiten Weltkrieg, zu einer neuen Konfrontation der imperialistischen Mächte untereinander kommen werde. Die alten Kolonialmächte Eng­ land und Frankreich könnten den Versuch unternehmen, «sich aus der Umarmung der USA loszureißen und einen Konflikt mit ihnen zu riskie­ ren», während Westdeutschland und Japan, die als Besiegte «unter dem Stiefel des amerikanischen Imperialismus ein elendes Dasein fristen»,

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ihrer­seits versuchen würden, «wieder auf die Beine zu kommen und das ‹Regime› der USA zu durchbrechen».22 Dieser Dritte Weltkrieg werde mit dem Sieg des Sozialismus im Weltmaßstab enden. Auch das war ge­ setzmäßig: So wie nach dem Ersten Weltkrieg die UdSSR und nach dem Zweiten Weltkrieg das Sozialistische Lager gegründet worden waren, musste nach dem Dritten Weltkrieg eine sozialistische Weltrepublik ent­ stehen. Einem Echo gleich klang die Grundsatzrede, die der amerikanische Außenminister John Foster Dulles unmittelbar nach der Amtseinführung des neugewählten Präsidenten Eisenhower im Januar 1953 hielt. Dulles zeichnete das Bild eines kommunistischen Griffs nach der Weltmacht, das einer beklemmenden Autosuggestion glich. Demnach standen die USA als «Felsen in einer sturmgepeitschten Welt» einem hochgerüsteten roten «800-Millionen-Block» gegenüber, der in Europa wie in Asien über alle natürlichen Ressourcen verfüge, während die USA auf Importe von Rohund Energiestoffen vital angewiesen seien. Die Kommunisten aller Länder verfolgten unter Führung der Sowjetunion eine zielstrebige Strategie, «die sie selbst als Einkreisung bezeichnen». Umso mehr, so seine Schlussfol­ gerung, komme es darauf an, die «Liebe zur Freiheit» auch in den Völ­ kern hinter dem Eisernen Vorhang zu stärken, die «von der totalitären Diktatur der kommunistischen Welt niemals wirklich durchdrungen und absorbiert» worden seien und sich bei ihren Befreiungsversuchen auf die Unterstützung der USA verlassen könnten.23 Im selben Frühjahr 1952, in dem die beiden Weltlager sich in den Schützen­ gräben von Korea gegenüberlagen, unternahm ein junger Argentinier namens Ernesto Guevara mit einem Freund eine Grand Tour durch sei­ nen südlichen Kontinent, im Gepäck Pablo Nerudas lateinamerikanisches Schöpfungsepos «Canto General», den Großen Gesang. In der Atacama-­ Wüste in Chile, nahe der Kupfermine eines US-Konzerns, machten sie die Bekanntschaft eines kommunistischen Arbeiterehepaares. In seinen (als «Motorcycle Diaries» zu posthumer Berühmtheit gekommenen) Reise­ notizen sinnierte der junge argentinische Arzt, der auf der Suche nach ­einer Mission war: «Wir werden sehen, ob eines Tages ein Grubenarbei­ ter seine Pike mit Spaß in die Hand nehmen und seine Lungen mit be­ wußter Freude vergiften wird. Es heißt, dort, woher das rote Leuchten kommt, das heute die Welt erhellt, soll es so sein.»24 Zur Quelle dieses fernen «roten Leuchtens» auf der anderen Seite der Erdhalbkugel, in die Sowjetunion, in der die Arbeiter sich ihre Lungen

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wenigstens «mit bewußter Freude» vergifteten, wollte er als nächstes rei­ sen. In seinen Briefen an seine Eltern sprach Guevara verschlüsselt auch von der «Cortisona», einer seltsamen Wortschöpfung aus «Cortina» (dem Eisernen Vorhang) und Cortison, dem neuen Wundermittel zur Besänf­ tigung seiner eigenen, asthmatisch entzündeten Lungen. Eine Ansichts­ postkarte von seiner zweiten Reise 1953/54 an seine Tante Beatriz unter­ schrieb er bereits neckisch mit «Stalin II».25 Und in Guatemala, wo eine Linksregierung gerade gestürzt worden war, legte er vor einem «Bild des alten, betrauerten Stalin» den Schwur ab, sich selbst im Kampf «zu schlei­ fen …, um ein richtiger Revolutionär zu werden».26 Der Gedanke, dass nur die atomare Gegenmacht der Sowjetunion («das rote Leuchten im Osten») die Herren in Washington abhalten könne, den Völkern der Welt den totalen Krieg zu erklären, war da bereits zu seiner Obsession geworden. Seiner Mutter schrieb er im Jahr darauf aus Mexiko, wieder halb scherzend und halb im Ernst, sie habe mit ihm nun einmal «einen kleinen, umherziehenden Propheten des nahenden Jüngs­ ten Gerichts» in die Welt gesetzt. Entweder werde sie binnen fünf Jahren die Früchte seiner Arbeit sehen, oder ihr Sohn werde diese Welt ver­ lassen haben als «ein Hampelmann, der in der Stratosphäre Pirouetten dreht»,27  – ein irrwitziges, ganz aus der Zeit gegriffenes Bild, worin ­Macheten und Raketen, Atompilze und Raumfahrer unter einem apoka­ lyptisch rot gefärbten Welthimmel zusammenflossen. Was Guevaras Eltern noch nicht wussten: Der «umherziehende kleine Prophet des Jüngsten Gerichts» hatte zu dieser Zeit endlich seinen Herrn und Meister gefunden – im kubanischen Anwalt Fidel Castro, der eine bewaffnete Expedition in das heimatliche Kuba plante, für die er alles auf eine Karte zu setzen bereit war. Genau so etwas hatte der weltrevo­ lutionär gestimmte Globetrotter aus Argentinien als Einstieg gesucht. Sogleich widmete er ihm eins seiner holprigen Gedichte: «Lass uns voran­ schreiten / glühender Prophet der Morgenröte … / den grünen Kaiman zu befreien, den du so liebst. / … Und wenn das Eisen uns den Weg ver­ sperrt, / so fordern wir nur ein Leichentuch aus kubanischen Tränen / um die Knochen der Guerilleros / bei ihrem Gang in die amerikanische Geschichte zu bedecken. / Nichts sonst.»28 Diese Expedition war, wie man weiß, über alle vernünftige Erwartung hinaus erfolgreich; der junge Argentinier, den seine kubanischen Genos­ sen auf «Che» getauft hatten, was so viel hieß wie Hey («Hey Guevara!»), wurde in Castros Revolutionsregierung in Havanna zum Superminister für die Kollektivierung von Industrie und Landwirtschaft (eine blitz­

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schnelle und ruinöse Operation), während er zugleich als politisch-mili­ tärischer Sonderemissär Castros wirkte. Er war es, der 1961 den sowjeti­ schen Staats- und Parteichef Nikita Chruschtschow überredete, in einer riskanten globalpolitischen Geheimoperation komplette Raketeneinhei­ ten der Sowjetarmee nach Kuba zu verlagern – von deren atomarer Ge­ fechtsbereitschaft die Masse der Kubaner nichts ahnte, im Gegensatz zum Weißen Haus, das zuverlässige Informationen besaß und eine See­ blockade verhängte. Während die Welt für einige Tage am Abgrund stand, beschwor Guevara in einer internen Ansprache seine Armeekader, um jeden Preis standzuhalten: «Wir liefern das elektrisierende Beispiel eines Volkes, das bereit ist, die atomare Einäscherung zu erleiden, damit noch seine Asche als Zement einer neuen Gesellschaft diene. Aber wir bekräf­ tigen, dass wir den Weg der Befreiung auch dann gehen, wenn er Millio­ nen atomarer Opfer kosten sollte, weil in einem Kampf auf Leben und Tod zwischen zwei Systemen das einzige, was zählt, der endgültige Sieg des Sozialismus oder seine Rückbildung nach dem nuklearen Sieg einer imperialistischen Aggression wäre.»29 Die ausstrahlende Macht des sozialistischen Weltlagers unter der Sonne Josef Stalins stand 1952 in ihrem Zenit: «Stalin ist der hohe Mittag / Der Menschen und der Völker Reife», dichtete Pablo Neruda damals in sei­ nem neuen Großpoem «Die Trauben und der Wind», das er schrieb, während er die andere Neue Welt, die des Sozialismus, entdeckte und be­ sang.30 In diesem Sommer 1952 fuhr auch eine Gruppe junger Khmer-Studen­ ten in Frankreich nach Pornic in der Bretagne ans Meer, bevor die meis­ ten von ihnen (einige konspirativ) nach Hause zurückkehrten. Sie lagen am Strand, schwammen und wanderten, und abends führten sie im Campinglager traditionelle kambodschanische Tänze auf. An anderen Abenden saßen sie zusammen und diskutierten über die Zukunft ihres Landes, in dem die französische Kolonialverwaltung – gerade angesichts des eskalierenden Kriegs im benachbarten Vietnam – keine Anstalten machte, in Verhandlungen über die Unabhängigkeit einzutreten, wie sie auch der von Paris gestützte Prinz Sihanouk jetzt zunehmend energischer einforderte. Innerhalb der «Vereinigung der Khmer-Studenten» in Paris hatte sich ein konspirativer «Cercle Marxiste» gebildet. Zwanzig Jahre später wür­ den Mitglieder dieses Zirkels einmal die Führungsgruppe einer aus dem kambodschanischen Dschungel operierenden Guerilla bilden, die Siha­

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nouk (eher abfällig) «Rote Khmer» nannte, ein Name, der hängen blieb; während sie selbst vorerst nur unter der anonymen Bezeichnung «Ang­ kar» (die Organisation) auftraten. Nach dem Kollaps des von den USA gestützten Militärregimes und dem Fall Phnom Penhs im April 1975 würde sich aus diesem kleinen Zirkel von teilweise über Kreuz verschwä­ gerten ehemaligen Studenten (einer Art roter Koranschüler) auch die ­Regierung des neuen Staatswesens rekrutieren, das sich dann «Demo­ kratisches Kampuchea» nannte und als Galionsfigur den 1970 gestürz­ ten Prinzen Sihanouk zurückholte. Dass dieser konspirative Zirkel sich als «marxistisch» bezeichnete, war nicht ganz wörtlich zu nehmen, obschon seine Teilnehmer sich mehrheit­ lich im Umfeld der französischen Kommunistischen Partei bewegten, die als einzige bedingungslos für die Unabhängigkeit der Kolonien eintrat. Zwar hatten einige von ihnen das «Kommunistische Manifest» gelesen und sich am «Kapital» die Zähne ausgebissen. Eine besser zugängliche, fast kanonische Schrift war Mao Tse-tungs Rede von 1940 über «Die Neue Demokratie», die den Verhältnissen in einem asiatischen, vorwie­ gend bäuerlichen Land angemessener schien.31 Aber fast alle hatten sie Josef Stalins «Kurzen Lehrgang der Geschichte der KPdSU» gelesen. In diesem Text aus dem Jahr des Großen Terrors 1938 war zu lesen, dass eine starke Partei und Staatsmacht, so wie eine Festung, «am leichtesten von innen genommen» werden könne, und dass es deshalb unbedingt notwendig sei, Partei und Staat, einschließlich des «führenden Haupt­ quartiers», «von Kapitulanten, Deserteuren, Streikbrechern, Verrätern» zu säubern.32 Das prägte sich ihnen ein. Unter denen, die sich dem «Cercle Marxiste» durch Vermittlung eini­ ger Bekannter angeschlossen hatten, war auch der 27-jährige Ingenieur­ student Saloth Sar, der von allen, die ihn damals kennenlernten, als ein höflicher, freundlicher, meist sympathisch lächelnder junger Mann ge­ schildert worden ist. Dieses Lächeln würde er auch bewahren, als er, schon eine ganze Weile nach der Machteroberung 1975, zum ersten Mal auf Fotos als der geheimnisvolle «Pol Pot» und Führer der Roten Khmer identifiziert wurde. Manche seiner alten Pariser Bekannten (soweit sie sein Regime über­ lebten) meinten, Sar sei ein Puritaner gewesen, andere fanden, er habe Züge eines Dandys gehabt. Er war jedenfalls meistens sorgsam geklei­ det, tanzte gern und mit lässiger Eleganz, und einige fanden ihn sogar recht unterhaltsam, andere eher undurchsichtig. In den Debatten der Gruppe hielt er sich meistens zurück. Während der ältere Ieng Sary  –

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später Außenminister und zweiter, dritter oder vierter Mann der Roten Khmer hinter Pol Pot und noch später (bis zu seinem Tod 2013) einer der Hauptangeklagten vor dem Kriegsverbrechertribunal in Phnom Penh – sich als einer der ersten aus der Gruppe dem KP-Lager anschloss und ein Bild Stalins an der Wand hatte, zögerte Saloth Sar noch, für welche der rivalisierenden Gruppierungen in Kambodscha er sich entscheiden sollte: für die «Khmer Issarak», die älteste antikoloniale Dschungelguerilla, für die moderneren Nationalisten der «Khmer Serei» oder für die von Viet­ nam ausgehaltenen «Khmer Vietminh». Die einzige politische Äußerung, die von ihm aus seiner Pariser Zeit überliefert ist, ist ein unter dem Pseudonym «Khmer Daeum» (Alter ­Khmer) geschriebener Text mit dem Titel «Monarchie oder Demokra­ tie?». Die Monarchie, schrieb er, habe das Volk der Khmer in eine «Herde von Sklaven» verwandelt, während die Demokratie «wertvoll wie ein Diamant» und unveräußerlich sei. Dem mondänen Prinzen Sihanouk stellte er das Leben Gautama Buddhas gegenüber, der seinem Prinzen­ leben entsagt habe und ein «Freund des Volkes» geworden sei. Sihanouk dagegen habe den angestammten buddhistischen Volksglauben der ­Khmer unterminiert und sein Land an fremde Herren ausgeliefert, denen es nun Tribut entrichten müsse. Gerade die Französische Revolution habe einst gezeigt, dass sich das Volk mit solcher Knechtschaft nicht ab­ finden werde und einen König auch stürzen und aburteilen könne.33 Beide Bezüge – die auf den dekadenten «französischen» Hof und die auf den echten volkstümlichen Buddhismus – hatten mit dem Lebensweg Saloth Sars zu tun, der aus einer wohlhabenden ländlichen Familie mit buddhistischer Lebenskultur kam. Als Zehnjährigen hatte der Vater ihn für ein Jahr in ein Kloster geschickt, in dessen rigoroser Disziplin er als Bettelmönch gelebt hatte und religiös erzogen worden war. Dann, als Mittel- und Oberschüler in Phnom Penh, war er bei seinen Verwandten aufgewachsen, die Teil des königlichen Hofstaats geworden waren: Seine Tante Meak und seine ältere Schwester Roeung gehörten zu den Favori­ tinnen des alten Königs, bevor er 1941 starb. So kannte der junge Sar beides: die spirituelle Strenge des buddhistischen Mönchslebens und die erotisch aufgeladene Schwüle des königlichen Harems, in dem er als Halbwüchsiger in Schuluniform oft zu Besuch gewesen sein soll – und (wie sein Biograf Philip Short zu wissen glaubt) von den gelangweilten Mädchen gehätschelt und masturbiert worden sei.34 Jetzt lag das alles fast ein Jahrzehnt zurück. Als die Pariser Gruppe ­beschloss, jemanden vorauszusenden, der die politische Lage zuhause er­

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kunden sollte (wo mehrere der rivalisierenden Gruppen, parallel zum Krieg Frankreichs in Vietnam, einen neuen Dschungelkampf aufgenom­ men hatten), hatte Sar sich gemeldet und war ausgewählt worden, eben weil er weniger bekannt war und Kontakte in Hofkreise hatte. Ob er noch darauf hoffte, dass das Mädchen, mit dem er sich vor der Abfahrt ins­ geheim verlobt hatte, eine stadtbekannte Schönheit, Tochter einer Prin­ zessin und eines Schuldirektors, auf ihn wartete, wissen wir nicht. (Sie hat gewartet, ihn ein Jahr später aber fallenlassen.) Wir wissen überhaupt nicht, was er gedacht und gefühlt haben mag, als er in diesem Sommer 1952 an diesem bretonischen Strand lag und durch die geschlossenen Lider in die Sonne schaute. Aber er wird ge­ lächelt haben.35 Das undurchdringliche Lächeln eines «alten Khmer». «Die Revolution ist leuchtend rot, voller Überzeugung, wunderbar ent­ schlossen und wunderbar hellsichtig. Die ganze Welt bewundert uns, singt unser Lob und lernt von uns.» (Notiz aus Büro 870, Pol Pot zuge­ schrieben) «O Vaterland, o leuchtend rotes Kampuchea, blutgetränkt sind deine Ebenen und deine Städte / das Blut unseres revolutionären Volks wurde zu flammendem Hass, zu entschlossenem Kampf, / verwandelt in das rote Banner …»36

2. Kommunismus als Weltgeschichte

Am Anfang war – das Wort?

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m Anfang des Kommunismus war das Wort. Zumindest darin scheinen die Kommunisten mit ihren Kritikern einer Meinung gewesen zu sein – obwohl sie als historische Materialisten eigentlich jede «ideo-logische» Interpretation ihres Handelns hätten ablehnen und mit Goethes Faust ­sagen müssen: Im Anfang war die Tat, die Sache, die Tatsache. Aber unter ihrem Regime war angeblich die Theorie oder die Ideologie, indem sie «die Massen ergriff», «zur materiellen Gewalt» geworden, notfalls mit Hilfe von Zensur und Polizei. Und in ihnen selbst als «Marxisten-­ Leninisten» war dieses Wort Fleisch geworden. Weniges hat diese sug­ gestive Vorstellung sinnfälliger verkörpert als der überlebensgroße, sie­ ben Meter hohe und vierzig Tonnen schwere, körperlos auf einem hohen ­Sockel schwebende Bronzekopf, der am 9. Oktober 1971 in der zu «KarlMarx-Stadt» umgetauften alten Industriestadt Chemnitz enthüllt wurde. «Die Welt von heute atmet den Geist von Marx, Engels und Lenin», lautete der lyrische Titel der Ansprache des neuen SED-Generalsekretärs Erich Honecker an die Versammelten, die auf dem noch immer ziemlich wüst daliegenden zentralen Aufmarschplatz der Stadt angetreten waren. Die staunten über den grimmigen – oder eher traurigen? – Gesichtsaus­ druck ihres angeblichen geistigen Ahnvaters. Nach dem Wunsch des Künstlers, des sowjetischen Spezialisten für Monumentalplastiken Lew Jefimowitsch Kerbel, sollten daraus Marx’ «Ideen und ihre Verwirk­ lichung ablesbar» sein; und dazu brauche er schließlich «keine Beine, keine Hände, sein Kopf sagt alles».1 In fast allen Milleniums-Umfragen um das Jahr 2000 rangierte Marx unter den bedeutendsten Personen der Menschheitsgeschichte. In einer BBC-Umfrage wurde er auf einer Liste der «einflussreichsten Denker ­aller Zeiten» sogar auf Platz eins gewählt, noch vor Einstein, Newton und Darwin. Eine ZDF-Abstimmung wies ihm unter den «größten Deut­ schen» Platz drei zu, hinter Adenauer und Luther, aber vor Bismarck. So idiotisch die Fragen und so gering die Kenntnisse, so verblüffend (und vielleicht auch instinktsicher) die Antworten. Der liberale «Economist»

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interpretierte das Ergebnis schlitzohrig-dialektisch, als er titelte: «Karl Marx – The Prophet of Capitalism».2 Das Ursprungsdokument des modernen Sozialismus und Kommunis­ mus, das von Karl Marx (nach einer Vorlage von Friedrich Engels) ver­ fasste «Manifest der Kommunistischen Partei» vom Februar 1848, hatte sich in der Prophezeiung zugespitzt, dass die Bourgeoisie als die Trägerin der neuen, kapitalistischen Produktionsweise unfähig sei, «ihrem Skla­ ven die Existenz selbst innerhalb seiner Sklaverei zu sichern, weil sie ­gezwungen ist, ihn in eine Lage herabsinken zu lassen, wo sie ihn ernäh­ ren muss, statt von ihm ernährt zu werden». Um abschließend zu befin­ den: «Die Gesellschaft kann nicht mehr unter ihr [der Bourgeoisie] ­leben, d. h. ihr Leben ist nicht mehr verträglich mit der Gesellschaft.» Allerdings habe sie im modernen Lohnarbeiter auch schon «ihren eige­ nen Totengräber» mit hervorgebracht: «Ihr Untergang und der Sieg des Proletariats sind gleich unvermeidlich.» Mit der Aufhebung der Klassen­ gegensätze werde der Weg frei zu einer «Association, worin die freie Ent­ wicklung eines Jeden die Bedingung für die freie Entwicklung Aller ist».3 In diesem Thesenanschlag ans Tor der Weltgeschichte, um den es sich zweifellos handelte (auch wenn ihn anfangs kaum jemand zur Kenntnis genommen hat), haben auch alle neueren, nach 1989 verfassten Darstel­ lungen oder Bilanzierungen der Geschichte des Kommunismus im 20. Jahrhundert den Schlüssel ihrer Interpretation gefunden. Dem amerikanischen Russlandhistoriker Martin Malia zufolge ist die von Marx verkündete «Botschaft der sozialistischen Utopie», wonach «der Geschichte ein säkulares Ziel oder Telos eigen sei», die eigentliche Quelle für das «phantastische, surreale sowjetische Abenteuer» gewe­ sen. Grundsätzlich gelte: «Nur wenn wir die Sowjets ideologisch beim Wort nehmen, wenn wir bereit sind, uns ernsthaft auf die Botschaft der sozialistischen Utopie einzulassen, können wir die Tragödie erfassen, zu der sie führte.»4 Ganz ähnlich hat der französische Revolutionshistoriker François Fu­ ret die Ursprünge des modernen Kommunismus in der teils aus der Auf­ klärung, teils von Hegel stammenden und von Marx vollends radikali­ sierten Vorstellung gefunden, dass die Geschichte der «Entwicklung der historischen Vernunft» folge; das sei der Kern jener epochalen «Illusion» gewesen, die «erst durch einen radikalen Widerruf der Geschichte ein Ende finden» konnte.5 Stéphane Courtois, der Herausgeber des Pariser «Schwarzbuchs des

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Kommunismus», sah den Kern des kommunistischen Totalitarismus in der «messianischen Dimension des marxistischen Projekts, die Mensch­ heit im und durch das Proletariat zu vereinen», einer Idee, die «wie ein genetischer Code den Lauf der Dinge prägte» und letztlich den Weg in den Massenterror vorprogrammiert habe.6 Für den britischen Historiker Robert Service lagen die Ursprünge der fehlgelaufenen Geschichte des Kommunismus in dem von Marx revitali­ sierten, uralten «Traum der Apokalypse, dem das Paradies folgt»; diese «marxistische DNA» habe eben auch den Leninismus, Stalinismus oder Maoismus geprägt und bestimmt.7 Ganz ähnlich der Sowjetologe Archie Brown, der die Ursache für «Aufstieg und Fall des Kommunismus» darin sah, dass sich die Kommunisten aller Länder durch eine von Marx schein­ wissenschaftlich untermauerte, uralte Utopie hätten leiten lassen, die von Platon über Thomas Morus via Marx und Engels auf Lenin tradiert wor­ den sei  – der in der Ausnahmesituation des Ersten Weltkriegs erstmals damit Ernst gemacht habe. Die weitere Entwicklung der kommunisti­ schen Regimes des 20. Jahrhunderts sei insoweit nur ein Beispiel für das, «was in der Politikwissenschaft als ‹Pfadabhängigkeit› bezeichnet wird».8 David Priestland als vorerst letzter und jüngster Historiograph schließ­ lich sah in den Kommunisten aller Länder «Prometheus’ Erben». Aller­ dings habe der von Karl Marx begründete Sozialismus und Kommunis­ mus sich in drei Richtungen geteilt, die im Denken und Handeln von Marx noch eine Einheit gebildet hatten: eine romantische, eine techno­ kratische und eine radikale. Überlebt habe den Schiffbruch von 1989 ­immerhin «Prometheus, der rationale Planer», der als ein Korrektiv zum weltbeherrschenden «neoliberalen Händler Hermes» auch weiterhin ge­ braucht werde.9 So etwa lautet das Resümee der neueren Gesamtdarstellungen des Kommunismus. Nun hat die bloße Vorstellung eines fast anderthalb Jahrhunderte überdauernden ideologisch-politischen Kontinuums na­ mens «Marxismus», das sich in einer Serie weltweiter Revolutionen ma­ terialisiert und nach einer Reihe weltanschaulicher Evolutionen und praktischer Realisierungen sein vorläufiges oder endgültiges Ende ge­ funden haben soll, schon etwas entschieden Esoterisches. Die ganze ­Verlegenheit konzentriert sich in so naturalistischen, tatsächlich recht obskuren Metaphern wie der einer «marxistischen DNA», die wie ein «genetischer Code» die Sprache, das Denken und das Handeln der Kom­ munisten aller Länder und Kulturen durch sämtliche Weltkrisen und Weltkriege des 20. Jahrhunderts hindurch gesteuert haben soll.

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Auf die Spur des eigentümlichen Marx’schen Momentums könnte eher eine Überlegung führen, die Marx als den Entdecker der «Bewegungs­ gesetze der kapitalistischen Produktionsweise» tatsächlich mit Isaac Newton als dem Entdecker der physikalischen Bewegungsgesetze ver­ gleicht  – der sich als christlich-unitarischer Sektierer und kosmologi­ scher Esoteriker «immer auf der Suche nach einer alchimistischen Lehre vom Gesamtzusammenhang befand» und gerade so zu seinen bahnbre­ chenden, auch empirisch tragfähigen Entdeckungen kam.10 In ähnlichem Sinne hat Thomas Nipperdey die Einwände, die gegen die «alchimistischen» Züge der Marx’schen geschichtsphilosophischen Diagnosen und ökonomischen Analysen erhoben worden sind, umge­ dreht: Es seien gerade die Überformung seiner Geschichtsphilosophie und Gesellschaftsanalytik «durch einen sehr deutschen radikalen Intellektu­ alismus» und «den Rest des Hegelschen Totalitätsanspruchs» sowie sein «politisch eschatologischer Wille» gewesen, die Marx «für die ökonomi­ schen und sozialen Phänomene der industriellen, der kapitalistischen, der bürgerlichen Welt hellsichtig gemacht haben wie keinen anderen Zeitgenossen, keinen auch seiner Vorläufer, der englischen Nationalöko­ nomen, der französischen Frühsozialisten oder der deutschen hegeliani­ schen Philosophen».11 Man könnte dieses Argument weiter zuspitzen und sagen, dass der Zug des Eschatologischen, Apokalyptischen und Totalisierenden, den Marx’ Geschichtsphilosophie und Gesellschaftstheorie unstrittig hatte, selbst nur Ausdruck eines hypochondrisch geschärften und doch voll­ kommen realistischen Bewusstseins war, einer Umwälzung beizuwoh­ nen, die auf nichts weniger als einen definitiven Riss im Kontinuum der gesamten bisherigen menschlichen Geschichte hinauslief, der Entste­ hung dessen, was später in die allzu bündige und eng gefasste Systemfor­ mel «Kapitalismus» gebracht worden ist – ein Ismus, den Marx selbst bewusst vermieden hat.12 Marx war der erste, der versucht hat, «den Kapitalismus zu denken», nämlich als eine «politische Ökonomie» im vollen Sinne dieses Begriffs, nicht als eine bloße, zu gestaltende «Nationalökonomie», sondern als eine sämtliche historisch überkommenen Lebensordnungen, Welt- und Wertvorstellungen erschütternde soziale Evolution und Kraftentfal­ tung13 – so in den vielleicht berühmtesten Passagen des «Kommunisti­ schen Manifests» von 1848: «Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionie­

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ren … Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbro­ chene Erschütterung der gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsi­ cherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeois-Epoche vor allen frühe­ ren aus … Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstel­ lung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzuse­ hen.»14 Etwas Derartiges hatte niemand jemals zuvor so gesagt oder auch nur gedacht  – obschon es den Lebensgefühlen einer großen Zahl seiner Zeitgenossen durchaus entsprochen haben dürfte. Marx konnte diese zwischen Schrecken und Bewunderung oszillierende Position aber nur ­einnehmen, weil er die «revolutionären» neuen Produktions- und Verge­ sellschaftungsformen und ihre sozialen Folgen weder als eine bloße Durchsetzung «natürlicher» Gesetze von Wirtschaft und Gesellschaft sanktionierte, wie die klassischen Ökonomen es (eher fatalistisch) und die liberalen Politiker es (forciert optimistisch) taten, noch diese Entwick­ lungen umgekehrt als «unnatürlich» und schlechthin menschenfeindlich verwarf, wie es die utopischen Frühsozialisten und die philanthropi­ schen Reformer taten, von entgegengesetzter Warte aus die christlichen Konservativen. Vielmehr brandmarkte Marx die kapitalistischen Produktions- und Vergesellschaftungsformen in ihren zerstörerischen und knechtenden Wirkungen, während er sie gleichzeitig in ihren befreienden und Reich­ tum schöpfenden Potentialen rühmte. So fand das schwierige Denkmo­ dell eines «Fortschritts in antagonistischer Form», wie er und Engels es in einer Reihe anspruchsvoller Schriften entwickelt hatten, Anschluss an die aus ganz eigenen Antrieben parallel entstehenden Sozial- und Arbei­ terbewegungen. Auf diesem Wege hat der in operative Formeln verpackte Marxismus den überall entstehenden, aus sehr heterogenen Traditionen gespeisten Arbeitervereinen, Sozialbewegungen und Gewerkschaften in vielen Län­ dern Europas einen Weg eröffnet, der sie allmählich von ihren alten, zünftlerischen oder utopisch-retrograden Vorstellungen wegführte, weg auch von den selbstzerstörerischen Klassenschlachten und blinden Ter­ rorkampagnen, und stattdessen mitten hinein ins Zentrum der moder­ nen Industriegesellschaften, auf deren Gestaltung sie nun selbst politi­ schen Anspruch erhoben. Vor allem auch dank des Marxismus gehörten die sozialistischen Parteien und ihre Literati zum sozialen und intellektu­ ellen «Kernplasma» der europäischen Moderne – bis durch die «Urkata­

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strophe» des Ersten Weltkriegs hindurch sich an der östlichen Peripherie des europäischen Sozialismus eine geistige und politische Mutation voll­ zog, die ganz eigene politisch-ökonomische Formationen hervorbrachte und vollkommen anders, teils sogar umgekehrt gerichtete Energien frei­ setzte: den modernen Kommunismus Lenin’schen Zuschnitts. Dass «keine andere geschichtliche Umwälzung schon in ihrem eigenen Vollzug eine so enorme Masse an historisch-sein-wollender Selbstdar­ stellung aufgeboten und ihre Deutung zugleich in höchstem Maße ideo­ logisch mystifiziert hat»15, wie es die bolschewistische Revolution seit 1917 in einem anschwellenden Crescendo getan hat, kann allerdings nicht bedeuten, sich den Kommunismus des 20. Jahrhunderts als eine einzige «idée-force» vorzustellen, die – dem Vers der «Internationale» folgend – «wie Glut im Kraterherde nun mit Macht zum Durchbruch» gedrängt habe. Das hieße, den autosuggestiven Selbstbeschwörungen der Akteure allzu sehr aufzusitzen. Vielmehr ist der beispiellose ideologische und theo­ retische Aufwand, den die kommunistischen Parteien und ihre Führer getrieben haben, selbst erst noch zu erklären und in seinem jeweiligen historischen Kontext zu entziffern. Aber wozu eigentlich? Aus welchem Grund waren die Führer der Kom­ munistischen Parteien an der Macht derart bestrebt, sich die Aura von Großtheoretikern zuzulegen, deren Reden und Schriften obligatorisch in gesammelten «Werken» verewigt werden mussten, um möglichst den Rang eines modernen «Klassikers» zu erreichen, wenn nicht in globalem Maßstab wie ein Lenin, ein Stalin oder ein Mao, dann wenigstens im na­ tionalen, wie ein Kim oder Enver, Ulbricht oder Ceauşescu? Wozu diente es, jedem Schüler oder Studenten, Beamten oder Soldaten, Wissenschaft­ ler oder Techniker eine periodische Schulung in «Histomat» (Histori­ schem Materialismus) und «Diamat» (Dialektischem Materialismus), in den kanonischen Texten der «Klassiker des Marxismus-Leninismus» (drei, vier oder fünf Köpfe) plus der eigenen nationalen Führer (der his­ torischen und der aktuellen) aufzunötigen? Welchen Sinn konnte es ha­ ben, jedes konkrete Problem und jeden beliebigen Text auf hoher Regie­ rungs- oder niederer Verwaltungsebene mit katechetischen Zitaten und Floskeln zu garnieren oder von Fall zu Fall eine «theoretische» Herlei­ tung zu simulieren, an die man selbst schwerlich glaubte? Woher rührte die erstaunliche Bereitschaft von Intellektuellen und Künstlern, diese ge­ schwollenen menschheitlichen Selbstberufungen und hypertrophen Welt­ erklärungen hartnäckig zu verteidigen oder panegyrisch auszumalen,

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während der Augenschein des Alltags oder die ruchbar gewordenen Un­ taten längst schon von etwas ganz anderem kündeten? Nichts an alledem versteht sich von selbst. Statt von Worten und Texten unmittelbar auf Handlungen zu schließen, wäre erst einmal zu verfolgen, wie die Entschlossenheit der Kommunisten, die von ihnen eroberten Gesellschaftskörper einer radikalen Umwandlung zu unter­ ziehen, sich regelmäßig in eine Folge von Handlungen übersetzte und in Prozesse auflöste, die alles, nur nicht «planmäßig» oder gar «gesetz­ mäßig» waren. In Wirklichkeit zeigten die kommunistischen Gesell­ schaftsprojekte von Anfang bis Ende das Grundmuster einer endlosen, permanenten Flucht nach vorn, von einer Kalamität in die nächste und von einer «Abweichung» in die andere. Als fanatische Antreiber waren die Kommunisten immer zugleich auch panisch Getriebene, die sich in immer neue, selbstgeschaffene Zwangslagen brachten. Statt die improvi­ sierten Versuchsanordnungen ihrer Wirtschafts- und Sozialexperimente zu beherrschen, wurden sie von deren unerwarteten und chaotischen ­Resultaten selbst ständig überrumpelt und beherrscht – wobei man sich streiten kann, ob es so etwas wie eine «Versuchsanordnung» überhaupt je gegeben hat. Jedenfalls trugen fast alle entscheidenden strategischen Wendungen ­einen situationistischen und improvisierten Charakter: vom Ur-Akt der Machteroberung Lenins und Trotzkis 1917 bis zum abrupten Entschluss Stalins und seiner engsten Gefährten für eine Crash-Industrialisierung und Totalkollektivierung im «Großen Umschwung» 1929; von der mit bloßen Händen zu vollbringenden, autarkistischen Massenindustriali­ sierung in Maos «Großem Sprung nach vorn» 1959 bis zur Entfesselung der anarchischen «Kulturrevolution» 1966. Und dasselbe gilt vermutlich auch für das letzte, finsterste Drama dieser Art, den Beschluss der Führer der Roten Khmer 1975 zur vollkommen unvorbereiteten Deportation der Masse der Stadtbewohner Kambodschas zum Zweck ihrer systema­ tischen Filtrierung und physischen Dezimierung. Waren diese Entscheidungen aber einmal gefallen und gewaltsam exe­ kutiert, dann waren alle Brücken verbrannt, dann gab es kein Zurück mehr. Alle weiteren Ideologieproduktionen bestanden dann darin, das schon Geschehene zu sanktionieren, es in euphemistische Formeln zu fassen und mit der Aureole einer höheren Weisheit zu versehen. Die eben noch gültige «Generallinie» konnte wie auf einer Festplatte über Nacht durch eine neue, nächste Version überschrieben werden, in der die Än­ derungen allerdings nicht markiert waren. Das Schwierigste für die

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­ ader einer kommunistischen Partei war, immer zu wissen, was gerade K galt. In all diesen Hinsichten hat die Geschichte der von Kommunisten er­ richteten Staatswesen und Gesellschaftsformationen jene «Blindwüch­ sigkeit», die in marxistischer Terminologie der kapitalistischen Pro­ duktionsweise zugeschrieben wurde, noch bei weitem übertroffen. Jene «höchste Bewusstheit» oder wissenschaftliche Aufgeklärtheit über die «Naturgesetze» der menschlichen Gesellschaftsentwicklung einschließ­ lich ihres Stoffwechsels mit der Natur, die die Kommunisten sich exklu­ siv zuschrieben, endete stattdessen in tiefen Obskurantismen jeglicher Sorte. So ist die geistes- und wissenschaftsgeschichtliche Bilanz des «re­ alen Sozialismus» im 20. Jahrhundert womöglich noch fragwürdiger als alle seine sozialökonomischen Resultate; so wie überhaupt der Umgang mit den vorhandenen menschlichen Potentialen noch verschwenderi­ scher und verwüstender war als der mit den Naturressourcen oder den agrarisch und industriell akkumulierten Produktivvermögen und Pro­ duktionsmitteln. Dieses ganze, nachgerade systematische Ignorantentum der jeweiligen Staats- und Parteiführer begann mit einer mythisierten und selektiven Wahrnehmung der Geschichte und Kultur des eigenen Landes; es setzte sich fort in ihrer eklatanten Unkenntnis über die ökonomischen, sozio­ logischen oder alltagskulturellen Realitäten der von ihnen beherrschten Gesellschaften selbst; und es kulminierte in einer stetig wachsenden Nichtbekanntschaft mit der Welt «draußen» – ein Prozess der geistigen und physischen Selbsteinschließung, der mit dem rhetorischen Internati­ onalismus auf das Absurdeste kontrastierte. So kam es je länger desto mehr zu der bestürzenden Tatsache, dass das Wissen über die Geschichte und Gegenwart Russlands und der UdSSR, der Volksrepubliken Ost­ europas oder Asiens, vor allem auch Chinas, in den wissenschaftlichen Communities und politischen Think-Tanks des Westens, trotz aller ideo­ logischen Verzerrungen des Kalten Kriegs, fast immer reichhaltiger und präziser war als in den zuständigen ZK-Sekretariaten, Institutionen und Akademien der kommunistischen Länder selbst. Sogar ein Gutteil der be­ deutendsten Kulturleistungen dieser Länder hat nur in westlichen Archi­ ven, Verlagen und Universitäten überlebt. Dieser Zustand hat sich selbst heute nur teilweise geändert, da die postkommunistischen Regimes in Russland, in China und anderswo sich mit neu kreierten nationalen Mythologien und mit informationellen Schutzschirmen ausstatten und ihre zentralen Staats- und Parteiarchive

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wie ihre sensiblen sozialökonomischen Daten weiterhin nur zensiert zu­ gänglich machen – oder selektiv zur Kenntnis nehmen. Umso mehr bleibt die Frage zu beantworten, wie man den Kommu­ nismus als einen historischen Bewegungs- und Gesellschaftstypus und überdies als ein in seiner Art präzedenzloses, international verflochtenes Aggregat von Staaten, Parteien und Bewegungen in die Geschichte des vergangenen Jahrhunderts einordnet. Wie erklärt sich die bloße Exis­ tenz so vieler kommunistischer «Parteien neuen Typs» und von ihnen instrumentierter Massenbewegungen in so vielen, ganz unterschied­ lichen Gesellschaften und Kulturen; wie die Kombination einer über­ ragenden politisch-militärischen Kraftentfaltung, zu der sie vor und nach ihrer Machteroberung durchweg fähig waren, bei gleichzeitiger notorischer sozialökonomischer Schwäche, bürokratischer Desorgani­ sation und moralischer Depravation; wie andererseits ihre enorme ­intellektuelle und künstlerische Attraktion und ihre erstaunliche Fähig­ keit, durch alle noch so gravierenden Spaltungen, Enttäuschungen und Kurswechsel hindurch Gefolgschaften zusammenzuschweißen und Men­ talitäten zu prägen – und das sogar bis über ihre historische Lebenszeit hinaus? Antworten auf diese Fragen wird man in der Verknüpfung mehrerer Perspektiven suchen müssen: erstens in den spezifischen Gesellschafts­ geschichten vor allem Russlands, Chinas und den drei, vier anderen Län­ dern, in denen Kommunisten aus eigener Kraft zur Macht gekommen sind (wie Vietnam, Jugoslawien oder Albanien); zweitens in der Ver­ knüpfung dieser jeweiligen Gesellschaftsgeschichten mit den Widersprü­ chen und Konflikten der gesamten, imperial und kolonial organisierten kapitalistischen Weltordnung dieses Zeitalters; sowie drittens in den vielfältigen Evolutionen, den globalen Verzweigungen und nationalen Metamorphosen einer marxistischen oder sonstwie sozialistischen Ideen-, Doktrinen- und Bewegungsgeschichte. Das alles sind Ebenen und Parameter der Interpretation, die schon schwierig genug miteinander zu verknüpfen sind. Aber dann ist da noch etwas – fast wie eine vierte, Zeit, Ort und Handlung sprengende oder transzendierende, universal- und menschheitsgeschichtliche Dimension, wie sie im Bedeutungsspektrum der «Farbe Rot» angedeutet ist.

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Weltgeschichte und Universalgeschichte Von «Weltgeschichte» kann man in doppeltem Sinn sprechen: im Sinn einer horizontalen, die Gesamtheit der Länder, Völker, Kulturen erfas­ senden Ebene der Betrachtung, aber auch im Sinn einer vertikalen, in die Tiefe der menschlichen Evolutionsgeschichte reichenden Sichtachse. Die erstere wäre jene Globalgeschichte, die seit dem 15. Jahrhundert, dem «Zeitalter der Entdeckungen», auch im Wortsinne (des «Globus» als Kugel), anhebt. Die zweite wäre die Entwicklungsgeschichte der mensch­ lichen Gesellschaften überhaupt. Nicht nur der «Urkommunismus» oder die «Urhorde», die nach Ansicht vieler (nicht nur marxistisch inspirierter) Archäologen oder Ethnologen am Beginn der Menschheitsgeschichte ge­ standen haben sollen, auch die verschiedenen religiösen oder mythischen Ursprungserzählungen, in denen ein Urzustand paradiesischer Unge­ trenntheit von Menschen und Natur und mehr noch ihr Verlust gleich­ sam «erinnert» wird, verweisen darauf, dass der moderne Kommunis­ mus keine historisch voraussetzungslose, sondern eine tief verankerte Gesellschaftsvorstellung gewesen ist. Tatsächlich appellierten schon die ersten «Communisten», als sie um das Jahr 1840 in Frankreich die politische Bühne betraten, an etwas menschheitsgeschichtlich Uraltes, Universelles und Evidentes. Irgendwie schien es, als hätte es diesen plötzlich auftauchenden Begriff – «Commu­ nismus»  – schon immer gegeben, auch wenn er sich jetzt mit neuen, ­aktuellen Bedeutungen auflud. Im Französischen lagen die Assoziationen unmittelbar auf der Hand, von der «commune» (der Gemeinde) über das «bien commun» (das Gemeinwohl oder Gemeingut) bis zur «commu­ nauté», der Gemeinschaft  – sei es der Gläubigen, der Nation oder der Menschen schlechthin. Darunter lag wiederum der mit reichen philoso­ phischen und religiösen Bedeutungen befrachtete lateinische Begriff der «communitas», der frühchristlichen Gemeinde, griechisch «koinonia», verbunden im heiligen Akt der «Kommunion» (1 Kor, 10,16). Die frisch getauften «Communisten» der ersten Stunde jedenfalls be­ riefen sich sofort und wie selbstverständlich auf den tiefen Klang- und Bedeutungsraum, den dieses Wort in einer christlich geprägten Welt auf­ rufen musste. So warf der fahrende deutsche Schneidergeselle und auto­ didaktische Literat Wilhelm Weitling, der als einer der ersten außerhalb Frankreichs diese neue Parole aufgriff, im November 1841 den deut­ schen Zeitungen vor, sie hätten sich regelrecht auf den Pfad einer «neuen

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Christenverfolgung» begeben, indem sie jene, die als Kommunisten «eine Art Partei in Frankreich bilden», als einen «schwarzen Teufel» an die Wand malten. Spöttisch hielt er ihnen vor: «Ihr seid Christen! Nicht wahr? Also kennt ihr doch wenigstens die Worte Kommunion und Kom­ munisten dem Namen nach, denn jeder von euch ist zur Kommunion ­gegangen, jeder von euch hat kommuniziert, war also einmal wenigstens Kommunist.»16 Heinrich Heine als Pariser Korrespondent der Augsburger «Allgemei­ nen Zeitung» bezeichnete zur gleichen Zeit die Kommunisten als die ­einzige neue Partei, die «entschlossene Beachtung» verdiene, weil sie, «der Ecclesia pressa des ersten Jahrhunderts sehr ähnlich, in der Gegen­ wart verachtet und verfolgt wird und doch eine Propaganda auf den Bei­ nen hat, deren Glaubenseifer und düsterer Zerstörungswille ebenfalls an galiläische Anfänge erinnert» – an die Ursprünge des Christentums also. Indem die schrankenlose Geldherrschaft unter dem Bürgerkönig Louis Philippe, so Heine weiter, für sie als ein «unberechenbar günstiger Umstand» wirke, da ihr Feind «bei all seiner Macht dennoch in sich sel­ ber keinen moralischen Halt besitzt», agierten die Kommunisten mit größter Selbstgewissheit als die «prädestinierten Knechte, womit der höchste Weltwille seine ungeheuren Beschlüsse durchsetzt».17 Diese mit leichter Hand hingestreuten Prophezeiungen kann man in­ sofern hellsichtig nennen, als sie das grundstürzend Neue und zugleich das geschichtlich tief Verwurzelte dieser eben aufgekommenen Strö­ mung prägnant erfassten – so ephemer dieser frühe, rein doktrinäre und utopische «Communismus» in Wirklichkeit noch war. Gräbt man etymologisch tiefer, findet man im lateinischen «commu­ nis» («cum munis») die Worte «munus» oder «munera», die in römi­ scher Zeit staatliche Abgaben und öffentliche Pflichten, aber auch ritu­ elle Opfergaben bezeichneten. «Cum munis» hieß also, dem Staat und Gemeinwesen und ihren Schutzgöttern verpflichtet oder etwas schuldig zu sein, im Gegensatz zu denen, die «immunis» gestellt, d. h. von Pflich­ ten und Abgaben befreit waren.18 So wie man den «Weltkommunismus» des 20. Jahrhunderts als eine Se­ quenz historischer Ereignisse und Formationen erfassen und beschreiben kann, die ohne den Ur-Akt der bolschewistischen Machteroberung, die Gründung der UdSSR und einer Moskauer Internationale schwerlich zu denken gewesen wäre, so lassen sich auch in der Geschichte vor 1917 Er­ eignisse und Entwicklungen identifizieren, die eine weit zurückreichende

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historische Sequenz und ein Set notwendiger Bedingungen für die Heraus­ bildung des modernen Kommunismus bilden. Man kann diese Sequenz in eine Folge von Blickachsen aufschlüsseln, die teleskopisch in immer tiefere historische Welträume hineinschauen und immer andere, neue Bedeutungsebenen aufschließen. Sie alle haben im modernen Sozialismus und Kommunismus ihre Spuren hinterlassen. –– So ist die Geschichte einer kommunistischen Bewegung leninistischen Zuschnitts zunächst natürlich in den Rahmen einer Geschichte des modernen Sozialismus insgesamt zu stellen, oder, wenn man so will, eines «Roten Jahrhunderts», das sich von 1989 auf 1889 zurückdatie­ ren lässt.19 In dieser Retrospektive wird zugleich deutlich, dass es we­ niger der große weltwirtschaftliche Aufbruch seit den 1890 er Jahren, also der moderne Kapitalismus und die damit verbundenen Krisen und Sozialkonflikte, sondern in erster Linie die Konkurrenzen und Konflikte der imperialistischen Mächte und die Katastrophenerfah­ rungen des Ersten Weltkriegs gewesen sind, die den europäischen Mehrheitssozialismus und den russischen Bolschewismus ab 1914 ein für allemal auf getrennte Bahnen getrieben und als historische Anta­ gonisten geprägt haben. –– Ebenso unverzichtbar ist eine Blickachse, die weiter zurück in die 1830 er Jahre reicht, als die ersten «Socialisten» und «Communisten» die Bühne betraten, und mit ihnen jenes allgegenwärtige «Gespenst», das Marx und Engels in ihrem «Manifest» 1848 ironisch zitiert ha­ ben. Nicht zufällig fiel ihr Auftreten mit dem historischen Zeitpunkt zusammen, an dem sich abzeichnete, dass eine marktwirtschaftliche («kapitalistische») Ordnung zum dominierenden Gestaltungs- und Bewegungsprinzip einer Gesellschaft im Ganzen werden könnte. Die­ ser radikale Bruch, der die Bevölkerung des eigenen Landes (so der Konservative Benjamin Disraeli) in «Two Nations» teilte, war das Ge­ genstück zu der im «Opiumkrieg» von 1839–42 besiegelten «großen Divergenz» zwischen China und Europa und zum weltweiten kolo­ nialen und territorialen Ausgreifen der europäischen Mächte zur ge­ waltsamen Zusammenfassung eines Großteils der bewohnten Welt in einem frühen «kapitalistischen Weltsystem». In dieser historischen Situation haben Marx und Engels die Grundele­ mente ihres Gedankensystems entwickelt  – eines Gedankensystems, das sie zu keinem anderen Zeitpunkt und an keinem anderen Ort der Welt hätten formulieren können, so wie auch die weitere Wirkungs­ geschichte ihres Ideensystems (eben das «Marx’sche Momentum»)

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mit dieser historischen Umbruchs- oder Durchbruchssituation zusam­ menfällt. Ohne Marx kein Lenin, ohne Lenin keine Bolschewiki – und so weiter. –– Ebenso wenig wäre die Geschichte des modernen Sozialismus und Kommunismus ohne den Bezug auf die Revolutionen dieses Zeitalters zu denken, vor allem auf die Französische Revolution, deren «Bicen­ tennaire» ausgerechnet im Juli 1989 gefeiert wurde, unmittelbar nach der Niederschlagung der chinesischen Demokratiebewegung auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking und parallel zu den ersten halbfreien Wahlen in Polen. –– Fasst man den sozial- und kulturgeschichtlichen Zusammenhang, der in den geläufigen Formeln eines 1789 eröffneten «Zeitalters der Revo­ lution» oder auch einer historischen «Doppelrevolution» – einer poli­ tischen in Frankreich und einer ökonomischen, industriellen in Eng­ land – angesprochen ist, noch etwas weiter, dann bewegen wir uns auf einer Blickachse, die bis zu jener «Sattelzeit»20 etwa um 1770 zurück­ reicht, auf die die Geburt der «bürgerlichen Gesellschaft» oder der «modernen Welt» heute vielfach datiert wird. –– Kaum nötig zu sagen, dass die Geschichte der «modernen Welt» ohne den Aufbruch der europäischen See- und Kolonialmächte nach Asien, Afrika und Amerika, der schon drei Jahrhunderte vorher begonnen hatte, nicht zu verstehen ist, und natürlich auch nicht ohne die Renais­ sance, den Humanismus, die Gutenberg-Revolution oder die koper­ nikanische Wende; und auch nicht ohne die Reformation, aus der (nach Max Weber) der «Geist des Kapitalismus» entsprungen sein soll. Alle neueren globalgeschichtlichen Betrachtungen haben am Bild eines von Europa ausgehenden «Zeitalters der Entdeckungen» wenig ändern können. Es war jedenfalls der historische Horizont, in dem die Autoren des «Kommunistischen Manifests» die Entstehung einer Bour­ geoisie und einer ursprünglichen Akkumulation des Kapitals angesie­ delt haben. –– Das alles gehört in den Zusammenhang einer europäisch-christlichen Welt, die als solche zum primären historischen Inkubationsraum des modernen Sozialismus und Kommunismus gerechnet werden muss – der außerhalb des christlichen Europa deshalb schwerlich hätte ent­ stehen können. Die monastischen Reformbewegungen haben ebenso wie die häretischen und millenaristischen Bewegungen des ausgehen­ den europäischen Mittelalters, die sich vielfach mit städtischen oder ländlichen Sozialkämpfen verbanden, bei vielen frühsozialistischen

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Experimenten und Entwürfen des 19. Jahrhunderts noch als ein leben­ diges Erbe Pate gestanden; so wie man im apokalyptischen frühneu­ zeitlichen Millenarismus Vorformen der modernen totalitären Mas­ senbewegungen hat erkennen wollen. –– Sowohl die monastischen Reformbewegungen wie auch die häreti­ schen und millenaristischen Bewegungen haben sich ihrerseits als Er­ neuerungen früh- oder urchristlicher Ideale und Gemeindebildungen verstanden. Somit bewegen wir uns in Zeiträumen, die zwei Jahrtau­ sende europäisch-christlicher Geschichte umfassen. –– Schließlich haben alle bedeutenden Köpfe des europäischen Sozialis­ mus so wie vor ihnen die französischen Revolutionäre und Aufklärer das antike Griechenland und Rom mit ihrer Mythologie, Philosophie und Literatur als Erbe für sich reklamiert. Erweitert man diesen geis­ tigen Zusammenhang ins Universalgeschichtliche, dann ergibt es durch­ aus Sinn, die Geschichte des modernen, global verzweigten Sozialis­ mus und Kommunismus in eine Fernbeziehung mit jener von Karl ­Jaspers so bezeichneten «Achsenzeit»21 zu setzen, einer Periode vor und nach 500 v. Chr., in der so gut wie alle großen Religions- und Ge­ dankensysteme der Welt ihre erste, frühe Gestalt angenommen haben: der mosaische Judaismus ebenso wie die Lehren des Zoroaster, des Gautama Buddha, des Konfuzius und des Lao Tse; und natürlich des Sokrates sowie die philosophischen Ideensysteme Platons und Aristo­ teles’, der griechischen Materialisten und Naturphilosophen wie Hera­ klit oder Epikur (über die Marx seine Dissertation verfasste). Alle diese Systeme haben zum eigentümlichen mind-set der Sozialisten und Kommunisten des 19./20. Jahrhunderts lebendiges Bildungsmate­ rial geliefert, auch wenn sie als Atheisten und (vermeintliche) Moder­ nisten viele dieser Traditionen bekämpft, verdrängt oder verleugnet haben. Tatsächlich waren alle intellektuellen und politischen Grün­ derfiguren von Marx und Engels über Lassalle und Bebel, Kautsky, Plechanow oder Labriola, bis hin zu Lenin, Trotzki und Stalin, Mao Tse-tung und Tschou En-lai, Ho Chi Minh und selbst Pol Pot im klas­ sischen Schriftkanon ihrer Kulturen groß geworden und knüpften in vieler Weise daran an. Dasselbe gilt allerdings für die halb mythischen alten Reichsbildungen, die durch archäologische und philologische Entdeckungen seit dem 19. Jahrhundert – wie versunkene Kontinente – wieder aufgetaucht sind und gerade von den Kommunisten des Ostens mit erstaunlicher Unbefangenheit als historische Vorläufer in Anspruch genommen worden sind.

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–– Den Ausgangs- und Endpunkt einer solchen teleskopischen Retro­ spektive bildet schließlich eine menschliche Vor- und Frühgeschichte, wie sie sich dem archäologisch forschenden Blick darbietet, in der ­Jäger- und Sammlerhorden oder Stammesverbände Formen einer ur­ sprünglichen, teilweise matrilinearen Gemeinschaftlichkeit mit schwach ausgeprägten Hierarchien dominiert haben dürften, bevor es auf Grundlage einer «neolithischen Revolution» zu den ersten Staats- und Reichsgründungen kam. Ob in den Gründungs- und Schöpfungs­ legenden der Menschheit eine tatsächliche, vage «Erinnerung» daran aufgehoben gewesen ist, etwa im antiken Mythos vom Goldenen Zeit­ alter, kann dahingestellt bleiben. Doch bildeten diese religiösen Er­ zählungen und epischen Dichtungen selbst eine machtvolle seelische Realität, die sich über Jahrhunderte und Jahrtausende immer weiter fortgeschrieben hat  – und eben deshalb noch der bolschewistischen Monumentalpropaganda im Russland des Jahres 1918 als mensch­ heitsgeschichtlicher Referenzpunkt dienen konnte.

«Die Menschheit kehrt heim» Eine solche «Vorgeschichte» des modernen Kommunismus schreiben zu wollen, ist eine unmögliche Aufgabe, und auch über ihren Sinn ließe sich streiten. Hält man sich freilich an die bekannte Feststellung des Ägypto­ logen Jan Assmann, wonach das «kulturelle Gedächtnis» der Mensch­ heit, oder jedenfalls das der verschiedenen Völker und Kulturkreise, «über Jahrtausende hinweg» Stoffe speichert und tradiert,22 dann ist klar, warum wir auch als Bewohner einer «globalisierten» und «säkula­ risierten» Welt unsere religiösen Vorprägungen, literarischen Traditio­ nen, musikalischen Hörgewohnheiten, kulinarischen Geschmäcker, popu­ lären Volksmythen und überkommenen Alltagsbräuche nicht einfach abstreifen können, selbst wenn wir das wollten. Die neuere Gen- und Hirnforschung geht sogar davon aus, dass die gesamte Stammes­ geschichte des Homo sapiens sich in den unwillkürlichen Funktionen unseres Stammhirns wie in unseren Gencodes abgelagert hat und damit unserem neuronalen Apparat, unseren Instinkten, Denkweisen und Handlungsmustern tief eingeschrieben ist. Der moderne Kommunismus war der erste theoretisch argumentie­ rende Versuch, diese kulturellen Überlieferungen samt ihren Sedimen­ ten und selbst die widerstreitenden menschlichen Triebe und Affekte zu

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historisieren, um sie durch Aufklärung oder Propaganda, durch Erzie­ hung oder Zwang zu filtern und zu selektieren, die einen zu fördern und die anderen zu unterdrücken. Der atheistische Furor, die utopischen Be­ schwörungen eines «neuen Menschen» in den formativen Jahren des Bolschewismus oder der bilderstürmerische Kampf der chinesischen ­Roten Garden gegen die «Vier Alten» (alte Ideen, alte Kultur, alte Sitten, alte Bräuche) waren Ausdruck dieses im Wortsinne totalitären Gestal­ tungsanspruchs, der keineswegs nur durch Gewalt funktionierte. Dass der Kommunismus des 20. Jahrhunderts «gegen die menschliche Natur» gearbeitet und daran gescheitert sei, sagt sich allzu leicht. In Wirklichkeit konnte er als Macht- und Sozialformation an eine Vielzahl höherer und niederer Instinkte, Affekte, Wünsche, Emotionen, Traditio­ nen, Riten, Weltvorstellungen anknüpfen. In der Begrifflichkeit Max Webers konnte er sowohl Elemente eines religiösen «Liebeskommunis­ mus» wie eines militärischen «Beutekommunismus» enthalten; vor allem aber konnte er in vielleicht präzedenzloser Weise Züge eines charismati­ schen Gefolgschaftsverbandes tragen, mit allen dazugehörigen psycho­ politischen und sozialkulturellen Ingredienzen.23 Dabei appellierte er an den Kopf wie an das Herz, an den Bauch wie an das Geschlecht – freilich nicht, um sich populär zu machen und demokratische Mehrheiten zu er­ ringen, sondern um eine sozialhistorische Mutation zu vollbringen, aus der eine höhere Menschengattung hervorgehen würde, die einer organi­ sierteren, geschlosseneren, von ihren alten Erbübeln befreiten und also höheren Gesellschaftsform angepasst und einer auf neue Weise kollekti­ vierten Lebensweise fähig wäre. Weitaus stärker als alle blassen utopischen Zukunftsprospekte, stär­ ker womöglich sogar als alle Nöte und Bedrängnisse der Gegenwart, war stets das Bedürfnis, sich eine Vorgeschichte auf den Leib zu schrei­ ben und eine Tradition zu erfinden, in der man zuhause sein würde. Die Vergangenheit, sagt man, ist die einzige Utopie, die (wie scheinhaft auch immer) Identitäten schaffen und die zum Herzen wie zum Verstand spre­ chen kann.24 Entsprechendes galt natürlich auch für andere Gruppen, Parteien, Be­ wegungen und Staaten, die politisch mobilisieren und weltanschaulich binden wollten. Sie alle bewegten sich in einem breiten Strom eines ­«inventing of traditions»25. Ob neue oder alte Imperien, ob «unerlöste» Nationalbewegungen, Weltanschauungs- und Massenparteien welcher Observanz auch immer, ob diskriminierte Minoritäten oder marginali­ sierte «tribes» und Stämme – alle Welt war in der «Gründerzeit» vor und

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nach der Wende zum 20. Jahrhundert fieberhaft damit beschäftigt, sich idealisierte Vergangenheiten, einen Sagen- und Mythenschatz, eine Natio­ nalliteratur, heroische Vorkämpfer und geniale Vordenker zu erfinden. Darüber hinaus entsprach es allerdings den theoretischen Postulaten des «historischen Materialismus» als einer gesellschaftsgeschicht­lichen Evolutionstheorie, sich ein schlüssiges Bild der Entstehung der bürger­ lichen Gesellschaft und kapitalistischen Produktionsweise aus ­ihren an­ tiken und feudalen, also «vorkapitalistischen» Vorläufern als eine «Ge­ schichte von Klassenkämpfen» zu machen. In seinen Vorstudien zum «Kapital» hatte Marx als erkenntnistheoretische Maxime für das Ver­ ständnis dieser vorkapitalistischen Gesellschaftsformationen ausgeführt: «In der Anatomie des Menschen ist ein Schlüssel zur Anatomie des ­Affen … Die bürgerliche Ökonomie liefert so den Schlüssel zur antiken etc.» Warnend hatte er hinzugefügt, dass eine historisch-materialistische Rekonstruktion dieser früheren Produktionsweisen und Gesellschaftsfor­ mationen gerade nicht so verfahren dürfe wie die klassischen Ökonomen, die «alle historischen Unterschiede verwischen und in allen Gesellschafts­ formen die bürgerlichen sehen», oder wie eine liberale Historiografie, die alle vergangenen historischen Entwicklungen lediglich «als Stufen zu sich selbst betrachtet».26 Genau das taten die Begründer des «Marxismus» dann allerdings doch  – bis der gesamte Geschichtsverlauf auf eine Stufenfolge histori­ scher Produktionsweisen vom Urkommunismus über die Sklaverei und den Feudalismus zum Kapitalismus reduziert war, die gesetzmäßig auf den Sozialismus, also letztlich auf sie selbst hinführte. Friedrich Engels hatte 1884, ein Jahr nach dem Tod von Marx und als eine Art Vermächtnis seines Freundes, mit seiner Schrift «Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates»27 erstmals so etwas wie eine Gesamtskizze der menschlichen Gesellschaftsentwicklung von ihren «urkommunistischen» Anfängen bis in die Gegenwart entworfen. Darin steckte ein noch umfassenderer metahistorischer, wenn nicht metaphysischer Gedanke, um den Engels in seinen letzten beiden Lebens­ jahrzehnten in mehreren, zu Lebzeiten nicht mehr veröffentlichten Skiz­ zen immer wieder kreiste: nämlich dass die menschliche Geschichte, ­gerade indem sie durch alle Abbrüche, Rückschläge und Kataklysmen hindurch sich in einer evolutionären Aufwärtsspirale bewege, eben doch einen großen menschheitsgeschichtlichen Zyklus beschreibe, der vom ursprünglichen (kommunistischen) Gemeineigentum durch dessen histo­

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rische Negationen hindurch (in Gestalt des antiken, feudalen oder kapi­ talistischen Eigentums) schließlich zur vollständigen «Negation der ­Negation» führen müsse. Diesen letzten Entwicklungssprung zu voll­ ziehen, so schrieb Engels in seinen fragmentarischen Notizen über eine «Dialektik der Natur», nämlich «das Gemeineigentum auf einer höhern Entwicklungsstufe wiederherzustellen, ist die Aufgabe der  – sozialisti­ schen Revolution».28 Hier schloss Karl Kautsky an, der seine Karriere als Autor sozialisti­ scher Grundlagenschriften unter anderem einer Serie von Texten ver­ dankte, in denen er eine Galerie der «Vorläufer des neueren Sozialis­ mus» in ihren geschichtlichen Zusammenhang stellte und in lebhafte Farben kleidete. In jeder Phase der Geschichte fand Kautsky Formen ­eines mythologisch oder religiös verkleideten, friedlich oder kämpferisch praktizierten Kommunismus als Opposition gegen die blindwüchsige und gewaltsame Herausbildung der Klassen- und Herrschaftsordnun­ gen: «Es gibt kaum ein Zeitalter ohne Formen eines wirklichen oder doch eines angestrebten Kommunismus. An der Wiege der Menschheit stand der Kommunismus, und er ist noch bis in unsere Zeit die gesell­ schaftliche Grundlage der meisten Völker gewesen.»29 Kautsky, der nach Engels’ Tod 1895 eine überragende Position als theo­ retische Autorität im internationalen Marxismus einnahm, und nach ihm Rosa Luxemburg, Karl August Wittfogel oder Max Beer30 brachten dieses Tableau der historischen «Vorläufer» des modernen So­ zialismus in eine mehr oder weniger geschlossene Große Erzählung. Da­ bei ist es auch heute noch ein intellektuelles Vergnügen nachzulesen, wie in diesen frühen Textbüchern einer sozialistischen Parteiliteratur sämt­ liche Dramen und Umwälzungen der Menschheitsgeschichte sich dem überlegenen Blick des Wissenden zu Füßen legen. Die Kommunisten des 20. Jahrhunderts traten einerseits also in die Fuß­ stapfen der älteren sozialistischen Parteiliteratur. Aber gleichzeitig ergab sich aus der Globalität ihres Gestaltungsanspruchs das Bedürfnis einer über alle Gegenwartskonflikte hinausgreifenden, menschheitsgeschicht­ lichen Selbstbeauftragung. Dieses Bedürfnis wurde umso dringender, je offensichtlicher war, dass die Basis für eine attraktive sozialistische Alter­ native zu den Ländern des westlichen Kapitalismus fehlte. So nahm, was in der bolschewistischen «Monumentalpropaganda» der ersten Jahre noch eher unbeholfen und improvisiert begonnen worden war, in der Ära Stalins bereits das Format einer ungeheuren, betäubenden, die so­

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ziale Realität geradezu ersetzenden Fiktion an, um in der Ära Chruscht­ schows und Breschnews schließlich zu einer seriellen Massenproduktion vaterländischer Heldengeschichten, spätsowjetischer Idyllen und futu­ ristischer Zukunftsprospekte zu werden. Hätte es sich dabei nur um professionelle ideologische Manipulationen seitens der Machthaber gehandelt, wäre die Sache einfach. Unterschätzt wird im Bild der kommunistischen Regimes als reiner terroris­ tischer Zwangsanstalten und künstlicher Ideokratien jedoch meist das Spontane, Tiefverwurzelte und durchaus Volkstümliche, das den Kommunismus und den machtgestützten und militarisierten «realen Sozialismus» des 20. Jahrhunderts über weite Strecken getragen hat. Diese Anziehungs­ kraft hatte aber weniger mit seinen avancierten wissenschaftlichen und technologischen Ambitionen zu tun, sondern eher mit seinen stationären und radikal vereinfachten, vom Stachel der permanenten Unruhe und ­einer notorischen Überkomplexität befreiten, auf neue Weise durch Tra­ ditionen, Regeln und Hierarchien gebundenen ­Lebensordnungen, wie sie sich im sozialistischen Alltag, in den Behördenstuben und Betriebsabtei­ lungen, den Hinterhöfen und Datschenkolonien, den Feierritualen und Medaillenverleihungen auch tatsächlich organisch herausbildeten, über­ wölbt freilich stets von einem hybriden patriotischen Stolz auf die Macht des neuen Staatswesens oder des eigenen Weltlagers. Fast ist man versucht, eine historisch-materialistische Gesetzmäßig­ keit siegreicher Revolutionen zu formulieren, die auf ein ungeheures ­Paradoxon hinausläuft: Je brachialer ein politischer, sozialer, ökonomi­ scher und kultureller Umbruch vollzogen wird, je tiefer die Risse, Brüche und Verwerfungen im sozioökonomischen und institutionellen Gesamt­ gefüge sind – desto ungefilterter, unreflektierter, unkulturierter strömen Residuen eines Vormodernen, Uralten, Mythischen, Tiefverwurzelten in die durcheinandergewirbelten Menschenmassen; und das vermutlich auf allen Ebenen der neuen Gesellschaftsformation. So transportiert selbst Bertolt Brechts klassisch-epigrammatische Be­ stimmung des Kommunismus: «Er ist das Einfache, das schwer zu ma­ chen ist» etwas vom Ideal einer neuen «Einfachheit» des Lebens und von seinem Reiz gerade auch für Künstler und Intellektuelle. Der proleta­ rische Paradedichter der SED, Kurt Barthel («Kuba»), fasste 1949 in ei­ ner von Jean Kurt Forrest expressiv vertonten «Kantate auf Stalin» das Menschheitsziel des Kommunismus in die beklemmende Metapher: «Heim kehrt die Menschheit zum Feuer, zum Herde. / Winter und Wölfe! Die Menschheit kehrt heim! / Heim in die Freiheit der weltweiten

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Hürde …, / heim in die Hege des Friedens der Welt.»31 Fast möchte man nicht glauben, dass er das in vollem Bewusstsein so hingeschrieben hat. Für unsere Argumentation geht es zunächst nur um die Markierung ­eines Zentralmotivs, das mit dem Kommunismus des 20. Jahrhunderts von Anfang an verbunden gewesen ist: nämlich der universelle und tat­ sächlich uralte Wunsch nach einer neuen Großen Ordnung, einer festen Großen Bindung, einem endgültigen Großen Frieden. Alle in jüngster Zeit unternommenen Versuche, einen aufgefrischten «Sozialismus des 21. Jahrhunderts» zu kreieren, sind diesen regressiven, wenn nicht reaktionären Grundimpulsen bislang verhaftet geblieben, auch dort, wo sie im Gewande alertester Zeitgenossenschaft daherkom­ men. So etwa wenn sich der Feuilleton-Schamane Slavoj Žižek anhei­ schig macht, in seinen «Versuchen über Lenin» dessen Parteitheorie zu reaktualisieren. Wenn diese fordere, «dass man bereit ist, sein ‹Ich› auf das ‹Wir› der kollektiven Identität der Partei zu gründen», und zwar auf Leben und Tod, dann sei das ganz im Sinne Lacans, demzufolge der «ex­ terne Agent (Partei, Gott, Analytiker)» intervenieren und den «Platz der Wahrheit» einnehmen müsse, damit die Arbeiterklasse sich «aus ihrer selbstgefälligen Spontaneität aufrütteln» lasse, um «ihre historische Mis­ sion zu verwirklichen». Worin diese «Mission» besteht, braucht nicht definiert zu werden. Denn Leninismus nach Žižek ist seinem Wesen nach eine «Politik der Wahrheit» (in bedeutungsvollem Kursiv), die sich dem liberalen Verdikt des «Totalitarismus» (in ironischen Anführungsstrichen) nie und nimmer beugt.32 So unernst das ist, so deutlich spürt man in diesen scheinbar spiele­ rischen Deliberationen einen Affekt, den «konservativ» zu nennen zu kurz griffe – so wenn Žižek etwa konstatiert, dass «die Marktwirtschaft die ‹lebenden› organischen Gemeinschaften getötet» habe. Oder wenn er (vage bedauernd) feststellt, dass es «immer schwerer fällt, uns ein öffent­ liches oder universelles Anliegen vorzustellen, für das wir bereit wären, unser Leben zu lassen». Denn: «Wir im Westen sind Nietzsches ‹letzte Menschen›, die sich albernen Alltagsvergnügungen hingeben, während die muslimischen Radikalen bereit sind, alles aufs Spiel zu setzen und bis zur Selbstzerstörung zu kämpfen.» Daher seien sie auch schon «die Her­ ren», und insoweit zu Recht, da sie, wie schon der 11. September 2001 schlagend gezeigt habe, «sich einem transzendenten Anliegen widmen», während wir uns sklavisch «an das Leben und seine Genüsse klam­ mern».33

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Teil I: Ex Occidente – Von den Ursprüngen

Auf ganz vergleichbare, wenn auch in eher dunkel-tragipathetische Redeformen verpackte Affekte stößt man bei einem anderen Protagonis­ ten des Neokommunismus, dem Pariser Spät-Maoisten und Hochschul­ lehrer Alain Badiou. Angesichts der nicht zu leugnenden «furchtbaren Episoden»34 eines vergangenen Staatsterrorismus hat Badiou es unter­ nommen, den Kommunismus wieder in den reinen platonischen «Status einer Idee»35 zurückzuversetzen, oder vielmehr einer «Hypothese», die es durch alle materiellen und moralischen Schiffbrüche hindurch zu ­behaupten gelte, sodass der Sinn ihres Scheiterns «immer nur die Ge­ schichte ihres Beweises»36 ist  – eine perfekt zirkuläre Argumentation. Denn: «Wie Mao sagt: Wenn die Logik der Imperialisten und aller ­Reaktionäre ‹Provokation von Ärger, Scheitern, neue Provokation, er­ neutes Scheitern und das bis zu ihrem Ruin› ist, dann ist die Logik der Völker ‹Kampf, Scheitern, neuer Kampf, neues Scheitern, nochmals neuer Kampf und das bis zum Sieg›.»37 Als Idee ist der Kommunismus demnach eine überhistorische, gegen alle Provokationen zu verteidigende Tatsache, der man sich nur in der Art eines antiken Chors auf den Kothurnen einer feierlichen Anrufung nähern kann, wie Badiou das 1979 in einer «Romanoper», einem revo­ lutionären Weihespiel, exemplarisch getan hat. Der proletarische Schluss­ chor mündet hier in die getragenen Verse: «Es ist das hartnäckige ­Gedächtnis des Volkes, das in der Welt dieses große Loch schlägt, in wel­ chem, von Jahrhundert zu Jahrhundert, die Semaphore des Kommunis­ mus gepflanzt wird! Völker aller Zeiten, aller Orte! Ihr seid unter uns!»38

TEIL  II

Die alte Welt des Kommunismus

1. Revolutionen der alten Welt

Wann ist der Mensch ein Mensch?

I

n George Lichtheims «Geschichte des Sozialismus» findet sich die ebenso schlichte wie apodiktische Feststellung: Dieser sei «in einer ­Gefühlswelt verankert, die so alt und beständig ist wie die menschliche Geschichte selbst», da «Menschen immer in Gemeinschaften gelebt und der Kooperation bedurft» hätten; wohingegen der «Individualismus … eine vergleichsweise neue Daseinsform» darstelle.1 Als historisch-anthro­ polo­gische Feststellung ist das vermutlich unbestreitbar. Nur dass in ­jedem dieser scheinbar einfachen Begriffe eine ganze Gattungsgeschichte auf­gehoben ist, die sich jeder sentimentalischen Beschwörung und jeder ­hierarchisierenden Wertung entzieht. Weder ist das «Ältere» per se das ­Höhere, noch umgekehrt. Ab wann ist der Mensch ein Mensch, was macht sein Menschsein aus; und was bedeutet es, ihn nach Aristoteles als ein «zoon politicon», das heißt: als ein «soziales», oder richtiger: ein «von Natur dem Gemeinwe­ sen angehöriges» Subjekt zu definieren, das sich daher natürlicherweise für die «Politik», d. h. die Belange der Polis, der Allgemeinheit, interes­ siert? Und ab wann zeigt er Züge eines «Individuums» in dem Sinne, in dem wir dieses Wort verwenden? So unendlich fern uns unsere frühesten, steinzeitlichen oder antiken Vorfahren erscheinen, so gewiss haben sie ihre Spuren in unserem neu­ ronalen Apparat und mentalen Unterfutter, in unseren Genen, Instink­ ten, Denkweisen und Handlungsmustern hinterlassen. Die «Geschichte der Menschheit vor der Erfindung der Schrift»2 umfasst ja jedenfalls 90– 95 % der Existenz des Homo sapiens; und davor liegt eine noch unend­ lich viel längere Zeit, in der die Anthropoiden sich aus der Welt der Pri­ maten herausentwickelt und inmitten eines Tierreichs bewegt haben, dessen Spezies und «Stämme» ihrerseits schon eigene, vielfach hoch ent­ wickelte Formen einer «Eusozialität» (einer gemeinsamen Nahrungsbe­ schaffung, Brutpflege usw.) sowie einer internen Kommunikation und kollektiven Lernfähigkeit entwickelt hatten.3 Der Punkt, an dem eine spezifisch kulturelle Entwicklung der ersten

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Menschen einsetzt, die sie aus der Welt der Primaten herausführt, wäre laut Michael Tomasello wohl der, an dem Kooperation und kommuni­ kativ vermittelte Lernfähigkeit sich nicht mehr ausschließlich auf die Be­ schaffung bzw. den (notfalls kriegerischen) Wettbewerb um Nahrung und die Sicherung des Stammesreviers und des Nachwuchses beschrän­ ken, sondern zu ersten Formen einer Intersubjektivität führen: so der von jedem Menschenkind binnen kurzer Zeit erworbenen Fähigkeit, die Intentionen wie die Irrtümer der anderen «zu lesen» und ihre Handlun­ gen entsprechend zu deuten, und auf diese Weise zu wissen, dass die ­anderen wissen, dass man selbst etwas weiß. Dieser Zustand einer habi­ tuell «geteilten Intentionalität», die eine höhere sprachliche und gedank­ liche Abstraktionsleistung sowie höhere emotionale Fähigkeiten zur Em­ pathie, zur Einfühlung in andere, voraussetzt, wäre demnach der Punkt des gattungsgeschichtlichen Absprungs der frühesten Anthropoiden aus ihrem Primaten-Umfeld.4 Die weiteren Stufen und Zäsuren in der Entwicklung der menschli­ chen Gattung sind deutlich erkennbar, auch wenn man sich streiten kann, was zeitlich und entwicklungslogisch «zuerst» war: die Fähigkeit, Feuer zu machen; sich in kooperierenden Jäger- und Sammlerhorden zu organisieren; Waffen und Werkzeuge herzustellen, sich zu spezialisieren und zu tauschen; nach matrilinearen oder patriliniearen Abstammungs­ linien Sippen, Clans, Stämmen zu bilden; die Toten zu begraben und sie als «Ahnen» präsent zu halten; Geister und Götter durch religiöse Idole und Totems, Regeln und Riten zu beschwören; Kultobjekte, Schmuck und Höhlenmalereien herzustellen und sich darin (vielleicht) selbst zu spiegeln. Das alles wird natürlich überwölbt von der Fähigkeit zu einer zunehmend abstrahierenden sprachlichen Kommunikation, der Tradie­ rung und Erweiterung von Erfahrungswissen, der Ausbildung von «Per­ sönlichkeiten» und von Hierarchien, d. h. von charakterologischen, phy­ sischen, sozialen Arbeitsteilungen zwischen den Stärkeren und Schwä­ cheren, Mutigeren und weniger Mutigen, Geschickteren und weniger Geschickten, zwischen Männern und Frauen, Alten und Jungen. Freilich, wann in den vielen gesprochenen, aber nicht aufgezeichneten Sprachen die Ich-Form zuerst aufgetaucht ist – die mit der Vorstellung eines individuellen «Ich» und «Du» noch längst nicht zu verwechseln sein dürfte – muss offen bleiben. Fest steht dagegen wohl, dass die Ein­ zelnen in die «Gemeinschaft» ihrer Horde oder ihres Stamms mehr oder weniger eingeschweißt waren und auf sich gestellt kaum existieren konn­ ten, weder physisch noch mental. In diesem Sinne konnte es eine «Per­

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Teil II: Die alte Welt des Kommunismus

son» vor, außerhalb oder jenseits der «Gemeinschaft» schwerlich geben; und das muss sich in unseren genetischen Konditionierungen, «primiti­ ven» Instinkten und «primären» Reflexen, und insoweit auch in unserer «Gefühlswelt» tief abgelagert haben. Deshalb ist es auch für uns als die Bewohner einer weitgehend «globa­ lisierten», säkularisierten, kommerzialisierten und politisch-staatlich strukturierten Welt nach wie vor fast unmöglich, unsere jahrhunderteoder sogar jahrtausendealten religiösen Vorprägungen, literarischen Traditionen, musikalischen Ausdrucksformen, kulinarischen Geschmä­ cker, populären Mythen und überkommenen Alltagsbräuche einfach ab­ zustreifen und uns völlig «neu zu erfinden». Der Prozess der Zivilisation, der Selbstkultivierung und Individuierung besteht gerade darin, sich von diesen jeweiligen Vorprägungen  – die positiv Bindungen und negativ Fesseln sind – zu emanzipieren, ohne sie deshalb gewaltsam zu verleug­ nen und abzuschneiden; sondern indem man sich ihrer bewusst bleibt, sie souverän weiterentwickelt und mit anderen, externen, «fremden» Einflüssen verbindet. Das moderne «Ich» ist weder nur die Summe sei­ ner Herkünfte und Prägungen, noch ist es einfach «Ich selbst». Im Übrigen macht der Blick in die heutige Welt, Anno 2017, wohl mehr als plausibel, dass wir noch immer tief in der «Vorgeschichte» (im Marx’schen oder auch jedem anderen Sinne) leben  – die wir vielleicht auch nie verlassen werden. Dass diese «Vorgeschichte» in ihren Epo­ chenfolgen und globalen Gewichtsverlagerungen und Entwicklungs­ dynamiken selbst schon ein langes und gewaltiges, ebenso großartiges wie erschreckendes Panorama von Evolutionen der menschlichen Gat­ tungsgeschichte umfasst, ist gerade unser Thema.

Urgemeinschaft und Stamm Die sogenannte «neolithische Revolution», die vor etwa 11 000 Jahren einsetzte und vermutlich vom «fruchtbaren Halbmond» in Mesopota­ mien ausgehend über die folgenden Jahrtausende hinweg durch Migra­ tionen nach Europa und Asien getragen worden ist und sich in einem langen Prozess weltweit durchgesetzt hat, eröffnete schließlich den Über­ gang zur Sesshaftwerdung: anfangs in kleinen, noch eher ambulanten Weilern und Dörfern, bald auch in größeren, fester gebauten Siedlungen, einige davon um große Sakralbauten gruppiert. Das war nur möglich auf Grundlage einer erhöhten und systematischeren Nahrungsmittelpro­

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duktion, durch den Anbau von Wildgetreide oder Hülsenfrüchten auf beackertem Boden in Reichweite der Siedlungen, sowie durch den all­ mählichen Übergang von der reinen Wildbeuterei zur Domestizierung und Nachzüchtung von Rindern und Schweinen, von Pferden, Eseln und Kamelen oder von Federvieh – alles unendlich schwierige Innovationen, von ständigen Rückschlägen bedroht, mit drastisch erhöhter Arbeitsleis­ tung und anfänglich oft auch mit physischer Degradation verbunden. Dieser Übergang war von der nackten Not erzwungen: durch das Ver­ schwinden der Großwildherden am Ende der letzten Kälteperiode ab 10 500  v. Chr. sowie durch das langsame Ansteigen der Bevölkerungs­ zahlen im Zuge der schrittweisen Sesshaftigkeit, die den Druck, sich eine ortsgebundene, vielseitigere und zuverlässigere Ernährungsbasis zu schaffen, kontinuierlich erhöhte. Man muss sich das als einen aus winzi­ gen Einzelschritten bestehenden, kumulativen Prozess vorstellen, in dem materielle Überlebenszwänge, praktische Erfahrungen, technische Inno­ vationen, kognitive Fortschritte und wachsende Fertilität einander be­ dingten und sich gegenseitig vorantrieben. Der Weg von nomadischen Jäger- und Sammlerhorden zu größeren Stämmen, die für ihren Zusammenhalt in der Regel dann bereits Stam­ mesälteste und Häuptlinge brauchten, bis hin zu territorialisierten Stam­ mesverbänden, die über feste Gemeinschaftsbauten, Kultstätten und ­herausgehobene Adels- oder Fürstensitze organisiert und repräsentiert wurden, kann auch in sozialökonomischen «Betriebsgrößen» ausge­ drückt werden: so wenn mehrere Horden, die jeweils 30 bis 40 Köpfe zählten, durch Wachstum und Teilung zu Stämmen von vielleicht 200 oder 300 Köpfen wuchsen und diese durch weiteren Zuwachs oder Zu­ sammenschlüsse mit anderen zu losen Stammesverbänden wurden, die etwa 2000 Köpfe oder auch mehr umfassen konnten. Da diese Größen­ ordnungen es noch immer ermöglichten, die Dinge notfalls zwischen ­allen Stammesgenossen selbst, und sonst über Räte von Stammesältesten und einen (sei es gewählten, sei es schon erblichen) Oberhäuptling oder Fürsten zu regeln, wird man noch immer von vorstaatlichen Gesellschaf­ ten sprechen. «Primitiv» mussten diese frühen Stammesgesellschaften deshalb keines­ wegs sein, im Gegenteil, sie konnten über recht differenzierte Regelwerke und eine elaborierte soziale Praxis für alle ihre inneren und äußeren Kon­ fliktfälle verfügen sowie über vielseitige Formen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und Tradierung akkumulierter Wissensbestände. Vor ­ ­allem die letzte, auch als Gentilgesellschaft bezeichnete Stufe einer vor­

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Teil II: Die alte Welt des Kommunismus

staatlichen, allerdings nicht mehr völlig schriftlosen Sozialordnung, wie sie noch die keltischen, germanischen und slawischen Populationen in der Zeit der Völkerwanderungen und des frühen Mittelalters prägte, hat nicht nur Historiker und Sozialwissenschaftler intensiv beschäftigt  – auch weil solche Gentilgesellschaften in sozialen Residuen, vor allem pa­ triarchalen dorfgemeinschaftlichen Strukturen bis ins 19. und 20. Jahr­ hundert in Europa fortlebten, während Reisende und Ethnologen sie ­zugleich unter nordamerikanischen Indianerstämmen oder in den Südsee­ gesellschaften wiederentdeckten. Der alte Friedrich Engels, der sein Leben lang Privatstudien über das Stammesleben der Germanen, der Kelten und der Slawen trieb, aber auch die vielfältigen ethnologischen Forschungen auf den anderen Kontinen­ ten verfolgte, konnte etwa mit juveniler Begeisterung schreiben: «Es ist eine wunderbare Verfassung in all ihrer Kindlichkeit und Einfachheit, diese Gentilverfassung! Ohne Soldaten, Gendarmen und Polizisten, ohne Adel, Könige, Statthalter, Präfekten oder Richter  … Allen Zank und Streit entscheidet die Gesamtheit derer, die es angeht … Alle sind gleich und frei – auch die Weiber. Für Sklaven ist noch kein Raum, für Unter­ jochung fremder Stämme auch noch nicht  … So sahen die Menschen und die menschliche Gesellschaft aus, ehe die Scheidung in verschiedne Klassen vor sich gegangen war.»5 Als historischer Materialist musste Engels diesem Bild freilich eine zu­ gleich vorwärtsweisende und polemische Wendung geben: «So imposant die Leute dieser Epoche uns erscheinen, so sehr sind sie ununterschieden einer vom andern, sie hängen noch, wie Marx sagt, an der Nabelschnur des naturwüchsigen Gemeinwesens. Die Macht dieser naturwüchsigen Gemeinwesen musste gebrochen werden – sie wurde gebrochen. Aber sie wurde gebrochen durch Einflüsse, die uns von vornherein als eine ­Degradation erscheinen, als ein Sündenfall von der einfachen sittlichen Höhe der alten Gentilgesellschaft. Es sind die niedrigsten Interessen  – ­gemeine Habgier, brutale Genusssucht, schmutziger Geiz, eigensüchtiger Raub am Gemeinbesitz, die die neue, zivilisierte, die Klassengesellschaft einweihen …»6 Dass vorstaatliche Gesellschaften friedlich gewesen seien, weil sie einan­ der kaum im Wege gestanden hätten, weitgehend egalitär verfasst und in erster Linie mit ihrer Selbsterhaltung in einer rauen Natur beschäftigt gewesen seien, ist eine Vorstellung, die einen Großteil der archäologi­ schen und ethnologischen Forschungen der letzten 150 Jahre fast axio­

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matisch geprägt hat. Diese Suche nach den Ursprüngen, nach einem mehr oder weniger «glücklichen» Zustand kommunitärer Gemeinfreiheit und friedlichen Zusammenlebens  – wenn man so will: nach einer ur­ sprünglichen Unschuld – hat auch einen Gutteil der ethnologischen For­ schungen des 20. Jahrhunderts noch beflügelt. Drei grundlegende Annah­ men standen dabei im Zentrum: Erstens, dass Kriege zwischen den in vorstaatlichen Verbänden lebenden Stämmen, wie etwa auf Neuguinea, eher «rituelle Kriege», also reine Demonstrationskriege mit wenigen Opfern gewesen seien; zweitens, dass die wirtschaftlichen Beziehungen unter den Stammesgesellschaften eher einer «moralischen Ökonomie» von Gabe und Gegengabe (nach Marcel Mauss) gefolgt seien, etwa in den Formen des «Potlatsch» der nordamerikanischen Indianer, eines ­rituellen Austauschs von Geschenken, die oft an Ort und Stelle ver­ braucht oder zerstört (geopfert) wurden, statt einer utilitären Ökonomie von Warentausch und Besitz; und drittens, dass die mit dem Staat und den sozialen Differenzierungen verbundenen Hierarchien der Geschlech­ terordnung, also das «Patriarchat», sich in diesen vorstaatlichen Gesell­ schaften noch nicht finde, wie etwa die amerikanische Ethnologin Mar­ gret Mead annahm, die bei einigen pazifischen Völkern nicht nur eine tendenzielle sexuelle und soziale Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen, Mädchen und Jungen, sondern Fälle einer direkten Umkeh­ rung der Geschlechterrollen zu beobachten glaubte. In diesen Befunden, so umstritten sie waren und sind, dürfte manches Richtige gewesen sein. Aber es war jederzeit deutlich, dass diese For­ schungen sich vor allem in einer polemischen Abwehrstellung gegen jene eingefleischten kulturellen Abwertungsmuster bewegten, die den euro­ päischen Kolonialismus des 18./19. Jahrhunderts in seinem Verhältnis zu den «primitiven Völkern» begleitet haben. Diese Oppositionen schärften die Linse  – und trübten sie zugleich auch wieder. Vielfach fanden die Ethnologen des 20. Jahrhunderts genau das, was sie suchten, nicht an­ ders als viele Weltreisende früherer Jahrhunderte. Und je länger, desto mehr mischten sich dann allerhand zeitgenössische, seien es sozialistisch, feministisch oder anarchistisch geprägte Erwartungen der Forscherinnen und Forscher in die Beobachtungen hinein. Auch ältere, religiös geprägte Unschuldsvermutungen gegenüber den von der Zivilisation «unverdorbenen» Gotteskindern, wie christliche Missionare sie als Teil ihres Arbeitsethos bewahrten, dürften noch im­ mer eine Rolle gespielt haben. Synthesen nationalkultureller und sozia­ listischer Selbstidealisierungen wurden weitergesponnen. So betrauerte

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etwa der irische Sozialist James Connolly 1897 die normannische Unter­ werfung und englische Kolonisierung der Insel als sukzessive Akte der Auslöschung einer uralten, auf dem Stammeseigentum an Grund und Boden, auf freier Wahl der Häuptlinge und Richter beruhenden, von ­einer hohen schriftlichen und mündlichen Kultur begleiteten sozialen Organisation, die unwiederbringlich verloren sei, aber im Freiheitswil­ len und Gemeinschaftsgeist der Iren weiter fortlebe.7 Nicht anders sahen das erzkonservative Slawophile, russische Sozialrevolutionäre oder Vor­ denker nationaler Unabhängigkeitsbewegungen in vielen Teilen der Welt. Friedrich Engels dagegen hat sich in puncto Friedlichkeit und from­ mer Einfalt der ursprünglichen Stammesgesellschaften wenig Illusionen gemacht. In «Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates» schreibt er: «Was außerhalb des Stammes, war außerhalb des Rechts. Wo nicht ausdrücklicher Friedensvertrag vorlag, herrschte Krieg von Stamm zu Stamm, und der Krieg wurde geführt mit der Grausam­ keit, die den Menschen vor den übrigen Tieren auszeichnet und die erst später gemildert wurde durch das Interesse. Der Stamm blieb die Grenze für den Menschen, sowohl dem Stammesfremden als auch sich selbst ­gegenüber: Der Stamm, die Gens und ihre Einrichtungen waren heilig und unantastbar, waren eine von Natur gegebne höhere Macht, der der einzelne in Fühlen, Denken und Tun unbedingt untertan blieb.»8 Seiner Begeisterung für die freien Gentilgesellschaften tat das keinen Abbruch. Für ihr Verständnis schöpfte er nicht nur aus den Unter­ suchungen des amerikanischen Rechtswissenschaftlers und Ethnologen Lewis Henry Morgan, der in den Sozial- und Lebensformen der nord­ amerikanischen Indianerstämme die Grundzüge einer jeden mensch­ lichen «Ancient Society»9 oder «Urgesellschaft» (so die deutsche Über­ setzung) zu entdecken glaubte, sondern auch aus den systematischen Überlegungen des deutschen Rechtshistorikers Johann Jakob Bachofen über die Regulierung aller ursprünglichen Gesellschaften durch ein «Mut­ terrecht».10 Deren Thesen über eine matriarchale, egalitäre und friedli­ che «Urgesellschaft» machte er sich allerdings nie ganz zu eigen. Des­ halb taucht auch der Begriff eines «Urkommunismus» weder bei Marx noch bei Engels ursprünglich auf. Erst als Marx’ Schwiegersohn Paul Lafargue in seiner Arbeit über die «Entwicklung des Privateigentums» (1890) den «Communisme primitif» einführte und Eduard Bernstein das mit «Urkommunismus» übersetzte, hat Engels den Begriff kurz vor sei­ nem Tod seinerseits einmal verwendet.11 Erst damit wurde der «Urkom­ munismus» ein fester Teil des marxistischen Kanons.

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Das historisch-materialistische Geschichtsmodell, das Marx, Engels und andere Begründer des Marxismus in einem anspruchsvollen theore­ tischen Schrifttum entwickelt haben, war in vielem natürlich der welt­ anschaulich ganz anders orientierten Historiographie, Ökonomie oder klassischen Philologie ihrer Zeit entlehnt. Viele Grundannahmen waren mehr oder weniger unumstritten und entsprachen dem Wissen und den geläufigen Vorstellungen ihrer Zeit: Dazu gehörte erstens, dass die Ge­ schichte der Menschheit sich in evolutionären Entwicklungsstufen voll­ zogen habe, von der Stufe der «Wildheit» über die «Barbarei» zur «Zivi­ lisation», also von «Urgesellschaften» über vorstaatliche «Gentil- und Stammesgesellschaften» zu modernen, staatlich verfassten «Klassen­ gesellschaften». Diese Entwicklungen seien zweitens durch den Übergang von einer matrilinearen, vielleicht sogar matriarchalen zu einer patrilinearen und patriarchalen Gesellschaftsordnung geprägt. Hand in Hand damit ha­ ben sich die Einzelfamilie, das (sklavenhaltende, feudale oder bürgerli­ che) Privateigentum und der Staat samt seiner bürokratischen Funktions­ träger und Zwangsapparaturen ausgebildet. Der Motor oder jedenfalls ein Charakteristikum dieser Evolutionen sei drittens die Herausbildung sozialer Gesellschaftsklassen auf Grundlage neuer Produktionsweisen gewesen. In deren inneren und äußeren Kämpfen und Konflikten hätten sich auch die modernen Nationen erst ausgebildet und mit ihnen das eu­ ropäische Kolonialsystem und der Welthandel. Die heutige, globalgeschichtlich vergleichende Historiografie und Ge­ sellschaftstheorie akzentuiert dagegen wieder stärker die selbständige Rolle staatlicher Gewalten und darauf gestützter bürokratischer Appa­ raturen, öffentlicher Institutionen und Funktionseliten, religiöser Insti­ tutionen und ideologischer Legitimationssysteme; und sie betrachtet die Formen und Funktionen eines gegebenen Staats nicht als ein wesentlich aus den Produktions- und Besitzverhältnissen abzuleitendes Phänomen, sondern als eine historische Universalie eigenen Gewichts. Das bedeutet nicht, dass die jeweiligen Produktions- und Besitzver­ hältnisse für die neuere Historiografie bedeutungslos geworden wären. Aber sie sind nicht mehr der alles entscheidende Ausgangspunkt. Dazu kommt, dass aus der Marx’schen Aufzählung der «progressiven Epo­ chen der ökonomischen Gesellschaftsformation» die als «asiatisch» oder «orientalisch» bezeichnete Produktionsweise in aller Regel heraus­ gefallen ist.12 Als «asiatisch» galt eine Produktionsweise, die offenbar von der ältesten bis in die neueste Zeit existiert hat und der im Allgemei­

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nen ein «orientalischer Despotismus» als politische Form zugeordnet wurde – auch das eine lang etablierte europäische Vorstellung von der außereuropäischen Welt und insbesondere den nah- und fernöstlichen Reichen.13 Mit diesen großen östlichen Reichen fängt die Geschichte der ganzen höheren menschlichen «Zivilisation» aber nun einmal an. Dann stimmt allerdings etwas in der historischen Ableitungskette der «Entstehung der Familie, des Privateigentums und des Staates» nicht. Zuerst, so scheint es, war da der Staat, unter dessen Schirm sich die aus ihrem Sippen­ verband herausgelöste Einzelfamilie überhaupt erst entwickelt hat (eine Urhorde oder -sippe war ja gerade keine «Familie»). Und was das «Pri­ vateigentum» betrifft, so spielte es in der Formation der frühen fiska­ lisch-tributären Reiche und Gesellschaften zunächst noch eine deutlich untergeordnete Rolle. Dass die materielle Lebensproduktion, also die Beschaffung und Auf­ bewahrung von Nahrungsmitteln, das Sich-Kleiden und -Behausen mit­ samt der dafür notwendigen arbeitsteiligen Herstellung von Werkzeugen einschließlich Jagdwaffen die primäre Grundlage jeder Gesellschaftsbil­ dung ist, liegt auf der Hand. Aber als Nächstes kommt dann schon die Sicherung der Fortpflanzung der Sippe, des Clans oder Stamms, verbun­ den mit der Regelung des Geschlechtsverkehrs und der Geschlechter­ beziehungen. Damit dürfte sich in der Formation der Urhorden und Stämme ein evolutionsbiologisches factum brutum geltend gemacht ha­ ben, das für Phantasien einer frühen, womöglich generellen «matriar­ chalen» Lebensordnung nicht viel Platz lässt. Es geht dabei, nochmals, um die Gewalt als Faktor eigenen Gewichts, dessen Eigendynamiken sich nicht aus etwas Anderem, Drittem, sozio­ ökonomisch Fassbarem, politisch Intentionalem, motivatorisch Berechen­ barem ableiten lassen.14

Staaten, Kriege, Religionen Was die tatsächliche und habituell geübte Gewalt in den vor- und früh­ staatlich organisierten Gesellschaften angeht, sind wir heute dank der Untersuchungen von Ethnologen wie von «forensischen Archäologen» nicht mehr auf Vermutungen angewiesen. Viele Funde jahrtausendealter menschlicher Überreste tragen Spuren von Gewalteinwirkung an sich. Der im Gletschereis konservierte «Ötzi», ein 5000 Jahre alter Mann aus

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der europäischen Bronzezeit, war nicht nur, wie sich herausstellte, durch einen Pfeil umgekommen, sondern wies auch zahlreiche Schnittwunden auf, während sich auf seinen eigenen Waffen das Blut von vier anderen Menschen fand.15 Eine Auswertung von Dutzenden, zwischen 14 000 und 2000 Jahre alten Skeletten, die von allen Kontinenten stammten, er­ gab einen Durchschnitt von 15 % gewaltsam zu Tode Gekommenen – und das nur nach den eindeutig feststellbaren Todesursachen. Viele der friedlich oder gewaltsam Gestorbenen lebten in befestigten Plätzen und hatten Schilde oder Waffen bei sich, die nicht für die Jagd taugten, son­ dern nur für Kampf und Krieg. Das sind exorbitant hohe Ziffern, die sich mit den Beobachtungen von Ethnologen unter einigen der gut erforschten, bis heute in sogenannten primitiven Gesellschaften lebenden Stämmen durchaus decken. So ist man unter Auswertung archäologischer Funde, eigener Befragungen und historischer Quellen zu der Schlussfolgerung gelangt, dass über 90 % der untersuchten oder befragten Stämme Kriege erlebt haben, fast 70 % sogar endemische, im Durchschnitt alle zwei Jahre aufflammende be­ waffnete Konflikte.16 Einige Forscher haben sogar den Nachweis zu führen versucht, dass dieser hohe Gewaltpegel sich  – zumindest in Relation zur Größe der ­jeweiligen Gesellschaften – über die Jahrtausende hinweg, trotz und teil­ weise wegen der gesteigerten staatlichen Gewaltmittel, erheblich ver­ ringert habe.17 Eine solche Generalthese nimmt sich mit Blick auf die epochalen Rückfälle des 20. Jahrhunderts beinahe frivol aus. Aber als Widerspruch zu der geläufigen Überzeugung einer schicksalhaften, im Kern unveränderlichen, eben «anthropologischen» Gewaltneigung der Menschen ist sie erst einmal sehr produktiv, historiografisch wie poli­ tisch. Schon der britische Militärhistoriker Sir John Hackett hatte den Pelo­ ponnesischen Krieg als das früheste Beispiel eines totalen Krieges be­ zeichnet. Historiker der Geschichte Roms sind darin einig, dass die Kriegführung der römischen Heere der etablierten Praxis der alten orien­ talischen Reiche folgte, den Ruhm ihrer Feldherren an der Zahl der ge­ töteten Feinde zu messen und die Bevölkerungen eroberter Städte einer vollständigen «Strafvernichtung» zu unterwerfen18; allerdings wohl nur noch dann, wenn es sich aus irgendeinem Grund nicht lohnte, diese ­Populationen als menschliche Beute in die Sklaverei zu führen. Dagegen oder daneben steht die gesellschaftsbildende Kraft des Krie­ ges inmitten aller Destruktivität. Für Heraklit, Sohn des Priesterkönigs

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von Ephesos, der in seiner Lebenszeit von 520–460 v. Chr. Zeuge der de­ mokratischen Umbrüche in vielen griechischen Städten wurde, setzt sich der «Logos», das (göttliche) Weltgesetz, erst im Feuer steter Ver­ wandlungen und Umbrüche, Kriege und Konflikte durch. In ihnen kommt  – wie bei einem Gottesurteil  – die Sache dann eben zur Ent­ scheidung. Deshalb galt Heraklit der Krieg, der nach innen wie nach außen eine Machtordnung herstellte, als «der Vater und der König aller Dinge, die einen erweist er als Götter, die anderen als Menschen, indem er diese zu Sklaven und jene zu Herren macht».19 In der Sprache einer heutigen historischen Soziologie heißt das: «Staaten machen Kriege, aber Kriege machen auch Staaten».20 Großer staatlicher Einheiten hat es jedenfalls bedurft, um den materiellen wie den kultu­ rellen Produktivkräften die nötigen Spielräume zu verschaffen. In den Kriegen entwickelten sich die organisatorischen wie die technischen ­Potentiale der beteiligten Gesellschaften, oft indem sie in forcierter Weise mobilisiert und chaotisch miteinander verwirbelt wurden – wie zum Bei­ spiel in den Zügen Alexanders des Großen bis nach Indien, die ein flüch­ tiges Unternehmen blieben und trotzdem tiefe, dauerhafte Spuren in ­allen Kulturen, die davon berührt wurden, hinterließen. Zugleich wurden seit jeher die inneren Friktionen durch Kriege nach außen hin abgelenkt. Gerade in den alten Gesellschaften, in Griechen­ land oder in Rom, aber auch in den orientalischen Reichen, zogen be­ waffnete Aufgebote von Bürgern oder Untertanen in den Krieg, um Beute zu machen, Land oder Sklavinnen und Sklaven zu gewinnen und so ihre inneren Spannungen abzubauen. Soweit Kriege, wenn sie erfolgreich waren, die Zentralmacht stärk­ ten, konnten sie nach innen hin pazifizierend wirken – trotz oder gerade wegen des Despotismus der Staatsmacht. Noch beunruhigender mag man die weitergehende Feststellung finden, dass in den endemischen Kriegen und Konflikten der menschlichen Geschichte sich offenbar erst viele der höheren sozialen Fähigkeiten zur Kooperation und Kommuni­ kation sowie zur technologischen Innovation ausgebildet haben. Sie erst haben die Bildung von Städten und Stadtstaaten, kleinen und großen Reichen ermöglicht, ja erfordert – wie überhaupt die Verfeinerung der Waffentechnik allenthalben mit der der Werkzeugherstellung Hand in Hand ging, so wie die militärische mit der politischen und sozialwirt­ schaftlichen Organisation der jeweiligen Gemeinwesen auch. In der Regel waren Krieg und Frieden, friedlicher Handel und bewaff­

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neter Raub (vor allem auch Menschenraub) untrennbar vermischt. So­ gar «primitive», vorstaatliche Gemeinwesen konnten bereits entlang der Meeresküsten und über die großen Flüsse, durch Wüsten und über unzu­ gängliche Bergmassive hinweg erstaunlich ausgedehnte Handels- und Austauschbeziehungen entwickeln – mit allen erwartbaren Folgen arbeits­ teiliger und hierarchischer Differenzierungen, früher Geldwirtschaft und Reichtumsakkumulation. Die Materialien, die «Ötzi» bei sich trug, stammten aus einem Einzugsbereich von mehreren hundert Kilometern. Es waren allerdings selten einzelne Individuen, sondern in der Regel ganze Stämme, Städte oder Reiche, die in diesen äußeren Austausch ein­ traten; und auch deshalb siedelte der frühe Warenhandel an den Rän­ dern, nicht in der Mitte dieser Gemeinwesen, oder er wurde überhaupt fremden, darauf spezialisierten Zwischenvölkern wie etwa den Phöni­ ziern überlassen. In diesen inner- und zwischengesellschaftlichen Arbeitsteilungen, Kon­ takten und Konflikten bildeten sich auch die individuellen Fähig­keiten und damit die Individuen selbst, ob als Entdecker, Seefahrer oder Krieger (was mehr oder weniger zusammenfiel), als Künstler, Sänger, Geschichts­ schreiber, Philosophen oder Lehrer, und natürlich als Herrscher und Feld­ herren, als Hohepriester und Verwalter. Porträts und Grab­reliefs aus dem alten Ägypten zeigen idealisierte, aber auch schon individualisierte Ge­ sichter, auch von hochgestellten Frauen oder von Ehepaaren, und sie ­erzählen detaillierte, teilweise sehr persönliche Lebens­geschichten – die allerdings alle in einen mythisch-religiös begründeten Zyklus von Leben und Nachleben, Geburt und Wiedergeburt eingebunden blieben, und da­ mit in das große, kosmische Ganze. Die Bewahrung und Überlieferung der religiösen Erzählungen und da­ rin eingelagerten ethischen Regelwerke mit ihren Geboten und Verbo­ ten, die der Auslegung bedurften, erforderte früher oder später speziali­ sierte Priesterschaften  – eine Entwicklung, die mit der Herausbildung von Fürsten- und Königtümern, von Staaten und Großreichen mit besol­ deten Beamtenschaften und Armeen Hand in Hand ging. Denn diese neu errichteten Machthierarchien und -apparate bedurften ihrerseits stets ­einer religiösen Begründung und Heiligung, aber auch der Beratung in Form von Orakeln usw., sofern sie nicht von vornherein die theokra­ tische Form eines Gott- oder Priesterkönigtums annahmen. Tempelbau­ ten wurden daher zu den organischen Zentren dieser ersten staatlichen Gemeinwesen, um die herum sich die städtischen Siedlungen, vielfach zunächst als Agglomeration umliegender Dörfer, anlagerten.

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Die schiere Größe dieser ersten staatlich verfassten Gemeinwesen, die bald Zehntausende oder Hunderttausende von Menschen umfassen konnten, erforderte über den Unterhalt größerer Beamten- und Priester­ schaften hinaus Formen einer sichtbaren, möglichst prunkvollen obrig­ keitlichen Repräsentation als dem Signum einer gottgleichen Macht. Um diesen politisch-sakralen Überbau zu tragen oder auch zu «finan­ zieren», bedurfte es umgekehrt einer gesteigerten und militärisch gesi­ cherten, in den nahöstlichen oder fernöstlichen Hochkulturen zudem durch aufwendige Bewässerungssysteme organisierten Agrikultur, die erst die nötigen, als Tribute abgeschöpften Überschüsse liefern konnte. Diese mussten über angelegte Straßen transportiert und in feste Lager­ häuser geschafft werden – was nach einer ungeschriebenen Regel auch die Verpflichtung der Machthaber zur Unterstützung ihrer Untertanen im Falle von Hungersnöten einschloss, verbunden mit dem Schutz vor äußeren Feinden. Klar ist auch, dass solche komplexeren Gemeinwesen einer Menge anderer, handwerklich oder schon manufakturmäßig herzustellender ­ Gegenstände des Massenkonsums bedurften, und damit wiederum eines sich erweiternden Netzes interner wie externer Tausch- und Handels­ beziehungen. Soweit Geld diese Austauschbeziehungen vermittelte, stammte es weniger aus diesen kommerziellen Transaktionen selbst, in denen auch andere Güter wie Metallgefäße, Salz oder Vieh die Funktion eines Zahlungsmittels einnehmen konnten. Als Münzgeld stammte es in allererster Linie aus Tributen, Steuern und Opfergaben, also aus regel­ mäßigen, fixen Abgaben, und war in diesem Sinne wieder primär «poli­ tischen», nämlichen staatlichen Ursprungs. Die Prägung war denn auch weniger eine offizielle Garantie des Gehalts an Edelmetallen, sondern ­zunächst ein Akt sichtbarer staatlicher Macht oder in Griechenland der Einheit der Polis.21 Tribute und Tausch bedurften erster Formen einer Buchführung, in Ton­scherben geritzter oder auf Rinden und Häute gezeichneter Zahlenund Zeichensysteme, die die Anfänge der Schriftlichkeit wie der Mathe­ matik markieren und bald auch für die Aufzeichnung der religiösen ­Erzählungen und Gebote wie der kosmischen Phänomene genutzt wur­ den; so zuerst wohl in Ur oder Uruk, der ersten, von bis zu 40 000 Ein­ wohnern bevölkerten «Megacity» der alten Welt, rund 3000 Jahre vor Christus.22 Aber damit waren die Menschen nicht mehr allein den Naturgewalten und kosmischen Geschehnissen ausgeliefert, sondern dazu auch einem

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arbeitsteiligen und herrschaftlichen Sozialverband, der für die Einzelnen neue existentielle, vielfach undurchschaubare und nicht hinterfragbare Abhängigkeiten schuf. In diesen ersten städtischen Zen­tren waren die Bewohner einander Fremde, Mitglieder der unterschiedlichen Clans oder Stämme, für die es keinen festen Codex des Umgangs wie unter Fami­ lien- oder Stammesgenossen mehr gab. Es bedurfte somit abstrakter, all­ gemein gültiger, ziviler Gesetze sowie eines (zumindest ­ideellen) «Gesell­ schaftsvertrags» zwischen Herrschern und Beherrschten – alles Setzun­ gen und Akte, die ihrerseits einer religiösen Sanktionierung und ständi­ gen rituellen Bekräftigung bedurften. Religion war also primär die Feier der erweiterten Gemeinschaft, des Staates, des Herrschers, die zu einer Naturgewalt zweiter Ordnung ge­ worden waren. Insofern ist kaum zu ermessen, welche geistige, politi­ sche und soziale Revolution es bedeutete, als zum ersten Mal vor mehr als dreitausend Jahren in der ägyptischen Welt die Vorstellung eines «Monotheismus» auftauchte, der exklusiven Herrschaft und Allmacht eines einzigen Gottes, der keine anderen Götter neben sich duldete.

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Das verstörende Erbe der Alten

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ast alle religiösen oder philosophischen Erzählungen der Menschheit spitzen sich, jedenfalls in ihren frühen Fassungen, auf eine radikale ­Negation alles historisch Gewordenen und von Menschen Gemachten zu. Damit wird das Herausarbeiten der «Sterblichen» (wie die Griechen die Menschen nannten) aus ihrem vor- oder frühgeschichtlichen Mutter­ schoß, ihr Heraustreten aus einem mythischen Urzustand ungetrennter, ursprünglicher Einheit, in immer neuen Wendungen als schuld- und fluch­ beladen geschildert. Das Erschrecken noch des modernen Lesers wird nur wenig durch die wissenschaftlichen Deutungen gemildert, dass es sich bei den ver­ schiedenen Ursprungs- und Grundlagenerzählungen fast immer um verschlüsselte Erinnerungen oder traumhafte Erinnerungsreste an rea­le, frühgeschichtliche Ereignisse und Entwicklungen oder an bestimmte ­historische Katastrophen gehandelt haben dürfte. Was immer moderne Archäologie, Philologie oder Ethnologie in den letzten 150  Jahren an einschneidenden Ereignissen der Menschheitsgeschichte oder an «Revo­ lutionen» der Produktions- und Lebensweisen herausgearbeitet haben, scheint in den frühen, anfangs nur mündlich tradierten, dann aufge­ zeichneten Sagen und Legenden der verschiedenen Kulturen ein Echo ­gefunden zu haben; so wie sich vermutlich auch die Spuren erdgeschicht­ licher Katastrophen oder großer Umwälzungen in wiederkehrenden Er­ zählungen wie denen über eine «Sintflut» und eine «Arche Noah», den Untergang von «Sodom und Gomorrha» oder von «Atlantis» wiederfin­ den lassen. Dabei haben wir es bei allen großen religiösen und geistigen Traditio­ nen der Welt – dem mosaischen Judaismus wie dem östlichen und dem westlichen Christentum, dem Islam in seinen Verzweigungen, dem Hin­ duismus, dem Buddhismus und dem Shintoismus, dem Konfuzianismus oder dem Taoismus  – durchweg mit langwierigen, immer erneuerten Prozessen der Überlieferung und zeitgemäßen Anverwandlung mündlich oder schriftlich überlieferter historischer Stoffe zu tun.

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Die historische Existenz der Stifter aller großen Menschheitsreligio­ nen und Lebenslehren liegt weithin im Dunkeln oder ist überhaupt frag­ lich. Von keinem einzigen sind direkte Zeugnisse überliefert – weder von Moses noch von Sokrates, weder von Lao Tse noch von Konfuzius, we­ der von Zoroaster noch von Gautama Buddha, weder von Jesus noch von Mohammed, obwohl sie allesamt schon in einer Zeit routinierter Schriftlichkeit gelebt haben. Das kann man jedenfalls sehr viel verwun­ derlicher finden als die verspätete Aufzeichnung der allerfrühesten, münd­ lich tradierten mesopotamischen und biblischen Ursprungsmythen, der indischen Veden oder der Götter- und Heldensagen der Griechen, die lange vor dieser «Achsenzeit» entstanden sind. Mit den Augen eines modernen Menschen gesehen, ähneln nicht ­wenige dieser Großen Erzählungen psychotischen Zwangsgedanken oder kind­ lichen Alpträumen; nicht anders freilich als die Volksmärchen fast aller Kulturen es auch tun, nur dass diese nicht den Status heiliger Schriften haben. In den «Ältesten Geschichten der Welt», wie sie in den mesopotamischen Hochkulturen aufgezeichnet worden sind, entsteht die Welt der Men­ schen zunächst als eine Folge oder ein Nebenprodukt der wüsten Kämpfe der Götter und Halbgötter, der bösen und guten Geister, die mit den ­Naturelementen identisch sind, sowie kosmischer Ungeheuer, die sich in den Sternzeichen abbilden. Von irgendeiner gütigen göttlichen Hand ist hier keine Rede, im Gegenteil: Nach dem siegreichen Ende des «Kriegs der Götter» ließ der zum Obergott Babylons ernannte Marduk den An­ führer der himmlischen Gegenfronde vorführen, «schnitt sein Haupt ab und schnitt seine Adern auf, und aus den Knochen und dem Blut formte er eine Puppe, die Mensch genannt wurde». Diese belebte Puppe namens Mensch aber war ihrer üblen Herkunft gemäß ausschließlich dazu be­ stimmt, «den Göttern zu dienen und ihren Wünschen nachzukommen» – also ihr Sklave zu sein.1 Umso erstaunlicher wird man die philosophische Kühnheit und dra­ matische Bewegtheit des frühesten, schriftlich überlieferten Epos’ der Menschheit überhaupt finden  – das eine nicht unähnliche und doch schon ganz andere Version liefert: die Geschichte (oder Sammlung der Geschichten) vom sumerischen Urkönig Gilgamesch.2 Dieser ist zu zwei Dritteln göttlich und zu einem Drittel menschlich, ein Gottmensch und ein kriegerischer Heros, aber auch ein schrecklicher Despot, der über Ur oder Uruk herrscht und der Erbauer dieser ersten großen, ummauerten

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Stadt ist.3 Dafür beutet er seine Untertanen maßlos aus, trennt sie von ihren ländlichen Wurzeln, lässt sie von seinen Gouverneuren, Steuer­ eintreibern und Soldaten drangsalieren  – bis die göttliche Urmutter ­Aruru, die die Menschen einst aus Lehm geschaffen hatte, die Klagen des bedrängten Volks erhört und das ungezähmte, unter den Herden in der Steppe lebende, mächtige Tierwesen Enkidu gegen Gilgamesch in Stel­ lung bringt. Gilgamesch aber, der davon erfährt, entfremdet auf listige Weise En­ kidu seinen Tiergefährten, indem er ihm ein verführerisches Menschen­ mädchen zuführen lässt, dessen Reiz der Wilde erliegt. Sie gibt ihm Bier zu trinken, wäscht, kämmt und kleidet ihn in feine Gewänder, kurzum: sie vermenschlicht ihn. Als der so vom Viertel- zum Halbmenschen ge­ wordene Enkidu beim Tempelfest endlich Gilgamesch entgegentritt, da kämpft der zwar mit ihm, aber macht ihn sich schließlich zum Freunde: der Halbgott den Halbmenschen also. Gemeinsam besiegen sie nun die von den Mächten der Finsternis gesandten Ungeheuer, wie das Untier Chuwawa, nicht ohne den heiligen Zedernwald, in dem es gehaust hat, abzuholzen und in großen Reichtum zu verwandeln. Die Werbungen der verführerischen Stadtgöttin Ishtar, die Gilgameschs Schönheit und Stärke verfallen ist, schlägt dieser aus, weil die Göttin stets treulos ist und ihre Liebhaber am Ende ins Verderben stürzt  – um den furchtbaren Preis, dass die blamierte Stadtgöttin aus Eifersucht seinen treuen Gefährten Enkidu hinsiechen und sterben lässt, also ihn durch den Tod des Freun­ des bestraft. Der von Gram zerfressene Gilgamesch begibt sich nach dem Tod des zum Menschen gewordenen Enkidu auf die Suche nach Unsterblichkeit. Er hört nicht auf die Stimme einer Wirtin, die ihm rät zu bleiben: «Wohin willst du noch laufen? Das Leben, das du suchst, wirst du nicht finden!» Er solle sich lieber dem Glück zuwenden, seinen Bauch füllen, tanzen und spielen, sich schön kleiden und ein ganzer Mensch werden: «Blick auf das Kind, das an die Hand dich fasst, beglückt sei die Frau an deiner Brust – denn solches alles ist der Menschen Lust!»4 Stattdessen begibt Gilgamesch sich auf eine lange Reise, die ihn durch Wälder, Wüsten, paradiesische Gefilde (den Garten Eden?) und einen ­Totenfluss schließlich auf eine Insel am Ende der Welt führt, auf welcher der Weise Utanapischti wohnt, der die Sintflut überlebt und Menschen wie Tiere gerettet hatte (der Noah der biblischen Überlieferung also) und der nun das Geheimnis des Lebens hütet. Zwar gibt dieser seinem Besu­ cher nicht die erhoffte Pflanze der Unsterblichkeit, aber er sagt ihm, wo

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in den Tiefen des Ozeans eine Rose zu finden ist, die ihm ein langes Le­ ben sichert. Doch als Gilgamesch sie unter titanischer Mühe endlich ans Licht geholt hat, schläft er erschöpft ein – nur um zu erleben, dass die Rose ihm von einer Schlange, der Verkörperung des Bösen, gestohlen worden ist. Sie ist es, die sich häutet und durch seine frevlerische Ver­ messenheit unsterblich geworden ist. So kehrt Gilgamesch von seiner Odyssee schließlich in seine Stadt Uruk zurück, dient ihr fortan als vermenschlichter Herrscher, baut ihre großen Stadtmauern und Tempel, in denen den nun von den Menschen klarer geschiedenen Göttern gehuldigt wird, noch schöner aus, bevor er als fast zweihundertjähriger Greis dem Tod ins Auge schaut. Durch die Überlieferung seiner Ruhmestaten unter den Menschen und Göttern hat auch er am Ende «Unsterblichkeit» errungen.5 Die große Stadt Uruk, die Mutter der Städte des Zweistromlandes, ist hier bereits der Ort der Zivilisation und des von Menschenhand geschaffenen Reichtums, frei­ lich auch ihrer späteren («babylonischen») Selbstüberhebung. Die Gilgamesch-Legende gehört in den großen Kreis nah- oder fern­ östlicher Ursprungserzählungen, die durchweg von mit göttlicher Weis­ heit oder übermenschlichen Kräften durchdrungenen Reichsgründern, Urkaisern und Herrscherdynastien handeln, die ganz oder zur Hälfte noch der Welt der Götter und Überwesen entstammen. Die altägyptische Gründungslegende vom Pharao Meni ähnelt der vom «Gelben Kaiser» (Huangdi), der als eine Art Urvater aller Chinesen und ein mit göttlichen Kräften ausgestatteter Herrscher vor Jahrtausen­ den inmitten kosmischer Wirren Mensch und Natur versöhnt, das Volk gesammelt und es alle seine späteren Fähigkeiten und zivilisatorischen Errungenschaften gelehrt haben soll – eine mythische Erzählung, die am Beginn des ersten Jahrhunderts v. Chr. von Sima Quian, dem Hofastrolo­ gen der Han-Kaiser, an den Anfang einer ersten Kaiserchronik gestellt worden ist und die heute wieder zum halboffiziellen Staatskult der Volks­ republik China gehört. Am Eingang eines 2006 neuerbauten, ausgedehnten Tempelareals in Shanxi finden sich auf einander gegenüberliegenden, großen Steinstelen je ein kalligraphisches Widmungsgedicht von Mao Tse-tung und von Sun Yat-sen, dem Gründer der Kuomintang, eingraviert, die hier im Zeichen des Urvaters wiedervereint sind. An dem in der Kuomintangzeit errich­ teten kleinen Schrein des «Gelben Kaisers», der sich am Ende der monu­ mentalen Anlage findet, kann jeder Han-Chinese ein Täfelchen mit sei­ nem Clan-Namen finden und seinen Ahnen huldigen – ein alter, lange

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unterdrückter religiöser Kult, der jetzt der neugeschmiedeten völkisch-­ imperialen Glorie des Reichs der Mitte im Zeichen der «Großen Harmo­ nie» und eines «Chinesischen Traums» eingemeindet wird. Über diese eher statischen Reichslegenden ragt das Gilgamesch-Epos allerdings lyrisch wie philosophisch weit hinaus. In ihm hat die Men­ schenwelt sich zum ersten Mal auch selbst ein literarisches Denkmal ­gesetzt: in ihrer irdischen Begrenztheit wie in ihrer gottgleichen Maß­ losigkeit, in ihrer Fähigkeit zu rasender Feindschaft und unerschöpf­ lichem Hass wie zu aufrichtiger Freundschaft und inniger Liebe, in ihrer ursprünglichen, tierischen Wildheit wie in ihrer zivilisierenden Arbeit und Selbstkultivierung, in ihrer materiellen und erotischen Glücksfähig­ keit wie in ihrer Entfremdung von ihren natürlichen Ursprüngen. Ein ungleich monomaneres und düstereres Gepräge tragen im Vergleich dazu die aus einem israelitischen Mythengrund geschöpften, fast eintau­ send Jahre später erst aufgezeichneten biblischen Erzählungen von der Ent­stehung der Welt und der Menschen und von den Schicksalen des aus­erwählten Gottesvolks. Das gilt gerade auch für die «paradiesische» Ursprungserzählung der Genesis (Moses 1). Man muss sie sich erst ein­ mal, so wie die anderen biblischen Geschichten auch, als eine reine Er­ zählung in Erinnerung bringen, um die vielen Schichten theologischer Deutungen und erzählerischer oder bildlicher Anverwandlungen zu durchdringen. Gott hatte, nachdem er die Welt aus dem Chaos erschaffen und als das letzte seiner Geschöpfe Adam, den Menschen, aus Lehm geformt und in den Garten Eden gesetzt hatte, gesehen, dass alles «sehr gut» war. Und als Gott (zu sich selbst) sagte, dass es nicht gut sei, wenn der Mensch allein sei, und ihm aus einer Rippe ein Zweitwesen schnitzte, da w ­ aren Adam und Eva immer noch «Mann und Männin», also zweieinig, ungeschieden auch von Tieren und Pflanzen, reines «Abbild» Gottes und insoweit eben nur eine embryonale, schattenhafte Vorform des Menschen. Die Pointe der biblischen Schöpfungsgeschichte liegt denn auch nicht in irgendeiner sehnsüchtigen Rückerinnerung an diesen «paradiesischen», letztlich unwirklichen Urzustand als vielmehr in der existentiellen Er­ fahrung des «Sündenfalls», der Verstoßung Adams und Evas aus dem Garten Eden, nachdem sie vom verbotenen «Baum der Erkenntnis» geges­ sen und der Versuchung, selbst gottgleich zu werden, nicht widerstanden hatten. Der Preis dieses Urfrevels war, dass sie einander als nackte, ge­ schlechtlich getrennte Wesen «erkannten»; dass Adam sich fortan im

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Schweiße seines Angesichts vom Acker ernähren und dass Eva unter Qua­ len ­gebären musste. Es folgte die tödliche Eifersucht zwischen ihren bei­ den Söhnen. Mit dem Brudermord Kains, des von Gott ungeliebten Ackerbauers, an Abel, dem Viehzüchter, der einem zweiten Sündenfall gleichkam, beginnt die eigentliche Geschichte der Menschen, die sich in einer end­ losen, von Mord und Unzucht geprägten moralischen Abwärtsent­ wicklung bewegt – bis Gott den Reset-Knopf drückt, eine Sintflut die Erde überschwemmen lässt, alle Menschen und Tiere ersäuft und nur Noah und seine Familie samt der Tiere, die sie in ihrer Arche mitfüh­ ren, über­leben lässt. Dieser Zweitstart der menschlichen Geschichte entwickelt sich unge­ achtet aller göttlichen Strafgerichte und bestandenen Prüfungen aber kaum besser. Weiterhin jagt eine Katastrophe die nächste, so beim Turmbau zu Babel, der statt als Medium und Symbol der Wiederverei­ nigung der zerstreuten Stämme zu wirken, zum Zeugnis einer erneuten menschlichen Selbstüberhebung wird, die Gott mit «babylonischer» Sprach­verwirrung und endgültiger Entzweiung, Verfeindung und Zer­ streuung bestraft. Hier wie überall sind die großen Städte, also die ­eigentlichen Ursprungsorte der menschlichen Zivilisation, auch die Orte einer ererbten Sünde, die wiederum auf Kain zurückverweist, der nach dem Brudermord vom Ackerbauer zum ersten Städtebauer ge­ worden war. Was dann allerdings geschieht, als Gott sich endlich seines in ägypti­ scher Gefangenschaft schmachtenden auserwählten Erstvolks (des «Vol­ kes Israel») annimmt und ihm den Weg ins Gelobte Land weist, über­ trifft selbst den Furor der babylonischen Götter: «Aus den Städten dieser Völker jedoch, die der Herr, dein Gott, dir als Erbbesitz gibt, darfst du nichts, was Atem hat, am Leben lassen. Vielmehr sollst du die Hetiter und Amoriter, Kanaaniter und Perisiter, Hiwiter und Jebusiter der Ver­ nichtung weihen, so wie es der Herr, dein Gott, dir zur Pflicht gemacht hat».6 Ebenso wenig gibt es Schonung für die Stammesgenossen, die dem Goldenen Kalb huldigten und daher auf Gottes Befehl von Moses und Aaron hingeschlachtet werden (2 Moses 32,27–28). Noch weniger gilt es für die Kebsweiber, die die erobernden Israeliten zunächst verschont haben, um ihnen beizuwohnen – was sie eben der Gefahr aussetzt, ge­ rade mit deren falschen Göttern infiziert zu werden; weshalb der Herr befiehlt, diese Weiber allesamt zu töten, mit Ausnahme der Jungfrauen; die mögen die Männer «für sich selbst behalten».7

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Moderne Bibelverächter haben dutzende Passagen gezählt, die von Tötungen berichten, die (in moderner Terminologie) genozidalen Cha­ rakter tragen.8 Nichts von alledem ist, wohlgemerkt, historisch ver­ bürgt. Insofern kann man alle diese Passagen, so auch die berüchtigten Fluchpsalmen und Feindvernichtungsgebete aus dem «Psalter», eher wohl als «verbale Kraftakte» verstehen, die darauf angelegt gewesen waren, «die psychopolitische Unwahrscheinlichkeit des Überlebens ­[Israels] in der Zeit seiner Niederlagen zu kompensieren», und so den «Zorn Gottes» als eine exklusive moralische Ressource im Kampf gegen alle Fremdherrscher und Fremdvölker in Anspruch zu nehmen.9 Im ­Übrigen richtete der Zorn Jahwes sich mit womöglich noch größerer Heftigkeit immer wieder auch gegen sein eigenes Volk, das wiederholt mit einer Hure verglichen wird, die sich zahllosen Freiern hingegeben habe, und das daher – wie Jesaja oder Ezechiel ihm ankündigen – durch die Auslöschung der Missratenen immer erneut wie unreines Erz einge­ schmolzen und geläutert werden müsse. Natürlich geht die menschheitsgeschichtliche Bedeutung der Grund­ lagenerzählung vom «Exodus» in einem solchen Referat nicht auf. Man kann sie als eine symbolische Erzählung lesen, die «für jede Form eines radikalen Hinter-sich-Lassens und Aufbruchs zu etwas Neuem, ganz An­ deren stehen kann», und die damit den Beginn einer neuen, messianischen Zeitrechnung markiert. Diese neue Zeitrechnung und dieser Aufbruch ins Gelobte Land sprengte den Rahmen, den die ägyptische Priesterreligion (wie jede alte orientalische Kultur) mit ihren auf ewige Erneuerung der mythischen Ur-Muster angelegten Kulten einer menschlichen Geschichte gesetzt hatte. Zum ersten Mal trat Gott hier durch seine Offenbarung und durch den Bund mit seinem erwählten Volk «aus seiner Verborgen­ heit und Unbegreiflichkeit heraus».10 Aber das ändert nichts daran, dass die biblische Kerngeschichte in ­ihrer Härte und Unbedingtheit die vielleicht erschreckendste der Ur­ sprungserzählungen dieser Welt ist, gerade weil sie von «Sterblichen», nicht von Göttern und Halbgöttern handelt. Unter der erdrückenden Macht der mit immer neuen Vernichtungsdrohungen bewehrten gött­ lichen Gebote und Verbote erscheinen die Menschen zwar nicht mehr als Puppen und Sklaven der Götter, aber dafür als «Geschöpfe» ihres ­unsichtbaren und unnennbaren, dennoch bedrängend präsenten, unend­ lich erzürnten Herrn, die zu eigenen Wünschen, Gedanken und sitt­ lichem Handeln immerzu aufgerufen, aber kaum fähig sind. Was in die­

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ser post-ägyptischen Finsternis bleibt, ist allein die Hoffnung auf die An­ kunft des Messias, der die Perspektive einer «Rückkehr» eröffnet – nicht ins ursprüngliche Paradies, das durch den Engel mit dem Flam­ menschwert versperrt ist, aber doch in einen «neuen Himmel und eine neue Erde». In der christlichen Interpretation gilt dies allerdings nur für jene weni­ gen Gerechten, die am Tag des Gerichts nicht unter die große, dunkle Masse der Verdammten gestoßen, sondern ins Reich der Seligen erhoben werden. Dieses neue himmlische Paradies, mal als Garten (ein neues «Eden»), mal als Stadt («das neue Jerusalem») ausgemalt, kennt keinen Unfrieden mehr, weder Krankheit noch Arbeitsmühe; aber deshalb auch nicht mehr Mann und Frau, sondern nur noch ein seliges, trieb- und tatenloses Hindämmern. Ob das wirklich menschlichen Sehnsüchten ­ entspricht (außer der «Erlösung von allen Übeln»), diese philosophische Frage stellt sich im Grunde nicht, weil das eigentliche Menschen­ geschlecht mit dem Endgericht auch schon wieder erloschen sein wird – im Himmel oder in der Hölle.

Die absteigenden Weltzeitalter Kaum weniger befremdlich, abgründig und zwiespältig als die mesopo­ tamischen oder die biblischen Ursprungsmythen sind die der Griechen, wie sie zuerst in Hesiods im 8. Jahrhundert v. Chr. in Verse gefasster «Theogonie» in eine gewisse Ordnung gebracht und überliefert worden sind. Wie in der babylonischen Erzählung vom Krieg der Götter geht es auch darin zunächst einmal um die chaotische Entstehung der Welt und der Göttergeschlechter selbst in einer schier endlosen Kette von Kämp­ fen und erstaunlichen Zeugungsakten. Erst in Hesiods zweiter Dichtung «Tage und Werke» erscheinen die Menschen auf der Bühne, ohne aller­ dings zunächst mehr zu sein als ein Spielball der Götter. Hier findet sich in ihrer ersten, klassischen Form die Geschichte vom «Goldenen Zeitalter», die ähnlich wie das christliche «Paradies» zu ­einer festen Formel der europäischen Neuzeit und Moderne geworden ist. Hesiods erstes, «goldenes Geschlecht», das «wie Götter von Sorgen befreit», «fern von Mühen und Trübsal», von den Früchten des «nah­ rungsspendenden Saatlands» sich nährt und nach einem langen Leben «wie vom Schlummer bezwungen» dahinscheidet, ähnelt in seiner ge­ schlechtslosen, seligen Indifferenz noch ganz dem blassen biblischen Ur­

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paar, so wie es in den nahöstlichen Ursprungserzählungen vom «Garten Eden» Gestalt angenommen hatte. Dieses «Goldene Zeitalter» der Griechen stand unter der Schirmherr­ schaft des Titanen Kronos (bei den Römern Saturn), dem Sohn der Ur­ mutter Gaia, der Erde, und des Uranos, des Himmelsgotts. Angestiftet von seiner Mutter, hatte Kronos sich in einem Putsch selbst zum obers­ ten Weltenherrscher aufgeschwungen, indem er seinen Vater entmannt, also entmachtet, und dessen Glied ins Meer geworfen hatte, worauf sich weißer Schaum entwickelte, in dem die Liebesgöttin Aphrodite heran­ wuchs. Aus Angst, dasselbe Schicksal zu erleiden, fraß Kronos seine mit der Rhea gezeugten Kinder gleich nach der Geburt auf – bis der jüngste, von der Mutter gegen einen Stein vertauschte und schließlich heran­ gewachsene Sohn Zeus seinen schlafenden Vater seinerseits entmannte und zwang, alle Geschwister wieder auszuspucken. Wieder befindet man sich also in einem psychotisch anmutenden Alptraum, wie ihn Kinder träumen. Erst mit diesem abermaligen Urverbrechen schwang Zeus sich zum Oberhaupt einer von den Olympiern dominierten neuen Götterwelt auf. Aber mit Kronos verschwand auch das «Goldene Geschlecht», das auf eine Insel der Seligen verbannt wurde, während ein nachfolgendes «Sil­ bernes Geschlecht» wegen mangelnder Ehrfurcht und allgemeiner Dege­ neration bald ebenfalls im Reich der Schatten verschwand. Auch ein drittes «Ehernes (bronzenes) Geschlecht», das nichts als Krieg und Ge­ walt im Sinn hatte, verschwand bald ruhmlos im Hades.11 Fast schien damit die Geschichte der Menschen schon wieder beendet. In einem unklaren Verhältnis steht dazu die zweite, in den Fundus der Moderne eingegangene Schöpfungsgeschichte der Griechen: die von Prometheus, dem Abkömmling des mit den Olympiern verwandten und rivalisierenden Geschlechts der Titanen, deren rebellischer, erfinderi­ scher, suchender Geist sich mit Zeus und seiner olympischen Geschwis­ terschar immer von Neuem maß. Bringt man das Durcheinander dieser in hundert Variationen überlieferten Götter- und Titanenkämpfe in eine halbwegs kohärente erzählerische Ordnung, dann entstand der bedeu­ tendste ihrer Konflikte aus der Schöpfungstat des Prometheus, der zur Erde herabstieg, um sie mit aus Lehm geformten Geschöpfen zu bevöl­ kern, denen er, ähnlich wie der biblische Gott, seinen Atem einhauchte. Als letztes erschuf auch Prometheus die Menschen, aber nicht nur ein einziges Urpaar, sondern viele mit unterschiedlichen Eigenschaften, und lehrte sie entsprechend ihren Fähigkeiten, die Tiere zu zähmen, den

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Acker zu bebauen, Handwerke auszuüben, die Meere zu befahren und Künste zu treiben. Schließlich forderte er für sie das himmlische Feuer, stahl es von Helios’ Sonnenwagen und brachte es den Menschen – nur um endgültig den tödlichen Zorn des Zeus zu erwecken, als dessen Her­ ausforderer er damit auftrat. Der ließ Prometheus als himmlischen Rebellen und Verräter gefangen nehmen und verurteilte ihn zur ewigen Ankettung an einen Bergfelsen, während ein Geier täglich von seiner Leber fraß, dem Sitz der Leiden­ schaften und des Eros. Dem frisch gebackenen Menschengeschlecht aber ließ der rachsüchtige Gottvater durch eine eigens für diesen Zweck ge­ schaffene schöne Jungfrau die «Büchse der Pandora» überbringen, wel­ cher, vom einfältigen Bruder des Prometheus geöffnet, alle Übel der Welt wie Krankheiten, Zwietracht, Habgier entströmten – während die Hoff­ nung in der Büchse verschlossen und den Menschen versagt blieb. Gegenüber den biblischen Überlieferungen weist die Prometheus-Sage Ähnlichkeiten, allerdings auch markante Unterschiede auf. Sind in der biblischen Geschichte die beiden ersten Menschenwesen selbst die Fre­ velnden, so ist die Einflößung von (göttlichem) Wissen und Können, wie zuletzt die Zähmung des Feuers, hier eine fatale Gabe des Halbgotts Pro­ metheus an seine eigenen Geschöpfe, während das vergiftete Geschenk des Zeus, die «Büchse der Pandora», der rasenden Eifersucht des Him­ melsoberhaupts entspringt. Und wie in der Bibel Eva, das Weib, die Ver­ sucherin des arglosen Adam ist, so ist es auch in der griechischen Ge­ schichte «das schöne Übel», das Urweib Pandora, auf Zeus’ Wunsch hin durch den Handwerkergott Hephaistos geschaffen, welches «die letzte unversiegbare Quelle des Elends für die Menschheit» darstellt (so der Mythenforscher Karl Kérenyi). War das «goldene Geschlecht» des ersten Zeitalters in seinem wunschlosen Glück asexuell, so kommt mit dem vom Manne getrennten und begehrten Weib der Eros in die Welt, und mit dem Eros alle übrigen Sünden, Elend und Zwietracht. Damit beginnt hier wie dort die eigentliche Geschichte der Menschwerdung, die eine Ge­ schichte des Abstiegs und des moralischen Verfalls ist. Und Zeus, der vo­ raussah, dass er mit Pandora, der ersten Frau, den Menschen «ein Übel» bringen ließ, «das allen Freude bereitet im Herz, wenn ihr eigenes Weh sie umarmen», er «lachte heraus, der Vater der Menschen und Götter».12 Tatsächlich drehen sich nahezu alle Konflikte der kämpfenden Heroen und Parteien um die Frauen, aber dies in einer seltsamen Melange geiler Begierde, «raptiver Gewalt»13 und kläglicher, pueriler Liebesbekundun­ gen an die eigenen Ehefrauen oder die göttlichen Mütter.

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Aus dem asketisch-bäuerlichen Ethos, das Hesiod in seinem zweiten großen Lehrgedicht «Werke und Tage» predigte,14 lässt sich im Übrigen schließen, dass für ihn die homerischen Heroen mit ihren starren aristo­ kratischen Tugenden einer dem Aussterben geweihten, vergangenen Zeit angehörten. Mochte die Verschlechterung der Charaktere der Menschen­ geschlechter unaufhaltsam weitergehen, so hatten die Menschen doch – so könnte man aus seiner vieldeutigen Dichtung schließen – durch alle Katastrophen und Irrfahrten hindurch an Wissen und Können dazuge­ wonnen, ihr Leben verbessert und reicher gemacht. Nur, und das ist die Pointe dieser Hesiod’schen Welt- und Lebenslehre: Dies alles verkehrte sich immer wieder in sein Gegenteil. Jeder materielle Fortschritt steigerte nur die moralische Zersetzung und Auflösung aller geheiligten Bande und Verpflichtungen, ob gegenüber den eigenen Eltern, den Gastfreunden oder den Höhergestellten. Ehrliche Arbeit und Lebens­ führung wurden durch Ehrlosigkeit und Habgier übervorteilt und ent­ wertet; der fleißige Schiffbau führte vom Seehandel zum Seeraub, die Festlegung der Ackergrenzen zur Aufhebung der Gemeingüter, der Berg­ bau diente zur Produktion von Waffen statt von Werkzeugen. Nur ein Licht fiel ins Dunkel dieser Eisenzeit: Es waren die Musen selbst, die den Eingangsversen zufolge ihn, Hesiodos aus Askra, mit Lor­ beer gekrönt, ihm göttlichen Gesang eingehaucht und so erst befähigt hatten, die Schöpfungsgeschichte der Götter wie der Menschen zu be­ richten und zu besingen. Somit ist er, der Dichter selbst, der einsame ­Hüter des göttlichen Funkens – und tritt in allen Beschwörungen von an­ gestammter Sitte und verbindlicher Gemeinschaft als eines der frühen großen Individuen aus der Menge hervor. Mehr noch: In der Gestalt ­Hesiods betritt, nicht lange nach Homer als dem Sänger kriegerisch-aris­ tokratischer Tugenden, der plebejisch-bodenständige Dichter die Bühne, in einen viel engeren Lebenskreis gebannt als jener, aber nicht ohne Selbstbewusstsein, wenn er das redlich Selbsterarbeitete und Selbster­ worbene moralisch über hohe Geburt und ererbten Reichtum stellt.15 Ein großes Individuum ist aber auch er nur oder gerade deshalb, weil aus ihm als dem begnadeten Sänger das kosmische Ganze, die große Ge­ meinschaft und ein göttliches Gesetz, spricht, das er verkündet und dem er durch alle Härten und Gefährdungen seiner Existenz hindurch selbst treu folgt.

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Verloren ist das große Dau Den unsinnlichen, körperlosen Paradiesvorstellungen der Christen oder dem ähnlich körperlosen «Goldenen Geschlecht» der Griechen entspre­ chen viele der asiatischen Welt- und Lebenslehren. Auch hier wirken so etwas wie «Erinnerungen» an ein einträchtiges, stationäres, «kommunis­ tisches» Leben fort, als die Menschen der Vorzeit in ursprünglich-natür­ licher Art, in Unschuld und Ungetrenntheit lebten. So wenn es in einer der bedeutendsten und frühesten dauistischen (taoistischen) Schriften heißt: «Zu jener Zeit gab es weder Pfade über die Berge, noch führten Boote oder Brücken über die Gewässer. Die Dinge gediehen in Eintracht  … Die Menschen lebten gemeinsam mit den ­Vögeln und den Tieren und bildeten mit allen Dingen eine Sippe. Konn­ ten sie da etwa von einem Unterschied zwischen Herr und Knecht wis­ sen? Solange die ‹reine Unverdorbenheit› währt, bewahrt die Natur des Volks ihr Ureigenstes.»16 Als philosophisch-religiöse Praxis strebt der Dauismus (Taoismus), darin dem etwa gleichzeitig in Indien entstande­ nen Buddhismus oder dem älteren Hinduismus verwandt, mit beispiel­ loser Konsequenz die Rückkehr zu diesem ursprünglichen Zustand an, allerdings nicht durch eine aktive Praxis oder gar durch «Politik» (im griechischen Sinne), sondern durch kultisches Handeln oder vielmehr Nicht-Handeln: als Schweigen, Versenkung, Einsamkeit und durch die Überwindung aller Begierden und Lebenstriebe, die nur ebenso viele Lei­ den schaffen. Dem entspricht das Bild eines «Sündenfalls», den es auch in der tao­ istischen Welterzählung gegeben und der darin bestanden hat, dass ­irgendwelche (falschen) «Weisen» einst die absolute Schönheit und un­ ermessliche Weisheit der ursprünglichen Ordnung durch eigene Vorstel­ lungen von «Güte» oder «Tugend», also eine selbstgemachte Moral und Sitte, ersetzt und begonnen hatten, die Dinge selbstherrlich mit Namen (Begriffen) zu belegen. Damit «begannen sich überall Zweifel zu regen», und es «begannen sich unter den Menschen Unterschiede zu zeigen». Kunstvolle Handwerker fingen an, die «reine Unverdorbenheit» der na­ türlichen Stoffe immer weiter zu verderben, indem sie daraus nützliche Gegenstände oder prunkvolle Herrschaftszeichen («Jadezepter») her­ stellten.17 Das einem legendären «Laotse» (Alten Meister) zugeschriebene und von ihm angeblich selbst diktierte ursprüngliche Werk, das Buch der

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Wandlungen («Tao-te-king») geht – gerade mit seiner vorangetragenen Haltung der Freundlichkeit, Höflichkeit, Bescheidenheit und Friedfertig­ keit – darüber noch weit hinaus. Es enthält eine grundlegende, fast totale Verwerfung aller bis dahin eingetretenen sozialen Entwicklungen: «ver­ loren ging das große Dau – / … hervortrat die Klugheit – /; … zerrissen war die Sippe – / der Familiensinn entstand; / in Wirren zerfiel der Staat – / der treue Minister entstand».18 Alles, was den Menschen als eine posi­ tive Errungenschaft galt, wie Wissen und Klugheit, Familie oder Regie­ rung, war letztlich ein Übel, etwas Unnatürliches, das dem Verderben geweiht war. Indem der Mensch sein eigenes, angemaßtes «Wissen» und sein prak­ tisches, technisches oder künstlerisches «Können» an die Stelle der ewi­ gen, unverrückbaren göttlichen oder kosmischen Ordnung setzte, ent­ wickelte sich «sein individuelles De (sein vom Dau stammendes und ihn mit diesem vereinigenden Wesen)» zu einem eigenständigen, selbst-süch­ tigen Charakter, und er verlor «die natürliche, unbewusste Fähigkeit, sich in die Ordnung des Dau ‹in Eintracht› einzufügen.» Dieses «Dau» (Tao) aber ist gerade nicht benennbar und definierbar, «es ist weder tätig noch hat es Gestalt  … Es entstammt sich selbst und wurzelt in sich selbst». Es vereinigt das männliche und das weibliche Urprinzip des Seins, das Yin und das Yang, ungeschieden in sich. In den Worten des Lao Tse: «Des Alls Urmutter könnte man es nennen, ich kenne seinen Namen nicht, ich nenne es Dau».19 Man könnte es verwunderlich finden, dass der «Taoismus» (schon diese Bezeichnung war ein Widerspruch in sich) auch als eine rebellische Sozialreligion dienen konnte, die in den synkretistischen, sich freihändig fortschreibenden Lehren der unterschiedlichen, oft Jahrhunderte über­ dauernden chinesischen Geheimbünde mit anarchischer Militanz gegen jegliche hierarchische Herrschaft und zeremonielle Machtentfaltung, aber ebenso auch gegen das gelehrte Wissen und den Reichtum städ­ tischer Kulturen ins Feld geführt wurde, um alles «Überflüssige» und alle «Farbenpracht» zu eliminieren und zu einem einfachen, einträchti­ gen, einfältigen dörflichen Leben zurückzukehren – von dem natürlich keine Rede mehr war, sobald die aus niederen Verhältnissen aufgestiege­ nen ersten Herrscher einer neuen Dynastie einmal zur Macht gekommen waren.20 Noch verwunderlicher scheint, dass derselbe, nun zunehmend kodifi­ zierte «Taoismus»  – etwa in der Zeit der Tang-Dynastie im 7./8. Jahr­ hundert – auch zu einer konservativen, bürokratischen und repressiven

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Staatsideologie mutieren konnte, die sich mit dem scheinbar ganz anders gerichteten, tatsächlich aus einer ähnlich passiv-kontemplativen zu einer aktiv-normativen Lehre umgewandelten, allerdings weitaus strikter ko­ difizierten «Konfuzianismus» zwanglos verknüpfen ließ. In diesen taois­ tisch-konfuzianischen Amalgamen wurde der «Urzustand der Welt», eben das große Dau, oder auch ein Goldenes Zeitalter unter den frühes­ ten Herrschern, als eine unverrückbare kosmische und soziale Ordnung gesetzt, die bei jeder kleinsten Regelverletzung durch ein System abge­ stufter Körperstrafen «wiederhergestellt» werden musste. Auch die wachsende gesellschaftliche Vielfalt sollte nach derselben Logik in eine hierarchische Weltordnung zurückgezwungen werden, in der die Kinder den Eltern, die Frau dem Mann und der Untertan dem Herrscher bis in den Tod zu dienen hatten, so wie die «zehntausend Muster» des Lebens «in einem einzigen Muster zusammenlaufen», dem «himmlischen Mus­ ter».21

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Athen und Atlantis – und Sparta

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in Paradox, das uns immer wieder beschäftigt: Athen, der glänzendste der griechischen Stadtstaaten, von dem die abendländische Kultur, wie es heißt, ihren Ausgang genommen hat – auch dieses Athen der Demo­ kratie, des kosmopolitischen Warenverkehrs und einer bis dahin uner­ hörten Kühnheit des forschenden und selbstreflexiven Denkens scheint im Bewusstsein seiner einflussreichsten Geister mit alledem eher ver­ flucht als gesegnet gewesen zu sein. Im Weltbild Platons glich es zuneh­ mend seinem mythischen Vexier- und Gegenbild: dem an seiner Hybris zugrunde gegangenen Inselreich Atlantis. Dieses einst vom Meeresgott Poseidon geschaffene, mit fabelhaftem Reichtum und phantastischen Bauten ausgestattete Zentrum des Handels und der Seemacht sollte einer von ägyptischen Priestern überlieferten Erzählung zufolge vor unvor­ denklichen Zeiten durch das noch ganz ländliche Ur-Athen besiegt und anschließend in Erdbeben und Feuersbrünsten im Meer versunken sein – eine sagenhafte Geschichte, die Archäologen wie Mythomanen bis heute beschäftigt. Darüber geht leicht die Pointe dieser platonischen Erzäh­ lung verloren: Denn das heroische Ur-Athen, das in diesem Sieg noch erdhafte Kraft und männliche Tugend bewiesen haben sollte, ähnelte nur allzu deutlich dem siegreichen Gegner Athens im gerade beendeten Peloponnesischen Krieg: dem agrarisch-selbstgenügsamen, innerhalb seiner Führungsschicht relativ egalitären und vollständig militarisierten Sparta – während das vom Ungeist des demokratischen Parteienstreits und einer «atlantischen» Expansionsgier befallene Athen seinem zum Untergang verurteilten Feind von einst glich.1 Hier kristallisiert sich ein Widerspruch, der die Anfänge einer okzi­ dentalen Historiographie, Philosophie oder Literatur wie alle religiösen oder mythischen Weltvorstellungen davor und danach immer wieder durchzogen hat: der Konflikt zwischen dem elementaren Bedürfnis nach unbedingter, religiös und traditional geheiligter, staatlich und ins­ titutionell gesicherter Gemeinschaftlichkeit auf der einen Seite und auf der anderen Seite den zentrifugalen Kräften eines entfesselten Strebens

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nach persönlichem Erwerb und Besitz, nach Selbsterhöhung und Selbst­ entfaltung, nach unbeschränktem Wissen und künstlerischer Verfeine­ rung. Dieser Gegensatz entfaltetet sich dabei fast immer in einer radikalen Asymmetrie: zwischen den im weitesten Sinne als proto-«kapitalistisch» ansprechbaren Entwicklungen, die sich Bahn brachen, ohne sich beson­ ders um moralische oder religiöse Legitimation zu kümmern  – und ­einem überwältigend homogenen Kontinuum moralischer Verurteilun­ gen eben dieser dissozialen Entwicklungen in Form religiöser Bannflü­ che, philosophischer Verdikte oder literarischer Denunziationen, die fast alles verwarfen, was wir aus heutiger Perspektive als einen Vorschein «moderner» Lebensformen und Entwicklungsfermente ansehen. Den klassischen Text dazu hat Platon mit der «Politeia» (um 370 v. Chr.) geliefert, die aus der Kritik der von Sparta besiegten, vom Zerfall bedroh­ ten athenischen Gesellschaft Kriterien eines «wahren Gemeinwesens» gewinnen will. Ihn deshalb so wie Karl Kautsky als den Autor eines «platonischen Kommunismus» in Anspruch zu nehmen2 oder ihn wie Karl Popper als den geistigen Urvater und Dämon des modernen totali­ tären Denkens zu denunzieren,3 erscheint gleichermaßen ahistorisch. Beides übersieht, dass die gesellschaftliche Ordnung bei Platon wie bei nahezu allen antiken Autoren Ausdruck einer vorausgesetzten kosmi­ schen und natürlichen Ordnung der Dinge war – weshalb seine Deduk­ tion eines guten Staats mit den modernen Postulaten «sozialer Gerech­ tigkeit» wenig zu tun hatte. Wie Platon seinen Beweisführer dialektisch-axiomatisch entwickeln ließ, konnte die Idee eines gerechten Gemeinwesens allein von einer phi­ losophisch gebildeten Aristokratie realisiert werden, die mit Hilfe einer elitären Krieger- und Wächterkaste über das Volk (den demos) herrschte, so wie im einzelnen Menschen der Kopf (als Sitz des Verstandes) ver­ mittels des Herzens (als Sitz des Mutes und Stolzes) den übrigen Leib (als Reich der rohen Kräfte und niederen Begierden) regiert. Um der Harmonie und Geschlossenheit des Gesellschaftskörpers willen hatte es daher auch seine Logik, wenn die Lenker des Staates ebenso wie ihre kriegerischen Wächter, die beiden machtausübenden Stände also, in ab­ gesonderter Gemeinschaft lebten, worin «keiner von ihnen über privates Eigentum (verfügte), weil sie der Meinung waren, dass alles gemeinsa­ mer Besitz von allen sein sollte».4 Konsequenterweise mussten dann auch ihre Frauen Gemeinbesitz

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sein, und also auch deren Kinder, die nach Kriterien einer bewussten Zuchtwahl gezeugt und bei Geburtsmängeln ausgesetzt wurden, und die von Jugend an im Geist des Dienstes am Gemeinwesen zu ertüchtigen und zu erziehen waren. Denn für Platon wie für die meisten antiken Denker stand fest, dass bereits mit der vorrangigen Sorge für die Einzel­ familie, für den privaten Hausstand also, und mit dem Wunsch, seinen leiblichen Kindern bessere Bedingungen und einen höheren Rang zu ­sichern, die «Pleonexie», die Gier nach Mehr, nach Geld und Besitz, ein­ setzte. Dieser triebhafte Wunsch war aber der Keim aller Unruhe und Spaltung der Gesellschaft, der Antrieb zu steten Veränderungen, und ­damit das, was «den Staat zerreißt und zu vielen macht, anstatt eins». Dagegen musste das ideale Gemeinwesen «ein immer sich selbst Glei­ ches» sein.5 Die niederen Stände, die analog zur Struktur des menschlichen Cha­ rakters als die triebhafte, materialistisch orientierte Basis der Gesell­ schaft galten, mochten wie bisher in ihren privaten Familienverbänden leben und Ackerbau, Handwerk oder Handel treiben. Allerdings kam es auch bei ihnen darauf an, Reichtum wie Verarmung in Schranken zu halten. Denn Wohlstand führte nach Platon zu Faulheit (!), Armut zu Verwilderung. Jeder sollte die ihm und seinen Fähigkeiten «gemäße» und vom Gemeinwesen als nützlich anerkannte Arbeit tun. Die physi­ sche Grundlast trugen in diesem idealen Gemeinwesen ohnehin die Skla­ ven, die außerhalb jeder gesellschaftlichen Ordnung standen und damit philosophisch außer Betracht blieben. Der platonische «Kommunismus» hatte demnach primär die Auf­ gabe, alle Elemente von Unruhe und Veränderung niederzuhalten. Wenn er auf die herrschenden Stände beschränkt war, dann weil er ihrem inne­ ren, kastenmäßigen Zusammenhalt diente.6 Insofern könnte man darin die antik-aristokratische Vorform eines katholischen Klerus oder auch ­einer kommunistischen Nomenklatura sehen – ein Gedanke, der sozia­ listischen Lehrbuchautoren allerdings ganz fern lag, wenn sie Platon als einen frühen «Vorläufer» in Anspruch nahmen.7 Platons Schüler Aristoteles fiel es zu, nach einem pragmatischen Aus­ gleich zu suchen zwischen der rituellen Verurteilung des Strebens nach Geld und Besitz und der gesellschaftlichen Realität seiner Zeit, nämlich einer immer weiter ausgreifenden Waren- und Geldwirtschaft. Seine Lehre von der «oikonomike» als einer praktischen Haushaltungs- und Erwerbskunst, die die Gesellschaft zusammenhalten könnte, rechtfer­

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tigte den Privatbesitz mit dem erfahrungsgesättigten Argument, dass ­gerade der Gemeinbesitz von jeher eine Quelle permanenten Streits ge­ bildet habe. Dem persönlichen Eigentum wies Aristoteles ausdrücklich eine gesell­ schaftsbildende Kraft zu: «Es ist auch mit Worten nicht zu sagen, welche eigenartige Befriedigung es gewährt, wenn man etwas sein eigen nennen kann.»8 Legitim waren allerdings nur ein selbstbewirtschaftetes und selbsterworbenes Eigentum an Boden und an den dazugehörigen Mitteln (zu denen als «stumme Werkzeuge» auch die Sklaven gehörten) sowie ein maßvoller Warentausch und Erwerb. Besser und schöner war es, «für dauerhaftere Werke einen höheren Aufwand» zu machen», also für ­öffentliche Einrichtungen oder religiöse Bauten zu spenden;9 so wie der eigentliche ­Genuss und die Pflicht einer vornehmen Stellung und persön­ lichen Reichtums darin liegen sollte, die kultischen Feste der Gemein­ schaft auszurichten, die Armee und Flotte auszurüsten und die öffent­ lichen Ämter, die man ausübte, zu budgetieren  – statt in prunkvollen ­Privatpalästen zu wohnen und dem Luxus zu frönen. Geld war als Wertspeicher, Preisangabe und Zahlungsmittel für jede Wirtschaftstätigkeit längst unverzichtbar; und nach Aristoteles war auch die Akkumulation von Finanzmitteln ein Medium der Selbständigkeit sowohl des einzelnen Bürgers wie des Gemeinwesens im Ganzen, ihrer «autarkia». «Wenn aber Geld nicht mehr Mittel, sondern Zweck des Handelns ist», dann war der Tatbestand der «Chrematistik» erfüllt, des Erwerbs und Anhäufens von privatem Geldvermögen um seiner selbst willen. Das aber war «gegen die Natur», schlimmer noch, es pervertierte die Tugenden des Menschen: «denn die Mannhaftigkeit z. B. soll nicht Schätze häufen, sondern Mut verleihen, und ebensowenig soll das die Feldherrenkunst und die Heilkunst, sondern die eine soll den Sieg, die andere die Gesundheit bringen».10 Auch bei Aristoteles blieben alle Formen einer expansiven Kapitalbil­ dung (im modernen Sinne) der große Sündenfall, den jede Politik scharf im Augen halten musste, gerade weil die «Ökonomie», die redliche, dem Gemeinwesen nützliche Erwerbstätigkeit, sich von der «Chrematistik» in der Praxis nicht immer säuberlich trennen ließ. Umso wichtiger war es, sie auseinanderzuhalten: «(Denn) das Geld ist der Anfang und das Ende dieser Art von Austausch. Daher ist auch der Reichtum, wie ihn die Chrematistik anstrebt, unbegrenzt, … ihr Ziel ist absolute Bereiche­ rung.»11 Diese aristotelische Unterscheidung zwischen «Ökonomik» und «Chrematistik» war (wie Marx in einer langen Fußnote im «Kapi­

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tal» vermerkt hat12) die erste analytische Trennung zwischen einer auf Herstellung und Tausch von Gebrauchswerten orientierten und einer auf Geldschöpfung als Reichtum orientierten Produktionsweise. Aristoteles war im Übrigen neben Xenophon so ziemlich der erste, der überhaupt «Hauswirtschaft und Finanzwesen» einer eigenen politisch-­ philosophischen Betrachtung für wert hielt. Wie für Platon handelte es sich auch für Aristoteles aber weniger um den Entwurf einer «vernünf­ tigen» Einrichtung der Gesellschaft als um die Bestimmung einer «natür­ lichen» sozialen Ordnung als Grundlage eines stabilen Staates. Seine Formel, der Mensch sei von Natur ein «zoon politicon», d. h. gesell­ schaftlich gebundenes und verpflichtetes Wesen, besagte eben, dass das persönliche Hauswesen, der «Oikos», in dem die Familien lebten, seine Entsprechung im Leben in der «Polis» hatte, in der Bürgergemeinschaft, die Züge einer Supra-Familie trug, aus der man ausgestoßen werden, aber nicht einfach austreten konnte, und deren Gesamtwohl alles letzt­ lich unterworfen bleiben musste. Diese aristotelische Lehre dürfte noch die pragmatischste, nüchternste und «unideologischste» von allen antiken Äußerungen gewesen sein. Eine Durchsicht der griechischen und römischen Literatur trieb den libe­ ralen Althistoriker Robert von Pöhlmann in seiner «Geschichte der sozia­ len Frage und des Sozialismus in der antiken Welt» (1911) nachgerade zur Verzweiflung: Während er wie viele prominente Vertreter seiner Zunft die Keime eines «Kapitalismus» in Athen wie in der antiken Welt insge­ samt in schönster Entwicklung sah, fand er die zivilisatorischen Errun­ genschaften des vielseitigen Nah- und Fernhandels und einer arbeits­ teiligen Produktion für den Markt ebenso wie die Entstehung eines ­prosperierenden Bürgertums und einer Klasse von (fast schon moder­ nen) Unternehmern in der gesamten antiken Literatur kaum einmal ­positiv gewürdigt. Umso häufiger begegnete er einer hermetischen Ab­ wehr und prinzipiellen Verachtung jeder sich selbst genügenden privaten Wirtschafts- und Erwerbstätigkeit – deren Träger eben deshalb vielfach Fremde (Nichtbürger) oder freigelassene Sklaven waren. Pöhlmann kam zu dem Resultat, dass sich im Zuge der wachsenden sozialen Spannungen innerhalb der antiken Stadtrepubliken «das sozial­ theoretische Denken der Zeit zu einer Kritik des Kapitalismus und der Mißstände der kapitalistischen Gesellschaft erhebt, die an schneidender Schärfe der analogen Kritik eines Saint-Simon und Fourier, eines Proud­ hon und Rodbertus, eines Lassalle und Marx nichts nachgibt».13 Diese wirtschafts- und eigentumsfeindliche Tendenz sei erdrückend dominant

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gewesen – so wie zu seiner Zeit (am Beginn des 20. Jahrhunderts) das ­antiliberale Denken auch, gleich ob konservativer oder sozialistischer Prägung. Tatsächlich schauen unsere vermeintlichen politischen Vorfahren umso fremder zurück, je näher man ihrer Lebens- und Vorstellungswelt tritt. Gewiss, Demokratie und Politik haben hier (begrifflich) ihren Ursprung. Aber waren die demokratischen Einrichtungen der attischen Bürger­ schaften nicht nur eine aufgefrischte und erweiterte Form der vorstaat­ lichen Gemeindeversammlung, die zunächst als Adelsdemokratie über­ lebt hatte und dann in den Zeiten der imperialen Expansion bis nach weit unten, bis auf die «Theten», die als Ruderer verpflichteten ­Besitzlosen, erweitert werden musste? Zwar durften diese in den atheni­ schen Volksversammlungen tatsächlich mitstimmen und hatten auch reihum in den Gerichten oder in öffentlichen Ämtern zu dienen. Aber die eigentliche «Politik» hat dieser niedere Demos nie geführt; sie blieb ­Sache der Aristokraten. An der sozialen Rangfolge, in der die «Banau­ soi», die Handwerker und Händler, selbst wenn sie wohlhabend waren, und sogar die großartigen Künstler und Architekten, mit denen wir Athen identifizieren, weit unten rangierten, noch hinter den wehrfähigen Bauern, hat die attische Demokratie nur wenig geändert. Athen war und blieb ein aristokratisch geführter Kriegerverband. Wahr ist, dass es in Athen so ziemlich zum ersten Mal in der Ge­ schichte die Form des dialektischen, in Rede und Widerrede argumen­ tierenden Denkens gegeben hat; und inmitten dessen sogar auch den grundlegenden Zweifel an den von den Göttern gegebenen Gesetzen, je­ denfalls an denen, die die Priester oder Orakel verkündeten und deute­ ten. In feinsten Andeutungen gab es sogar schon Zweifel an den Göttern selbst, an ihrer Weisheit und selbst an ihrer Existenz.14 Nur dass die «So­ phisten», die einen intellektuellen Sport daraus machten, alles in Zweifel zu ziehen, eben deshalb auch von denen, die wir heute als Autoritäten kennen, abgelehnt wurden. Platon, der sich posthum zum treuesten seiner Schüler machte, konnte den als Weisen gerühmten «Sokrates» (von dem es keinerlei originale Überlieferung gibt) noch einmal ganz neu als einen konservativen So­ zialdenker erfinden und mit dessen geborgter Stimme wie durch eine ­theatralische Maske hindurch argumentieren. Aber genauso würden es die Jünger des Konfuzius oder des Lao Tse, des Gautama Buddha oder des Jesus auch tun.

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Vielleicht das erstaunlichste Kapitel in der Wirkungsgeschichte des Klas­ sischen Altertums ist die Anziehungskraft, die das schattenhafte Sparta bis weit in die europäische Neuzeit hinein auf die unterschiedlichsten Geister ausgeübt hat, auf Humanisten und Frühliberale, Aufklärer, Roman­tiker und (vor allem) Revolutionäre.15 Dieses idealisierte Sparta, obwohl es als puritanischer Militärstaat ­nahezu nichts an Kunst, Literatur, Philosophie oder auch nur an Archi­ tektur hinterlassen hat, hat das heute so unangefochten wirkende Bild Athens lange überstrahlt. Das hatte natürlich auch damit zu tun, dass viele der großen athenischen Geschichtsschreiber und Philosophen selbst wie eben Platon eine offene oder insgeheime Sympathie für diesen länd­ lich-konservativen Gegenspieler des maritimen athenischen Imperialis­ mus zeigten. Auch Thukydides’ Geschichte des «Peloponnesischen Kriegs» ließ der von Sparta geführten Gegenseite mehr als nur Gerech­ tigkeit widerfahren. Sparta war die Nemesis Athens, sein Sieg das Urteil der Schicksalsgöttin. Entscheidender für das Nachleben Spartas war vermutlich aber das Bild, das das Gros der europäischen Gebildeten aus Plutarchs im 1. Jahr­ hundert nach Christus verfassten Lebensbeschreibungen der griechi­ schen und römischen Könige und Gesetzgeber, Staatsmänner und Feld­ herrn entnahm.16 Darin leuchtete die Figur des mythischen Gesetzgebers Spartas, Lykurg, Seite an Seite mit der des ähnlich mythischen römischen Gründerkönigs Numa Pompilius in einem besonders hellen Licht  – ­wegen der Selbstlosigkeit und überlegenen Weisheit, mit der sie beide die ein für allemal gültige Verfassung ihres Staates entworfen und verkündet hatten. Das frühe Rom selbst nahm damit die Züge eines anderen Sparta an. Bewundert wurde an dem halb realen, halb imaginären Sparta die Ausgewogenheit der Verfassung mit Doppelkönigtum, Ältestenrat und Volksversammlung – eine Art «konstitutionelle Monarchie», die gleich­ wohl auch republikanische Züge trug und die, so wie es Rousseau als Ideal vorschwebte, den «einmütigen Volkswillen» jedem demokrati­ schen Parteienhader vorzog. Oder es wurde die relativ egalitäre Sozial­ ordnung gerühmt, die Lykurg begründet habe, indem er 9000 Familien in gleichen Losen Bodenanteile zuwies, um die Gleichberechtigung der Staatsbürger zu sichern, ohne die Herausbildung einer Aristokratie da­ mit zu verhindern. Sehr wurde die strenge Erziehung und militärische Ertüchtigung der jungen Spartaner (und Spartanerinnen!) gerühmt, die bis zum 30. Le­

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bensjahr vom andern Geschlecht separiert und von älteren Mentoren namens des Staates erzogen wurden, dem sie mit Leib und Seele zu die­ nen hatten. So eben hatte das kleine, ressourcen- und bevölkerungsarme, dem Meer und dem äußeren Handel abgeneigte Sparta sowohl im In­ nern, was die terroristische Niederhaltung und Ausbeutung der ungleich zahlreicheren «Heloten» betraf, wie auch in allen äußeren Konflikten eine formidable bewaffnete Macht aufbieten können  – verkörpert im Bild der spartanischen «300», die den um ein Mehrfaches überlegenen Persern bis zum letzten Mann an den Thermopylen standgehalten hat­ ten. Diese posthume Prominenz des ländlichen, kriegerischen, kulturfeind­ lichen, aber dafür irgendwie unverdorbenen und «tugendhaften» Sparta in einem neuzeitlichen Europa, das sich rapide kommerzialisierte und in die ganze Welt ausgriff, ist nur ein Beispiel mehr für die Diskrepanz zwi­ schen dem tatsächlichen gesellschaftlichen Handeln und den Wertvor­ stellungen, die es jeweils begleiteten.

Christliche Armutspredigt und Reichtumsproduktion Nichts hat das neuzeitliche Europa stärker geprägt als die als «Christen­ tum» bezeichnete Weltbewegung und Weltkirche, so wie sie zunächst im Rahmen des Römischen Reichs herangewachsen ist. Hier stößt man ­allerdings auf ein nächstes, ungeheures Paradox. Denn was immer man über die ursprüngliche Jesusbewegung weiß – sie war ihrem sozialkultu­ rellen und religiösen Grundimpuls nach jedenfalls eine ländliche Unter­ schichtenbewegung, die sich mit großer Heftigkeit gegen die nach Gali­ läa importierte römische Zivilisation mit ihren glänzenden Städten und Palästen, ihren Tribut- und Handelsbeziehungen, ihrer Sittenlosigkeit und ihrem allgegenwärtigen Götzendienst richtete. Die Predigten des als Messias und «Menschensohn» auftretenden Jesus von Nazareth ent­ hielten mit ihrer Seligpreisung der «Armen» einen Vorschein der Figur des modernen «Proletariers» oder «Arbeiters» und griffen wohl auch tatsächlich entgegen jedem antiken Comment im sozialen Gefüge tief ­hinunter, bis hin zu den Ausgestoßenen und Stummen. Seine Forderun­ gen nach Besitzlosigkeit und Aufgabe aller Familienbindungen spitzten sich auf eine radikale Alternative zu: Der Mensch könne nur Gott die­ nen – oder dem Götzen «Mammon» (das aramäische Wort für Reichtum und Geld).

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Dabei ist zu bedenken, dass die erst Jahrzehnte nach Jesus’ Tod auf­ gezeichneten Evangelien bereits eine Übertragung seiner mündlich über­ lieferten Worte, Gleichnisse und Wundertaten aus der agrarischen, aramäisch-sprachigen Welt Judäas in eine vorwiegend städtische, «helle­ nistische», d. h. griechisch-sprachige Schrift- und Kultursphäre hinter sich hatten, aber gerade dort erst ihre eigentliche Wirkung entfalteten.17 Umso erstaunlicher ist die ungemilderte Radikalität, mit der schon in den Evangelien und später in den Schriften der christlichen Kirchenväter (der «Patristik») die Habgier und die Hochmut in allen ihren Erschei­ nungsformen als die Wurzel aller Übel gebrandmarkt wurden. Dass «die ganze Welt vor Gott schuldig» sei,18 gehörte schon zu den frühesten Botschaften des Apostels Paulus, der als «Gesandter Gottes» auftrat und von den überall entstehenden Gemeinden unbedingten «Glaubensgehorsam» forderte. Indem die Gläubigen als eine neue, syn­ thetische «familia dei», als Familie Gottes oder Gottesvolk, sich aus der Masse der Ungläubigen aussonderten, sich reinigten und ihre Reinheit bewahrten, legten sie ihrer Existenz einen eschatologischen Charakter bei, ein Warten auf das baldige Endgericht. Deshalb waren sie in diese christliche Heils- und Überlebensgemeinschaft ungleich tiefer eingebun­ den als in irgendeine ihrer Herkunftsgemeinschaften. Die bahnbrechende Rolle des Christentums für die Geburt der moder­ nen Welt lag vielleicht gar nicht so sehr in seinen Lehren, so wie sie sich über Jahrhunderte der Kodifizierung und Dogmatisierung schließlich ­herauskristallisiert haben, sondern eher in seiner sozialen Daseinsweise, auch wenn diese natürlich der beständigen mentalen Formatierung be­ durfte. Denn was diese neue monotheistische Religion, noch bevor sie eine Gesamtkirche geworden war, von Beginn an auszeichnete und ihr enorme Werbekraft verlieh, war der Gemeindecharakter als solcher  – der eine ­eigene Dynamik oder Dialektik entfaltete, wie sie in dieser Form nur in der Welt des römischen Vielvölkerimperiums möglich gewesen sein dürfte. In den Gemeinden spielte es zumindest idealiter keine Rolle, ob ein Mitglied Römer, Grieche oder Jude war, Freier oder Sklave, Reicher oder Armer. Angesichts der notorischen Missachtung der Frauen der an­ tiken Welt war deren gleichberechtigte Zulassung zunächst ebenfalls ein starkes Mittel der sozialen und geistigen Bindung, bevor sie theologisch wie sozial erneut an den Rand gedrängt wurden. Die Sublimierung der sonst üblichen Tier- oder Brandopfer in der ab­

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strakten und zugleich kommunikativen Form des Abendmahls war die immer wieder erneuerte Besiegelung dieser ökumenischen Daseinsform als einer «familia dei», einer einzigen Gottesfamilie. Die Präferenz für Schriftauslegung, Predigt und Gebet sowie die leidenschaftlichen Dis­ putationen über konkurrierende Irrlehren oder dogmatische Abwei­ chungen dürften zum vergleichsweise hohen Bildungsgrad der christli­ chen Gemeinden beigetragen haben. Aber vor allem die Sozialform der Gemeinde als solcher, der Communitas mit ihrer zwar keineswegs egali­ tären, aber in sozial abgestufter Weise dennoch praktizierten «Güter­ gemeinschaft» erwies sich als ein dynamisches Entwicklungsferment. Wenn gerade die Christengemeinden trotz ihrer ausdrücklichen Loya­ lität als Staats- und Steuerbürger im religiös toleranten römischen Impe­ rium staatliche Verfolgungen auf sich zogen, dann wohl vor allem des­ halb, weil ihre Verweigerung des religiös bedeutungslosen, politisch aber wichtigen Kaiseropfers wie eine Form sozialer Sezession aus der rituellen Selbstfeier der staatlichen Gesamtgemeinschaft wirkte. Die stolze, ge­ radezu herausfordernde und fast sehnsüchtige Art und Weise, in der die verurteilten Christen ihrem «Martyrium» als einer freiwilligen Nach­ folge Christi entgegensahen, in der Gewissheit, von ihren Glaubens­ genossen die höchste Verehrung zu ernten und sicher ins Paradies zu kommen, weckte bei den Zuschauern dieser blutigen Spektakel kaum Mitleid (das im römisch-hellenischen Wertekanon als «Schwäche» galt), sondern eher Empörung  – aber letztlich dann doch auch widerwillige Anerkennung. Entscheidender war vermutlich aber, dass die frühen christlichen Ge­ meinden schon bald wirtschaftlich recht prosperierend wurden, weil sie trotz oder wegen des anhaltenden Verfolgungsdrucks und gerade auf Grundlage der praktizierten Gütergemeinschaft «ein autonomes Finan­ zierungssystem auf(gebaut hatten), das ihnen hohe Unabhängigkeit ebenso wie effektive Ressourcenallokation sicherte».19 Das wiederum dürfte die materielle Grundlage für den Aufbau einer aus «Kollekten» finanzierten, das ganze Reich und seine Provinzen umfassenden, in die­ sem Sinne «supranationalen» Organisation gewesen sein, wie es sie in dieser expansiven, sich durch Mission unablässig erweiternden Form in der antiken Welt so nie gegeben hatte  – und vielleicht in der ganzen menschlichen Geschichte nicht. Diese Hierarchie und Organisation war es, auf die Kaiser Konstantin im 4. Jahrhundert in bedrängter Lage als organisatorisches und geistiges Gerüst zurückgriff, das dem kollabierenden Reich noch einmal Halt und

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Struktur geben konnte. Allerdings versuchte er im selben Moment, in dem er das Christentum zur neuen, alleinigen Staatsreligion erhob und sich taufen ließ, auf dem in seinem Kaiserpalast abgehaltenen Konzil von Nicäa auch sich selbst an die Spitze der kirchlichen Dogmatik und Organisation zu setzen  – was ihm und seinen Nachfolgern auf Dauer ­allerdings nicht gelang. Ambrosius formulierte 386 gegen den letzten ­gesamtrömischen Kaiser Theodosius die grundlegenden Formeln: «Die Kirche gehört Gott, sie darf darum dem Kaiser nicht ausgeliefert wer­ den» und: «Der Kaiser steht innerhalb der Kirche, nicht über ihr.»20 In diesem für das politische Denken der gesamten Antike völlig neuen, dauerhaften Nebeneinander zweier ungleichartiger öffentlicher Gewalten lag das Spannungsvolle und elementar Prägende der ganzen west­lichen Staats- und Gesellschaftsordnungen  – in Differenz zur ost­ römischen Welt, in der die «symphonia», der «Zusammenklang» von Kaisertum und Kirche, letztlich die Theokratie, zum Prinzip der staat­ lichen und gesellschaftlichen Organisation wurde. Inwieweit auch hier die Dogmatik der Realität oder die Realität der Dogmatik folgte, bleibt wie immer unklar. Dass Gott die Erde allen Menschen gegeben habe, damit sie sich im Schweiß ihres Angesichts von ihren Früchten ernährten, weshalb die pri­ vate Monopolisierung dieser Erde und ihrer Früchte grundsätzlich als Sünde galt und daher nur unter bestimmten Bedingungen statthaft war – diese ursprüngliche Lehre Jesu hat auch die katholische Staatskirche weiterhin aufrecht erhalten. Hatte es eines der Gemeindemitglieder den­ noch zu Wohlstand gebracht, war das durchaus moralisch zulässig, aber nur dann, wenn es seinen Reichtum teilte und statt in eitlem Prunk in milden Gaben anlegte, in Schenkungen für das Gemeinwohl oder in ­Almosen für die Armen. Die Institution, die das für ihn übernahm, war die Kirche – die sich in ihrem eigenen Wirtschaftsgebaren nicht nur dog­ matisch sehr flexibel, sondern auch praktisch sehr tüchtig zeigte. Zwar galt es als der Gipfel des sittlich Verpönten, Geld gegen Zinsen zu verleihen, also Geld mehr Geld hecken zu lassen – eine elementare, magische und keineswegs unbegründete Scheu vor der «Pleonexie» oder «Chrematistik», wie sie fast alle Kulturen und Religionen dieser Welt durchzogen hat. Insoweit dürfte die christliche Lehre vom «Zinsverbot» und der «Almosenpflicht» sich nur wenig von den anderen großen Reli­ gionen und Sittenlehren der Welt unterschieden haben. Folgt man Max Webers Überlegungen zur Religionssoziologie, ist das auch kaum ver­

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wunderlich, weil «die ökonomische Kapitalherrschaft ihres ‹unpersön­ lichen› Charakters halber ethisch nicht reglementierbar ist».21 Deshalb sei eine «antikapitalistische Gesinnung und Sozialpolitik, in der einen oder anderen Form, Gemeingut aller eigentlichen ‹Erlösungs›-Religio­ nen» gewesen – mit Ausnahme zweier Religionsgemeinschaften, die auf jeweilige Weise an der Entwicklung einer kapitalistischen «Wirtschafts­ gesinnung» entscheidend mitgewirkt hätten: dem Judentum und dem Protestantismus, vor allem dem Calvinismus.22 Aber der Beitrag des Katholizismus zu dieser neuzeitlichen «Wirt­ schaftsgesinnung» war dann doch erheblich – und kaum viel paradoxer als der des Protestantismus. Wenn neuere Wirtschaftsgeschichten die ­Bedeutung einer Reihe technologischer und organisatorischer Innova­ tionen in der Wirtschaftswelt des Mittelalters hervorgehoben haben, bis dahin, dass die quantitativen Steigerungen und qualitativen Verbesse­ rungen sich zu einer eigenen mittelalterlichen «Revolution» der Produk­ tionsweise und Produktionsformen summiert haben sollen, ohne die das moderne Europa nicht denkbar wäre23 – dann dürfte dafür die katholi­ sche Kirche als Sozialkörper und Wirtschaftskomplex einen entschei­ denden Beitrag geleistet haben. Nachdem die römische Papstkirche einmal zur alleinigen Staatsreli­ gion des Römischen Reiches geworden war und diese Stellung nicht zu­ letzt durch rabiate Verfolgungen aller anderen Religionen gefestigt hatte, konnte es kaum ausbleiben, dass sie sich durch die universelle Erhebung des «Zehnten» (einer Kirchensteuer) zu einem bedeutenden Wirtschafts­ faktor entwickelte. Und nachdem sie diese Stellung auch in den west­ lichen Nachfolgestaaten Roms durch alle Wirren hindurch behauptet hatte und zum Rückgrat des karolingischen Frankenreichs geworden war, dessen Herrscher die Grundlagen für das Heilige Römische Reich deutscher Nation legten, war es wiederum fast unausweichlich, dass die Kirche sich durch die zahllosen Schenkungen der Monarchen selbst wie ihrer aristokratischen und vermögenden Mitglieder sowie durch ihre ­eigenen, regelmäßigen Einkünfte aus Steuern und Abgaben zum mäch­ tigsten Eigentumskomplex des europäischen Mittelalters entwickelte. Noch schlagender zeigte die paradoxe (oder auch dialektische) Bezie­ hung zwischen christlicher Armutspredigt und kirchlicher Reichtums­ akkumulation sich womöglich in den einander ablösenden innerkirch­ lichen Reformbewegungen. Gerade diejenigen Mönchsorden, die sich am entschiedensten der Rückkehr zu frühchristlichen Idealen verschrieben (von den Benediktinern bis zu den Franziskanern), kamen unweigerlich

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durch ihre «innerkirchliche Askese» immer von Neuem zu großem Be­ sitz an Grund und Boden, den sie vielfach höchst rationell, sowohl mit eigener wie zunehmend auch mit fremder Arbeitskraft, bestellten. Zu den riesenhaften und (zum Ruhme Gottes) oft prachtvoll gestalteten klösterlichen und kirchlichen Sakral- und Wirtschaftskomplexen gehör­ ten außer Verwaltungs-, Lager- und Weiterverarbeitungsstätten, Mühlen oder Brauereien, auch Stallungen und Gärten, Werkstätten und Manu­ fakturen, Apotheken und Hospitäler, Bibliotheken und Schreibbüros, deren Aktivitäten zu den produktivsten und vielfach auch lukrativsten des europäischen Mittelalters zählten. Gleichzeitig hatten Mönchsorden wie Amtskirche das Problem ihres internen, «platonisch-kommunistischen» Zusammenhalts ab dem 11./12. Jahrhundert durch die Einschärfung des Zölibats gelöst, das nicht nur ein Keuschheitsgebot war, sondern vor allem ein Ehe- und Fort­ pflanzungsverbot. Damit konnten die zentrifugalen Kräfte von privater oder familiärer Aneignung, Vererbung und Geschlechterfolge systema­ tisch zugunsten der per Definition gemeinnützigen, zentralistisch zusam­ mengefassten Gesamtkorporation ausgeschaltet werden. Dass die Wirklichkeit ganz anders aussah und die Masse der kirch­ lichen Stellen, von lokalen Pfarreien und vielköpfigen Domkapiteln über Bischofssitze und Abtstellen bis hinauf zur römischen Kurie und zum Papsttum selbst, im Spätmittelalter zunehmend den Charakter von käuf­ lichen und teilweise sogar erblichen Pfründen annahm, änderte nichts am Organisationsprinzip der Kirche – und erst recht nichts an ihrer ver­ bindlichen Lehre, wonach Armut als Tugend und Reichtum als kardi­ nale Sünde galt, so weit er um seiner selbst willen akkumuliert wurde. Das war weniger bloße Heuchelei als vielmehr ein eifersüchtig gehüteter Superioritätsanspruch, der im kirchlichen Gemein- oder Kollektiveigen­ tum eine feste materielle Basis hatte. (Parallelen, beispielsweise zu den politisch-moralischen Macht- und Superioritätsansprüchen wie zu den tatsächlichen Sozialpraktiken der heutigen Kommunistischen Partei Chinas, ließen sich zwanglos ziehen.) Alles in allem dürfte die Römische Kirche mit ihren Wirtschaftskom­ plexen und Kapitalstöcken, mit ihren uferlosen Geld- und Kreditbedürf­ nissen und schließlich mit ihren über Europa in die Welt hinausgreifen­ den Aktivitäten für die Ausbildung der Elemente dessen, was man später als «kapitalistische» Produktionsweise und Lebensform bezeichnen sollte, eine kaum weniger konstitutive Rolle gespielt haben als der Pro­ testantismus – nicht zuletzt durch die Kommodifizierung der Bußleistun­

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gen in Form jener für Geld erwerbbaren «Ablasszettel», an denen sich die lutherische Reformation entzündete. Martin Luther begann seine Karriere als Reformator deshalb auch mit Predigten, die «antikapitalistischer» kaum sein konnten, insbesondere gegen das entstehende, der Kirche vielfach eng angelehnte Bankwesen der Zeit. Noch berüchtigter sind Luthers Predigten gegen den «Wu­ cher», womit er den lukrativen europäischen Groß- und Fernhandel wie das daraus hervorgehende frühe Kreditwesen in toto meinte. In seinen späteren Lebensjahren identifizierte er alle diese modernen Wirtschafts­ formen überwiegend mit dem Wirken der Juden, die er in einer ganzen Serie schäumender Brandreden und -schriften unter die auszutilgenden Verderber der Christen und der Deutschen rechnete.24 Mit nicht minderem Eifer forderte er allerdings auch, dass die Fürsten und Vögte die «mörderischen und aufrührerischen Rotten der Bauern» nicht nur besiegen sollten, sondern: «Man soll sie zuschmeyssen, wurgen und stechen, heymlich odder offentlich, wer da kann, … als wenn man eynen tollen hund todtschlahen mus.»25 Luther war ein Mann der unbe­ dingten staatlichen Obrigkeit, vielleicht sogar der Advokat eines Abso­ lutismus von Gottes Gnaden, bevor davon noch die Rede sein konnte. Aus dieser Perspektive waren das Kreditwesen (der Wucher) und der päpstliche Ablass ebenso Werkzeuge einer Entsittlichung und Auflösung wie der Aufruhr oder sonstige Formen eines plebejischen Eigensinns. Dass die halb mittelalterliche, halb renaissancehafte Figur dieses deut­ schen Reformators, für den die Welt voller Teufel war, durch seine ver­ nichtenden Gewaltpredigten – die kein päpstlicher Inquisitor so hätte im Munde führen dürfen  – nicht ausreichend charakterisiert ist, ist aber auch wahr. Luthers elementarste reformatorische Tat war vermutlich die skandalöse Heirat mit der Nonne Katharina von Bora, mit der er sechs Kinder zeugte. Dass er den leiblichen Genüssen nicht abgeneigt war, hat ihm vom eifernden Propheten Thomas Müntzer das Etikett des «sanft­ lebenden Fleischs zu Wittenberg» eingetragen, war in größerer histori­ scher Perspektive aber ein Zug volkstümlicher Bürgerlichkeit, von dem man sogar sagen könnte, dass er Epoche gemacht hat. Noch mehr gilt das für die dichterische Sprachmacht, mit der er die Bibel in ein zeitloses Epos überführt und für ein neuzeitliches Publikum erst lesbar, zitierbar und auslegbar gemacht hat, jenseits der Schriftge­ lehrtheit. Luther war es auch, der seinem Gemeindevolk das Singen wie­ der beibrachte. Damit öffnete er die Türen für eine ganze Schule groß­

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artiger protestantischer Liederdichter, die ihre Gottesfurcht in eine zuneh­ mend persönliche, lebensvolle Poesie zu fassen vermochten: «Befiehl du deine wege / Und was dein hertze kränckt / Der allertreusten pflege Deß / der den himmel lenckt / Der wolcken / lufft und winden / Gibt wege / lauf und bahn / Der wird auch wege finden / Da dein fuß gehen kan.»26 Hier ist man dann bei einem nächsten, fast unauflöslichen Paradox angelangt: Denn der abtrünnige Augustiner-Mönch Luther war zugleich jemand, der wie der Bekenner Augustinus eintausend Jahre zuvor, aber in ungleich expressiveren, volkstümlicheren Formen, sein Innerstes nach außen kehrte. Gott, donnerte er, päpstlicher als jeder Papst, von seiner Weltkanzel herunter, sei auch dann ein guter Gott, wenn er die sündige Welt und die Menschen samt und sonders vernichte. Nur Gott allein, nicht der sündige Mensch, habe einen «freien Willen». Und wenn man Gottes Handeln in der Geschichte und in der Welt mit Vernunftgründen erfassen könnte, wie Erasmus und andere Humanisten es behaupteten, dann bräuchte es ja überhaupt keinen Glauben mehr: Nur indem Gottes Handeln «nicht begriffen werden kann, wird Raum, den Glauben zu entfalten».27 Es ist ein Stakkato von Ausweglosigkeiten, in denen der Mensch ein für alle Mal gefangen ist wie die Fliege im Spinnennetz; und die Luther zugeschriebene «Freiheit des Christenmenschen» besteht allein darin, sich in buchstäblicher Gottergebenheit in dieses Los zu schicken und zu hoffen, am Tag des Jüngsten Gerichts (das Luther als echter Apokalyp­ tiker noch für seine eigene Lebenszeit erwartete) wider Erwarten doch unter den wenigen Erwählten und Geretteten zu sein. Vielleicht konnte aber nur diese unerträgliche, ausweglose Aporie jenen Impuls moderner Unruhe und einer geistigen und psychischen Gärung erzeugen, der schließ­ lich über die Schranken der sich auflösenden mittelalterlichen Welt hin­ auswies. Auch Johannes Calvins Karriere als Prediger speiste sich aus einer Ver­ schärfung der Lehre von der Sündenverfallenheit der Menschen, aus der allein Gott in seiner durch keine persönlichen Verdienste und guten Werke sicher zu erwerbenden Gnade einzelne, wenige erretten könne. Das war, wie das Luthertum, ein religiöser Fundamentalismus ersten Ranges, unter dessen Regime das zum Calvinismus übergegangene Genf anfangs zu einem puritanischen Gottesstaat eigener Prägung wurde. Es war insofern kein Wunder, dass das Gros der großen Händler und

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frühen Bankiers Nord- und Mitteleuropas sich von der Reformation zu­ nächst fernhielt. Dasselbe taten auch fast alle bedeutenden Humanisten des Zeitalters und überhaupt ein großer Teil der Gelehrten, trotz der ­Anstöße, welche die Reformation mit ihren Unmassen von Flugblättern und Pamphleten einer diskursiven Geisteskultur gegeben hat. Umgekehrt vielmehr: Die Art und Weise, wie sich die Bürger von Genf und anderen Städten und Gebieten Europas, Kaufleute und Handwer­ ker, die sich der Reformation anschlossen, im Laufe der Zeit aus der Lehre Calvins eine Privattheologie der göttlichen «Prädestination» oder «Gnadenwahl» zurechtlegten, die sich eben doch in ihrem persönlichen Erfolg und weltlichen Wohlstand erweisen sollte, könnte als eindrück­ liche Demonstration eines erkenntnistheoretischen Hauptsatzes dienen, der ungefähr heißen könnte: Kontext schlägt Text – indem die Handeln­ den sich die sakrosankten Texte für ihre Zwecke zurechtlegen. So würde es später dem Marxismus auch gehen. Max Webers Herleitung der Geburt des modernen Kapitalismus aus dem Geist der «protestantischen Ethik», vor allem des Calvinismus, machte zum Angelpunkt der Argumentation gerade die eklatante Parado­ xie, die darin lag, dass ausgerechnet eine im Grunde weltabgewandte ­Suche nach persönlicher Erlösung zur Ausbildung einer rationalen kapi­ talistischen Wirtschaftsgesinnung geführt haben sollte.28 Der gottgefäl­ lige Lebenswandel derer, die sich einer ganz auf «innerweltliche Askese» angelegten Lebensführung verschrieben und die Mehrung des persön­ lichen wie des gemeindlichen Wohlstands zur ihrem besonderen «Beruf» (ihrer Berufung) machten, durfte gerade nicht «der Rettung der Seelen und der Liebesgemeinschaft der Sünder» dienen, da Gottes Urteil durch keine «guten Taten» zu beeinflussen war – sondern er gehorchte «einer Art kalter göttlicher ‹Staatsraison›».29 Eine kryptische Formel. Auch bei genauer Lektüre erschließt sich nur teilweise, wie Weber zufolge aus dem puritanischen Geist des Calvinis­ mus «die erste prinzipielle Rechtfertigung des Zinses (Salmasius) ge­ schaffen wurde», und wie aus diesem Geist des strengsten Protestantis­ mus eine rationale und methodische Lebensführung entsprungen sein soll, die sich der reinen, entgrenzten kapitalistischen Akkumulation ver­ schrieb, während «der Reichtum als solcher für ebenso gefährlich und versuchungsreich» galt wie in jeder anderen Konfession.30 Für die unbestreitbar vorwärtstreibende Wirkung der Reformation und des Protestantismus bei der Ausbildung kapitalistischer Produk­ tionsweisen und bürgerlich-ziviler Verkehrsformen könnten indessen

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auch sehr viel handfestere Faktoren ausschlaggebend gewesen sein – an erster Stelle der Bruch mit Rom, der die Abgabenlast der Gesellschaft milderte und die Ausbildung jener autonomen Territorialstaaten mit ­bürokratisch-fiskalischen Regimes begünstigte, die für drei Jahrhunderte als die entscheidenden Treibhäuser der frühkapitalistischen Entwicklung dienten. Noch bedeutender dürfte die Erneuerung der grundlegenden Errun­ genschaft gewesen sein, die das Christentum als Gemeindereligion be­ deutet hatte: die Herstellung eines direkten, gleichsam persönlichen Ver­ hältnisses der Gläubigen zum einen Gott, und damit eng verbunden die neuerliche Hinwendung zu einer strikten Wort- und Buchreligion. Die Übertragung der Bibel in die jeweilige Volkssprache, die den Laien eine eigene Lektüre ermöglichte, aber auch auferlegte, gab einem spezifisch protestantischen (beinahe jüdischen) Eifer des Lesenlernens, also der schulischen Ausbildung, einen kräftigen Anstoß, während sie gleichzei­ tig das Monopol des Klerus bei der Auslegung der Heiligen Schriften brach. Das erst markierte den definitiven Ausbruch aus der Exklusivität lateinischer Gelehrsamkeit und wirkte in allen Rasereien der anschlie­ ßenden Religionskriege als ein machtvolles Werkzeug der sozialen, poli­ tischen und geistigen Pluralisierung. Welche Verbindlichkeit alles das, was über die Jahrhunderte und Jahr­ tausende geschrieben stand und gelehrt worden ist, für das tatsächliche Handeln der Menschen hatte, ist eine immer wiederkehrende Frage, die für alle großen Bewegungen und Ordnungen gilt. Hält man sich an das alt- und neutestamentarisch überlieferte und dogmatisch fixierte «Wort», dann ist es jedenfalls leichter nachzuvollziehen, warum der moderne Sozialismus und Kommunismus dem Gedanken- und Gesellschafts­ ­ laboratorium der christlich-abendländischen Welt entsprungen sind  – als ­umgekehrt: warum dieses neuzeitliche Europa zur Geburtsstätte je­ ner sämtliche Formen ursprünglicher Gemeinschaft sprengenden Pro­ duktions- und Lebensweisen werden konnte, die man heute als «Kapita­ lismus» bezeichnet.

TEIL  III

Die Entdeckung der Zukunft

1. Millenarismus und Moderne

«Vorläufer des neueren Sozialismus»?

U

nter den «Vorläufern des neueren Sozialismus», die Karl Kautsky für ein breites sozialistisches Lesepublikum 1895 entdeckt und in leuchtende Farben gekleidet hat, nimmt der revolutionäre Protestant, Prediger und Bauernkriegsführer Thomas Müntzer die prominenteste Stelle ein. Tatsächlich stand er in einer langen Reihe dissidenter Kleri­ ker und schriftkundiger Laien, die schon weit vor der Reformation mit ­eigenen wilden Lektüren, Interpretationen und Übertragungen der bibli­ schen Überlie­ferungen begonnen und durch Predigten und Prophezei­ ungen immer neue, einer erlösenden «Endzeit» entgegen fiebernde und vielfach gewalt­bereite Massenbewegungen ausgelöst hatten. Auch viele ­Interpretationen des frühen wie des modernen Kommunismus haben in diesem Feld einen historischen Anknüpfungspunkt gesehen.1 Dabei waren diese millenaristisch-chiliastischen Bewegungen ihrem soziologischen wie geistigen Profil nach als «Klassenbewegungen» kaum zu fassen. Von den endemischen Rebellionen und Selbstverteidigungs­ bewegungen der Bauern oder der städtischen Handwerker und Gesellen, die meist klar umrissene soziale oder politische Forderungen vertraten, waren sie deutlich unterschieden, wenn auch nicht immer politisch ge­ trennt – ebenso wie von den eher bodenständigen, in freiwilliger Armut oder nach selbstgesetzten, festen Regeln lebenden frühen Reformations­ bewegungen wie den großteils ausgelöschten, im Untergrund überwin­ ternden Gemeinden der Katharer oder Waldenser in Mittel- und Süd­ frankreich. Stattdessen handelte es sich bei den Millenarismen meist um «Bewe­ gungen» im allerwörtlichsten Sinn: um akute Zusammenrottungen fiebrig erregter, großteils proletaroider, ins soziale Nichts geworfener Massen: aus ihren hergebrachten feudalen Bindungen herausgerissener Landbewohner; verelendeter, von den frühkapitalistischen Textilbetrie­ ben angesaugter und wieder abgestoßener, durch keine Zunftordnung geschützter städtischer Arbeiter; entlassener Dienstleute oder Söldner; dazu Scharen von Vaganten und Briganten, Pilgern oder Bettlern, die je

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nach Ort und Zeit einen erheblichen Teil der Bevölkerungen Europas bildeten. In Bewegung versetzt wurde dieser zusammengewehte «Staub Gottes» durch Brandpredigten oder Weissagungen aus dem Nichts auf­ tauchender Pseudopropheten: wandernder Mönche, von Visionen erfüll­ ter Einsiedler, abtrünniger Kleriker, autodidaktischer Laien, dissidenter Adeliger oder Bürger. Deren Prophetien liefen mehr oder weniger immer auf dasselbe hi­ naus: dass ein großer Umbruch und die Wiederkehr des Herrn nahe be­ vorstünden; dass es, bevor diese Endzeit anbreche, einer großen Reini­ gung der Welt bedürfe, eines irdischen Jüngsten Gerichts; und dass ein heiliger Herrscher oder «Endzeitkaiser», den man für tot gehalten hatte, in Wirklichkeit lebe und sich bereithalte, um dieses Werk der großen Reinigung zu vollbringen. Nicht selten warfen sich die Pseudopropheten selbst in diese Rolle eines Führers und Endzeitkaisers, wofür sie sich viel­ fach adelige Phantasienamen zulegten oder sich als verschollene oder enterbte Fürsten ausgaben, so als «Emicho von Leiningen» oder als «König Tafur», als «Balduin» (Graf von Flandern) oder auch als «Fried­ rich» (Römisch-Deutscher Kaiser). Denn dem verheißenen Anbruch des Tausendjährigen Reiches würde der «Apokalypse des Johannes» und dem «Buch Daniel» zufolge eine kürzere oder längere Periode der Herrschaft des «Antichrist», des Soh­ nes Satans, vorangehen, der sich als der legitime Herrscher tarne, um die Menschen zu korrumpieren und Gott abspenstig zu machen. Diese ver­ borgene Herrschaft des Antichrist, der sich als Kaiser oder Papst tarne, hatte eben jetzt begonnen – und sie galt es aufzudecken und auszutilgen. So trug eine oft wüste und phantastische Mixtur aus Ängsten und Ver­ heißungen zum paranoiden und zuweilen gewaltlüsternen Charakter dieser Bewegungen bei, deren Opfer neben lokalen Amtsträgern, Grund­ herren oder Stadthäuptern vor allem Kleriker und Mönche sowie Kauf­ leute und Geldwechsler wurden, alle «Reichen» und «Korrupten» also – und mit großer Regelmäßigkeit auch die Angehörigen der jüdischen ­Gemeinden jener Städte, die am Wegesrand dieser marodierenden und bewaffneten Haufen lagen. Millenaristische Motive und Handlungsmuster begleiteten viele Sozialund Ketzerbewegungen dieser Jahrhunderte, von den italienischen Pata­ renern und Fraticelli bis zu den englischen Lollarden. Sie prägten auch die von handfesten sozialen und proto-nationalen Motiven getragenen Aufstände und Kriegszüge der böhmischen Hussiten und vor allem dann

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ihres radikalen Flügels, der Taboriten. Sie lebten schließlich fort in den über ganz Europa verbreiteten Täufergemeinden des 15. Jahrhunderts, den «Böhmischen» und «Mährischen Brüdern», oder in den Laien­orden der «Begharden» oder «Beghinen», die ein wegen der Verfol­ gungen weithin klandestines europäisches Netzwerk bildeten und sich vielfach mit den sozialen Bestrebungen und Protesten frühindustriell ausgebeu­ teter Schichten, vor allem der Handweber, verbanden. Immer wieder wurde das «Webertum» als solches fast zu einem Synonym für ein wi­ derständiges, von frühchristlichem Gemeindegeist getragenes Milieu. Theologisches und literarisches Format hatten millenaristische Motive und Erwartungen sehr früh, schon Ende des 12. Jahrhunderts, in den Leh­ ren von den drei Weltzeitaltern des kalabrischen Abts und Einsiedlers Joachim von Fiore gefunden, wonach den beiden Zeitaltern des Vaters und des Sohnes sehr bald das Dritte Zeitalter folgen werde  – auf das die Gläubigen sich durch die Schaffung eines neuen, weltentsagenden ­Ordens und durch eine Reinigung der Kirche an Haupt und Gliedern vorzubereiten hatten; bis endlich ein neuer, das Schwert führender theo­ kratischer Führer das Werk der Züchtigung und der Vorbereitung dieses dritten und letzten Weltzeitalters vollenden werde. Diese Weissagung fand weite Verbreitung und inspirierte immer von Neuem chiliastische Revolutionäre. Die glutvolle Figur des Joachim taucht auch in Dantes «Divina Comedia» auf, so wie sich die Spuren seiner Lehre in den Pre­ digten und Schriften des Thomas Müntzer wiederfinden. Was in den theologischen Manifesten all dieser millenaristischen Pro­ pheten am stärksten frappiert, ist das unvermittelte Schwanken zwi­ schen Quietismus und Blutdurst. Einer der frühesten und eindrücklichs­ ten Texte auf Deutsch war ein 1439 verfasstes Manifest, das in vielem der Eingabe eines Priesters namens Friedrich von Lantnaw an den Kongress von Basel 1431 entsprach, sich literarisch aber als eine Vision oder Pro­ klamation des eben verstorbenen Kaisers Sigismund tarnte: die «Refor­ matio Sigismundi». Ab 1476 in immer neuen Auflagen gedruckt, war sie eine der verbreitetsten Flugschriften der deutschen Bauernkriege und des Reformationszeitalters. Darin wurde ein bemerkenswert detailliertes Programm sozialreformerischer Maßnahmen entrollt, angefangen mit einer großen Kirchen- und Reichsreform über die Einführung der Pries­ terehe, die Säkularisierung der Kirchenländereien und ihre Verteilung bis hin zur Festlegung von Löhnen, Preisen und Steuern. In eindrück­ lichen Wendungen, die sich eher einer weltlichen als einer geistlichen Sprache bedienten, wird am Ende die Vision einer gerechten (im Wort­

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sinne durchaus kommunistischen) Gesellschaftsordnung gezeichnet: «Wenn alle Dinge in den Städten Gemeingut wären, wären auch Herren und Jedermann gemein. Wenn niemand die Interessen seiner Nachbarn verletzte, wenn ein jeder für das gemeinsame Wohl arbeitete, würde es nicht Kampf und Zwietracht geben  … Tretet herzu und helft alle Ungleichheiten zu zerstören, durch die die ganze Welt in Trümmern liegt.» Allerdings heißt es im Abschnitt «Die zornige Zeit» auch, halb Prophetie und halb Postulat: «Man kann die Reformation nicht durch­ führen ohne Gewalt und Pein … Es wird ein Scharfrichter kommen, der mit Zorn richten wird und dem man beistehen soll bis in den Tod  … Denn man muss das Unkraut aus dem ganzen Garten heraussuchen und es ausjäten.»2 Die Predigten des Thomas Müntzer, der sich selbst als «ein gnaden­ reicher Knecht Gottes» sah, lesen sich ähnlich in der Tendenz und doch ganz anders. Sie zielen weniger auf irgendeine Reichsreform oder Kir­ chenreformation als vielmehr auf eine grundstürzende, das Unterste nach Oben kehrende «conversio», eine politische und spirituelle Um­ wandlung der Welt und der Menschen, und letztlich auf die Gründung eines regelrechten Gottesreichs, als dessen Begründer Müntzer sich wo­ möglich selbst sah. Von dieser hohen Warte aus hielt er im selben Jahr 1524, als sich die Aufstände vermehrten und das eschatologische Fieber stieg, seine «Hochverursachte Schutzrede» gegen Luther oder vielmehr: «Wider das geistlose, sanftlebende Fleisch zu Wittenberg» und wider dessen «Dieb­ stahl der Heiligen Schrift» – eine Predigt, von der vor allem diese Sätze in Erinnerung geblieben und in den Kulturkanon der DDR eingegangen sind: «Sieh zu, die Grundsuppe des Wuchers, der Dieberei und Räuberei sein unser Herrn und Fürsten, nehmen alle Kreaturen zum Eigentum: die Fisch im Wasser, die Vögel in der Luft, das Gewächs auf Erden muss alles ihr sein (Jes. 5). Darüber lassen sie dann Gottes Gebot ausgehen unter die Armen und sprechen: ‹Gott hat geboten: Du sollst nicht stehlen.› … So er sich dann vergreift am allergeringesten, so muss er hängen. Da ­saget denn der Doktor Lügner: Amen. Die Herren machen das selber, dass ihnen der arme Mann feind wird. Die Ursache des Aufruhrs wollen sie nicht wegtun. Wie kann es die Länge gut werden? So ich das sage, muss ich aufrührisch sein! Wohlhin!»3 Marx hatte den Text früh schon (1843) entdeckt als bewegende Klage, «dass alle Kreatur zum Eigentum gemacht worden sei».4 Aber Engels

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vor allem war es, der in seiner Schrift über den Bauernkrieg Müntzer un­ ter die deutschen Charaktere gezählt hatte, «die sich den besten Leuten der Revolutionen anderer Länder zur Seite stellen können». Er habe sich erst als Prediger, dann ganz direkt als politischer Agitator an die Spitze der aufrührerischen Bauern gestellt und eine Revolution propagiert, ­deren «politisches Programm an den Kommunismus» gestreift habe. Jenseits seiner verdeckten «christlichen Redeweisen» sei sein Programm ganz klar gewesen: «Unter dem Reich Gottes verstand Münzer … nichts anderes als einen Gesellschaftszustand, in dem keine Klassenunter­ schiede, kein Privateigentum und keine den Gesellschaftsmitgliedern ­gegenüber selbständige, fremde Staatsgewalt mehr bestehen. Sämtliche bestehende Gewalten, sofern sie nicht sich fügen und der Revolution an­ schließen wollten, sollten gestürzt, alle Arbeiten und alle Güter gemein­ sam und die vollständigste Gleichheit durchgeführt werden.»5 Das war allerdings eine weitgehende Fehlinterpretation. Wohl drohte Müntzer seinem Landesherrn stellvertretend für alle Fürsten, wenn sie seine Gottesdienste unterdrückten, «wirt das swert yhn genommen wer­ den und wirt dem ynbrunstigen volke gegeben werden zum untergange der gottlosen»6. Aber wie er in seiner «Fürstenpredigt» vor seinem säch­ sischen Landesherrn erklärt hatte, meinte das in der Umkehrung, dass es die Aufgabe der gottesfürchtigen Fürsten sei, ihrerseits gemäß Christi Befehl «Nehmet meine Feinde und würget sie vor meinen Augen» (Lukas, 19,27) das Schwert gegen die «Gottesfeinde» zu führen. Zu diesen zählte er gerade die falsch predigenden «Pfaffen» und die sanftlebenden «Schriftgelehrten», die verkündeten, dass die Fürsten ein «heidnisches», d. h. ein rein weltliches Amt innehätten, statt als bewaffneter Arm jener «auserwählten, frummen Menschen» zu wirken, denen «der Geist Got­ tes itzt … offenbart» werde. Darin steckte eine doppelte politische und theologische Regression: Erstens eine Steigerung des Offenbarungscharakters, die keiner theolo­ gischen Rechtfertigung bedurfte und sich keinem Urteil von dieser Seite unterwarf. Zweitens aber die Errichtung eines theokratischen Regimes, worin der gottesfürchtige Fürst den Weisungen der göttlichen Offen­ barung folgend, wie sie «auserwählten, frummen Menschen … itzt … offenbart» werde, sich der Austilgung der «Feinde Gottes» zu widmen habe.7 Dagegen waren für Müntzer, der selbst aus gesicherten Verhältnissen stammte, die allgemeine Freiheit oder die konkreten, sozialen Anliegen der Bürger und Bauern allenfalls von sekundärer Bedeutung, wenn nicht

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geradezu «heidnisch» (weltlich). So kommentierte er die Vernichtung des Heeres der aufrührerischen Bauern bei Frankenhausen in einem Sendbrief aus seinem Versteck mit der lakonischen Feststellung: Die Bauern hätten eben nur ihre eigenen Zwecke verfolgt, statt für ein wah­ res Reich der «Gottesfreunde» zu kämpfen.8 Kurzum, alle kreatürlichen Bedürfnisse waren in Müntzers Predigten kategorisch getrennt vom Erlösungshunger und von den Offenbarungen der «auserwählten, frummen Menschen»; seine Parteinahme für die so­ zialen Belange der einfachen und armen Menschen ergab sich aus diesem Primat einer religiösen Gesamtordnung, in der gottesfürchtige Fürsten als die Träger christlicher Strafgewalt ebenso ihren Platz und ihre Funk­ tion hatten wie die reichen Fernhändler, Goldschmiede oder Bergbauun­ ternehmer, mit denen er Umgang pflegte. Einen düster leuchtenden Triumph feierten millenaristische Weltvorstel­ lungen und Sozialformen schließlich im kurzen Regime der «Wiedertäu­ fer» in Münster 1534/35 unter dem Pseudo-Propheten Jan Matthys und dem «König der letzten Tage» Jan van Leyden. Am Ende aber wurden alle die untergründig fortschwelenden Nester einer chiliastischen Häresie auf dem europäischen Kontinent in den Re­ ligionskriegen des 16./17. Jahrhunderts eins nach dem anderen gewalt­ sam ausgelöscht, sowohl durch die katholische Gegenreformation wie durch die neuen protestantischen Territorialherrschaften und Landeskir­ chen. Umso bedeutender war die Rolle, die millenaristische Prediger und Bewegungen noch einmal in den englischen Bürgerkriegen des 17. Jahr­ hunderts spielten  – vor allem in dem moralischen und politischen Va­ kuum, das die Hinrichtung des Königs Karl I. 1649 hinterließ. Das galt etwa für die «Fifth Monarchy Men», die den bevorstehenden Anbruch eines Königreichs Christi auf Erden für das Jahr 1666 erwarteten, aber auch für etliche andere Fraktionen der militarisierten «Puritaner», «Dis­ senter» und «Leveller», auf die sich Cromwell und seine Parlaments­ truppen anfangs stützten und die sie dann aus ihrer Armee hinauszusäu­ bern begannen. Daneben entwickelten sich weitere, sektenhafte, mehr ins Sozialleben greifende Gruppen und Bewegungen. Die von dem Laienprediger Gerrard Winstanley (einem ehemaligen Schneider) geführten «Diggers» vertraten unmittelbar sozialrevolutio­ näre Bestrebungen, als sie darangingen, von Grundbesitzern angeeignete Gemeindeländereien oder brachliegendes Kronland auf eigene Faust zu

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besetzen, um darauf ihre Kommunen zu gründen. Auch nach drei Jahr­ hunderten war das geflügelte Wort des 1381 hingerichteten aufrühreri­ schen Priesters John Ball noch in lebhafter Erinnerung: «Als Adam grub und Eva spann, wo war denn da der Edelmann?»9 Die Lehre Winstanleys, wie er sie in seinem Manifest «Das Gesetz der Freiheit» von 1652 darlegte, hatte bereits einige «antikapitalistische» und präsozialistische Züge – so wenn er das Privateigentum («particular propriety») insgesamt als ein «verwirrendes Übel» und die «Freiheit zu kaufen und zu verkaufen» mit der Freiheit von Eroberern assoziierte, die Menschen in Knechtschaft zu führen; oder wenn er ganz generell «die Ruhelosigkeit der Menschen», die von ihrer Besitzgier und ihrem Streben nach sinnlicher Lust ausgehe, als des Teufels brandmarkte. Sein recht detaillierter Gesellschaftsentwurf erinnerte in Teilen an jenes «Uto­ pia», das Thomas Morus mehr als hundert Jahre zuvor als Gedanken­ spiel entworfen hatte: mit einer patriarchalen, auf Wahlen beruhenden Herrschaft der Ältesten, die einen «Obersten Friedensstifter» aus ihrer Mitte zu berufen hatten; mit Gemeineigentum und Arbeitspflicht, sozial geregeltem Gütertausch, Verbot des Geldes (außer im Außenhandel), ­gesellschaftlicher Erziehung der Kinder und Freiheit der ehelichen Wahl. Aber Winstanley gab diesem Programm anders als Morus die Dringlich­ keit eines millenaristischen Hier und Jetzt. Die regierenden Könige wie die feudalen Erbhalter waren als «Diebe» und «Unterdrücker» des Volkes aus dieser mit allen Mitteln herbeizu­ führenden Gesellschaft kategorisch auszuschließen. Das war, bei allem bibeltreuen Legitimismus, tatsächlich Sprache und Geist eines republi­ kanischen Revolutionärstums, wie es zu dieser Zeit sonst noch kaum von irgendjemandem in solcher Konsequenz vertreten wurde – und wie es Oliver Cromwell in seiner angenommenen Rolle als Lord Protector, als Statthalter eines künftigen konstitutionellen Monarchen, denn auch entschieden ablehnte und scharf bekämpfte.10 Viele millenaristische Sektierer der englischen Bürgerkriegszeit flohen nach der gewaltsamen Niederschlagung ihrer Unternehmen in die «Neue Welt», besonders in die nordamerikanischen Kolonialgebiete, wo sie in den verschiedensten Neubildungen, zuerst im pennsylvanischen «Quä­ kertum», dann als «Mennoniten», als «Shaker» oder schließlich im volksreligiösen «Methodismus» fortlebten. Andere Überreste chiliastischer Sekten und Täufergemeinden wander­ ten ab dem 17. Jahrhundert ins weite Russische Reich aus und siedelten dort unter den verschiedensten Bezeichnungen als «Pfingstler», «Adven­

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tisten» oder «Mennoniten» auf Neuland; oder sie gingen in die Bildung neuer, autochthoner russischer Sekten wie der ekstatischen «Chlysten», der sich selbst kastrierenden «Skopzen», der bibeltreuen «Molokanen» usw. mit ein, von denen es im Zarenreich bis in die Jahre der Revolution nur so wimmelte. Sie haben über zwei Jahrhunderte hinweg ein nicht zu unterschätzendes Ferment der revolutionären Gärung gebildet, haupt­ sächlich in Gestalt der «Altgläubigen», die die völlige Umwandlung der Orthodoxie in eine Staatskirche unter den Romanows, namentlich unter Zar Peter, verweigerten.11 Aber aus diesen Gemeinden stammten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einige der bedeutendsten Kaufleute, Industriellen oder auch Verleger Russlands; so wie in den Vereinigten Staaten zur selben Zeit Quäker, Mormonen und andere religiöse Sektierer eine höchst ak­ tive und erfolgreiche Rolle bei der Ausbildung einer dynamischen Kapi­ tal- und Marktwirtschaft spielten.

Religiöser Kommunismus und Kapitalismus Wie konstitutiv die Rolle gewesen ist, die chiliastische Sektierer in der Formierung der modernen Welt gespielt haben, ist denn auch in der ge­ gensätzlichsten Art und Weise diskutiert worden. ­Einerseits kann man bei ihnen dieselbe, sogar noch konzentriertere Dialektik von Armuts­ predigt und Reichtumsakkumulation, von Gemein­eigentum und Warenund Geldwirtschaft am Werk sehen, die uns schon beschäftigt hat. Andererseits kann man argumentieren, dass «erst im England des ­ 16. Jahrhunderts die millenaristischen Strömungen des späten Mittel­ alters ihre Mutation in moderne revolutionäre Bewegungen» vollzogen hätten. Eine vom Bösen gereinigte Welt sei das «klassische millenaristi­ sche Syndrom», das sämtliche revolutionären und totalitären Bewegun­ gen der letzten zweihundert Jahre geprägt habe und das im modernen Kommunismus oder in den faschistischen Bewegungen ganz ebenso zu finden ­gewesen sei wie in der liberalen Utopie «einer endgültigen Har­ monie» der freien Marktteilnehmer oder im missionarischen Exzeptio­ nalismus der USA.12 Schon ein kurzer Seitenblick auf das alte China zeigt allerdings, dass sich auch ohne endzeitliche Erwartungen gewaltige Aufstands- und Un­ tergrundbewegungen formieren konnten, die ein durchaus ähnliches millenaristisches Gepräge tragen konnten. Womöglich traten einige Mo­

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tive hier sogar noch deutlicher hervor als in den europäischen Gesell­ schaften des Mittelalters und der frühen Neuzeit, weil die vermittelnden Instanzen einer feudalen, auf persönliche Beziehungen und Verpflichtun­ gen gegründeten Ordnung ebenso fehlten wie das Element partikularer Territorialherrschaften, freier Reichsstädte und autonomer Bürgerschaf­ ten, und erst recht das spannungsvolle Kräftespiel zwischen Kirche und Staat oder zwischen niederem und höherem Klerus. Die vom chinesischen Kaiser als «Sohn des Himmels» mittels seiner Statthalter und Beamten immer neu begründete und mehr oder weniger gleichmäßig auf ihren Untertanen, in erster Linie den bäuerlichen Mas­ sen, lastende tributäre Ordnung dürfte nicht nur in ihrem sozialen und politischen Aufbau dichotomischer gewesen sein als in den europäischen Monarchien. Auch zwischen der staatsreligiösen konfuzianischen Beam­ tenethik und Gelehrsamkeit auf der einen Seite und den vielfältigen syn­ kretistischen Äußerungen einer schamanistisch, taoistisch oder buddhis­ tisch gefärbten Volksspiritualität auf der Gegenseite hat eine womöglich noch größere Kluft bestanden als in Europa. Umso mehr verbanden sich in den chinesischen Rebellenbewegungen, ähnlich wie in den europäischen Bauernkriegen, soziale und politische Beschwerden mit überschießenden religiösen, magischen oder mythi­ schen Ausdrucksformen und Vorstellungen; so wie die durch Riten und Sprache eng verschweißten chinesischen Geheimgesellschaften in vielem ein Pendant zu den untergründigen Reform- und Ketzerbewegungen bil­ deten, die Europa seit dem 13. Jahrhundert durchzogen. Ähnlich wie in Europa scheinen viele der Faktoren und Fermente einer sozialökonomischen Aufstiegsbewegung auch hier in breiten Volksschich­ ten statt von freudigen Erwartungen eher von katastrophischen Stim­ mungen begleitet gewesen zu sein. So verbinden sich in den Äußerungen und Dokumenten dieser Aufstandsbewegungen seit alters her auftretende Bestrebungen, die Schranken der eigenen Körperlichkeit und materiellen Misere zu überschreiten (sei es ekstatisch oder asketisch), mit ebenso ­alten, tief verankerten Vorstellungen, die einen «Höchsten Frieden» (taiping) mit der Beschwörung des mythischen Idealreichs eines längst ver­ gangenen «Groß-Chin» unter der Ägide eines gottgleichen Kaisers ver­ knüpften.13 Mitte des 19. Jahrhunderts sollte dann der Aufstand der «Taiping»-­ Rebellen, das vermutlich größte und zugleich spurloseste Ereignis dieser Art in der gesamten aufgezeichneten menschlichen Geschichte, diese ur­ alte Vorstellung eines «Reichs des Höchsten Friedens» im Namen tra­

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gen – und sie mit den Bildern und Vorstellungen einer von den Missio­ naren nach China verpflanzten christlichen Erlösungsreligiosität vielfach fusionieren und dynamisieren. Aber auch hier tauchen in der letzten Phase dieses Bürgerkriegs inmit­ ten des blutrünstigsten theokratischen Despotismus und eines monströ­ sen Obskurantismus plötzlich Gedanken einer umfassenden Moderni­ sierung Chinas und einer Reichsreform auf, die unmittelbar an die gleichzeitige, erfolgreiche «Meji-Restauration» in Japan erinnern – oder auch an die Reformen des «kleinen Steuermanns» Deng Xiaoping nach der Ära Maos, der sich seinerseits auf das japanische Vorbild bezog. Lie­ fert die atemberaubende Dynamik des heutigen China also ein anderes, noch irritierenderes Beispiel für die Dialektik von Armutspredigt und Reichtumsproduktion, von Millenarismus und Moderne? Max Weber hat die Phänomene einer prophetisch-charismatisch inspi­ rierten Erlösungsreligiosität von «negativ Privilegierten» weder auf die frühe Neuzeit Europas noch auf die christliche Welt eingegrenzt. Viel­ mehr sah er darin ein universelles Phänomen, in dem spirituelle Sehn­ süchte sich «mit dem Bedürfnis nach gerechter ‹Vergeltung›» paarten und unter dem Einfluss von Prophetien in regelrechte Vernichtungserwartun­ gen umschlagen konnten.14 Aber auch der «Kommunismus» als eine «Gemeinschaft im Güter­ verbrauch» (im Unterschied zum modernen Sozialismus, der auf eine «ratio­nale Organisation der Güterproduktion für eine – irgendwie – ge­ meinsame Rechnung» abziele) war für Weber ein globales Phänomen, das sich keineswegs nur auf randständige millenaristische Sekten in Eu­ ro­pa beschränkte. Sondern in vielen Gesellschaften sei die Güter­ge­mein­ schaft eine Sozialform gewesen, die ihre «Stätte entweder auf traditio­ nellem und das heißt patriarchalem Boden (‹Hauskommunismus›)» hatte und als solche bis in die neueste Zeit eine Erscheinung des Alltags war. Als eine über Familie oder Dorfgemeinde hinausgreifende gesell­ schaftliche Erscheinung entstand die Gütergemeinschaft dagegen regelmä­ ßig «auf dem außeralltäglichen Boden der charismatischen Gesinnung», und das in zwei Hauptformen: entweder als ein «Kameradschaftskommu­ nismus des Heeres», d. h. als ein «Lager- und Beutekommunismus», oder aber als ein «Liebeskommunismus der (religiösen) Gemeinde» bezie­ hungsweise des Klosters. Im beiden Fällen war die kommunistische Gütergemeinschaft Weber zufolge Mittel zu einem durchaus konservativen Zweck: hier der «Erhal­

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tung echter Heldengesinnung» (wie klassisch in einem Militärstaat wie Sparta); dort der Erhaltung «echter Heiligkeit» (wie idealtypisch in einem katholischen oder buddhistischen Kloster). Diese beiden «außeralltäg­ lichen» Formen hielt Weber allerdings für historisch eher passager: «Nur die ­gemeinsame Gefahr des Feldlagers oder die Liebesgesinnung welt­ fremder Jüngerschaft hält den Kommunismus zusammen». Sobald «die Interessen des ökonomischen Alltags zur Übermacht gelangen», seien diese Formen einer kommunistischen Gütergemeinschaft in ihrem Be­ stand unvermeidlich gefährdet.15 Was Weber mit dem modernen Kapitalismus anbrechen sah, war statt­ dessen «die Weltherrschaft der Unbrüderlichkeit». In dieser Produk­ tions- und Lebensweise ging es primär um den «Erwerb von Geld und immer mehr Geld», bis dieses permanente Akkumulieren als «etwas ­gegenüber dem ‹Glück› oder dem ‹Nutzen› des einzelnen Individuums … gänzlich Transzendentes und schlechthin Irrationales erscheint». So ­bewunderungswürdig er das kapitalistische Wirtschaften als eine ratio­ nalisierte, strikt «rechenhafte» Form der Güterproduktion und -distri­ bution zeichnete, die zugleich eine rationale Wissenschaft, eine ratio­ nale, bürokratische Organisation des Staates und letztlich eine rationale Gestaltung des privaten und des öffentlichen Lebens aus sich hervor­ trieb – so bedrückend erschien Weber am Ende diese universelle Tendenz im Ganzen, die dem Kapitalismus als einem Gesellschaftssystem inne­ wohnte und auf eine immer weiter getriebene «Spezialisierung», «Metho­ disierung», «Versachlichung», «Disziplinierung», «Entzauberung», letzt­ lich auf eine «Entmenschlichung» des Lebens selbst hinauslief.16 Die Frage bleibt legitim, ob sich sinnvolle Verbindungen oder Analogien zwischen den millenaristischen Bewegungen des Mittelalters und der Neuzeit und den revolutionären oder totalitären Massenbewegungen des 20. Jahrhunderts herstellen lassen. Norman Cohn hat in seiner klas­ sischen Arbeit über «Die Suche nach dem Millenium» nur einige, eher indirekte Verbindungen angedeutet, sowohl zu den kommunistischen und sonstwie sozialrevolutionären Bewegungen, die sich der Vorstellung einer vom Egoismus gereinigten Welt durch einen «Vernichtungskampf gegen ‹die da Oben›» verschrieben hätten, als vor allem auch zu den völ­ kischen und antisemitischen Bewegungen mit ihren Mythen einer jüdi­ schen Weltverschwörung und rassisch gereinigten Welt.17 Mit gerade umgekehrter Tendenz hat Eric Hobsbawm in einer frühen Aufsatzsammlung («Primitive ­Rebels») eine Reihe im 19./20. Jahrhun­

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dert entstandener, vor allem in ländlichen Bauern- und Handwerkermi­ lieus, etwa in Süditalien oder Südspanien, verankerter, religiös-millenaris­ tisch inspirierter Bewegungen untersucht und sie neben Mafiosi, Banditen und volkstümlichen Anarchisten als diffuse Formen sozialer Unrast recht umstandslos in die Geschichte der modernen Klassenkämpfe eingereiht. Alle modernen Revolutionäre seien letztlich «Vettern der Taboriten und Wiedertäufer», da jede revolutionäre Bewegung aus einem irrealen Über­ schuss an kämpferischem Mut und Motivation leben müsse, um erfolg­ reich zu sein.18 Das ist allerdings eine der Fragen, die uns noch beschäftigen wird: Wie viel vormoderner oder auch antimoderner Chiliasmus in den Ener­ giehaushalten und Vorstellungswelten der kommunistischen Bewegun­ gen und Revolutionen des 19./20. Jahrhunderts am Werk gewesen ist. Einige soziologische und psychologische Aspekte der frühen militaristi­ schen Bewegungen könnten darüber erste Aufschlüsse geben  – sofern man die Vielschichtigkeit der Motive anerkennt, die darin zum Tragen kamen, so wie in den späteren kommunistischen Bewegungen auch. Erstens, die Unrast konzentrierte sich von Beginn an gerade in denje­ nigen Gebieten Nord- und Mitteleuropas, die von Flandern über den Rhein bis Norditalien reichten. Mit anderen Worten: Der mittelalter­ lich-frühneuzeitliche Millenarismus entstand in den Ursprungsgebieten des modernen Kapitalismus. Dazu passte, zweitens, dass die millenaristischen Bewegungen dieses Zeitalters eher in den Städten als auf dem flachen Land virulent waren – ohne deshalb genuin städtische Bewegungen zu sein. Im Gegenteil, sie sammelten zu einem großen Teil die von den feudalen wie zünftigen Strukturen Ausgestoßenen oder Ausgeworfenen an den Rändern der Umbruchszonen zwischen Stadt und Land. Tatsächlich wiesen gerade die blühendsten Städte der frühen Neuzeit im Grunde eine ganz ähnliche Exklusivität ihrer Bürgerschaften auf wie die antiken Städte: «Auch im Florenz Machiavellis standen nicht mehr als etwas über 3000  Bürger ­einer Gesamtbevölkerung von 70 000  Menschen gegenüber, und trotz des heftigsten Bürgerzwists hat offenbar niemand je ernstlich daran ge­ dacht, diese Massen zu organisieren und die Macht zu ergreifen», schrieb Hannah Arendt, um den Unterschied zu den modernen Revolutionen zu markieren.19 Aber empfänglich für radikale Armutspredigten, wie die Savonarolas, die der noblen Oberschicht zu Leibe rückten und sie auf­ forderten, Luxusgegenstände, Bilder oder Bücher in einem «Fegefeuer der Eitelkeiten» zu verbrennen  – das waren diese städtischen Armen

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schon. Was die amorphen frühneuzeitlichen «Massen» gleichwohl mit den Pariser «Sansculottes» (den Unbehosten) von 1793, den Petrograder «Proletarii» (den Besitzlosen) von 1917 oder den Teheraner «Mostaza­ fin» (den Barfüßigen) von 1979 verband, war vielleicht, dass sie so etwas wie die Feinde der Stadt in der Stadt bildeten. Drittens artikulierte sich in den millenaristischen Bewegungen, in den Stimmen der Pseudopropheten selbst wie ihrer Propagandisten, ein aus klerikalen, feudalen oder staatlichen Zusammenhängen entbundenes ­intellektuelles Element, wie man es auch in allen modernen Sozialbewe­ gungen findet. Es sind in aller Regel diese «Führer», die sich ihre «Mas­ sen» schaffen, nicht umgekehrt. Viertens erzeugte die drängende millenaristische Erwartung, verbun­ den mit akuten sozialen Forderungen, einen Furor der Reinigung der Welt durch die Auslöschung des «Bösen», der dem Fanatismus der Ket­ zerverfolgung durchaus glich, ihn aber in der Streuung der Objekte der Aggression (der «Reichen», der «Verdorbenen», der «Ungläubigen») noch übertraf. Dieses Phänomen wird uns in allen von Kommunisten ­geführten Kampfbewegungen in den bestürzendsten Formen wieder be­ gegnen, sei es in der unendlichen Vermehrung der Feindkategorien sei­ tens der Bolschewiki im russischen Bürgerkrieg, in den nahezu esoteri­ schen oder mythologischen Bestimmungen irgendwelcher «schwarzen Elemente» oder «Rinderteufel» in der chinesischen Kulturrevolution oder in der stummen Vernichtungsroutine der Roten Khmer auf der Jagd nach «Korrupten» oder schlechthin «Fremden». Schließlich, fünftens, und darin kann man eine weitere Parallele zu modernen Massenbewegungen überhaupt sehen, dürfte ein entscheiden­ des Motiv, sich millenaristischen Bewegungen und Sekten anzuschlie­ ßen, das Bedürfnis der aus allen traditionellen Zusammenhängen entlas­ senen oder in eine Situation totaler sozialer Haltlosigkeit versetzten Menschen gewesen sein, sich einer synthetisch aggregierten, sinnerfüll­ ten und ziellos-zielgerichtet mobilisierten Gemeinschaft anzuschließen und darin ganz aufzugehen. Soweit die klandestinen Täufergemeinden des 16./17. Jahrhunderts von ihren Gegnern und Verfolgern hier und da bereits als «communisticae» verschrien worden sind,20 scheint darin eher eine moralische als eine soziale, politische oder theologische Verur­ teilung gelegen zu haben. Denn als der innerste Kern und das wahre ­Geheimnis dieser christlichen «Kommunisten» wurde weniger die Güter­ gemeinschaft – die es schließlich in Mönchsorden auch gab – als viel­ mehr die «Weibergemeinschaft» unterstellt.

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Das führt, sechstens, zu einem letzten, nur undeutlich erkennbaren Aspekt: dem der sozialen und psychischen Energien, die im Zuge einer durch Kriege und soziale Katastrophen bedingten Auflösung der patriar­ chalen Geschlechterordnungen in diese Bewegungen eingeflossen sind. Tatsächlich konnten sich gerade Formen der primären Geschlechter­ segregation wie bei den Werk- und Laienorden der «Beghinen» und «Be­ garden» nicht selten in freien Partnerschaften oder losen sexuellen Ver­ bindungen ausleben (wie im Übrigen unter Mönchen und Nonnen öfters auch). Erotische Energien und lebensweltliche Emanzipationswünsche mögen auch ein starkes Motiv eigener Ordnung gewesen sein – eines, das viele der Sekten durch puritanische Regularien dann selbst wieder einzuhegen suchten. In der rigorosesten Form konnte das bedeuten, dass eine «kom­ munistische» Lebensordnung die Kontrolle über Sexualität und Fort­ pflanzung beanspruchte, wie wir es auch in vielen der literarischen Uto­ pien finden, die das Zeitalter der Entdeckungen, der Reformation und der Aufklärung über mehr als drei Jahrhunderte phantastisch begleitet haben; und wie es in einigen kommunistischen Sozialformationen des 20. Jahrhunderts, etwa den Volkskommunen der Roten Khmer, auch tat­ sächlich Wiederauferstehung feierte. Bürstet man diese Befunde gegen den Strich, wird man allerdings viele der genannten Charakteristiken auch dort finden, wo millenaristische Bewegungen sehr bald und ganz prominent in den Strom einer bürger­ lichen, industriellen und kapitalistischen Entwicklung eingeflossen sind – so wie im Falle mancher russischer und so gut wie aller amerikanischen Sekten; und vermutlich in nicht wenigen außereuropäischen Ländern und in anderen religiösen Formen, beispielsweise in islamischen Bruder­ schaften, bis heute. Sowohl ein großfamiliärer «Hauskommunismus» wie ein monastischer «Liebeskommunismus» oder eben ein militärischer «Kameradschafts-» oder «Beutekommunismus», um die Begriffe Webers noch einmal aufzugreifen, konnten und können für eine primäre Geld­ akkumulation und Produktion für den Markt eine solidere Ausgangs­ basis liefern als eine rein individuelle, vor allem auf Kredit gebaute Ge­ schäftsgründung. So gesehen, hat der «Kommunismus» im weitesten ­Begriff dieses Wortes und in seinen verschiedenen sozialgeschichtlichen Ausprägungen immer schon und bis in die neueste Zeit hinein eine we­ sentliche Grundlage der kapitalistischen Akkumulation geliefert.

2. Die eine Welt und ihre Schrecken

Der Raum der Zukunft

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rst am Ausgang des 18. Jahrhunderts habe sich in Europa, zum ers­ ten Mal in der menschlichen Geschichte überhaupt, so etwas wie ein «Raum der Zukunft» aufgetan, und mit ihm die Vorstellung eines von Menschen plan- und gestaltbaren «Fortschritts»  – so die weitreichende These, die Lucian Hölscher im Anschluss an Reinhart Kosellecks Über­ legungen «Zur Semantik geschichtlicher Zeiten»1 unter dem plakativen Titel «Die Entdeckung der Zukunft»in den Raum gestellt hat.2 Das klingt etwas unwahrscheinlich und ist natürlich umstritten. So hat Peter Burke dieser These entgegengehalten, dass die Menschen von jeher und jedenfalls in Europa seit der frühen Neuzeit immer vielfälti­ gere und bewusstere «Zukunftspraxen» entwickelt, also Pläne gemacht oder Vorsorge getroffen haben, sei es in Form von Verträgen, Versiche­ rungen, Testamenten, sei es in ihren alltäglichen, ausgreifenden Aktivi­ täten.3 Nicht anders stellt es sich in makroökonomischer Dimension dar: Seit dem ausgehenden Mittelalter überzog Europa sich mit einem immer engeren Netz von Handels-, Messe- und Seestädten, verdichteten sich die Verkehrsströme, die im Verein mit den frühimperialen Unternehmen der Fürsten und Staaten zugleich auch schon beträchtliche Geld- und Kreditströme generierten, getrieben von Erwartungen auf zukünftige Monopolgewinne und Machtzuwächse.4 Was anderes wären dies als be­ wusste «Zukunftspraxen» (Burke) oder als sich aufspannende «Erwar­ tungshorizonte» (Koselleck)? Zu bedenken ist gleichwohl, dass retrospektive Betrachtungen im Mo­ dus des Zeitraffers operieren und darüber hinwegtäuschen, dass man es in Wirklichkeit mit «Abläufen im Zeitlupentempo» zu tun hat, worin die einander ablösenden weltwirtschaftlichen Regimes als «gleichsam reglose Riesengebilde … der Zeit (trotzen)».5 Die Weltvorstellungen und Lebensgefühle der Menschen entwickeln sich im Verhältnis zu den fakti­ schen, materiellen Entwicklungen noch ungleich langsamer, eingebunden in einen schützenden Kokon von Überlieferungen und Mythen, religiö­ sen Glaubenssystemen und magischen Alltagsritualen, die ihrem Leben

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erst Struktur und Sinn geben. «Die Kultur ist der Alte, der Patriarch der Weltgeschichte», so Fernand Braudel.6 Vor allem aber, und darauf zielen Kosellecks Begriff einer «Sattelzeit» wie Hölschers Formel von der «Entdeckung der Zukunft» eigentlich ab, geht es um die Frage, ob und ab wann die Lebenspläne und -aussichten der Einzelnen sich schon bis hin zur Vorstellung eines gesamtgesell­ schaftlichen, von den Menschen selbst gestalteten «Fortschritts» erhe­ ben und verdichten konnten, oder sogar bis hin zur Idee einer von ihnen selbst gemachten, eigenen «Geschichte». Und eben das war eine für alle früheren Menschengeschlechter unmögliche, unerhörte Vorstellung. Es geht also um die Umwälzungen oder Revolutionen der neuzeit­ lichen Weltvorstellungen bis zu jenem Punkt, an dem irgendwann in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, im Vorfeld der Amerikanischen und der Französischen Revolution, ein «Raum der Zukunft» sich auf­ tat, fast wie eine vierte Dimension der Zeit: neben Vergangenheit, Ge­ genwart und – Ewigkeit.7 Diese «vierte» Dimension der menschlichen Existenz hatte bis dahin im Dunkeln gelegen, weil alles, was «in Zukunft» geschehen konnte oder sollte, im Ratschluss der Götter vorbestimmt war, als ein Los oder Fa­ tum, das zu ergründen Aufgabe der Priester oder Astrologen war, im ­alten China nicht anders als in den orientalischen Reichen, im antiken Griechenland und in Rom. Jedes größere Unternehmen bedurfte einer Sanktionierung, und sein Ausgang war in irgendeiner numinosen Vor­ sehung bereits beschlossen. Und wenn Cicero als Politiker und Rhetor in einer berühmten Sentenz («historia magistra vitae») die Geschichte ein­ mal eine Lehrmeisterin nannte, dann, so Koselleck, im Sinne einer Bei­ spielsammlung für tugendhaftes, tapferes oder kluges Verhalten, die ­gerade auf die prinzipielle Wiederholbarkeit und Ähnlichkeit aller irdi­ schen Ereignisse verwies.8 Etwas vollkommen Neues, Nie-Dagewesenes konnte es unter dem Himmel nicht geben, jedenfalls nicht aus mensch­ lichem Vermögen. Die christliche Zeitrechnung bedeutete zwar schon eine erste Öffnung nach vorn, in einen offenen Erwartungsraum – aber zugleich auch eine neue, kategorische Schließung. Sie begann mit der Ankunft des Gottes­ sohns auf der Erde als einem neuen Anfang der Geschichte, einem Jahr Eins (in unserer Zeitzählung bis heute); aber sie stand im Zeichen des Versprechens der Wiederkehr des Messias, die auch die Zeit des End­ gerichts sein würde. Alle christliche Zeit war bis in die frühe Neuzeit hi­

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nein «eschatologische Zeit». Sicherlich bedeutete das schon eine gewal­ tige Dynamisierung und Dramatisierung aller menschlichen Zeit- und Weltvorstellungen. Aber was die Menschen in ihrer kurzen, flüchtigen Lebensspanne erwartete, das blieb, solange der Erlöser nicht erschienen war, im Kreislauf der Generationen und der Natur vorgezeichnet und ansonsten Gottes unerforschlichem Ratschluss anheimgegeben. Noch Christoph Columbus war bekanntlich überzeugt, dass die «an­ dere Welt» (otro mundo), auf die er jenseits des Ozeans gestoßen war, den Eingang zum Garten Eden bildete. Aber erst mit den Expeditionen des Amerigo Vespucci in den tiefen Süden, entlang der Küste des nach ihm benannten neuen, «amerikanischen» Kontinents, stand der Osten auf den Weltkarten nicht mehr im Norden und kam die Erde der Kom­ passnadel folgend langsam ins Lot. Zugleich begann sie sich auch empi­ risch-praktisch zu einem «Globus» zu runden, den man in alle Richtun­ gen umfahren konnte. Damit war der Weg offen zur «kopernikanischen Wende», also zur Umwälzung sämtlicher überkommener Vorstellungen der irdischen wie der kosmischen Welt. Die Erde und der Mensch bildeten nicht länger den ruhenden Mittelpunkt des Alls, sondern waren integrierender und bewegter Teil eines eigenen Gesetzen gehorchenden, unendlich größeren «Zeit-Raums». Das war eine Revolution aller bisherigen Weltvorstel­ lungen, mit allen Widersprüchen und Paradoxien, die dem Begriff der «Revolution» als solchem eigen waren.

Revolutio, Renovatio, Restauratio Im Jahre 1543 veröffentlichte Nikolaus Kopernikus seine epochema­ chende Schrift «De Revolutionibus Orbium Coelestium» und beschrieb die ewig sich wiederholenden Umwälzungen oder auch «Rückkehr» der Planeten zu ihrem Ausgangspunkt beim Umlauf um die Sonne: ein Sys­ tem von «Kreisbewegungen der Himmelskörper».9 Der Begriff der «Revolutionen» selbst (im Plural) verwies schon da­ rauf, dass von einem Umsturz aller hergebrachten Weltvorstellungen zu­ nächst keine Rede sein konnte. Vielmehr handelte es sich gerade um ­einen Versuch, die Welt von Neuem in einem ewigen, in sich ruhenden Modell zu fassen, das die überkommene Vorstellung von den Sphären­ schalen eher reformulierte als «revolutionierte». Auch die nachfolgen­ den großen Astronomen der frühen Neuzeit  – von Galilei über Tycho

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Brahe und Kepler bis Newton – waren immer zugleich oder sogar zuerst Astrologen, Mythologen und Theologen, auf der Suche nach der Welt­ harmonik (so Kepler) oder nach dem «Sensorium Gottes» (so Newton), durch das Er in allen Zeiten und allen Orten zugleich anwesend war, als Herrscher der absoluten Zeit und des absoluten Raumes.10 Es geschah eher unmerklich, fast wider Willen, dass die wachsende Kenntnis der physischen Welt auch eine Verschiebung aller mensch­ lichen Zeit-, Welt- und Geschichtsvorstellungen mit sich brachte. Wenn der Kosmos unendlich war (wie Galileo herausfand) und der Himmel selbst veränderlich (so Tycho Brahe), wenn die Planetenbahnen statt von idealer Kreisförmigkeit elliptisch waren – dann herrschten im Himmel nicht nur dieselben physikalischen Gesetze wie auf der Erde, sondern dann musste der Kosmos selbst eine Geschichte haben (so Laplace und Kant), und damit die Erdkugel auch. Das bewiesen neben Astronomen und Mathematikern auch Geologen und Botaniker in frühen Vorformen einer «Evolutionstheorie» – immer freilich gegen heftige, oft fanatische Widerstände, die sich der Vorstellung verweigerten, dass die Erde mit ­ihren Geschöpfen nicht ein für allemal von Gott erschaffen worden sein konnte, sondern sich immer weiter voran entwickelte. Mit dieser Erkenntnis der stetigen, unabgeschlossenen und keinem vorgezeichneten Heils- und Schöpfungsplan gehorchenden Evolution der natürlichen Welt konnte überhaupt erst der viel weitergehende Ge­ danke aufkommen, dass es einen von den Menschen selbst in eigener Verantwortung zu wählenden Weg mit Gabelungen und Alternativen ­geben könne, und damit so etwas wie einen durch «vernünftiges» Han­ deln gestaltbaren «Fortschritt». Das zeigte sich am deutlichsten am Gebrauch des Begriffs «Revolution» bei seinem allmählichen Hinüberwandern in die politisch-soziale Welt. Wo er sporadisch inmitten der Religions- und Bürgerkriege des 16./17. Jahr­ hunderts auftauchte, da zunächst wieder in unmittelbarer Analogie zum Lauf der Himmelskörper und als Teil eines universellen Schicksals­ zusammenhangs, so wenn es in William Shakespeares «Henry IV» etwa heißt: «O God! that one might read the book of fate, / And see the revo­ lution of the times …». In einem englischen Kalender von 1659, der eine «Vorhersage der seltsamen Katastrophen, Änderungen und Revolutio­ nen, die in ganz Europa fast sämtliche Herrscher, Nationen und Staa­ tenbünde durchmachen werden», annoncierte, flossen politische und natürliche Ereignisse wie in einem astrologischen Horoskop zusam­ men.11

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Tatsächlich scheinen es vor allem konservative, «gegenrevolutionäre» Autoren gewesen zu sein, die den Begriff der Revolution in polemischer Absicht zuerst in den politischen Sprachgebrauch einführten. So war in einem Poem des Dichters Robert Heath aus der Zeit des englischen Bür­ gerkriegs von «einem seltsamen Schwindel oder Delirium des Hirns» die Rede, von dem die Menschen seit den Umstürzen der himmlischen Welt­ ordnung ergriffen worden seien, einer Verwirrung der Geister, die sie in politische Revolutionen getrieben habe, worin das Unterste nach Oben gekehrt wurde: «Nicht nur der Staat, vom Schicksalsrad getrieben, / Dreht sich, sogar die Religion, der Fels, erzittert … / Dass, was einst Tag war, nun die Finsternis umhüllt.»12 Umgekehrt konnte auch der Begriff der «Revolution» eine positiv-­ konservative Färbung annehmen. Schließlich war «revolutio» aus dem Verb «revolvere» gebildet und bedeutete wörtlich das «Zurückdrehen» einer Entwicklung oder die «Rückkehr» in einen früheren Zustand. Die offizielle Rede von einer «Glorious Revolution» in England meinte des­ halb gerade nicht den (nach modernem Verständnis) eigentlich revolu­ tionären Akt, nämlich die «Great Rebellion» der späten 1640 er Jahre, die in die Hinrichtung Karls I. und die zeitweise Übernahme der Macht durch das Parlament bzw. Oliver Cromwell als «Reichsprotektor» mün­ dete, sondern gerade umgekehrt: die schrittweise Restauration einer par­ lamentarisch neu legitimierten und durch die «Bill of Rights» neu kon­ stituierten monarchischen Gewalt im Jahr 1688. In diesem Sinne sagte Thomas Hobbes als Anwalt einer starken, monarchischen Ordnung über die englische Revolutionsperiode mit leicht sarkastischem Unter­ ton: «I have seen in this revolution a circular motion.»13 Alles hatte sich einmal im Kreis gedreht und so geendet, wie es ­enden musste. Die «Glorious Revolution» von 1688 beendete in der Tat das dunkle Zeitalter der europäischen Religions- und Bürgerkriege und eröffnete das als lichtes «Zeitalter der Vernunft» gerühmte 18. Jahrhundert. Das hatte seine handfesten materiellen Voraussetzungen: Die Welt war, je­ denfalls von Europa aus gesehen, in ihren geographischen Umrissen jetzt weitgehend erforscht, die Kontinente kartographisch vermessen und ethnographisch beschrieben; und dasselbe galt für den mit Hilfe von Fernrohren durchforschten kosmischen Raum. Die merkantile Politik der absolutistischen Regierungen ebenso wie die kommerzielle Alltags­ praxis der Privatleute, der vermögenden Rentiers, Kaufleute und neuen Unternehmer, und zunehmend auch der arbeitsteilig für nahe oder ferne

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Märkte produzierenden handwerklichen Familienbetriebe, begannen sich auf eine zunehmende Berechenbarkeit ihrer Einkünfte und Ausgaben, Investitionen und Renditen einzurichten. Durch das alles und zugleich durch weitere Fortschritte der Natur­ kenntnisse verlor nicht nur der hohe Klerus seine angestammte Prophe­ tenrolle. Auch die christlichen Endzeitstimmungen in ihren verschieden temperierten Ausprägungen, die bis dahin die Welt- und Zeitvorstellun­ gen dominiert hatten, wurden weniger akut. Zugleich verlor die Astro­ logie ihre einstige Bedeutung. So wie man zögernd einen neuen Boden betritt und auf seine Festigkeit prüft, begannen die aufgeklärten Geister jetzt, ihre Gegenwart als eine wirkliche «Neuzeit» zu begreifen, die sich von einem unaufgeklärten, finsteren «Mittelalter» abgrenzte, dem aller­ dings ein von Geist und Größe erfülltes klassisches «Altertum» voraus­ gegangen war, an dessen Prinzipien und Erkenntnissen es wiederanzu­ knüpfen gelte. Zugleich waren diese Evolutionen und Umwälzungen der Weltvorstel­ lungen aber auch das Produkt einer veritablen «ozeanischen Revolu­ tion», die damals von Europa ausging. Sie bedeutete eine erste, beispiel­ lose Mobilisierung von Menschen und Kapitalien, getrieben von den phantastischsten, abenteuerlichsten und kriminellsten Instinkten, die sich mit christlichen Missions- und Zivilisierungsideen ausstatteten, um höchst profane Ziele von Raub, Inbesitznahme und Machterwerb umso ungehemmter zu verfolgen.

Die enge Welt Utopias In Karl Kautskys Pantheon der «Vorläufer des neueren Sozialismus» fir­ mierte der englische Humanist Thomas Morus als die zweite, parallele Hauptfigur neben Thomas Müntzer. Der jugendliche Autor des 1517 in lateinischer Sprache erschienenen, fiktiven Reiseberichts «Die Insel Uto­ pia», hatte eine neue Literaturgattung eröffnet und den neuzeit­lichen Be­ griff der «Utopie» geprägt. In Wirklichkeit führte aber kein Weg vom Millenium nach Utopia – und erst recht nicht von dort zurück. Das Mil­ lenium war eschatologische «Nahzeit», die sich mit der Öffnung und Kartierung der Welt im Zeitalter der Entdeckungen nach und nach ver­ dünnte und verlor, zumindest in Europa. Die utopischen Erzählungen waren dagegen auf einen vollkommen anderen Tonus und auf geradezu entgegengesetzte Temperamente gestimmt.

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So ist Morus’ Insel «Utopia» eine hermetisch abgeschlossene und weitgehend stillgestellte Welt. Die 54 Orte, offenbar Klein- oder Mittel­ städte, sind so gleichförmig, dass «wer einen kennt, alle kennt». Es herrscht eine strikte patriarchale Ordnung, von oben bis unten. Der Staat wird gelenkt von 200 gewählten Vertretern von je 30 Familien, die ihrerseits einen Staatspräsidenten als Landesvater auf Lebenszeit wäh­ len, eine Art Wahlmonarchen also. Alles wird von ihnen einvernehmlich und ohne Hast entschieden. Gesetze gibt es nur wenige. Richter braucht es so wenig wie Advokaten, weil Verbrechen nur selten vorkommen und nach einfachen Regeln geahndet werden. Frauen gehorchen den Männern, Kinder den Älteren. Die um ein Oberhaupt gescharten Familien haben eine Normgröße von 10–16 Köp­ fen, also sehr viele und gesunde Kinder. Aber sie leben, essen und arbei­ ten gemeinsam mit ihren Nachbarn und tauschen regelmäßig ihre Wohn­ stätten, obwohl diese mehr oder weniger alle gleich einfach und bequem sind, so wie ihre Kleidungsstücke und Gebrauchsgegenstände auch. Die zur Verheiratung anstehenden jungen Leute werden nach Physis und Charakter füreinander ausgesucht und dürfen sich nur mit höchster Er­ laubnis (etwa bei Unfruchtbarkeit) wieder trennen. Auf Ehebruch wie Unzucht steht Zwangsarbeit, im Wiederholungsfall als einem der erns­ testen Verbrechen die Todesstrafe. Alle Utopier sind zur Arbeit verpflichtet, Männer, Frauen wie Kinder, insbesondere in der Landwirtschaft, die Vorrang genießt. Aber die Ar­ beit ist, eben weil alle mithelfen und zusammenarbeiten, nur kurz (sechs Stunden täglich), maßvoll und fröhlich und lässt Raum zum Lernen, Musizieren und Spielen in der gemeinsamen Freizeit. Für besonders schwere und unangenehme Tätigkeiten wie z. B. Steinebrechen oder Schlachten gibt es Sklaven (verurteilte Verbrecher oder angeheuerte Fremde). Es herrscht Gemeinwirtschaft in Produktion wie Verteilung. Privat­ eigentum ist ausgeschlossen. Geld braucht es nicht. Gold ist völlig wertlos und wird, außer für besonders niedrige Gebrauchsgüter wie Nachttöpfe, für die schweren Ketten der Gefangenen verwendet, als Tauschmittel da­ gegen nur im strikt begrenzten Außenhandel mit Nachbarinseln. Jeder hat, was er braucht, aber auch nicht mehr. Luxus ist wie Müßiggang und Laster jeder Art verpönt. Bei Krankheit und Tod tritt die Gemeinschaft ein. «So ist die ganze Insel gleichsam eine einzige Familie.»14 Alle weiteren Kontakte mit der äußeren Welt, namentlich mit den ­seefahrenden Ländern Europas, sind streng limitiert. Selbst wissen die

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Utopier allerdings über alles in der Welt draußen mittels sprachkundiger, geheimer Emissäre Bescheid. Sie holen sich an fremden Büchern, prak­ tischen Wissenschaften und Techniken, was sie brauchen können. Auf diese Weise sind sie auch mehrheitlich und freiwillig zu Christen gewor­ den, nachdem «sie gehört hatten, Christus habe den Seinen die gemein­ schaftliche Lebensführung empfohlen, die heute noch in den Kreisen der echtesten Christen üblich sei».15 Dieses puritanisch-fromme Bild von «Utopia» kontrastierte aufs Grellste mit dem, das Morus und seine Gesprächspartner in den umrah­ menden Dialogen von ihrer eigenen Insel England zeichneten, mit der Auf­lösung der feudalen Gefolgschaften, der wachsenden Konzentration des Landbesitzes und der Umwandlung von Ackerland in Schafweiden für den Bedarf der Wollmanufakturen, wofür Massen von Menschen entwurzelt und in Bettler oder Vaganten verwandelt worden waren, die in Scharen aufgegriffen und dutzendweise an Ästen aufgeknüpft wur­ den, während sich an den Adelshöfen und in den Städten Laster und Lu­ xus breitmachten. Die Gier nach Gold und Land, beklagt der Autor, zer­ reiße die Gesellschaft – bis am Ende «alle Staaten, welche heutzutage in Blüte ­stehen, … nichts anderes als eine Art Verschwörung der Reichen»16 darstellten und damit zum äußersten Gegenteil einer christlichen und platonischen, also das Gemeinwohl hütenden Obrigkeit herunterkamen. Diese Utopie des Thomas Morus hat nicht nur einen Begriff geprägt, son­ dern als ein literarisches Genre Schule gemacht. Das gilt ähnlich noch einmal für den ein gutes Jahrhundert später verfassten «Sonnenstaat» (Civitas Solis) des italienischen Dominikaners Tommaso Campanella – eine halb religiöse, halb szientistische Utopie eines «philosophischen Staates», in der zentrale Elemente von Platons «Politeia» wie von Morus’ «Utopia» wieder aufgenommen wurden, aber auch die Elemente eines Gottesstaates nicht fehlten. Das Regime in dieser konzentrisch angelegten, prächtigen Festungs­ stadt, in deren Mitte ein Sonnentempel steht, ist entschieden theokra­ tisch-diktatorisch, geführt von einem höchsten Priester, dem «Sol». ­Allen Abweichungen und Auflehnungen, gleich welcher Art, tritt es ent­ schlossen repressiv gegenüber. Die gesellschaftlich notwendigen Arbei­ ten sind gleichmäßig auf alle verteilt und kollektivistisch organisiert. Selbstverständlich herrscht vollständiger Gemeinbesitz, das Geld ist ver­ bannt. Auch in diesem Inselstaat ist jeder Austausch mit dem Ausland streng beschränkt. Das gesammelte Wissen der Welt – das religiöse wie

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das naturwissenschaftliche, die für den Mönch, Astrologen und Alchi­ misten Campanella miteinander nahezu identisch waren – findet sich in einem großen, anscheinend gedruckten Buch ein für allemal gültig nie­ dergelegt. Aus dem lernen alle Sonnenstaatler von Kindesbeinen an und lebenslang. Junge Männer ab einundzwanzig und junge Frauen ab achtzehn wer­ den vom Obersten Fortpflanzungsbeamten des Landes nach den Prin­ zipien der Zuchtwahl zusammengeführt; individuelle Liebesbindungen sind ausgeschlossen; Unzucht wird hart bestraft, bei Wiederholung mit dem Tod. Die Termine der geschlechtlichen Vereinigung werden nach dem Horoskop amtlich festgelegt und in rituell-festlicher Form voll­ zogen. Alle Bürger auch dieses Sonnenstaats bilden eine geschlossene, solidarische Gemeinschaft, «weil sie ja überhaupt Glieder eines Körpers und der eine Teil des anderen zu sein glauben».17 Überschaut man die drei oder vier Dutzend literarischen Utopien, die von der Reformationszeit bis ins Zeitalter der Aufklärung verfasst wor­ den sind,18 kehren eine Reihe zentraler Vorstellungen in stereotyper Weise immer wieder. Sie sind im Verhältnis zu den tatsächlichen Entwicklun­ gen dieses Zeitalters einigermaßen verblüffend: –– Fast alle Utopien gehen selbstverständlich von einer «kommunisti­ schen» Gemeinwirtschaft aus, die das Privateigentum an Haus- und Grundbesitz sowie an Produktionsinstrumenten entweder völlig aus­ schließt und die gesellschaftliche Arbeit nach einem strikten Gesamt­ plan organisiert, oder zumindest eine genossenschaftliche oder kom­ munale Kooperation von Handwerkern und Bauern nach staatlichen Bedarfsplänen vorsieht – außer dort, wo es sich um glückliche Wilde (in Tahiti oder Australien) handelt, die in der Natur ohnehin alles fin­ den, was sie brauchen. –– Das Geld ist aus diesen utopischen Gesellschaften regelmäßig ver­ bannt, nicht nur weil es nutzlos, sondern weil es schädlich ist: «Geld ist der Vater des Luxus, der Unzucht, der Ränke, der Intrige, der Lüge, des Verrats, der Unredlichkeit und allgemein des Bösen auf der Welt», heißt es etwa in Gueudevilles fiktivem Gespräch eines Amerikareisen­ den mit einem weisen Indianerhäuptling von 1704.19 Wenn es über­ haupt verwendet wird, dann ausschließlich im äußeren Verkehr. –– Dieser äußere Verkehr wird daher bewusst eingeschränkt gedacht, bis hin zur vollständigen Autarkie. Entsprechend genießt die Landwirt­ schaft in allen Utopien unbedingten Vorrang, weil sie die Existenz­ basis der Gesellschaft bildet, aber auch, weil sie noch immer Inbegriff

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und Stigma der physischen Arbeitsfron ist, die daher auf alle verteilt werden muss. –– Mit den Fragen der Eigentumsordnung und Arbeitsteilung unmittel­ bar verbunden sind stets die der Familien- und Geschlechterordnung, und hier vor allem der Fortpflanzung, die offenbar der Regulierung bedürfen, wenn sie das Gemeinwesen nicht sprengen sollen. Ungezü­ gelter Eros und freie Wahl der Partner gelten als mindestens so ge­ fährlich und den gesellschaftlichen Zusammenhalt zersetzend wie das Geld und das Kapital. –– Auch Ästhetik und Kunst sowie eine unbeschränkte intellektuelle Be­ tätigung und Informationsfreiheit gelten den meist hochgebildeten Autoren als potentiell gefährlich. Die Künste haben jedenfalls einem übergeordneten, erhabenen Zweck zu dienen. Soweit den Wissenschaf­ ten Raum gegeben wird, dienen sie der besseren Naturbeherrschung und einer geregelten Melioration von Land und Leuten; eine selbstän­ dige philosophische oder literarische Tätigkeit bleibt das strikte und kontrollierte Privileg weniger Auserwählter, und Häretiker werden nicht selten verfolgt, so wie andere Abweichler vom geregelten Sozial­ leben auch. –– Fast alle utopischen Gemeinwesen verfügen über wirksame Repres­ sionsorgane, sind bei aller Selbstgenügsamkeit jederzeit auf militäri­ sche Selbstverteidigung oder auch auf begrenzte Expansion ausgerich­ tet und entsprechen, gleich ob monarchisch oder republikanisch ver­ fasst, gerade durch ihre allseitige gesellschaftliche Mitwirkung durch­ aus dem Bild eines starken, stets wachsamen Staats. Man könnte ­geradezu von der Konstruktion eines «Super-Leviathan» sprechen,20 eines idealen Überstaats, in dessen Korpus alle die Organe des Gesell­ schaftlichen und des Staatlichen, die sich im Verlauf der europäischen Entwicklung differenziert und getrennt hatten, wieder als verschmol­ zen gedacht sind. Damit stehen diese literarischen Utopien im Widerspruch zu den Grund­ lagenschriften der zeitgenössischen Theoretiker einer auf Institutionen und Gesetze gestützten Staatlichkeit, von Thomas Hobbes’ «Leviathan» über John Lockes «Treatise on Government» bis Montesquieus «Esprit des lois». Wenn Hobbes seinen «Leviathan» als eine furchteinflößende «soziale Maschine» gezeichnet hat, die ihrerseits etwas von ­einer Alle­ gorie oder sogar Utopie hat, so sind darin doch immer Akte eines selb­ ständigen Handelns autonomer Subjekte vorausgesetzt, deren unver­

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meidliche Konflikte es durch ein striktes staatliches Gewaltmonopol einzuhegen gilt – um sie den übergeordneten Zielen des Gemeinwesens, verkörpert durch den absoluten Monarchen, zu unterwerfen, aber auch um sie voreinander zu schützen. Bei Locke wie bei Montesquieu geht es ohnehin darum, das rechtliche und institutionelle Gerüst einer entste­ henden, in sich gegliederten Zivilgesellschaft und einer staatlichen Ge­ waltenteilung als den Ausdruck eines idealiter frei geschlossenen und gerade deshalb alle bindenden Gesellschaftsvertrags zu skizzieren. Ge­ nau diese Räume legitimer Autonomie und unvermeidlicher Konflikte werden in den literarischen Utopien als systematisch ausgeschaltet ge­ dacht, so wie jeder Verkehr mit der übrigen Welt möglichst unterbun­ den ist. Das gilt selbst, um ein drittes prominentes Beispiel zu zitieren, für das «Nova Atlantis» des Francis Bacon, ein 1638 posthum gedrucktes Frag­ ment des überaus weltlich und praktisch orientierten Theoretikers der modernen Naturwissenschaften. Dieses «Neu-Atlantis», die Insel Bensa­ lem, trägt schon entschieden modernere Züge als Morus’ ländlich-patri­ archales «Utopia» oder als Tommaso Campanellas theokratischer «Son­ nenstaat». Bacons Bensalem ist eine Art wissenschaftlich-technisches Weltlabor, gegründet vor zwei Jahrtausenden (!) von einem Spross des Hauses Salomon, mit dem Hauptzweck, «die Erkenntnis der Ursachen und Bewegungen sowie der verborgenen Kräfte in der Natur und die Er­ weiterung der menschlichen Herrschaft bis an die Grenzen des über­ haupt Möglichen» voranzutreiben.21 Aber wie seine literarischen Vor­ läufer ist es eine Art weltlicher Ordensstaat, dessen gemeinwirtschaftli­ che und hierarchische Ordnung «für alle Zeiten» festgelegt ist. Auch hier ist Arbeit strikter Dienst an der Gemeinschaft. Zwar bilden indivi­ duelle Ehen als praktisch-sittliche Einrichtung den Kern der Großfami­ lien; aber die Familienfeste vollziehen sich nach staatlichen Ritualen, bei denen die Scharen der Kinder, Enkel und Urenkel vom Clanpatriarchen als «Söhne und Töchter Bensalems» dem Gemeinwesen geweiht werden, das sie dann auch erzieht. Bacons «Neu-Atlantis» ist ebenso autarkistisch angelegt wie Morus’ «Utopia», Campanellas «Sonnenstaat» und die anderen idealen Ge­ meinwesen. Denn die Welt der übrigen Menschen ist voller Verderbtheit und Laster, getrieben von der Gier nach Gold, und man muss sie sich vom Halse halten.22 Die Gattung der literarischen Utopien war also gerade nicht, wie Peter Sloterdijk meinte, das Ergebnis einer entfesselten «Wunschkultur», die

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durch die «terrestrische Globalisierung», die endlose Pendel- und Kreis­ bewegung des Hinausfahrens und Zurückkehrens der Schiffe (jedes «ein reales, schwimmendes Kapital») befeuert wurde und auf die frisch ent­ deckten Welten und ihre Glücksgüter zusteuerte23  – sondern fast schon das Gegenteil: Zeugnis einer entschiedenen Aversion gegen eine als ver­ heerend und verödend, kaum als befreiend oder bereichernd empfun­ dene Entgrenzung der eigenen sozialen Lebenswelten. So markierte sie gerade in ihrer Phantastik den engen Horizont, in den jede fundamentale Kritik an den zentrifugalen und dissoziierenden Wirkungen der früh­ kapitalistischen Sozial- und Wirtschaftsformen vorerst gebannt blieb. Sie alle gingen deshalb in dieselbe Richtung: in die e­ iner gebundenen, nach «natürlichen» und ehernen Regeln lebenden, eingegrenzten und möglichst stillgestellten, des Stachels ihrer inneren Unruhe entledigten Gesellschaft. Die beschränkte Welt seines «Utopia» wäre dem wohlhabenden, ge­ lehrten und nach Einfluss strebenden Thomas Morus selbst natürlich viel zu eng gewesen, so wie die puritanischen Tugendidyllen vieler aufge­ klärter Utopien ihren lebenslustigen, zuweilen frivol-libertären Autoren eigentlich ein Gräuel hätten sein müssen. Das heißt nicht, dass sie zy­ nisch oder pharisäerhaft waren, als sie sie verfassten. Vielmehr beschrie­ ben ihre literarischen Gegenphantasien so arglos wie stringent, was sich ergab, wenn die enthemmten, zunehmend geld- und kapitalgesteuerten Entwicklungsströme des Zeitalters und die ihnen entspringenden sozial­ ökonomischen Dynamiken eingehegt oder stillgestellt wären. Dass man diese mächtigen Entwicklungsströme nützen oder steuern, sich gar auf ihrem Rücken in eine noch gar nicht auszumalende Zukunft tragen lassen könnte, war dagegen ein Gedanke, der sich vor dem 19. Jahrhundert offenbar kaum fassen ließ – und auch dann erst ganz all­ mählich. Louis-Sébastien Merciers «Das Jahr 2440» schien eine neue Gattung zu eröffnen, die des Zukunftsromans.24 Statt auf eine entlegene Insel wurde die Handlung in eine fernere Zukunft verlegt, was eine «Verzeitlichung der Utopie» bedeutet.25 Der Ich-Erzähler dieses 1781 erschienenen Best­ sellers findet sich in seinem Traum im Paris des Jahres 2440 wieder, das befreit ist von jenem früheren Zustand, den Mercier in einer seiner im­ mer kühneren, offen gegenwartsbezogenen Fußnoten (die regelmäßig die Zensurbehörde auf den Plan riefen) als eine «Verschwörung der Monar­ chen in Gemeinschaft mit einer kleinen Zahl bevorzugter Untertanen zur

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Täuschung und Ausplünderung der Masse des gesamten übrigen Vol­ kes» brandmarkte. Allen Staaten dieser Art stehe daher «eine schreck­ liche, blutige Epoche (bevor), die aber den Beginn der Freiheit anzeigen wird!»26 Freilich gelte das nur noch für diejenigen Länder, in denen sich noch keine «Revolution» vollzogen habe, wie sie sich in Frankreich vor langer Zeit «auf die friedlichste und heiterste Weise» durchgesetzt hatte – weil sie hier nämlich «das Werk der Philosophie gewesen» war.27 Die Revolution also hatte das Frankreich von einst vor dem Bürgerkrieg bewahrt! Das erträumte Paris von 2440 ist noch immer eine Monarchie, geführt von einem weisen, schlichten Herrscher, der sich von einem Rat der ­Gebildeten und Besten beraten lässt, eine platonische Philosophenherr­ schaft also, wie sie in der utopischen Literatur zum Gemeinplatz ge­ worden war. Das verdorbene Versailles von einst liegt freilich längst in malerischen Trümmern. Dafür ähnelt die Stadt, in der auch der Monarch jetzt wohnt und zu Fuß umherspaziert, noch immer dem alten, vertrauten Paris – nur dass alles viel schöner, großzügiger, vor allem rein­licher ist. Es gibt Hospitäler, Bildungseinrichtungen und gemeinschaft­liche Speisesäle für alle, und das gesamte öffentliche Leben unterliegt den Maximen von Tugend, Vernunft und Wissenschaft. Es gibt noch Geistliche, die dem Kult des Höchsten Wesens dienen; aber Priester und Kirchen alten Stils sind abgeschafft, so wie Dirnen, Tanzlehrer, Weinhändler oder Kaffeeund Tabakstubenbetreiber. Im Paris des Jahres 2440 müssen alle arbeiten, aber nur wenig und maßvoll, und mit besonderer Freude in der Landwirtschaft. Die Frauen sind strikt ans Haus gebunden, wo sie fleißig spinnen und weben. Sie ­kokettieren und putzen sich auch nicht mehr so wie früher, sondern die­ nen ganz ihrer Natur: der liebenden Sorge für Hausstand, Mann und Kinder. Zwar gibt es weiterhin wohlhabendere und ärmere Bürger, und insoweit auch persönlichen Besitz. Aber alle Nichtstuer und Schmarotzer, ob arm oder reich, werden bestraft und gegebenenfalls aus der Stadt ge­ jagt, so «wie man in der Bienen-Republik alle die zum Stock hinausjagt, die nichts anderes können, als das gemeinsame Vermögen aufzuzeh­ ren».28 Merciers Zukunftsgesellschaft ist also eine «Bienen-Republik», in der zwar keine Gütergemeinschaft herrscht, aber doch eine soziale Gemeinwirtschaft. Das interessanteste Element in Merciers Traum ist, dass die Masse der Bürger redend und schreibend an den Angelegenheiten des Gemein­ wesens teilnimmt und allein dadurch schon jede Form einer bevormun­

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denden Despotie unmöglich macht. Es scheint sich auf den ersten Blick um eine aufklärerische Utopie par excellence zu handeln. Nur: Alle diese schreibenden und redenden Aktivbürger unterstellten sich aus freien Stücken einer strikten Vormundschaft durch bestallte Zensoren und Tu­ gendwächter. «Irrige Gedanken» und «gefährliche Grundsätze» müssen deren Urheber in Gesprächen mit ihnen zugeordneten Super­ visoren (zwei «tugendhaften Bürgern») selber erkennen und schließlich öffent­ lich «widerrufen». Noch bemerkenswerter ist freilich, dass diese Zukunftsgesellschaft Schriftsteller und Wissenschaftler eigentlich gar nicht mehr braucht. Je­ nes Wissen über die Welt, das zu Merciers Zeiten in der «Enzyklopädie» Diderots versammelt worden war, wird zwar (von einigen Irrtümern be­ reinigt) noch immer gelehrt und weitergegeben. Dafür ist der Großteil der Bibliotheken früherer Jahrhunderte aber, nachdem kluge Köpfe sie durchgeschaut haben, in einem riesigen Autodafé «mit unseren eigenen Händen» vernichtet worden. «Die Flammen haben, Sturzbächen gleich, die Dummheiten der Menschen, alte und moderne, verschlungen.»29 Von dem, was man noch brauchen konnte, «haben wir Auszüge anfer­ tigen lassen; das Beste hat man erneut gedruckt». Viel ist es nicht, was überlebt hat. Und auch Historiker braucht man jetzt nicht mehr. Man hat nämlich «einen knappen Auszug hergestellt, der die Jahrhunderte in großen Zü­ gen schildert und nur die Persönlichkeiten darstellt, die das Schicksal der Reiche wirklich beeinflusst haben». Denn nur was der Menschheit zur Ehre gereicht, lohnt es sich zu überliefern; den traurigen, großen Rest muss man «mit Schweigen übergehen».30 Somit lebt die künftige Menschheit im Paris des Jahres 2440 im Zustand einer glückseligen Am­ nesie und vollendeter Geschichtslosigkeit. Irgendeine neuere, zeitgenös­ sische Philosophie oder Literatur gibt es nicht mehr – und wird es offen­ bar auch in Zukunft nicht mehr geben. Merciers Zukunftsroman zeigt also kaum anders oder sogar noch markanter als die älteren literarischen Utopien das Bild einer möglichst stillgestellten und überschaubaren, keineswegs global entgrenzten Ge­ sellschaft, die sich um ihrer Stabilität oder vielmehr Statik willen ihrer Unruheelemente bewusst entledigt hat. Tatsächlich handelte es sich um die Verlagerung einer U-topie in eine U-chronie, von «Nirgendwo» nach «Nirgendwann», das erst recht Züge einer vollendeten Zeitlosigkeit trägt. Denn in den über sechshundert Jahren, die der träumende Erzäh­ ler im Zeitsprung überwindet, hat sich sehr wenig getan; die Zukunfts­

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Teil III: Die Entdeckung der Zukunft

stadt wirkt erstaunlich vertraut. Eher gleicht dieses Paris des Jahres 2440 einem rousseauistischen Platonopolis als einer der Weltstädte der kommenden Zeitalter. Dabei gehörte eben dieser Louis-Sebastién Mercier, der als Sohn eines Kaufmanns im Schatten des Pont-Neûf aufgewachsen war, mit seinen parallel verfassten «Tableaux de Paris», einer Beschreibung der Haupt­ stadt in 1000 Einzelaufnahmen und 12 Bänden, zu den Pionieren einer modernen Großstadt-Reportage. Spätere Auflagen haben ihn fast zu ­einem Klassiker gemacht und seine Fähigkeit gezeigt, in einer Mischung soziologischer, politischer, kultureller und historischer Beschreibung und Episodik ein dichtes Porträt, so etwas wie eine Autobiografie dieser, sei­ ner Stadt als eines lebendigen, sich chaotisch und dynamisch entwi­ ckelnden Sozialkörpers zu liefern. Insofern gilt für Merciers Zukunftsroman, was für so gut wie alle uto­ pischen Weltentwürfe gilt: dass – nach einem Wort Immanuel Kants – die Schranken des menschlichen Geistes gerade beim Versuch, sie zu überschreiten, nur umso fühlbarer werden.31 Diese Schranken des mensch­ lichen Geistes beschreiben eben immer auch die Grenzen des jeweiligen Chronotops, des historischen Raum- und Zeithorizonts, in den der Spre­ chende oder Schreibende eingeschlossen bleibt.

3. The Pursuit of Happiness

Interest will not lie

M

it der Formel der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung aus dem Jahr 1772 vom unveräußerlichen Recht eines jeden Menschen auf Leben, Freiheit und «Streben nach Glück» (pursuit of happiness) schien ein ganz neuer Ton angeschlagen. Von einem hedonistischen, ganz auf eigene Faust zu verfolgenden Privatglück war allerdings damit noch längst keine Rede. Gemeint war eine Verpflichtung der Regierung wie der Bürger, zum Glück und Wohlergehen des Landes beizutragen, wie es zur grundlegenden Legitimation jeder guten Regierung gehörte und da­ her auch in monarchischen Erklärungen der Zeit ähnlich zu finden war.1 Auch das neue, republikanische Amerika war vorerst ja ein noch durch­ aus aristokratisches, auf Sklaverei und unzählige andere Formen persön­ licher Unfreiheit oder ethnischer Exklusion gegründetes, längst nicht ­demokratisches Staats- und Gemeinwesen. Natürlich war diese Formel, auch wenn Thomas Jefferson, ihr Haupt­ autor, sich nicht explizit auf John Locke oder andere, später als «liberal» bezeichnete Sozialphilosophen bezog, einem Strom des zeitgenössischen Denkens verpflichtet, das im Verlauf des 17./18. Jahrhunderts die alten religiösen und philosophischen Abwertungen einer auf Besitz und Er­ werb gestellten, «bürgerlichen» Existenz Zug um Zug zu neutralisieren begonnen hatte. Dieser Strom des Denkens war allerdings etwas histo­ risch Neues, teilweise Unerhörtes, und zwar gerade weil er sozialökono­ mische Entwicklungen begleitete und reflektierte, die sich mit stummer Beharrlichkeit längst ihren Weg bahnten. Wenn das primäre Motiv der frühliberalen Sozialphilosophen des 17./18. Jahrhunderts eine konstitutionelle, auf Recht und Verfassung ­gegründete Begrenzung der absoluten monarchischen Gewalt und ihrer Zugriffsrechte auf ihre Subjekte war, so ging es gleichzeitig auch um die Anfänge eines realistischen Selbstbilds der Menschen. In Albert O. Hirsch­ mans Rekonstruktion der «politischen Begründungen des Kapitalismus vor seinem Sieg» beginnt die Gedankenlinie einer anthropologischen Selbstreflexion mit Baruch Spinoza, der entgegen dem Zeitgeist des

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17. Jahrhunderts dafür plädiert habe, die Menschen zu nehmen, wie sie tatsächlich seien, statt wie sie nach den religiösen Morallehren sein soll­ ten. Eine Generation später sprach Giambattista Vico von der erstaun­ lichen Tatsache, dass es möglich sei, durch eine weise Einrichtung des Staates und der Gesellschaft ererbte Laster wie Grausamkeit, Habsucht und Ehrgeiz in positive Aktivitäten wie Verteidigungsbereitschaft, Gewer­ befleiß und politisches Geschick umzuwandeln.2 Wieder eine Generation später erklärte d’Holbach, einer der französischen Enzyklopädisten, in seinem «Système de la nature», man solle die menschlichen Leidenschaf­ ten überhaupt «nicht zerstören, sondern versuchen, sie zu steuern»3, während sein Mit-Enzyklopädist Helvetius meinte, das könne gelingen, wenn die Moralphilosophen «statt von moralischen Opfern von Interes­ sen sprächen».4 So also kam das Wort «Interesse» als ein neutralisierendes, rationalen Abwägungen zugängliches Element in die Gesellschaftstheorien, nicht zufällig auch mit der Bedeutung von «interest» oder «intérêt» als Zins. Eine Abwägung der «Interessen» konnte demnach politisches und so­ ziales mit wirtschaftlichem Handeln verknüpfen. «Interest will not lie», sagte ein geflügeltes Wort aus dieser Zeit. Schritt für Schritt mutierte im praktischen Alltagsbewusstsein wie in den philosophischen Diskursen so ausgerechnet die «Habgier» als Wur­ zel aller Übel (neben dem Hochmut) in der neutralen Formulierung eines «Erwerbstriebs» zu einer Tugend, vor allem, weil dieser Trieb im Gegen­ satz zu den «blinden» Leidenschaften von Eros und Gewalt eine größere Berechenbarkeit und Beständigkeit versprach. Mehr noch: Der auf Ver­ trägen beruhende Warenhandel erschien jetzt als ein Element, das barba­ rische Sitten und Bräuche mildern, den Horizont erweitern und Vorur­ teile überwinden helfe. Das Entscheidende in diesem noch durchaus zaghaften und defensiven Paradigmenwechsel war der Konnex von Rechtlichkeit und Berechen­ barkeit – der zu einem nächsten Gedanken führte: nämlich dass man die «Gesetze» des gesellschaftlichen Handelns, namentlich die des wirt­ schaftlichen Agierens, rational erfassen und damit in positive Politik umsetzen könne; und dass die Regierungen schließlich dazu zu bringen seien, im eigenen «Interesse» auch ihrerseits rational zu operieren.5 Das war die Stunde des Schotten Adam Smith, dem die «großartige Vereinfachung» all der unendlich diffizilen, religiös oder philosophisch begründeten Abwägungen zwischen Privatinteressen und Allgemein­ wohl, Habgier und Erwerbsfleiß, Wirtschaft und Gesellschaft gelang –

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indem er sie schlankweg fusionierte.6 So behauptete er in seiner Haupt­ schrift «The Wealth of Nations» (Der Reichtum der Nationen): «Daher veranlassen ihre privaten Interessen und Leidenschaften die Menschen, ganz ohne irgendeinen Eingriff des Gesetzes, das Vermögen der Gesell­ schaft auf die verschiedenen Wirtschaftszweige zu verteilen, sodass eine Proportion zustande kommt, welche dem Gesamtinteresse der Gesell­ schaft so sehr wie überhaupt möglich entspricht.»7 Diese Smith’sche Grundhypothese, wonach die Summe der «privaten Interessen und Leidenschaften» der einzelnen Menschen durchaus mit «dem Gesamtinteresse der Gesellschaft» zusammenfallen könne, was demnach auch umgekehrt gelten musste, war in der Tat ein historisch vollkommen neuer, umstürzender und bahnbrechender Gedanke – den er selbst allerdings sogleich wieder einschränkte. Denn wie allen früh­ liberalen Denkern war es auch ihm zuerst um den «Reichtum der Na­ tion» zu tun, und damit um Stabilität, Zusammenhalt und gute Einrich­ tung des Gemeinwesens, letztlich des Staates. Keinesfalls propagierte er ein entgrenztes, sich selbst genügendes Streben nach privater Gewinn­ maximierung. Eben dieses entgrenzte private Gewinnstreben hatte ein Lebensalter vor Adam Smith ein großartiger Zyniker, Schriftsteller und Gesellschafts­ denker, der Nervenarzt Bernard de Mandeville, mit seiner von Genera­ tion zu Generation empört zurückgewiesenen und umso begieriger gele­ senen «Bienenfabel» erstmals als das insgeheime Evolutionsgesetz der menschlichen Geschichte ausgeplaudert  – und damit eine Schneise ins Gesellschaftsdenken geschlagen, die sich nicht mehr schließen ließ. Er begann mit dem leicht hingeworfenen satirisch-provokativen Gedicht «The grumbling hive» (Der murrende Bienenstock) von 1705. Nach dem ersten Sturm der Entrüstung entwickelte er dann in immer neuen, sozial­ philosophisch immer elaborierteren und literarisch ätzenderen Explika­ tionen eine Weltsicht, die sich im Titel der letzten Auflage seines Buchs von 1729 niederschlug: «The Fable of the Bees, or Private Vices, Public Benefits».8 Der Grundgedanke war so schlicht wie durchschlagend: Was die Welt am Laufen halte und vorwärts bringe, seien nicht religiöse und mora­ lische Gebote oder hehre Staatsideale und Gesellschaftsziele, sondern das trübe Getriebe und Gedrängel der niederen Instinkte und Begierden, des Lasters und des Luxus. Im florierenden, summenden, wehrhaften Bienenstaat seiner Fabel (unverkennbar das zeitgenössische England)

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sind es besonders die Vornehmen und die Amtsträger, die nicht nur wie selbstverständlich aus den Diensten der Arbeitsbienen ihren Honig sau­ gen, sondern die lügen und betrügen, prassen und unterschlagen – wäh­ rend sie umso lautstärker in die Klage über die allgemeine Korruption und Sündhaftigkeit einstimmen. Mit ihrer Bigotterie reizen sie Jupiter (Gott) schließlich dazu, den Bienenstaat ihrem heuchlerischen Wunsche gemäß über Nacht in einen Stock von Tugendbienen zu verwandeln. Und siehe da: Einkünfte, Handel und Handwerke schrumpfen, die Arbeit liegt brach, die Tugend wird zum Hungertuch. So setzt Mandeville ans Ende als provokative Moral der Geschichte: «Von Lastern frei zu sein wird nie / Was anderes sein als Utopie. / Stolz, Luxus und Betrügerei / Muss sein, damit ein Volk gedeih’. / Quält uns der Hunger auch oft grässlich, / Zum Leben ist er unerlässlich … / Wer wünscht, dass eine goldene Zeit / Zurückkehrt, sollte nicht vergessen: / Man musste damals Eicheln essen.»9 Worauf dieser Spott gründete, war auch den empörten Zeitgenossen klar: dass die Elementarantriebe des kommerziellen Erwerbslebens n ­ eben dem nackten Hunger der arbeitenden Masse, den Mandeville als eine Na­ turnotwendigkeit kühl in Rechnung stellte, im ebenso nackten Bereiche­ rungstrieb der Wenigen lagen, den er kaltblütig verteidigte: «Der größte Schurke selbst zum Schluss / doch dem Gemeinwohl dienen muss.»10 «Laster und Luxus haben einen Champion und Verteidiger gefunden, wie das niemals zuvor der Fall gewesen ist», schrieb der Kritiker und Dramatiker John Dennis über Mandeville mit gebührender Fassungs­ losigkeit11, und bezeichnete damit das ungeheure Sakrileg und den Bruch jeder geistigen Konvention, den diese Gesellschaftssatire in der Tat be­ deutete. Der Skandal um das Buch knüpfte an den an, der sich ein halbes Jahrhundert zuvor bereits um den «Leviathan» von Thomas Hobbes und das ihm zugrunde liegende, schonungslose Menschen- und Gesell­ schaftsbild entsponnen hatte. Mandevilles Argument lief dem von Hob­ bes in mancher Hinsicht tatsächlich parallel, politisch allerdings dia­ metral entgegen: Denn statt für einen starken, eingreifenden Staat, der die Bürger voreinander schützte und ihr Handeln regulierte, plädierte Mandeville für die ungehemmte Entfesselung aller irgendwie auf Reich­ tums­produktion angelegten individuellen Triebe und Aktivitäten. Das war eine denkbar radikale Version jenes «Laisser faire, laisser aller», von dem einige merkantilistische Wirtschaftstheoretiker zur selben Zeit erst ganz vorsichtig zu reden begannen. Es ist kaum verwunderlich, dass der Vordenker des modernen, reinen

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Liberalismus, Friedrich August Hayek, die bahnbrechende Rolle Man­ devilles sehr hoch ansetzte, als er in einem Vortrag 1966 erklärte: «Die Spekulationen, zu denen sein Gedankenspiel ihn führten, markieren den definitiven Durchbruch der Zwillingsidee von Evolution und spontaner Herstellung von Ordnung im modernen Denken.»12 In der Tat: Was sich in Mandevilles frivolen Knittelversen wie in seinen mit drastisch-an­ schaulichen Beispielen aus dem Alltagsleben gewürzten sozialphiloso­ phischen Argumentationen in Umrissen zeigte, war eine provokante ­Gegenposition zu den überlieferten Gedankensystemen der gesamten christlich-abendländischen Kultur. Tatsächlich steckte in Mandevilles «Bienenfabel» die Vorstellung einer von niemandem gemachten oder konzipierten, sich weitgehend selbst tragenden und vorantreibenden, primär ökonomisch gesteuerten gesellschaftlichen Evolution  – worin durch «das geschickte Manage­ ment eines fähigen Politikers» (diese vage Bedingung flocht er dann doch stets mit ein) sogar die kriminellsten Aktivitäten und niedrigsten Motive in einen Faktor der «allgemeinen Wohlfahrt» verwandelt wer­ den konnten.

Vom Reichtum der Nationen So also sah das liberale Gesellschaftsbild in seiner frühesten, brutalst­ möglichen Version aus – einer Version, die ihrer Zeit um ein Jahrhundert oder mehr voraus war. Adam Smith, der sich wie alle Welt von Mande­ villes «ausschweifenden Lehren»13 klar distanzierte, konnte dennoch nicht anders, als in dessen Gedankenbahnen zu treten. Seine eigene, über­ ragende Wirkung als ein «Luther der Nationalökonomie», als welchen Engels ihn ein Jahrhundert später gerühmt hat, dürfte allerdings gerade darauf beruht haben, dass er das liberale Wirtschaftsdenken mit einer Reihe gesellschaftspolitischer Kautelen und Bedenken ausstattete, die es moralisch akzeptabler, aber auch intellektuell kompletter machten. Lange vor seiner bahnbrechenden Abhandlung «An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations» (1776), die ihn schon zu Lebzeiten berühmt machte, hatte er eine weniger bekannte «Theory of Moral Sentiments» (1759) verfasst. Als Moralphilosoph, der er seiner Profession nach war, und als Wirtschafts- und Gesellschaftstheoretiker, der er dann wurde, fand er im Erwerbs- wie im allgemeinen Gesell­ schaftsleben Motive am Werk, die älter und universeller waren als die

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einer bloßen materiellen Bereicherung oder sich selbst genügenden öko­ nomischen Expansion: «Mag man den Menschen für noch so egoistisch halten, es liegen doch offenbar gewisse Prinzipien in seiner Natur, die ihn dazu bestimmen, an dem Schicksal anderer Anteil zu nehmen, und die ihm selbst die Glückseligkeit dieser anderen zum Bedürfnis machen, ob­ gleich er keinen anderen Vorteil daraus zieht, als das Vergnügen, Zeuge davon zu sein.»14 «Selbstinteresse» bedeutete bei Smith daher nicht wie bei Mandeville schlichte Selbstsucht oder nackten Egoismus. «Selbstinteresse» meinte für Smith eine sozial eingebettete, auf evolutionäre Selbsterhaltung ge­ richtete Bestrebung der Menschen, ihre Lage zu bessern – eine Umwer­ tung, die keiner besonderen moralischen Aufwertungen bedurfte: Macht und Reichtum waren für ihn nichts als «enorme, aufwendige Maschi­ nen, erfunden um ein paar nichtige Bequemlichkeiten für den Körper zu produzieren», während sie ihre Betreiber «in angespannter Aufmerk­ samkeit halten, da sie (diese Reichtumsmaschinen) jeden Moment … in Gefahr stehen, in Stücke zu zerbersten und ihre unglücklichen Besitzer unter ihren Trümmern zu zerquetschen». Gerade die «Täuschung», dass Macht und Reichtum Glück brächten, sei es allerdings, die die Mensch­ heit dazu angestachelt habe, «Städte und Gemeinwesen zu gründen und alle die Wissenschaften und Künste zu erfinden und zu verbessern, die das menschliche Leben veredeln und verschönern».15 Damit war Man­ devilles anstößiger Kerngedanke in die freundlich-stoische Form eines produktiven Selbstbetrugs der Menschheit verpackt. Smith war seinem ganzen Wesen nach ein Philosoph des Gleich­ gewichts, der im Getriebe der sozialen Subjekte ein ganz ähnliches «Sen­ sorium Gottes» am Werk sah, wie Isaac Newton es in der Bewegung der Gestirne und der Natur gefunden hatte. Die berühmte «Unsichtbare Hand», von der er sporadisch gesprochen hat, ist keineswegs die eines allwissenden und sich selbst regulierenden Marktes, wie man ihm später zugeschrieben hat, sondern noch immer «die unsichtbare Hand Jupi­ ters»16, also die Hand des Allmächtigen, der in der Natur wie in der Menschenwelt alles vernünftig gefügt hat – wenn die Menschen nur ent­ sprechend vernünftig handeln würden. Nicht von ungefähr stehen den gerne zitierten frohen Botschaften Smiths ebenso viele skeptische, sogar fatalistische Betrachtungen gegen­ über. Die Vorteile einer technischen und gesellschaftlichen Arbeitstei­ lung, die er am Beispiel einer Nadelmanufaktur zu Beginn seines «Wealth of Nations» mit so viel Enthusiasmus dargelegt hatte, zeigen in späteren

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Abschnitten ebenso viele Schattenseiten: die Degeneration menschlicher Arbeitsfähigkeiten und Lebensgenüsse durch monotone und e­inseitige Tätigkeit; die Entfremdung der Produzenten vom Produkt und von den Instrumenten der eigenen Arbeit; und mit dem Erreichen eines hohen Produktivitätsniveaus das paradoxe, aber völlig gesetzmäßige Überzäh­ ligwerden der Arbeiter und die Senkung ihrer Löhne auf das physische Minimum – und in den fälligen Überproduktionskrisen sogar noch bis weit darunter.17 Wie Smith überhaupt klar sieht, dass zwischen Kapital und Arbeit die Karten ungleich verteilt sind: Während man den Arbeitern die Bildung von Zunftmonopolen vorwerfe und Koalitionen untersage, bildeten die Fabrikanten und Arbeitgeber in aller Stille immer schon «Zünfte» und Koalitionen und könnten so, außer im Fall akuten Arbeitermangels, die Löhne herunterdrücken.18 Hatte er die Profitberechnungen der Manu­ fakturbesitzer und Handelsherren eben noch als Instrumente zur Förde­ rung eines gesellschaftlichen Gesamtinteresses bezeichnet, so erscheinen diese an anderer Stelle als eine «Klasse von Leuten, deren Interesse nie­ mals genau mit dem öffentlichen zusammenfällt», schon weil sie ständig Privilegien und Monopole für sich reklamierten, weshalb die Gesetz­ geber vor ihren Ratschlägen auf der Hut sein sollten.19 Noch fragwürdi­ ger ist ihm das Monopol des (nicht vermehrbaren) Landbesitzes. So sehr Smith die Landwirtschaft als die ursprüngliche, produktive Basis und so­ lideste Form des Wohlstands der Nation hochhält, so parasitär erschei­ nen ihm die Grundeigentümer, denen «ihr Einkommen weder Arbeit noch Sorge kostet».20 Die ganze Tendenz der Darlegungen von Smith geht dahin, die drei Hauptformen des gesellschaftlichen Einkommens (Arbeitslohn, Profit und Grundrente) ebenso wie das Verhältnis von Stadt und Land, von Binnen- und Außenhandel usw. in einem ausgewogenen und gerechten Verhältnis zueinander zu halten. Das war in letzter Instanz dann doch die Aufgabe eines umsichtig operierenden und Regeln setzenden Staates, der durch seinen Verzicht auf merkantilistische Produktionssteuerung an Stärke und Einnahmen nur gewinnen, nicht verlieren sollte. Eben deshalb war ja von einer «Politischen Ökonomie» oder «Natio­ nalökonomie» die Rede, die ihrem Wesen nach «ein Zweig des Wissens eines Staatsmanns oder Gesetzgebers» war. Als eine solche verfolgte sie zwei gleichberechtigte Ziele: «erstens, wie dem Volke reichliches Ein­ kommen oder Unterhalt zu verschaffen, oder, richtiger, wie es in den Stand zu setzen sei, sich selbst ein reichliches Einkommen und Unterhalt

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zu verschaffen; und zweitens, wie dem Staat und dem Gemeinwesen ein zur Bestreitung seiner öffentlichen Dienste hinreichendes Einkommen zu sichern sei».21 Da «keine Gesellschaft blühend und glücklich sein (kann), deren meiste Mitglieder arm und elend sind», erschien es ihm «nicht mehr als billig, dass die, die die gesamte Masse des Volkes mit Nahrung, Kleidung und Wohnung versorgen, einen solchen Anteil an dem Produkt ihrer ­eigenen Arbeit erhalten, um sich selbst erträglich nähren, kleiden und wohnen zu können».22 Die Rede ist von den Arbeitern in Stadt und Land, deren Arbeit und Arbeitsprodukte nach Smith die erste, ursprüng­ lichste und entscheidende Grundlage des «Wohlstands der Nationen» bilden – während der Gewinn des Kapitalisten und die Rente des Grund­ eigentümers nur einen (wenn auch legitimen) Abzug von diesem geschaf­ fenen Wert bilden. An diesem Punkt einer Gesellschaftstheorie auf der Höhe ihrer Zeit tra­ ten allerdings die Entwicklungen auf den Britischen Inseln und auf dem Kontinent, vor allem im Flächenstaat Frankreich, markant auseinander. Während für viele der englischen und schottischen Ökonomen und Phi­ losophen die Selbsttätigkeit der Einzelnen immer stärker zum Entschei­ denden wurde, blieb für die französischen Aufklärer der Gedanke eines durch Wissenschaft und praktische Vernunft gestaltbaren Fortschritts viel stärker an ein planvolles Regierungshandeln gebunden. Das ent­ sprach ihrer rationalistischen Weltsicht, welche umso hypertropher wurde, je mehr sie sich einer systematischen Anwendung auf alle Fragen des praktischen Lebens verschrieb und ihre Welt als eine «Cosmopolis» entwarf, worin die Ordnung der Polis (des Staates) die Gesetze des Kos­ mos widerspiegelte.23 Schon das ungeheure, dabei außerordentlich erfolgreiche Projekt einer «Enzyklopädie der Wissenschaften, der Künste und der Handwerke», die, wie Denis Diderot in seinem einleitenden Artikel von 1751 erklärte, das gesamte historisch akkumulierte Wissen der Menschheit in ein sys­ tematisches Gesamttableau zu fassen und «den nach uns kommenden Menschen zu überliefern»24 beanspruchte, wäre – bei allen Berufungen der Enzyklopädisten auf John Locke oder Isaac Newton – dem intellek­ tuellen Zuschnitt nach in Großbritannien schwerlich denkbar gewesen. Zwar waren britischer Empirismus und französischer Rationalismus durch keine chinesische Mauer getrennt, aber doch nicht dasselbe. ­Empirismus bedeutete ein tastendes Suchen nach tragfähigen Modellen

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und Hypothesen, eine Praxis des schrittweisen Erschließens neuer Mög­ lichkeiten. Der Rationalismus war sehr viel mehr darauf angelegt, die Welt theoretisch wie praktisch in ein geschlossenes System zu bringen. So verfehlt das großenteils war, so fruchtbar konnte es sein. Den 1756 unternommenen Versuch des Begründers der Schule der «Physiokra­ ten», des Arztes und Sozialphilosophen François Quesnay, ein erstes ­Gesamtschema des Wirtschaftskreislaufs aufzustellen und auf ein Blatt Papier zu zeichnen, hat Marx ein Jahrhundert später noch als «den ge­ nialsten (Einfall), dessen sich die politische Ökonomie bisher schuldig gemacht hat», gewürdigt.25 Quesnays Kreislaufmodell diente ihm als eine Vorlage aus der «Kindheitsperiode» der Disziplin, um sein eigenes Schema einer «erweiterten Reproduktion» des Kapitals zu entwickeln, das allerdings ungleich vielseitiger und elastischer war.26 Quesnay, Arzt am Hof Ludwigs  XV., wurde in seinen autodidak­ tischen Gesellschaftsstudien von der fixen Idee getrieben, dass der Wirt­ schaftskreislauf dem Blutkreislauf im menschlichen Körper entspreche – ein Gebiet, auf dem er Spezialist war. Immerhin brachte diese naive ­Analogie ihn intuitiv sehr nahe an eine Reihe von Grundfragen der spä­ teren politischen Ökonomie. Die sozialpolitischen Motive seiner Darle­ gungen – vor allem eine Aufwertung der bäuerlichen Arbeit, auf der das gesamte Gesellschaftsgebäude nach wie vor ruhte  – fanden zeitweise Eingang in das Handeln der königlichen Regierungen, vor allem in der Ära Turgots. Dennoch war sein physiokratisches Gesamtschema eine charakteristische Sackgasse des französischen Systemdenkens, das tief in der materiellen und mentalen Daseinsweise Frankreichs als eines zentra­ listisch-bürokratischen Agrarreichs verankert war und das in gegensätz­ lichen Ausprägungen auch dessen weitere Entwicklungswege durch alle bevorstehenden Revolutionen hindurch prägen sollte.27 Seinen Höhepunkt fand dieser angewandte Rationalismus, wie man ihn nennen könnte, schließlich in den Arbeiten des Mathematikers, Sozial­ philosophen und Politikers Nicolas de Condorcet, die zum ersten Mal das Bild eines prinzipiell unbegrenzten Fortschritts sowohl der Einzelnen wie der Gesellschaften im Ganzen entwarfen  – so jedenfalls in seiner letzten Schrift «Esquisse d’un tableau historique des progrès de l’esprit humain»,28 die er in der Schreckensperiode der Revolution 1793/94, als verfemter Konventsabgeordneter, in einem Pariser Versteck verfasste. ­Sicherlich spielte die extreme Situation – sie endete mit seinem Tod im Gefängnis – für den hohen Ton dieses monumentalen Zukunftsgemäldes

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eine Rolle. Aber auch vor der Revolution war Condorcet unter den uni­ versalen Geistern Frankreichs bereits derjenige gewesen, der als Mitglied der Akademie, Berater der königlichen Regierung, Inspekteur der staat­ lichen Münze, Verfasser von Denkschriften zur Emanzipation der Frauen wie zur Befreiung der Sklaven am entschiedensten auf eine Modernisie­ rung von Staat und Gesellschaft gedrängt hatte. Denn Frankreich war für Condorcet das Land, das sich mehr als jedes andere einer «Doktrin der unbegrenzten Perfektibilität des menschlichen Geistes» verschrieben hatte. Diese Doktrin entsprang, wie er schrieb, ­direkt «dem Genie von Descartes», wonach alle Gebiete des Wissens sich letztlich in mathematische Berechnungen fassen ließen.29 Neun Stadien hatte die Menschheit auf dem langen, qualvollen Weg der «Geschichte ihres Fortschritts» bereits durchlaufen, aber jetzt, im zehnten und letzten Stadium, das mit der Französischen Revolution eröffnet worden war, blieben noch große Aufgaben zu erledigen: Die Ungleichheit zwischen den Nationen musste überwunden werden, so wie es die Gleichheit der Bürger in jeder Nation herzustellen galt. Wenn aber einmal die Sonne der Freiheit über allen Menschen und Nationen scheine, dann werde sich zeigen, «dass die Vermögen sich auf natürliche Weise ausgleichen und extreme Disproportionen sich … rasch auflösen werden, sobald das positive Recht keine niederträchtigen Mittel zur Anhäufung oder zur Verweigerung [von Wohlstand] zur Verfügung stellt».30 Den Ausbruch der Revolution 1789 hatte Condorcet begrüßt. In ­einem Essay «Über den Gebrauch des Wortes ‹revolutionär›» hatte er das zu einer aktivistischen Floskel gewordene Wort kritisch hinterfragt und versucht, ihm seinen Platz anzuweisen: «Lasst uns revolutionäre Gesetze machen, aber nur, um die Ankunft des Augenblicks zu beschleu­ nigen, in dem wir ihrer nicht mehr bedürfen.»31 Revolution konnte nur ein Ausnahme-, kein Dauerzustand sein. Dadurch war er ins Kreuzfeuer der Polemiken Robespierres geraten. Als Brissot, einer der Revolutio­ näre der ersten Stunde, im April 1792 im Jakobinerklub dessen Attacken zurückwies und erklärte, ohne «den Feuergeist jener großen Männer – Condorcet, Voltaire, d’Alembert  – könnten Sie heute nicht von dieser Tribüne Reden über die Freiheit erschallen lassen», erhob sich der direkt angesprochene Robespierre zu einer kalten Entgegnung: «Darauf, ob unsere Meister des Denkens die akademischen Freunde d’Alemberts sein müssen, kann ich nur die eine Antwort geben: das Ansehen des neuen Régimes kann sich nicht auf alte Reputationen gründen …. Ich habe ih­ nen (d’Alembert, Voltaire, Condorcet) nur eines vorzuwerfen: dass alle

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diese großen Philosophen so unerhört hartnäckig die Tugend, das Genie und die Freiheit eines Jean-Jacques Rousseau gegeißelt haben, dieses tu­ gendsamen und empfindsamen Philosophen, der meiner Ansicht nach als einziger die Ehren einer Apotheose verdiente.»32

Das Ich unter der Tatarenmütze Rousseau also – und er «als einziger»! Diese exklusive Inanspruchnahme durch den angehenden Tugendterroristen Robespierre korrespondierte dem Selbstbild des einsamen, «tugendsamen und empfindsamen Philo­ sophen», als den Rousseau sich immer wieder gezeichnet und entworfen hatte; was eine atemverschlagende Anmaßung, aber zugleich auch eine philosophische Position war. So wenn er seine intimen «Bekenntnisse» mit dem Satz eröffnete: «Ich plane ein Unternehmen, das kein Vorbild hat und dessen Ausführung auch niemals einen Nachahmer finden wird. Ich will vor meinesgleichen einen Menschen in aller Wahrheit der Natur zeigen, und dieser Mensch werde ich sein. Einzig und allein ich. Ich fühle mein Herz  – und ich kenne die Menschen. Ich bin nicht gemacht wie ­irgendeiner von denen, die ich bisher sah, und ich wage zu glauben, daß ich auch nicht gemacht bin wie irgendeiner von allen, die leben.»33 Man versteht durchaus, warum Hannah Arendt über diesen großen philosophischen Asozialen und Bekenner sagte: «In dieser Rebellion des Herzens gegen die eigene gesellschaftliche Existenz wurde das moderne Individuum geboren …» Modern war in der Tat allein schon der Gestus, sich als ein Einzelner auf «mich allein» zu stellen, ohne göttlichen Beicht­ vater, wie Augustinus ihn sich tausend Jahre früher in seinen «Confessi­ ones» als Dialogpartner konstruiert hatte.34 Aber zugleich wollte dieser arme Jean-Jacques anhand seiner Person «den Menschen in seiner ganzen Naturwahrheit zeigen», nämlich in sei­ ner ursprünglichen Unschuld und Herzensgüte. Die Gesellschaft, in wel­ cher er als ein existentiell Unbehauster zu leben gezwungen war, war nun einmal die im Entstehen begriffene, moderne Gesellschaft. Gerade ihr ge­ genüber vertrat er als modernes Individuum eine Kritik, wie sie unver­ söhnlicher und totaler kaum sein konnte. Ihren historischen Werdegang beschrieb er als eine einzige end- und heillose Geschichte des sitt­lichen Verfalls. Nur dass das Übel ihm zufolge nicht allein in politischen oder sozialen Ungerechtigkeiten lag. Das Übel war die Gesellschaft als solche. «Alles, was aus den Händen des Schöpfers kommt, ist gut; alles ent­

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artet unter den Händen des Menschen», heißt es gleich zu Beginn des ­Erziehungsromans «Émile»35  – eine der apodiktischen Sentenzen, mit denen Rousseau seine Werke stets eröffnete und die sofort zu geflügelten Worten wurden. Für Rousseau begann das geschichtliche Verhängnis mit dem Privat­ eigentum an Grund und Boden: «Der erste, der ein Stück Land einge­ zäunt hatte und es sich einfallen ließ zu sagen: dies ist mein und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der wahre Gründer der bürgerlichen Gesellschaft. Wie viele Verbrechen, Kriege, Morde, wie viel Not und Elend und wie viele Schrecken hätte derjenige dem Menschgeschlecht erspart, der die Pfähle herausgerissen oder den Graben zugeschüttet und seinen Mitmenschen zugerufen hätte: ‹Hütet euch, auf diesen Betrüger zu hören; ihr seid verloren, wenn ihr vergeßt, daß die Früchte allen gehören und die Erde niemandem.›»36 Dabei fiel die Gier nach Eigentum und Wohlstand mit dem Streben nach Macht und Prestige zusammen, das genauso maß- und grenzenlos war. Anders als die Utopisten oder die Sonntagsprediger tröstete Rous­ seau sich auch nicht mit idealen Gegenbildern oder mit verklärten Erin­ nerungen an ein «Goldenes Zeitalter», sondern beschrieb das beinahe Zwangsläufige dieses negativen Zivilisationsprozesses.»37 Was Rousseau vertrat, war entgegen einem früh verbreiteten Vorurteil kein «Zurück zur Natur», sondern eher ein «Zurück zu den Alten» – so in einer Passage in seinem «Diskurs über die Ungleichheit», in der es hieß: «Es gibt … ein Alter, bei dem der individuelle Mensch gerne stehenblei­ ben würde.» Analog dazu gelte es für den Philosophen, «das Alter (zu) su­ chen, von dem du wünschtest, deine Art wäre bei ihm stehen geblieben».38 Dieses Alter, von dem er wünschte, er selbst und die ganze Menschheit wären dort stehen geblieben, war das vorpubertäre Knabenalter, als eine Zeit vermeintlich bedürfnisloser Einfachheit und Unschuld, die dem Cur­ riculum seines Erziehungsromans «Émile» zufolge eben deshalb «das Alter der Stärke» sei.39 Dieses Zeitalter einer puerilen Stärke repräsen­ tierten für Rousseau in erster Linie das frühe, agrarisch-militärische Sparta und das republikanische Rom; aber ebenso die ersten Stammes­ staaten der Germanen. In der Gegenwart galten ihm allein die Födera­ tion der Kantone und Städte der Schweiz und die bäuerliche Inselrepu­ blik der Korsen (für die er eine Verfassung entwarf) noch als Vorbilder, und sonst allenfalls die Stammesherrschaften der «Caraiben» und der nordamerikanischen Indianer – die allesamt freier, demokratischer und gerechter seien als der englische Repräsentativstaat, der nur eine beson­

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ders raffinierte und daher besonders tiefe Form der Sklaverei darstelle.40 Mochten Sparta oder Rom auf Sklaverei gegründet gewesen sein: «Ihr modernen Völker habt keine Sklaven, aber ihr seid selber welche; ihr be­ zahlt deren Freiheit mit der eurigen.»41 In all diesen Deliberationen über Unschuld, Stärke und Abhängigkeit verknüpften sich erkennbar die hypochondrischen Welt- und Krisen­ gefühle des autodidaktischen Sozialphilosophen mit der Privatneurose des in fremde Hände gegebenen Halbwaisen und ins Leben geprügelten Lehrjungen Jean-Jacques, der seine zehn Jahre ältere Beschützerin und zeitweise Geliebte, Madame de Warens, lebenslang seine «Maman» nannte; und der die fünf Kinder, die er später mit seiner Haushälterin Thérèse zeugte, allesamt ins Waisenhaus gegeben hatte. So waltete zwischen dem misanthropen Autor und seinen Leserinnen und Lesern von Beginn an der Geist eines hochherzigen und völlig ­widersinnigen Missverstehens, das vielleicht gerade das Geheimnis der epochalen Wirkung dieses begnadeten Autodidakten in den Zeiten der Revolution und weit darüber hinaus enthielt. Schon zu seinen Lebzei­ ten, und vollends nach seinem Tod, entstand ein frühromantischer «Rousseauismus», ein Kult der Empfindsamkeit und «Natürlichkeit». Ganz besonders flogen dem demonstrativ unglücklichen Einzelgänger die Frauenherzen zu. Dieser offen ausgelebte weibliche Sentimentalis­ mus war etwas Neues; er rührte an das zutiefst Ambivalente, Zerrissene und von Schuldgefühlen Begleitete, das den Weg der Frauen in die Sphäre der Öffentlichkeit, der Wirtschaft und Gesellschaft und dann auch der Politik in den folgenden beiden Jahrhunderten überhaupt begleiten sollte. Denn die Diagnose der Ursprünge des gesellschaftlichen Verfalls, die Rousseau stellte, wies in letzter Instanz ja gerade auf sie zurück: auf die selbstvergessenen (modernen) Frauen, und insbesondere auf die von ­ihnen ausgehende, ungesunde Attraktion auf ihn selbst und seinesglei­ chen.42 Dabei war es doch «leicht zu sehen, daß das Geistig-Seelische in der Liebe ein künstliches Gefühl ist, aus der Gewohnheit der Gesellschaft entstanden und von den Frauen mit viel Geschick und Sorgfalt geprie­ sen, um ihre Herrschaft zu begründen und das Geschlecht dominant zu machen, das gehorchen sollte».43 Die Frauen herrschten also schon – zu ihrem eigenen Unheil und zu dem der Gesellschaft im Ganzen. Schlimmer noch: «Die Frauen haben aufgehört Mütter zu sein und sie werden es nie wieder werden, sie wollen es nicht mehr sein.»44 Alle die herzzerreißenden Appelle an die mütterliche Zuwendung, mit denen

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Teil III: Die Entdeckung der Zukunft

Rousseau im Namen der Bedürfnisse der kleinen Kinder, der Söhne zu­ mal, seinen «Émile» eröffnete, waren offenbar in den Wind gesprochen. Denn nicht einmal aus «Überdruss an den weltlichen Vergnügungen» wollten die Frauen noch Mütter sein – und machten so als Rabenmütter aus ihren Kindern Waisen, wie er eine gewesen war. Dabei war gerade die Familie für Rousseau das innerste Sanctum und das Urbild jeder wahren Republik: «Die älteste aller Gesellschaften und die einzig natürliche ist die Familie.»45 Mit der Auflösung der natür­ lichen Familie, die vom Mann als Haushaltsvorstand nach außen ver­ treten und geleitet wurde, während die Frau als Hausherrin im Innern wirkte, hatte die soziale Zersetzung begonnen, so wie mit der privaten Aneignung des Bodens die soziale Ungleichheit. Wie ausgerechnet dieser Guru mit der Tatarenmütze, der den Islam be­ wunderte, weil er nicht nur die Frauen im Haus hielt, sondern auch Staat und Religion wieder zusammengeführt hatte,46 einen solchen Einfluss auf die Geister seiner Zeit ausüben konnte, und besonders auf die Revo­ lutionäre der 1790 er Jahre, erschließt sich nicht so leicht. Offensichtlich ging es, wenn man sich wie Robespierre auf «ihn allein» berief, um weit mehr als um die Beschwörung der «Geister der Vergangenheit», um ­römische Kostüme oder eine erborgte Sprache, wie Marx meinte. Vielmehr verband sich mit Rousseaus Namen der durchaus moderne Wille, alles, was sich in myriadische Einzelbestrebungen aufzulösen drohte, wieder in eine geschlossene staatliche und soziale Form zu brin­ gen – eine Vorstellung, die als eine inhärente «Dialektik der Moderne»47 die weiteren Entwicklungen durchgängig begleitet hat und sie bis heute begleitet. Im 20. Jahrhundert hat sie die Form totalitärer Massenbewe­ gungen und Sozialregimes angenommen, gerade auch unter der Fahne des «Kommunismus» – auch wenn die Kommunisten des 20. Jahrhun­ derts Rousseau wegen seines «Primitivismus» nie zu ihren bevorzugten ideologischen Ahnherren gezählt haben. Die positiven Vorschläge, die Rousseau für die Errichtung einer wah­ ren «Republik» als eines «politischen Körpers» neuen Typs machte, mochten zunächst ziemlich altfränkisch wirken. Ihre Logik war freilich so schlicht wie einschneidend. Indem Menschen sich, heißt es in Rous­ seaus «Gesellschaftsvertrag», zum Zweck des Selbsterhalts zusammen­ schließen, «überantwortet sich der einzelne mit allen seinen Rechten völ­ lig der Gemeinschaft».48 Dementsprechend musste jeder private Besitz an Boden oder an den Produktionsmitteln «stets dem Recht der Gemein­

3. The Pursuit of Happiness

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schaft auf alle untergeordnet sein».49 Musste ein Ungehorsamer aber einmal dem Gemeinwillen unterworfen werden, bedeutete das nur, «dass man ihn zwingt, frei zu sein».50 Natürlich konnten Differenzen zwischen dem Willen aller ( «volonté de tous») und dem Gemeinwillen ( «volonté générale») auftreten, anders gesagt: zwischen der Summe der Privatinteressen und dem Gesamtinte­ resse. Im Konfliktfall hatte aber «der Gemeinwille immer recht». Denn so wie der Mensch seine Glieder beherrscht, «gibt der Gesellschaftspakt dem politischen Körper unbeschränkte Gewalt über all die seinen». Der Souverän, ob König oder Präsident, vertritt eben in seiner Person «den nationalen Körper – das Volk – als Ganzes». Jeder Staat, der nach diesen Prinzipien regiert wird, heißt für Rousseau deshalb Republik (im klassi­ schen Sinne der «res publica», des Gemeinwesens).51 Idealiter bedarf jede Staatsgründung eines Gesetzgebers, am Besten ­eines großen Einzelnen, wie einst Lykurg in Sparta oder wie Mohammed einer war, dessen Gesetz «seit zehn Jahrhunderten die halbe Welt re­ giert».52 Und idealiter sollte ein Volk, das sich ein Gesetz gibt (oder viel­ mehr geben lässt), möglichst überschaubar und völlig autark sein – wie in Europa außer der Schweiz nur noch die Korsen. Es sollte darin mög­ lichst auch keinen Bürger geben, der so reich ist, «um einen anderen kaufen zu können», oder so arm, «dass er gezwungen wäre, sich zu ver­ kaufen».53 Für eine echte Demokratie müsste das Volk, wie im alten Rom, eigentlich «unaufhörlich versammelt bleiben, um die öffentlichen Angelegenheiten zu besorgen».54 Das war allerdings schon in den alten Republiken auf Dauer nicht möglich gewesen; außerdem bestand stets die Gefahr der «Anarchie», der Degeneration der Demokratie zur «Och­ lokratie» (Pöbel­herrschaft), die am Ende wieder in eine Tyrannis führte.55 Deshalb eigne sich eine reine, förmliche Demokratie nur «für ein Volk von Göttern, … nicht für Menschen». Wie also konnte eine Republik, die diesen Namen verdiente, dann in der Gegenwart begründet werden? Dazu bedurfte es eines einmaligen «Urkontrakts», einer Verfassunggebung durch einen Gesellschaftsver­ trag, der einstimmig akklamiert werden musste (etwa wie im legendären Schweizer Rütlischwur). Dann musste dieser Gesellschaftsvertrag ein für allemal gelten. Sollten die Meinungen der Bürger über das richtige Han­ deln der Gesetzesgeber und Regierenden  – die übrigens entgegen den Lehren der «Gewaltenteilung» unbedingt in einer einzigen Körperschaft vereint bleiben sollten  – einmal nicht übereinstimmen, galt die klare ­Regel: «Ein Bürger stimmt allen Gesetzen zu, selbst jenen, die man gegen

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Teil III: Die Entdeckung der Zukunft

seinen Willen verabschiedet.» Denn wenn ich mich nicht durchgesetzt habe, «beweist dies nur, dass ich mich getäuscht hatte und der Gemein­ wille offenbar anderes wünscht, als ich glaubte».56 Von da an, so war das zu verstehen, hatte jede Opposition aufzuhören. Rousseaus «Gesellschaftsvertrag» entsprach erklärtermaßen nicht den Kriterien einer (pluralen) Demokratie.57 Eher könnte man schon an die Prinzipien eines «demokratischen Zentralismus» denken, nach denen die Kommunistischen Parteien und Regimes des 20. Jahrhunderts gemäß den Lehren ihres ersten «Verfassunggebers» Lenin operiert haben – Prin­ zipien, mit denen das große China bis heute regiert wird. Was ein solches Gemeinwesen zu guter Letzt noch brauchte, war ein «ziviles Glaubensbekenntnis», das an die Stelle der angestammten Reli­ gion treten konnte. Seine Dogmen sollten einfach und präzise sein. «Zwar kann der Souverän niemanden zwingen, sie zu glauben, aber jeden aus dem Staat verbannen, der sie nicht glaubt.» Woran jeder gute Bürger ­allerdings obligatorisch zu glauben hatte, war dies: «Die Existenz einer allmächtigen, weisen, wohltätigen, vorsorglichen und fürsorg­lichen Gott­ heit; eine lebenswerte Zukunft; das Glück der Gerechten; die Bestrafung der Bösen; die Heiligkeit des Gesellschaftsvertrags und der Gesetze …»58 Aus dieser Quelle hat der tugendhafte Robespierre tatsächlich mit bei­ den Händen geschöpft; und ebenso aus Rousseaus Vorhersage, dass die großen Staaten seiner Zeit, Frankreich und vor allem England, dem «Un­ tergang schon nahe» seien, weil es keine freien Bürger mehr gebe, die ih­ nen in spartanischer oder römischer Selbstlosigkeit dienten: «Die Ge­ schäftigkeit in Handel und Künsten, gieriges Gewinnstreben, Verweichli­ chung und Bequemlichkeitssucht führen dazu, dass jeder persönliche Dienst durch Geld ersetzt wird … Begriffe wie Staatsfinanzen oder Steu­ ern sind Sklavenwörter, die ideale Polis kennt sie nicht. In e­ inem wirklich freien Staat tun die Bürger alles eigenhändig und nichts mit Geld.»59 In solchen Situationen der Krankheit und des allgemeinen Verfalls «kennt die Geschichte der Staaten hier und da Epochen der Gewalt, in denen Revolutionen bei den Völkern dasselbe bewirken wie bestimmte Krisen beim Individuum …: wenn nämlich der Staat, durch Bürgerkriege in Brand gesteckt, gleichsam aus seiner Asche wiedergeboren wird und, den Armen des Todes entronnen, die Kraft der Jugend wiederge­ winnt  …»60 Revolutionen waren also Gewaltkuren, denen der soziale Organismus sich unterzog und unterziehen musste, um sich zu verjün­ gen und wieder zu gesunden. Das war Robespierres Idee auch.

TEIL  IV

Das Zeitalter der Revolution

1. Die Furien des Verschwindens

Geschichtliche Rückversicherungen

A

ls einen «Tigersprung ins Vergangene» hat Walter Benjamin in seinen Notaten «Über den Begriff der Geschichte» von 1940 die Französi­ sche Revolution gerühmt, und zugleich als den Moment einer «messia­ nischen Stillstellung des Geschehens». Vielleicht sind seine messianisch-theologischen Geschichtsthesen weni­ ger eso­terisch als sie erscheinen, insofern sie ein wesentliches, womög­ lich entscheidendes Moment aller neuzeitlichen Revolutionsbewegungen erfasst haben: das stets reaktualisierte und mitgetragene Re- im Wort, in der Vorstellung und in der Praxis von Re-volutionen: als Akte einer his­ torischen «Rückwälzung» (so hieße eine wörtliche Übersetzung), einer großen Wiederherstellung und einer finalen Abrechnung, die Genugtuung schaffen und der Aussöhnung mit den Toten, den Opfern, den Ahnen und der eigenen, vergangenen Geschichte dienen. Dieser «messia­nische Moment» war es, der Benjamin auch mit der kommunistischen Bewe­ gung seiner Zeit verbunden hat. Denn «am Bild der geknechteten Vor­ fahren, nicht am Ideal der befreiten Enkel» habe der Hass wie der Opfer­ willen der unterdrückten Massen sich noch stets genährt.1 Tatsächlich war es, wie schon beschrieben, so ziemlich die erste Grün­ dungstat jeder sozialistischen Bewegung und jeder revolutionären Staats­ gründung, in einem Akt menschheitsgeschichtlicher Rückversicherung sich eine möglichst lange Genealogie von Vorkämpfern und Vordenkern zu schaffen, und damit einen Rückraum «ewiger» Aspirationen und «ge­ heiligter» Traditionen, die ihren schrillen Tageslosungen und blassen Zukunftsprospekten erst Patina, Tiefe und Gewicht geben konnten. Für Benjamin bedeutete «historischer Materialist» zu sein, «das Kon­ tinuum der Geschichte aufzusprengen» und die eigene Epoche als eine «Jetztzeit» zu vergegenwärtigen, in der die gesamte katastrophale Vor­ geschichte aufgehoben und die Zeit stillgestellt wäre. In ähnlicher Weise war Benjamins Referenzwerk, Jules Michelets monumentale «Geschichte der Französischen Revolution», als sie zwischen 1847 und 1853 in sie­ ben Bänden erschien, weniger ein empirisch-kritisches Geschichtswerk

1. Die Furien des Verschwindens

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als ein spirituelles Revival in Form einer machtvollen Großen Erzählung, wenn nicht eines Großen Gesangs. Dabei wies Michelet der Revolution eine noch universalere Bedeutung zu, als ihre Protagonisten jemals beansprucht hatten. Er sah darin «den Advent des Gesetzes, die Wiederauferstehung des Rechts», und damit den Gründungsakt einer universellen «neuen Religion», einer Religion der Menschheit. Und er selbst, der Geschichtsschreiber, war es, der Ge­ genwart und Vergangenheit wieder vereinte und den Toten als ein neuer Ödipus «ihre eigenen Rätsel erklärte» und «sie lehrte, was ihre Worte, ihre Taten sagen wollten, die sie nicht verstanden haben».2 Zugleich war seine Revolutionsgeschichte Teil einer noch viel monu­ mentaleren Gesamtgeschichte Frankreichs, geradezu einer zweiten Erfin­ dung Frankreichs als der Ur- und Kernnation Europas par excellence. Der Kult der «Großen Französischen Revolution» (in Großbuchstaben), den er zu inaugurieren half, war in all seinen menschheitsgeschichtlichen Dimensionen zugleich auch ein Akt der Begründung einer Nationalreli­ gion im wörtlichsten Sinn: «Du, mein edles Vaterland, … musst an die Stelle Gottes treten, der uns flieht, du wirst den unermesslichen Abgrund füllen, den das erloschene Christentum hinterlassen hat.»3 Die über sich selbst hinausweisende Bedeutung der beiden eigentlich modernen, gemeinhin und in weitem Sinne als «bürgerlich» bezeichne­ ten Revolutionen  – der Amerikanischen und der Französischen  – hat Hannah Arendt zufolge darin gelegen, dass sie aus ihrer inneren Dyna­ mik heraus das ursprüngliche Vorhaben einer bloßen Restauration oder Reformation überschritten, bis ihre Führer zum ersten Mal ein Bewusst­ sein davon entwickelten, «dass es das absolut Neue auch im Politischen geben könne».4 Dieser Durchbruch zum «absolut Neuen» blieb widersprüchlich und unsicher genug. Gerade dort, wo das Pathos einer vollständigen, freien staatlichen Neugründung zum ersten Mal aufgeschienen war, in der Amerikanischen Revolution von 1773, war bereits zu beobachten, was für die Französische Revolution und – wie Marx vermerkte – für die fol­ genden revolutionären Erhebungen von 1830 und 1848 noch ebenso ­gegolten hat: Um ihrem Unternehmen eine höhere Legitimation zu ver­ schaffen, hüllten sich ihre Gründerväter umso feierlicher in die Toga ­römisch-aristokratischer Vorläufer. So findet sich auf dem «Großen ­Siegel» der USA über dem christlich-freimaurerischen Symbol eines Pyra­ midenstempels mit dem «Allsehenden Auge» der Wahlspruch: «Annuit

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Teil IV: Das Zeitalter der Revolution

Coeptis». Das war Vergils «Aeneis», dem römischem Gründungsepos, entnommen, und hieß wörtlich: Er [Gott] hat dem Begonnenen zuge­ stimmt.5 Unter dem Pyramidenstumpf lesen wir «Novus Ordo Seclo­ rum» – Eine neue Folge der Zeitalter [hat begonnen]. Gerade der radikalste unter den «Gründervätern», der englische Auto­ didakt und Freigeist Thomas Paine, der 1774 nach Amerika emigriert war und dort einer der publizistischen Wegbereiter der neuen Verfassung wurde, war besonders eifrig bestrebt, diese «neue Folge der Zeitalter» aus einer imaginären Vergangenheit heraus zu legitimieren. In seiner Grundsatzschrift «Rights of Man» von 1791 verteidigte Paine die Ame­ rikanische wie die Französische Revolution und deren jeweilige Erklä­ rungen der «Menschenrechte» gegen die vehementen Angriffe des irisch-britischen Politikers und Publizisten Edmund Burke, der in seinen «Betrachtungen über die Revolution in Frankreich» das jeglicher Lebensund Sittenordnung Widersprechende des großen Aufruhrs in Frankreich gebrandmarkt hatte.6 Paine, gerade vor der Anklage des Hochverrats aus England nach ­Paris geflüchtet, rühmte demgegenüber beide Revolutionen als legitime Neugründungen aus dem Geist einer echten «Gegenrevolution» – näm­ lich gegen den Verfall und die Korruption ihres jeweiligen «Ancien Ré­ gime». Er drehte die Begrifflichkeit sogar um, als er schrieb: «Was man früher Revolutionen genannt hat, war wenig mehr als ein Wechsel von Personen oder eine Veränderung der lokalen Umstände … Was wir jetzt in der Welt sehen …, ist die Wiederherstellung der natürlichen Ordnung der Dinge, ein System von Prinzipien, die ebenso universell sind wie die Wahrheit.»7 Die «Menschenrechte» waren also nichts Neues, sondern die Wieder­ herstellung eines uralten, vor allen Rechtssetzungen existierenden, un­ veräußerlichen Naturrechts aller Menschen. Allein das Alte, Ewige, «Natürliche» oder Göttliche konnte als Legitimation des Neuen, Uner­ hörten, nie Dagewesenen dienen. Aus sich selbst, aus dem bloßen, freien Entschluss ihrer Bürger heraus, vermochten eine Revolution und eine von ihr begründete neue staatliche Ordnung sich noch längst nicht zu ­legitimieren  – und je umfassender und r­adikaler diese Neugründung war, umso weniger. Daher hatte das Exzessive, Anarchische und Pogromhafte («An die Laterne!»), das die Französische Revolution von ihren ersten Tagen an begleitet hatte und durch den Massenterror der Schreckensjahre 1793/94 verstaatlicht werden sollte, seinen theatralischen Kontrapunkt stets im

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Idyllischen und Quietistischen, im gemessen Feierlichen und auf neue Weise Hierarchischen und Klassischen der revolutionären Massenfeste, wie sie seit 1790 nicht nur in Paris, sondern auch in Provinzstädten nach einem jeweiligen, oft zentral festgelegten, Skript inszeniert wurden. Diese Massenfeste wie die revolutionären Bildsprachen überhaupt bedienten sich einer Mischung christlicher, heidnischer, freimaurerischer, antiker oder altorientalischer Symbole, Allegorien und Rituale. So konnte die hymnisch besungene Trinität von Mutter (Natur), Tochter (Freiheit) und Heiligem Geist (Volkssouveränität) sowohl christlich wie heidnisch ver­ standen werden. Der «Kult des Höchsten Wesens» hatte Anklänge an orientalische Sonnenkulte ebenso wie an Freimaurerzeremonien oder an christliche Gottesdienste. Das vielfach als höchstes Symbol verwendete «Allwissende Auge» oder «Auge der Vorsehung» war altägyptisch, frei­ maurerisch und christlich konnotiert; und das Dreieck darum erinnerte an die christliche Trinität ebenso wie an die freimaurerische Anrufung des «Baumeisters der Welten» und die pythagoräische Geometrie als Ausdruck des göttlichen Logos’ und der «Vernunft des Weltganzen».8 Als Ausweis der Zukunftsorientiertheit der Französischen Revolution gilt jener Akt von kaum zu überbietender Grandeur, als die im Septem­ ber 1793 proklamierte Republik eine neue Zeitrechnung eröffnete und mit dem Jahr I rückwirkend einen neuen revolutionären Kalender in Kraft setzte. Ein von führenden Astronomen und Mathematikern des Landes wissenschaftlich errechnetes, angeblich «natürliches» Dezimalzeitmaß für Wochen und Tage, Stunden und Minuten sollte ab jetzt die alten, aus der Astronomie abgeleiteten Zeitmaße ersetzen. Hinter der Fassade strikter Wissenschaftlichkeit verbargen sich in Wirklichkeit allerdings wieder mystisch-kosmologische Bedeutungen. So wurde der 22. September 1792 als Beginn der neuen Zeitrechnung festgesetzt, weil das «Herbst-Äqui­ noktium» dieses Tages den Moment bezeichnet, an dem «die Sonne von einer Hemisphäre in eine andere wandert» – so wie die irdische Autori­ tät «von der monarchischen an eine republikanische Regierung überge­ gangen» war.9 Bemerkenswerter als der Versuch, einen neuen revolutionären Feier­ tagskalender zu schaffen, war der Anspruch des französischen Konvents, einen ewigen und universellen Kalender zu schaffen, obwohl dessen Da­ tierungen in Wirklichkeit nur für den eigenen Standort galten, den man somit zum Mittelpunkt der Welt erklärte; so wie auch die naiv-naturalis­ tischen Bezeichnungen der Monate als Fructidor (Früchtemonat), Ven­ tose (Windmonat) oder Thermidor (Hitzemonat) allenfalls auf Frank­

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Teil IV: Das Zeitalter der Revolution

reich halbwegs passten. Im Übrigen huldigten diese Namen noch ganz der Verbundenheit mit einem traditionalen ländlich-agrarischen Lebens­ zyklus. In der politischen Praxis ging es vor allem um den Versuch, den ewigen Festtagskalender der Römischen Kirche zu ersetzen, aber auch das sich etablierende globale Zeitregime des Britischen Empire (die 1767 erstmals festgelegte Greenwich-Zeit) zu stürzen. Abgesehen von allen psychischen Widerständen und sachlichen Einwänden scheiterte dieses Projekt einer «neuen Zeitrechnung» freilich schon an der praktischen Notwendigkeit, sämtliche Uhren des Landes auf ein Dezimalsystem um­ zustellen.10

Die Macht des Irreversiblen Das «ungeheure Pathos des neu angebrochenen Zeitalters», darauf hat Hannah Arendt in ihren Reflexionen «Über die Revolution» besonderes Gewicht gelegt, sei «bei den Männern der Französischen wie der Ameri­ kanischen Revolution … überhaupt erst zum Vorschein (gekommen), als sie selbst sehr gegen ihren Willen an einen Punkt gelangt waren, von dem es kein Zurück mehr gab».11 Noch Anfang 1791 hatten weder Robespierre noch Saint-Just, um nur diese beiden Zentralfiguren der späteren Schreckensherrschaft zu nen­ nen, sich in der Frage der Staatsform – Republik oder (konstitutionelle) Monarchie  – festlegen wollen. Wichtiger, so Robespierre, seien die «questions sociales», die gesellschaftlichen Probleme und Fragen.12 Zur gleichen Zeit brandmarkte Saint-Just, vorerst nur ein blutjunger, ehr­ geiziger Provinz-Intellektueller, der auf dem jakobinischen Ticket nach Paris strebte, in einem langen Essay unter dem pompösen, Montesquieu entlehnten Titel: «L’esprit de la Révolution et de la Constitution de France» die regellosen Gewaltexzesse seit 1789 als das dunkle Werk «aufrührerischer Sklaven» und als einen spiegelverkehrten Ausdruck des gestürzten Despotismus. «Anarchie» war und blieb eines der Bannworte der Jakobiner. Geist und Ziel der Revolution sollte es vielmehr sein, so Saint-Just, die «Harmonie» der Gesellschaft wiederherzustellen, und zwar durch eine neue, dauerhafte Gesetzgebung (nach dem Vorbild der legendären antiken Gesetzgeber Spartas, Athens oder Roms), die den ewigen Prinzipien von Wahrheit, Tugend, Sittlichkeit und staatsbürgerli­ cher Gleichheit verpflichtet wäre und über die eine moralisch erneuerte, auf eine Nationalversammlung gestützte Monarchie wachen sollte.13

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Erst die Folge dramatischer Ereignisse: die Flucht Ludwigs XVI. nach Varennes im Sommer 1791, die Aufdeckung des Verrats des Hofes, die Verurteilung und Hinrichtung des Königs 1793, die drohende Invasion feindlicher Armeen und die englische Seeblockade, die wachsenden Spannungen in der Hauptstadt selbst und zwischen ihr und den Provin­ zen, erst dies alles trieb die zentristischen, ordnungsfanatischen Jakobi­ ner um Robespierre und Saint-Just schließlich dazu, sich nun auch mit prinzipiellen Begründungen für die Republik, die Volkssouveränität, die Demokratie, die Mobilisierung der Massen und schließlich sogar (wenn auch nur rhetorisch und vage) für eine «soziale Revolution» zu erklären, die für einen kurzen Moment bereits prätotalitäre Züge trug. Robespierre war es, der in der letzten, jakobinischen Phase der Revo­ lution darauf bestand, dass um der «Tugend der Gerechtigkeit und Gleichheit» willen die Gesetze jetzt nicht mehr nur im Namen der Na­ tion und der Republik, sondern «im Namen des französischen Volkes» erlassen werden sollten. An die Stelle des Konsenses der unterschied­ lichen Glieder der «Nation» trat jetzt endgültig die «volonté générale», der «Volkswille», der  – wie Rousseau es dreißig Jahre zuvor gelehrt hatte – als ein «geteilter Wille unvorstellbar» war. Dabei war die immer inständigere Beschwörung des «peuple toujours malheureux», des «noch stets leidenden Volkes» – von dem Saint-Just in einer klassischen Sentenz sagte: «Die Unglücklichen sind die Macht der Erde», womit er natürlich die christliche Formel von den Armen, denen das Reich Gottes gehöre, wiederaufnahm –, weniger eine philosophische Überzeugung als eine aus der Not geborene praktisch-politische Wen­ dung. Denn es war ja tatsächlich so: Je weiter man die soziale Leiter ­abwärtsstieg, zu den verelendeten Sansculotten und Proletariern der Vor­ städte, desto mehr nahm der philosophisch verworfene «Einzelwille», sprich: das Eigeninteresse, ab und der elementare legitime Selbstbehaup­ tungsinstinkt zu; sodass hier und nur hier der unverdorbene, reine Kern gefunden werden konnte, aus dem ein neues Volk und eine neue Nation entstehen konnten.14 Das jedenfalls war, auf ihren einfachen Kern reduziert, die politische Handlungslogik hinter der Wendung der Jakobiner zur «sozialen Revo­ lution» mit plebejischen Zügen und zur offenen Schreckensherrschaft – eine Wendung, die die Revolutionen des 19. und des 20. Jahrhunderts, einer ganz entsprechenden Logik und Rhetorik folgend, in größerem Maßstab wiederholen würden.

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Teil IV: Das Zeitalter der Revolution

Im Sommer 1792 war der Nationalkonvent nach direktem Wahlrecht ge­ wählt worden und tagte seither in Permanenz. Doch da «das Vaterland in Gefahr» erklärt war, waren er und erst recht der im Frühjahr 1793 etablierte Wohlfahrtsausschuss als diktatorisches Notstandsregime ab­ hängig von der Macht der Pariser Kommune. Das hieß, genauer gesagt: abhängig von den städtischen Vertretungsorganen und von ihren eben­ falls in Permanenz tagenden Sektionen, die im Zusammenspiel mit den «Volksgesellschaften», insbesondere den Klubs der Jakobiner und der Cordeliers, gegenüber der demokratischen Mehrheit des Konvents eine Art «Doppelherrschaft» etablierten  – wenn man es in den Kategorien der russischen Revolution fassen will. Die von ihnen mobilisierten plebe­ jischen Massen der Vorstädte hatten ihre gewaltbereite Macht mehrfach bewiesen, so, als sie am 10. August 1792 in die Gemächer des Königs in den Tuilerien eindrangen, was in seine faktische Entmachtung und Ge­ fangensetzung mündete, oder in den anschließenden «Septembermor­ den», einem organisierten Massaker an allen als potentiellen Verrätern festgesetzten adeligen Gefangenen und Klerikern. Und sehr bald hatten die sansculottischen Aufgebote der von den ­Radikalen kontrollierten Pariser Kommune auch den neu gewählten, aus allgemeinen Wahlen hervorgegangenen Nationalkonvent als den höchsten Souverän der Nation belagert und erpresst – nicht zuletzt mit Forderungen nach regulärer Bewaffnung mit Musketen und selbst mit Geschützen, die sie auch erhielten. Vor allem aber ging es immer wieder und immer drängender um die Forderungen nach einem «sozialen Mini­ mum», nach Preiskontrollen und um die Versorgung von Paris mit ele­ mentaren Lebensmitteln, vor allem mit Brot. In den Vororten, in denen die heterogenen Massen der kleinen Hand­ werker, Manufakturarbeiter, Angestellten und Dienstleute sowie ein wach­ sendes Heer von Arbeitslosen lebten, herrschten immer von Neuem der nackte Hunger und eine chronische Not, die sich auch in verzweifelten Angriffen auf Bäckereien und in wilden Plünderungen von Läden und Wohnungen von «Spekulanten», Aristokraten und reichen Bürgern aus­ tobten. Arendt hat diesen physischen Faktor in ihren Betrachtungen «Über die Revolution» so ernst wie nur möglich genommen, als sie schrieb: «Die unwiderstehliche Notwendigkeit, von der wir im Bewusstsein unserer selbst wissen, ist der Lebensprozess, der unseren Körper in Anspruch nimmt … Denn Armut ist mehr und anderes als ein einfacher Zustand des Beraubtseins und Entbehrens; die ‹Schande der Armut› liegt darin, dass die unmittelbare Leibesnot … zu einem Dauerzustand geworden ist.»15

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Währenddessen wurde die zweite, ebenfalls eigenen Dringlichkeiten und Interessen folgende Säule der revolutionären Staatsmacht immer mächtiger: die mitten in und rings um Paris als Schutztruppen lagernden Volksaufgebote sowie die in einer levée en masse neu aufgestellten und ausgebildeten Massenarmeen und deren Generäle, denen an allen Fron­ ten Kommissare des Konvents zu- und übergeordnet wurden – auch das eine Neuerung, die Schule machte. Kerenski übernahm sie von den Jako­ binern im Sommer 1917 bei seiner Verzweiflungsoffensive gegen die vor­ rückenden deutschen Truppen ebenso wie später die Bolschewiki im rus­ sischen Bürgerkrieg. Dabei war die Versorgung dieser republikanischen Massenarmeen die größte unter all den gewaltigen Lasten, die dem Land auferlegt waren und für deren Erfüllung diese Armeen, ihre Befehls­ haber und Kommissare in der rigorosesten Weise selber sorgten, ob an den äußeren Grenzen des Landes oder in den eigenen Feldzügen gegen die aufständischen Provinzen. Je radikaler und plebejischer die jugend­ lichen, nachgerückten Generäle und Kommissare ihrer Herkunft oder ihrem Habitus nach waren, umso rabiater wurden ihre Praktiken eines «sozialen Terrors». Das sind nur einige Streiflichter auf den unauflösbaren Konnex, der sich im Prozess der Revolution zwischen politischen, demokratischen, sozialen, militärischen und nationalen Fragen und Anliegen herstellte. Robespierre gab dem schließlich eine weit vorausgreifende Pointe. Nach­ dem die Revolution (er sprach sogar von einer «révolution du monde», einer «Revolution der Welt» oder «Weltumdrehung») einmal in Gang gekommen sei und erst die eine Hälfte ihres Umlaufs vollendet habe, müsse sie ihren eigenen Gesetzen folgend immer weiter getrieben werden und ihren Umlauf vollenden  – bis zur vollständigen Veränderung der «moralischen und politischen Ordnung». Dieses beschwörende Bild, in dem sich ältere kosmisch-zyklische Vorstellungen mit einem zeitgemä­ ßen revolutionären Vokabular vermischten, gebrauchte er allerdings ­unmittelbar vor seinem eigenen Gang aufs Schafott, der auch eine Art Dementi war. Das Frappierendste an den zentralen Personnagen der Französischen ­Revolution ist die unvermittelte Radikalisierung ihrer Positionen, aber auch der Persönlichkeitswandel, dem sie binnen zwei oder drei Jahren unterlagen. Die «Verhaltenslehren der Kälte»16, die sie sich forciert an­ trainierten und predigten, entsprangen einem Prozess, den sie zwar mit in Gang gesetzt und vorangetrieben hatten, aber zu dessen Werkzeugen

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und Gefangenen sie sehr schnell geworden waren. Für sie wie für alle späteren Revolutionäre dürfte der Satz gelten, dass weniger sie «die ­Revolution machten», als dass die Revolution sie machte. Ein kurzer Blick auf Saint-Just, den man halb dämonisierend, halb ­romantisierend den «Erzengel des Schreckens» getauft hat und der in ­einigen Charakterzügen tatsächlich bereits dem Typus eines modernen Revolutionärs nahekam: Wer war er denn überhaupt? Das hat sich aus dem spärlichen biografischen Material nur andeutungsweise nachzeich­ nen lassen. So sehen wir im Revolutionssommer 1789 den gerade ein­ undzwanzigjährigen Louis-Antoine de Saint-Just, Sohn der verarmten Familie eines im Dienst geadelten, früh gestorbenen Offiziers und der Tochter eines Provinznotars, wie er nach einem abgebrochenen Jurastu­ dium aus Reims im aufgewühlten Paris ankommt. Aber was für einer Revolution widmete er sich? Gleich im Anschluss an seinen Essay über den «Geist der Revolution» schrieb er, offensicht­ lich mit geblähten schriftstellerischen Ambitionen, an einem weiteren Werk, das unvollendet blieb und den noch epochaleren Titel «De la ­Nature»17 trug. Hier wie in weiteren, posthum veröffentlichten Aufzeichnungen18 ent­ rollt sich das ideale Musterbild einer altväterlich strengen, gebundenen Ordnung, ausgeprägter als selbst in den Staats- und Erziehungslehren Rousseaus, aber auch in Platons Schriften, die Saint-Just während sei­ ner Studienzeit gelesen hatte. Am ehesten waren diese Vorstellungen ­offenbar aus den Erzählungen des Plutarch über Sparta und die Gesetze des Lykurg geschöpft, über den Saint-Just bewundernd sagte: «Lykurg ­sicherte die Keuschheit, indem er die Scham verletzte, und wendete so den öffentlichen Geist auf den Krieg hin, der nun einmal grausam war.»19 An seinen Freund Lejeune schrieb er 1791: «Man muss ein ganzes Volk wiederherstellen, das durch Jahrhunderte der Barbarei und Sklave­ rei verdorben worden ist.»20 Auch für ihn war die Revolution also ein Akt der Restauration und Regeneration, der Wiederherstellung einer ur­ sprünglichen Ordnung wie zugleich einer moralischen Wiederaufrich­ tung. Als ein Kämpfer gegen die Tyrannei bereitete er sich auf seine aufsehen­ erregende Anklagerede gegen den treubrüchigen König vor, die ihn zum ersten Mal ins helle Licht der allgemeinen Aufmerksamkeit katapultie­ ren würde. Um den König als einen «Usurpator und Rebellen» gegen sein eigenes Volk zu brandmarken, erfand er, dem römischen «ius gentium»

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folgend, ein zeitloses «droit des gens», irgendwo zwischen N ­ atur- und 21 Völkerrecht. Für diese Manie, selbst die Exzesse des späteren Massen­ terrors noch in schneidender formaler Rechtslogik aus eigenen Begriffen herzuleiten (wie es der sowjetische Generalstaatsanwalt Wyschinski 140 Jahre später auch tun würde), wurde er berühmt. Aber noch sollte das ideale republikanische Gemeinwesen, das ihm vorschwebte, für das Volk «weiche, energische, empfindsame» und ­allein «für die Tyrannen und die Ungerechten unerbittliche» Sitten und Gesetze vorsehen. An dem Tag, an dem er (Saint-Just) einsehen müsse, dass sich dies nicht miteinander vereinbaren lasse, «werde ich mich er­ dolchen», wie er seinen Notizbüchern anvertraute.22 Seine ideale Repu­ blik sollte, ganz wie die Rousseaus, keine Reichen und Armen kennen, aber doch auf persönlichen Besitz als Ausweis bürgerlicher Selbständig­ keit (der antiken «Autarkie») gestützt bleiben; wobei in erster Linie na­ türlich an Haus, Hof und Grund gedacht war, kaum schon an «Produk­ tionsmittel» im modernen Sinn. Alle Bürger wären dann unmittelbar zum Vaterland (wie zu Gott), nämlich durch ihren Anteil am «nationa­ len Boden» wie durch ihren Zusammenschluss in einer großen «commu­ nauté des ­affectations», einer Gemeinschaft der Gefühle.23 Zu dieser antikisierenden Vorstellungswelt passte schließlich auch die kuriose, spartanisch-homoerotisch gefärbte Vorstellung, wonach jeder junge Mann beim Fest seiner Volljährigkeit mit 21 Jahren einen Freund öffentlich nennen solle, mit dem er in Treue verbunden sein wolle, für dessen Vergehen er einstehen werde, den er (ohne öffentliche Erklärung) nicht verlassen dürfe, mit dem er Seite an Seite in die Schlacht ziehen und am Ende im selben Grab vereint liegen werde. Saint-Justs schwärmeri­ sche Beziehung zu seinem (allerdings verheirateten) Gefährten Le Bas, aber auch seine schwüle Verehrung des älteren Robespierre, trugen sol­ che Züge – bis der gemeinsame Tod auf dem Schafott sie schied.24 So erstickend man solche versponnen-retrograden Vorstellungen im­ mer finden mag – sie machen für sich genommen noch keineswegs klar, wie der Weg von hier zur Rolle Saint-Justs als Revolutionär führte, des­ sen Anklagereden (erst gegen den König, dann gegen die Girondisten, dann gegen Danton, und schließlich gegen alle, die sich Robespierres Diktat entgegenstellten) vielen Beobachtern «scharf wie das Messer der Guillotine» erschienen. Zumal er als Rechtsphilosoph und Politiker, Rousseau folgend, ja eigentlich davon ausging, dass eine ausgeglichene Gesellschaft, wenn sie zur natürlichen Tugendhaftigkeit der Menschen zurückfinde, repressiver Institutionen, insbesondere der Todesstrafe,

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kaum noch bedürfe. Aber schließlich hatte auch Robespierre noch im Mai 1791 in einer leidenschaftlichen Rede in der verfassunggebenden Nationalversammlung für die Abschaffung der Todesstrafe plädiert.25 Je mehr wir uns den zentralen Figuren nähern, umso mysteriöser er­ scheinen sie. Weder ein klares politisches Konzept noch ein ­definiertes weltanschauliches Gerüst ist auszumachen – keines jedenfalls, das schlüs­ sig erklärte, warum sie so handelten, wie sie handelten.

Terror und Moral Das moralische Entsetzen, das der Massenterror im letzten Jahr der ­jakobinischen Diktatur auslöste und auch auslösen sollte – das war ja der Sinn des bewusst verwendeten Wortes «terreur» –, zeigte sich in der Situation der Jahre 1793/94 durchaus wirksam, weil er sowohl lähmend als mobilisierend wirkte. Das macht das Phänomen einer totalitären Ge­ waltentfesselung, wie sie sich hier in ihren Keimformen zeigte, nur noch abgründiger: Antrieb und Bereitschaft zur systematischen Vernichtung des Feindes entspringen keineswegs nur einer durch Terror erzwungenen Kommandokette oder schieren Indoktrination (das allerdings auch), sondern können Züge eines autonomen, von Massen getragenen Han­ delns annehmen, das zumindest anfangs selbst «moralische» Züge – im Sinne eines hochmotivierten Kampf- und Vernichtungsethos – aufweist. So stabilisierten sich gerade in der Periode der exzessivsten Schre­ ckensherrschaft die inneren und äußeren Fronten, und die Revolutions­ armeen gingen spätestens nach dem Sieg von Fleurus im Juni 1794 (den Saint-Just als Armeekommissar mit drakonischen Strafen gegen seine ­zögernden Generäle mit erzwungen hatte) zu ihren ersten großen Vor­ märschen über, während sie gleichzeitig in der Lage waren, alle Herde der Rebellion im Landesinneren auszulöschen. In dieser Schule des orga­ nisierten Terrors ist die gesamte, oft blutjunge und glänzende Garde der späteren napoleonischen Generäle groß geworden, einschließlich Bona­ partes selbst. Dieser rühmte sich später zwar, den innerfranzösischen Bruderkrieg beendet zu haben, erklärte den jakobinischen Terror aber für natürlich und gesetzmäßig: «Keine gesellschaftliche Revolution ohne Terror. Eine Revolution ist ihrer Natur nach ein Aufstand, dem der Er­ folg und die Zeit Legitimation verleihen und der notwendigerweise eine terroristische Phase durchläuft.»26 Sich und sein Imperium sah Napoleon deshalb durchaus als legitimen

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Erben und als ein Produkt dieser Revolution. Seine Armeen, durch deren Feldzüge schließlich Millionen ihr Leben verloren und weite Teile Euro­ pas von Spanien bis Russland zu verbrannter Erde wurden, verbreiteten auf ihre Weise Schrecken, also Terror; ihre entscheidenden Mittel waren die vernichtende Schnelligkeit und Rücksichtlosigkeit ihrer Angriffe wie ihrer Okkupationsregimes, einschließlich aller denkbaren Gräuel eines brutalen Anti-Guerilla-Kampfes wie in Spanien oder einer kannibali­ schen kolonialen Strafexpedition wie in Haiti. Dennoch war es vor allem der konzentrierte und demonstrative «Große Terror» von 1793/94 gewesen, der sich dem historischen Gedächtnis als neuartig und schockierend einbrannte. So wenn der Nationalkonvent auf Antrag des Wohlfahrtsausschusses im August 1793 verfügte, dass das abgefallene Handels- und Manufakturzentrum Lyon, die zweite Stadt des Landes, nicht nur mit einer regulären Armee zu belagern, zu unterwerfen und einem blutigen Strafgericht zu unterziehen, sondern dem Erdboden gleichzumachen sei: «Stehen bleiben nur die Häuser der Armen, die Fabrikgebäude, Werkstätten, Spitäler, Schulen und öffent­ lichen Gebäude … Auf den Trümmern der Stadt wird ein Denkmal er­ richtet mit der Inschrift: ‹Lyon bekriegte die Freiheit  – Lyon ist nicht mehr›.»27 Ein Karthago im eigenen Land also! Auch wenn die Drohung am Ende nur partiell wahrgemacht wurde – welcher Monarch hätte so etwas wagen können? Am sichtbarsten für alle Welt zeigte sich der Terror in der Hauptstadt selbst, wo über Wochen und Monate in ständig steigenden Zahlen Men­ schen in den Prozessionen der Todeskarren täglich quer durch die Stadt aufs Blutgerüst auf dem großen «Platz der Revolution» geliefert wurden. Gleichzeitig wurde die soziale und politische Streuung der Opfer im­ mer größer. Immer mehr Frauen, Alte und Junge, Angehörige bereits ­Exekutierter oder Verwandte von Flüchtigen, aber auch immer mehr einfache und arme Leute wurden aufgrund fragwürdiger Denunzia­ tionen vor die Revolutionstribunale gebracht und in Schnellverfahren abgeurteilt. In den überfüllten Pariser Gefängnissen herrschten grauen­ hafte Verhältnisse, Selbsttötungen waren an der Tagesordnung; die Sze­ nen der Verzweiflung beim täglichen Aufruf der für die Hinrichtung ­Bestimmten sind in zahllosen Bildern nachempfunden worden. Nach den amtlichen Unterlagen müssen es in der Hauptstadt an die 2500 Men­ schen und in den Provinzen noch einmal etwa 14 000 Menschen gewe­ sen sein, die auf fest installierten oder mobilen Guillotinen der Republik binnen eines Jahres einen Tod in Schrecken fanden.28

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Diese allenthalben «in der glänzendsten Aktivität»29 befindlichen Tö­ tungsmaschinen markierten aber nur die sichtbarste Form des Terrors, die Spitze eines blutigen Eisbergs. Die größten Menschenvernichtungen fanden meist ohne alle Prozeduren in den von Paris abgefallenen Regio­ nen und Städten statt. Zum Symbol dieser «föderalen» Revolten, die ­einen großen Teil des Landes erfassten, ist vor allem der Name der Vendée geworden. Im Kern handelte es sich um vier Departements an der unte­ ren Loire, in denen sich seit dem Frühjahr 1793 eine katholisch-royalis­ tische Gegenrevolution entfaltete. Dieser Bürgerkrieg, der neben Formen des Partisanenkriegs und entsprechender Vergeltungsaktionen auch in regelrechten Schlachten ganzer Armeen ausgetragen wurde, wurde von beiden Seiten mit wachsender Erbitterung und Brutalität geführt. Das Denkwürdigste waren die Vernichtungsaktionen, die am Ende dieses Krieges standen, als die Heerhaufen der Vendéer großteils bereits geschlagen und zerstreut waren. Auf ausdrückliche Anordnung des ­Sicherheitsausschusses des Pariser Konvents vernichteten die «infernali­ schen Kolonnen» des Generals Turreau und andere Truppen Kirchen und ganze Dörfer, Felder und Wälder sowie einen Teil der Infrastruktu­ ren, machten die angetroffenen Einwohner wahllos nieder oder depor­ tierten sie, um das entvölkerte Departement schließlich in «Vengé» (Gerächt) umzubenennen. Die Anweisungen wurden immer wüster: «Tötet die Banditen, statt nur ihre Höfe niederzubrennen …, vernichtet diese grauenvolle Vendée vollständig …, um alle aus diesem Geschlecht von Banditen auszulöschen.» So der General Turreau in einem seiner Truppenbefehle, die er unter die höhnische Parole: «Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, oder Tod» stellte.30 Womöglich noch schockierender war das Strafgericht, das über die nach Nantes geschleppten Gefangenen und aufgegriffenen Flüchtlinge aus der Vendée, darunter eine Mehrheit von Frauen und Kindern, gehal­ ten wurde, so wie es der als Kommissar entsandte Abgeordnete Carrier in einem unter dem Applaus der Konventsabgeordneten verlesenen Brief schilderte: «Mein Freund, ich verkünde Dir mit großem Vergnügen, dass die Räuber endlich vernichtet sind … Jeden Augenblick kommen neue an. Weil die Guillotine zu langsam ist, und das Erschießen auch zu lange dauert und Pulver und Kugeln vergeudet, hat man sich entschlossen, je eine gewisse Anzahl in große Boote zu bringen, in die Mitte des Flusses etwa eine halbe Meile vor der Stadt zu fahren, und das Boot dort zu ver­ senken. So wird unablässig verfahren.»31 Nach recht genauen Schätzungen sind in Nantes in wenigen Wochen

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von rund 13 000  Flüchtlingen und Gefangenen bis zu 10 000 zu Tode ­gebracht worden. Etwa 2000 von ihnen wurden guillotiniert und er­ schossen; die übrigen ließ man in den Gefängnissen krepieren, oder man brachte sie auf besonders sadistische und höhnische Weise in den ge­ schilderten «patriotischen Ertränkungen» oder «republikanischen Tau­ fen» bzw. «Hochzeiten» (Männer und Frauen aneinander gefesselt) ums Leben. Gegen diese konzentrierte Tötungsorgie verblasste selbst die Schre­ ckensherrschaft in Paris.32 Dass Schrecken («terror») der innerste Kern alles Numinosen,33 aber auch aller irdischen Machtvollkommenheit und ihres metaphysischen Abglanzes sei, hatte ausgerechnet der prominenteste literarische Gegner der Französischen Revolution, Edmund Burke, in einem Traktat «Vom Erhabenen und vom Schönen» früher einmal luzide herausgearbeitet, als er schrieb: «Alles, was irgendwie schrecklich ist oder  … in einer dem Schrecken ähnlichen Weise wirkt, ist eine Quelle des Erhabenen … Da­ her kommt die große Macht des Erhabenen: dass es … uns mit unwider­ stehlicher Kraft fortreißt. Erschauern ist also  … die höchste Wirkung des Erhabenen; die niederen Wirkungen heißen Bewunderung, Vereh­ rung und Achtung.»34 Man muss es zu den großen Ironien der Geschichte zählen, dass Burke in seinen berühmten «Betrachtungen über die Revolution in Frankreich» genau diesen Konnex eklatant verfehlte. Zwar nannte er die Französi­ sche Revolution gleich nach ihrem Ausbruch – er schrieb seinen in Form eines Offenen Briefs verfassten Text 1789/90 – «das Allererstaunlichste, das in der Welt bisher geschehen ist».35 Gerade dieses «Erstaunen» hatte er in seiner früheren Schrift aber als einen Grundzug der ästhetischen Wirkung des Erhabenen identifiziert. Was ihn beim Anblick der Revolu­ tionswirren in Frankreich in «Erstaunen» versetzte, war freilich nichts als eine «monströse tragikomische Szenerie», bei deren Betrachtung sich «Verachtung und Empörung, Lachen und Tränen, Zorn und Schrecken» miteinander mischten.36 Dass von diesem Schauspiel entfesselter Massen irgend etwas Erhabenes ausgehen könnte, dass dieses zerrissene Nach­ barland als der ewige Rivale Englands noch einmal zu einer Machtent­ faltung wie in den anschließenden Revolutionskriegen in der Lage sein würde, konnte Burke in seiner tief eingefleischten, halb liberalen, halb konservativen, vor allem aber sehr britischen Aversion nicht ahnen. Das berührt allerdings ein viel größeres Problem, das Burke spürte und das für die Geschichtsschreibung bis heute eine irritierende Frage

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bleibt: Wie der eigentümlichen auratischen Ausstrahlung von Revolu­ tionen Rechnung tragen, ohne sie naiv zu reproduzieren oder nochmals mythopoetisch zu überhöhen, sei es durch ihre Heroisierung oder durch ihre Dämonisierung? Als erstes wäre etwa die Erfahrung einer unerhörten Beschleunigung der Geschichte zu nennen, die von den Zeitgenossen sofort als ein Be­ weis der historischen Tragweite der Ereignisse verstanden wurde. Natur­ metaphern drängten sich regelmäßig auf: von Sturmgewittern und Flut­ wellen, von Erdbeben oder Vulkanausbrüchen  – die wiederum wie in ­alten Zeiten als «Zeichen» galten, Walten der Nemesis, die die Hybris der Herrschenden bestrafte und das Recht wiederherstellte. Der russische Symbolist Alexander Blok hieß 1918 die Revolution weniger als ein lichtes Hoffnungszeichen des Künftigen denn «als ver­ diente Vergeltung für die sozialen Sünden der Vergangenheit»37 will­ kommen, als eine reinigende Sintflut: «Sie ist der Natur verwandt. Wehe jenen, die von einer Revolution erwarten, dass sie nur ihre eige­ nen Träume erfüllt … Eine Revolution bringt wie der Orkan, wie der Wirbelsturm stets etwas Neues und Unerwartetes. Viele werden grau­ sam getäuscht.»38 Diese Sätze verraten etwas vom Gefühl der Überwältigung durch ­einen Prozess, dem nicht nur passiv teilnehmende Beobachter wie Blok unterlagen, sondern auch diejenigen, die ihn scheinbar aktiv steuerten und lenkten. Dabei war das eigentlich Überwältigende zunächst die schlagartige, oft beschworene und doch stets überraschende Implosion und Auflösung des alten Regimes – ein Geschehen, das, zumal in einer nominell noch immer autokratischen Ordnung wie in Frankreich 1789 oder in Russland 1917, zwangsläufig ein gewaltiges Vakuum produ­ zierte. Deshalb nahmen die modernen Revolutionen, die in Frankreich 1789 und 1848 wie die in Russland 1905 und 1917, und ebenso die in China 1911 und 1949 oder auch die in Kuba 1933 und 1959, zunächst stets die Form einer «Involution» an: einer Rückbildung oder eines akuten Ver­ sagens der inneren Organe des gesellschaftlichen Stoffwechsels. Das war nicht nur so, weil die Faktoren des moralischen und finanziellen, ­administrativen oder militärischen Zerfalls des alten Regimes jetzt erst recht zum Tragen kamen und die ersten, provisorisch installierten Regie­ rungen, die dem Chaos entgegenzusteuern suchten, in eine ohnmächtige Lage versetzt wurden. Sondern das Klima der allgemeinen Verunsiche­

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rung führte zwangsläufig zu einer Abwärtsspirale aller sozialökonomi­ schen Produktions- und Austauschverhältnisse, zu einem Zusammen­ bruch der Kreditbeziehungen (im finanziellen wie im übertragenen Sinne des Wortes), und damit zu einem Rückfall in Natural- und Tauschwirt­ schaft. Diese Prozesse wiederum erzeugten Wellen einer diffusen, sich selbst nährenden Panik  – so im Sommer 1789 in Frankreich, als sich in die ­Euphorie der ersten Wochen bereits Anzeichen einer Hungerpanik in den ärmeren Vororten der Städte mischten, in denen Arbeitslosigkeit und Teuerung aufeinandertrafen. Noch bezeichnender waren die Fieber­ schübe einer «Grande Peur», einer Großen Furcht, die keineswegs nur Teile der aristokratischen Oberschichten und königlichen Amtsträger beherrschten, sondern die auch weite Landgebiete erfassten. Dazu ka­ men panische Gerüchte über das Auftreten vagierender Banden und die tatsächlich massiv gesteigerte Kriminalität nach dem Zusammenbruch der Rechtsordnung und der Sicherheitsorgane. Letztlich machte sich im Phänomen der «Grande Peur» eine hypochondrische Zukunftsangst be­ merkbar, die Züge des horror vacui trug, des Schreckens der Leere. Schließlich war Frankreich 1789 der große Zentralstaat Europas, des­ sen permanente imperiale Überanstrengungen in den kontinentalen wie in den überseeischen Kriegen (ironischerweise gerade auch in der Unter­ stützung des amerikanischen Unabhängigkeitskampfs gegen den Haupt­ rivalen Großbritannien) den Kollaps des alten Regimes herbeigeführt hatten. Dieser Kollaps musste seinerseits im europäischen Mächtespiel ein Vakuum erzeugen, das Begehrlichkeiten weckte wie Befürchtungen vor einem Überspringen der Revolution. Umgekehrt stand der Geltungs­ anspruch einer wiederaufzurichtenden und zu erneuernden französischen Nation denen, die die revolutionären Prozesse nach 1789 zu steuern und in eine neue Massenmobilisierung zu überführen suchten, als Ansporn stets vor Augen – zumal im Angesicht einer «Welt von Feinden», die an allen Grenzen aufmarschierten und die man scheinbar nur besiegen konnte, wenn man die Revolution in einem Akt der offensiven Notwehr auch in ihre Länder hineintrug. Ganz Entsprechendes könnte man über die Akteure des Revolutions­ jahres 1917 in Russland sagen, und auch über die am Ende zur Macht gekommenen Bolschewiki, deren «revolutionärer Defaitismus» gegen­ über dem imperialistischen Völkergemetzel alles andere als pazifistisch war, sondern von Beginn an die Fermente eines revolutionären Bellizis­ mus enthielt. Im Frühjahr 1918 erhielt dieser revolutionäre Bellizismus

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aus dem Munde Lenins, ganz in der Terminologie eines Robespierre, das Siegel eines «Vaterländischen Kriegs» Sowjetrusslands gegen alle seine inneren und äußeren Feinde und damit eines Volkskriegs, der ungleich stärkere Energien als alle imperialistischen Kriege entfesseln würde und (wie man allen Ernstes glaubte) die imperialistische Weltordnung insge­ samt über den Haufen werfen könnte. So sah auch der zum Sympathisanten der Bolschewiki gewordene Korrespondent des «Manchester Guardian», Morgan Philips Price, in der jungen Sowjetrepublik 1918 das Menetekel einer allgemeinen Erhe­ bung der proletarischen Völker des Ostens gegen die bourgeoisen Aus­ beuternationen des Westens, und allen voran gegen sein eigenes Land, gegen Großbritannien – dessen Bürger er warnend an Thomas Carlyles Charakterisierung des revolutionären Frankreich als einer Nemesis der degenerierten alten Welt erinnerte: «Diese Republik und nationale Tige­ rin ist eine Neugeburt – ein Naturakt inmitten leerer Formeln in einem Zeitalter der Formeln … – schrecklich in ihrer Deutlichkeit und Echt­ heit, wie der Tod selbst. Was ihr an Echtheit gleichkommt, mag ihr ent­ gegentreten und Trotz bieten. Was ihr aber nicht gleichkommt?»39

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Kommunismus und Eros

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n den Wirren der Pariser Revolutionsjahre tauchte erstmals wie ein fla­ ckerndes Irrlicht auch der Begriff des «Kommunismus» auf, um danach fast ein halbes Jahrhundert lang wieder zu verschwinden. Sein Erfinder war der graphomane Literat ländlicher Herkunft und erotomane «Anthro­ pograph» des Großstadtlebens, Restif (Rétif) de la Bretonne. In den letz­ ten beiden Bänden seiner fortlaufenden Chronik «Nuits de Paris», die er in den Revolutionsjahren 1790 bis 1793 verfasste, streift er, ein kleiner, schon älterer Mann, von Neugierde getrieben und unsichtbar wie ein Uhu, durch die Straßen der nächtlichen Hauptstadt, stets von der Furcht erfüllt, ausgeraubt oder ermordet zu werden, aber begierig, nichts zu verpassen. Er beschreibt die Revolution als eine Entfesselung der Unter­ welt, verdächtigt allerdings von Anfang an adelige Gegenrevolutionäre, die Lynchorgien und Hungerkrawalle des Pöbels zu schüren. Immer wieder kommt er dabei auf Themen zurück, die ihn schon in seinen früheren, teils utopischen und meistens pornografischen Roma­ nen beschäftigt haben, angefangen mit seinem ersten Erfolgsbuch, dem autobiografischen «Paysan perverti»: nämlich die Korrumpierung ur­ sprünglicher, ländlich-bukolischer Unschuld durch die ebenso warnend wie süchtig beschriebenen «Gefahren der Großstadt» (so der Untertitel dieses Erstlings). Die Ursachen dieser Verderbnis der Menschen sieht er in adeliger Dekadenz, bourgeoisem Reichtum und klerikaler Heuchelei, aber auch in der Proletarisierung, d. h. Enteignung der kleinen Bürger und der allgemeinen Käuflichkeit – Käuflichkeit auch der Liebe, die doch für arme Landburschen gratis da sein sollte; und die ihm, dem Erotoma­ nen und Fetischisten, dank der Großzügigkeit der Dienstmädchen und kleinen Geschäftsfrauen, älteren Witwen und blutjungen Töchter angeb­ lich täglich und reichlich zur Verfügung gestanden haben soll, wie in ­einer großen, freudigen Kommunion der Geschlechter. Seine ab 1770 in dichter Folge erschienenen, von der Zensur halbher­ zig verfolgten Bücher trugen ihm den anerkennend gemeinten Titel eines «Rousseau der Gosse» ein. So wie der «arme Jean-Jacques» in seiner

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g­ ewollt solitären, ureigenen Person «den Menschen in seiner ganzen Na­ turwahrheit zeigen» wollte, nämlich seiner ursprünglichen Unschuld und Herzensgüte, so stellte Restif sich als einen von den allernatürlichs­ ten und unschuldigsten Trieben geleiteten Liebenden dar, unter dessen arglosem Blick alle Übel und alle Doppelmoral, aller moralischer Verfall der Gesellschaft sich decouvrierten; mit dem kleinen Unterschied, dass der Misanthrop Rousseau all den Frauenzimmern, die ihn umschwärm­ ten und anzogen, den Wolfspass der Verführerinnen ausstellte, während Restif sich mit bigotter Unschuld im Sündenpfuhl der Hauptstadt aalte, den er so lebhaft anprangerte. Jetzt aber waren auch die Frauen zu Megären geworden. Nach einem erneuten Sturm auf die Bäcker- und Krämerläden im Februar 1793 setzte Restif zu einer großen Tirade mit überraschender Pointe an: «Ich habe stets festgestellt, gedacht, gesagt, geschrieben, dass das ungebildete nie­ dere Volk der schlimmste Feind eines jeden geordneten Gemeinwesens ist. An den Pöbel … wendet sich der Aufwiegler, der sich als ihresglei­ chen verkleidet hat. Ich kenne nur ein Gegenmittel:  … (den) Gemein­ schaftsbesitz, wie ich ihn 1782 in meiner Schrift ‹Der Anthropograph› vorgeschlagen habe.»1 Der «Gemeinbesitz» sollte also den Pöbel zügeln. Diesen merkwürdigen, reaktionär-revolutionären Gedanken führte Restif in seiner letzten 16-bändigen Autobiografie «Monsieur Nicolas oder das entblößte Herz» weiter aus, die er in den Thermidor-Jahren 1796/97 veröffentlichte, wie immer im Selbstverlag in seiner eigenen Druckerei, meist indem er ohne Manuskript direkt in seinen Satzstock schrieb. Hier nannte er sich und seine (imaginären) Gesinnungsgenos­ sen «Patriotes-Républicains-Communistes». Als autodidaktischem Ge­ schichts­philosophen erschien ihm der «communisme» – den er mit «com­ munauté universelle» übersetzte  – als die «beste, eines vernünftigen Menschen einzig würdige» Staats- und Gesellschaftsform. Mit leichter Hand entwarf er in einem «Règlement» von 29 Artikeln eine agrarische Utopie, in der sämtliche Produkte und Ressourcen ebenso wie alle Hand­ werke, Künste und Wissenschaften gemeinschaftlich, wenn auch nicht gleichmacherisch, sondern nach Können und Fleiß eines jeden, genutzt und betrieben würden, einschließlich der Erziehung der Kinder. Als jüngerer, von der Erbfolge ausgeschlossener Sohn eines Großbau­ ern hatte Restif offensichtlich jene ganz unpolitisch als «communistes» bezeichneten Landbewohner vor Augen, die bis an den Vorabend der Revolution hier und dort noch in patriarchal-großfamiliären Güter- und Erbengemeinschaften gelebt hatten, statt das Land untereinander aufzu­

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teilen, oder die als Angehörige einer ganzen Dorfgemeinschaft ihr Ge­ meindeland und andere Gemeingüter wie Holzgerechtsame, Fischerei­ rechte usw. genossenschaftlich genutzt hatten. Die Gesetzgebung nach 1789 hatte, als der säkularisierte Besitz der Klöster und Bistümer und die konfiszierten Ländereien adeliger Emigranten aufgeteilt wurden, auch diese letzten «feudalen Überreste» mit aufgehoben und alles Land in erbliches und individuelles Privateigentum umgewandelt.2 Indem Restifs «Règlement» einer «einzig würdigen» Gesellschaft einen traditionellen Begriff in einen modernen Ismus, eben den des «communisme», umwan­ delte, enthielt es einen Protest gerade gegen diejenigen Gesetze und so­ zialen Umwälzungen, die diese Revolution doch erst zu einer «bürger­ lichen» oder auch schon zu einer «sozialen» machten.

Eine kurze Geschichte der «Intelligenz» Als illustrer Einzelgänger hatte Restif sich am Rande eines der vielen Ne­ benzentren der Revolutionszeit bewegt, dem vom Journalisten Nicholas de Bonneville 1790 gegründeten «Cercle Social», der im Palais Royal tagte, das mit seinen Gärten und Cafés, Cabarets und Séparées (sprich: Bordellen) in den ersten Jahren zum informellen Hauptquartier aller Ra­ dikalen geworden war, gleich gegenüber dem Louvre, dem königlichen Stadtschloss. Bonneville, der mit seiner Frau und Thomas Paine in einer freien Ménage à trois lebte, griff die Formel des Abbé Sieyès von der Druckerpresse als einer «vierten Gewalt» auf und entwickelte sie weiter zur Vorstellung, dass die Journalisten und Schriftsteller einen vom Bür­ gertum abgehobenen «vierten Stand» repräsentierten, der für das ganze, in der Ständeordnung nicht vertretene, eigentliche «Volk» sprach und damit den bisherigen «ersten Stand», den der Kleriker, zu ersetzen hätte. Darin steckte bereits die Vorstellung, dass die Literati in einem Zeitalter der «Volkssouveränität» der universale, neue, wahre «erste Stand» wer­ den mussten. Die Figur des modernen Intellektuellen, um die es sich hier unver­ kennbar handelt, ist mit ihren historischen Vorläufern nicht zu verwech­ seln, trug allerdings einiges von ihnen weiter. Der früheste Typus eines «Intellektuellen» war der gelehrte Kleriker, in der Regel ein Mönch. Ver­ mittels der Universitäten wurden diese gelehrigen clerici früh schon zu einem auch zahlenmäßig bedeutenden sozialen Stand eigener Ordnung. So sollen in Paris, der «intellektuellen Hauptstadt der Christenheit», um

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1300 bereits bis zu zehntausend und zu Beginn des 16. Jahrhunderts so­ gar dreizehntausend Magister und Studenten gelebt haben.3 Durch ihre Wanderschaften und dank des ihnen allen geläufigen La­ teins bildeten diese Scholaren und Magister (meist nichtadeliger Her­ kunft) eine kosmopolitische «Republik des Geistes», so wie nach und neben ihnen die Privatmilieus der gelehrten «Humanisten» mit ihren ausgedehnten Korrespondenzen. Andererseits waren es gerade die Stu­ denten, die sich an den großen Universitäten Europas wie Paris, Bologna oder Prag in «nationes», also in Landsmannschaften, teilten und eifer­ süchtig ihre «nationalen» Umgangssprachen und Bräuche verteidigten. Und es waren die Humanisten der Renaissance und Reformationszeit, von Petrarca, Machiavelli und Budé bis Melanchthon und Hutten, die ­darauf hinwirkten, ihren Gesellschaften über eine eigene Volks- und ­Literatursprache, über mythische Erzählungen und über politische und weltanschauliche Doktrinen, die sich vornehmlich gegen die «römische» (päpstliche) oder jede sonstige Fremdherrschaft richteten, zu einem be­ sonderen Selbstbild und stärkeren Wir-Gefühl zu verhelfen. In diesem Sinne waren sie entscheidend daran beteiligt, ihre Länder als Nationen, die es auf der Landkarte nicht gab, zu «erfinden».4 Das entscheidende materielle Instrument für die Entstehung einer ­«Intelligenz» als einer eigenen sozialen Schicht war das Druck- und Ver­ lagswesen, das seine Karriere als eine moderne Industrie mit der Mas­ senproduktion von Bibeln, anfangs noch in lateinischer Sprache, dann in den Volkssprachen, begann. Dazu kam eine Fülle von Flugschriften und Druckgrafiken, aber auch von Gesangs- und Gebetbüchern, die die Re­ formation und die Religionskriege wie alle Ketzerbewegungen davor und danach begleiteten. Auch die Schriften der Humanisten und Staats­ theoretiker, Philosophen und Naturwissenschaftler, Weltreisenden und ersten Historiker konnten bereits bedeutende Auflagen erreichen. Das­ selbe gilt für die frühen Volksromane und Versepen. Schon in den ersten 150  Jahren nach Gutenbergs Bibel (1454) sind bis zu 200  Millionen ­Bücher in Europa gedruckt worden. Und das war erst der Anfang.5 Bücher waren nicht nur Ideenträger, sie gehörten auch zu den frühes­ ten industriellen Massenwaren, die eine eigene Konsumkultur begrün­ deten – so wie das Druck- und Verlagswesen vielleicht die erste «große Industrie» überhaupt war. Damit konnten bedeutende Gewinne gemacht und verzweigte Gewerbe begründet werden. Um die Buchkultur herum entwickelte sich eine Vielzahl aktiver Verlage, die oft über ein europa­ weites Netz von Vertriebsagenten verfügten, sowie von öffentlichen Bi­

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bliotheken und privaten Büchersammlungen, von Buchläden und Lese­ gesellschaften. Dazu kam ein immer ausgedehnteres Bildungswesen mit Akademien, Kollegien und Gymnasien, die eigenen Lesestoff brauchten. Das Zeitalter der Aufklärung brachte nicht nur die «philosophes», die eine Art Hochadel des Geistes bildeten, auf die Vorderbühne der Gesell­ schaft, die wie Voltaire zuweilen ins Exil verbannt waren, aber mit umso weiterem Radius als Korrespondenten und Berater der «aufgeklärten Souveräne» des Ostens wirkten, vom friderizianischen Preußen bis zum Russland Katharinas der Großen. Vor und neben ihnen standen die «écrivains», die Schriftsteller, deren Versepen oder Romane vielfach den eigentlichen Anfang einer Nationalkultur markierten, die aber zuneh­ mend auch in den expandierenden Markt für Satiren oder literarische Utopien einstiegen. Gleichrangig neben ihnen rangierten wiederum die bildenden Künst­ ler, die Maler und Bildhauer, die von einem nicht mehr nur mäzena­ tischen, sondern auch kommerziellen Kunstmarkt zu leben begannen. Dafür, ebenso wie für den Straßen- und Kanalbau, den Schiffsbau, die Festungsbauten und das mittlerweile professionalisierte Militärwesen brauchte es geschulte Fachleute der verschiedensten Art, wie sie jetzt in staatlichen Akademien systematisch herangebildet wurden. Auch darin ging Frankreich als die anerkannte «Großmacht des Geistes» schon im frühen 18. Jahrhundert voran. Für die soziologische Komposition der entstehenden «Intelligenz» als einer Klasse oder Schicht eigenen Charakters spielte schließlich die sys­ tematische Entfaltung der Naturwissenschaften seit dem 16./17. Jahr­ hundert eine zentrale Rolle, wobei die Astronomen, Physiker, Geologen oder Mathematiker dieser Zeit immer auch mit praktischen Erfindungen beschäftigt waren. Eine zahlenmäßig noch bedeutendere Personen­ gruppe dürften die Juristen gewesen sein, die mit der zunehmenden Ver­ rechtlichung der gesellschaftlichen Beziehungen und Besitzverhältnisse, insbesondere durch die systematische Aneignung und Übertragung des römischen Rechts in der frühen Neuzeit, sowie durch die legalistische Neubegründung der staatlichen Ordnungen, als eine besondere Profes­ sion entstanden – die es in römischer Zeit niemals gegeben hatte.6 Nicht nur Regierungen, Kommunen, Parlamente oder sonstige Korporationen, auch die Privatleute brauchten für familiäre Eigentumsregelungen, ge­ schäftliche Transaktionen und rechtliche Konflikte jetzt vielfach Advo­ katen, die damit zu einer Kerngruppe bürgerlicher Notabeln und Amtsträger wurden.

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Alles in allem verwundert es nicht, dass die «métiers intellectuels» am Vorabend der Französischen Revolution zwischen 5 und 15 % der Be­ völkerung der größeren Städte, in erster Linie natürlich der Hauptstadt, gestellt haben.7 Damit waren sie vermutlich eine zahlreichere und ge­ wichtigere «Klasse» als die entstehende gewerbliche Bourgeoisie, zu der sie vielfach schon in einem spannungsvollen Verhältnis von Rivalität und Abgrenzung standen. Das Gewicht dieser Intelligenzklasse wuchs erst recht mit der Entfaltung autonomer Öffentlichkeiten, in denen Zeitungen und Zeitschriften eine noch bedeutendere Rolle als Bücher spielten. Erst die regelmäßige Lek­ türe solcher Periodika konnte eine politische Strömung oder sogar eine weltanschauliche Gemeinde begründen.8 Unter der Decke der Zensur reifte im vorrevolutionären Frankreich eine «frühe Informationsgesell­ schaft» heran.9 Sie schuf sich eigene Nachrichtenbörsen, in Gestalt ade­ liger Salons, aber rasch zunehmend auch in Hunderten von Cafés, Lese­ kabinetten, Buchhandlungen, in denen gelesen oder vorgelesen wurde und neueste Gerüchte, Klatsch und Anekdoten der Hof-, Adels- und ­Regierungskreise kolportiert wurden. Von hier aus wurden sie oft wie­ der in Form illegal gedruckter «Chroniken» oder «libelles» (Schmäh­ schriften) weitergetragen, deren Auflagen und Erlöse das hohe Risiko offensichtlich wert waren. Dabei lieferte die Libertinage des Hofadels, angefangen mit der in die große Politik hineinregierenden Mätressenwirtschaft Ludwigs  XIV. und Ludwigs XV., das erotisierte Schmiermittel für das obsessive Interesse an den «Geheimnissen des Hofes». Die allenthalben in Abschriften umlau­ fenden, oft in Geschäften oder Cafés zum Besten gegebenen, mal raffiniert verschlüsselten, mal zotig-direkten Gedichte und Couplets bildeten eine klassenüberschreitende Melange aus Pornografie und Politik. So war der sakrale «Körper des Königs» schon auf jede erdenkliche Weise entweiht, lange bevor er physisch attackiert wurde. Nicht anders würde das russi­ sche Zarentum im Jahr 1917 in einer Woge obszöner Gerüchte, Spottlie­ der und Mutterflüche politisch, moralisch und physisch untergehen. Die Abschaffung der Zensur, die im Sommer 1789 einer der ersten ­Erfolge der beginnenden Revolution war, öffnete die Schleusen für die Gründung neuer Zeitungen, ein Feld, auf dem Frankreich bis dahin noch deutlich hinter England und selbst Deutschland hergehinkt war. Jetzt gab es allein in Paris zwanzig neue Tageszeitungen, zahlreiche weitere in den Provinzen, dazu eine Anzahl gewichtiger Wochenzeitungen wie die

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«Révolutions de Paris» von Prudhomme und Maréchal oder Brissots «Patriote Français». Einige der neuen Blätter, wie Bonnevilles «Tribun du Peuple» und «Bouche de Fer», Marats «Ami du Peuple» oder Héberts «Père Duchêne», waren ihrer ganzen Aufmachung und Sprache nach als agitatorisch-politische Interventionsorgane angelegt, die es sich zur Auf­ gabe machten, «im Namen der Masse der guten Bürger, die noch nicht aufgeklärt genug sind, um zu wissen, wessen sie bedürfen», eine «uni­ verselle Überwachung» der jeweiligen Regierungen auszuüben – so der schon zitierte Bonneville.10 Der auf politische Empörung und physische Aktion angelegte Gestus dieser aus der Revolution geborenen Blätter war etwas vollkommen Neues, so wie ihre aufreizende Sprache, in der «Schlagwörter» kreiert und eingeübt wurden. Die Redestile changierten zwischen einem hoch­ gestochenen Pathos, wie die führenden Girondisten und Jakobiner es zelebrierten, und einem volkstümlich-derben Ton, dessen Meister der zwielichtige Jacques-René Hébert war. Sein als einfaches Faltblatt ver­ breiteter «Père Duchêne» eröffnete seine tägliche Tirade stets mit einem infernalischen Fluch, nur um in einem Aufwasch dann den aktuellen ­Ärgernissen und Bedrängnissen seines sansculottischen Publikums Luft zu machen und die als Feinde des Volkes oder als Agenten fremder Mächte denunzierten Politiker und publizistischen Gegner an die La­ terne oder auf die Guillotine zu wünschen. Dabei waren alle bedeutenden Akteure der Französischen Revolution ihrer ursprünglichen Bildung und Prägung nach «hommes de lettres» ­gewesen, also Schriftsteller und Advokaten, abtrünnige Kleriker, Wissen­ schaftler oder Künstler – bevor sie in die Kostüme eines Agitators, Orga­ nisators, Orators und Politikers schlüpften. Ihre täglichen Versammlungs­ orte waren außer den Cafés und Salons, den Logen und Zirkeln jetzt die neu entstandenen, vorzugsweise in säkularisierten Klöstern t­agenden «Klubs» und «Volksgesellschaften», in denen sich die verschiedenen Frak­ tionen der «Jakobiner» und «Cordeliers», der «Girondisten» oder «Feuil­ lants» als erste Vorformen politischer Parteien auskristallisierten.

Vom Höllensturz zur Großen Gemeinschaft In diesen Auseinandersetzungen entstanden erstmals auch Begriff und Vorstellung einer politischen «Linken», einer «Mitte» und einer «Rech­ ten»  – mysteriöse Bezeichnungen, die ursprünglich der Sitzordnung in

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der Nationalversammlung folgten, aber bald unterschwellige Bedeu­ tungen transportierten, die nur aus der religiösen Ikonographie stam­ men konnten. Schließlich hatten seit dem Mittelalter auf allen Bildern des Jüngsten Gerichts die Gerechten und Geretteten «zur Rechten des Herrn» gesessen, während die Sünder, die Widersacher zu seiner Linken ihren Höllensturz erlebten. Es dürfte sich auf Seiten der «Linken» (der Jakobiner und Cordeliers, der Maratisten und Hebertisten) zunächst also um eine sarkastische Selbstbeschreibung gehandelt haben, die mit ihrer Frontstellung gegen das absolutistische Gottesgnadentum zu tun hatte. Im Zuge der Polarisierungen lagerten sich dann immer weitere Bedeu­ tungsfelder daran an, die zu binären Konnotationen für eine politische Rechte oder Linke wurden, wie konservativ / progressiv, elitär / egalitär, reaktionär / revolutionär, usw. Dabei fällt es schwer, diesen weltanschau­ lichen Tendenzen und politischen Fraktionen spezifische soziale Inte­ ressen zuzuordnen. Weder konnte im kunterbunten Durcheinander des «menu peuple», des einfachen Volks der Vor- oder Provinzstädte, von einer Arbeiterklasse die Rede sein, noch auch von einem selbständigen Bauerntum als eigener Gesellschaftsklasse. Auch von einem selbstbe­ wussten gewerblichen Bürgertum als dem designierten Kern des «Drit­ ten Standes» war in diesen Schlüsseljahren der Revolution wenig zu ­sehen. Im Gegenteil: Mit dem allgemeinen Hass auf Spekulanten und Kriegsgewinnler machte sich bereits eine scharf pejorative Tönung des Begriffs «Bourgeois» (der ursprünglich nur einen «Stadtbürger» bezeich­ nete) im Sinne eines egoistischen Besitzbürgers bemerkbar. Soweit diese Revolution zu einem «Klassenbewusstsein» des städti­ schen Bürgertums beitrug, galt das jedenfalls für diese eigentliche, früh­ kapitalistische Bourgeoisie am wenigsten, die gut daran tat, über ihre weniger sichtbaren Beziehungen und Kanäle Einfluss zu nehmen – sofern sie es nicht vorgezogen hatte oder durch den jakobinischen Terror ge­ drängt wurde, sich von Paris loszusagen und sich direkt auf die Seite der von England geförderten Konterrevolution zu stellen. Dass viele prak­ tische Beschlüsse der Nationalversammlung, des Konvents, des Wohl­ fahrtsausschusses wie des Direktoriums, und erst recht dann die fakti­ schen so­zialökonomischen Entwicklungen dieser Revolutionszeit einem entstehenden Wirtschaftsbürgertum direkt oder indirekt in die Hände spielten, ist eine andere Frage. Aber auch die Anhänger einer «sozialen Revolution» mussten in den Fraktionskämpfen der Schreckensjahre ihre Köpfe einziehen, um sie nicht zusammen mit anderen Radikalen wie dem Sozialagitator Hébert

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auf dem Schafott zu verlieren. So hatte sich Bonnevilles «Cercle Social» in eine «Gesellschaft der Freunde der Wahrheit» verpuppt, die das frei­ maurerische Organisationsprinzip eines hierarchisch gegliederten und geistig gereinigten inneren Kreises von Eingeweihten mit dem Rousseau­ schen Ideal eines bindenden «Gesellschaftsvertrags» verknüpfte, wel­ cher in eine «grande communion sociale», in eine Große Soziale Kom­ munion, münden sollte. Eben diese apokryphe Existenz prädestinierte die «Freunde der Wahr­ heit», nach dem Sturz der Jakobiner im Thermidor von 1794 zum ­Ausgangspunkt einer Sammlung aller Unzufriedenen zu werden, die schließlich in die von Babeuf gegründete «Verschwörung der Gleichen» mündete. Sie endete im Mai 1796 mit der Verhaftung der Verschwörer und der Hinrichtung Babeufs und seines Gefährten Darthé. Mit dem Namen François Noël Babeufs, der sich zu Ehren der römi­ schen Volkstribunen Tiberius und Sempronius Gracchus deren Namen beigelegt hatte und in seinem eigenen Organ, dem «Tribun du peuple», als «Gracchus Babeuf» zeichnete, verbindet sich das erste und bis dahin einzige utopische Projekt, das auf eine gesamtgesellschaftliche Neuord­ nung und deren Verwirklichung im Handstreich abzielte. So episodisch Babeufs Rolle im Tableau der Französischen Revolution und so dilettan­ tisch der Aufstandsplan der Verschwörer war, so aufschlussreich ist der Vorstellungsrahmen, in dem sich dieses Projekt bewegte, und so beacht­ lich sein politisches und ideologisches Nachleben. Mehr als dreißig Jahre später, 1828, veröffentlichte einer der Mitver­ schwörer, der toskanische Patriziersohn und leidenschaftliche Geheim­ bündler Filippo Buonarotti, eine Geschichte dieser Verschwörung, um die Idee einer plebejischen, «letzten Revolution» weiterzutragen.11 Sein Buch vor allem war es, das den «Babouvismus» der 1830 er Jahre erst begründet und die Figur Babeufs dem Vergessen entrissen hat. Die Frage, ob Buonarotti, der ein «Berufsrevolutionär» und Intellektueller eigenen Ranges war, nicht womöglich persönliche Vorstellungen und Machtphantasien mit hineingemischt hat, und ob nicht überhaupt sein scharfes intellektuelles Aristokratenprofil sich posthum über die wei­ chere Physiognomie des autodidaktischen Provinzlers François Noël Babeuf gelegt hat (der gegen Robespierres genozidalen Krieg in der ­ «Vendee» protestiert hatte), kann dahingestellt bleiben.12 Das in diesen Texten entfaltete Bild einer zu erkämpfenden «Grande Communauté» lieferte einen ersten, bruchstückhaften, aber durchaus

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kohärenten Entwurf eines kommunistischen Programms, mehr als ein halbes Jahrhundert vor der Veröffentlichung des Marx’schen «Mani­ fests» von 1848 – allerdings, wie zu sehen sein wird, auf einer deutlich anderen, geradezu diametral entgegengesetzten Linie, und im Übrigen, ohne den Begriff des «Communisme» zu verwenden. Ideologischer Ausgangspunkt war das einem radikalisierten Rous­ seauismus oder einem noch älteren, apokryphen Schrifttum wie Morel­ lys «Code de la Nature»13 von 1751 entlehnte Axiom, Gleichheit sei der natürliche Zustand der Menschen, den «die Starken und die Bösen» mutwillig zerstört hätten. Die Aneignung der Güter der Erde wie der ­Arbeit bildete demnach einen fortgesetzten Akt der Gewalt und war nichts anderes als Diebstahl. Die Reichen, die diesen täglichen Mund­ raub gewissenlos vollführten, waren somit die wahren Verschwörer und daher die «Feinde des Volkes», wenn nicht sogar «Anthrophagen», Menschenfresser, denen gegenüber ein Naturrecht auf Widerstand galt.14 Das oberste Staatsziel, das Babeuf in einer neuen Verfassung verankern wollte, sollte das «bonheur commun», das «Gemeinglück», sein.15 Die 1793 beschlossene, allerdings kriegshalber suspendierte demokra­ tische Verfassung der Republik, die durch das Direktorium 1795 formell kassiert und durch eine politisch und sozial restriktivere ersetzt worden war, sollte pro forma wieder in Kraft gesetzt werden. Allerdings würde das «geheime Direktorium», das den Aufstand vorbereitete und kom­ mandierte, auch danach nicht aufgelöst werden, sondern die Arbeit ­einer neuen, nach allgemeinem Wahlrecht (für unbescholtene Männer) gewählten Nationalversammlung laufend «überwachen». Seine «erste Pflicht» war es, für die Bestrafung der gestürzten «Usurpatoren der Volks­ herrschaft» zu sorgen.16 Zur Ausübung dieser revolutionären Diktatur über die Anhänger des alten Regimes war eine außerordentliche «Kommission» (eine Art «Tscheka» also) vorgesehen, die Verhaftungen und Vernehmungen durch­ führen und entscheiden sollte, «ob ein Grund vorliegt, den Pflichtverges­ senen der Nachsicht des Volkes zu empfehlen» – oder nicht. Auch sollten «Lager» in der Nähe der Städte eingerichtet werden, um «die Ruhe auf­ rechtzuerhalten». Alle «Individuen, die nichts für das Vaterland tun» (eine weite Formel), sollten bis auf Weiteres außerhalb der «nationalen Gemeinschaft» und damit außerhalb des Gesetzes gestellt werden. Das­ selbe galt für alle «Fremden», die obligatorisch unter Aufsicht zu stellen oder auszuweisen waren, sofern sie nicht auf besondere Empfehlung am sozialen Leben teilnehmen durften.17

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Um «die Ungleichheit abzuschaffen und das allgemeine Glück wieder­ herzustellen», war alsdann die «große nationale Gütergemeinschaft» zu errichten. Diese würde zunächst alles Land, alle Gewerbe und alle ­öffentlichen Einrichtungen in einen gemeinschaftlichen Gesamtbetrieb überführen und ihren Mitgliedern «einen gleichen und anständigen, mä­ ßigen Wohlstand» sichern. Von diesem Moment ab war das Erbrecht, in fernerer Zukunft auch das Recht auf persönliches Eigentum insgesamt aufzuheben. Jeder Bürger ohne Unterschied des Geschlechts würde zur Arbeit verpflichtet sein. Unbequeme und mühsame Arbeiten waren von den Bürgern reihum zu verrichten. Ein Zehntel aller Ernten und Pro­ dukte sollte in Lagerhäusern unter Militärverwaltung eingelagert wer­ den – ein neuer «Zehnter» also, aber nicht für die Kirche, die im Gegen­ teil aufzulösen und vollends zu enteignen war, sondern für das Militär, welches das Volk in steter Mobilisierungsbereitschaft gegen alle inneren und äußeren Feinde zu halten hatte. Die Munizipalverwaltungen, die die Gemeinschaftsarbeit der Bürger organisierten, sollten diese «nach Klas­ sen» einteilen, entsprechend einer Nomenklatur von anerkannten «nütz­ lichen Berufen». Alle, die durch mangelnden Bürgersinn, Trägheit, Luxus und Liederlichkeit der Gesellschaft schädliche Beispiele geben», werden der Zwangsarbeit unterworfen.18 Alle Bürger und Bürgerinnen würden in dieser neuen Gesellschaft der Gleichen einfach und sauber gekleidet sein und sich in «nichts der Mode und dem Leichtsinn anpassen». Vielmehr würden die «Farben und For­ men» ihrer Alltags- und Festtagsbekleidung sowohl ihr Alter, ihre Be­ schäftigung wie ihren sozialen oder familiären «Stand» anzeigen und sich dabei von der Tracht aller anderen Nationen deutlich abheben. Um die zahlreichen «lasterhaften Gewohnheiten, die wir angenommen haben», auszumerzen, sollte der Güteraustausch mit dem Ausland auf wenige notwendige Produkte beschränkt und einer obersten Außenwirt­ schaftsbehörde unbestechlicher Männer unterstellt werden. Damit sollte eine weitgehende Kommunalisierung der Verwaltung wie des gesellschaftlichen Lebens überhaupt einhergehen, nämlich durch die Einteilung des gesamten Landes in zahlreiche, möglichst selbstgenügsame Verwaltungsbezirke, die ihren Mangel oder Überfluss untereinander aus­ gleichen würden. Kommunalisierung hieß hier Provinzialisierung: «Keine Hauptstadt, keine großen Städte mehr!» Sie waren Horte des ­Müßiggangs und aller Laster. «Je bevölkerter eine Stadt ist, umso mehr Dienstboten, liederliche Frauen, ausgehungerte Schriftsteller, Dichter, Musiker, Maler, Schöngeister, Schauspieler, Tänzer, Priester, Unterhändler, Diebe und Pos­

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senreißer findet man dort.» Derartige Amüsements konnten sogar die red­ lichsten Bürger auf Abwege bringen: «Die Sinne entzünden sich.» Kurzum, die Menschen gehörten dorthin, wo sie «von der Natur zu leben berufen» waren: in ihre kleinen Gemeinden, in denen sie nützlichen Arbeiten und würdigen Vergnügungen nachgehen sollten. Die Gesellschaft der Gleichheit würde insgesamt «eine ungeheure Ein­ fachheit» zu ihrer Lebensform machen. In diesem Geiste sollten die Kin­ der einer gleichen und gemeinsamen Erziehung unterzogen werden. Den Namen ihrer Eltern würden sie nur dann noch tragen dürfen, wenn diese sich bei ihrem Dienst für die Allgemeinheit besonders ausgezeichnet hat­ ten. Andernfalls, so war im Umkehrschluss zu verstehen, würden sie un­ mittelbar als «Kinder des Volkes» aufwachsen. Alle Einrichtungen und republikanischen Sitten «sollten eine letzte und wichtige Stütze in den religiösen Ideen erhalten» (wie das schon­ ­Robespierre vorgeschwebt hatte) und so durch «Gesetze und Erziehung Samenkörner in alle Seelen streuen». Vor allem würde die Republik «aus der Gleichheit das einzige der Gottheit genehme Dogma machen, deren Wohltaten durch öffentliche Feierlichkeiten gepriesen werden sollten». Auf diese Weise würde die Republik schließlich auch «die Hoffnung auf eine selige Unsterblichkeit fest in die Herzen der guten Bürger einpflan­ zen» – versteht man recht: ein Werden und Vergehen der Individuen im unsterblichen Volkskörper der einen, unteilbaren Nation.19

Eine Diktatur der Aufgeklärten Dieses im konspirativen Untergrund entworfene Programm einer manu militari zu errichtenden «Gesellschaft der Gleichen», einer großen Com­ munauté, nimmt viele Züge künftiger kommunistischer Regimes des 20. Jahrhunderts vorweg: das diktatorische Zentralkomitee, das die «volonté générale», den vernünftigen Gesamtwillen seiner Bürger jen­ seits ihrer anarchischen Individualwünsche, formuliert und notfalls mit Hilfe von Sonderjustiz, Geheimpolizei und Lagern exekutiert; die Tei­ lung der Bevölkerung in Nützlinge und Schädlinge, Eigene und Fremde; die zentral gelenkte, aber kommunal und kollektiv organisierte Bewirt­ schaftung aller materiellen und humanen Ressourcen des Landes; die all­ gemeine Arbeitspflicht, notfalls als Zwangsarbeit; einen weitgehenden Autarkismus gegenüber dem Weltmarkt und den fremden Kulturen; eine ideologisierte und einheitliche staatliche Erziehung sowie ein obligato­

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risches «religiöses Bekenntnis» zum sakrosankten Staats- und Gemein­ schaftsziel; kurzum: die Einschmelzung des individuellen Lebens in ­einen homogenisierten Sozialkörper, der die «Ewigkeit» (der eigenen Nation als Führerin der Menschheit) verkörpert. Aber zugleich lag auch dieses Projekt noch ganz auf der Linie der ­vorangegangenen retrograden Utopien, die alle einer «natürlichen» Ord­ nung huldigten und deren protokommunistische Sozialvorstellungen da­ rauf hinausliefen, der Gesellschaft den Stachel der Unruhe zu ziehen. So war in Sylvain Maréchals «Manifest der Gleichen» von 1795 (das in der Verschwörergruppe allerdings auf Widerspruch traf) davon die Rede, es gelte ein für allemal «tabula rasa» zu machen: «Mögen, wenn es denn notwendig ist, alle Künste zugrunde gehen, wenn uns nur die reale Gleichheit bleibt!» Die kommende Revolution der Gleichheit werde «die letzte sein», indem sie dafür sorge, dass «alles wieder in seine Ordnung zurückkehrt und seinen Platz einnimmt».20 Das eigentlich Neue war denn auch die politisch-militärische Ver­ schwörung selbst mit ihren demokratisch-zentralistischen Organisations­ formen, geführt von einem «Geheimen Direktorium», das sich mit ­einem engeren Kreis von Eingeweihten und Agenten umgab, die ihrer­ seits die Aufgabe hatten, die Sympathisanten und potentiellen Aktivisten in den Ämtern, Militäreinheiten, Stadtvierteln usw. in Zellen und Sektio­ nen zu organisieren. Denn einstweilen war «das Volk unfähig zur Erneu­ erung aus sich selbst». So lautete die zentrale «babouvistische» Lehre aus den Erfahrungen der fehlgeschlagenen Verschwörung von 1796, dass man «bei Beginn einer politischen Revolution, gerade aus Achtung vor der wirklichen Demokratie, weniger auf Wahlzettel sehen» sollte als vielmehr «darauf, die oberste Gewalt in weise und starke revolutionäre Hände zu legen». Wie Max Beer in seiner für die kommunistische Schu­ lungsbewegung der 1920 er Jahre verfassten «Allgemeinen Geschichte des Sozialismus und der sozialen Kämpfe» ganz richtig ausführte, lag in diesen Erwägungen «der Ursprung der Idee der revolutionären Dikta­ tur».21 Mit Buonarotti verbindet sich auch schon der neuartige Typus eines Berufs­revolutionärs. Von Napoleon, den er aus frühen Revolutionstagen in Korsika kannte, persönlich begnadigt, hatte er sich 1806 in Genf nie­ dergelassen und hier eine Geheimorganisation neuen Stils gegründet, die er «Les Sublimes Maîtres Parfaits» (Die Erhabenen Höchsten Meister) nannte und der er auch sonst das Flair einer Freimaurerloge gab. Von

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hier aus knüpfte er Verbindungen nach Italien, nach Frankreich wie nach Deutschland, wo sich eine Vielzahl demokratischer und nationaler Geheimbünde bildete. 1824 verlegte Buonarotti seinen Wohnort nach Brüssel. Hier schrieb er, der seine Existenz als Musiklehrer fristete, die Geschichte der Verschwörung Babeufs, deren Veröffentlichung 1828 ihm eine gewisse, späte Prominenz verlieh. Zugleich bildete er mit dem jungen Pariser Buchhändler Charles Teste, der zu seinem engsten Eleven wurde, sowie dem französischen Abgeord­ neten Voyer d’Argenson ein «Triumvirat» zur Führung einer künftigen Revolution. Ihre logenartige Geheimorganisation nannte sich jetzt so schlicht wie megaloman «Monde» (Welt). In ihrem von Buonarotti ent­ worfenen, geheimen Programm hieß es: «Lasst uns die Schranken des privaten Eigentums niederreißen, lasst uns aus den Trümmern des Pri­ vatlandes ein gesellschaftliches Eigentum schaffen. Lasst die Republik die einzige Eigentümerin sein, die wie eine Mutter allen ihren Mitglie­ dern gleiche Erziehung, Ernährung und Arbeit zuteilen wird.»22 Das war noch einmal das Programm einer (wesentlich agrarischen) Republik der Gleichen. Seine Pointe lag in der hierarchischen Organisa­ tion der Verschworenen selbst. Der innerste Kern der Eingeweihten hieß (in Anlehnung an die Terminologie der vorrevolutionären «Illuminaten» des Adam Weishaupt) der «Areopag»; während die niederen Grade die «Synode» und die «Kirche» bildeten. Im Inneren, dem Areopag, wurde auch der dahinter stehende politi­ sche Gedanke klar ausgesprochen: «Angesichts des Verfalls der freien ­Institutionen und der allgemeinen Korruption der Gefühle kann … eine künftige Regeneration nur in einer geheimen Körperschaft gesucht wer­ den, die durch eine diktatorische, reine Autorität angeleitet wird. Was die Jesuiten getan haben, um die Menschen zu täuschen und zu unter­ werfen, das hat die Monde zu tun versucht, um sie aufzuklären und zu erlösen.»23 Für den Ausbruch und Verlauf der Julirevolution 1830 hatte diese ­Geheimorganisation keine nennenswerte Bedeutung, auch wenn Charles Teste und seine Verlagsbuchhandlung eine gewisse Rolle spielten. Aber als Buonarotti anschließend nach Paris übersiedelte, wurde er für einige Jahre zum Paten eines jüngeren republikanisch-revolutionären Milieus, dessen bedeutendster Exponent der Anwalt Auguste Blanqui wurde. Von dessen Gesellschaften und Geheimbünden reicht eine direkte Linie zu den ersten, als «Babouvisten» bezeichneten und dann als «Kommunis­ ten» auftretenden Milieus der 1840 er Jahre. Auch der von Wilhelm

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Weitling gebildete kommunistische «Bund der Gerechten», dem Marx und Engels 1846 beitraten, hatte seine Wurzeln in diesem Milieu repu­ blikanischer Geheimbünde der 1830 er Jahre, ­deren Agitation sich aller­ dings jetzt mit einem neuen sozialen Stoff  – und wie sie glaubten: Sprengstoff – anreicherte: dem Elend eines städtischen und ländlichen Proletariats. Die obsessive Phantasie, dass die Freimaurer die Revolutionen des Zeit­ alters insgeheim gelenkt hätten, hat das ganze 19. und 20. Jahrhundert hindurch zu zahllosen Verschwörungstheorien Anlass gegeben; und weil das so ist, haben Historiker das Phänomen selten ernst genommen, so als hätte der okkulte Charakter der Freimaurerei sie ebenso irreal ­gemacht wie die Phantasien, die sich daran geheftet haben. Allerdings muss historisches Ernstnehmen nicht heißen, den geblähten Selbst­ zuschreibungen dieser Vereinigungen aufzusitzen. Die Freimaurer als eine «geheime Kaderorganisation der bürgerlichen Gesellschaft» zu be­ schreiben,24 mag ihre Anfänge in den beiden Jahrzehnten vor 1789 so halbwegs treffen, aber kaum ihre weiteren Metamorphosen. Die sich ­politisch und weltanschaulich immer weiter differenzierenden, immer globaler ausdehnenden Logenverbände haben schließlich so vollkom­ men unvereinbare historische Figuren und Bestrebungen hervorgebracht oder mitgetragen wie das Risorgimento eines Giuseppe Garibaldi, den Anarchismus eines Michail Bakunin, den jungtürkischen Offiziersputsch im Osmanischen Reich und den sozialrevolutionären Bonapartismus ­eines Fjodor Kerenski in der Russischen Revolution 1917. Je mehr Namen und Zusammenhänge aneinandergereiht werden, umso diffuser wird das Phänomen. Interessant ist die Freimaurerei gleichwohl als eine politisch-intellek­ tuelle Übergangsformation an der Schwelle zur europäischen Moderne. Im Europa des 18./19. Jahrhunderts repräsentierte sie eine ganz eigene ­«Dialektik der Aufklärung», die eine große, allumfassende Synthese er­ strebte, deren Elemente sich mehr oder weniger deutlich identifizieren lassen. Da war an vorderster Stelle ein Rationalismus, der soziale Welt und Natur nach antikem Muster in eine göttliche Geometrie zu fassen ver­ suchte; dann eine okkulte, mit dem Alten Testament unterfütterte Ur­ sprungstheorie der Menschheit, und zugleich eine Verschmelzung orien­ talischer Lichtreligionen und Weisheitslehren mit einem ökumenischen Christentum zu einer neuen Menschheitsreligion. Weiter erkennt man

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eine Vereinigung von städtischem Bürgertum und aufgeklärtem Adel zu einer miteinander verschworenen Gegenelite; und andererseits den ­reformatorischen Impuls, sich ohne Vermittlung von Kirche und Klerus in eine direkte Beziehung zu Gott zu setzen, der jetzt als «Allmächtiger Baumeister der Welten» apostrophiert wurde, gelegentlich auch als «Jahbulon», worin Jehova, Baal und Aton sich zu einem Menschheits­ gott vereinten. Schließlich sieht man das alte humanistische Bestreben, eine Staaten und Nationen transzendierende, kosmopolitische «Republik des Geistes» zu stiften. Halb der Not, halb eigenem Drang gehorchend, mussten die Freimau­ rerlogen sich mehr oder weniger geheime Versammlungsorte schaffen, die natürlich nur «Tempel» sein konnten, und eine phantastische Viel­ zahl okkulter Riten und Symbole mit immer neuen, quasi-theologischen Deutungen entwickeln. Im Zentrum aller Zusammenkünfte stand die feierliche Initiation neuer Mitglieder, die dadurch das Credo der Gruppe immer wieder bestätigten und heilige, vielfach mit Blut beglaubigte Ge­ lübde zu schwören hatten – allen voran das Gelübde der Geheim­haltung. So war das innerste Geheimnis und das zentrale Motiv der Freimaurerei ihre geheime Organisation selbst, die sich – je nach Logenlehre – in eine abstruse Vielzahl von «Graden» der Eingeweihtheit und Zugehörigkeit gliederte und eine strenge, autoritative Hierarchie ergab. In all dem trug die Freimaurerei Züge einer ideellen Antithese zur Bürokratie und Ka­ meralistik der absoluten Monarchien, unter deren Füßen sie sich ur­ sprünglich gebildet hatte. Aber auch der Jesuitenorden, den die Freimau­ rer als ihren größten Feind betrachteten, lieferte ihnen ein direktes Vor­ bild – wie überhaupt ihre Feindschaft gegen den Klerus und die offizielle Religion ihr eigenes Abbild bis zur Karikatur spiegelte. Gerade in der Zeit der Französischen Revolution, die die Zeit ihres Triumphs hätte sein sollen und anfangs auch war, hatte ihre Rolle sich inmitten der zahllosen Klubs und Volksgesellschaften, der theatralischen Massenfeiern und Kulte des Höchsten Wesens aber schlagartig relati­ viert. Wenn die Logen in der Zeit des Direktoriums noch einmal eine ­gewisse Bedeutung gewannen, so löste Napoleon das Problem so prag­ matisch, wie er es mit der katholischen Kirche ebenfalls tat: Er ver­ staatlichte sie. Während er seinen Bruder Joseph zum Großmeister des «Großen Orients» machte, empfing er selbst aus der Hand des Papstes die römische Kaiserkrone – die er sich dann freilich mit eigener Hand aufs Haupt setzte.

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Eine ganz andere, neue Entwicklung war die Adaption freimaurerischer Organisationsformen, Symboliken und Rituale für die Zwecke revoluti­ onärer Geheimorganisationen, wie sie sich nach 1815 allenthalben unter dem Boden der vereinigten Restaurations- und Reformregimes bildeten. Am handgreiflichsten war das der Fall bei den italienischen «Carbo­ nari», die sich einem Kampf auf Leben und Tod gegen die österreichi­ sche Oberherrschaft und für die Einheit der Nation verschrieben hatten. Ihren Namen (Carbonari, Köhler) wie ihre Organisationsformen und okkulten Rituale, in denen Feuer und Holzkohle eine magische Rolle spielten und christliche, naturreligiöse und alchimistische Bilder und Formeln sich mischten, hatten sie einer viel älteren, religiösen Brüder­ schaft im französischen Jura entlehnt, der «Charbonnerie», die sich un­ ter Napoleon in eine freimaurerische «Gesellschaft der guten Vettern» verpuppt hatte – welche wiederum mit Filippo Buonarottis «Sublimen Meistern» in Genf in Verbindung stand. Nach dessen Rezepten schufen die italienischen Carbonari, die im Norden wie im Süden Italiens Fuß fassten, eine strikte, in freimaurerische Nebel gehüllte Hierarchie, in der Konspiration das oberste Prinzip war. Ihre Teilnahme an einer Erhebung in Neapel 1820 machte die Carbo­ nari zum Vorbild einer Gruppe griechischer Verschwörer, die eine ähn­ liche christlich-freimaurerische Organisation unter der Protektion des Zaren in ganz Griechenland aufzog, die «Philiki Etairia» (Gesellschaft der Freunde). 1821 entfesselte sie einen allgemeinen Aufstand gegen die osmanische Herrschaft, der zur Herzenssache vieler europäischer Intel­ lektueller wurde. In Deutschland hatte sich nach dem Wartburgfest 1817 ein radikaler Flügel der Burschenschaften gebildet, eine gesamtdeutsche «Germania», zu der allerdings nur zugelassen war, wer durch die «Geschichte des Blu­ tes, des Glaubens, der Erziehung» verbunden war  – eine Formel, die ­Juden (wie aus fast allen Burschenschaften) von vornherein ausschloss. Auf das Konto dieses Flügels ging 1819 die Ermordung des russischen Generalkonsuls und Schriftstellers August Kotzebue durch den Jenaer Theologiestudenten Karl Ludwig Sand. Als Inspirator der Tat galt Karl Follen, der Kopf der «Gießener Schwarzen», der daraufhin in die Schweiz flüchtete und zeitweise dem von Buonarotti initiierten Trium­ virat beitrat, das zwölf Führer einer künftigen europäischen republikani­ schen Revolution rekrutieren und anleiten sollte. Zugleich beteiligte Fol­ len sich an der Gründung eines pangermanischen «Bundes der Jugend» im Schweizer Exil, der Verbindungen zu den italienischen Carbonari

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aufnahm. Das war die typische Form der Verflechtung dieser Geheim­ bünde, in denen sich bis ins Revolutionsjahr 1848 hinein Kosmopolitis­ mus mit glühendem Nationalismus mischte. Eines der spektakulärsten und zukunftsträchtigsten Phänomene war die Gründung der später als «Dekabristen» bekannt gewordenen Ge­ heim­organisation in Russland, die aus Studenten, Literaten, Beamten, Professionellen und vom Feldzug gegen Napoleon zurückgekehrten jun­ gen Offizieren gebildet wurde, einige aus höchsten Adelskreisen. Der von ­ihnen im Dezember 1825 in Form eines regelrechten Militäraufstands in St. Petersburg unternommene Versuch, den neuen Zaren Nikolaus zu stürzen, kann in seiner Bedeutung für die weitere Entwicklung einer revo­lutionären Bewegung in Russland kaum überschätzt werden und muss uns daher an einem späteren Punkt noch beschäftigen. Für den hier in Frage stehenden Kontext ist vor allem die europäische Ausstrahlung dieses Ereignisses von Bedeutung, und zugleich die für alle Geheim­ bünde dieses Zeitalters charakteristische Mischung von nationalen und kosmopolitischen, liberalen und protosozialistischen, orthodox-religiö­ sen, freidenkerischen und freimaurerischen Ideen, Zielen und Einstellun­ gen. Alle diese politisch-ideologischen Zuschreibungen waren freilich noch ganz uneindeutig. Spanische, italienische oder lateinamerikanische «Li­ berale» waren meistens fanatische Bürgerkriegskämpfer, die mit den Maßstäben eines englischen oder mitteleuropäischen Wirtschaftslibera­ lismus oder gemäßigten Konstitutionalismus überhaupt nicht zu fassen waren. Exilierte Verfechter einer «Wiedergeburt» ihrer Nationen wie Giuseppe Mazzini, der als Veteran der Carbonari 1831 das «Junge Ita­ lien» gründete, oder wie der zur gleichen Zeit ins Exil verdrängte polni­ sche Dichter Adam Mickiewicz, huldigten einer messianischen Mission ihrer jeweiligen Völker, kreierten also regelrechte Nationalreligionen, die aber Teil einer modernen Menschheits- und Fortschrittsreligion sein soll­ ten. Mazzini, Jurist und Aufklärer, sah die Italiener an der Spitze eines universellen Kampfs für die Nationenwerdung der Völker – ein Kampf, der unter einem göttlichen Gebot des menschlichen Fortschritts stand, für den «das Individuum zu schwach und die Menschheit zu groß» sei und der sich deshalb nur in vielen, friedlich miteinander wetteifernden Nationen synchron vollziehen könne.25 Mickiewicz wiederum, Dichter und Romantiker, nannte die von der «satanischen Trinität» der östlichen Monarchen niedergeworfenen Polen geradezu «den Christus unter den Völkern».

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Nationale und soziale Motive flossen dabei vielfach zusammen, so schon im Begriff des «Volkes», das selbst zum Objekt religiöser Vereh­ rung wurde. Ohne die Mobilisierung des Volkes keine starke, unabhän­ gige Nation. Jahre früher war der abtrünnige ­ultramontane Katholik Félicité de Lamenais, der sich nach 1830 zu ­einem frühkommunistischen Evangelisten entwickelt hatte, in seinem «Buch des Volkes» schon einen Schritt weiter gegangen, als er das Volk in urchristlichen Kategorien mit den «Armen, den Schwachen, den Bedrückten» identifizierte und schließ­ lich gelassen hinschrieb: «Das Volk … ist Gott».26 In der Logik dieses frühen Nationalismus lag es daher, sich nach unten, zum einfachen, arbeitenden Volk hin zu orientieren, das zunehmend auch mit städtischen, proletarischen Schichten identifiziert wurde, we­ niger mit den bäuerlichen Massen, deren stumpfe Indifferenz zu den schmerzhaftesten Grunderfahrungen der polnischen Aufständischen ge­ hört hatte. (Anders war es allerdings in Russland, wo in der Slawophilie dieser Periode das Bild des in tiefer Unmündigkeit gehaltenen, aber zu natürlicher Gemeinschaft neigenden und zu ungeahnter Kraftentfaltung fähigen bäuerlichen Volkes kultiviert wurde.) Dazu musste die bürger­ liche oder «standeslose» Intelligenz freilich erst einmal die Sprache ihres Volkes kennen und sprechen lernen. Johann Gottfried Herders Satz: «Denn jedes Volk ist Volk; es hat seine National-Bildung wie seine Spra­ che»27, und damit seinen eigenen, von allen anderen unterschiedenen «Charakter», war ein fast allgemein gedachter Gedanke. Die Erfindung einer Nation als einer stets als uralt und jugendlich zugleich imaginier­ ten Gemeinschaft begann fast immer mit der philologischen Erfassung ihrer Volkssprachen, ihrer volkstümlichen Mythen und Sagen sowie ­einer Umwandlung ihrer literarischen großen Erzählungen in National­ epen. Das trug auch Züge einer Ethnographie im eigenen Land, einer «Volkskunde», wie es in Deutschland später hieß. So war das 19. Jahr­ hundert in Europa auch «ein goldenes Zeitalter für die Lexikographen, Grammatiker, Philologen und Literaten der Umgangssprache».28 Auch darin floss das Nationale mit dem Sozialen zusammen und feierte die christliche Armutspredigt in den diversen Nationalreligionen Auferste­ hung. Wie unauflöslich Begriff und Entwicklung von «Klassen» und «Nati­ onen»  – eben über die vermittelnde Berufung auf das «Volk»  – mit­ einander verknüpft waren, hatte ausgerechnet der liberal-konservative Historiker und Staatsmann François Guizot 1828 in seinen Vorlesungen

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Teil IV: Das Zeitalter der Revolution

zur Geschichte Europas zum ersten Mal formuliert, als er erklärte: «Das moderne Europa ist im Kampf der verschiedenen Gesellschaftsklassen geboren worden», und dieser Kampf sei «statt zum Ausgangspunkt von Stagnation, zu einer Ursache des Fortschritts geworden». Damit war das latent längst vorhandene Wort vom «Kampf der Klassen» auch gleich­ sam ex cathedra in der Welt. Nach Guizot lag «das fruchtbare Prinzip der Entwicklung der euro­ päischen Zivilisation» gerade darin, dass «keine der Klassen die anderen besiegen oder unterwerfen konnte» – anders als in Asien, wo eine Klasse gesiegt, eine Kastenordnung errichtet und die Gesellschaft zur Immo­ bilität verurteilt habe.29 In Europa dagegen hätten Staat und Kirche, Grundherren und Kommunen, Bürger und Plebejer in einem ständigen Kampf miteinander gelegen. In all diesen verworrenen Kämpfen, Auf­ ständen und Kriegen habe sich ein Prozess der Zivilisation geltend ge­ macht, «eine stumme und verborgene Arbeit der Zentralisation sowohl der sozialen Beziehungen wie der Ideen», die die mittelalterlichen Parti­ kularismen und Borniertheiten überwunden habe. In einer hegelianisch anmutenden Gedankenfigur befand Guizot, dass sich «der Mensch als der freie, intelligente Gestalter eines Werkes, das er keineswegs bewusst entworfen hat, das er nicht einmal kennt», erwiesen und so dem «Plan der Vorsehung für die Welt Geltung verschafft» habe.30 Am Ende dieses unsichtbaren Weltenplans lag eine «moderne Gesell­ schaft», in der ein konstitutioneller Monarch alle «Egoismen» zügeln und sämtliche Klassen und Gliederungen der Gesellschaft in «einer Na­ tion, einem Staat» zusammenfassen werde. Hier endlich waren die Klas­ senantagonismen in der Einheit der Nation aufgehoben und konnten alle Klassenkämpfe ihr Ende finden. Nach den Auftritten radikalisierter «proletarischer» Massen in der ­Juli-Revolution von 1830 war Guizot daher führend daran beteiligt, ­einen historischen Pakt zwischen konservativen Legitimisten und libera­ len Kon­ stitutionalisten zu schmieden. Doch unter dem Regime des «Bürger­königs» Louis Philippe, dem Guizot mehrfach als Minister und von 1840 bis 1848 dann als Kabinettschef diente, nahm die politische und gesellschaftliche Ordnung Frankreichs erst recht die Züge einer ver­ einten «Klassenherrschaft» der landbesitzenden Aristokratie und der kommerziellen, industriellen und finanziellen Bourgeoisie an. Die Beschränkung des aktiven und passiven Wahlzensus auf 200 000 Wohlhabende, die Guizot bis zum Vorabend der Revolution von 1848 verbissen verteidigte, war sogar noch enger ausgelegt als in England, wo

2. Der Traum der Großen Kommunion

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die Liberalen nach der Reformkrise von 1832 die Zahl der Wahlberech­ tigten immerhin auf ein Siebtel der männlichen Haushaltsvorstände aus­ gedehnt hatten, auch hier freilich mit dem Effekt, dass die Masse der ­Bevölkerung nur umso sichtbarer von jeder politischen Mitwirkung aus­ geschlossen blieb.31 Das war dann der primäre Anknüpfungspunkt für den «Chartismus», der in Großbritannien mit nachvollziehbarer Logik die Umrisse einer frühen Arbeiterbewegung annahm, oder für eine immer hitzigere republikanische Wahlrechtsagitation in Frankreich, die zur zen­ tralen Plattform für den Auftritt der ersten «Socia­listen» und «Commu­ nisten» wurde.

3. Phantome der Freiheit

Friede den Hütten, Krieg den Palästen

I

m Sommer 1834 schleuderten der zwanzigjährige Darmstädter Stu­ dent Georg Büchner und der doppelt so alte Butzbacher Schulrektor Ludwig Weidig einen biblischen Bannfluch gegen die Fürsten und Vor­ nehmen, ihre Götzendiener, Minister und Beamten. Deren Leben sei «ein langer Sonntag», während das gemeine Volk «vor ihnen wie Dünger auf dem Acker liegt». «Der Hessische Landbote», wie Weidig die Flugschrift nannte, war eine Kampfansage, wie sie radikaler und totaler, aber auch hilfloser kaum sein konnte. Eröffnet wurde sie mit der berühmten Parole: «Friede den Hütten! Krieg den Palästen!»1 Sogleich beschlagnahmt und nur in einer geringen Zahl von Exempla­ ren tatsächlich verbreitet, endete diese kleine Flugschrift, die für fast ­jeden ihrer Hersteller und Verteiler zum Verhängnis wurde, in einem atemlosen Hassgebet, das vom Theologen Weidig stammte: «Herr, zer­ brich den Stecken unserer Treiber und lass dein Reich zu uns kommen, das Reich der Gerechtigkeit. Amen.» Auch der nicht eben fromme Büchner war bereit, in einer Sprache zu sprechen, die eher der eines Thomas Müntzer glich als der eines Zeitge­ nossen, um das schlafende Volk aufzurütteln, so in einer ihm zugeschrie­ benen Passage der Flugschrift, die alle klassischen Topoi des christlichen Millenarismus wiederaufnimmt: «Wer das Schwert erhebt gegen das Volk, der wird durch das Schwert des Volkes umkommen. Deutschland ist jetzt ein Leichenfeld, bald wird es ein Paradies seyn. Das deutsche Volk ist Ein Leib, ihr seyd ein Glied dieses Leibes … Wann der Herr euch seine Zeichen gibt durch die Männer, durch welche er die Völker aus der Dienstbarkeit zur Freiheit führt, dann erhebet euch, und der ganze Leib wird mit euch aufstehen.»2 Das «Volk», das die Autoren des «Hessischen Landboten» im Blick hatten, bestand im Großherzogtum Hessen ihrer Rechnung nach aus 700 000 einfachen Bürgern, die «schwitzen, stöhnen und hungern», und aus 10 000 Vornehmen und Privilegierten, die zum Fürstenhof, zu den Honoratioren und den Staatsbeamten zählen: «Das Volk ist die Herde,

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sie sind seine Hirten, Melker und Schinder …»3 Nicht von industrieller oder sonstwie ökonomischer Ausbeutung war hier die Rede, sondern von der Ausplünderung durch die Staatsmaschine mittels Steuern, Ge­ setzen und Privilegien. Seinem Förderer Karl Gutzkow, dem Präzeptor des «Jungen Deutsch­ land», schrieb Büchner: «Ich habe mich überzeugt, die gebildete und wohlhabende Minorität, so viel Konzessionen sie auch von der Gewalt für sich begehrt, wird nie ihr spitzes Verhältnis zur großen Klasse aufge­ ben wollen. Und die große Klasse selbst? Für die gibt es nur zwei Hebel: materielles Elend und religiöser Fanatismus. Jede Partei, welche diese Hebel anzusetzen versteht, wird siegen.»4 Diese «große Klasse», so bäuerlich und handwerklich geprägt sie noch war, hatte wegen ihrer unaufhaltsam voranschreitenden Proletari­ sierung noch etwas von einem weißen Fleck auf der sozialen Landkarte. Aber sie stand schon in einem latenten Gegensatz zu der von der Staats­ macht vorerst ausgeschlossenen, aber «gebildeten und wohlhabenden Minorität», dem liberalen, aufgeklärten, gewerblichen oder akade­mi­ schen Bürgertum. Ob Büchner sich einen Sieg jener namenlosen «Par­ tei», die das materielle Elend womöglich mit dem «religiösen Fanatis­ mus» verknüpfen würde, wirklich herbeiwünschte oder gar selbst ein Teil von ihr sein wollte, bleibt ebenso unklar wie im Falle Heinrich Hei­ nes, der ungefähr um die gleiche Zeit die «galiläischen Anfänge» der Pariser «Communisten» mit einer Mischung aus Bewunderung und ­ Furcht zu verfolgen begann. Die Frage der Religion war für Büchner jedenfalls damit nicht erle­ digt. Denn auch ihm schienen, so wie einst Robespierre oder Saint-Just, «Aufgeklärtheit», «Atheismus» und «Libertinage» eher Attribute einer Bourgeoisie, die sich die Laster der Aristokratie zu eigen gemacht hatte. In seinen frühesten, puerilen Äußerungen hatte Büchner sich noch ganz als tugendhafter Spartaner oder Römer geriert; und dass das deutsche Volk «Ein Leib» sei, den es zu erwecken galt, war durchaus im Sinn der Staats- und Tugendlehre Rousseaus gedacht.5 Dem Erbe des französischen Jakobinertums war auch jene «Gesellschaft der Menschenrechte» verpflichtet, der der kaum zwanzigjährige Büch­ ner schon während seiner frühen Studienzeit in Straßburg 1832/33 bei­ getreten ist. Von hier aus hatte er alle Ereignisse im Nachbarland ver­ folgt: die republikanisch-proletarischen Aufstände in Lyon und Paris 1831, 1832 und 1834 ebenso wie den Schauprozess gegen Auguste Blan­

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Teil IV: Das Zeitalter der Revolution

qui und ein Dutzend Mitglieder seiner Geheimgesellschaft im Dezember 1831. Statt sich zu verteidigen, hatte Blanqui, der seinen Beruf (er war Jurist) als «Proletarier» angab, sich dort zum Ankläger gemacht und die Juli-Monarchie als eine «Maschine» beschrieben, die die Einkünfte von 30 Millionen Franzosen in die Taschen einiger hunderttausend Müßig­ gänger umleitete.6 Im «Hessischen Landboten» nahm Büchner genau diese Argumenta­ tion wieder auf. Mit Sicherheit hat er auch Buonarottis Bericht über «Babeuf und die Verschwörung der Gleichen» mit ihren Entwürfen einer großen Gütergemeinschaft gelesen. Zugleich war er mit Frühsozialisten verschiedener Couleur bekannt, mit Jüngern Saint-Simons wie mit Fou­ rieristen. In Straßburg hatte er das neue Gewicht und Pathos der «sozia­ len Frage» in sich aufgenommen und es nach Darmstadt und Gießen (seinem zweiten Studienort) mit zurückgebracht. Aber in Deutschland standen vorerst noch andere Fragen im Vorder­ grund. So waren mit den Beschlüssen des Frankfurter Bundestags vom 28. Juni / 5. Juli 1832 die ohnehin restriktiven Bestimmungen der «Karls­ bader Beschlüsse» von 1819 über die Presse- und Meinungsfreiheit noch einmal verschärft worden. Ab jetzt konnten alle, die auch nur für eine konstitutionelle Reform oder für die deutsche Einheit öffentlich ­eintraten, als «Demagogen» gebrandmarkt und verfolgt werden. Damit war es ­generell verboten, sich in politischen Klubs und Vereinen zusammenzu­ schließen oder außerhalb der Zensur zu artikulieren. Allein in Büchners engerer Umgebung trafen die sukzessiven Ver­ haftungswellen, kaum dass er aus Straßburg zurück war, acht seiner Darmstädter Klassenkameraden und Dutzende seiner Gießener Studien­ kollegen. Im Laufe des Jahres 1834 gerieten dann fast alle, die an der Herstellung und Verbreitung des «Hessischen Landboten» beteiligt wa­ ren (an die 50 Personen), in die Mühlen der Justiz und Polizei. Während Weidig und seine Freunde schon im Kerker saßen, wo man sie verfaulen ließ und entweder zu Verrätern machte oder in den Selbstmord trieb, entrann Büchner, der mit Steckbrief gesuchte Hauptautor, diesem Los nur um Haaresbreite. Von Angst-, Schuld- und Rachegefühlen überwältigt, begab er sich im Winter 1834/35 noch einmal ganz in den Fieberbann der Französischen Revolution, deren Lehren und Folgen ihm wie vielen seiner Generations­ genossen seit dem Erweckungserlebnis der Pariser Julirevolution 1830 wieder höchst aktuell erschienen. Die Protagonisten seines ersten Thea­ terstücks «Dantons Tod», das er im Januar 1835 mit fliegender Feder in

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Erwartung seiner eigenen Verhaftung in Darmstadt niederschrieb, sind in existentielle Disputationen und Selbstzweifel verstrickt, die seine eige­ nen sind – so wenn er Robespierre in einer nächtlichen Szene sich selbst als einsamen Märtyrer der eigenen Grausamkeit anklagen lässt: «Ja wohl, Blutmessias, der opfert und nicht geopfert wird. Er (Chris­ tus) hat sie (die Menschen) mit seinem Blut erlöst und ich erlöse sie mit ihrem eignen. Er hat sie sündigen gemacht und ich nehme die Sünde auf mich. Er hatte die Wollust des Schmerzes, und ich habe die Qual des Henkers. Wer hat sich mehr verläugnet? Ich oder er? – … Wahrlich, des Menschen Sohn wird in uns Allen gekreuzigt, wir ringen Alle im Gethse­ mane-Garten im blutigen Schweiß, aber es erlöst Keiner den Andern mit seinen Wunden … – Sie gehen Alle von mir – es ist Alles wüst und leer – ich bin allein.»7 Um wie viel kläglicher, zerrissener klang da das Lamento seines in Lähmung verfallenen Dramenhelden, des herkulischen Danton, den seine eigenen Bluttaten als Gespenster des Gewissens heimsuchten, wäh­ rend er tatenlos auf seine Verhaftung wartete: «(Das) war Notwehr, wir mussten … Wer will der Hand fluchen, auf die der Fluch des Muss gefal­ len? … Was ist das, was in uns hurt, lügt, stiehlt und mordet? Puppen sind wir von unbekannten Gewalten am Draht gezogen; nichts, nichts wir selbst! Die Schwerter, mit denen Geister kämpfen, man sieht nur die Hände nicht, wie im Märchen.»8 Diese Passage entspricht fast wörtlich der in einem Brief, den Büchner im Januar 1834 an seine Braut geschickt hatte, worin er ihr seine eige­ nen Skrupel und Ohnmachtsgefühle anvertraute: «Ich studierte die Ge­ schichte der Revolution. Ich fühlte mich wie zernichtet unter dem gräss­ lichen Fatalismus der Geschichte. Ich finde  … in den menschlichen ­Verhältnissen eine unabwendbare Gewalt, allen und keinem verliehen. Der einzelne nur Schaum auf der Welle …, die Herrschaft des Genies ein Puppenspiel, ein lächerliches Ringen gegen ein ehernes Gesetz, es zu er­ kennen das Höchste, es zu beherrschen unmöglich.» Man kann das in seinem kryptischen Andeutungsreichtum durchaus als eine Vorformulierung der Fragen sehen, aus denen Marx ein Jahr­ zehnt später einen rettenden Ausweg zu finden versuchte – weniger exis­ tentiell zerrissen und seiner Sache schon sicherer als sein Zeitgenosse Büchner, der fortfuhr: «Ich gewöhne mein Auge ans Blut. Aber ich bin kein Guillotinenmesser. Das Muss ist eins von den Verdammungswor­ ten, womit der Mensch getauft worden … Was ist das, was in uns lügt, mordet, stiehlt? Ich mag dem Gedanken nicht weiter nachgehen.»9

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Teil IV: Das Zeitalter der Revolution

Büchners Saint-Just legitimiert den Großen Terror nicht wie Danton als einen Akt der Notwehr und des Muss, und auch nicht wie Robes­ pierre als ein Opfer der eigenen Menschlichkeit – sondern als ein kaltes Naturgesetz zweiter Ordnung, und zwar gerade in seiner Anklagerede gegen Danton und seine Gefährten, hier wieder in Büchners Formulie­ rung: «Ich frage nun: soll die moralische Natur in ihren Revolutionen mehr Rücksicht nehmen, als die physische? Soll eine Idee nicht eben so gut wie ein Gesetz der Physik vernichten dürfen, was sich ihr widersetzt? … Der Weltgeist bedient sich in der geistigen Sphäre unserer Arme eben so, wie er in der physischen Vulkane oder Wasserfluten gebraucht. Was liegt ­daran, ob sie an einer Seuche oder an der Revolution sterben? … Die Schritte der Menschheit sind langsam, man kann sie nur nach Jahr­ hunderten zählen, hinter jedem erheben sich die Gräber von Genera­ tionen … Er (der Satz, dass alle Menschen gleich sind) hatte vier Jahre Zeit nötig, um in der Körperwelt durchgeführt zu werden, und unter ­gewöhnlichen Umständen hätte er ein Jahrhundert dazu gebraucht … Ist es da so zu verwundern, dass der Strom der Revolution bei jedem ­Absatz, bei jeder neuen Krümmung seine Leichen ausstößt?»10 Das Zitat ist entsetzlich, und das sollte es auch sein. Büchner, der sein Auge, aber nicht sich selbst, «ans Blut gewöhnt» hatte, ging hier wie vielfach in seinem Stück von überlieferten historischen Redeskripten aus, deren Tenor er expressiv übersteigerte  – so wie in diesem eisigen Monolog des Saint-Just, dessen Kältestrom seine eigenen sanguinischen Rachephantasien früherer Jahre («Die politischen Verhältnisse könnten mich rasend machen  … Ich bete jeden Abend zum Hanf und zu den ­Laternen»11) eher abgekühlt als angeheizt haben dürfte. Er, Büchner, war nicht nur «kein Guillotinenmesser», sondern eher sah er sich wohl selbst schon unter diesem Fallbeil liegen, «zernichtet unter dem gräßlichen ­Fatalismus der Geschichte» – ein Fatalismus, der sich in jenem Satz kon­ zentrierte, den der blutjunge Girondist Vergniaud auf dem Schafott ge­ sagt haben soll und den Büchner nun seinem auf die Verhaftung warten­ den Danton in den Mund legte: «Ich weiß wohl, – die Revolution ist wie Saturn, sie frisst ihre eignen Kinder.»12 Als das Stück in einer purgierten Fassung von Gutzkow publiziert worden war, passierte etwas Unvorhergesehenes: Büchner bemerkte, dass gerade die «Liederlichkeit», sprich: die zynische Freigeisterei und müde Resignation Dantons und seiner Gefährten, sie erst sympathisch machten. Eigentlich hatte er diese Figuren viel kritischer zeichnen wollen

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als sie ihm dann gerieten. Aber am Ende hatte er eben dem «lieder­ lichen» Danton, nicht dem «tugendhaften» Robespierre oder Saint-Just die Bühne überlassen; und das letzte Wort Lucile, der Frau des geköpften Camille Desmoulins, die am Fuß des Schafotts der revolutionären Bür­ gerwache entgegenruft: «Es lebe der König!», um sich verhaften zu las­ sen und ihrem Mann in den Tod zu folgen. Es dürfte wohl Büchners eigene Zerrissenheit gewesen sein, verstärkt durch die Schuldgefühle gegenüber seinen Freunden und seine eigene drohende Verhaftung, die ihn unter der Hand mit seinem fragwürdigen Helden in eine Eventualkameradschaft gebracht hatte, die er nicht vor­ ausgesehen hatte. Zugleich präparierte er aus dem authentischen histo­ rischen Material auch schon die intrinsische Logik des Terrors heraus, dem die Revolutionäre späterer Zeiten, und niemand so wie Kommunis­ tische Parteien und ihre Führer an der Macht, verfallen würden. Die kurze Geschichte des Georg Büchner, der im Februar 1837 im Zür­ cher Exil an Typhus starb, enthält wie in einem Prisma fast alles, was zur Entstehung des z­ eitgenössischen Sozialismus und Kommunismus, über alle Klassenkonflikte und Produktionsverhältnisse hinaus, an subjekti­ ven Faktoren und Motiven nötig war. Das beginnt mit den Orten des Geschehens, die beidseits des Rheins liegen, in den Gebieten des früheren napoleonischen Rheinbunds, die nach 1815 unter verschärfte Kontrolle Preußens und des von Metter­ nichs Wiener Hofkanzlei instrumentalisierten Deutschen Bunds gestellt waren. In diesen links- und rechtsrheinischen Gebieten war der kurze Enthusiasmus der «Befreiungskriege» besonders rasch einem Katzen­ jammer gewichen, der die patriotischen Sentiments der ersten Jahre in scharfe Ressentiments gegen die Mächte der östlichen «Heiligen Alli­ anz» und die von ihnen wieder eingesetzten eigenen Duodezfürsten ver­ wandelt hatte. Die bürgerlichen Rechte eines «Code Civil», die man ­immerhin in der «Franzosenzeit» genossen hatte, standen den wieder­ hergestellten Landrechten und Privilegien schroff gegenüber; so wie die erweiterten Horizonte dieser Zeit sich an den engen Landesgrenzen bra­ chen und jede gewerbliche Betriebsamkeit sich an den überall errichteten Zoll- und Mautstellen stoßen musste. Auch für den jungen Karl Marx in Trier und den noch etwas jüngeren Friedrich Engels in Elberfeld als Ge­ nerationsgenossen Büchners waren das die ersten, prägendsten Erfah­ rungen ihrer Jugendzeit. Deshalb war es kein Zufall, dass die innerfranzösischen Erschütterun­

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gen seit der Julirevolution von 1830 sich links und rechts des Rheins auf besonders intensive Weise mit den deutschen Oppositionen vermischten. Büchner, der sich 1835 mit falschen Papieren über die französische Grenze nach Straßburg gerettet hatte, vermerkte fast Woche für Woche die Ankunft neuer politischer Flüchtlinge aus Deutschland. Viele von ­ihnen zogen weiter in die Schweiz, nach Basel, Zürich oder Genf; man­ che auch ins große Paris, etliche ins gerade unabhängig gewordene Bel­ gien, nach Brüssel, oder schon nach London. Das waren die wichtigs­ ten Exilorte, in denen sich deutsche Demokraten oder Frühsozialisten in den 1830/40 er Jahren sammelten und reorganisierten; in vielfältiger Ver­ brüderung mit polnischen und russischen, italienischen oder auch mit französischen Exilanten. Das «Große Exil», von dem die nach Westen geflüchteten polnischen Patrioten sprachen, wurde zu einem gesamt­ europäischen Schicksal für die Unruhigen aller Länder, die wiederum bei den kommenden revolutionären Gärungen einen wichtigen Kern der Aktiven bilden würden. Der Kristallisationspunkt aller Oppositionen in den deutschen Län­ dern war die Verteidigung der Pressefreiheit, von der – wie die Regierun­ gen selbst es sahen – alle weiteren politischen und gesellschaftlichen Ent­ wicklungen abhingen. In unserem Beispiel war es der Rektor Weidig ­gewesen, der im Juli 1834 versucht hatte, die oppositionellen Zirkel des Großherzogtums in einem «Preßverein für die Volksgesinnten beider Hessen» zu organisieren, statt in einer Geheimorganisation französi­ schen Stils, wie der junge Büchner sie parallel aufzuziehen suchte. Die Teilnehmer der Gründungsversammlung auf einer Ruine bei Gießen wa­ ren außer Weidig und Büchner zwei Studenten, zwei Advokaten, ein Arzt, ein Universitätsdozent, ein Verlagsbuchhändler sowie ein Hut­ macher.13 Das dürfte die mehr oder weniger typische Konstellation eines revolutionär gestimmten deutschen Oppositionszirkels dieser Jahre ge­ wesen sein. Neben Intellektuellen und freien Berufen waren regelmäßig junge Handwerker und Gesellen mit dabei, häufig als Autodidakten mit eige­ nen intellektuellen Ambitionen. Soweit soziale Forderungen ins Spiel ­kamen, betrafen sie die steuerlichen Belastungen und berufliche Be­ schränkungen oder rechtliche Schikanen, die wieder mit der bedrücken­ den politischen Situation zusammenfielen. Aus ähnlichen Motiven hatte sich bereits ein beträchtliches Segment deutscher Handwerker – sofern sie nicht gleich nach Amerika gingen – in die prosperierenden Nachbar­ länder aufgemacht, um dort eine Existenz zu finden, aber auch freiere

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Luft zu atmen. In Paris sollen in den 1830/40 er Jahren nicht weniger als 30 000 deutsche Handwerker und Gesellen als kleine Geschäftsleute, Handwerker oder angestellte Arbeiter in eigenen oder fremden Werk­ stätten und Manufakturen gearbeitet haben. Mit ihren Kneipen, Verei­ nen und Landsmannschaften, Bildungszirkeln, Zeitungen und Verlagen bildeten sie ein eigenes, dichtes Milieu, das einer steten, aufmerksamen Überwachung der französischen wie der deutschen oder österreichischen Polizeibehörden gewiss sein konnte. Grosso modo lässt sich sagen, dass in dieser Überschneidungszone ­politischer und sozialer Emigrationen in Frankreich, der Schweiz, Belgien und England, vor allem im engen Austausch zwischen französischen und deutschen Republikanern und Revolutionären, die ersten ­publizistischen, theoretischen und organisatorischen Grundlagen des künftigen «Socia­ lismus» und «Communismus» gelegt worden sind – in schärfsten frak­ tionellen Konflikten natürlich. Ob Büchner selbst, wie sein Bruder Lud­ wig als Herausgeber der nachgelassenen Schriften 1850 schrieb, «noch mehr Sozialist, als Republikaner» war14; ob er sogar für die volle «Güter­ gemeinschaft» eintrat, also schon ein «Communist» war, wie sein engs­ ter Gießener Gefährte August Becker es später behauptete15 – das ­alles ist aus Büchners Texten nicht zu erschließen.

Nachkrieg, Jugend, «Julisonne» «Jugend» als eine neue politische Kategorie kommt in der Geschichte des Georg Büchner und seines Umfelds in den Blick, mit all den lebens­ kulturellen Ingredienzen, die das haben musste. Sein Förderer Gutzkow war der Präzeptor des «Jungen Deutschland», das sich einem «Jungen Italien» oder einem «Jungen Polen» mit Emphase zur Seite stellte, die alle drei vom unermüdlichen Agitator der Völkerbefreiung Giuseppe Mazzini 1834 zu einem kurzlebigen «Jungen Europa» zusammengefasst wurden. Allein darin steckte schon ein erheblicher Wechsel – von Alter und Er­ fahrung hin zu Jugend und Veränderung –, der mit der «Entdeckung der Zukunft» viel zu tun hatte und eine Geschichte generationell begründe­ ter Ansprüche eröffnete, die allen künftigen Massenbewegungen als Treibstoff dienen würden. Sich als eine «junge» politische Kraft zu defi­ nieren, hieß, die gegebene Macht- oder Eigentumsordnung als etwas ­Altes zu denunzieren, das es schon deshalb verdiente unterzugehen.

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Diese Verschiebung war in handfesten soziologischen Faktoren be­ gründet: so in einer rapide gestiegenen Geburtenrate (dem ersten «Baby­ boom» der europäischen Geschichte) und zugleich in einem wachsenden Bildungsmilieu, das von der beginnenden kommerziellen und industriel­ len Revolution profitierte, ohne sich angesichts des grassierenden Paupe­ rismus ringsum in seinem relativen Wohlstand sicher fühlen zu können. Immerhin war man als situierter Bürger oder Beamter in der Lage, seine Kinder vermehrt auf die Gymnasien und Universitäten zu schicken und sich gegenüber den Zumutungen der obrigkeitlichen Politik gleichzeitig in einem Interieur aus Literatur, Musik und Kunst einzurichten, das mit dem nachträglich verliehenen, spöttischen Gattungsbegriff des «Bieder­ meier» nur sehr einseitig beschrieben ist – wie man an der Familie des Darmstädter Amtsarztes Ernst Büchner mit ihren sechs rebellischen Söh­ nen und Töchtern exemplarisch ablesen kann. Auch die «Romantik», die von Deutschland ausgehend in ganz ­Euro­pa den Klassizismus und die antikisierenden Stilisierungen des Revolu­ tionszeitalters als geistige Grundstimmung ablöste, bedeutete mit ihrer ­Hinwendung zum europäischen Mittelalter und zu den volkstümlichen Märchen- und Sagenwelten eine Erweiterung des kulturgeschichtlichen ­Horizonts der Aufklärungszeit, der ganz auf Antike und Renaissance ausgerichtet gewesen war. Zugleich setzte sie eine Verflüssigung und Steigerung der künstlerischen Ausdrucksformen und des emotionalen Weltempfindens in Bewegung. Von Rückzug in eine «machtgeschützte Innerlichkeit» (Thomas Mann) findet sich in Friedrich Schlegels frühester Programmerklärung von 1798 keine Spur; im Gegenteil: Es handelte sich um das Programm einer «pro­ gressiven Universalpoesie», die das profane Leben auf die Höhe der Kunst heben sollte: «Ihre Bestimmung ist nicht bloß, … die Poesie mit der Philosophie und Rhetorik in Berührung zu setzen. Sie will, und soll auch Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie und Natur­ poesie bald mischen, bald verschmelzen, die Poesie lebendig und gesel­ lig, und das Leben und die Gesellschaft poetisch machen».16 Dass dieser «poetic turn» am Ende vor allem einer Nationalromantik diente, deren fragwürdige Seiten sich im Verlauf des Jahrhunderts zeigen sollten, ist kein alles entscheidender Einwand gegen eine Zeitströmung, deren lebenskulturelle Energie und Neuheit erst einmal zu würdigen sind. So hat man zu Recht davon gesprochen, dass in dieser Periode mit dem Ideal der bürgerlichen Einzelfamilie, vor allem aber mit dem der «romantischen Liebe» erst Formen eines reicheren und gleicheren Zu­

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sammenspiels der Geschlechter wie der Beziehungen von Eltern und Kindern entdeckt und entfaltet worden sind. Wieder könnte die Innig­ keit der Beziehung Büchners zu seiner Verlobten Wilhelmine Jaeglé wie zu seiner Familie, vor allem seinen Geschwistern, als ein eindrückliches Beispiel dienen. Wenn für die Angehörigen dieser Vormärz-Generation die «Julisonne» von 1830, von der Heine damals sprach, zum politischen Erweckungs­ erlebnis wurde, dann bedeutete das nicht, dass sie alle Romantik zuguns­ ten eines hartleibigen Fanatismus abgelegt hätten. Liebesbeziehungen, Freundschaften und Geselligkeiten als Elixier einer von Konventionen befreiten, selbstgestalteten Lebenssphäre wurden auch in den radikalen Mi­lieus zum Rettungsmittel gegen alle staatlichen oder sozialen Ächtun­ gen und Verfolgungen. Gerade die frühsozialistischen und -kommunisti­ schen Zirkel sind (mit Ausnahme der Blanquisten vielleicht) ohne dieses Element lebenskultureller Experimente und schwärmerischer Liebeskulte gar nicht zu denken. Die Geschichte der späteren «48 er»-Generation, der Büchner wie Marx ideell zugehörten, war nicht zuletzt die einer Nachkriegsgeneration. Die vorausgegangene Ära der Revolutionskriege und napoleonischen Feld­ züge hatte durchaus schon Züge eines ersten Weltkriegs oder sogar ­einer ganzen Weltkriegsperiode gehabt, die kaum viel kürzer war als die von 1914 bis 1945. Im Schatten dieser ungeheuren, überlebensgroßen Ereignisse sind alle, mit denen wir es hier zu tun haben, aufgewachsen. Dies, wie die Romantik und die lebenskulturellen Aufladungen, verbin­ det, wenngleich nur von Ferne, die damalige «48 er»- mit der späteren «68 er»-Generation. Dabei hatte die charismatische Figur Napoleons, so viel Hass seine Despotie auf sich gezogen hatte, als «Kriegsgott» (Clausewitz) und als «Weltseele» (Hegel) Phantasien geweckt, die sich nicht mehr eingrenzen ließen. Ob in den Gedankensystemen eines Hegel, eines Saint-Simon, ei­ nes Marx ein komplementärer «Imperialismus des Geistes» am Werk ge­ wesen ist, «der im Feld der Ideen jene Weltherrschaft anstrebte, die Napoleon in der materiellen Welt errichtet hatte»17, kann man fraglich finden. Aber einen Stich ins Napoleonische wiesen manche der Gedan­ kensysteme und Ismen, die in dieser Periode die Bühne betraten, tatsäch­ lich auf. Das ist allerdings mit den intellektuellen und materiellen Umwälzun­ gen dieses Zeitalters insgesamt in Beziehung zu setzen. In seinem «Age

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of Revolution» hat Eric Hobsbawm die Tiefe des Umbruchs, der sich zwischen den 1780 er und den 1840 er Jahren abgespielt hat, an der Ent­ stehung einer ganzen Welt neuer Worte und Begriffe abgelesen, die in dieser Zeit geprägt worden sind und den geistigen, politischen und so­ zialen Raum seither bevölkert haben, als wären sie immer schon dage­ wesen – oft natürlich aus Wortwurzeln, die auf ältere Bedeutungen ver­ wiesen.18 Entscheidend war der Akt der Abstraktion, d. h. der Verallgemeine­ rung, der in solchen Neologismen steckte. Es gab seit Langem (womög­ lich seit 2000  Jahren) industrielle Aktivitäten im weiteren Sinn, aber nicht «die Industrie» und nicht «den Industriellen». Man kannte seit eh und je «pauperes» und Arme, aber nicht «den Pauperismus». Auch die «Nationalökonomie», die «Statistik» oder die «Soziologie» waren be­ griffliche Neuschöpfungen, die ganz neue, auf die eigene Gesellschaft ­gerichtete Untersuchungs- und Aktivitätsfelder beschrieben. Zugleich gab es erst jetzt den Typus des professionellen «Wissenschaftlers», der gleich auf welchem Gebiet seine strikten Methodiken entwickelte. Oder es erschien als eine neue Zentralfigur des Zeitalters der «Ingenieur», der als Gründer oder Manager eines Betriebs zugleich auch dem älteren, aus der Kolonialwelt stammenden Begriff des «Entrepreneurs», des «Unter­ nehmers», eine vollkommen neue Bedeutung gab. Dazu kamen natürlich die aus der Revolutionszeit stammenden poli­ tischen Schlüsselbegriffe oder Talismanworte wie «Konstitution» und «Republik», «Demokratie» und «Nation», «Volkssouveränität» und «Rechte des Menschen». Entlang solcher Begriffe setzte sich, wie be­ schrieben, die in der Französischen Revolution erstmals aufgebrochene politische Spaltung in eine «Linke» und eine «Rechte» in vielfachen ­Mischungen durch. Schließlich entstanden im Gefolge der Julirevolution in Frankreich und der Reformkrise in England in den 1830 er Jahren die ersten Vorformen politischer Mitgliederparteien, die sich unter neuen weltanschaulichen Leitbegriffen sammelten, welche in der Regel auf «-ismus» endeten. Diese neue Sprachform sollte jetzt den nach vorn weisenden, offen­ siven Charakter einer gesellschaftlichen «Strömung» oder politischen «Tendenz» betonen, die sich auf eine weltanschauliche «Lehre» oder ein wissenschaftliches «System» stützen konnte, oder das zumindest bean­ spruchte. So also betrat als Rivale und Antipode des älteren, erst um das Jahr 1830 unter diesem politischen Programmnamen offen hervortreten­ den «Liberalismus», der seine «Whig»-Perücke ablegte, erstmals auch

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der «Socialismus» als eine vage, neue politische Tendenz die Bühne; ihm folgte als dessen radikalerer Abkömmling und Rivale ein knappes Jahr­ zehnt später der «Communismus». Auf dem rechten Gegenpol formierte sich dagegen ein neuer «Konservativismus». Selbst die Konfessionen mussten sich in einem derart erweiterten Kon­ text neu formieren und zum Ismus werden, als «Katholizismus», «Pro­ testantismus», «Methodismus» usw., wobei sie sich sozial und politisch verstärkt jetzt auch auf Laien und Intellektuelle, nicht nur auf Kleriker stützten. Auch jede neue Kunst- oder Denkrichtung und jede wissen­ schaftliche Schule trat als Ismus auf  – bis schließlich zu Beginn des 20. Jahrhunderts der politische und kulturelle Raum mit solchen «Ismen» geradezu überfüllt war.

Das magische Medium der Presse Die schiere Vielzahl solcher Neuprägungen verwies zugleich auf einen explosionsartig erweiterten Raum der Öffentlichkeit, der sich trotz oder gerade wegen der fieberhaften Eindämmungs- und Zensurbemühungen der Regierungen auftat. In Frankreich und England, in der Schweiz und einigen deutschen Ländern entstanden in Form neuer Publikumszeit­ schriften und Tendenzblätter die ersten wirklichen Massenmedien, die diesen Namen verdienten und für die es auch jetzt erst eine technische Basis gab. In London meldete der deutsche Buchdrucker Friedrich Koenig die dampfgetriebene Schnellpresse zum Patent an und installierte sie 1814 erstmals für die «Times». Konnten die besten Handpressen bis dahin 400 Bogen pro Stunde drucken, so verdoppelte sich jetzt der Austoß; in den 1840 er Jahren waren es dann schon 12 000 Bögen pro Stunde, wäh­ rend die Industrialisierung der Papierproduktion die Preise kontinuier­ lich senkte. Auch wo kein Dampf zur Verfügung stand, ermöglichten mechanische und typografische Innovationen Auflagen und Formate, die früher ­undenkbar waren, so wie die Verbesserung des Postwesens und die Einführung der Telegrafie (ab den späten 1840 er Jahren) die Reak­ tionsgeschwindigkeiten und den Radius der Nachrichtenerfassung expo­ nentiell steigerten. Erstaunlich war auch die Potenzierung der Buch­ druck-Kapazitäten, gerade in Deutschland, wo (nicht zuletzt wegen des Fehlens ­eines Copyrights) im Jahr 1843 nicht weniger als 14 000 Bücher herausgekommen sein sollen.19

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Der Grund dieses erweiterten Raums der Öffentlichkeit war einmal der Nachrichten- und Meinungshunger des Publikums, das sich – was seine Alphabetisierung anging – deutlich erweitert hatte. Allein zwischen 1836 und 1846 erhöhte sich die Zahl der Leser von Tageszeitungen in Paris von 70 000 auf 200 000. Zeitungen, Zeitschriften, Bücher und Druckgrafiken konnten daher jetzt auch ihren Mann ernähren. So gab es in den 1830 er Jahren allein im Département Seine (um Paris) 24 Litho­ graphie-Anstalten und 180 Druckereien mit 500 Beschäftigten.20 Zensureingriffe und Verfolgungen gossen nur Öl ins Feuer und stei­ gerten das Prestige der Verurteilten. Das prominenteste Beispiel war der damals zweiundzwanzigjährige Zeichner Honoré Daumier, der 1830 mit dem Verleger Charles Philipon die Zeitschrift «La Caricature» gründete, die ihrem Namen alle Ehre machte. Für eine Zeichnung Louis Philippes als monströser Gargantua, der die Einkünfte seiner Bürger verschlingt, ging Daumier 1832 ein halbes Jahr ins Gefängnis. Als die Zeichnung und dann auch die Zeitschrift selbst verboten wurden, beteiligte er sich an der Gründung einer neuen Tageszeitung, dem «Charivari», in dem jetzt der größte Teil seiner Arbeiten erschien. Trotz Zeiten politischer Abstinenz hat keiner so wirksam wie Dau­ mier das «Gesicht der herrschenden Klasse» in eine ikonographische Ge­ samtansicht gebracht, die überdauert und in der Revolution von 1848 Geschichte gemacht hat. Das war eine erweiterte Wiederaufnahme der künstlerischen Bildpropaganda, die schon die Französische Revolution begleitet hatte und die vor allem in den Jahren der Russischen Revolutio­ nen von 1905 und 1917 eine beispiellose Intensität annehmen sollte. Jeder Exponent und jede Strömung des Frühsozialismus oder des radi­ kalen Republikanismus schuf sich jetzt eine eigene Zeitung. Viele Dru­ cker, Schriftsetzer und Typographen waren selbst Autoren und intel­ lektuelle Autodidakten, von denen einige eine wichtige Rolle gespielt ­haben, wie allen voran Pierre-Joseph Proudhon, einer der Gründerväter des französischen Sozialismus; oder wie Henry Hetherington, dessen Drucker-Kooperative zum Gründungszentrum der chartistischen Presse­ organe wurde; oder wie der amerikanische Frühanarchist Josiah Warren, der eine Theorie der «Souveränität des Individuellen» verfocht, die er auslebte, indem er – wie seinerzeit Restif de la Bretonne – seine Publika­ tionen selbst verfasste, setzte und druckte, also in einer Art Symbiose mit seiner experimentell immer weiterentwickelten Maschinerie lebte.21 So war der neue Massenjournalismus eine Art «magisches Medium»22 geworden, in dem sich die aus der Revolutionszeit stammende Vorstel­

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lung einer «vierten Gewalt» fast ein Jahrhundert lang konzentriert hat. Auch Marx war vielleicht nie so sehr in seinem Element wie 1842/43 als leitender Redakteur der Kölner «Rheinischen Zeitung» und noch einmal 1848/49 als Gründer und diktatorischer Leiter der «Neuen Rheinischen Zeitung». Auch das «Kommunistische Korrespondenz-Komitee», das er ab 1845 in Brüssel aufzog, hatte eine ideelle wie eine praktische Seite, die von seinem Mitredakteur Sebastian Seiler, der in Köln ein linke Nach­ richtenagentur unterhielt, sowie von Eduard von Bornstedt vertreten wurde, der parallel eine «Brüsseler Deutsche Zeitung» gründete, in der Marx und seine Mitstreiter gelegentlich gegen Honorar schrieben – nicht anders als Lenin, Trotzki und viele andere russische Revolutionäre es zwei Generationen später in der russischsprachigen Exilpresse tun wür­ den. Marx selbst würde einen Gutteil der nächsten zwanzig Jahre mit im­ mer neuen Gründungsprojekten von Zeitungen und Zeitschriften ver­ bringen, die ihn und seine Familie auch materiell hätten unterhalten sol­ len. Das taten dann zumindest die nach Hunderten zählenden Artikel, die er ab 1852 zehn Jahre lang als Europa-Korrespondent der «New York Tribune» schrieb. Er schrieb buchstäblich um sein Leben und das seiner Familie; als das Blatt Anfang der 1860 er Jahre in die Krise geriet und ihm kündigte, war er am Boden zerstört. Die 1850/60 er Jahre waren allerdings auch schon eine Zeit, in der Presse und Macht sich auf neue Weise zu stützen statt zu bekämpfen be­ gannen. Der Pionier dieser Wendung war der vielfach unterschätzte Napoleon  III., der es verstand, eine weithin unpolitische und billige Massenpresse zum Medium einer chauvinistischen Umpolung und so­ zialen Triebabfuhr zu machen, und damit zu einer Säule seines eigenen Regimes. Dabei fand er in ambitionierten Verlegergestalten wie dem eigent­lichen Erfinder einer französischen Massenpresse, Émile de Girardin, anfangs potente Mitspieler, dann aber auch starke Gegenspieler. Ähn­ liche Entwicklungen gab es im Preußen Bismarcks, im russischen Zaren­ reich oder in den USA – immer mit der umgekehrten Gefahr, dass eine die imperialistischen und chauvinistischen Instinkte des Publikums auf­ reizende Massenpresse wie die des Panslawisten Michail Katkow in Russland oder die in krudem «Jingoismus» schwelgenden Pennyblätter eines Randolph Hearst in den USA die Regierungen in kriegerische Abenteuer trieben, für die sie gar nicht einstehen konnten.

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Religionen, Nationen, Massen, Klassen Das Element des «religiösen Fanatismus», das Büchner der «großen Klasse» zugeschrieben hatte, traf einen weiteren Nerv der Zeit. Nach dem «aufgeklärten», religiös eher indifferenten 18. Jahrhundert war das lange 19. Jahrhundert entgegen einer lange verbreiteten Ansicht «eine Zeit, welche die triumphale Wiedergeburt und Ausbreitung von ‹Reli­ gion› in dem Sinne erlebte, wir wir den Begriff heute verwenden».23 Das gilt für die nicht-christlichen Weltreligionen ebenso wie für die von einigen Zehntausend Missionaren vorangetriebene Christianisierung Afrikas, Lateinamerikas und Teilen Asiens. Dieses militärische, ökono­ mische und missionarische Ausgreifen Europas stieß vielfach auf kultu­ relle Resistenzen, die zur Reaktualisierung älterer religiöser Traditionen führten, aber nicht selten auch auf eine latente Aufnahmebereitschaft, die zu eigenen politisch-religiösen Neubildungen führte, am machtvolls­ ten in der Taiping-Bewegung in China, in kleinerem Maßstab in den Voodoo- oder Cargo-Kulten residualer Bevölkerungsgruppen in Latein­ amerika oder Polynesien. Aber auch einige eher säkulare Gründerfigu­ ren wie zum Beispiel Sun Yat-sen als Vater des modernen chinesischen Nationalismus haben ihre Karriere mit einem Übertritt zum Christen­ tum eröffnet. Im globalisierten Umfeld des 19. Jahrhunderts sind womöglich auch Buddhismus, Shintoismus und Hinduismus als abgegrenzte Religionen erst entstanden – und waren damit nun ihrerseits zu Ismen geworden, so wie ein strikt kodifizierter, quasi-religiöser Konfuzianismus auch. Selbst der Islam, geteilt in Shia und Sunna, hat vielleicht erst damals mit Be­ wusstsein Züge einer Staaten und Kontinente übergreifenden Weltreli­ gion angenommen. In diesem Sinn kann man von «Weltreichen der Re­ ligion» sprechen, die sich im 19. Jahrhundert erst hergestellt haben, teils im Zuge des kolonialen Ausgreifens der europä­ischen Mächte und teils im Widerspruch dazu. Auch in Europa selbst war die Revitalisierung der Religionen, oder weiter gefasst: des Religiösen, einschließlich seiner antiklerikalen, säkula­ ren Ausdrucksformen, ein vielgestaltiger und oft paradoxer Prozess, der sich, wenn man ihn auf einen Generalnenner bringen will, als Ausdruck einer nachhaltigen Erschütterung aller überkommenen traditionalen und «gottgegebenen» Lebensordnungen, also eines akuten Sinnvakuums und metaphysischen Schwindels verstehen lässt.

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Das reichte von ganz Oben bis nach ganz Unten. Auf der obersten Stufe standen die Restaurationsregimes mit ihren jeweiligen, neu dekla­ rierten Bündnissen von «Thron und Altar». Dabei war die von Zar Ale­ x­ander  I. betriebene, feierliche Selbstdeklaration der Siegermächte von 1815 als «Heilige Allianz» der Monarchen eine hochgradig künstliche Konstruktion, der die nüchternen Briten von vornherein nicht beitraten. Auch das restaurierte Bourbonen-Regime in Frankreich reagierte im Laufe der 1820 er Jahre, als es den Boden unter sich schwanken fühlte, mit einer Wendung zu einem monarchischen Staatskatholizismus, der auf wenig mehr als leeren Pomp hinauslief und sich binnen Kurzem nach innen wie nach außen in unauflösbare Widersprüche verstrickte. Andererseits waren die jeweiligen Staatskirchen gezwungen, sich über ihre offizielle Aufwertung hinaus auch theologisch neu zu begründen und gleichzeitig zu vereinheitlichen und zu reorganisieren. Dasselbe galt für die in viele Nationalkirchen zerfallene römische Kirche, die sich mit dem Dogma der päpstlichen Unfehlbarkeit und immer gegenwarts­ feindlicheren und lebensfremderen Enzykliken in einen rigiden Funda­ mentalismus zurückzog. Gleichzeitig konnten die erneuerten, schwär­ merischen Marienkulte, die offensiv präsentierten Reliquien und die Fülle neuer Heiliger und neuer Wallfahrtsorte viele einfache (oder auch gebildete) Menschen durchaus noch einmal inspirieren; es waren nicht wenige Intellektuelle, die sich wie der Dichter Clemens Brentano gerade jetzt zu einem romantisch-mittelalterlichen Katholizismus neu hinge­ zogen fühlten. Auch die unterschiedlichen protestantischen Denominationen waren in diesem bewegten Feld gezwungen, sich theologisch, organisatorisch und politisch neu zu erfinden. Das konnte die Form einer starren Dog­ matisierung annehmen; es konnte sich umgekehrt aber auch um ernst­ hafte theologisch-quellenkritische Versuche handeln, die biblischen Überlieferungen mit der historischen Forschung und den Realien des modernen Lebens zu verknüpfen und zu versöhnen. Schließlich wurde europaweit «in den pietistisch gestimmten Zirkeln der Erweckungs- und Gemeinschaftsbewegung … häufig in äußerst konkreter Weise von der künftigen Wiederkehr Christi, dem Endgericht und kommenden Gottes­ reich» gesprochen.24 Hier ist man, um vorzugreifen, mitten im Herkunfts­ milieu des jungen Friedrich Engels. Eine entscheidende Rolle spielte auch hier wiederum das expandie­ rende Druck- und Verlagswesen, das eine Flut religiöser Zeitschriften und Broschüren, Katechismen, Gebetbücher und Bibeln für den Haus­

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gebrauch produzierte. Zugleich wurde der Pilgertourismus zu einem Massenphänomen und damit zur eigentlichen Vorform des modernen Tourismus  – in der römisch-katholischen, der griechisch-orthodoxen und der jüdischen Welt nicht anders als zur gleichen Zeit im Islam oder Hinduismus. Mekka oder Rom, Jerusalem oder Benares sahen Pilger­ scharen wie nie zuvor. Nicht selten ging es dabei auch um religiöse Machtdemonstrationen, wie im Fall der Massenwallfahrt von einer hal­ ben Million oder mehr zum «Heiligen Rock» nach Trier im Spätsommer 1844, die der Katholischen Kirche des Rheinlands half, sich gegenüber den Ansprüchen des preußischen Staatsprotestantismus zu behaupten. Hier sind wir dann im engeren Herkunftsmilieu des jungen Karl Marx. Allerdings war diese Trierer Massenwallfahrt auch eine authentische Demonstration sozialer Verzweiflung in einer Hunger- und Teuerungs­ zeit, die den Hunsrück und die Mosel wie zur selben Zeit Irland oder das vom Weberaufstand erschütterte Schlesien besonders hart traf. Insofern wirkte sie wie die schlagende Illustration einer von Marx Anfang dessel­ ben Jahres 1844 niedergeschriebenen Formel: von der Religion als einer «Protestation gegen das wirkliche Elend», als «Seufzer der bedrängten Natur» und «Gemüt einer herzlosen Welt», als «Geist geistloser Zu­ stände» und als «das Opium des Volkes».25 Assoziativ könnte Marx ­dabei auch an die Katastrophen gedacht haben, die die Verwandlung des Opiums aus einem Heilmittel zu einer Massendroge im gedemütigten, für den Handel (und Schmuggel) zwangsweise «geöffneten» China nach dem ersten Opiumkrieg bedeutet hat. Ein einfaches, aufgeklärtes Abtun der Religion als einem bloßen Aberglauben war das jedenfalls nicht.

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Der Fortschritt und sein Preis

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ass sozialistische Gemeinwirtschaft nicht an sich progressiv war, sondern auch eine romantische oder regressive Reaktion gegen den rastlosen Innovations- und Verwertungsdrang des Kapitals und der Bour­ geoisie sein konnte, der mit seiner Zerstörungskraft zunächst einen ge­ waltigen historischen Durchbruch erreichte, war eine zentrale Positions­ bestimmung des «Kommunistischen Manifests» von 1848. Ein langer Abschnitt war darin der kategorischen Verwerfung aller ­älteren oder zeitgenössischen, mehr oder minder als «reaktionär» quali­ fizierten Sozialismen gewidmet. So ist etwa die Rede von einem «feudalen Sozialismus», wie ihn neukonservative Ideologen, etwa die Tories vom «Jungen England», propagierten. Nicht besser schneidet die christliche Sozial­politik ab: «Wie der Pfaffe immer Hand in Hand ging mit dem Feudalen, so der pfäffische Socialismus mit dem feudalistischen.» Auch die zahlreichen Propagandisten eines «kleinbürgerlichen Sozialismus» oder sogar eines «Bourgeoissozialismus», so Marx, strebten in idylli­ sierte vorkapitalistische Verhältnisse zurück, die es nie gegeben habe und geben würde, etwa in Form sich selbst organisierender, kleiner oder größerer Produktions- und Konsumgenossenschaften, wie Pierre-Joseph Proudhon sie vorschlug. Dann gab es die «wahren Socialisten», die auf «den Menschen überhaupt» rekurrierten, der von Natur aus gut und nur durch die miserablen Verhältnisse seiner Bestimmung entfremdet sei, wie eine Fraktion um den deutschen Schriftsteller Karl Grün meinte. «Mit sehr wenigen Ausnahmen gehört alles, was in Deutschland von angeb­ lich sozialistischen und kommunistischen Schriften zirkuliert, in den Be­ reich dieser schmutzigen, entnervenden Literatur.» Marx’ Verdikt traf aber auch die prominenten Verfechter eines «uto­ pischen Sozialismus» wie Robert Owen, Henri de Saint-Simon, Charles Fourier und ihre Jünger. Deren Projekte seien stets nur auf eine «Duodez-­ Ausgabe des neuen Jerusalem» hinausgelaufen und die Urheber daher stets genötigt gewesen, «an die Philanthropie der bürgerlichen Herzen und Geldsäcke» zu appellieren. Schließlich war das «Manifest» auch eine

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Absage an jene Vorläufer oder Zeitgenossen, deren Literatur und Praxis die «ersten Bewegungen des Proletariats» selbst begleitet hatten, wie die Anhänger Babeufs und seiner «Verschwörung der Gleichen», die «einen allgemeinen Asketismus und eine rohe Gleichmacherei» lehrten. Sie alle mussten letztlich zu Gegnern jener «politischen Bewegung der Arbeiter» werden, um deren Begründung es Marx und Engels am Vorabend der 1848 er-Revolution vor allem zu tun war.1 Zur Vervollständigung des Bildes tragen die verstreuten Bemerkungen und Betrachtungen im «Kapital» und seinen Vorentwürfen bei: über den von europäischen Beobachtern vielfach verklärten «Inka-Sozialismus» oder den christlich-kommunistischen Jesuitenstaat in Paraguay, den dörf­ lichen Kommunismus, der die stationäre Grundlage der «asiatischen Pro­ duktionsweise» und des «orientalischen Despotismus» gebildet habe, oder den «Kasernen-Kommunismus» der zeitgenössischen russischen Militär­ kolonien. Für Marx war klar, dass die alte wie die neue Welt von antiker Zeit an bis in die Gegenwart voller Sozialismen und Kommunismen war, die nicht nur roh und gleichmacherisch, sondern sogar reaktionär und despotisch waren und die Herausbildung einer modernen Gesellschaft blockierten statt förderten. Der Kommunismus des «Manifests» aber konnte nur im Durchgang durch diese moderne Welt erreicht werden und nicht durch den Rückzug in irgendeine alte, heile oder in eine neue, des­ potisch stillgestellte Welt. Erst vierzig Jahre später, in seiner populärsten und für die Entwicklung des «Marxismus» vielleicht wichtigsten Schrift, einer knappen Broschüre über «Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft», konnte Friedrich Engels großmütig konzedieren, dass ohne die «genialen Gedankenkeime und Gedanken, wie sie namentlich in den Werken Saint-­ Simons, Fouriers und Owens unter der phantastischen Hülle» immer wie­ der hervorgebrochen seien, der moderne, wissenschaftliche Sozialismus nicht denkbar gewesen wäre.2 Nur seien ihre Lehren in den 1840 er Jah­ ren schon zur Beute esoterischer Sekten geworden.3 Die Frühsozialisten, ein farbiges Ensemble sehr unterschiedlicher Figu­ ren, sind interessant nicht, weil ihren Lehren heute noch viel zu entneh­ men wäre, sondern als eine historische Erscheinung eigener und neuer Art. Denn jeder von ihnen verkörperte eine Seite oder Möglichkeit der hereinbrechenden industriellen Moderne, entwickelte sie zu seinem ge­ sonderten «System» – und das vielfach bis zum Spleen oder zum sekten­ haften Credo. Aber alle zusammen demonstrierten sie, was im Denken

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wie im gesellschaftlichen Handeln plötzlich möglich erschien, leuchteten sie den dunklen Raum der Zukunft aus. Wenn sie großteils keine politi­ schen Köpfe, geschweige Revolutionäre waren, dann zeigt das nur, wie sehr im Nachgang der Französischen Revolution jetzt das «Gesellschaft­ liche» oder das «Soziale» gegenüber dem Politisch-Staatlichen in den Vordergrund trat. Dabei sind ihre visionären Entwürfe und Projekte oft weniger «uto­ pisch» gewesen als die Entwürfe liberaler Denker, zumal derer, die aus der Schule der französischen «Idéologues» kamen, einer Gruppe von Philoso­ phen und Sozialwissenschaftlern, die im Gefolge der Enzyklopädisten an­ getreten waren, um mit ihren «sciences morales et politiques» jegliche Metaphysik durch eine universale, positive «Ideologie» zu ersetzen. In­ dem sie auch die menschlichen Gefühle und Gedanken einer naturwissen­ schaftlichen oder soziologischen, vermeintlich rein objektiven Betrach­ tung unterzogen, wollten sie den Weg zu einer der menschlichen Vernunft gemäßen Ordnung von Staat, Gesellschaft und Privatleben eröffnen. Für den liberalen Ökonomen Jean-Baptiste Say etwa gab es zwischen seinem im Stil der klassischen utopischen Literatur verfassten «Reise­ bericht» aus dem nachrevolutionären Land «Olbie» (1800), in dem die Vernunft herrschte, und seiner wissenschaftlichen «Abhandlung über die Politische Ökonomie» (1803), die seinen Ruhm begründete, keinen Widerspruch. Wenn die politische Ökonomie, wie Say sie vertrat, eine Art Universalwissenschaft des vernünftigen Lebens war, dann musste sie anerkennen (wie die «Olbier» es begriffen hatten), dass der reine Ge­ winntrieb alleine nicht weit führen werde, sondern durch die Liebe zur Arbeit, die Liebe zur Republik und generell die Liebe zur Tugend ergänzt werden musste, die die Aufgeklärten der Nation ihren Bürgern einflößen mussten.4 Dabei scheint Says Kritik eines Staatsabsolutismus, der als ein großer Gärtner die Gesellschaft wie einen Baum beschneiden oder zum Spalier ziehen will, entschieden realistisch, denn «der Baum lebt und treibt doch nach den Gesetzen der Pflanzennatur, die mächtiger ist als die Kunst und Gewalt jedwedes Gärtners». So seien auch «die Gesellschaften … Kör­ per», die nach ihren eigenen Gesetzen leben – nach Gesetzen, die man allerdings erkennen und lehren konnte.5 Gerade für einen Wirtschafts­ liberalen, der vertrat, dass man die Menschen «wachsen» lassen solle, musste alles auf ihre Aufklärung und Bildung, auf die Pflege und Erzie­ hung ihrer «moral sentiments» ankommen, die nach Adam Smith allem Wirtschaften vorausgehen. In diesem Sinne waren die liberalen Gesell­

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schaftsvorstellungen letztlich auf ihre Weise Utopien einer vollkomme­ nen staatsbürgerlichen Bildbarkeit und kamen der Formel von der «Frei­ heit als Einsicht in die Notwendigkeit» sehr nahe, die man später dem Marxismus und seinem hegelianischen Erbe zuschreiben würde. Nicht zufällig war auch die Zeitschrift «L’Industrie», die vom Grafen Henri de Saint-Simon (den man später unter die Begründer eines «utopi­ schen Sozialismus» rechnen würde) und seinem jungen Sekretär Auguste Thierry herausgegeben wurde, in Says Salon gegründet worden. Darin wurde ein weiter Begriff von «Industrie» entwickelt, der das ganze Feld produktiver Tätigkeit umfasste, die den Kern der «société civile» bildete. Zu den «industrieux», den Regsamen und Fleißigen, zählten nicht nur die «entrepreneurs» (Unternehmer) oder die «savants» (Wissenschaft­ ler), sondern auch die «ouvriers» (die Arbeitenden, ob Handwerker, Bauern oder einfachen Lohnarbeiter). Sie alle standen im Gegensatz zu den «oisifs», den Müßiggängern, den Aristokraten, Rentiers und Cou­ ponschneidern, wie zu allen Herumtreibern, die keine nützlichen Arbei­ ten verrichteten. Die so verstandene «Industrie» als eine praktisch gewendete Wissen­ schaft der Natur und der Gesellschaft umschrieb perspektivisch sogar Ziel und Zweck einer modernen Nation überhaupt und damit auch der staatlichen Tätigkeit, so wie die Mehrung des «Reichtums der Nationen» und der freie Austausch ihrer Erzeugnisse (der «doux commerce») nach und nach die alten Aufgaben von Krieg und Eroberung überflügeln und ersetzen würden. An die Stelle der Staatsmänner und Feldherren alten Schlags sollten zunehmend die Bankiers, die Händler, die Fabrikanten und vor a­ llem auch die Wissenschaftler treten. In diesen Vorstellungen, die gleichermaßen einem liberalen wie einem frühsozialistischen Ideen­ horizont entstammten, findet sich auch bereits die Vorstellung vom «Ab­ sterben» des Staates im Sinne einer Ersetzung von Zwang und Unter­ drückung durch die «Verwaltung von Sachen» und die Organisation des allgemeinen Wohlergehens; aber komplementär auch Formeln wie «Je­ dem nach seiner Leistung» oder «Wer nicht arbeitet, soll auch nicht ­essen», die man ebenfalls später von Sozialisten hörte.6

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Die Gärten des Frühsozialismus Als ein Mitbegründer des modernen Sozialismus kann Henri de Saint-­ Simon jedenfalls erst durch die posthume, von seinen Jüngern kreierte Strömung des «Saint-Simonismus» gelten. Ob der Programmbegriff «So­ cialismus», der irgendwann kurz vor oder nach 1830 aufkommt, primär aus diesem Umfeld stammt oder nicht eher aus dem des englischen Sozial­ reformers Robert Owen, ist wie immer in solchen Fällen nicht sicher zu eruieren. In der zweiten Hälfte der 1830 er Jahre ist der Begriff jedenfalls fest etabliert, unmittelbar gefolgt vom Begriff des «Communismus». «Sozialistisch» war bei Saint-Simon nur die Vorstellung eines Ge­ schichtsprozesses, der zu immer höheren Formen der Vergesellschaftung und letztlich zu einer planmäßigen Organisation der gesellschaftlichen Gesamtproduktion führen müsse, in der das Privateigentum jedenfalls dem Gemeinwohl untergeordnet und das Erbrecht abgeschafft wäre. Da­ mit würde die «Ausbeutung des Menschen durch den Menschen» ver­ wandelt in die gemeinsame Ausbeutung der Natur und der Erde durch die kooperierenden Produzenten. Als gebranntes Kind der Revolutions­ jahre war der Graf und Nonkonformist ein strikter Gegner aller politi­ schen Umstürze und schlug ein System vor, in dem politische generell durch soziale Autorität ersetzt würde, ausgeübt durch drei Kammern: eine «Kammer für Erfindungen», in der Ingenieure über Innovationen nachsinnen, eine «Kammer der Kritik», in der Wissenschaftler diese Vor­ schläge prüfen, und eine «Kammer der Ausführung», in der Unterneh­ mer, Industrielle, Beamte die beschlossenen Projekte in die Tat umsetzen. Enttäuscht über die mangelnde Resonanz innerhalb der «Aristokratie der Talentierten», an die er sich vor allem gewandt hatte, begann er in seinen letzten Lebensjahren, ein «neues Christentum» zu propagieren, da der «Thron des Absoluten» nicht leer bleiben dürfe und ohne die Binde­ kraft der Religion Gesellschaft nicht möglich sei. Erst jetzt entdeckte der verarmte Aristokrat auch das urchristliche Gebot, «das Los der Ärmsten so rasch wie möglich zu verbessern».7 Zugleich propagierte er eine «neue Kirche», deren Verkünder weniger rationalistische Wirtschaftler und Wissenschaftler, sondern «Künstler-Priester» einer neuen, lichten Menschheitsreligion sein sollten: eines vernünftigen Glaubens an die Un­ endlichkeit des Wissens und an die Befreiung durch menschliches Schöp­ fertum. Unter Saint-Simons Jüngern, dem Mathematiker Prosper Enfantin

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und dem Mitherausgeber der Schriften Saint-Simons, dem ehemaligen Carbonari Amand Bazard, der mit einer Serie von Vorlesungen stark zur Popularisierung beitrug, entstand eine zeitweise 40 000 Mitglieder starke «Gemeinde», in der Enfantin bald die Rolle eines «Vaters» oder Gurus einnahm. Mit einem «Neuen Buch» (einem Neuem Testament) gab En­ fantin dem Saint-Simonismus durch pythagoreische Zahlenmystik, apho­ ristische Sinnsprüche und rituelle Anrufungen eines neuen «organischen Zeitalters», in dem das Spirituelle, Materielle und Rationale sich vereinen würden, eine ganz neue, erweiterte Dimension. Im Sommer 1832 ver­ sammelte Enfantin eine große Schar seiner «Kinder» (enfants), Männer und Frauen, zu einer klösterlichen Einkehr auf seinem Familiengut nahe Paris und bereitete sie darauf vor, als Apostel dieses neuen Glaubens in alle Welt auszuschwärmen. Dass Enfantin jetzt (vermutlich unter dem Einfluss Fouriers) nicht nur die Gleichheit der Frauen in seine Glaubensverkündigung aufgenommen hatte, sondern dass er Gott selbst als ein männlich-weibliches Doppel­ wesen zeichnete, während er die «vagabundierende Elektrizität», die man in der Atmosphäre entdeckt hatte, als eine frei flottierende, universale Libido ausmalte, die die gesamte Menschheit durchströme (man fühlt sich an Wilhelm Reichs kosmisch-orgiastisches «Orgon» hundert Jahre später erinnert), erweiterte den Appeal des Saint-Simonismus noch ein­ mal. Namhafte Schriftsteller und Intellektuelle wie die frühe Feministin und Erfolgsautorin George Sand, auch Heinrich Heine, der konservative Thomas Carlyle, der Liberale John Stuart Mill, der Pianist und Kom­ ponist Franz Liszt, der alte Goethe sowie der Vater und der künftige Schwiegervater des jungen Karl Marx konnten dem so erweiterten Saint-Simonismus als einer deistischen Welt- und Fortschrittsreligion viel abgewinnen. Als solche strahlte er zeitweise weltweit aus, von den Zirkeln der radikalen Intelligenzija Russlands der 1840/50 er Jahre bis nach Nord- und Südamerika. Unter den Aposteln der neuen Lehre findet sich auch der farbige Sohn eines US-Sklavenhalters und einer schwarzen Haussklavin, Thomas Urbain, der von Frankreich nach Algerien und Ägypten ging, wo er gemeinsam mit dem Sohn eines jüdischen Bankiers, Gustave d’Eichthal, zahlreiche «Oasen» einer multi-rassischen und multi-­ religiösen, Christentum, Judentum und Islam versöhnenden Gesellschaft gründete, nur um nach der Revolution von 1848 zum frühen Propagan­ disten einer islamisch-panafrikanischen Befreiungsbewegung, einem Mal­ colm X seiner Zeit, zu werden.8

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In eine damit verbundene und doch ganz andere Richtung ging der «romantische Globalismus», der sich mit dem Namen des Pariser Saint-Simonisten Michel Chevalier verbindet und die früh entwickelten Ideen des Meisters aufnahm, den Weltverkehr durch große Projekte zu fördern und so «den Westen und den Osten» miteinander zu verbinden. Im saint-simonistischen Zentralorgan «Le Globe» wurde 1832 erstmals der Plan propagiert, den Atlantik mit dem Pazifik mittels eines Durch­ stichs durch den Isthmus von Mittelamerika zu verknüpfen (den späte­ ren Panama-Kanal) sowie gleichzeitig auf den Spuren der Expedition Napoleons zu den Pyramiden das dünne «Häutchen» der jungfräulichen Wüste zu durchstoßen (den späteren Suez-Kanal) und den Verkehr mit Asien im «Hochzeitsbett» des Mittelmeeres zu vollziehen. Auch ein Dammbau am Nil (der 150  Jahre später gebaute Assuan-Staudamm) wurde entworfen und ähnliche, vorerst phantastisch anmutende Pro­ jekte wie die Erschließung Europas, Russlands und Amerikas, aber auch Afrikas und des Nahen Ostens durch ein dichtes Netz von Eisen­ bahnen.9 Dabei gab es immer neue Versuche Saint-Simons selbst und seiner Jün­ ger, den Monarchen von Napoleon  I. bis zu Napoleon  III. die Führung in diesen globalen Unternehmen anzutragen. Der letztere nahm diese Ansinnen sehr bereitwillig auf, am sichtbarsten mit dem Projekt des Suez-­Kanals in den 1860 er Jahren. Ferdinand de Lesseps, der Gründer der Kanalgesellschaft, war selbst Saint-Simonist. Ähnliches gilt für die Gründer, Finanziers und Ingenieure vieler der großen Eisenbahngesell­ schaften in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Enfantin selbst sollte zuletzt Direktor einer Eisenbahngesellschaft werden. Das verband sich mit der führenden Rolle, die den modernen Bankiers im Gesellschaftsaufriss Saint-Simons und seiner Jünger als Planern und Finanziers großer Gemeinschaftsprojekte zugeschrieben wurde, wo sie unter die «Industriellen», nicht etwa unter die «Müßiggänger» gerechnet wurden. So entwickelten sich die modernen Aktiengesellschaften und ­Investitionsbanken zum Bau von Eisenbahnen und Kanälen, in Frank­ reich zentriert um den in den 1850 er Jahren gegründeten «Crédit mobi­ lier» der Gebrüder Péreire, der das alte Bankwesen der Rothschilds und anderer Familien aufmischte, große Skandale und Pleiten produzierte (in Amerika in den 1880 er Jahren den «Panama-Skandal»), aber aus der Entwicklung der großen Industrie, der Weltkommunikation, der interna­ tionalen Börsen und des Versicherungswesens nicht mehr wegzudenken war – und ebenfalls saint-simonistischen Inspirationen entsprang.

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So war diese Strömung am Ende eher eine Religion der staatlichen Planer, großen Finanziers, der Ingenieure und Militärs geworden, als dass man sie in einem spezifischen Sinne noch dem Sozialismus zurechnen konnte. Eher hatte sie da schon die Form des «Positivismus» angenom­ men, dessen Begründer der zweite Sekretär Saint-Simons war, Auguste Comte, der den Faden Saint-Simons auf seine Weise aufgenommen hatte. Von einem ganz anderen, fast entgegengesetzten Ende der modernen Ent­ wicklungen aus wurde der Sonderling, Phantast und Autodidakt Charles Fourier zu einer historischen Gründerfigur des Sozialismus  – freilich auch er eher posthum, durch das Wirken «fourieristischer» Sekten und Zeitschriften und durch einen politischen Nachfolger wie Victor Con­ sidérant, der Fouriers Schriften herausgab und seinen Ideen im Vorfeld und Nachgang von 1848 eine praktischere Wendung gab. Als Sohn eines Tuchhändlers, der eine bescheidene Dachstubenexis­ tenz als Handelskommis und Rentier des väterlichen Erbes fristete, hatte Fourier seit 1808 an einem großen System geschrieben, das sich die Er­ klärung und Reorganisation der Welt nach seinen Prinzipien zum Ziel setzte. Für ihn war die «industrielle» Gesellschaft mit ihren Manufak­tu­ ren und Fabriken, mit Handel und Finanz geradezu eine Umkehrung der ­natürlichen Ordnung, da der Akkumulation von Besitz und Reichtum eine Akkumulation des Elends und (vor allem) der Verkümmerung der natürlichen menschlichen Triebe und Begabungen gegenüberstand. Es waren für ihn vor allem die Juden als «jene Nation, die sich ausschließlich dem Handel, dem Wucher und den merkantilen Verderbtheiten wid­ met», welche diesen «unnatürlichen» Prozess wie Hefe vorantrieben10 – was nur zeigt, wie sehr der kritische Impuls Fouriers aus dem Ressenti­ ment gegen die moderne Welt überhaupt lebte, statt wie bei Saint-Simon aus ihrer Bewunderung. Aus Wettbewerb wurde Fouriers politischer Ökonomie zufolge Monopolwirtschaft, die zu periodischen Überproduk­ tionskrisen, den «crises pléthoriques», führte, bis es am Kulminations­ punkt der physischen und moralischen Krise zu einem Umschlag kam, an dem ein friedlicher Übergang in Formen kooperativer Arbeit möglich wurde. Ungleich einflussreicher als diese sozial- und wirtschaftskritischen Be­ trachtungen, die immerhin der ökonomischen Wissenschaft des Zeit­ alters einige Stichworte lieferte, war Fouriers «Ökonomie» der mensch­ lichen Triebe, Sinne und Leidenschaften, aus der er die Möglichkeit und Notwendigkeit einer ganz neuen Lebensorganisation herleitete. Das

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hatte zwar etwas Versponnenes, war aber keineswegs nur abwegig und folgte dem aufklärerischen Drang, alles Bestehende in der toten wie der lebendigen Natur zu «klassifizieren». So beschrieb Fourier zwölf elementare Leidenschaften, die den Men­ schen gemeinsam, aber unterschiedlich unter sie verteilt waren, und zwar: vier «seelische» (Freundschaft, Ehrgeiz, Liebe, Familiengefühl), fünf «sinnliche» (die fünf Sinne) sowie drei «distributive» (der Drang nach Wechsel, nach Intrigen und nach Kooperation). Daraus ergaben sich nach komplizierten Berechnungen 810 charakterologische Grund­ typen von Menschen – woraus Fourier schloss, dass 1620, besser noch 2000 Menschen eine stabile gesellschaftliche Einheit ergäben, die man in einer «Phalanstere» zusammenfassen sollte, wie in einem modernen Stamm, die ihnen als gemeinsamer Arbeits- und Lebensort dienen solle. Pedantisch wie das war, enthielt es den befreienden Gedanken, dass auch die aggressiven, egoistischen und sonstwie negativen Neigungen sich auf diese Weise in einem größeren sozialen Ensemble ausgleichen und pro­ duktiv nutzen ließen. Fourier war sich sicher, dass eine Verschmelzung von industrieller (ge­ werblicher) und landwirtschaftlicher Arbeit, von genossenschaftlicher und individueller Arbeit einschließlich der Ausübung der «natürlichen Rechte» auf Sammeln, Weiden, Jagen, Fischen und interessanterweise auch auf «Stehlen» (marauder) nicht nur zu einem wahrhaft freien, künst­ lerischen und angenehmen Gesellschaftsleben führen werde, sondern auch «einen zehnfach größeren Reichtum» produzieren werde, als es ge­ genwärtig der Fall war.11 «Phalansteren» (das Wort ist zusammengesetzt aus phalange, Phalanx, und monastère, Kloster) waren agrarisch-industrielle, großteils selbst­ versorgende Einheiten, deren Wohneinheiten eher Hotelzimmern glichen, da die kollektiven wie die persönlichen Aktivitäten und Beziehungen ­einem steten Fluss unterlagen und sich mit der Einschließung in einem engen Familienhaushalt schlecht vertrugen. Jeder durfte privates Eigen­ tum haben, aber das war nebensächlich. Die produktiven und reproduk­ tiven Arbeiten waren unter alle verteilt; jeder übte die verschiedensten Tätigkeiten und Berufe aus, die unterschiedlich bezahlt wurden, aber (viel wichtiger) selbst eine Quelle der spielerischen, lustvollen Selbstver­ wirklichung und allseitigen Persönlichkeitsbildung waren  – wobei die besonders schmutzigen, niederen Arbeiten wie Kloakenreinigung oder Schlachten den Kindern überlassen blieben, die das mit Lust taten und ansonsten gemeinschaftlich erzogen wurden.

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Männer und Frauen waren nicht nur gleichgestellt, sondern konnten sich nach ihren Wünschen frei gesellen und paaren, monogam, polygam oder auch in Bordellen, deren Bewohnerinnen den respektablen antiken Hetären glichen. Nicht nur die Kirchen, auch eine Staatsgewalt als ­Hüterin von Ordnung und Sitte war überflüssig. Allerdings würden die Phalansteren sich freiwillig assoziieren; binnen weniger Jahre nach ihrer Einführung könnte sich bereits eine weltweite «Omnarchie» unter einem milden, geistvollen «Omniarchen» herausgebildet haben, der große Pro­ jekte vermittels seiner «harmonischen Armeen» (darunter einer Anzahl Amazonen) durchsetzen würde. Merkwürdigerweise glichen die Phalansteren, die von den «Fourieris­ ten» nach den Vorstellungen des Meisters entworfen wurden, jedenfalls auf den architektonischen Zeichnungen in ihrer weiten, schlossartigen Anlage in bukolischer Gartenlandschaft sowohl Schlössern wie Arbeitsund Irrenhäusern. Andererseits ließ Fourier seinen eher schon märchen­ haft als utopisch zu nennenden Phantasien freien Lauf, wenn er sich eine von den Menschen verwandelte und befriedete Natur als einen neuen Garten Eden vorstellte, worin die Schädlinge ausgestorben wären (wie in der Menschenwelt auch), die Wüsten erblüht, die Meere süß wie Limo­ nade und die Löwen zu Anti-Löwen, die neben den Antilopen grasten, geworden sein würden. Sogar die Planeten würden erotisch miteinander verkehren und Sternseelen gebären, ewig wie die Menschenseelen, in ­einem Kosmos, der eins war wie in der Philosophie Schellings.12 Aus diesem Ideenpark, der dem Treibhaus mit Papageien, worin Fou­ rier selbst zuletzt gelebt haben soll, durchaus glich, haben Jünger Fou­ riers, die seinem labyrinthischen Schrifttum noch weitere Abteilungen an­ gefügt haben, Inspirationen für immer neue Versuche entnommen, in «Phalansteren» zu leben (in den USA mehr als in Europa). Oder sie haben, wie vor allem Considérant, radikale, aber praktische politische Vorschläge für eine direkte Demokratie und für soziale Reformen entwickelt, zuletzt im Rahmen der von Marx geleiteten «Internationalen Arbeiter-Assozia­ tion» und der Pariser Commune. Unter dem Einfluss Fouriers standen vielfach auch die Evolutionen des Saint-Simonismus, wie Enfantins zeit­ weilige Verbindung mit der frühen Frauenrechtlerin und Schriftstellerin Flora Tristan belegt, die mit ihm eine pantheistisch-erotische Ma-Pa-Reli­ gion stiften wollte, in welcher sie die Göttin Pa und er der Gott Ma war.13 Selbst August Bebel hat sich in seiner Haftzeit Anfang der 1870 er Jahre in die Schriften Fouriers vertieft und daraus etliche Anregungen für seinen einflussreichen Bestseller «Die Frau und der Sozialismus» ge­

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zogen. 1890 hat er Fourier mit einer kleinen Schrift ein literarisches Denkmal gesetzt: «Seine Auffassung der menschlichen Triebe, die im schärfsten Widerspruch mit jener der Theologen und Moralphilosophen stand und steht, dass alle Triebe natürlich und darum nützlich und ver­ nünftig, zum menschlichen Glücke notwendig seien, und es nur der so­ ziale Zustand der Gesellschaft sei, der sie unterdrücke oder fälsche, und daher diese Triebe sowohl für das Individuum, wie für die Gesellschaft schädlich erscheinen ließe, musste den herrschenden Klassen als arge Ketzerei, als der Anfang zur Auflösung aller bisher für unantastbar gel­ tenden gesellschaftlichen Bande erscheinen. In dieser seiner Auffassung der menschlichen Triebe ist Fourier der eigentliche Revolutionär.»14 Der erste Frühsozialist, der diesen Namen wirklich verdient, war aber der schottische Fabrikant und Ingenieur, Sozialreformer und Sozialtheo­ retiker, Gewerkschafter und Genossenschafter Robert Owen (1771– 1858), der kein bloßer Ideologe war, sondern ein vielseitig und sichtbar wirkender, zeitweise prominenter Mann des Wortes und der Tat.15 Owen gehörte zu den britischen Industriellen der ersten Stunde, die fast alle so wie er Selfmademen und Autodidakten aus kleinen Verhältnissen waren, eher Handwerker und Tüftler als Ingenieure oder Geschäftsleute, die ihre Erfindungen und Entwicklungen in die Tat umsetzten, indem sie Fabriken gründeten, um Arbeit und Maschinerie in größerem Stil zu kom­ binieren, vor allem in der Textilindustrie. Owen, der als blutjunger Fabrik­ manager in Manchester seine ersten Sporen verdiente, übernahm nach der Heirat mit der Tochter eines schottischen Textilunternehmers dessen Be­ trieb in New Lanark mit 2500 Arbeitern (die große Mehrheit junge Frauen und Kinder) und baute sie zu einem Musterbetrieb aus, bevor er die Firma 1810 als Mehrheitseigner ganz unter seine Regie nahm. Dieser Kauf hatte schon wesentlich damit zu tun, dass er den Anblick der miserablen Arbeits- und Lebensbedingungen nicht ertrug, und am wenigsten die physische und geistige Verelendung der 500 Fabrikkinder, die meisten davon Waisen. Als Aufklärer und Humanist wollte er bewei­ sen – und das gelang ihm ohne Mühe –, dass man bei anständiger Be­ handlung, Bezahlung, Behausung seiner «Fabrikhände» (so der offizielle Begriff) erfolgreich und profitabel wirtschaften konnte; und dass man dabei sogar Mittel genug übrig hatte, um die Kinder in Krippen und Volksschulklassen (die es zu dieser Zeit noch kaum gab) zu unterrichten und sie erst ab dem 10. Lebensjahr, und dann nicht länger als 10 Stunden pro Tag, in den Arbeitsprozess einzubeziehen. Als seine Geldgeber meu­

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terten und ihn enteignen wollten, weil er für die philanthropischen Auf­ gaben zu viel ausgab, fand er ein Gericht, das ihm die Fabriken beließ, nachdem er neue Geldgeber wie den «Utilitaristen» Jeremy Bentham ­gefunden hatte, die frisches Kapital einschossen und mit 5 % Jahresren­ dite zufrieden waren. Diese Reformen und eine begleitende Schrift über «Das Prinzip der Formung des menschlichen Charakters» (1813) machten Owen so be­ rühmt, dass seine drei Fabriken und die dazugehörige Arbeitersiedlung in New Lanark zu einer Sehenswürdigkeit wurden, zu der neben Sozial­ reformern und Politikern selbst Monarchen wie Kronprinz Nikolaus von Russland pilgerten. Sie waren erstaunt, ein gesundes Arbeitsvolk und aufgeweckte, gewaschene Kinder (die eigentliche Attraktion) vorzufin­ den. Eine Versammlung von Fabrikanten, die Owen 1815 zusammen­ trommelte, um sie für eine gesetzgeberische Initiative zur Begrenzung der Kinderarbeit und Arbeitszeiten sowie eine Verbesserung der Arbeits­ bedingungen zu gewinnen, war trotz seiner Erfolge nicht bereit, ihm auf seinem Weg zu folgen. Die wachsende Enttäuschung auch über die Miss­ achtung seiner Petitionen an Regierung und Parlament trieb ihn zu immer grundsätzlicheren Überlegungen. Die eine, aus aufklärerischen Ideen gespeiste theoretische Feststellung Owens war die, dass die menschliche Persönlichkeit in allererster Linie durch ihre Umwelt, nämlich durch Erziehung und Lebensbedingungen gebildet oder eben deformiert werde, was nichts anderes hieß, als dass die moralisch verkommenen, in Trunksucht, Prostitution oder Krimina­ lität abgeglittenen Arbeiter/innen und Armen «Opfer der Gesellschaft» seien – eine Position, die Owen polemisch gegen die Kirchen, ihre Lehre von der Sündenverfallenheit der Menschen und ihre bigotte Rechtferti­ gung unmenschlicher Arbeitsregimes und Strafen richtete. Das kostete ihn das Wohlwollen eines großen Teils der guten Gesellschaft. Die andere Position, die insbesondere das Fabrikantenmilieu gegen ihn aufbrachte, war seine Feststellung, dass die Maschinerie in rein «kom­ merzieller» Verwendung (den Begriff «kapitalistisch» gab es noch nicht) ein Mittel zur Erzeugung von Elend statt von allgemeinem Wohlstand sei, und dass diesem Grundübel nicht allein durch öffentliche Fürsorge abgeholfen werden könne, deren Kosten trotz engherziger Auslegung der «Armengesetze» ständig stiegen, sondern dass es dazu einer großen Gesellschaftsreform bedürfe, in deren Zentrum die «Unterordnung der Maschinerie» unter die vereinten Produzenten, einschließlich der Arbei­ ter selbst, stehen müsse.

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So schlug er 1819 dem Parlament ebenso wie seinen Kollegen «Master Manufacturers of Great Britain» in einer öffentlichen Adresse die Er­ richtung agrar-industrieller Gemeinden mit 500 bis 3000, optimal rund 1200 Bewohnern vor, um die Massenarmut und Arbeitslosigkeit zu be­ seitigen. Diese Kommunen sollten in großen, im geschlossenen Karree gebauten Gebäudekomplexen mit Küchen und Gemeinschaftsräumen untergebracht und über wenigstens 1000 acres (ca. 400 Hektar) an Land verfügen, von dem sie sich neben ihrer mit modernen Maschinen und in flexibler Arbeitsteilung ausgeübten gewerblichen Tätigkeit selbst ernäh­ ren konnten. Ihre Bewohner würden die Früchte ihrer Arbeit unterei­ nander teilen und gemeinsam verzehren. Einzelpersonen, Pfarreien, Be­ zirke oder auch der Staat sollten eine große Zahl solcher Städtchen (townships) gründen und einrichten, die über kurz oder lang zur Basis­ struktur der Gesellschaft insgesamt werden könnten.16 Das knüpfte an Vorstellungen an, die der Quäker John Bellers bereits 1688 entwickelt hatte, um die Massenarbeitslosigkeit in eine produktive, sich selbst erhaltende Tätigkeit umzuwandeln. Ziel war eine «brüderliche Genossenschaft», in der «die Arbeit und nicht das Geld zum Maßstab aller Erfordernisse» werde. Gleichzeitig war Owens Plan von Gewerbe­ kommunen eine menschenfreundlichere Version des von seinem Teilhaber Jeremy Bentham bereits zwanzig Jahre zuvor entworfenen Systems gro­ ßer «Industrie-Häuser», in denen Sträflinge und Arbeitslose auf fünf Stockwerken unter «panoptischer» Überwachung zum Betrieb von Holzund Metallverarbeitungsmaschinen eingesetzt werden sollten, finanziert von einer «Nationalen Wohltätigkeits-Gesellschaft», die zugleich eine lukrative Aktiengesellschaft wäre.17 Owens Vorstoß fiel weitgehend ins Leere, weil er vollkommen gegen den Strom der Zeit lief. Die genuin kapitalistische Akkumulation auf ­Basis der sich rapide erweiternden industriellen Produktion schälte sich gerade erst heraus. Und mit Wenigem konnte man so rasch zu Reichtum und neuem Kapital kommen wie mit Textilfabriken, die wie Pilze aus dem Boden schossen. So wurde Owen vom Fabrikanten zum sozialen Experi­ mentator. Um den Beweis für die Praktikabilität seiner Vorstellungen zu erbringen, setzte er 1825 alles auf eine Karte, verkaufte New Lanark und erwarb in den USA 30 000 acres (12 000 Hektar) Land mit Farmgebäu­ den und Werkstätten, um darauf eine agrarisch-gewerbliche Großkom­ mune namens «New Harmony» nach seinen Prinzipien zu begründen. Das Projekt, das von seinem ältesten Sohn geführt wurde, erwies sich,

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trotz oder gerade wegen Owens Mäzenatentums und seiner publizisti­ schen Präsenz, binnen drei Jahren als Fehlschlag. Wie einer der Kommu­ narden, Josiah Warren, später schrieb, sei die Siedlung von einer hetero­ genen Mischung aus weltlichen Radikalen, religiösen Sektierern, faulen Theoretikern und prinzipienlosen Gaunern geradezu überrannt worden. Aber vor allem der Konflikt zwischen dem angenommenen «Allgemein­ interesse» und «den Individualitäten der Personen, den Umständen und den Instinkten des Selbstschutzes» habe das Projekt zum Scheitern ge­ bracht – und ihn selbst zum Anarchisten gemacht.18 Ein reines Sekten­ projekt war «New Harmony» trotzdem nicht. Was blieb, war ein Bil­ dungsimpuls, der sich in verschiedenen Gründungen und Stiftungen fortpflanzte und fünf der Söhne Owens, die in Amerika blieben, zu pro­ minenten Wissenschaftlern und Bildungsreformern machte. Völlig ruiniert nach England zurückgekehrt, widmete Owen sich mit vermehrter Energie dem Aufbau praktischer Organisationen, die zu den Vorformen der englischen Arbeiter- und Genossenschaftsbewegung wur­ den. Dazu gehörte die Einrichtung von Arbeitsbörsen und Konsumgenos­ senschaften, in denen ein eigenes «Arbeitsgeld» als Tauschmittel dienen sollte; was wieder scheiterte, aber trotzdem Spuren hinterließ. 1834 wurde ein Allgemeiner Gewerkschaftsbund gegründet, dessen Name «Grand National Consolidated Trades Union» mehr versprach, als er in der Wirk­ lichkeit darstellte – und trotzdem eine erste, wichtige Initiative war. Pa­ rallel dazu gründete Owen 1835 eine «Assoziation aller Klassen aller Nationen», in der er selbst als «Preliminary Father» (Vorläufiger Vater) firmierte und in deren Diskussionen und Papieren der «Sozialismus» zur geläufigen, viel diskutierten Zielvorstellung wurde, ohne jedoch schon als übergeordneter Leitbegriff zu dienen. Da die «Oweniten» eine aktive politische Betätigung mehr oder weni­ ger ablehnten, wurden sie Ende der 1830 er Jahre von der machtvollen Chartisten-Bewegung überspielt und zunehmend aufgesogen, die als ­Arbeiterbewegung genau am entgegengesetzten Ende ansetzte: an der ­politischen Gleichberechtigung, insbesondere dem Wahlrecht. Ihre größte Wirkung übten die Owen-Anhänger über ihre Lese- und Vortragshallen aus, die imposante Tempel einer vielseitigen Massenbildung sein konn­ ten – so namentlich in Manchester, wo der junge Friedrich Engels 1843 als Praktikant im Betrieb seines Vaters sich sonntags unter die bis zu 3000 Be­ sucher mischte, die in diese Volkshochschule strömten. In einer Schwei­ zer republikanischen Zeitschrift berichtete er (unter Pseudonym): «(Man) kann sich anfänglich nicht genug wundern, wenn man die gemeinsten

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­ rbeiter in der Hall of Science über den politischen, den religiösen und A den sozialen Zustand mit klarem Bewusstsein sprechen hört». Die Zu­ sammenkünfte glichen teilweise kirchlichen Gemeindeversammlungen, mit Gesängen und Hymnen zur Orgel, aber «mit kommunistischen Tex­ ten, wobei die Zuhörer stehen». Bei den Vorträgen werde dagegen viel ­gelacht, weil sie auf englische Weise witzig seien. Abends gebe es auch an Werktagen zu Tee mit Butterbroten regelmäßige Bälle und Konzerte.19 Owen selbst wurde ein hauptberuflicher Schriftsteller und Prediger seiner Ideen, die sich von der Erziehung über die Moral bis zur Heirats­ reform erstreckten. Er sprach jetzt von einer «rationalen Religion», die sich in manchem dem anzunähern begann, was der «Unitarismus» eines Newton und anderer aufgeklärter Geister gewesen war. In seinem Buch «The New Moral World» von 1836 beanspruchte er, in einer Mischung aus antikem Gesetzgeber und Religionsstifter, «die Verfassung und Ge­ setze der menschlichen Natur und der Gesellschaft» gültig und gemein­ verständlich dargelegt zu haben.20 Er sprach jetzt gelegentlich von seinen Anhängern als «Kommunionisten», ließ sich als «Social Father» apostro­ phieren, taufte Kinder und dichtete «soziale Hymnen», in denen es etwa hieß: «Community does all posess / That can to man be given; / Commu­ nity is happiness, / Community is heaven.»21 In den Grundstein eines neuen «owenitischen» Kommuneprojekts in Queenswood, Hampshire, das bis 1845 bestand, ließ er die Buchstaben «CM» einmeißeln, «Commencement of the Millenium», Anbruch des Milleniums.22 Dass er sich damit als ein «zweiter Messias» dargestellt habe, geht an seiner historischen Rolle allerdings vorbei.23 Denn abgese­ hen davon, dass diese Zeit ja auch sonst und auf allen Seiten von religi­ öser Schwarmgeisterei erfüllt war, steht der zunehmend millenaristische Grundzug in Owens Weltsicht in keinem Widerspruch zu dem bewun­ dernswert hartnäckigen Pragmatismus seines Wirkens, das stets prakti­ sche Selbsthilfe mit dem reformerischen Ersuchen nach staatlicher Un­ terstützung verband und mit dazu beigetragen haben dürfte, dass in der englischen Tradition eher «die politischen Arbeiterparteien als Organe der Gewerkschaften» betrachtet wurden (wie später die Labour-Partei), statt wie in Zentraleuropa umgekehrt.24

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Auftritt der «Communisten» Der Begriff «Kommunismus» hat, anders als «Sozialismus und «Libera­ lismus», die drei Stadien der Etablierung einer politisch-ideologischen Bezeichnung, die der französische Historiker Bertier de Sauvigny unter­ schieden hat – von der primären morphologischen Schöpfung über die semantische Anreicherung zur lexikalischen Reife25 –, in einem Satz über­ sprungen. Kaum dass das Wort 1840 erstmals öffentlich auftauchte, ver­ breitete es sich «in einer bis dahin unbekannten Geschwindigkeit über den Kontinent» und wurde sogleich «mit einem neuen Konzept assozi­ iert», noch bevor es etwas Derartiges gab. Ja, «das Wort Kommunismus verbreitete sich, bevor es irgendwelche Kommunisten gab».26 Als «Kommunismus» wurden alle Theorien oder Bestrebungen be­ zeichnet, die im (kapitalistischen) Privateigentum das zentrale Hindernis jeder wirklichen Volkssouveränität, politischen Gleichheit und sozialen Egalität, aber auch die Quelle eines neuartigen Massenelends sahen und daher nichts weniger als seine radikale Abschaffung oder Aufhebung forderten. Es handelte sich um eine Strömung, wie der Hegelianer Lorenz von Stein es mit einem fast einfühlsamen Schrecken formulierte, welche «die reine Verneinung des Bestehenden überhaupt» vertrat, hervor­ gehend «aus dem Gefühl der unendlichen Freiheit des Ichs»27, das aus allen hergebrachten Lebensformen, Bindungen, Traditionen herausgeris­ sen war und nach neuen Formen von Assoziation und moralischen Ver­ bindlichkeiten strebte. «Spätestens 1842 war der Begriff Allgemeingut der politischen Spra­ che Frankreichs»28 – die ihrerseits die politische Sprache ganz Europas prägte. Die Motive, sich dieser Bezeichnung zu bedienen, konnten aller­ dings aus den unterschiedlichsten weltanschaulichen Quellen fließen. Entsprechend heterogen waren die verschiedenen «communistischen» Gruppen der 1840 er Jahre auch, bevor sie nach der Revolution 1848/49 fast völlig verschwanden, nur um in der Pariser Commune von 1871 noch einmal kurz aufzuerstehen – und sich ansonsten in die unterschied­ lichsten Initiativen und Ideenwelten zu verlaufen. Das eine Quellgebiet des Kommunismus der 1840 er Jahre waren die «babouvistischen» Geheimbünde um Blanqui, die sich selbst dieses Be­ griffs allerdings nicht bedient hatten. Auguste Blanqui, der vielleicht erste Prototypus eines Berufsrevolutionärs, war nicht nur ein unermüd­ licher Initiator und Organisator, sondern auch ein begabter Autor und

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Redner, der die Dinge in einer Weise vereinfachen und strategisch zuspit­ zen konnte, die an Lenin erinnert. So wenn er 1832 eine Rede vor einer «Gesellschaft der Freunde des Volkes» mit der kategorischen Feststel­ lung begann: «Die Tatsache sollte nicht verschleiert werden, dass es zwi­ schen den Klassen, die die Nation bilden, einen Krieg auf Leben und Tod gibt.» Das Volk sei es gewesen, das am 26. Juli 1830 das alte Regime gestürzt habe – und erleben musste, dass die bourgeoise Mittelklasse sich mit der alten, gestürzten Oberklasse arrangiert und einen Bourbonen als «Bür­ gerkönig» auf den Thron gehievt habe, um sich der «drohenden Inva­ sion des Proletariats» entgegenzustellen. Und deshalb werde ab jetzt der Kampf zwischen proletarischen Massen und bürgerlicher Mittelklasse ebenso unversöhnlich ausgetragen werden wie der gegen das alte Re­ gime. Das sei ein Kampf zwischen (monarchischer) «Legitimität» und (demokratischer) «Volkssouveränität». Zwischen diesen beiden Prinzi­ pien gebe es «keine dritte Flagge, keinen mittleren Grund». Zu erwarten sei sogar, dass die neue Allianz der besitzenden Klassen die ausländi­ schen reaktionären Mächte, allen voran die Truppen des Zarentums, die gerade erst den polnischen Aufstand im Blut erstickt hätten, zu Hilfe rufen würden; «denn die Kosaken fürchten sie weniger als den Pöbel im Arbeitsrock».29 In den folgenden Jahren verschärfte Blanqui seine Position immer mehr. In einem Artikel aus dem Jahr 1834 nennt er die Übernahme nicht nur der «Gemeindeländereien», sondern auch «des akkumulierten Arbeits­ produktes, das mit dem Gattungsbegriff Kapital bezeichnet wird», einen fortgesetzten Akt der Gewalt, dessen logische Konsequenz die Sklaverei sei. Denn: «Der kann nicht frei genannt werden, der, seiner Arbeitsinstru­ mente beraubt, der Gnade der Privilegierten, die seine Eigentümer sind, ausgeliefert bleibt.» Und deshalb verkündete Blanqui als messerscharfes Ceterum censeo, dass der Tod eines Arbeiters für die Nation ein Verlust, der eines reichen Mannes aber ein Gewinn sei. Dabei befinde das Eigen­ tumsrecht sich schon im Abstieg. An seine Stelle werde demnächst «die Assoziation» treten, als die «Grundlage einer Herrschaft der Gerechtig­ keit durch Gleichheit». Dann, im Mai 1839, rief das geheime Komitee der «Gesellschaft der Jahreszeiten» die Bürger zu den Waffen: «Betrogenes Frankreich, das Blut deiner gemordeten Brüder schreit und verlangt Rache. Lass sie furchtbar sein!  … Erhebe dich, Volk, und deine Feinde werden ver­ schwinden wie der Staub vor einem Hurrikan! Schlag zu, vernichte ohne

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Mitleid die verruchten Schergen, die freiwilligen Helfer der Tyrannei! … Vorwärts! Es lebe die Republik!»30 Für diesen Versuch eines bewaffneten Handstreichs wurden Blanqui und sein Gefährte Armand Barbès zu le­ benslanger Haft verurteilt und in einem der «schwarzen Verliese» auf dem Mont Saint-Michel lebendig begraben – nur um 1848, schon von der mythischen Aura revolutionärer Bedingungslosigkeit umweht, von Neuem die Bühne zu betreten und das geschichtsmächtige Wort von der «Diktatur des Proletariats» in den politischen Raum schleudern. Einer der Pioniere des neuen «Communismus» war der Herausgeber der 1840 erstmals erscheinenden Reden und Schriften Robespierres, der Journalist Albert Laponneraye, mit seiner Zeitschrift «L’intelligence». Aber als dieser zusammen mit dem Ex-Priester, Geheimbündler und Schriftsteller Jacques Pillot und mit Théodore Dezamy, einem ehemali­ gen Lehrer und Pamphletisten, im Juli 1840 im Schutze der Kampagne für eine Wahlrechtsreform das «Erste kommunistische Banquet» veran­ staltete, war das Wort schon in der Welt. Ob es freilich viel mehr besagte als Blanquis Losung «Einheit, Gleichheit, Brüderlichkeit», die das jako­ binische Programm im Geiste des Babouvismus radikalisiert (und zu­ gleich der Spannung zwischen «Freiheit» und «Gleichheit» beraubt) hatte, ist fraglich. Wie man überhaupt fragen könnte, ob die «reale, per­ fekte, soziale Gleichheit», die «unlösbare Einheit» oder das «allgemeine Glück» des Volkes, die in den Reden und Toasts auf dem Bankett vor ei­ nem aus Intellektuellen und kleinen Handwerkern bestehenden Publi­ kum beschworen wurden, nicht noch immer eher einem radi­kalisierten Republikanismus entsprangen. Eine Gegenströmung waren die spirituellen Kommunisten, die sich vor allem auf den dissidenten katholischen Ex-Geistlichen Lamennais zu­ rückführten und in dem Schriftsteller Étienne Cabet einen eifrigen Propa­ gandisten fanden, in erster Linie durch seinen populären, 1840 erschiene­ nen utopischen Roman «Reise nach Ikarien». Ikarien ist ein Insel­staat, der dem von Morus durchaus ähnelt, aber gemäß den Vorstellungen Owens von technisch gut ausgerüsteten agrarisch-industriellen Kommu­ nen besiedelt ist, die diesem demokratisch-republikanischen Gemein­ wesen den Charakter eines modernen Arbeiterstaates geben, in dem es weder Armut noch Unmoral gibt.31 Dazu kamen eine Reihe doktrinärer Schriften, in denen Cabet seine «Prinzipien und Doktrinen der Gemeinschaft» als den Kern einer «poli­ tischen Religion» verkündete und sich ausdrücklich als «Reformist, mehr als Revolutionär, und vor allem Demokrat» bezeichnete.32 Zeitweise

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schien es, als könne sich gerade um diese im Kern unpolitische Be­ wegung der «Ikarier» eine Art Partei bilden; aber das Programm, das sich auf die Abschaffung des Erbrechts, öffentliche Fürsorge, Reform der Steuern und eine «kommunistische Erziehung der Kinder» konzen­ trierte, roch zu sehr nach Bettelsuppe, um den revolutionären Geist der Zeit zu treffen.33 So reüssierte Cabet eher als Sektengründer, der einen Auszug in die Neue Welt, nach Amerika, versprach, wo sich «ikarische» Kommunen gründen sollten. Ob sich wirklich 400 000 Aspiranten ha­ ben registrieren lassen, erscheint angesichts der bescheidenen Resonanz seines Aufrufs von 1848 «Allons en Icarie» (Auf nach Ikarien) aller­ dings zweifelhaft; und wenn, dann dürfte dieses Interesse angesichts der Massenarmut dieses Jahrzehnts, das ein Jahrzehnt der großen Auswan­ derungen war, eher praktischer als utopisch-ideologischer Art gewesen sein. Zwischen den Polen von Revolutionismus und Reformismus öffnete sich ein zersplittertes Feld von «kommunistischen» Organen und Per­ sönlichkeiten, die entweder «Republikaner-Communisten» im Sinne des auf 1795 zurückgehenden, jetzt sporadisch wieder verwendeten Begriffs waren; oder sich aus Sozialisten ursprünglich fourieristischer oder saint-­ simonistischer Observanz rekrutierten, wie dem Kunstkritiker Théophile Thoré oder dem gelernten Buchdrucker Pierre Leroux, der mit Heinrich Heine gut bekannt war und gemeinsam mit George Sand 1841 die «Revue indépendante» gründete. In einem offenen Brief («Lettre à George Sand»), der ihrer Selbstver­ ständigung diente – in diesen Jahren die verbreitetste Form, um doktri­ näre Differenzen oder Übereinstimmungen zu markieren  –, schrieb ­Leroux seiner «lieben Freundin», sie sei bereits, «ohne es zu wissen, Kommunistin», so wie er selbst auch. Denn dieses Wort, das in Frank­ reich soviel Erfolg habe, sei vom Volk selbst gefunden worden, das da­ runter einfach «eine Republik, in der die Gleichheit regiert», verstehe. Er selbst würde das Wort «communionisme» vorziehen; aber wichtiger sei, dass «der Kommunismus in Frankreich das Pendant zum Chartismus in England» darstelle.34 Dass es den englischen Chartisten in erster Linie um die Erkämpfung des allgemeinen Wahlrechts ging und sie sich nicht einmal als Sozialisten bezeichneten, zeigt freilich nur, wie unübersichtlich dieses Feld von Be­ griffen, Selbstbezeichnungen und Programmen war. Romantisch-utopi­ sche Schwärmerei, ein tief verwurzelter volkstümlicher Egalitarismus,

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Teil IV: Das Zeitalter der Revolution

politisch-ökonomische Gesellschaftstheorien, ein entschiedener Demo­ kratismus, ein vielseitiger Reformismus sowie ein gewaltgeladenes Be­ rufsrevolutionärstum à la Blanqui, das unter der Losung der «proletari­ schen Diktatur» angetreten war, vermischten sich unter der politischen Parole des «Kommunismus». Für einen ersten, kurzen Moment bündelte sie schon vieles von dem, was später damit begrifflich verbunden sein würde. 1846 lehnte der Deutsche Bundestag mehrheitlich einen gemeinsamen Antrag Preußens und Österreichs ab, die bestehenden Vereinsverbote «auf communistische Vereine, die den Umsturz der bestehenden Ord­ nung der Dinge bezwecken», auszudehnen; zumal Metternich und der preußische König Friedrich Wilhelm  IV. sogar die Deutschkatholiken (eine Reformströmung innerhalb der katholischen Kirche) den «Anhän­ gern der neuen communistischen Secten» gleichstellten. 1848 stellte ein deutscher Beobachter indigniert fest, vor zehn Jahren habe man das Wort «Communismus» noch kaum gekannt, und heute finde man es «in der zweiten Familienbibel Deutschlands, dem ehrwürdigen Brock­ hausischen Conversationslexikon erwähnt» – dergestalt, dass er die größt­ mögliche Kampfansage an die gesamte bestehende Gesellschaft darstelle.35 Johann Hinrich Wichern sprach von einem «Medusenhaupt», welches «das Blut in den Adern der bürgerlichen Gesellschaft erstarren» lasse, was wiederum den Spott der Demokraten auf sich zog, so wenn Karl August Varnhagen von Ense in seinem Tagebuch notierte, dass man in den «obern Kreisen Berlins entsetzlich das Gespenst des Kommunismus» fürchte – eine immer wiederkehrende Metapher in der konservativen, klerikalen oder auch schon liberalen Publizistik. So brauchte niemand Marx’ «Manifest der Kommunistischen Partei» gelesen zu haben, das gleich im ersten Satz dieses «Gespenst des Kom­ munismus» ironisch als den Alptraum der herrschenden Klassen ganz Europas zitierte, um für den Ausbruch der Revolution 1848 eine «große europäische Communisten-Verschwörung» verantwortlich zu machen.36 Aber gleichzeitig war es eben die europäische Konterrevolution, die bür­ gerliche fast noch militanter als die aristokratische, welche alle kommu­ nistischen und sozialistischen, alle revolutionären und reformeri­schen, alle genuin proletarischen oder «kleinbürgerlichen» Bestrebungen im überlebensgroßen Gespenst einer «roten Revolution» zusammenfasste. Zwischen den Anhängern eines reformerischen, demokratischen, auf «Staatshilfe» abgestellten Sozialismus, wie ihn Louis Blanc forderte, und einem aufrührerischen, jakobinischen, auf Diktatur sinnenden Kommu­

4. Eine Neue Welt

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nismus, wie ihn Auguste Blanqui vertrat, wurde beim Barrikadensturm kein Unterschied mehr gemacht. So drängte es den jungen Pariser Rechtsanwalt Alfred Sudre, der als Mitglied der bürgerlichen Nationalgarde an der blutigen Niederschla­ gung des angeblich «roten» Juni-Aufstands 1848 in Paris beteiligt war, gleich im Anschluss und wohl auch zur eigenen Rechtfertigung jene «Par­ tei» zu identifizieren, die seiner Meinung nach hinter dem Gewirr all der Stimmen und Forderungen stand, welche über die Demokratie hinaus eine Veränderung der Eigentumsverhältnisse forderten. Gegen diesen «wahren Feind der Gesellschaft» erhob sich, wie Sudre versicherte, nun «von allen Seiten der Schrei: Tod dem Kommunismus!» («Qu’il périsse, le communisme!») Ihn militärisch niederzuschlagen, sei allerdings nicht genug; man müsse ihn auch geistig besiegen. So unternahm Sudre eine aufwendige geistesgeschichtliche tour d’horizon, ja, er verfasste mit fliegender Feder eine 500 Seiten umfassende erste «Geschichte des Kommunismus», nur um zu zeigen, dass dieser eben erst aufgekommene Kommunismus weder als Theorie noch als Praxis irgendetwas Neues bot, sondern dass «antike Philosophen und Schriftsteller der modernen Zeit seine Formeln bereits längst entwickelt» hatten; dass er also ein ewiger, immer neu auflebender Widersacher von Eigentum und Familie sei, dessen Doktrinen auf nichts als Anarchie und allgemeine Promiskuität hinausliefen.37

ZWEITES BUCH

Das Marx’sche Momentum

TEIL V

Die Geburt der modernen Welt

1. Die Wahrheit des Diesseits

Der gefallene Vorhang

D

ie erste Stellungnahme von Karl Marx zum «Communismus» stammt aus dem Oktober 1842, als er, gerade 24  Jahre alt, zum Haupt­ redakteur der von liberalen Industriellen, Kaufleuten und Intellektuellen gegründeten «Rheinischen Zeitung» in Köln geworden war. Gleich in seinem ersten Editorial hatte er auf den Vorwurf der Augsburger «All­ gemeinen Zeitung» zu reagieren, der führenden liberalen Tageszeitung, sein Blatt habe seine Spalten einem ungenannten Berliner Korresponden­ ten geöffnet, welcher «mit dem Communismus phantastisch kokettirt und platonisch liebäugelt». Marx antwortete im Duktus des idealistischen Linkshegelianers, dass seine Zeitung «den communistischen Ideen in ihrer jetzigen Gestalt nicht einmal theoretische Wirklichkeit zugestehen, also noch weniger ihre praktische Verwirklichung wünschen oder auch nur für möglich halten» könne; dass es allerdings notwendig sei, «diese Ideen einer gründlichen Kritik» zu unterwerfen, statt sie einfach zu denunzieren. Auf prak­ tisch-politische Realisierungsversuche könne man ja «durch Kanonen antworten, sobald sie gefährlich werden»: «…  aber Ideen, die unsere ­Intelligenz besiegt, die unsere Gesinnung erobert (haben), an die der Ver­ stand unser Gewissen geschmiedet hat, das sind die Ketten, denen man sich nicht entreißt, ohne sein Herz zu zerreißen, das sind Dämonen, wel­ che der Mensch nur besiegen kann, indem er sich ihnen unterwirft.»1 Bei dieser redaktionellen Erklärung waren sicherlich taktische Rück­ sichten auf Leser und Geldgeber mit im Spiel. Allerdings hatte Marx sich auch intern «das Einschmuggeln communistischer und socialistischer Dogmen, also einer neuen Weltanschauung, in beiläufigen Theaterkriti­ ken etc.» tatsächlich verbeten. Derartige «weltumwälzungsschwangere und gedankenleere Sudeleien», wie sie ihm gerade aus dem Umkreis sei­ ner ehe­maligen junghegelianischen Studienkollegen, der Berliner «Freien» zuflossen, waren ihm ein Gräuel.2 Und doch spürt man jenseits der be­ tonten Distanzierung den unbestimmten Reiz, der von dieser neuen Welt­ anschauung ausging.

1. Die Wahrheit des Diesseits

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Das war noch ganz dieselbe dunkle Melodie eines heroischen Hyper-­ Idealismus, die der neunzehnjährige Student fünf Jahre zuvor in einem langen Brief an seinen Vater, den Trierer Rechtsanwalt Heinrich Marx, angeschlagen hatte. Von diesem Vater-Sohn-Dialog, der, wie die meisten persön­lichen Dokumente der Marx-Familie, erst mehr als hundert Jahre später von den Hütern seiner «Werke» freigegeben worden ist, lässt sich ein guter erster Blick auf denjenigen werfen, der einmal «Marx» werden sollte. Der Vater hatte im Herbst 1837, ein halbes Jahr vor seinem frühen Tod durch Tuberkulose, an der bereits vier seiner Kinder gestorben wa­ ren, dem Sohn die tiefe Angst und die große Hoffnung offenbart, die er mit ihm als dem einzigen überlebenden männlichen Nachfolger verband: «Ich will und kann meine Schwäche gegen Dich nicht verbergen … Nur wenn  … kein dämonisches Genie imstande sein wird, Dein Herz den besseren Gefühlen zu entfremden – nur alsdann würde ich das Glück fin­ den, das ich mir seit langen Jahren durch Dich erträumte.»3 Das war eine offene Anspielung auf die Goethesche Urszene mit dem mephistophelischen Versucher und damit auf die «faustische Natur» sei­ nes Sohnes. Das «dämonische Genie», vor dem er so eindringlich warnte, trug den Namen Hegel. Der Sohn antwortete, indem er von einer geistigen Odyssee sprach, auf der er «viele Nächte durchwacht, viele Kämpfe durchstritten» habe. Nachdem sein groß angelegter erster Versuch gescheitert sei, ein eigenes «neues metaphysisches Grundsystem» zu entwickeln, habe ihn am Ende «dies mein liebstes Kind  … wie eine falsche Sirene dem Feind in den Arm» getragen – eben der Philosophie Hegels, «deren groteske Felsen­ melodie mir nicht behagte», aber der er nicht länger habe widerstehen können. Denn: «Ein Vorhang war gefallen, mein Allerheiligstes zer­ rissen, und es mussten neue Götter hineingesetzt werden.» Vom reinen Idealismus, den er mit Kant und Fichte zu nähren gesucht, sei er dahin gekommen, «im Wirklichen selbst die Idee zu suchen». Und «immer fes­ ter kettete ich mich selbst an die jetzige Weltphilosophie, der ich zu ent­ rinnen gedacht».4 Er hatte im ersten Anlauf erst einmal vor dem toten Hegel die Waffen strecken müssen, und es würde sechs weitere Jahre brauchen, bis er dessen «Weltphilosophie» endlich überwunden hatte, indem er sie nach der bekannten Formel vom Kopf auf die Füße stellte.5 Dieser ersten großen Odyssee vorausgegangen war die Entdeckung einer anderen «neuen Welt»: «der Liebe, … sehnsuchtstrunkener, hoffnungs­

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Teil V: Die Geburt der modernen Welt

leerer Liebe» – zur vier Jahre älteren Jenny, der Tochter des Regierungs­ rats Ludwig von Westphalen. Dieser Konflikt war mehr als rein konven­ tioneller Art: Marx war nicht nur jünger als sie und Jude (wenn auch getauft); er war vor allem ein unbemittelter Student, der kaum Anstalten machte, die vorgesehene juristische Karriere in Angriff zu nehmen. Hein­ rich Marx hielt es seinem Sohn eindringlich vor, dass, wer «auf die un­ begreiflichste Weise das Herz eines Mädchens davongetragen, das Dir Tausende beneiden», nun auch «die Lebensfrage in eigentlicher Bedeu­ tung» nüchtern anzugehen habe, statt sich in «ekelhafter Zerrissenheit» zu gefallen.6 Jenny hatte sich für diesen heimlichen Geliebten, einen Gefährten ­ihrer Kindertage, von einem alters- und standesgemäßen Bewerber ent­ lobt. Sie würde fast sieben weitere Jahre lang auf ihn warten, bis sie fast dreißig war – nur um in der Emigration mit ihrem «Mohr» und sieben Kindern, von denen nur drei Töchter überlebten, ein entbehrungsreiches, zugleich bürgerliches und abenteuerliches Leben zu teilen. Jahre später, in einem seiner ersten «marxistischen» Entwürfe, würde Marx die indi­ viduelle Liebesbeziehung und Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau, also zwischen Jenny und ihm, als das primäre Beispiel und Inbild aufge­ hobener «Entfremdung» und allseitiger menschlicher Kooperation und Kommunikation bezeichnen – und damit als einen Vorschein des Kom­ munismus. Der Stil und Ton dieser Briefe wie nahezu alles, was aus der Schul- und Studienzeit überliefert ist, verweist darauf, in welchem Grade der junge Marx noch das Produkt humanistisch-universaler Bildung und Erzie­ hung war. Es war eben nicht nur Hegelzeit, es war auch Humboldtzeit; und es war Goethezeit. Der erste Teil des «Faust», so Karl Löwith, sei nicht zufällig parallel zur «Phänomenologie des Geistes» im Jahr 1806 vollendet worden, als Napoleon auf seinem Schimmel durch Jena und Weimar ritt, die «Weltseele zu Pferde». Was bei Hegel der «Weltgeist», das «Absolute», seien bei Goethe die «Urphänomene», so Löwith.7 Von Goethe stamme schließlich die Aussage, «der Mensch könne es bei der Betrachtung des Weltalls nicht unterlassen, Ideen zu wagen und Begriffe zu bilden, mit denen er das Wesen Gottes oder der Natur zu begreifen versucht».8 So sehr Marx und Engels später über den wasserköpfigen «Idealismus» der Deutschen gelästert haben, die die Revolutionen der anderen Völker stets nur «im Geiste» nachvollzogen hätten, so sehr waren sie selbst Ge­ schöpfe dieses deutsch-philosophischen Universalitätsanspruchs. Unter

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den drei Hauptelementen, aus denen der begnadete Popularisator Engels den «wissenschaftlichen Sozialismus» marxistischer Prägung destillierte – aus der englischen Nationalökonomie, dem französischen Sozialismus und der deutschen Philosophie –, haben die beiden letztlich immer den Primat der «deutschen Philosophie» verteidigt.9 Denn die Dialektik, die Marx der Hegelschen Philosophie entnommen und in den modernen So­ zialismus eingeführt hatte, sollte in Engels’ später Formulierung ja nichts weniger darstellen als «die Wissenschaft von den allgemeinen Bewe­ gungs- und Entwicklungsgesetzen der Natur, des Menschengeschlechts und des Denkens».10 Und der Platz für diese historisch-materialistische Universalwissenschaft konnte kein anderer sein als der, den in der Ge­ schichte aller menschlichen Zivilisationen die Religion besetzt hatte. Mit der Kritik der Religion hatte für sie beide alles angefangen – aller­ dings auf eine sehr unterschiedliche Weise. Ob Karl Marx seine familiä­ ren jüdischen Vorprägungen tatsächlich so leichthin hat abschütteln können, wie sein erster Biograf Franz Mehring11 unterstellt hat, ist zu bezweifeln. Immerhin stammte er väterlicher- wie mütterlicherseits aus rabbinischen Familien, die bedeutende Schriftgelehrte in Krakau, Padua oder Mainz zu ihren Vorfahren zählten, und die «Marx Levy» hatten über weite Strecken der Gemeinde in Trier vorgestanden. Gewiss, schon Karls Vater Heinrich (Herschel) Marx hatte sich in der «Franzosenzeit» diesem familiären Erbe durch eine Haltung aufgeklär­ ter Freigeistigkeit entzogen, gestützt durch den Eintritt in den franzö­ sischen Staatsdienst und in eine Freimaurerloge. Aber 1814 heiratete er mit Henriette Preßburg eine Frau aus orthodoxer jüdischer Familie und natürlich nach jüdischem Ritus. Dass er sich 1816 einer christlichen Taufe unterzog, war nacktem Zwang geschuldet, da er unter dem preu­ ßischen Regime seinen Beruf als Rechtsanwalt ungetauft nicht mehr hätte ausüben können. Für den siebenjährigen Karl kann es keine un­ dramatische Situation gewesen sein, als er und sechs Geschwister 1825 in der elterlichen Wohnung vom protestantischen Regimentspfarrer en bloque getauft wurden – zu einer Zeit, in der sein Onkel Samuel noch Trierer Oberrabbiner war und seine Mutter aus familiären Rücksichten die Taufe vorerst verweigerte. Bei ihm wird man von einem generellen Widerwillen gegen religiöse Konfessionen, die Menschen unter derartige Lebens- und Gewissenszwänge stellen, ausgehen können. Die väterliche Position eines aufgeklärten, deistisch inspirierten Huma­ nismus konnte dem jungen Marx aber auch nicht genügen. Es brauchte

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Teil V: Die Geburt der modernen Welt

mächtigere Gegengewichte, die das Gewicht der familiären Tradition aufwogen. Die zentrale Metapher seines langen Briefs an den Vater stammte denn auch ganz aus der jüdischen Bilderwelt: «Ein Vorhang war gefallen, mein Allerheiligstes zerrissen, und es mussten neue Götter hineingesetzt werden.» Auch sein berühmter späterer Satz, wonach «die Tradition aller toten Geschlechter … wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden (lastet)»12 , mag aus dieser lebensgeschichtlichen Erfahrung gespeist gewesen sein. Immerhin war Marx, neben seinem kurzzeitigen Mentor Moses Hess und seinem ungeliebten Jünger und Rivalen Ferdinand Lassalle, so ziem­ lich der erste prominente jüdische Sozialist und Kommunist überhaupt. Damit eröffnete er eine bedeutende Komponente dieser neuen welt­ geschichtlichen Strömung. Wenn er sich sein Leben lang mit den immer stärker werdenden antisemitischen Gegenströmungen innerhalb der so­ zialistischen Bewegungen wie unter ihren erbittertsten Feinden, denen er selbst bald genug als eine Hauptzielscheibe diente, niemals hat beschäf­ tigen wollen; wenn er vielmehr seinerseits in öffentlichen und privaten Äußerungen bedenkenlos antijüdische Klischees seiner Zeit verwendete, dann zeugte das von mehr als nur einem blinden Fleck seiner Wahrneh­ mung. Eher zeugte es von etwas Unaufgelöstem in seiner ureigenen psy­ chischen und geistigen Tiefenstruktur. Sein Essay «Zur Judenfrage»13 von 1844 und die erstaunlich schlich­ ten Gleichsetzungen von «Judentum» und «jüdischem Geist» mit «Eigen­ nutz», «Schacher» und «Geldwirtschaft», die er darin als Klischees ver­ wendete, haben ihm posthum sogar den Ruch eines Mitbegründers des modernen Antisemitismus eingetragen.14 Allerdings ist vorgreifend fest­ zuhalten, dass diese Jude-Geld-Gleichung im «Kapital» und seinen an­ deren Schriften zur politischen Ökonomie analytisch so gut wie keine Rolle spielte. In seinen frühen Texten hatte Marx den modernen, als ein «Produktionsverhältnis» gefassten Kapitalismus noch gar nicht im Auge. Ebenso wenig ging es ihm um die Juden als eine aparte soziale Gruppe, die durch bürgerliche und rechtliche Gleichstellung zu «eman­ zipieren» sei, was für ihn selbstverständlich war, aber viel zu kurz griff. Sondern wenn schon, so die Pointe dieser zeitkritischen Einlassung, müsse es sich um die Emanzipation der bürgerlichen Gesellschaft als ganzer von ihrem «jüdischen» (sprich: ihrem kommerziell-egoistischen) Geist handeln – der sich «erst in der christlichen Welt» vollendet habe.15 Hannah Arendts Diagnose hat den Nerv dieser psychologischen Dis­ position vielleicht am genauesten getroffen, als sie schrieb: Die erzwun­

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gene Taufe habe «die jüdische Intelligenz in einen erbitterten Gegensatz zu einem Stand der Dinge, der auf Charakterlosigkeit Prämien setzte», stellen müssen, weshalb die gesamte erste Generation derer, deren Väter (wie im Fall Marx) oder die selber (wie Ludwig Börne oder Heinrich Heine) sich diesem Zwang gebeugt hatten, unweigerlich zu politischen Rebellen werden mussten. Die «antijüdischen Äußerungen von Marx und Börne» (oder auch Heine) ließen sich, so Arendt, «nur verstehen als Ausdruck dieses innerjüdischen Konflikts, und man missversteht sie ganz und gar, wenn man in ihnen einen jüdischen ‹Selbsthass› zu ent­ decken meint».16 Ganz anders und viel direkter litt der junge Friedrich Engels unter seinen biografischen und religiösen Vorprägungen. In seinem Fall war das ein strenger, pietistisch eingefärbter Calvinismus, der den Alltag seiner aus kleinen Verhältnissen zu großem Wohlstand gekommenen Familie bergi­ scher Textilfabrikanten durchtränkte. So war die Adoleszenz des Juniors bis weit über die Pubertät hinaus von Schüben eines intensiven Ringens um die «Gemeinschaft mit Gott» und von einem steten inneren Konflikt zwischen Sündenangst und Wissensdrang geprägt, aus dem der Heran­ wachsende sich zunächst in hochromantische Selbstentwürfe als tatenund freiheitsdurstiger Jungsiegfried flüchtete.17 Als Achtzehnjähriger erprobte er sein literarisches und polemisches Talent allerdings bereits in einem polemischen Porträt seines heimischen Wuppertal als eines «Zion der Obskuranten», das er in Gutzkows jung­ deutschem «Telegraph für Deutschland» unter Pseudonym publizierte – mit dem gewünschten Effekt großer Entrüstung. Drastische Bilder phy­ sischer und moralischer Verelendung der Fabrikarbeiter und Haus­weber, der schwindsüchtigen Gerber und ihrer zur Arbeit gezwungenen Kinder zeugten gewiss von früher sozialer Empfindlichkeit des jungen Engels, dienten allerdings dem übergeordneten Zweck, die Bigotterie der pietis­ tischen Groß- und Kleinbürger und ihrer fanatischen Sonntagsprediger zu brandmarken, und besonders die der «reichen Fabrikanten», zu ­denen seine eigenen Eltern und Verwandten zählten: «(Ein) Kind mehr oder weniger verkommen zu lassen, bringt keine Pietistenseele in die Hölle, besonders wenn sie alle Sonntage zweimal in die Kirche geht».18 Diese «Briefe aus dem Wuppertal» waren auch Rache dafür, dass er als ältester Sohn und designierter Erbe nach unerbittlichem ­väterlichen Ratschluss seine Gymnasialausbildung zugunsten einer kaufmännischen Lehre hatte abbrechen müssen, um später einmal den Familienbetrieb in

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Elberfeld oder eine der Filialen weiterzuführen. Es bedurfte allerdings erst dieser Entfernung aus dem elterlichen Haus, damit Jung-Friedrich durch zügellose Kneipentouren mit anderen Handels­gehilfen und durch einen veränderten Habitus sich eine solide opposi­tionelle Statur sowie durch ausschweifende Lektüren einen eigenen geistigen Standpunkt ver­ schaffen konnte. Vor allem mit David Friedrich Strauß’ «Leben Jesu, kritisch bearbei­ tet»19, einer erregt diskutierten theologisch-historischen Abhandlung über die Ursprünge des Christentums, die statt aus göttlicher Offenbarung und gesicherter Überlieferung sei es aus jüdischen, orientalischen und hellenistischen Mythen geschöpft seien, hatte Engels’ «religiöser Frei­ heitskampf», wie sein erster Biograf Gustav Mayer mit angemessenem ­Pathos schrieb, begonnen; aber gewonnen war er noch längst nicht.20 «Ich kann des Nachts nicht schlafen vor lauter Ideen des Jahrhun­ derts», schrieb er an einen Freund im Frühjahr 1839. Da war er wie viele seiner Generationsgenossen «durch Strauß auf den strikten Weg zum Hegeltum» gekommen und nahm als halbgebildeter Autodidakt, der er notgedrungen war, «bedeutende Dinge aus diesem kolossalen System» in sich auf.21 Das war derselbe Ton dramatischer Exaltation, den wir zur gleichen Zeit bei dem zwei Jahre älteren Marx finden – ein Gedanken­ fieber ganz aus dem Gefühl gespeist, «dass man an der Schwelle einer so fundamentalen Aufklärungsperiode stünde, wie die Geschichte noch keine hervorgebracht habe».22 Auch bei dem jungen Engels war also ein Vorhang gefallen, stand das Allerheiligste leer und mussten neue Götter hineingesetzt werden. Wäh­ rend der Überfahrt von Rotterdam nach London mit einem der neuen Dampfschiffe im Frühjahr 1840 verglich er die Grenzenlosigkeit des vor dem Bug aufschäumenden Meeres mit dem Moment, «als sich zum ers­ ten Male die Gottesidee des letzten Philosophen vor mir auftat, dieser riesenhafteste Gedanke des neunzehnten Jahrhunderts».23 So fügten sich Gott und das Meer, Hegel und die Dampfschifffahrt irgendwie zu einem pantheistisch-progressiven Weltgemälde. Auch diese Reisekorrespondenz war für die Zeitschrift der «Jungdeut­ schen» verfasst, denen Engels sich längst zugehörig fühlte, mit dem ver­ storbenen Ludwig Börne als seinem eigentlichen Idol. Mit Rücksicht auf die Familie schrieb er seine immer zahlreicheren, weit über die opposi­ tionelle Presselandschaft gestreuten Artikel unter dem Pseudonym «Fried­ rich Oswald»; und dieses literarische Alter Ego würde er bis ins Jahr 1845, also bis in die Anfänge seiner aktiven revolutionären Tätigkeit

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­ inein, beibehalten. Das trug Züge einer sozialen und mentalen Dop­ h pelexistenz, wie er sie die längste Zeit seines Lebens weiterführen würde. Als er 1841/42 während der Ableistung seines preußischen Militär­ dienstes in Berlin in dem für seinen zügellosen Lebensstil berüchtigten «Doctorclub» der Junghegelianer verkehrte – demselben, den Marx im Jahr zuvor mit seinem ersten Mentor, dem dissidenten Theologen Bruno Bauer, in Richtung Bonn verlassen hatte –, übte der Wuppertaler Fabri­ kantensohn sich zum Abschied im Sommer 1842 schon spielerisch in ­einer weit riskanteren Rolle, die etwas von einer Initiation hatte. In einem langen, blasphemischen Heldengedicht «Die frech bedrängte, jedoch wunderbar befreite Bibel oder Triumph des Glaubens», einer Faust-Travestie, schließt Mephisto beim Vorspiel im Himmel mit Gott­ vater eine Wette auf den baldigen Sieg des Atheismus über das Christen­ tum. Die Parteigänger des Teufels, die «Freien Deutschen», treten da­ raufhin zu einem Ketzerkonzil in Bockenheim bei Frankfurt (dem Sitz des Deutschen Bundes) zusammen, um ihr Komplott gegen Gott, Engel, Pfaffen und Fürsten in einem großen Hexensabbat zum Sieg zu führen. Schlimmer als alle übrigen Höllenbuben (die prominenten Junghegelia­ ner), schlimmer sogar als der feurige Marx, den Engels nur aus Erzäh­ lungen kannte («Ein schwarzer Kerl aus Trier, / ein markhaft Ungetüm»), wütet in diesem verkehrten Mysterienspiel ein «Oswald, der Monta­ gnard»: «Er spielt ein Instrument: das ist die Guillotine, / auf ihr beglei­ tet er stets eine Cavatine; / stets tönt das Höllenlied, laut brüllt er den Re­frain: / Formez vos bataillons! Aux armes, citoyens!»24

Der kurze Weg zum «Communismus» Der Weg von der «Democratie» zum «Socialismus» und «Communis­ mus» war nach den Umständen und Eindrücken der Zeit durchaus schlüssig und erstaunlich kurz – auch wenn der junge Doktor Marx sich Zeit nahm, bis er endlich bereit war, diesem aus Frankreich stammenden neuen Begriff auch eine «theoretische Wirklichkeit» zuzuschreiben. So­ lange er Hauptredakteur der «Rheinischen Zeitung» war (von Anfang Oktober 1842 bis Ende Februar 1843), ging es vor allem um bürgerliche Rechte und Freiheiten, allen voran die Pressefreiheit, die er in seinem ersten, Aufsehen erregenden Text als «das positive Wesen der Freiheit» überhaupt bezeichnete, dem er die bornierten, im Kern staatsfeindlichen Partikularinteressen der preußischen Landstände gegenüberstellt. Das

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implizierte, dass der Staat, gut hegelianisch gedacht, noch immer das Gemeininteresse verkörperte.25 Viel beachtet, weil mit einem ungewöhnlichen Zug zu reportagehafter Anschaulichkeit, waren zwei längere Artikel von Marx über das durch Steuern und Konkurrenz verursachte Elend der Moselwinzer und über die Verschärfung der Gesetze gegen den Holzdiebstahl, die die alten Ge­ meinrechte kassierten und einen Indikator wachsender Verarmung im ländlichen Raum lieferten – ohne dass Marx allerdings soziale Schutz­ rechte oder Schutzzölle eingefordert hätte.26 Vielmehr war und blieb die «Rheinische Zeitung» ein Organ des Freihandels und Marx ein entschie­ dener und lebenslanger Verfechter dieser liberalen Kernidee und Forde­ rung, eben weil sie der Durchsetzung moderner Produktions- und Lebens­ verhältnisse diente und es ein Zurück in alte, vermeintlich schützende ­Verhältnisse nicht gab. Das war seine Grundauffassung von Anfang an. Lösungen für eine Bekämpfung der Armut mussten neuer Art sein. Soweit es über einen entschiedenen liberalen Konstitutionalismus hi­ naus eine politische Agenda gab, war es das Eintreten für ein geeintes Deutschland  – was allerdings eine revolutionäre Forderung war. Eben wegen dieses Verdachts, aber auch wegen ihrer Angriffe auf den Zaren und die «Heilige Allianz» wurde die «Rheinische Zeitung» bereits im April/Mai 1843 verboten. Darin, mehr als in gelegentlich eingeschmug­ gelten sozialistischen oder kommunistischen Texten, lag für die preußi­ schen Zensoren der Stein des Anstoßes – und für die Leser die Attraktion des Blattes. Unter der Ägide von Marx war die Auflage kontinuierlich gestiegen (auf dreieinhalbtausend); genug, um sich zu tragen. Die von den Eigentümern unter lebhaftem Bedauern Ende Februar ausgespro­ chene Kündigung konnte das Projekt nicht mehr retten. Tatsächlich waren liberale und sozialistische Weltanschauungen und Milieus im Vormärz weniger klar geschieden, als man annehmen würde. Moses Hess, Fabrikantensohn und schon bekennender Kommunist, be­ trieb im Sommer 1842 in Köln einen Lese- und Studienzirkel zur «socia­ len Frage», und also auch zum «Socialismus» und «Communismus», an dem eine Reihe jüngerer Industrieller und Bankiers, Ärzte und Anwälte, Offiziere und Journalisten sich beteiligten – Personen, deren Wege sich in den kommenden Jahren trennen würden: Da waren etwa der Industrielle Gustav Mevissen und der Bankier Ludolf Camphausen, beide über­ zeugte Liberale, von denen der letztere sogar zum Kopf der preußischen Märzregierung von 1848 werden würde; und andererseits der Arzt Carl d’Ester oder der Offizier Fritz Anneke, die als kommunistische Aktivis­

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ten in eben dieser Revolution tätig werden würden. Jetzt, im Jahr 1842, las man einträchtig Texte wie Pierre-Joseph Proudhons «Was ist Eigen­ tum?», Louis Blancs «Organisation der Arbeit», Texte des Fourier-Jün­ gers Victor Considérant und anderer französischer Sozialisten, angesto­ ßen nicht zuletzt durch Lorenz von Steins vieldiskutierten Bericht über den «Socialismus und Communismus im heutigen Frankreich».27 Marx hat diesen fluktuierenden Zirkel offenbar ebenfalls frequentiert, scheint aber von den Lektüren wenig beeindruckt gewesen zu sein. Seine Verwahrung gegen «das Einschmuggeln communistischer und socialisti­ scher Dogmen» galt vermutlich gerade seinem Mitredakteur Moses Hess.28 Aber nicht der ältere und bekanntere Hess, sondern der unbe­ kannte junge Marx war es, der trotz der Kürze seines Wirkens einen nachhaltigen Eindruck hinterließ. Gustav Mevissen schilderte ihn später, nicht ohne Bewunderung, als einen «starken Mann von 24 Jahren, dem dickes schwarzes Haar aus Wangen, Armen, Nase und Ohren quoll» (ein Hauch von Schwefel umschwebt dieses Porträt), der «dominierend, ungestüm, leidenschaftlich und voll grenzenloser Selbstsicherheit» auf­ getreten, dabei «tiefernst und gelehrt» gewesen sei.29 Die Entlassung als Leitender Redakteur, der ersten und einzigen festen Stellung, die Marx in seinem Leben eingenommen hat, hat ihn zweifellos radikalisiert. Es hat seinen Bruch mit dem liberalen Bürgertum auch nicht gemildert, dass einige seiner vermögenden Arbeitgeber und Gön­ ner ihn «für die Opfer, die Sie unserer gemeinschaftlichen Sache gebracht haben», durch eine großzügige Umlage entschädigten und ihn noch in den Jahren seines Exils, als er schon Kommunist war, weiterhin unterstützten. Aus diesem Kreis kamen im Revolutionsfrühling 1848 schließlich die ers­ ten Mittel zur Gründung der «Neuen Rheinischen Zeitung», die als Organ der revolutionären Demokratie auftrat, bis deren Agitationen für einen Bürgerkrieg und sogar für einen Weltkrieg ihnen endgültig zu riskant wur­ den.30 Der «Heuchelei, der Dummheit, der rohen Autorität und  … Wort­ klauberei müde», hatte Marx sich nach seiner Entlassung wieder in die Studierstube zurückgezogen – allerdings nach Bad Kreuznach, wo Jenny mit ihrer Mutter Caroline von Westphalen in der Sommerfrische war. Hier haben sie im Juni 1843 in einer protestantischen Kirche endlich in aller Stille geheiratet – mit dem stillen Segen der Schwiegermutter, aber ohne Familie und Gäste. Marx trug sich mit einem riskanten neuen Pro­ jekt: der Herausgabe «Deutsch-Französischer Jahrbücher» von Paris aus,

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gemeinsam mit dem radikalen Demokraten und Publizisten Arnold Ruge, der nach dem Verbot seiner «Deutschen Jahrbücher», dem informellen Zentralorgan der Linkshegelianer, in die Schweiz ausgewichen war. Da es nun beschlossene Sache war, nach Paris zu ziehen, würden sie, wie Marx in einer Serie programmatischer Briefe an Ruge schrieb, ge­ rade dort, «in … der alten Hochschule der Philosophie … und der neuen Hauptstadt der neuen Welt», die Überlegenheit der deutsch-philoso­ phischen Ideen gegenüber den französisch-doktrinären Prinzipien zur Geltung bringen: nämlich «dass wir nicht dogmatisch die Welt antizi­ pieren, sondern erst aus der Kritik der alten Welt in die neue finden wol­ len». Noch deutlicher, aber auch anspruchsvoller: «Ich bin nicht dafür, dass wir eine dogmatische Fahne aufpflanzen, im Gegenteil  … So ist ­namentlich der Kommunismus eine dogmatische Abstraktion … Dieser Kommunismus ist selbst nur eine aparte, von seinem Gegensatz, dem Privatwesen, infizierte Erscheinung des humanistischen Prinzips …, weil er selbst nur eine besondere, einseitige Verwirklichung des sozialis­ tischen Prinzips ist … Wir haben uns ebensowohl um die andre Seite, um die theoretische Existenz des Menschen zu kümmern, also Religion, Wissenschaft etc.  … Wie die Religion das Inhaltsverzeichnis von den theoretischen Kämpfen der Menschheit, so ist es der politische Staat von ihren praktischen. Der politische Staat drückt … sub specie rei publicae alle sozialen Kämpfe, Bedürfnisse, Wahrheiten aus.»31 Und abschließend: «Unser Wahlspruch muss also sein: Reform des Bewusstseins nicht durch Dogmen, sondern durch Analysierung des mystischen, sich selbst unkla­ ren Bewusstseins, trete es nun religiös oder politisch auf. Es wird sich dann zeigen, dass die Welt längst den Traum von einer Sache besitzt, von der sie nur das Bewusstsein besitzen muss, um sie wirklich zu besitzen.»32 Man merkt, wie hier einer seinen Ton und seine Berufung fand. Aber zuvor musste er noch einmal an Hegel als dem geistigen Übervater Maß nehmen, um dessen «Weltphilosophie» endlich ein eigenes, überlegenes Gedankensystem entgegenstellen zu können. Also vergrub Marx sich im Hochzeitssommer 1843 im Kreuznacher Salon seiner Schwiegermutter zwischen Bergen von Büchern und Manuskripten, so wie er das ab jetzt immer und überall tun würde, um in manischen, meist nächtlichen Leseund Schreibschüben mit diesem «Dämon» seiner Jugend ein für allemal fertig zu werden. Mit der «Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie» (eigentlich: Welt- und Geschichtsphilosophie) beginnt das eigentliche Marx’sche Denken – dem wir, ohne einen Blick auf Hegel selbst zu wer­ fen, kaum werden nähertreten können.

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Hegel und der moderne Geschichtsbegriff Die «Geburt des modernen Geschichtsbegriffs in der Hegelschen Philo­ sophie» ist Hannah Arendt zufolge die vielleicht «schwerwiegendste Folge der Französischen Revolution» gewesen.33 Unter deren Einfluss hatte Hegel sein Gedankensystem zu formulieren begonnen. Insoweit war es kein Zufall, dass er in seinen letzten Berliner «Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte» in der schon zitierten, hymnischen Wen­ dung noch einmal den «herrlichen Sonnenaufgang» jener Revolutions­ jahre besungen hatte  – obwohl für ihn der preußisch-protestantische ­Beamtenstaat nun als die höchste, historisch bisher erreichte Stufe der Entfaltung des (göttlichen) «Geistes» in der Geschichte firmierte. Hören wir in die «groteske Felsenmelodie», gegen deren Sirenen­ gesang der junge Marx zunächst so heftig und so vergeblich angekämpft hatte, ein wenig hinein. Einige Leitmotive treten deutlich hervor und vermitteln mit ihren Wiederholungen und aphoristischen Zuspitzungen etwas von der suggestiven Kraft, die von dieser Weltanschauung einmal ausgegangen ist. Alles beginnt mit Hegels Feststellung, dass «die philosophische Welt­ geschichte  … die Weltgeschichte selbst» sei.34 Denn ohne die axioma­ tische Annahme, dass es «in der Weltgeschichte vernünftig zugegangen ist»35, könnten wir sie gar nicht erfassen, allenfalls als ein wüstes Durch­ einander von Ereignissen und eine sinnlose Folge von Aufstiegs- und Verfallsgeschichten. Das bedeutete nicht, dass man sich die Geschichte nach irgendwelchen moralischen Maximen zurechtbiegen dürfe, im Ge­ genteil: «Die Geschichte … haben wir zu nehmen, wie sie ist». Die his­ torische Empirie, zu der für Hegel auch soziologische, ökonomische oder geographische Tatsachen gehörten, lieferte vielmehr erst das Mate­ rial eines philosophischen Verstehens, welches sich selbst vertrauen konnte. Denn, so einer seiner eingängigen Aphorismen: «Wer die Ge­ schichte vernünftig ansieht, den sieht sie auch vernünftig an.»36 Das hieß: Selbst wenn man die menschliche Geschichte als eine ein­ zige, blutige Schlachtbank betrachtete, konnte sich dem philosophisch-­ spekulativen Verstehen durch alles Toben der Leidenschaften und alles Negative hindurch dennoch eine «List der Vernunft»37 erschließen, die hinter dem Rücken der Handelnden am Werk war und die insgesamt eine aufsteigende Linie der Entwicklung von niederen zu höheren For­ men menschlicher Gesellschaft enthüllte. Der «Geist», der sich im Fort­

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gang der Geschichte als «Weltvernunft» zeigte, konnte aber nichts ande­ res sein als die Erfüllung eines göttlichen Weltenplans, den die Menschen natürlich nicht kennen können, obwohl sie selbst es sind, die ihn zu er­ ahnen und zu erfüllen suchen. So gilt als ein weiterer, zentraler Satz: «Die Weltgeschichte ist der Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit  – ein Fortschritt, den wir in seiner Notwendigkeit zu erkennen haben.»38 «Denn dies ist das Siegel der absoluten hohen Bestimmung des Men­ schen, dass er wisse, was gut und was böse ist, … dass er Schuld haben kann».39 Nur deshalb sind die Menschen fähig, sich einen Rahmen zu schaffen, «worin das Individuum seine Freiheit hat und genießt» – näm­ lich den Staat als «das sittliche Ganze». Der Staat ist somit «die göttliche Idee, wie sie auf Erden vorhanden ist»; und deshalb ist auch er allein «der Gegenstand der Weltgeschichte».40 Nur Völker, die Staaten bilden, zählen darin; staatenlose sind geschichtslose Völker. Das Verdienst der großen Männer liegt daher darin, dass sie, auch wenn sie partikulare Eigeninteressen verfolgten, als «Geschäftsführer des Weltgeistes» gewirkt haben.41 In ihnen und ihrem Werk verkörpert sich «der Geist des Volkes selbst», der jeweils spezifisch und unverwech­ selbar ist. Deshalb können Verfassungen und Gesetze, wie schon Rous­ seau richtig bemerkt habe, nur als «volonté générale», als ein einmütiger Wille realisiert werden. Den Staat auf Mehrheiten zu stützen, hieße, dass es gerade keine Freiheit gäbe, weil die Verfassung dann «nur ein willen­ loser Mittelpunkt» wäre, während die Allgemeinheit des Staates und sein historischer Zweck gerade verfehlt würden.42 Dieses Allgemeine, also Wahre, Vernünftige und Sittliche des Staates, verkörpert sich, um Hegels Argumentationsfaden weiter zu folgen, vor allem in der menschlichen Bildung, deren Mittelpunkt und Grundlage die jeweilige Religion darstellt. Auf diesem Fundament erhebt sich die Kunst, die das Wahre einer Kultur zur sinnlichen Anschauung bringt, und schließlich die Philosophie als «die höchste, freieste und weiseste Gestaltung»43, worin der «Geist» der Geschichte recht eigentlich erst zum menschlichen Selbstbewusstsein wird. Allerdings enthüllt sich in Hegels Weltgemälde, anders als in Platons naturhaft gesetztem Idealstaat, ein tatsächlicher, empirischer und not­ wendiger «Stufengang der Geschichte», der zugleich eine globale Hie­ rarchie der Völker in der nun endlich völlig entdeckten Welt (die Platon noch gar nicht kennen konnte) abbildet: Während das schwarze Afrika mit seinen Naturwesen in vorstaatlicher Geschichtslosigkeit liegt und das koloniale Amerika als ein möglicher Kontinent der Zukunft vorerst

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ebenfalls außer Betracht bleibt, ist es zunächst Asien oder der Orient ­gewesen, mit dem die Weltgeschichte als eine Geschichte von Religion, Dichtung, Philosophie und Staatlichkeit begonnen hat. Allerdings sind den «Chinesen  … ihre moralischen Gesetze wie Naturgesetze, äußer­ liche positive Gebote»; und deshalb fehlt ihnen die «Freiheit, durch wel­ che die substantiellen Vernunftbestimmungen erst zu sittlichen Gesin­ nungen werden».44 Die asiatischen und orientalischen Kulturen sind ­Hegel zufolge einer sittlichen Höherbildung aus sich heraus nicht fähig. Diese Höherbildung ist das Privileg und die geschichtliche Tat des Abendlandes, und vor allem Europas. Freilich umfasst sie wieder eine lange Geschichte von Entwicklungsstufen, die mit den Lebensaltern der Menschen vergleichbar sind. Die großen Dichter und Philosophen des antiken Griechenlands konnten schon zwischen dem persönlichen, kon­ kreten und dem allgemeinen, sittlichen Dasein des Menschen unter­ scheiden – um den Preis allerdings, dass damit «die Isolierung der Indi­ viduen voneinander und vom Ganzen» eintrat und «die einbrechende Eigensucht» sich «auf Kosten des Ganzen» als eine noch unwahre Sub­ jektivität zur Geltung bringen konnte.45 Die naive «schöne Sittlichkeit», die in dieser griechischen Jugendzeit des Abendlandes herrschte, lebte eben noch ganz «in unbefangener Einheit mit dem allgemeinen Zweck»; sie konnte sich noch längst nicht «zur freien Subjektivität» eines Staates fortbilden.46 Im Römischen Reich, dem Mannesalter der abendländi­ schen Menschheit, begann der Staat sich schon «abstrakt herauszu­ heben», aber er «unterjocht die Individuen» und verwandelte sie in «rechtliche Personen als Private», die deshalb einem Pantheon von Göt­ tern huldigten, bevor der Kaiser sich schließlich dem Christengott un­ terwarf. In alldem ging die Weltgeschichte, einer inhärenten Logik folgend, im­ mer weiter von Osten nach Westen voran: «Der Orient wusste und weiß nur, dass Einer frei ist», nämlich der oberste Despot. Dagegen wusste immerhin «die griechische und römische Welt, dass Einige frei seien», die Aristokraten und Führer der Parteien und eben die Dichter und die Philosophen. Dass aber «Alle frei sind», das habe erst die «germanische Welt» und das vom Christentum geschaffene Europa erfahren – indem es schließlich den modernen monarchischen Staat als höchste und ange­ messenste Form des «sittlichen Ganzen» ausgebildet habe.47 Entscheidender war dafür die Reformation, die – zumal in ihrer luthe­ rischen Form – «die Fahne des freien Geistes …, unter der wir dienen und die wir tragen», aufrichtete. Der Staat habe sich damit von der

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Herrschaft der Römischen Kirche emanzipiert und das Weltliche sich vom Stigma der Sündhaftigkeit befreit. So stand die priesterliche Ehe­ losigkeit seither nicht mehr über Ehe, Familie und Gesellschaft; und mit dem Ende der katholischen Ächtung von Zins und Erwerb waren auch «die Industrie, die Gewerbe … sittlich geworden».48 Mit der Philosophie der Aufklärung, so Hegels Argumentation, «kom­ men wir an das letzte Stadium der Geschichte, an unsere Welt, an unsere Tage»49 – an das Ende der Geschichte also. Aber an diesem Punkt der Erfüllung der ganzen Welthistorie tritt Hegels Geschichtsschau zufolge ein Bruch ein, eine Paradoxie, die dem grausamen Rätsel der griechi­ schen Sphinx gleicht. Denn wenn die «praktische Vernunft, als freier und reiner Wille», wie Kant sie als Prinzip schon aufgestellt hatte, «bei den Deutschen ruhige Theorie» blieb, die mit der (protestantischen) Theologie ohne Weiteres zusammenging, musste die französische Auf­ klärung sich gegen die (katholische) Kirche wenden und politisch defi­ nieren. Und indem der Staat von den Aufklärern nun «als Aggregat der vielen Einzelnen» bestimmt wurde, deren Willen in die Gesetzgebung mit eingehen sollte, war ein vollkommen neues «Gedankenprinzip für den Staat gefunden worden».50 «Dies ist eine ungeheure Entdeckung über das Innerste und die Frei­ heit.» Denn nachdem der philosophische Begriff des Rechts als die Grundlage einer neuen Verfassung proklamiert wurde, war das Prinzip etabliert, «dass der Gedanke die geistige Wirklichkeit regieren solle». Das war ein weltgeschichtliches Ereignis eigener Ordnung: «Solange die Sonne am Firmamente steht und die Planeten um sie herumkreisen, war das nicht gesehen worden, dass der Mensch sich auf den Kopf, d. h. auf den Gedanken stellt und die Wirklichkeit nach diesem erbaut.»51 Hier war er also, jener «herrliche Sonnenaufgang» der Revolution, der damals die Welt erleuchtet und alle fühlenden und denkenden Menschen durchschauert habe, «als sei es zur wirklichen Versöhnung des Göttlichen mit der Welt nun erst gekommen».52 Konnte man höher greifen? Nur stellte Hegel das alles in einen dialektischen Konjunktiv. Denn in Wirklichkeit hatte sich in Frankreich zwischen Monarchie und Verfassung sogleich ein verhängnisvoller Konflikt aufgetan, an dessen Ende der König geköpft wurde und der Konvent und seine Ko­ mitees die Regierungsgewalt an sich zogen. Damit herrschten die Frei­ heit und die ­Tugend nur als ein «abstraktes Prinzip», das (wie in der katho­lischen Sündenlehre) der Verdorbenheit der Vielen mit ihren un­

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reformierten Inte­ressen und ihren alten Leidenschaften entgegengesetzt wurde. Die notwendige Konsequenz war der Tugendterror der Jakobiner, denn die «Gesinnung … kann nur von der Gesinnung erkannt und be­ urteilt werden. Es herrscht somit der Verdacht; die Tugend aber, sobald sie verdächtig wird, ist schon verurteilt … Es herrschten also jetzt die Tugend und der Schrecken; denn die subjektive Tugend, die bloß von der Gesinnung aus regiert, bringt die fürchterlichste Tyrannei mit sich.»53 Um diesen dunklen Konnex von Tugend und Terror war Hegel zwan­ zig Jahre zuvor in seiner «Phänomenologie des Geistes» von 1807 schon einmal gekreist, und das in schwer durchdringlichen Wendungen. Unter der Überschrift «Die absolute Freiheit und der Schrecken» hatte er kon­ statiert, wie sich im Akt der Revolution (des Sich-auf-den-Kopf-Stel­ lens!) zum ersten Male die «ungeteilte Substanz der absoluten Frei­ heit … auf den Thron der Welt» erhoben hatte. Der Geist der Freiheit wurde damit «das Ich, das Wir, und das Wir, das Ich ist»; damit wurde er ein «reell allgemeiner Wille, Wille aller Einzelnen als solcher»; was immer jetzt «als Tun des Ganzen auftritt, das (ist das) unmittelbare Tun eines Jeden».54 Das revolutionär mobilisierte Individuum trat damit aus der Be­ schränktheit seiner bürgerlichen Existenz heraus, es produzierte «nichts Einzelnes, sondern nur Gesetze, und Staatsaktionen».55 Aber im glei­ chen Moment traten ihm diese Gesetze, Institutionen, Staatsaktionen wieder als etwas Fremdes, Getrenntes gegenüber. Und so galt, was Hegel in die sphinxhafte Formel fasste: «Kein positives Werk noch Tat kann also die allgemeine Freiheit hervorbringen; es bleibt ihr nur das negative Tun; sie ist nur die Furie des Verschwindens.»56 Es ging in dieser Formel ganz unverstellt um die Furie des Terrors. ­Jeder Bürger musste dem revolutionären Gemeinwesen Treue schwören, auf Leben und Tod; und schon die Absicht des Verrats genügte: «Ver­ dächtig werden tritt daher an die Stelle  … des Schuldigseins, und die ­äußere Reaktion gegen diese Wirklichkeit … besteht in dem trockenen Vertilgen.» – «Das einzige Werk und Tat der allgemeinen Freiheit ist da­ her der Tod, … der kälteste, platteste Tod, ohne mehr Bedeutung als das Durchhauen eines Kohlhaupts oder ein Schluck Wassers.»57 Dieser kalte, unpersönliche Terror entsprang aber nicht der Willkür eines revolutionären Despoten wie Robespierre; sondern es war der Schrecken der Revolution selbst. So jedenfalls in der messerscharfen ­Hegel-Auslegung Jean-Paul Sartres, von der er später seine Apologie der

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Kommunistischen Partei herleiten würde: «So finde ich den Terror als Forderung in mir selbst wieder. Anders gesagt: der grundlegende Status der vereidigten Gruppe (der revolutionären Organisation) ist Terror.»58 Gerade indem das menschliche Selbstbewusstsein «sich selbst im Zu­ stand absoluter Freiheit in sein eigenes schreckliches Antlitz» sah, be­ wahrte es den Gedanken der absoluten Freiheit und trug ihn weiter.59 Hegel beendete diese Passage: «(So) geht die absolute Freiheit aus ihrer sich selbst zerstörenden Wirklichkeit in ein anderes Land des selbst­ bewussten Geistes über, worin sie … dieses in das Selbstbewusstsein ein­ geschlossene Sein als das vollkommene und vollständige Wesen weiß. Es ist die neue Gestalt des moralischen Geistes entstanden.»60 Rätselhafte Formeln, die ihre Auflösung allenfalls in dem finden, was als Kern der Hegelschen Philosophie gilt: der Dialektik, die sich primär als die «Macht des Negativen» bestimmen lässt. Denn erst die «Tätigkeit des Scheidens» (des Unterscheidens und Entscheidens) zeigt «die Kraft und Arbeit des Verstandes, der wundersamsten und größten oder viel­ mehr der absoluten Macht». Aber gerade deshalb gilt auch, dass der Weg der Entfaltung des menschlichen Selbstbewusstseins «nicht das ­Leben, das sich vor dem Tode scheut und vor der Verwüstung rein be­ wahrt» ist; sondern der Geist gewinnt «seine Wahrheit nur, indem er in der absoluten Zerrissenheit sich selbst findet …, indem er dem Negati­ ven ins Angesicht schaut, bei ihm verweilt».61 Das ist vielleicht der modernste und revolutionärste Gedanke des gan­ zen Hegelschen Systems gewesen und jedenfalls einer, der den Marx’schen Ideenkomplex entscheidend geprägt hat. Daraus ergibt sich nicht nur eine kategorische Absage an jegliche nostalgische Vorstellung einer har­ monischen Vorzeit, eines «Goldenen Zeitalters», welches Hegel zufolge nur die Verklärung einer «idyllischen Geistesarmut» ist, und damit die Absage an jegliche Gesellschaftsvorstellung, die – wie in den literarischen Utopien der europäischen Neuzeit – sich einen widerspruchsfreien, sta­ tionären Zustand ausmalte.62 Solange die menschliche Geschichte an­ dauert, kann es Hegel (wie Marx) zufolge nicht um irgendein selbst­ zufriedenes Glück gehen: «Die Perioden des Glücks sind leere Blätter in ihr; denn sie sind die Perioden der Zusammenstimmung, des fehlenden Gegensatzes».63 Ohne Gegensätze keine Entwicklung  – das war das ­eigentliche Grundaxiom der dialektischen Geschichtsauffassung, das nir­ gends so radikal verraten worden ist wie in den von Kommunisten ­gebildeten Staaten und Gesellschaften des 20. Jahrhunderts, die versucht haben, das Spiel der gesellschaftlichen Widersprüche auszuschalten.

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Noch paradoxer, noch unbegreiflicher als die Dialektik von absoluter Freiheit und Schrecken  – wenn man so sagen darf: von «Sonnenauf­ gang» und «Sonnenfinsternis» der Revolution – war in der Hegelschen Geschichtsschau allerdings, wie das «letzte Stadium der Geschichte», seine eigene Zeit, in ein merkwürdiges, zwielichtiges Grau getaucht blieb. Nicht nur hatte er diese Gegenwart, die doch (in Gestalt seiner ­eigenen Philosophie!) den Gipfel des menschlichen Selbstbewusstseins erreicht haben sollte, mit dem «Greisenalter» assoziiert – was unweiger­ lich die Frage nach dem Danach, dem Tod aufwerfen musste. Diese Welt wurde auch immer enger und das in Frage kommende Segment der «selbstbewussten» Menschheit immer kleiner – bis es fast in einen Ber­ liner Hörsaal passte. Denn Hegel hatte ja nicht nur Asien, den Orient und Afrika aus sei­ nem philosophischen Weltpanorama ausgeschlossen. Auch die gesamte katholische Welt (einschließlich Frankreichs nach dem Scheitern des ­Genies Napoleons64) kam für irgendeinen substantiellen «Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit» nicht mehr in Frage, da hier mangels echter, verinnerlichter Staatsgesinnung «keine vernünftige Verfassung möglich» sei.65 Der angelsächsische Liberalismus war erst recht ein fatales Modell, da er «das Prinzip der Atome, der Einzelwillen» verfechte und mit seinen «partikulären Rechten» nur «das höchste Unrecht» produziere. Ame­ rika war als eine Neue Welt vorerst nur ein diffuser Abklatsch Europas, wenig mehr als eine Ausdehnung der angelsächsischen Welt. So blieb am Ende der gewaltigen Hegelschen Geschichtsschau allein das kleine Preußen übrig – als ein protestantisches Staatswesen, in dem die Kirche dem Staat diente und ihn vergeistigte, ohne ihn zu bevormun­ den; in dem die Freiheit des Eigentums und der Person gesichert war und alle Bürger, sofern sie «Kenntnis, Geübtheit und den moralischen Willen dazu» besaßen, an der Regierung teilnehmen konnten; und in dem diese Regierung zugleich in einer soliden Beamtenwelt ruhte, wohingegen die letzte Entscheidung noch stets dem Monarchen zukam, der das Gemein­ wesen, den Staat, die Stände und die bürgerliche Gesellschaft in seiner Person zusammenfasste. «Bis hierher ist das Bewusstsein gekommen»: Damit markierte der Berliner Weltphilosoph, bevor er verstummte, den geschichtlichen Ort, von dem aus er dachte und sprach.66

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Der «Proletarier» als philosophische Figur Und das sollte das «Ende der Geschichte» sein, der Gipfelpunkt, von dem aus man die ganze Entwicklung der Menschheit rückblickend ver­ stehen konnte?! Der selbstgenügsame Zweck der ganzen Übung sollte nichts sein als «die wahrhafte Theodizee, die Rechtfertigung Gottes in der Geschichte»?67 Konnte irgendein jüngerer Zeitgenosse, aus­gerechnet in diesem Zeitalter epochaler, vorwärtstreibender Umwäl­zungen, die ge­ rade Hegel selbst als eine historische Schwellensituation beschrieben hatte, sich mit der lapidaren, Epikur entlehnten Weisheit begnügen, die der preußische Geschichtsdenker vielfach bekräftigte: «Es (das Zukünf­ tige) geht uns nichts an, weder dass es ist, noch dass es nicht ist; wir dür­ fen keine Unruhe deshalb haben»?68 Hegel ließ die Gemeinde seiner Jünger und Leser mit einem offenen Rätsel und einer unerträglichen logischen und praktischen Aporie zu­ rück. Deshalb ließen sich seine zentralen Feststellungen auch vollkom­ men gegensätzlich verstehen, angefangen mit seinem geflügelten Dik­ tum: «Was vernünftig ist, das ist wirklich, und was wirklich ist, das ist vernünftig.»69 Dieser Satz ließ sich in beide Richtungen deklinieren, so Löwith: «Die Rechte betonte, dass nur das Wirkliche auch das Vernünf­ tige und die Linke, dass nur das Vernünftige auch das Wirkliche sei.»70 Die Etappen der politischen Radikalisierung, die die deutschen Linksoder Junghegelianer in ihren verzweigten Debatten und Manifesten durchlaufen haben, sind hier nicht nachzuzeichnen – auch wenn die his­ torische Rolle dieser vielstimmigen intellektuellen Gruppierung kaum überschätzt werden kann.71 Als Marx sich im Sommer 1844 immer noch zögernd dem Kommunismus zuwandte, schrieb er mit Blick auf seinen eigenen, etwa sieben Jahre umfassenden geistigen Entwicklungsweg: «Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Impe­ rativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrig­ tes, ein geknechtetes, ein verächtliches Wesen ist.»72 Einen ersten, entscheidenden Schritt dahin hatte der aus der Universi­ tät verstoßene Philosoph Ludwig Feuerbach in seinem epochemachen­ den Werk «Das Wesen des Christentums» von 1841 getan. Darin hatte er erstmals den materialistischen Gedanken konsequent formuliert, dass alle historischen Religionen nur projektive Schöpfungen der mensch­ lichen Imagination seien und dass die Menschen in der Gestalt Gottes

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nur ihr eigenes, ihnen entfremdetes Gattungswesen und Gattungsver­ mögen anbeteten. Erst die Aufhebung der Religion könne deshalb die dunkle, obskure Liebe der Menschen zu Gott in jene helle, vernünftige Liebe der Menschen zueinander verwandeln, die das Christentum seit fast zwei Jahrtausenden predigte. Indem Feuerbach «die Theologie in Anthropologie» verwandelt hatte, war für Deutschland, wie Marx jetzt erklärte, «die Kritik der Religion im wesentlichen beendigt; und die Kritik der Religion ist die Vorausset­ zung aller Kritik». Nachdem somit für den aufgeklärten Verstand «das Jenseits der Wahrheit verschwunden» war, komme es nunmehr darauf an, «die Wahrheit des Diesseits zu etablieren»: «Die Kritik des Himmels verwandelt sich damit in die Kritik der Erde, die Kritik der Religion in die Kritik des Rechts, die Kritik der Theologie in die Kritik der Poli­ tik.»73 Die «Religion» war, mit anderen Worten, nur die verklärte Form und zugleich die letzte Legitimation für einen Überbau herrschaftlicher Ordnungen und Einrichtungen, die den Menschen als ihnen entfremdete oder feindliche Mächte gegenübertraten, obwohl sie (die Menschen) es doch waren, die diesen Überbau mit ihren Händen, ihren Leibern, ihrem tätigen Verstand erst geschaffen hatten. Die Philosophie musste sich des­ halb nicht nur ihres religiösen Idealismus, sondern auch ihres hegeliani­ schen Staats­idealismus entledigen und endlich einen universellen Begriff von «Gesellschaft» entwickeln: «Wie die Religion nicht den Menschen, sondern der Mensch die Religion schafft, so schafft nicht die Verfassung das Volk, sondern das Volk die Verfassung.»74 Hier einmal angekommen, ging es Schlag auf Schlag. Der deutsche philosophische Idealismus wurde in einem Galopp schneidender Deduk­ tionen mit einem phantasmagorisch-physischen Körper ausgestattet, der längst schon überlebensgroß im Raum stand: dem des Proletariers. Las­ sen wir also diesem Text, dessen Niederschrift für den Autor Züge einer Epiphanie getragen haben dürfte, einige Passagen lang die Zügel schie­ ßen, um das Rauschhafte dieser Aufschließung neuer Denkräume und einer ersten kategorischen politischen Parteinahme nachzuvollziehen: «Ja, die deutsche Geschichte schmeichelt sich einer Bewegung, welche ihr kein Volk am historischen Himmel weder vorgemacht hat noch nach­ machen wird. Wir haben nämlich die Restaurationen der modernen Völ­ ker geteilt, ohne ihre Revolutionen zu teilen … Wir, unsere Hirten an der Spitze, befanden uns immer nur einmal in der Gesellschaft der Freiheit, am Tag ihrer Beerdigung. Krieg den deutschen Zuständen! Allerdings! Sie stehn unter dem Ni­

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veau der Geschichte, sie sind unter aller Kritik, aber sie bleiben ein Ge­ genstand der Kritik, wie der Verbrecher, der unter dem Niveau der ­Humanität steht, ein Gegenstand des Scharfrichters bleibt. Man muss … diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, dass man ihnen ihre eigne Melodie vorsingt! Man muss das Volk vor sich selbst er­ schrecken lehren, um ihm Courage zu machen .»75 «Wo also (ist) die positive Möglichkeit der Deutschen Emanzipa­ tion? – Antwort: In der Bildung einer Klasse mit radikalen Ketten, einer Klasse der bürgerlichen Gesellschaft, welche keine Klasse der bürger­ lichen Gesellschaft ist, eines Standes, welcher die Auflösung aller Stände ist, einer Sphäre, welche einen universellen Charakter durch ihre univer­ sellen Leiden besitzt und kein besondres Recht in Anspruch nimmt, weil kein besondres Unrecht, sondern das Unrecht schlechthin an ihr verübt wird  …, einer Sphäre endlich, welche sich nicht emanzipieren kann, ohne sich von allen übrigen Sphären der Gesellschaft und damit alle ­übrigen Sphären der Gesellschaft zu emanzipieren, welche mit einem Wort der völlige Verlust des Menschen ist, also nur durch die völlige Wiedergewinnung des Menschen sich selbst gewinnen kann. Diese Auf­ lösung der Gesellschaft als ein besonderer Stand ist das Proletariat. Wenn das Proletariat die Auflösung der bisherigen Weltordnung ver­ kündet, so spricht es nur das Geheimnis seines eigenen Daseins aus, denn es ist die faktische Auflösung dieser Weltordnung. Wenn das Prole­ tariat die Negation des Privateigentums verlangt, so erhebt es nur zum Prinzip der Gesellschaft …, was in ihm als negatives Resultat der Gesell­ schaft schon ohne sein Zutun verkörpert ist … Wie die Philosophie im Proletariat ihre materiellen, so findet das Proletariat in der Philosophie seine geistigen Waffen, und sobald der Blitz des Gedankens gründlich in diesen naiven Volksboden eingeschlagen ist, wird sich die Emanzipation der Deutschen zu Menschen vollziehn. In Deutschland kann keine Art der Knechtschaft gebrochen werden, ohne jede Art der Knechtschaft zu brechen. Das gründliche Deutschland kann nicht revolutionieren, ohne von Grund aus zu revolutionieren. Die Emanzipation des Deutschen ist die Emanzipation des Menschen. Der Kopf dieser Emanzipation ist die Philosophie, ihr Herz das Proletariat.»76

2. Der große Bruch

Wege in die industrielle Moderne

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ie historische Schwelle oder Zäsur, mit der sich ein Gutteil der Ge­ schichtsforschung bis heute unter so großformatigen Titeln wie «Die Verwandlung der Welt»1 oder «Die Geburt der modernen Welt»2 befasst, ist nicht leicht zu markieren. Nur soviel steht fest: Irgendwann zwischen der Mitte des 18. Jahrhunderts und der des 19. Jahrhunderts haben so­ziale, ökonomische, politische und kulturelle Entwicklungen, die sich lange angebahnt hatten und die man unter so fragliche, aber ­unentbehrliche Begriffe wie «bürgerliche Gesellschaft», «Kapitalismus», «industrielle Revolution» oder «Moderne»3 fasst, einen irreversiblen und globalen Charakter angenommen. Das bedeutete den mentalen wie materiellen Übergang in eine neue Daseinsweise, die ebenso viele Erwar­ tungen wie Ängste weckte – fast immer beides auf einmal. Sozialismus und Kommunismus (noch waren diese beiden Begriffe nicht klar getrennt) waren Produkte genau dieser historischen Zeit und zugleich des geographischen Orts, an dem sie ins Leben sprangen. Außer­ halb Europas, oder genauer: außerhalb Nordwesteuropas zwischen Eng­ land, Frankreich und Deutschland, und in irgendeiner anderen histori­ schen Periode hätten diese Ideen sich schwerlich ausbilden können. Sie waren vor allem ein Reflex auf das, was man in den 1830 er Jahren als eine «industrielle Revolution» zu bezeichnen begann, deren unbe­ strittenes Pionierland England war. Allerdings wird gemeinhin verkannt, wie sehr es, gerade auch in England, «in der ersten Hälfte des 19. Jahr­ hunderts für alle Parteien mit Ausnahme der klassischen Liberalen und Nationalökonomen eine ausgemachte Sache» war, dass die Industriali­ sierung «ein rätselhaftes Übel und ein großes Unglück sei», so die Fest­ stellung Ernst Noltes in seiner Studie über «Marxismus und industrielle Revolution».4 Nicht nur die frühen Sozialisten, auch viele Altliberale und prominente Nationalökonomen seien angesichts der Ausbreitung des Fabrikwesens (vor allem im Textilbereich) von düsteren Befürchtun­ gen geplagt gewesen. Überhaupt habe es lange Zeit keine Gruppe oder Schicht gegeben, die sich «bewusst an die Spitze des Prozesses» gestellt

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hätte, «sondern jede stand ihm ratlos und zweifelnd gegenüber, ein­ schließlich der führenden Industriellen» selbst. Nolte findet es fast ver­ wunderlich, «dass die Industrielle Revolution sich gegen einen so langen und hartnäckigen Widerstand großer Teile der Bevölkerung überhaupt durchsetzen konnte … Sie hätte auch nicht sein können.»5 Die Geschichte dieses Begriffs wäre allerdings selbst erst einmal ge­ nauer zu umreißen. Anders als Nolte voraussetzt, kam er den zeitgenös­ sischen Beobachtern im England des späten 18. Jahrhunderts keineswegs «beinahe zwanghaft über die Lippen.»6 Weder bei Adam Smith noch bei David Ricardo oder irgendeinem anderen der klassischen britischen Ökonomen steht das Phänomen der «Industrie» (im Sinne einer mecha­ nisierten Produktion großen Stils) im Mittelpunkt, geschweige dass ­ihnen das Wort einer «industriellen Revolution» in den Sinn gekommen wäre. Vielmehr war es ein französischer Ökonom, sinnfälligerweise Adolphe Blanqui, ein Bruder des Berufsrevolutionärs Auguste Blanqui, der 1837 in seiner «Geschichte der politischen Ökonomie» diese Formu­ lierung erstmals verwendete. In derselben Zeit, in der Frankreich eine politische Revolution durchlaufen habe, also in den 1790 er Jahren, habe England dank seiner Ingenieure wie Watt und Arkwright, den Erfin­ dern der Dampfmaschine und der «Spinning Jenny» (der ersten Spinn­ maschine), eine «industrielle Revolution» in Gang gesetzt.7 Mit dieser Akzentuierung der technischen Innovationen ging Adolphe Blanqui einen Schritt weiter als sein Lehrer, der liberale Ökonom Jean-­ Baptiste Say, für den der emphatische Begriff «L’Industrie» eine Mobili­ sierung des allgemeinen Arbeits- und Erwerbsfleißes und der Wissen­ schaften meinte und damit eine Perspektive eröffnete, die trotz aller ­sozialen Verwerfungen und Schattenseiten immerhin etwas Positives und Progressives war. Eben deshalb, so könnte man schließen, fand der Begriff einer «indus­ triellen Revolution» ausgerechnet in England als dem Pionierland des Fabriksystems kaum Resonanz. Unbemerkt blieb dort auch, dass 1845 ein junger deutscher Fabrikantensohn namens Friedrich Engels in einem auf Grundlage systematischer Recherchen während seiner beiden Lehr­ jahre in Manchester verfassten Bericht über «Die Lage der arbeitenden Klassen in England» diesem Begriff eine noch sehr viel umfassendere ­Bedeutung beilegte: «Die Geschichte der arbeitenden Klasse in England beginnt mit der letzten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, mit der Erfin­ dung der Dampfmaschine und der Maschinen zur Verarbeitung der Baumwolle. Diese Erfindungen gaben bekanntlich den Anstoß zu einer

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industriellen Revolution, einer Revolution, die zugleich die ganze bür­ gerliche Gesellschaft umwandelte und deren weltgeschichtliche Bedeu­ tung erst jetzt anfängt erkannt zu werden. England ist der klassische ­Boden dieser Umwälzung, die um so gewaltiger war, je geräuschloser sie vor sich ging, und England ist darum auch das klassische Land für die Entwicklung ihres hauptsächlichsten Resultates, des Proletariats.»8 Engels bestimmte die «industrielle Revolution» somit als den Motor einer «weltgeschichtlichen Umwälzung» noch ungeahnten Ausmaßes, die einem Fortschritt ganz anderer Art den Boden bereite – nämlich einer «sozialen Revolution», von der er voraussagte, dass im Vergleich zu ihr die Französische Revolution «ein Kinderspiel sein» werde.9 Diese Revo­ lution werde aber mehr sein als ein Ausbruch wilder Volksrache oder eine gewaltsame Zurückführung des modernen Industriesystems, im ­Gegenteil: «Das Proletariat» war für ihn bereits der eigentliche, wahre Repräsentant der «großen Industrie», die die Quelle seiner Leiden, aber auch das Medium seiner künftigen Befreiung war. Das war eine vollkommen neue Sicht auf diese unter aller Augen vor sich gehende Entwicklung. Dennoch blieb dieser zentrale Begriff und Gedanke im Hauptland der «industriellen Revolution» weithin unbe­ kannt – bevor er in den 1880 er Jahren, dann schon unter dem Einfluss des kontinentalen Marxismus und der sich durchsetzenden großindus­ triellen Produktionsformen, auch dort festen Fuß fasste.10 Worin hat diese «Industrielle Revolution» tatsächlich bestanden? Im sel­ ben Maße, in dem dieser Begriff zu einem mehr oder weniger selbst­ verständlichen historischen Orientierungspunkt wurde, beginnen seine empirischen Eckdaten unter den Augen einer jüngeren wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Forschung wieder zu verschwimmen. Das betrifft zunächst den allzu einseitigen Fokus auf England. Statt­ dessen ist ein weites, vielseitig verknüpftes Netz nord-, west- und mittel­ europäischer Entwicklungskerne ausgemacht worden, die sich von Hol­ land über Belgien bis Nordfrankreich, vom Rheinland über Teile des ­Elsass und der Schweiz bis zur Lombardei, von Hamburg über Sachsen bis Schlesien und Böhmen erstreckten und den Initialprozess der Indus­ trialisierung im Wesentlichen getragen haben. Dazu kamen die kolo­ nialen Rück- und Erweiterungsräume der europäischen Mächte, ohne deren Zufuhren an Grundnahrungsmitteln, Energie- und Rohstoffen und ohne deren Absatzmärkte die europäische Industrialisierung kaum möglich gewesen wäre.

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Auch das Bild einer stürmischen Industrialisierung ist mittlerweile ­zurückgestutzt worden. So hat man errechnet, dass das jährliche Wirt­ schaftswachstum Großbritanniens im «langen 19.  Jahrhundert» im Schnitt kaum mehr als 2 %, das Wachstum der Pro-Kopf-Einkommen allenfalls 0,5–1 % betragen haben kann11  – was nach den Maßstäben früherer Geschichtsepochen sehr viel war, im Lichte heutiger, vor allem asiatischer Wachstumsraten aber eher einem Schneckenexpress gleicht. Sogar die Rolle der Dampfmaschine als des physischen und metapho­ rischen Motors der «industriellen Revolution» hat sich relativiert. Viel­ mehr war es die Wasserkraft, die wie seit acht Jahrhunderten die indus­ trielle Maschinerie noch überwiegend antrieb  – eine Maschinerie, die selbst vielfach noch handwerklich gefertigt war. Maschinen machten in England bis 1832 nicht mehr als 4 % des gesellschaftlichen Kapitalstocks aus; weshalb der industriell-gewerbliche Sektor (in einem weiten Sinn dieses Wortes) 1841 in Tausenden großer und kleiner, nur teilweise ­mechanisierter Betriebe allenfalls ein Fünftel der Arbeitskräfte beschäf­ tigte.12 Das vielleicht spektakulärste Element einer neuen Zeit waren eher die neuen Verkehrsmittel, allen voran die Dampfschiffe und Dampfeisen­ bahnen. Der siebzehnjährige Karl Marx fuhr 1835 zum Studienantritt mit einem Dampfer den Rhein von Koblenz nach Bonn hinunter, und später wieder hinauf – etwas, das noch Jahre zuvor undenkbar gewesen wäre. 1840 besetzten die Briten mit einigen dampfgetriebenen Kriegs­ schiffen die Mündungen der großen chinesischen Flüsse; und einer ihrer Kreuzer, den sie passenderweise «Nemesis» getauft hatten, versenkte in einer kurzen, einseitigen Schlacht eine ganze Flottille chinesischer Kriegs­ dschunken. Der erste «Opiumkrieg» war entbrannt, und die Gewichte in der Welt hatten sich entscheidend verschoben – ohne dass man das in England wie in China als eine wesentliche Zäsur wahrgenommen hätte. Auch die «wissenschaftliche Revolution», ein Begleiter der Industriali­ sierung von Beginn an, ist erst einmal nicht zu überzeichnen. Gewiss kann man als den Kern der europäischen Erfolgsgeschichte die «Erfin­ dung des Erfindens» (David Landes) ansehen, d. h. einen sich perpetuie­ renden, methodischen Prozess technischer Innovationen, verbunden mit der rechtlichen Sicherung des Privateigentums und der Patente, der Pra­ xis freier Märkte und des freien Austauschs von Ideen – im Unterschied zu den ursprünglich höher entwickelten, dann aber rapide zurückfallen­ den orientalischen Reichen und Kulturen, von der arabischen Welt bis

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nach Indien und dem bekannten China. Aber die wichtigsten Innovatio­ nen, wie die in Serie gefertigten Augengläser oder Taschenuhren, der Buchdruck mit seinen frühen Massenauflagen oder das fertige Schieß­ pulver, gehörten ihrer Entstehung nach fast alle noch einer früheren Vor­ stufe der Indus­trialisierung an, waren eher serielle Manufakturerzeug­ nisse als indus­trielle Produkte im späteren Sinn.13 Einige Autoren halten auch heute noch den Übergang von Teilen ­Europas zu einer industriellen Revolution insgesamt für ein eher zufälli­ ges Ereignis.14 Jedenfalls «trug die Wissenschaft bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts nur wenig zu den Fortschritten der Technologie bei». Ingenieure und Investoren blieben weiterhin eher Tüftler, Praktiker und Selfmademen, wie die Gründergestalten der englischen Industrie am Ende des 18. Jahrhunderts, Watt und Arkwright, Hargreaves, Compton, Cartwright. Von einer «Verwissenschaftlichung» der Industrieproduk­ tion und des Alltagslebens konnte noch kaum die Rede sein. Auch ein so elementarer Bereich wie die Medizin blieb durch Tradi­ tion, unbewiesene und willkürliche Theorien und metaphysische Kon­ zepte bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts beinahe noch auf dem Niveau der Quacksalberei, mit Aderlässen, Blutegeln und Abführmitteln als ­Reinigungsritualen, mit Bäderkuren als Allheilmitteln (für die Wohl­ habenden) und mesmeristischen oder hypnotischen Seancen, vor allem aber mit einer weitgehenden Ahnungslosigkeit über Infektionen und ­Hygiene, was dieses Zeitalter der rapiden Urbanisierung gleichzeitig zu einem Pfuhl tödlicher Seuchen gemacht hat und die Lebenserwartung stagnieren ließ.15 Erst ab 1871, also mit einem Jahrhundert Verspätung, begann die Lebenserwartung in England dem Wachstum des So­zial­ produkts folgend ebenfalls zu steigen.16 Jetzt erst kam es zu einer Fusion von Wirtschaft, Wissenschaft und Technologie, die eine «ungewöhnliche Häufung von Innovationen», z. B. in Maschinenbau, Elektrotechnik oder Chemieindustrie, hervorbrachte und endlich auch zu einer allmählichen Hebung des allgemeinen Lebens­ niveaus führte, einschließlich der sanitären Verhältnisse. Alle diese Ent­ wicklungen zusammen mit der Herstellung eines wirklichen Weltmarkts haben erst jenen sozialökonomischen «Take-off» der europäisch-atlanti­ schen Welt ermöglicht, der als Startpunkt eines selbsttragenden, konti­ nuierlichen wirtschaftlichen Wachstums, einer «Great Acceleration» oder industriellen Revolution zweiter Stufe gilt und deren Momentum bis heute andauert.17

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Tatsächlich hatte die Phase von 1750 bis 1850 insgesamt eher noch das Gepräge einer «Industrious Revolution» getragen, einer «Revolution des Arbeitsfleißes und Erwerbseifers», wie man diesen (von Jan de Vries eingeführten) Begriff übersetzen könnte, der der ursprünglichen fran­ zösischen Bedeutung des Begriffs der «Industrie» entspricht18  – eine ­arbeitsintensive Proto-Industrialisierung, die noch kaum neue Techniken und nur wenig Kapital benötigte. Ihre aktiven Träger waren nicht nur die Gründer und Betreiber der Manufakturen oder der auf Hausindus­ trien gestützten Verlagssysteme. Auch die Haushalte der «arbeitenden Klassen» selbst mobilisierten ihre Arbeits- und Zeitreserven und wurden zu Motoren einer von dringenden Existenznöten, aber zugleich auch von neuen Konsumwünschen getriebenen Wirtschaftsdynamik, kaum an­ ders, als man das heute in den überfüllten Massenquartieren Mumbais oder in anderen Metropolen, Provinznestern und Dörfern der ehemali­ gen Dritten Welt auch finden wird. Dabei spielten aus der Kolonialwelt importierte Genussmittel, vor ­allem Zucker, Tee und Tabak, die im Lauf des 18. Jahrhunderts ver­ stärkt in den Alltagskonsum auch der einfachen Arbeiter eingingen, und weiter hochprozentige Alkoholika wie Rum, Whiskey oder Gin, deren Verbrauch neben dem traditionellen Bierkonsum exponentiell stieg, eine wesentliche Rolle. Außer um Genuss und Betäubung ging es dabei um Fragen des sozialen Status, so bei der «Weißbrot-Revolution», beim Übergang zum regelmäßigen Konsum von Weizenbrot, das man frisch beim Bäcker kaufte und rasch verzehrte, obwohl es weniger nahrhaft und haltbar war als das dunkle oder graue, selbstgebackene Brot, von dem die ärmeren Schichten bis dahin gelebt hatten. So wie heute in den Hauptstädten Afrikas oder Lateinamerikas selbst die ärmsten Slum­ bewohner um den Preis einer Verschlechterung ihrer Ernährung für den Erwerb und Betrieb eines Mobiltelefons fast alles opfern, so begannen auch damals arme Leute, sich kleine Besitztümer aus «industrieller» Pro­ duktion wie Sonntagsgeschirr, Pfeifen oder sogar Taschenuhren vom Munde abzusparen; während junge Frauen alles daran setzten, um ihre im Dorf gesponnenen und gewebten, eintönigen Woll- oder Leinen­ kleider durch bunte, exotisch bedruckte Baumwollstoffe zu ersetzen und modische Accessoires zu erwerben. Alle diese Alltagsobjekte wurden dann wieder zum Ansatzpunkt ausgedehnter neuer Gewerbe und Haus­ industrien, während kleine Läden und winzige Budiken wie Pilze aus dem Boden schossen, um «Kolonialwaren» zu vertreiben, bunte Stoffe zu verkaufen, Schnaps auszuschenken oder Brot zu backen.

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Das sind nur einige Beispiele, die demonstrieren, dass die «Revolution des Erwerbsfleißes» sich nicht allein aus der Expansion unternehmeri­ scher Aktivitäten und der «Akkumulation des Kapitals» speiste, sondern zu wesentlichen Teilen auch aus der Mobilisierung eines vitalen Lebens­ hungers und sozialen Ausbruchs- oder Aufstiegswillens breiter Schichten, die sich mit Haut und Haar auf den Markt begaben, um Geld zu verdie­ nen und etwas kaufen zu können. Dafür waren sie bereit, erheb­liche Stei­ gerungen der Arbeitsintensität und eine (großteils selbstauferlegte) Arbeits­disziplin in Kauf zu nehmen. Schätzungen zufolge hat sich die durchschnittliche Arbeitsbelastung allein in der Kernperiode dieser «in­ dustrious revolution» von 1760 bis 1830 nach Dauer und Intensität um ein Viertel oder mehr erhöht. Dazu trug eine verbesserte Beleuchtung bei, die den Arbeitstag durch die Perioden langer Dunkelheit hindurch verlän­ gerte. Längst war auch die Zahl der jährlichen Arbeitstage durch die Strei­ chung kirchlicher Feiertage von gemächlichen 250 im 16. Jahrhundert auf über 300 in den protestantischen Ländern und etwa 280 in den katholi­ schen vermehrt worden, was im Jahresmittel dem Übergang von einer Fünf- zu einer Sechstagewoche entsprach, bei durchschnitt­lichen Arbeits­ zeiten von 14 Stunden, minus 2 Stunden Pause, also 12 Stunden am Tag.19 Alle diese sozial- oder alltagsgeschichtlichen Untersuchungen können die Lücke allerdings nicht schließen, die zwischen dem nachträglichen Bild einer epochalen Aufstiegsbewegung und dem zeitgenössischen Eindruck einer säkularen Katastrophe klafft. In seiner klassischen Studie «The Great Transformation», geschrieben 1944, hat der aus Wien in die USA emigrierte Sozial- und Wirtschafts­ wissenschaftler Karl Polanyi noch die Weltkrisen und Weltkriege seines eigenen Zeitalters auf eine Art historischen Sündenfall zurückgeführt.20 Dieser elementare Riss im Kontinuum der bisherigen menschlichen Ge­ schichte habe sich erst in der «Reformkrise» der frühen 1830 er Jahre in England aufgetan, als eine Gruppe liberaler Ideologen und Politiker durch eine Reihe buchstäblich bahnbrechender Gesetze so etwas wie eine Umwertung aller Werte eingeleitet habe: nämlich «die Transforma­ tion der natürlichen und menschlichen Substanz der Gesellschaft in ­Waren» – der Arbeit und des Bodens.21 Denn Arbeit, so Polanyi, auch wenn sie für Lohn ge- oder verkauft wird, sei «bloß eine andere Bezeich­ nung für eine menschliche Tätigkeit, die zum Leben an sich gehört»; so wie der Boden «nur eine andere Bezeichnung für Natur (ist), die nicht vom Menschen produziert wird». Beide seien ihrem Wesen nach also

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«keine Waren», weil sie nicht zum Zweck des Verkaufs produziert wer­ den, sondern ihren Daseinszweck in sich selbst tragen.22 Die Tatsache, dass es seit frühesten Zeiten und selbst in «primitiven» (vorstaatlichen) Kulturen bereits Märkte, Warentausch und Geldzirku­ lation gegeben hat, und dass Land wie Arbeitskraft in den alten Reichen oder antiken Stadtstaaten bereits ge- und verkauft worden sind, beweist ­Polanyi zufolge nicht das Gegenteil. Alle diese Transaktionen seien bis dahin noch stets in gesellschaftliche und staatliche Gesamtzwecke und in ein dichtes Geflecht kultureller Verbindlichkeiten und Existenzsicherun­ gen eingebunden gewesen. Deshalb habe es bis ins 17./18. Jahrhundert und in die Zeiten der merkantilistischen Handels- und Wirtschaftspoli­ tik der europäischen (oder auch der chinesischen) Souveräne hinein keine getrennte Sphäre der «Wirtschaft» jenseits des politischen Gemein­ wesens gegeben, geschweige dass dieses Gemeinwesen sich den Zielen und «Gesetzen» einer angeblich selbstregulierenden Marktwirtschaft unterworfen hätte. Erst jetzt, unter der Ägide der englischen Liberalen, sei zum ersten Mal genau das passiert, und ein sozialökonomisches Sys­ tem habe sich Bahn gebrochen, das seither wie ein sich selbst überlasse­ ner Automat seine eigenen Existenzvoraussetzungen immer neu, immer erweitert und immer fanatischer reproduziert und mit dem «homo oeco­ nomicus» sogar einen neuen Menschentypus hervorgebracht habe. Die begrifflichen Bestimmungen und historischen Beweisführungen Polanyis lassen sich in mancher Hinsicht bestreiten. Aus der Perspektive unserer Gegenwart mögen seine Darlegungen fast vorsintflutlich wirken. Aber sein Bild der «Großen Transformation» und ihrer Erschütterungen vermittelt zumindest einen Eindruck davon, wie wenig selbstverständ­ lich alles das war oder ist, was man mittlerweile für die ewigen Gesetze einer rationalen und effektiven, ganz den Imperativen des Marktes und der Selbstverwertung der eingesetzten K ­ apitalien unterworfene Sozialund Wirtschaftsordnung hält. Den entscheidenden Punkt des Durchbruchs zu einer «Marktgesell­ schaft», wie es sie bis dahin nirgends in der Geschichte gegeben hatte, sah Polanyi in der Reform der «Armengesetze» von 1834, die dem Prin­ zip folgte, alle Arbeitsfähigen (Männer, Frauen sowie Kinder ab acht, später ab zwölf Jahren) auch im Falle völliger Arbeits- und Mittellosig­ keit aus der Kategorie der Bedürftigen auszuschließen und sie durch nackten Hunger zu zwingen, sich dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu halten – oder im Arbeitshaus zu landen, das erklärtermaßen ein Ort des Schreckens sein sollte. Auch hier kann man einwenden, dass dieses

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r­ eformierte «Armengesetz» (das erst 1948 von einer Labour-Regierung endgültig abgeschafft und durch eine moderne Sozialgesetzgebung abge­ löst worden ist) nur in stark abgemilderter Form durchgesetzt werden konnte; und dass sich die englische Praxis von der anderer Länder Euro­ pas nicht wesentlich unterschied.23 Das ändert aber nichts daran, dass es sich beim liberalen «Poor Law Amendment» von 1834 um einen sichtbaren Paradigmenwechsel han­ delte, der sich dem Bewusstsein der Zeitgenossen tief eingrub. Als beson­ ders empörend wurde die neue Regelung empfunden, dass die Familien der Arbeitslosen und Armen – Männer und Frauen, Kinder und Alte – bei ihrer Einlieferung in die Arbeitshäuser auseinandergerissen werden sollten. Das signalisierte die definitive Aufkündigung eines, wenn auch nur nominell existierenden Gesellschaftsvertrags (in Form einer religiö­ sen oder politischen Fürsorgepflicht) und damit die Durchtrennung einer letzten, dünnen Nabelschnur zwischen dem Gemeinwesen und den Ein­ zelnen, die jetzt in der radikalsten Weise «freigesetzt» wurden.

Die malthusianische Falle In seinem «Essay on the principle of population» von 1798 hatte der Pfarrer und autodidaktische Bevölkerungstheoretiker Thomas Malthus einen gesetzmäßigen Zusammenhang von periodischer Überbevölke­ rung und naturhaft notwendigem Massenelend, das die Balance wieder­ herstelle, diagnostiziert – ein Zusammenhang, der als «malthusianische Falle» bekannt geworden ist. Malthus’ zentrales Argument war so schlicht wie (scheinbar) plausi­ bel: Da Menschen sich ihrem natürlichen Trieb folgend in geometrischer Progression fortpflanzen (4  Kinder ergeben 16  Enkel, 64  Urenkel, 196 Ururenkel usw.), während die Erzeugung von Nahrungs- und Sub­ sistenzmitteln bestenfalls «in arithmetischer Proportion» gesteigert wer­ den könne, müssten auf Zeiten eines Wohlstands unweigerlich solche folgen, in denen durch Seuchen und Hungersnöte die Natur korrigierend eingreift, nicht zu vergessen die menschengemachten Kriege, Bürger­ kriege und Revolutionen – bis sich auf einem etwas höheren Niveau ein neuer Ausgleich ergibt, der dann wieder einen neuen Zyklus in Gang setzt. Malthus sprach sogar von einem «Ausrottungskrieg», den die Na­ tur selbst im Namen des Schöpfers gegen eine sündige Menschheit und ihre Laster führe, an erster Stelle ihr ungezügelter Sexualtrieb.24

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Das Schockierende dieser Betrachtungen waren weniger die empfohle­ nen Techniken der Bevölkerungsbeschränkung, die allgemein bekannt waren, auch wenn darüber ungern gesprochen wurde (wie das Verhun­ gernlassen von Kindern, gerade in öffentlichen Waisenhäusern), sondern es war der kühle, fast sarkastische Ton, mit dem Malthus die Gesetze und Grenzen der Ökonomie als die Gebote der Natur und der Schöp­ fung selbst vorstellte – so in der skandalösesten Formulierung, die er in der zweiten, unter seinem Namen veröffentlichten Ausgabe von 1803 hinzugefügt, später dann (nach theologischer Kritik) wieder gestrichen hatte: «Ein Mensch, der in einer schon occupirten Welt geboren wird, wenn seine Familie nicht die Mittel hat, ihn zu ernähren, und wenn die Gesellschaft seine Arbeit nicht nötig hat, dieser Mensch hat nicht das mindeste Recht, irgend einen Teil von Nahrung zu verlangen, und er ist wirklich zu viel auf der Erde. Bei dem großen Gastmahle der Natur ist durchaus kein Gedecke für ihn gelegt. Die Natur gebietet ihm abzu­ treten, und sie säumt nicht, selbst diesen Befehl zur Ausführung zu brin­ gen.»25 Der Zusammenhang von Bevölkerungsentwicklung und Verelendung war in der Tat mehr als real. Man hat errechnet, dass die durchschnitt­ liche Lebenserwartung in England zwischen 1790 und 1840 kontinuier­ lich gefallen ist (von knapp 35,5 auf 31,5 Jahre); noch stärker sank die Rate der Lebendgeburten26 – was das Bevölkerungswachstum allerdings nur abschwächte, nicht verhinderte. Wenn die Sterblichkeit von Kindern und Müttern vor allem mit Hygiene und Krankheiten zu tun hatte, so war die Tatsache, dass die Körpergröße der zwischen 1820 und 1850 geborenen Rekruten der britischen Armee um mehrere Zentimeter ­ schrumpfte, ein klarer Indikator für chronische Mangelernährung und für andere, die physische Substanz angreifende Lebensumstände der Un­ terschicht.27 Die gedrungenen Unterklassen und die hochgewachsenen Oberschichten drifteten auch physisch immer weiter auseinander – wie zwei verschiedene Menschenrassen, als die einige Sozialdarwinisten sie später auch bezeichneten. Zum Panorama des industriellen Elends gehörten schließlich Heer­ scharen von Bettlern und Vagabunden, Gangs jugendlicher Kleinkrimi­ neller in den Vorstädten, eine grassierende Prostitution, der endemische Alkoholismus, die periodisch auftretenden Epidemien und Seuchen, der Kollaps der städtischen Entsorgungssysteme und insgesamt eine drama­ tische Verwilderung des Alltagslebens. Die 1830 er und 1840 er Jahre, schrieb ein Autor, «dürften, was die Lebenserwartung anging,  … die

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schlimmsten Dekaden seit dem Schwarzen Tod (der Pestzeit des 14. Jahr­ hunderts) gewesen sein».28 Und das mitten in einer sozialökonomischen Aufbruchsperiode, die den gesamtgesellschaftlichen Reichtum rapide vermehrt hatte! Man kann es allerdings auch andersherum sehen und in der schieren Fähigkeit Englands, eine derart sprunghaft expandierende, vor allem nun städtische Bevölkerung überhaupt durchzubringen, eine historische Wasserscheide erkennen: «Menschen, die in früheren vergleichbaren ­Situationen umgekommen wären, blieben nun am Leben und trugen zur Produktion bei … Die industrielle Revolution bedeutete vor allem ande­ ren einen Ausweg aus der malthusianischen Falle.»29 Waren Verelendung und Depravation also der notwendige Preis, der für den Übergang zu ­einer «industriellen Revolution» zu zahlen war? Nur die kaltblütigsten Ideologen und Verfechter einer strikt marktliberalen, politisch meist ent­ schieden «illiberalen» Politik konnten damals eine solche Perspektive einnehmen. Zumal die Falle dann doch in der befürchteten Weise zuschnappte: mit der großen Hungersnot («The Great Famine») in Irland, die im Jahr­ zehnt nach 1845 über eine Million Tote forderte, zwei Millionen außer Landes trieb (in die Industriebezirke Englands oder nach Amerika) und die Bevölkerung der kolonisierten und gewaltsam annektierten Grünen Insel um ein volles Drittel dezimierte – eine im modernen Europa bei­ spiellose soziale Katastrophe in Friedenszeiten.30 England selbst blieb großteils verschont, nicht zuletzt durch die Auf­ hebung der «Korngesetze» 1845, die ermöglichte, sich durch Importe aus dem östlichen Europa und aus Amerika zu versorgen. Dennoch: Der glimpfliche Ausgang der demographischen, sozialen, politischen und ökonomischen Krise, die England beim Übergang in eine industri­ elle Marktgesellschaft durchlief, war tatsächlich, wie General Welling­ ton einst über die Entscheidungsschlacht von Waterloo gesagt hatte, «eine verdammt enge Sache».31 Die Schrecken der Industrialisierung bestanden nicht allein in der ­Fabrikausbeutung. Oft konnten die Fabrikarbeiter sich sogar glücklich schätzen im Verhältnis zur Masse der in der Hausindustrie Beschäftig­ ten, insbesondere den Hunderttausenden armer Handweber, die den militanten proletarischen Grundstock der Chartistenbewegung stell­ ten, und natürlich zu den Heeren der Arbeitslosen, die von der staat­ lichen «Poor Relief» lebten, einer minimalen Leistung, die vielfach mit

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Zwangsarbeit für öffentliche Aufgaben abgegolten werden musste oder mit der Einweisung in die allenthalben errichteten «Work-Houses» als Stätten einer fast terroristischen Zwangsdisziplinierung verbunden war. Schockierend wirkten aber auch die Lebensbedingungen in den von der Industrie geprägten oder umgewälzten Städten selbst, allen voran Manchester, das «Cottonopolis» des Zeitalters, dessen Bevölkerung sich zwischen 1800 und 1840 auf mehr als 300 000 Bewohner verdreifacht hatte und immer weiter wuchs. Alexis de Tocqueville beschrieb sie 1836 bei einem Besuch als einen «neuen Hades», wegen des «dichten, schwar­ zen Qualms», des Kreischens der Räder, des Ratterns der Webstühle, des Lärms der Öfen, des Pfeifens der Dampfventile, vor allem aber, weil die chaotisch wachsende Stadt sich inmitten von Haufen menschlichen Un­ rats erhob. Sie selbst glich einer großen Kloake, aus der jedoch ein «Strom menschlicher Industrie entsprang, der das Universum befruch­ tet» und sich draußen auf dem Weltmarkt in «pures Gold» verwandelte. Hier aber, wo «der menschliche Geist sich perfektioniert und abstumpft, wo die Zivilisation ihre Wunder produziert, verwandelt sich der zivili­ sierte Mensch fast wieder in einen Wilden».32 Auf einen ähnlich düsteren, zugleich kämpferischen Ton war der junge Friedrich Engels in seinem 1845 erschienenen Bericht über «Die Lage der englischen Arbeiterklasse» gestimmt. Gleich bei seiner Ankunft im ­August 1842 in London mischte sich in den überwältigenden Eindruck dieser Welthauptstadt der eines Straßengewühls, das «etwas Wider­ liches» hatte, weil alle «aneinander vorüber (rennen), als ob sie gar nichts … miteinander zu tun hätten». In dieser «brutalen Gleichgültig­ keit» aller gegen alle zeige sich die «Auflösung der Menschheit in Mona­ den, deren jede ein apartes Lebensprinzip und einen aparten Zweck hat», und in der unausgesprochen schon ein «sozialer Krieg» herrsche.33 Manchester erschien ihm bereits so angelegt, dass die besitzenden Klassen jahrelang darin leben könnten, «ohne je in ein Arbeiterviertel oder nur mit Arbeitern in Berührung zu kommen». Hier lebten die arbei­ tenden und besitzenden Klassen wie «zwei ganz verschiedene Völker» nebeneinander. Die Hälfte der Arbeiterkinder starb vor dem fünften ­Lebensjahr – allein wegen der hygienischen Verhältnisse in ihren Wohn­ höhlen und Quartieren, die er mit einer Art faszinierter Abscheu schil­ derte. Was den Proletariern in dieser Situation an Lebensgenüssen bleibe, sei «neben der Zügellosigkeit im Genuss geistiger Getränke … die Zügello­ sigkeit des geschlechtlichen Verkehrs» – eine soziale Entbindung, deren

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positive Seite es immerhin sei, dass die Arbeiter (und natürlich auch die Arbeitermädchen) «unbefangener, freier von überkommenen stabilen Grundsätzen und vorgefassten Meinungen» seien als die bigotten Bour­ geois. Tatsächlich, schrieb Engels, mache «die soziale Ordnung dem ­Arbeiter das Familienleben fast unmöglich», und daher sei es ein gesell­ schaftliches Naturphänomen, über das sich moralisch längst nicht mehr rechten lasse: dass «mit der Ausdehnung des Proletariats … auch das Verbrechen in England zugenommen» habe, sodass «die britische Nation … die verbrecherischste der Welt geworden» sei. Darin mache sich eine soziale Wut Luft, die auf einen kommenden revolutionären Ausbruch verweise  – eine Vorhersage, die «nirgends so leicht als gerade in England» zu machen sei: «Die Revolution muss kommen, es ist jetzt schon zu spät, um eine friedliche Lösung der Sache herbeizu­ führen.»34 Engels’ «Lage der arbeitenden Klasse in England» war in vielem ein direktes Echo der epischen Betrachtungen über «Past and Present», Ge­ genwart und Vergangenheit Englands, die der konservative, germano­ phile Erfolgsautor Thomas Carlyle kurz zuvor veröffentlicht hatte. In Wendungen, die an biblische Bannflüche erinnerten, hatte er darin den Widersinn und ruinösen Charakter der neuen industriellen und kom­ merziellen Weltordnung überhaupt angeprangert: «England ist voller Reichtum, mannigfacher Produkte und Angebote für jede Art mensch­ licher Bedürfnisse; und doch stirbt England an Entkräftung. Mit unver­ mindertem Überfluss blüht und wächst das Land, voller wogender gel­ ber Ernten, dicht gepackt mit Werkstätten, industriellen Anlagen, mit fünfzehn Millionen Arbeitern, die als die kräftigsten, die klügsten und die willigsten der Welt angesehen werden … Von diesen erfolgreichen, fähigen Arbeitern sitzen zwei Millionen, wie man jetzt gezählt hat, in Ar­ beitshäusern, in Armengefängnissen, oder sie bekommen externe Sozial­ hilfe (‹out-door relief›) über die Mauer geworfen – sodass die Arbeits­ haus-Bastille bis zum Bersten gefüllt ist …»35 Und er rief die antike Parabel vom König Midas auf, der Apollo belei­ digt hatte und unter dessen Händen sich alles, was er berührte, zur Strafe in Gold verwandelte – sodass er verhungerte. Die inmitten von Überpro­ duktion stillgelegte Arbeitskraft stelle England die Sphinx-Frage: «Was beabsichtigst Du mit uns zu tun?» England müsse diese Frage beantwor­ ten, oder England werde untergehen.

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Diese hässliche neue kapitalistische Welt mit ihren schwindelerregenden Karrieren und jähen Abstürzen, ihrer entfesselten Besitzgier und zyni­ schen Kälte dominierte auch einen großen Teil der Belletristik des Zeit­ alters. Eugène Sues «Geheimnisse von Paris» oder Victor Hugos «Die Elenden», Honoré de Balzacs «Comédie humaine», oder Charles Di­ ckens’ Panoptikum schmutzig abgefeimter oder unschuldig reiner, tra­ gisch ins Unglück gestürzter oder glücklich erretteter Figuren aus dem Dickicht der englischen Städte – sie alle bildeten so ziemlich die popu­ lärste Massenliteratur ihrer Zeit, und ihre Autoren gehörten zu den ver­ ehrtesten, schon zu Lebzeiten auf Denkmäler erhobenen Schriftstellern ihrer Länder. Moderne Fabriken und Fabrikarbeiter werden in der Literatur und Publizistik dieser Zeit indessen fast nirgends zu Protagonisten. Die be­ wegenden Berichte der Fabrikinspektoren oder Armenärzte über Fabrik­ kinder, die bei mörderischer Hitze und Lärm unter den Maschinen hus­ tend den Baumwollstaub zusammenkehrten, oder über halbnackte junge Mädchen, die in den Bergwerken in gebückter Haltung schwere Loren mit Kohle schleppten, scheinen in der literarischen Öffentlichkeit nur ein beschränktes Echo gefunden zu haben. Diese «Unterwelt der Arbeit», von der Marx im «Kapital» sprechen würde, galt offenbar noch nicht als ein Problem, das die Gesellschaft im Ganzen bestimmte und affizierte. Selbst in Dickens’ Romanen und Erzählungen findet sich nur im «Old Curiosity Shop» von 1840 einmal die Schilderung eines eigentlichen ­Industriebezirks. Dann aber ist es, als beträten seine beiden tragischen Helden, die immer schwächer werdende kleine Nell und ihr Großvater, bei ihrer Flucht durch das kaltherzige England eine höllische Sonder­ zone, in der nur Schatten von Menschen ein lemurenhaftes Leben fris­ ten. Assoziationen mittelalterlicher Höllenszenen liegen auf der Hand, nur dass die teuflischen Ungeheuer dieser Unterwelt belebte Maschinen sind.36 Freilich machte schon der mediale Kontext (die behaglich am Kamin zu lesenden Magazine, in denen Dickens meistens schrieb) die Exotik deutlich, die diese Geschichten für seine eher gutsituierten Leser und ­Leserinnen (zu denen auch Königin Victoria gehörte) gehabt haben dürf­ ten. Ganz sauber trennen ließen sich die Welten der Armen und der Rei­ chen, der besitzenden und der «working poor», der «Zwei Nationen», von denen der Tory-Abgeordnete und spätere Ministerpräsident Benja­ min Disraeli in seinem Roman «Sybil, or the Two Nations»37 zur selben Zeit wie Engels gesprochen hatte, freilich nicht.

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Der Schwindel des Aufschwungs Die Fährnisse des modernen Geschäftslebens selbst waren dazu angetan, immer neue Schockwellen auch durch die besitzenden Klassen zu schi­ cken. England war, ähnlich wie Frankreich oder die Niederlande, bereits Anfang des 18. Jahrhunderts von Schüben des Spekulationsfiebers mit Kolonialaktien und Rentenpapieren erfasst worden, die in spektaku­ lären «Bubbles» (Blasen), in Bank- und Börsenkrächen endeten. Der stärkste Hebel und Auslöser waren dabei allerdings die Finanz- und ­Kreditbedürfnisse der Staaten selbst, vor allem im Krieg. So war in einer sinnträchtigen Koinzidenz im Februar 1797, als Frankreich sein revolu­ tionäres Papiergeld aus dem Verkehr ziehen musste, die Bank von Eng­ land von der Verpflichtung entbunden worden, ihre Banknoten weiter­ hin in Münzgeld umzutauschen. Mit dieser improvisierten, ganz aus den Bedürfnissen der Kriegsfinan­ zierung und Überschuldung geborenen und kaum näher begründeten Entscheidung wurde über Nacht das Prinzip kassiert, das hundert Jahre zuvor unter der Ägide Isaac Newtons als Leiter der königlichen Münze eingeführt worden war, wonach das Pfund Sterling (die an die Silber­ preise gebundene Münze oder Note) jederzeit und von jedermann in Gold umgetauscht werden konnte, auch wenn in Wirklichkeit, wie ein zeitgenössischer Ökonom feststellte, alles Gold und Silber der Welt nicht genügt hätte, Ansprüche dieser Art zu befriedigen.38 Jetzt war es die ­(statistisch kaum schon erfassbare) Wertschöpfung oder gleichsam die «Bonität» des ganzen Landes, die als eine Deckung des umlaufenden ­Papiergeldes dienen sollte  – eine für den gemeinen Menschenverstand nicht nachvollziehbare Operation. Das bedeutete, dass «der Zusammen­ bruch des Systems nur durch seine endlose Fortsetzung vermeidbar, d. h. aufschiebbar» war, ein Schritt, der wie eine trügerische «creatio ex ni­ hilo», eine Schöpfung aus Nichts, erschien.39 Den Zeitgenossen drängte sich jedenfalls zunächst ein Gefühl des akuten «Schwindels» auf, das sich in einer Flut von Karikaturen, Spottgedichten und Pamphleten ent­ lud. Tatsächlich handelte es sich bei der Schöpfung des Papiergelds nur um den letzten Schritt in der Herausbildung eines immer komplexer inei­ nandergreifenden, immer globaler ausgreifenden Geldkreislauf- und Kreditschöpfungssystems, in dem niemals klar war und klar sein konnte, welche umlaufenden Warenwerte und materiellen Sicherheiten den ge­

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machten Vorschüssen und erwarteten Risiken gegenüberstanden. Eben das besagte freilich schon das Wort «Kredit» (von credere, vertrauen), so wie die «Revenue» ihre früheste und schlagendste Form im Hinaus­ fahren und Zurückkehren eines mit Waren beladenen Handelsschiffes hatte.40 Aber würden die Menschen, würden ganze Gesellschaften so leben können? Trug dieses System eines sich global verschränkenden Finanzund Industriekapitalismus nicht den Keim des Verderbens in sich? We­ der eine durchkapitalisierte noch eine vollständig industrialisierte Ge­ sellschaft lag damals im Horizont der Zeitgenossen. Und nicht einmal die neuen Fabrikanten selbst konnten sich das vorstellen. Als soziale Aufsteiger waren ihre gesellschaftlichen und persönlichen Ziele bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts daher eher beschränkter und handfesterer Natur: die immensen Gewinne, die sich in Konjunkturzeiten mit einer rasch eröffneten Textilfabrik machen ließen, entweder zu verprassen oder für repräsentative Zwecke auszugeben; oder aber ihr Geld in si­ chere Häfen zu bringen, vornehmlich in immobiles Eigentum wie ein Landgut, um auf dieser Basis einen vornehmeren gesellschaftlichen Sta­ tus, vorzugsweise einen Adelstitel, zu gewinnen. Geschäftserweiterun­ gen, Modernisierungen, Innovationen kamen erst an zweiter Stelle. Die klassische «politische Ökonomie» spendete nur wenig Trost und ­Sicherheit; jedenfalls nicht, wenn man die eingebauten Krisen- und Ver­ fallstendenzen berücksichtigt, die Adam Smith der von ihm in ersten Grundzügen beschriebenen «kommerziellen», später «kapitalistisch» genannten Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung attestiert hatte. Dabei hatte er noch im sonnigen Herbst des «alten England» und seiner «in­ dustrious revolution» gelebt und geschrieben. Aber der irritierende Grundgedanke stand bei Smith schon im Raum: dass mit wachsender Saturierung der Märkte und auf einem hohen Niveau kommerzieller Prosperität sowohl die Löhne wie die Profite tendenziell fallen müssten. Die eigentlich «goldene» Phase dieser arbeitsteiligen Marktwirtschaft war demnach die des Aufstiegs und einer möglichst gleichmäßigen und vielseitigen Entwicklung – die an irgendeinem, vielleicht gar nicht fernen Punkt dann in einen eher stationären Zustand zurückfallen musste.41 «Hat ein Land einmal das Höchstmaß an ausgeglichenem Wohlstand erreicht, den es aufgrund der Eigenart seines Bodens und Klimas sowie seiner Lage zu anderen Ländern überhaupt erwerben kann, dürften dort Arbeitslohn wie Kapitalgewinn äußerst niedrig sein.»42 Durch die gestei­

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gerte Konkurrenz werde für die Anbieter von Arbeitskraft wie von Ar­ beitsprodukten die Luft zum Atmen immer dünner; zumal wenn sich die Arbeitsteilungen zwischen den verschiedenen Ländern einspielten und ein Zustand einer allgemeinen industriellen Konkurrenz und Überpro­ duktion eintrat. Hauptgewinner würden dann außer den reinen Zwi­ schenhändlern die Rentiers sein, die die Grundrenten abschöpfen oder von den «enormen Schulden» profitieren könnten, «die heute in allen Staaten als drückend empfunden und auf die Dauer vermutlich zum Ruin führen werden».43 Bei den Nachfolgern von Smith, so etwa David Ricardo, schienen die Gesetzmäßigkeiten der Wirtschaftskreisläufe sogar fast auf eine Entro­ pie des ganzen Systems im Moment seiner Reife hinauszulaufen. Die malthusianischen Bevölkerungsgesetze drückten unvermeidlich auf die Lebensbedingungen der Armen; die immer schlechteren Böden, die dann in Betrieb genommen werden mussten, ließen die agrarischen Erträge ge­ setzmäßig sinken; und der immer höhere Kapitaleinsatz zur Ermög­ lichung weiterer Produktivitätsfortschritte der Industrie musste auch die Profite der Fabrikanten verfallen lassen – eine Vorform des von Marx später formulierten Gesetzes vom «tendenziellen Fall der Profitraten». Selbst die eigentlich vorteilhaften internationalen Arbeitsteilungen und Konkurrenzen mussten sich letztlich gegen das avancierte England richten. Am untersten Ende dieser Nahrungskette standen unausweich­ lich die, die auch nach Ricardos Lehre allen Reichtum schufen: Arbeiter, die einem eisernen Lohngesetz unterworfen waren: «Hohe Löhne, wenn sie allgemein sind, beeinträchtigen gleichermaßen die Gewinne des Far­ mers, des Fabrikanten und des Kaufmanns. Es gibt keinen anderen Weg, die Profite hoch zu halten, als den, die Löhne niedrig zu halten.»44 Das war keine Empfehlung, nur eine nüchterne Feststellung. Das ein­ zige, was die Lage der arbeitenden Massen Englands bessern könne, so Ricardo, wäre der Import billigen Getreides, also die Aufhebung der 1815 eingeführten «Korngesetze», die zugunsten der einheimischen Grundbesitzer hohe Schutzzölle vorschrieben. Freilich legte Ricardo selbst, der an der Börse früh ein Vermögen gemacht hatte, sein Geld zum Lebensende lieber wieder in Landbesitz an, der sichersten Einkommens­ quelle, solange die Korngesetze bestanden, die er eigentlich bekämpfte. Industrielle Investitionen waren ihm zu riskant. Dazu passt es, dass sich weder bei Ricardo noch sonst irgendwo in der klassischen englischen oder schottischen Nationalökonomie die produk­ tive Rolle der Fabrikanten, Unternehmer und modernen Kapitalisten

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­ ositiv gewürdigt findet. Vielmehr sind sie auch nur Rentiers, die mit p ­ihren industriellen Profiten die Erträge der Arbeitskraft, d. h. der mas­ senhaften «Anwendung» und kollektiven Geschicklichkeit ihrer Arbei­ ter, abschöpfen, so wie die Grundbesitzer die Erträge der Landarbeit und Bodenfruchtbarkeit. Nur bei einigen französischen Ökonomen wie etwa Jean-Baptiste Say, dem Frühsozialisten Saint-Simon oder dem «Positivis­ ten» Auguste Comte findet sich unter den «industrieux», d. h. den ge­ werblich Aktiven, auch schon die positive Gestalt des «entrepreneurs», des Unternehmers, dessen Investitionen in lohnende Industrie- und Er­ werbszweige einem bloßen, parasitären Rentierstum gegenübergestellt wurden – ohne dass dieser Unternehmer (der noch eher Kaufmann oder Verleger war) schon als der eigentliche Organisator und Innovator der Produktion erschienen wäre. Die französischen Autoren radikalisierten sogar noch die von Adam Smith vertretene Auffassung, wonach außer der menschlichen Arbeit nur die Natur wertschöpfend sei. Destutt de Tracy vertrat die Meinung, dass auch die Natur nur durch die Arbeit der Menschen nutz- und frucht­ bar gemacht werde. Was die Quellen des gesellschaftlichen Reichtums betrifft, «gibt es nichts in der Welt außer Arbeit».45 Man versteht daher, warum die Wege der klassischen Nationalökonomie mit gleicher Logik zum Liberalismus wie zum Sozialismus geführt haben. Auch in England mussten erst die 1830 er Jahre kommen, damit in den sich verschärfenden sozialen und politischen Auseinandersetzungen bür­ gerliche Theoretiker von Gewicht auftraten, die im «Fabriksystem», der «Maschinerie» oder «großen Industrie» nicht nur etwas historisch Neues, sondern auch potentiell Befreiendes und gesellschaftlich Berei­ cherndes sahen und deshalb in den Fabrikanten, Kaufleuten und techni­ scher Intelligenz die wahren Demiurgen einer neuen Welt des Reichtums und des Fortschritts entdeckten und rühmten. Ihr Pionier war der quecksilbrige Verfechter der Universaltheorie des «Utilitarismus», Jeremy Bentham, dessen nie realisierte Vorstellungen ­eines «Panopticon» als einer wissenschaftlich perfektionierten Maschine zur optimalen Überwachung, Disziplinierung und Ausnutzung von Strafgefangenen bei den Planungen der zu errichtenden «Arbeitshäuser» mit Pate standen.46 Aber Bentham war auch ein unermüdlicher Refor­ mer, der sich einer Optimierung sämtlicher Lebensbereiche verschrieben hatte. Zu seinen Vorschlägen gehörten eine alle zehn Jahre durchzufüh­ rende Volkszählung und ein Personenstandsregister für die Verwaltung

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der Bevölkerung; die Gründung von Volkssparkassen (auch zum Schutz vor Wucher) oder die Errichtung von Kühlhäusern für Obst und Gemüse und ein öffentliches Erziehungs- und Gesundheitswesen. Letzteres sollte neben der allgemeinen Hygiene Mittel und Methoden der Empfängnis­ verhütung (vor allem natürlich bei den Armen) propagieren. Den ge­ werblichen Mittelstand wollte Bentham durch besseren Patentschutz ­sowie ein sicheres Insolvenzrecht (das bei Bankrott nicht ins Schuld­ gefängnis führte) fördern und durch eine amtliche Schulung im Vokabu­ lar des modernen Geschäftslebens geradezu aufziehen. Schließlich hatte Bentham den Verzicht auf Kolonien im Sinn und stattdessen die Schaf­ fung von großen Aktiengesellschaften zum Bau von Kanälen, die die Weltozeane miteinander verbinden sollten  – visionäre Vorstellungen, wie sie zur selben Zeit auch bei den französischen Saint-Simonisten im Schwange waren, aus deren Schule eine Generation später dann auch tatsächlich die Gründer der ersten Aktienbanken und Kanalbaugesell­ schaften hervorgehen würden. Man hat es bei den liberalen Fortschrittsmännern dieser Periode also nicht mit Finsterlingen zu tun; auch nicht dort, wo sie gegenüber der ent­ stehenden Arbeiterbewegung eine schroffe Antiposition einnahmen. Dem Chemiker Andrew Ure, der 1835 eine «Philosophy of manufactu­ res» entwickelte, attestierte Marx in seinen ökonomisch-technologi­ schen Exzerpten von 1860/61 immerhin, «den Geist des Fabriksystems zuerst richtig aufgefasst … zu haben»47 – nur um ihn im «Kapital» als bourgeoisen Ideologen ersten Ranges vorzuführen, der die Stirn gehabt habe, den englischen Arbeitern allen Ernstes den Vorwurf zu machen, dass sie sich «die Sklaverei der Fabrikakte» (staatlicher Schutzgesetze) auf ihre Fahnen geschrieben hätten, statt männlich für die «vollkom­ mene Freiheit der Arbeit» einzustehen.48 Immerhin finden sich in Ures Fabrikphilosophie einige Formulie­ rungen, die stark an die Eingangspassagen des «Kommunistischen Ma­ nifests» erinnern, so wenn es bei ihm heißt: «Daher sind in der kurzen ­Periode von fünfzig Jahren unter ihren Auspizien (denjenigen der güti­ gen Kraft des Dampfes) und gemäß dem Konzept von Arkwright groß­ artige Gebäude in diesem Königreich entstanden, welche nach Zahl, Wert und Genialität der Konstruktion die vielgerühmten Monumente des asiatischen, ägyptischen und römischen Despotismus bei weitem übertreffen und dadurch zeigen, in welchem Ausmaß Kapital, Fleiß und Wissenschaft die Ressourcen eines Staates vergrößern können, während sie die Lage der Bürger verbessern.»49

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Der endgültige Durchbruch zu einer «Marktgesellschaft» im Sinne der liberalen Ökonomen kam aber erst mit dem Sieg der von Richard Cob­ den, einem Fabrikanten aus Manchester, 1838 auf die Beine gestellten Anti-Corn Law-League, der Liga gegen die Gesetze, mit denen der ein­ heimische Getreideanbau gegen Importe abgeschirmt werden sollte. Sie entwickelte sich binnen Kurzem zu einer (mit den Chartisten teils kolli­ dierenden und teils rivalisierenden) demokratischen Massenbewegung eigener Ordnung. 1846 gelang es Cobden – nicht zuletzt angesichts der Hungerkatastrophe in Irland – durch seine unermüdliche Agitation und Publizistik sowie als Abgeordneter der Liberalen Partei, die Korngesetze im Parlament zu Fall zu bringen; vor allem, nachdem er die materielle Lage der Arbeiter und Armen in England selbst verstärkt in seine Kam­ pagne einbezogen und andere soziale Reformfragen wie die allgemeine Schulbildung mit auf seine Agenda gesetzt hatte. Das war ein Durchbruch von ungeahnter Dimension. Britische Histo­ riker schreiben Cobden und seiner League das gewaltige Verdienst zu, dass er, mehr durch die psychologischen Effekte als die ökonomischen Wirkungen seiner Agitation, «die nationale Psyche aus der malthusiani­ schen und ricardianischen Zwangsjacke entlassen» habe.50 Damit löste sich die theoretisch und faktisch scheinbar wohlbegründete Assoziation von Industrialisierung und Urbanisierung mit Pauperismus, Überbevöl­ kerung und Verwahrlosung. Die Große Industrieausstellung 1851, in deren Mitte sich die lichte Stahlkonstruktion des von aller Welt bewunderten Kristallpalasts erhob, führte sechs Millionen Besucher nach London, viele aus dem europä­ ischen Ausland und aus Amerika, der größte Teil aber aus dem eigenen Land, darunter eine große Anzahl von Arbeiterfamilien im Sonntags­ staat. Erst da merkte Großbritannien, dass es auf keinem selbstzerstöre­ rischen Sonderweg war, sondern im Gegenteil anderen Nationen, die ihm auf dem Fuß folgten, als Vorbild diente. Das rapide angewachsene Geflecht von Eisenbahnen und der schiere, meist unschöne, aber impo­ sante Anblick der aufschießenden und in alle Richtungen expandieren­ den Metropole zeigte den Briten, dass sie ab jetzt eine vorwiegend ur­ bane, industrielle und globale Zivilisation waren.51

3. Das Gespenst des Proletariats

Vom Pauper zum Proletarier

S

olange es … eine soziale Verdammnis gibt, die inmitten unserer Zivi­ lisation künstlich Höllen schafft und der göttlichen Vorsehung ein menschliches Fatum hinzufügt, solange die drei Probleme des Jahrhun­ derts, die Entwürdigung des Mannes durch das Proletarierdasein, die Schändung des Weibes durch den Hunger, die Verwahrlosung des Kindes durch die geistige Finsternis, in der es gehalten wird, solange diese drei Probleme nicht gelöst sind, solange in gewissen Lebensbezirken der so­ ziale Erstickungstod möglich ist …, dürften Bücher wie dieses hier nicht überflüssig sein.»1 Diesen langen, wie in Stein gemeißelten Satz stellte Victor Hugo am Neujahrsmorgen 1862 in seinem Exil auf der englischen Kanalinsel Guern­ sey seinem epischen Roman «Les Misérables», einem der großen Bestsel­ ler des 19. Jahrhunderts, als Vorwort voran. Damit formulierte er einen positiven Anspruch, wie ihn frühere Generationen nur ausnahmsweise hatten denken, geschweige erheben können. Nun wirkte es zumindest nicht abseitig, wenn die «soziale Verdammnis» des Proletariers als «künst­ lich» gebrandmarkt wurde. Dabei war Hugo alles andere als Sozialist oder Revolutionär, auch wenn er von seinen ursprünglichen monarchischen Neigungen inzwi­ schen kuriert war. Zwar firmierte jetzt die «rote» Revolution, die er 1848 noch entschieden bekämpft hatte, in den zentralen Kapiteln, in ­denen er seine Helden unter einem geheimnisvollen blutroten Banner am republikanischen Aufstand des Jahres 1832 teilnehmen lässt, als ein legi­ timer Teil der republikanisch-demokratischen Befreiungsversuche des Volkes. Aber das Vorwort von 1862 ließ sich auch als eine Warnung oder Prognose lesen: Neue Aufstände und Rebellionen waren nur eine Frage der Zeit. Als Hugo 1871 aus seinem Exil nach Frankreich zurück­ kehrte, wurde er prompt Zeuge der Erhebung und Abschlachtung der Pariser Commune, eines erneuten Bruderkriegs, der alle Schreckensbil­ der von 1793, 1832 und 1848 noch einmal in Erinnerung rief. Der Kreislauf des mörderischen Hasses ließ ihn nicht los, mit dem das

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adelige und das klerikale, das bürgerliche und das provinzielle, das im­ periale und das nationale Frankreich, so zerstritten sie untereinander waren, sich in jeder politischen Krise durch ein hauptstädtisches, prole­ tarisches Frankreich bedroht sahen; und wie sie unisono und regelmäßig das «rote» Schreckensregime der Sansculotten von 1793 herbeizitierten, um deren Erben niederzuhalten – die ihrerseits auf blutige Rache sannen und sich immer von Neuem in die alten Kostüme hüllten. In seinem letz­ ten historischen Roman «Dreiundneunzig» (der 1874 erschien) ent­ rückte Hugo die Große Revolution und den französischen Bürgerkrieg von einst in die Sphäre eines kosmischen Dramas, worin die Handelnden (ähnlich wie in Büchners «Dantons Tod») von unsichtbaren Drähten und Schicksalsfäden gezogen schienen, während der Leser aufgerufen war, alles Geschehene als eine dunkle historische «Notwendigkeit» zu verstehen, die «wie eine klimatische Katastrophe» ein Land «verwüsten und beleben» kann. In Hugos Romanfiguren konnten sich alle Teile der zerrissenen Nation wiedererkennen. Um Großschriftsteller und Große Erzählungen dieses Typs haben sich in vielen Ländern Europas, Amerikas und später der ­übrigen Welt nicht nur Nationalbewegungen formiert und Nationen «erfunden».2 Auch die modernen Sozial- und Klassenbewegungen muss­ ten erst «erfunden» werden, bevor sie ein Bild von sich selbst gewinnen konnten. So wurde der tote Hugo, mit dessen Begräbnis 1885 das Pariser Pan­ theon als Ruhmeshalle Frankreichs wiedereröffnet wurde, zum Kron­ zeugen einer bürgerlichen Republik erhoben, die sich all die revolutio­ nären Symbole von 1789/93 (von der Trikolore über die Marseillaise bis zur phrygischen Mütze) wiederaneignete und damit verstaatlichte. Aber gleichzeitig wurde Hugo auch schon zu einem frühen Klassiker der so­ zialistischen Parteiliteratur. Einige seiner Helden, wie der halbwüchsige, stets fröhliche Barrikadenkämpfer «Gavroche», der Delacroix’ Gemälde «Die Freiheit führt das Volk» von 1830/31 direkt entsprungen schien, sollten es Jahrzehnte später zu emblematischen Figuren des «Sozialisti­ schen Realismus» stalinistischer Prägung bringen. Der Auftritt des «Proletariers» – oder des «Arbeiters» – auf der politi­ schen und weltanschaulichen Bühne der 1830 er/40 er Jahre ergab sich nicht einfach von selbst. Als eine neue Zentralfigur des Zeitalters musste er zunächst entworfen werden, bevor er als Antipode des Bourgeois und Industriellen soziologische Kontur und politische Statur gewinnen konnte.

3. Das Gespenst des Proletariats

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Aus dem grassierenden Pauperismus ließ sich der Begriff einer «Arbeiter­ klasse» oder «Arbeiterbewegung» jedenfalls nicht ableiten. Vielmehr be­ durfte es zur Nobilitierung des «Proletariers» oder «Arbeiters» einer theoretischen Fundierung, wie sie die klassische politische Ökonomie von Adam Smith bis David Ricardo mit ihrer Ansicht, dass die Arbeit die Quelle allen Werts sei, allerdings bereits geliefert hatte. So stellte der preußische Sozialwissenschaftler Lorenz von Stein 1842 in seiner frühen Beschreibung des französischen «Socialismus und Communismus» defi­ nitorisch fest, «dass Alles was nicht zur Lehre von der Arbeit und ihrer Alleinherrschaft gehört, nicht zum eigentlichen Sozialismus zu rechnen ist».3 Solche Gedanken überhaupt fassen zu können, hieß freilich schon Neuland zu betreten. Entbehrungsreiche Arbeit, persönliche Abhängig­ keit und Armut waren schließlich in der gesamten menschlichen Ge­ schichte und in allen Gesellschaften der Welt (mit wenigen Ausnahmen) der Normalfall gewesen, an dem die meisten Menschen auch nichts än­ dern konnten. Soweit es sich bei den «Klassenkämpfen» oder politischen Umstürzen, die die Weltgeschichte von Europa bis China erfüllt hatten, nicht nur um Fraktionskämpfe innerhalb der Eliten oder um Rebellionen gegen Fremdherrschaften, sondern tatsächlich um Aufstände unterdrück­ ter und verelendeter Gesellschaftsschichten gegen ihre eigene Obrigkeit oder besonders ausbeuterische Oberschicht gehandelt hatte, hatte es stets eines starken Legitimitätsgefühls der Aufständischen bedurft, wie es nur die Berufung auf ein altes Recht oder auf eine imaginäre, göttlich begründete ewige Ordnung liefern konnten, die die Herren oder Herr­ scher selbst außer Kraft gesetzt hätten. Das war das retrograde Element in all diesen volkstümlichen Auflehnungen, das auch alle literarischen Utopien der Neuzeit und alle naturrechtlichen Philosophien der Aufklä­ rung weithin kennzeichnete – und in den kommunistischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts jenseits aller Theorien und Deklarationen neue Viru­ lenz gewann. Noch immer habe es, so Barrington Moore, der «politischen Präsenz ir­ gendeiner Form von Organisation» sowie vielleicht auch der schrift­lichen Artikulation gesellschaftlicher Klagen bedurft, um das eigene Unglück überhaupt als eine menschengemachte Ungerechtigkeit wahrzunehmen statt als ein gott­gegebenes oder natürliches Fatum.4 Die «Unberühr­baren» in der Kastengesellschaft Indiens waren für ihn nur ein «extremes Bei­ spiel» für eine all­gemeine Tatsache: nämlich dass ein sicherer, aber nied­ riger Status «leichter zu ertragen (ist) als überhaupt keiner».5 So besaßen

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Teil V: Die Geburt der modernen Welt

selbst die Bettler in einer neuzeitlichen europäischen Stadt oder die amt­ lich registrierten «Armen» im elisabethanischen England, obwohl sie ­außerhalb der eigentlichen, von Privilegien und Besitz, Ständen, Zünften und Korporationen bestimmten Gesellschaft standen, einen Status als Empfänger kirchlicher oder staatlicher Almosen. Erst wenn sie sich über die ihnen zugewiesenen Orte hinaus bewegten, wurden sie zu Vaganten oder Gesetzlosen. Die Dramatik der modernen Arbeiterexistenz, im Unterschied zu den Armen früherer Gesellschaften, lag zunächst also im Verlust jedes defi­ nierten gesellschaftlichen Status’. Ein «Proletarier» war ein auf seine nackte physische Existenz reduzierter Mensch, der sich selbst und seine beliebig nutzbare Arbeitskraft als Ware feilbieten musste, um überleben zu können. Aber zugleich waren diese modernen «working poor» eben nicht einfach Besitzlose, sondern sie waren diejenigen, die nach herr­ schender Lehre der Politischen Ökonomen einen Großteil, wenn nicht den gesamten gesellschaftlichen Reichtum schufen  – einen Reichtum, der sich absolut, sprunghaft und sichtbar vergrößerte. Dieser Reichtum sammelte sich aber in den Händen einer Klasse von neuen Privateigen­ tümern, die im Unterschied zu ihren historischen Vorläufern, Monar­ chen und Aristokraten, Beamten oder Klerikern, nicht einmal nominell eine gesamtgesellschaftliche Schutz- oder Ordnungsfunktion ausübten, sondern reine, dem Gewinnstreben hingegebene Privatleute waren. Dass es eine Gesellschaft ohne Hunger, Armut, Überarbeitung und ohne die scheinbar ehernen «malthusianischen» Bevölkerungsgesetze überhaupt geben könnte, war ein Gedanke, der erst im Laufe des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts und wohl nur in Europa aufkommen konnte; und dies nicht mehr nur als die millenaristische Hoffnung auf das Jüngste Gericht und Paradies und auch nicht als der starr-utopische Traum einer Insel Nirgendwo oder eines unbestimmten Irgendwann  – sondern als eine reale Möglichkeit im Hier und Jetzt.6 Wenn die Chartistenbewegung in England in ihrer zehnjährigen, stürmi­ schen Karriere zwischen 1838 und 1848 zum ersten Male Züge einer or­ ganisierten Arbeiterbewegung zeigte, dann lag das gerade an ihrem pri­ mär politischen sowie an ihrem sozial noch ganz heterogenen und wel­ tanschaulich ambivalenten Charakter. Gerade darin war sie ein Vorläufer der späteren sozialistischen Partei- und Gewerkschaftsbewegungen, die ebenfalls alles andere als monolithisch und zwangsläufig politisch waren. Im englischen Chartismus – dem Kampf für eine «Volkscharte», in deren

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Zentrum der Kampf um das allgemeine Wahlrecht (für Männer) stand – mischten sich verschiedene Strömungen und Motive. Sie gingen zurück auf den republikanischen Radikalismus der Religions- und Revolutions­ kriege, auf die Traditionen der konspirativen und zeitweise gewaltsamen Selbstverteidigungsbewegungen der Handwerker und Kleinmeister ge­ gen die maschinelle Konkurrenz, auf die frühe Sozialbewegung für den Zehn-Stunden-Tag und Reformen der Arbeitsschutzgesetze, wie sie seit 1830 von Jung-Tories, intellektuellen Romantikern, religiösen Dissiden­ ten und bürgerlichen Philanthropen initiiert worden waren. Aber auch Teile der frühsozialistischen, betont unpolitischen Genossenschafts­ bewegung des Fabrikanten, Philanthropen und laizistischen Erweckungs­ predigers Robert Owen, die ihre eigenen Organisationsformen und ­Sozialmilieus ausgebildet hatte, wurden vom aktivistischen Strom des Chartismus mitgerissen. Dazu kamen noch die vielfältigen Impulse, die in Großbritannien von der katholischen Emanzipations- und der irischen Unabhängigkeits­ bewegung ausgingen. Diese bedienten sich, soweit sie nicht in terroristi­ schen Untergrundaktivitäten gefangen blieben, ähnlicher Kampfformen wie die Chartisten. Ihr spektakulärstes Mittel waren die «Monster­ demonstrationen» auf freiem Feld, zu denen Zehntausende, manchmal Hunderttausende kamen und bei denen symbolisch, aus Sicht der Behör­ den aber bedrohlich genug, paradiert und exerziert wurde, während in Reden und Gesängen die Erinnerungen an die Märtyrer der vergangenen Sozialkämpfe, Freiheits- und Unabhängigkeitsbewegungen beschworen wurden. Auch in England selbst hatte es seit den späten 1770 er Jahren immer wieder militante Proteste gegen die Errichtung erster, maschinenbetrie­ bener Textilbetriebe gegeben. Zwischen 1811 und 1817 hatten nächt­ liche Trupps von «Ludditen» (den Ordres eines mysteriösen «King Ludd» gehorchend) Spinnmaschinen und Dampfwebstühle zerstört oder Ge­ bäude in Flammen aufgehen lassen. Darauf stand die Todesstrafe, die in etlichen Fällen auch öffentlich vollstreckt worden war. Es war ein stum­ mer, verbissener Kampf gewesen, der in der Erinnerung überlebensgro­ ßes Format gewann. Nach der französischen Juli-Revolution 1830 flammten die politi­ schen und sozialen Unruhen in England mit neuer Energie wieder auf. Die Forderungen gegen das willkürliche und «verrottete» System der ­politischen Repräsentation wurden kühner und kulminierten in der «Re­ formkrise» von 1831/32, während sich die Kundgebungen der Radika­

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len immer stärker zur «allerniedrigsten Klasse» hin verschoben, wie der Privatsekretär des Königs besorgt vermerkte.7 Da war er also, der Begriff der «Klasse», der offenkundig bereits in den allgemeinen Sprachgebrauch eingegangen war und ältere Vorstel­ lungen und Redeweisen von «ranks» and «orders», von Schichten oder von «Klassen» im Sinne von Zensusklassen oder aristokratischen Rang­ stu­fen abgelöst hatte. Jetzt war immer häu­figer schon von «der Arbeiter­ klasse» (im Singular) die Rede, in ihrem Gegensatz zur «Mittelklasse», die alle nicht-adeligen Besitzbürger umfasste und diese Bezeichnung an­ ders als die französische «Bourgeoisie» mit wachsendem Selbstbewusst­ sein gegenüber dem Adel auch für sich gewählt hatte. Das Wort «Klasse» entfaltete unter den Engländern «eine eigentüm­ liche Wirkung: Alles, von ihren Schulen bis zu ihren Läden, von ihren Bethäusern bis zu ihren Vergnügungen, verwandelte sich in einen Kampf­ platz der Klassen.»8 Klassenbewusstsein war eine Art radikalisiertes Standesbewusstsein, in dem das Milieuhafte, Spontane und das Ideolo­ gische (über die intensiv und gemeinsam gelesenen Zeitungen und Bro­ schüren) sich bereits organisch verbanden, so wie in den Anfängen jeder späteren Arbeiterbewegung auch.

Vom Barbaren zum Prometheus Im Gespenst des Proletariats traten akute Angstvisionen der Herrschen­ den und Besitzenden mit den Erlösungserwartungen der Demokraten und Frühsozialisten zusammen und befeuerten sich gegenseitig. Im «Journal des Débats» vom November 1831 hatte der Pariser Journalist Girardin angesichts des Lyoner Weberaufstands ausgesprochen, was in der bürgerlichen Öffentlichkeit lange nachhallte: «Die Barbaren, welche die Gesellschaft bedrohen, sind nicht im Kaukasus oder in den Steppen der Tartarei, sie sind in den Vororten unserer ­Industriestädte.»9 Die mo­ derne Gesellschaft, so Girardin, habe eine « ­ offene Wunde»: ihre Arbei­ ter, die von der Hand in den Mund lebten und beim geringsten Miss­ geschick ohne Existenzmittel blieben, während ihre Zahl sich mit der weiteren Entfaltung einer «Industrie- und Handelsgesellschaft» unwei­ gerlich mit vermehre. Dieses Dilemma erschien unauflösbar. Ähnlich äußerte sich der britische Innenminister, als er 1842 «von ­einer Art Sklavenkrieg» sprach, der in England ausgebrochen sei und «zurückgeschlagen, aber in keiner Weise ausgestanden ist».10 Im Mai

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war die von drei Millionen unterzeichnete Petition für die «Volkscharte» vom Parlament abermals zurückgewiesen worden, was zu einer Welle von Streiks und Demonstrationen geführt hatte, die von der Regierung mit massiven militärischen Maßnahmen beantwortet worden war. Da in einigen Fällen Arbeiter die Produktion der Fabriken in Manchester ge­ stoppt hatten, indem sie die Zapfen der Dampfkessel herausschlugen, war von einem «Plug Plot», einer «Zapfenverschwörung», die Rede, ob­ wohl es für eine zentrale Lenkung der Unruhen keine Anzeichen gab. Am Ende waren es weniger die militärischen Maßnahmen als der Hun­ ger, der die Arbeiter Ende August in ihre Werkstätten zurück­trieb. Tatsächlich war die Niederhaltung der Massenbewegung der Chartis­ ten, genauso wie die Bewältigung der Sozial- und Wirtschaftskrisen die­ ser Jahre, «eine verdammt knappe Sache», um noch einmal den General Wellington zu zitieren. Der inzwischen greise Held von Waterloo war im April 1848 zum Kommandeur eines Aufgebots von 4000 Konstablern und 85 000 eilig eingeschworenen Freiwilligen einer Londoner Bürger­ garde berufen worden, während der königliche Hof die Hauptstadt ver­ lassen hatte. Diese Vorkehrungen geben einen Eindruck vom den akuten Bedrohungsgefühlen, denen der bürgerlich-aristokratische Klassenstaat Englands sich damals ausgesetzt sah. Kein Wunder: Eben erst hatte die Februarrevolution das liberale «Bürgerkönigtum» und die Regierung Guizot in Paris zu Fall gebracht, während es in ganz Europa unter den Füßen der alten Regimes brodelte. Aber die militärisch zernierte, unbewaffnet aufmarschierte Menge der 150 000  Chartisten, die ihrer (nun von sechs Millionen unterschriebe­ nen) neuerlichen Wahlrechtspetition Nachdruck hätte verleihen sollen, harrte auf dem Feld in Kennington Common jenseits der Themse un­ schlüssig im Nieselregen aus. Der Aufruf zur «entscheidenden Tat» blieb aus, letztlich aus der richtigen Einschätzung heraus, dass der kritische Augenblick verpasst war. So erwies sich dieser Aufmarsch schließlich als das letzte Aufbäumen einer Bewegung, die ein Jahrzehnt lang in mehre­ ren Anläufen einen revolutionären Durchbruch zur Massendemokratie zu erzwingen versucht hatte. Der Logik ihrer Agitation zufolge hatte sie durchaus «sozialistische» Züge getragen, ohne dass dieser Begriff je ver­ wendet worden wäre. In Deutschland waren es die desperaten Angriffe schlesischer Leinen­ weber auf die Villen und Fabriken von Zwischenhändlern und Fabrikan­ ten im Sommer 1844, die Schockwellen durch das Land schickten und

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auch für Marx in seinem Pariser Exil Züge eines Erweckungserlebnisses trugen. So warnte der enge Berater des preußischen Königs, General von Radowitz, angesichts der wirtschaftlichen Depression und des Weber­ aufstands: «Das Proletariat steht in riesengroßer Gestalt da, und mit ihm öffnet sich die blutende Wunde der Gegenwart, der Pauperismus.» Radowitz knüpfte daran die Prognose, dass eine künftige Revolution keine rein politische, sondern eine soziale sein werde.11 Unterfüttert war das mit den Befunden der in den 1840 er Jahren auf­ blühenden Statistik, die sich erstmals mit dem Bild der in Bewegung kommenden Gesellschaft beschäftigte, wie sie sich namentlich in den großen Städten und Gewerbezentren abbildete. So kamen statistische Untersuchungen über Berlin zu dem erstaunlichen Resultat, dass 40 bis 50 % der geschätzt weit über 300 000 Menschen dort mittlerweile «Pro­ letarier» seien, eine vage Bezeichnung in einem noch kaum erfassten Ge­ samttableau. Im Grunde besagte die Kategorisierung nur, dass für einen Großteil der zugeströmten Stadtbewohner nicht geklärt werden konnte, wie und wovon sie eigentlich lebten.12 Noch schwieriger waren vielfach die Verhältnisse in den Überschnei­ dungszonen einer ländlichen Armut und ausbeuterischen Hausindustrie wie in den schlesischen Fabrikdörfern. Heinrich Heine hatte in seinem «Weberlied» ihren hilflosen Aufruhr in einen Schicksalsfluch gegen die gesamte alte Ordnung ausgemünzt: «Das Schiffchen fliegt, der Webstuhl kracht, / wir weben emsig Tag und Nacht – / Altdeutschland, wir weben Dein Leichentuch, / Wir weben hinein den dreifachen Fluch, / Wir we­ ben, wir weben!»13 In Ferdinand Freiligraths 1846 verfasster Ballade «Von unten auf» ge­ wann die Gestalt des Proletariers bereits das Format eines modernen Prometheus. Einen Bericht über die Rheinfahrt des preußischen Königs Friedrich Wilhelm  IV. samt Hofstaat verwandelte Freiligrath in eine ­poetische Allegorie, worin nicht der König, sondern der halbnackte Hei­ zer als der eigentliche Lenker des Schiffs und Herrscher über die Ele­ mente erscheint. Während die Hofgesellschaft auf dem Oberdeck Net­ tigkeiten austauscht – «Da frisst und flammt das Element, das sie von dannen schießen macht; / Da schafft in Ruß und Feuersglut, der dieses Glanzes Seele ist; / Da steht und schürt und ordnet er – der Proletarier-­ Maschinist!» Ein mythischer Rebell antiken Formats, richtet er seine Herausforde­ rung gegen einen ­König, der «viel weniger ein Zeus (ist), als ich …, ein Titan»; während er das Schiff in überkommener christlich-frühkommu­

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nistischer Weise als ein Sinnbild des menschlichen Gemeinwesens über­ haupt auffasst: «Wie mahnt dies Boot mich an den Staat! / Licht auf den Höhen wandelst Du! / Tief unten aber, in der Nacht und in der Arbeit dunklem Schoß / Tief unten, von der Not gespornt, / da schür’ und schmied’ ich mir mein Los! / Nicht meines nur, auch Deines, Herr! …. / Wir sind die Kraft! Wir hämmern jung / das alte morsche Ding, den Staat, / Die wir von Gottes Zorne sind bis jetzt / das Proletariat!»14 Diese dem «Proletarier-Maschinist» zugeschriebene Rolle eines moder­ nen Prometheus verdankte sich allerdings einem historischen Vorgriff, der vorerst mit den Realien des sozialen Lebens noch kaum in Überein­ stimmung zu bringen war. Die wohl einflussreichste Beschwörung der künftigen Rolle einer Klassenbewegung der Arbeiter fand sich 1842 in dem vom hegelianisch inspirierten Staatsrechtler Lorenz von Stein ver­ öffentlichten Untersuchungsbericht «Der Socialismus und Communismus im heutigen Frankreich»15, den er nach fast zweijährigem Aufenthalt in Paris mit diskreter Unterstützung der preußischen Regierung verfasst, dann aber beim führenden Verleger junghelianischer und demokrati­ scher Literatur (Otto Wigand in Leipzig) veröffentlicht hatte. Stein selbst zeigte sich später überrascht, in welchem Grade sein Werk «bald zu ­einem allgemeinen Eigentume des deutschen Publikums» geworden sei. 1847 erschien sein Buch in einer zweiten, um eine Betrachtung über «Proletariat und Gesellschaft» erweiterten Fassung;16 1850 dann in einer auf drei Bände ausgeweiteten Version unter dem Titel «Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage».17 Frappant war zunächst, wie kategorisch Stein 1842 die Entstehung ­einer sozialistischen und insbesondere kommunistischen Bewegung mit der eines modernen Proletariats als eigener Klasse unmittelbar in eins setzte, und das für alle industriell sich entwickelnden Länder Europas: «Es ist umsonst, sich darüber zu täuschen, dass unserm Vaterlande der Communismus täglich näher rückt, und es ist uns wohl eine heilige Pflicht, uns auf den Kampf vorzubereiten, mit dem er die Grundlagen des Staates und der Gesellschaft mehr wie der mächtigste Feind zu be­ drohen vermag.»18 Der Ton war warnend, fast drohend, und mit prinzipiellen Absagen, insbesondere an den «Communismus», der «ein sittliches Unding und unmöglich auf Erden» sei, gespickt.19 Aber indem dieser «Communis­ mus» sich ganz auf den Standpunkt des Proletariats stelle, das für sich «eine eigene Geschichte» fordere, werde er eben doch «seine Stelle auch

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im germanischen Volke irgendwie und irgendwo finden» müssen.20 Denn dieses «Proletariat» bilde eine ganz neue Klasse, «die weder Bil­ dung noch Eigentum als Basis ihrer Geltung im gesellschaftlichen Leben besitzt»21, und es wachse: «Einmal vorhanden, ist es gleichsam nirgends und überall …; und je höher sich an einem bestimmten Orte das geistige und materielle Leben des Volkes entwickelt, desto massenhafter entfaltet es (das Proletariat) sich mit ihm, in ihm, durch dasselbe».22 So sei das Proletariat mittlerweile zum Kern jenes «Volkes» geworden, das in der Deklaration der Menschenrechte wie in den dreißigjährigen Revolutionskriegen zu einer nicht mehr zu negierenden, «positiven  … Gleichheit des Staatsbürgertums» erhoben worden war.23 Wenn aber ein eigener Haushalt und Besitz die Bedingung jedes aktiven Staatsbürger­ tums waren, und wenn die Proletarier einen solchen Besitz bei aller ­Anstrengung nicht erwerben konnten, dann ging es eben nicht mehr nur um materielles Elend, sondern um fehlende gesellschaftliche Geltung. ­Indem Eigentum statt Geburt, Stand und Grundbesitz zum Kriterium der sozialen Stellung geworden war, beruhte die gesamte «Ordnung der Gesellschaft auf der Herrschaft des Kapitals über die Arbeitskraft». Und dann ergab sich eben mit Notwendigkeit, «dass der Kampf, dem die heutige Gesellschaft entgegengeht, der Kampf der Arbeitskraft mit dem Kapital sein wird».24 Somit drängte die objektive Lage dahin, dass «gleichsam zwei ganz ­entgegengesetzte Weltanschauungen» in der Gesellschaft entstehen muss­ ten.25 Umgekehrt machte das von den Sozialisten, und mit noch größerer Konsequenz von den Kommunisten, vertretene Bewusstsein des unüber­ brückbaren Gegensatzes von Arbeit und Kapital aus der Masse der Besitz­ losen und Arbeiter erst ein wirkliches, nämlich politisches «Proletariat».26 Und das nicht nur ideell: Denn tatsächlich war «allmählich aus dem Chaos dieser eigentums- und bildungslosen Masse ein Ganzes» geworden und hatte sich in Frankreich wie in England «diese Masse eine eigene selbstge­ schaffene Organisation gegeben, … eigene Organe und eigene Führer».27 Damit sei die «Basis aller gemeinsamen Ordnung … aufgelöst», und «in das Herz der Gesellschaft selbst ist der Kampf hineingetreten».28 Das dramatische Bild, das Stein entwickelte, ließ nur einen Ausweg: Es bedurfte der Entwicklung einer «Wissenschaft der Gesellschaft», die nichts anderes sein konnte als «die Wissenschaft der Entwicklung der einzelnen durch die Arbeit aller».29 Diese müsse durchaus an den früh­ sozialistischen Theorien eines Saint-Simon, Fourier, Blanc oder Proud­ hon (das sind die Namen, die er hervorhebt) «anschließen».30 Denn, so

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in der originalen Schreibweise von Steins erster Schrift: «Der Socialis­ mus will nicht blos eine Organisation der Industrie, er denkt nicht allein darauf, das Loos des Proletariats zu verbessern, sondern er ist selbst eine Wissenschaft …»31 Eine künftige, staatsbürgerlich orientierte Wissenschaft der Gesell­ schaft werde dem Sozialismus und Kommunismus aber nur dann den Wind aus den Segeln nehmen können, wenn sie sich ihrerseits eine «beste Gesellschaft» als Ziel setze, «welche das höchste Maß menschlicher Gü­ ter erzeugt und zugleich jedem einzelnen das höchste Maß derselben ­zuteilt, das er durch seine Teilnahme an der gemeinschaftlichen Arbeit verdienen kann».32 Darin sah Stein, wie er in seiner «Geschichte der so­ zialen Bewegung» von 1850 ausführte, für die weitere Zukunft geradezu «das Wesen des Staates»33 und für Preußen die vornehmste Aufgabe ­einer «sozialen Monarchie». «Es ist kein Zweifel mehr, dass für den wichtigsten Teil Europas die politische Reform und Revolution zu Ende ist: die soziale ist an ihre Stelle getreten und überragt alle Bewegungen der Völker mit ihrer furchtbaren Gewalt und ihren ernsten Zweifeln.»34

Auf der Suche nach der «Arbeiterklasse» Fasst man die soziale Wirklichkeit dieses allseits beschworenen «Prole­ tariats» näher ins Auge, wird klar, dass ein konsolidiertes «Klassen­ bewusstsein», geschweige die Vorstellung einer die Gesellschaft trans­ zendierenden, revolutionären Mission aus der myriadischen Vielfalt «proletarischer» oder «industrieller» Lebenswirklichkeiten allein kaum gewonnen werden konnte, außer eben in literarischer Form oder in den kurzen Momenten einer allgemeinen politischen Erregung wie in Eng­ land 1842 oder in Paris 1848/49. Werfen wir einen kurzen Blick auf die Daten des britischen Zensus, wie sie ab 1841 in zehnjährigen Abständen und mit wachsender Ge­ nauigkeit erhoben wurden,35 dann finden wir (mit Schottland, aber ohne ­Irland) eine Gesamtbevölkerung, die in den dreißig Jahren bis 1871 von 18 auf 26 Millionen steigt – ein exorbitantes Wachstum. Ab etwa 1850 lebt die Mehrheit der Briten bereits in Städten, während alle anderen Länder der Welt noch überwiegend dörflich geprägt sind. 1841 üben von den 18 Millionen Einwohnern Britanniens etwa 7 Millionen eine aktive berufliche oder gewerbliche Tätigkeit aus, davon knapp 1,2 Millionen in der Sammelkategorie «Manufacture» (Verarbeitendes Gewerbe), und

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zwar 580 000  Männer und 245 000  Frauen über 20  Jahre; der Rest (315 000) sind Jugendliche oder Kinder beiderlei Geschlechts. Von die­ sen in einem weiten Sinne «industriell» Beschäftigten sind 500 000 in der Baumwollindustrie, 300 000 in der Leinen-, Woll- und Seidenindus­ trie tätig. Zwei Drittel aller «industriell» Beschäftigten arbeiten also in der Textilindustrie. Aber allein in der Baumwollindustrie werden Hunderte Bezeichnun­ gen für spezifische Beschäftigungen und Einzelprodukte genannt, was ein deutlicher Indikator für den extrem hohen Grad der Spezialisierung und einen noch immer relativ geringen Anteil maschinell standardisier­ ter, also wirklich fabrikmäßiger Arbeit ist. Die Mehrzahl der Arbeiter dürfte nach wie vor in der Hausindustrie tätig und noch kaum «lohn­ abhängig» gewesen sein. Zwar sind es die zahlreichen neuen Textilfabri­ ken mit hundert oder mehr Beschäftigten, die den Blick der Beobachter fesseln, aber in der Gesamtstatistik fallen diese modernen Fabriken noch sehr wenig ins Gewicht. Springen wir zum Zensus des Jahres 1871 (der nur noch England und Wales erfasste), dann finden wir die neue Sammelkategorie einer «Indus­ trial Class», bestimmt als «the class of makers and artisans», also «Her­ stellern und Handwerkern», die jetzt auf gut 5,1  Millionen beziffert wird. «Klasse» ist hier aber nur eine statistische Kategorisierung, die der Abgrenzung von den anderen, in vier weitere «classes» eingeteilten Be­ schäftigungsfeldern dient, welche als «Professional, Domestic, Commer­ cial und Agricultural» bezeichnet werden. Die «Klasse» von industriell Tätigen ist in der Reihenfolge dieser Aufzählung nur die fünfte, aller­ dings mit knapp 30 % der aktiv Tätigen die stärkste, der sich noch eine letzte «Klasse» von «unproduktiv oder unbestimmt Beschäftigten» (Schülern, Studenten, mitarbeitenden Ehefrauen usw.) anschließt. Innerhalb der «industriellen» Tätigkeiten bildet noch immer die Textil­ herstellung in sehr weitem Sinn den Hauptsektor, in dem gut 2,1 Mil­ lionen beschäftigt sind, in der Mehrheit erwachsene Frauen. Von ihnen arbeitet mehr als ein Drittel (780 000) in der Produktion von Garnen, Stoffen und Tuchen; aber auch in diesem ältesten industriellen Kern­ bereich sind die Fabrikarbeiter/innen noch immer nicht von den in Haus­ industrien oder Familienbetrieben Tätigen statistisch unterschieden. Ähnlich, wenn auch anders schattiert, dürfte sich die Lage in den männ­ lich dominierten, aber ebenfalls noch eher handwerklich als fabrikmäßig organisierten «Mechanical productions» dargestellt haben, wo fast 1,2 Millionen Beschäftigte gezählt werden. Nimmt man Bergbau und Hütten­

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industrie sowie einige andere Produktionszweige wie Keramik, Säge­ werke, Ziegeleien hinzu, hat man schon alles erfasst, was überhaupt im heutigen Sinne als «Industrie» bezeichnet werden könnte. Rechnet man Fabrikanten und Kleinmeister, technisches Personal, Aufseher und Manager, Kontoristen usw. heraus, kommt man auf eine modern-industrielle, durch irgendeine Art von «Fabrikdisziplin» ge­ prägte «Arbeiterklasse», die schwerlich größer gewesen sein kann als vielleicht 1,5 Millionen Personen. Nimmt man noch einige Hunderttau­ send im Bau- und Transportwesen dazu, ergibt das immer noch nicht viel mehr als 2 oder 2,5 Millionen – etwa ein Siebtel der aktiven Bevöl­ kerung. Dabei sind Betriebsgrößen und -typen nicht systematisch erfasst, so­ dass es unmöglich ist, großindustrielle oder sonstwie moderne Arbeits­ formen herauszudestillieren. Baumwollfabriken sollen in den 1870 er Jahren im Schnitt 180 Arbeitskräfte beschäftigt haben, Maschinenbau­ betriebe 85. Auch die Kohlegruben scheinen selten mehr als hundert oder mehrere hundert Arbeiter beschäftigt haben. Als moderne indus­ trielle Großunternehmen können in Europa im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts überhaupt nur einige wenige schwerindustrielle Kon­ zerne wie die Gutehoffnungshütte und die Kruppwerke in Deutschland oder Schneider-Creusot in Frankreich gelten. Großbritannien, das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur «Werkbank der Welt» wurde, war jedenfalls nicht das Land der industriellen Riesenbetriebe, weniger als Deutschland, Belgien oder die USA. Wenn sich eine moderne «industrielle Arbeiterklasse» selbst in Großbri­ tannien statistisch kaum ermitteln lässt, so wird die Sache noch schwie­ riger, wenn man die kulturellen Prägungen und subjektiven Einstellun­ gen mit in den Blick nimmt. Die gemeinsame «Klassenlage» der industriellen Arbeiter ist zunächst eine Abstraktion, die sich keineswegs von selbst aufdrängt. Die ersten, die sehr früh schon Solidarkassen gebildet hatten, waren die «Bruder­ schaften» fahrender Gesellen verschiedener Handwerke. Angehörige be­ stimmter Berufsgruppen gründeten lokale Hilfskassen, die oft mit den Anfängen des Sparkassenwesens verbunden waren. Aber seit den Tagen der Französischen Revolution waren feste berufliche Zusammen­ schlüsse, Kassen und Streiks von Arbeitern oder Handwerkern verbo­ ten – im Namen des Kampfs gegen das «feudale» Zunftwesen und für die Gewerbefreiheit. Das war ein Kampf, der in Frankreich und Eng­

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Teil V: Die Geburt der modernen Welt

land, wo es ähnliche Antikoalitions-Gesetze gab, die ganze erste Hälfte des 19. Jahrhunderts anhielt. Aber auch die Handwerker, Gesellen und Arbeiter selbst waren in die­ sen Fragen tief entzweit. Und wenngleich viele der traditionellen sozia­ len Klüfte zwischen «Freien» und «Zünftigen» von der Industrialisie­ rung überholt und eingeebnet wurden, taten sich innerhalb der neuen Industriearbeiterschaften sofort wieder neue, gravierende Differenzen auf. Auch die festbeschäftigten Arbeiter in den Fabriken und Manufak­ turen, die eine privilegierte Minderheit waren, standen immer haar­ scharf an der Klippe zum Absturz in völlige Mittellosigkeit, und für das Alter war es ohnehin fast unmöglich, Rücklagen zu bilden, sodass sie ­darauf angewiesen blieben, von ihren Angehörigen durchgefüttert zu werden; nur dass sie im Unterschied zu den Handwerkern nichts, nicht einmal eine Werkstatt zu vererben hatten. Umso tiefer war dafür die Kluft, die zwischen all denen klaffte, die «Sonntags eine Kopie des respektablen Mittelklasse-Anzugs trugen, und das manchmal sogar auf dem Weg zur Arbeit» (Hobsbawm), und der Masse der laufend geheuerten und gefeuerten Ungelernten, und erst recht natürlich zu den Hungerleidern draußen vor dem Tor, die sich mit Tagelöhnerei oder sonstwie durchschlagen mussten und nicht in der Lage waren, eine Familie zu gründen – und schon deshalb zum Gesindel gezählt wurden. So gab es auch in den großen Industriestäd­ ten und Gewerbezentren einen tiefen Riss, der «die Arbeiter von den ­Armen trennte».36 Ebenso tief konnten die Unterschiede zwischen den verschiedenen Be­ rufsgruppen sein, vor allem dort, wo Überreste eines überkommenen oder auch neu erworbenen Standesbewusstseins eine Rolle spielten, wie bei den «Proletarier-Maschinisten», die ihre Maschinen warteten und blitzblank hielten und innerhalb wie außerhalb des Betriebs ihre Stellung eifersüchtig wahrten. Ähnliches mochte für die Lokführer gelten, die ihre Dampfungeheuer als Kapitäne steuerten und die Heizer und Wartungs­ arbeiter kommandierten; oder für die Bergleute, die ihr traditionelles be­ rufsständisches Selbstbild zelebrierten, oft mit religiösen und folkloristi­ schen Ritualen, während sie zum Ausgleich der verzehrenden A ­ rbeit ihre eigenbrötlerischen, halb dörflichen Lebenskulturen ausbildeten. Auch da, wo sich auf lokaler Ebene oder in bestimmten Berufsgrup­ pen und Branchen erste größere, zuweilen schon landesweite Trade Unions (Gewerkschaften) bildeten, wie vor allem im England der 1860/70 er Jahre, handelte es sich noch immer um exklusive, de facto be­

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rufsständische Vereinigungen von männlichen und qualifizierten Arbei­ tern mit eigenen Bannern, Lokalen und Festtagen. Generell wurde ge­ rade von den gewerkschaftlich Organisierten die Fabrikarbeit der jungen Frauen als Konkurrenz gesehen, die mit einiger Gehässigkeit verfolgt wurde. Ähnliches galt auch für die sozialistischen und «klassenbewuss­ ten» französischen Syndikalisten dieser Jahre. Von Feindseligkeit ge­ prägt waren schließlich fast immer die Trennlinien, die gegenüber den Arbeitsmigranten gezogen wurden, so den Iren in England oder den Bel­ giern in Nordfrankreich. Der betonte «Ouvrierismus» (die Arbeitertümelei) der französischen Arbeitersozialisten wiederum dürfte gerade dem Wunsch entsprungen sein, nicht mehr nur als «Proletarier», sondern als «Mann der Arbeit» zu gelten, der als solcher einen sozialen Status und Berufsstolz gewin­ nen konnte. Das bedeutete immer weniger den Wunsch nach einer Rückkehr in eine unabhängige Handwerkerexistenz alten Zuschnitts, sondern verband sich mit Vorstellungen einer vom Staat garantierten und selbständig ins Werk gesetzten «Organisation der Arbeit», worin nach der Theo­rie Louis Blancs der Staat als «Bankier der Armen» hel­ fen sollte, industrielle Produktionskooperativen auf die Beine zu stel­ len. In den Theorien Proudhons dagegen sollte die Autonomie der ­Arbeitenden sich in einem eher staatsfreien, auf solidarischer «Gegen­ seitigkeit» («Mu­tualité») beruhenden System von Konsum- und Pro­ duktivgenossenschaften, Hilfskassen und lokalen Organisationen ver­ wirklichen.37 Hier kamen Traditionen ins Spiel, die sich von Land zu Land, von Provinz zu Provinz, von Stadt zu Stadt deutlich unterschieden. Was in Frankreich letztlich einen losen klassenmäßigen Zusammenhalt sicherte, waren weniger alle die organisatorischen Bemühungen, die sich in Hun­ derte von lokalen «Chambres Syndicales» und lokalen Einzelgewerk­ schaften (478 im Jahr 1880 mit ganzen 65 000 Mitgliedern) aufsplitter­ ten. Sondern es war viel eher eine republikanische Tradition, in der die Einheit des «peuple», des einfachen, arbeitenden Volks, sich manifes­ tierte und in Festen und Symbolen selbst feierte. Der Ort, an dem das immer wieder konserviert oder bekräftigt wurde, waren vor allem die «quartiers», die Stadtviertel der großen Städte, die in allen historischen Aufständen (wie 1789/90, 1830/31 oder 1848/49) und zuletzt noch ein­ mal in der Pariser «Commune» von 1871 das Gerüst der proletarischen Selbstorganisation geliefert hatten. Auch für das Gros der linken, re­ publikanischen, klassenbewussten Arbeiter blieb der typische «Erfah­

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Teil V: Die Geburt der modernen Welt

rungshorizont … der kleine Betrieb sowie das Leben im sozial gemisch­ ten Milieu».38 In Deutschland verband sich der Kampf für oder gegen die Zünfte, die sich hartnäckig behaupteten, auf immer neue, komplizierte Weise mit den Konflikten zwischen zünftigen und unzünftigen Gewerken und zwi­ schen Meistern und Gesellen. Noch im Juli 1848 sprach ein gesamtdeut­ scher Handwerkerkongress in Frankfurt, der (nominell) Hunderttau­ sende von Kleinmeistern repräsentierte, sich gegen die Zulassung von Vertretern der Gesellen aus, deren Zahl die der Meister längst weit über­ stieg.39 Die Gesellen ihrerseits schlossen sich nach einigen Umwegen der Ini­ tiative für einen Allgemeinen Deutschen Arbeiterkongress an, der im ­August 1848 in Berlin tagte und beanspruchte, den «Arbeiterstand» als einen eigenen, vierten Stand der Gesellschaft zu vertreten. Es wurde ein Forderungsprogramm entworfen, das sich sowohl gegen staatliche Privi­ legien für das zünftige Gewerbe wie zugleich gegen die liberalen Forde­ rungen nach völliger Handels- und Gewerbefreiheit richtete – zugunsten einer Gesetzgebung, «die einem jeden Glied der bürgerlichen Gesell­ schaft die seiner Arbeitskraft angemessene Erwerbstätigkeit sichert». Forderungen nach staatlicher Alimentierung von Konsum- und Produk­ tivgenossenschaften verbanden sich mit solchen nach allgemeiner Schul­ bildung und Gleichberechtigung der Geschlechter. Das Wichtigste war der Beschluss, eine landesweite «Allgemeine Arbeiterverbrüderung» ins Leben zu rufen, die auch Handwerkern, Künstlern und Gelehrten, Klein­ händlern und sogar den selbst arbeitenden kleinen Fabrikanten offen­ stehen und damit im Grunde schon die Vorform einer sozialdemokrati­ schen Arbeiter- und Volkspartei bilden sollte. Daraus wurde nichts. Aber der Kongress gab der Vielzahl von Arbei­ tervereinen und «Arbeiterverbrüderungen» immerhin ein einheitliches Statut und ein Verbandsorgan («Die Verbrüderung»), das in seiner letz­ ten Ausgabe vom 1. Mai 1849 «die Volkssouveränität, und nichts ande­ res», verlangte. Das war angesichts der hereinbrechenden politischen Reaktion eine offen demokratisch-revolutionäre Losung.40 Der Dach­ verband wurde daher bald aufgelöst; die überlebenden 59 lokalen Arbei­ tervereine folgten 1852; zwei Jahre später erging ein generelles Verbot für den gesamten Deutschen Bund. Episodisch wie das alles blieb, lässt sich der Beginn einer Arbeiterbewegung in Deutschland doch auf diese Vorläuferorganisationen von 1848 datieren.

TEIL  VI

Sozialistische Gründerzeit

1. Ein neuer Horizont

Das schwierige Einfache: der Kommunismus

A

m Beginn des Marx’schen Denkens standen zunächst einige ganz ein­fache, dann immer komplexer werdende Überlegungen. Den bes­ ten Zugang bietet es vielleicht, wenn man Marx noch einmal in das Labo­ ratorium seiner ersten unfertigen Gedanken folgt, wie er sie 1844 in sei­ nen ein Jahrhundert später erst bekannt und berühmt gewordenen, im Pariser Exil verfassten «Ökonomisch-philosophischen Manuskripten» entwickelt hat. Darin hatte er sich – mit anhaltender Reserve – erstmals dem Begriff und der Vorstellung eines «Kommunismus» angenähert. Nachdem er mit der «theologischen Kritik» der Junghegelianer im Wesentlichen fertig war und bevor er sich den praktischeren Fragen von «Staat, Recht, Moral, bürgerlichem Leben etc.» zuwandte, wollte er sich (so sein Schreib- und Lektüreplan) mit der materiellen Grundlage von alldem, der Ökonomie, beschäftigen. Verstärkt tauchte er in die Milieus der deutschen Wanderarbeiter, Handwerker und politischen Emigranten ein mit ihren Klubs und Kneipen und ihren vielfältigen Verbindungen zu den französischen Sozialisten und Kommunisten – zu einer Zeit, da die ökonomischen Krisenzeichen und sozialen Spannungen der «hungry forties», der hungrigen 40 er Jahre, sich von Schlesien bis Irland immer mehr verdichteten. Zugleich stürzte er sich in ein Studium der Klassiker der politischen Ökonomie, von Quesnay und Smith über Say und Mill bis Malthus und Ricardo. Bei Adam Smith wie bei David Ricardo stieß er auf die von ihnen fest­ gestellte Gesetzmäßigkeit, dass unter den Bedingungen einer Markt­ gesellschaft der «gewöhnliche Arbeitslohn» nur «der niedrigste, der mit der simple humanité, nämlich einer viehischen Existenz» vereinbarte Lohn sein könne (so in Marx’ Exzerpt). Daraus folgte auch schon, dass die «Produktion der Menschen», ihre Fortpflanzung bzw. die Bereini­ gung ihrer relativen Überproduktion sich (wie Malthus es entwickelt hatte) nach denselben Regeln von Angebot und Nachfrage regulieren müsse wie die jeder anderen Ware. Nur in Zeiten besserer Konjunktur, so lehrten die bürgerlichen Klassiker, könne der Arbeitslohn über das

1. Ein neuer Horizont

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physische Minimum zur Erhaltung des Arbeiters wie seiner Familie stei­ gen; in Zeiten der Krise musste er zwangsläufig darunter fallen. In Län­ dern schließlich, in denen die letztmögliche Stufe einer ökonomischen Entwicklung durch Arbeitsteilung und industrielle Produktion in Gestalt größerer Manufakturen erreicht sei (an maschinelle Produktion dachte Smith noch nicht), werde sich der «Reichtum der Nation» wieder nur in einem dauerhaft niedrigen Arbeitslohn wie in einem mäßigen Kapital­ zins (Profit) materialisieren, während die Grundeigentümer und Staats­ rentner die dicksten und faulsten Renditen einstrichen. Marx notierte sich mit grimmiger Ironie die absurden Implikationen dieses liberalen Fortschrittsdenkens, das sich selbst dementierte: «Da aber nach Smith eine Gesellschaft nicht glücklich ist, wo die Majorität leidet …, so ist also das Unglück der Gesellschaft der Zweck der Natio­ nalökonomie. Er (Smith) sagt uns, dass ursprünglich und dem Begriff nach das ganze Produkt der Arbeit dem Arbeiter gehört. Aber er sagt uns zugleich, dass in der Wirklichkeit dem Arbeiter der kleinste und ­allerunumgänglichste Teil des Produkts zukommt  …, nicht damit er die Menschheit, sondern damit er die Sklavenklasse der Arbeiter fort­ zeugt.»1 Wurden, wie bei David Ricardo, die internationale Arbeitsteilung und der Austausch zwischen den Nationen genauer in den Blick ge­ nommen, trat die Absurdität dieser ganzen Produktions- und Lebens­ weise erst recht hervor: «Die Nationen sind nur Ateliers der Produktion, der Mensch ist eine Maschine zum Konsumieren und Produzieren; das menschliche ­Leben ein Kapital; die ökonomischen Gesetze regieren blind die Welt. Für Ricardo sind die Menschen nichts, das Produkt alles.»2 Ebenso absurd schien Marx etwas anderes: «Überall in der National­ ökonomie finden wir den feindlichen Gegensatz der Interessen, den Kampf, den Krieg als die Grundlage der gesellschaftlichen Organisation anerkannt.»3 Es sind also einfache, grundsätzliche Fragen nach Sinn und Widersinn des ökonomischen Fortschritts in bürgerlich-kapitalistischer Form, die für Marx am Anfang stehen. Das gilt auch für die nächste, von den klas­ sischen Ökonomen konstatierte Gesetzmäßigkeit: dass nämlich das not­ wendige Resultat der Konkurrenz die Akkumulation des Kapitals in ­wenigen Händen sei. Das bedeutete, dass nicht nur die Kluft zwischen Eigentümern und Besitzlosen immer weiter wachsen musste, sondern auch die Kluft zwischen den Arbeitenden und dem von ihnen erarbeite­

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Teil VI: Sozialistische Gründerzeit

ten Gesamtprodukt einschließlich den aus ihrer vergangenen, toten Ar­ beit akkumulierten Produktionsmitteln, die ihnen in der Form des Kapi­ tals als eine fremde, überlegene Macht wieder gegenübertraten – so wie der Staat, die Kirche und wie Gott selbst. Das eben nannte Marx die «Entfremdung»: die Trennung der Arbeiter von ihrem gemeinsam, arbeitsteilig erzeugten Produkt und von ihrer ­eigenen produktiven Tätigkeit, die sie unter fremdem Kommando verrich­ ten müssen und die damit zu einer weiteren Quelle ihrer Leiden, ihrer Knechtschaft, ihrer Entwürdigung wird, über alle politische Unterdrü­ ckung und soziale Entmündigung hinaus. Das bedeutete eine vollstän­ dige Entfremdung von sich selbst «als einem universellen, darum freien Wesen»; denn erst indem der Mensch «seine Lebenstätigkeit selbst zum Gegenstand seines Wollens und seines Bewusstseins» mache, also durch seine Arbeit, unterscheide er sich überhaupt vom Tier.4 Die erste und allgemeinste Bestimmung des Kommunismus ist somit «die positive Aufhebung des Privateigentums als menschlicher Selbst­ entfremdung» und die «Rückkehr des Menschen für sich als eines ge­ sellschaftlichen, d. h. menschlichen Menschen».5 Nur so werde die ­«Auf­lösung des Widerstreits  … zwischen Freiheit und Notwendigkeit, zwischen Individuum und Gattung» wie die des Widerstreits zwischen Mensch und Natur möglich.6 Das erst bedeute auch «die vollständige Emanzipation aller menschlichen Sinne», deren «Bildung … eine Arbeit der ganzen bisherigen Weltgeschichte» sei.7 So könnten dann Naturwis­ senschaften, Industrie und Technik, die ihrerseits nichts als «das auf­ geschlagne Buch der menschlichen Wesenskräfte» seien, über ihre rein äußerliche Nützlichkeitsbestimmung hinauswachsen, so wie alle Wis­ senschaften von der Natur und vom Menschen schlussendlich zusam­ menfließen und «eine Wissenschaft» bilden müssten.8 Wenn dann eine über sich selbst aufgeklärte Gesellschaft und ihre aus der Entfremdung und materiellen Not befreiten Subjekte endlich ver­ standen hätten, dass ihre Gattungsgeschichte «nichts anderes als die ­Erzeugung des Menschen durch die menschliche Arbeit» war und ist, dann wären sie auch nicht mehr auf den tief verwurzelten und scheinbar plausiblen Mythos ihrer «Schöpfung» durch Gott angewiesen. Damit habe dann allerdings auch der «Atheismus … keinen Sinn mehr», weil es einer solchen «Negation Gottes» gar nicht mehr bedürfte.9 Der Kommunismus ist allerdings «nicht als solcher das Ziel der mensch­ lichen Gesellschaft». Er beschreibt überhaupt keinen Zustand, erst recht keinen paradiesischen Endzustand, sondern er ist nichts als «die not­

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wendige Gestalt und das energische Prinzip der nächsten Zukunft».10 Als politische Forderung und Gesellschaftsvorstellung existiert er nur als ein kritischer Gegenbegriff und als Gegenbild einer Produktions- und Eigentumsordnung, in der die «Reichheit der menschlichen Bedürf­ ­ nisse» sich lediglich in einer Masse toter Gegenstände materialisiert. Ihr Warencharakter macht sie gleichzeitig noch zu einem weiteren Medium der Unterjochung und Ausplünderung der Produzenten, insofern diese Waren nicht um ihres Gebrauchswerts, sondern nur um ihrer bloßen Verwandlung in «Goldvögel» (in Geld) willen produziert und verführe­ risch aufgeputzt werden; bis beim warenkonsumierenden Arbeiter sogar «das Bedürfnis der freien Luft … auf(hört), ein Bedürfnis zu sein», und in den Arbeitervorstädten und Hinterhöfen «der Mensch in die Höhlen­ wohnung zurück(kehrt), die aber nun von dem mephytischen Pesthauch der Zivilisation verpestet ist».11 Diese früheste Bestimmung des Kommunismus als einer nicht-entfrem­ deten und menschen-gemäßeren Lebens- und Produktionsweise ent­ wickelt Marx in ausdrücklicher Abgrenzung von all dem, was er den «rohen und gedankenlosen Kommunismus» nennt, in erster Linie den aus der Tradition Babeufs und Buonarottis stammenden Kommunismus seiner Zeit. Er sieht darin geradezu eine «Verallgemeinerung und Voll­ endung» des kapitalistischen Eigentums, insofern dieser rohe Kommu­ nismus «alles vernichten will, was nicht fähig ist, … von allen besessen (zu) werden», weshalb er «auf gewaltsame Weise von Talent etc. abstra­ hieren» müsse, überhaupt von «Neid und Nivellierungssucht» getrieben sei und letztlich auf «die Rückkehr zur unnatürlichen Einfachheit des ­armen und bedürfnislosen Menschen» hinauslaufe. Ja, so Marx, das unausgesprochene Geheimnis dieser Bestrebungen sei durchaus die ­ «Weibergemeinschaft», worin «das Weib zu einem gemeinschaftlichen und gemeinen Eigentum wird». Das aber wäre wahrhaftig die Vollen­ dung der «unendliche(n) Degradation» einer menschlichen Existenz, denn «in dem Verhältnisse des Mannes zum Weibe … ist das Verhältnis des Menschen zur Natur unmittelbar sein Verhältnis zum Menschen».12 In einfachere Gedanken übersetzt, ist für Marx (der gerade Vater ge­ worden war und seine erste Tochter nach seiner Frau Jenny nannte) die Beziehung zwischen Mann und Frau und die Zeugung und Geburt eines neuen Menschenkindes der innerste, natürlichste, vollkommenste Kern aller menschlichen Beziehungen und das ultimative Kriterium von Hu­ manität oder Inhumanität einer Gesellschaft. Wenn er später im «Mani­

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Teil VI: Sozialistische Gründerzeit

fest» die bürgerliche Angstvorstellung, die Kommunisten wollten die «Weibergemeinschaft» einführen, an die bigotten Bourgeois mit ihren kalkulierten Geschäftsehen und geteilten Konkubinen zurückgibt, dann weil der Kommunismus, den er selbst vertritt, die Emanzipation der Frauen, vor allem durch die Aufhebung ihrer «Stellung  … als bloßer Produktionsinstrumente», zum Kriterium der proletarischen und mensch­ lichen Emanzipation überhaupt machen wird;13 oder in Engels’ späterer Formulierung: weil «der Grad der weiblichen Emanzipation das natür­ liche Maß der allgemeinen Emanzipation ist».14 Schärfer könnte die Ablehnung, mit der Marx von Anfang an sämt­ liche Vorstellungen einer «rohen», egalitären Gleichmacherei bedenkt, kaum ausfallen. Weder hier noch in seinen späteren, raren und betont knappen Bestimmungen dessen, was «Kommunismus» eigentlich be­ deuten könne, ist von einem sozialen Egalitarismus die Rede – fast im Gegenteil. Die im «Manifest» von 1848 verwendete Formel von einer «Association, worin die freie Entfaltung eines Jeden, die Bedingung der freien Entfaltung Aller» wäre, ist denn auch unbedingt in dieser Reihen­ folge zu verstehen (sogar das merkwürdig gesetzte Komma im Original­ text betonte das).15 Eine genauere Bestimmung findet sich in Marx’ späterer, ätzender «Kritik des Gothaer Programms» von 1875, also der programmatischen Grundlage der erstmals vereinigten Sozialdemokratischen Partei in Deutschland. Im Mittelpunkt dieses ersten Parteiprogramms stand die Forderung nach der «Erhebung der Arbeitsmittel zum Gemeingut der Gesellschaft und die genossenschaftliche Regelung der Gesamtarbeit mit gerechter Verteilung des Arbeitsertrages».16 Das galt als Kern und Hauptmedium des Übergangs zum Sozialismus. Der Sache nach stand diese Formulierung Marx’ eigenen Vorstellun­ gen keineswegs fern; aber es kam ihm auf die begrifflichen Unschärfen und spießerhaften Untertöne an, angefangen mit der naiven Vorstellung, dass eine «gerechte» oder «unverkürzte Verteilung des Arbeitsertrags» schon ein Schlaraffenland eröffnen werde. Weit gefehlt: Von einem ver­ gesellschafteten Gesamtprodukt wären erst einmal Abzüge für Investi­ tionen, Reservefonds, Verwaltungskosten, öffentliche Einrichtungen, ­Sozialversicherungen usw. zu machen; und womöglich müssten sogar noch größere und konstantere Ausgaben in diese Allgemeinaufgaben fließen als vorher. Nur was nach Abzug aller Zukunftsinvestitionen und Vorsorgeaufwendungen übrig blieb, konnte in die individuelle Konsum­ tion einfließen.17

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Noch verfehlter erschien Marx die Erwartung, dass eine sozialistische Gemeinwirtschaft eine «gerechte», nämlich egalitäre Angleichung der Löhne und Gehälter bedeuten müsse. Gewiss, Zinsen und Renten aus privatem Geldkapital und Grundbesitz würden wegfallen und die kras­ sen Unterschiede von Einkommen und Besitz beseitigt sein, wie alle da­ rauf beruhenden Klassenunterschiede überhaupt. Aber den Akzent legte Marx auf die fortbestehend notwendige Ungleichheit der Löhne und Ge­ hälter – wie sie sich aus der Ungleichheit der Begabungen und Leistungs­ fähigkeiten der Einzelnen, aber auch ihrer individuellen Anstrengungen ergäbe. In dieser ersten, «niederen Phase des Kommunismus», die er jetzt dem Sprachgebrauch der Zeit folgend «Sozialismus» nannte, musste daher (sinngemäß) der Grundsatz gelten: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Leistung.18 Der Marx’sche Sozialismus war eine strikte Leistungsgesellschaft, wie es die bourgeoise Klassengesellschaft gerade nicht war. In einer zweiten, höheren Stufe einer kommunistischen Gesellschaft, worin «die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfnis geworden» sei, und worin «mit der allseitigen Entwick­ lung der Individuen auch ihre Produktivkräfte gewachsen und alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen»  – in ­einer solchen, entwickelteren, eben kommunistischen Gesellschaft werde man sich dann irgendwann auf die Fahne schreiben können: «Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!»19 Aber wäre das endlich ein Reich der Gleichheit? Wieder ganz im Gegenteil – denn dann mussten die unterschiedlichen Neigungen, Bedürfnisse, Fähigkeiten und Lebensentwürfe der Individuen ja erst recht zur freien Entfaltung kom­ men. Die Gesellschaft würde sich also – gerade auf Basis der Gleichstel­ lung aller – auf eine neue, vielfältigere, reichere Weise differenzieren. Barsch und bündig schrieb Engels 1875 an Bebel «Die Vorstellung der sozialistischen Gesellschaft als des Reiches der Gleichheit ist eine einseitige französische Vorstellung, anlehnend an das alte ‹Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit›, eine Vorstellung, die als Entwicklungsstufe ihrer Zeit und ihres Ortes berechtigt war, die aber, wie alle die Einsei­ tigkeiten der früheren sozialistischen Schulen, jetzt überwunden sein sollten.»20 Eine kommunistisch verfasste Gesellschaft wäre demnach eine, in der in vielfältig konzertierten, persönlichen wie gemeinschaftlichen Anstren­ gungen nützliche und ansehnliche Dinge produziert, gesellschaftliche

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Probleme gelöst und technische Innovationen entwickelt, wissenschaft­ liche Entdeckungen gemacht und Werke der Kunst und Kultur geschaffen würden, so wie in einem Labor, Atelier oder Orchester alle im Idealfall auf ein gemeinsames Ziel hinarbeiten und zugleich den Ehrgeiz entwi­ ckeln, das Beste aus sich selbst herauszuholen – durchaus übrigens unter strikter Leitung (vom Typus eines Dirigenten), wie es sie aus sachlichen und funktionellen Gründen vermutlich immer geben müsste. Aber sol­ che Leitungstätigkeiten würden vielleicht auch wechselweise ausgeübt werden können, während zugleich jede lebenslange Fesselung an mono­ tone, geistlose, subalterne Teilarbeiten und Einzelberufe entfiele, weil das nicht nur entwürdigend, sondern auch unproduktiv wäre. Die Aufhebung fixer Arbeitsteilungen war auch die Pointe der viel­ zitierten, spielerisch-logisch entwickelten Vorstellung vom Kommunis­ mus als einer Lebens- und Existenzform, worin «Jeder …. sich in jedem beliebigen Zweige ausbilden kann, die Gesellschaft die allgemeine Pro­ duktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Vieh­ zucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden.»21 Wer dieses (aus einem unveröffentlichten Text stammende) bukolische Genrebild allerdings so verstand, als ob die Arbeit im Kommunismus ein Spiel sein würde, der war auf dem Holzweg. Wirklich «freie(s) Arbeiten, z. B. Komponieren», war für Marx immer «zugleich verdammtester Ernst, intensivste Anstrengung».22 Und wenn der eigentliche Gewinn oder Fortschritt gesellschaftlicher Kooperation sich für ihn weniger in materiellem Überfluss von Gütern als vielmehr in der Rückverwandlung der bisher den Arbeitern abgepressten Mehrarbeit in frei verfügbare Zeit bemaß, dann nicht im banalen Sinne von «Freizeit» als Erholungs- und Zerstreuungszeit, sondern als «freie Zeit für freie Entwicklung».23 Da diese universelle Entwicklung der Individuen niemals ein abge­ schlossener oder abzuschließender Prozess sein konnte, konnte es sich beim Kommunismus auch um keinen paradiesischen Endzustand han­ deln, der (wie Hegel schon abfällig über alle paradiesischen Glücks­ vorstellungen gesagt hatte) nichts als eine unendliche Folge leerer Blätter in der menschlichen Geschichte wäre, das wahrhaftige «Ende der Ge­ schichte», ein bloßes Hindämmern in «idyllischer Geistesarmut» und stumpfer Glückseligkeit.24

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Dieser in keiner Weise vorgezeichnete Weg zum «Sozialismus» bzw. «Kommunismus» bedeutete zunächst einmal also «nur» das eine: den Austritt aus der von blanker Notdurft und physischem Zwang bestimm­ ten, barbarischen «Vorgeschichte» der menschlichen Gattung – und da­ mit die Eröffnung ihrer eigentlichen Geschichte, in der die Subjekte der fortgeschrittenen Gesellschaften ihre Lebenswelt nun endlich mit Be­ wusstsein würden gestalten können. Diese neu eröffnete Geschichte wäre ein Kosmos neuer, noch gar nicht absehbarer Herausforderungen und Konflikte; nur würden diese Gegensätze, wie sie sich aus den unter­ schiedlichen Temperamenten, Neigungen oder Meinungen der Menschen zwangsläufig ergeben, keinen unversöhnlichen («antagonistischen») Charakter mehr besitzen und also auch nicht mehr durch Zwangsmittel entschieden werden müssen, vielmehr durch freie Übereinkünfte und ­demokratische Verfahren geregelt werden können. Das wäre, ganz allgemein gesprochen, auch eine Gesellschaft, in der der Wert der Menschen, ihre Leistungen wie ihre Lebensäußerungen in ihren eigenen Kategorien bemessen würden und sich miteinander aus­ tauschten, wie Marx das in einer wunderbaren, sehr poetischen Passage seiner Pariser Manuskripte ausgeführt hat, bei der wir ihn uns als einen Jungvermählten, noch immer Verliebten vorstellen müssen: «Setze den Menschen als Menschen und sein Verhältnis zur Welt als ein menschliches voraus, so kannst du Liebe nur gegen Liebe austau­ schen, Vertrauen nur gegen Vertrauen etc. Wenn du die Kunst genießen willst, musst du ein künstlerisch gebildeter Mensch sein; wenn du Ein­ fluss auf andre Menschen ausüben willst, musst du ein wirklich an­ regend und fördernd auf andere Menschen wirkender Mensch sein. Je­ des deiner Verhältnisse zum Menschen – und zu der Natur – muss eine bestimmte, dem Gegenstand deines Willens entsprechende Äußrung dei­ nes wirklichen individuellen Lebens sein. Wenn du liebst, ohne Gegen­ liebe hervorzurufen, … wenn du durch deine Lebensäußrung als lieben­ der Mensch dich nicht zum geliebten Menschen machst, so ist deine Liebe ohnmächtig, ein Unglück.»25 Skeptische Rückfragen drängen sich natürlich auf. Beruht Marx’ Vor­ stellung einer befreiten, höheren, menschlicheren Gesellschaft nicht auf anthropologischen Voraussetzungen, d. h. Annahmen über die soziale und schöpferische «Natur» des Menschen, die idealistisch bis weltfremd sind? Werden von materieller Notdurft und existentiellem Zwang be­ freite Menschen sich immerzu vervollkommnen und bilden wollen; wer­

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den sie mit ihrer freien Zeit überhaupt etwas Sinnvolles anzufangen wis­ sen – oder auch nur wollen? Handelt es sich nicht, wie Sigmund Freud schon über das jüdisch-christliche Gebot, seinen Nächsten zu lieben wie sich selbst, gesagt hat, um eine moralische Überforderung, die zwangs­ läufig Unbehagen an einer derart fordernden Kultur und destruktive Ge­ genreaktionen hervorrufen müsste?26 Und: Ist es nicht ganz richtig, wenn Leszek Kolakowski eingewandt hat, dass das Marx’sche Denken letztlich durch eine weitgehende «Ab­ wesenheit von Körper und Tod,  … von Geschlecht und Aggression», also von blinden Leidenschaften und existentiellen Tragiken, gekenn­ zeichnet sei und deshalb entgegen allen eigenen Ansprüchen eben doch auf eine «Soteriologie», eine Lehre der Selbsterlösung der Menschen aus ihrem irdischen Jammertal, hinauslaufe?27 Dagegen ließe sich wiederum einwenden, dass die von Marx nur an­ gedeuteten Vorstellungen einer menschenwürdigen Existenz eigentlich nicht besonders extravagant sind, sondern von recht einfachen und an sich kaum bestreitbaren Kriterien ausgehen, wie zum Beispiel: dass die Menschen irgendwann aufhören müssen, auf Kosten anderer Menschen zu leben, wenn sie ihre Gesellschaften vor der Selbstzerstörung und zu­ gleich ihre eigene Würde bewahren wollen; dass eine befriedigende ­Arbeit oder nützliche Tätigkeit für die meisten Menschen noch immer das Wichtigste ist, worin sie ihre Fähigkeiten erproben und wodurch sie etwas aus sich machen können; und dass soziale Anerkennung, Stolz auf die eigene Leistung und das Erwecken von «Gegenliebe» mehr wiegen als bloße materielle Gratifikationen, luxurierende Accessoires oder ein sich selbst genügendes Amüsement  – die es ja ruhig geben kann, aber wohl nur als Beigaben und nicht als Ersatzstoffe des Lebens selbst. Und umgekehrt: Was ist von einer Wirtschaftsweise zu halten (hier kann man dann ruhig schon an die kapitalistische «Angebotsökonomie» heutigen Typs denken), die fieberhaft neue Bedürfnisse und dazu pas­ sende materielle oder immate­rielle Produkte kreiert, nur um sich selbst am Laufen zu halten und ihre akkumulierten Kapitalien maximal zu ver­ werten, während zentrale gesellschaftliche Allgemeinaufgaben unerledigt bleiben, menschliches Potential verkümmert, die Abhängigkeit als Lohnund Befehlsempfänger sogar gebildete und gutbezahlte Menschen zer­ mürbt oder demütigt; während leere Effizienzforderungen schon auf Kin­ dern und Jugend­lichen als Lebenshypothek lasten und erst recht auf den jungen Erwachsenen in der besten Zeit ihrer Selbst- und Welterkundung, ihrer Ausbildung und Studien, ihrer Partnerwahl und Familiengründung?

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Und welch ein Widersinn liegt darin, dass in einer so reichen Gesellschaft wie der unseren noch immer viele Auf-sich-Gestellte, Alleinerziehende oder Alte, zumal im unteren Drittel dieser Gesellschaft, durch existentielle Notlagen ungeschützt getroffen werden können, nicht nur aus Armut, sondern weil alles, was in dem letzten, absolut existentiellen Bereich von Geburt, Gesundheit, Leben und Sterben nötig und möglich ist, sich der Verwandlung in reine, marktförmige Dienstleistungen entzieht. Das Leben im «Weltinnenraum des Kapitals»28 ist unverändert eine Existenzform, worin die Dispositionsmacht der großen Shareholder und CEOs der global operierenden Fonds und Unternehmen, aber auch die verschwenderischen Lebensmöglichkeiten einer internationalen Kaste der Besserverdienenden und Rentiers sich wie eh und je von der exzessiv verausgabten Lebenskraft von Hunderten Millionen alten und jungen Männern und Frauen in den Sweatshops und Fertigungshallen, Planta­ gen oder Bergwerken, Service- oder Logistikzentren nähren. Und diese Letzteren stehen immer noch weit über den Abermillionen, die (um noch einmal Victor Hugo zu zitieren) unter den Augen der Weltmedien den «sozialen Erstickungstod» der Überflüssigen und Arbeitslosen erleiden oder die (um die salbungsvolle Formel des Pfarrers Malthus zu verwen­ den) als überzählige Gäste vom Festmahl der Menschheit ausgeschlossen und zu Hunger und frühem Tod verurteilt sind. In einem seiner Zeitungsartikel über die britische Kolonialherrschaft in Indien schrieb Marx 1853 in seiner charakteristischen Mischung aus Bewunderung und Schrecken: «Bürgerliche Industrie und bürgerlicher Handel schaffen diese materiellen Bedingungen einer neuen Welt in der gleichen Weise, wie geologische Revolutionen die Oberfläche der Erde geschaffen haben. Erst wenn eine große soziale Revolution die Ergeb­ nisse der bürgerlichen Epoche, den Weltmarkt und die modernen Pro­ duktivkräfte, gemeistert und sie der gemeinsamen Kontrolle der am wei­ testen fortgeschrittenen Völker unterworfen hat, erst dann wird der menschliche Fortschritt nicht mehr jenem scheußlichen heidnischen Götzen gleichen, der den Nektar nur aus den Schädeln Erschlagener trinken wollte.»29 Über diesen Zustand sind wir selbst heute im 21. Jahrhundert in aller bewundernswerten, fast schon unbegreiflichen weltwirtschaftlichen Be­ triebsamkeit und Expansionskraft höchstens partiell hinaus  – wenn überhaupt. Gewiss, Hunderte Millionen haben sich als eine globale «Mittelklasse» in Verhältnisse einer relativen Sekurität und Prosperität erhoben. Aber noch immer gleichen die weltwirtschaftlichen Expansions­

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schübe oder Einbrüche geologischen Revolutionen oder klimatischen Katastrophen, die für Milliarden Erdenbürger wie ein Naturschicksal wirken, dessen Launen sie wehrlos ausgeliefert sind. Und auch unsere poli­tischen und wissenschaftlichen Diskurse über die globale Überbevöl­ kerung gleichen durchaus noch denen der Malthusianer über die nützli­ chen und die überflüssigen Teile der Menschheit. Immerhin wissen wir jetzt, dass andere, aus einer «großen sozialen Revolution» hervorgegangene, von historisch-materialistischen (kom­ munistischen) oder von religiös-fundamentalistischen Soziallehren inspi­ rierte Formen gesellschaftlicher Entwicklung sich als noch repressiver und noch kannibalischer herausstellen können. Nicht zuletzt aufgrund dieser Erfahrungen ist die Menschheit im 21. Jahrhundert in einem, sich immer noch weiter ausdehnenden, Zirkel eines Fortschritts nach kapita­ listischem Modell befangen  – zu dessen Hauptmotoren und Protago­ nisten jetzt gerade auch die oligarchischen Machteliten der vormals oder noch immer als kommunistisch deklarierten Länder geworden sind.

Der ungemütliche Fortschritt Es ist kein Zufall, dass fast alles, was wir bei Marx über den Kommunis­ mus als Zukunftsperspektive finden, aus verstreuten Notizen oder zu Lebzeiten nicht publizierten Entwürfen stammt. In den veröffentlichten Programmtexten sind alle Definitionen und Beschreibungen einer künfti­ gen kommunistischen Gesellschaft nicht nur betont karg; sie spielen für die Entfaltung der Kritik der bestehenden kapitalistischen Gesellschaft auch keine systematische Rolle, geschweige dass sie wie bei den Früh­ sozialisten als spirituelles soziales oder politisches Werbemittel gedient hätten. Nach 1850 verschwindet der Begriff «Kommunismus» als ein pro­ grammatischer Leitbegriff fast vollkommen aus der politischen Rhetorik von Marx wie von Engels, und ebenso aus der Propaganda der entstehen­ den Sozialistischen und Sozialdemokratischen Parteien dieses Zeitalters. Tatsächlich waren schon in den 1840 er Jahren, als die ersten «Socia­ listen» und «Communisten» in Frankreich und den deutschsprachigen Ländern die Bühne betraten, diese beiden Bezeichnungen fluktuierend gewesen. Zwar galten die «Kommunisten» als radikaler, weil dieser Be­ griff einen umfassenderen Anspruch zu signalisieren schien, seine An­ hänger einen stärker proletarischen Einschlag hatten und teilweise mit den revolutionären Geheimbünden der Zeit in Verbindung gebracht

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wurden. Aber Engels hatte bei Gelegenheit auch harmlose religiöse Sek­ tierer wie Rappisten oder Shaker als Beispiele eines Lebens in kommu­ nistischer «Gütergemeinschaft» angeführt.30 Eines der ersten gemeinsamen Projekte von Marx und Engels, im Ver­ ein mit Moses Hess, hätte 1844/45 eine Bibliothek des wichtigsten histo­ rischen Schrifttums dieses erst ganz vage beschriebenen Kommunismus oder Sozialismus sein sollen, angefangen mit Campanellas «Der Sonnen­ staat» über Morellys apokryphen «Code de la Nature» und die (nur über Buonarotti bekannten) Pamphlete Babeufs bis hin zu den Pro­ grammschriften der Begründer des zeitgenössischen Sozialismus und Kommunismus wie vor allem Saint-Simon, Robert Owen oder Charles Fourier – ein Projekt, an dem sie sehr schnell das Interesse verloren, weil es nur noch antiquarischen Charakter gehabt hätte. Stattdessen began­ nen sie, den Begriff des «Kommunismus» mit ganz eigenen Bedeutungen zu füllen und theoretisch zu untermauern. In Paris hatte Marx auch Heinrich Heine näher kennen gelernt, der seit Jahren mit einer Art furchtsamer Bewunderung die «galiläischen Anfänge» eines proletarischen Kommunismus in Frankreich verfolgt hatte – wobei diese Bewunderung sich mit einer steten, latenten Furcht vor den «Wanderratten» (den Wandergesellen und Emigranten, die sich in Paris sammelten) mischte: «Sie tragen die Köpfe geschoren egal, / ganz radikal, ganz rattenkahl.»31 Kurz vor seinem Tod Mitte der 1850er Jahre bekannte er, seine frühere Prognose, wonach «den Kommunisten die Zukunft gehört», habe er «im Tone der größten Angst und Besorg­ nis» gemacht, «und ach! diese Tonart war keineswegs eine Maske!». Nur mit Grauen und Schrecken könne er an die Zeit denken, «wo jene dunklen Ikonoklasten zur Herrschaft gelangen werden». Mit ihren rohen Fäusten würden sie nicht nur seine geliebte Kunstwelt zerschlagen, seine Lorbeerwälder umhacken und Kartoffeln darauf pflanzen; auch «die Nachtigallen, die unnützen Sänger, werden fortgejagt, und ach! mein ‹Buch der Lieder› wird der Krautkrämer zu Tüten verwenden, um Kaffee oder Schnupftabak darin zu schütten». Und dennoch, so gestehe er freimütig, übe gerade dieser rohe Kommu­ nismus «auf mein Gemüt einen Zauber, dessen ich mich nicht erwehren kann» – und wäre es auch nur, weil der rote proletarische Riese ganz ­sicher allen Teutomanen und Nationalisten den Garaus machen werde, «nicht mit einem Keulenschlag, nein, mit einem bloßen Fußtritt, wie man eine Kröte zertritt».32

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Dass die Proletarier die modernen Barbaren waren, die mitten in der ent­ stehenden bürgerlichen Gesellschaft heranwuchsen, war das Grund­ thema aller Hysterien und Gespensterbeschwörungen der Zeit  – die ­ihrerseits einen umso größeren «Zauber» auf die Gegner dieser Gesell­ schaftsordnung ausübten und unbestimmte Erwartungen (auf Rache, Erlösung, Umsturz, Revitalisierung, Erneuerung) weckten. Das «Warten auf die Barbaren», ein Topos aus dem antiken Rom, gehört zur Grund­ disposition der modernen Welt. Nur dass der tiefsitzende «Kulturpessi­ mismus», der gerade die Zeit der Großen Beschleunigung (der «Great Acceleration»33) des Industriekapitalismus vor 1914 prägte, sich weder im Einbruch äußerer Barbaren noch im Aufstand der inneren Barbaren der Fabrikvororte erfüllte. Stattdessen wurden die Tore 1914 dem von Nietzsche prophezeiten «Barbar unter dem schlotterichten Gewande von westländischer Bildung» geöffnet, einer Charaktergestalt aus der Mitte der bürgerlichen Gesellschaft selbst, bei der am ehesten an den Weltkriegsgefreiten Hitler zu denken wäre.34 Marx und Engels standen der zeitgenössischen Vorstellung von den Proletariern als den «‹Barbaren› unserer zivilisierteren Gesellschaft»35 keineswegs fern. Gerade in ihren populären Reden und Texten firmier­ ten die Proletarier als die designierten «Totengräber» der Bourgeois­ gesellschaft, und ein anderes Mal als die vor der Tür stehenden «Rächer», die das Feme-Urteil der Geschichte an den Ausbeutern vollstrecken wür­ den.36 Allerdings setzten Marx und Engels nicht auf irgendwelche «ro­ hen», von außen kommenden, vom Hauch der modernen Zivilisation unberührten Barbaren, sondern auf solche, die von der höheren, na­ mentlich der westlich-industriellen Zivilisation gekostet hatten, mehr noch: sie bereits authentischer vertraten als die herrschenden Klassen. Auch wenn die bürgerlich-kapitalistische Produktionsweise die Proleta­ rier auf die Stufe einer äußersten menschlichen Degradation zurückwarf, musste sie ihnen gleichzeitig alle die «Bildungselemente» zuführen, die es ihnen in näherer oder fernerer Zukunft erlauben würden, die von ih­ nen selbst geschaffenen oder getragenen Arbeitsinstrumente und Ein­ richtungen in Besitz zu nehmen. Eben wegen dieser Verknüpfung fiel im «Manifest» die fundamentale Kritik der bestehenden Macht- und Eigentumsordnung passagenweise mit einer geradezu hymnischen Würdigung der revolutionären Rolle der Bourgeoisie und ihrer kapitalistischen Produktionsweise selbst zusam­ men. Am rühmenswertesten fand Marx (der das «Manifest» nach einem ersten Vorentwurf von Engels37 letztlich allein und aus einem Guss ge­

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schrieben hatte) an dieser neuen kapitalistischen Produktionsweise aber gerade jene permanente Unruhe und «kreative Zerstörung» (wie Schum­ peter einhundert Jahre später sagen würde), die für die Zeitgenossen das Beunruhigendste und Unerträglichste war: «Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsver­ hältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren  … Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung der gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeois-Epoche vor ­allen früheren aus  … Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen.»38 In dieser Vorstellung einer permanenten Umwälzung, Erschütterung, Einschmelzung, Entweihung kann man das Marx’sche «Manifest» als den «Archetyp aller künftigen modernen Manifeste und Bewegungen» ansehen und Marx selbst noch immer als einen «Modernen» par excel­ lence.39 Aber hat er sich nicht sofort in einen neuen Widerspruch ver­ strickt, indem er selbst darauf hinwies, «wie gut diese Gesellschaft ­inmitten von Krisen und Katastrophen blüht und gedeiht»? Ein schla­ gender Grund, warum diese Gesellschaft sich nicht noch sehr lange in immer neuen Zyklen einer «schöpferischen Zerstörung» weiterentwi­ ckeln kann, ist bei Marx nicht zu finden. Im Gegenteil, so Marshall Ber­ man: «In dieser Welt kann Stabilität nur Entropie bedeuten … Zu sagen, dass unsere Gesellschaft auseinanderfällt, heißt nur zu sagen, dass sie le­ bendig und wohlauf ist.»40 Dieser Gedanke, dass die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft in all ihren permanenten Krisen und Umwälzungen in Wirklichkeit womög­ lich erst am Anfang und nicht am Ende ihrer historischen Karriere stehe, hat Marx immer wieder gestreift. Tatsächlich lieferte er zu allen ökono­ mischen Gesetzen, die den Kollaps der kapitalistischen Produktionsund Eigentumsverhältnisse begründen sollten  – wie dem Gesetz der tendenziell fallenden Profitrate; dem Gesetz der immer wachsenden ­ Konzentration des Kapitals, worin «ein Kapitalist den anderen tot­ schlägt»; oder dem Gesetz der absoluten und relativen Verelendung  – Hinweise auf «gegenwirkende» oder jedenfalls verzögernde Faktoren immer gleich mit. In einem Brief an Engels aus dem Jahr 1858 findet sich sogar die ahnungsvolle Feststellung, dass die bürgerliche Gesellschaft womöglich gerade noch einmal «ein zweites sechzehntes Jahrhundert»

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erlebe. Zwar folgerte Marx, so als wollte er diese Feststellung gleich wie­ der wegwischen, dass auf dem europäischen Kontinent «die Revolution imminent» sei und diesmal «sofort einen sozialistischen Charakter an­ nehmen» müsse. Aber er hielt es für möglich, dass sie in diesem «kleinen Winkel» (Europa) noch einmal völlig «gecrusht» werde, weil «auf viel größerm Terrain das mouvement der bürgerlichen Gesellschaft noch ascendant» sei.41 Die größte Schwierigkeit des Marx’schen Erbes für die späteren Genera­ tionen von Sozialisten lag womöglich auf einer ganz anderen, eher emo­ tionalen als rein intellektuellen Ebene. Über das historische Wirken der Bourgeoisie etwa hieß es im «Manifest», und zwar im Ton eines hoff­ nungsvollen «Nur-weiter-so»: «Sie hat die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarm­ herzig zerrissen und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übrig gelassen, als das nackte Interesse, als die ­gefühllose ‹bare Zah­ lung›. Sie hat die heiligen Schauer der frommen Schwärmerei, der ritter­ lichen Begeisterung, der spießbürgerlichen Wehmut in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt … Sie hat, mit einem Wort, an die Stelle der mit religiösen und politischen Illusionen verhüllten Aus­ beutung die offene, unverschämte, direkte, dürre Ausbeutung gesetzt.»42 Wer konnte es aber auf den zugigen Höhen dieser historischen Vogel­ perspektive oder in «dem eiskalten Wasser» der Moderne aushalten und sich dabei wohlgemut vorstellen, dass die entfesselten Elemente des so­ zialökonomischen «Naturprozesses» nicht nur die Instrumente einer ­höher vergesellschafteten Produktions- und Lebensweise liefern würden, sondern zugleich auch der Arbeiterbewegung die Vorzüge eines streng wissenschaftlichen, materialistischen Denkens? Darin liegt vermutlich der tiefere Grund dafür, dass aus dem komplexen und vielfach wider­ sprüchlichen Gedankengewebe der Marx’schen Texte schließlich ein leicht fasslicher «Marxismus» wurde, in fixe Doktrinen und katecheti­ sche Formeln gefasst. Aber auch die forcierte Selbsttraditionalisierung der Sozialis­tischen Parteien des späten 19. Jahrhunderts dürfte nicht zu­ letzt aus dem Wunsch gewachsen sein, sich in diesem ungeheuren, vom kalten Licht der Vernunft erleuchteten Kosmos einer neuen historisch-­ materialistischen «Weltanschauung» etwas behaglicher einzurichten und nicht gar so einsam dazustehen. Das ganze Marx’sche Modell eines historischen Fortschritts, der sich in den antagonistischen Formen gesteigerter Entfremdung, Enteignung,

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Ausbeutung und Unterdrückung vollzogen haben sollte, war im Ver­ gleich zu den liberalen und positivistischen Fortschrittsschemata seiner Zeit eher beunruhigend, als dass es fromme Zuversicht gestiftet hätte. Wenn es dynamisch war, dann keineswegs linear; sondern es kannte ­inmitten aller epochalen Fortschritte auch katastrophische Abbrüche, langwierige Rückschläge und tiefe Ungleichzeitigkeiten. So setzte Engels in seinem vielgelesenen «Anti-Dühring» jedem bloß moralischen Lamento, etwa über die antike Sklaverei, das historisch-­ materialistische Monitum entgegen: «Ohne Sklaverei kein griechischer Staat, keine griechische Kunst und Wissenschaft; ohne Sklaverei kein Römerreich. Ohne die Grundlage des Griechentums und des Römer­ reichs aber auch kein modernes Europa … In diesem Sinne sind wir be­ rechtigt zu sagen: Ohne antike Sklaverei kein moderner Sozialismus.»43 Dieses schwierige Argument ließ sich historisch natürlich noch weiter verallgemeinern: ohne feudale Hörigkeit keine Steigerung der Agrarpro­ duktion und Städtebildung im europäischen Mittelalter, und ohne kapi­ talistische Lohnarbeit, sogar «Lohnsklaverei», und womöglich ohne ­koloniale Ausbeutung keine moderne Industrie  – und somit erst recht kein moderner Sozialismus. Allerdings, so die dialektische Antithese: Ohne den Bürgermut vor Fürstenthronen und ohne den beständigen Wi­ derstand der Ausgebeuteten und Unterdrückten, ohne den Stachel der Klassenkämpfe also hätte es erst recht keinen Fortschritt, sondern nur Stagnation und Verfall gegeben. So wurde dann eben die erwähnte, lange ­Genealogie der «Vorläufer des neueren Socialismus» entdeckt oder vielmehr frisch entworfen, die dem historischen Fortschritt die Sporen gaben. Und was für die Vorgeschichte galt, das galt auch für die zu erkämp­ fende Zukunft. Wer außer den beiden Begründern des «wissenschaft­ lichen ­Sozialismus» konnte so ausdrücklich darauf verzichten, sich von der zukünftigen Gesellschaft «ein Bild zu machen» – wie es nicht einmal die christliche Religion trotz bi­blischen Verbots geschafft hatte? So kam es, dass nicht nur die einfachen Parteimitglieder, sondern auch die Füh­ rer und Literaten der deutschen Sozialdemokratie sich, entgegen allen Marx’schen Utopie- und Bilder­verboten, die Prospekte eines sozialisti­ schen «Zukunftsstaates» immer detaillierter ausmalten und der leere Raum nach und nach immer üppiger möbliert wurde; manchmal etwas spießig oder plüschig, vielfach auch schon werkbundmäßig modern oder im Geist einer «neuen Sachlichkeit». Die schöne neue Welt des Sozialismus erschien am Ende aller Revolu­

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tionsstürme vor allem als eine ruhige, sichere, geordnete, wohlhabende, von aller blinden Unrast und allen ungezügelten Leidenschaften und Ambitionen befreite, in einem umfassenden Sinne «gerechte» und also doch wohl recht egalitäre Welt, in der maßvolle Vergnügungen und wa­ ckerer Lern- und Forschungseifer, sachgemäßes Verwalten und fried­ liches Ausgleichen das Bild bestimmen würden. Dieses fromme Wunsch­ bild war eigentlich unvermeidlich. Nicht so für Marx, der das früh kommen sah und auch deshalb jeder­ zeit Distanz zur entstehenden Sozialdemokratie und Arbeiterbewegung wie auch zu einem Großteil seiner Bewunderer hielt. Hierin dürfte die Pointe der bekannten Anekdote liegen, die Franziska, die Tochter des be­ freundeten Arztes Ludwig Kugelmann und seiner Frau Gertrud, überlie­ fert hat. Marx, berichtete Franziska Kugelmann, sei bei seinen Besuchen äußerst gesellig, charmant und jederzeit zu Scherzen aufgelegt gewesen, und «nichts war ihm langweiliger, als wenn jemand das taktlose Ansin­ nen an ihn stellte, etwas von seiner Lehre zu hören». «Einmal fragte ihn ein Herr, wer denn in Zukunft die Stiefel putzen solle. Da erwiderte er ärgerlich: ‹Das sollen Sie tun.› … – Als der Besuch gegangen war, sagte meine Mutter freimütig: ‹Herr Dr., ich will den Herrn mit seiner albernen Fragerei nicht in Schutz nehmen, aber ich …. kann mir Sie auch nicht in einer nivellierenden Zeit denken, da Sie durchaus aristokratische Neigungen und Gewohnheiten haben.›  – ‹Ich auch nicht›, antwortete Marx. ‹Diese Zeiten werden kommen, aber wir müssen dann fort sein.›»44

2. Die Partei Marx

Soziologisches und Biografisches

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on einer «Partei Marx» war in der Anklageakte für den «Kölner Kommunistenprozess» 1852 ganz offiziell die Rede. Dieser Prozess war auf persönliches Betreiben des preußischen Königs angesetzt wor­ den, um – wie er im November 1850 an seinen Ministerpräsidenten von Manteuffel schrieb  – «das Gewebe der Befreiungsverschwörung» im ­widerständigen Rheinland zu enttarnen und die Revolution von 1848 in Preußen und Deutschland insgesamt einem «aufgedeckten und (vor allem) bestraften Komplott» kommunistischer Agitatoren zuschreiben zu kön­ nen.1 So dienten die geschlagenen 48 er-Kommunisten hier wie überall in Europa den siegreichen Kräften der Reaktion als jenes «Gespenst», als welches das «Manifest» sie zuvor gezeichnet hatte. Marx in seinem Lon­ doner Exil rückte, wie schon bei seiner Entlassung als Redakteur der «Rheinischen Zeitung» 1843, in die Rolle eines vom König persönlich identifizierten Staatsfeindes. Dass sein Schwager Ferdinand von West­ phalen, ein Halbbruder Jennys, 1850 zum preußischen Innenminister dieser Reaktionsperiode aufgerückt war und zur engsten Hofkamarilla gehörte, machte die Sache für ihn noch schwieriger – aber auch erheben­ der. Das Herzstück der Anklageakte, die durch den eigens dafür einge­ stellten und dem König direkt verantwortlichen Polizeirat Stieber zu­ sammengestellt worden war, bildete neben ausführlichen Spitzelberich­ ten sowie echten Dokumenten ein «Original-Protokollbuch der ‹Partei Marx›». Tatsächlich handelte es sich um eine von ihm selbst veranlasste plumpe und zuletzt erfolglose Fälschung durch seine Londoner Agenten, von denen sich einige in der unmittelbaren Umgebung von Marx beweg­ ten. Der «Kölner Kommunistenprozess» beschäftigte die deutsche und selbst die europäische Öffentlichkeit eine Zeitlang recht lebhaft. Marx (der bis dahin außerhalb des Rheinlands kaum bekannt war) firmierte darin als der geheime Kopf einer weitverzweigten, länderübergreifenden

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Teil VI: Sozialistische Gründerzeit

Verschwörung – wie noch einmal zwanzig Jahre später, als er nach der Niederschlagung der Pariser Commune als der angebliche «Grand Chef der Internationale» präsentiert wurde. Das eine wie das andere Mal hat­ ten diese Behauptungen einen wahren Kern – und waren doch ziemlich verfehlt. Beide Male schwankte Marx zwischen Anflügen hybriden Stol­ zes als der «bestverleumdete und meistbedrohte Mann von London»2 und einer rasenden Erbitterung, die er mit einer konzentrierten Gegen­ strategie von juristischen Schachzügen, minutiösen Gegenbeweisen, lite­ rarischen Attacken und selbst persönlichen Ehrenhändeln (bis hin zur Duellforderung) durchfocht. Dabei bildeten bürgerliche Ehrbarkeit, per­ sönliche Empfindlichkeit und sanguinisches Revolutionärstum eine iri­ sierende Mischung. Ähnliches gilt auch für die Angeklagten im Kölner Kommunisten­ prozess, mehrheitlich Intellektuelle und Angehörige bürgerlicher Berufe (zwei Journalisten, drei Ärzte, ein Chemiker, zwei Angestellte), dazu drei Handwerker {zwei Schneider und ein Zigarrenmacher). Tatsächlich wa­ ren sie der Kern des innerdeutschen Flügels einer kleinen «Partei Marx» gewesen; genauer gesagt die letzten, versprengten Reste jenes ominösen «Bundes der Kommunisten», der sich nach kaum einjährigem Bestehen in den Wirren der Revolutionsjahre 1848/49 informell und faktisch weit­ gehend aufgelöst hatte. Zumindest einen Teil der Angeklagten rettete das allerdings nicht vor der Verurteilung zu langen Jahren der Festungshaft. Der bekannteste Aktivist und Agitator unter ihnen war der Jurist und Burschenschafter Herrmann Heinrich Becker, genannt «der rote Becker» (nicht nur we­ gen seiner Haarfarbe). Nach Jahren der Festungshaft wurde er in den 1860  er Jahren zu einem führenden Politiker der neuen liberalen Fortschritts­partei und 1875 zum Bürgermeister der Stadt Köln gewählt, mit Sitz im Herrenhaus des Deutschen Reichs. Das ist nicht der einzige Fall einer ­ehrenhaften Lebenskarriere eines 48 er-Kommunisten. Viele dieser Kar­rieren wurden allerdings dann in Amerika gemacht, als repu­ blikanische Aktivisten und Offiziere im Bürgerkrieg, als sozialistische Journalisten und Genossenschafter, aber auch als Industrielle oder als Städtebauer. Das wirft noch einmal ein Licht auf das soziale Umfeld, in dem sich Marx und Engels als frischgebackene Kommunisten eigener Prägung von Anfang an bewegten. Dazu gehörten nicht nur die Förderer aus dem Gründerkreis der verbotenen «Rheinischen Zeitung», jene rheinischen

2. Die Partei Marx

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Industriel­len und Kaufleute, die Marx auch in Paris und Brüssel eine Zeitlang weiter unterstützt hatten und von denen er einige im Frühjahr 1848 bei der Gründung der «Neuen Rheinischen Zeitung» noch einmal aktivieren konnte, bevor er sie durch die immer schärfere Akzentuierung revolu­ tionärer Forderungen großteils verlor. Dazu gehörte auch das ­eigene Herkunftsmilieu. So haben die Familie Marx wie der fröhliche Junggeselle Engels in ­Paris und Brüssel überwiegend noch von Zuwendungen ihrer Familien gelebt. Marx hatte in dem von ihm 1845 gegründeten «Kommunisti­ schen Korrespondenz-Komitee» in Brüssel seinen Jugendfreund und Schwager Edgar von Westphalen zur Seite, und auch Jennys verwitwete Mutter blieb ihnen treu verbunden – anders als Mutter Marx, die sich über ihren einzigen Sohn tief grämte und ihn nur gegen Schuldscheine gelegentlich unterstützte. Engels wiederum fand in seiner Lieblings­ schwester Marie und deren Mann, dem Kaufmann Karl Blank, inner­ familiäre Verbündete  – wie sein heimisches «Zion der Obskuranten» sich überhaupt (anfangs jedenfalls) offener zeigte, als man denken würde. Es fällt auf, dass das bürgerliche Publikum von den Krisen- und Ver­ fallsprognosen, wie sie Engels und sein Kompagnon Moses Hess 1845 in Elberfeld und Barmen entwickelten, so wenig schockiert war wie von ­ihren donnernden Bußpredigten und den werbenden Prospekten einer gemeinschaftlichen, eben kommunistischen Produktions- und Lebens­ form, die als der einzige Weg dargestellt wurde, durch den eine soziale Katastrophe und gewaltsame Revolution noch vermieden werden könn­ ten.3 Wie im Umfeld der «Rheinischen Zeitung» stößt man hier auf das zeittypische Phänomen einer verbreiteten Skepsis des liberal-aufge­ klärten wie des religiös gebundenen Bürgertums gegenüber den brüchi­ gen moralischen und materiellen Grundlagen der eigenen Produktions­ weise und Lebensform, verschärft durch eine prinzipielle Opposition ­gegen die preußische Obrigkeit. Vor allem wegen des Letzteren schritten die Behörden ein, worauf Engels sich mit Unterstützung seiner Eltern nach Paris und Brüssel absetzte. Im Frühjahr 1848 erwog er sogar, sei­ nen Vater als Teilhaber der «Neuen Rheinischen Zeitung» anzuzapfen, gab das aber gleich wieder auf – und erhielt stattdessen alle familiären Zuwendungen gestrichen. 1851 freilich schloss er dann mit seinem Vater einen förmlichen, anfangs knapp, später üppiger dotierten Vertrag als kaufmännischer Geschäftsführer der Textilfabrik Ermen & Engels in Manchester und erledigte diesen Job zur vollen Zufriedenheit des Alten. In dieses Bild gehören auch die diskreten Versuche, Marx im Vorfeld

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und während der liberalen März-Periode der 1848 er Revolution durch das Angebot einer Position im preußischen Staatsdienst zurückzugewin­ nen. Als er 1861 nach dem Erlass einer Amnestie im Zuge einer neuen Reformperiode nach Berlin reisen durfte, um auf Einladung Lassalles das Feld für eine legale Zeitungsgründung zu sondieren, gab es offenbar noch immer Unterstützung aus bürgerlichen und beamteten Kreisen für dieses Projekt. Das scheiterte allerdings an der Weigerung der Polizei­ behörden, ihm die preußische Staatsbürgerschaft wiederzugeben, die er 1845 in Brüssel aufgegeben hatte, um Auslieferungsgesuchen zu ent­ gehen. Die Brücken waren verbrannt – allerdings nur die politischen und offiziellen, nicht die familiären und gesellschaftlichen. Jenseits aller politischen Feindschaft gab es eine Ebene standesgemä­ ßer Verbindlichkeiten, die Jenny Marx bewogen, ihr «née baronesse de Westphalen» niemals von der Visitenkarte zu streichen – so wie Engels als Industrieller in Manchester gar nicht daran dachte, die Welt der aris­ tokratischen Clubs und Jagdpartien oder die bürgerlichen Gesellschaf­ ten der deutschen Kaufleute und Industriellen zu meiden. 1867 traf Marx nach seinem Besuch bei den Kugelmanns (einem gutsituierten Frauenarzt) in Hannover, wo er die Druckfahnen des «Kapital» redi­ gierte und Besucher empfing, in einem Brief an Engels die verblüffende Feststellung: «Wir zwei haben doch eine ganz andere Stellung in Deutsch­ land, namentlich unter dem ‹gebildeten› Beamtentum, als wir wissen.» Dieser Einfluss sei jedenfalls «größer als auf die Knoten».4 Die «Knoten», das waren die Arbeiter. Im Übrigen trugen alle seine publizistischen Projekte neben politisch-­ revolutionären durchaus kommerzielle Züge. Ein Gutteil der Presse­ organe und Verlage in den deutschen Ländern war ja trotz oder gerade wegen der Zensur oppositionell gestimmt; die politischen Grenzen waren noch immer fließend; und bürgerlicher Beruf und radikale Opposition waren nicht per se unvereinbar. Für journalistische Arbeiten gab es jetzt sogar eine europäische und überseeische Öffentlichkeit, die sich durch den Ausbau der postalischen und telegrafischen Kommunikationen be­ ständig erweiterte. Immerhin konnte Marx über einige Jahre hinweg mit regelmäßigen Korrespondenzen für die «New York Tribune» und andere Zeitungen ein Einkommen erzielen, das sogar das seines Vaters überstieg. Nur war London die teuerste Stadt der Welt; und aus seinen quälenden Schulden kam er nie heraus – die mit ihren Wechseln, Schuld­ scheinen und Verpfändungen eine Art bürgerlicher Elendsökonomie wa­

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ren, in der alles darauf ankam, die Reputation zu wahren, um den Kredit nicht zu verlieren.5 Ansonsten lieferte die Welt der Verleger, Buchhändler oder Drucker für radikale Demokraten und Kommunisten nicht nur eine mögliche Einkommensquelle, sondern ein soziales Scharnier zu den liberalen Bür­ ger- und Beamtenmilieus wie zu den proletarischen Schichten, in denen lesekundige, autodidaktisch gebildete Handwerker und Facharbeiter den Ton angaben. Industriearbeiter in dem Sinn, in dem sie im «Mani­ fest» oder in den späteren kanonischen Texten des Marxismus als die Prototypen einer Klasse, der die Zukunft gehörte, definiert wurden, wa­ ren in diesem Umfeld bis in die 1870 er Jahre hinein jedenfalls noch sel­ tener als in der Gesellschaft überhaupt. Die Führung des «Bundes der Gerechten», der in London seit den frü­ hen 1840 er Jahren einen «Arbeiterbildungsverein» auch als legale Fas­ sade unterhielt, lag in den Händen eines Trios: des Uhrmachers Joseph Moll und des Schuhmachers Heinrich Bauer, vor allem aber des ehe­ maligen Gießener Burschenschafters, Mitglieds von Georg Büchners «Gesellschaft der Menschenrechte» und Teilnehmers der militärischen Verschwörung Blanquis in Paris 1839, Karl Schapper. Für Marx und En­ gels war Schapper letztlich immer der Hauptansprechpartner, mit dem sie, trotz ihres Zerwürfnisses in der Emigration, eine Beziehung gegen­ seitigen Respekts unterhielten. 1865 holte Marx ihn, der sein Emigran­ tenleben als Sprachlehrer und Typograf fristete, in den Generalrat der Internationalen Arbeiter-Assoziation zurück. 1870 besuchte er den einst hünenhaften, jetzt von der Tuberkulose niedergestreckten alten Gefährten am Sterbebett und meldete an Engels, Schapper sei der Sache treu geblieben. Sie sprachen anfangs Französisch, das noch immer die lingua franca der Revolutionäre (wie der kosmopo­ litischen Adelsgesellschaft) war. «Je ferai bientôt la dernière grimace», bald werde ich meine letzte Grimasse machen, habe Schapper ihm zuge­ flüstert; und sie machten Witze über einige Personnagen ihrer früheren Revolutionstage. An das Jenseits glaube er nicht, habe ihm der einstige Gefährte, der ein Pfarrerssohn war, gesagt; sollte er aber doch drüben auf Ruge treffen, der inzwischen ein Anhänger Bismarcks geworden war, werde er ihn bestimmt «holzen» (durchprügeln). Schließlich habe er, halb entschuldigend, halb erklärend gesagt: «Ich war kein Theoreti­ ker … Ich habe gelebt als hard working Arbeiter und sterbe als Proleta­ rier.»

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Marx, Engels und die «Knoten» Marx’ Empfindungen gegenüber den Proletarier-Kommunisten, mit de­ nen er in Paris, später in Brüssel, in Köln und in London in Berührung kam, waren sehr bald ähnlich zwiespältig geworden wie die Heinrich Heines. Gewiss, da war der Moment der ersten romantischen Begeg­ nung mit den «französischen ouvriers» und mit den deutschen Hand­ werkern und Gesellen, die er 1844 in den Vereinen und Lokalen der Emigration in Paris kennengelernt hatte. Für Marx’ recht späte und zögernde Bekehrung zum Kommunismus dürften diese Begegnungen ­ eine zentrale Rolle gespielt haben, glaubte er darin doch den Vorschein einer künftigen Gesellschaft zu sehen: «Wenn die kommunistischen Handwerker sich vereinen, so gilt ihnen zunächst die Lehre, Propaganda etc. als Zweck. Aber zugleich eignen sie sich dadurch ein neues Bedürf­ nis, das Bedürfnis der Gesellschaft an … (Der) Verein, die Unterhaltung, die wieder die Gesellschaft zum Zweck hat, reicht ihnen hin, die Brüder­ lichkeit der Menschen ist keine Phrase, sondern Wahrheit bei ihnen, und der Adel der Menschheit leuchtet uns aus den von der Arbeit verhärteten Gestalten entgegen.»6 Noch weiter gingen seine Phantasien über den «überlegenen», näm­ lich «theoretischen Charakter», der den Aufstand der schlesischen Hand­ weber mit ihrem angeblichen Bewusstsein über das «Wesen des Prole­ tariats» und dessen Gegensatz zum «Bankier, dem versteckten Feind» sogar vor allen englischen und französischen Aufständen ausgezeichnet habe – obwohl es sich in Wahrheit um eine klassische, früh­industrielle Empörung gegen Lohndruck und Wucher gehandelt hatte, die mit ihrer Mischung von Hungerrevolte und Maschinenstürmerei kaum über den historischen Moment und den notwendig beschränkten Horizont dieser Weberdörfer hinausführen konnte.7 Diese immer wieder auflebende Erwartung einer Fusion von proleta­ rischer Klassenbewusstheit und theoretischer Einsicht, einer weltge­ schichtlichen Urzeugung, hat Marx’ ganzes Werk mitgetragen. Sie taucht spät noch einmal in der Behauptung auf, dass «Das Kapital», im Gegen­ satz zum Unverständnis bürgerlicher Rezensenten, «in weiten Kreisen der deutschen Arbeiterklasse» auf lebhaftes Verständnis gestoßen sei. Daraus schöpfte er die Hoffnung, «dass der große theoretische Sinn, der als deutsches Erbgut galt …, in seiner Arbeiterklasse neu auflebt»; mehr noch: dass die Politische Ökonomie, die im industriell fortgeschrittenen

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England wie in Frankreich als bürgerliche Wissenschaft schon unmög­ lich geworden sei, im rasch auf- und überholenden Deutschland als ­«theoretisches Klassenbewusstsein» der entstehenden Arbeiterbewegung ihre wahre Bestimmung und Vollendung finden werde.8 Um dieses «theoretische Klassenbewusstsein» zu fördern, hatte Marx mehrfach, zuerst in Brüssel, später in London, einige Mühe auf den Ver­ such verwendet, durch Vorträge über ökonomische Grundkategorien wie «Lohnarbeit und Kapital» oder «Lohn, Preis, Profit» zur vereinsmä­ ßigen Arbeiterbildung beizutragen; wobei er immer darauf achtete, dass «er sich nicht selbst den Arbeitern aufdrängte, sondern dass die politi­ sche Initiative von diesen ausging», da er allen Versuchen mit schärfstem Misstrauen begegnete, sich als Intellektueller (so wie Louis Blanc oder Ferdinand Lassalle) zum «sozialistischen Messias» oder «Arbeiterdikta­ tor» zu machen.9 Nicht zuletzt deshalb hielt sich Marx, mehr noch als der Fabrikanten­ sohn und praktizierende Industrielle Engels, den Handwerker-, Gesel­ len- und Arbeitervereinen wie den entstehenden sozialistischen Arbei­ terparteien gegenüber in einer betonten Halbdistanz, die gelegentlich Züge offener Abneigung zeigte. In ihrer internen Kommunikation wur­ den abfällige Begriffe wie «Knoten» oder «Straubinger», die von einem ungefilterten intellektuellen Klassenhochmut zeugten, zu routinemäßig gebrauchten Chiffren. Das Wort vom «Straubinger» war einem zeitge­ nössischen studentischen Spottlied («Gott grüß dich, Bruder Straubin­ ger») entnommen, mit dem sich eine gutbürgerliche Burschenherrlich­ keit an ihren Stammtischen über die wandernden Handwerksgesellen als Streuner und Landstreicher lustig machte, deren breite Mundart und zünftlerischen Embleme man verspottete, denen man die Mädchen aus­ spannen oder als Kneipenrivalen die Tabakpfeife (so im Lied) mit Pulver füllen konnte, bis diese tumben Burschen entnervt weiterzogen. Im Marx-­Engelsschen Selbstverständigungsjargon meinte «Straubinger» ganz kon­kret das ausgedehnte Milieu der Wanderarbeiter und -gesellen, die neben bürgerlich-intellektuellen Emigranten das soziologische Subs­ trat aller deutschsprachigen Zirkel und Vereine in Paris, Brüssel oder London bildeten. Mit «Knoten» waren dagegen die älteren, ungebildeten und von einem ursprünglichen Handwerkerstolz beseelten Arbeiter gemeint, wie sie sich schon im Vorfeld der 48 er-Unruhen und dann wieder in den 1860 er Jahren in «Arbeiterverbrüderungen» und «Arbeitervereinen» mit eige­ nen Hilfskassen und festen Lokalen zusammenfanden und den eigent­

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lichen Fond der späteren Arbeiterparteien oder auch Gewerkschaften bildeten. Den Gründungskongress des «Deutschen Allgemeinen Arbei­ tervereins» 1863 würden die Begründer des wissenschaftlichen Sozialis­ mus denn auch als Leipziger «Knotenkongress» verspotten, mit dem sie nichts zu tun haben wollten.10 So bildeten die beiden schon in den frühesten Anfängen ihre eigene, verschworene «Partei», die sich einer blökenden Meute von «Eseln», «Lumpen», «Schafsköpfen» usw. gegenübersah, die es zu domptieren galt. Als Marx 1845 auf preußisches Betreiben aus Paris ausgewiesen wurde und nach Brüssel übersiedelte, hielt Engels als sein Emissär und Kompagnon im Pariser Arbeiterbildungsverein die Stellung, der in seiner großen Mehrheit von kleinen Handwerkern und fahrenden Gesellen ge­ bildet wurde. Von dort meldete er an Marx: «Die hiesigen Straubinger bellen fürchterlich gegen mich. Namentlich 3–4 ‹gebildete› Arbeiter … Aber ich bin vermöge einiger Geduld und etwas Terrorismus durch­ gedrungen, die große Menge geht mit mir.»11 Und später, im Januar 1848: «Mit dem B(und) geht’s hier miserabel  …. Die einen sind echte Straubinger, alternde Knoten, die andern angehende Kleinbürger. Eine Klasse, die davon lebt, dass sie wie die Irländer den Franzosen den Lohn drückt, ist total unbrauchbar.»12 Der «Bund», um den es hier geht, ist jener «Bund der Kommunisten», für den Marx gerade in diesem Moment sein später weltberühmtes ­Manifest verfasste, dem zufolge die Befreiung der Arbeiterklasse nur das Werk der Arbeiter selbst sein konnte. Um diesen «Bund» unter ihre Kon­ trolle zu bekommen, hatten sie als ersten Wilhelm Weitling, den Grün­ der des ursprünglichen «Bundes der Gerechten», ausschalten müssen, der alles verkörperte, was sie ablehnten. Der sachliche Kern dieser Kontroverse war die zur Manie gewordene, geistig einengende Geheimbündelei dieser «Gerechten», verbunden mit einer Propagandapraxis, die eher einer christlichen Missionstätigkeit ­ähnelte. Im Theoretischen standen Weitlings weitverbreitete Schriften zur Debatte, so die von Marx in den Tagen seiner anfänglichen Arbeiter­ romantik noch als «genial» gerühmten «Garantien der Harmonie und Freiheit» von 1842. In der Schweizer Haft hatte Weitling dem ein «Evan­ gelium des armen Sünders» angefügt, worin er die kommunistischen den frühchristlichen Idealen gleichgesetzt und sich selbst zu ihrem Künder aufgeschwungen hatte. Der Weitling, dem sich Marx und Engels auf einer Sitzung des Brüsse­

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ler Korrespondenz-Komitees im März 1846 gegenübersahen, war Engels’ späterem, spöttischen Bericht zufolge «der wegen seiner Überlegenheit von Neidern verfolgte große Mann, der überall Rivalen, heimliche Feinde, Fallstricke witterte; der von Land zu Land gehetzte Prophet, der ein Rezept zur Verwirklichung des Himmels auf Erden fertig in der Ta­ sche trug und sich einbildete, jeder gehe darauf aus, es ihm zu stehlen.»13 Den Erinnerungen eines bei der Sitzung des Komitees anwesenden jungen Russen zufolge hatte Marx den «stutzerhaft» gekleideten Weit­ ling gleich eingangs mit scharfer Intonation aufgefordert, seine Pläne für eine «revolutionäre, soziale Tätigkeit» darzustellen. Und nachdem dieser gemäß «Artikel 1» seiner «Garantien» («Alle uns zu Gebote stehenden Mittel müssen zur Verbreitung unserer Lehre geweiht sein»14) eine Politik der verstärkten propagandistischen Missionierung und proletarischen Selbsterweckung vorgeschlagen hatte, hatte Marx ihn angedonnert, es sei «einfach ein Betrug, das Volk aufzuwiegeln, ohne ihm irgendwelche fes­ ten, durchdachten Grundlagen für seine Tätigkeit zu geben». Gerade in Deutschland «sich an die Arbeiter zu wenden ohne streng wissenschaft­ liche Ideen und konkrete Lehren», sei ein gewissenloses Spiel, bei dem «einerseits ein inspirierter Apostel vorausgesetzt wird und andrerseits nur Esel, die ihm mit aufgesperrtem Maule zuhören».15 Das saß. Weitling räumte das Feld und beklagte sich anschließend in einem Brief an Hess, Marx habe «eine Sichtung in der kommunistischen Partei» gefordert (ein Wort, das von Ferne an die «Säuberungen» des 20. Jahrhunderts erinnert) und diese «Sichtung» dann auch gleich an ihm als dem Vertreter eines «Handwerkerkommunismus» exekutiert. Alles «Gefühl muss verhöhnt werden», solle Marx erklärt haben; und überhaupt sei «das Wort Propaganda … in Zukunft nicht mehr (zu) ge­ brauchen». Auch könne von einer «Verwirklichung des Kommunismus» überhaupt keine Rede sein, sondern «die Bourgeoisie muss erst ans ­Ruder kommen». Kein Wunder, fand Weitling: «Reiche Leute machten ihn zum Redaktor, voilà tout» – das sei das ganze Geheimnis dieses kei­ neswegs so genialen Doktor Marx.16 Weitling zog bald weiter nach London, kam 1848 kurz nach Deutsch­ land zurück, wo er keine große Rolle mehr spielte, und ging schließlich in die USA, wo er als kommunistischer Sektengründer abermals schei­ terte, schließlich heiratete und in sein angestammtes Schneiderhandwerk zurückkehrte – als ein Veteran des europäischen Sozialismus unter zahl­ losen anderen. Amerika war der große Schlund, in dem sie alle ver­ schwanden.

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Revolutionsstrategien 1848 Dass die liberale Bourgeoisie zunächst «ans Ruder kommen» müsse, wobei sie allerdings durch einen Katalog eingreifender demokratischer und sozialer Forderungen eingebunden, angetrieben und halbwegs auch schon wieder entmachtet werden sollte, lief in der Realität des Revolu­ tionsjahres 1848 auf eine komplizierte und letztlich unmögliche politi­ sche Operation hinaus – auch wenn sie in dieser Form nur für das rück­ ständige Preußen und Deutschland Gültigkeit haben sollte, während für Frankreich und England fortgeschrittene, mit demokratisch-sozialis­ tischen Zielen und Forderungen angereicherte Machtperspektiven ange­ setzt wurden. In seinen praktischen Forderungen blieb das «Manifest der Kommunistischen Partei», so global es argumentierte und so sehr es die Internationalität der Arbeiterklasse als eine Tatsache unterstellte, ein deutsches Manifest. Wenn diese Strategie als «jakobinisch» bezeichnet wird, ist das sicher nicht falsch; allerdings glich der nachträgliche Versuch, aus dem blind­ wütigen Notstandshandeln der 1792 an die Macht gespülten Pariser ­Republikaner eine positive, etappenförmige und zeitgemäße Doktrin zu destillieren, einer Quadratur des Zirkels. Die «Neue Rheinische Zei­ tung», die Marx sofort nach seiner Rückkehr nach Köln im April 1848 gründete und deren fähigen, teilweise illustren Redaktionsstab (aus Fried­ rich Engels, Wilhelm Wolff, Ernst Dronke, Georg Weerth und schließlich Ferdinand Freiligrath) er nach vielfachem Zeugnis seiner unangefochte­ nen intellektuellen Diktatur unterwarf, nannte sich zwar betont schlicht: «Organ der Demokratie». Aber es dauerte bis November, bis die Zei­ tung klipp und klar die Forderung nach einer einigen, unteilbaren demo­ kratischen Republik erhob; während die Leitartikel längst schon mit ­ihren wilden Ruhmes- und Hassgesängen auf die bewaffnete Insurrek­ tion und blutige Unterdrückung der Pariser Proletarier und mit ihren fast manischen Forderungen nach einem deutschen und europäischen Revolutionskrieg gegen die östlichen Monarchien, vor allem Russland, und notfalls auch noch gegen England, einen schrill ultrajakobinischen Ton anschlug, der das Bürgertum nur verschrecken konnte. Auch die Mitglieder des zahlenmäßig recht starken Kölner «Arbeiter-Vereins» waren frustriert, da von ihren konkreten sozialen Forderungen in diesem «Organ der Demokratie» kaum etwas zu finden war. Nichts passte so recht zusammen.

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Das «Manifest der Kommunistischen Partei» vom Februar mit seinen weiten, kühnen Antizipationen einer Überwindung der Kapitalherr­ schaft durch eine Arbeiterrevolution war in der gegebenen Situation ­ohnehin vollkommen dysfunktional. Wenn Marx eine Verbreitung die­ ses in London in wenigen hundert Exemplaren gedruckten «Manifests» nicht geradezu verhindert hat, dann hat er sie jedenfalls nicht aktiv be­ trieben. Sogar der realpolitisch zurückgenommene Katalog von «Forde­ rungen der Kommunistischen Partei in Deutschland», den er nach dem Ausbruch der Februarrevolution bei einem Meeting der Bundesmitglie­ der in Paris im April hastig aufgestellt und durchgesetzt hatte, blieb in der Schublade. «Wenn ein einziges Exemplar unserer 17 Punkte hier ver­ breitet würde, so wäre hier alles verloren für uns», schrieb ihm der vor­ ausgefahrene Engels warnend.17 Dem weltrevolutionären Gestus ihres «Manifests» blieben die beiden inmitten aller realpolitischen Anpassungen trotzdem treu. Das war keine bloße Marotte, es war der Gestus eines Gutteils dieser politischen Gene­ ration – auch wenn sie unter allen 48 er-Revolutionären später im Exil dann so ziemlich die ersten waren, die dieses Ereignis als den Abschluss des 1789 eröffneten Zeitalters wie zugleich als den Beginn einer ganz neuen Epoche begriffen. Was das Revolutionsjahr 1848 zu einer historischen Schaltstelle ersten Ranges und einzigartigen, allerdings trügerischen Charakters machte, das waren drei Triebkräfte, von denen jede mit dazu beigetragen hat, dass diese Erhebung eine solch enorme Breite annahm – und so eklatant scheiterte. Da war einmal ihr ganz neuartiger supranationaler Charakter. In der Euphorie der ersten Wochen als europäischer «Völkerfrühling» gefeiert, ergab sich ihr emphatischer Inter-Nationalismus (den man am besten mit Bindestrich schreibt) zunächst einmal aus dem abrupten Zusammen­ bruch des Mächtesystems der «Heiligen Allianz» und damit auch der 1815 in Wien vertraglich fixierten nach-napoleonischen Ordnung insge­ samt. So war es der erste Akt der aus dem Februar-Umsturz hervor­ gegangenen Provisorischen Regierung in Paris, die Frankreich auferleg­ ten Beschränkungen für null und nichtig zu erklären – wenn es drauf an­ kam, auch die territorialen Grenzziehungen. Das war ein Dammbruch. Nach vorangegangenen Erhebungen in Krakau und Neapel breiteten sich demokratische und nationale Auf­ stände binnen weniger Wochen und Monate nahezu über den gesamten

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Kontinent aus. Neben Polen und Ungarn lagen die Brennpunkte vor ­allem in Italien und Österreich, Preußen und den Ländern des deutschen Bundes, vor allem also in Mitteleuropa. Überall waren es besonders die Hauptstädte und kommerziellen Zentren, wie Rom und Mailand, Prag und Budapest, Dresden, Posen, Wien oder Berlin, in denen Demonstra­ tionen, Streiks und Barrikaden für kürzere oder längere Zeit die jeweils herrschenden Machtstrukturen erschütterten. Hier traf das Prinzip der monarchischen «Souveränität» auf das neue Prinzip der «Volkssouverä­ nität», in dem Ansprüche auf nationale oder kulturelle Selbstbestim­ mung mit denen auf demokratische Mitwirkung und Freiheit einhergin­ gen – am schärfsten natürlich dort, wo die monarchische Herrschaft den Charakter einer förmlichen Fremdherrschaft trug. Deshalb trugen fast alle diese Erhebungen mit ihren Forderungen nach einer verbindlichen Verfassung, nach Presse- und Meinungsfreiheit, nach Volksbewaffnung in Bürgerwehren, nach Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit sowie nach dem Abbau der Zollschranken zu Beginn einen liberal-konstitutio­ nellen Charakter, bevor sie sich radikalisierten und auseinanderdrifteten. Diese Radikalisierungen hingen wesentlich mit dem zweiten Charak­ teristikum dieser Bewegungen zusammen, dem einer «sozialen Revolu­ tion». In dieser Kennzeichnung stimmten viele, auch distanzierte Beo­ bachter überein, vor allem angesichts der sukzessiven Pariser Unruhen von 1848, in denen Forderungen nach «Organisation der Arbeit» und einem «sozialen Minimum» von Beginn an eine zentrale Rolle spielten. «In Frankreich hat die Revolution zum ersten Male wirklich die sociale Revolution zu einer bewussten Tat des Volkes gemacht», meldete Lorenz von Stein in einem seiner «Briefe über Frankreich». Erstmals habe eine Revolution damit «den Staat zum Mittel …, um die Lage des niedern Theiles der Gesellschaft zu heben», gemacht und sei über das Prinzip ­einer rein demokratischen, auf das «gleiche Staatsbürgerrecht» zielenden Revolution noch hinausgegangen.18 Auch Alexis de Tocqueville schrieb in seinen Erinnerungen über die Revolutionszeit, in der er zeitweise als Vizepräsident der Nationalversammlung amtiert hatte: «Der Sozialis­ mus wird das wesentliche Charaktermerkmal der Februar-Revolution … bleiben. Aus dem Abstand betrachtet, wird die Republik dabei nur ein Mittel und nicht als ein Ziel erscheinen.»19 Weniger sichtbar und in ihren politischen und sozialen Ausprägungen ambivalenter waren die ländlichen Unruhen, die die städtischen Auf­ stände fast überall begleiteten, meist als Steuer- oder Hungerrevolten nach den Missernten und Teuerungen der vorangegangenen Jahre, manch­

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mal (scheinbar) sozialrevolutionär inspiriert bei Angriffen auf Grund­ besitzer oder Steuerpächter, Kaufleute, Geldverleiher oder lokale Hono­ ratioren, aber selten wirklich republikanisch oder demokratisch gestimmt. So schwer sich die Bauern bei der Formulierung eigener, gemeinsamer Forderungskataloge taten, und so wenig sie geneigt waren, mit besitz­ losen Landarbeitern oder kleinstädtischen Pauperes gemeinsame Sache zu machen, so sehr trugen ihre diffusen ländlichen Unruhen dazu bei, die bestehenden Macht- und Verwaltungsstrukturen zu erschüttern und zeitweise zu Fall zu bringen, selbst wenn sie das gar nicht beabsichtigt hatten. Das dritte Charakteristikum der 1848 er-Bewegungen war, was Lewis Namier (eigentlich Ludwik Niemirowski) eine «Revolution der Intel­ lektuellen» genannt hat.20 Das betraf die prominente Rolle, die Journa­ listen, Schriftsteller und Professoren in allen Bewegungen durchweg gespielt haben, und den hochgradig ideologischen und literarischen ­ Charakter der zahllosen Reden, Dokumente und Erklärungen, die die Leere zu füllen hatten, die der zeitweise Wegfall aller Selbstverständlich­ keiten in der Begründung von Macht, Rang, Autorität erzeugt hatte. Die Presse diente dabei nicht nur als ein Agitations- und Mobilisie­ rungsmittel, sondern vielfach auch als das Hauptmedium der Organi­ sation. Sie vertrat eine politische Öffentlichkeit, die noch kaum andere Organe besaß, insbesondere keine Mitgliederparteien. So war es der Herausgeber des sozialliberalen Massenblatts «La Presse», Émile Girar­ din, der Louis Philippe am Morgen des 24. Februar 1848 die Aufforde­ rung zum Rücktritt überbrachte, während zur gleichen Zeit in der Re­ daktion von Ferdinand Flocons radikalerer «La Réforme», in Abstim­ mung mit Armand Marrasts «Le National», die neue Provisorische Re­ gierung aus Liberalen und Sozialisten gebildet wurde.21 Zeitungsredak­ tionen waren die Hauptquartiere der politischen Gegenmacht. Und ge­ nau darauf richteten sich auch Marx’ Ambitionen in dieser Zeit. Dass die Beschwörungen universeller Brüderlichkeit vielerorts abrupt in einen brudermörderischen Hass umkippten, war dem so hartnäckigen wie flexiblen Selbstbehauptungswillen der feudal-bürokratischen Re­ gimes in Wien und Berlin mit ihrem alterfahrenen gegenrevolutionären Raffinement geschuldet, in entscheidendem Maße allerdings auch den inneren Differenzen der in Bewegung gerissenen städtischen und länd­ lichen Massen selbst. Dabei spielte inmitten aller handgreiflichen natio­ nalen und sozialen Gegensätze das überlebensgroße Gespenst einer mit

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Anarchie assoziierten «roten Revolution» dann doch eine wesentliche Rolle. Schon der stumme Eifer, mit dem preußische Landburschen unter dem Kommando adeliger Offiziere die von Studenten und Handwerkern be­ mannten Barrikaden in Berlin oder Dresden, Frankfurt oder Posen stürmten, vor allem auch in der zweiten, radikaleren Erhebung im Sep­ tember 1848, mag Beweggründe gehabt haben, die über einen reinen ­Kadavergehorsam hinausgingen. Das gilt ganz sicher für die kroatischen Regimenter, die das aufständische Wien zusammenschossen und später die ungarische Republik – und sich dabei zugleich als die Vorkämpfer ­einer neuen, aparten Nationalität unter dem Dach des Habsburgischen Reiches sahen. Aber auch in den aufständischen Städten selbst hatten sich die neu aufgestellten Bürgerwehren fast überall von Beginn an gewei­ gert, Männer aus den besitzlosen Klassen in ihre Reihen aufzunehmen. Das Statut der Wiener Nationalgarde vom 10. April 1848, das (gegen den Protest der Studenten) den Ausschluss aller, die keine wohlbeleumdeten Steuerbürger waren, zur Regel machte, wurde vom Frankfurter Vorpar­ lament als Musterstatut auch für alle anderen deutschen Städte empfoh­ len.22 So waren die nationalen wie die sozialen Bruchlinien innerhalb der Aufstandsbewegungen selbst klar vorgezeichnet. Am bestürzendsten waren allerdings die Juni-Ereignisse in Paris, wo neben Linientruppen und der bürgerlichen Nationalgarde auch eine auf Initiative der Linken aus proletarischen Rekruten formierte, in eigenen Uniformen aufmarschierende «Mobilgarde» gebildet worden war, die nach ihrer Aufstellung unter großem Jubel durch die Arbeitervorstädte marschiert war – nur um dann den Kern jener Stoßtruppen zu bilden, die die Barrikaden eben dieser proletarischen Vorstädte mit fanatischer Ver­ bissenheit und unter erheblichen eigenen Opfern erstürmten. In den Spalten der «Neuen Rheinischen Zeitung» wurde das zum Anlass, eine ganze Klassentheorie des «Lumpenproletariats» zu entwickeln, die aller­ dings in der demokratischen Publizistik der Zeit, etwa in Börnes Briefen aus Paris von 1831, längst vorformuliert war. Schon im «Manifest» war dieses «Lumpenproletariat» als die «passive Verfaulung der untersten Schichten der alten Gesellschaft» identifiziert und als ein Element ge­ brandmarkt worden, das selbst dort, wo es in die politische Bewegung hineingeschleudert werde, sich früher oder später «zu reaktionären Um­ trieben erkaufen» lassen werde.23 Jetzt also schrieb Engels über die in Blut erstickte Pariser Juni-Insur­ rektion: «Das organisierte Lumpenproletariat hat dem nichtorganisier­

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ten arbeitenden Proletariat seine Schlacht geliefert … (Wie) verächtlich erscheint die ganze jetzige Wirtschaft in Paris, wenn man sieht, wie diese ehemaligen Bettler, Vagabunden, Gauner und kleinen Diebe  …, diese Räuberbande jetzt gehätschelt, gepriesen, belohnt, dekoriert wird, weil diese ‹jungen Helden› mit brillantestem Mute die Barrikaden erkletter­ ten …, weil sie um dreißig Sous per Tag den besten, revolutionärsten Teil der Pariser Arbeiter niederschossen.»24 In seiner Nachbetrachtung über «Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850» erweiterte Marx diese soziologisch aufgefächerte Analyse nach oben hin um ein weiteres Element. Demnach hatte die «Finanzaris­ tokratie», die selber «nichts als die Wiedergeburt des Lumpenproletariats auf den Höhen der bürgerlichen Gesellschaft» war, alle gesellschaftlichen Sphären durchdrungen, bis schließlich überall, vom Hof über die Regie­ rung bis zum Literatencafé, «dieselbe Prostitution, derselbe schamlose Betrug, dieselbe Sucht, sich zu bereichern», herrschte.25 Die Revolution hatte diese Klasse nicht nur nicht in den Orkus gestürzt, sondern sie als Hintermacht und Finanziers der bourgeoisen «Ordnungspartei» von Neuem triumphieren lassen. Unter solchen Verhältnissen konnte es kaum ausbleiben, dass auch die Reihen der Revolutionäre von dieser Korruption angefressen wurden. Also entwickelte Marx im April 1850 – in einem Moment, da er just da­ mit beschäftigt war, den «Bund der Kommunisten» als eine konspirative Geheimorganisation wieder auf die Beine zu stellen – eine Analyse des «Konspirateurs von Profession», die im Grunde einen prinzipiellen Zwei­ fel an diesem Sozialtypus hätte begründen müssen. Denn die «Lebens­ stellung dieser Klasse (der professionellen Konspirateurs, also Berufs­ revolutionäre) bedingt schon von vornherein ihren Charakter». Da diese Leute nur «über sehr beschränkte und unsichere Existenzmittel» verfüg­ ten, seien sie «fortwährend gezwungen, die Kassen der Konspiration an­ zugreifen». Ihre schwankende und regellose Existenz bringe sie zwangs­ läufig «in jenen Lebenskreis, den man in Paris la bohème nennt». Diese «demokratischen Bummler» wiederum, gleich ob bürgerlicher oder prole­ tarischer Herkunft, seien entweder Leute, die ihre Arbeit aufgegeben ha­ ben, «oder Subjekte, die aus dem Lumpenproletariat hervorgehn und die alle … Gewohnheiten dieser Klasse in ihre neue Existenz übertragen».26 Diese Diagnosen markierten freilich nur das Ende der Sackgasse, in die seine systematisch begründeten, in Etappen eingeteilten Revolutions­ prospekte und Klassenanalysen schließlich gemündet waren. Die liberale Bourgeoisie in Preußen, die zunächst hätte ans Ruder kommen sollen,

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hatte ihren «weltgeschichtlichen Beruf» binnen kürzester Zeit glatt ver­ raten27 und sich in einen oktroyierten Verfassungskompromiss gefügt, der sie politisch weitgehend wieder entmündigte, ihr gesellschaftlich aber erweiterten Spielraum einräumte. Mit der französischen oder eng­ lischen Bourgeoisie war wegen ihrer notorischen Revolutionsangst schon überhaupt nicht mehr zu rechnen. Dasselbe galt für einen großen Teil der mit der staatlichen Bürokratie direkt oder indirekt verbundenen Klassen und Professionen wie Beamte und Offiziere, lokale Honoratio­ ren und Advokaten, Lehrer und bestallte Akademiker. So blieben als das Hauptkorpus des «Volkes» und einzig mögliche Verbündete die «Kleinbürger» – eine problematische Sammelkategorie, unter der die Handwerker, die lokalen Kleinhändler und die Bauern zu­ sammengefasst wurden, die nach wie vor die zahlreichsten, aber eben auch die vielgestaltigsten Klassen der Nation bildeten. Dass sie, vor ­allem in den Provinzen, eher konservativ, monarchisch oder klerikal ge­ stimmt waren, hatte sich 1848 schon vielfach gezeigt, gerade auch in den ersten allgemeinen demokratischen Wahlen in Frankreich wie in einigen deutschen Ländern. Und dass die französischen Parzellenbauern trotz ihrer vielfach elenden Lage und drückenden Hypothekenschulden sogar zur Massenbasis einer bonapartistischen Ordnungsdiktatur werden konn­ ten, gerade weil sie einst zu den Hauptgewinnern der Französischen Re­ volution und des napoleonischen Empires gezählt hatten, musste Marx 1852 dann im «Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte» bitter kon­ statieren. Übrig waren am Ende allein die klassenmäßig kaum bestimmbaren, nur politisch (also subjektiv) definierbaren «demokratisch-republika­nischen Kleinbürger». In Preußen und einigen anderen deutschen Ländern, so auch in Köln, gingen diese in einer «Demokratischen Gesellschaft» ver­ sammelten Bürger und Kleinbürger ein gutes Jahr lang politisch Hand in Hand mit dem teilweise schon sozialistisch-kommunistisch inspirierten «Arbeiter-Verein». Marx und seine engsten Gefolgsleute waren in beiden Vereinigungen, die jeweils mehrere tausend Mitglieder (oft auch als Doppelmitglieder) zählten, führend aktiv. Marx selbst trat charakteristi­ scherweise in erster Linie als lokaler Sprecher der Demokraten hervor – bis es im Frühjahr 1849 unter dem Druck der immer intensiveren Reak­ tion auch in Köln und im ganzen Rheinland zum offenen Bruch kam.

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«Diktatur des Proletariats» und Weltwirtschaft Was blieb dann aber noch von der großen Teilung der Gesellschaft in Kapitalisten und Arbeiter, die doch den analytischen Angelpunkt des «Manifests» gebildet hatte; und was blieb vom Proletariat selbst als der Klasse, der die Zukunft gehörte? In der Realität der Revolutionsjahre 1848/49 nichts als der Schattenriss eines noch kaum existierenden revo­ lutionären Subjekts inmitten eines Sumpfes zünftiger Borniertheit, bür­ gerlicher Korruption und feigen Verrats  – wovon auch die in vielen deutschen Städten aus dem Boden schießenden, von Marx nur wider­ willig akzeptierten, weil ebenfalls zünftig-berufsständisch auftretenden «Arbeiter-Vereine» und «Arbeiter-Verbrüderungen» keine Ausnahme machten. Wenn die historisch vorgezeichnete Rolle des Proletariats sich über­ haupt in irgendetwas verkörpern konnte, dann eben nur in einer «Par­ tei», die – wie sich herausstellte – auf einen winzigen, bewussten Kern beschränkt werden musste, um ihrem historischen «Beruf» treu zu blei­ ben. Darin musste die Führung notwendigerweise bis auf Weiteres in den Händen jener wenigen «Bourgeoisideologen» liegen, die sich von ­ihrer Herkunftsklasse radikal getrennt und  – wie es im «Manifest» hieß  – «zum theoretischen Verständnis der ganzen Bewegung hinaufgearbeitet haben».28 So kam es, dass Marx angesichts des Zerfalls der demokratischen Massenbewegungen im Winter 1849/50 für einen kurzen Augenblick dem Drängen seiner Genossen nachgab, den «Bund der Kommunisten» mit einer neuen Strategie und Programmatik auszustatten und als eine strikte Geheimorganisation zu reorganisieren, deren Führung nur bei ihm selbst und Engels liegen konnte. Noch waren sie ja davon über­ zeugt, dass die Triumphe der reaktionären Mächte auf Sand gebaut seien und einer neuen, umso radikaleren sozialen und demokratischen Revo­ lution den Weg bereiten müssten. An Stelle der hündisch kapitulierenden oder offen mit der Reaktion vereinten Liberalen würden als Nächste die «demokratischen Klein­ bürger» an die Macht gespült. Deren «Partei» aber, die jetzt vielfach «rot und sozialdemokratisch» auftrat, werde – wie es in einer von Marx federführend verfassten «Ansprache der Zentralbehörde an den Bund» vom März 1850 warnend hieß – sehr bald «den Arbeitern … weit ge­ fährlicher als die frühere liberale» werden, eben weil sie «die große

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Mehrheit der bürgerlichen Einwohner der Städte» repräsentierte und in deren Gefolge auch «die Bauern und das Landproletariat».29 Einmal an die Macht gekommen, werde diese kleinbürgerliche Sozial-Demokratie allgemeine Klassenversöhnung predigen und eine Föderalisierung nach Art der Schweiz anstreben, feudale Ländereien in Privateigentum über­ führen und überhaupt den Kleinbesitz stärken, um so die Arbeiterklasse zu entwaffnen, zu desorganisieren oder zu integrieren. Umso entscheidender sei es daher, so die Instruktion für die Genossen daheim, dass das Proletariat «seine ganze selbständige, mühsam er­ kaufte Stellung» behaupte, also «bewaffnet und organisiert» bleibe und alles daran setze, «solche Bedingungen zu diktieren, dass die Herrschaft der bürgerlichen Demokraten von vornherein den Keim des Unterganges in sich trägt». Die mobilisierten Arbeiter müssten die kleinbürgerlichen Maulhelden «zur Ausführung ihrer jetzigen terroristischen Phrasen zwingen», wo immer es sich darum handele, die soziale und politische Macht der Grundbesitzer und großen Bourgeois vollends zu brechen. Die Kommunisten hätten darin selbst voranzugehen: «Weit entfernt, den sogenannten Exzessen, den Exempeln der Volksrache an verhassten ­Individuen oder öffentlichen Gebäuden … entgegenzutreten, muss man diese Exempel nicht nur dulden, sondern ihre Leitung selbst in die Hand nehmen.» 30 Und von hier aus gleich weiter: Wenn es das natürliche Bestreben der demokratischen Kleinbürger sei, die Revolution so rasch wie möglich zum Abschluss zu bringen, so sei es umgekehrt «unser Interesse und un­ sere Aufgabe, die Revolution permanent zu machen, so lange, bis alle mehr oder weniger besitzenden Klassen von der Herrschaft verdrängt sind, die Staatsgewalt vom Proletariat erobert und die Assoziation der Proletarier nicht nur in einem Lande, sondern in allen herrschenden Ländern der ganzen Welt so weit vorgeschritten ist, dass …. wenigstens die entscheidenden produktiven Kräfte in den Händen des Proletariats organisiert sind».31 Diesen Weg zu eröffnen, werde allerdings, wie Marx früher schon axio­matisch festgestellt hatte, nur als «die Tat der herrschenden Völker ‹auf einmal›» möglich sein.32 So war die von ihm als «Präsidenten» ge­ leitete «Zentralbehörde» im April 1850 federführend an der Gründung einer «Weltgesellschaft der revolutionären Kommunisten» beteiligt. Diese imaginäre Weltgesellschaft bekannte sich jetzt unzweideutig zum Sturz der privilegierten Klassen aller Länder, zur «Diktatur des Proletariats» und zu ­einer «Revolution in Permanenz» – ganz im Geiste des «Kommu­

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nistischen Manifests», das, ergänzt um einige blanquistische Losungen, nun endlich als gültiges, wenn auch informelles Programm diente, aber eben nur für einen ganz kurzen Moment.33 Die weltwirtschaftlichen Entwicklungen der Zeit führten Marx fast im selben Moment zu Schlussfolgerungen, die seinen aus der Erbitterung der Niederlage gespeisten, monomanen Revolutionarismus scheinbar noch einmal stützten – nur um ihn zugleich schon auf völlig neue Bah­ nen zu führen. Man hat es hier mit einem spannungsreichen Moment zu tun, in dem zwei gegensätzliche intellektuelle und politische Konsequen­ zen seiner eigenen Ansichten wie zwei Seelen in einer Brust mit­einander im Konflikt lagen. Man könnte auch sagen (und Lenin hat es später so gesehen), dass in diesen Texten und Auseinandersetzungen von 1850 schon die spätere Scheidung in «revolutionäre Marxisten» und «Refor­ misten», also in Kommunisten und Sozialdemokraten, vorgezeichnet war; später konnten sich deshalb auch beide mit gleichem Recht auf Marx berufen. Was Marx gemeinsam mit dem in praktischen Wirtschaftsdingen ­beschlagenen Engels damals zu entdecken glaubte, war ein direkter Zusammenhang zwischen Wirtschaftskrisen, Revolutionen und Krie­ gen, den man dann so herum und so herum deklinieren konnte. Ihre publizistische Plattform war die «Neue Rheinische Zeitung. Politisch-­ ökonomische Revue, redigiert von Karl Marx»34, eine in Hamburg und New York verlegte Monatszeitschrift, die sie zum übergroßen Teil selbst vollschrieben, bevor sie sie nach einem Jahr wieder mit erheblichen Ver­ lusten liquidieren mussten. Die weltwirtschaftlichen Panoramen, die sie dort entrollten, waren so grandios wie kurzschlüssig. So sahen sie in der pazifischen Welt von ­Kalifornien bis China und Indien Entwicklungen und Umwälzungen am Werk, die noch «großartigere Resultate haben (werden) als selbst die Entdeckung Amerikas». Gleichzeitig erwarteten sie, dass die daraus ge­ nährte englische Prosperität in Kürze wieder in eine neuerliche Handels­ krise umschlagen würde, die sich erstmals nun mit einer Ackerbaukrise verbinden werde, und zwar gerade durch die Aufhebung der Kornzölle, also durch billige Importe aus Amerika und Osteuropa bei gleichzeitigen guten Ernten – eine «crise pléthorique», eine Überflusskrise der Land­ wirtschaft also! Wann hätte es so etwas jemals gegeben? Diese kombinierte Handels- und Agrarkrise müsse in Kürze von Eng­ land aus auf den Kontinent übergreifen, wo die anziehende Wirtschafts­

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konjunktur doch gerade erst die revolutionären Bewegungen erstickt habe, was wiederum der nächsten Revolution einen «ungleich pronon­ cierteren sozialistischen Charakter» geben müsse. Überhaupt, welch wun­ derbares Epigramm der Geschichte: «dass gleichzeitig die arbeitenden Klassen revoltieren aus mangelnder Konsumtion und die höheren Klas­ sen bankruttieren aus überflüssiger Produktion»!35 Ein paar Monate später war von dieser neuen Krise zwar keine Rede mehr. Umso sicherer waren die beiden sich umgekehrt jetzt, dass an der gegenwärtigen «allgemeinen Prosperität, worin die Produktivkräfte der bürgerlichen Gesellschaft sich so üppig entwickeln, wie dies innerhalb der bürgerlichen Verhältnisse überhaupt möglich ist», alle «Reaktions­ versuche ebensosehr abprallen (werden) wie alle … begeisterten Prokla­ mationen der Demokraten». Eine neue Revolution werde, wie sie ihren Genossen und Lesern apodiktisch verkündeten, nur möglich sein im Ge­ folge einer neuen wirtschaftlichen Krisis. «Sie ist aber ebenso sicher wie diese.»36 Das führte sie zu einer nächsten kühnen Schlussfolgerung: Dem pro­ nonciert sozialistischen Charakter einer künftigen europäischen Revolu­ tion werde ein noch viel dringenderer und objektiverer materieller Zwang zugrunde liegen als nur das Elend der Arbeiter, ein Zwang näm­ lich, der sich aus dem neuen Schub der Produktivkräfte und des Welt­ verkehrs ergebe: «Die einzige Chance, dass die europäischen zivilisierten Länder  … nicht in dieselbe industrielle, kommerzielle und politische ­Abhängigkeit fallen, in der Italien, Spanien und Portugal (die kommer­ ziellen Zentren der frühen Neuzeit) sich jetzt befinden, liegt in einer ge­ sellschaftlichen Revolution, die, solange es noch Zeit ist, die Produk­ tions- und Verkehrsweise nach den aus den modernen Produktivkräften hervorgehenden Bedürfnissen der Produktion selbst umwälzt und da­ durch die Erzeugung neuer Produktivkräfte möglich macht, welche die Superiorität der europäischen Indus­trie sichern und so die Nachteile der geographischen Lage ausgleichen.»37 Man sieht, wie Marx und Engels hier wie auch sonst als Patrioten ­einer europäisch-westlichen Zivilisation auftreten, die ihren Platz und Rang in der globalen Konkurrenz nur mit sozialistischen Mitteln werde behaupten können. Im Ergebnis einer solchen Revolution würden dann womöglich auch die praktizierenden Industriellen  – deren Funktionen als Organisatoren und Innovatoren der modernen Produktionsweisen die beiden, im Gegensatz zu nahezu allen anderen Sozialisten ihres Zeit­ alters, ausdrücklich für «produktiv» erklärten – aus den Zwängen einer

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bloßen, endlosen «Selbstverwertung des Werts» entlassen werden kön­ nen, so wie einst die aufgeklärten Aristokraten aus ihrer überflüssig ge­ wordenen Rolle als feudale Grundeigentümer. Und das vielleicht schon recht bald: «Bei einer künftigen (Welt-)Ausstellung werden die Bour­ geois vielleicht nicht mehr als Inhaber dieser Produktivkräfte, sondern nur noch als ihre Ciceroni fungieren.»38 Wie passte diese recht heiter-ironische und optimistische Zukunfts­ vorstellung aber mit der sehr viel düstereren, genau zur gleichen Zeit von den Blanquisten übernommenen Losung einer «Diktatur des Prole­ tariats» zusammen? Man kann fast zusehen, wie die Gedanken und Orien­tierungen der beiden Freunde im Takt der beschleunigten Welt­ wirtschaft auseinanderdrifteten und sich neu spannten. Statt nach Amerika zu übersiedeln, wie sie einen Moment lang erwogen hatten, um jenseits des Atlantik ein «neues Athen» zu begründen, be­ gann Marx sich in die Einsamkeit der Bibliothek des Britischen Muse­ ums zurückzuziehen, um dort die kapitalistische Weltwirtschaft und Produktionsweise theoretisch und empirisch zu erkunden. Kein Wunder, dass der «Bund», dessen «Präsident» er noch immer war, sich darüber spaltete. Für einen Berufsrevolutionär wie Karl Schapper und einen Haudegen wie August Willich war das erzwungene Nichts­tun im Exil so unerträglich wie die Lebensbedingungen in dem teuren London, wäh­ rend das Marx’sche Zeitschriftenprojekt ihnen als eine Verschwendung von Zeit und Mitteln erschien, zumal sie selbst davon faktisch ausge­ schlossen blieben. So war es nur folgerichtig, dass diese von der Mehrzahl der Londoner Mitglieder des Bundes unterstützte Fraktion schließlich verlangte, «dass der Bund alle schriftstellerischen Elemente auszuscheiden habe, dass er lediglich eine Verbindung der Handwerker und Fabrikarbeiter sei», die bei der nächsten Revolution eine rein «kommunistische Umgestaltung der Gesellschaft» anstreben werde und daher höchstens taktische Akti­ onsbündnisse mit «kleinbürgerlichen Demokraten» eingehen könne.39 So jedenfalls wird ihre Position recht verzerrt in einem Bericht wieder­ gegeben, den das auf Marx’ Initiative nach Köln verlegte neue Zentral­ komitee (das im Kern aus den Angeklagten des späteren Kommunisten­ prozesses bestand) über die Londoner Differenzen an die verbliebenen Mitglieder in Deutschland weitergab. Im Gegenschreiben der Londoner Mehrheit um Willich und Schapper hieß es dagegen, «die Marx-Engels­ sche Clique» bestehe aus «Personen, die uns hier als Fußschemel gebrau­

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chen wollten, um auf demselben zum Cheftum der kommunistischen Partei, zu einem neuen Dalai-Lama-Thron emporzusteigen».40 Marx seinerseits hatte auf der letzten gemeinsamen Sitzung der Lon­ doner Zentralbehörde im September 1850 die Auseinandersetzungen auf eine bemerkenswerte Formel gebracht, die jenseits aller Polemik bereits ein Denken in neuen, stark verschobenen Zeithorizonten ankündigte: «Während wir den Arbeitern sagen: Ihr habt 15, 20, 50 Jahre Bürger­ kriege und Völkerkämpfe durchzumachen, nicht nur um die Verhältnisse zu ändern, sondern um euch selbst zu ändern und zur politischen Herr­ schaft zu befähigen, sagt ihr im Gegenteil: Wir müssen gleich zur Herr­ schaft kommen, oder wir können uns schlafen legen.»41 Was ihn selbst betraf, waren das Rückzugsgefechte. Zwar gab er ­offenbar im Januar 1851 noch den von seinen Kölner Gefolgsleuten ent­ worfenen neuen «Statuten des Kommunistischen Bundes» seinen Segen. Demnach sollte der Bund sich in Erwartung künftiger revolutionärer ­Erschütterungen in eine demokratisch-zentralistisch geführte, konspira­ tive Organisation verwandeln, deren Mitglieder «Eifer für die Propa­ ganda» zu zeigen, «strengste Verschwiegenheit» zu wahren und sich den Beschlüssen der Zentralbehörde «unbedingt zu unterwerfen» hatten, während Ausgestoßene «gleich allen verdächtigen Subjekten von Bundes ­wegen überwacht» werden sollten.42 Aber diese fast schon «leninistisch» klingende Strategie der Kaderbildung ging Marx selbst, so scheint es, nicht mehr viel an; so wenig wie Engels, der sich inzwischen in das Fa­ brikkontor nach Manchester zurückgezogen hatte. Die neuen schnellen Postverbindungen, die es ihnen erlaubten, binnen eines halben Tages zwischen London und Manchester Briefe von Woh­ nung zu Wohnung zu wechseln, schufen für sie die kommunikativen ­Voraussetzungen, um sich ab jetzt fast zwanzig Jahre lang wie in einem fortlaufenden Gespräch nahezu täglich auszutauschen  – und den ein Jahrhundert später gesammelten «Marx-Engels-Werken» allein schon mehrere Bände zuzufügen, die eine literarische Quelle sehr eigenen und intimen Charakters bilden. Jetzt bildeten sie beide die «Partei Marx» in ihrer reinsten, reduzier­ testen Form, und das war ihnen gerade recht so: «(Die) öffentliche, ­authentische Isolation, worin wir zwei, Du und ich, uns jetzt befinden … entspricht ganz unserer Stellung und unsren Prinzipien. Das System wechselseitiger Konzessionen, aus Anstand geduldeter Halbheiten, und die Pflicht, vor dem Publikum seinen Teil Lächerlichkeit in der Partei mit all diesen Eseln zu nehmen, das hat jetzt aufgehört.»43

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So Marx in einem Brief von Anfang Februar 1851. Engels antwortete ihm postwendend und setzte noch eins drauf: «Wir haben jetzt endlich wieder einmal – seit langer Zeit zum erstenmal – Gelegenheit, zu zeigen, dass wir keine Popularität, keinen support von irgendeiner Partei ir­ gendwelchen Landes brauchen und dass unsere Position von dergleichen Lumpereien total unabhängig ist … Wie passen Leute wie wir, die offizi­ elle Stellungen fliehen wie die Pest, in eine ‹Partei›? Was soll uns, die wir auf die Popularität spucken, die wir an uns selbst irre werden, wenn wir populär zu werden anfangen, eine ‹Partei›, d. h. eine Bande von Eseln, die auf uns schwört, weil sie uns für ihresgleichen hält?»44 Der Rückzug aus dem «Bund der Kommunisten» war auch einer aus der gesamten Londoner Szene, mit der sie noch Verbindung hatten, ein­ schließlich der blanquistischen Mitglieder ihrer totgeborenen «Weltge­ sellschaft der Kommunisten», die wie ihre deutschen Blutsbrüder auch nur hergelaufene «Galeeren- und Kasernenlümmel» waren.45 Es gab fast niemanden, den sie nicht an den Eselsohren zogen. Dass auch ihre ver­ bliebenen Anhänger in Deutschland ihnen von der Fahne gingen, erfüllte Engels sogar mit grimmiger Genugtuung: «Et puis, … lieben wird uns der demokratische, rote oder selbst kommunistische Mob doch nie.»46 Jetzt war aus lauter «Eseln»,«Knoten» und «Straubingern» also schon ein «roter Mob» geworden. Marx seinerseits glaubte im Sommer 1851 allen Ernstes, «in fünf Wo­ chen mit der ganzen ökonomischen Scheiße fertig» zu sein und die schon 1844 ins Auge gefasste, jetzt auf drei Bände angelegte «Kritik der poli­ tischen Ökonomie», für die ein Frankfurter Verleger neues Interesse si­ gnalisiert hatte, zügig niederschreiben zu können. Danach werde er sich dann «auf eine andere Wissenschaft werfen», da die Ökonomie, in der seit Smith und Ricardo keine wirklichen Fortschritte mehr gemacht wor­ den seien, ihn zu langweilen beginne. «Die Hauptsache ist, dass Du erst wieder mit einem dicken Buch vor dem Publikum debütierst», ermahnte ihn Engels.47 Marx selbst konnte es dennoch nicht lassen, sich in immer neue Querelen der Londoner Emigrationsszene zu verstricken oder verstricken zu lassen, so von dem ungarischen Revolutionär und Obersten Bangya, einem Spitzel der Wiener und Berliner Polizeibehörden. Er «besorgte» Marx einen fingierten Berliner Verleger, der für «Charakterbilder» aus der Londoner Emigration ein gutes Honorar zahle. Heraus kam eine wilde, anonyme Schmähschrift gegen die «Großen Männer des Exils», nament­

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lich gegen die Köpfe der deutschen demokratischen Emigration um Gott­ fried Kinkel und Arnold Ruge, und in einem Aufwasch gleich auch gegen ihren Spiritus Rector Giuseppe Mazzini – ein Pamphlet, das bei den Auf­ traggebern helles Entzücken ausgelöst haben dürfte.48 Der emigrierte russische Demokrat und Volkstümler Alexander Her­ zen nannte den ihm nur von Ferne bekannten Marx und dessen engeren Zirkel, die «Marxiden», nach einem unter den Emigranten umlaufenden und nicht unpassenden Spitznamen «die Schwefelbande».49 Marx’ Grundmodus des Schreibens und Agierens war in der Tat polemisch, und das in einer schwefligen Schärfe, wie man sie so vielleicht nur bei Le­ nin später wiederfindet, dort allerdings ohne jenen literarischen Humor, der bei Marx wie bei Engels noch die infamsten und vernichtendsten Kritiken auszeichnete. Dieser polemische Furor, der die «Partei Marx» wie eine Gewitter­ wolke umgab, war sicherlich auch eine Frage des Temperaments. Und doch steckte mehr darin als Anmaßung oder Herrschsucht. Es war der intellektuell und literarisch machtvoll vorgetragene Versuch, einen künf­ tigen Sozialismus oder Kommunismus kategorisch von (fast) allem ab­ zutrennen, was man historisch und zeitgenössisch mit diesen Begriffen und Vorstellungen verband – um die erst noch zu entfaltende sozialrevo­ lutionäre Bewegung aus den sumpfigen Gefilden frommer, utopischer Wünsche, reformerischer Allheilmittel oder voluntaristischer Gewaltstrei­ che in die Sphäre realer, «unter unseren Augen vor sich gehender», his­ torisch und materialistisch dingfest zu machender Zeittendenzen zu überführen. Der Sozialismus würde als eine schiere Überlebensnotwendigkeit und mit zwingender, wissenschaftlich begründbarer Logik gerade aus den entwickeltsten Verkehrs- und Vergesellschaftungsformen der kapitalisti­ schen Produktionsweise und den inneren und äußeren Konflikten der fortgeschrittenen bürgerlichen Gesellschaften selbst entspringen – oder er würde gar nicht sein. Das war tatsächlich eine Position vollkommen neuen Zuschnitts.

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Der unwahrscheinliche Gründer: Lassalle Sozialismus und Kommunismus waren uns Jüngeren  … vollständig fremde Begriffe, böhmische Dörfer», schrieb August Bebel, die überra­ gende Figur der deutschen Sozialdemokratie, in seinen Lebenserinnerun­ gen 1911 über seine politische Formationsphase in den frühen 1860 er Jahren.1 Dabei hatte der gelernte Drechsler und eifrige Autodidakt sich als fahrender Handwerksgeselle bereits ganz in der Welt der Arbeiterver­ eine bewegt, die allenthalben «wie Pilze nach einem warmen Sommer­ regen» aufschossen. Seit den späten 1850 er Jahren hatten sich eine Viel­ zahl lokaler Solidarkassen, Bildungs- und Konsumvereine gebildet, die mehrheitlich den Rezepten liberaler Sozialreformer folgten, allen voran Hermann Schulze-Delitzsch, der als Abgeordneter der «Fortschrittspar­ tei» ihre Anliegen auch durch Gesetzesinitiativen rechtlich abzusichern suchte. Soweit man sich in die Politik einmischte, ging es vor allem um Sozialoder Steuerpolitik sowie um die Aufhebung polizeilich-bürokratischer Restriktionen bei Arbeits- und Ortswechseln oder um gewerbliche Frei­ heit und Freizügigkeit – alles Fragen, die mit den Problemen des deut­ schen Partikularismus, also der Frage der nationalen Einheit, verbunden waren. Zwar folgte Bebel, der sich innerhalb der ersten Verbandsorgani­ sationen der gewerblichen Bildungsvereine und genossenschaftlichen Selbsthilfeorganisationen früh engagierte, keineswegs der Meinung der liberalen Präzeptoren, dass die Arbeiter vorerst andere Sorgen hätten, als sich in die politischen Angelegenheiten einzumischen. Schon die stän­ digen polizeilichen Überwachungen und Schikanen, denen die (nach den Verboten von 1853 gerade erst wieder zugelassenen) Arbeitervereine un­ terlagen, verhinderten eine solche politische Abstinenz. Aber noch 1863 sprach der dreiundzwanzigjährige Bebel sich in seiner ersten öffentlichen Rede «gegen das allgemeine, gleiche, geheime und direkte Wahlrecht aus …, weil die Arbeiter dafür noch nicht reif seien».2 Eine demokratische Mitgliederpartei zu gründen, wie die deutsche ­Sozialdemokratie es dann ein, zwei Jahrzehnte später als erste in Europa

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wurde, lag also noch längst nicht im Blickfeld ihrer späteren Köpfe. Für die übrigen europäischen Länder galt das erst recht, auch wenn die poli­ tischen Szenerien sich am Ende der Reaktionszeit der 1850 er Jahre ­allenthalben wieder belebten. Sozialistische Mitgliederparteien mussten wie alle modernen politischen Formationen und sozialen Bewegungen erst einmal aus zerstreuten Anfängen oder dem Nichts geschaffen und geformt werden – durch charismatische Gründergestalten und eine orga­ nisierte Agitation, durch Milieubildung und die «Erfindung von Traditi­ onen». Dazu bedurfte es ganz eigener Qualitäten. Über diese Qualitäten verfügten weder die beiden Köpfe der «Partei Marx» noch ihr wackerer, 1862 nach Deutschland zurückgekehrter, vor­ erst im Journalismus aufgehender Eleve Wilhelm Liebknecht, noch auch ein so praktisch-rechtdenkender Handwerker-Radikaler wie der junge August Bebel. Zum eigentlichen Gründer wurde eine exzentrischere ­Figur: der heute kaum noch gegenwärtige Ferdinand Lassalle. Dabei hing seine Karriere an einem seidenen Faden, der sehr früh riss (als er starb, war er gerade 39 Jahre alt); und sie war von hundert Zufäl­ len und bizarren Wendungen bestimmt. Nichts könnte im historischen Rückblick weniger «gesetzmäßig» erscheinen als der von ihm gesetzte erste Impuls. Aber er genügte, um eine Kettenreaktion in Ganz zu set­ zen, deren historische Tragweite kaum zu überschätzen ist. Man bewegt man sich nicht allzu sehr im Zwielicht kontrafaktischer Spekulationen, wenn man fragt, ob es ohne die deutsche Sozialdemokratie einen «euro­ päischen Sozialismus» in dem Sinne und mit der Ausrichtung überhaupt gegeben hätte, wie das mit der Gründung der Interna­tionale 1889 der Fall war. Aber auch die russische Sozialdemokratie, ­einschließlich ihrer bolschewistischen Fraktion, wäre ohne den Vorlauf und Kontext des ­europäischen Sozialismus und das überragende Vorbild der deutschen ­Sozialdemokratie kaum zu denken gewesen; und damit auch der 1919 in Moskau begründete und von dort nach Westen und nach Osten ausstrah­ lende und ausschwärmende «Weltkommunismus» nicht. So gesehen, haben wir es mit einer mehr als hundertjährigen histori­ schen Sequenz zu tun, die zunächst nicht auf Karl Marx, sondern auf Ferdinand Lassalle zurückverweist  – über den die beiden Londoner Präzeptoren, seit er ins Rampenlicht der preußischen und deutschen Politik trat, mit einer nicht endenden Häme herfielen, wie nur nackte Eifersucht sie eingeben kann; während Lassalle seinerseits ihnen bis (fast) zuletzt loyal verbunden blieb und sich als Schüler von Marx, aller­ dings auch als sein Kongenius betrachtete.

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Lenin jedenfalls war sich dieser konstitutiven Rolle Lassalles noch sehr bewusst, als er seiner Broschüre «Was tun?», mit der er 1902 seine bolschewistische Parteifraktion begründete, eine Formulierung Lassalles voranstellte, die dieser in einem Brief an Marx 1852 einmal verwendet hatte: «Dass die Parteikämpfe gerade einer Partei Kraft und Leben ge­ ben, dass der größte Beweis der Schwäche einer Partei das Verschwim­ men derselben und die Abstumpfung der markierten Differenzen ist, dass sich eine Partei stärkt, indem sie sich purifiziert, davon weiß und befürchtet die Behördenlogik wenig.3 So unwahrscheinlich die Lebenskarriere des Ferdinand Lassalle an sich schon war, so bizarr endete sie: mit einem mutwilligen Tod im Duell 1864 gegen den Verlobten eines jungen Mädchens aus höchsten Gesell­ schaftskreisen. Er selbst war es, der die Forderung zu diesem Duell be­ wusst provoziert oder erhoben hatte. Schon in seinen letzten öffentlichen Auftritten, so in seiner Rede zum gerade einjährigen Stiftungsfest des «Allgemeinen Deutschen Arbeiter­ vereins» (ADAV), die als sein Vermächtnis gilt, hatte er dunkel orakelt: «Die Gefühle, die mich bei dem Gedanken, dass ich persönlich beseitigt werden kann, durchdringen, kann ich nicht besser zusammenfassen als in dem Worte des römischen Dichters: ‹Exoriare aliquis nostris ex ossi­ bus ultor.› Zu Deutsch: Möge, wenn ich beseitigt werde, irgend ein ­Rächer und Nachfolger aus meinen Gebeinen auferstehen! Möge mit meiner Person diese gewaltige und nationale Kulturbewegung nicht zu Grunde gehen …. Das versprecht mir und zum Zeichen dessen hebt Eure Rechte empor! (Die ganze Versammlung erhebt von der höchsten Aufre­ gung ergriffen die Hände.)»4 Diese Aufzeichnung war selbst schon ein Teil des Kultes, der um den Toten noch mehr als um den Lebenden getrieben wurde. Das tödliche Duell erschien, statt als anachronistische Art des Freitods, als ein dunk­ les Komplott der Reaktion, die damit vollendete, was sie mit all ihren Hochverratsprozessen nicht hatte erreichen können. Lassalle wurde über seinen Tod hinaus noch lange in alljährlichen, wie Gottesdienste mit Liturgie, Gesängen und Predigten abgehaltenen Gedenkveranstal­ tungen zum Messias erhoben oder mindestens zum Moses seines zur Sonne, zur Freiheit, ins gelobte Land strebenden Arbeitervolks. Wenn Marx an dessen Nachfolger im ADAV, Johann Baptist von Schweitzer, später schrieb, es bleibe gewiss Lassalles «unsterbliches Ver­ dienst», die Arbeiterbewegung nach langem Schlummer wieder wach­

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gerufen zu haben, doch habe er eben, «wie jeder Mann, der behauptet, eine Panazee für die Leiden der Massen in der Tasche zu haben, … seiner Agitation einen religiösen Sektencharakter» verliehen,5 dann war das ausnahmsweise einmal keine gehässige Nachrede, sondern eine ziemlich exakte Beschreibung seines Wirkens. Nur dass Marx nicht wahrhaben wollte, in welchem Maße es genau dieser maßlosen, man kann auch sagen: egomanen Selbstüberhebung und dieses sektenhaft zusam­ ­ menschweißenden Charakters des Lassalleanertums bedurft hatte, um eine «Bewegung» im allerwörtlichsten Sinne in Gang zu setzen. Die Fülle der überwiegend antisemitisch gefärbten Schmähungen, die er und Engels in ihren intimen Briefwechseln über diesen «Baron Itzig», «Jüdel Braun», «Ephraim Gescheit», «schmierigen Breslauer Jud mit Pomade und Schminke» geradezu obsessiv ausgossen,6 zeugt von der tie­ fen Irritation, die es für sie bedeutete, dass da ein zwar gottloser, aber dennoch ziemlich «jüdischer Jude», dazu noch in der hochmütigsten pseudoaristokratischen Manier, in Samt und Seide gehüllt, nie um ein pompöses antikes oder deutsches Dichterwort verlegen, eine authenti­ sche deutsche Arbeiterbewegung, die zugleich auch noch eine «nationale Kulturbewegung» sein sollte, ins Feld gestellt hatte. Freilich, das intensive emotionale Zusammenspiel zwischen diesem geschniegelten jüdischen Anwalt, Literaten und Orator, der fast im Stil eines Imperators à la Bonaparte seinen Spazierstock mit silbernem Knauf (der eine Bastille darstellte) wie ein Szepter oder einen Marschallstab trug, und den zu Tausenden oder Zehntausenden kerndeutschen, in zünftigen blauen Blusen, mit Frauen und Kindern im Feststaat angetre­ tenen Arbeitern und Handwerkern, die ihren «Herrn Präsidenten» mit ausgedehnten Zeremonien und selbstgedichteten Gesängen empfingen, muss erst einmal erklärt werden. Von heute aus wirkt es wie eine Orgie deutschtümelnder Treuherzig­ keit, wenn Rezitatoren und Männerchöre ihren Doktor Lassalle adres­ sierten: «Wir grüßen Euch nach alter deutscher Sitte, / Willkommen, ruft Euch jeder frohe Mund, / Wir schließen Euch in unsere traute Mitte …» Oder wenn sie intimes Zwiegespräch mit ihm hielten wie mit Gottvater selbst: «Wir richten voll Vertrauen / Zu Dir jetzt unsern Blick / Und wer­ den bald das schauen / Was unser größtes Glück.» So ging es bei seinen als Triumphzügen inszenierten Agitationsreisen in einem fort, in stun­ denlangen Prozessionen von Ort zu Ort, mit immer neuen Empfangs­ komitees und blumengeschmückten Altären, mit langen Wagenkolonnen, die sich dem mit Schimmeln bespannten «Präsidentenwagen» anschlos­

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sen, auf dem er huldvoll winkend voranfuhr, bis er schließlich unter «grenzenlosem Jubel» den Kundgebungsort erreichte.7 Allerdings bedurfte es für solche Inszenierungen einer authentischen messianischen Gestimmtheit auf Seiten des Adressaten dieser Huldigun­ gen selbst. Tatsächlich war es eine Mischung aus hegelianischer Ge­ schichtsphilosophie und biblischem Heilsversprechen, wenn Lassalle in seinem ersten «Arbeiterprogramm» von 1862 die Arbeiterklasse als das neue Gottesvolk adressierte: «Sie ist der Fels, auf welchen die Kirche der Gegenwart gebaut werden soll!»8 Da sprach ein Religionsstifter und Kir­ chengründer, und das in einem kaum noch übertragenen Sinn. Und war das eigentlich so verrückt? Man lebte schließlich in einer ge­ schichtlichen Umbruchzeit, wie es noch keine gegeben hatte. Ein Ergebnis des neueren Geschichtswissens und einer philologisch-kritischen Religi­ onswissenschaft war es, dass die großen religiösen Systeme und Lebens­ lehren, Schulen und Organisationen «als die Schöpfungen einzelner Menschen oder einzelner Momente … ruckweise, strahlenweise entstan­ den» sind, als jeweiliger «Reflex eines großen, einmaligen Momentes» (so Jacob Burckhardt in seinen «Weltgeschichtlichen Betrachtungen»).9 Warum dann nicht auch hier und heute? Freilich, wenn Lassalle immer wieder als «Messias» apostrophiert wurde, dann jedenfalls nicht als einer, der die Geschlagenen lehrte, auch die andere Wange hinzuhalten, ganz im Gegenteil. «Dort schlummert der Eine, der Schwerter uns gab», sangen die, die ihn im September 1864 zu Grabe trugen – nachdem die preußische Polizei seinen Leich­ nam beschlagnahmt und so verhindert hatte, dass er in einer großen Prozession auf einem Rheindampfer von Köln nach Düsseldorf über­ führt wurde, dem Hauptort seines revolutionären Wirkens im Jahr 1848. Stattdessen ließen die Behörden ihn auf einem einfachen Plan­ wagen unter Polizei­bedeckung auf den jüdischen Friedhof seiner Ge­ burtsstadt Breslau bringen. Was als Demütigung gedacht sein mochte, hatte seine eigene biografische Stimmigkeit und wurde ein weiteres Ele­ ment seiner Apotheose, der ersten Vorform eines Führerkults, wie er dann zu einem Hauptcharakteristikum des modernen Sozialismus und Kommunismus überhaupt geworden ist.

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Das freie Subjekt in seiner Larve «Ich will den Völkern die Freiheit verkünden, und sollt’ ich im Versuch untergehen», hatte der fünfzehnjährige Gymnasiast Ferdinand Lassal in Breslau in sein Tagebuch geschrieben; dem er auch seinen liebsten, wenn­ gleich kindischen Traum anvertraute: nämlich «an der Spitze der Juden, mit der Waffe in der Hand, sie selbständig zu machen».10 Er las vorzugs­ weise historische oder Abenteuerromane mit orientalischem Flair, ver­ folgte aber auch erregt die Weltereignisse: 1840 hatte es nach einer von christlichen Priestern erhobenen Ritualmordanklage in Damaskus und anderen Städten des Nahen Orients Pogrome gegeben, und die promi­ nentesten Juden Europas, die Rothschilds und Montefiores, forderten namens des «jüdischen Volkes», das es als politisches Subjekt seit römi­ scher Zeit niemals wieder gegeben hatte, die Bildung einer Untersu­ chungskommission, um von der internationalen Staatengemeinschaft Aufklärung und Sühne zu verlangen.11 Ihre Initiative markierte die frü­ hesten Anfänge eines modernen Zionismus. Das ursprüngliche Feuer eines religiösen jüdisch-messianischen Glau­ bens war jedoch schon bald in Lassal erloschen. Stattdessen zündete er ein neues an, indem er sich – sieben Jahre jünger als Marx – in einer fast synchronen Bewegung auf das Studium der Literatur, Geschichte und Philosophie stürzte, auf Voltaire und Rousseau, Lessing und Fichte, Börne und Heine, Feuerbach und schließlich auf Hegel. Lassal wurde mit etwas Verspätung auf dem Königsweg des «Jungen Deutschland» zum Junghegelianer, allerdings in einer Intensität, die ihresgleichen suchte. Bezeichnend waren die frühen Versuche des kaum Zwanzigjährigen, sich zum Stifter eines auf ihn selbst eingeschworenen Geheimbunds zu machen und sich die Aura eines «Dämons» im antiken Sinne, als Genius, Halbgott und Schicksalskünder, zuzulegen  – was ihm auf die allerver­ blüffendste Weise gelang. Die «Triumviri», die er um sich scharte, waren der Mediziner Arnold Mendelssohn (der Enkel des berühmten Moses Mendelssohn) und der Bankierssohn und Jurist Alexander Oppenheim sowie ein verbummelter Student namens Albert Lehfeld. Alle drei, etli­ che Jahre älter, waren ihm auf merkwürdige Weise ergeben und sprachen ihn wie den Großmeister einer Loge oder eines Ordens an, als «Freund und Gebieter», «Meister über die Geister» oder «eingeborene(n) Sohn Vater Hegels». Aber auch als ein «Cortez der Neuzeit» oder als «Großer General» wurde er von seinen Gefährten apostrophiert.12

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Seine kleine Geheimorganisation war eine ecclesia militans der wun­ derlichsten Art, und er selbst lebte seine Rolle als Guru und Dämon nach vielen Seiten hin aus. So spielte er den amoralischen Eroberer in den Spuren Casanovas, dessen Memoiren er auch seinen Gefährten zur Lek­ türe empfahl. Neben «Grisetten», Prostituierten und verheirateten Frauen belagerte der junge Lassal auch Töchter aus «gutem Hause», die für er­ oberungslustige Studenten sonst eher tabu waren. Dabei täuschte er weder ernste Absichten vor noch spielte er den ernsthaft Verliebten; sondern er versuchte die Mädchen, die in ihn ver­ liebt waren oder sich seinen Werbungen nicht sofort verweigert hatten, mit einem Trommelfeuer literarisch und philosophisch aufgeputzter Briefe und Botschaften schwindlig zu reden: «Seitdem ich Dich gesehen, ist der Teufel meines Blutes freigeworden und schüttelt mich wie der Sturm das Schiff, ich kann ihn nicht bekämpfen und mag ihn nicht be­ kämpfen; ihn bekämpfen wäre Todsünde gegen den obersten Gott, den Gott der Wollust und des Fleisches.»13 Wo solch feuriges Reden nicht verfing, kam die philosophische Liebespredigt zum Einsatz: «Die Sitt­ lichkeit ist die Einheit des Individuums und des Allgemeinen … Die Un­ sittlichkeit ist das Laster, sich zu verschanzen in seine Ichheit, Indivi­ dualität, sich zu sperren gegen das Allgemeine. Mann und Weib in der Umarmung, das Bild der Gattung. Jetzt ist die Liebe erst wirklich … das Wesen und sein Gebot vollzogen. Das wirst Du eingesehen haben, dass es das Höchste ist, sich mit Bewusstsein hinzugeben der Gattung.»14 Das Gattungs- und Begattungswesen, das war er selbst. Denn anders als Casanova, der nur ein frivoles Subjekt war, hatte er, wie er seinen Ge­ fährten erklärte, als «Träger und Apostel einer Gottesidee» die unbe­ dingte «Pflicht, mich der Erfüllung und Realisation dieses substantiellen Inhalts zu weihen»: nämlich der Vereinigung von Ichheit und Allgemein­ heit. So gab er sich in Kleidung und Lebensstil zwar das Flair eines ­Salonlöwen, aber neben seinen erotischen Eroberungen ging er jetzt vor allem auf intellektuelle Eroberungen in Gestalt prominenter Bewunderer seiner jugendlichen Eloquenz und vielseitigen Bildung aus. Seine erste und bedeutendste Eroberung machte er im Dezember 1844 in Paris, wo er durch Vermittlung seines Schwagers Ferdinand Friedland den so berühmten wie kranken Heine aufsuchte und sich nicht nur als feuriger Bewunderer einschmeichelte, sondern auch die akuten Geldver­ legenheiten des Dichters in die Hand zu nehmen versprach. Der war von seinem jugendlichen Verehrer derart angetan, dass er ihn bei einem Tref­

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fen Georg Herwegh mit dem Satz vorstellte: «Je vous présente un nou­ veau Mirabeau» (Ich stelle Ihnen einen neuen Mirabeau vor) – eine Cha­ rakterisierung, die den so Gerühmten nicht nur wegen der rhetorischen, sondern auch der erotischen Fama des französischen Adelsrevolutionärs bestochen haben dürfte. Diesem Rollenbild, aber wohl auch strategi­ schen Erwägungen folgend, verwandelte er sich aus dem jüdischen Las­ sal in den französisch klingenden Lassalle. Noch bedeutsamer war für ihn ein Empfehlungsbrief, mit dem Heine ihn seinem alten Freund Varnhagen von Ense in Berlin und damit der ganzen Berliner Gesellschaft empfahl: Der Überbringer, schrieb Heine (nicht ohne eine Dosis berechnender Schmeichelei), sei «ein junger Mann von den ausgezeichnetsten Geistesgaben: mit der gründlichsten Gelehr­ samkeit, mit dem weitesten Wissen, mit dem größten Scharfsinn, der mir je vorgekommen», und dabei «ein ausgeprägter Sohn der neuen Zeit, der nichts mehr von Entsagung und Bescheidenheit wissen will», Vertre­ ter eines neuen Geschlechts, welches berufen sei, das «Tausendjährige Reich der Romantik» zu beerben, dessen «letzter und abgesetzter Fabel­ könig» er, Heine, selbst ja gewesen sei.15 Kein Wunder, dass dieses Emp­ fehlungsschreiben dem selbstbewusst auftretenden jungen «Freund Hei­ nes» alle Türen öffnete und er unter den älteren Koryphäen der Berliner Salons alsbald eine Reihe neuer, prominenter Bewunderer akquirieren konnte, darunter den weltberühmten Alexander von Humboldt. Gleichzeitig war dieser elegante Salonlöwe aber auch schon auf dem Sprung, sich in einen glühenden Revolutionär und Kommunisten zu ­verwandeln, was er keineswegs verbarg. Wie für so viele, war der Auf­ stand der schlesischen Weber im Juni 1844 für ihn ein Erweckungserleb­ nis gewesen, und seinem Vater, dem Breslauer Seidenhändler, hatte er in einem halb drohenden, halb werbenden Ton geschrieben: «Hier ist es Ernst, blutiger Ernst. Merkt Ihr etwas? Hört Ihr’s gewittern am Hori­ zont? Fürchtet Euch nicht, es wird diesmal vorübergehen, und noch ­einmal vorübergehen – aber dann wird’s einschlagen! … Die Not, das Unglück, die Entzweiung mit dem gesellschaftlichen Zustand …, Weber­ armut und Aktienschwindel, das ist auf das engste innerlich verknüpft … Alle diese verschiedenen Phänomene sind … Sturmvögel, die da verkün­ den, dass der Sturm des neuen Geistes im Anzug sei … Nein, nein, man täusche sich nicht. Das ist der Anfang jenes Krieges der Armen gegen die Reichen, der fürchterlich nah ist. Das sind die ersten Regungen und Zu­ ckungen des Kommunismus, der theoretisch und praktisch unsere Adern erfüllt und durchdrungen hat.»16

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Somit vertrat das Proletariat für ihn jetzt, ähnlich wie für Marx zur gleichen Zeit, die Gattung, und die proletarische war mit der allgemein menschlichen Emanzipation identisch geworden. Nachdem er die fran­ zösischen Frühsozialisten (von Saint-Simon über Fourier bis Proudhon) gelesen und im Oktober eine erste Industrieausstellung im Zeughaus in Berlin besucht hatte, verfasste er einen an seinen Vater adressierten, aber an seine Jünger daheim gerichteten programmatischen, dreißigseitigen «Industriebrief», in dem er sich mit Hegel bemühte, «seine Zeit in Ge­ danken zu fassen». Die Idee der absoluten Freiheit, proklamiert von der Französischen Revolution, habe sich am Ende nur in der schrankenlosen Freiheit von Besitz, Eigentum, Geld materialisiert, im «Kampf aller gegen alle», im «System der freien Konkurrenz» und im «Sieg der Dingheit über die sub­ jektive, bearbeitende Tätigkeit, über die Persönlichkeit». Inmitten dieser atomisierten bürgerlichen Gesellschaft erfasse der Kommunismus erst­ mals «wieder, aber noch dunkel und unklar, den Gedanken des Staates oder der Gesellschaft als eines organischen Ganzen» und verkörpere ­somit die «Idee der Organisation, der einheitlichen Totalität» und «den Begriff des Staates der objektiven Sittlichkeit». Dieser zeitgenössische Kommunismus war jetzt nicht mehr eine bloße Idee, sondern «die un­ mittelbare Weiterbildung des Industrialismus etc.», so wie «die Industrie selbst nichts anderes ist als die erste noch verhüllte Gestalt des Kommu­ nismus».17 Das frappierendste Dokument ist schließlich ein weiterer langer Send­ brief an die Freunde, seine Triumviri, in dem er sie auf «einen Krieg, zu dem wir von unserm Gotte, der Idee, ermächtigt  … sind», einschwor. Dieser Krieg sei nichts weniger als ein «Religionskrieg», der sich gegen «die tote Materie, die Dingheit, das Geld» richtete, und damit gegen die «Industrie als System der freien Konkurrenz …, als mörderischer Kampf aller gegen alle». Zugleich sollte aber «für die neue Philosophie, für meine Philosophie», welche die einzig noch «berechtigte Gottesidee» darstelle, das unbedingte Gebot von freiem «Selbstgenuss» und «Genuss des anderen» gelten. Und daher hieß das erste Gebot: «Ich muss lie­ ben … ich muss den Leib des geliebten Weibes umarmen, mich vermäh­ len ihrem Schoß», denn «das Ich, weil es existiert, hat das Recht zur Existenz und ihrem Genuss, … und geheiligt ist der Ehebruch». Freilich war solcher Selbstgenuss im Geiste Fouriers nur eine schwa­ che Entschädigung und billige Stärkung für das freie «Ich», das in seinen sämtlichen Lebensäußerungen, «geknebelt und gefesselt an Hand und

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Fuß», dazu verurteilt sei, als ein abgeschiedener Geist «in die stygische Nacht» einzutreten, selbst wenn dieses Ich «den hellen Tag des Wissens» in sich trägt. Eben darum gelte es, gegen das Geld als den «Fluch, der da lastet auf dem freien Subjekt», zu Felde zu ziehen. Dazu war es aller­ dings nötig, sich von allen körperlichen Grenzen zu befreien, alle seine Äußerungen zu kontrollieren, Schauspieler zu werden: «Der zitternde Ton meiner Stimme und der leuchtende Glanz meiner Augen» waren dann nur die Demonstration einer «Leidenschaft, von der ich will, dass sie gerade jetzt mich belebe». So wird der gerade zwanzig Jahre alt ­gewordene Autor dieses Sendbriefes zu einer Art Zarathustra, einem «Nietzsche vor Nietzsche», der den «Übermenschen» lehrt: «Ich bin Diener und Herr des Begriffs, Priester des Gotts, der ich selber bin … Ich hab’ es an mir wahr gemacht, dass das Sein nur das Sein des Gedankens sei … Von Kopf bis Zeh’ bin ich nichts als Wille … Arm in Arm mit mir / So fordr’ ich mein Jahrhundert in die Schranken.» «Arm in Arm mit mir» – mit sich selbst also! – will Lassalle als Don Carlos und Marquis Posa in einer Person sein Jahrhundert in die Schran­ ken fordern; nur um am Ende dieser langen, trunkenen, von Ferne an Rimbaud erinnernden Suada in einem Crescendo dunkler Macht- und Gewaltphantasien zu enden: «Ich habe den Willen zur Vernichtung und die Mittel dazu, Weh zu verbreiten und Unheil über die Menschen, die mein Atem berührt … Heraklit sagt: ‹Der Weise, ob Gott, ob Tier – der von allen Getrennteste› … Dieser Tiergott stehe ich da und schaue nicht meinesgleichen.»18 «Da habt Ihr nun mein Kriegsmanifest gegen die Welt», schrieb er seinen Freunden, «und wenn ihr mit mir einverstanden seid, dann unterschreibt es».19 Sie unterschrieben. Der Krieg gegen «Sodom und Gomorrha», den Lassal, Mendelssohn und Oppenheim tatsächlich eröffneten (Lehfeld empfahl sich bald), war allerdings ein vollkommen unerwarteter und unkonventioneller, auf den ersten Blick unpolitischer und unrevolutio­ närer Krieg: ein Rosenkrieg, der schon ein gutes Jahrzehnt zwischen ­Sophie Gräfin von Hatzfeldt und ihrem älteren Cousin, dem Grafen ­Edmund von Hatzfeldt-Kinsweiler, tobte, mit dem sie als junges Mäd­ chen aus Vermögensgründen verheiratet worden war. Der ihr zugewie­ sene Gatte hatte sich binnen kürzester Zeit als Wüstling herausgestellt, der das gemeinsame Vermögen mit vollen Händen verprasste, neben wechselnden Mätressen und Prostituierten seine Güter mit unehelichen Kindern bevölkerte und seine junge Frau, die das nicht hinnahm (und

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sich ihre eigenen Freiheiten nahm), inzwischen fanatisch hasste und ver­ folgte. Er hatte ihr bis auf den dritten, jüngsten Sohn die Kinder entris­ sen und entfremdet und strebte ganz offenkundig eine Scheidung an, in der sie wegen Untreue schuldig gesprochen werden sollte, während er von allen Verpflichtungen entbunden und zum Alleinbesitzer ihres Ver­ mögens geworden wäre. Im Frühjahr 1846 war Lassalle, gerade 21 geworden, der zwanzig Jahre älteren, sehr schönen und eigenwilligen Frau in einem Berliner ­Salon vorgestellt worden, nachdem sie mit ihrem kleinen Sohn die Flucht vor ihrem Gatten angetreten hatte. Ob Lassalle sich auf der Stelle in sie verliebt hat oder nur die Chance erkannte: Jedenfalls bot er ihr nach Prüfung der Sachlage auf sein Ehrenwort an, ihre Sache ganz zu seiner zu machen und bis zum Ende durchzukämpfen – was er über einen Zeit­ raum von acht Jahren in Form Dutzender, meist verlorener, am Ende aber erfolgreicher Prozesse mit Hilfe eines umfangreichen und kostspie­ ligen Apparats von eigenen Spionen und bestochenen oder freiwilligen Unterstützern sowie mit einer begleitenden literarischen Propaganda auch tat.20 Dieser chevalereske, durchaus opferreiche Feldzug machte Lassalle zu einer Berühmtheit, trug ihm allerdings auch jede Art übler Nachrede ein, erst recht nachdem er 1854 für die Gräfin, mit der er längst zusammen­ lebte, ein beträchtliches Vermögen erstritten hatte und als Entschädigung von ihr eine großzügige jährliche Rente ausgesetzt erhielt. Allerdings zeigte sich, dass in diesem mit allen juristischen und publizistischen Waf­ fen ausgetragenen Privatkrieg eine Vielzahl höchst politischer Motive und sozialer Affekte angesprochen waren: der Widerwillen gegen den Hochmut, die Herzenskälte und moralische Dekadenz des rentenverzeh­ renden Erbadels; der Protest gegen die politische Abhängigkeit und den unverhüllten Klassencharakter und Standesdünkel der Justiz, die sich darüber allerdings spaltete; und die Empörung gegen die von bigotten Konventionen beschränkten Rechte des Individuums, und namentlich der Rechte einer Frau auf ihre Kinder und ein eigenes Leben. Das entscheidende Moment aber war der Zusammenfall dieser Pro­ zesse mit der Revolution von 1848, in der Lassalle, als er im Mai aus mehrmonatiger Untersuchungshaft entlassen wurde, massive publizis­ tische Feuerkraft mobilisieren konnte, allen voran die von Marx’ «Neuer Rheinischer Zeitung». Als er im August 1848 – nach einer siebenstündi­ gen Rede, die das Gericht in ein Tribunal gegen den abwesenden Grafen und seine Klasse verwandelt hatte  – von einem Geschworenengericht

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freigesprochen wurde, zog er im Triumph in Düsseldorf ein, wie er mit seiner charakteristischen Bescheidenheit später erinnerte: «Die ganze Stadt, die Bevölkerung der ganzen Provinz, schwamm in Strömen der Begeisterung! Das Volk hatte das Antlitz eines Mannes gesehen. Es hatte mich verstanden.»21

Der Kongenius als treuer Jünger Lassalle und seine inzwischen zur «roten Gräfin» avancierte Mandantin hatten sich 1848/49 im Umfeld der «Neuen Rheinischen Zeitung» be­ wegt und mit Marx wie mit Engels Bekanntschaft geschlossen. Lassalle hatte sich unter Demokraten und Arbeitern im Düsseldorfer Raum als Agitator betätigt, aber auch unter den Bauern der Hatzfeldtschen Güter. Wegen des Aufrufs zur Volksbewaffnung und Steuerverweigerung war er, als im November 1848 die reaktionäre Wende kam, erneut verhaftet und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden. Er unterhielt auf verschiedenen Umwegen eine lebhafte (und durchaus riskante) Korrespondenz mit Marx in London und versorgte ihn über Jahre hinweg als einer seiner letzten Konfidenten in Deutschland mit In­ formationen und Einschätzungen, die freilich immer verrieten, wie sehr er an diesem fernen Meister selbst Maß nahm. Gleich nach seiner Frei­ lassung hatte er ihm geschrieben: «Vom weltgeschichtlichen Standpunkt aus ist es leicht zu sehen, dass dies gewaltsame Aufflackern der konter­ revolutionären Flamme nur ihren eignen letzten Lebensstoff aufkonsu­ miert und uns zugleich den unschätzbaren Dienst erweist, unsere eigne Partei von allerlei schlammigen Anschauungen und Vorurteilen zu rei­ nigen.»22 Mit solch revolutionär gewendeten Hegelianismen suchte er Marx ­immer wieder zu beeindrucken; mehr noch, er war offenkundig bemüht, Marx für dessen eigene Publikationen Stichworte und Interpretationen zu liefern – und das teilweise erfolgreich.23 Die Lagebeurteilung, die er ihm im Juni 1852 übermittelte, könnte freilich auch schon als Finger­ zeig auf sein eigenes, künftiges Wirken gelesen werden: «Das Proletariat betreffend, so scheint hier in großen Umkreisen eine Bewegung vorzu­ gehen, welche Hegel eine ‹Einkehr in sich› nennen würde. Die Arbeiter­ klasse ist offenbar  … drauf und dran, die politische Windstille benut­ zend, sich in ihr Inwendiges einzuleben, sich ihren inneren Begriff zum Bewusstsein zu bringen und sich dadurch zu festigen. Irre ich mich nicht,

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so wird gerade während dieser scheinbaren Totenstille die wirkliche deutsche Arbeiterpartei geboren.»24 In der gegebenen Situation war das für ihn allerdings auch eine pro­ bate Formel, sich von allen allzu abenteuerlichen Umtrieben fernzuhal­ ten. Nachdem er die Hatzfeldt-Prozesse erst einmal erfolgreich zu Ende gebracht hatte, warf er sich, auch darin seinem großen Vorbild Marx folgend, auf eine wissenschaftliche Arbeit – eine, die er schon in der Zeit des Studiums begonnen hatte und die nichts weniger leisten sollte als die dialektische Denkweise philosophisch neu zu fundieren. Darüber hinaus aber sollte sie ihm den Weg in die Hauptstadt, nach Berlin, eröffnen, das er zu erobern gedachte.

Dieser Plan ging glänzend auf. Als 1858 Lassalles voluminöse Abhand­ lung über die Philosophie «Heraklits des Dunklen» bei Duncker er­ schien,25 fand sie die Anerkennung einer bedeutenden Riege Berliner Ge­ lehrter, darunter Alexander von Humboldt und der Altphilologe August Boeckh. Zusammen mit dem ehemaligen preußischen Ministerpräsiden­ ten von Pfuel wurde Lassalle in die exklusive «Philosophische Gesell­ schaft zu Berlin» aufgenommen. Angesichts solcher gesellschaftlichen Erfolge konnten Polizei und Innenministerium es dem einstigen Unruhe­ stifter schließlich nicht mehr verwehren, in der Hauptstadt dauernden Wohnsitz zu nehmen, um dort ein großes Haus und einen eigenen Salon zu eröffnen. In seiner Arbeit stellte Lassalle das Denken Heraklits als eine frühe Lehre vom Kampf der Gegensätze dar, den dieser, fast 2400 Jahre vor Hegel, bereits «als processierend gefasst» habe; weshalb auch die «Indi­ viduation» der Menschen (ihre Lostrennung vom Gemeinwesen) am Ende stets nur durch «die Rückkehr des Einzelnen in das Allgemeine gesühnt» werden könne. Lassalle rühmte den Vorsokratiker als das ­ «Ideal des überlegenen Genius, welcher als Verkörperung des Allgemei­ nen für das Volk wirkt», ohne der Plebs zu schmeicheln oder sich ihr auch nur verständlich machen zu wollen.26 Es war nur zu deutlich, dass der Autor sich in diesem Bild eines dunklen Genies selbst spiegelte. Marx befand, noch ohne das Buch gelesen zu haben, dass der «brave Lassalle» hier auf einem Feld dilettiere, das er (Marx) in seiner Disserta­ tion von 1840 schon gründlicher beackert hatte. Aber schließlich könne «der Bursche  … nützlich sein beim Auftreiben von Buchhändlern».27 Lassalle selbst gegenüber monierte er (nach flüchtiger Lektüre), dass er

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es versäumt habe, die Dialektik «von dem mystischen Schein, den sie bei Hegel hat, zu befreien», kurzum, dass er ein heilloser Idealist geblieben sei. Er lobte immerhin aber die philologische Rekonstruktion des nur in Fragmenten überlieferten heraklitischen Systems als recht «meister­ haft».28 Das genügte, damit Lassalle ihm mit kindlichem Eifer von seinen Ber­ liner Erfolgen und Eroberungen berichtete und tatsächlich behilflich war, den befreundeten Verleger Franz Duncker (dessen Frau Lina er in einer ménage à trois gerade den Hof machte) als Herausgeber von Marx’ lange erwarteter «Kritik der politischen Ökonomie» zu gewinnen – je­ nem großen Werk also, von dem Marx im Freundeskreis hoffnungsvoll ankündigte, dass es «unserer Partei einen wissenschaftlichen Sieg … er­ ringen» werde.29 Als das schmale Buch 1859 erschien, stieß der schwie­ rige Text, der vorerst auch nur eine Einführung in ein mehrbändiges, rasch nachfolgendes Werk darstellen sollte, selbst bei einem ergebenen «Parteimitglied» wie Liebknecht auf Unverständnis und Enttäuschung. Von den Rezensenten und der Fachwelt wurde Marx’ Arbeit fast völlig ignoriert, zumal die angekündigten Nachlieferungen ausblieben. Kaum war Marx fort, erschien in Leipzig ein neues, zweibändiges Werk Lassalles: «Das System der erworbenen Rechte»; eine ausholende histo­ risch-philosophische Abhandlung über die Quellen und Formen des Rechts. Darin erhob er den «allgemeinen Geist», nämlich das Bewusst­ sein des Volkes als einer «Willensgemeinschaft», zur alleinigen, letzten Quelle des Rechts. Die Französische Revolution habe die Menschen­ rechte verkündet und die alten, feudalen Formen des Eigentums gebro­ chen. Aber der Liberalismus habe an die Stelle der allgemeinen Freiheit nur die Freiheit der Steuer zahlenden, mit Kapital ausgerüsteten Indivi­ duen gesetzt, während die Ansprüche auf Territorien und ganze Natio­ nen als das Privateigentum der herrschenden Dynastien noch immer un­ gebrochen fortexistierten. Somit standen zwei große Eigentumsfragen im Raum: ob die Völker und Nationen den Monarchen gehörten oder ob sie sich selbst gehörten; und ob die Produkte physischer und geistiger Arbeit ihren vielen Produzenten oder den wenigen Kapitalbesitzern ge­ hörten.30 Von den respektvollen, aber lauen Reaktionen auf dieses neue große Werk tief enttäuscht, stürzte Lassalle sich in die Rolle eines Strategen der wiederaufflammenden gesamteuropäischen Revolutionsprospekte. Im Juli 1861 fuhr er in Begleitung der Gräfin und des 48 er-Veteranen

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und preußischen Obersten Wilhelm Rüstow (die unterwegs eine leiden­ schaftliche Affäre begannen) mitten in die Wirren des italienischen Risorgimento. Am Ende versuchten sie Garibaldi, den längst zur leben­ den Legende gewordenen Condottiere, auf seiner Insel Caprera zu über­ zeugen, mit einem Volksheer von 300 000 Mann, zu dem auch deutsche Freischärler hinzuströmen würden, die letzten österreichischen Besitzun­ gen in Oberitalien anzugreifen. Von dort aus wäre dann im Verein mit den revolutionären Ungarn, den tapferen Griechen und den aufstän­ dischen Balkanslawen die Revolution ins Herzland der Habsburger zu tragen, nach Wien, von wo der Funke zwangsläufig auf Deutschland überspringen werde, und von hier auf ganz Europa. Der seine Ziegen fütternde, von seinen Leuten weitgehend verlassene Garibaldi, an sich keinem noch so verwegenen Plan abgeneigt, scheint seine deutschen Be­ sucher in dem Glauben gelassen zu haben, sie hätten ihn überzeugt. Tat­ sächlich verzehrte er sich vor allem im glühenden Hass auf das Papsttum (noch mehr als auf Habsburg) und zog im Jahr darauf mit einer kleinen Truppe unter der Losung «Rom oder Tod!» in eine ruhmlose Nieder­ lage, nun schon gegen die Armee des eigenen, gerade inthronisierten ­Königs Viktor Emmanuel II. Zum endgültigen Zerwürfnis mit Marx kam es dann während des Be­ suchs Lassalles im Jahr darauf während der Londoner Weltausstellung. Seine italienischen Erzählungen und Revolutionsszenarien stießen bei seinem Gastgeber auf sarkastische Skepsis. Marx gewann die Überzeu­ gung, dass Lassalle sich von einem eitlen zu einem größenwahnsinnigen Menschen gewandelt habe, der im Grunde ein «aufgeklärter Bonapar­ tist» sei. Dass Lassalle sich auch noch als literarisch, philosophisch, öko­ nomisch und historisch universell gebildeter Mensch eigenen Formats präsentierte, forderte Marx vielleicht am meisten heraus; und vollends, nachdem er seine schon früher gemachte Ankündigung wiederholte, sich in Kürze in eine große, grundlegende Arbeit zur «Kritik der politischen Ökonomie» stürzen zu wollen, also Marx auf dem Feld Konkurrenz zu machen oder gar zu überflügeln, auf dem er seinen alles entscheidenden Schlag führen wollte. Marx kochte und meldete an Engels, Lassalle sei «nun ausgemacht nicht nur der größte Gelehrte, tiefste Denker, genialste Forscher usw., sondern außerdem Don Juan und revolutionärer Kardinal Richelieu». So habe sein Besucher ganz nebenher 5000  Taler in einer Londoner ­Spekulation versenkt, statt Freunden (seinen Gastgebern zum Beispiel)

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finanziell zu helfen. Darüber hinaus habe er sich als «jüdischer Baron» aufgeführt, der «die Frechheit (hatte), mich zu fragen, ob ich eine meiner Töchter als ‹Gesellschafterin› der Hatzfeldt übergeben wolle». Marx hatte sein Urteil gefällt: Lassalles Kopfbildung und Haarwuchs, gepaart mit einer «niggerhaften» Zudringlichkeit, machten es glasklar, dass der Kerl «von den Negern abstammt, die sich dem Zug des Moses aus Ägyp­ ten anschlossen», sofern nicht seine Mutter oder Großmutter «sich mit einem nigger kreuzten». Aus dieser Mischung sei allerdings ein derart «sonderbares Produkt» hervorgegangen, dass er und seine Familie sich «königlich amüsiert» hätten, wäre der Besuch nicht so anstrengend ge­ wesen.31 Man könnte allerhand psychologische, biografische und geistes­ge­ schichtliche Erklärungen für diese, in heutiger Terminologie «rassisti­ schen» Entgleisungen anführen: dass im Familien- und Freundeskreis Marx selbst ja der «Mohr» war (mit Afrokrause und dunkler Gesichts­ farbe); dass diese laienhafte Mixtur aus Phrenologie, Ethnographie, Archäologie und Rassenkunde noch eine aufklärerische Naivität hatte, die zwei oder drei Jahrzehnte später schon unmöglich war; oder dass Marx gerade wieder auf einem Tiefpunkt seiner materiellen und persön­ lichen Situation angekommen war: Die New-York Tribune hatte ihm ge­ kündigt, er war so pleite wie zehn Jahre zuvor, seine Frau war im Vor­ jahr an Pocken erkrankt und fühlte sich seither entstellt; er selbst wurde immer kränker und verstrickte sich immer tiefer in seine labyrinthischen Arbeiten am «Kapital» – während Lassalle sowohl finanziell wie poli­ tisch Oberwasser hatte und sich offensichtlich in eine Phase des mani­ schen Aktivismus hineinbewegte, die seine anschließenden Triumphzüge befeuern würde. Aber alle diese Erklärungen ändern nichts daran, dass Marx’ Abneigung gegen Lassalle von einer Eifersucht auf den Wieder­ gänger und Rivalen geprägt war, die an Hass grenzte.

Ruf und Berufung Für Lassalle bedeutete der Bruch mit Marx seine Unabhängigkeitserklä­ rung und war ganz sicher ein Hauptantrieb zu seiner Publikations- und Agitationskampagne, aus der letztlich die deutsche Sozialdemokratie hervorging. Die drei zentralen Fragen, die seine Kampagne trugen, wa­ ren eng verknüpft: Erstens die Frage der Demokratie, die durch den in Preußen offen aufgebrochenen Verfassungskonflikt aktualisiert worden

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war; zweitens die «soziale Frage», die durch die tiefen Krisen, stürmi­ schen Konjunkturen und sozialen Verwerfungen der 1850 er Jahre eben­ falls eine neue Dringlichkeit gewonnen hatte; sowie drittens die Frage der deutschen Einheit, die durch die italienischen Kriege und die euro­ päischen Spannungen, aber auch die industriellen und kommunikativen Revolutionen ihrerseits auf die Tagesordnung gerückt war. Lassalle ver­ stand es, diese drei Ströme zusammenzuführen. Der erste Schritt, den er in die aktive Politik machte, war im März 1862 ein Vortrag «Über das Verfassungswesen», mit dem er in den ­Konflikt zwischen der Regierung und der liberalen Opposition über die Militärvorlage eingriff. Die Liberalen wollten ihre parlamentarischen Budgetrechte respektiert sehen und drängten auf Annäherung von ste­ hendem Heer und Landwehr im Sinne einer allgemeinen Wehrpflicht­ armee. Die Regierung und der König beharrten darauf, dass Militärfra­ gen ein Vorrecht der Monarchie seien. Lassalle führte daraufhin im überlegenen Gestus eines Rechtsphiloso­ phen aus, dass Verfassungsfragen nun einmal Machtfragen seien, die im Kampf der gesellschaftlichen Klassen entschieden würden. 1848 habe das Bürgertum die günstige Lage nicht genutzt, sondern sich aus Furcht vor dem Volk auf einen Verfassungsoktroi eingelassen. Sich nun auf diese reaktionäre Verfassung zu berufen, wie die Fortschrittspartei es tue, sei lächerlich und hilflos. Wenn schon, müsse ein offener Bruch her­ beigeführt werden, am besten durch einen Boykott der parlamentari­ schen Verhandlungen, mit denen sich die Regierung nur ein konstitutio­ nelles Mäntelchen verschaffen wolle.32 Den nächsten Zug tat Lassalle, als er in einem Berliner Handwerker­ verein über den «Zusammenhang der gegenwärtigen Geschichtsperiode mit der Idee des Arbeiterstandes» sprach, eine Rede, die er sofort dru­ cken ließ und im Nachhinein als sein «Arbeiterprogramm» deklarierte. Neue Gesellschaftsprinzipien, hieß es darin, könnten erst ins Leben ge­ setzt werden, wenn sie sich in den realen Verhältnissen vorbereitet hat­ ten. Die Bourgeoisie sei zur Macht gekommen, als die Eröffnung der Weltmärkte und die industrielle Massenproduktion ihr die Mittel in die Hand gegeben hatten  – während sie mithilfe der alten monarchischen Gewalten weiterhin bemüht sei, die Masse des Volks von Politik und Staat auszuschließen. Wodurch existiere und finanziere sich dieser Staat aber? Vor allem über die indirekten Steuern, die auf der Masse des Vol­ kes lasteten. So bringe das großteils arme Volk in Preußen 85 Millionen Taler auf, während die vereinten besitzenden Klassen, Grundbesitzer wie

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Industrielle, ihre 12 Millionen an direkten Steuern über die Warenpreise auf das Volk abwälzen könnten. Das Volk zahle also alles – und sei von allem ausgeschlossen! Ähnelte diese Argumentation noch ganz der von Büchners «Land­ boten», so ließ sich der weitergehende Gedanke, den Lassalle hier ent­ wickelte, nämlich dass die Befreiung des vierten Standes, des Arbeiter­ standes, mit der Befreiung der Menschheit zusammenfalle, wie eine ­abgemilderte Wiederholung des «Kommunistischen Manifests» lesen – oder, wie Marx und Engels mürrisch vermerkten, als ein fades Plagiat. Die Konsequenzen, die Lassalle zog, bewegten sich dagegen eher in den Bahnen des verblichenen englischen Chartismus, so wenn er erklärte, das praktisch wie sittlich entscheidende Instrument der proletarischen Befreiung werde das allgemeine und direkte Wahlrecht sein. Gegen die liberale «Nachtwächteridee», dass der Staat bloß zum Schutz der priva­ ten Freiheiten und des Eigentums da sei, müsse die Masse der Arbeiten­ den verlangen, dass der Staat das menschliche Wesen zur positiven Ent­ faltung und fortschreitenden Entwicklung bringe.33 Das war Lassalles Leitgedanke, den er ab jetzt im trotzigsten Gegensatz zu seinem früheren Mentor Marx vertrat. Was ihm bei diesen ersten Schritten einer neuen, sozial-demokrati­ schen Mobilisierung entgegenkam, war die Tatsache, dass ihm sein «Ar­ beiterprogramm» prompt eine Anklage wegen «Aufreizung der besitz­ losen Klassen zum Hasse der Besitzenden» eingetragen hatte. Damit konnte er wieder sein ureigenstes Metier – große Auftritte vor Gericht, die sofort als Broschüren erschienen – in Anschlag bringen. So stellte er seine Verteidigungsrede im Hochverratsprozess unter den programma­ tischen Titel «Die Wissenschaft und die Arbeiter». Darin präsentierte er sich als einen «Mann der Wissenschaften», der von diesem Forum aus an die Gebildeten und Edlen der Nation appellierte, sich der sozialen und demokratischen Fragen anzunehmen, gerade um zu verhindern, dass «die Rohesten» die Führung in diesem unvermeidlichen Kampfe übernähmen  – eine geschickte Wendung, die allerdings nicht verhin­ derte, dass er im Januar 1863 zu vier Monaten Gefängnis verurteilt wurde. Das alles gab seiner Kampagne schon einige Stoßkraft. Lassalle hatte, platt gesagt, eine Marktlücke erkannt, die geradezu danach rief, gefüllt zu werden: eben die politischen Implikationen der «Arbeiterfrage», die jetzt nach zwei, drei Jahrzehnten auf einer ganz neuen Stufe und in einer veränderten Perspektive wieder im Raum stand. In seiner Rede vor Ge­

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richt hatte er einen Anspruch angemeldet, wie er bedeutender kaum sein konnte: «Die Alliance der Wissenschaft und der Arbeiter, dieser beider entgegengesetzten Pole der Gesellschaft, die wenn sie sich umarmen, alle Kulturhindernisse in ihren ehernen Armen erdrücken werden – das ist das Ziel, dem ich, so lange ich atme, mein Leben zu weihen beschlossen habe!»34 Diese Selbstberufung war eine indirekte Antwort auf einen Ruf, der ihn bereits vor dem Berliner Hochverratsprozess von Seiten eines Leipziger «Centralcomités für Arbeiterinteressen» erreicht hatte, das sich von den Arbeiterbildungs- und Selbsthilfevereinen im Umfeld der liberalen «Fort­ schrittspartei» abgesetzt hatte und Lassalle nach der Lektüre seines ­«Arbeiterprogramms» einlud, ihnen seine Gedanken zur Verbesserung der Lage der arbeitenden Klassen und zur Erringung des allgemeinen Stimmrechts mitzuteilen. Unterzeichnet hatten der Chemiker Dr. Otto Dammer sowie der Schuhmacher Julius Vahlteich und der Tabakarbeiter Friedrich Wilhelm Fritzsche. «Die Arbeiterbewegung», stand in ihrem Schreiben, «welche mit unwiderstehlicher Gewalt sich geltend gemacht hat», bedürfe «der umsichtigsten und kräftigsten Leitung …, der höchs­ ten Intelligenz und eines durchaus mächtigen Geistes, in dem sich alles konzentriert und von dem alles ausgeht». Und weiter: «Wir drei unter­ zeichneten Freunde …. finden in Deutschland nur Einen Mann, den wir an der Spitze einer so bedeutenden Bewegung sehen möchten …, dass wir ihm als Führer der ganzen Bewegung uns unterordnen möchten, und dieser Eine Mann sind Sie.»35 In Lassalles «Offenem Antwortschreiben», das er gleich in 10 000 Ex­ emplaren drucken ließ, erklärte er bündig, die Arbeiter müssten sich vor allem politisch selbständig machen und eine eigene Arbeiterpartei bil­ den, die hier und jetzt das allgemeine, gleiche und geheime Wahlrecht für die Masse des arbeitenden Volkes fordere (wie sich von selbst verstand, vorerst nur für den männlichen Teil). Diese Arbeiterbewegung müsse, zweitens, sich vermittels eigener «Produktivassoziationen», kooperativ betriebener Großbetriebe, auch sozial vom Bürgertum lösen und selb­ ständig machen. Das freilich – und hier schloss sich der Kreis seiner Argumentation – werde nur mit staatlicher Unterstützung möglich sein: «Dem ganzen ­Arbeiterstand kann nur der Staat helfen. Der Staat hat die Aufgabe, die Kulturfortschritte durch positive Förderung zu erleichtern. Hat denn der Staat nicht interveniert bei Aufhebung der Sklaverei in den englischen

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Kolonien, bei Gewährung der Zinsgarantien für Eisenbahnen zugunsten der Kapitalisten? Und warum sollte der Staat nicht den Arbeitern seinen Credit leihen zur Bildung von Produktivassoziationen, welche anfäng­ lich einzelne Industriezweige umfassen, dann in Creditverbände mit­ einander treten würden?» Und schließlich: «Ihnen, der notleidenden Klasse, gehört der Staat, aus Ihnen besteht er, Ihre große Assoziation ist er selbst  … Das allgemeine Stimmrecht  … als Magenfrage aufgefasst und daher auch mit der Magenwärme durch den ganzen nationalen Kör­ per hinverbreitet – … Dies ist das Zeichen, in dem Sie siegen werden!»36 Für diese dringliche Aufgabe müsse jetzt ein Agitationsverein gegründet und als gesamtdeutsche Massenorganisation auf die Beine gestellt wer­ den, die binnen Kurzem schon eine bedeutende Macht darstellen könne. Diesen Vorschlägen folgend, beriefen die Initiatoren für den 23. Mai 1863 in Leipzig einen Kongress zur Gründung eines «Allgemeinen Deut­ schen Arbeiter-Vereins» (ADAV) ein, der schließlich 600 Delegierte aus elf Städten versammelte und Ferdinand Lassalle bat, die Führung zu übernehmen. «Die Statuten legten eine diktatorische Gewalt in die Hand des Präsidenten  … Finster schweigend nahm Lassalle die Wahl an», schrieb Franz Mehring (später einer der führenden sozialdemokrati­ schen Parteiintellektuellen) 1879 in der frühesten, noch entschieden geg­ nerischen Version seiner «Geschichte der deutschen Sozialdemokra­ tie».37 Tatsächlich musste Lassalle sich die Führerrolle, die ihm so demütig angetragen worden war, erst hart erkämpfen. Die liberale Partei und Presse, die er immer schärfer attackierte, nannten seine sozialpolitischen Vorschläge eine naive Wiederaufnahme der katastrophal gescheiterten «Nationalwerkstätten», die Louis Blanc 1848 in Paris initiiert und dann selbst reumütig aufgegeben habe. Prominente Ökonomen wiesen ihm nach, dass sein «ehernes Lohngesetz», demzufolge die Arbeitslöhne ­unter kapitalistischem Regime sich niemals erhöhen könnten, eine von Ricardo stammende, längst überholte Sicht sei. Aber auch unter den in Bewegung gekommenen Arbeiterschaften hatte Lassalle zunächst mas­ sive Widerstände zu überwinden. Viele lokale Arbeitervereine hatten sich von vornherein geweigert, unter den von ihm formulierten Vorga­ ben die Leipziger Gründungsversammlung im Mai 1863 zu beschicken. Jetzt bewies Lassalle seine Qualitäten als Politiker. Im April 1863 war er zu einer öffentlichen Disputation auf einen «Arbeitertag» in Frankfurt eingeladen worden, bei der sein Kontrahent allerdings nicht erschien, und insoweit hatte er freie Bahn. Aber er trat vor eine überwiegend kri­

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tisch bis feindselig gestimmte Versammlung, von deren Votum für ihn vieles, vielleicht alles abhing. In zwei großen, mehrstündigen Vorträgen redete er sie schwindlig. Er überschüttete sie mit einer Unmasse gelehrter Zitate, bewies ihnen an­ hand der Berechnungen des Statistikers Dieterici, dass er recht habe, wenn er behaupte, fast 96 % der Bevölkerung befänden sich in einer «gedrückten Lage», sprach über die geringere Lebensdauer der arbeiten­ den Klassen, um seine skeptischen Zuhörer dann mit unüberbietbarer Arroganz zu verspotten und in einem Atemzug an ihrer Ehre zu packen: «Ihr deutschen Arbeiter seid merkwürdige Leute! Vor französischen und englischen Arbeitern, da müsste man plädieren, wie man ihrer traurigen Lage abhelfen könne. Euch aber muss man erst noch beweisen, dass Ihr in einer traurigen Lage seid. So lange Ihr nur ein Stück schlechte Wurst habt und ein Glas Bier, merkt Ihr gar nicht und wisst gar nicht, dass Euch etwas fehlt. Das kommt von Eurer verdammten Bedürfnislosigkeit. Möglichst viel Bedürfnisse haben, aber sie auf ehrliche und anständige Weise befriedigen, das ist die Tugend der heutigen Zeit.» Und als sich noch immer Widerspruch artikulierte, herrschte er sie an: «Ich würde es begreiflich finden, wenn auch tadeln, wenn Ihr die Maschinen zerstörtet, wenn Ihr Gewalt gebräuchtet … – aber dass Ihr euch gegen mich, der ich Euch helfen will, erklärt, wäre unnatürlich … Ihr solltet wie gezähmte Haustiere Euch gegen Euch selbst wenden? Das wäre eine nationale Schmach.»38 Damit kriegte er sie. Die gegnerische Minderheit zog aus, und die Ver­ bliebenen votierten mit 400:1 Stimmen, nach Leipzig zu gehen. Am nächsten Tag in Wiesbaden waren es sogar 800:2 Stimmen, die ihn un­ terstützten, obwohl er hier deklaratorisch noch einen riskanten Schritt weiterging, als er erklärte: Noch immer habe man alle großen Männer der Wissenschaft, die die Lage der arbeitenden Klassen zu verbessern ge­ trachtet hätten – so wie jetzt ihn – «mit diesem Schlagwort zu Boden zu schmettern gesucht: Sozialist!» Um kühl fortzufahren: «Nun, meine Herren, wenn man dies unter Sozialismus versteht, dass wir suchen, die Lage der arbeitenden Massen zu verbessern und ihrer Not abzuhelfen – nun dann in 33 000 Teufels Namen, dann sind wir Sozialisten! (Allge­ meines Bravo) Glaubt man, ich würde mich vor einem Wort fürchten? Ich nicht!»39 Der «Allgemeine Deutsche Arbeiter-Verein» (ADAV) gründete sich also gegen alle Widerstände am 23. Mai 1863 in Leipzig: «… von der Über­

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zeugung ausgehend, dass nur durch das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht eine genügende Vertretung der sozialen Interessen des deut­ schen Arbeiterstandes und eine wahrhafte Beseitigung der Klassengegen­ sätze in der Gesellschaft herbeigeführt werden kann».40 So begeistert und einmütig diese Gründung erfolgte, so bescheiden waren ihre anfänglichen Organisationserfolge. Lassalle hatte auf 100 000  Mitglieder gleich im ersten Anlauf gerechnet und eine solche Massenmitgliedschaft auch ausdrücklich als Erfolgskriterium aufge­ stellt. Stattdessen waren es nach einem Vierteljahr kaum mehr als 1000. Um weiterzukommen, brauchte er eine straffe, disziplinierte Organisa­ tion. Ohne jede Konsultation der übrigen Vorstandsmitglieder ernannte Lassalle für die verschiedenen Länder und Regionen persönliche Beauf­ tragte, dann reiste er zu einer mehrwöchigen Bäderkur. Im Herbst 1863 wartete die Berufungsverhandlung in seinem Hoch­ verratsprozess auf ihn. Hier lief er wieder zu großer Form auf, vertiefte seine Agitation gegen die indirekten Steuern, die als «Progressivsteuern» gegen die Masse des ärmeren Volkes wirkten, und zeichnete erneut ein Bild der bestehenden Gesellschaft, das stark an Büchners und Weidigs «Hessischen Landboten» erinnerte: Jene 44 000 Personen, die die Spitze der Gesellschaftspyramide bildeten, weil sie über mehr als 1000  Taler steuerbares Einkommen verfügten, diese «lächerlich kleine Handvoll Menschen mit ihren Familien  …, die sich dünken, die Welt zu sein», dächten nur an sich, sprächen nur über sich und brächten mittels ihrer Zeitungen sogar andere dazu, das auch zu tun. «Und unter dieser Hand­ voll Menschen windet sich in stummer, unaussprechlicher Qual in wim­ melnder Zahl das unbemittelte Volk von 17 Millionen, produziert alles, was das Leben verschönt, macht uns die unerlässliche Bedingung seiner Gesittung, die Existenz des Staates, möglich, schlägt seine Schlachten, zahlt seine Steuern und hat Niemand, der an es dächte und es verträte». Noch höher griff er, als es um die Anklage gegen ihn selbst ging: «Wie? Es hat sich Jemand in einem faustischen Trieb mit der zähesten und erns­ testen Mühe durchgearbeitet von der Philosophie der Griechen … bis zur modernen Nationalökonomie und Statistik, und Sie könnten im Ernst glauben, er wolle diese ganze lange Bildung damit schließen, dem Prole­ tarier die Brandfackel in die Hand zu drücken?» Ihm, diesem «Jemand», waren ganz andere Aufgaben gestellt, und zwar von der Geschichte selbst. Denn mit dem Revolutionsjahr 1848 sei eine neue, dritte Weltperiode eröffnet worden, in welcher die «sittliche Idee des Arbeiterstandes,

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das Prinzip der Arbeit zum herrschenden Prinzip der Gesellschaft zu machen», sich unaufhaltsam historisch Bahn brechen werde. Diese Um­ wälzung werde so oder so kommen: «Sie wird eintreten in voller Ge­ setzlichkeit und mit allen Segnungen des Friedens, wenn man die Weis­ heit hat, sich zu ihrer Einführung zu entschließen, bei Zeiten und von oben herab  – oder aber sie wird innerhalb irgendeines Zeitraums he­ reinbrechen unter allen Convulsionen der Gewalt mit wild wehendem Lockenhaar, erzene Sandalen an den Sohlen.»41 Somit war es also der Staat, der das neue Weltprinzip der Arbeit «von oben herab» einzuführen hatte! Und die wirklichen Barbaren waren die­ jenigen, «welche am liebsten den Staat abschaffen, Justiz und Polizei an den Mindestfordernden verganten (vermieten) und den Krieg durch ­Aktiengesellschaften betreiben lassen möchten» – die bürgerlichen Libe­ ralen also. Er, Lassalle, dagegen stehe hier mit seinen Richtern «Hand in Hand, das uralte Vestafeuer aller Zivilisation, den Staat, verteidige ich mit Ihnen gegen jene modernen Barbaren!»42 Die Richter des Preußischen Kammergerichts waren beeindruckt und wandelten seine Haft- in eine geringe Geldstrafe um. Daraufhin ging er sofort auf eine neue Agitationsreise, in der immer noch die rheinischen Städte den Schwerpunkt bildeten, während er in Berlin kaum Fuß fassen konnte. Vielerorts kam es jetzt zu tätlichen Auseinandersetzungen zwi­ schen Mitgliedern der konkurrierenden Arbeitervereine, aber auch mit den Lokalbehörden, in denen die Liberalen schon Fuß gefasst hatten. Seine Hauptangriffe richtete Lassalle jetzt gegen die liberale Presse, die ihn und seine Bewegung verleumde und «vom Kapital emanzipiert» werden müsse, etwa durch das Verbot, Annoncen aufzunehmen. Um sich bis zu der Formulierung zu versteigen: «Unser Hauptfeind, der Hauptfeind aller gesunden Entwicklung des deutschen Geistes und des deutschen Volkstums, das ist heutzutage die Presse.»43

Bonapartismus à deux Es konnte kaum ausbleiben, dass Bismarck, der im Herbst 1862 auf dem Höhepunkt des Verfassungskonflikts als Vertreter der äußersten Rechten in der preußischen Politik zum Ministerpräsidenten ernannt worden war, sich in seinem durchaus noch offenen Kampf mit der liberalen Opposi­ tion und Presse für diesen schillernden Arbeiteragitator zu interessieren begann  – lange bevor dieser sich im September 1863 während seiner

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­ersten großen Agitationsreise mit einem öffentlichen «Beschwerdetele­ gramm» gegen die von Bürgermeistern und Beamten im Rheinland ver­ hängten Versammlungsbeschränkungen demonstrativ und direkt an ihn als Regierungschef gewandt hatte.44 Vielmehr signalisierte dieses Tele­ gramm, wie die Liberalen zu Recht vermuteten, dass es verdeckte Bezie­ hungen zwischen Bismarck und Lassalle längst gab. Und tatsächlich reichten diese Kontakte schon bis in die Zeit vor der Leipziger Gründungsversammlung des ADAV zurück. Der Fürst hatte den (mit «Euer Wohlgeboren» angesprochenen) Herrn Lassalle in einem vertraulichen Billett vom 11. Mai 1863 eingeladen, ihm «über die Ver­ hältnisse der arbeitenden Klassen» persönlich und gutachterlich vor­ zutragen,45 und Lassalle war hingegangen. Bismarck hatte in diesem ­offenbar mehrstündigen Gespräch interessiert zugehört, sich im Verfas­ sungskonflikt unnachgiebig, in der Steuerfrage hinhaltend, in Fragen des Staatskredits aber offen gezeigt – und ominös angedeutet, vielleicht werde die Krone «eines Tages» eine Allianz mit dem Volke schmieden und das allgemeine Wahlrecht sowie soziale Maßregeln von oben einführen.46 Gleich darauf, als der ADAV gegründet worden war, hatte Lassalle dem preußischen Ministerpräsidenten die Statuten seines Vereins ge­ schickt, nur um mit allem Ernst hinzuzufügen: Bismarck könne aus die­ sen Statuten ersehen, «wie wahr es ist, dass sich der Arbeiterstand in­ stinktmäßig zur Diktatur geneigt fühlt, wenn er erst mit Recht überzeugt sein kann, dass dieselbe in seinem Interesse ausgeübt wird; und wie sehr er daher, wie ich Ihnen schon neulich sagte, geneigt sein würde, trotz ­aller republikanischen Gesinnungen  – oder vielmehr aufgrund dersel­ ben – in der Krone den natürlichen Träger der sozialen Diktatur, im Ge­ gensatz zum Egoismus der bürgerlichen Gesellschaft, zu sehen, wenn die Krone ihrerseits sich jemals zu dem – freilich sehr unwahrschein­lichen – Schritt entschließen könnte, eine wahrhaft revolutionäre und nationale Richtung einzuschlagen».47 Tatsächlich war das Statut des ADAV als das Organ einer «Diktatur der Einsicht» gefasst, die vom Präsidenten (also Lassalle) und dem ihm unterstellten Leitungsgremium verkörpert wurde. Die Einheitlichkeit der Organisation galt als «höchstes Kleinod»: «Einer Leitung folgend, können sie (die Arbeiter) wirklich allmälig über ihre mächtigen, durch alle bestehenden Einrichtungen gestützten Gegner Herr werden»; und deshalb sei «die Aufrechterhaltung der Einheitlichkeit, die Fernhaltung der Spaltung … die organisatorische Hauptaufgabe».48 Diese Paralleli­ sierung des eigenen Autoritarismus mit dem des Staates wirkte, so wie

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Lassalle sie Bismarck präsentierte, weniger als Kampfansage, eher schon als eine massive Avance, oder jedenfalls wie ein Angebot für einen ge­ meinsamen Kampf gegen die Liberalen. Für die späteren Sozialdemokraten blieben diese geheimen Kontakte ihres Gründers ein heikler Punkt, den Bebel allerdings in eine lange Serie von Versuchen Bismarcks einreihte, die entstehende Sozialdemokratie zu korrumpieren, einschließlich eines 1866 an Marx gerichteten und von diesem harsch zurückgewiesenen Angebots, als festbesoldeter Kapita­ lismuskritiker für eine regierungsnahe Berliner Zeitung zu schreiben. Das alles, höhnte Bebel vor dem Reichstag, sei nur Teil der verzweifelten Bemühungen Bismarcks gewesen, «die liberale Bourgeoisie  … ins ­ Bockshorn zu jagen» und die So­zialdemokraten vor den Karren einer Politik zu spannen, die diese aber stets als reaktionär und antinational betrachtet hätten: nämlich als eine Politik, «betrieben im Interesse der Hohenzollernschen Hausmacht, die bestrebt war, die Herrschaft über ganz Deutschland zu gewinnen und Deutschland mit preußischem Geist und preußischen Regierungsgrundsätzen – die der Todfeind aller Demo­ kratie sind – zu erfüllen».49 Auf diese Attacken Bebels reagierte Bismarck, der das parlamentari­ sche Duell nicht scheute, sondern durchaus schätzte, in den angespann­ ten Verhandlungen des Reichstags, die dem «Sozialistengesetz» im ­Oktober 1878 vorausgingen, mit demonstrativer Gelassenheit. Die Stoß­ richtung seiner süffisanten Rede, in der er das Geheimnis lüftete, das seine früheren Treffen mit Lassalle umwitterte, war klar: Mit einem wie Lassalle habe man gut auskommen können, mit den aktuellen Führern der Sozialdemokratie, die auf die Londoner Internationale und die «Mordbrenner» der Pariser Kommune geschworen hatten, sei das aller­ dings nicht möglich. Dass die Komplimente, die Bismarck dem verstorbenen Parteigründer machte, vergiftet waren, verstand sich von selbst. Aber auch die Situation, in der er diese Gespräche 1862/63 geführt hatte, stellte er sehr einseitig dar: «Unsere Beziehung konnte gar nicht die Natur einer politischen Ver­ handlung haben. Was hätte mir Lassalle bieten und geben können?  … Was er hatte, war etwas, das mich als Privatmann außerordentlich anzog: er war einer der geistreichsten und liebenswürdigsten Menschen, mit ­denen ich je verkehrt habe, ein Mann, der ehrgeizig im großen Stile war, durchaus nicht Republikaner; er hatte eine sehr ausgeprägte nationale und monarchische Gesinnung; seine Idee, der er zustrebte, war das deut­ sche Kaisertum, und darin hatten wir einen Berührungspunkt.»50

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Das war richtig und falsch zugleich. Richtig war, dass Lassalle sich so­ wohl privat wie öffentlich immer wieder als jemand zu erkennen gege­ ben hatte, der – gerade als Republikaner und Sozialist – einem «sozialen Königtum» eine entscheidende transitorische Rolle zuzuschreiben bereit war. Das tat er allerdings in ziemlich kühner Weise, so als er in der Beru­ fungsverhandlung im zweiten Hochverratsprozess im März 1864 den Vorwürfen der Anklage entgegnete, der Herr Staatsanwalt habe ganz recht: «Ich will nicht nur die Verfassung stürzen, sondern es vergeht viel­ leicht nicht mehr als ein Jahr, so habe ich sie gestürzt!» Nur um in die allgemeine Verblüffung hinein triumphierend zu erklären: Es werde nämlich «vielleicht kein Jahr mehr vergehen – und Herr von Bismarck hat die Rolle Robert Peels gespielt, und das allgemeine und direkte Wahlrecht ist oktroyiert!» Denn zwischen Königtum und Bourgeoisie sei ein tödlicher Kampf entbrannt, und es bestehe jederzeit die Möglichkeit, «dass das König­ tum, wenn es einer Clique nicht weichen kann, dagegen vollkommen wohl das Volk auf die Bühne rufen und sich auf es stützen kann». Das klang nun fast schon wie eine öffentliche Aufforderung, sich auf das Volk, also auf ihn, Lassalle, zu stützen, wobei er den König fast so am Portepee seiner Ehre fasste wie die Arbeiterversammlung in Frankfurt: «(Ein) Königtum, das noch aus seinem ursprünglichen Teige geknetet dasteht, auf den Knauf des Schwertes gestützt, könnte das vollkommen wohl, wenn es entschlossen ist, wahrhaft große nationale und volks­ gemäße Ziele zu verfolgen.»51 Tatsächlich war Lassalle dem Ministerpräsidenten im Jahr zuvor kei­ neswegs als ein bloßer Bittsteller oder williger Kollaborateur gegenüber­ getreten, sondern als Führer einer autonomen Bewegung, der eine eigene Strategie verfolgte und seinerseits Bedingungen stellte. Es war ja Bis­ marck gewesen, der diesen «armen Teufel» eingeladen hatte, und das in einer Situation, in der er als frisch ernannter Regierungschef ohne Mehr­ heiten und klare Vollmachten operieren musste. Lassalle hatte weder in ihren Geheimgesprächen noch in seinen öffentlichen Erklärungen von einer bloßen Hoffnung auf die Gewährung des allgemeinen Wahlrechts gesprochen – sondern davon, dass der König und seine Regierung sehr bald gezwungen sein würden, «das Volk auf die Bühne zu rufen» und das allgemeine Wahlrecht zu oktroyieren. Allerdings sah er sich, wie er Bismarck erklärte, als «ein offener und ehrlicher Feind des bestehenden Systems» genötigt, ihn vor dem einge­ schlagenen Weg zu warnen: nämlich sich durch eine verschärfte Presse­

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zensur (die natürlich auch den ADAV treffen konnte} und eine Parla­ mentsauflösung zum Diktator zu machen – ohne sich dabei so auf das arbeitende Volk stützen zu können, wie er, Lassalle, das in seinem «Kö­ nigreich» eben konnte! Sollte Bismarck aber doch eine reaktionäre Mili­ tärdiktatur errichten wollen, schrieb er ihm, so «würde gerade das zu einem endlichen Siege der von mir vertretenen Ideen führen, aber nicht mehr auf jenem friedlichen und für die gesamte Gesellschaft wohltätigen Weg, den mir Ew. Exzellenz neulich in Aussicht stellte».52 Noch drohender, fast dreister waren Lassalles Einlassungen im dritten (oder vierten, jedenfalls letzten) Gespräch im Januar 1864. Für alle Ein­ geweihten war bereits absehbar, dass Bismarck die politische Blockade mittels «Blut und Eisen», nämlich in Form eines oder mehrerer Kriege gegen die Nachbarstaaten zu lösen gedachte. Auch darin war Lassalle bereit, dem Ministerpräsidenten zu folgen  – sofern diese Kriege vor ­allem die Sache der deutschen Einheit voranbrächten und sofern das preußische Königtum sich dabei auf das Volk stützen und in seinem Na­ men handeln werde. Eben deshalb hatte er «dringend» um eine weitere Audienz ersucht, um dem Ministerpräsidenten seine Vorstellungen für das (wie er an­ nahm, schon in Vorbereitung befindliche) Wahlgesetz vorzutragen. In ­einer Denkschrift, die er nachreichte, erläuterte er ihm seine «Zauber­ rezepte zur Verhütung der Wahlenthaltung wie der Stimmenzerbröcke­ lung» – Bedenken, die Bismarck ihm gegenüber offenbar geäußert hatte und die ganz den geläufigen Begründungen für das Dreiklassenwahl­ recht entsprachen. In den «Punktationen» Lassalles wird allerdings eine Demokratievorstellung erkennbar, die sich rechtlich und praktisch weit von der der bürgerlichen Liberalen unterschied. Daraus wird auch klar, warum Lenin dieses Erbe später hochhielt. Fast könnte man tatsächlich an sowjetische Wahlen denken, wenn Las­ salle schrieb: «Das Land wird in arithmetische Wahlbezirke aufgeteilt, deren kleinste Einheit 500  Wähler umfasst. Die Kandidaten bewerben sich persönlich um ihre Wahl. Es treten private und Regierungskandida­ ten auf … Alle Wähler erscheinen zum Wahlakt in geschlossenen Forma­ tionen, da der Aufruf zur Ausübung des Wahlaktes in alphabetischer Reihenfolge geschieht  … Verletzung der Wahlpflicht wird mit Entzie­ hung der bürgerlichen Ehrenrechte geahndet.» 53 Als Bismarck sich weiteren Gesprächen verweigerte, während die diplo­ matischen Spannungen immer offensichtlicher auf einen begrenzten Krieg gegen Dänemark, vielleicht auch schon einen großen europäischen Krieg

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zusteuerten, übermittelte Lassalle ihm noch einmal «aus der Tiefe meiner Seele» die dringende Warnung: «Sie müssen das allgemeine und direkte Wahlrecht vor dem Krieg geben, denn sie können es weder während des­ selben noch nach demselben geben.» Andernfalls werde man das entwe­ der als Zeichen der Schwäche auslegen, oder ein verspätet gewährtes Wahlrecht werde sich «in eine Position gegen Sie verwandeln».54 So ernst diese Warnungen sicherlich gemeint waren, so deutlich hatten sie einen Zug des Aufdrängens – oder auch Drohens. Tatsächlich kam, was Lassalle für unausweichlich hielt. Bismarck unterbreitete den deutschen Regierun­ gen am 10. Juni 1866, unmittelbar vor dem Ausbruch des Deutschen Krie­ ges, die Grundzüge einer neuen Bundesverfassung, zu der das allgemeine Wahlrecht gehörte. Es ging ein in die Verfassung des Norddeutschen Bun­ des von 1867 und darüber in die Reichsverfassung von 1871. In seinen letzten Reden, so in der als «Vermächtnis» bezeichneten gro­ ßen Ansprache auf dem Stiftungsfest des ADAV am 23. Mai 1864, war Lassalle in diesem Drängen noch einen Schritt weiter gegangen. Seine Rede spitzte sich auf ein angebliches «Versprechen» des preußischen ­Königs zu, welches dieser einer Delegation schlesischer Weber gegeben habe: nämlich «dass er Seine Minister angewiesen habe, eine gesetzliche Abhülfe, so weit sie möglich ist, schleunig und mit allem Ernst vorzu­ bereiten». Daraus schloss Lassalle, dass dieses königliche «Versprechen» die Anerkennung des Prinzips beinhalte, dass eine «Regelung der Arbei­ terfrage» nicht, wie in der liberalen Ökonomie und Politik, dem «Spiele der freien Konkurrenz» überlassen bleiben dürfe, sondern «durch die Gesetzgebung erfolgen soll, und zwar möglichst baldig». Zugleich aber habe «der König  … innerlich auch bereits das allgemeine und direkte Wahlrecht versprochen». Dieses Versprechen sei «durch die Kraft der Logik» in der königlichen Zusage mit enthalten – und nun nicht mehr zurücknehmbar. In dem zitierten Veranstaltungsbericht heißt es an dieser Stelle: Die «Versammlung, welche diesem ganzen letzten Teil der Rede in einer ­unglaublichen Spannung … zugehört hatte, bricht hier in einen nicht zu beschreibenden Jubel aus». Nach mehreren Anläufen zu sprechen habe Lassalle schließlich erklärt: «Welcher Verein, frage ich, kann, seitdem die Welt steht, solche Erfolge als Resultate eines Jahres aufweisen? Die Arbeiter, das Volk, die Gelehrten, die Bischöfe, den König haben wir ­gezwungen, Zeugnis abzulegen für die Wahrheit unserer Grundsätze!»55 Man kann in diesem Agieren Lassalles durchaus eine revolutionäre

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Realpolitik allergrößten, freilich phantastischen Zuschnitts sehen. Zwei­ fellos war sie von persönlichen Machtambitionen beflügelt: Warum sollte ein «soziales Königtum» nicht auch einen Minister oder Regie­ rungschef Lassalle beauftragen können? Und wie sehr diese sozialdemo­ kratische Partei, die es noch gar nicht gab, in seiner Vorstellung bereits mit dem Volk in eins gesetzt war, und wie unmittelbar für ihn dieses ganze, letzte annus mirabilis seines Lebens an ein Pfingstwunder grenzte, in welchem der Fingerzeig des Schicksals auf ihn als den Mann der Vor­ sehung wies, wird deutlich, wenn man Lassalles Bericht an Sophie von Hatzfeldt von dieser letzten großen Heerschau liest: «Hier war nicht mehr von einem Parteifest oder von einer Parteiversammlung die Rede. Die ganze Bevölkerung war in namenlosem Jubel … Ich hatte beständig den Eindruck, so müsse es bei der Stiftung neuer Religionen ausgesehen haben!  … Kommt es wirklich einmal zum allgemeinen und direkten Wahlrecht, so ist in solchen Gemeinden wie Wermelskirchen, Ronsdorf, Solingen nicht von Majorität, sondern von Unanimität [Einstimmigkeit] die Rede. Mann für Mann würde die Bevölkerung ausziehen, um für ­jeden zu stimmen, den ich ihnen bezeichne.»56 Stattdessen fuhr er in die Schweiz, bedrängte das Mädchen, provo­ zierte die Duellforderung, lehnte alle Vermittlungen ab, ließ sich erschie­ ßen und wurde zum Märtyrer – und dadurch erst zum wirklichen «Stif­ ter» einer deutschen und indirekt einer europäischen Sozialdemokratie.

4. Fülle des Lebens

Traum und Schrecken der Emanzipation

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ass der Kommunismus auf die «Weibergemeinschaft» hinauslaufe, weil die Aufhebung des bürgerlichen Privateigentums auch die «Auf­ hebung der Familie» impliziere, war eines der geläufigsten Vorurteile, auf das Sozialisten und Kommunisten von Beginn an regelmäßig trafen – so wie alle religiösen oder revolutionären Gruppen vor ihnen, die in Gü­ tergemeinschaft oder Kommunen lebten. Im «Kommunistischen Manifest» gab Marx diesen Vorwurf mit über­ legener Verachtung an die Bourgeois-Spießer zurück: Indem sie die Frauen in ein «reines Produktionsinstrument» verwandelten, proletarische Mädchen und Kinder in Fabriken ausbeuteten und zum Freiwild mach­ ten, ihre Ehen durch den Schacher um Besitz- oder Erbansprüche ent­ weihten, hätten sie (die Bourgeois selbst) die Familie als Institution ­untergraben. Die Kehrseite ihrer offiziellen Wohlanständigkeit sei die allgegenwärtige Prostitution, ergänzt um die wechselseitige Verführung der Ehefrauen – die gerade die bürgerliche Lebensordnung zur «Gemein­ schaft der Ehefrauen» mache!1 Diese etwas bemühte Retourkutsche sprach die projektiven Urängste der Bürger vor den Frauen an, sobald diese die engere häusliche Sphäre verließen und von Objekten zu Subjekten mutierten. Der Verdacht ge­ genüber den Kommunisten galt der Enthemmung und Entfesselung der Frauen, wie Friedrich Schiller sie im «Lied von der Glocke» ausgemalt hatte: «Freiheit und Gleichheit! hört man schallen, / Der ruh’ge Bürger greift zur Wehr, / Die Straßen füllen sich, die Hallen, / Und Würgerban­ den ziehn umher. / Da werden Weiber zu Hyänen / Und treiben mit Ent­ setzen Scherz, / Noch zuckend, mit des Panthers Zähnen, / Zerreißen sie des Feindes Herz. / Nichts Heiliges ist mehr, es lösen / Sich alle Bande frommer Scheu, / Der Gute räumt den Platz dem Bösen, / Und alle Laster walten frei.» In seinem Buch «Die Gemeinwirtschaft» (das ein wissenschaftlicher Nachweis der «Unmöglichkeit des Sozialismus» sein sollte) hat Ludwig von Mises, der Verfechter einer fundamental-liberalen Welt- und Lebens­

4. Fülle des Lebens

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ordnung, 1922 den alten Vorwurf einer Entfesselung des Sexus noch ein­ mal neu aufgenommen: «Mit dem sozialistischen Gedanken der Verge­ sellschaftung der Produktionsmittel gehen seit altersher Vorschläge zur Umgestaltung der Beziehungen zwischen den Geschlechtern Hand in Hand.» Der moderne Sozialismus gewinne seine Attraktivität nicht zu­ letzt dadurch, dass er das «Liebesglück für alle» verheiße und die «freie Liebe» proklamiere. Mises erklärt diese angeblichen Versprechungen mit einem anthro­ pologischen, vage freudianischen Argument: Jede gesellschaftliche Ord­ nung beruhe auf der Hinlenkung «der alles Menschliche beherrschenden Sexualität … auf neue Ziele, die der Menschheit im Laufe der Kultur­ entwicklung erwachsen». Jeder Einzelne müsse deshalb «in seinem Innern die seelischen Mächte aufbauen, die dem Sexualtrieb als Hemmnisse in den Weg treten». Da die Versagung eines solch starken Triebwunsches große Leiden schaffe, hätten Gesellschaftsreformer seit jeher «das Lob der saturnischen Zeiten der Eigentumslosigkeit ertönen lassen», also ­jenes Goldenen Zeitalters im Zeichen Saturns (Kronos), dem in römi­ scher Zeit in den «Saturnalien» gehuldigt wurde, in einer orgiastischen Überschreitung der sozialen wie sexuellen Beschränkungen. Mit dem unerfüllbaren Versprechen der Rückkehr in einen glücklicheren «Urzu­ stand» laufe der Sozialismus somit auf nichts anderes als auf die Annul­ lierung der bisherigen Zivilisationsentwicklung hinaus.2 So anachronistisch und weltfremd diese Argumentation wirkt  – sie berührt immerhin einen Punkt, der eine ernstere Betrachtung verdient. Dass Bebels Sozialdemokratie alles andere als ein Hort «saturnischer» Liebes- und Glücksversprechen war, dass im Gegenteil gerade der Kapi­ talismus im 20. Jahrhundert die (weibliche) Sexualität in natura wie in ihren Surrogaten zu einer überall gehandelten Ware machte, sie in diesem Sinne «vergesellschaftete» und seine Saturnalien eigener Art fei­ erte, war im Fin de siècle vor 1914 eigentlich schon deutlich geworden. Mises’ Argument wäre in weiterer historischer Perspektive fast umzu­ kehren: Eher waren und sind es die Verfechter eines kapitalistischen Konsumismus, die mit vielfach kulturfeindlichen Glücksversprechen handeln, während Sozialisten und Kommunisten von Beginn an bemüht waren, die Eigendynamik menschlicher Triebwünsche und Emanzipa­ tionsbegehren auf ihre Weise zu sublimieren und zu kultivieren – oder auch zu domptieren, indem sie diese Fragen und Bestrebungen pro­ grammatisch dem Ziel der bevorstehenden großen Emanzipation des Proletariats nachordneten. Ohne Sozialismus gab es für sie keine wirk­

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liche Emanzipation, weder der Frauen noch anderer unterdrückter Teile der Gesellschaft. Immerhin haben die Sozialisten (jedenfalls die marxistischer Prägung) alles, was unter den Sammelbegriff Frauenfrage oder Geschlechterfrage gefasst wurde, relativ vorurteilslos erörtert und in ihren Katalog der ­notwendigen politischen und gesellschaftlichen Emanzipationen aufge­ nommen  – mit einer Entschiedenheit, wie sie nur wenige Liberale des 19. Jahrhunderts, von Ausnahmegestalten wie John Stuart Mill abgese­ hen, aufgebracht haben. Insoweit zählten Sozialisten zu den Vorkämp­ fern einer neuen Welt, die die selbstverständliche Beherrschung der Men­ schen durch das Geschirr christlicher Zwangsgedanken abschwächte und in eine Reihe neuer, säkularer Bindungen transformierte, die sich auf Naturrechte und kulturelle Traditionen, auf die Verpflichtungen der Familie, des Standes oder der Klasse beriefen – welche damit allerdings auf ihre Weise geheiligt wurden. Dass solche säkularen Erbschaften und Bande ihrerseits belastend und neurotisierend wirken können, da nie­ mand mehr befugt ist, Absolution zu erteilen, steht auf einem anderen Blatt. In dieser «Ambivalenz der Moderne» hat sich der Marxismus wie kaum eine andere Sozial- und Kulturtheorie seither bewegt. Auf der einen Seite hat Marx die kapitalistische Produktionsweise als eine große, revolutio­ näre Entbindung gepriesen, als das Werkzeug einer historisch überfäl­ ligen, allerdings erzwungenen Emanzipation. Aber zugleich konnte er nicht übersehen, dass mit dieser Entbindung und Profanierung auch ­moralische Verkehrungen und kulturelle Regressionen einhergingen, die seine Befürchtungen über die tendenziell verheerenden Wirkungen die­ ser Produktionsweise verstärkten. Das war der Grund, warum Marx im «Manifest» wie schon in seinen ersten Pariser Manuskripten einen «rohen Kommunismus», in dem Vor­ stellungen einer Gütergemeinschaft sich durchaus mit solchen einer ­sexuellen Vergemeinschaftung latent verbinden konnten, schroff zurück­ wies und als «reaktionär» bezeichnete. An was er dabei genau gedacht haben mag, bleibt allerdings unklar. Fourier (den Mises für den Urheber der sozialistischen Glücksversprechen hielt) mochte man in erotischen Fragen als «Kommunisten» bezeichnen – aber in kaum einem anderen Sinne. Die libertären Ursprungsmilieus des Babouvismus lagen großteils im Dunklen, und in der von Buonarotti überlieferten Fassung war der Entwurf einer «Gesellschaft der Gleichen» eher schon das Gegenteil

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e­ iner Welt der «freien Liebe». Allenfalls gewisse Bohème-Milieus, die die sozialistischen und kommunistischen Gruppen, vor allem in der Emigra­ tion, umlagerten, konnten gemeint sein. Dass die «Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau» die erste und be­ deutendste aller historischen Arbeitsteilungen gewesen sei, gehörte zu den Axiomen einer materialistischen Geschichtsschau marxistischen Zu­ schnitts. Aber dieser nüchterne, auf die jeweiligen Produktionsverhält­ nisse konzentrierte Begriff erfasste schwerlich das religiös ummantelte, von elementaren Leidenschaften und «raptiver Gewalt» geprägte Arka­ num, das sich von allen Anfängen an um die menschliche Sexualität und Fortpflanzung gebildet hat bis hin zum factum brutum, dass ein Gutteil archaischer Stammeskriege sich um den Raub von Frauen gedreht haben dürfte, so sehr wie um Land, Wasser, Vieh oder Sklaven. Alle Formen ­einer menschlichen Gesellschaftsbildung haben sich außer um Nahrungs­ beschaffung und andere elementare Sicherungen der physischen Existenz noch stets um die Reproduktion zentriert. Erst seit Sexualität und Fortpflanzung sich in den 60 er Jahren des 20. Jahrhunderts in einigen westlichen Ländern entkoppelt haben, in ­allerjüngster historischer Zeit also, konnte dieser Zusammenhang aus dem Blickfeld rücken, kann die Frage einer weiblichen Emanzipation an­ ders und neu und vielleicht zum ersten Mal wirklich gestellt werden – während sie sich gleichzeitig als das schwierigste, weil am tiefsten grei­ fende Konfliktthema unserer Zeit erweist, von den «cultural wars» in den USA über die fanatische russische Neo-Orthodoxie bis hin zum radi­ kalen Islamismus. Deshalb haben auch alle Versuche, die dissoziieren­ den Tendenzen einer gesteigerten Lebens- und Reichtumsproduktion zu bändigen und zu Formen einer scheinbar natürlichen, organischen und stabilen Gesellschaft «zurück»zukehren, von jeher und mit logischer Konsequenz dazu geführt, dass neben den Macht- und Besitzverhältnis­ sen auch die Geschlechterverhältnisse zu ­regulieren waren. Viele lose Enden unserer bisherigen Darstellung kommen an dieser Stelle mit ins Bild, die aufzunehmen und zu verknüpfen hier zu weit führen würde: Platons aristokratisch-kommunistische «Politeia» und ­ das christliche Doppelpaar von «avaritia» und «luxuria», der Zölibat des katholischen Klerus und Luthers Lob der christlichen Ehe; Morus’ sittlich-patriarchales «Utopia» und Campanellas christlich-szientistische Diktatur der Fortpflanzungsbeamten; Restifs regressive Kommunion mit dem weiblichen Gesamtkörper der Stadt Paris und Babeufs/Buonarottis

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strenger Kodex der Züchtigkeit im öffentlichen Raum als natürliche Be­ dingung der «großen Gemeinschaft». Für Marx waren das alles Formen einer «rohen» und daher reaktionä­ ren Vergemeinschaftung. Wenn er gerade in der individuellen, freien Lie­ besbeziehung zwischen Mann und Frau einen Vorschein des Kommunis­ mus sah, dann weil die Aufhebung der «Arbeitsteilung» zwischen den Geschlechtern der logische geschichtliche Schlusspunkt der Überwin­ dung von Ausbeutung und Entfremdung überhaupt wäre. Diese «Auf­ hebung» würde keine Egalisierung der Differenzen bedeuten, wie es die heutige Lösung eines «gender mainstreaming» zumindest nahelegt, son­ dern im Gegenteil die aparten Charaktere, Begabungen und Bestimmun­ gen von Männern wie von Frauen, wie überhaupt von jedem einzelnen Menschen herausarbeiten.

Liebesschlachten, Lebenskämpfe Nicht in einem körperlosen Ideenraum, sondern im Mischkessel leben­ diger, höchst zeitspezifischer Wünsche, Affekte und Eindrücke sind die Bewegungen und Theorien, mit denen wir es hier zu tun haben, entstan­ den. Noch die exzentrischsten Selbstdarstellungen derer, die sich zu ihren Fahnenträgern machten, wie etwa ein Ferdinand Lassalle in seinen wech­ selnden Rollen eines philosophischen Casanova, eines edlen Ritters in den «Farben einer Dame», eines jüdischen David gegenüber e­ inem preu­ ßischen Goliath, eines universalen Geistes (auf der Höhe von Marx), aber zugleich auch eines revolutionären Redners (der der lispelnde Marx nicht war) – sie alle verraten uns auch etwas über die Empfänglichkeit und die Gemütslage der Zehntausenden, die ihren Helden gefolgt sind. Dabei leuchtete Lassalles Nimbus vor dem Hintergrund der skandalö­ sen Beziehung mit der älteren Gräfin Hatzfeldt offenbar erst recht; wäh­ rend diese ihrerseits stolz und mit allen Konsequenzen die Rolle einer Frau für sich beanspruchte, die, befreit aus wahrhaft unsittlichen Kon­ ventionen, wie eine Löwin für ihre Ehre, die Obhut über ihre Kinder und ihren Anteil am Vermögen kämpfte – was ihr über moralische Unterstüt­ zung hinaus etwas sicherte, das man auch damals schon mediale Promi­ nenz hätte nennen können. Der Fall setzte neue Maßstäbe einer «Unbür­ gerlichkeit», die zum Ausweis einer Avantgarde-Position wurde. Diese Selbstentwürfe gehörten mit zum «Generationsstil» der 48 er. Vieles kann man zur Erklärung ins Feld führen: das Erbe der Romantik

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und die Bigotterie der herrschenden Gewalten; die revolutionären Er­ schütterungen zwischen 1830 und 1848 und den Anspruch jeder aktiv beteiligten Gruppierung, sich als «jung» zu deklarieren; eine zuneh­ mende Durchmischung von adeligen, bürgerlichen und proletarischen Milieus usw. Alles kommt jedenfalls in dem Befund zusammen, dass die Motive eines beflügelten Eros und einer von Konventionen befreiten ­individuellen Liebesbeziehung zu den stillen, aber machtvollen Antrieben der sozialen Emanzipations- und Befreiungsbewegungen des Zeitalters gehört haben. Die frühsozialistischen und revolutionär-demokra­tischen Bewegungen in Europa waren neben allem anderen immer auch Experi­ mentierfelder neuer, freierer und notfalls eben «skandalöser» Liebesund Geschlechterbeziehungen; das würde sich in den Exilmilieus der 1850/60 er Jahre noch intensiver und teilweise dramatischer fortsetzen. Da war etwa das große Drama, das der britische Russland-Historiker E. H. Carr 1933 in seinem Frühwerk «Romantiker der Revolution», Familienroman aus dem 19. Jahrhundert» entrollt ­einem «russischen ­ hat: die am Ende tödliche Vierecksgeschichte zwischen Alexander und Natalie Herzen auf der einen und Georg und Emma Herwegh auf der anderen Seite. Eine Vielzahl anderer Personnagen, die uns hier interessie­ ren könnten, kommen in dieser langen, bewegten Geschichte mit ins Bild: Herzens Blutsbruder Nikolai Ogarjow und seine Frau Marija; der mit Geist, Charme und Genie überall Chaos säende, womöglich eher homophile Anarcho-Kommunist Michail Bakunin; oder der Pusch­ ­ kin-Herausgeber Pawel Annenkow, der als Konfident von Marx in die Gründung des «Kommunistischen Bundes» mit verwickelt war – so wie Georg und Emma Herwegh das bis 1848/49 auch waren. Die Beset­ zungsliste dieses gesamt­europäischen Exildramas lässt sich fast beliebig um prominente Namen erweitern, von Richard Wagner, als er noch De­ mokrat und 48 er-Revolutionär war, über Gottfried und Johanna Kinkel, die zu den Schlüsselfiguren der Londoner Emigration und dann dort zu den Antipoden von Marx gehörten, bis hin zu Malwida von Meysenbug, die noch eine längere ­politische und intellektuelle Karriere als Frauen­ rechtlerin und Demokratin vor sich hatte. Dies letztere galt auch wieder für Emma Herwegh, die in der fatalen Affäre ihres Mannes mit Natalie Herzen die Gekränkte wie die kühle Mitspielerin war. Diese Geschichte mit ihren Intrigen und Duellen, Prozessen und Selbst­ morden, die zeitweise zu einer europäischen cause célèbre wurde, hatte Balzac’sches Format. Solche verzehrenden emotionalen Fieberschübe ­gehören mit in das Bild einer Schwellenzeit, in der, wie Carr schreibt,

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«Romantik und Revolution» eine im Grunde schon verspätete, dafür aber umso intensivere Verbindung eingingen. Während in England, ab­ gesehen von Außenseitern wie Byron und Shelley, die Romantik sich «auf die Verehrung der Natur und die Befreiung der Literatur aus der toten Hand der Konvention» beschränkt habe, habe sie auf dem Konti­ nent «der menschlichen Natur und der Befreiung des Individuums vom Joch des moralischen und politischen Absolutismus» gehuldigt und ge­ dient – nur um in den Geheimzirkeln Russlands und im Milieu seiner Emigranten in den 1850/60 er Jahren «eine letzte, spezifisch russische Blüte» zu treiben.3 Die Prophetin und Ikone einer neuen Liebesreligion war die unter ­einem Männernamen und gern auch in Männerkleidung auftretende französische Romancière George Sand, die «in ihrer Person die revolu­ tionäre Idee der Frau verkörpert», wie Herzen in einem verzweifelten Brief an einen ihrer Vertrauten mit Bitte um Vermittlung schrieb. Sand hatte in ihren Schriften und Erzählungen den misanthropen Rousseau kurzerhand vom Kopf auf die Füße gestellt. Dessen Imperativ, der unver­ dorbenen eigenen Natur zu folgen, einer Natur freilich, die für die Frauen nur Mutterinstinkte und Sorge für die Kinder vorsah, hatte sie in einen eigenen, umgekehrten Imperativ verwandelt: der Liebe als der höchsten Form der Tugend ihren freien Lauf zu lassen. Nicht die Lie­ bende als die vermeintliche Sünderin (sie sprach vor allem zum weiblichen Publikum) müsse erröten, sondern diejenige, die diese «heilige Flamme hat verlöschen lassen» – eine Haltung, die Sand als femme fatale auch sichtbar vorlebte, ohne darüber ihre Karriere als europäische Erfolgs­ autorin und (zeitweise) sozialistische Agitatorin für einen Moment zu vernachlässigen. Üble Nachrede und Gehässigkeiten, die sie jederzeit be­ gleiteten, gehörten wesentlich mit zu ihrer Aura. Marx verfolgte den Skandal um Herzen und Herwegh, wie alle Querelen in der Emigration, mit einer Mischung aus Schadenfreude und Verach­ tung, nicht ohne sich mit Engels daran zu delektieren: Der tumbe Herzen schicke jetzt überall Brandbriefe gegen Herwegh herum, «der ihm nicht nur Hörner aufgesetzt, sondern auch 80 000 Francs abgepresst hat».4 Im selben Brief klagte er, dass seine eigene «Familienscheiße» ihm nicht ge­ nug Zeit zum Arbeiten lasse – was einen Hinweis an Engels auf die an­ gespannte Lage der Familie Marx enthielt. Er musste Zeitungsartikel schreiben, um Geld zu verdienen, und kam mit seinen politisch-ökono­ mischen Studien nicht voran. Dieses Leben stellte seine Version der

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r­ omantischen Liebe und erst recht die seiner Frau, die sich mit Haut und Haar seinem Lebensprojekt verschrieben hatte, auf harte Proben. «Mein Mann hat mich heute zu seinem Stellvertreter ernannt und so trete ich denn meine Funktionen als secrétaire intime in aller Eile an», schrieb ­Jenny Marx im Oktober 1852 an Adolf Cluß, einen der nach Amerika übersiedelten Gefährten.5 Und: «Sie können sich denken, dass die ‹Partei Marx› Tag und Nacht tätig ist und mit Kopf, Händen und Füßen zu ­arbeiten hat.»6 In ihrer kleinen Wohnung sei jetzt ein richtiges Büro eta­ bliert; und inmitten dieses Treibens «singen und pfeifen meine 3 fidelen Kinder und werden oft hart angerannt von ihrem Herrn Papa».7 Dass sie ab jetzt tatsächlich als das Sekretariat der «Partei Marx» zu fungieren begann, eine Rolle, in die ihre drei Töchter Jenny, Laura und Eleanor später auch hineinwachsen würden, mochte eine gewisse Kom­ pensation dafür gewesen sein, dass in den Vorjahren abermals zwei Kin­ der gestorben waren. Gleichzeitig hatte Helene Demuth, die aus Deutsch­ land mitgebrachte blutjunge Haushälterin, im Juni 1851 ein Kind ­bekommen. Ein später in der Sozialdemokratie umlaufendes Gerücht, das auch in viele Biografien Eingang gefunden hat, lautete: Engels habe cheva­lereskerweise die Vaterschaft übernommen und auf dem Totenbett dann preisgegeben, dass tatsächlich Marx der Kindsvater gewesen sei. Da­raufhin habe Eleanor, die letzte Überlebende der Familie, Kontakt zu diesem Frederick Demuth aufgenommen, der bei einer Pflegefamilie auf­ gewachsen war. Einer näheren Überprüfung hält diese Version allerdings kaum stand.8 Für Jenny Marx war der Fall so oder so dramatisch genug, da «Len­ chen» Demuth eine Säule der auf engem Raum zusammenlebenden Fa­ milie Marx war und das lebenslang blieb. Schon aus Gründen der Kre­ ditwürdigkeit hätte sie sich nicht einmal den Anschein eines solchen ­Verdachts leisten können. Eine Passage ihrer späteren Erinnerungen kann als eine Andeutung verstanden werden, wen sie ihrerseits im Verdacht hatte: Willich habe sich gleich nach seiner Ankunft in London bei ihnen häuslich eingenistet und sei schon frühmorgens «als echter Don Qui­ jote» (man liest: Don Juan) «mit einem roten Tuch statt Gürtel um die Taille gebunden und mit preußischem Wiehern in unserm Schlafzim­ mer» aufgetaucht, «um sich in lange theoretische Debatten über den so ‹natürlichen› Kommunismus des breitesten zu ergehen» (mit anderen Worten: über den sexuellen Kommunismus) – sei aber weder bei Marx noch bei ihr (Jenny) angekommen, «als er versuchen wollte, den Wurm, der in jeder Ehe stecke, auch bei uns herauszulocken».9

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Alle Prüfungen und Belastungen haben die Familie Marx nur inten­siver zusammengeschweißt. Die Töchter haben sich dem Bann dieser Kindheit nur schwer entziehen können; ihre späteren tragisch-zerrütteten Lebensund Liebesgeschichten (alle heirateten sozialistische Akti­visten und Theo­ retiker, mehr oder weniger gegen den Widerstand ihres Vaters, der von seinen Schwiegersöhnen keine hohe Meinung hatte), könnten an die Le­ bensgeschichten der Familie Mann erinnern – wäre Marx als Vater nicht doch das Gegenteil eines entrückten Patriarchen gewesen. Alle trugen sie familiäre Spitznamen: Marx war «Mohr», Mutter «Mome», Lenchen «Nim», Jenny «Quiqzi, Kaiserin von China» oder auch «Di», Laura war «Hottentot» oder «Kakadu», und Eleanor wurde «Tussy» gerufen oder «Zwerg Alberich». Sie bekamen als Gutenacht­ geschichten aus Homers «Odyssee», dem Nibelungenlied, dem «Don Quijote» oder aus Shakespeare-Dramen vorgelesen. Und wie sollte ein Kind wie die Jüngste, Tussy, sich jemals von einer Erinnerung an den ­Vater lösen wie zum Beispiel dieser: «Kinder konnten sich keinen besse­ ren Gesellschafter wünschen  …. In der Tat hat er einige Kapitel des ‹Achtzehnten Brumaire› in … seiner Eigenschaft als Hühpferd seiner drei kleinen Kinder geschrieben, die hinter ihm auf Stühlen saßen und auf ihn lospeitschten.»10 Warum Laura und Eleanor Marx nach dem Tod ihrer Eltern beschlos­ sen, das Gros der Briefe zu verbrennen, die Marx und seine Frau in den kurzen Zeiten ihrer Trennung gewechselt haben, muss offen bleiben. Vielleicht enthielten sie Lästereien über Köpfe der Sozialdemokratie, vielleicht sogar über den Freund Engels. Aber vielleicht waren sie auch einfach zu intim. Der einzige erhaltene Brief von Marx an «Mein Her­ zensliebchen» vom Juni 1856 zeigt den großen Hassenden zugleich als einen großen Liebenden. Seiner zu ihrer sterbenden Mutter nach Trier gereisten Frau, die jetzt 42 Jahre alt war und ihm sechs Kinder geboren hatte, von denen drei überlebt hatten, und die im Jahr darauf ein siebtes, letztes, totgeborenes Kind zur Welt bringen würde, hat er darin ein über­ schwängliches Liebesgeständnis gemacht: «Ich habe dich leibhaftig vor mir u. trage dich auf den Händen u. küsse dich von Kopf bis Fuss u. falle vor dir auf die Knie u. ich stöhne: ‹Madame, ich liebe Sie.› Und ich liebe Sie in der Tat, mehr als der Mohr v. Venedig je geliebt hat.»11 Keine Familie und keine Partei Marx ohne Engels – der unverzichtbar dazugehörte, aber auch seine Abstände hielt, schon weil Jenny Marx ­ihrerseits zu ihm und zu seiner Lebenssphäre auf Abstand blieb, auch im

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formalen «Sie» ihrer Anreden. Offiziell war Engels Junggeselle; und als solcher firmierte er in den Clubs der «guten Gesellschaft» in Manchester, in denen er rege verkehrte. Dass er in einem zweiten, davon völlig ge­ trennten Leben Revolutionär und Kommunist war, mit allerhand dunk­ len Gestalten verkehrte und unter seinem eigenen Namen eine Menge radikaler Texte publizierte, scheint man als Privatspleen des ansonsten umgänglichen Gesellschaftslöwen vornehm ignoriert zu haben  – was ­immerhin einen Grad bürgerlicher Liberalität zeigt, den man erstaunlich finden kann. Sehr viel anstößiger wäre es womöglich gewesen, hätte man offiziell zur Kenntnis genommen, dass Mister Engels mit einer iri­ schen Geliebten und deren Schwester in wechselnden, auf seinen Namen angemeldeten Wohnungen zusammenlebte, jedenfalls wenn er spät am Abend aus seiner offiziellen Wohnung, in der er schrieb und empfing, he­ rüberkam.12 Über Mary und Lizzie Burns ist bis heute fast nichts bekannt; auch weil sie offenbar ganze oder halbe Analphabetinnen waren und in einer Welt ohne schriftliche Zeugnisse lebten – wie in einer Gegenwelt zu der ihres Patrons, Liebhabers und Mannes, der er für sie beide (wohl nach­ einander) gewesen ist. Nur wenige von Engels’ Bekannten in Manchester oder London scheinen die beiden Frauen persönlich gekannt zu haben, was der Sache einen unangenehmen Geschmack gäbe, wäre nicht ver­ bürgt, dass die beiden Schwestern Burns ihre eigene Lebenssphäre hat­ ten. Vor allem scheinen sie in einer mehr oder weniger regen Beziehung zur irischen Unabhängigkeitsbewegung gestanden zu haben.13 Mary Burns hatte Engels bei seinem ersten Aufenthalt in Manchester 1843 als Praktikant in der Firma seines Vaters kennengelernt. Die etwa Zwanzigjährige wurde seine Geliebte, war seine Führerin bei den Streif­ zügen durch die Arbeiter- und Elendsquartiere der Stadt, die er in seinem ersten Buch über «Die Lage der englischen Arbeiterklasse» so überaus eindringlich, allerdings mit deutlichen Anflügen von Abscheu, beschrie­ ben hat. Marx muss bei einer gemeinsamen Erkundungsfahrt mit Engels in die Welt der modernen Industrie nach Manchester 1845 Mary Burns kennengelernt haben. Als Engels in Brüssel zurück war, scheint er sie ­einige Male dorthin geholt zu haben; und er wird sie seinen Freunden als das Modell einer freien, schönen, unverbildeten, dazu noch irisch-exo­ tischen Proletarierin vorgeführt haben, die sich aus dem Elend empor­ gearbeitet habe. Ob Georg Weerths Gedicht «Mary» von 1845 (er selbst lebte damals in einem Vorort von Manchester) von ihrem Bild inspiriert war, ist fraglich, aber möglich; und wenn, war es ziemlich zweideutig.

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«Von Irland kam sie mit der Flut, / Sie kam von Tipperary; / Sie hatte war­ mes, rasches Blut, / Die junge Dirn, die Mary.» Von den Matrosen und Männern, die ihr nachpfiffen und denen sie auf dem Markt ihre Orangen verkaufte (damals eine anzügliche Metapher), nahm und sparte sie das Geld, das sie nachhause schickte  – an die irischen Unabhängigkeits­ kämpfer nämlich: «Das schenk ich euern Kassen! /Auf schärft den Säbel und das Beil! / Und schürt das alte Hassen!»14 Bei den meisten seiner Genossen stieß Engels allerdings auf offene Missbilligung, nicht zuletzt bei Frau Marx, die es auf dem Silvesterball in Brüssel an der Schwelle zum Revolutionsjahr 1848 abgelehnt haben soll, «Engels mit seiner  – Dame» an ihrem Tisch zu sehen. So hat es ­jedenfalls Stephan Born, damals Mitglied des «Bundes» und Monate später Gründer der ersten «Arbeiterverbrüderung» in Berlin, in seinen «Erinnerungen eines Achtundvierzigers» überliefert. Born selbst missbil­ ligte Engels’ Verhalten im Übrigen auch: «Es war jedenfalls überkühn von Engels, durch die Einführung seiner Maitresse in diesen meist von Arbeitern besuchten Kreis an einen, den reichen Fabrikantensöhnen so oft gemachten Vorwurf zu erinnern, dass sie die Töchter des Volkes in den Dienst ihrer Freuden zu ziehen wissen.»15 Engels muss ihr gleichwohl tief verbunden gewesen sein; von all den Liebschaften früherer Jahre war keine Rede mehr, seit er 1851, von Brüs­ sel nach Manchester zurückgekehrt, die Beziehung wieder aufnahm. Als Mary 1863 starb, gab es prompt die einzige, wirklich ernsthafte Krise in der Beziehung mit Marx, der nur in kurzer, etwas herablassender Form sein Beileid bekundete («Sie war sehr gutmütig, witzig und hing fest an Dir»16) – um sogleich wieder zu den dringenden Geldverlegenheiten sei­ ner Familie überzugehen. Engels reagierte gallenbitter, ließ sich durch Marx’ wortreiche Erklä­ rungen seiner Lage und Bekundungen des Mitgefühls (auch namens ­seiner Frau) allerdings am Ende doch umstimmen, nicht ohne seine Ver­ letzung zu erklären: «Man kann nicht so lange Jahre mit einem Frauen­ zimmer zusammen leben, ohne ihren Tod furchtbar zu empfinden. Ich fühlte, dass ich mit ihr das letzte Stück meiner Jugend begrub. Als ich Deinen Brief erhielt, war sie noch nicht begraben. Ich sage Dir, der Brief lag mir eine Woche lang im Kopf, ich konnte ihn nicht vergessen. Never mind, Dein letzter Brief macht ihn wett, und ich bin froh, dass ich nicht auch mit der Mary gleichzeitig meinen ältesten & besten Freund verlo­ ren habe. – Nun zu Deinen Angelegenheiten …»17 Noch im selben Jahr liierte er sich offenbar mit Lizzie (Lydia), der jün­

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geren Schwester, und lebte mir ihr und einer jungen, ziemlich nervigen Nichte namens Mary Ellen (für die er sorgte) bis zu ihrem Tod 1878 zu­ sammen; nach seiner Übersiedlung nach London 1870 auch ganz offi­ ziell. Um ihre Seele als gute Katholikin, die sie offenbar geblieben war, zu erleichtern, ließ er sich sogar auf dem Totenbett mit ihr trauen. So gibt es keinen Grund, von diesem ganzen Lebensarrangement niedrig zu den­ ken, trotz seiner eher prosaischen als romantischen Seiten, und trotz des übergroßen geistigen und sozialen Gefälles – wie es zum Proletariat um ihn herum eben auch bestand. Bis zu seiner Auszahlung als Teilhaber 1870 war der Sozialist und Re­ volutionär Engels immerhin ein praktizierender Kapitalist. Die Distanz, die das zu allen Gewerkschaftern und Sozialisten um ihn herum schuf, war ihm sehr bewusst. Die Arbeitsbedingungen bei Ermen & Engels scheinen etwas besser, aber nicht viel anders gewesen zu sein als in Hun­ derten von Textilbetrieben in Manchester und Umgebung. Marx’ grund­ sätzliche theoretische Feststellung, dass in historischer Perspektive «das Kapital produktiv, d. h. ein wesentliches Verhältnis für die Entwicklung der Produktivkräfte» sei,18 und dass die Arbeit eines praktizierenden ­Kapitalisten, insbesondere was die Organisation und Überwachung der Produktion angehe, ihn faktisch «zum Lohnarbeiter  … seines eigenen Kapitals» mache,19 mochte dabei moralisch entlastend wirken. Dass Engels zum Familieneinkommen der Marxens schätzungsweise die Hälfte seiner eigenen Einkünfte beisteuerte, sodass diese mit Marx’ eigenen Honoraren zusammen immerhin auf ein Mittelklassen-Einkom­ men von 200 Pfd. im Jahr gekommen sein dürften; und dass er nach sei­ ner Auszahlung und Übersiedlung nach London 1870 Marx eine Lebens­ rente aussetzte, die ihn und seine Familie aller Sorgen ledig machte und ihnen ermöglichte, eine größere, komfortablere Wohnung zu beziehen, in Fußweite von der, in der Engels selbst mit Lizzie logierte – das alles machte seine zwanzigjährige Arbeit und Existenz als Industrieller nicht gerade zu einem Opfer, aber doch zu einer legitimen Existenzform als Theoretiker und Geschäftsführer der «Partei Marx».20 Einer, der zeitweise fast zur Familie Marx gehörte, war der junge Wil­ helm Liebknecht, später einer der Mitbegründer der deutschen Sozial­ demokratie. In seinen lebendigen, nicht durchweg verklärenden Erinne­ rungen hat er ein Bild der Person, Partei und Familie Marx hinterlassen, das haften geblieben ist. In Gießen von einem frömmelnden Vormund erzogen, aufgewachsen im Schatten seines im Gefängnis umgekomme­

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nen Großonkels Ludwig Weidig und als Student befreundet mit Georg Büchners Bruder und literarischem Testamentsvollstrecker, dem Natur­ forscher Ludwig Büchner, war Liebknecht nach den Studentenunruhen 1847 in Gießen als Burschenschafter und Student der Philologie und Phi­ losophie relegiert worden. In den Jahren darauf hatte er sich an den ­Pariser Aufständen wie an den badischen Feldzügen beteiligt, war wie die meisten in die Schweiz geflohen, wo er Engels flüchtig kennenlernte, und nach seiner Verhaftung und Ausweisung wegen «sozialistischer Um­ triebe» über Frankreich schließlich nach England emigriert. Dort suchte er den Kontakt mit Engels und mit Marx, was nicht so einfach war, denn der Aufnahme in diesen Zirkel gingen allerhand strenge Prüfungen voraus: zuerst phrenologische Vermessungen seiner Schädelform (die Phrenologie war gerade eine brandneue Wissenschaft); und außerdem wurde ihm als einem halbgebildeten «Studentchen» und süddeutschen Demokraten hartnäckig auf den Zahl gefühlt. Dann end­ lich durfte er einem Marx’schen Vortrag im Londoner Arbeiterbildungs­ verein über politische Ökonomie beiwohnen und wurde schließlich in die regelmäßigen Kneipenrunden und den engeren Familienkreis aufge­ nommen. Bei den Sonntagsausflügen nach Hampstead Heath, einem großen Landschaftspark vor der Stadt, wurde gepicknickt und getrun­ ken, gespielt und gesungen, selten politische Lieder, eher gefühlvolle Volkslieder, und natürlich wurde stets auch rezitiert und deklamiert, was das Zeug hielt. Engels war oft mit dabei, und der junge Liebknecht war wohl zu jung und zu unbedarft, um bei ihm Eifersüchte zu wecken. Liebknecht blieb zwölf Jahre in London, arbeitete als Privatlehrer und Journalist, heiratete und wurde nach und nach zum engsten und wich­ tigsten Verbindungsmann der «Partei Marx» nach Deutschland  – und nach seiner Rückübersiedlung nach Preußen zu ihrem (durchaus eigen­ willigen) Haupteinflussagenten in der Bildungsphase der deutschen So­ zialdemokratie. Sobald er allerdings in seinen Ansichten abwich, konn­ ten Donnerkeile auf ihn niederfahren, die freilich noch gar nichts waren im Vergleich mit den Zornesentladungen im Götterhimmel, die ihm ent­ gingen; so wenn Marx 1859 an Engels schrieb: «Liebknecht ist ebenso schriftstellerisch unbrauchbar wie er unzuverlässig und charakter­ schwach ist. Der Kerl hätte diese Woche einen definitiven Abschiedstritt in den Hintern erhalten, zwängen nicht gewisse Umstände, ihn einstwei­ len noch als Vogelscheuche zu verwenden …»21 Wenn Liebknecht, schon als einer der historischen Führer der deut­ schen Sozialdemokratie, im Rückblick schrieb: «Marx war der zugäng­

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lichste der Menschen und heiter und liebenswürdig im Verkehr», wäh­ rend Engels meist der Schroffere, militärisch kurz Angebundene gewesen sei, wird das vermutlich auch stimmen.22 Sie waren jeder einzeln, und beide zusammen, ein wenig Doktor Jekyll und Mr. Hyde. Dass Marx un­ geheuer gewinnend und charmant sein konnte, ist ebenso oft bezeugt worden wie seine unerträgliche Arroganz und verletzende Schärfe. Ähn­ liches wird von Engels berichtet. Das eine wie das andere war Teil der magnetischen Wirkung, die sie als «eine mächtige Doppelpersönlichkeit, wie die Geschichte keine zweite kennt» (so Liebknecht), sogar noch auf die ausübten, die von ihnen polemisch verfolgt und nieder­gemacht wur­ den.

Frauen-, Arbeits- und Familienleben «Menschen werden wollen die Frauen und teilnehmen am Kranz der ­Arbeit und des Siegers» lautete das ziemlich gestelzte Motto, unter dem am 18. Oktober 1865 in Leipzig, dem 50. Jahrestag der Völkerschlacht, ein «Allgemeiner Deutscher Frauenverein» (ADF) von 120 anwesenden Frauen nach dreitägiger, als «Frauenschlacht von Leipzig» belächelter, lebhafter Debatte gegründet wurde.23 Jetzt wollten also die Frauen auch schon Politik machen! Die Mitinitiatorin und für ein Vierteljahrhundert dann die Vorsitzende des Vereins, Louise Otto-Peters, war tatsächlich bereits eine erfahrene Aktivistin und Publizistin, die sich in den Vor­ märz-Jahren als Sozialschriftstellerin, Dichterin und Journalistin eta­ bliert und damit, was ungewöhnlicher war, selbst ernährt hatte. In einer von Robert Blum 1843 angestoßenen Debatte über die politi­ sche Stellung der Frauen hatte sie bereits kategorisch erklärt: «Die Teil­ nahme der Frau an den Interessen des Staates ist nicht nur ein Recht, sondern eine Pflicht» – was typischerweise vor allem ein Appell an die eigenen Geschlechtsgenossinnen war. Im Revolutionsjahr 1849 war Loui­se Otto als Gründerin einer eigenen «Frauen-Zeitung» hervorgetre­ ten, deren demokratisches Motto hieß: «Dem Reich der Freiheit werb’ ich Bürgerinnen». Aber auch die Einbeziehung der Frauenbeschäftigung in eine staatliche «Organisation der Arbeit» und die Gründung von Dienstboten- und Arbeiterinnen-Vereinen gehörte zu ihren Anliegen. Die Art, wie die «soziale Frage» und die «Frauenfrage» zusammen­ gingen und dann doch getrennt blieben, war durch Konventionen und Ideologien, aber in vielem auch ganz lebenspraktisch begründet. Der

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Anstoß zur Gründung des ADF kam in den frühen 1860 er Jahren von ­liberalen Sozialpolitikern wie Hermann Schulze-Delitzsch, die auch die ersten Anstöße für die Arbeiterbildungs- oder Gewerbevereine gegeben hatten. Im Jahr darauf gründete sich auf Initiative von Wilhelm Adolf Lette ein (etwas konservativerer) «Verein zur Förderung der Erwerbs­ fähigkeit des weiblichen Geschlechts», der später sogar unter dem Pro­ tektorat der Kronprinzessin Viktoria von Preußen stand, die den Verein auch finanziell unterstützte. Ein Kernmotiv, eine «soziale Frage» eigener Ordnung, war dabei das dringende Bedürfnis nach einer erweiterten und praktischeren Bildung für junge Frauen, da auch für Töchter aus bürgerlichen Familien die «Mädchenschule» (so weit es überhaupt eine solche schon gab) mit dem 14. Lebensjahr endete. Danach folgte eine lange, erstickende Untätigkeit beim Warten auf Bewerber, und dann noch einmal auf die Karriere des Verlobten. Es gab für sie jedenfalls bis Ende des Jahrhunderts trotz eines rapide steigenden Bedarfs in den Bildungs-, Sozial- und Büroberufen kaum angemessene berufliche Tätigkeiten, schon gar nicht solche auf Dauer; und wenn doch, etwa als Gouvernanten oder Lehrerinnen an Mädchenschulen, dann waren sie mit Ehelosigkeit erkauft, weil Heirat zwingend zum Ausscheiden führte. So konzentrierten sich diese ersten Frauenvereine auf Fortbildungen in eigener Regie und auf eine ehrenamtliche Sozialarbeit, die dann vielfach über Sonntagsschulen und karitative Tätigkeiten Anschlüsse an die niede­ ren Bevölkerungsschichten schuf. Am nächsten stand der ADF den sozial­ liberalen Arbeiterbildungs- und Gewerbevereinen, die sich in Konkurrenz zum Lassalle’schen ADAV in einem loser, föderaler organisierten «Ver­ einstag Deutscher Arbeiter-Vereine» (VDAV) zusammengeschlossen hat­ ten, dem zu dieser Zeit auch der junge August Bebel angehörte. Im Umfeld des VDAV entstanden nicht nur die ersten «Gewerksgenossenschaften» (als Vorformen von Gewerkschaften), sondern hier beschäftigte man sich mit den unterschiedlichsten Lebensfragen. So kam auf dem Bundestag 1865 auch die «Frauenfrage» auf die Tagesordnung, allerdings in sehr charakteristischer Weise: Die Forderung nach rechtlicher Gleichstellung der Frauen sollte nicht etwa, so einer der Antragsteller, zu sozialer «Gleich­ macherei» führen, sondern die Frauen besser befähigen, die politischen und gesellschaftlichen Aktivitäten ihrer Männer zu unterstützen.24 Für eine erweiterte weibliche Berufstätigkeit trat man hier nicht ein. Im Gegenteil: Die Rekrutierung von Frauen und halbwüchsigen Mäd­ chen und Jungen für einfache Fabrik- und Manufakturtätigkeiten galt,

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parallel zur Rekrutierung von ausländischen Arbeitern, als eine unan­ ständige Hauptmethode der Unternehmer, den Wert der einheimischen, männlichen, erwachsenen Arbeitskraft zu senken und die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt zu erhöhen. Umgekehrt war es das Hauptziel der Konflikte um Lohntarife oder Stückpreise, ein existenzdeckendes Arbeits­ einkommen für erwachsene Männer zu erreichen, das die Möglichkeit zur Gründung einer Familie erst eröffnete und die volle Lebenskarriere ausschöpfte, die für einen Arbeiter im Schnitt vom 20. bis zum 40. Le­ bensjahr reichte – und ihn danach ohne alle Sicherheiten ließ. Der proletarische Widerstand gegen die Frauenarbeit war also nicht ein­ fach nur rückständig und chauvinistisch. Man verfehlt vielmehr die his­ torische Tragweite und teilweise sogar den Sinn dessen, was man als Emanzipation oder Befreiung der Frauen bezeichnen kann, wenn man die Spielräume und Bedingungen nicht mitbedenkt, unter denen sie über­ haupt stattfinden konnte (und kann). «Frauenarbeit» war und ist schließ­ lich nichts Neues, geschweige etwas, das an sich emanzipativ wäre. Fast im Gegenteil: Dort, wo sozialgeschichtlich alle herkommen, nämlich aus bäuerlichen oder handwerklichen Existenzen oder dem Kleinhandel, war und ist die häusliche wie die Feld-, Werkstatt- und Transportarbeit der Frauen, der Mädchen und der Kinder selbstverständlich immer mit­ eingerechnet – wenn die Frauen nicht, wie in vielen Kulturen (bis heute), überhaupt die Lasttiere sind, die ihre Kinder nebenher zu bekommen, zu erziehen und die Familie zu beköstigen haben. Im Jahrhundert der «industrious revolution» (zwischen 1750 und 1850) hatte sich nicht nur die kombinierte familiäre Jahres-Arbeits­ leistung in der Landwirtschaft und in den Hausindustrien stark erhöht, sondern zu dieser Familienökonomie gehörte regelmäßig auch eine zeit­ weilige, bezahlte Lohnarbeit von Mädchen und Frauen, die in die neuen Großstädte und Gewerbegebiete gingen, um dort als Arbeiterinnen, Ver­ käuferinnen oder Dienstmädchen zu arbeiten. In zentralen Sektoren der neuen Fabrikindustrien, wie vor allem der Textilindustrie, konnte sich der Anteil von Frauen, Mädchen und Jungen (die ihnen zur Hand gin­ gen) bis zur Mehrheit der Belegschaften steigern  – und forderte einen harschen Tribut an Leben und Gesundheit. Solche Fabrikarbeit konnte überhaupt nur für wenige Jahre ohne irreparable Gesundheitsschäden (wie Taubheit oder Lungenschwäche) durchgehalten werden, und die «emanzipativen» Effekte waren meist nicht sehr hoch; oft im Gegenteil: Das Einkommen diente der Unterstützung der Herkunftsfamilie. Die

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Eheschließung, sofern da irgendeiner war, der sich das leisten konnte, war dann für beide eine Erlösung; wobei ein großer Teil der jungen Männer sich eine Heirat eben nicht leisten konnte und ehelos blieb – so wie Millionen junge Frauen entsprechend auch. Wenn eheliche Unter­ drückung und Ausbeutung eine Leidensquelle für die Frauen war, dann erzwungene Ehelosigkeit (die je nach Land und Zeit ein Drittel oder so­ gar die Hälfte aller Männer und Frauen treffen konnte) eine noch weit­ aus größere. Umgekehrt: Die Schutzgesetze, die die Möglichkeiten einer exzessiven Ausbeutung von Mädchen und Kindern allmählich einschränkten, gin­ gen mit einer Anhebung der Löhne und Tarife für erwachsene männliche Arbeiter Hand in Hand und eröffneten überhaupt erst eine halbwegs planbare Lebensperspektive. Aber auch bei regulärer Beschäftigung und Entlohnung eines Hauptverdieners konnte in der Regel nur die Arbeit weiterer Familienmitglieder eine solide Existenzbasis abgeben. Daraus ergab sich, dass alle weiblichen Löhne nach allgemeinem Verständnis Nebeneinkünfte und daher entsprechend gering waren. Für die halb­ wüchsigen Kinder galt das erst recht. Dass auch die Hausarbeit der Frauen für die Erhaltung der Familie existentiell war, mehr als uns das heute noch vorstellbar ist, gehört – vor aller ideologischen oder religiö­ sen Bemäntelung – ebenfalls ins Bild. Folgt man dieser sozialgeschichtlichen Entwicklungslinie weiter, dann haben erst die gestiegenen Löhne und Tarife für männliche Arbeiter und Handwerker und ihre gewerkschaftliche Organisation es tatsächlich er­ zwungen, dass gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein relativer Rückzug der Frauen aus vielen modernen Sektoren der industriellen Erwerbs- und Fabrikarbeit einsetzte, was nur teilweise durch erweiterte Beschäfti­ gungsmöglichkeiten in Büroarbeit, im Handel oder in Sozial- und Dienst­ leistungsbereichen kompensiert wurde. Die absolute Zahl beruflich voll­ beschäftigter Frauen stieg zwar, aber ihr Anteil blieb relativ konstant (in Deutschland bei 10–15 % der Erwerbstätigen) – wenn er nicht in Wirk­ lichkeit sogar gefallen ist, insofern die «mithelfenden Familienangehöri­ gen» erst jetzt statistisch erfasst wurden. Noch immer waren es in aller Regel ledige, nur ganz selten verheiratete Frauen, die ein Leben als «Be­ rufstätige» führten.25 Ob dieser Rückzug durchweg als Rückschritt gesehen werden muss, ist wieder die Frage. Denn erst in dieser Kernphase eines kapitalistischen take-off und einer «industriellen Revolution» war für viele Lohnabhän­ gige der Übergang zu einer wirklich autonomen, «bürgerlichen» Exis­

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tenz als Einzel- und Kleinfamilie überhaupt möglich, gab es für einen Großteil der städtischen Arbeiterfamilien so etwas wie einen eigenen «Hausstand», den sie möblierten und ausstatteten. Die für die unteren Gesellschaftsklassen historisch völlig neue Rolle einer «Hausfrau» ließ sich in vielen Fällen nicht nur mit einer eigenen, kleinen, manchmal schon auf eigene Rechnung betriebenen Nebenexistenz als Kioskhänd­ lerin, Wirtin von «Kostgängern» oder Auftragnehmerin in den ausge­ dehnten Hausindustrien verbinden. Sie schuf womöglich für viele Frauen erste, noch so geringe Spielräume, sich eine gewisse autodidaktische Bil­ dung zu verschaffen oder ein soziales Leben außerhalb des Hauses zu entfalten – bis hin zur Möglichkeit, sich eigenen Vereinen anzuschließen. In besonders «schlagender» Weise trat das in den USA in Gestalt von Versammlungen und Demonstrationen der «Temperenzlerinnen» zu­ tage, die mit einiger Militanz versuchten, ihre Männer nach Feierabend aus den «whiskey-lanes», wo sie ihre Löhne versoffen, herauszuholen, während sie im Namen der christlichen Familienwerte für die Prohibi­ tion eintraten. Betrachtet man das Zeitalter der eigentlichen Industrialisierung in ­Europa und in Amerika von den 1850 er bis in die 1950 er Jahre, dann hat erst die Wiederaufbauphase nach dem Zweiten Weltkrieg, als der Arbeitskräftebedarf den Eintritt der Frauen ins Arbeitsleben ermöglichte bzw. erzwang, einen rapiden Wiederanstieg der weiblichen Berufstätig­ keit gesehen, vermehrt jetzt in den Büro- und Dienstleistungsberufen, aber mit wachsender Schul- und Hochschulbildung auch in den Berei­ chen von Erziehung, Bildung und Gesundheitswesen und zuletzt der Verwaltung, der Justiz, des industriellen und finanziellen Managements und der Forschung. Ungleich stärker als in vorangegangenen Phasen tra­ ten die Frauen – und nicht mehr nur die Damen der gehobenen Stände – jetzt auch als selbständige, bescheiden kaufkräftige Konsumentinnen auf, auf die die Hersteller von gewerblichen Massenwaren ebenso wie die großen und die kleinen Händler sich zunehmend einstellten. Die ­Erfindung des «Warenhauses» vor und nach der Jahrhundertwende war, abgesehen von den (oft antisemitischen) Schmähungen gegen die Erfin­ der selbst, mit universellen Klagen über die «Putzsucht» und den «Ver­ schwendungsgeist» der Frauen begleitet, die schon durch den schieren Besuch dieser großteils der Schönheit gewidmeten Konsumtempel ange­ facht werde. Da war sie wieder, die mittelalterliche Gestalt der «luxu­ ria», jetzt als korsettierte Hausfrau mit Riesenhut. Über eine Gesamtstrecke von 200–250  Jahren gerechnet, haben die

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Frauen (so Jan de Vries) damit jedenfalls auf der Produktions- wie auf der Konsumtionsseite, in der Innenausstattung und Organisation prole­ tarischer und bürgerlicher Lebenswelten, im privaten wie im öffent­lichen Raum, Veränderungen mit herbeigeführt, die «ein machtvolles Vehikel der Modernisierung und des ökonomischen Fortschritts» gebildet haben, insbesondere auch in der Herausbildung einer kapitalistischen Konsum­ gesellschaft, die ein Stück Demokratisierung eigener Art war.26 Man würde die Tiefe der Kluft, die sich  – vermutlich seit der «neolithischen ­Revolution», also seit etwa zehntausend Jahren  – zwischen männ­lichen und weiblichen Lebenswelten aufgetan hat, eklatant unterschätzen, wenn man die Tragweite dieser Veränderungen in den Geschlechterbeziehungen nicht zu würdigen wüsste, die sich im 19./20. Jahrhundert halb vor aller Augen und halb hinter aller Rücken ergeben haben. Der Beitrag der Sozialisten und Kommunisten zu diesen Evolutionen weiblicher Lebenswelten und Lebensentwürfe ist politisch und praktisch mitentscheidend gewesen; aber er blieb in vieler Hinsicht auch zwiespäl­ tig – ähnlich wie bei den anderen großen «Emanzipationen» der jünge­ ren Geschichte: der der Sklaven und der Leibeigenen, der Juden und anderer unterdrückter Nationalitäten, Religionen und Minderheiten, ­ einschließlich der Homosexuellen und sonstwie «Devianten». Der moderne Begriff der «Emanzipation» meinte eben nicht mehr nur (wie in römischer Zeit) die Entlassung aus förmlichen Abhängigkeiten und die rechtliche Gleichstellung, sondern auch die gesellschaftliche An­ erkennung von Daseinsweisen und Identitäten, die mit denen der Mehr­ heitsgesellschaft nicht übereinstimmen. Vor allem war dieser Begriff aber seit der Aufklärung mit «Mündigkeit» assoziiert. So sehr die modernen sozialistischen und kommunistischen Bewegun­ gen und Parteien über das engere Feld der «sozialen Frage» und das übergreifende Ziel einer «Emanzipation des Proletariats» hinaus auch gesellschaftliche Emanzipationsbewegungen gewesen sind, die für glei­ che Rechte der Geschlechter, Rassen, Nationalitäten oder Religionen eintraten, so schwer taten sie sich mit der Autonomie einzelner, «separa­ tistischer» Emanzipationsbewegungen. Das galt gerade auch für die Frauen und die Frauenbewegungen, wie sie sich in den letzten Jahrzehn­ ten des 19. Jahrhunderts allenthalben in Europa wie in den USA heraus­ bildeten. Deren «bürgerlicher» Charakter war weder soziologisch noch pro­ grammatisch zu leugnen. Der ADF wollte, Louise Otto zufolge, eine

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«weibliche Fortschrittspartei des 5. Standes» sein, die dafür die politi­ schen Beteiligungsrechte, sprich: das aktive und passive Wahlrecht, zu­ gunsten der vordringlichen sozialen und zivilrechtlichen Anliegen weit nach hinten schob. Vorrang hatten die Fragen «einer größeren Sicherheit der persönlichen und wirtschaftlichen Stellung der Frau», vor allem durch ihre «Zulassung zu solchen Berufen und Stellungen, in denen sie die fürsorgende und erzieherische Tätigkeit für ihr eigenes Geschlecht wirksam entfalten kann».27 Das gipfelte in Formeln wie der Helene Langes, der Vorsitzenden des 1894 als Dachverband gegründeten «Bundes Deutscher Frauenvereine» (BDF): «Letztes Ziel der Frauenbewegung ist Muttersorge im öffent­ lichen Leben.»28 Und selbst das wurde über weite Strecken in Allgemein­ plätze von den «Kulturaufgaben» der Frau verpackt und erst relativ spät in handfeste positive Forderungen ausgemünzt wie etwa die Anerken­ nung der «Mütterarbeit» im Ehe- und Erbrecht oder die praktischen ­Bedingungen der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Auch Fragen von Sexualaufklärung, Geburtenplanung und «Mutterschutz» wie über­ haupt von allem, das irgendwie von Staats wegen in den Intimbereich der Ehe eingriff, kamen erst in den 1910 er Jahren allmählich zur Spra­ che. Dabei sollten wir uns nicht ahistorisch über die «viktorianische Mo­ ral» zu erheben, die der Tabuisierung aller Erotik im sichtbaren Alltag verpflichtet war und die Schamgrenzen massiv anhob – sondern zunächst den humanen Sinn einer Haltung würdigen, der zufolge eine sexuelle ­Beziehung nur in personaler, ehelicher Liebe legitim war. Wenn dabei den Frauen ein ganz reduziertes, «spät erst erwachendes und vom Mann erst zu erweckendes Maß an Sexualität» zugeschrieben wurde, dann war das eine strikte, primär protestantische Umkehrung der älteren katho­ lischen Auffassung, wonach die Männerwelt sich vor der Triebhaftigkeit der Frauen in Acht zu nehmen hatte. Jetzt hatte gerade sie als die natür­ liche «Wächter(in) der Respektabilität gegen alle Über­sexualität und ­Untreue der Männer» zu fungieren, was die Basis ihrer Idealisierung als eines «höherstehenden» Wesens war – von der dann wiederum die Welt der «Separées», d. h. die florierende Sphäre der Pro­stitution oder des Maitressenwesens, umso säuberlicher zu trennen war. Diese «Trennung von Eros und Sexus, die Aufspaltung der Liebe» in eine höhere und eine niedere Sphäre, war natürlich eine eklatante bürgerliche Doppel­moral, der Männer wie Frauen auf jeweilige Weise huldigten.29 Allerdings sind die bürgerlichen Ehen dieses Zeitalters anscheinend weniger sexuell ver­

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klemmt und unglücklich gewesen, als spätere, freiere Generationen ge­ schlussfolgert haben;30 und jedenfalls brachte diese Doppelmoral die bürgerlichen Frauen in eine paradoxe moralische Machtposition, die die frühe Frauenbewegung weidlich genutzt hat. Im Kern blieb sie eine Bewegung der Ledigen, die noch keinen festen Platz in der Gesellschaft gefunden hatten, geführt von einigen älteren Frauen, die sich diese Anliegen mehr oder weniger professionell zu eigen gemacht hatten, sei es in Form der Verbandsarbeit, sei es durch beglei­ tende Gründungen Höherer Mädchenschulen oder Anstalten beruflicher Weiterbildung. Ein Problem waren dabei die politischen, konfessionel­ len, weltanschaulichen und berufsständischen Differenzen untereinan­ der, die es den Frauenorganisationen erschwerten, hinsichtlich der poli­ tischen Mitwirkungsrechte, also vor allem des Wahlrechts, aber auch in Existenzfragen wie dem Recht auf Abtreibung zu einheitlichen Positio­ nen zu kommen. Vielleicht war es aber gerade das Eigenbrötlerische und Vorpolitische, das moralisch Überspannte und auf einen engen Kreis von sozialen Anliegen Beschränkte, das der «bürgerlichen Frauenbewegung» dieses Zeitalters eben doch eine die Mentalitäten und das soziale Klima verändernde Wirkung verschafft hat.

«Die Frau und der Sozialismus» Zwischen «bürgerlicher» und «proletarischer» Frauenbewegung lag eine Kluft, die mit dazu beigetragen hat, dass die Wirkung begrenzter war, als sie hätte sein müssen. Anders als diese Bezeichnungen suggerieren, dürfte es sich allerdings weniger um eine soziale Spaltung gehandelt haben als vielmehr um eine politische und weltanschauliche, die die Kooperation zwischen Liberalen und Sozialisten auch sonst behinderte, obwohl sie 1912 sogar eine rechnerische Reichstagsmehrheit stellten, die aber wenig aus ihren Möglichkeiten machte. Dabei hatte August Bebel als angehender Führer der deutschen Sozial­ demokratie eine Zusammenarbeit mit der bürgerlichen Frauenbewe­ gung ausdrücklich für möglich erklärt. Die Zeit seiner Festungshaft und (aufgrund des Sozialistengesetzes) eingeschränkten Handlungsmöglich­ keiten hatte er zu einem guten Teil darauf verwandt, ein Buch zu schrei­ ben, das er «Die Frau und der Sozialismus» nannte – während seine Frau Julie die kleine Familien-Manufaktur für Tür- und Fenstergriffe ma­ nagte. Noch bemerkenswerter ist, dass gerade dieses, 1879 erstmals ver­

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öffentlichte, nach mehrfacher Überarbeitung auf mehr als 500  Seiten ­angewachsene Werk mit seinen über fünfzig Auflagen bis 1914 und einer Gesamtzirkulation von über 100 000 Exemplaren, viele davon in Leih­ büchereien und Bibliotheken, so etwas wie das eigentliche, informelle Grundlagenbuch der deutschen Sozialdemokratie geworden ist, und ­darüber hinaus einer der Basistexte des europäischen Sozialismus. Der schriftstellerische Erfolg versetzte Bebel in die Lage, seine Existenz als ­«Arbeiter», genauer gesagt: als selbständiger Handwerksmeister, und noch genauer: als Kleinfabrikant mit einem Kompagnon, einer mitarbei­ tenden Frau und einem Dutzend Beschäftigten, aufzugeben und ein Aus­ kommen als Autor zu finden. Der Mann und sein Buch passen sehr gut in das Bild, das neuere Studien von der deutschen Sozialdemokratie, jedenfalls in den formativen Jahr­ zehnten vor 1900, gezeichnet haben: eine weniger aus Klassenkämpfen und -organisationen als aus Genossenschaften, Bildungs- und Gewerbe­ vereinen entstandene, in einem verzweigten Vereinswesen wurzelnde Mit­ gliederpartei. Deren Kern bildeten vorwiegend jüngere, unverheiratete, lern- und lebenshungrige Männer, eher handwerklich als industriell tätig und auf persönliche Autonomie gegenüber jeder zünftig-patriarchalen wie staatlich-bürokratischen Bevormundung bedacht.31 Frauen konnten bis 1908 schon aus rechtlichen Gründen weder der Partei noch den sie tragenden Vereinsstrukturen oder den Gewerkschaf­ ten beitreten. Allerdings gab es für sie seit 1892 eigene informelle, «un­ politische» Strukturen, die durch von der Partei benannte und in «Frauen-­Versammlungen» gewählte «Vertrauenspersonen» organisiert und durch «Frauen-Agitationskommissionen» angeleitet wurden. In der von Clara Zetkin redigierten Zeitschrift «Die Gleichheit» hatten sie ein eigenes Organ. Nur in diesem sehr eingeengten Rahmen entwickelte sich, was man eine «sozialistische» oder auch «proletarische Frauen­ bewegung» nennen kann. Woraus erklärte sich angesichts dieser sehr verhaltenen Agitationsund Organisationsbemühungen dann das lebhafte Interesse an Bebels «Die Frau und der Sozialismus»? Galt dieses Interesse in Wirklichkeit gar nicht der Frauenfrage, sondern eher dem in vielfältigen, gelegentlich futuristischen Details ausgemalten Bild des «sozialistischen Zukunfts­ staats», das der Autor – ohne Verbindlichkeit, doch autoritativ – darin ausgemalt hatte? Der Clou mag gerade in der Verbindung des einen mit dem anderen gelegen haben. Über die vielen Lebensfragen einer modernen Gesell­

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schaft, über die «Fülle des Lebens», konnte in einer steril männlich-pro­ letarisch-produktivistischen Perspektive überhaupt nicht sinnvoll und sinnlich gesprochen werden. Außerdem waren die Frau und das Ge­ schlechterverhältnis natürlich ein Objekt universellen Interesses. Und Bebel war ungewöhnlich begabt, in ruhig väterlicher und doch einfüh­ lender Weise, ohne gewollte Frivolität, aber auch ohne jede Verklem­ mung über alle «Geschlechterfragen» zu sprechen, immer in der Hal­ tung natur- und sozialwissenschaftlicher Vorurteilslosigkeit, die keine Tabus kennen durfte, und voll überlegener Süffisanz, was das bürger­ liche und klerikale Muckertum anging. So sehr es Darwin oder Fourier gewesen waren, aus denen Bebel sich in seiner Gefängniszeit informiert und autodidaktisch gebildet hatte, bevor Marx und Engels dann zu sei­ nen Leitautoren wurden, so tritt­sicher war er in der Entwicklung einer historisch-materialistischen Argumentation eigenen Ranges. «Frauen und Arbeiter haben gemein, Unterdrückte zu sein» – mit dieser kategorischen Setzung beginnt sein Buch (wir zitieren aus einer späten Fassung), das tief in die Vor- und Frühgeschichte zurückgreift. Aber «die Frau hat gegenüber dem Arbeiter das eine voraus: Sie ist das erste menschliche Wesen, das in Knechtschaft kam».32 Die bürgerliche Ehe, so wie sie rechtlich ausgestaltet sei, «ist die einzige wirkliche Leibeigen­ schaft, welche das Gesetz kennt»  – eine Formulierung, die Bebel dem ­leidenschaftlichen Feministen John Stuart Mill entlieh.33 Hinter dem er allerdings etwas zurückblieb, wenn er feststellte: «Es hat keine andere Ungleichheit (zwischen den Geschlechtern) Berechtigung als jene, wel­ che die Natur in der Verschiedenheit des Wesens der einzelnen und zur Erreichung der Naturzwecke schuf.» Diese von der Natur gesetzten Schranken könne keines der beiden Geschlechter überschreiten, «weil es damit seinen Naturzweck vernichtet» – einen Naturzweck, der, was die Frauen betraf, vor allem die Geburt und Aufzucht der Kinder umfasse und sich auf die Fürsorge für alle Angehörigen erstrecke.34 Der Liberale Mill war hier einen Schritt weitergegangen, als er argumentierte, erst das freie Spiel der Kräfte bei völliger Gleichheit der Rechte werde in Zukunft erweisen, wie es mit den natürlichen Wesensunterschieden, Begabungen und Eigenschaften der Geschlechter stehe.35 Bebel hätte das für etwas idealistisch gehalten. Aber die unterschied­ lichen «Naturzwecke» von Männern und Frauen waren für ihn jeden­ falls kein Argument irgendeiner Ungleichbehandlung, auch nicht in der Entfaltung der Sexualität, die er neben dem Trieb zum Essen als den

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stärksten «Ausdruck des ‹Willens zum Leben›» bezeichnete; und je freier er sich entfalten könne, «um so vollkommener ist der Mensch, sei er Mann oder Frau».36 Nacktheit und Freude an körperlicher Schönheit seien etwas Natürliches. So wenig Neigung der kleine, stets gut geklei­ dete Meister Bebel vermutlich auch als junger Mann gehabt hätte, der lebensreformerischen Freikörperkultur zu huldigen, die um die Jahrhun­ dertwende ins Feld sprang, so entschlossen war sein ceterum censeo: «Und zu einem ungezwungenen, natürlichen Verkehr der Geschlechter muss die Menschheit zurückkehren.»37 Man hört aus diesen Plädoyers, die in einer Zeit der obsessiven Ver­ hüllung durchaus schockieren wollten, immer wieder die Referenz auf die Evolutionstheorien des Zeitalters heraus, von Darwin über Buckle bis Ludwig Büchner, allerdings in steter, scharfer Abgrenzung von Ernst Haeckels sozialdarwinistischen Argumentationen, die auf die Behaup­ tung hinausliefen, «der Darwinismus sei aristokratisch, indem er lehre, dass überall in der Natur das höher organisierte und stärkere Lebewesen das niedere unterdrückt» – während Darwin (laut Bebel) im Gegenteil lehre, dass alle Lebewesen, so auch die Menschen, «von ihren Existenz­ bedingungen abhängen, günstige sie fördern, ungünstige sie hemmen». Und deshalb habe der liberale Professor Virchow als Kritiker Haeckels völlig richtig festgestellt, die Darwin’sche Theorie führe geradewegs zum Sozialismus.38 Bebels zentrale Schlussfolgerung ging denn auch genau in diese Rich­ tung. Die Frage nach der «Stellung, welche die Frau in unserem sozialen Organismus einnehmen soll, wie sie ihre Kräfte und Fähigkeiten nach ­allen Seiten entwickeln kann», falle unmittelbar mit der anderen, größe­ ren Frage zusammen, wie dies für alle Mitglieder der Gesellschaft, insbe­ sondere eben für die Arbeiter, gewährleistet werden könne. Und so wich­ tig ihm die Feststellung war, dass es keine Befreiung der Arbeiterklasse «ohne die soziale Unabhängigkeit und Gleichstellung der Geschlechter», also der Frauen, geben könne, mehr noch: dass gerade die Emanzipation der Frauen der Maßstab der allgemein menschlichen Emanzipation sei – so scheinbar logisch ergab sich daraus als politische Konsequenz, dass die «Lösung der Frauenfrage mit der Lösung der sozialen Frage» zusam­ menfiel, ihr insoweit also ein- und untergeordnet war.39 Hier, wo es um den künftigen Sozialismus ging, wurde Bebels großes Plädoyer für die Befreiung der Frauen dann auch erst wirklich lebendig und anschaulich. In der Ausgestaltung des keineswegs utopischen, längst möglichen und unabweisbar notwendigen «Zukunftsstaates» firmierten

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die Frauen als die freien Hüterinnen des Hauses und des Herdes. So wenn der beflügelte Autor etwa unter der Überschrift «Kommunistische Küche» nach allerhand Exkursionen ins Reich einer abwechslungsrei­ chen, schmackhaften, reichlichen und gesund gemischten Ernährung über die großartigen Möglichkeiten schwärmte, die «Nahrungszuberei­ tung … ebenso wissenschaftlich … wie andere menschliche Tätigkeiten» zu betreiben. Das werde natürlich das Ende einer engen Familienküche bedeuten, die ebenso «wie die Werkstätte des Kleinmeisters  … eine große Verschwendung an Zeit, Kraft … usw.» darstelle, vor allem für die darin eingeschlossenen Frauen, denen «Gesundheit und gute Laune» ge­ stohlen würden. Die künftigen, modernen, elektrisch erleuchteten, von unangenehmen Dünsten befreiten Gemeinschaftsküchen würden «eher einem Salon als einem Arbeitsraum» gleichen, da elektrisch betriebene Geräte «die unangenehmsten und zeitraubendsten Arbeiten spielend er­ ledigen»; als da wären: «Kartoffel- und Obstschäler,  … Entkernungs­ apparate, Würstestopfer, Speckpresser, Fleischhacker, Fleischröster, Brat­ apparate, Kaffee- und Gewürzmühlen, … Brotschneideapparate, Eiszer­ kleinerer, Korkzieher … und hundert andere Apparate und Maschinen».40 Man bemerkt, wie sich hier kulinarischer Enthusiasmus und tech­ nisch-handwerkliche Begeisterung unmittelbar mischen. Und wenn man – den «realen Sozialismus» späterer Zeiten im Blick – bei Bebels ruhig-­ selbstgewissen Aufzählungen künftiger «Zentralnahrungsberei­ tungsanstalten», «Zentralwaschanstalten» und «Zentraltrockeneinrich­ tungen» als den Instrumenten einer «revolutionären Umgestaltung des häuslichen Lebens» leichte Beklemmungsgefühle entwickelt, so ist im­ merhin zu ­bedenken, dass solche Vorstellungen von den materiellen Ausgangsbedingungen der Adressat/inn/en her gesehen ziemlich attrak­ tiv erscheinen konnten – und dass wir mit der heutigen kapitalistischen Durchrationalisierung und Standardisierung aller Lebensbereiche, von der Großkantine über die Supermärkte mit abgepacktem «convenience food» bis zu standardisierten Dienstleistungen, davon vielleicht weniger weit entfernt sind, als Bebels etwas naive Extrapolationen künftigen Ge­ sellschaftslebens ahnen lassen. Die These, dass eine Befreiung der Frauen in der gegebenen Gesellschaft unmöglich sei und an die Perspektive des Sozialismus gebunden werden müsse, war allerdings von einschneidender politischer Bedeutung – und versetzte die Frauen letztlich abermals in eine subalterne Position. Denn eine «sozialistische Frauenbewegung» mit einer eigenen, kraftvollen

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Agenda und mit der notwendigen taktischen und organisatorischen Un­ abhängigkeit von der Partei konnte es deshalb nicht geben, in den späte­ ren kommunistischen Staaten und Staatsparteien noch weniger als schon in der alten Sozialdemokratie. Fatalerweise waren es gerade die linken, mit diesen Themen vorrangig befassten Frauen wie insbesondere Clara Zetkin, die jegliche «frauenrechtliche Harmonieduselei» und damit jede Zusammenarbeit mit der bürgerlichen Frauenbewegung schroff ablehn­ ten und alle Kräfte auf die Mobilisierung der Frauen für den Kampf um eine sozialistische Revolution setzten. Noch problematischer war, dass in dieser Konstruktion die Frauen «gleichberechtigt» um Positionen in der Partei konkurrieren mussten – was ihnen, als sich die SPD 1908 nach der Änderung des preußischen Vereinsrechts für weibliche Mitglieder öffnete, so gut wie nie gelang. Weibliche Kandidatinnen hatten in offenen Parteiwahlen keine Chance; und die wenigen Frauen, die sich offensiv in die Debatten über die Aus­ richtung der Gesamtpartei einschalteten, wie an erster Stelle Rosa Lu­ xemburg (die sich wiederum um die Fragen der weiblichen Emanzi­ pation so wenig kümmerte wie um die jüdische) waren per se radikale Außenseiterinnen, die auf massive Widerstände und manchmal offenen Hass trafen. Und trotzdem war der Ausgangsimpuls, der von den Sozialisten, mehr als von allen anderen Parteien und politischen Strömungen des Zeit­ alters, ausging, von elementarer Bedeutung  – mindestens, weil er sich nach dem Ersten Weltkrieg in einer Gesetzgebung materialisierte, die den europäischen Frauen das Recht auf Teilnahme an den Wahlen, auf ungehinderte gesellschaftliche Betätigung, eine tendenzielle rechtliche Gleichstellung, gleiche Bildung usw. verschaffte. Entsprechendes galt für die Juden, für die religiösen Minderheiten und für andere diskriminierte Gruppen der Gesellschaft, wenigstens formell. Die Liberalen und die mit ihnen verbundenen bürgerlichen Frauen­ bewegungen waren in ein viel zu enges soziales Segment gebunden, um eingreifend auf die Gesamtgesellschaft zu wirken. Allein die Sozialisten konnten das (notdürftig genug), nachdem sie sich einmal etabliert hat­ ten; und man darf es bezeichnend finden, dass die tiefsten und giftigsten Antipathien, auf die sie stießen, am Ende weniger ihrer Rolle als «Arbei­ terparteien» und ihrer Propaganda des «Klassenkampfs» galten, son­ dern sich vorzugsweise aus den Arsenalen des modernen Antisemitismus sowie der Misogynie speisten. Ängste vor rassischer Kontamination wie vor sexueller Enthemmung waren am schnellsten zu mobilisieren.

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Umso ernüchternder ist die Tatsache, dass Frauen in der Hierarchie der sozialistischen wie der kommunistischen Parteien nicht nur unter­ repräsentiert waren, sondern so gut wie keine Stimme und Gewicht hat­ ten. Wo Kommunistische Parteien die Macht eroberten, galt das in ganz ähnlicher Weise auch für die politischen und staatlichen Institutionen wie für den hierarchischen Aufriss der Gesellschaften im Ganzen. Die Frauen mochten dank verbesserter Bildungs- und Ausbildungsmöglich­ keiten auf vielen sozialen Feldern avancieren – aber nicht in der Politik. Maos aus der Erinnerung an die Anfänge seiner eigenen politischen Biografie gespeiste Sentenz: «Die Frauen tragen auf ihren Schultern die Hälfte des Himmels, und sie müssen sie erobern», klang gut, aber war durchaus zweideutig; das galt erst recht für seinen weiteren Satz: «Alles, was ein Mann tun kann, kann eine Frau auch tun.» In der Praxis seiner Partei (von seinem Privatleben ganz zu schweigen) fand das jedenfalls kaum eine Entsprechung – oder wenn, dann entweder in der Art, in der die befreiten chinesischen Frauen, so wie die sowjetischen, für jede Art brachialer Schwerstarbeit zur Verfügung stehen mussten; oder aber in Form des Vexierbilds einer emanzipierten Frau, das seine letzte Haus­ kaiserin und Witwe Tschiang Tsching als Tyrannin der Kultur, und in der Zeit seines Siechtums auch der Partei und des Staates, lieferte – bevor sie gestürzt, als Hexe abgeurteilt und zur Unperson degradiert wurde.

TEIL  VII

Age of Empire

1. Freier Handel, schwarze Haut

Wettermaschinen der Weltwirtschaft

I

m Juni 1846 feierte in London die Freihandelsliga das Ende der Ge­ treidegesetze, die die britische Landwirtschaft vor Importen geschützt und die Brotpreise verteuert hatten. Cobden, ihr Anführer, verkündete im Glück des Erfolgs ein visionäres Credo: «Ich … sehe in dem Freihan­ delsprinzip dasjenige, das sich auf die moralische Welt ebenso auswirken wird, wie es das Gravitationsgesetz im Weltall tut: Es wird die Menschen zusammenbringen, es wird die Gegensätze der Rasse, des Glaubens und der Sprache verdrängen, es wird uns in den Banden des ewigen Friedens vereinigen … Ich glaube, dass das Verlangen nach großen und mächti­ gen Imperien, nach gigantischen Armeen und Flotten, nach jenen Din­ gen, die für die Zerstörung des Lebens und die Verwüstungen des Lohns der Arbeit gebraucht werden, dahinsterben wird … Ich glaube, dass in tausend Jahren ein Philosoph die größte Revolution, die es je gegeben hat, von dem Triumph des Prinzips her datieren wird, für das einzutre­ ten wir uns hier versammelt haben.»1 So hochherzig das klang und vielleicht auch gemeint war – so wenig änderte es etwas an der Tatsache, dass der «Freihandel» zu einem we­ sentlichen Teil Kolonialhandel war. Dass es ohne Kolonialismus und Sklavenarbeit nicht so leicht eine moderne Industrie gegeben hätte, wie Großbritannien sie im Laufe des 18./19. Jahrhunderts aus dem Boden stampfte, ist durch eine neuere, auf weltwirtschaftliche Zusammen­ hänge ausgerichtete Geschichtsforschung – von allen moralischen Urtei­ len ganz abgesehen – eher noch einmal erhärtet worden. Das lässt sich in eine Reihe modellhafter Betrachtungen fassen, wobei die von Malthus genannten, elementar notwendigen Mittel zur Repro­ duktion der Bevölkerung im Mittelpunkt standen: «food», Nahrung, «forage», Tierfutter, «fibre», Fasern zur Herstellung von Kleidung, so­ wie «fuel», Brennstoffe. Fast alles drehte sich letztlich um Energie, um Lebensenergie, die sich in Kalorien umrechnen ließ und in menschlicher Arbeitskraft (man-power) materialisierte, bis den Menschen mit der Dampfmaschine potenzierte Pferdestärken zuwuchsen.

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Holz war die primäre Ressource gewesen, um, erstens, für Verstädte­ rung und Bevölkerungswachstum den Bedarf an Bau- und Heizmaterial zu decken, zweitens große, stetig wachsende Mengen von Holzkohle für die Glas- oder Metallproduktion zu gewinnen, und drittens den laufend gesteigerten, äußerst materialintensiven Schiffbau zu ermöglichen. Wie akut die «Holznot» im entwaldeten England und in Mitteleuropa vor und nach 1800 gewesen ist, ist nach vielen Diskussionen noch immer ­offen. Fest dürfte aber stehen, dass eine dramatische Krise gedroht hätte, wäre es nicht gelungen, im Laufe des 18./19. Jahrhunderts Feuerholz und Holzkohle durch Stein- und Braunkohle zu substituieren. Die Dampf­ maschinen, die ab 1780 in Betrieb genommen wurden und viel Brenn­ stoff fraßen, fanden ihren ersten, wichtigen Einsatz beim Abpumpen von Grubenwasser, was erst den Abbau von Steinkohle in größeren Tiefen und Mengen ermöglichte  – eine Art Münchhausen-Effekt. Das war ­wiederum die Voraussetzung für die Stahlproduktion und den Bau von Maschinen, Eisenbahnen, Dampfschiffen, Kanonen. Die Grundlage all dessen, was die imperiale und weltwirtschaftliche Dominanz Europas im 19./20. Jahrhundert ermöglicht hat, war der Einsatz von Steinkohle. Diesen Bedarf konnte Europa und gerade auch England, das große Vor­ kommen besaß, aus eigenen Mitteln decken. Das galt jedoch nicht für «food» und «fibre», für Nahrungsmittel und Textilfasern. In modellhafter Rechnung erzeugte ein Hektar tropischen Zuckeranbaus ebenso viele Kalorien wie vier Hektar europäischen Kar­ toffelanbaus oder fünf Hektar für Weizen. England mit seinen knappen und teilweise kargen Böden konnte trotz leistungsfähiger Landwirtschaft die Mengen an Nahrungsmitteln nicht selbst produzieren, die für seine rasch wachsende Bevölkerung erforderlich waren. Anfang des 20. Jahr­ hunderts deckte tropischer Zucker, vor allem aus der Karibik, zu dem dann ostelbischer Rübenzucker trat, fast ein Fünftel des Kalorienver­ brauchs eines durchschnittlichen Engländers, Weizen ein weiteres Fünf­ tel. Beides bedurfte einer «exterritorialen» Landreserve.2 Damit wurde eine riesenhafte Stoffwechsel-Maschine in Gang gesetzt. Erst jetzt entstanden überhaupt Weltmärkte für Massenprodukte – über den älteren, viel beschränkteren Handel mit Luxusgütern wie Gewür­ zen, Tabak, Kaffee, Kakao, Edelmetallen, Pelzen oder Seidenstoffen hi­ naus. Voraussetzung für den Übergang zu einem alle möglichen Ge­ brauchs- und Massengüter umfassenden Welthandel waren wiederum die fortlaufenden «Transportrevolutionen».

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Ein atlantischer Weizenmarkt zum Beispiel konnte nur entstehen, weil die Kosten für den Seetransport sich nach der Einführung der Dampf­ schifffahrt binnen weniger Jahrzehnte um zwei Drittel verminderten; aber auch, weil innerhalb Nordamerikas der Eisenbahnbau den Güter­ verkehr noch einmal massiv verbilligte, während er zugleich die Anbau­ flächen immer weiter nach Westen vorschob. Auf der 1848 eingerichte­ ten Rohstoffbörse in Chicago wurde aus den von individuellen Farmern erzeugten, anfangs in Säcken, dann bereits in Waggons gelieferten Ge­ treide­mengen der amerikanische «Weizen» oder «Mais», ein Standard­ gut, das zu täglich fluktuierenden, aber einheitlichen Preisen gehandelt wurde, während parallel dazu, etwas verzögert, der asiatische «Reis» über die Rohstoffbörse in Singapur zu einem ähnlich globalisierten Mas­ senprodukt wurde. Nichts dergleichen hatte es vorher gegeben.3 Ein anderer, vielleicht noch mächtigerer globaler Stoffwechsel bildete den Kern des «Weltreichs der Baumwolle».4 Seit alters her war Baum­ wolle in Asien, Afrika und Südamerika angebaut und zu Tuchen ver­ arbeitet worden, meist in der Nähe der Felder, auf denen sie geerntet wurde. Im 18. Jahrhundert wurden Baumwollstoffe, die in Europa die traditionellen Flachs- und Wollstoffe immer mehr ersetzten, in verschie­ denen Qualitäten wie Musselin, Chintz und Kattun vor allem aus Indien importiert und bunt bedruckt als «indiennes» bezeichnet. Ein Teil dieser leichten indischen Stoffe mit ihren wunderbaren De­ signs wurde von europäischen Händlern aber an afrikanische Potentaten und Kaufleute geliefert und dort in schwarze Sklaven umgetauscht, die über den Atlantik verschifft und für die Plantagenarbeit auf den Karibik­ inseln, in Brasilien oder den Südstaaten der USA verkauft wurden. Von dort gingen dann plantagenmäßig erzeugter Zucker, Tabak, Kaffee und andere Genussmittel zurück nach Europa – ein extrem gewinnträchtiger Viereckshandel, in dem die europäischen Mächte vor allem als Agen­ turen eines bewaffneten Seehandels auftraten und erst in zweiter Linie als Produzenten und Exporteure eigener Waren.

Gebrandmarkt in schwarzer Haut Eine entscheidende nächste Änderung trat ein, als vor allem England ab 1780 begann, selbst in die Herstellung von Baumwollgarnen und -stof­ fen einzusteigen, nachdem es gelungen war, diese Herstellung durch eine fabrikmäßige Zusammenfassung unqualifizierter Arbeitskräfte (vielfach

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Kinder und Frauen) sowie eine fortschreitende Mechanisierung nach Geschwindigkeit und Preis zu revolutionieren. Dafür brauchte England allerdings eine steigende Menge billiger und gleichförmiger Rohbaum­ wolle, die aus den traditionellen Liefergebieten von der Türkei bis Ägyp­ ten nicht zu bekommen war. In diese Lücke sprangen die Betreiber neu angelegter und modern organisierter Baumwollplantagen in den Süd­ staaten der USA, die mit Sklaven betrieben wurden. Die wachsende, zu­ nehmend fabrikmäßige Textilproduktion in England und die parallel dazu entstehende amerikanische Baumwollsklaverei gaben zusammen den Anstoß zur «industriellen Revolution». In Europa selbst waren Sklaverei und Sklavenwirtschaft seit dem Ende des Römischen Reichs geächtet und verschwunden, und das blieb (von Residuen abgesehen) das ganze Mittelalter hindurch bis in die Neuzeit gültig. Zwar unterschied sich die Leibeigenschaft, die im Westen bis zu den Bauernkriegen der frühen Neuzeit und im Osten, vor allem in Russ­ land, bis zur Bauernbefreiung von 1862 geherrscht hat, im Alltag nicht allzu sehr von einer sklavenartigen Abhängigkeit und wurde polemisch häufig als «Sklaverei» bezeichnet, war aber rechtlich und mental doch etwas anderes. Dasselbe galt für die vielen anderen Formen unfreier ­Arbeit, wie die vertraglich geregelte, durch Abarbeit zu tilgende Schuld­ knechtschaft (Indentur) oder die Sträflingsarbeit, die im 19. Jahrhundert noch einmal bedeutenden Umfang annehmen konnte, ob als Zwangs­ arbeit auf den französischen oder britischen Gefangeneninseln oder als russische Katorga. Australien ist, wie man weiß, von Sträflingen für die britische Krone erschlossen worden, so wie Teile Sibiriens für den Zaren. Die mit Sklaven betriebenen Bergwerke und Plantagen, die Spanier, Portugiesen, Franzosen, Engländer und Holländer in Amerika, Afrika und Asien seit dem 16./17. Jahrhundert aufbauten, waren von Beginn an etwas Gewalttätigeres, Extremeres als selbst die antike Sklaverei – vor allem wegen der direkten Verknüpfung mit der Ausrottung oder dem Aussterbenlassen eines Teils der indigenen Bevölkerungen in Amerika und ihrer Ersetzung durch Millionen in Menschenjagden eingefangene afrikanische Sklaven. Diese afrikanischen Sklaven waren mehr denn je nur «stumme Werk­ zeuge», Arbeitsvieh, menschliche Ware, die man auf Märkten und ­Auktionen kaufen oder verkaufen, rascher oder langsamer verbrauchen konnte. Dabei waren die Plantagen in Brasilien, der Karibik oder den Südstaaten der USA wie die Bergwerke Boliviens und Perus oder die mit Sklaven, Sträflingen, Kulis und halbfreien Lohnarbeitern vorangetriebe­

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nen Erschließungsprojekte effektiv organisierte Arbeitshöllen, in denen, wie man mittlerweile weiß, höchst profitabel gewirtschaftet und das ­humane Vorurteil widerlegt wurde, dass unfreie Arbeit und Sklaverei an sich unproduktiv seien.5 Schätzungen besagen, dass den 10 bis 15 Millionen Sklaven, die die Europäer von einheimischen Sklavenjägern oder Potentaten, vor allem in Westafrika, gekauft und über den Atlantik verschifft haben, fast noch einmal so viele schwarze Sklaven gegenüber gestanden haben, die von arabischen und indischen Sklavenjägern und Händlern über Sansibar und andere Häfen nach Äthiopien oder Ägypten, in die arabische Welt oder nach Indien verschifft worden sind – wo sie teils in Formen einer autochthonen Sklavenwirtschaft, teils auch wieder auf Plantagen oder in Betrieben eingesetzt wurden, die für den von Europäern beherrschten Weltmarkt arbeiteten.6 Wenn die kapitalistische Produktionsweise und die bürgerliche Gesell­ schaft Europas diese neuzeitliche, massenhafte Arbeitssklaverei also erst hervorgetrieben haben – waren sie am Ende nicht doch das Mittel und die Bedingung ihrer Überwindung? Diese Frage dürfte mit einem glatten Ja oder Nein nicht zu beantworten sein. Einen Anfang vom Ende dieser modernen Sklaverei markierte jeden­ falls die Gesetzesvorlage über das Verbot des Sklavenhandels auf briti­ schen Schiffen, die im März 1807 mit großer Mehrheit durch das briti­ sche Parlament angenommen wurde, nachdem sie schon vierzehn Jahre lang von derselben kleinen Gruppe religiöser Abolitionisten um den konservativen Evangelikalen William Wilberforce immer wieder einge­ bracht und abgeschmettert worden war. Kurz darauf verboten auch die Vereinigten Staaten die Einfuhr von Sklaven  – nicht allerdings die Sklavenhaltung selbst. Im Gegenteil er­ reichte die nordamerikanische Sklavenwirtschaft erst in den folgenden Jahrzehnten ihren Höhepunkt. Statt Sklaven aus Afrika zu importieren, begann man, sie nun als Arbeitsvieh zu züchten und auf diese Weise – ­ergänzt durch diskrete Zukäufe auf den karibischen Sklavenmärkten wie Kuba – ihre Zahl noch einmal exponentiell zu vermehren, von einer Million 1807 auf vier Millionen um 1860. Immer neue Gebiete wurden für die mit Sklaven betriebene Plantagenwirtschaft erschlossen. Kinder wurden ihren Eltern entrissen, auf den überall florierenden Sklaven­ märkten feilgeboten und in Arbeitsherden auf die neuen Plantagen im tiefen Süden oder Südwesten getrieben. Die Mädchen und jungen Frauen

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wurden in eindeutiger Weise als Sexsklavinnen angepriesen, taxiert und verkauft. Aber auch in den britischen Kolonien, vor allem in der Kari­ bik, bestand die Sklaverei in großem Umfang fort. Erst recht war das in den ehemaligen oder noch bestehenden spanischen und portugiesischen ­Kolonien der Fall, von Kuba bis Brasilien, wo sie erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts aufgehoben wurde. Und dennoch war etwas Einschneidendes geschehen: Denn der atlan­ tische Sklavenhandel war der Motor eines ganzen Systems gewesen, hin­ ter dem außer den Portugiesen eben die Briten standen. Dieser so lukra­ tive Viereckshandel zwischen Indien, Afrika, Lateinamerika und Europa war nicht nur ein integraler Teil des weltwirtschaftlichen Austausches gewesen, der dem sich industrialisierenden England und Mitteleuropa aus aller Welt Rohstoffe, vor allem Lebens- und Genussmittel, lieferte. Sondern die in Afrika gefangenen schwarzen Sklaven, Männer, Frauen und Kinder, waren zu einer der begehrtesten Handelswaren überhaupt geworden, und das trotz oder wegen der horrenden «Verluste» von 10–20 % der angeketteten Insassen der Sklavenschiffe, die während der «Großen Passage» über den Atlantik an Misshandlungen, Krankheiten oder an den erlittenen Traumata qualvoll starben. Insofern verstand es sich nicht von selbst, dass Großbritannien 1807 freiwillig aus diesem Geschäft ausstieg – und dass die britische Marine in der Folge sogar dazu überging, den Transport von Sklaven unter por­ tugiesischer oder anderer Flagge als «Piraterie» zu behandeln und Skla­ venschiffe zu Hunderten aufzubringen. Damit entfaltete Großbritannien eine offensive Weltpolitik und Propaganda, die man in vieler Hinsicht schon unter die Kategorie eines «humanitären Imperialismus» fassen könnte, wie sie bis dahin nur das revolutionäre Frankreich betrieben hatte. Jetzt lieferte gerade die Tatsache, dass Napoleon im Jahr 1802 die feierliche Aufhebung der Sklaverei von 1794 widerrufen und vergeblich versucht hatte, seine von Aufständen erschütterten karibischen Kolonien zurückzuerobern, den Briten (die sich selbst an der revolutionären Skla­ venrepublik Haiti eben die Zähne ausgebissen hatten) eine großartige Gelegenheit, sich in diesem Raum als Schutzmacht zu etablieren. Ent­ sprechendes galt für das britische Ausgreifen nach Schwarzafrika, das nun ebenfalls den Anstrich einer zivilisatorischen Mission bekam. Lord Palmerston würde das 1848 in die weitreichende Deklaration fassen: «Wir stehen an der Spitze moralischer, politischer und sozialer Zivilisation. Unsere Aufgabe ist es, den Weg zu weisen und die Entwick­ lung anderer Nationen zu lenken.»7 Dabei war die britische Textilindus­

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trie zu dieser Zeit mehr denn je die Hauptkundin der Sklavenarbeit in den Südstaaten Amerikas – und es fehlte nicht viel, dass Großbritannien sich im amerikanischen Bürgerkrieg nach 1861 auf die Seite des skla­ ven-haltenden Südens gestellt hätte, was es aus wohlerwogenen Grün­ den dann doch unterließ. Unter den britischen Abolitionisten, einer kleinen, hoch aktiven Gruppe, die von unbestreitbar moralischen Motiven getrieben war, rag­ ten eine Reihe prominenter Industrieller heraus, so der große Fabrikant von Gebrauchskeramiken und Porzellan in den britischen Midlands, Jo­ siah Wedgwood. Progressisten waren sie deshalb nicht; ihre Predigten und Verlautbarungen folgten eher puritanischen Sittlichkeitsidealen als Menschenrechtsargumenten französischen Stils. Eben deshalb waren sie ­geeignet, sich mit dem «humanitären Imperialismus» des gegenrevolu­ tionären Großbritannien bei seinem Griff nach der Welthegemonie zu verbinden. In den frühen 1830 er Jahren waren es dann vor allem konservative und christliche Kritiker des kapitalistischen Industriesystems, die in Eng­ land abolitionistische Argumente wieder aufnahmen, ihnen allerdings eine ganz neue Wendung gaben. Einer der ersten und leidenschaftlichs­ ten Agitatoren war Richard Oastler, ein Gutsverwalter, Tory und reli­ giöser Monarchist, der 1830 nach dem Besuch einer der rasch expandie­ renden Fabrikregionen Nordenglands einen Offenen Brief gegen die «Yorkshire Slavery» publizierte und sich damit an die Spitze einer Bewe­ gung für einen «Fabric Act», eine Fabrikgesetzgebung setzte, die sich vor allem gegen die Kinderarbeit in der Textilindustrie richtete. Wenn es, so schrieb er, «der Stolz Britanniens» sei, dass «kein Sklave auf seinem ­Boden existiert», so sei die traurige Wahrheit die, dass «Tausende unse­ rer Mitgeschöpfe, sowohl Männer wie Frauen, … sich genau in diesem Moment in einem Zustand befinden, der noch schrecklicher ist als der­ jenige der Opfer des höllischen Systems der ‹kolonialen› Sklaverei».8 Damit war der Kampf gegen die einheimische «Lohnsklaverei» seiner­ seits zu einer Art Abolitionismus geworden, der sich mit der Forderung nach vollständiger Aufhebung der Sklaverei in den britischen Kolonien verband (die 1838 auch tatsächlich folgte). Letztlich waren es die Vor­ kämpfer eines liberalen Freihandelssystems wie Bentham oder Cobden, die sich in den 1840 er Jahren an die Spitze der neuen Kampagnen gegen die Sklaverei in der gesamten außereuropäischen Welt setzten, im Na­ men des Freihandels, der Wettbewerbsgleichheit und der Humanität.

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In den USA bildete die Front der entschiedenen Abolitionisten ein ein­ drucksvolles, aber sehr heterogenes Gemisch aus Religiösen und Konser­ vativen, Liberalen und Sozialisten, aus frühen Frauenrechtlerinnen und schwarzen Agitatoren wie dem jungen Frederick Douglass, einem ent­ laufenen Sklaven und Mulatten, dessen Auftritte und Bücher das Bild der Schwarzen als einer stumpfen, zu höheren Zivilisationsleistungen unfähigen Masse markant veränderten, sowie aus militanten Aktivisten wie dem puritanischen Farmer John Brown, der versuchte, in Kansas und anderen «Frontstaaten» einen fanatisch geführten, bewaffneten Kleinkrieg gegen das Vordringen der Sklavenwirtschaft zu entfesseln und der nach einem fehlgeschlagenen Handstreich gegen einen Eisen­ bahnknoten 1858 gehängt wurde. Ihre stärksten Argumente fand die abolitionistische Agitation in den sozialen Folgekosten der Sklavenwirtschaft: nämlich einer epidemischen Verrohung und Gesetzlosigkeit sowie einer allgemeinen moralischen, vor allem auch sexuellen Entgrenzung, die die sklavenhaltenden Gesell­ schaften im Ganzen korrumpierte. Fast alle der sich aristokratisch-auf­ geklärt oder patriarchal-bibelfromm gerierenden großen oder kleinen Plantagenbesitzer und weißen Aufseher hielten sich schwarze Konkubi­ nen oder vergriffen sich an den Dienstmädchen, bis es von illegitimen Mulattenkindern nur so wimmelte – die wiederum den Pharisäern und gekränkten Gattinnen als Beweis der Triebhaftigkeit und Leichtlebigkeit der schwarzen Sklavinnen galten. Allerdings sollte kein zu schlichtes Bild der Lebensverhältnisse auf den Plantagen der Südstaaten gezeichnet werden. Dass die Arbeit, vor allem auf den Baumwoll- und den Zuckerplantagen, als solche schon von bar­ barischer Härte war, und unter der Peitsche erst recht, steht außer Frage. Gleichzeitig stellen sich die Lebensverhältnisse der Sklaven bei näherem Zusehen aber komplexer dar, als das Bild der Sklavenwirtschaft als einer einzigen großen «whipping machine» suggeriert. Ungefähr die Hälfte der Sklaven lebte auf Plantagen mit 20 oder weniger Beschäftigten, ein Viertel auf solchen mit 20–50, und nur ein letztes Viertel mit 50 oder mehr. Die allerwenigsten arbeiteten auf wirklich großen Plantagen mit 100 und mehr Feld- und Haussklaven. Vielmehr lebte die Masse der Sklaven relativ eng mit ihren Herrschaften zusammen. Ob man von einem  – wenn auch einseitigen  – «Kompromiss» zwi­ schen Sklaven und Herren sprechen kann, was die Arbeits- und Lebens­ bedingungen betrifft, ist fraglich.9 Tatsache ist aber, dass mit dem Ende des überseeischen Handels die Preise für Sklaven drastisch stiegen und

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die Plantagenbesitzer daher gar keine andere Wahl hatten, als ihre schwarzen Arbeiter ausreichend zu ernähren, sie nicht über jedes Maß hinaus zu schinden und in Familien und in eigenen Hütten zusammen­ leben zu lassen – obwohl das US-Recht, anders als im katholischen Kuba oder Brasilien, eine reguläre Heirat unter Sklaven ausschloss. So konnte ein Großteil der Sklaven in eingeschränkter Weise ein eige­ nes Familienleben führen. Ihre Geburtenrate muss jener der weißen Be­ völkerung mindestens entsprochen haben, was  – abgesehen von den ­gesetzlich begrenzten Möglichkeiten des Zukaufs aus der Karibik – die Vervierfachung der Sklavenbevölkerung bis 1860 allerdings nicht allein erklären kann. Erzählungen über regelrechte Zuchtfarmen in Virginia und anderswo haben sich nicht erhärtet. Meistens war die Zahl weib­ licher und männlicher Sklaven ausgeglichen; deren halbwüchsige Kinder weiterzuverkaufen war ein häufiger und grausamer Usus, aber nicht die Regel. Und auch wenn Aufstände selten, weil selbstmörderisch waren – wo ­immer eine Sklaven-Community sich allzu brutal oder ungerecht be­ handelt fühlte, konnte sie das durch Nachlässigkeiten, Sabotageakte oder Diebstähle fühlbar machen; kaum anders als die «Lohnsklaven» in den englischen Fabriken zur gleichen Zeit auch. Kurzum, die Peitsche ­allein hätte die Plantagen nicht so rentabel machen können, wie sie meist waren. Wie sich nach der Befreiung 1865 zeigte, war es durchaus mög­ lich, auf Basis von Lohnarbeit, die sich des gewohnten «gang systems», der Arbeit in Gruppen, bediente, oder vermittels des Systems der Halb­ pacht (sharecropping), in dem ganze Familien auf «ihrem» Feld arbeite­ ten, die schieren Arbeitsleistungen und damit die Erträge der Baumwoll­ produktion noch einmal erheblich zu steigern. Auch der zweifelhafte Ruf, den die «poor whites», die armen Weißen des Südens, genossen, nämlich wenig mehr als ein «white trash» zu sein, ein arbeitsfauler und parasitärer Auswurf der Gesellschaft, mag etwas zu einfach gewesen sein. Aber dass das Leben inmitten einer Sklavenkul­ tur und im Schatten der alles beherrschenden Plantagen auf die unter­ schiedlichste Weise korrumpierend und lähmend wirkte und auch des­ halb oft armselig und unproduktiv blieb, dürfte stimmen. Dieses halb begründete Vorurteil war jedenfalls ein weiteres, starkes Argument ge­ gen die Sklavenwirtschaft. Lincolns Republikaner gewannen die Wahlen 1860 mit dem be­ schränkten, aber gewichtigen Ziel, sich der weiteren Ausdehnung der Sklavenhalterkultur nach Westen und ihrem Übergewicht innerhalb der «Union» zu widersetzen; woraufhin die Südstaaten sich zu einer eigenen

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«Konföderation» zusammenschlossen. Die mörderische Härte, mit der der amerikanische Bürgerkrieg ausgefochten wurde, hatte mit der Skla­ venemanzipation anfangs ausdrücklich nichts zu tun. Aber die Massen­ flucht von Schwarzen über die Linien lieferte der Unions-Armee ent­ scheidende Informationen und praktische Unterstützung und setzte die Regierung in Washington immer mehr unter Druck, da man sie weder zurückschicken noch in die Städte des Nordens weiterwandern lassen wollte. Letztlich ging es eben doch um einen Konflikt zweier miteinander ­unverträglicher Produktionsweisen und Lebensformen. So rationell die Sklavenarbeit auf den Baumwollfeldern organisiert gewesen sein mochte, sie war in die Welt der Fabriken und der großen Städte nicht übertrag­ bar. So war Lincolns Erklärung zur Sklavenemanzipation an Neujahr 1863 ein Ausdruck der kriegerischen Entschlossenheit, die ökonomische Basis der Sezessionisten ein für alle Mal zu zerstören. In die großartige Sprache der amerikanischen Verfassung überführt bedeutete die Prokla­ mation der Sklavenbefreiung dann doch noch ungleich mehr: «Weder Sklaverei noch Zwangsdienstbarkeit darf, außer als Strafe für ein Ver­ brechen, dessen die betreffende Person in einem ordentlichen Verfahren für schuldig befunden worden ist, in den Vereinigten Staaten oder in ­irgendeinem Gebiet unter ihrer Gesetzeshoheit bestehen. Der Kongress hat das Recht, diesen Zusatzartikel durch entsprechende Gesetze zur Durchführung zu bringen.»10 Der Mord an Lincoln besiegelte das mit Blut. «Die Arbeit in weißer Haut kann sich nicht dort emanzipieren, wo sie in schwarzer Haut gebrandmarkt wird»  – diesen noblen Satz schrieb Marx 1865 nach dem Sieg des Nordens über die Sklavenhalterstaaten des ­Südens.11 «Lohnsklaverei» mochte die intensivste aller historischen Ausbeutungsformen sein; aber sie war dennoch diejenige, die den Arbei­ tern, eben durch ihre so prekäre Freiheit, das Bedürfnis und die Bil­ dungselemente einer kollektiven Aktion und allgemeinen Emanzipation vermitteln konnte. Eine seiner ersten Aktivitäten als Mitglied des Generalrats der IAA war es daher, eine Grußadresse an Abraham Lincoln zu verfassen. Mit dem siegreichen Feldzug gegen die Sklaverei habe der republikanische Präsident, so Marx, «eine neue Epoche für die Machtentfaltung der ­Arbeiterklasse» eröffnet.12 Die Erwartung, dass die erst in Ansätzen existierende Arbeiterbewegung in den Vereinigten Staaten sich nach der

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Sklavenbefreiung nun mit «den Siebenmeilenstiefeln der Lokomotive» von Küste zu Küste entfalten und um die zentrale Forderung nach dem Acht-Stunden-Arbeitstag scharen werde, und überhaupt: dass Amerika als «the land of the free», das Land der freien Menschen, schon bald auch das gelobte Land einer neuen, sozialistischen Arbeiterbewegung werden würde, war allerdings mehr als trügerisch.13 Stattdessen wur­ den die USA das Land eines entfesselten, rücksichtslos sich Bahn bre­ chenden, von breiten, nachdrängenden Massen getragenen Volks- und Hochkapitalismus. Die entstehenden Gewerkschaften und sozialisti­ schen Gruppen und Parteien fanden in der fortdauernden Rassensegre­ gation eher eine zusätzliche schwere Hypothek als ein einendes und mo­ bilisierendes ­Motiv. Dieses Gemeinwesen neuen und einzigartigen Typs hatte Marx schon beschäftigt, noch bevor er Kommunist geworden war. Zu seinen ersten Lektüren nach der Entlassung als Redakteur der «Rheinischen Zei­ tung» hatten eine Reihe von Büchern über Amerika gehört  – an vor­ derster Stelle Alexis de Tocquevilles Reisebericht, der 1835 und 1840 in zwei Folgen unter dem Obertitel «De la Démocratie en Amérique» ­erschienen war und damals das ganze gebildete Europa beschäftigte. Tocqueville, ein Mann aus altem französischen Adel, hatte darin die ­Demokratie als wenig begeisterndes, aber unausweichliches Schicksal der europäischen ebenso wie aller anderen Gesellschaften herausgestellt. Und er hatte vor allem den ihr innewohnenden egalisierenden Charakter betont: «Meint man, die Demokratie werde, nachdem sie das Feudalsys­ tem zerstört und die Könige überwunden hat, bei den Bürgern und den Reichen zögern?»14 Parallel hatte Tocquevilles Reisegefährte Gustave de Beaumont einen Roman «Marie ou l’esclavage aux États-Unis» (Marie oder die Sklaverei in Amerika) veröffentlicht, der von einer unmöglichen und tragischen Romanze zwischen einem jungen Franzosen und einem Mulattenmäd­ chen handelte und mit einem dokumentarischen Anhang zur amerika­ nischen Sklaverei versehen war, der einen ganz anderen Ton anschlug als Tocqueville, für den die Sklaverei eher ein Nebenthema war.15 Zwei Jahre davor war bereits ein anderer, weniger beachteter, für Marx (sei­ nen Exzerpten zufolge) aber besonders instruktiver Amerikabericht aus der Feder Thomas Hamiltons, eines schottischen Adeligen und pensio­ nierten britischen Offiziers, erschienen: «Men and Manners in Ame­ rica».16 Wie für Tocqueville, stand auch für Marx zunächst die Frage der De­

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mokratie im Vordergrund – wie es sie zu dieser Zeit ja nur in Nordame­ rika gab. Auch hier hatte diese Staatsform freilich erst seit 1828, seit der Präsidentschaft Andrew Jacksons und der von ihm gegründeten Siedler­ partei der «Demokraten», zu einer Einbeziehung breiterer Massen in Stadt und Land geführt, die die Vorherrschaft der aufgeklärten, vielfach selbst sklavenhaltenden Gründer-Aristokratie um Thomas Jefferson be­ endete. Zwar waren die Vereinigten Staaten für Marx «das progres­ sivste Land» der Welt, weil Staat und bürgerliche Gesellschaft hier nicht aus dem Feudalsystem herausgewachsen waren, sondern sich auf ihrer eigenen, allerdings kolonialen Grundlage gebildet hatten. Umso bemer­ kenswerter fand er, wie tief die gesellschaftlichen Klüfte und Spaltungen mittlerweile waren und wie sehr die Möglichkeiten einer politischen Partizipation auch hier vom sozialen Status abhingen. Das eben brachte ihn zu der generellen Folgerung, die er in frühen Schriften wie «Zur Judenfrage» ausgeführt hatte: nämlich dass eine ­politische und religiöse Gleichstellung der Bürger noch längst nicht ihre «menschliche Emanzipation» bedeute, sondern sie im Gegenteil als Pri­ vateigentümer voraussetze und voneinander separiere. Mehr noch: Die Behandlung der Religion als Privatsache und die Trennung von Staat und Kirche hatte die Vereinigten Staaten, statt zu einem Hort säkularer und wissenschaftlicher Aufgeklärtheit, erst recht zum «Land der Reli­ giosität» par excellence gemacht, wie Tocqueville es mit positivem ­Akzent herausgestellt hatte. Die Vielzahl der Konfessionen schuf in den Augen von Marx nur noch weitere, sektiererische Trennungen und Ent­ fremdungen zwischen den Bürgern.17 Gerade das demokratische Amerika hatte aber auch gezeigt, dass die ­Deklaration der allgemeinen Menschenrechte die Sklaverei nicht aus­ schloss, so wenig wie die gewaltsame Einschließung der «Eingeborenen» in kleine Reservate. Und sie vertrug sich auch sonst durchaus mit dem gesellschaftlichen Ausschluss anderer, als «Fremder» betrachteter Zu­ wanderer – obwohl eigentlich jeder weiße Amerikaner anfangs ein Frem­ der gewesen war. Eine Vielzahl fragwürdiger ethnischer oder rassischer Zuordnungen wurde informell und später auch juristisch in Anspruch genommen, um «Nicht-Weiße» oder «Nicht-Kaukasier» – wie Latinos oder Chinesen – von den Bürgerrechten auszuschließen. Auch insofern erinnerte die amerikanische noch immer an die antike «Demokratie», als ein sich abschließendes Kartell der Polis-Bürger. Schärfer als Tocqueville empfanden Beaumont und Hamilton die Skla­

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verei der Schwarzen als «nationale Schande» Amerikas. So geißelte Ha­ milton die Heuchelei, mit der Redner im Kongress in Washington feier­ lich die Gleichheit der Menschen proklamierten, während zur selben Zeit an einer anderen Ecke der Hauptstadt in öffentlichen Auktionen «menschliches Fleisch zum Kauf dargeboten wird». Die Klagen der Plan­ tagenbesitzer, die ihm gesprächsweise versicherten, dass sie die «peculiar institution» persönlich ablehnten, durch die Konkurrenz jedoch gezwun­ gen seien, sie weiter zu praktizieren, kommentierte er mit verachtungs­ voller Schärfe: Offensichtlich seien sie nur bereit, diese «Institution» ge­ gen eine zu tauschen, «die ebenso billig und profitabel» wäre; und die schien nicht in Sicht.18 Umso mehr zeigte Hamilton sich überzeugt, «dass die Sklaverei in die­ sem Land nur durch eine große und furchtbare Konvulsion ausgelöscht» werden könne; nicht anders sahen es auch Beaumont und selbst Tocque­ ville. Woran sie dabei freilich dachten, war eine große, blutige, anarchi­ sche Sklavenrebellion. Dagegen lag ein militärisch ausgetragener großer Krieg und Bürgerkrieg zwischen dem Norden und dem Süden, wie er dreißig Jahre später kam, für sie noch außerhalb jeder Vorstellung – zu­ mal die entlaufenen oder freigelassenen schwarzen Sklaven in den Nord­ staaten keineswegs willkommen waren, im Gegenteil; sie mussten auch hier in weitgehender Segregation und auf der untersten sozialen Stufe vegetieren, so wie nach ihrer Befreiung 1865 im Süden großteils auch. Insofern waren Tocquevilles Beobachtungen äußerst hellsichtig, wenn er feststellte, dass «das Vorurteil gegen die Neger in dem Maße zu wach­ sen (scheint), als sie aufhören, Sklaven zu sein, und die Ungleichheit setzt sich in dem Maße in den Sitten fest, als sie aus den Gesetzen verschwin­ det». Diese Reaktion rechnete er allerdings auch den entlaufenen oder freigelassenen Sklaven selbst an, die er zu einer selbständigen sozialen Entwicklung, geschweige politischen Aktivität für nicht fähig hielt. Da­ her sah er auf absehbare Zeit keine Möglichkeit einer «Emanzipation» im Rahmen der amerikanischen Gesellschaft, eher schon die einer Rück­ siedlung nach Afrika oder auf die Karibischen Inseln – eine Lösung, die Lincoln wie viele vor ihm und nach ihm auch immer wieder erwogen ­hat. Ähnlich undenkbar erschien Tocqueville eine Integration der indiani­ schen Ureinwohner, deren Schicksal er trotz eines Funkens Sympathie mit der Kaltblütigkeit eines in kolonialen Kategorien denkenden Euro­ päers diagnostizierte: «Die Wilden Nordamerikas haben nur zwei Mög­ lichkeiten, der Vernichtung zu entgehen: Krieg oder Kultur.» Entschie­

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den sie sich für die «Kultur», nämlich die der weißen Herren, würden sie per Assimilation verschwinden. Entschieden sie sich für den Krieg (wie sie es gerade in der Ära Jackson taten und in einer Kette von «In­ dianerkriegen» bis zum Ende des Jahrhunderts noch weiter tun sollten), würden sie erst recht ausgelöscht. Kurzum, sie waren so oder so zum Untergang verurteilt, und bei Exkursionen in ihre Stammesgebiete sah Tocqueville diesen Prozess schon so gut wie vollzogen. «Man könnte die Menschen nicht mit mehr Ehrfurcht vor den Gesetzen der Menschlich­ keit vernichten.»19 Die politisch-moralischen Rechtfertigungen der Sklavenhalterei kamen denn auch nicht selten humanitär und antikapitalistisch daher und konnten (wie heuchlerisch auch immer) Argumente enthalten, die durch­ aus den Kritiken am «Industriesystem» und an der «Lohnsklaverei» ­ähnelten oder sich sonstwie aus dem Fundus der europäischen Sozialkri­ tik bedienten. Exemplarisch dafür kann etwa das Vorwort stehen, das Ben Green, der Sohn des Organisators der Rüstungsindustrien der Süd­ staaten Duff Green, 1871 für die von ihm übersetzte «Geschichte der ­arbeitenden Klassen und der bürgerlichen Klassen» des französischen Autors Granier de Cassagnac schrieb. Eingangs zitierte er den berühmten Satz Guizots (Cassagnac war des­ sen Schüler gewesen), wonach «das moderne Europa im Kampf der Klassen geboren» worden sei, um daran anknüpfend die wahren Motive und die zwangsläufigen Folgen des amerikanischen Bürgerkriegs anzu­ prangern: «Wir sehen diesen Kampf der Klassen … im Dogma der poli­ tischen Partei, die Mr. Lincoln gewählt hat und die den Krieg gegen den Süden zur Abschaffung der Sklaverei geführt hat: nämlich dass die freie Arbeit billiger gemacht werden müsse als die Sklavenarbeit  … M. de Cassagnacs Buch weist schlüssig nach, dass alle großen freiwilligen Emanzipationen nur zum Vorteil der Herrenklasse gemacht worden sind, die sich der Fürsorge und der Kosten des Unterhalts ihrer Sklaven haben entledigen wollen … Die zwangsläufige Folge ist, dass der Paupe­ rismus die Konkurrenz im Kampf um die Existenzmittel verschärft, und diese verschärfte Konkurrenz tendiert zu einer immer weiteren Senkung der Löhne, unter die Kosten der Nahrung und der Kleidung eines Skla­ ven, für den auch in der Kindheit, bei Krankheit und im hohen Alter ge­ sorgt worden ist.»20 Völlig falsch war das nicht. Die schwarze Arbeitskraft wurde nach der Befreiung billiger, nicht teurer. Allerdings war dies selbst das Ergebnis

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e­ ines zehnjährigen, heftigen politischen und sozialen Kampfes, den die Schwarzen und die «radikalen Republikaner» verloren. Die winzigen Flecken Plantagenlands, die die freigesetzten Sklaven nach dem Sieg, im ersten Jahrzehnt der «Reconstruction» zugewiesen bekommen hatten, gingen ihnen mitsamt ihren sozialen Verhandlungspositionen und ihren politischen Verfassungsrechten und Selbstvertretungsorganen zum größ­ ten Teil wieder verloren. Die in der Periode der «Redemption» ab 1877 wiederhergestellten oligarchischen Macht- und Eigentumsverhältnisse, verbunden mit der ständigen Bedrohung schwarzer Aktivisten durch die Lynchjustiz weißer Banden sowie mit der ungeschützten Abhängigkeit der Lohnarbeiter, Mini-Farmer oder «Teilpächter» (sharecropper) von ihren Arbeitgebern und Abnehmern sowie von den Konjunkturen der Baumwollpreise – das alles konnte für den Großteil der ehemaligen Skla­ ven bis weit ins 20. Jahrhundert hinein Lebens- und Arbeitsverhältnisse hervorbringen, die fast ebenso drückend und erniedrigend sein konnten wie jede Leibeigenschaft oder selbst die Sklaverei.

Das neue Atlantis Mit dem Ende des Bürgerkriegs, der ein halbes Dutzend Städte des ­Südens dem Erdboden gleichgemacht und 750 000 Tote gefordert hatte, begann der singuläre Aufstieg der USA zu einer Weltmacht, wie es vor und neben ihr keine gegeben hat. Das Staatswesen, das durch den Eini­ gungskrieg entstand, «war ein stabiler Bundesstaat von kontinentaler Größe, ein gigantischer Nationalstaat», wie er «nach der klassischen po­ litischen Theorie nicht als realisierbar gegolten hatte … Allein durch die beherrschende Stellung entlang der Küsten der beiden größten Welt­ meere erhob der neue Staat einen einzigartigen Anspruch auf weltweiten Einfluss und verfügte auch über die nötigen Mittel.»21 In diesem Rahmen und auf dieser Grundlage wurden die Vereinigten Staaten das Land eines entgrenzten und entfesselten Volks- und Hoch­ kapitalismus, der sich mit elementarer Dynamik und aller Rücksichtslo­ sigkeit Bahn brach. Das war ein Prozess der «ursprünglichen Akkumula­ tion von Kapital», der sich von dem in Europa markant unterschied. Die Zuwanderer, überwiegend jung, brachten selten mehr mit als ein paar Er­ sparnisse, ihre erworbenen Fähigkeiten und ihre bare Arbeitskraft. Fast alles, was sie produktiv oder konsumtiv brauchten, mussten sie für Geld, das sie um jeden Preis verdienen mussten, auf dem Markt kaufen. Und

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anders als in den europäischen Ländern waren es weniger koloniale Imund Exporte als vielmehr die Binnenmärkte, die die Akkumulation von großen und kleinen Kapitalien vorantrieben, mit allen dazugehörigen ­Instrumenten eines feinmaschigen Kredit- und Bankwesens. Auch die riesigen Investitionen zum Ausbau der Infrastrukturen, zur Gründung und Erweiterung der neuen Städte oder zur Erschließung von Bodenschätzen mussten großteils ohne staatliche Vorschüsse, Bürgschaf­ ten oder Planungen aus privat gesammelten und akkumulierten Kapi­ talien finanziert werden. So gab es schon am Ende des 19. Jahrhunderts eine breite Schicht von Couponschneidern und Aktionären und darüber eine Oligarchie von Eisenbahnkönigen, Rinderbaronen, Stahlmagnaten, Immobilienmogulen und Großfinanziers, die ihren Reichtum unge­ hemmter als jede Aristokratie zur Schau stellten. Recht und Rechts­ sicherheit setzten sich während der Landnahmen und Neugründungen zunächst meist mit roher Gewalt durch, bevor sie sich, noch immer mit Colt und Galgen, regularisierten und institutionalisierten. Das machte den «wilden Westen» aus, der die USA tatsächlich auch in globaler Hin­ sicht waren. Diese Verhältnisse – in denen jeder einzelne seines Glücks oder Un­ glücks Schmied war, in denen die bewaffneten Siedler «das Gesetz» nach Gutdünken auslegten und selbst exekutierten  – formten Mentalitäten, die auf spätere Einwanderergenerationen abgefärbt haben und bis heute das Selbstbild prägen. Mit den Selbstbildern und Mentalitäten anderer kolonialer Siedlerbevölkerungen, ob in Lateinamerika, Afrika oder im Russischen Imperium, in denen der kolonisierende Zentralstaat mög­ lichst rasch und eifersüchtig seine administrativen Strukturen etabliert hat, sind sie nur sehr begrenzt vergleichbar. Denn kein anderes modernes Staats- und Gemeinwesen ist in einem solch ursprünglichen, konstitu­ tiven Sinn Republik, «res publica», Sache des Volkes gewesen, wie die USA es waren und sind. Auch deswegen haben die USA Menschen aus aller Welt angezogen wie kein anderes Land: Elendsmigranten und Glücksritter, religiöse Dis­ sidenten oder politisch Verfolgte, expansive Unternehmernaturen – und sozialistische Revolutionäre. All diese Zuwanderer organisierten sich zunächst in Landsmannschaften, in religiösen Gemeinden oder Weltan­ schauungsvereinen, die den ersten und wichtigsten sozialen Halt boten, in ausdrücklicher und nicht selten feindseliger Abgrenzung gegeneinan­ der. Von einem «Schmelztiegel» konnte nie die Rede sein. Andererseits konnte es aber auch nie gesellschaftliche Gruppen geben, die hegemonial

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hätten werden können, nicht einmal die ursprüngliche Hauptsiedler­ gruppe der WASPs, der «White Anglo-Saxon Protestants», die selbst nach Herkunft und Glauben zerrissen waren. Für viele der kollektiv in die «Neue Welt» übersiedelten utopisch-kom­ munistischen Sektierer und auch für einige führende Ideologen und Aktivisten des Frühkommunismus wie Wilhelm Weitling wurde dies ­ brodelnde Amerika statt zum Paradiesgarten ihrer irdischen Mission zum Grab ihrer Träume – eben weil sich ihr Gründungsimpuls hier in ­einer Unzahl anderer Einzelinitiativen verlor, die alle in den Ozean kapi­ talistischer Gesamtproduktion und bürgerlicher Erwerbsgesellschaft einflossen. Selbst strikt organisierte «Kommunen» mit sozialrevolutio­ närem Anspruch konnten gar nicht anders, als mit ihrer Außenwelt in Markt- und Geldbeziehungen zu treten, sodass ihr «Kommunismus» eine reine spirituelle Gütergemeinschaft nach innen blieb. Die großen, säkularen Kommunen lösten sich binnen weniger Jahre oder Jahrzehnte auf, oder sie verwandelten sich in (oft erfolgreich wirtschaftende) Ge­ nossenschaften und Aktiengesellschaften. Nur einige religiöse Sekten ha­ ben eine erzkonservative «kommunistische» Lebensform weitergeführt – und das bis heute.22 Das sozialökonomische Resultat war überwältigend: Auf der breiten ­Basis einer handwerklichen und manufakturmäßigen Produktion und ­eines von großen und kleinen Farmern und Viehzüchtern getragenen, leistungsfähigen Agrarsektors entwickelte sich ab dem Ende des Bürger­ kriegs in den USA eine große Industrie, die organisatorisch und techno­ logisch vielfach den fortgeschrittensten Standard repräsentierte, immer den Blick fest auf Großbritannien als die erste, industrielle «Hyper­ macht» gerichtet, deren neueste Maschinerie man entweder kaufte  – oder kopierte. Während auf Großbritannien 1860 noch 20 % der Welt­ industrieproduktion und auf die USA nur etwa 7 % entfielen, betrug der amerikanische Anteil 1913 bereits 32 %, während der Großbritanniens auf 14 % zurückgefallen war. Befeuert wurde dieser industrielle Aufschwung von einem früh aus­ geprägten, frenetischen Konsumismus, der sich in einer von Haus aus «puritanisch» geprägten Gesellschaft nicht von selbst verstand. Das wurde der global vielleicht massenwirksamste Teil der Selbstdarstellung der USA. Siebzig Jahre später sollte er den Generalsekretär der Kommu­ nistischen Partei der Sowjetunion, Nikita Chruschtschow, inmitten einer Ausstellung amerikanischer Kücheneinrichtungen zu prahlerischen Pro­

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gnosen über das Ein- und Überholen der USA binnen ein, zwei Jahrzehn­ ten verleiten und damit auf einen Entwicklungspfad treiben, der sich für ihn selbst und sein Staatswesen als verhängnisvoll erwies. Der Kapitalismus als global ausgerichtete «Marktgesellschaft», in der Boden wie Arbeitskraft, ungehindert von traditionellen Schutzmechanis­ men, vollständig zur Ware wurden, in der die ungehemmte Konkurrenz alle großen und kleinen Kapitalien zwang und zwingt, sich nach den ­gegebenen Standards der Rentabilität zu verwerten und entweder zu ­expandieren oder unterzugehen  – in diesem «Land der unbegrenzten Möglichkeiten» einschließlich der Möglichkeit des radikalen, rettungs­ losen Untergangs jedes Einzelnen wie ganzer Städte, ganzer Industrien, ganzer Lebenskulturen, musste er sich seine eigentliche, beinahe natür­ liche Heimstatt schaffen, sich habitualisieren und zu einer in Fleisch und Blut übergehenden Lebensform werden, die mit dem Staatswesen unmit­ telbar verschmolz. Amerika wurde zum Land eines modernen, expan­ siven Kapitalismus, wie England und das Britische Empire oder auch das aufsteigende Deutsche Kaiserreich es nie werden konnten, geschweige denn das Zarenreich. Dass die USA Anfang des 20. Jahrhunderts der Versuchung widerstan­ den, das spanische Kolonialreich, dem sie in regulären kriegerischen ­Expeditionen seine letzten Kolonien, die Philippinen und dann Kuba, entrissen hatten, als Kolonialmacht zu beerben, wie sie es in der Ära der Präsidenten William McKinley und Theodore Roosevelt noch durchaus vorhatten, war für ihre weitere weltpolitische Stellung allerdings mitent­ scheidend.23 Abermals ging es, wie bei der Aufhebung der Sklaverei, nicht so sehr um moralische Titel selbst, die das verhinderten; sondern diese moralischen Titel waren ihrerseits Ausdruck eines viel höher und weiter zielenden «weltrevolutionären» Anspruchs. Für den amerikanischen «Exzeptionalismus», die Idee der Einzigartig­ keit, wenn nicht der Auserwähltheit, war es zu wenig, nur ein koloniales Imperium unter anderen zu sein. Die Ideologie und Politik der USA zielte von vornherein auf die Welt im Ganzen. So bedurfte es im Ersten Welt­ krieg erst des deutschen U-Boot-Kriegs als einer faktischen Kriegs­ erklärung im April 1917, um die USA aus ihrer formellen Neutralität ­herauszureißen. Und es bedurfte des Überfalls Japans auf Pearl Harbor im Dezember 1941, damit die USA in den Zweiten Weltkrieg eintreten konnten – dann allerdings mit ihrem vollen Gewicht und unter der Lo­ sung der «One World», der «Einen Welt», hinter die sie bisher nicht mehr zurückgegangen sind.

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Trotz seines rapide anschwellenden industriellen Proletariats, das sehr früh ein ausgeprägtes Klassenbewusstsein (im Sinne klar formulierter ­Interessen und Forderungen) an den Tag legte, vor allem im Kampf um existenzdeckende Löhne und um den Acht-Stunden-Normalarbeitstag; und trotz der Tatsache, dass viele Belegschaften oder Gewerkschaften sich mit Streikbrechern, bewaffneten Privatarmeen oder der Polizei in re­ gelrechte Klassenkriege verwickelten, wie es sie in Europa in solcher Heftigkeit kaum gab; und obwohl diese jungen Arbeiterschaften mit ­vielen der politischen und geistigen Fermente ihrer europäischen Her­ kunftsländer durchsäuert waren und ein lebhaftes Bildungswesen ent­ wickelten, eindrucksvolle und farbige Führer, Sprecher und Agitatoren fanden oder hervorbrachten  – trotz alledem wurden die Vereinigten Staaten von Amerika statt zum gelobten Land des Sozialismus im Ver­ lauf des 20. Jahrhunderts zum Bollwerk eines militanten Antisozialismus und Antikommunismus, der oft nicht einmal in der Lage war, Linke von ­Liberalen und Sozialisten von Anarchisten oder Kommunisten auch nur zu unterscheiden. Mit ihren wiederholten Wellen einer «Red Scare», einer hysterischen Roten Furcht im Innern, und mit einer Weltpolitik, die immer wieder dem Gespenst eines strategisch operierenden, alles durchdringenden «Weltkommunismus» aufgesessen ist, sowie mit einer Kette verfehlter und verheerender militärischer Interventionen haben fast alle Regierun­ gen der USA zum Machtaufbau der kommunistischen Hauptmächte UdSSR und VR China und zur globalen Ausbreitung kommunistisch ge­ führter Untergrundbewegungen ebenso viel beigetragen, wie sie ihnen politisch und militärisch im Wege standen. Umgekehrt hat schon die schiere Präsenz und Dynamik der USA als sozialökonomisches Kraft­ bündel erster Ordnung, zumal in ihrer losen Kombination mit dem Bri­ tischen Empire, unter den kommunistischen – wie den faschistischen – Gegenmächten eine ganz entsprechende, letztlich noch verheerendere, weil durch keine inneren Gegengewichte und Gegenstimmen gehemmte Paranoia ausgelöst. Diese Präsenz und Dynamik eines erst nur informell, dann auch formell existierenden Westens hat die Faschisten wie die Kommunisten dazu getrieben, sich entweder, so wie Deutschland, Italien und Japan es versuchten, eine massiv erweiterte Territorialbasis zu schaf­ fen, oder aber, so die UdSSR und die Volksrepublik China, sich nach ­innen hin abzuschotten und nach außen hin eine «internationalistische» Einflusssphäre aufzubauen, nur um schließlich alle neuen Verbündeten/ Vasallen in einem eisern zusammengehaltenen «Sozialistischen Weltla­

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ger» zusammenzufas­sen. Das war die grundlegende globale Machtme­ chanik des 20. Jahrhunderts.24 Marx hatte, wie erwähnt, 1850 für einen kurzen Moment erwogen, jenseits des Atlantik, in New York, ein «neues Athen» zu gründen. Noch die von ihm betriebene Verlagerung des Sitzes der Internationalen ­Arbeiter-Assoziation 1874 von London nach New York, wo einige sei­ ner Getreuen lebten, trug von allen taktischen Erwägungen abgesehen Züge einer vagen Hoffnung, dass seine Erwartung doch aufgehen könnte, wonach gerade drüben in der Neuen Welt auch «eine neue Epo­ che für die Machtentfaltung der Arbeiterklasse» anbrechen könne. Aber statt eines «neuen Athen» fanden seine Parteigänger sich inmitten eines «neuen Atlantis» wieder, das durch alle großen Depressionen und sozia­ len Kataklysmen hindurch sich mit unverwüstlicher Vitalität entwickelte statt etwa unterzugehen.

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Revolutionen von oben

A

m Ende der Europäischen Revolutionen von 1848/49 hätte wohl kaum ein Beobachter vorhergesagt, dass dies die letzte allgemeine Revolution im Westen sein würde – wie es tatsächlich dann der Fall war.1 Diese Feststellung bedeutet allerdings nicht, dass der historische Impuls des «Zeitalters der Revolution», das man demnach auf die beiden Jahr­ hunderte von 1648 bis 1848 datieren müsste, sich bereits erschöpft hatte; im Gegenteil, er hatte sich ausgedehnt und verallgemeinert. «Revolutio­ nen» waren zu einem festen Begriff und einer Tatsache des inner- wie außer­europäischen Staaten- und Gesellschaftslebens geworden. Dabei standen die restaurierten monarchischen Regimes in Preußen oder Österreich ebenso wie die konterrevolutionären Neuschöpfungen in der Art des französischen Bonapartismus nach allgemeinem, auch ­eigenem Urteil anfangs auf recht wackeligen Füßen – während die öko­ nomischen und sozialkulturellen Kräfte, die sich gerade unter diesen neu aufgespannten staatlichen Schirmen entfalteten, den unerledigten For­ derungen (eines liberalen Konstitutionalismus oder einer allgemeinen Demokratie und einer Lösung der nationalen wie der sozialen Fragen) immer neuen Auftrieb geben mussten. Das Gespenst einer neuen Revo­ lution, und womöglich einer «roten Revolution», blieb im Raum, trieb die Regierungen wie die Oppositionen um und fachte das Spiel der sich entfaltenden und konsolidierenden politischen Strömungen und Parteien in vielfältiger Weise an. In Deutschland war es vor allem die Verflechtung der ungelösten na­ tionalen Frage mit den sozialen und verfassungspolitischen Fragen, die eine neue Revolution erwarten ließ. Der spätere Reichskanzler Fürst ­Hohenlohe-Schillingsfürst schrieb in seinen Erinnerungen rückblickend, aber noch ganz im Präsens dieser Zeit: «Hieraus (aus der unhaltbaren Zersplitterung des Reiches) erklärt es sich, dass auch die friedlichsten, konservativen Leute in Deutschland dahin geführt werden, zu erklären: Wir müssen durch die Revolution zur Einheit kommen, weil wir auf ­gesetzlichem Wege das Ziel nicht erreichen können.» Bebel, der diese

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Äußerungen in seinem Lebensbericht zitiert, schreibt ganz richtig: «Wenn man oben so dachte, warum nicht ebenso unten?»2 Dem im Gefängnis sitzenden, insgeheim von rabenschwarzen Gedan­ ken über die charakterlosen Volksmassen heimgesuchten französischen Genossenschaftssozialisten Pierre-Joseph Proudhon erschien «die Revo­ lution» als eine metaphysische historische Kraft, die vom Willen und Charakter der Menschen ganz unabhängig sei und von der Reaktion nur verstärkt werde: «Der Revolution Einhalt gebieten! … Gebietet der Ma­ terie, dass sie nach oben fällt, der Flamme, dass sie nicht brennt, der Sonne, dass sie nicht scheint! … Eine Revolution ist eine Kraft, gegen die jede göttliche und menschliche Macht hilflos ist … Und nun, ihr Reak­ tionäre, … ihr wolltet Blut und Bürgerkrieg. Das hat die Revolution so wenig gestört wie ein Pfeil das Rhinozeros.» Und weiter: «Es gibt keinen Mittelweg zwischen Reaktion und Revolution. Die Reaktion ist aber mathematisch unmöglich; wir haben nicht mehr die Wahl, unrevolutio­ niert zu bleiben; uns bleibt nur die Wahl der Geschwindigkeit. Ich selbst stimme für die Lokomotive.»3 Marx’ gleichzeitig gebrauchte Metapher von den Revolutionen als «Lokomotiven der Geschichte» (man merkt, wie sehr solche Formeln in der Luft lagen) speiste sich eher aus dem gerade entdeckten «gesetzmä­ ßigen» Zusammenhang von kapitalistischen Krisenzyklen mit internati­ onalen Konflikten und politischen Erschütterungen, die dann wieder in eine neue Revolution münden mussten. Die Begeisterung, die die rasch aufeinander folgenden Handelskrisen und kriegerischen Verwicklungen immer von Neuem bei ihm und seinem Kompagnon aus­lösten, konnte unfreiwillig humorige Züge annehmen, wie etwa beim kurzen, aber hef­ tigen Konjunktureinbruch 1857, als Engels jubelnd prophezeite: «Es gibt diesmal ein dies irae wie nie vorher; die ganze europäische Industrie ­kaputt, alle Märkte überführt …, kompletter Bankrott der Bourgeoisie, Krieg und Liederlichkeit im höchsten Grad».4 Marx meldete postwen­ dend zurück, er habe sich seit 1848 nicht mehr so «cozy» (behaglich) ­gefühlt  – auch wenn die Krise ihn persönlich «in financial dis­tress» stürze.5 Jemand hat ausgezählt, dass Marx und Engels öffentlich wie privat im Laufe ihres Lebens mehr als 3000  Revolutionsprognosen abgegeben ­haben.6 Die stete Erwartung einer großen Umwälzung war einfach die Betriebstemperatur, die die beiden ein Leben lang für ihre maßlose lite­ rarische und theoretische Produktion brauchten. Aber in dieser eschato­ logischen Naherwartung lebten ihre politischen Korrespondenten und

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Vertrauensmänner ebenso. So schrieb der stets besonnene, im Modus ­eines «revolutionären Attentismus», eines Zuwartens auf die Revolu­ tion, operierende Führer der halb verbotenen deutschen Partei, August Bebel, im Oktober/November 1882 im Ton einer rein sachlichen Erör­ terung, fast einer politischen Fachsimpelei, an Engels als seinen Men­ tor: «Entweder kommt uns in Bälde abermals eine Handels- und Indus­ triekrise über den Hals, die von Nordamerika ausgeht, und der Rück­ schlag dieser auf Europa treibt dasselbe aus den Fugen, oder es bricht ein europäischer Krieg aus, dessen eine Wirkung alsdann unzweifelhaft die europäische Revolution ist. Ein Drittes vermag ich nicht zu er­ kennen.»7 Jenseits von Weltwirtschaft und Weltpolitik war auch tatsächlich keine Politik mehr zu treiben, ganz gleich welcher Orientierung. Man war in ein neues, nun wirklich über den ganzen Erdball ausgedehntes «Zeitalter des Imperialismus» eingetreten – aber eines modernen, viel höher orga­ nisierten Imperialismus im Vergleich zur Ära der Kolonial- und Seekriege des 18. Jahrhunderts. Und dieser moderne Imperialismus appellierte, wie es bis dahin nur Napoleon Bonaparte getan hatte, an die breiten Massen und zog sie zunehmend in die Politik. Der mittels Telegraf, Fotografie und moderner Druckmaschinen erweiterte Raum einer globalen Medien­ öffentlichkeit diktierte jetzt der Politik seine eigenen Bedingungen und trieb sie eher voran, als dass er sie gebremst hätte. Der von den europäischen Mächten kolonial ausgebeutete oder hege­ monial kontrollierte Raum auf dem afrikanischen Kontinent und im ­gesamten «Orient» von der Levante bis nach China erweiterte sich noch einmal. Gleichzeitig hatten die Großmächte wachsende Mühe zu verhin­ dern, wieder, wie zuletzt in den Kriegen der 1850 er bis 1870 er Jahre, selbst aneinanderzugeraten. Für alle Fälle begannen sie, große strategi­ sche Rüstungsprogramme aufzulegen, trotz einer erneuten und diesmal lang andauernden weltwirtschaftlichen Depression, die von der «Grün­ derkrise» 1873 bis in die 1890 er Jahre hinein dauerte,8 bevor die kapita­ listische Weltwirtschaft dann in den beiden Jahrzehnten vor 1914 in eine Phase der «Great Acceleration» überging.9 Wahlrechtserweiterungen und Sozialreformen, imperiale Mobilisierun­ gen und monarchisches Machtgebaren bildeten ein System zunehmend komplexer Interaktionen. Das klassische Exempel war der Staatsstreich Louis Napoleons 1851, der, obwohl oder gerade weil er als einziger in ganz Europa mittels des allgemeinen Wahlrechts zum Präsidenten ge­

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wählt worden war, sich sogleich aller Repräsentativorgane entledigte und zum «Kaiser der Franzosen» krönen ließ. Marx hatte vom ersten Moment an versucht zu erfassen, was da im Stammland der europäi­ schen Revolution passierte. Mehr und mehr veränderte sich dabei sein Blick auf das Verhältnis von Staatsmacht und Gesellschaft überhaupt. Hatte er in den 1840 er Jahren, vor allem mit Blick auf das französi­ sche Bürgerkönigtum und das Zensuswahlrecht in England oder Frank­ reich, in einer eher schlichten, aber ganz plausiblen Formel vom Staat als einem «Ausschuss» zur gemeinsamen Wahrnehmung und Schlich­ tung der Interessen der besitzenden Klassen (der aristokratischen Grund­ herren und der bourgeoisen Kapitaleigentümer, beide bereits unter der Regie der Hochfinanz) gesprochen, so erforderte der «Bonapartismus» eine komplexere Analyse. Die Neubewertung stand noch ganz unter dem Eindruck der eben nie­ dergeschlagenen Revolution  – genauer gesagt, der Tatsache, dass das ­liberale Bürgertum sich in ganz Europa, nachdem die Massenbewegun­ gen von 1848/49 tatsächlich das Gepräge einer «sozialen Revolution» angenommen hatten, um den Preis der eigenen politischen Nichtigkeit wieder unter die Fittiche der bestehenden, geringfügig modifizierten mo­ narchischen Staatsgewalten geflüchtet hatte. Im revolutionär besonders unterwühlten Frankreich hatte diese monarchische Restauration aller­ dings die neuartige Form eines zugleich gekrönten und plebiszitär legiti­ mierten Bonapartismus angenommen, dem sich auch die alten aristokra­ tischen und die neuen bourgeoisen Eigentümerklassen bedingungslos zu unterwerfen hatten. Dieser Imperator konnte sich zweitens auf die ver­ lumpten Elemente der Gesellschaft stützen, von der neureichen «Lum­ penfinanz» über die deklassierte Bohème bis zum Lumpenproletariat, vor allem aber drittens auch auf einen illusionären, zur Selbstvertretung unfähigen Staatsidealismus der Parzellenbauern und der provinziellen Kleinbürger; während er viertens die Verselbständigung und immer wei­ tere Ausdehnung der administrativen wie der repressiven Staatsfunktio­ nen und ihrer sozialen Trägerschichten vorantrieb. Nachdem sich Marx’ erste Prognose nicht bewahrheitet hatte, dass die äußerste, diktatorische Konzentrierung der Staatsgewalt nur das Vorspiel einer revolutionären Zertrümmerung dieser auf die Spitze getriebenen, reinen Exekutivgewalt sein werde, musste er zur Kenntnis nehmen, dass das Regime Napoleons  III. weitere erstaunliche Evolutionen durchlief und seine Basis eher noch erweiterte. Sekundiert von führenden, aus dem Gefängnis befreiten Sozialisten wie Louis Blanc und selbst dem ernüch­

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terten Proudhon, erließ der Imperator einige staatssozialistische Maß­ regeln (à la Blanc) im Verbund mit der Förderung von Ansätzen genos­ senschaftlicher Selbsthilfe (à la Proudhon) und strich 1864 sogar einige der jahrzehntealten Organisationsverbote für Arbeiter. Gleichzeitig gab sein Regime ehemaligen Saint-Simonisten und Jüngern des Positivisten Auguste Comte viel Raum, ihre technischen und weltwirtschaftlichen Utopien mithilfe aus dem Hut gezauberter Kredit- und Aktiengesellschaf­ ten in die Tat umzusetzen, mit einem Schwerpunkt auf strategischen ­Eisenbahn- und Kanalbauten, in Frankreich selbst wie auf fernen Konti­ nenten. Das spektakulärste Projekt war der Suez-Kanal, der 1869 nach fünfzehnjähriger Bauzeit eröffnet wurde und einen Bogen zur phantasti­ schen Ägypten-Expedition von Napoleon von 1798 schlug  – womit er den alten Orienttraum Frankreichs wiederaufzunehmen schien. Dieser Bonapartismus trug Züge einer sozialimperialen Entwicklungs­ diktatur, die infolge des weltwirtschaftlichen Aufschwungs zwischen 1850 und 1870 genügend Spielraum hatte, um mehr oder weniger allen Klassen und Schichten etwas zu bieten. Louis Bonaparte verstand es, die relative Stabilität eines persönlichen, «kaiserlichen» Regiments abzu­ sichern durch eine Art «gelenkte Demokratie», eine mehr oder ­weniger kontrollierte, aber recht lebendige Öffentlichkeit sowie einen üppig sich entfaltenden, auf seine Person zugeschnittenen Nationalkultus mit impe­ rialen Zügen. Selbst die Aktienschwindel, die einen Gutteil des bürger­ lichen Publikums seiner Ersparnisse beraubten, konnten an dieser Be­ geisterung für das glänzende «Second Empire» nichts ändern. Dieses Modell war eine Zeitlang derart erfolgreich, dass Engels 1866 den «Bonapartismus» schon als eine neue, moderne Regierungsform ­einer abermaligen, ernsthafteren Erwägung würdigte  – vor allem jetzt auch mit Blick auf Preußen, wo Otto von Bismarck sich in ähnlicher Weise, gestützt auf das allgemeine Männerwahlrecht im Norddeutschen Bund und das persönliche Vertrauen des Monarchen, anschickte, große nationale Ziele in Angriff zu nehmen. So schrieb er an Marx: «Also der Suffrage universel coup (der Wahlrechtscoup) Bismarcks ist gemacht, wenn auch ohne seinen Lassalle. Wie es den Anschein hat, wird der deutsche Bürger nach einigem Sträuben darauf eingehn, denn der Bona­ partismus ist doch die wahre Religion der modernen Bourgeoisie. Es wird mir immer klarer, dass die Bourgeoisie nicht das Zeug hat, selbst direkt zu herrschen, und dass daher, wo nicht eine Oligarchie wie hier in England es übernehmen kann, Staat und Gesellschaft gegen gute Bezah­ lung im Interesse der Bourgeoisie zu leiten, eine bonapartistische Halb­

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diktatur die normale Form ist; die großen materiellen Interessen der Bourgeoisie führt sie durch selbst gegen die Bourgeoisie, lässt ihr aber keinen Teil an der Herrschaft selbst. Andrerseits ist diese Diktatur selbst wieder gezwungen, diese materiellen Interessen der Bourgeoisie wider­ willig zu adoptieren.»10 Wenn aber der bonapartistische Staat als «Geschäftsführer» der herr­ schenden Klassen in der Lage war, die «Gesamtinteressen» einer bürger­ lich-kapitalistischen Gesellschaftsentwicklung ohne oder sogar gegen die «zur Herrschaft unfähige» Bourgeoisie durchzudrücken, dann musste dies das Gepräge einer «Revolution von oben» annehmen. Marx und Engels waren sich schon seit Ende der 1850 er Jahre darin einig, dass auf die Periode der Revolutionen von unten nun eine Periode der Revolutio­ nen von oben gefolgt war  – die natürlich umso sicherer eine Periode neuer Revolutionen von unten vorbereiten müsse. Zum Aufgabenkatalog einer «bonapartistischen» Entwicklungsdiktatur gehörte, zumal in Deutschland, vor allem auch die nationalstaatliche Ei­ nigung. Das war (neben dem allgemeinen Wahlrecht) eines der wesentli­ chen Themen des geheimen Austauschs zwischen Bismarck und Lassalle gewesen. In «realpolitischer» Kühle und Kühnheit wollten die deutschen Sozialdemokraten wie ihre Londoner Inspiratoren sich vom preußischen Regierungschef keinesfalls übertreffen lassen, im Gegenteil. So hatte Marx im August 1870, noch während der Mobilisierungen für den unmittelbar bevorstehenden deutsch-französischen Krieg, und nachdem die süddeutschen Staaten sich dem Norddeutschen Bund unter preußischer Führung angeschlossen hatten, in einem Brief an Engels, den Ereignissen und Ergebnissen des Kriegs weit vorgreifend, festgestellt: «L’Empire est fait, i. e. das deutsche Kaisertum». Die nationale Einheit Deutschlands werde nun zwar «weder auf dem beabsichtigten Weg noch in der vorgestellten Weise» zustande kommen. Umso denkwürdiger sei es zu beobachten, wie «alle Mogeleien seit dem Second Empire» am Ende nur dahin geführt hätten, «die ‹nationalen› Zwecke von 1848 aus­ zuführen – Ungarn, Italien, Deutschland!»11 Wenn der französische Kai­ ser in dieser Betrachtung als ein mit Blindheit geschlagenes Werkzeug der Geschichte erschien (Marx und Engels unterschätzten ihn noto­ risch), so war Bismarck der kraftvolle Protagonist einer historischen Entwicklung, bei der er freilich, wie Engels tröstend zurückschrieb, «im­ mer ein Stück von unserer Arbeit» getan habe.12 Immer undeutlicher wurde dann allerdings die scheinbar trennscharfe

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Unterscheidung zwischen einer reaktionären «großpreußischen» Politik Bismarcks und einer revolutionären «großdeutschen» Politik, die die beiden Londoner Präzeptoren, die fast ebenso prussophob wie russo­ phob waren, allen jüngeren Führern der deutschen Sozialdemokraten eingeschärft hatten. So war es doch recht merkwürdig, wenn Engels 1884 seinem Konfidenten Bebel erklärte, das von Bismarck begründete «preußisch-deutsche Reich» sei «eine durchaus revolutionäre Schöp­ fung». Was er, Engels, den preußischen Reichsgründern vorzuwerfen habe, sei allein, «dass sie nur armselige Revolutionäre waren, nicht viel weitergingen und nicht gleich ganz Deutschland und Österreich annexier­ ten». Das nämlich hätte ein «General Engels» an der Spitze einer deutschen Revolutionsarmee in der Situation von 1866 getan: Österreich mitsamt seinen außerdeutschen Besitzungen – ohne Ungarn und Polen, aber in­ klusive Kroatien, Böhmen und Mähren – einem neuen Großdeutschen Reich einverleibt und auf diese Weise auch gleich den Sonderstatus Preußens getilgt. Statt über Bismarcks robuste Machtpolitik zu lamen­ tieren, sollten die vom Sozialistengesetz bedrückten deutschen Sozial­ demokraten lieber an ihrem Feind selbst Maß nehmen. Denn «wer mit Blut und Eisen regiert, Staaten verschluckt, Throne umstürzt und Pri­ vateigentum konfisziert», so wie dieser preußische Krautjunker es im­ mer wieder getan habe, der könne ja schlecht «andere Leute als Revo­ lutionäre verdammen». Die in den Halbuntergrund gedrängte Partei müsse sich eigentlich nur vorbehalten, «nicht mehr und nicht minder revolutionär zu sein als die Reichsregierung gewesen, so hat sie alles, was sie braucht».13

Krieg als Revolution, Revolution als Krieg «Die Gewalt ist der Geburtshelfer jeder alten Gesellschaft, die mit einer neuen schwanger geht. Sie selbst ist eine ökonomische Potenz.» So lautet eine ebenso eindrückliche wie vieldeutige Passage des «Kapital», in der es um Handelskriege und Kolonialsysteme geht, um «die Ausrottung, Versklavung und Vergrabung der eingebornen Bevölkerung in die Berg­ werke», um die «Handelsjagd auf Schwarzhäute» und insgesamt um die «idyllischen Prozesse», die «die Morgenröte der kapitalistischen Ent­ wicklung» begleitet hatten. «Alle aber benutzten die Staatsmacht, die konzentrierte und organisierte Gewalt der Gesellschaft, um den Ver­

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wandlungsprozess der feudalen in die kapitalistische Produktionsweise treibhausmäßig zu fördern und die Übergänge abzukürzen».14 So gewaltig die Anklage, so kühl die Schlussfolgerungen. Mochte das Kapital «von Kopf bis Zeh, aus allen Poren, blut- und schmutztrie­ fend» zur Welt gekommen sein15 – so hatte dieselbe Bourgeoisie, die dieses ­Kapital akkumuliert hatte, doch erst «bewiesen, was die Tätig­ keit der Menschen zustande bringen kann», wie es im «Manifest» hieß. Diese neue geschichtliche Klasse hatte «ganz andere Wunderwerke vollbracht als ägyptische Pyramiden, römische Wasserleitungen und gotische Kathedralen, sie hat ganz andere Züge ausgeführt als Völker­ wanderungen und Kreuzzüge».16 Und das nicht nur in ihrer näheren Umgebung, sondern im Weltmaßstab, vermittels eines mit «Kanonen oder Kattunballen» eröffneten und stets noch erweiterten Weltmarkts, den herzustellen ihr eigentlicher historischer Beruf war und blieb: «Wie sie das Land von der Stadt, hat sie die barbarischen und halbbarbari­ schen Länder von den zivilisierten  …, den Orient vom Okzident ab­ hängig gemacht.»17 Kaum ins Londoner Exil geflüchtet, hatte Marx in globalen Rundum­ blicken wie mit einem Radar die sich abzeichnenden weltpolitischen und weltwirtschaftlichen Entwicklungen dieser Zeit der Jahrhundertmitte ­erfasst. Dass der englische Freihandel nun die Weltmärkte Jahr für Jahr mit seinen Produkten überschwemme, werde noch potenziert durch die Wirkungen, die von der Entdeckung der kalifornischen Goldfelder aus­ gehe: «Eine Küste von 30 Breitengraden Länge, eine der schönsten und fruchtbarsten der Welt, bisher so gut wie unbewohnt, verwandelt sich zu­sehends in ein reiches, zivilisiertes Land, dicht bevölkert von Men­ schen aller Stämme … Das kalifornische Gold ergießt sich in Strömen über Amerika und die asiatische Küste des Stillen Ozeans und reißt die widerspenstigsten Barbarenvölker in den Welthandel, in die Zivilisa­ tion.» Damit bekomme der Welthandel insgesamt eine völlig neue Rich­ tung: «Dann wird der Stille Ozean dieselbe Rolle spielen wie jetzt der Atlantische und im Altertum und Mittelalter das Mittelländische Meer – die Rolle der großen Wasserstraße des Weltverkehrs; und der Atlantische Ozean wird herabsinken zu der Rolle eines Binnenmeers, wie sie jetzt das Mittelmeer spielt.» China aber durchlebe unter diesem Druck eine Gesellschaftskrise, die sich zu einer alles erschütternden Revolution auswachsen müsse. Das war eine hellsichtige und erschreckend heiter in den Raum gestellte Pro­ phezeiung. Tatsächlich hatte der von materieller Verzweiflung und mil­

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lenaristischen Motiven getriebene Aufstand der «Taiping»-Rebellen im Süden Chinas gerade Züge einer gesamtnationalen Bewegung angenom­ men; und die beiden Londoner Weltanalytiker, wie immer den «Ironien der Geschichte» auf der Spur, fanden es «ein ergötzliches Faktum, dass das älteste und unerschütterlichste Reich der Welt durch die Kattun­ ballen der englischen Bourgeois in acht Jahren an den Vorabend einer gesellschaftlichen Umwälzung gebracht worden ist, die jedenfalls die be­ deutendsten Resultate für die Zivilisation haben muss».18 Den Geist einer europäischen oder westlichen Zivilisierungsmission haben Marx und Engels jederzeit in der denkbar offensivsten Weise ver­ treten. «Oder ist es etwa ein Unglück, dass das herrliche Kalifornien den faulen Mexikanern entrissen ist, die nichts damit zu machen wussten?»19 Nach der gleichen Logik musste dann auch im revolutionär erschütter­ ten Europa das historische Initiativrecht denjenigen Völkern zufallen, die zu einer energischen Staatsbildung und modernen Wirtschaftstätig­ keit fähig waren, neben den Briten und Franzosen an erster Stelle den Deutschen: «Mit demselben Recht, mit dem die Franzosen Flandern, ­Lothringen und Elsass genommen haben und Belgien früher oder später nehmen werden, mit demselben Recht nimmt Deutschland Schleswig» – jenes kerndeutsche Ländchen im Norden, an dem sich (wäre es nach der «Neuen Rheinischen Zeitung» gegangen) im Herbst 1848 ein nationaler Befreiungskrieg hätte entzünden sollen; standen dessen illegitime Eigen­ tümer, die Dänen, doch nur für das «brutale, seeräuberische» Skandina­ viertum, dessen überschwängliche Gefühlswelt nichts als «Rohheit ge­ gen Frauenzimmer, permanente Betrunkenheit» usw. darstellte.20 Faule Mexikaner, rohe Dänen, schmierige Juden – die Reihe verächt­ licher Qualifizierungen dieser Art ließe sich beliebig fortsetzen; und sie sind nur deshalb nicht einfach als «rassistisch», «antisemitisch» oder «deutschtümelnd» zu qualifizieren, weil es sich um ein fließendes, nach allen Seiten offenes Spiel kultureller, sozialer oder politischer Auf- oder Abwertungen handelte, in dem je nach Lage und Verhalten die deut­ schen Philister und preußischen Kommissköpfe genauso ihr Fett abbeka­ men wie alle anderen. Es gab jedenfalls keine feste Hierarchie der Wer­ tigkeiten – wobei die Urteile jederzeit wechseln konnten. Die Polen, die so oft und so lyrisch gerühmten Vorkämpfer einer west­ lichen Zivilisation gegen die östliche, «halbmongolische» Zarendespotie, konnten im vertrauten Austausch der beiden Dioskuren ganz schnell zu einer «nation foutue», einer verratzten Nation, degenerieren, die ein revo­ lutionäres Großdeutschland am besten weit nach Osten abdrängen sollte.

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Dafür erschien Russland plötzlich immer interessanter und zu erstaun­ lichen Entwicklungen fähig, nachdem sich ein Teil der Intellektuellen mit fieberhaftem Interesse auf Marx’ «Kapital» gestürzt hatte und sich mit den Attentaten der Volkstümler-Terroristen die reale Möglichkeit eines «russischen 1789» anzudeuten schien. Indien dagegen würde als ein Land der asiatischen Produktionsweise und orientalischen Despotie erst einmal durch das von Britannien auferlegte «kaudinische Joch» des ­kolonialen Kapitalismus hindurchgehen müssen; aber einmal unabhän­ gig und modern geworden, würde es vielleicht Europa noch in Staunen versetzen; so wie erst recht China, wenn es einmal aufgebrochen und in den Welthandel integriert wäre. Und so weiter. Axiomatisch war allerdings, und das war der erschreckendste Teil ­ihres gesamten intellektuellen Weltsystems, dass der immer neu visio­ nierte Kriegs- und Revolutionssturm zu einer großen Bereinigung der ­europäischen Völkerkarte würde führen müssen. Auch das gehörte für sie zur kapitalistischen Moderne, die Licht ins Dunkel bringen werde. Denn: «Es ist kein Land in Europa, das nicht in irgendeinem Winkel eine oder mehrere Völkerruinen besitzt, Überbleibsel einer früheren Bewoh­ nerschaft, zurückgedrängt und unterjocht von der Nation, welche später Trägerin der geschichtlichen Entwicklung wurde. Diese Reste einer von dem Gang der Geschichte, wie Hegel sagt, unbarmherzig zertretenen Nation, diese Völkerabfälle werden jedesmal und bleiben bis zu ihrer gänzlichen Vertilgung oder Entnationalisierung die fanatischen Träger der Kontrerevolution, wie ihre ganze Existenz überhaupt schon ein Pro­ test gegen eine große geschichtliche Revolution ist.»21 Solche Völker­ ruinen und Völkerabfälle wie die schottischen Gälen in Britannien, die Bretonen in Frankreich oder die Basken in Spanien waren also nichts als ein Bodensatz jener Staats- und Nationsbildungsprozesse, die das Ent­ stehen bürgerlicher Gesellschaften nun einmal begleiteten. Daher werde der «nächste Weltkrieg … nicht nur reaktionäre Klassen und Dynastien, er wird auch ganze reaktionäre Völker vom Erdboden verschwinden las­ sen». Auch das sei «ein Fortschritt».22 Mit anderen Worten: Die Bildung großer, lebensfähiger, zentralisierter Staaten und Nationen musste zu den vordringlichsten Aufgaben einer demokratischen Revolution gehö­ ren, weil nur in diesem Rahmen moderne bürgerlich-kapitalistische Ver­ hältnisse und mit ihnen ein großindustrielles Proletariat sich würden entwickeln können.

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Das politische Programm der «Neuen Rheinischen Zeitung» im Jahr 1848, schrieb Engels im Rückblick, habe sich im Grunde in zwei Punk­ ten zusammenfassen lassen: erstens, «einige, unteilbare, demokratische deutsche Republik» sowie zweitens, «Krieg mit Russland, der Wieder­ herstellung Polens einschloss.»23 Eigentlich war das ein und dasselbe: Wenn es einmal gelang, «Deutschland zum Krieg gegen Russland zu bringen, so war es aus mit Habsburg und Hohenzollern, und die Revo­ lution siegte auf der ganzen Linie».24 Natürlich war es Ehrensache, «für jedes revolutionäre Volk» einzutreten, das sich in diesen Kampf ein­ reihte, für die Nord- und Süditaliener zum Beispiel, wenn sie sich gegen Habsburg und den Vatikan erhoben. Aber jeder dieser Nationalkämpfe war eben auch eine Probe auf die geschichtliche Lebensfähigkeit der be­ treffenden Völkerschaften. Wie sich bald zeigte, waren im östlichen Europa außer den Polen ­allenfalls die Magyaren (Ungarn) überhaupt würdig und fähig, eine eigen­ ständige und entwicklungsfähige Staatsnation zu bilden  – während das Gros der slawischen Völkerschaften in Mittel- und Südosteuropa sich ent­ weder als willfährige Büttel der habsburgischen Konterrevolution oder, schlimmer, als Werkzeuge des zaristischen Panslawismus erwiesen. Am schärfsten wurden Marx und Engels gerade in der Polemik gegen ­ihren alten Bekannten aus Pariser und Brüsseler Tagen, den russischen Revolu­ tionär Michail Bakunin, der im Februar 1849 von Prag aus einen «Aufruf an die Slawen» gerichtet hatte, sich unter russisch-revolutio­närer Füh­ rung zu vereinen, um beim Sturz der «Holsteiner» (also deutschen) Zaren zu helfen und gleichzeitig dem «Pangermanismus» im O ­ sten Europas, also Preußen und Habsburg, einen «unerbittlichen Kampf auf Leben und Tod» anzusagen. Fast exakt spiegelverkehrt und in einem noch schärferen Ton hatte Engels daraufhin den «sentimentalen Brüderschaftsphrasen», welche Bakunin «im Namen der kontrerevolutionärsten Nationen Euro­ pas» verkündet habe, die Feststellung entgegengestellt, «dass der Russen­ hass die erste revolutionäre Leidenschaft bei den Deutschen war und noch ist; dass seit der Revolution der Tschechen- und Kroatenhass hinzu­ gekommen ist; und dass wir, in Gemeinschaft mit Polen und Magyaren, nur durch den entschiedensten Terrorismus gegen diese slawischen Völker die Revolution sicherstellen können». Dann werde die Losung eben ganz entsprechend heißen: «Kampf, ‹unerbittlichen Kampf auf Leben und Tod› (die Bakunin-Formel) mit dem revolutionsverräterischen Slawentum; Vernichtungskampf und rücksichtsloser Terrorismus – nicht im Interesse Deutschlands, sondern im Interesse der Revolution!»25

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Dieser Krieg musste als ein regelrechter revolutionärer Kreuzzug ge­ führt werden, als ein «Krieg des Westens gegen den Osten, der Zivili­ sation gegen die Barbarei, der Republik gegen die Aristokratie».26 Selbst die Möglichkeit, dass das Panorama dieses «Weltkriegs» sich noch ein­ mal gewaltig erweitern könnte, wenn England an der Seite Russlands und Preußens gegen die deutschen und europäischen Revolutionen inter­ venierte, schreckte Marx als Leitartikler der «Neuen Rheinischen Zei­ tung» im September 1848 nicht, im Gegenteil: «(Gerade) solch ein Krieg tut der entschlummernden deutschen Bewegung not; ein Krieg gegen die drei Großmächte der Konterrevolution …, ein Krieg, der ‹das Vaterland in Gefahr› bringt und gerade dadurch rettet, indem er den Sieg Deutsch­ lands vom Siege der Demokratie abhängig macht.»27 Überdeutlich firmierte hier der Krieg, sogar ein «Weltkrieg», als mo­ ralischer Geburtshelfer einer neuen Gesellschaft, die aus den gegebenen sozialen Widersprüchen alleine offenbar nicht entstehen konnte. Viel­ mehr war ein Krieg selbst eine Revolution, «die von der Peripherie den gesellschaftlichen Körper erfasst und nach innen schlägt: Er stellt eine Nation auf die Probe. Wie Mumien augenblicklich zerfallen, wenn man sie der atmosphärischen Luft aussetzt, so fällt der Krieg sein Todesurteil über alle sozialen Einrichtungen, die keine Lebenskraft mehr besit­ zen».28 Das war eine ebenso makabre wie prophetische Formulierung – ein prä-leninistischer Gedanke. Dass eine starke, geeinte deutsche Nation nur in einem Krieg gegen Russland geschmiedet werden könne, war allerdings auch unter Libe­ ralen und Demokraten in Deutschland eine verbreitete Maxime, so im Kreis um die Brüder Friedrich, Heinrich und Max von Gagern, Reichs­ freiherrn ihres Zeichens, die im März 1848 den Versuch machten, den preußischen König für das Projekt eines deutschen Einigungskriegs ­gegen Russland zu gewinnen, verbunden mit der Wiederherstellung ­eines weit nach Osten verschobenen, unter deutschen Schutz gestellten Polens (minus seiner «germanisierten» Territorien). Friedrich Wil­ helm  IV., der keinerlei Lust zeigte, sich auf eine derart kriegerisch-­ revolutionäre Weise zum König oder Kaiser eines neuen Großdeut­ schen Reichs erheben zu lassen, sei erschrocken zurückgewichen und habe ausgerufen, niemals werde er das Schwert gegen Russland erhe­ ben – im ­realistischen Bewusstsein, dass ihm die Zügel dann vollends aus der Hand gleiten würden.29 Aus eben diesem Grund hatten Arnold Ruge und andere Abgeordnete vom linken Flügel der Frankfurter Pauls­kirchenVersammlung immer wieder in das Horn eines deutschen Einigungs­

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kriegs gegen Russland gestoßen. Marx’ «Neue Rheinische Zeitung» war insoweit nur die publizistische Speerspitze einer breiteren Strömung. Diese Sorte revolutionärer Kriegslüsternheit, bei der Marx und Engels allerdings so ziemlich den Vogel abschossen, gehörte noch ein Viertel­ jahrhundert nach 1848 zu ihrer psychischen und intellektuellen Grund­ ausstattung, in enger Verbindung mit den zitierten, immer erneuerten weltwirtschaftlichen Krisenprognosen – Prognosen, die nie gegenstands­ los waren, aber sich doch nie ganz erfüllten und wegen ihres apodikti­ schen und finalen Tons bei ihren verbliebenen Gefährten insgeheim als ein gewisser Spleen der beiden zu gelten begannen. Ähnlich überhitzt, aber auch analytisch präzise waren ihre ständig wechselnden Kriegsszenarien. Tatsächlich war die Periode von 1849 bis 1871 eine Zeit der neuerlichen direkten Zusammenstöße zwischen den Großmächten  – den ersten seit den napoleonischen Kriegen und den letzten vor 1914. Dabei stand für Marx wie für Engels in monomaner Weise immer wieder die Bedrohung Europas durch das Zarentum im Vordergrund, die ihre Parteinahmen in fast allen Konflikten letztlich be­ stimmte, ob es passte oder nicht. Überall sahen sie die Hand Moskaus am Werk. Niemand hat so eindrücklich wie Marx in einer Artikelserie in der «New-York Tribune» den mit ehrwürdigen historischen und reli­ giösen Titeln geschmückten Zugriff des Zarentums auf Konstantinopel und die Meerengen (die türkischen wie die dänischen) als das letzte und vielleicht entscheidende Glied in einer Kette beispielloser 150-jähriger Expansionen Russlands dargestellt und die existentielle Gefahr beschwo­ ren, die von diesem russischen Griff nach der Weltmacht für das ganze fortschrittliche Europa ausging.30 Aus der Luft gegriffen war das nicht. Der Krimkrieg, der sich 1853 am Vorstoß russischer Truppen in die türkischen Donaufürstentümer entzündete, trug tatsächlich binnen Kurzem Züge des prophezeiten Weltkriegs zwischen «Osten» und «Westen», nachdem England und Frankreich sich an die Seite des Osmanischen Reichs gestellt hatten. Die Kriegshandlungen weiteten sich vom Balkan auf den Transkauka­ sus, die Ostsee und den Fernen Osten aus, bevor sie sich schließlich in einem exemplarischen Kräftemessen auf der Krim entschieden. Briten und Franzosen hatten im September 1854 dort eine Expeditionsarmee mit Hunderttausenden Soldaten gelandet – in diesem Format ein mili­ tärgeschichtliches Novum –, um die russischen Kriegshäfen, vor allem Sebastopol, einzunehmen und auszuschalten, was ihnen nach einjähriger Belagerung und äußerst verlustreichen Kämpfen schließlich auch gelang.

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Engels verfasste laufend militärstrategische Analysen dieses Krim-­ Feldzugs, der viele Elemente der Kriege des 20. Jahrhunderts bereits ­vorwegnahm. Entscheidend war, dass die britischen und französischen Expeditionstruppen trotz der langen Seewege rascher mit Nachschub versorgt werden konnten als die schwerfälligen russischen Armeen, die auf rudimentäre Eisenbahn- und Straßenverbindungen ins Landesinnere und auf lokale Ressourcen angewiesen waren. So lieferte die russische Niederlage, die am Ende stand, einen entscheidenden Anstoß zur inne­ ren Reform Russlands, von der Bauernbefreiung 1862 bis zum beschleu­ nigten Eisenbahnbau. Aber auch die anschließenden europäischen Kriege ergaben sich in der einen oder anderen Weise aus den Machtverschiebungen dieses «Krim­ kriegs». Das gilt vor allem für die italienischen Einigungskriege der frü­ hen 1860 er Jahre. Parallel dazu entrollte sich die Kette der deutschen ­Einigungskriege unter Bismarck. Nicht anders die Feldzüge und Kriege auf den anderen Kontinenten, in Lateinamerika, Afrika und Asien, in denen die europäischen Mächte mal kooperierten und mal sich bekrieg­ ten, um ihre jeweiligen außereuropäischen Machtpositionen zu vertei­ digen und auszubauen – so in den verheerenden Strafexpeditionen, die England 1857 zur Niederschlagung des «Großen Aufstands» (Sepoy-Auf­ stand) in großen Teilen Indiens führte; oder im zweiten «Opiumkrieg», der 1859 ein vereintes englisch-französisches Expeditionskorps bis nach Peking brachte, wo es in einem Akt beispielloser Barbarei den Sommer­ palast der chinesischen Kaiser niederbrannte und China einem dauerhaf­ ten Regime «Ungleicher Verträge» unterwarf. Und dasselbe gilt für die von Frankreich geführte Militärintervention e­ uropäischer Mächte in den mexikanischen Bürgerkrieg, die 1864 zur Errichtung eines operettenhaf­ ten «Kaiserreichs Mexiko» führte, bevor 1867 die mexikanischen Repu­ blikaner mit Rückendeckung der Ver­einigten Staaten die Europäer zum Abzug zwangen und den weltfremden, eigentlich wohlmeinenden Kaiser Maximilian erschossen.

Leviathan 2.0 Die publizistischen Interventionen von Marx und Engels liefen – unge­ achtet aller schneidenden Anklagen gegen die Inhumanität der krieg­ führenden und kolonisierenden Mächte und ihre maßlose Raubgier – immer zugleich darauf hinaus, diese der Feigheit, Unfähigkeit und

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I­ nkonsequenz zu bezichtigen. So ergingen die beiden sich in ihren Kor­ respondenzen über den Krimkrieg in ätzenden, vermutlich treffenden Betrachtungen über die Missbräuche, die Unfähigkeit und Gleichgültig­ keit der britischen Heeresorganisation, die «faul bis zum Herzen» und «das unvermeidliche Produkt der Herrschaft einer überlebten Oligar­ chie» sei.31 Umgekehrt wurde der Krieg als eine Art Gesundbrunnen gerühmt, den die alten Regimes eben nicht mehr zum Sprudeln bringen konnten, so in einer ihrer ersten (gemeinsam verfassten) Philippiken gegen den Krimkrieg: «Mag Europa verfault sein, ein Krieg hätte … die gesunden Elemente aufrütteln müssen; ein Krieg hätte manche verborgenen Kräfte wecken müssen und sicherlich wäre unter 250 Millionen Menschen so­ viel Energie vorhanden gewesen, dass wenigstens ein ordentlicher Kampf zustande gekommen wäre … Aber nein.»32 Der immer wiederkehrende Fluchtpunkt all dieser Argumentationen war es, dass nur ein revolutionär geführter, auf gute militärische Schu­ lung und ­aktive politische Motivierung der einfachen Soldaten und mili­ tärischen Kader gegründeter Krieg überhaupt noch ein moderner Krieg sein könne. Wenn es einen zeitgenössischen Krieg gab, der in ihren ­Augen das Prädikat eines wirklich modernen, nämlich mit revolutionä­ ren Mitteln geführten Kriegs verdiente, dann am ehesten der ohne jede Rücksicht auf Verluste geführte amerikanische Bürgerkrieg. Dahinter stand die weitergehende Überlegung, dass derart mobili­ sierte, auf Freiwilligkeit oder besser noch, auf eine allgemeine Wehr­ pflicht gegründete Armeen sich als das entscheidende Hindernis für reaktionäre Machtstreiche jeder Art erweisen würden  – so wie sie ­ schließlich auch das designierte Medium einer künftigen «proletarischen Diktatur», eines revolutionären Übergangs von einer bürgerlich-kapita­ listischen zu einer proletarisch-sozialistischen Gesellschaft sein würden. Gerade darin würde sich die Rolle der Gewalt als einer «Geburtshelfe­ rin» noch einmal (ein letztes Mal) zu bewähren haben. Ordnet man die fieberhafte Kriegs- und Kriseneuphorie und die be­ gleitende Gewaltrhetorik, der Marx und Engels in den Revolutions­ jahren 1848/49 und bis weit in die 1870 er Jahre hinein gehuldigt haben, in ihren historischen Kontext ein, ist erstens natürlich zu bedenken, dass sie sich auf die sehr realen und äußerst blutigen Kriegs- und Eroberungs­ züge der Großmächte des Zeitalters bezogen und sich gleichzeitig aus den Erfahrungen militärischer, paramilitärischer und justizförmiger Re­ pressionen speisten, die mit ihren maßlosen Massakern und Kanonaden,

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Exekutionen und Deportationen den Begriff eines «Kannibalismus der Kontrerevolution» nur zu sehr verdient hatten. Dagegen sind alle die schäumenden Terror- und Vernichtungsdrohun­ gen, die sich in ihrer Publizistik immer wieder fanden, Rhetorik geblie­ ben. Wie es überhaupt aus dem Umkreis ihrer engeren Parteigänger kein Beispiel einer praktischen Realisierung gegeben hat, das auch nur ent­ fernt dem künftigen «roten Terror» der Bolschewiki vergleichbar wäre. Ähnlich verhielt es sich mit den in Phantasien einer blutigen «Volks­ rache» schwelgenden französischen Blanquisten, mit denen die «Partei Marx» sich 1850 für kurze Zeit alliiert und von denen sie den Begriff ­einer ­«Diktatur des Proletariats» ursprünglich entliehen hatte, zu kei­ nerlei entsprechenden Aktivitäten gekommen. Im 19. Jahrhundert hat der regelmäßig geübte «weiße Terror» jede Art eines «roten Terrors» weit übertroffen. Im 20. Jahrhundert würde dieses Verhältnis sich dann (teilweise) umdrehen. Andererseits zeigten die Ereignisse dieser zweiten Jahrhunderthälfte, dass die Rolle der staatlichen und militärischen Gewalt als «Geburts­ helferin» einer modernen Welt auch tatsächlich noch nicht an ihre histo­ rischen Grenzen gestoßen war, sondern jetzt erst recht als eine «Produk­ tivkraft» wirkte  – in jener «antagonistischen» Art und Weise freilich, von der das Marx’sche Fortschrittsnarrativ von der antiken Sklaverei bis zur modernen Lohnsklaverei ja ohnehin durchdrungen war. Tatsächlich erledigten die imperialen Kriegsherren und bonapartistischen Konter­ revolutionäre dieser formativen Periode, wie prototypisch Bismarck, im­ mer von Neuem viele der «Aufgaben», sprich: der Modernisierungsleis­ tungen, die idealtypisch einer «bürgerlichen Revolution» und in ihrem ­Gefolge einer «proletarischen Diktatur» zugekommen wären. In der im­ pliziten Anerkennung dieses Sachverhalts steckte insoweit bei allen Illu­ sionen ein gutes Maß an historischem Realismus. Dass es den «liberalen Nachtwächterstaat» nie gegeben hat, außer als ­liberalen Wunschtraum oder als reaktionäres Schreckgespenst, auch nicht in Großbritannien, bedarf inzwischen keiner näheren Begrün­ dung mehr. Selbst wenn man den Kernsektor einer kapitalistisch getrie­ benen und organisierten Industrie ins Auge fasst, waren staatliche Maßnahmen wie Schutzzölle oder Freigabe des Außenhandels, steuer­ liche und sonstige Förderungen, Gewerbelizenzen und berufliche Privi­ legien jeder Art sowie großangelegte infrastrukturelle Maßnahmen für die Konkurrenzfähigkeit und Entwicklungspotentiale der neuen Indus­

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trien und gewerblichen Massenproduktionen von essentieller Bedeu­ tung.33 Das galt nicht zuletzt auch für ihre Durchsetzung gegen die massiven und vielseitigen innergesellschaftlichen Widerstände. Dazu gehörte die staatliche Gewährleistung der allgemeinen Sicherheit und Ordnung ebenso wie eine funktionierende Justiz und Verwaltung sowie der (in der Regel bewaffnete, vielfach militärische) Schutz der Fabriken und Fabri­ kanten selbst bei Arbeitskämpfen. Geregelte Verfahren einer Moderie­ rung von Arbeitskonflikten, die ihren physischen, gewaltsamen Austrag ersetzen konnten, hat es in aller Regel erst zum Beginn des 20. Jahrhun­ derts gegeben. Aber die Rolle des Staates griff über all diese Einzelaspekte weit hi­naus und ging insoweit in der Rolle eines Machtorgans der herrschenden Klas­ sen immer weniger auf. Wie gerade Großbritannien der Welt zeigte, war die Produktivität des wirtschaftlichen Apparats genauso von einem funk­ tionierenden gesellschaftlichen Ganzen abhängig wie von der Größe und Ausstattung der einzelnen Fabriken. Für eine durchgreifende Industriali­ sierung brauchte es darüber hinaus den Zugang zu externen Märkten und Rohstoffquellen und ihre militärische und administrative Sicherung. Um­ gekehrt war die äußere Macht jedes modernen Staates zunehmend von seiner industriellen und technologischen Leistungs­fähigkeit abhängig, die damit auch die staatliche Politik im Ganzen zunehmend bestimmte, wel­ che ihrerseits verstärkt wieder neo-merkantilistische Züge annahm. Ob der Imperialismus der großen Mächte in dieser zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einem großen strategischen Konzept gehorcht hat, und ob die koloniale Unterwerfung, Erschließung und Durchdringung fast aller noch nicht modern-staatlich organisierten Gebiete der Erde sich für das Dutzend kleiner und großer europäischer Imperialmächte  – zeit­ weise kamen die USA sowie das reformierte Japan hinzu  – überhaupt kaufmännisch «gelohnt» hat, sei hier dahingestellt. Was dadurch jedenfalls in Gang kam, waren immer neue, dynamisch aufeinander wirkende weltwirtschaftliche Kreisläufe, die in einer denk­ bar brutalen, aber eben auch produktiven Weise mobilisierend wirkten. Wie in den Rezepten der physiokratischen Wirtschaftstheoretiker des 18. Jahrhunderts vorgezeichnet, konnte man jetzt in England selbst ebenso wie im fernen Indien «aus den fortwährenden Dividenden, wel­ che die Landwirtschaft erbrachte …, Straßen, Häfen, Paläste bauen und all die nicht-landwirtschaftlichen Produkte herstellen, die eine Gesell­ schaft konsumierte».34

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Damit wiederholte sich auf neuer Stufe und in globalem Maßstab, was schon in den europäischen Ursprungsländern des industriellen Ka­ pitalismus einen Bruch oder geradezu einen Riss im Kontinuum der ­bisherigen menschlichen Geschichte bedeutet hat: nämlich «die Trans­ formation der natürlichen und menschlichen Substanz der Gesellschaft in Waren» – der Arbeit und des Bodens, um noch einmal Karl Polanyi und seine klassische Arbeit über «Die große Transformation» zu zitie­ ren.35 Diese «Große Transformation», für die in den Ländern Europas immerhin viele gewohnheitsmäßige und mentale Voraussetzungen ge­ schaffen waren, traf die in den Bannkreis des europäischen Kolonialis­ mus hineingerissenen außereuropäischen Länder mit einer Gewalt, die sich kaum überzeichnen lässt. Erst die Eindrücke des indischen Massen­ elends unter dem britischen Regime haben Marx jene bereits zitierte Me­ tapher eingegeben, die sich auf den Gang der kapitalistischen Entwick­ lung insgesamt bezog, als er schrieb, der Fortschritt gleiche hier «jenem scheußlichen heidnischen Götzen …, der den Nektar nur aus den Schä­ deln Erschlagener trinken wollte».

3. Der europäische Sozialismus

Weltkongresse von Kapital und Arbeit

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ie Weltausstellungen der Industrie in London und Paris zwischen 1851 und 1900 waren Meilensteine in der Entwicklung und Durch­ setzung des modernen Kapitalismus und zugleich Demonstrationen sei­ ner staat­lichen Förderung und Zusammenfassung. Aber gleichzeitig wa­ ren sie auch mit der ­Geschichte des Sozialismus und der europäischen Arbeiterbewegungen vielfach verbunden. Merkwürdig war nur, dass  – während Ströme englischer Bürger und Besucher aus ganz Europa 1851 zum «Crystal Palace» pilgerten – Marx und Engels keine Lust zeigten, die neuesten Errungenschaften der Technik und Industrie mit eigenen Augen zu sehen, obwohl sie doch eben noch verkündet hatten, dass die­ ser «Weltkongress von Produkten und Produzenten … von ganz anderer ­Bedeutung als die absolutistischen Kongresse  … oder als die europä­ isch-demokratischen Kongresse» sein werde. Weder in ihren publizier­ ten Artikeln noch in ihrer internen Korrespondenz würdigten sie das ­Ereignis irgendeiner weiteren Betrachtung.1 Bei der nächsten großen Londoner Ausstellung 1862, die sechs Millio­ nen Besucher anzog, hätte Engels als praktizierender Kapitalist für sei­ nen Freund eigentlich den Cicerone spielen sollen. Aber «der General» zeigte sich von Anfang an unwillig und lästerte nach altem Muster über die begeisterten Besucher, die zu ihm nach Manchester kamen: «Östrei­ cher, Hinterwäldler, Franzosen … Ich weiß gar nicht mehr, wo mir der Kopf steht  … Der Teufel hole die Ausstellung.»2 Und Monate später schrieb er, inzwischen sei ihm «die dumme Ausstellung … vom Hören­ sagen so verhasst geworden, dass ich mich ordentlich freue, sie nicht zu sehn.»3 Also ging Marx kurz vor Toresschluss alleine hin. Aber auch jetzt schrieb er darüber nichts, sondern verwendete seine Eindrücke erst im «Kapital». In all ihrer ironischen Überlegenheit entging den beiden, dass am Rande dieser Londoner Ausstellung erste Kontakte zwischen französi­ schen Arbeiterdelegationen, die mit großzügiger Unterstützung Napo­ leons  III. die Londoner Ausstellung besichtigt hatten, und englischen

3. Der europäische Sozialismus

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­ ewerkschaftsführern geknüpft wurden. Drei Jahre später sollten sie zur G Gründung einer «Internationalen Arbeiter-Assoziation» (IAA) führen. Auch in den folgenden beiden Jahrzehnten blieben die Weltausstellun­ gen eine bevorzugte Bühne für alle Versuche einer internationalen Ver­ bindung der allenthalben nun aufschießenden sozialistischen Organi­ sationen. 1878 gab es seitens französischer Sozialisten eine erneute ­(vergebliche) Ini­tiative, am Rande der Pariser Weltausstellung dieses Jahres einen «internationalen Arbeiterkongress» zu veranstalten, der die inzwischen aufgelöste IAA hätte neu beleben sollen. So dauerte es bis 1889, bis sich anlässlich der nächsten Pariser Welt­ ausstellung (diesmal vom stählernen Eiffelturm gekrönt) Delegierte ­sozialistischer Organisationen aus zwanzig Ländern trafen, allerdings in zwei getrennten Versammlungen, in denen die gemäßigten, eher ge­ werkschaftlich oder genossenschaftlich orientierten «Possibilisten» und die etwas radikaleren, mehr politisch orientierten «Marxisten» (beides eher Spitznamen als Selbstbezeichnungen) sich jeweils zusam­ menschlossen. In dem von Lafargue und Guesde verfassten Aufruf der französischen «Marxisten», worin sie anlässlich des 100. Jahrestags des Sturms auf die Bastille zu einer «Internationalen Arbeiterversammlung» nach Paris ­einluden, hieß es: «Die Kapitalisten laden die Reichen und Mächtigen zu der Weltausstellung ein, die Werke der Arbeiter zu betrachten und zu be­ wundern, die inmitten des kolossalsten Reichtums, den je eine mensch­ liche Gesellschaft besessen, zum Elend verurteilt sind. Wir Sozialisten, deren Streben die Befreiung der Arbeit, die Abschaffung der Lohnsklave­ rei und die Errichtung eines Gesellschaftszustandes ist, in dem alle ­Arbeiter ohne Unterschied des Geschlechtes und der Nationalität ein Recht auf den durch ihre gemeinsame Arbeit geschaffenen Reichtum ha­ ben – wir laden die wirklichen Produzenten ein, mit uns am 14. Juli in Paris zusammenzutreffen …, (um) das Band der Brüderlichkeit zu festi­ gen … – Arbeiter aller Länder, vereinigt euch!»4 Das schien nach Ton und Inhalt ein fernes Echo der fiebrig-apokalyp­ tischen Prophezeiungen des «Kommunistischen Manifests» vierzig Jahre zuvor. Der Wechsel zu einer Politik des Alltagskampfs um die Existenz­ bedingungen der Arbeiter und die politische Geltung sozialistischer Par­ teien war in vieler Hinsicht Ergebnis von Entwicklungen, die seit den 1860 er Jahren neue Möglichkeiten geschaffen hatten. Überall waren die alten Eliten an ihre Grenzen gestoßen, entwickelte sich ein von ganz

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oben wie von ganz unten angestoßenes neues politisches und soziales Kräftespiel, bildeten sich politische Parteien, gesellschaftliche Organisa­ tionen und Berufsverbände, die durch staatliche Repressionen nicht mehr ausgeschaltet werden konnten. In dieses Feld gehörte auch die Gründung von sozialistischen Parteien und Arbeitervereinen, Syndikaten, Gewerkschaften oder Kooperativen. Dass sie inmitten dieses allgemeinen gesellschaftlichen Aufbruchs ein ei­ genes Profil wahrten, war zu einem wesentlichen Anteil durch Marx mit vorbereitet worden – vor allem im Rahmen seines Wirkens in der Inter­ nationalen Arbeiter-Assoziation. Es war vielleicht ein biografischer Zu­ fall, der aber einige Schlüssigkeit hatte, dass Marx kaum vier Wochen, nachdem Lassalle am 31. August 1864 den Tod im Duell gefunden hatte, seinerseits wieder den Schritt in die praktische Politik tat. Die Erfolge der Lassalle’schen Kampagnen müssen ihn allen Läste­ reien zum Trotz unter Druck gesetzt haben; dieser Druck wurde noch fühlbarer, als der Sirenenruf der Gräfin Hatzfeldt und anderer Vor­ standsmitglieder des ADAV ihn erreichte, den Platz des illustren Toten ein­zunehmen – was er ohne Zögern ablehnte. Doch dann wurde er Ende September zu einer internationalen Solidaritätsveranstaltung mit den auf­ ständischen Polen in der Londoner St. Martins Hall eingeladen. Als aus der Mitte dieser kämpferisch gestimmten Versammlung von 2000 Teil­ nehmern überraschend die Initiative zur Gründung einer Internationalen Arbeitervereinigung ergriffen wurde, da ließ sich Marx nach einigem Zögern als deutscher Vertreter in deren provisorisches Organisations­ komitee wählen. Abgesehen davon, dass er zu diesem Zeitpunkt (irrtümlich) glaubte, in einem zweijährigen, «an das Wunderbare» grenzenden intellektuellen Kraftakt (so Ernst Nolte) die Hauptarbeit am entstehenden «Kapital» geleistet und die Hände wieder frei zu haben5, reizte ihn offenbar die ­internationale Bühne.6 Endgültig aus der Reserve mochte ihn gelockt ­haben, dass ein alter Gegner, der ewige Paneuropäer und Gefühlssozia­ list Giuseppe Mazzini, sich dieser Neugründung zu bemächtigen drohte, um sie «in eine Art Centralregierung  … der europäischen Arbeiter­ klasse» zu verwandeln, was Marx für völlig verfrüht hielt und, wenn schon, sich selbst und Engels vorbehielt.7 Trotz der Führungsrolle, die ihm da fast über Nacht in den Schoß fiel, hielt er sich bewusst im Hintergrund. Er lehnte es ausdrücklich ab, etwa als Präsident oder Vizepräsident zu kandidieren; stattdessen behielt er im Zentralrat die scheinbar subalterne Rolle eines Sekretärs für die deut­

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schen Länder, einschließlich der Deutschschweiz und Österreichs, wo es wegen der leidigen Lassalleaner noch keine Sektionen der IWA gab. Spä­ ter wurde er auch für Belgien und Holland, am Ende sogar für Russland zuständig, was allerdings schon Teil des erbitterten Kampfs mit den «Ba­ kunisten» war. Bei aller Klage, dass ihm diese Arbeit «enorm viel Zeit» wegnehme, lag doch deutlicher Stolz in der Feststellung, dass er nun «in fact das head der Geschichte» war, also der faktische Führer einer inter­ nationalen Organisation.8 Seiner jungen Cousine Antoinette Philips schrieb er neckisch: «‹Führerschaft› ist niemals eine angenehme Sache, noch etwas, wonach ich Verlangen hätte. Ich denke immer an das, was Dein Vater  … sagte, dass ‹der Eselstreiber immer den Eseln verhasst ist›.»9 Er befand sich also wieder einmal unter lauter Eseln. Sobald er ­ihnen für einen Moment den Rücken kehre, zeigten sie «große Lust, ge­ gen den abwesenden ‹Tyrannen› zu revoltieren».10 So war er in seiner aktiven Zeit im Generalrat der IWA von 1864 bis 1872 genötigt, so gut wie alle maßgeblichen Dokumente selbst zu for­ mulieren, alles in allem über 50 Resolutionen und Erklärungen.11 Dabei war es ihm, wie er Engels sagte, zunächst einmal wichtig, «die Sache so zu halten, dass unsre Ansicht in einer Form erschien, die sie dem jetzigen Standpunkt der Arbeiterbewegung acceptable machte». Dass dieselben englischen Mitglieder des Zentralrats, die seinem Entwurf einer Grund­ satzerklärung der IWA begeistert zugestimmt hatten, «Meetings mit Bright und Cobden für Stimmrecht» hielten, also gleichzeitig auch für die mit den Liberalen verbündete «Reform-League» arbeiteten, deren erstes Ziel das allgemeine Wahlreicht war, schien ihm durchaus recht: «Es bedarf Zeit, bis die wiedererwachte Bewegung die alte Kühnheit der Sprache erlaubt.»12 Marx’ ganzes Engagement in der Internationalen Arbeiter-Assozia­ tion war dementsprechend darauf angelegt, Programmpunkte zu ver­ folgen, «die unmittelbare Verständigung und Zusammenwirken der ­Arbeiter erlauben».13 Das entsprach erstens einer Maxime, die er ein Jahrzehnt später auch der entstehenden deutschen Sozialdemokratie  – trotz aller theoretischen Einsprüche – empfahl: «Jeder Schritt wirklicher Bewegung ist wichtiger als ein Dutzend Programme.»14 Dass die IWA von Beginn an einige zehntausend Anhänger in England und auf dem Kontinent mustern konnte (nominell zumindest), war immerhin ein sol­ ches Stück «wirklicher Bewegung». Zweitens aber trug diese programmatische Selbstbeschränkung der Tatsache Rechnung, dass es sich um eine Assoziation von mehr als hun­

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dert über Nord-, Mittel- und Südeuropa verstreuten lokalen Vereinigun­ gen oder gewerkschaftlichen Verbänden unterschiedlichster Observanz handelte, die anfangs nicht einmal in nationalen Sektionen organisiert waren und über den Londoner Generalrat und die jährlichen Delegier­ ten-Kongresse nur sehr lose koordiniert werden konnten. Ihnen ein ein­ heitliches, striktes Programm aufzudrängen, wäre unmöglich gewesen. Dass sich dennoch die Bezeichnung «Internationale» einbürgerte, war sicherlich dem Wunschdenken einiger ihrer führenden Köpfe (darunter Marx selbst), noch mehr aber den hysterischen Reaktionen auf Seiten der Regierungen und der Presse zu verdanken, die die Mitgliedszahlen und materiellen Mittel der IWA in absurder Weise übertrieben und vor allem in den Tagen des aussichtslosen, aber umso heroischeren Kampfs der Pariser Commune im Mai 1871 der Internationale und dem Deut­ schen Marx als dem geheimnisvollen «Grand Chef» die Rolle eines kon­ spirativen Anstifters und Drahtziehers zuschrieben. Dass er selbst und der Generalrat sich in einer offiziellen Stellungnahme zum Deutsch-Fran­ zösischen Krieg gegen ein solches Verzweiflungsunternehmen gestemmt hatten, wurde dabei wohlweislich übergangen.15 Umso weiter hallte das Echo auf den Nachruf, in dem Marx im Na­ men der Internationale den Kommunarden von Paris ein literarisches Denkmal setzte: «Die Mannigfaltigkeit der Deutungen, denen die Kom­ mune unterlag, und die Mannigfaltigkeit der Interessen, die sich in ihr ausgedrückt fanden, beweisen, dass sie eine durch und durch ausdeh­ nungsfähige politische Form war, während alle früheren Regierungsfor­ men wesentlich unterdrückend gewesen waren. Ihr wahres Geheimnis war dies: Sie war wesentlich eine Regierung der Arbeiterklasse, das ­Resultat des Kampfs der hervorbringenden gegen die aneignende Klasse, die endlich entdeckte politische Form, unter der die ökonomische Befrei­ ung der Arbeit sich vollziehen konnte.»16 Dass Marx in dieser offiziellen Adresse den Begriff einer «Diktatur des Proletariats» nicht verwendete, entsprach seiner Politik in der IWA. Die Sprache war schon kühn genug, und auch so legten einige prominente Mitglieder des Zentralrats danach ihre Funktionen nieder. In einem Vor­ wort zur Wiederherausgabe der nun unter Marx’ eigenem Namen und dem Titel «Der Bürgerkrieg in Frankreich» veröffentlichten Schrift würde Engels zwanzig Jahre später mit einem sarkastischen Seitenhieb gegen den schreckhaften «deutschen Philister» schreiben: «Nun gut ihr Herren, wollt ihr wissen, wie diese Diktatur aussieht? Seht euch die ­Pariser Kommune an. Das war die Diktatur des Proletariats.»17 Aber

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diese Diktatur, die zum Beispiel die zentralen Staatsorgane auf die Auto­ nomie der lokalen Kommunen gründen wollte, sah dann doch deutlich anders aus als die, die nicht nur die Blanquisten, sondern auch Marx selbst zwanzig Jahre zuvor noch unter diesen nur ganz sporadisch ver­ wendeten Begriff gefasst hatten. Von einer erheblichen «Mannigfaltigkeit der Interessen» war auch die IWA in der Tat geprägt; und das war eher ihre Stärke als ihre Schwäche. Das Gros der englischen Mitglieder waren ehemalige Chartisten oder jüngere Organisatoren von «Trade-Unions». Sie operierten in einer poli­ tischen Gemengelage, die später als «Lib-Lab» (Liberal-Labour) bezeich­ net worden ist, als eine Form der Arbeiterpolitik, die vor allem bei den Wahlen auf ein Bündnis mit den Liberalen setzte, zunehmend aber auch und mit einigem Erfolg auf die Unterstützung der Labour-Kandidaten. In den französischen oder belgischen Sektionen dominierten dagegen «Proudhonisten», die erst nach dem Tod Proudhons 1865, der sich kaum um eine organisierte Anhängerschaft bemüht hatte, so bezeichnet wur­ den. In ihrer Ideologie und Praxis des «Mutualismus» lag der Akzent auf genossenschaftlicher Selbstorganisation in allen Lebensbereichen, wäh­ rend politische Aktivitäten eher sekundär und parlamentarische Wahlen fast verpönt waren. Auch die «Blanquisten» bildeten einen eigenen klei­ nen Block von Aktivisten innerhalb der IWA, die auf die Stunde der «In­ surrektion» warteten, auf einen neuen, großen Volksaufstand, der zu ­einer «proletarischen Diktatur» im unmittelbaren Sinne dieses Wortes führen sollte – wie die «Commune» es zu ihrer Enttäuschung dann eben nicht war. Aber es gab in der Internationale auch reine Demokraten und strikte Pazifisten sowie Radikale und Volkstümler der unterschiedlichsten Cou­ leur. Schließlich traten ab 1869 die Anhänger der von Bakunin gegrün­ deten «Allianz der sozialen Demokratie» der Internationale bei und ­betrieben in ihren Sektionen eine erfolgreiche Missionierungs- und Orga­ nisierungsarbeit, bis sie 1872 nach einer, von Marx und Engels mit enor­ mer polemischer Energie und einigem theoretischen Aufwand geführten jahrelangen Gegenkampagne unter dem Label «Bakunisten» en bloque ausgeschlossen wurden – um seither als «Anarchisten» eine breite und zeitweise erfolgreiche Neben- und Gegenströmung zur entstehenden ­europäischen Sozialdemokratie zu bilden. Der beherrschende Einfluss, den Marx über ein Jahrzehnt in der IWA ausgeübt hat, verdankte sich abgesehen von seiner überragenden litera­

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rischen und theoretischen Potenz durchaus auch seiner unermüdlichen, vielfach mit unschönen Listen und Intrigen geführten Kämpfe gegen die Vertreter der konkurrierenden Hauptströmungen  – zuerst gegen die «Proudhonisten», ab 1869 dann gegen die «Bakunisten». Die englischen «Lib-Labs» wurden dagegen lange Zeit eher geschont; erst als sich die «Chefs der Londoner Arbeiter» einer nach dem anderen abseilten, traf sie (nun auch öffentlich) das Verdikt, sich an die Bourgeoisie und die ­Regierung verkauft zu haben. Darin bestätigte sich ein alter Argwohn, nämlich «dass das englische Proletariat faktisch mehr und mehr verbür­ gert, sodass diese bürgerlichste aller Nationen es schließlich dahin brin­ gen zu wollen scheint, eine bürgerliche Aristokratie und ein bürgerliches Proletariat neben der Bourgeoise zu besitzen»; was bei «einer Nation, die die ganze Welt exploitiert, … allerdings gewissermaßen gerechtfer­ tigt» sei.18 So stand Marx am Ende seines Wirkens in der IWA als eine Art König Ohneland da. Sein Schachzug, den Generalrat 1874 nach New York zu verlegen, wo es ein paar treue Anhänger seiner eigenen Linie gab, mochte halbwegs dem strategischen Gedanken gehorchen, dass der europäische Sozialismus aus der Diaspora jenseits des Atlantik neue Impulse gewin­ nen könnte. Aber für ihn persönlich war diese Verlegung (ähnlich wie 1850 mit dem «Bund der Kommunisten») ein probates Mittel, sich aller Verpflichtungen zu entledigen und wieder in die Welt seiner Lektüren und Schriften zurückzuziehen. Ohne ihn überlebte die IWA keine zwei Jahre mehr. Dennoch hatte Marx’ Strategie, die «wirkliche Bewegung», die da in Ansätzen unter aller Augen entstanden war, auf einen Satz weniger, ­politisch praktikabler Forderungen und Maximen zu gründen, dauer­ hafte Wirkungen für die Zukunft des europäischen Sozialismus. Der erste Pfeiler dieser Strategie war die Ausrichtung auf den gesetz­ lichen Normalarbeitstag, der mit der Verallgemeinerung der Zehn­ stunden-Bill in Großbritannien eine feste Grundlage gewonnen hatte, während in den USA und in Australien bereits die viel weitergehende Forderung nach einem gesetzlichen Acht-Stunden-Tag erhoben wurde. Die Vorstellung, dass ein menschenwürdiges Leben nur möglich sei, wenn der Tag sich in acht Stunden Arbeit, acht Stunden Freizeit und acht Stunden Schlaf gliedere, eröffnete tatsächlich einen völlig neuen Hori­ zont – und war im Übrigen eine Selbstrevision: 1850 hatte Engels die von den englischen Tories für Halbwüchsige und Frauen durchgesetzte Zehn­

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stunden-Bill noch als «reaktionär» abqualifiziert, weil gegen den Sieges­ zug der modernen Industrie gerichtet.19 Dagegen hatte Marx schon in der «Inauguraladresse» der IWA die Durchsetzung des gesetzlichen Normalarbeitstags von zehn Stunden als die praktische Eröffnung einer «politischen Ökonomie des Proletariats» proklamiert.20 Das bedeutete eine sehr weitgehende Festlegung, die ­wenig mit «Reformismus», umso mehr mit Marx’ von jeher gehegter Vorstellung zu tun hatte, dass die Gewinnung von frei verfügbarer Le­ benszeit (mehr als materieller Wohlstand) die Quintessenz einer sozialen Befreiung sei. Damit eng verbunden war die Orientierung der entstehen­ den Arbeitervereine und sozialistischen Protoparteien jenseits ihrer poli­ tischen Forderungen und Programme auf die Gründung von professio­ nellen Gewerkschaften. Auch das trug Züge einer Selbstrevision gegenüber der Formulierung im «Manifest», wonach die Bourgeoisie unfähig sei, «ihrem Sklaven die Existenz selbst innerhalb seiner Sklaverei zu sichern».21 Durch seine ­weitere Beschäftigung mit der politischen Ökonomie war Marx zu der Überzeugung gekommen, dass die grundlegende Tendenz der kapitalisti­ schen Produktionsweise, den Arbeitslohn auf ein physisches Minimum zu drücken, durch zwei Faktoren wesentlich modifiziert werde: Erstens müsse der Kampf um Löhne und Arbeitsbedingungen, in dem «Recht gegen Recht» stand, sich «in die Frage nach dem Kräfteverhältnis der Kämpfenden» auflösen. Und zweitens gehe in die Bestimmung des phy­ sischen «Minimums» ein historisches und moralisches Element mit ein, das sich am «traditionellen Lebensstandard» eines jeweiligen Landes be­ messe, dem auch die Kapitalisten in gewissem Grad Rechnung tragen müssten.22 Neu war drittens die Ausrichtung der IWA und ihrer Sektionen auf die Gründung politischer Klassenparteien, die das allgemeine Wahlrecht fordern und sich wo immer möglich an parlamentarischen Wahlen betei­ ligen sollten; weniger, um innerhalb der bestehenden Parlamente durch­ greifende Sozialreformen durchzusetzen, sondern vor allem als legale Plattformen für ein offenes Kräftemessen und für die eigenen Propa­ ganda- und Organisationsanstrengungen. Absprachen (etwa mit Libera­ len oder radikalen Republikanern) zu treffen und informelle Koalitionen zu schließen, galt als zulässig, nicht dagegen in Regierungen oder andere öffentliche Ämter einzutreten  – eine Position, die auch die neue, auf politische Mitgliederparteien gestützte «Sozialistische Internationale» ­ bis 1914 durchhalten würde.

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Das bewegte Feld der Politik Schon bald standen die Sozialisten vor der Tatsache, dass es nach der Er­ kämpfung des allgemeinen (Männer-)Wahlrechts in einer Vielzahl euro­ päischer Länder keinen klaren Zusammenhang zwischen sozialistischen Wählerstimmen und dem Grad der Industrialisierung bzw. dem Anteil von Industriearbeitern an der Bevölkerung gab. Der eklatanteste Fall war das kapitalistisch avancierte Großbritannien, wo 1911 schon fast 45 % aller Beschäftigten in der (weit definierten) «Industrie» arbeiteten, ein beträchtlicher Teil davon auch in modernen Großbetrieben, aber nur 7 % sozialistisch wählten. In Finnland oder Schweden dagegen, wo kaum mehr als 10–15 % der Beschäftigten in der Industrie tätig waren, erhielten die Sozialisten schon vor dem Weltkrieg 35–45 % der Stimmen aus so gut wie allen Teilen der Bevölkerung. In den Niederlanden, wo die konfessionelle «Versäulung» der Gesell­ schaft die Bildung übergreifender Arbeiterorganisationen und Parteien lange Zeit verhinderte, lieferten arme Landarbeiter in Friesland und jü­ dische Arbeiter in der Diamantenbranche in Amsterdam im Verein mit radikal gestimmten Studenten und Freiberuflern wie Anwälten oder Ärz­ ten, dazu etlichen Pastoren und Literaten – von denen einige in der Inter­ nationale eine herausgehobene Rolle spielten  – die geradezu unwahr­ scheinliche Basis einer Sozialistischen Partei, die 1905 dann tapfere 11 % der Stimmen errang.23 In Ländern Südeuropas wiederum, am ausge­ prägtesten in Italien, gab es agrarische Regionen, in denen Kleinbauern, Fischer, Pächter und Landarbeiter bis weit ins 20. Jahrhundert hinein ­beharrlich sozialistisch oder später kommunistisch votierten. Nur in einigen wenigen Ländern wie insbesondere Belgien, Österreich und ­ Deutschland stand die hohe Zahl von sozialistischen Wählerstimmen (von jeweils 25 bis 35 %) in einer direkten Proportion zur Zahl der ­Industriearbeiter24 – ohne dass damit schon gesagt war, dass es in erster Linie die Arbeiter waren, die die Sozialisten wählten. Aber auch rivalisierende Bewegungen wie in Russland die aus den ter­ roristischen «Volkstümlern» hervorgegangene «Partei der Sozialrevolu­ tionäre» (SR), die eine ganze eigene Mixtur von Theorien und Ideolo­ gien vertraten, konnten in der Intelligenzija und Arbeiterschaft sowie unter ländlichen Massen großen Einfluss gewinnen. Die «marxistisch» geprägten Sozialisten vor 1914 waren beileibe nicht die einzigen und schon gar nicht die radikalsten Linken in Europa.

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Neben den Anarchisten, die sich nach ihrem Ausschluss aus der In­ ternationalen Arbeiter-Assoziation» 1872 und noch einmal aus der «So­ zialistischen Internationale» 1892 vielfach als die wahren «Kommunis­ ten» sahen und so auch bezeichneten, standen (in Frankreich wie in ­Italien) die teils zünftlerisch beschränkten, teils höchst militanten Syndi­ kalisten. Beide Richtungen konnten sich, wie vor allem in Spanien, auch unter der schwarz-roten Fahne eines «Anarchosyndikalismus» vereinen und majoritär werden. Anarchisten wie Syndikalisten lehnten in der Re­ gel alle Formen sowohl einer politischen wie auch einer gewerkschaft­ lichen Organisation und Repräsentation ab und versuchten stattdessen, mittels General- und Massenstreiks, Boykotten, Sabotageakten oder auch Attentaten, gestützt auf eine dichte genossenschaftliche Selbstorga­ nisation und die permanente Mobilisierung ihrer Anhänger, Basen einer «direkten» sozialen und (per Definition) zugleich auch politischen Ge­ genmacht zu schaffen, ohne Funktionärsapparate, die sich verselbständi­ gen konnten, und daher auch ohne Budgets oder selbst Streikkassen. Ihnen verwandt waren Organisationen wie die amerikanischen «Knights of Labor», die in den 1870 er Jahren aus einem Geheimbund der Schneider in Chicago («The Noble and Holy Order of the Knights of Labor») hervorgegangen waren und auf ihrem Höhepunkt 1887 an die 700 000 Mitglieder zählten. Sie bildeten einen militanten proletarischen Kampfbund, der der Tatsache Rechnung trug, dass auch rein wirtschaft­ liche Konflikte um Löhne und Tarife in den USA  – mehr noch als in ­Europa – sehr schnell den Charakter regelrechter Klassenkriege annah­ men, in denen Revolver und Dynamit zum Einsatz kamen. Ähnliches gilt für die 1905 gegründeten «Industrial Workers of the World» (IWW), «Wobblies» genannt, in denen Sozialisten, Anarchisten und radikale Aktivsten unterschiedlichster Herkunft zusammenarbeite­ ten. In Konkurrenz zu den bestehenden, oft politisch korrumpierten und nur privilegierte Arbeitergruppen vertretenden Branchen-Gewerkschaf­ ten organisierten sie auch die randständigen und rechtlosen Gruppen frisch eingewanderter Immigranten aller Rassen, darunter ein Großteil Frauen, und fassten sie alle in einer von Fall zu Fall äußerst schlagkräf­ tigen, von hingebungsvollen Agitatoren beiderlei Geschlechts geleiteten Einheitsorganisation zusammen. Ihre denkwürdigen Schlachten und ermordeten Märtyrer lebten in eingängigen Liedern noch über Jahrzehnte fort, als die Organisation, die ab den frühen 1920  er Jahren unter kommunistischer Führung stand, schon ein Schatten ihrer selbst geworden war. Sie feierten in der

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«roten Dekade» der 1930 er Jahre und noch einmal dann in den Bür­ gerrechts- und Antikriegsbewegungen der 1960 er Jahre Wiederaufer­ stehung, um  – über Pete Seeger oder Joan Baez  – schließlich in das neue, uferlose Meer der Folk- und Popkultur miteinzufließen, so wie der Blues und schwarze Gospel auch. Die Leiden und die Leidenschaf­ ten, aus denen sie sich ursprünglich genährt hatten, sah man ihnen nun freilich kaum noch an. Linke Parteien und Organisationen waren nicht die einzigen, die im Zuge der Ausdehnung des Wahlrechts und der sozialstaatlichen Funktionen unter den ärmeren Bevölkerungsschichten politische Anhängerschaften gewannen. In den meisten Ländern, nicht nur in England, waren die ­Liberalen, als Verfechter der politischen Demokratisierung (wenn auch vorsichtig) und der allgemeinen Schulbildung, zunächst auch als die be­ rufenen Anwälte der ärmeren Gesellschaftsklassen aufgetreten und teil­ weise behilflich gewesen, Arbeitervereine oder soziale Selbsthilfeorgani­ sationen und hier und da auch freie Gewerkschaften zu gründen. Aber auch Konservative konnten mit ihrer Kritik am Fabrikregime und an der kapitalis­tischen Kommerzgesellschaft Teile der Arbeiterbevölkerungen für ihre Kandidaten einnehmen; so wie es nicht zufällig konservative Re­ gierungschefs wie Disraeli oder Bismarck waren, die entscheidende erste Schritte zur Ausdehnung des Stimmrechts initiierten und erste Formen einer Sozialversicherung einführten, eben um Liberale wie Sozialisten in Schach zu halten. In einigen Ländern, so in Deutschland oder in Österreich, bildeten sich neue konfessionelle Vereine zur Sozialarbeit, so das katholische Kolpingwerk für die Belange der wandernden Handwerksgesellen oder die evangelische Innere Mission, und es entstanden eigene christliche Gewerkschaften. Ähnliches galt, im Jahr 1905 dann sogar mit gewal­ tiger, unvorhergesehener Wirkung, für Teile der orthodoxen Kirche im Russischen Reich. In den 1880 er Jahren waren es schließlich sozialchauvinistische Mas­ senbewegungen wie die des Generals Boulanger in Frankreich, vor allem aber neue antisemitische Parteien und Massenorganisationen, die als Kritiker der kapitalistischen Kommerzialisierung auftraten, quer durch alle Schichten Anhänger sammelten und im sozialen Bodensatz der Ge­ sellschaft schlagkräftige Fußtruppen rekrutierten  – und damit erschre­ ckend erfolgreich waren, wie vor allem in Gestalt der «Action Française» in den Zeiten des Dreyfus-Prozesses von 1894, der «Schwarzhunderter»

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in Russland in den Pogromen vor und nach der Jahrhundertwende oder der Christlichsozialen Partei in Österreich wie in Deutschland. Schließlich haben sozialrevolutionäre Aktivitäten sich allenthalben mit nationalen Emanzipationsbestrebungen überkreuzt und gemischt; und das galt nicht nur für die unterdrückten Nationen und Nationali­ täten, am virulentesten für Polen oder Irland. Auch in Italien oder in Deutschland war der Kampf um die nationale Einheit allen Formen ­einer proletarisch-sozialistischen Organisation wie beschrieben voraus oder parallel gelaufen – und stand für die deutschen Sozialdemokraten als Kampf gegen die preußische Dominanz und die durch die Reichs­ gründung verewigte Kleinstaaterei noch immer ganz oben auf ihrer Agenda. Diese nationalen Bestrebungen in der Tradition von 1848 wurden seit den 1870 er Jahren von neuen sozial-imperialen Massenmobilisierungen überholt und überformt, so im preußisch-deutschen Kaiserreich in Form von Kolonial-, Flotten- oder Volkstums-Vereinen. Aber ganz ähnliche Bewegungen gab es auch im neuen Italien und in anderen, älteren, mit Kolonien ausgestatteten Nationalstaaten Westeuropas und selbst in den von eigenen kolonialen Gelüsten damals umgetriebenen USA. Überall schufen sie sich (in der Regel mit offizieller Unterstützung) eigene Tradi­ tionen, Medien und Massenfeiern, fesselten sie die Phantasien von Mil­ lionen älterer und jugendlicher Mitmarschierer und rüsteten sich mit Ideologien eines jeweiligen (religiös, völkisch, antisemitisch oder sonst­ wie geprägten) Nationalfundamentalismus und imperialen Suprematis­ mus aus. In diesem Hexenkessel medial und staatlich mobilisierter nationaler «Erregungsgemeinschaften» mussten die sozialistischen Parteien und ih­ nen verbundenen Gewerkschaften und Sozialmilieus sich von Anfang an ausbilden und etablieren – und auf ihre Weise mitspielen. Sie taten es in aller Regel, indem sie das ihnen angeheftete Stigma der «vaterlandslosen Gesellen», Verderber von Religion und Sitte oder finstere Konspirateure in eine Art Adelstitel verwandelten. Aber diese Abgrenzungen änderten wenig daran, dass sie selbst Teil dieser zeittypischen Erregungsströme waren, und dass ihr prononcierter Inter-Nationalismus eher mit Bin­ destrich als in einem Wort zu schreiben war. So war die – anfangs n ­ amenlose, erst später so bezeichnete – «Sozia­ listische Internationale» ein loser Bund nationaler Parteien, die sich zu Kongressen trafen und dort Resolutionen verabschiedeten, die keinen bindenden Charakter tragen konnten. Erst 1900 wurde ein «Internatio­

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nales Sozialistisches Büro» unter dem belgischen Generalsekretär Emil Vandervelde im neutralen Brüssel geschaffen, das aber über wenig eigene Kompetenzen und Mittel verfügte und nur als Koordinator tätig werden konnte.25 Eine gemeinsame Politik der Internationale gab es faktisch nicht und konnte es gar nicht geben. Gerade das Übergewicht der deutschen Sozialdemokratie, die anfangs mehr Mitglieder und Mittel auf die Waage brachte als alle anderen zu­ sammen, führte zu notorischen Verspannungen, obschon die Internatio­ nale ohne die deutsche Partei nicht lebensfähig gewesen wäre. Aber diese deutsche Sozialdemokratie war eine Welt für sich, ein eigentümlicher, in Vielem selbstgenügsamer Lebenskosmos, der sich von dem anderer Mit­ gliedsparteien markant unterschied. Der Aufstieg der Partei als solcher hatte etwas Spektakuläres und (wie es Freund und Feind lange schien) Unaufhaltsames. Hatte die 1876 frisch vereinigte Sozialdemokratie erst 38 000 Mitglieder gezählt, so waren es nach der Aufhebung des Sozialistengesetzes 1890 schon 100 000, im Jahr 1907 trotz heftigen Gegenwinds 500 000 und 1914 fast 1,1 Millio­ nen. Hatte die Partei 1877 eine halbe Million Wähler hinter ihren Kan­ didaten versammelt, so waren es 1890 bereits 1,4 Millionen und 1912 fast 4,3  Millionen. Damit war sie im Deutschen Reich wie in ganz ­Europa nach Wählern wie Mitgliedern die größte aller Parteien, und dazu eine, die in den Städten mit mehr als 100 000  Einwohnern im Schnitt 50 % der Wahlstimmen bekam, in Hochburgen wie Hamburg über 60 % und in Berlin am Ende sogar 75 %. Wäre das Reich eine de­ mokratische Republik gewesen, hätte die Sozialdemokratie seine städti­ schen Zentren fast komplett beherrscht. Aber das Reich war eine konstitutionelle Monarchie und zugleich ein von Preußen dominiertes Konglomerat von Einzelstaaten, deren Regie­ rungen die Stimmbezirke so einzurichten wussten, dass der Anteil der Sozialdemokraten an den Mandaten für den Reichstag und die Landtage dank des Mehrheitswahlrechts deutlich niedriger lag als ihr Stimmen­ anteil von zuletzt reichsweit knapp 35 %. Das hing allerdings auch mit den gegen sie gerichteten Abwehrkoalitionen zusammen, auf die sie in den Stichwahlen von Fall zu Fall trafen. Alle diese Hindernisse konnte die Partei natürlich auch als einen Beweis ihrer Stärke respektive der Angst ihrer Gegner verbuchen. Und diese reinen Personenwahlen hatten tatsächlich etwas ungleich Spannungsvolleres als heutige Listenwahlen. Als Turniere gesellschaftlicher Aufgebote waren sie auf ihre Weise prä­

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destiniert, zum Kampffeld differierender «Weltanschauungen» zu wer­ den und zugleich einen mehr oder weniger deutlichen «Klassencharak­ ter» anzunehmen. Aber so triumphal die sozialdemokratischen Turnier­ erfolge von Fall zu Fall auch sein konnten, so beschränkt und trügerisch waren sie letzten Endes. Dazu trug der Zuschnitt der Partei selbst bei. In Vielem sah sie tatsäch­ lich wie der erste, echte Prototyp einer Arbeiter-Klassenpartei aus. Über vier Fünftel ihrer Mitglieder deklarierten sich jedenfalls als «Arbeiter», ein so stolzer wie vager Begriff, der sich gegen alle zünftigen oder ständi­ schen Zuschreibungen richtete und als seinen Gegenbegriff die «Müßig­ gänger» und «Ausbeuter» aufrief. Näher betrachtet, entstammte der aus dem ursprünglichen Vereinswesen herausgewachsene «Mann der Arbeit» anfangs fast durchweg den manufakturmäßigen Massenhandwerken der Schneider und Schuhmacher, Tischler und Schreiner, Drucker und ande­ rer Gewerbe. Und auch als der Anteil der im strikteren Sinn indus­triell Beschäftigten stieg, waren es immer noch die Arbeiter der zahllosen klei­ nen und mittleren Betriebe aller Sparten, und hier vor allem wieder die handwerklich geschulten Facharbeiter, die dominierten, während der An­ teil der Un- und Angelernten relativ gering blieb. Gravierender war, dass gerade die modernen neuen Großunternehmen der Stahlverhüttung und Metallverarbeitung, Elektroindustrie oder Chemie notorisch unterreprä­ sentiert blieben. Dasselbe galt für die Zusammensetzung der zuletzt 2,5 Millionen Mitglieder starken Freien Gewerkschaften. Noch schwächer waren die Verbindungen zu den rasch wachsenden Segmenten der (männlichen und weiblichen) Angestellten in Industrie, Handel und Dienstleistungen sowie zu den als Krämern und Spießern ­abgetanen Kleinbürgern. Am schwersten wog, dass die bäuerlich-agrari­ sche Bevölkerung, einschließlich der Landarbeiter, von den Organisa­ tionsbemühungen der Partei fast völlig ausgespart blieb – in markantem Unterschied zu den meisten anderen europäischen Ländern. So stellte die deutsche Sozialdemokratie sich am Ende ihrer ersten, fast vierzigjähri­ gen Aufstiegsphase als eine etwas unvollständige und elitäre «proletari­ sche Klassenpartei» dar, die in vielfacher Weise gehindert, aber auch von innen nicht darauf angelegt war, eine moderne demokratische «Volks­ partei» zu werden. Daran änderte auch ihr zweites soziologisches Hauptmerkmal nichts: nämlich dass sie über ein zahlenmäßig kleines, aber innerparteilich pro­ minentes Segment von Angehörigen intellektueller Berufe und Fach­ eliten verfügte, von Ingenieuren und Ärzten, Anwälten und Volksschul­

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lehrern, seltener von Wissenschaftlern oder Gymnasial- und Hochschul­ lehrern, umso mehr von reinen Ideenproduzenten wie Journalisten und Literaten, die sich innerhalb oder im Umfeld der Partei ansiedelten. Dass sozialistische Akademiker in ihren beruflichen und bildungsbürgerlichen Milieus eine kleine Minderheit waren und heftig befeindet wurden, erst recht, wenn sie aus den expandierenden jüdischen Bildungsmilieus stammten, unter denen die Sozialdemokraten am ehesten Unterstützung fanden, band sie noch enger an die Partei; es war aber wenig geeignet, den geistigen Einfluss auf die Gesamtgesellschaft zu erweitern. Am schlagendsten zeigte sich das in der umfangreichen Publizistik der Partei. Der 1891 wiederbegründete «Vorwärts» war das «Zentralorgan» eines ausgedehnten Netzes lokaler Zeitungen und Publikationen mit durchaus unterschiedlichen Positionen und Schwerpunkten, sowie von Verlagen, Buchhandlungen und Druckereien mit eigener Agenda. Mit ­einer Druckauflage von rund 150 000 (1912/13) konnte der «Vorwärts» sich als Mitgliederzeitung unter den Tageszeitungen liberaler oder kon­ servativer Observanz eigentlich sehr gut behaupten; und mit ihren übri­ gen Zeitungen und Publikationen zusammen stellte die Sozialdemokra­ tie auf dem Papier eine geballte Presse- und Meinungsmacht ins Feld. Ob sie damit aber ihre auf über 4 Millionen angeschwollene Wählerschaft erreichen konnte, bleibt fraglich. Die Möglichkeiten, auf die weitere bürgerliche Öffentlichkeit einzuwirken, waren noch deutlich begrenzter. Es handelte sich eben aller Pluralität und Modernität zum Trotz um eine Tendenzpresse, die kaum über ihr abgegrenztes Milieu hinaus reichte. Das war die Sackgasse, in der die deutsche Sozialdemokratie sich auf dem Zenit ihrer Erfolge vor 1914 wiederfand.26 Die primäre Organisationskraft und Bindungsfähigkeit der Partei resul­ tierte noch immer aus einem breiten, lebenskulturellen Unterbau von Konsumgenossenschaften, Solidarkassen, Freizeitorganisationen, Kul­ turvereinen und Bildungseinrichtungen. Diese Aktivitäten flossen in ­einem stetigen Versammlungswesen zusammen, das immer auch eine Form der Geselligkeit war, in erster Linie unter Männern. An den hohen sozialistischen Feiertagen wie dem 1. Mai, dem 18. März (zur Erinne­ rung an die 48 er-Revolution und die Pariser Commune) oder den Grün­ dungsfesten der lokalen Parteigruppen, die jeweils mit Defilees und Kundgebungen, Reden und Banketten, Chören und Massengesängen, Tänzen und Spielen begangen wurden, nahmen natürlich auch die Fami­ lien mit Kind und Kegel teil.

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Dass man dabei nach Möglichkeit aus «grauer Städte Mauern» in die grüne Natur zog, sich Luft und Sonne aussetzte, mit dem Wandern, Ba­ den und Sporttreiben begann und auch dem Liebesleben der Jugend sei­ nen Lauf ließ, gehörte mit zum Flair und zur Bindekraft dieses Parteiund Vereinslebens. Somit war die Sozialdemokratie vor allem auch ein eigenes, mehr oder weniger dicht gefügtes Milieu, das an die Stelle vor­ moderner dörflicher oder kirchlicher Lebenswelten trat, von denen es sich durch selbstgesetzte geistige und moralische Ansprüche zugleich klar absetzte oder vielmehr: über die es sich erheben wollte. Das große Ideal war die «vollständige Persönlichkeit» mit gesundem Körper, kla­ rem Kopf, guter Allgemeinbildung, aufgeschlossenen Sinnen, rechtschaf­ fener Moral und einem freiem Willen, der, wenn «Not am Mann» war, zu starker Selbstdisziplin und hohem Kampfesmut fähig sein würde. Nichts hätte dem Bild saturnalischer Triebenthemmungen, vor denen es Professor von Mises so sehr schauderte, ferner sein können. Erst recht galt das für ein drittes soziologisches Charakteristikum der Partei: die zunehmend zahlreichere Schicht von haupt- und ehrenamt­ lichen «Funktionären», ergänzt durch die Gewerkschaftssekretäre, über­ wiegend gebildete Autodidakten, für die die Partei zu einem Medium des sozialen Aufstiegs wurde. Ob die deutsche Sozialdemokratie deshalb das früheste, klassische Beispiel für die generelle, gesetzmäßige Tendenz zur Oligarchisierung demokratischer Parteien und Verbände war, also zur Beherrschung der Mitglieder durch eine neue Schicht von «Parteibeam­ ten» mit eigenen Karriere- und Statusinteressen, wie der Soziologe ­Robert Michels schon 1911 in einer klassisch gewordenen Studie «Zur Soziologie des Parteiwesens»27 konstatierte, scheint für die Zeit vor 1914 eher fraglich. Dazu standen die aktiven Mitglieder, die vielen Ehrenamt­ lichen und die vergleichsweise wenigen Hauptamtlichen noch zu selbst­ verständlich in Kontakt, waren die Parteiwahlen noch zu sehr von einem starken Bedürfnis nach Konsens getragen, das sich aus dem Gefühl speiste, in einer belagerten Festung zu leben.

Bebels lichte, umdüsterte Welt Die tiefste Bindekraft der deutschen Sozialdemokratie lag aber vielleicht darin, dass die Zauberformel vom «wissenschaftlichen Sozialismus» als ein universeller «Deutungskosmos» fungierte, der es jedem halbwegs ­geschulten Parteimitglied erlaubte, von einem imaginären «archimedi­

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schen Punkt» aus das gesellschaftliche Ganze zu überblicken – um, wenn die Zeit gekommen war, in einer großen, entscheidenden Befreiungs­ aktion den Weg in eine bessere Zukunft zu bahnen.28 Und diese Zeit schien nahe. Man hat diese Haltung in einer glücklichen Prägung als «revolutionä­ ren Attentismus» bezeichnet, eine Haltung des gespannten, selbstgewis­ sen Zuwartens auf eine revolutionäre Umwälzung, die so oder so würde kommen müssen. Der Beweis wie das Mittel dafür waren eben die eigene, bewusste Existenz, die hohe Moral und das überlegene Weltwissen.29 Die Analogien dieser sozialistischen Revolutionserwartungen mit mil­ lenaristischen Erlösungshoffnungen christlicher Prägung liegen auf der Hand und verfehlen doch das Wesentliche. Gewiss, August Bebel wie andere Parteiführer und -literaten sprachen intern und auch öffentlich davon, dass sie diese entscheidende Umwälzung oder «letzte Schlacht» selbst zu erleben hofften – so wie Luther das göttliche Endgericht. Engels legte sich kurz vor seinem Tod 1895 angesichts der Wahlerfolge und ­Organisierungsfortschritte der Partei und ihrer Einigung auf ein halb­ wegs «marxistisches» Programm darauf fest, dass die Revolution noch vor der Jahrhundertwende stattfinden werde, spätestens bis 1910. In ­einer erstaunlichen, mehrfach wiederholten Wendung verglich er den kommenden Sieg der Sozialdemokratie mit der Durchsetzung des frühen Christentums im Römischen Reich. Die ­entscheidende Rolle in dieser Analogie spielten die zum Christen­ tum konvertierten germanischen Legionäre, die Engels mit den dank der allgemeinen Wehrpflicht eingezogenen, durch die Schule der Sozialdemo­ kratie und nun des modernen Kriegshandwerks gegangenen Soldaten verglich. Sie schienen die Garanten dafür, dass die mit Sicherheit er­ wartete «Rebellion der Sklavenhalter», der besitzenden Klassen, nieder­ geschlagen werden könne  – anders als die auf sich gestellten Pariser Kommunarden es gekonnt hatten. Die Tatsache freilich, dass im ersten Entwurf zum neuen Erfurter Par­ teiprogramm von 1891 aus taktischen Rücksichten nicht einmal die For­ derung nach einer demokratischen Republik, also einem Sturz des Kaiser­ tums, aufgenommen worden war, war für Engels ein Beleg dafür, «wie kolossal die Illusion ist, als könne man  … auf gemütlich-fried­lichem Weg» in einen neuen Staats- und Gesellschaftszustand «hineinwachsen». Nur mittels der einen und ungeteilten demokratischen Republik können «unsere Partei und die Arbeiterklasse … zur Herrschaft kommen». Diese eben sei ja «die spezifische Form für die Diktatur des Proletariats».30

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Letztlich konnte Engels aber, wenn auch grollend, damit leben, dass nur Teile seiner Kritiken in das beschlossene Programm eingingen. Wie er den französischen Sozialisten in einem langen Text über den «Sozia­ lismus in Deutschland» erklärte, würden die deutschen Sozialdemokra­ ten der Regierung nicht den Gefallen tun, den Boden der Gesetzlichkeit zu verlassen – denn diese «arbeitet vortrefflich für uns». Die Frage sei ja vielmehr, ob und wann die Bourgeoisie und ihre Regierung wieder Recht und Gesetz verletzen würden, «um uns durch die Gewalt zu zermal­ men». Angesichts der Tatsache, dass die Armee unaufhaltsam «in ihrer Majorität sozialistisch» werde und der Regierung entgleite, könne man das aber getrost abwarten und sagen: «‹Schießen Sie gefälligst zuerst, meine Herren Bourgeois!›»31 Der eigentliche Haltepunkt dieser übergroßen Zuversicht waren die im­ mer neu aufgefrischten Prognosen eines «Großen Kladderadatsch», von dem August Bebel erstmals auf dem Exil-Kongress der Partei im schwei­ zerischen Sankt Gallen 1887 gesprochen hatte, der finalen Krise der bür­ gerlichen Gesellschaftsordnung, nach der nur noch der sozialistische «Zukunftsstaat» kommen könne – den er (entgegen den Marx’schen Bil­ derverboten) immer lebhafter ausmalte, freilich nicht als ein fernes, blas­ ses Utopia, sondern als eine sinnliche, handfeste, aus dem Material der Gegenwart und den Alltagsbedürfnissen der Menschen geschöpfte Vor­ stellung. Bebel war wie fast alle «marxistischen» Parteiführer seiner Genera­ tion erst auf längeren Umwegen und nach anderen prägenden Eindrü­ cken und Lektüren, von Saint-Simon und Fourier bis Comte und Dar­ win, schließlich zu einem eingehenderen Studium der ökonomischen Hauptschriften von Marx, namentlich dem «Kapital», gekommen. So tiefen Eindruck diese Lektüren ihm als eine Art Offenbarung der Weltge­ heimnisse gemacht hatten, so beschränkt war das Set leitender Ideen ­gewesen, das er – wie alle Köpfe des europäischen Sozialismus (Jaurès oder Turati, Vandervelde oder Adler) – da­raus gewonnen hatte. Diesem ins Prognostische und Alltagssprachliche gewendeten Marxismus war der Stachel des permanenten inneren Widerspruchs, des Fragmentari­ schen, Vieldeutigen, Hypothetischen, den fast alle theoretischen Axiome und Tendenzaussagen bei Marx selbst noch hatten, weitgehend gezogen. Indem Bebel das «Kapital» zur «Bibel der Arbeiterbewegung» erhob, machte er daraus eine «wissenschaftlich» untermauerte Prophetie, die inmitten aller Düsternisse und Prüfungen ein Licht aufscheinen ließ. Er

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entnahm Marx, dass die kapitalistische Akkumulation «mit der Not­ wendigkeit eines Naturgesetzes ihre eigene Negation»32 erzeugen müsse, indem sie immer zunehmend auf die «Konzentration bereits gebildeter Kapitale, Aufhebung ihrer Selbständigkeit, Expropriation von Kapitalist durch Kapitalist» hinauslaufe. Und wenn er weiter las, «dass im Maße wie Kapital akkumuliert, die Lage des Arbeiters, welches immer seine Zahlung, hoch oder niedrig, sich verschlechtern muss», bis «mit der Masse des Elends, des Drucks, der Knechtschaft, der Entartung, der Aus­ beutung» auch die Empörung der «durch den Mechanismus des kapita­ listischen Produktionsprozesses selbst geschulten, vereinten und organi­ sierten Arbeiterklasse»33 anschwellen müsse, dann schien alles auf ein baldiges, unaufschiebbares Ende dieser Gesellschaftsform hinzudeuten, eben den «Großen Kladderadatsch». Dass Marx selbst für alle von ihm konstatierten «Naturgesetze der ka­ pitalistischen Produktion» eine ganze Reihe «gegenwirkender Einflüsse» gefunden hatte, dürfte Bebel und das Gros der sozialdemokratischen Parteiliteraten und Theoretiker kaum noch erreicht haben. Das galt ins­ besondere auch für das aus der klassischen Nationalökonomie schon ­bekannte, von Marx reformulierte Gesetz vom «tendenziellen Fall der Profitrate», das er durch seine Berechnungen über die zwangsläufig sich verändernde «organische Zusammensetzung» des Kapitals dem Status eines «Mysteriums» entrissen zu haben glaubte. Nur stellte sich dann als die eigentlich interessante Frage heraus, wie es kam, dass der Fall der Profitraten nicht so rasch und so durchschlagend eintrat, wie anzuneh­ men gewesen wäre. So führte Marx ein ganzes Kapitel «Entgegenwir­ kende Ursachen» auf, die das Bild der kapitalistischen Ausbeutung zwar kaum freundlicher machten, aber die Wirkungen des allgemeinen Geset­ zes auf vielfältige Weise «durchkreuzen und aufheben und ihm nur den Charakter einer Tendenz geben».34 Die kapitalistische Produktionsweise trug zwar die Tendenzen ihres Zusammenbruchs in sich – aber mobili­ sierte im Gegenzug genau die Potentiale, die ihre geschichtliche Karriere immer noch weiter vorantrieben. Beim großen Popularisator Bebel wurden alle diese komplexen Fragen in bündige, allgemeinverständliche Tendenzaussagen gebracht, die die sich anbahnende Umwälzung in ein optimistischeres Licht rückten. «Die Flut steigt und unterspült das Fundament, auf dem unser Staats- und Ge­ sellschaftsaufbau ruht», heißt es bei ihm unter der Überschrift «Die so­ ziale Revolution». In dem Maße, in dem das «gebieterische Verlangen nach Umgestaltung und Vermenschlichung der Zustände  … die unge­

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heure Mehrheit der Gesellschaft» ergreift, «sinkt die Widerstandsfähig­ keit der herrschenden Klasse». Umso mehr werde «ein allgemeines, un­ widerstehliches Verlangen nach gründlicher Umgestaltung» die Masse der Menschen ergreifen, «wobei sie die rascheste Hilfe als die zweck­ mäßigste ansieht» – die soziale Revolution und den Übergang in einen so­zialistischen Zukunftsstaat also.35 Die Rolle eines serenen deutschen «Arbeiterkaisers», die man Bebel halb spöttisch, halb bewundernd zugeschrieben hat, sticht nicht nur vorteil­ haft ab gegenüber dem Bild des schnarrend-pompösen Wilhelm  II. Sie hatte auch insofern eine gewisse Berechtigung, als Bebel als praktischer Politiker, großer Redner und intellektueller Selfmademan immer wieder miteinander verband, was leicht hätte auseinanderdriften können: Partei und Gewerkschaften, Landesverbände und Zentrale, Arbeiter- und Funktionärsmilieus. Und sie alle, gelegentlich auch Bebel selbst, beweg­ ten sich immer wieder in einer gereizten Abwehr gegen den Wasserkopf von Literaten und Theoretikern, der das Bild der Partei in besonderer Weise geprägt hat. Die deutsche Sozialdemokratie war innerhalb des ­europäischen Sozialismus nun einmal der Gralshüter eines Marxismus, der in Frankreich und anderswo auch der «deutsche Sozialismus» ge­ nannt wurde, und dieses erhöhte Selbstbild fiel mit der von Marx selbst stammenden Nobilitierung der deutschen Arbeiter zusammen: «dass sie dem theoretischsten Volk Europas angehören und … sich den theoreti­ schen Sinn bewahrt haben, der den sogenannten ‹Gebildeten› Deutsch­ lands so gänzlich abhanden gekommen ist».36 So bildete Bebel über zwei Jahrzehnte ideologisch und praktisch das stets umkämpfte Gravitationszentrum der Partei, vor allem auch in den unvermeidlich aufbrechenden Flügelkämpfen. Wenn Bebel in diesen mit großem publizistischem Aufwand geführten Debatten zeitweise recht autoritär auftrat, dann doch nur kraft seiner eigenen, informellen Auto­ rität. Flankiert, wenn auch nicht immer unterstützt wurde er dabei von Wilhelm Liebknecht als dem Chefredakteur des «Vorwärts» und Frak­ tionsmanager im Reichstag, sowie von Karl Kautsky, der das theoreti­ sche Organ «Neue Zeit» leitete und, ohne je ein Parteiamt oder politi­ sches Mandat innezuhaben, eine Rolle spielte, die er selbst mit einem «Priesteramt» zur Auslegung und Interpretation der marxistischen Schrif­ ten verglich. Liest man die großen Debatten nach, die die deutschen Parteitage wie die Kongresse der Internationale über ein Vierteljahrhundert dominiert

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haben, könnte man finden, dass alle auf ihre Weise Recht gehabt haben. Denn alle bewegten sie sich im Zirkel sehr realer, übermächtiger Pro­ blemlagen, die weder durch eine «reformistische» Politik der entschlos­ senen Einschaltung in das politische und sozialökonomische ­ System noch durch eine revolutionäre Politik forcierter Machtproben mittels «Massenstreiks» oder militanter Straßenauftritte zu meistern gewesen wären. Als Eduard Bernstein, über lange Jahre Engels’ enger Mitarbeiter bei der Edition der Marx-Schriften, leitender Redakteur des «Sozialdemo­ krat» und Mit-Verfasser des Erfurter Parteiprogramms, 1899 in einer Broschüre mit dem drögen Titel «Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie» eine Reihe theoretischer und empirischer Grundannahmen des zur Lehre geronnenen «Marxismus» in Frage stellte, da war der Aufschrei gewaltig, obwohl seine Maxime, dass «die Fortentwicklung und Ausbildung der marxistischen Lehre … mit ihrer Kritik beginnen» müsse, ganz im Sinne der beiden Gründer­ väter hätte sein können. Zumindest ein Teil seiner als «Revisonismus» gebrandmarkten, empi­ rischen Feststellungen war angesichts der Entwicklungen der 1890 er Jahre nur schwer zu bestreiten: Die kapitalistische Weltwirtschaft hatte bei allen Krisen nicht in dem immer wieder vorhergesagten ökonomi­ schen Zusammenbruch geendet, im Gegenteil, sie setzte offensichtlich gerade zu einem neuen, alles bisherige in den Schatten stellenden Ent­ wicklungssprung an. Auch eine absolute Verelendung der Arbeiterklasse war nicht eingetreten, allerdings eine relative Verelendung, nämlich im Verhältnis zur gesamtgesellschaftlichen Entwicklung, die den einfachen Arbeitern wenig zugute kam. Während der alte Mittelstand aus Bauern und Handwerkern sich erstaunlich zäh behauptet hatte, war ein sich rasch ausdehnender neuer Mittelstand aus gut bezahlten Angestellten und Funktionseliten entstanden; so wie die Zahl der kleinen und großen Unternehmer durch die Konzentrationen des Kapitals nicht abgenom­ men, sondern noch zugenommen hatte. Die Gesellschaft differenzierte sich immer weiter aus, statt sich auf die zwei Hauptklassen hin zu pola­ risieren. Aber auch etliche politische Grundpositionen der Partei waren frag­ würdig geworden: Wenn die demokratische Republik sowohl «das Mit­ tel zur Erkämpfung» wie «die Form der Verwirklichung des Sozialis­ mus» war, wie es inzwischen Konsens war, dann war die Demokratie ja wohl ein Zweck und Wert an sich. Dann musste man sich aber auch

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ganz auf diesen Boden stellen und alle gegebenen Möglichkeiten aus­ schöpfen. Akzeptierte man das, konnte es im Kampf um den Sozialismus kein klares «Vorher» und «Nachher» mehr geben, sondern dann würde es sich um einen langen Prozess von Kämpfen um Reformen und kon­ krete Forderungen handeln müssen, um ein ständiges Wachsen und Rei­ fen der bisher ausgeschlossenen, proletarisierten Massen selbst, ohne dass es womöglich einen festen Punkt des revolutionären Umschlags gab. Dann war, so der vielzitierte, als besonders skandalös empfundene Satz Bernsteins, «das Endziel, was immer es sein mag, nichts, die Bewe­ gung alles». Was auch hieß, dass der Sozialismus selbst kein fest umris­ sener Endzustand sein konnte, sondern nur eine allgemeine Tendenz oder Richtung der gesellschaftlichen Höherentwicklung angab  – auch das ein Gedanke, der den ursprünglichen Vorstellungen, mindestens von Marx, gar nicht so fern war. Selbst Bernsteins neukantianisch inspirierte Kritiken an der philoso­ phischen Grundlage des parteioffiziellen Marxismus, nämlich seinem li­ nearen hegelianischen Fortschrittsdenken und planen «Materialismus», der «die materiellen Faktoren zu omnipotenten Mächten der Entwick­ lung» erhebe und gerade so eine «höchste und darum am leichtesten ­irreführende Ideologie» darstelle, konnte sich auf einige (freilich wider­ sprüchliche) Äußerungen der beiden Toten stützen – was Bernstein auch eifrig und besser informiert als fast alle anderen tat, ohne sich allerdings zu scheuen, auch die philosophischen und theoretischen Lücken und Mängel ihres eigenen Denkens zu benennen. Seine Schrift war tatsäch­ lich die erste ernsthafte und empirisch gestützte innermarxistische Marx-Revision. Was konnte im Sinne der Marx’schen Lebensdevise «De omnibus dubitandum» (An allem ist zu zweifeln) legitimer sein? Bernsteins praktische Schlussfolgerungen, mit denen er, wie sich im Weltkrieg zeigte, noch immer am linken Rand der Partei stand, wurden währenddessen von einigen süddeutschen Parteifürsten und Gewerk­ schaftsführern längst überholt, die ohne größeren theoretischen Auf­ wand dazu tendierten, sich in das bestehende politische System stärker einzugliedern, um ihre Verhandlungspositionen zu stärken, Bündnisse zu schließen, staatliche Budgets unter bestimmten Bedingungen auch zu billigen und als stärkste Partei zumindest repräsentative Posten in den Parlamenten in Anspruch zu nehmen. Das kam allerdings zu einer Zeit, in der einzelne Sozialisten in England und Frankreich bereits entgegen dem Votum ihrer Parteien in Regierungen eintraten und bald schon die

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Statur nationaler Führer gewannen. Auch diese entschlossenen Refor­ misten hatten auf ihre Weise natürlich recht. Aber auch Bebel hatte recht, als er vor dem Forum des Parteitags ­gegen Bernstein sagte, es sei «eine ganz verkehrte Taktik, der Partei den Opfermut, die Begeisterung, die Opferfreudigkeit, alles das, was der Kampf in höchstem Maße braucht, durch möglichstes Hinausschieben des Ziels ins Unendliche zu nehmen».37 Kautskys geschmeidiges Ausweichen vor den «revisionistischen» Schlussfolgerungen Bernsteins war wiederum nicht ganz unplausibel, so wenn er kategorisch feststellte, die Marx’sche Theorie hänge «weder von der größeren oder geringeren Wahrscheinlichkeit von Katastrophen, noch von der größeren oder geringeren Raschheit der Entwicklung ab, sondern nur von der Richtung, welche diese einschlägt». Die Sozial­ demokratie müsse sich einfach für jede Eventualität rüsten; mehr könne, mehr brauche sie auch nicht zu tun. Freilich räumte er jetzt ein, dass es sich um eine ganze revolutionäre Epoche handeln könne, die «ein Men­ schenalter» umfassen werde.38 Das brachte ihn dann doch näher an Bernstein, als er eingestehen wollte. Recht hatte aber auch Jean Jaurès, der aufsteigende Führer der fran­ zösischen Sozialisten, als er auf dem Amsterdamer Kongress der Inter­ nationale 1904 der deutschen Sozialdemokratie vorhielt, dass sie, so ­bewundernswürdig sie mit all ihren scharfsinnigen Denkern und ihrer «wohlgegliederten und machtvollen Organisation» sei, sich als unfähig erweise, die «kolossale Macht von drei Millionen Stimmen», die sie bei den letzten Wahlen erhalten hatte, «in die politische Aktion umzuset­ zen». Alle die «Formeln, die euch Genosse Kautsky bis ans Ende seiner Tage liefern wird», könnten die Tatsache nicht überspielen, dass die deutschen Genossen «die beiden wesentlichen Mittel der proletarischen Aktion» nicht beherrschten – «weder die revolutionäre, noch die parla­ mentarische Aktion».39 Jaurès machte damit auf eine Schwäche der deutschen Sozialdemokra­ tie aufmerksam: ihre Unfähigkeit, innerhalb oder außerhalb des Parla­ ments Bündnisse einzugehen und auf dieser Basis eine positive, beweg­ liche, offensive Politik zu treiben. Grundlage dieser Immobilität war vor allem die von Bebel wie Kautsky vertretene Einschätzung, dass mit einer selbständigen Rolle des liberalen Bürgertums oder eines progressiv ge­ sinnten Kleinbürgertums bei der Durchsetzung einer demokratischen Ordnung nach allen Erfahrungen in Deutschland nicht zu rechnen sei. Eben aus dieser Einschätzung erklärten sich die monomane Fixierung auf

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das eigene Wachstum, aber auch die Inkonsequenzen bei der Werbung unter den kleinbürgerlichen und agrarischen Klassen. Wenn Kautsky er­ klärte, dass 70 % der Bevölkerung in nicht zu ferner Zukunft ohnehin zum «Proletariat» zu rechnen seien, und wenn Engels’ Satz «Wer Prole­ tarier schafft, der schafft auch Sozialdemokraten»40 als axiomatisch galt – dann war man genau bei jener immobilen Politik des revolutionä­ ren «Attentismus» angelangt, den Jaurès seinen deutschen Genossen zu Recht vorwarf. Aber als Bebel zu einer feierlichen Entgegnung erhob, da hatte er auch nicht gerade unrecht, wenn er seinen französischen Widerpart Jaurès rhetorisch fragte, was er denn eigentlich «von uns nach dem Drei-Mil­ lionen-Sieg erwartet» habe: «Sollten wir etwa die drei Millionen mobil­ machen und vor das königliche Schloss ziehen, um den Kaiser abzuset­ zen? … Bei uns reichen drei Millionen eben nicht. Aber lassen Sie uns sieben und acht Millionen haben, dann wollen wir weitersehen.» Was immer der Gegner an Gesetzen gegen die Sozialdemokratie einbringe, «wir kommen dabei in die Höhe».41 Jaurès, dessen Figur häufig mit der Bebels verglichen wurde, mit dem er innerhalb der Internationale als Repräsentant Frankreichs auf Augen­ höhe stand, war tatsächlich eine ähnlich serene Verbindung von per­ sönlichem Charisma, unerschütterlicher Zuversicht und der Fähigkeit, komplexe theoretische Zusammenhänge schriftlich und rednerisch in einprägsame und verständliche Formulierungen zu fassen. Aber er reprä­ sentierte doch eine ganz andere Mixtur: aus professoraler Gelehrtheit, re­ publikanischer Militanz, religiöser Heilsgewissheit, die ihre Verbindung zum Christentum keineswegs leugnete, und einer starken emotionalen Verankerung im «tiefen Frankreich», in einer ländlich-volkstümlichen Lebenskultur – alles dies Charakteristiken, die auch dem ganz anderen Zuschnitt seiner Partei und ihrer Wähler entsprach. Die von Jean Jaurès zusammen mit Jules Guesde und dem alten Kom­ munarden Édouard Vaillant geleitete Partei war tatsächlich erst 1905 auf den dringenden Appell des Amsterdamer Kongresses hin aus rivali­ sierenden Parteibünden entstanden. Noch 1914 zählten die französi­ schen Sozialisten im ganzen Land allerdings weniger Mitglieder (90 000) als die SPD allein in Berlin; und sie standen in ganz anderer Weise als die deutsche Partei unter dem Druck eines militanten außerparlamentari­ schen Syndikalismus und Anarchismus, dem sie vielfach Tribut zollen mussten; während die Partei andererseits in einem selbstgenügsamen und

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­ odenständigen «Mutualismus» gründete, der sie hinderte, moderne, b schlagfähige Gewerkschaften aufzubauen. Nur die außergewöhnliche Ausstrahlung von Jaurès, der auch aufgeklärte Intellektuelle, republika­ nisch gesinnte Bürger, Laizisten wie Christen, Pazifisten wie wehrhafte Patrioten, schlechthin alle, die sich den Zielen von menschlicher Würde und Gleichberechtigung verpflichtet fühlten, für den Sozialismus gewin­ nen wollte – nur dieser große Prediger und Menschenfänger sicherte sei­ ner Partei die starke Position, die sie mit mehr als einer Million Wählern dann hatte. Weil sie, trotz oder gerade wegen der republikanischen Verfassung ­ihres Landes, von allen selbständigen Machtoptionen weit entfernt ­waren, tendierten die französischen Sozialisten wie ein großer Teil der Parteien der Internationale nach 1905 dazu, im revolutionären «Massenstreik», den die Syndikalisten und Anarchisten von jeher als den Königsweg ­einer sozialen Umwälzung rühmten, nun ihrerseits ein probates Mittel zu sehen, um konterrevolutionären Anschlägen zu begegnen und künf­ tige Krisen für eine Vorwärtsstrategie zu nutzen. Rosa Luxemburg als die Protagonistin eines sich neu formierenden linken Flügels gab diesen Positionen eine theoretische Unterfütterung, als sie das Panorama der kapitalistischen Akkumulation stärker ins Weltwirtschaftliche, vor allem in die koloniale Sphäre ausweitete. So fragwürdig ihre Behauptungen waren, dass das Wachstum der europä­ ischen Länder sich nur noch aus dieser äußeren kolonialen Expansion speise und daher bald an seine Grenzen stoßen müsse, so richtig lag sie mit ihrem Instinkt, dass eine globale Konvulsion bevorstehe, die alle Vorstellungen einer graduellen Entwicklung, wie die «Reformisten» in der Internationale sie hegten, tatsächlich bald schon zur Makulatur ma­ chen würden. Und so haltlos ihre Erwartungen an die revolutionäre Spontaneität des Proletariats waren, so richtig war doch ihr Drängen, dass die Sozialdemokratie nicht in Ruhe zuwarten könne, bis die Dinge selbst sich auf sie zu bewegten. Verfehlt an der Vorstellung eines revolutionären «Massenstreiks» war, dass damit die Gewerkschaften  – die sich großteils dagegen verwahr­ ten – zu avancierten Organen der Machteroberung umfunktionalisiert und damit ihren eigentlichen Zwecken entfremdet wurden. Und was war, wenn man aus denjenigen Arbeitern, die nicht mitgingen, politische Streikbrecher machte – und vielleicht direkte Gegner? Treffend war auch Bebels Spitze: dass die französischen oder italienischen Genossen, die das Wort «Generalstreik» so sehr liebten, am wenigsten wirklich brauch­

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bare Instrumente und Organisationen hatten, um ihn durchzuführen. Aber es saß auch der umgekehrte Vorwurf, der die Deutschen von den Anfängen der Internationale an begleitet hatte: dass sie nicht einmal ­bereit waren, am zentralen, gemeinsam beschlossenen «Kampftag der internationalen Arbeiterklasse», dem 1. Mai, für das ureigenste Ziel der Arbeiter aller Länder, den gesetzlichen Acht-Stunden-Tag, in einen Streik zu treten, sondern sich mit Kundgebungen und Versammlungen begnüg­ ten. Was politische Massenstreiks anging, hatten die Belgier und die Schweden immerhin das allgemeine Wahlrecht durch Generalstreiks ­erstritten. Und hatten die Russen nicht 1905 durch eine Serie von Gene­ ralstreiks eine, wenn auch faktisch und zeitlich begrenzte, Bresche in die zaristische Autokratie geschlagen? Beim Ausbruch des Weltkriegs 1914 würde sich herausstellen, dass die Massenstreiks, die es in Russland wie in Frankreich, in Italien und eini­ gen anderen europäischen Ländern im unmittelbaren Vorfeld gab, nicht nur hilflos waren, sondern fast übergangslos in die nationalen Erregun­ gen des Kriegsausbruchs mit einflossen. Und gerade einige der radikals­ ten Verfechter revolutionärer Massenstreiks fanden sich binnen Kurzem nicht nur auf der Seite der fanatischsten Verteidiger des Vaterlandes wie­ der, sondern begannen mit der Gründung eigener politisch-militärischer Verbände, die man (nach einem späteren Begriff) als proto-faschistisch bezeichnen kann. Den von tiefer Unruhe und apokalyptischen Weltgefühlen erfüllten «Geist der Zeit» angemessen zu erfassen, der das «Fin de Siècle»  – schon das eine bemerkenswerte Prägung, die statt von einem Beginn von einem Abschied kündete – als den Ursprung der kommenden Weltkriegs­ katastrophe geprägt hat, ist nicht einfach. Hatte es sich denn nicht um eine Periode sozialökonomischer Aufschwünge und sozialkultureller Entwicklungen gehandelt, wie die menschliche Geschichte sie bis dahin niemals gekannt hatte – jedenfalls für die sich rapide modernisierenden und industrialisierenden Länder Europas und Nordamerikas? Selbst die beiden Jahrzehnte nach der «Gründerkrise» von 1873, die als eine erste «Große Depression» kapitalistischen Typs beschrieben und empfunden worden sind, waren im Nachhinein betrachtet eine Periode beschleunig­ ten, wenn auch krisenhaften Wachstums sowie entscheidender wis­sen­ schaft­licher Entdeckungen und technologischer Neuerungen. Sie legten damit erst die Grundlage für die beiden nachfolgenden Jahrzehnte einer «Great Acceleration», einer großen Beschleunigung der industriellen

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Produktionen wie der globalen Kommunikationen  – bis der daraus ­irgendwie entsprungene und sich nach eigenen Gesetzen fortzeugende Weltkrieg die Pfeiler dieser entstehenden Weltwirtschaft für mehr als drei Jahrzehnte in Trümmer legte. Im Vergleich mit allem, was vorausgegangen war und was danach kam, waren die hundert Jahre zwischen 1814 und 1914 – aus europä­ ischer Perspektive  – eine vergleichsweise friedliche Periode gewesen. ­Jedenfalls hatte das lange 18. Jahrhundert, das bis zum Ende der napo­ leonischen Kriege reichte, proportional siebenmal mehr Kriegstote ge­ fordert als das Jahrhundert vor dem Ausbruch des Weltkriegs. Diese lange Periode relativen Friedens hatte, im Verein mit der ver­besserten Hygiene, Gesundheitsversorgung und Ernährungslage, dazu beigetra­ gen, dass es in allen Ländern Europas zu einem steilen Anstieg des Bevöl­ kerungswachstums und einer Zunahme der durchschnittlichen Lebens­ erwartung kam. Im Zuge dessen erweiterten sich die staatlichen Funktionen auf immer mehr Gebiete des sozialen Lebens; und das trug Züge einer unaufhaltsa­ men, sachlich unabweisbaren Tendenz. Der «Raum der Zukunft» dehnte sich für die Einzelnen wie für die Gesellschaften im Ganzen sprunghaft aus und wurde berechenbarer, allein schon durch die immer systemati­ scheren statistischen Erhebungen und darauf gegründeten Prognosen, die dem staatlichen wie unternehmerischen und privaten Handeln zu­ grunde gelegt werden konnten. Dass diese Fortschritte aus der Perspek­ tive anderer Länder und Völker zynisch wirkten, da sie vielfach auf ko­ lonialer Grundlage standen und mit sozialen Katastrophen in aller Welt einhergingen oder gar erkauft waren (so mit einer Serie großer Hungerkata­strophen in Russland, in Asien und Afrika in den 1880/90 er Jahren42), ändert nichts an der Feststellung, dass es sich um einen histo­ rischen Durchbruch von bis dahin nicht gekannter Dynamik handelte, der die menschliche Geschichte auf eine neue Bahn stieß. Umgekehrt ändern aber auch alle nachträglichen Ausmalungen dieses epochalen Fortschritts bürgerlich-kapitalistischen Typs nichts an der Tatsache, dass die subjektive Wahrnehmung dieser Entwicklungen, so weit sie sich politisch, literarisch oder künstlerisch artikulierte, sich auch in den entwickeltsten Ländern von diesen objektiven Daten eklatant ab­ hob und gerade nach der «Großen Beschleunigung» der 1890 er Jahre in einer fast allgemeinen, in Deutschland als «Kulturpessimismus» bezeich­ neten Zeitstimmung mündete, die mit zu den mentalen Voraussetzungen des nachfolgenden Eintritts in die Weltkriegsperiode gehörte.

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Die antisemitischen Ausprägungen dieser katastrophischen Zeitstim­ mungen waren so ziemlich die frühesten und vielleicht die bezeichnends­ ten, weil sie die Ursachen der allgemeinen Entfremdungsgefühle so vage wie plakativ einem «fremden» Element, eben dem Judentum, zuwiesen; und je «emanzipierter» und je integrierter die Juden waren, umso mehr. So hatte der ehemalige 48 er-Demokrat und Journalist Wilhelm Marr 1879 einen neuen Begriff geprägt, eben den des «Antisemitismus», und ihn mit dem Phänomen des «Kulturpessimismus» kurzgeschlossen, als er schrieb: «Der kulturgeschichtliche Bankerott des Abendlandes und be­ sonders des Germanenthums scheint sich erbarmungslos zu vollziehen. Nennt es ‹Pessimismus› der aus mir spricht.» Wenn das deutsche Volk sich seiner unaufhaltsamen «Verjudung» entziehen wolle, dann müsse es «die Existenz der ganzen modernen Gesellschaft in Frage stellen» – die demnach ihrer Natur nach «jüdisch» war.43 Dieselbe apokalyptische Zeitdiagnose findet man freilich in Fjodor Dostojewskis «Tagebuch ­eines Schriftstellers» aus den 1870 er Jahren oder in Édouard Drumonts Pamphlet «La France Juive» von 1886. Auf einem literarisch ungleich sublimeren und gedanklich kühneren, aber ebenfalls hoch riskanten Niveau bewegte sich Nietzsches Klage über die Lebensfeindlichkeit und Sklavenmoral der modernen Welt, die er dem alles verderbenden christlich-jüdischen Erbe Europas zuschrieb, dem christlichen noch stärker als dem jüdischen.44 Genau entgegen­ gesetzt und doch ähnlich klang es, wenn christlich-fundamentalistische Eschatologen das Gefühl der Gläubigen beschworen, «dass es Abend ­geworden und dass der Herr nahe ist», weshalb «der Teufel einen Zorn (zeigt), aus dem wir ersehen können, dass er wenig Zeit mehr hat».45 Oder wenn der protestantische Hofprediger Adolf Stoecker, Gründer ­einer christlich-sozialen Partei (ursprünglich «Arbeiterpartei»), als Anti­ semit, Antikapitalist und Antisozialist 1891, gerade auch mit Blick auf den Aufstieg der wieder legalisierten Sozialdemokratie, als ein allgemeines Zeitgefühl die «Überzeugung, dass wir vor einer entfliehbaren Katastro­ phe stehen», beschwor: «Zeigt doch die Geschichte, dass jedesmal sozia­ listische Bewegungen großen Volksstürmen vorangegangen sind …»46 Die Sozialdemokraten waren selbst Teil dieser Zeitstimmungen. Anders hätte es auch schwerlich sein können. Denn diese Stimmungen waren darin begründet, dass es auch jetzt und gerade jetzt, in der Phase des gro­ ßen kapitalistischen und weltwirtschaftlichen Aufschwungs, noch im­ mer undenkbar erschien, dass eine ganze Welt primär nach den Gesetzen

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des Kapitals, d. h. einer endlosen Selbstverwertung des Werts und einer permanenten, aus myriadischen Einzelentscheidungen gespeisten, in die­ sem Sinne blinden Umwälzung der Produktionstechnologien und Sozial­ formen würde leben können. Und wie schon in den ersten Anfängen der «industriellen Revolution» waren die daran geknüpften apokalyptischen Weltgefühle unter großen Teilen des klein- und großbürgerlichen und selbstverständlich aristokratischen Publikums mit seinen Publizisten und Künstlern noch viel ausgeprägter und ungleich katastrophischer als unter den Sozialisten. Die Liberalen, deren Zeitalter dies eigentlich hätte sein sollen, waren in diesem Konzert keineswegs die dominierenden, oft eher die schwächs­ ten Stimmen von allen. Wie hätten sie auch begründen sollen, dass eine Klasse, die man als Bürgertum oder Bourgeoisie, Kapitalbesitzer oder Unternehmer bezeichnete und die ein Sammelsurium von Parvenus und Privatleuten ohne erkennbare öffentliche Funktion (wie sie die Feudal­ klassen nominell stets gehabt hatten) und ohne inneres Band (wie es ­Geburt und Stand stets geboten hatten) darstellte, inmitten all seiner hektischen kommerziellen Betriebsamkeit auch noch eine tragende ge­ sellschaftliche und politische Rolle hätte einnehmen sollen? So drückte die Schwäche oder Unfähigkeit der bürgerlichen Schichten, sich anstelle der alten monarchischen, feudalen oder bürokratischen Eliten selbst zur füh­ renden Klasse der Nation zu erheben, nicht nur eine tiefe Selbstunsicher­ heit, sondern ein reales Legitimitätsproblem aus. Dagegen enthielten die sozialdemokratischen Vorstellungen einer nahe bevorstehenden Umwälzung aller beengenden, entwürdigenden, ausbeutenden Lebensverhältnisse eine Wette auf die Zukunft, die von ­einem grundlegenden Optimismus über die menschlichen Entwicklungs­ möglichkeiten getragen war. Diese Vorstellungen entsprangen aber keiner quasi-biblischen Prophezeiung, sondern sie waren in den realen Gege­ benheiten und Potentialen einer neuen, modernen Welt durchaus solide begründet. Auch der deklaratorische, aber ernst gemeinte Internationa­ lismus, die grundsätzliche Bereitschaft der Sozialisten, Menschen aller Rassen und Herkünfte gleich zu stellen, und ihre Entschlossenheit, we­ der Sklaverei noch patriarchale Abhängigkeiten zu dulden, die Men­ schen von allen Formen überkommenen Aberglaubens zu befreien und in eine aufgeklärte «Mündigkeit» zu entlassen, ihnen eine Allgemein­ bildung zukommen und sie für sich selbst sprechen zu lassen – das alles war tatsächlich in einem Sinne «progressiv», wie es bis dahin noch keine politische Doktrin in der menschlichen Geschichte gewesen war.

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Dass aus diesen hochgesteckten Zielen noch keine taugliche Politik abzuleiten war, dass die Erringung und Errichtung einer «Association, worin die freie Entfaltung eines jeden, die Voraussetzung der freien Entfaltung aller» wäre, mit hundert sachlichen Komplikationen, psy­ chischen Hindernissen und moralischen Fallstricken verbunden sein würde, zumal in einem realgeschichtlichen Entwicklungsprozess, des­ sen Krisenhaftigkeit und Gewaltpotentiale sich mit dem Ausbruch des Weltkriegs und im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts erst vollends Bahn brechen würden – das alles steht auf einem anderen Blatt und än­ dert nichts an der Legitimität und dem Bahnbrechenden dieser Bewe­ gung. Es gibt freilich auch einen Eindruck von ihrer praktischen Hilflosig­ keit, die gerade keine Ahnungslosigkeit war, ganz im Gegenteil. Selbst das notorische Krisenbewusstsein, das aus dem Marx’schen Erbe stammte, wurde von den realen Entwicklungen ja in immer neuen Springfluten überspielt und übertroffen. Über alle Revolutionserwartungen und Zu­ kunftsprospekte legte sich seit der Gründung der Internationale, von Kongress zu Kongress immer drückender, der Schatten einer herauf­ ziehenden Weltkatastrophe, die früh schon auf den Begriff und die Vor­ stellung eines Weltkriegs in bisher unerhörten Formen gebracht wurde. Engels hatte Mitte der 1880 er Jahre dieses neue, ganz andere «Gespenst» beschworen, das in Europa umging; sein ganzer revolutionärer Bellizis­ mus, sobald es um das zaristische Russland und seine 1890 geschlossene Allianz mit dem revanchistischen Frankreich ging, glich in Vielem jetzt einem Pfeifen im Wald. Dasselbe gilt für August Bebels wiederholte Bekundungen, im Falle ­eines solchen Vernichtungskriegs, auf den das deutsche Proletariat mit den revolutionärsten Maßregeln nach dem Muster der französischen «levée en masse» wie 1792/93 reagieren müsse, selbst noch die Knarre auf seinen alten Buckel zu nehmen. Das alles waren verbale Blindschüsse nach allen Seiten, denen die frisch-fröhlichen Hoffnungselemente, wie sie in den revolutionären Weltkriegsprospekten von 1848 oder selbst 1870 noch gesteckt hatten, immer gründlicher abhanden kamen. So steht August Bebels letzte große Rede vor dem Reichstag im No­ vember 1911 wie ein Menetekel an der Wand dieser Vorkriegsjahre  – und ist zugleich Dokument einer verzweifelten Hilflosigkeit. Zwei Mo­ nate zuvor hatten noch 200 000  Menschen in Berlin aus Anlass der «Zweiten Marokkokrise» gegen die offensive Kolonialpolitik der eige­ nen Regierung wie die der anderen Mächte (hier vor allem Frankreichs),

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die immer wieder mit dem Risiko eines großen Kriegs spielten, demons­ triert. Das war eine der größten Demonstrationen seit Langem. Jetzt sagte Bebel, gesundheitlich schon stark angeschlagen, von der Tribüne des Reichstags an die Adresse der nationalliberalen und konser­ vativen Regierungsmehrheit, dass mit dem neuen Abkommen (Marokko blieb französisch, Deutschland erhielt Kamerun) nichts gelöst und nur neues Unheil gesät, ja, eine Büchse der Pandora geöffnet worden sei: «So wird man eben von allen Seiten rüsten und wieder rüsten, man wird rüs­ ten bis zu dem Punkte, dass der eine oder andere Teil eines Tages sagt: lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende … Alsdann wird in Europa der große Generalmarsch geschlagen, auf den hin 16 bis 18  Millionen Männer, die Männerblüte der verschiedenen Nationen, ausgerüstet mit den besten Mordwerkzeugen, gegeneinander als Feinde ins Feld rücken. Aber nach meiner Überzeugung steht hinter dem großen Generalmarsch der große Kladderadatsch. (Lachen) Ja, Sie haben schon manchmal da­rüber gelacht; aber er kommt, er ist nur vertagt. (Große Heiterkeit) Er kommt nicht durch uns, er kommt durch Sie selber. (Sehr richtig! Bei den Sozialdemokraten)  … Hinter diesem Kriege steht der Massenbankerott, steht das Massenelend, steht die Massenarbeitslosig­ keit, die große Hungersnot. (Widerspruch rechts). Das wollen Sie be­ streiten?»47 Die da lachten oder sich empörten, saßen keineswegs nur am rechten Rand, sondern vor allem in der nationalliberalen Mitte der Volksvertre­ tung, und etliche auch beim katholischen Zentrum und den bürgerlichen Demokraten. Andere schwiegen düster und verzagt. Applaus gab es für Bebel nur aus dem eigenen Lager, und womöglich auch da schon mit sehr unterschiedlicher Intensität. Es ging eben längst nicht mehr nur um prinzipielle Überzeugungen, sondern um reale Bedrohungen – die ebenso reale politische und moralische Dilemmata produzierten. Allein in Kate­ gorien von Gesinnungstreue oder Verrat sind sie nicht zu fassen.

4. Das Marx’sche Momentum

Die zwei Unvollendeten

E

ine von Marx’ Schwiegersohn Lafargue überlieferte Episode handelt von Balzacs Erzählung «Das unbekannte Meisterwerk» oder viel­ mehr davon, wie der alte Marx Jahre vor seinem Tod sich von ihr beein­ druckt, aber auch getroffen gezeigt habe. In dieser Erzählung arbeitet ein Maler des 17. Jahrhunderts zehn Jahre an einem Bild seiner Angebeteten, das der Höhepunkt seiner Kunst werden soll; er übermalt es immer wie­ der, und endlich zeigt er es seinen Freunden, die ihm widerstrebend bei­ bringen, dass sie nichts als einen Wirrwarr von Linien und Farben sähen; nur ein herrlich gemalter Frauenfuß sei zu erkennen. Daraufhin verbrennt der Maler in derselben Nacht alle seine Skizzen und Bilder und begeht Selbstmord.1 Der Marx-Biograf Francis Wheen hat, dem amerikanischen Kultur­ wissenschaftler Marshall Berman folgend, diese Episode an den Anfang einer Abhandlung über «Marx und ‹Das Kapital›» gestellt. Auch Marx habe über Jahrzehnte, von Mitte der 1840 er Jahre bis zu seinem Tod, an einem einzigen Buch mit dem Arbeitstitel «Kritik der politischen Öko­ nomie» geschrieben, das er unablässig überarbeitete, weil er es (wie er dem ungeduldig drängenden Engels schrieb) als «ein artistisches Gan­ zes» betrachtete – und eben deshalb nie fertig bekam.2 Gerade das Fragmentarische, Unabgeschlossene seines Hauptwerks mache ihn aber, so Marshall Berman, jenem Maler vergleichbar, der schon die moderne, abstrakte Malerei erfunden hatte, ohne dass er selbst – oder auch sein Autor Balzac – auf diese Pointe hätte kommen können.3 Denn wo «ein Zeitalter nur Chaos und Zusammenhanglosig­ keit wahrnimmt», da entdecke «eine spätere beziehungsweise moder­ nere Epoche unter Umständen Sinnhaftigkeit und Schönheit».4 Das Bahnbrechende des Marx’schen Denkens lag und liegt zunächst sicherlich darin, dass er eine industrielle Revolution und globalisierte Welt antizipiert und auf ihre inneren Wirkungsgesetze hin untersucht hat, die in seiner eigenen Lebenszeit erst rudimentär in Erscheinung ­getreten waren. Marx war der erste, der versucht hat, den Kapitalismus

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zu denken, nämlich als eine «politische Ökonomie» im vollen Sinne die­ ses Begriffs, nicht als eine regelhafte «Nationalökonomie», sondern als eine sämtliche überkommenen Welt- und Wertvorstellungen erschüt­ ternde soziale Umwälzung und als eine Kraftentfaltung, die zukunfts­ offen war und in ihrer blinden Ziellosigkeit und notorischen Krisenhaf­ tigkeit jedenfalls transitorischen Charakter tragen musste. Was Marx von allen Sozialisten seines Zeitalters darüber hinaus un­ terschied, war sein unbedingter, durch ein herkulisches Lese- und Arbeits­pensum beglaubigter Wille zu einer empirisch gestützten Wissen­ schaftlichkeit. Seine «Kritik der politischen Ökonomie» war als eine Fortschreibung und entscheidende Korrektur der volkswirtschaftlichen Klassiker seiner Zeit angelegt, und er wollte sie unbedingt als «positive Wissenschaft» verstanden wissen.5 Gesprächsweise soll er sogar behaup­ tet ­haben, «dass jeder unparteiische Geist, der nicht von Privatinteressen beeinflusst und nicht durch Klassenvorurteile verblendet sei, unbedingt zu denselben Schlüssen gelangen müsse».6 Aber neben der Ökonomie und einer daraus abgeleiteten Soziologie der Klassen und Professionen vertiefte Marx sich auch in weite Gebiete aller übrigen zeitgenössischen Wissenschaften, darunter die 1859 pu­ blizierte Arbeit Charles Darwins über «Die Entstehung der Arten», in dessen Beobachtungen und Schlussfolgerungen er eine «naturwissen­ schaftliche Unterlage» für seine eigenen Evolutionstheorien über den historischen Stoffwechsel von Mensch und Natur sah. So begann er, historisch-technologische Studien über vorindustrielle Produktions­ weisen anzustellen und ausgedehnte ethnologische Exzerpthefte anzu­ legen, in denen es um Lebens- und Gesellschaftsformen vorstaatlicher, «primitiver» Völker ging7  – alles recht neue Zweige der Human- und Geschichtswissenschaften. Beim Sichten seines immensen Nachlasses sind die Herausgeber der Marx-Schriften auch auf Hunderte Seiten mit Exzerpten und Handzeichnungen zur «Naturgeschichte» gestoßen, von der Paläontologie über die Mineralogie bis zur Pflanzenchemie.8 Zur Erholung von seinen nächtlichen Schreibschüben las er die anti­ ken Klasssiker oder englische Dramen, meist im Original, selten in den romantisierenden Übersetzungen der Zeit. Seine ersten Theorien über das Geld entnahm er Sophokles oder William Shakespeare, und das Vorwort zu seinem Hauptwerk endete mit dem Dantes «Göttlicher ­ ­Komödie» entlehnten Wahlspruch: «Segui il tuo corso, e lascia dir le genti!» (Folg deinem Weg, und lass die Leute reden). Tatsächlich war «Das Kapital» selbst als ein Abstieg in die danteske Unterwelt der Arbeit

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komponiert und lässt sich auch als «ein Stück Literatur» lesen, als eine Mischung aus Schauerroman und Burleske, griechischer Tragödie und satirischer Anti-Utopie, während die Schilderungen des proletarischen Elends und die Seitenhiebe gegen die bigotten Bourgeois «Dickenssche Qualität» haben.9 Dazu gehörte auch, dass Marx außer dem Griechischen und Lateini­ schen sowie dem Englischen und dem Französischen sich schon als jun­ ger Mann das Italienische angeeignet hatte, eben um Dante im Original lesen zu können. Dass er auf seine alten Tage sich auch noch das Russi­ sche einpaukte, um wissenschaftliche Arbeiten über die Grundeigen­ tumsverhältnisse in Russland, literarische Zeitschriften und politische Pamphlete von dort im Original zu studieren, hing mit dem Schreibplan des «Kapital» zusammen, in dem die Kategorie der «Grundrente» an russischen Agrarverhältnissen hätte entwickelt werden sollen. Es hatte allerdings auch mit seinen Kämpfen gegen die «Bakunisten» in der Inter­ nationalen Arbeiter-Assoziation zu tun und seinem spät erwachten Inte­ resse an dem Land selbst. Am Ende waren es diese «Russica» gewesen, wie Engels bei Sichtung des Nachlasses ingrimmig feststellte, die Marx daran gehindert hatten, den zweiten und dritten Band des «Kapital» fer­ tigzustellen.10 Dabei hat Marx ja keineswegs nur an diesem einen, lebenslangen, un­ vollendet gebliebenen Hauptwerk geschrieben. Über weite Strecken sei­ nes politischen Lebens hatte er sich mit ganz anderen Dingen beschäftigt und dabei seine Talente vielfach verschwendet. Alleine die maßlosen ­Polemiken, mit denen er theoretische oder politische Widersacher litera­ risch zu erledigen suchte, haben ihn Lebensjahre gekostet und füllen Bände. Dann waren da die viel später erst in ihrem Gedankenreichtum und ihrem Schliff gewürdigten großen Essays, allen voran «Der 18. Bru­ maire des Louis Bonaparte».11 Schließlich sollen Marx und Engels zu­ sammen rund 2000 journalistische Artikel verfasst haben – die manche Philologen des Marxismus mit zum Bedeutendsten rechnen, was die bei­ den hinterlassen haben.12 Marx war immer auch mit Leidenschaft Redakteur und ein (mehrfach gescheiterter) Zeitungs- und Zeitschriftengründer. Seine publizistischen Arbeiten sowie eine ausgedehnte Korrespondenz waren Teil seiner – zeit­ weiligen  – Praxis als aktiver Revolutionär, zuerst zwischen 1847 und 1850 als informeller Kopf des «Bundes der Kommunisten» und noch einmal von 1864 bis 1872 als faktischer Sekretär der Londoner Inter­ nationalen Arbeiter-Assoziation. So wenig geeignet er war, als Tribun

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vor Massen oder auch nur als Redner vor großen Versammlungen auf­ zutreten (er lispelte ein wenig und sprach mit starkem rheinischem Tonfall), so wenig war er als Politiker zu unterschätzen.13 Sein stärkstes ­Talent lag allerdings auch hier in seiner Fähigkeit, allgemein verständ­ liche und doch literarisch machtvolle Manifeste und Resolutionen zu verfassen, wenngleich sie, wie das «Manifest der Kommunistischen Partei» von 1848, zu ihrer Zeit nur wenig gehört und gelesen worden sind. Und dann war da eben Friedrich Engels, der ein Kopf eigenen Ranges war. Alle Gartenlaubenpoesie über «Mohr & General» aus sowjetischer oder DDR-Produktion beiseite gelassen: Man dürfte sich schwer tun, in der Geschichte von der Antike bis zur Gegenwart ein Paar zu finden, das wie diese beiden über fast vierzig Jahre so eng, so permanent, so produk­ tiv an einem intellektuellen Werk zusammengewirkt hat. Dass ihr bär­ tiges Doppelprofil schon in der deutschen Sozialdemokratie vor 1914 zu einem Kultobjekt gemacht wurde, und dass sie im 20. Jahrhundert dann ungefragt in eine emblematische Reihe von Köpfen verschiedener kom­ munistischer Potentaten eingereiht wurden, die sich damit ihrerseits zu «Klassikern» erheben und als Propheten einer neuen Welt verehrt wer­ den wollten, verstellt den Blick auf das ganz und gar Erstaunliche der Beziehungsgeschichte dieser beiden Männer. Ohne Engels kein Marx – nicht der Marx jedenfalls, den wir kennen. Schon der frisch zum Kommunismus konvertierte, autodidaktisch bele­ sene Fabrikantensohn, der im Spätsommer 1844 mit einer Fülle hand­ fester Kenntnisse über das internationale Wirtschaftsleben und voller Eindrücke über die «Lage der englischen Arbeiterklasse» aus der Baum­ wollmetropole Manchester nach Paris kam, um dort Marx zu treffen, brachte einen neuen Wind und eine Menge sinnlicher Empirie in dessen Studierstube. Man könnte nicht einmal sicher sagen, ob Marx seine ur­ sprüngliche Aversion gegen Doktrin und Begriff des «Communismus» ohne den Einfluss des Jüngeren und seiner sozialpolitischen Korrespon­ denzen aus England überwunden hätte. Auf diesem Weg war ihm Engels vorausgegangen – for better or worse. In einer zehntägigen, rauschhaften Sauf- und Debattentournee durch die Kneipen, Cafés und Clubs von Paris hatten die beiden 1844 eine ­lebenslange intellektuelle Dyade begründet, der man selbst etwas «Dia­ lektisches» attestieren möchte, im ursprünglichen, platonischen Sinn ­eines immer weitertreibenden dialogischen «Zwiedenkens» ebenso wie

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im hege­lianischen Sinn eines von Widersprüchen getriebenen, im eige­ nen philosophischen Weltwissen «aufgehobenen» Geschichtsprozesses, dessen Kairós, als Punkt einer letzten Zuspitzung und Erfüllung, in ihre eigene Lebenszeit und Lebenswelt fallen musste. Sie hatten nicht vor, diesen Punkt zu verpassen. Dass es Marx war, der bei der Heraus­arbeitung ihrer, von allen Vor­ läufern und Rivalen scharf abgegrenzten, politisch-philosophischen Doktrinen die Federführung innehatte und in ihrem Duo «die erste Geige spielte», hat Engels immer wieder versichert. «Was Marx geleistet, hätte ich nicht fertiggebracht. Marx stand höher, sah weiter, überblickte mehr und rascher als wir andern alle. Marx war ein Genie, wir anderen höchstens Talente», schrieb er nach dessen Tod.14 Aber der Abglanz des Genies fiel natürlich auch auf ihn, der in diesen späteren Jahren als der «Große Lama aus der Regent’s Park Road» noch einmal eine überra­ gende Rolle als Pate und Orakel der entstehenden Sozialistischen Inter­ nationale spielte.15 Richtig ist, dass Engels alleine schwerlich das Zeug zu einem originä­ ren Gesellschaftstheoretiker gehabt hätte, so wenig wie zu einem autori­ tativen Arbeiterführer von der Statur eines Ferdinand Lassalle oder eines August Bebel. In der Kombination mit Marx dagegen, dann als Heraus­ geber von dessen nachgelassenen Schriften, berufener Exeget und fakti­ scher Begründer eines entstehenden «Marxismus» und schließlich als Mentor der Sozialistischen Internationale entfaltete er Fähigkeiten, die ihn nicht nur als einen hellen theoretischen Kopf und Autodidakten mit enzyklopädischem Wissenshunger, sondern auch als begnadeten Popula­ risator auswiesen. Engels beherrschte (zumindest passiv) mehr als ein Dutzend Sprachen, die er spielend erlernte und deren Grammatik und Semantik ihn immer wieder fesselten. Als ein gelernter Pietist kannte er sich selbstverständlich in den Grundlagentexten des Christentums aus, aber bald auch in den heiligen Schriften anderer Weltreligionen ebenso wie in den mythischen Erzählungen der unterschiedlichsten Kulturen, nicht zuletzt der nordi­ schen Völker. Und wenn für Marx die frühe Neuzeit vor allem mit der italienischen Renaissance, den Dramen Shakespeares und den großen Entdeckungen verbunden war, dann für Engels mit den deutschen Bau­ ernkriegen und Handwerkerrebellionen, mit der Reformation und den millenaristischen Sekten und Predigern. Das alles war auch Teil seiner volkskundlichen, archäologischen oder ethnologischen Privatstudien über Kelten und Römer, Germanen und Slawen, Christen und Heiden,

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die dann in seine Arbeit über den «Ursprung der Familie, des Privat­ eigentums und des Staates» sowie in eine ganze Reihe begleitender, meist unveröffentlicht gebliebener historischer Studien mit einflossen. Seine späte, große Leidenschaft galt aber der Geschichte und Entwick­ lung der modernen Wissenschaften, und namentlich der Naturwissen­ schaften. Hätte er Zeit und Muße gehabt, dann hätte er Marx’ «Kapital» vermutlich gerne eine «Dialektik der Natur» als ein eigenes, kongeniales Hauptwerk zur Seite gestellt – von dem aber nur ein längeres, in der Zeit Stalins entdecktes und einflussreich gewordenes Fragment existiert. Es zeugt von Engels’ etwas fataler, aber sehr zeitgemäßer und nicht völlig marxwidriger Neigung, die Evolutionen der «organischen Natur» in eine (allzu) direkte Übereinstimmung mit der «Entwicklung des mensch­ lichen Geschlechts» zu bringen und vice versa: «Die Dialektik ist aber weiter nichts als die Wissenschaft von den allgemeinen Bewegungs- und Entwicklungsgesetzen der Natur, der Menschengesellschaft und des Denkens.»16 Eine Art Meta-Wissenschaft also. Last not least war da noch «der General», wie Engels’ familiärer Spitz­ name lautete, der Revolutionsoffizier im Wartestand und autodidakti­ sche Militär­experte. In der badischen «Reichsverfassungskampagne» im Sommer 1849 hatte er an einer Reihe kurzer, verlorener militärischer Treffen teilgenommen und die Kugeln pfeifen hören; nur um dieses letzte Gefecht der deutschen Revolution und seine bürgerlich-demokratischen Anführer gleich anschließend einer vernichtenden Kritik zu unterzie­ hen.17 Aber vor allem in seinen Jahren in Manchester tat er sich in zahl­ reichen Artikeln und Artikelserien in der deutschen, englischen und amerikanischen Presse als ein versierter Analytiker aller größeren Kriege seiner Zeit hervor. Sein größter Triumph auf diesem Feld war es vermut­ lich, von Marx zu erfahren, dass seine als anonyme Broschüre unter dem ­Titel «Po und Rhein» (1859) gedruckten Analysen des französisch-öster­ reichischen Kriegs in Berliner Kreisen als das Werk eines preußischen Generalstabsoffiziers betrachtet wurden.18 Alles in allem: Wo in der gesamten Politik und Publizistik des 19. Jahr­ hunderts hätte es Figuren von solcher Komplexität gegeben, wie Marx und Engels es jeder für sich und beide zusammen waren? Natürlich wa­ ren ihre Ambitionen eines Universalgelehrtentums, das in seiner prak­ tisch-politischen Ausrichtung am ehesten noch an die französischen ­Enzyklopädisten des 18. Jahrhunderts erinnerte, an sich schon ein pro­ blematischer Anachronismus. Die einschüchternde Allwissenheit, die die beiden sich in ihren Briefwechseln gegenseitig attestierten und in Korres­

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pondenzen mit Dritten ständig demonstrierten, war immer auch eine Machtgeste, ein unverhüllter geistig-politischer Superioritätsanspruch. Ihre kombinierte intellektuelle Hybris wird die epigonalen Staatsmarxis­ men des 20. Jahrhunderts in ihrem Wahn, die Entwicklungsgesetze der Welt und der Geschichte zu durchschauen, in fixe Formeln zu fassen und ergo zu beherrschen, entscheidend beflügelt haben. Aber so wenig die verfehlten Sozialpraktiken und moralischen Deformationen der kom­ munis­tischen Regimes sich allein von ihrer ideologischen Hochstapelei und Phraseologie her angemessen entschlüsseln lassen, so wenig ist diese Nachgeschichte ein Argument gegen die originäre intellektuelle Lebens­ leistung von Marx, die vollkommen neue Horizonte eröffnet hat.

Von Marx zum Marxismus Beim Begräbnis von Karl Marx im März 1883 waren nur elf Personen anwesend: außer seinen beiden überlebenden Töchtern Eleanor und Laura und den Schwiegersöhnen Lafargue und Longuet ein paar alte Londoner Gefährten und Freunde sowie Wilhelm Liebknecht als Vertre­ ter der deutschen Sozialdemokratie. Das war sicherlich Marx’ eigenem Wunsch und Engels’ Regie geschuldet. Es drückt dennoch einen irritie­ renden Sachverhalt aus: nämlich das Missverhältnis zwischen der soli­ tären Position, die Marx als Politiker und Theoretiker gegenüber der «wirklichen Bewegung» fast betont einhielt, und einer Ausstrahlung, die gerade aus dieser geistesaristokratischen Abstinenz rührte. Das Paradox zeigte sich schlagend in der Würdigung, die Friedrich Engels seinem Gefährten am Grab zuteil werden ließ. Der Tote sei gewiss «der bestgehasste und bestverleumdete Mann seiner Zeit» gewesen, und dabei «verehrt, geliebt, betrauert von Millionen revolutionärer Mitarbei­ ter, die von den sibirischen Bergwerken an und über ganz Europa und Amerika bis Kalifornien hin wohnen» – eine pseudologisch-phantasti­ sche Übertreibung, die einen Vorgeschmack auf die kommunistischen Hyperkulte des 20. Jahrhunderts lieferte. Ins Zentrum seiner Würdigung stellte Engels aber nicht Marx’ Wirken als praktischer Revolutionär, sondern seine Rolle als ein «Mann der Wissenschaft»  – einer Wissen­ schaft, die mittlerweile «eine geschichtlich bewegende, eine revolutio­ näre Kraft» geworden sei. Wie Charles Darwin «das Gesetz der Ent­ wicklung der organischen Natur» entdeckt habe, so habe Marx «das Entwicklungsgesetz der menschlichen Geschichte» enthüllt, und mit

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«der Entdeckung des Mehrwerts» auch «das spezielle Bewegungsgesetz der heutigen kapitalistischen Produktionsweise» und deshalb werde Marx’ Name «durch die Jahrhunderte fortleben und mit ihm sein Werk».19 Alle ironische Distanz, mit der man das heute liest, ändert nichts da­ ran, dass Engels’ Prophezeiung – wenn auch anders als gedacht – tat­ sächlich eingetreten ist. Ein Jahr zuvor waren in Paris 200 000 dem Sarg von Auguste Blanqui gefolgt. Sein Name und seine Figur waren bereits eingeschreint in eine revolutionäre Tradition, die posthum noch roma­n­ tisierend gepflegt worden ist – und dennoch unaufhaltsam verblich. Ge­ nau umgekehrt verhielt und verhält es sich mit Karl Marx, dessen Ruhm und Wirkung erst nach seinem Tod wirklich begannen. Selbstverständlich bedürfen die Metamorphosen des «Marxismus» eige­ ner Erklärungen. Es handelt sich, um noch einmal Leszek Kolakowski zu zitieren, «um die seltsame Geschichte einer Idee, die mit dem pro­ metheischen Humanismus begann und mit den Ungeheuerlichkeiten des stalinistischen Terrors endete». Allerdings müsse jede Ideengeschichte von der Tatsache ausgehen, «dass die gesellschaftlichen Kräfte, die be­ stimmte Ideologien tragen, stärker sind als diese Ideologien», und be­ denken, dass die Akteure immer «dem Gewicht ihrer eigenen Tradition unterworfen» bleiben.20 Die Sackgassen einer rein ideologiegeschichtlichen Erklärung der kommunistischen Praxis lauern gleich zu Beginn. Fast alle Marx zu­ geschriebenen Eigenschaften und Attribute wie «utopisch», «messia­ nisch», «eschatologisch» oder «teleologisch» ließen sich mit gleichem Recht den anderen Köpfen des europäischen Sozialismus vor 1914 zu­ weisen, Bebel oder Kautsky, Guesde oder Plechanow. Warum kamen sie als «Marxisten» aber zu vollkommen anderen p ­ olitischen und sozialen Konsequenzen als Lenin, der sich allen querulatorischen Polemiken zum Trotz als Theoretiker und Doktrinär von i­hnen nur wenig unterschied – umso mehr aber als revolutionärer Stratege? Lenins Doktrinen lagen bis 1914 noch weitgehend im Mainstream des europäischen Sozialismus. Was sich diametral unterschied, waren die Personen, die Situationen, die Mentalitäten – wie in der töd­lichen Verfeindung von Kommunisten und Sozialdemokraten nach dem Ersten Weltkrieg zutage trat. Im Lichte dessen müssen die Translationen des revolutionären Sozia­ lismus oder Kommunismus von Westen nach Osten, nämlich von Frank­ reich nach Deutschland, von Deutschland nach Russland, schließlich von Russland nach China und in alle Welt, weniger als eine Geschichte

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von reinen Ideologietransfers verstanden werden, sondern eher als eine Geschichte ­eigenständiger Adaptionen, vielseitiger Anverwandlungen und Übertragungen in ganz andere zeitliche, räumliche und kulturelle Kontexte. Der fast dreißig Jahre alte Mao Tse-tung zum Beispiel kannte, als er 1921 (halb zufällig) an der von Emissären der Moskauer Internationale initiierten Gründung einer «Kommunistischen Partei Chinas» teilnahm, vom Marxismus wie vom Leninismus so gut wie nichts, schon weil es kaum Übersetzungen von Marx, Engels, Lenin ins Chinesische gab, das er als einzige Sprache beherrschte – zu einem Zeitpunkt, da es in Russ­ land immerhin seit vierzig Jahren eine konsolidierte und originäre Tradi­ tion des Sozialismus und Marxismus gab, deren Texte im Original wie in Überset­zungen gelesen und verbreitet wurden.21 Noch 1937/38 im Feld­ lager in Jenan, als Mao, schon unbestrittener Führer seiner Partei und Revolu­tionsarmee, daran ging, sich ein festeres theoretisches Fundament zu schaffen, um zu legitimieren, was er längst tat, stand ihm nur eine ru­ dimentäre «marxistisch-leninistische», das hieß: stalinistische Literatur zur Verfügung. In seiner Jugend war er romantischer Monarchist gewe­ sen, bevor er Republikaner und Nationalist und schließlich Kommunist wurde. Zeitlebens war er in den Volksmythen und der klassischen Lite­ ratur Chinas zuhause, aus der er auch als kommunistischer Parteiführer ausgiebig schöpfte. So ist der Schriftenkanon der «Mao-Tse-tung-Ideen», den er mit Hilfe seines gebildeten Sekretärs und Ghostwriters Chen Boda zielstrebig entwickelte, eine weitgehend originäre Schöpfung und ein ideologisches Amalgam, das als «sinisierter Marxismus» (so die offizielle Selbstbezeichnung) nicht annähernd beschrieben ist.22 In diese jeweiligen Amalgame und Synthesen – nennen wir sie ruhig «Leninismus», «Stalinismus» oder «Maoismus», da sie ja tatsächlich von den jeweiligen Führern formuliert oder ganz auf sie zugeschnitten wurden – flossen vergangene oder aktuelle Lektüren, aber vor allem eine Masse zeitgebundener oder generationell geprägter, sozialer oder natio­ naler Ambitionen, Interessen und Motivationen mit ein. Richtet man den Blick also mehr auf die tragenden Figuren und auf die lebendigen Aufgebote und weniger auf die Buchstaben der Katechismen oder «Ge­ sammelten Werke», dann stellen sich die Kommunisten zunächst einmal als politische Akteure eigenen Zuschnitts in den sich vielfach über­ lagernden Konflikten des vergangenen Jahrhunderts dar. Sie waren Fleisch vom Fleisch ihrer Gesellschaften, Kulturen, Nationen; Angehörige ganz bestimmter Generationen, vor allem der beiden Weltkriegs- und Nach­

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kriegsgenerationen; junge Männer und Frauen mit oft typischen Aufstei­ ger- oder Aussteigerbiografien. Allen Relativierungen und Historisierungen zum Trotz bleibt es eine Tat­ sache, die man als solche erst einmal würdigen und historisch erklären muss: dass von Karl Marx und seinem Denken ein originäres und wuch­ tiges historisches Momentum ausgegangen ist – ein machtvoller intellek­ tueller und politischer Anstoß, der sich allen geläufigen Analogiebildun­ gen, etwa mit historischen Religionsstiftungen oder Reformationen, weithin entzieht, aber auch in der Begründung einer neuen philosophi­ schen, weltanschaulichen, historischen oder ökonomischen Denkschule nicht aufgeht. Dass Marx eine «Lehre» (im antiken Sinne) oder eine «Ideologie» (im Sinne der «Idéologues» der französischen Revolutions­ zeit) kreiert, irgendeine «Große Utopie» (die soundsovielte) aufs Papier geworfen oder eine aufgefrischte messianische «Erlösungshoffnung» in die Welt gesetzt hätte – das alles verfehlt das ­Spezifische seiner Wirkung. Und was deterministische Geschichtsauffassungen und «wissenschaft­ liche» Soziallehren mit universalem Heilsanspruch betrifft, so gab es sie im 19. Jahrhundert in den verschiedensten, elaborierten Versionen, im sozialreligiösen «Positivismus» eines Auguste Comte ebenso wie in den verschiedenen Spielarten einer universalen, s­ozialdarwinistischen Ent­ wicklungstheorie von Herbert Spencer bis Ernst Haeckel. Auch in einer solchen wissenschaftlichen Selbstüber­hebung nach Art der Zeit ist das Geheimnis des spezifischen Marx’schen Momentums schwerlich zu fin­ den. Ebenso wenig sind Marx und Engels aber als politische Gründerfigu­ ren und Strategen zu fassen, trotz ihrer wiederholten praktisch-revo­ lutionären Bemühungen. Ihre sichere Überzeugung, eine «Partei im ­großen historischen Sinne»23 zu vertreten, und die Vorstellung einer ­direkten Beziehung zwischen ihnen selbst und «der Revolution» konn­ ten dabei ziemlich komische Züge annehmen. Ganze proletarische ­Armeen kommandierten sie im Geiste, so wenn Marx seinem Freund im September 1867 mitteilte: «Les choses marchent. Und bei der nächsten Revolution, die vielleicht näher ist, als es aussieht, haben wir (d. h. Du und ich) diese mächtige Maschine in unserer Hand.»24 Mit «dieser mächtigen Maschine» war jetzt die Internationale Arbeiter-Assoziation gemeint. Größenwahn wäre für diese Phantasien eine eher milde Bezeich­ nung. Weitaus bitterer als die immer neuen praktisch-politischen Enttäu­

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schungen war für Marx, dass der erste Band seines 1867 endlich erschie­ nenen «Kapital» sich zunächst keineswegs, wie er gehofft hatte, als «das furchtbarste Geschoss, das den Bürgern (Grundeigentümer eingeschlos­ sen) noch an den Kopf geschleudert worden ist»25, erwies. Das Buch fand in der deutschen Öffentlichkeit nur ein sehr verhaltenes Echo, ge­ rade auch in den wissenschaftlichen Fachkreisen, auf die Marx hoff­ nungsvoll geschaut hatte. Hätte nicht Engels  – unter etlichen falschen Namen und mit der verstellten Stimme eines mal liberalen, mal konser­ vativen, mal kathedersozialistischen Kritikers – für eine halbwegs ange­ messene Presseresonanz gesorgt, wäre die Lektüre auf engste Parteizirkel beschränkt geblieben. Übersetzt wurde «Das Kapital» anfangs nur in Russland, wo es trotz der wachen Zensur regulär gedruckt werden konnte und die Rezeption zu Marx’ misstrauischer Überraschung fast sofort sehr viel lebhafter war als in Deutschland. 1873 gab es dann eine von ihm selbst revidierte Übersetzung ins Französische, die nur wenig Beachtung fand. Eine dras­ tisch verkürzte Version, die eher einem Abriss ähnelte und (noch mit Marx’ Billigung) 1883 erschien, wurde allerdings im Laufe der folgen­ den Jahre und Jahrzehnte in großen Auflagen verbreitet und in eine Reihe anderer Sprachen übersetzt26 – aber das hat Marx nicht mehr er­ lebt. Und ausgerechnet ins Englische, in die Sprache der führenden ­Industrienation, wurde das «Kapital» erst Jahre nach seinem Tod über­ setzt, so wie in einige andere europäische Sprachen auch. Mit dieser entmutigenden Erfahrung hatte es sicher auch zu tun, dass Marx die beiden anschließenden Bände seines (ursprünglich auf sechs Teile angelegten) Hauptwerks trotz wiederholter Ankündigungen nicht mehr fertigstellte, sondern nur eine Masse ungeordneter Fragmente hin­ terließ. So wie überhaupt ein großer Teil der Schriften, die wir heute mit seinem Namen verbinden, zu seinen Lebzeiten nur noch in Archiven oder auf den Flohmärkten zu finden war. Als sich ein Besucher in seinen späten Lebensjahren nach seinen wichtigsten Werken erkundigte, soll er bitter abgewunken haben: «Welche Werke?!»27 Das Erbe von Marx hat von Anfang an seine ganz eigenen posthumen Schicksale und Karrieren durchlaufen. Zunächst war es die originäre Leistung von Engels, in einer Reihe gut lesbarer Schriften, vor allem ­einer in fast alle europäischen Sprachen übertragenen, immer neu aufge­ legten Broschüre mit dem griffigen Titel «Die Entwicklung des Sozialis­ mus von der Utopie zur Wissenschaft»28 (1880), die ersten Umrisse eines

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für ein größeres Publikum verständlichen «Marxismus» oder eben eines «wissenschaftlichen Sozialismus» kreiert zu haben. Diese Schrift war ein Auszug aus dem «Anti-Dühring», in dem Engels den unter führenden Sozialdemokraten ums Haar zum Guru geworde­ nen Berliner Privatdozenten Eugen Dühring 1879 polemisch vernichtet hat. Die Tatsache, dass nahezu alle Köpfe der eben gegründeten Partei, darunter gestandene Parteiführer wie Bebel und selbst Liebknecht, im «antikratischen» Sozialismus des von Jüngern umlagerten blinden So­ zialphilosophen eine willkommene Unterstützung sahen, hatte Engels alarmiert. Dühring predigte die Ablösung des «überlieferten Gewalt­ eigentums» durch eine «sozialitäre» Umgestaltung der Wirtschaft, in der «das bisherige Ablohnungssystem durch die wirtschaftliche Selbständig­ keit von Arbeitergesellschaften ersetzt werden» und nach Ausschaltung der Weltmarktkonkurrenz durch Schutzzölle die sozialen Gegensätze harmonisch gelöst werden könnten. In einer Mixtur aus Lassalle, Prou­ dhon und Comte, List und Carey hatte Dühring einen eigenen «Kursus der National- und Sozialökonomie» entwickelt, in dem er alle Formen eines empirischen, historischen und dialektischen Denkens ausdrücklich verwarf zugunsten eines «positiven Denkens» amerikanischen Stils. Den Ausschlag für Engels’ Intervention gab, dass Dühring inmitten ­einer Flut von Schmähungen gegen Zeitgenossen wie gegen einen gro­ ßen Teil der klassischen Ökonomen und Denker von Adam Smith über Goethe bis Hegel auch Marx als eine «wissenschaftliche Jammergestalt» abqualifizierte, da sein «Kapital» nirgends zu dem gelange, was positiv zu tun sei, sondern mit allerhand dialektischem Zauberwerk als «Mittel der Düpierung» seiner Leser arbeite. Dass dies der Popularität Dührings unter Sozialdemokraten keinen Abbruch getan hatte, offenbarte, wie oberflächlich der spezifische Denkmodus, den Marx entwickelt hatte, dem theoretischen Arsenal der eben gegründeten deutschen Partei noch immer geblieben war. Tatsächlich würde es nur noch drei Jahre dauern, bis Dühring in ­einem neuen, giftigen Pamphlet das Judentum als ein «inneres Carthago» brand­ markte, «dessen Macht die modernen Völker brechen müssen, um nicht selbst von ihm eine Zerstörung ihrer sittlichen und materiellen Grundla­ gen zu erleiden».29 Engels’ «Anti-Dühring» mochte allerdings mit dazu beigetragen haben, dass Dühring ab jetzt fast nur noch als ­manischer Pro­ pagandist eines «wissenschaftlichen Antisemitismus» auftrat. Der Fall zeigt gleichwohl, wie eng benachbart oder miteinander verwoben die The­ men und Motive von Antisemitismus und Sozialismus sein konnten.

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Ganz unabhängig davon machte die Dühring-Affäre klar, dass es, wie Engels 1885 rückblickend schrieb, keine «mehr oder minder les­ bare Darstellung der von Marx und mir vertretenen dialektischen Me­ thode und kommunistischen Weltanschauung» gab. Diese dringend benötigte Darstellung lieferte Engels  – mit überraschendem Erfolg. ­ Viele maßgebliche Köpfe des sich formierenden europäischen Sozialis­ mus von Bebel, Kautsky und Bernstein bis Plechanow oder Labriola haben bezeugt, dass sie eigentlich erst durch die Lektüre von Engels’ «Anti-Dühring» zu «Marxisten» geworden seien  – und nicht etwa durch Marx’ «Kapital».30 Langfristig von noch größerer Bedeutung war es gleichwohl, dass Engels nach dem Tod von Marx in einer gewaltigen zehnjährigen ­ Anstrengung, assistiert von Karl Kautsky und Eduard Bernstein, die wichtigsten Hinterlassenschaften seines Freundes geordnet, lesbar ge­ macht und mit eigenen Ergänzungen, Korrekturen und Anmerkungen versehen hat, so vor allem die beiden Folgebände des «Kapital», die 1884 und 1894 erschienen. Niemand außer ihm hätte das tun können. Dass er als einziger «Marx lesen» konnte, hing aber nicht nur mit ihrer jahrzehntelangen Freundschaft und Korrespondenz, sondern mit seiner eigenen Rolle als Anreger, Beiträger, Kritiker und Redaktor bei der Aus­ arbeitung des gesamten, unter Marx’ Namen rubrizierten Gedanken­ werks zusammen. Auch in diesem Sinne lässt sich sagen, dass es ohne Engels womöglich keinen «Marx» gegeben hätte. Inwieweit Engels’ Les­ art der Manuskripte und zentralen Gedanken von Marx dessen Wahr­ nehmung bis heute überformt, ist eine nächste Frage. Aber auch ohne Karl Kautsky und einige andere theoretische Köpfe seines Kalibers wie Eduard Bernstein oder Franz Mehring, Georgi Plechanow oder Antonio Labriola und ohne charismatische Redner, ­Politiker und Popularisatoren wie August Bebel, Victor Adler, Jean Jau­ rès oder Emil Vandervelde hätte es einen nach vielen Seiten anschluss­ fähigen «Marxismus» schwerlich gegeben. Es musste erst, wie der junge Otto Bauer 1907 in einem Rückblick auf die Wirkungsgeschichte des «Kapitals» schrieb, «eine Reihe vortrefflicher Popularisatoren die Gold­ barren Marx’schen Denkens zu gangbarer Münze prägen, die nun von Hand zu Hand läuft». Der vielgescholtene «Vulgärmarxismus, den die Massen aus den volkstümlichen Darstellungen der Marx’schen Lehre ­herausgelesen haben», sei nun einmal, so Bauer, ein aus der Geschichte der Naturwissenschaften und der Philosophie seit jeher bekanntes Phä­ nomen, das nur zeige, wie «die Vereinfachung und Verflachung einer

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neuen Lehre nichts als ein Stadium ihres Siegeszugs, ihres Vordringens zu allgemeiner Geltung ist». Für die Massen der Arbeiter sei ein auf ­einfache Formeln gebrachter Marxismus «nicht nur ein gewaltiger Fort­ schritt ihres Wissens», sondern «auch eine der Triebkräfte ihres Wol­ lens».31 Da sprach ein angehender sozialdemokratischer Parteipropa­ gandist.

Lost in Translations Dass der alte Engels den Begriff des «Marxismus» nur zögernd akzep­ tierte, entsprach dem Selbstbild des toten Freundes, der alles, nur «kein Marxist» hatte sein wollen.32 Das war kein Ausdruck von Bescheiden­ heit, ganz im Gegenteil. Marx hatte sehr genau registriert, dass sein Name und seine «Lehren» in Frankreich, in England und vor allem in Russland für Zwecke und Ideen in Anspruch genommen wurden, mit denen er nichts zu tun haben wollte. Und überhaupt konnte ihm die Ver­ wandlung seiner «sogenannten Theorie»33 in einen bloßen, an seinen Namen geknüpften, schülerhaft repetierbaren und fraktionell verwende­ ten Ismus absolut nicht gefallen. Als Gegenspieler zu «Proudhonisten», «Bakunisten», «Blanquisten» usw. aufzutreten, die ihrerseits seine An­ hänger in der IWA als «Marxisten» identifizierten, war ihm durchaus wichtig gewesen; aber gerade aus der Beliebigkeit solcher epigonaler Credos wollte er ja heraus. Wer «die Wissenschaft einem nicht aus ihr selbst  …, sondern von außen, ihr fremden, äußerlichen Interesse ent­ lehnten Standpunkt zu accomodieren versucht», den müsse man einen «gemeinen» Menschen, einen Schurken nennen, notierte er sich in einem seiner Textentwürfe.34 In den 1890 er Jahren stand der Begriff des «Marxismus» bereits zu­ nehmend machtvoll und ausstrahlend im Raum des europäischen ­Sozialismus, während um den großen Toten hier und da bereits ein Kult getrieben wurde, der parareligiöse Züge trug. Das «Kapital» firmierte, wie Bebel verkündete, als die «Bibel der Arbeiterbewegung» (so selektiv gelesen wie diese); und der tote Marx erschien als ein neuer Moses, der auf Grußpostkarten und Parteiplakaten den Proletariern aller Länder ewige, bindende und erlösende Wahrheiten verkündete. Nicht nur auf den Kongressen der Internationale begann die «marxis­ tische» Linie immer deutlicher zu dominieren. Im Erfurter Programm der SPD von 1891, dessen beide Teile von Karl Kautsky und Eduard

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Bernstein verfasst waren, hatte der entstehende Marxismus eine zeit­ gemäße Ausformulierung gefunden, die auch der «große Lama» Engels halbwegs akzeptieren konnte. Zwei Jahre später, im August 1893 auf ­einem Kongress der Internationale in Zürich, konnte er feststellen, der Sozialismus habe sich in den letzten fünfzig Jahren von einer Sekte «zu einer gewaltigen Partei entwickelt, welche die ganze offizielle Welt erzit­ tern lässt». Aber, wie er warnend hinzufügte, es bedürfe weiterhin einer intensiven und freien Diskussion, um nicht rückwärts wieder «zur Sekte zu werden».35 Ganz deutlich sah Engels in seinen letzten Lebensjahren die Haupt­ gefahr vor allem in einer Dogmatik, die dem «wissenschaftlichen Sozia­ lismus» den Lebensnerv rauben würde. Seinem alten Freund Sorge schrieb er im Mai 1894 nach New York, die amerikanischen Sozialisten teilten mit ihren englischen Kollegen das zweifelhafte Verdienst, «die Marx’sche Theorie der Entwicklung auf eine starre Orthodoxie herun­ tergebracht zu haben, zu der die Arbeiter sich nicht aus ihrem eignen Klassengefühl emporarbeiten sollen, sondern die sie als Glaubensartikel sofort und ohne Entwicklung herunter zu würgen haben … Daher blei­ ben beide bloße Sekten und kommen, wie Hegel sagt, von nichts durch nichts zu nichts».36 Unabhängig von allen frühen Dogmatisierungen begann das Marx’sche Gedankensystem, obwohl es gerade erst in seinen Umrissen sichtbar wurde, einen intellektuellen Einfluss zu üben, der den Rahmen der so­ zialistischen Parteien überschritt. Zu den früh Beeindruckten gehörten einige prominente Begründer der Sozialwissenschaften wie Max Weber, Werner Sombart und Joseph Schumpeter. Sie vor allem waren es, die vor und nach 1900 den – von Marx gemiedenen, aber nun ihm weithin zu­ geschriebenen – Begriff des «Kapitalismus» in die Welt setzten,37 aus der er seither nicht verschwunden ist. Dass der Marxismus als ein sich immer weiter elaborierendes Theo­ riesystem von Beginn an auch hervorragende Kritiker fand, Ökonomen, Soziologen oder Philosophen wie Eugen Böhm-Bawerk, Georg Simmel, Benedetto Croce oder Tomas Masaryk, oder eben Werner Sombart, Max Weber und Joseph Schumpeter, trug zu seiner intellektuellen Wir­ kungsgeschichte nur weiter bei. Andererseits verschoben sich die Akzente der Wahrnehmung, was den historischen Marx selbst betraf. Wenn er um 1850 vor allem als ein revolutionärer Journalist und um 1875 vor ­allem als der Begründer eines «wissenschaftlichen Sozialismus» wahrge­

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nommen wurde, so um 1900 als der Lehrer einer historisch-materialisti­ schen «Weltanschauung»; nur um 25 Jahre später in den Debatten einer neuen kommunistischen Parteiintelligenz als ein «Vordenker der Revo­ lution» gerühmt zu werden, die in Russland ihren weltgeschichtlichen Durchbruch erlebt habe, inspiriert von einem «revolutionären Marxis­ mus», wie Lenin ihn gültig formuliert haben wollte.38 Diese Verschiebungen und epistemologischen Brüche hingen aller­ dings auch damit zusammen, dass das fragmentarische Schrifttum, das Marx und Engels hinterlassen haben, in wesentlichen Partien und in sei­ ner ganzen, enzyklopädischen Dimension erst im Verlauf des 20. Jahr­ hunderts überhaupt schrittweise zugänglich und in anderen Sprachen als Deutsch, Russisch, Französisch und Englisch verfügbar geworden ist. Vieles, vielleicht das meiste von dem, was heute essentiell zum Bild von Marx als einem Geschichtsphilosophen, Ökonomen und Sozialwissen­ schaftler, Journalisten und Politiker gehört, hat lange Zeit nur spora­ disch oder gar nicht zur Verfügung gestanden, lagerte allenfalls in Biblio­ theken oder noch ganz in den Archiven.39 Philologisch und philosophisch von einschneidender Bedeutung wa­ ren die in den späten 1920 er und frühen 1930 er Jahren durch das Mos­ kauer Marx-Engels-Archiv unter David Rjasanow erstmals veröffent­ lichten «Frühschriften», die den Bildungs- und Entwicklungsgang von Marx und Engels überhaupt erst fassbar gemacht und die Charakteristik ihres Gedankensystems erschlossen haben. Mit anderen Worten: Ein auch nur annähernd vollständiger Marx stand in der historischen For­ mationsperiode des «Marxismus» und später als einer von Staats oder Partei wegen verordneten «Ideologie» zwischen 1890 und 1930 (oder sogar bis 1960) gar nicht zur Verfügung. Das hatte einen doppelten Grund, der vor allem mit der Zäsur 1917 zusammenhing: Während die meisten westlichen Sozialdemokratien das theoretische Erbe von Marx und Engels nur noch antiquarisch pflegten oder zunehmend ausschlugen und es dort, wo sie Teile des Nachlasses in ihren Händen hatten (wie im Parteiarchiv der SPD oder im Amsterdamer Archiv für Sozialgeschichte), eher akademischen Spezialisten oder den raren Parteiintellektuellen alten Schlags überließen, gehörte das 1920 eingerichtete Marx-Engels-Archiv in Moskau, das einen Großteil der Nachlässe zielstrebig erworben hatte oder zumindest in Kopie besaß, zu den heiligen Stätten der Sowjetunion. Umso heikler war es, als sich bei dem Unternehmen einer ersten Mos­ kauer Gesamtausgabe der Marx-Engels-Schriften herausstellte, dass nicht

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wenige der Texte heterodox, ja geradezu häretisch wirkten; weshalb es bald lebensgefährlich sein konnte, sich allein auf Marx statt auf Lenin und vor allem auf Stalin zu berufen, geschweige aus den Lektüren der Originaltexte eigene Schlussfolgerungen zu ziehen. Stalins Verfügung, eine erhebliche Anzahl von Marx- und Engels-Texten aus der Zusam­ menstellung ihrer «Werke» auszuschließen (vor allem ihre antizaristi­ schen, wenn nicht russophoben Pamphlete) und das ehrgeizige Projekt einer «Marx-Engels-Gesamtausgabe» (MEGA) vorerst einzustellen zu­ gunsten einer ideologisch unbedenklichen, durch parteiamtliche Kom­ mentare und Erläuterungen eingehegten Zusammenstellung der «MarxEngels-Werke» (der späteren MEW), datierte bereits aus den frühen 1930 er Jahren.40 Inmitten des Großen Terrors dieser Jahre war es noch eine sinnträch­ tige Tragödie eigenen Gewichts, als der alte David Rjasanow mit ande­ ren deutschen und russischen Mitarbeitern aus dem Archiv- und Edi­ tionsstab des Marx-Engels-Instituts im Januar 1938 in einen Moskauer Hinrichtungskeller geschleppt wurde. Schon 1931 hatte Stalin ihn in den Kreml zitiert und beschuldigt, «konterrevolutionäre Dokumente» auf­ zubewahren und ehemalige Menschewiken zu beschäftigen. Nach einem lebhaften Wortwechsel wurde er zum ersten Mal verhaftet, sein Institut durchsucht und ein Großteil seiner engsten Mitarbeiter entlassen.41 Rja­ sanow, der ein Freund von Kautsky, Plechanow und anderen Theoreti­ kern der Vorkriegszeit und der eminenteste Marx-Kenner Russlands war, hatte die historische Differenz, um die es sich handelte, 1924 einmal erstaunlich freimütig markiert, als er sagte: «Ich bin kein Bolschewik, ich bin kein Menschewik, ich bin kein Leninist. Ich bin einzig ein Marxist, und als Marxist bin ich ein Kommunist.»42 In diesem Sinne durfte man in der Sowjetunion Stalins jetzt weder Marxist noch Kommunist sein.

Marx im Westen, Marx im Osten Einen einigermaßen vollständigen «Marx» hat die lesende Welt erst seit den 1960/70 er Jahren kennengelernt, nachdem auch die «Frühschrif­ ten» (die sogenannten Pariser Manuskripte)43, die «Deutsche Ideolo­ gie»44, die «Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie»45, die ge­ druckten wie die ungedruckten Russland-Schriften46, der Großteil der Briefwechsel, privaten Dokumente, Gesprächsaufzeichnungen usw. ediert und in den wichtigsten Weltsprachen verfügbar waren.47 Erst seit dieser

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Zeit sind so entscheidende Begriffe wie «Entfremdung», «Verdinglichung» oder «Praxis» ins Zentrum des Verständnisses gerückt, die bis dahin in der ganzen, immensen Literatur eines schulmäßigen Marxismus prak­ tisch unbekannt, unerwünscht oder nebensächlich gewesen waren.48 Das war noch einmal eine erhebliche Verschiebung der Akzente und je­ denfalls ein deutlich anderer «Marx» als derjenige, den Lenin, Trotzki, Stalin und die Köpfe der Bruderparteien der Internationale so akribisch studiert hatten. Dabei lässt es sich nicht einfach unter den Ironien der Geschichte ver­ buchen, sondern hatte seine eigene Folgerichtigkeit, dass dieser erstmals halbwegs komplette Marx unter westlichen Marxisten oder Neuen Lin­ ken zunächst breiter und vollständiger bekannt war als im «sozialis­ tischen Lager» mit seinen Marxismus-Leninismus-Instituten und ver­ zweigten Wissenschaftsakademien. Man könnte sogar eine epochale Pendelbewegung beschreiben, der Art, dass das Gesamtmassiv der MarxTexte und die Umrisse seiner komplexen Gedankenwelt genau zu dem Zeitpunkt erst zutage traten (um 1960), an dem die Sozialdemokratien des Westens sich endgültig und förmlich davon verabschiedeten, wäh­ rend die kommunistischen Parteien mit ihren hausgemachten ­Orthodoxien in Sterilität erstarrten  – und eben deshalb ihrerseits in eine Phase der schleichenden Pluralisierung und osmotischen Zersetzung eintraten. Nicht nur die «Neuen Linken» des Westens, die sich jenseits von So­ zialdemokratie und orthodoxem Kommunismus ansiedelten, auch viele Rebellen und Dissidenten der 1960 er Jahre im europäischen Osten be­ gannen noch einmal intensiv Marx und marxistische Texte zu lesen, machten sich Gedanken über die «asiatische Produktionsweise» und über die unaufgehobene, eher noch vertiefte «Entfremdung» im realen Sozialismus, über das Verhältnis von «Produktionsverhältnissen und Produktivkräften», über die verschwindende (statt «führende») Rolle der Arbeiterklasse, über die neue «technische Intelligenz» und die gesell­ schaftliche Funktion der Wissenschaften, über Ökonomie und Ökolo­ gie, Mensch und Natur, über die «Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau», über alle nur denkbaren Themen. Nichts, wozu man nicht fündig wurde bei den beiden «Klassikern» oder auch bei einigen ihrer ebenfalls wieder ausgegrabenen Fortdenkern wie Karl Korsch, Karl August Witt­ fogel, Antonio Gramsci oder Georg Lukács. So scholastisch diese Lektü­ ren und Debatten vielfach waren, so viel kritisches, perspektivenerwei­ terndes Potential enthielten sie noch immer. Darüber diffundierte die Marx’sche Denkform in immer weitere ge­

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sellschafts- oder kulturkritische Diskursfelder, sei es im Geiste der Kriti­ schen Theorie, des Strukturalismus oder eines «Freudomarxismus», oft am Rande des Esoterischen, aber jedenfalls mit einigem experimentellen Elan. In diesen Nachkriegsjahrzehnten erschienen auch eine Reihe gro­ ßer, substantieller Marx-Biografien, angefangen mit den Wiederauflagen von Isaiah Berlins «Karl Marx» bis hin zu einer Serie neuer, sehr unter­ schiedlich akzentuierter Arbeiten. Auch diese Biografien konnten nur im Westen geschrieben werden, weil es im Osten faktisch ausgeschlossen oder direkt verboten war, das Inkommensurable seiner Person und sei­ nes Denkens in ein lebendiges Gesamt- und Zeitbild zu bringen – nicht anders als im Fall der kommunistischen Revolutionäre und Staatsmän­ ner, von Lenin über Stalin bis Mao, von Ho bis Castro, über die in ihren eigenen Ländern und Bruderländern nur Hagiografien, aber keine Bio­ grafien geschrieben werden konnten. Einer der Marx-Biografen, David McLellan, hat zum hundertsten To­ destag von Marx 1983 sogar behauptet, dass es ein ernsthaftes Studium des Marx’schen Gedankenwerks nur noch in den kapitalistischen Ländern gebe, und dass es demnach «im Westen mehr Marxisten gibt als in den ‹marxistischen› Staaten».49 Und Francis Wheen, der ebenfalls eine von manchem scholastischen Ballast befreite Biografie des Mannes verfasst ­ olières Ko­ hat50 , schrieb: «Wie Monsieur Jourdain, der Protagonist von M mödie ‹Der Bürger als Edelmann›, zu seiner namenlosen Verwunderung entdeckt, dass er seit über vierzig Jahren Prosa spricht, ohne es zu wissen, so haben weite Teile des westlichen Bürgertums Marx­sches Gedankengut in ihren Ideenhaushalt aufgenommen, ohne es je bemerkt zu haben.»51 Über Sinn und Zweck des Jahrhundertunternehmens einer textkritischen, quellengestützten «Marx-Engels-Gesamtausgabe» (MEGA), an der  – in Fortführung des in den 1920 er Jahren begonnenen, in den 1970 er Jahren in Moskau und Ostberlin wiederaufgenommenen archivarischen Mammutwerks  – seit den 1990 er Jahren die internationale «Marx-­ Engels-Stiftung» (IMES) in Amsterdam mit beträchtlichem materiellem und intellektuellem Einsatz weiterarbeitet, lässt sich freilich streiten. Das Unternehmen, das bis zum Jahr 2025 reichen und nach einem bereits drastisch gekürzten Editionsplan immer noch 114 Bände umfassen soll, gilt einer labyrinthischen Text- und Gedankenfülle, deren Durchfor­ schung immer neue Wellen einer Marx-Hermeneutik produziert. Nicht nur für Marxologen, auch für Wissenschaftler und Zeitdiagnostiker je­ der anderen ­Orientierung können diese Texte und Quellen Denkanstöße

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liefern.52 Aber ein freier Blick tut heute vielleicht doch mehr Not als eine unendliche Philologie, die fast zwangsläufig zu einer antiquarischen Ge­ schichtsschreibung wird. Jedenfalls lenkt dieses beispiellose Editionsunternehmen noch einmal den Blick auf die Gedankenleistung, die die Doppeldenker Marx & ­Engels als die letzten Universalgeister und Enzyklopädisten einer vergan­ genen europäischen Wissenskultur ausweist. Darin waren Kosmos und Natur, Himmel und Erde, Wirtschaft und Gesellschaft, Kultur und Wis­ senschaft, Geist und Physis in allen ihren Erscheinungen und Hervor­ bringungen noch einmal zusammengedacht, um «Bewusstsein» (als ­bewusstes Sein) zu entwickeln und in gesellschaftliches Handeln zu über­ führen. Aber ob das Geheimnis des realen «Momentums» von Marx wirklich in dieser intellektuellen Überspannung gelegen hat, die ja – vor allem in ihrer Suche nach dem innersten Kern der kapitalistischen Pro­ duktionsweise – durchaus der Suche nach einer «Weltformel» glich, darf man bezweifeln. Offen ist auch die Frage, ob seine wirtschafts- und ge­ sellschaftstheoretischen Annahmen im Kern stimmen oder nicht, ob es also seine zutreffenden Diagnosen der Funktionsweisen des Kapitals wa­ ren, die seine historische Wirkung begründet haben – oder vielleicht um­ gekehrt: seine Irrlehren und Irrtümer? Jedenfalls sind die Fragen von Wirkung und Wahrheit erst einmal zu trennen. Und noch einmal ist festzuhalten, dass aus den fragmentari­ schen Marx’schen Theorien und Gedankenführungen ganz unterschied­ liche, ja gegensätzliche Schlussfolgerungen gezogen werden konnten, in politisch-praktischer wie in theoretischer Hinsicht. Marx’ theoretische Fehlannahmen oder Blindstellen sollen nicht von jeglicher Verantwortung für das freigesprochen sein, was andere, die sich auf ihn und seine «Lehre» berufen haben, daraus abgeleitet haben. Das Umgekehrte gilt aber erst recht nicht. Die suggestive Ahnenreihe der emblematischen «Fünf Köpfe» diente in Wirklichkeit ja vor allem je­ weils der ­Salbung der Zuletztgekommenen und war daher immer rück­ wärts zu ­lesen: Mao nahm sich ein Stück vom Nimbus des lebenden und des toten Stalin, so wie Stalin den mumifizierten Lenin als dessen «treuester Schüler» in Anspruch genommen und beerbt hatte. Lenin wiederum hatte ­seinen ganz eigenen Mix von Doktrinen auf einen von ihm angeblich getreu rekon­struierten «revolutionären Marxismus» ge­ gründet, der allerdings weitgehend von Engels und seinen Eleven, na­ mentlich Kautsky, stammte, mehr jedenfalls als vom toten Marx selbst. Man kann das ideengeschichtlich als Prozess der stetigen Verdünnung

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einer ursprünglichen Gedankenessenz fassen oder richtiger vielleicht: als einen neuen Remix, der sich im jeweiligen Kontext allerdings als von nicht nur homöopathischer Wirksamkeit erwies. So schärfte der Stellver­ treter Maos, Lin Piao, 1966 den angehenden Offizieren der chinesischen Volksbefreiungsarmee ein, sie sollten «99 % der Anstrengungen auf das Studium der Werke Mao Tse-tungs» konzentrieren, da die Werke von Marx und den übrigen Klassikern zu zahlreich, zu schwierig und von der chinesischen und aktuellen Wirklichkeit zu weit entfernt seien. Manche Leute behaupteten, Marx’ «Kapital» sei die Grundlage aller weiteren Theorien, dabei habe dieses Buch doch «nur die Probleme und Gesetze der kapitalistischen Gesellschaften» erklärt – über die das sozialistische China längst hinaus sei. Kurzum, der Vorsitzende Mao stehe «weit über Marx, Engels, Lenin und Stalin», denn er sei ein Genie, wie es «nur in mehreren hundert Jahren einmal geboren» werde.53 Originäre Marx-Studien, wie sie in Japan seit dem Ende des 19. Jahr­ hunderts betrieben worden sind und bis heute betrieben werden, hat es in China nie gegeben. Marx ist, um es so zu sagen, in China nie angekom­ men. Ob die Gründung eines neuen Instituts zum Studium der Marx-­ Engels-Ideen in Beijing im Jahr 2014 unter der Ägide des Vorsitzenden Xi Jingping einer unvoreingenommen, neuen Lektüre den Weg bereiten wird, ist eher fraglich. Der Staatszweck ist jedenfalls klar: Es geht um die ver­ spätete Erfindung einer Tradition und um die Schließung einer histori­ schen Legitimationslücke, da das Parteiprogramm der KP Chinas sich nun einmal auf einen «sinisierten Marxismus» als seine primäre Inspiration beruft. Zu befürchten ist daher, dass es sich um den Versuch der Plastinie­ rung eines Ideenkadavers und seine endgültigen Verwandlung in ein Aus­ stellungspräparat handeln wird. Dieses Unternehmen geht im Übrigen parallel und Hand in Hand mit der Wiederaufwärmung eines in neue, sterile Lehrsätze gefassten «Konfu­ zianismus», der ebenfalls nur noch Spurenelemente der feinen, humorvol­ len, zuweilen eher antiautoritären und fast immer betont uneindeutigen Gleichnisse und Lebensweisheiten dieses frühantiken, halb mythischen Meisters Kong enthält. Auch hier handelt es sich eher darum, die Über­ lieferung, so rudimentär und so widersprüchlich sie ist54, philologisch zu kontrollieren, um sie von allen zu «Gedankensünden» anregenden Ele­ menten zu reinigen und stattdessen in plane, auswendig zu lernende Erzie­ hungsmaximen und in pompöse «Regierungsdevisen» auszumünzen – so wie sämtliche früheren Herrscherdynastien von den Qin bis zu den Qing es ebenfalls getan haben.

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Die theoretischen Fehlannahmen und Blindstellen in den Grundlagen­ texten des Marxismus sind im Nachhinein nicht schwer zu ermitteln – sei es theoretisch-immanent, sei es im Licht der weiteren Evolutionen des modernen Funktions- und S­ ozialstaates, der bürgerlich und demokra­ tisch verfassten Gesellschaften sowie eines globalisierten Kapitalismus, oder sei es im Lichte der fragwürdigen und gewaltsamen Macht-, So­zial- und Wirtschaftspraktiken der kommunistischen Staatswesen des 20./21. Jahrhunderts. Auf der Vorderbühne der Kritik am Marxismus stand von Anfang an die entgegen allen Dementis eben doch teleologisch wirkende Verknüpfung, die Engels in seiner Broschüre «Die Entwick­ lung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft» (1880) zwischen den «Naturgesetzen» der kapitalistischen Produktion und dem abseh­ba­ ren Sieg des Sozialismus hergestellt hatte. Dieses Vertrauen in die selbst­ induzierte Höherentwicklung der Menschengattung, das zugleich säku­ lar und transzendent war, stellte das ererbte Gottvertrauen, das stets mit der Ungnade Gottes und der Unerforschlichkeit seiner Ratschlüsse rech­ nete, weit in den Schatten. Die fixe Abfolge der Produktionsweisen und Geschichtsepochen schien die Heraufkunft des Sozialismus zu einer reinen Frage des Wann und Wie zu machen. Wenn die gegebene bürgerliche Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung sich in einem «fehlerhaften Kreislauf» bewegt, bis «der gesamte Mechanismus der kapitalistischen Produktion  … unter dem Druck der von ihm selbst erzeugten Produktivkräfte» versagt; und wenn der rastlose Zwangsmechanismus der Akkumulation von Kapital dazu tendiert, nicht nur alle Arbeits- und Lebenszeit der Proletarier auf­ zufressen und in Qual und Elend zu verwandeln, sondern auch das Gros der Kleinproduzenten und schließlich sogar die schwächeren Kapitalis­ ten unter dieses Rad zu stürzen, bis der Staat als «ideeller Gesamtkapi­ talist» gezwungen ist, immer mehr als «wirklicher Gesamtkapitalist» aufzutreten, um durch Übernahme zentraler Produktionszweige die Dinge überhaupt noch am Laufen zu halten – dann scheint der Weg tatsächlich durch die kapitalistische Entwicklung selbst gebahnt, auf dem das Prole­ tariat, das bereits «die große Mehrzahl der Bevölkerung» stellt, in der Lage und existentiell gezwungen sein wird, friedlich oder unfriedlich, aber per definitionem demokratisch die Staatsgewalt zu ergreifen, «die Produktionsmittel zunächst in Staatseigentum» zu verwandeln, um sie dann schrittweise wirklich zu vergesellschaften und mit den Klassen­ antagonismen zusammen auch den Staat «als Staat» (als Zwangsappa­ rat) nach und nach aufzuheben.

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Und so wie sich die Menschheit die Naturkräfte Schritt für Schritt nutzbar macht, so können dann auch die Produktionsmittel «in den Händen der assoziierten Produzenten aus dämonischen Herrschern in willige Diener verwandelt werden». Indem nun endlich eine materiell ausreichende Existenz für alle gesichert wird, kann «auch die vollstän­ dige freie Ausbildung und Betätigung ihrer körperlichen und geistigen Anlagen garantiert» werden. Damit scheidet die Menschheit eigentlich erst aus dem Tierreich aus, wird Herrin der äußeren Natur wie ihrer ei­ genen gesellschaftlichen Arbeit, beginnt ihre Geschichte zum ersten Male mit vollem Bewusstsein selbst zu machen, vollzieht den «Sprung aus dem Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit».55 Diese verführerische Vereinfachung legt das Spekulative und Sugge­ stive des ganzen historisch-politischen Kernarguments eines «wissen­ schaftlichen Sozialismus» bloß. Aber dieser Einwand ist nicht per se schlagend. Welche Sicherheiten (außer einer abstrakten Zuversicht) könnte es denn geben, wenn tatsächlich die hypothetische Möglichkeit, vor allem aber die dringende Notwendigkeit bestünde, einen solchen ­geschichtlichen Sprung zu tun, um etwa eine Katastrophe abzuwenden und stattdessen die vorhandenen sozialökonomischen Potentiale ins Konstruktive zu wenden? Das wäre jedenfalls eine geschichtliche Tat, die ihre Rechtfertigung nur in sich selbst tragen könnte, nicht in einer theoretischen Vorausberechnung und Erfolgsgarantie. Die Erweiterung dieses Horizonts ins Menschheitsgeschichtliche und Globale war ja auch nicht einfach ausgedacht, sondern wirkte im großen weltwirtschaftlichen Aufschwung, in den weltweiten kolonialen Um­ trieben der europäischen Mächte und in den düsteren Gewitterwolken eines drohenden Weltkriegs wie ein Hoffnungsstrahl, ein Antidot gegen den allgemeinen Kulturpessimismus. So erschien die Internationale und gerade die deutsche Sozialdemokratie als der Fels, auf dem eine Welt­ ökumene der Zukunft errichtet werden konnte. Was immer man an apokalyptischen Prophetien über die Funktionswei­ sen der bürgerlichen Gesellschaft und der kapitalistischen Akkumula­ tion bei Marx selbst findet, von den Schrecken der ursprünglichen Ent­ wurzelung über die absolute Verelendung bis zur fallenden Profitrate, trifft bei ihm nicht nur regelmäßig auf «gegenwirkende Tendenzen»; sondern es bildet stets nur die Kontrastfolie zu einer Beschwörung der darin enthaltenen produktiven Entwicklungspotentiale und, was das Vergangene betrifft, einer retrospektiven «historischen Notwendigkeit»,

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die in allen noch so furchtbaren, menschenvernichtenden Ereignissen und Prozessen am Werk war. Darin kann man sicherlich eine Art heilsgeschichtliche Interpretation von Vergangenheit und Gegenwart sehen. Der lange, blutige Leidens­ weg, fast möchte man sagen: das Martyrium der Menschheit ist nicht umsonst gewesen. Diese, ihrem Grundmuster nach hegelianische Be­ schwörung einer sich in konvulsivischen Widersprüchen entfaltenden «Vernunft der Geschichte» verknüpfte sich bei Marx eigentümlich mit einem evolutionstheoretischen, man könnte sogar sagen, sozialdarwinis­ tischen Argument: Es sei nun einmal historisch notwendig (gewesen), dass sich «die Fähigkeiten der Gattung Mensch … zunächst auf Kosten der Menschenindividuen und ganzer Menschenklassen» entwickelt hät­ ten. Und es sei insofern auch ganz natürlich (gewesen), dass die höheren Fähigkeiten der Gattung «mit den Vorteilen besonderer Individuen, die zugleich die Kraft dieser Bevorzugten bilden», der Eliten also, zusam­ menfallen, bevor diese Gattungskräfte (nach Aufhebung der antagonis­ tischen Klassentrennung) auch in die «Entwicklung des einzelnen Indivi­ duums» einfließen können. Oder noch riskanter: Die kapitalistische ­Produktion, so zerstörerisch sie wirke, sei letztlich nichts als die «Ent­ wicklung des Reichtums der menschlichen Natur als Selbstzweck» – wie er sich in Technologie und Maschinerie, in wissenschaftlicher Erkenntnis und arbeitsteiliger Organisation verkörpert, die vorerst nur der Kapital­ verwertung dienen; oder sich in Bildung, Kunst und Kultur materiali­ siert, die allein den besitzenden Klassen als Teil ­ihrer Lebenskultur und ihres geistigen Komforts dienen. Eben darin stecken dann allerdings die­ jenigen Potentiale, die es für die wahre, ungebundene Entfaltung dieses «Reichtums der menschlichen Natur» durch unverstümmelte, autonome Individuen in freiwilliger, bewusster Assoziation zu nutzen gälte.56 All diese skizzenhaften Gedanken sind zugleich überkomplex und ein­ fach. Gerade so haben sie Anschluss an die aus ganz eigenen Antrieben parallel entstehenden Sozial- und Arbeiterbewegungen gefunden, in denen sich ebenfalls elementare Abwehrimpulse und eine tiefe Abscheu gegen die universelle Durchsetzung kapitalistischer Waren- und Geld­ beziehungen mit einem immer entschiedeneren und organisierteren Kampf zur Nutzung der damit eröffneten Spielräume verbanden. In die­ ser Verbindung von Theorie und Bewegung lag wohl das «Marx’sche Momentum».

DRITTES BUCH

Warum Russland?

TEIL  VIII

In Oriente – Der Osten wird rot

1. Das entgrenzte Imperium

Völker und Räume

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arum Russland? Diese Frage führt ins Zentrum der Geschichte des 20. Jahrhunderts und des modernen Kommunismus. Hätte all das, was man mit der kommunistischen Bewegung verbunden hat, irgendwo und irgendwann anders entstehen können? Damit bewegt man sich im Modus historischer Wahrscheinlichkeitsrechnungen, deren Ergebnisse in diesem Fall jedoch nicht allzu spekulativ erscheinen. Nirgendwo anders als in Russland, genauer gesagt, im Zentrum des im Weltkrieg kollabierenden Russländischen Vielvölkerreichs, hätte eine so vergleichsweise kleine Kampforganisation wie Lenins Bolschewiki eine so große Macht so widerstandslos an sich reißen können. Nir­ gendwo anders hätte sie diese einmal usurpierte, mit kompromisslosem Terrorismus ausgeübte Staatsmacht in einem mehrjährigen Bürgerkrieg so triumphal behaupten, die historisch gewachsenen sozialökonomischen Strukturen so ra­dikal einschmelzen und die abgefallenen Reichs­teile so weitgehend zurückerobern können, um aus diesem heterogenen Mate­ rial einen Suprastaat von solch neuartigem Zuschnitt, solcher Potenz und solch internationaler Ausstrahlung zu errichten. Nichts von alledem war «historisch notwendig». Aber es war historisch möglich. Wenn der Kommunismus, wie eine geläufige Vorstellung es will, die von den Kommunisten selbst wie von ihren Gegnern und Kritikern glei­ chermaßen genährt wurde, seit dem «Manifest» von 1848 als ein Ge­ spenst durch die Welt zog, das zunehmend Gestalt annahm, große Mas­ sen in seinen Bann zog und schließlich, wie es in der «Internationalen» heißt, «mit Macht zum Durchbruch» drängte – warum ereignete dieser Durchbruch sich aber nicht im Musterland des Kapitalismus, in Eng­ land, oder im Mutterland des Marxismus, in Deutschland? Martin Ma­ lia, einer der ersten Interpreten der Sowjetgeschichte nach dem großen Schiffbruch von 1992, schrieb: «Nur wenn wir die Sowjets ideologisch beim Wort nehmen, wenn wir bereit sind, uns ernsthaft auf die Botschaft der sozialistischen Utopie einzulassen, können wir die Tragödie erfassen, zu der sie führte.» Aus marxistischer Perspektive sei die Tatsache, dass

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dieser historische Durchbruch «zuerst in Russland» stattfand, zwar voll­ kommen programmwidrig gewesen und habe zum «absurden Aben­ teuer» eines sowjetischen Totalitarismus geführt. Und dennoch habe die Sowjetunion mit dem «Marxismus-Leninismus» einen neuen ideolo­ gischen Goldstandard etablieren können und als eine reine «Ideokratie» über Jahrzehnte hinweg auf die halbe Welt ausgestrahlt – bevor sie als Musterfall eines «integralen Sozialismus» und einer «missglückten Mo­ dernisierung» schließlich an ihr vorgezeichnetes Ende kam.1 Die Gegenthese dazu wäre, dass der Bolschewismus, wie Lenin ihn theoretisch elaboriert und praktisch begründet hatte, von vornherein ein sehr besonderes Amalgam war, in das neben westeuropäischen Ideen und Vorbildern – wie sie außer den Traditionen der Französischen Revo­ lution vor allem der Marxismus und die deutsche Sozialdemokratie lie­ ferten – die ganze, einzigartige Ideen- und Erfahrungswelt der radikalen russischen Intelligenzija einging. Diese Intelligenzija war aber auf ihre Weise (und mehr als ihr bewusst war) ein Reflex der Autokratie und der besonderen historischen Daseinsweise Russlands. Der Bolschewismus und von ihm reformulierte und verkörperte Kommunismus war, wie Karl Schlögel ­gesagt hat, «nicht das ganz Andere, von außen gekom­ mene Fremde, sondern russländische Geschichte im Zeitalter der mit Kriegen und ­Revolutionen einhergehenden Globalisierung».2 Hier, im imperialen russischen Raum, hat er sich mit ganz eigenen historischen Lebens- und ­Daseinsweisen verbunden und amalgamiert. Man könnte weitergehen und sagen, dass gerade die UdSSR das aufgelöste Rätsel der Geschichte Russlands gewesen ist – die Gestalt, worin seine ganze histo­ rische Kar­riere in einer ultima­tiven Kraft- und Machtentfaltung kulmi­ niert, sich materialisiert und transzendiert hat, um schließlich epochal zu scheitern. So hat erst der Zerfall der UdSSR den Blick auf ihre Genese wieder freigegeben: «Russland ist wieder, was es war: russischer Raum minus So­wjetmacht.»3 Aber zugleich war dieses Russland oder vielmehr: dieses Russländi­ sche Imperium eben auch der große west-östliche Generator oder Mixer, in dem alle historischen und zeitgenössischen Ideen und Impulse, Lebensund Produktionsweisen dieses Weltzeitalters durcheinandergewirbelt und neu gemischt worden sind, so wie dieses supra-nationale, eurasische Imperium selbst schon ein einzigartiges Amalgam darstellte, das für die neue weltgeschichtliche Rolle wie kein anderes in Frage kam, um nicht zu sagen: prädestiniert war. Als ausstrahlendes Weltzentrum und Hort einer Internationale war

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die Sowjetunion natürlich viel mehr als eine bloße Verwandlungsform des alten Imperiums. Aber dies war das historische Substrat, und des­ halb bleibt die Frage: Warum Russland – und (zunächst) nur Russland? Ohne einen kurzen historischen Aufriss wird sie sich nicht beantworten lassen. Dass man «Russland mit dem Verstand nicht erfassen», sondern «an Russland nur glauben» könne, wie ein Vers von Fjodor Tjutschew aus dem Jahr 1866 sagte4 – dieses später zum geflügelten Wort gewordene Diktum bezeichnet, so sehr es einer notorischen Selbstmystifikation ent­ sprang, zunächst einmal eine Realität im wörtlichsten Sinne. Russland entzog und entzieht sich schon als territorialer Komplex, erst recht aber als Staats- und Gemeinwesen jedem Maß und jeder Anschauung. Anfang des 20. Jahrhunderts, zur Zeit seiner größten Ausdehnung, war das «Russländische Imperium» so groß wie die drei nächstgrößten Länder, die USA, China und Indien, zusammengenommen. Nur das Bri­ tische Empire mit seinen rund um die Welt verstreuten kolonialen Besit­ zungen war rechnerisch noch größer  – aber kein solch geschlossenes Staatswesen wie das Russländische Reich. Und doch war das Empire ­paradoxerweise ungleich dichter integriert. Die Kronkolonie Indien lag technisch und psychologisch näher an London als viele Provinzen des Russischen Reiches an St. Petersburg oder Moskau. Denn: «Die Ozeane verbanden, das Land trennte.»5 Auch der von Staats wegen forcierte ­Eisenbahnbau, der nach der Niederlage im Krimkrieg 1856 zunächst die Städte Zentralrusslands miteinander verknüpfte und mit dem 1891 be­ gonnenen Riesenprojekt der Transsibirischen Bahn Moskau mit Wladi­ wostok und Europa mit Asien verbinden sollte, machte dieses strate­ gische und sozialökonomische Manko entgegen allen hochgesteckten Erwartungen nicht wett. Im Gegenteil, Russland fiel im internationalen Kräftespiel eher noch weiter zurück, wie der Krieg gegen Japan 1904/05 in demütigendster Weise bewies. Wie und warum dieses ungeheure Gebilde, das «Russländische Reich», das von seinem politischen Zentrum her weder «erfasst» noch durch­ drungen, geschweige erschlossen werden konnte, in dieser Form über­ haupt entstanden ist und warum dieses Imperium die Tendenz hatte, sich ungeachtet aller katastrophalen Rückschläge immer noch weiter in alle Himmelsrichtungen auszudehnen, statt das einmal Eroberte zu bewah­ ren und zu entwickeln, das alles blieb und bleibt der historischen For­ schung fast ebenso unzugänglich wie dem gemeinen Verstand seiner

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­ ntertanen. Dieses Reich, so wie es im 18./19. Jahrhundert Gestalt ange­ U nommen hatte, grenzte ja nahezu «an die ganze Welt». Und mit seinem imperialen Format blähten sich auch seine weltpolitischen Selbstbeauf­ tragungen und weltgeschichtlichen Bestimmungen ins Unermessliche, Phantastische, Mythische. «Das Schicksal wird erweisen, dass uns der Weg der Zukunft zu den sieben Binnenmeeren und zu den sieben mächtigen Strömen führen wird – vom Nil bis zur Newa, von der Elbe bis zum Jangtse, von der Wolga bis zum Euphrat und vom Ganges bis zur Donau. Dies ist das Russische Reich – das ewige Russland …»6 So noch einmal Fjodor Tjut­ schew, im gemütlichen Baden-Baden sitzend, offiziell russischer Diplo­ mat, vor allem aber vermögender Neurotiker und ewig verliebter Poet.7 Von Interesse ist hier weniger die Wirkung solcher Verse, die zu Lebzei­ ten des Dichters (Mitte des 19. Jahrhunderts) kaum jemand kannte, son­ dern der träumerisch entgrenzte Selbst- und Weltentwurf, der durchaus repräsentativ war. «Was prophezeit uns dieser grenzenlose Raum? Werden hier, aus dir, unermessliche Gedanken geboren werden, weil du selbst grenzenlos bist? Wird hier, aus dir, wo soviel Raum ist, um sich zu strecken und um­ herzustreifen, ein kühner Held oder Recke entspringen?» So schrieb zur selben Zeit der scheinbar so sanft-satirische Kritiker russischer Lebens­ verhältnisse, Nikolai Gogol, in seinem Roman «Tote Seelen». Nur um sich an anderer Stelle von seinen eigenen imperialen Traumbildern fort­ reißen zu lassen: «Russland, wohin trägt es dich auf Adlerschwingen? … Länder, Meere ziehen vorbei und versinken in der dunstigen Ferne. ­Andere Staaten und Völker weichen misstrauischen Blicks zurück und geben den Weg dir frei.»8 Dieses Zitat enthält freilich auch schon etwas von dem, was stets die Gegenseite all dieser mythopoetischen Selbstzuschreibungen war: näm­ lich ein «neurotischer Blick» auf die umgebenden Staaten und Völker, der in «einem traditionellen, instinktiven Unsicherheitsgefühl» Russ­ lands gründete – so George Kennan, der eminente Russlandkenner und amerikanische Diplomat, in seinem «Langen Telegramm» von 1946, das den heraufziehenden «Kalten Krieg» prognostizierte und mit einleitete.9 Die weltrevolutionären Ambitionen des Bolschewismus und sein apoka­ lyptisches Bild der ihn umgebenden, dem Untergang geweihten, aber deshalb umso bedrohlicheren «kapitalistischen Welt» waren für Kennan nur Verwandlungsformen der messianisch aufgeladenen Weltgeltungs­ ambitionen und zugleich der notorischen Selbstunsicherheiten eines

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Russland, das im Zuge des «Großen Vaterländischen Kriegs» von Stalin in seine Rolle als «älterer Bruder» und «hervorragendste Nation» unter den Völkern der Sowjetunion wiedereingesetzt worden war. Die Formel vom «ewigen Russland», die in Tjutschews phantastischer Welt- und Zukunftsschau zitiert wird, verbindet die Suggestion territo­ rialer Unermesslichkeit und staatlicher Unerschütterbarkeit mit einer vermeintlich uralten, homogenen geschichtlichen Tradition, die mindes­ tens «tausendjährig» sein soll, wenn sie nicht gleich bis in antike Zeiten zurückgeführt wird. Im Sinne der «Selbsterfindung von Nationen» mag das nicht ungewöhnlich erscheinen. Aber das Bemerkenswerte an den Großen Erzählungen Russlands und der Russen über sich selbst, die in der sowjetischen Periode nochmals überhöht und fortgeschrieben wur­ den, war ihr in alle Richtungen ausgreifender, hochgradig synkretisti­ scher Charakter. Das entsprach allerdings der Heterogenität der ethnischen und kultu­ rellen Komponenten und der Vielzahl der historischen Metamorphosen dieses Staatswesens selbst, die es fraglich erscheinen lassen, ob man die­ ses «Russland» überhaupt als eine politische Entität mit einer konti­ nuierlichen, wenn auch vielfach unterbrochenen Historie sehen kann. ­Einige Hauptfaktoren in der historischen Konstitution dieses Landes ­lassen sich immerhin identifizieren. Da ist zunächst der extrem hetero­ gene und vielfarbig gemischte Charakter dessen, was man in einem poli­ tischen, ethnischen oder kulturellen Sinne unter «Russland» zu fassen hätte – und das von den ersten Anfängen an. Schon die «Kiewer Rus» des 10. Jahrhunderts war aus drei ganz unterschiedlichen Elementen zu­ sammengesetzt: Da waren erstens die «Waräger» (Normannen), die von Norden die Flüsse herabkamen und unter ihrem Anführer Rurik in und um Kiew einen Staat gründeten; da waren zweitens die ostslawischen Stämme, die beidseits des Dnepr/Dnipro siedelten, sich gegenseitig zer­ fleischten und zugleich in ständigem Krieg mit den nomadischen Step­ penbewohnern lagen – bis sie der «Nestorchronik» zufolge die fremden normannischen Krieger «einluden», über sie zu herrschen; und da waren drittens die griechischen Mönche und Emissäre, von denen die Ruri­ kiden-Herrscher das oströmische Christentum mit seinen theokratischen Elementen annahmen, nachdem ihre eigenen, wiederholten Versuche ­gescheitert waren, Byzanz zu erobern. Aber dieses «Kiewer Reich» gehörte, viertens, in vielen seiner Verbin­ dungen und Orientierungen auch der lateinischen und westeuropäischen

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Welt an, nicht zuletzt als eine Zwischenstation auf Handelsrouten, die, fünftens, über das Schwarze Meer Anschluss an die arabisch-nahöstliche Welt und über die zentralasiatische Seidenstraße bis nach China hatten; während sich im Norden, sechstens, die freie Stadtrepublik Nowgorod zum östlichen Außenposten des hansischen Ostseehandels entwickelte, in den, siebtens, auch die zwei Dutzend im 12. Jahrhundert entstande­ nen, weiter östlich gelegenen Waldfürstentümer wie Wladimir, Twer oder Moskau mit ihren halb slawischen, halb finnisch-ugrischen Popula­ tionen lose miteinbezogen waren. Diese bereits äußerst vielgestaltige frührussische Welt am Rande des mittelalterlichen Europa und der globalen Handelskreisläufe dieses Zeit­ alters wurde im Laufe des 13. Jahrhunderts von den Mongolen über­ rannt und entweder (wie Kiew) eingeäschert oder (wie Moskau und die nördlichen Fürstentümer) tributpflichtig gemacht. Natürlich musste die­ ses fast zweieinhalb Jahrhunderte dauernde «mongolische» oder «tata­ rische Joch» in der Lebensordnung und Kultur der unterworfenen rus­ sischen Länder tiefere und dauerhaftere Spuren hinterlassen, als es dem Selbstbild der späteren Moskauer oder Petersburger Zaren entsprach. Als es den Moskauer Großfürsten 1480 endlich gelang, die Machtver­ hältnisse umzukehren, das Krim-Khanat seinerseits tributpflichtig zu machen und mit der «Sammlung der russischen Länder», sprich: der ­Unterwerfung der übrigen Fürstentümer, zu beginnen, gründeten sie ihre Herrschaft natürlich auf dieselben eingespielten Tribut- und Knecht­ schaftsverhältnisse, die sie kaum milderten, eher noch systematisierten. Fast im gleichen Atemzug ließ sich Iwan  III. von den Oberhäuptern der Orthodoxen Kirche auch schon zum «Zaren» krönen (halb Khan, halb Kaiser) und trat damit in die  – nach der Eroberung von Byzanz durch die Türken vakante – Tradition eines von Gott selbst begründeten, theokratischen Weltkaisertums ein. Wenn die neue moskowitische Orthodoxie gegenüber den von Westen einsickernden Einflüssen Züge einer eigenen, massiven Gegenreforma­ tion trug, so nahm das weitgehend abgeschlossene Moskowien im 16./17. Jahrhundert durch die Niederlassung von Europäern, vor allem von Deutschen, über den Ostseehandel sowie durch neu geknüpfte fami­ liäre Verbindungen der Zarenfamilie zu den Holsteiner Fürsten doch viele Elemente der technischen, militärischen, handwerklichen und par­ tiell auch der geistigen, vorwiegend protestantisch geprägten Kulturen des aufstrebenden nord- und mitteleuropäischen Raums auf, zu dem die Zaren seit Iwan  IV. (Grosny, der Strenge oder Schreckliche) sich mit

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i­hren Vorstößen an die livländische Küste selbst gewaltsam Zutritt zu verschaffen suchten. Gleichzeitig öffnete sich mit der Unterwerfung der tatarischen Kha­ nate Kasan (1552) und Astrachan (1554) der russische Raum auch die Wolga hinab bis zum Kaspischen Meer. Noch ungleich folgenreicher war der auf Initiative der Stroganows, eines Clans von Handelsherren, Waldund Bergwerksbesitzern, organisierte Zug über den Ural gegen das tata­ rische Khanat in Sibir (um das heutige Tobolsk), das 1582 mit Hilfe des Kosaken-Hetmans Jermak unterworfen wurde.10 Haupttriebkraft dieser militärischen Expeditionen in die Tiefe der insgesamt nun als «Sibirien» bezeichneten Länder war die Jagd nach Zobel- und anderen Edelpelzen, die zu den begehrtesten Handelswaren der frühen Neuzeit zählten, wel­ che sich als überall akzeptiertes Tauschmittel zeitweise fast mit dem Sil­ ber der spanischen Kolonien vergleichen ließen. Aber wie das aus den südamerikanischen Bergwerken gewonnene Silber die spanische Monar­ chie äußerlich zu einer Supermacht ihrer Zeit erhob, in ihrer i­nneren Entwicklung aber hinter die Länder des europäischen Handels- und Ma­ nufakturkapitalismus zurückwarf, so machte der Handel mit Pelzen, zu­ mal als bloße Rohware statt als ein raffiniertes Arbeitsprodukt wie die chinesische Seide, den moskowitischen Staat reicher und mäch­ tiger, seine Gesellschaft aber kaum produktiver und wohlhabender. Nach dem Tod Iwans des Schrecklichen und inmitten einer als katastro­ phisch erlebten «Zeit der Wirren», der Aufstände und Usurpationen, hatte das moskowitische Zentrum sich des Zugriffs des rivalisierenden, als libertäre Adelsrepublik vollkommen gegensätzlich verfassten Pol­ nisch-Litauischen Reichs zu erwehren. Am Ende dieser Existenzkrise, in der vor allem «Bürgeraufgebote» (so will es die patriotische Legende) Russland gerettet haben, wurde 1613 eine aus einem jüngeren Bojaren­ geschlecht hervorgegangene neue Dynastie, die der Romanows, auf den Thron erhoben und vom Volk rituell akklamiert. Bemerkenswert ist, dass trotz der Gunst der Situation, die eine Neuaushandlung der konsti­ tutionellen Rechte des Adels wie der Bürger ermöglicht hätte, der neue Herrscher abermals mit allen Insignien und Attributen eines Autokraten ausgestattet wurde, einer Machtform also, die (anders als im europä­ ischen Lehnswesen) keine gegenseitigen Verpflichtungen und Bindungen zwischen dem Zaren und seinen Leuten kannte, zu denen auch der erb­ liche Reichsadel und die Kirchenfürsten zählten. Der Literaturhistoriker Andrej Sinjawski, 1966 in einem aufsehener­

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regenden Prozess wegen Herstellung von Druckschriften außerhalb der Zensur (im «Samisdat», im Selbstverlag) zu sieben Jahren Arbeitslager verurteilt, hat seine Gedanken über die östlich-byzantinischen Prägun­ gen Russlands in ein irisierendes Tableau gebracht, geschrieben in einem sowjetischen Lager: «Dem westlichen – Souverän und Vasall – stand das östliche – Kaiser und Knecht – gegenüber. Vom Kaiser wird nicht Garan­ tie (Gesetz), sondern Amnestie (Gnade und Sündenerlass) erwartet. Der Zar, als der Statthalter Gottes, ist auf einen Beweis nicht angewiesen, vor ihm, wie vor Gott, sind alle gleich (Knechte); in der Praxis – Willkür, in der Idee (im Geist) – das Reich Gottes auf Erden. Es fehlt eine Skala der Werte, das absolute Oben und das absolute Unten (gelegentlich tauschen sie ihren Platz) werden allein durch die gottgleiche Person des Basileus [des Herrschers] gewährleistet. Er belohnt und bestraft, wen und wann es ihm gefällt, er kann sich unter dem Gewicht seiner Gewänder und ­Regalien kaum rühren, er hält stundenlang Wache in vorgeschriebener Haltung – eine Modellpuppe Gottes –, und es gibt niemanden, der höher und schrecklicher, niemanden, der ohnmächtiger ist. Man braucht ihn nur mit einem Finger anzurühren, und – er ist nicht mehr (eine bloße ­Allegorie). Auf dem ungestalten Feld hüpfen wie Flöhe die Parvenüs, gestern Knechte, heute Kaiser, Usurpator, Epileptiker. Aufstand und Ka­ tastrophe grenzen hart an den Gipfel der Macht. Ist das alles ein Übel? Für das normale, alltägliche Leben ist es vielleicht ein Übel, für den Geist hingegen absolut annehmbar (annehmbarer als die westliche komfor­ table Form und Gesetzlichkeit).»11 Eine jahrhundertealte Autokratie oder Despotie, so will Sinjawski sa­ gen, ist etwas anderes als eine absolute Monarchie oder eine Diktatur – etwas, das tiefer in den Subjekten und ihrer Alltagskultur verankert ist, und eben nicht nur durch terroristische Prägung von oben, sondern auch durch dienstfertige Bereitschaft von unten, die freilich ebenfalls in den Umständen begründet ist: «Dem mittelalterlichen Europa liegt im Osten das weite Feld gegenüber, wo die Menschen im Wind sich aneinander­ schmiegen  – alle gleich, erreichbar, mitteilsam, Landsleute und Nach­ barn».12 Für die totalitäre Erfahrung der kommunistischen Staaten und Gesellschaften des Ostens, auf die der Lagerinsasse Sinjawski natürlich anspielte, gilt das erst recht – einschließlich der Verführung, die von ihr ausgeht und ihm selbst nicht einmal völlig fremd schien. Der eigentliche Begründer des modernen Russischen Reichs war aber erst Peter der Große, dessen Reichsreform an der Wende zum 18. Jahr­

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hundert tatsächlich eine neue Ära eröffnete und sein Land und seine Subjekte in dramatisch veränderte neue Daseinsformen stieß. Das «petri­ nische» System, das der junge Zar nach einer langen Reise in den Westen buchstäblich mit eigenen Händen (die zimmern, segnen, foltern oder ­töten konnten) und nach eigenen Vorstellungen gegen die Widerstände fast der gesamten russischen Gesellschaft begründet hat, war freilich erst recht ein höchst eigentümlicher Hybrid: zusammengesetzt aus impor­ tiertem europäischem Aufklärertum, technischer und wissenschaftlicher Modernität, staatsmonopolistischem Merkantilismus und einem militä­ risch-fiskalischen Bürokratismus westlichen Typs auf der einen Seite und aus einem ins Extrem getriebenen Selbstherrschertum, das der moskowi­ tischen Tradition folgte, auf der anderen Seite. Mit dem «Absolutismus» der westlichen Souveräne, der durch feudale Besitztitel, Erbrechte und Korporationen, durch Sitten und juristische Kodifizierungen vielfach eingebunden blieb, ließ diese scheinbar aufgeklärte und moderne zaris­ tische Herrschaft sich trotz aller Anleihen noch immer nur entfernt ver­ gleichen. Peter hatte, wie schon Zeitgenossen (und gerade westliche Aufklärer) sagten, dem unergiebigen Stamm Russlands ein neues, fremdes «Edel­ reis» aufgepfropft, um seinem Staat eine effektivere Verwaltung, ein ­professionelleres Militär und eine einträglichere produktive Basis zu ver­ schaffen. Dazu hatte er gleich auch eine neue, passende Spezies unter­ täniger, aber halbwegs gebildeter Funktionsträger gezüchtet und sie in einem nach «Rangstufen» gegliederten bürokratischen Machtkorpus ­zusammengefasst. Den ohnehin dezimierten Geburtsadel kastrierte der junge Zar durch das eigenhändige Abschneiden der Bärte (als Ausweis ­ihrer Mannesehre) und degradierte ihn zu einem reinen Dienstadel ohne eigene ständische Vertretungen. Die ohnehin staatsfromme Kirche be­ raubte er ihres Patriarchats und unterstellte sie theologisch und organi­ satorisch einem von ihm ernannten «Heiligen Synod» und weltlichen «Oberprokurator». Und das ohnehin jedes sozialen oder ständischen Selbstbewusstseins bare, zahlenmäßig geringe Stadtbürgertum entmün­ digte er nur noch tiefer, statt es etwa als Träger der Modernisierung zu fördern, fesselte es an seinen Wohnort und nahm seine Gemeindever­ tretungen in Haftung, während er die Großkaufleute vermittels eines förmlichen staatlichen Außenhandelsmonopols in staatliche Agenten ver­ wandelte und schröpfte. Im Übrigen zog Peter (wie seine vier weiblichen Nachfolgerinnen auf dem Zarenthron auch) für alle gehobenen Funktionen in Politik, Militär,

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Verwaltung, Bildung und Wirtschaft Ausländer vor, die über zwei Jahr­ hunderte jetzt ins Zarenreich zu strömen begannen – in ein Reich, das sich seinerseits durch die zur Grand Tour nach Europa ausschwärmen­ den Adelssprösslinge in seinen höfischen und städtischen Lebensformen wie in seiner Wissenschafts-, Kunst- und Literaturproduktion rapide ­europäisierte. Freilich, wer in einem russischen Kunstmuseum aus den Sälen mit den vollkommen europäisch geprägten klassizistischen, roman­ tischen, realistischen Malereien, Statuen und Dekors des 18./19. Jahr­ hunderts in die Säle mit den Ikonenmalereien und folkloristischen Kunst­ objekten eintritt, der taucht in eine andere Welt ein, die nur scheinbar eine Zeitenschwelle markiert, tatsächlich aber als eine Parallel- und ­Gegenwelt immer da war und da blieb. Deren eher heidnisch oder scha­ manistisch geprägte Vorstellungs- und Ausdruckswelten mit ihren Na­ turgeistern, Feen und Dämonen waren nur oberflächlich von einer christlichen Ikonographie überformt worden, kaum anders, als man das unter amerikanischen Indios und Mestizen oder schwarzen Sklaven fin­ den wird, die ihre Marienbilder und Heiligenfiguren, biblischen Erzäh­ lungen und christlichen Gospel mit ganz eigenen Sehnsüchten, Legenden und Bedeutungen gefüllt haben. Tatsächlich vertiefte sich in der Zeit Peters die Knechtschaft der leib­ eigenen Bauern noch einmal, wurde ihre Arbeitsleistung noch rücksichts­ loser ausgeschöpft, sowohl durch Geld- und Naturalsteuern wie durch Menschentribute. Ganze Armeen bäuerlicher Zwangsarbeiter wurden für die Großprojekte des imperialen Staatsaufbaus aufgeboten, ange­ fangen mit der 1703 gegründeten, wie eine Fata Morgana aus den Sümpfen der Newa-Mündung erstehenden, ganz nach europäischen Mustern entworfenen neuen Hauptstadt. Nicht anders beim Bau der Werften und der Flotten, beim Graben der Kanäle und der Errichtung staatlicher Manufakturen, in erster Linie für den Bedarf eines modern gerüsteten stehenden Heeres, das wiederum aus bäuerlichen Zwangsrek­ ruten bestand. «Man hat gesagt, dass in einer solchen Binnenlage, wie das ursprüng­ liche Reich Peters des Großen es besaß, kein großes Reich jemals exis­ tiert habe noch hätte existieren können», schrieb Marx in seinen «Ent­ hüllungen zur Geschichte der Diplomatie des 18. Jahrhunderts». Und fuhr fort: «Dann aber vergisst man eine wichtige Tatsache – die tour de force, mit der er die Hauptstadt des Reiches vom Landesinneren an die maritime Peripherie verlegte», und das zu einem Zeitpunkt, an dem er diesen Streifen an der Ostseeküste noch keineswegs sicher beherrschte.

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«Petersburg, das exzentrische Zentrum des Reiches, wies von vornhe­ rein auf eine Peripherie hin, die erst noch zu ziehen war.»13 In der bewundernden Erinnerung des aufgeklärten Europa blieb die Formel haften, mit diesem Zugang zur Ostsee habe Peter ein «Fenster nach Westen» aufgestoßen. Das originale Zitat aus der Feder des Italie­ ners Algarotti, eines Vertrauten Friedrichs  II., lautete jedoch: «Sankt ­Petersburg ist das Fenster, von dem aus Russland Europa übersehen kann.» Das gab der petrinischen Hinwendung nach Europa eine deut­ lich andere, viel machtbetontere Note. Ab jetzt konnte Russland im Konzert der europäischen Mächte mitspielen.

Ein «sich selbst kolonisierendes Imperium» Gerade im «aufgeklärten» 18. Jahrhundert verfestigte sich noch einmal die eigentliche Grundlage des russischen Staats- und Gesellschafts­ aufbaus: das System einer Leibeigenschaft, in der die Gutsherren und ihre Verwalter als «nimmermüde Hüter des Staates» (so Nikolai  I.) ne­ ben und anstelle staatlicher Instanzen über die an den Boden gefesselten Bauern zu wachen hatten, die noch immer vier Fünftel der Bevölkerung Russlands ausmachten. Vergleicht man dieses System der russischen Leibeigenschaft, das von vielen Zeitgenossen auch direkt als «Sklaverei» bezeichnet wurde, mit der nordamerikanischen Plantagensklaverei, zeigt sich ein wesentlicher Unterschied: Diese war nach neueren Untersuchungen, mindestens teil­ weise, hochproduktiv; und jedenfalls gehorchte sie vor allem ökonomi­ schen Zwecken. Anders in Russland, wo die mit Leibeigenen betriebene Landwirtschaft notorisch unproduktiv arbeitete. Für den gutsbesitzen­ den Adel war die Zahl der «Seelen», über die sie als lebendes Inventar ihrer Ländereien verfügten, in erster Linie eine Frage ihres Status, nur in zweiter Linie eine des Gewinns. Primär entsprach dieses System den Be­ dürfnissen des Staates, dessen Soldatenwerber, Steuereintreiber und für Infrastrukturen zuständige Beamte zu jeder Zeit auf ein sicheres Reser­ voir an Menschen, Ressourcen und Einkünften zurückgreifen konnten. Dafür also mussten die Bauern noch fester als in moskowitischer Zeit an den Boden gefesselt werden – weil sie sonst in die Tiefen des Reichs, die südlichen Steppen, die nördlichen Wälder oder die Weiten Sibiriens ausweichen konnten. Durch Flucht waren schon die nach Millionen ­zählenden, oft florierenden Gemeinden der Altgläubigen (die sich der

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Kirchenreform des 17. Jahrhunderts nicht unterworfen hatten) und zahl­ reicher anderer religiöser Dissidenten entstanden, ebenso wie die Stani­ zen (Siedlungen) der Kosakenverbände am Dnepr, am Don oder an der Wolga. Somit bot dieses Reich, während es sich immer neue fremde Gebiete unterwarf und einverleibte, auch und gerade in seinen autochthonen, zentralrussischen Gebieten das eigentümliche Bild eines «sich selbst ko­ lonisierenden Imperiums». Dieser Begriff stammt in seiner durchdach­ testen Version von dem Historiker Wassili Kljutschewski, der ihn wie Solowjow und andere, ältere Historiker positiv benutzte, im Sinne von Besiedlung, Erschließung und Kultivierung des von der Geschichte und der Geographie Russland gleichsam zugewiesenen Raums, als eine große oder sogar als die eigentliche zivilisatorische Großtat Russlands. Aber dem Liberalen, der Kljutschewski war, entging nicht die Ironie, dass die kolonialen Untertanen des russischen Imperiums nicht nur und nicht einmal in erster Linie die unterworfenen «Eingeborenen» und «Farbi­ gen» waren, so wie die Inder der Britischen Kronkolonie, sondern die weißen, rechtgläubigen bäuerlichen Untertanen ihrer Majestät des Zaren, die Masse des eigenen Staatsvolks also. Die Bindung an den Boden und den Herrn konnte auch bedeuten, dass mit dem Erwerb neuer Güter und zu erschließender Ländereien ein Teil der leibeigenen «Seelen» in weit entfernte Gebiete umgesiedelt wurde, oft ganze oder halbierte Dorfgemeinden und bäuerliche Clans, geführt von Aufsehern, in erbarmungswürdigen Zügen, die, glaubt man zeitge­ nössischen Berichten, in ihrer Schicksalsergebenheit denen der verkauf­ ten, von ihren Familien weggerissenen schwarzen Sklaven Nordameri­ kas durchaus glichen. Darin ging der Staat als der größte Bodenbesitzer seit den Zeiten Katharinas und ihrer Favoriten voran. Da die knappen Menschenreserven Russlands für eine systematische «Peuplierung» der riesigen und großteils fruchtbaren Steppengebiete bei Weitem nicht aus­ reichten, wurden sie durch die Sesshaftmachung autochthoner Bevölke­ rungen (wie Tataren oder Kalmücken) und gleichzeitig durch die syste­ matische Anwerbung und Ansiedlung Hunderttausender von fremden, vorwiegend deutschen bäuerlichen Kolonisten aufgefüllt. Im Vergleich zum westlichen Kolonialismus fällt der eher inklusive und assimilative, wenn auch keineswegs friedliche Charakter der «russ­ ländischen» imperialen Expansion auf. Auf diese Weise hat sie immer neue kulturelle und ethnische Verwirbelungszonen erzeugt, in denen sich jene Züge des Nomadischen, Gesetzlosen, Unbehausten ausprägten, die

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von jeher das Gegenstück zum Stationären, Bodenverhafteten und Auto­ kratischen gebildet haben. Zugleich vertiefte sich eine Paradoxie, die sich vom russischen ins sowjetische Vielvölkerreich fortschrieb: nämlich dass die Menschen an der nichtrussischen Peripherie, ob im ukraini­ schen Galizien oder im Baltikum, in Georgien oder in Turkestan, und ebenso in Sibirien und im Fernen Osten, oft freier und vielfach auch wohlhabender lebten als im russischen Herzland – trotz des harschen, auf alle Aufstandsregungen mit äußerster Brutalität reagierenden Mili­ tärregimes. Auch das wurde zu einer der Verspannungen dieses Imperi­ ums und konnte unter den Bewohnern des russischen Zentrums bis in die sowjetische Zeit hinein nagende, mit Ressentiments kompensierte Gefühle der Benachteiligung produzieren. Das Reich umfasste dem Zensus von 1897 zufolge 104 Nationalitäten mit 164 Sprachen und bildete damit ein einzigartiges ethnisch-kulturel­ les Gemisch. Von dieser Gesamtbevölkerung wurden offiziell zwei Drit­ tel als «Großrussen» verbucht, womit jedoch die «Kleinrussen» (die ­Ukrainer) und die «Weißrussen» – denen es in dieser Phase kultureller Russifizierung verboten war, in der Öffentlichkeit ihre autochthonen Sprachen zu sprechen – umstandslos eingemeindet wurden. Darin ver­ riet sich eine unerklärte Angst vor dem Eingeständnis, dass die eigent­ lichen «Russen» in Wirklichkeit bereits eine Minderheit im Russländi­ schen Reich darstellten – und immer weiter wurden. Auch die Statistik, die 70 % der Bevölkerung als «russisch-orthodox» verbuchte, ignorierte konsequent die ukrainischen, georgischen und sonstigen Denominatio­ nen der Orthodoxie, so wie Millionen religiöser Dissidenten, etwa die «Altgläubigen», auch. Die Trinität von «Autokratie, Orthodoxie und Nationalität» (die letztere, narodnost’, auch mit «Volksgemeinschaft» oder «Volkstümlichkeit» übersetzbar) wurde in dieser späten Phase des Imperiums damit noch engherziger ausgelegt, als der Erfinder dieser ­Losung, der hochgebildete Erziehungsminister Sergej Uwarow, sie in den reaktionären 1830 er Jahren verstanden hatte. In Wirklichkeit veränderte die imperiale Grundverfassung natürlich auch die Mentalitäten und Lebensformen der russischen Staatsnation selbst und die ihrer Eliten. Pjotr Tschaadajew, der unsentimentalste aller slawophilen Vordenker, vermischte in seinen Charakterisierungen des eigenen Volks unmittelbar Kolonisatoren und Kolonisierte, wenn er ­ schrieb: «Wir leben in unseren Häusern, als ob wir dort stationiert wä­ ren; in unseren Familien wirken wir wie Ausländer; in unseren Städten

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sind wir den Nomaden vergleichbar … Unsere Erinnerungen reichen nur bis gestern; und wir sind uns selbst Fremde».14 Der konservative Begrün­ der der eigentlichen Slawophilie, Alexej Chomjakow, schob diese allseits gefühlte Selbstentfremdung Russlands dagegen auf den «kolonialen Charakter», den die Aufpfropfung westlicher Kulturformen und Aufklä­ rungsideen durch Peter den Großen gehabt habe. Genau umgekehrt der linke Literaturkritiker und «Westler» Wissarion Belinski, der die gewalt­ same Modernisierung Russlands auf die berechtigte Befürchtung zu­ rückführte, selbst vom Westen kolonisiert zu werden, und deshalb Peter rühmte, der den lichten Geist der westlichen Zivilisation und Aufklä­ rung vom finsteren asiatischen Erbe geschieden habe. Damit habe dieser Zar ein neues, ein «frisches, junges, jungfräuliches» Volk erschaffen und Russland zugleich eine neue weltgeschichtliche Aufgabe und Bestim­ mung gegeben.15 Alle diese Mitte des 19. Jahrhunderts entbrannten und seither andau­ ernden Debatten über Wesen und Charakter Russlands waren ihrer ­Natur nach endlos  – was wiederum ein integraler Teil des nationalen Selbstbilds wurde wie das gängige selbstverliebte Klischee von der «brei­ ten Natur» der Russen, die ihrer besonderen «Seelentiefe» entsprechen sollte, oder die epigrammatische Formulierung Dostojewskis, der Russ­ land 1860 das am wenigsten bekannte und verstandene Land der Welt nannte und das russische Volk mit einer Sphinx verglich – geheimnisvoll und allwissend.16 Und so weiter und so fort, immer im Kreis herum, da alle ja auf ihre Weise recht hatten, Westler wie Slawophile, Liberale wie Konservative, Linke wie Rechte.

Das unendlich wachsende Reich Alle die internen Prozesse einer Selbstkolonisation Russlands bildeten im Übrigen nur die Kehr- oder Innenseite der äußeren Expansionen des Reiches, deren unaufhörlicher Fortgang sich schwerlich allein aus «lee­ ren Räumen» und «geschichtslosen» oder «schutzsuchenden Völkern» erklären lässt. Richtig ist, dass die Expansionen des russischen Zaren­ reichs vorzugsweise immer den Weg des geringsten Widerstands und eher selten den der frontalen Attacke gegangen sind. Aber blutige Kriege führte das Russländische Imperium trotzdem und fast zu jeder Zeit; und ob freiwillig oder gezwungenermaßen, ließ sich meist gar nicht mehr ­unterscheiden.

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Alle großen Invasionen Russlands – der Tataren, der Polen, der Schwe­ den, der Franzosen und der Deutschen – wurden fast sofort und im Ge­ genzug mit eigenen neuen Landnahmen, militärischen Okkupationen und der Schaffung strategischer Hegemonialzonen beantwortet, wie zu­ letzt und im größten Maßstab noch einmal nach 1945. Denn wo immer russische Garnisonen und Administrationen sich festgesetzt hatten, war­ tete jenseits der neu gezogenen Grenze auch ein neuer, noch gefährliche­ rer Feind, bis schließlich ganz Asien, der Nahe Osten oder sogar Afrika zum «nahen Ausland» dieses Weltreichs gezählt wurden. Das eben war die kompakte, territoriale russische Antwort auf die von den westlichen Mächten offensiv vorangetriebene, auf Soldaten und Kanonen wie auf maritime Waren- und Geldströme gestützte Politik und Praxis der Glo­ balisierung (in heutiger Terminologie). Eine gewisse Systematik der Expansionen und Annexionen des Rus­ sischen Reichs war gleichwohl nicht zu verkennen. Nach zwei Jahrhun­ derten ständiger, aber eher ergebnisloser Kriege mit den Türken im Sü­ den, nach der erfolgreichen Ausschaltung des schwedischen Ostseereichs im Norden und nach den Siegen russischer Armeen im Siebenjährigen Krieg im Westen, die sie 1760 kurzfristig bis nach Berlin brachten, kam mit der Aufteilung und schließlichen Liquidierung des Polnisch-Litaui­ schen Reichs im späten 18. Jahrhundert ein riesiger, dicht besiedelter Ge­ bietsstreifen zum Kernbestand des Petersburger Reiches hinzu. Diese neue westliche Peripherie reichte vom Baltikum über Zentralpolen (ein­ schließlich Lódz und Warschau) und über Galizien (die heutige West­ ukraine) bis zum Schwarzen Meer und verwandelte eine Masse national, kulturell, sprachlich und religiös deutlich unterschiedener Bevölkerungen in neue Untertanen des Zaren, darunter auch einige Millionen polnischoder jiddischsprachiger Juden, die in einem «Jüdischen Ansiedlungsgür­ tel» wie in einem Riesenghetto eingeschlossen bleiben sollten. Diese Landnahmen im Westen wurden durch die Eingliederung der ­tatarischen Krim (1802), die Losreißung ganz Finnlands von Schweden (1809) und die Eroberung des moldauischen Teils der Donaufürsten­ tümer vom Osmanischen Reich (1812) weiter abgerundet. Dem folgten (zwischen 1810 und 1864) als Nächstes die Unterwerfung der Bergvöl­ ker des Kaukasus und die Eingliederung der transkaukasischen Fürstenund Königtümer von Georgien über Armenien bis zum heutigen Aser­ baidschan. Dazu bedurfte es einer jahrzehntelangen Kette neuer Feldzüge, die teils wieder gegen das Osmanische und teils gegen das Persische Reich geführt wurden, sowie immer von Neuem und mit legendärer

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Grausamkeit gegen die Aufstände der Kaukasier, allen voran der wider­ spenstigen Tschetschenen. Nach einem ähnlichen Mechanismus stieß das frustrierende Abschnei­ den Russlands in den Balkankriegen der 1870 er Jahre die letzten großen Expansionsschübe des Russländischen Reichs an, die sich jetzt nach Ostasien richteten. Dazu gehörten vor allem die dem chinesischen Kai­ serreich durch eine Reihe «Ungleicher Verträge» Stück für Stück (zwi­ schen 1860 und 1881) entrissenen Amurprovinzen sowie schließlich die gesamte Mandschurei (1900), die immerhin das ursprüngliche Stamm­ land der Qing- oder Mandschu-Dynastie war. Diese letzten Landnahmen begleiteten und flankierten den Ausbau des 1860 gegründeten Flottenhafens Wladiwostok («Beherrsche den Osten») sowie den lange geplanten, 1891 in Angriff genommenen Bau der Trans­ sibirischen Bahn. Das Schlussstück dieses epochalen Eroberungszugs bil­ dete der Ausbau des als Konzession erworbenen Warmwasserhafens Port Arthur (Dalian) am Südchinesischen Meer nahe der Grenze zu ­Korea, auf das sich schon die Ansprüche der russischen Statthalter rich­ teten. Aber zugleich ging ihr Blick auch nach China, das in fortschreiten­ dem Zerfall begriffen schien und keinesfalls den westlichen Imperial­ mächten überlassen werden durfte – was durch die russische Beteiligung an dem internationalen Expeditionskorps zur Niederschlagung des «Bo­ xeraufstands» 1901 bekräftigt wurde. Diese Expansionen und territorialen Annexionen waren historisch na­ hezu präzedenzlos. Aber gehorchte das alles irgendeinem großen global­ strategischen Plan wie dem einer europäisch-asiatischen Vorherrschaft oder gar einer Weltherrschaft des Zarenreichs, wie Marx und Engels (nicht als einzige unter den 1848 er-Revolutionären) unermüdlich be­ hauptet haben – ein Projekt, das in den sowjetischen Weltrevolutions­ plänen womöglich Wiederauferstehung gefeiert hätte? Was wie eine systematische, sich gegen den Uhrzeigersinn entfaltende, über zweihundertjährige Politik stückweiser Eroberungen und Landnah­ men aussah, ist eher Resultat von Frustrationen, die mit der Kraftentfal­ tung des westlichen Europa in der gleichen Zeitspanne zu tun hatten. Nimmt man nach Marx’ Formulierung Petersburg als ein «exzentrisches Zentrum, dessen Peripherie erst noch zu ziehen war», dann war das Russische Imperium mit dieser Ambition im 19. Jahrhundert stecken­ geblieben. Erst in seiner späteren sowjetischen Periode, im Gegenschlag zum Hitlerschen Lebensraumkrieg, ist es mit der Einnahme Berlins die­

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sem historischen Ziel einen riesigen Schritt nähergekommen und genau daran zugrunde gegangen. Mittel- und Osteuropa waren von Moskau aus nicht dauerhaft beherrschbar, wie sich spätestens 1989 gezeigt hat. Als Engels 1890 seine späte Schrift «Die Auswärtige Politik des russi­ schen Zarentums» veröffentlichte, war dieses historische Scheitern frei­ lich noch nicht absehbar. Durch den abrupten Bündniswechsel Russ­ lands zu Frankreich war das ohnehin angespannte europäische Mächte­ spiel gewaltig in Bewegung gekommen, und seine ostasiatischen Erobe­ rungen hatte Russland großteils noch nicht gemacht. So eröffnete Engels seine Schrift gleich eingangs mit der kriegerischen Prognose, «die west­ europäische Arbeiterpartei» werde früher oder später, ob sie wolle oder nicht, genötigt sein, «gegen das russische Zarentum einen Krieg auf ­Leben und Tod zu führen»: erstens weil dieses «die große Hauptfestung, Reservestellung und Reservearmee … der europäischen Reaktion» bilde, deren «bloße passive Existenz bereits eine Drohung und Gefahr für uns ist»; zweitens aber, «weil es durch seine unaufhörliche Einmischung in die Angelegenheiten des Westens unsere normale Entwicklung hemmt und stört, und zwar mit dem Zweck, sich geographische Positionen zu erobern, die ihm die Herrschaft über Europa sichern». Das historische Bild, das Engels dann mit knappen Strichen entfaltete (und das dem einer Mehrheit der deutschen Sozialdemokraten bis zur Bewilligung der Kriegskredite 1914 weitgehend entsprach), war nicht untriftig: «Stark bis zur Unangreifbarkeit in der Verteidigung», sei Russ­ land stets «entsprechend schwach im Angriff gewesen». Umso ­größeres Gewicht hätten die Zaren von jeher darauf gelegt, «die widerstreitenden Interessen und Begehrlichkeiten der anderen Mächte ihren Feindschaf­ ten nutzbar zu machen», also die Rivalitäten der westlichen Mächte un­ tereinander zu schüren.17 Zur Nemesis des Russländischen Imperiums wurde stattdessen jedoch eine östliche Macht, mit der es nicht gerechnet hatte: das reformierte, sich rapide modernisierende und industrialisierende ­Japanische Kaiserreich. Als Petersburg um 1900 Korea und ganz China ins Visier nahm, wiegten sich die zaristischen Beamten und Militärs noch in der Illusion, dass «Asia­ten» generell leicht zu besiegen seien. Tatsächlich gingen die japani­ schen Politiker und Militärs mit ihrem überfallartig geführten Krieg gegen die numerisch weit überlegenen russischen Armeen und Flotten 1904/05 ein hohes Risiko ein. Umso größer war das Empfinden einer ­nationalen Schmach und eines kolossalen Versagens des Zarentums, als die Nach­ richten von der Niederlage aus dem Fernen Osten in Petersburg eintrafen.

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In den zunehmenden Misserfolgen der zaristischen Weltpolitik hatte sich immer stärker das factum brutum geltend gemacht, dass dem Russi­ schen Reich für eine Rolle als imperiale Weltmacht zwar nicht die Statur, aber doch die Potenz fehlte. Wenn Ludwig XIV. aus den Ressourcen des ungleich kleineren, viel dichter besiedelten und effektiver bewirtschafte­ ten Frankreich eine modern ausgerüstete stehende Armee von 400 000 Sol­ daten unterhalten konnte, so vermochte Peter der Große zur selben Zeit aus den Potentialen seines ungleich größeren, aber dünner besiedelten und unproduktiver bewirtschafteten Landes nur 200 000  Soldaten ins Feld zu stellen, plus einigen zehntausend Kosaken, die als Söldner und Beutejäger mit eigener Ausrüstung und eigenen Pferden unter Vertrag ge­ nommen wurden. Im Laufe des 18./19. Jahrhunderts wurden die regu­ lären russischen Armeen zwar beständig größer und schließlich sogar die größten der Welt. Aber ein erheblicher Teil dieser Truppen war für eine moderne Kriegführung kaum zu verwenden und stationär gebunden, d. h. im ­gesamten Reich verteilt und trotz aller strategischen Eisenbahn­ bauten nur sehr langwierig zu schlagkräftigen Armeen zusammenzu­ fassen, die entsprechend schwierig zu versorgen waren – wie die Kon­ frontation mit den ungleich mobileren, moderner geführten und besser versorgten britischen und französischen Expeditionsarmeen im Krim­ krieg und ein ­halbes Jahrhundert später noch eklatanter die Vernichtung ganzer russischer Armeen und Flotten im Krieg mit Japan bewies. Die strategische Zerstreuung der militärischen Kräfte war nur ein Ausdruck der generellen Tatsache, dass dieses Imperium, indem es seine Grenzen beständig erweiterte, seine Territorien umso weniger zu er­ schließen und zu beherrschen vermochte; und dass es sich, je länger seine Grenzen wurden (die längsten der Weltgeschichte), umso stärker be­ droht fühlen musste. Das war der Zirkel, in dem die gesamte moderne Geschichte Russlands sich bewegt hat – und heute in der Ära Wladimir Putins wieder bewegt. Natürlich war das nichts völlig Neues und Einmaliges. Schon Edward Gibbon hatte über das Römische Reich bemerkt, es habe zu seiner Ver­ teidigung ums Haar die Welt erobert, bevor es von den Eroberten über­ rannt wurde. Und über Großbritannien hat man früh schon gesagt, dass sein globales Empire fast wie im Selbstlauf entstanden sei, in einer Art «absence of mind», ohne es so richtig zu wollen oder auch nur zu bemer­ ken.18 Gut möglich jedenfalls, dass ein britischer Kolonialminister in London über eine neue Erwerbung in Indien Ähnliches hätte notieren können, wie es der russische Innenminister Walujew in Petersburg 1865

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in seinem Tagebuch tat: «General Tschernjajew hat Taschkent genom­ men, keiner weiß, wozu und warum.»19 Nur verfügte das moderne Großbritannien über eine kleine, aber hoch produktive Ausgangsbasis sowie über maritime wie inländische Kom­ munikationen, die die avanciertesten ihres Zeitalters waren. Dagegen litt das Russländische Imperium trotz seiner energischen autokratischen Machtentfaltung unter grundlegenden Handicaps seiner geophysischen und strategischen Lage. So war die Kriegs- und Handelsflotte, die es seit Peters Zeiten aufzubauen suchte, in Binnenmeere mit schmalen Ausgän­ gen wie die Ostsee oder das Schwarze Meer eingeschlossen; und die Ozean­häfen wie Archangelsk und Wladiwostok waren nur zeitweise eis­ frei. Zu diesem «Käfig der Kontinentalität», von dem Geopolitiker früh schon gesprochen haben, trat der «Tribut der Entfernungen», die schiere Länge der Distanzen und der Zeitaufwand für Transporte und Kommu­ nikation. Dazu kam drittens der «Fluch der Kälte», d. h. der zusätzliche Tribut an Energie und Ertrag, den die extremen Temperaturen forderten. Nicht nur hergebrachte Verkehrsmittel wie Kutschen, Schlitten oder Barken, auch ein Gutteil der moderneren Kommunikationen, ob Flussund Küstenschiffe, Eisenbahnen oder Motorfahrzeuge, mussten über längere Perioden des Jahres brachliegen, zuerst wegen der Kälte und dann wegen des Tauwetters, das alle unbefestigten Wege und Straßen in Schlammwüsten verwandelte, in jene «verfluchte russische Wegelosig­ keit» («rasputiza»), gegen die Lenin immer wieder gewütet und an dem die Sowjetmacht sich in endlosen, «heroischen» Anstrengungen vielfach aufgerieben hat. Man hat diese klimatischen und geographischen Extra­ belastungen auf 1,5–2,25 % des Bruttosozialprodukts (in heutigen Grö­ ßen und Kategorien) geschätzt, verglichen mit Kanada und den USA, die scheinbar ähnlich, tatsächlich aber südlicher und vor allem maritimer gelegen sind.20 Gleichzeitig hat selbst der große Bevölkerungsschub, den Russland vor allem in den Jahren zwischen 1860 und 1914 erlebt hat, niemals aus­ gereicht, um die riesigen Räume des immer weiter wachsenden Impe­ riums zu besiedeln und fruchtbar zu machen. Und da diese Gebiete nicht, wie der amerikanische Westen, zur individuellen Aneignung und Exploitation freigegeben waren, sondern noch stets «dem Zaren gehör­ ten», ergab sich am Anfang des 20. Jahrhunderts das verwirrende Bild, dass in den zunehmend übervölkerten zentralrussischen Gebieten die Masse der entlassenen Leibeigenen in ihre Dorfgemeinden eingebunden blieb, während der russische Staat in mehreren großen Siedlungsschüben

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bemüht war, die südlichen Steppen und vor allem das menschenleere ­Sibirien mit Landzuteilungen und Krediten organisiert zu besiedeln  – was nur begrenzt gelang. Auch die um den Eisenbahnbau gruppierten staatlichen Anstrengungen, das Land zu industrialisieren, änderten an dieser Grundkonstellation nichts. Wie Nikolai Berdjajew schrieb: «Das russische Volk wurde nie­ dergedrückt durch einen gewaltigen Kraftverlust, den das Übermaß des russischen Staates kostete. Der Staat erstarkte, das Volk kränkelte.»21 Das Primat des Politisch-Militärischen allem gegenüber, was dem allge­ meinen Wohlstand hätte dienen können, machte sich durchweg geltend, am sichtbarsten in den größten Projekten: dem Bau strategischer Eisen­ bahnlinien wie insbesondere der Transkaukasischen, der Transkaspischen und der Transsibirischen und Mandschurischen Bahn. Die Planer der Transsibirischen und Mandschurischen Bahn hatten gehofft, im europä­ isch-asiatischen Handel dem Suez-Kanal ernsthafte Konkurrenz machen zu können. Davon war am Ende keine Rede. Nicht allein der teure und vielfach nur saisonale Betrieb der Bahn, ihre Eingleisigkeit und der zu schwache Unterbau machten diese Erwartungen zunichte. Auch die Stre­ ckenführung und Anlage, die primär militärischen Imperativen gehorch­ ten, begrenzten die Möglichkeiten einer zivilen Entwicklung und Er­ schließung. Dazu kamen die Spielräume, die sich bürokratisch-militärischen ­Eigeninteressen und Eigenmächtigkeiten boten. Trotz der neuen Eisen­ bahnen erfuhr Petersburg nur mit tage- oder sogar wochenlanger Ver­ zögerung, was in den Grenzzonen des Reichs passierte – ein zeitlicher Aufschub, der vielerlei bedenkliche Opportunitäten eröffnete. Der be­ rühmteste Fall war die Errichtung eines staatsähnlichen «Protektorats» durch die Betreiber der Mandschurischen Bahnlinie, das in den China abgepressten Verträgen nicht vorgesehen war. Zwar konnten die Verant­ wortlichen sich vom Finanzminister Witte gedeckt oder sogar angestiftet fühlen; aber sie handelten jedenfalls am Zaren vorbei, der sich über die Errichtung solcher mit westlichen Kapitalien finanzierter «Eisenbahn-­ Königtümer» stark beunruhigt zeigte.

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Die deformierte Gesellschaft Die Macht- und Sozialordnung des zarischen Russland unterlag ihrer­ seits einer imperialen Deformation, die es schwierig macht, sie in strikt sozio-logischen Begriffen oder auch in Klassenkategorien zu beschreiben. Die adeligen Gutsherren, die einen Großteil des Jahres in ihren Stadt­ häusern verbrachten, waren jedenfalls nicht primär «feudal» oder kapi­ talistisch wirtschaftende Agrarier – auch wenn einige diesen Schritt seit den 1880 er Jahren machten. Vielmehr bildeten sie zunächst den Kern der militärisch-bürokratischen Funktionseliten des Reichs, wobei der in der Hauptstadt angesiedelte alte Erbadel (trotz aller Degradationen) bis zum Ende des Zarenreiches noch immer viele der höchsten Ränge in der Regierung und Reichsbürokratie besetzte. Umgekehrt konnte man über die staatliche Bürokratie und das Militär mittels des Bildungssystems und nach einem festen Schema der Avance­ ments auch von sehr weit unten bis in Adelsränge aufsteigen. Das gelang sogar getauften Nichtrussen wie den Blanks und Uljanows, Lenins Fami­ lie. Selbst Sergej Witte, für ein Jahrzehnt die stärkste Figur im Regie­ rungsapparat in Petersburg, kam ursprünglich aus einer Familie schwe­ disch-lutherischer Einwanderer und hatte sich im Regierungsapparat und bei den Staatseisenbahnen hochgedient, bevor er qua Amt zum «Gra­ fen Witte» wurde. Zugleich bildete dieser in sich vielfach abgestufte Amts- oder Erbadel die Crème einer hauptstädtischen oder provinziellen «guten Gesell­ schaft», wobei eher Rang und Stand als Einkommen und Besitz zählten. Wenn man zu den 1,5 % der Bevölkerung, die in der Ständeordnung des Reiches als «Adelige» registriert waren, noch die 0,5 % «Kaufleute» und «Ehrenbürger» sowie das gehobene Segment der «Fremdstämmigen» und «Ausländer» hinzurechnet, wird man auf eine insgesamt sehr kleine und ziemlich heterogene Oberschicht kommen, die ihr Selbst- und Rechtsbewusstsein eher vom autokratischen Zentrum, vom Zugang zu hohen Regierungs- und Beamtenkreisen, als vom selbsterwirtschafteten sozialen Status bezog. Die 0,5 % Kleriker, die in der Ständeordnung des Reiches nominell auf den Adel folgten, gehörten dagegen nur zum kleinsten Teil zur Reichs­ elite. Zwischen dem höheren Klerus, eingegliedert in die Staatsordnung, über Ländereien und Einkünfte verfügend, der Aufsicht des ­kaiserlichen Generalprokurators unterstehend, und der Masse der ein­fachen, oft an­

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alphabetischen Mönche und Popen, die als ambulante Seelsorger von ih­ rer Gemeinde oder von ihren Besuchern lebten, klafften Welten. Die Tat­ sache, dass die Russisch-Orthodoxe Kirche von Haus aus kaum über eine substantielle Theologie verfügte, dürfte dazu bei­getragen haben, dass das religiöse Denken für jede Art literarischer und philosophischer Adaptio­ nen freigegeben war. So entstanden Ende des 19. Jahrhunderts in Russ­ land eine einzigartige Fülle und Vielfalt von ­religiösen Lebenslehren und Sozialprophetien (wie etwa im Fall Tolstojs und der «Tolstoianer»), wäh­ rend das Feld des häretischen Sektenwesens ohnehin schon stark besetzt war. Das alles waren weitere Fermente der unendlichen Selbstgespräche und Selbsterforschungen der Intelligenzija. Einige wenige Priester haben in der Revolution von 1905 auf Seiten der dem Terrorismus affiliierten Partei der Sozialrevolutionäre ­gewirkt, viele andere auf Seiten der fana­ tisch konterrevolutionären «Schwarzhunderter» – aber kaum jemand auf Seiten der Liberalen. Kein Kleriker fand sich in Russland, der wie in Frankreich 1789 als Vorkämpfer eines aufsteigenden «Dritten Standes» aufgetreten wäre. Das hing allerdings auch damit zusammen, dass dieser «Dritte Stand», der in der offiziellen Ständeordnung Russlands nicht einmal die 11 % der als «Stadtbürger» Registrierten (von denen viele Bauern waren) umfasste, auch sonst mit einem «Bürgertum» im europäischen Sinn wenig gemein hatte. Stadträte und Bürgermeister waren, wie die Dorfoberhäupter, vor allem zunächst Glieder des staatlichen Tribut- und Haftungsregimes und besaßen kaum eigene Kompetenzen. Die amtliche Bezeichnung «mescht­ schane» klang deshalb auch latent abfällig, eher wie das deutsche Wort «Pfahl-» oder «Kleinbürger», und wurde in einem Großteil der erzählen­ den Literatur wie in den Intelligenzija-Diskursen fast durchweg mit klein­ kariertem Spießertum und niederen Besitzinstink­ten assoziiert. Schwer wog für das Gewicht und Selbstbewusstsein des russischen Bürgertums auch das Faktum, dass Ausländer, vor allem Deutsche, einen Gutteil der in Handel und Finanz, Handwerk und Industrie Tätigen stell­ ten, und ebenso der höheren Bildungsberufe; während sie gleichzeitig ein Kernsegment und oft sogar eine Mehrheit der oberen Ränge in der zen­ tralen Bürokratie von der Finanzverwaltung bis zur Gendarmerie und zum Militär besetzten. Eine Sondergruppe – auch gegenüber den Russ­ landdeutschen, 1914 rund drei Millionen Menschen, die sich über die gesamte Fläche des Reiches verteilten – waren die Baltendeutschen, die als ultraloyale Beamte und Kommissköpfe im zaristischen Machtappa­ rat Karrieren machten.

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Gegen Ende des 19. Jahrhunderts strömten darüber hinaus Zehntau­ sende, dem «Ansiedlungsrayon» entronnene, gebildete Juden in die Groß­ städte, teils in die freien Berufe als Anwälte oder Ärzte, teils als Jour­ nalisten oder Verleger, teils auch als kleine und große Unternehmer, als Büroangestellte oder Handlungsreisende, die den Binnen- und Außen­ handel, die Finanzwirtschaft und die modernen Industrien in vieler Hin­ sicht prägten und teilweise dominierten. Und dabei waren die Juden nur das dynamischste Element unter den vielen «Fremdstämmigen» im so vielfach gespaltenen Stadtbürgertum Russlands. Das alles stand der Herausbildung einer politisch selbstbewussten, sich organisierenden bürgerlichen Mittelklasse entgegen – bis der kapi­ talistische Aufschwung und die Krisen und Kriege der Jahrhundert­ wende dieses gebildete russische Stadtbürgertum und dazu ein besonde­ res, «drittes Element», die Angehörigen der ländlichen Selbstverwaltungs­ organe, der Semstwos, für einen kurzen historischen Moment politisch und gesellschaftlich in eine Schlüsselrolle schoben. Die aber konnten sie schon 1905/06 und erst recht 1917/18, befehdet von links und von rechts, dann doch nicht ausfüllen. Zur Entfremdung des zarischen Machtapparats und der Oberschichten von der Masse des Volkes trug schließlich die Tatsache bei, dass nicht nur die Hofgesellschaft, sondern die ganze «gute Gesellschaft» des Reichs un­ tereinander vorwiegend Französisch, öfters auch Deutsch oder Englisch sprach. Disraelis Wort von den «Two Nations», die in ein- und demsel­ ben Land nebeneinander her lebten, ohne sich zu kennen oder zu begeg­ nen, traf für das Russische Imperium in noch viel schrofferer Weise zu. Dazu kam die Kluft, die sich zwischen Sankt Petersburg als der glän­ zenden, kosmopolitischen Hauptstadt und dem übrigen Reich, selbst dem russischer geprägten Moskau, auftat. Auch das war kein rein kultu­ relles, sondern ein strukturelles Problem. Die «Provinzialität», die man dem Land jenseits der Hauptstädte insgesamt zugeschrieben hat, hatte wieder mit der Autokratie zu tun. Die Provinzen, selbst wenn sie ent­ wickelte Großstädte besaßen, waren keine Subzentren von eigenem politischem Gewicht, sondern nur über die vom Zaren entsandten ­ 89 Gouverneure an den Gesamtstaat angeschlossen. Sie gewannen daher für sich und ihre Bewohner kaum ein eigenes Gewicht und Gesicht, blie­ ben sich selbst fremd und zeigten nur selten jenen ausgeprägten Lokalund Regionalpatriotismus, der alle europäischen Länder und selbst ein so zentralistisch organisiertes Staatswesen wie Frankreich prägte.

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In einem noch in den sowjetischen 1970 ern geschriebenen Essay hat Mikhael Epstein diese Beobachtung dahin zugespitzt, dass die Provinzen Russlands dem römischen Begriff des Wortes «provincia» im Sinne eines unterworfenen und gleichsam entkernten Gebiets entsprochen hätten. Die in einer sorgsam abgeschirmten Sonderwelt lebenden Zaren hätten ihre Länder nicht als ihr Erbe gesehen und behandelt, das sie nach über­ kommenen Gesetzen und Regeln zu regieren hätten, sondern wie er­ oberte und zu kolonisierende Provinzen  – so wie die Sowjetherrscher auch.22 Aber gleichzeitig war das Zarenreich (wie die spätere Sowjetunion) in all seinem exzessiven Bürokratismus eklatant «unterregiert» und «un­ terverwaltet». Und je ineffektiver die Verwaltungen waren, umso üppi­ ger blühte die Korruption. Der Arm der Regierung und der Gouverneure reichte in der Regel kaum über die ihnen zugewiesenen Verwaltungssitze hinaus. Weil das Reich als Ganzes administrativ nicht zu erfassen war, blieben viele praktische, juristische und polizeiliche Befugnisse bei den in den 1860 er Jahren eingerichteten «Semstwos», den ländlichen Selbstver­ waltungsorganen, hängen – was der Beginn einer effektiven, meritokra­ tischen Selbstverwaltung hätte sein können, hätte Alexander III. ihnen in den 1880 er Jahren nicht, weil sie als zu liberal und zu nachgiebig galten, staatlich ernannte «Landeshauptleute» vorgesetzt, die sich auf die loka­ len Adelsversammlungen und die wenigen vorhandenen Beamten sowie hilfsweise auf pensionierte Militärs, die als «Friedensrichter» fungierten, stützen sollten. «Auf je tausend Einwohner des Russischen Reichs kamen um die Jahrhundertwende nur vier Staatsbeamte, verglichen mit  … 12,6 in Deutschland und 17,6 in Frankreich.» Aber auch die «reguläre Polizei war … nach europäischen Maßstäben zahlenmäßig extrem schlecht aus­ gestattet», sodass auf die 100 Millionen Bewohner des ländlichen Russ­ land weniger als 9000 Polizisten oder Wachtmeister entfielen, d. h. ein einziger auf Zehntausende von Dörflern, die sich über 5000 Quadrat­ kilometer verteilten.23 Dagegen konzentrierten sich die Gendarmerie und die politische Polizei, die besser ausgestattet waren und durch Kosa­ ken und kasernierte Militäreinheiten verstärkt werden konnten, ganz auf die Haupt- und Provinzstädte sowie die Verkehrsknoten und größe­ ren Indus­triezentren. Alle diese Faktoren zusammengenommen trugen dazu bei, dass die Zaren und ihr Hofstaat sich dem Land weitgehend entfremdeten, das sie großteils auch gar nicht kannten. Dieses Motiv einer tiefen Fremdheit,

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gesteigert bis hin zur Vorstellung eines «Fremden auf dem Thron», also einer verkappten Fremdherrschaft, findet sich in petrinischer Zeit bereits in den Flüchen der gefolterten «Altgläubigen», die den staatlich verfüg­ ten Änderungen des religiösen Ritus nicht folgen wollten, oder der meu­ ternden Leibgardisten des Kreml, der Strelitzen, die die alte moskowi­ tische Ordnung verteidigten. Es findet sich in den Aufrufen des (wie alle Bauernrebellen) als legitimer Zar auftretenden Donkosaken Jemeljan Pugatschow 1773/74, der sich mit seinen Heerhaufen jenseits der Wolga gegen die deutsche Zarin Katharina erhob, und auf andere Weise in den Proklamationen der Offiziersverschwörung von 1825, der «Dekabris­ ten», trotz der deutschen Herkunft ihres ideologischen Kopfs, Paul von Pestel. Am deutlichsten findet dieses Motiv sich aber in einer Broschüre Michail Bakunins von 1862, die sich gegen die Großen Reformen und namentlich die Agrarreform Alexanders  II. richtete. Darin spitzte Ba­ kunin als Slawophiler und Anarchist den Widerspruch in einem Appell an seine Anhänger, indirekt aber auch an den Zaren selbst zu, als er schrieb: «Sagen wir die Wahrheit: Wir würden es vorziehen, Romanow zu folgen, wenn er sich von einem Petersburger Kaiser in einen Bau­ ernzar verwandeln könnte und wollte.» Alexander, so Bakunin (selbst aus altem Adel stammend), müsse sich entscheiden, ob er ein wahrer, ein Russischer Zar werden  – oder weiterhin der Petersburger, der «Hol­ stein-Gottorpsche» Kaiser bleiben wolle. «Will er Russland, will er den Slawen, oder will er den Deutschen seine Dienste widmen? Diese Frage wird sich bald entscheiden, und dann werden wir wissen, was wir zu tun haben.»24 Die Großen Reformen Alexanders II. von 1861/62 bedeuteten zwar eine «Befreiung» der Bauern von der Leibeigenschaft in Form einer von oben oktroyierten Freisetzung, aber als Staatsbürger und Rechtssubjekte wur­ den sie nach wie vor in Entmündigung und Rechtlosigkeit gehalten. Die Ablösung der persönlichen Abhängigkeit vom Gutsherren, die immerhin minimale Fürsorgeverpflichtungen beinhaltet hatte, und ihre Ersetzung durch abstrakte ökonomische und juristische Zwänge und Pflichten so­ wie die amtlich verfügte Übertragung von Gutsländereien (meist min­ dere Böden) an die Bauerngemeinden gegen langwierige finanzielle Ablöse­ zahlungen und Verpflichtungen zur «Abarbeit» wurden von vielen oder sogar den meisten Bauern eher als eine weitere Verschlechterung ihrer gedrückten Lage empfunden.

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Dabei war die Tatsache, dass die russischen Dorfgemeinden sich nach innen selbst verwalteten und über ihre Dorfältesten mit den Gutsherren und den Behörden verhandelten, weder ein Beleg für jene wohlwollend patriarchale Lebensordnung, wie die Staatsideologie sie rühmend be­ schrieb, noch für die Idylle einer solidarischen Dorfgemeinschaft, die Slawophile und Volkstümler Mitte des 19. Jahrhunderts entdeckt zu ­haben glaubten. Nach den (erstaunlich wenigen) quellengestützten Un­ tersuchungen über die russische Leibeigenschaft wurden vier Fünftel der Leibeigenen mindestens einmal, oft zweimal im Jahr einer Auspeitschung unterzogen wie sonst nur noch amerikanische Sklaven oder afrikani­ schen Kolonialuntertanen. Wenn diese russischen Dörfler dennoch in einem vergleichsweise ro­ busten körperlichen Zustand waren, dann vermutlich deshalb, weil sie sich nur unter physischem Zwang, den sie stoisch ertrugen, für die ­Arbeiten auf den Herrengütern verausgabten, während ihre Hauptsorge und Mühe in erster Linie den eigenen Gärten oder häuslichen Nebenbe­ schäftigungen galten und in zweiter Linie den innerhalb ihrer Dorfge­ meinschaften nach der Zahl der Köpfe periodisch umverteilten Landstü­ cken. Investitionen in einen Boden, der ihnen nur auf Zeit überlassen war, scheuten sie freilich. Das hatte von jeher zum notorisch ertrags­ armen Charakter der zentralrussischen Landwirtschaft beigetragen. Auch daran änderte die Aufhebung der Leibeigenschaft 1861 zunächst wenig. Natürlich sind auch hier die klimatischen Bedingungen in Rechnung zu stellen, denen die bäuerliche Arbeits- und Lebensweise sich anpassen musste. Die landwirtschaftliche Arbeitsperiode ist im gesamtrussischen Durchschnitt mit 130 Tagen um ein Drittel kürzer als in den Ackerbau­ gebieten Nordamerikas oder Mittel- und Westeuropas; und auch die Bö­ den sind – außer im südlichen Schwarzerdegürtel – ärmer und bedürfen intensiver Düngung, für die es aber weder genug Vieh noch die nötige Expertise gab. Beides zwang oder verleitete zu einer steten Extensivie­ rung per Brandrodung oder Brache. Die erheblich geringeren Erträge der russischen Landwirtschaft – im Durchschnitt ein Drittel bis zur Hälfte mittel- und westeuropäischer Bauernwirtschaften  – beförderten ihrer­ seits eine dünne, aufgelockerte Besiedlung sowie eine gering entwickelte Spezialisierung und gesellschaftliche Arbeitsteilung. Die geringen Geld­ einkommen der Bauern wie die langen Perioden von Dunkelheit und Kälte und im Übrigen eben die russische «Wegelosigkeit» trugen dazu bei, dass ein Großteil der Handwerke und Hausindustrien im Dorf blie­ ben und eher Nebengewerbe als Hauptberuf waren. Das Gros der Land­

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bevölkerung Russlands blieb im Zirkel einer Subsistenzökonomie gefan­ gen, in der man möglichst alles selbst erzeugte und machte, einschließ­ lich des Baus der stereotyp konstruierten, aber oft liebevoll verzierten hölzernen Hütten, der «isbas». Dem entsprach ein Leben in Großfamilien, in denen ein Patriarch, der Großvater (der freilich selten mehr als vierzig Jahre alt wurde), der Vater, der Onkel oder der älteste Sohn als Hausherr, als «Chosjain», über den ganzen Clan herrschte, vor allem auch über das «Weibervolk» samt Kind und Kegel. Diese informelle, aber eherne Machthierarchie wurde mit beinahe rituellen physischen Übergriffen, die auch sexueller Natur sein konnten, immer von Neuem bekräftigt. Dabei spielte sich das gesamte Familienleben, die Hausarbeiten und die Mahlzeiten (bei denen alle aus einem Topf aßen) ebenso wie der Schlaf und der Beischlaf in ­einem Raum ab, der in der dunklen und kalten Jahreszeit lichtlos und stickig war und nur vom zentralen Ofen und den Körpern gewärmt wurde. Wenn das bäuerliche Leben von Aufklärern und Reformern als eines in «Finsternis» beschrieben wurde, dann war das auch buchstäb­ lich richtig. Kollektives Arbeiten der Dorfgenossen war eher die Ausnahme, auch wenn es gegenseitige Erntehilfen und gemeinsame Einrichtungen gab. Mochte die russische «Dorfgemeinde» (der «mir»), die der deutsche Freiherr von Haxthausen in den 1840 er Jahren, Hinweisen seiner slawo­ philen Gastgeber folgend, erstmals detailliert beschrieb, tatsächlich Re­ siduen eines ursprünglichen «kommunistischen» Gemeinwesens ent­ halten, so war und blieb sie zugleich das passive, eigentliche Fundament der imperialen Herrschafts- und Knechtschaftsordnung. Als Haftungs­ gemeinschaft hatte sie unter Regie der (faktisch unangreifbaren, daher selten integren) Dorfältesten die Tribute an den Staat abzuliefern und nach der Bauernbefreiung die Ablösezahlungen an die Gutsherren für das ihnen überlassene Land zu leisten, das eine wie das andere in Geld, in Naturalien und in Arbeitsleistungen; und noch immer auch in Men­ schen, vor allem in Gestalt der Rekruten für die Armee, die das Dorf kol­ lektiv zu stellen hatte und auswählte. In Krisen- und Hungerzeiten konnte die Dorfgemeinde allerdings als Überlebensgemeinschaft fungieren, und das war es vor allem, was das Gros der Bauern an sie fesselte. Darüber hinaus regelte sie viele Alltags­ konflikte in eigener Regie und ahndete Übergriffe und Verstöße mit har­ schen, oft grausamen Zucht- und Disziplinierungsmitteln. Aber sie sank­ tionierte auch jedes bloße abweichende Verhalten und praktizierte einen

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rücksichtslosen Egalitarismus, der sich auch im uniformen Aussehen und Auftreten von Männern wie von Frauen ausdrückte. Alle Beschlüsse der von den Ältesten geleiteten Dorfversammlungen waren einstimmig zu fällen; abweichende Meinungen hatten sich der Mehrheit unterzuord­ nen – eine Praxis, die im «demokratischen Zentralismus» der Bolsche­ wiki Wiederauferstehung feiern würde. Eine Folge der Bauernbefreiung war allerdings das rapide Wachstum der Bevölkerung, gerade der Landbevölkerung. Der Landanteil und das Ge­ wicht ­einer Bauernfamilie in der Dorfgemeinde hing nämlich von der Zahl ­ihrer Köpfe (vor allem der männlichen Köpfe) ab, was wiederum bedeutete, dass durch die Aufteilung der Böden der Landhunger der Bauern noch einmal erheblich stieg. Dazu kam, dass diese ländliche «Überbevölkerung», von der man jetzt zu sprechen begann, von städti­ schen oder ­industriellen Beschäftigungsmöglichkeiten nicht annähernd aufgefangen werden konnte, ebenso wenig aber von den Aus- und Um­ siedlungsprogrammen des Staates seit den 1890 er Jahren. Übervölkerung und Landhunger machten sich nicht zuletzt in ­einem anarchischen Alltagsverhalten Luft, das teils blanker Not entsprang, teils aber auch einer magischen Vorstellung ursprünglicher und unbe­ schränkter Freiheit («wolja») und einem mythisch konfabulierten Rechts- und Gerechtigkeitsempfinden folgte. Die Bauern nahmen von den Gutswirtschaften, deren Feldern, Obstgärten, Wäldern, Gewässern, ihrem lebenden und toten Inventar, aber auch von öffentlichen Einrich­ tungen wie Schulen oder Eisenbahnstationen, soviel sie eben unbeobach­ tet kriegen und brauchen konnten. Was die Uljanows während der kur­ zen Episode als aktive Gutsbesitzer erlebten, war eher die Regel als die Ausnahme; so wie es einem allgemeineren Trend entsprach, dass sie bald resignierten und ihre Ländereien an die Dörfler verpachteten. Auf diese Weise wurde in der Zeit von 1860 bis 1914 ein großer Teil des adeligen Gutslandes an die Bauerngemeinden übereignet oder ver­ pachtet, sofern nicht unternehmerische Großfarmer dörflicher oder städ­ tischer Herkunft sich in robuster Weise daran machten, die nun auch ­zunehmend exportgetriebenen Agrarkonjunkturen kapitalistisch zu nut­ zen. Jedenfalls war am Vorabend des Weltkriegs nur noch weniger als ein Drittel des Bodens in adeligem Eigentum, während sich fast 70 % im Besitz der Dorfgemeinden befanden oder aber von Einzelbauern, die sich nach den Reformen des Kanzlers Stolypin von 1907 selbständig gemacht hatten. Dagegen wurden die Dorfländereien großteils noch immer in der

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hergebrachten, wenig produktiven Weise verteilt und bewirtschaftet, weshalb die bäuerlichen Großfamilien wie die Dorfältesten darauf be­ dacht waren, die jungen Leute möglichst an der Abwanderung in die Städte zu hindern – aus denen sie fremde Moden, unzüchtige Sitten, frev­ lerische Gedanken und aufsässige Verhaltensweisen mitbrachten. Aber mit dem ländlichen Schulwesen und der Alphabetisierung, mit der Wehrpflicht und dem Vordringen gedruckter und bebilderter Kalen­ der (der Luboks), Broschüren und Zeitungen aufs flache Land wurde die patriarchalische Ordnung unaufhaltsam untergraben. Dazu kam der ­demographische Wandel: Dem Zensus von 1897 zufolge waren 65 % der Landbevölkerung unter 30 Jahren. Und die 40 % der jungen Bauern, ­Arbeiter und Soldaten, die im Jahr 1914 immerhin lesen und schreiben konnten, bedeuteten eine stille, einschneidende Machtverschiebung von den illiteraten Ältesten hin zu den Jüngeren – wie sich dann 1917 zeigen würde. Das alles waren Komponenten eines sozialen Sprengstoffs, der sich im Übergang zur beschleunigten Industrialisierung in den 1890 er Jahren aufhäufte, auch wenn der Groll oder die Verzweiflung der Bauern sich anfangs noch weniger gegen die Gutsherren oder die zarischen Behörden richteten, sondern in erster Linie gegen diejenigen, die sie als Reprä­ sentanten und Nutznießer der erweiterten Geld- und Warenwirtschaft wahrnahmen. Dazu gehörten allen voran die sogenannten «Kulaken», ein Wort, das ursprünglich keineswegs reiche Bauern und Dorfgenossen, sondern die nicht zur Dorfgemeinschaft gerechneten Aufkäufer, Händler und Geldverleiher, Müller und Verpächter meinte – so wie die Uljanows, ihre Verwalter und Eintreiber. Die Umdefinition durch Lenin, der in sei­ ner ersten großen theoretischen Arbeit über «Die Entwicklung des Kapi­ talismus in Russland» auch alle für den Markt produzierenden größeren Bauern mit diesem volkstümlichen Hassbegriff als eine ausbeuterische neue «Dorfbourgeoisie» zu brandmarken suchte, enthielt bereits eine folgenschwere Verschiebung. Eine anders gepolte, aber ähnlich starke Aufladung erfuhr der Hass auf die Juden, wie ihn konservative Ideologen und Polizeibehörden des Zarenregimes schürten. Jüdische Shtetl und Viertel, Straßen oder Fami­ lien wurden seit den frühen 1880 er Jahren immer wieder zu Zielscheiben von Pogromen und Vertreibungen, an denen sich auch die für reaktionäre Hetze wie für revolutionäre Agitationen gleichermaßen empfänglichen Eisenbahnarbeiter rege beteiligten.

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In der Hungerkatastrophe von 1891 kam es zu einer Reihe schockie­ render Ereignisse. Verzweifelte Dörfler wendeten sich gegen die mutig aufs Land gegangenen Ärzte, Schwestern und Freiwilligen, die versuch­ ten, mit Quarantäne-Maßnahmen und medizinischer Hilfe Typhus und Cholera einzudämmen – und als vermeintliche Überbringer der Seuche und Zerstörer der Dorf- und Familienstrukturen häufig angegriffen oder sogar getötet wurden. Alle Unwissenheit und aller Aberglaube, den man dafür verantwortlich machen kann, sind freilich nur andere Worte für das Gefühl, Bedrohungen ausgeliefert zu sein, die in einem archaischen Weltverständnis immer von irgendjemandem ausgehen müssen. Hierin wie in vielen anderen Aspekten der bäuerlichen Vorstellungs- und Le­ benswelten lagen mehr «Anschlüsse» an die spätere bolschewistische Propaganda und Machtpraxis, als sich die Führer der Bolschewiki, die sich als Träger des «Lichts der Aufklärung» sahen und die finsteren Dorfwelten in den Orkus stürzen wollten, selbst eingestehen wollten. Jedenfalls war das «Rätsel Bauer», so Orlando Figes, «der Kern des Problems der nationalen Identität Russlands».25 Der Druck, der von der «ländlichen Überbevölkerung» ausging, wie sie in den Statistiken gerade für die zentralrussischen Gebiete beschrieben wurde, machte sich objek­ tiv wie subjektiv fühlbar. «Wir sind von dunklen Vorahnungen erfüllt. Jede Nacht rötet Feuerschein den Himmel und blutroter Nebel lagert über der Erde», schrieb ein Gutsbesitzer aus Woronesh 1901 in einem Brief. «Der Mushik hüllt sich in finsteres Schweigen. Wenn er aber zu sprechen anhebt, dann läuft es uns jedesmal ganz kalt über den Rü­ cken.»26 Niemand hat so schroff wie Maxim Gorki in seinen Erinnerungen an die eigene Kindheit und Jugend beschrieben, in welch exzessivem Aus­ maß die Gewalt der Dörfler und Vorstadtbewohner untereinander, vor allem gegenüber Frauen und Kindern, dem Leib und der Psyche der bäu­ erlichen und der proletarisierten Volksmassen eingeschrieben war. So hatte für ihn auch die Revolution 1917 mit ihren pogromhaften Zügen letztlich nur «die beispiellose Grausamkeit des russischen Volkes» zum Vorschein gebracht27 – ein Urteil, das ihn binnen Kurzem in einem wah­ ren Salto mortale vom scharfen, auch öffentlichen Kritiker der bolsche­ wistischen Machteroberung zu einem hymnischen Bewunderer Lenins und schließlich zum willfährigen Parteigänger Stalins und fanatischen Propagandisten der Kollektivierung, der Zwangsarbeit und selbst des Terrors als eines notwendigen Zucht- und Bildungselements werden ließ.

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Das neue Subjekt Die rettende Vorstellung, eine moderne «Arbeiterklasse» könne als Kraft eigener Ordnung und künftige Speerspitze einer sozialistischen Umwäl­ zung auf den Schauplatz treten, wie die ab den 1880 er Jahren aktiven russischen Sozialdemokraten sie hegten und Gorki sie in mythischen Bil­ dern starker, wissenshungriger, proletarischer Menschen verzweifelt be­ schwor, war durch soziologische und statistische Befunde nur schwer zu stützen. Dem Zensus von 1897 zufolge gab es unter den rund 10 Millio­ nen «Lohnarbeitern» allenfalls 2  Millionen Arbeiter in mittleren und größeren Betrieben der Industrie, des Bergbaus und der Eisenbahn­; der Rest waren Landarbeiter (rund 5 Millionen) oder auf Baustellen und in städtischen bzw. ländlichen Kleinbetrieben und Werkstätten beschäftigt. Noch am Vorabend des Weltkriegs betrug die Zahl der Arbeiter in Be­ trieben mit mehr als 50 Beschäftigten nicht mehr als 3–4 Millionen; mit ihren Familien stellten sie damit ganze 2–2,5 % der Gesamtbevölkerung. Und auch sie standen fast alle mit einem Bein noch im Dorf, wo ihre ­Familien lebten und den Acker bestellten; oder sie waren wie in vielen Bergwerks- und Hüttenbetrieben auf großen Baustellen und in Teilen des Eisenbahnverkehrs nur saisonal beschäftigt. Dem entsprach die Übertragung dörflicher Sozialbeziehungen und ­Lebensgewohnheiten in die Stadt, sei es in Form kollektiv sich verdin­ gender «Arbeitsgenossenschaften» (artels) oder eng zusammenlebender «Landsmannschaften» (semljatschestwy). Viele lebten in einer um die Fabriken und die Industrieviertel sich erstreckenden Übergangszone zur Welt der Dörfer, die gleich hinter der Stadtgrenze begann. Bis zum Vorabend des Weltkriegs war es erst ein kleines Segment vergleichsweise gebildeter und fachlich erfahrener Industriearbeiter oder städtischer Handwerker, die sich auch durch ihre Kleidung, ihren Lebensstil und ihr ganz in die Stadt verlegtes Sozial- und Familienleben vom Gros der un­ gelernten und unerfahrenen Bauern abhoben und der sozialistischen Vorstellung einer modernen, von der Fabrikdisziplin geschulten, poten­ tiell organisierten und bildungsfähigen Arbeiterklasse annähernd ent­ sprachen. Allerdings besaßen die in gesamtgesellschaftlichem Maßstab winzigen und weit verstreut lebenden Populationen industrieller Arbeiter, vor ­allem in Situationen gesellschaftlicher Krisen, eine überproportionale Bedeu­ tung, die mit dem Gewicht einiger sehr großer Unternehmen zusammen­

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hing. Sogar im Vergleich mit dem viel entwickelteren Deutschland war in Russland der Anteil der wirklich großindustriell Beschäftigten relativ hoch: So arbeitete ein Drittel aller Industriearbeiter 1914 in Betrieben mit mehr als 500, ein Viertel sogar mit mehr als 1000  Beschäftigten. Überschlägig waren das immerhin ein bis anderthalb Millionen Men­ schen, darunter ein Drittel Frauen, zwei Drittel Männer, die meisten sehr jung.28 Diese Betriebe hatten sich in wenigen Zentren angesiedelt, in den oft innerstädtisch gelegenen, um einige Riesenfabriken gruppierten neuen Industrievierteln in Petersburg wie in Moskau, in westlichen Provinz­ metropolen und Boomtowns wie Warschau oder Lódz, in den altetablier­ ten, rasch expandierenden Waffen-, Werkzeug- und Metallfabriken von Tula, in ländlichen Industrieagglomerationen wie dem Textilzentrum Iwanowo-Wosnessensk, im ukrainischen Bergbau- und Verhüttungszen­ trum Jusowka (dem heutigen Donezk) oder auf den ausgedehnten Öl­ feldern in Baku. So bildeten sie zugleich auch die neuralgischen Punkte der gesamten staatlichen Industrialisierungs- und Modernisierungspoli­ tik. Noch stärker gilt das für die Eisenbahngesellschaften mit ihren 200 000, in einigen großen Verkehrsknotenpunkten, Depots und Werk­ stätten konzentrierten und zugleich über das ganze Land verteilten, aber untereinander kommunikativ vernetzten Arbeitern und Angestellten, über die vielfach Nachrichten und Gerüchte, aber eben auch Druck­ materialien, Flugblätter und polizeilich gesuchte Personen transportiert werden konnten. Es brauchte insofern nicht allzu viel Phantasie oder gar theoretische «Bewusstheit», um die physische Macht zu spüren und spürbar zu ma­ chen, die sich aus dieser Situation ergab. Abgesehen von der miserablen Lebenslage dieser ­Arbeiter, die in den zahllosen Klitschen und Werkstät­ ten noch gedrückter war als in den großen Betrieben, ging ihr Kampf über alle ökonomischen Forderungen hinaus auch um Anerkennung, emphatisch gesprochen: um Menschenwürde, angefangen mit dem An­ spruch, gesiezt statt (wie die Bauern) geduzt zu werden. Das war inso­ weit nicht anders als für die englischen, deutschen oder französischen Arbeiterbewegungen auch. Aber die russländischen Arbeiterschaften blieben eben nicht nur, wie ihre Berufsgenossen im Westen, von der po­ litisch aktiven «Zensusgesellschaft» ausgeschlossen; sondern sie kamen in der russischen Ständeordnung überhaupt nicht vor bzw. wurden meist weiterhin als «Bauern» geführt, die sie nicht mehr waren und vielfach auch nicht mehr sein wollten.

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Gleichwohl bedarf die enorme Militanz, die die russländischen Arbeiter­ schaften nach 1900 an den Tag legten, einer besonderen Erklärung. Niedrige Löhne und überlange Arbeitszeiten, mangelnde Schutzgesetze, elende Wohn- und Lebensverhältnisse, Verbote gewerkschaftlicher oder beruflicher Organisationen, sodass es kaum reguläre Formen des Kon­ fliktaustrags gab und bei Arbeitskämpfen sehr schnell Militär bereit stand – das alles kannte man auch aus anderen Ländern. Dass Streiks oder Proteste nur klandestin vorbereitet werden konnten und dass Arbei­ ter zu den Mitteln von Maschinenstürmerei, Brandstiftung und Bom­ benanschlägen bis hin zum gezielten Terror (etwa gegen Informanten) griffen, allein schon deshalb, weil sie Arbeitskämpfe mangels Streikkas­ sen und Unterstützungszahlungen nicht lange durchhalten konnten und den Konflikt daher auf eine rasche Entscheidung zutreiben mussten  – auch das war in vielen anderen, etwa südeuropäischen Ländern kaum anders. Die Anarchosyndikalisten machten daraus sogar eine Tugend, indem sie auf jede feste Organisation mit Kassen und Statuten grund­ sätzlich verzichteten, um sich durch schiere Militanz ihr Recht zu holen. Was in Russland dazu kam, war eben, dass es im Gefüge des gesamten Staatsaufbaus und an seiner sozialen Basis unüberhörbar knackte. Die Überbeanspruchung des Imperiums, seine strategischen Großprojekte, Eroberungen, Rüstungen, die zu deren Finanzierung stetig wachsenden ausländischen Kredite mit den daraus resultierenden Zins- und Steuer­ lasten, das alles lastete schwer auf dem gesamten Gesellschaftskörper und am schwersten auf den untersten Schichten. Der bäuerliche Land­ hunger und die latente Anarchie der ländlichen Beziehungen übertrugen sich in die Industriebezirke, so wie umgekehrt die städtische Unruhe in die Dörfer drang. Aber diese Unruhe war selbst nur ein Ausdruck dessen, dass sich die Gesellschaft im Ganzen seit der Hungersnot von 1891/92, die zu Recht als ein Offenbarungseid der staatlichen Bürokratie empfunden worden war, in Bewegung gesetzt hatte. Die Bestürzung über die Stur- und Starr­ heit des jungen, neuen Zaren Nikolai II., der bei seiner Thronbesteigung 1894 allen noch so bescheidenen Forderungen nach gesellschaftlicher Mitwirkung und bürgerlicher Rechtssicherheit eine kategorische und hochmütige Absage erteilt hatte, ohne in Wirklichkeit noch über die ­Instrumente und Möglichkeiten eines autokratischen Durchregierens zu verfügen, überkreuzte sich mit den Erwartungen und Ansprüchen, die aus den gesteigerten materiellen Mitteln und Handlungsmöglichkeiten eines gebildeten Bürgertums resultierten. Zum ersten Mal in der Ge­

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schichte Russlands bildete sich in diesen Jahren vor und nach der Jahr­ hundertwende so etwas wie eine «bürgerliche Gesellschaft», die in den aufgeklärteren Teilen des zaristischen Beamtenapparats Verbündete fand. Auch die ländlichen Semstwo-Organe traten jetzt selbstbewusster auf, forderten erweiterte Kompetenzen und mehr Mittel für ihre Arbeit, während sie den Radius ihrer selbstorganisierten Tätigkeiten auf vielen Gebieten, von der Schulbildung bis zum Veterinärswesen, der Statistik oder der infrastrukturellen Planung, beharrlich ausweiteten. Gleichzeitig bildeten sich vor und nach der Jahrhundertwende in förmlicher Illegali­ tät oder in geduldeter Halblegalität Berufsverbände, und im Zuge dessen auch erste Gewerkvereine und Selbsthilfeorganisationen von Industrie­ arbeitern. Und wie schon in den 1850–70 er Jahren, jetzt aber ungleich organisierter und mit größerer Reichweite, entstanden auf dem Land wie in den Städten Sonntagsschulen, Lesekreise und Bildungszirkel, die eine gärende Misch- und Zwischenzone und Subkultur bildeten, in der jugendliche Intelligenzler, selbst noch zwischen den verschiedenen theo­ retischen und weltanschaulichen Orientierungen schwankend, mit bil­ dungshungrigen jungen oder älteren Arbeitern und Dörflern, oft auch religiösen Sektierern, zusammentrafen. All dies zusammen schuf die soziale Gärmasse, aus der die größte und dramatischste Umwälzung der neueren Geschichte entstand.

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Die Welt der Uljanows

D

ie russische Sozialdemokratie sei «ein natürliches und unvermeid­ liches Ergebnis der ideologischen Entwicklung der revolutionären so­zialistischen Intelligenz», schrieb Wladimir Uljanow, der sich fortan «Lenin» nannte, 1902 in «Was tun?», seiner ersten großen Programm­ schrift. ­Darin schien er einer Formel zu folgen, die Marx 1848 im «Ma­ nifest» geliefert hatte. Dort hatte er das Erscheinen von «Bourgeoisideo­ logen, welche zum theoretischen Verständnis der ganzen geschichtlichen Bewegung sich hinaufgearbeitet haben» und als Abkömmlinge der bür­ gerlichen Klassen (wie er selbst) sich auf den theoretischen «Standpunkt der Arbeiterklasse» stellten, mit dem Übergang eines Teils des franzö­ sischen Adels auf die Seite der revolutionären Bourgeoisie 1789 vergli­ chen.1 Lenin legte damit den Akzent, statt auf die objektive, sozialgeschicht­ liche Seite, ganz auf die subjektive Seite. Das entsprach auch dem Gang der Dinge in Russland und Uljanows eigener Entwicklung, die sich bis dahin fast vollständig im Sondermilieu der radikalen Intelligenzija voll­ zogen hatte. Der Titel seines Pamphlets, das eine einzige 200-seitige ­Polemik vor allem gegen «legale Marxisten» und «Ökonomisten» war, nahm ganz bewusst den des ­frühsozialistischen Erziehungsromans von Nikolai Tschernyschewski von 1863 «Was tun?» wieder auf, der Gene­ rationen radikaler russischer ­Intellektueller geprägt hat.2 In dieselbe Kerbe schlug eine andere Passage: Gelinge es, jene diszipli­ nierte, über ein Zentralorgan geleitete Partei neuen Typs zu bilden, die ihm (Lenin) vorschwebte, dann würden «aus den Reihen unserer Revo­ lutionäre bald sozialdemokratische Sheljabows, aus den Reihen unserer Arbeiter russische Bebels … hervortreten, die … das ganze Volk zur Ab­ rechnung mit der Schmach und dem Fluche Russlands führen würden.» Andrej Sheljabow war der charismatische Kopf der «Narodnaja Wolja» gewesen, der als Zarenmörder 1881 gehenkt worden war. Hatte Bebel sich als gelernter Drechsler autodidaktisch zu einem Intellektuellen, Schriftsteller und Strategen großen Formats entwickelt, so Sheljabow als

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Student bäuerlicher Herkunft vom romantischen Volkstümler zum jako­ binischen Berufsrevolutionär, der die wichtigsten Programmtexte seiner Gruppe verfasst und die Anschlagsserien gegen den Zaren generalstabs­ mäßig geleitet hatte. Alle diese Eigenschaften im K ­ ader einer neuen Par­ tei von Berufsrevolutionären zu vereinen – «das ist es, wovon wir träu­ men müssen!»3 Es waren also zwei ganz unterschiedliche politische Traditionen, die Lenin zu vereinen suchte: die eines Sozialismus marxistischer, also deut­ scher, Prägung und die eines tief verwurzelten, aus ganz eigenen älteren Vorstellungen gespeisten russischen Intelligenzija-Radikalismus. Letzte­ rem kam in der Entstehung und Formierung der Partei zunächst der Pri­ mat zu. Leo Trotzkis Studie «Der junge Lenin», geschrieben 1936 im mexikani­ schen Exil, geht der Frage noch einmal nach, wie aus Wladimir Uljanow eigentlich der historische «Lenin» geworden ist. Diese Frage müsste alle, die der Entstehung und Geschichte des modernen Kommunismus nach­ gehen, beschäftigen. Mit Stalin, der zu Recht von sich sagte, dass die bolschewistische Partei ihn erschaffen und erzogen habe, und den man als den Prototyp eines Lenin’schen Berufsrevolutionärs betrachten kann, verhält es sich schon etwas anders; und mit Mao oder Ho, Tito oder Kim, Ulbricht oder Gottwald, die alle im engeren oder weiteren Kraft­ feld der bereits existierenden kommunistischen Weltbewegung in ihre Führerrollen geschlüpft sind, noch einmal anders. Trotzki zeichnet den jungen Uljanow als ein «gesetzmäßiges» Produkt der materiellen und geistigen Geschichte Russlands und seiner revolu­ tionären Intelligenzija, die sich in Lenins Genie vollendet habe.4 Lässt man die Überdeterminiertheiten einmal beiseite, die dem Geschichtsund Gesellschaftsdenken Trotzkis in all seiner literarischen Phantastik ­eigen waren, dann ist an seiner Feststellung allerdings etwas dran. Wladi­ mir Uljanow alias Lenin war ein geradezu exem­plarisches Produkt der multinationalen Reichsgesellschaft und der in ihr herangewachsenen Bil­ dungsschichten, aus denen sich immer neue Generationen einer «revolu­ tionären Intelligenzija» mit eigenen Charakteristiken herausgelöst haben. Das beginnt mit seiner Herkunft aus der Familie des geadelten Schul­ inspektors Ilja Uljanow in Simbirsk an der Wolga, einer Verwaltungsund Garnisonsstadt, die Mitte des 17. Jahrhunderts als kolonialer Vor­ posten zur Erschließung der Räume Sibiriens gegründet worden und zur Zeit von Wladimirs Geburt 1870 geradezu das Inbild einer russischen

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Provinzhauptstadt von etwa 40 000 Seelen war. Von der auf dem «euro­ päischen» hohen Ufer des Stroms als «Barriere gegen Asien» errichteten Stadt ging der Blick in eine Ebene, die «in die unermessliche Weite des Ostens überleitet» – so Trotzki, der ohne Scheu alle Register einer my­ thisch-imperialen Raumbeschreibung zog. Lenins Antipode im Revolutionsjahr 1917, der Sozialrevolutionär und Kopf der prowestlichen Provisorischen Regierung, Alexander Kerenski, der ein Sohn des Simbirsker Schuldirektors und jüngerer Schulkamerad der Uljanow-Brüder gewesen war, hielt in seinen eigenen Erinnerungen allerdings dagegen: «Niemand behaupte, dass Lenin die Verkörperung irgendeiner angeblich asiatisch-russischen Elementargewalt sei. Ich wurde unter dem gleichen Himmel geboren, ich atmete die gleiche Luft, ich hörte die gleichen Lieder der Bauern und  … sah vom gleichen hohen Ufer der Wolga die weiten Felder.»5 Dass Wladimir wie seine fünf Geschwister von väterlicher Seite einen Schuss kalmückischen (mongolischen) Bluts mitbekommen hatten, war ein im Detail unklares, im Prinzip aber offenes Familiengeheimnis und physiognomisch kaum zu übersehen; was nichts daran änderte, dass der zum «Wirklichen Staatsrat», also in den Beamtenadel erhobene Schul­ inspektor Ilja Uljanow seine Kinder im Geiste einer aufgeklärten, aber strikten russischen Orthodoxie zu erziehen suchte, die er von seinem ­Vater, einem geschäftstüchtigen Schneider in Astrachan, übernommen hatte. Unorthodox war allerdings sein Wirken als unermüdlicher, auf­ klärerisch gesinnter Schulreformer und Modernisierer, der, ganz im Geiste seiner Generation, aus den Naturwissenschaften eine Art welt­liche Pa­ rallelreligion machte. Seine (wie es hieß) einer deutsch-schwe­dischen Kaufmannsfamilie in Petersburg entstammende Frau, Maria Blank, hatte bei der Heirat ihre lutherische Konfession aufgeben müssen, erzog ihre Kinder umso mehr aber mit deutschem Brauchtum und europä­ ischer Bildung in Literatur, Musik und Sprachen. Das trug wohl dazu bei, dass die Uljanow-Geschwister nach dem Tod des Familienober­ haupts allesamt ihren Väterglauben ablegten. Ein tieferes Familiengeheimnis war, dass ein Zweig der Blanks assi­ milierte, ursprünglich aus dem Ansiedlungsrayon stammende Juden ­waren – eine Spur, die sich durch die Taufe von Marias Vater Alexander (Israel) Blank verloren hatte, der es zum beamteten Militärarzt und (wie sein Schwiegersohn) zum erblichen Adelstitel eines «Staatsrats» ge­ bracht hatte. Wladimirs Schwester Anna hat das nach eigenem Bekun­ den 1897 bei einem Besuch der Schweizer Verwandten erfahren  – die

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­ brige Welt allerdings erst nach der Öffnung der sowjetischen Archive in ü den frühen 1990 er Jahren, als die Familiendokumente Lenins zutage ­kamen, zusammen mit Briefen, die Anna Uljanowa nach dem Tod ihres Bruders 1924 an die Parteiführung und ein zweites Mal 1932 an Stalin persönlich gerichtet hatte. Angesichts der untergründig grassierenden antisemitischen Stimmungen in Partei und Volk hatte sie naiverweise vorgeschlagen, die teilweise jüdische Herkunft des verstorbenen und vergötterten Führers bekannt zu machen, und war beide Male mit einem scharfen Verbot belegt worden, darüber auch nur zu sprechen.6 Wladimir selbst scheint auf diese Mitteilung seiner Schwester, die sie ihm nach seiner Rückkehr aus der Verbannung 1899 machte, eher ge­ schmeichelt als schockiert reagiert zu haben. So wenig ihn das Judentum als solches interessierte oder gar angezogen hätte, so positiv stand er dem jüdischen Ferment innerhalb der russländischen Gesellschaft wie der eigenen Partei gegenüber. Gorki berichtet, dass ihm Lenin einmal ­gesagt habe: «Wir sind ein überwiegend begabtes Volk, aber unsere Mentalität ist träge. Ein gescheiter Russe ist fast immer ein Jude oder je­ mand mit einer Beimengung jüdischen Bluts.»7 Gut möglich, dass in diese nach Lenins Tod 1924 verfasste Huldigung Gorkis eigener Philosemitismus mit einfloss, der ihn gelegentlich zu frag­ würdigen anthropologischen Betrachtungen verführte. Mit ihrem «hero­ ischen» Idealismus «alles erforschend und hinterfragend», hätten die ­Juden «einen Lichtstrahl in die dunklen Abgründe des Lebens fallen» lassen. Eben deshalb hätten sie «bei der Geburt jener Geißel der Mäch­ tigen, der Religion der Massen, des Sozialismus», Pate gestanden. Und weil sie «als psychologischer Typus den Russen kulturell überlegen und schöner sind als diese», aber auch als Arbeiter viel «geschickter und leis­ tungsfähiger» seien, verfolge sie das Ressentiment der Unfähigen und der Groll der dumpfen Massen.8 Lenin war zu keinen vergleichbaren Exaltationen über seine jüdischen «Beimengungen» fähig. Seine deutsche Erziehung und seine Herkunft aus dem östlichen Grenzland des Vielvölkerreichs dürften ihn kulturell weitaus stärker geprägt haben. Für ihn waren das alles ohnehin nur ­Elemente eines viel größeren Projekts: der revolutionären Verwandlung ­eines «aus den Angeln gehobenen» Imperiums in ein völlig neuartiges politisches Großgebilde, für das es noch keinen Namen und Begriff gab. Für den Prozess der (letztlich angestrebten) «Verschmelzung der Na­ tio­nen», ebenso wie für die der Arbeiter und Intellektuellen, waren aller­ dings jüdische Kader, die in der Auslöschung ihrer sozialen und natio­

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nalen Bindungen von beispielhafter Radikalität waren, so ziemlich der beste «Rohstoff». Einer zur Macht gekommenen bolschewistischen Par­ tei würden sie neben den von Lenin besonders geschätzten deutschen ­Tugenden wie Ordnungssinn, Disziplin und technischem Verständnis den ebenso unverzichtbaren Einschuss formbarer Intelligenz, polyglotter Bildung sowie weltrevolutionärer Leidenschaft zuführen, eben jenen Tropfen «jüdischen Bluts», den das begabte, träge Russland nun einmal brauchte. Wie aus dem jungen, politisch eher indifferenten Wladimir Uljanow der Mann wurde, von dem sein früher Mentor und späterer Kritiker Pawel Axelrod resigniert gesagt hat: es werde schwerlich einen zweiten Men­ schen auf der Welt geben, «der während vierundzwanzig Stunden des Tages so sehr von der Revolution in Anspruch genommen ist, dass er selbst im Schlaf von nichts anderem träumt»9, ist klar zu bestimmen. Alle Biografen sind sich insoweit einig: Es war das rätselhafte Vorbild seines älteren Bruders Alexander, der eines Tages – für die Familie voll­ kommen unerwartet  – als führendes Mitglied einer Gruppe verhaftet wurde, die versucht hatte, den Zaren Alexander  III. mit Hilfe dreier selbstgebauter, vergifteter Bomben zu ermorden, und zwar am 1. März 1887, bei der jährlichen Trauerfeier für dessen sechs Jahre zuvor ermor­ deten Vater Alexander II. Von den dreizehn angeklagten Mitgliedern der Gruppe, darunter drei Frauen, wurden sieben zum Tod durch den Strang verurteilt, zwei in letzter Minute begnadigt. Alexander Uljanow war nicht unter den Begnadigten. Seine führende Rolle sowohl beim Bau der Bomben wie bei der Orga­ nisation des Attentats war durch Aussagen von Mitangeklagten und Zeugen wie durch Indizien klar erwiesen. Außerdem war er der Autor eines in aller Hast entworfenen Manifests, das die Tat hätte begründen sollen und in dem die Gruppe sich den pompösen Namen «Terroristi­ sche Fraktion der Partei des Volkswillens» (der Narodnaja Wolja) zu­ legte. Bei den Polizeiverhören hatte Uljanow, um Gefährten den Strick zu ersparen, die «volle moralische und geistige Verantwortung» über­ nommen, obwohl er sich der Gruppe in Wirklichkeit erst kurz zuvor und mit großen Bedenken angeschlossen hatte. «Diese Offenheit ist wirklich rührend!», bemerkte Alexander III., be­ vor er das Todesurteil abzeichnete.10 Seit Peters Zeiten lasen die Zaren die Verhörakten der Verschwörer oder Attentäter, die ja fast alle aus dem Milieu ihres Adels, ihrer Beamtenschaft, ihres Militärs und aus den füh­

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renden Bildungseinrichtungen ihres Landes stammten. Manchmal leite­ ten die Zaren sogar selbst die Verhöre und legten in letzter Instanz die Strafen fest. Stalin würde es später genauso machen – nur dass die terro­ ristischen Anschläge gegen ihn und seine Satrapen großteils paranoide Er­findungen, die Listen der Verdächtigten, Verhafteten und Verurteilten hundertfach länger, die erfolterten Geständnisse absurder und seine Randbemerkungen ungleich gröber und obszöner waren. In der langen Liste der russischen Terroristen dieser Zeit wird man schwerlich jemanden finden, der die Verbindung von Moralismus und Vernichtungsbereitschaft so rein verkörperte wie der stille Alexander ­Uljanow. In dem Geheimprozess beeindruckte er alle mit einer elaborier­ ten, «wissenschaftlich» begründeten Rechtfertigung des Terrors – so wie überhaupt auffiel, dass diese Gruppe erstmals den Begriff des «Terroris­ mus» positiv für sich reklamierte. Noch seine letzten Worte enthielten eine trotzige Warnung an den Zaren: «In Russland wird es immer kleine Gruppen von Leuten geben, die ihren Ideen so ergeben sind und das Elend ihres Heimatlandes so leidenschaftlich empfinden, dass sie kein Opfer darin sehen, für ihre Sache zu sterben. Es ist unmöglich, solche Menschen abzuschrecken.»11 Obwohl diese, auch «Zweiter Erster März» (nach dem symbolträchti­ gen Datum des früheren Attentats) genannte Gruppe in den Annalen des russischen Terrorismus nur eine Randnotiz gebildet hat, war sie doch so etwas wie ein Konzentrat des russischen Intelligenzija-Radikalismus, der – angefangen mit dem Putschversuch der «Dekabristen» 1825 – fast ein Jahrhundert der Geschichte dieses Imperiums in immer steigender Intensität ausgefüllt hat. Erst der rote und weiße Massenterror des Bür­ gerkriegs von 1918 bis 1921 hat die von Lenin und den Bolschewiki als «individueller Terror» abgetane Politik der Attentate und Verschwörun­ gen gegen die Autokratie in den Schatten gestellt und ihre letzten Vertre­ ter aus den Reihen der konkurrierenden Partei der Sozialrevolutionäre (SR) mit Haut und Haaren eliminiert, zumal deren Anschläge sich jetzt gegen seine, Lenins Autokratie und die seiner Partei richteten.

Die Profile des Terrorismus Es lohnt sich, die Physiognomie der Gruppe Alexanders und dessen eige­ nen Werdegang näher anzusehen. Im Herbst 1886, gleich nach dem Tod seines Vaters, hatte er sich an oppositionellen Studienzirkeln und einer

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verbotenen Kundgebung in Petersburg beteiligt, war mit Dutzenden an­ derer festgenommen und verwarnt worden. Der 21-Jährige hatte gerade erst eine exzellente, auf Laboruntersuchungen an Würmern und Seespin­ nen beruhende, aus dem Geist der darwinistischen Evolutionstheorie ge­ speiste Examensarbeit vor den Eminenzen der russischen Naturwissen­ schaften verteidigt und war dafür ausgezeichnet worden. Doch statt die glänzende wissenschaftliche Karriere anzutreten, die die Familie und der tote Vater für ihn vorgesehen hatten, ließ er sich von jenem Geheimzirkel rekrutieren, der durch seinen Initiator, einen Kaufmannssohn namens Schewyrjow, bereits ganz auf das Ziel eines neuen, zweiten Zarenmords fixiert war. In den drei Monaten, die es noch bis zum festgesetzten Attentatster­ min dauerte, engagierte Alexander sich, trotz expliziter Bedenken und offenbar von einer Art Pflichtgefühl gegenüber der einmal gewählten Gruppe erfüllt, mit aller Energie im Bau der aufwendig konstruierten Bomben, die mit Strychnin präparierte Metallsplitter und Schrotkugeln freigeben und eine verheerende tödliche Wirkung in einem großen Ra­ dius entfalten sollten. Auch die Bombenwerfer selbst konnten ihr kaum entgehen. Mit anderen Worten: Es handelte sich um ein Unternehmen, das Züge eines Selbstmordanschlags trug. Zwei der Attentäter trugen die Bombe in einer Aufhängung direkt am Leib, während der dritte sie in einem ausgehöhlten Lehrbuch versteckt hatte; für den unwahrschein­ lichen Fall ihres Überlebens hatten sie Gift bei sich. Dass die Sache fehlschlug, hatte mit einer Verspätung der kaiserlichen Equipage zu tun, vor allem aber mit den verstärkten Sicherheitsvorkeh­ rungen, nachdem die Ochrana (die vier Jahre zuvor gegründete neue Ge­ heimpolizei mit ihrem «Schwarzen Büro» zur Postüberwachung) einen Brief abgefangen hatte, in dem einer der Bombenwerfer, unter Pseudo­ nym, einem Freund über «den Wert und die Vorteile des roten Terrors» geschrieben hatte. Überhaupt standen sie fast alle längst unter polizei­ licher Beobachtung; nur waren sie nicht die einzigen Verdächtigen und operierten in einem größeren Geflecht mit Dutzenden Helfern. Jedenfalls waren die Gendarmen, die die auffällig gewordenen jungen Männer ­einen nach dem andern entlang der Strecke festnahmen, vollkommen überrascht und tödlich erschrocken, als sie die fertigen Bomben bei den Attentätern entdeckten. Der mit dem präparierten Lehrbuch konnte im Polizeirevier sogar noch seine Bombe werfen, aber der Zünder versagte. Die Aufdeckung des Komplotts war für die Zarenfamilie, die vollstän­ dig hätte ausgelöscht werden können, ein Schock. «Oh Gott! Was für ein

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Riesenglück, dass wir entkamen», notierte der 18-jährige Thronfolger Nikolai in sein Tagebuch. Alexander  III. selbst, der hünenhafte, ent­ schlossene Reaktionär, fürchtete vor allem den Prestigeverlust, den das Bekanntwerden des erneuten Anschlags bedeutete, und hätte die Atten­ täter am liebsten ohne Prozess und öffentliches Aufsehen in der Festung Schlüsselburg verrotten lassen. Er musste sich jedoch den Gepflogenhei­ ten beugen und zumindest einen Geheimprozess vor einem handverlese­ nen, zum Schweigen verpflichteten Publikum zulassen. Dass die britische «Daily News» einen Informanten im Saal hatte, war nicht das einzige Leck, aus dem Informationen durchsickerten. Die fünfzehn Angeklagten sowie ihre Helfer und Kontaktleute waren ein eindrucksvolles Abbild der vielfarbigen Reichsgesellschaft. Mehr­ heitlich stammten sie aus dem Beamten- und Militäradel oder waren Kinder betuchter Kaufleute; einige waren aber auch Aufsteiger aus klein­ bürgerlichen oder bäuerlichen Verhältnissen. Sie kamen wie der Groß­ teil der Revolutionäre dieses Zeitalters nicht aus einer der Hauptstädte (Petersburg und Moskau), sondern von der Peripherie des Reiches, und unterhielten dorthin ein Netz von Kontakten. Mit ins Gruppenbild ge­ hörten wie in jeder revolutionären Organisation dieser Zeit einige Polen, so der Bombenbauer Lukaschewitsch (den Uljanow deckte, sodass er dem Galgen entging), und die beiden aus dem Schlachta-Adel stammen­ den Brüder Pilsudski, die das Gift besorgt und expediert hatten (Josef, der ältere, würde später als der Führer der neuen Polnischen Republik zu einem der energischsten Gegenspieler Lenins werden). Zu den üblichen Verdächtigen gehörten schließlich einige Juden aus dem Ansiedlungs­ gebiet, darunter die im Outfit einer Nihilistin (Bauernbluse und kurzge­ schnittene Haare) auftretende und Alexander Uljanow wohl romantisch verbundene Raissa Shmidova, die als Hebamme in den Vororten und im Umland von Petersburg für eine ländliche Selbstverwaltung (Semstwo) arbeitete, so wie die beiden anderen angeklagten Frauen auch, die aber Russinnen aus gutem Hause waren. Der Kern der insgesamt zwei Dutzend Personen umfassenden Gruppe bestand aus angehenden Naturwissenschaftlern, Ökonomen, Juristen und sogar einem Theologen; allesamt gehörten sie zur neuen Bildungs­ elite des Reiches. Ihre Hochschulen, Akademien, Seminare, Studenten­ buden, Wohnheime und Versammlungsorte und selbst Alexanders erste Bombenwerkstatt lagen in unmittelbarer Nähe, teilweise in Sichtweite des Winterpalastes und der Regierungsgebäude, einschließlich des Hauptquartiers der Gendarmerie und der Ochrana. Alles spielte sich

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also (wie schon der Aufstand der «Dekabristen» 1825 oder wie später die Revolution 1917) auf sehr engem Raum ab, im Zentrum Petersburgs, fast wie auf einer offenen Theaterbühne  – ein Umstand, der Alexan­ der  III. in seinen ersten Regierungsjahren bewogen hatte, seinen Regie­ rungs- und Hauptwohnsitz zeitweise nach Gatschina (45 Kilometer süd­ lich der Hauptstadt) zu verlegen. Im Vorwort zur russischen Ausgabe des «Kommunistischen Manifests» von 1882 hatten Marx und Engels den neuen Zaren bereits als einen «Kriegsgefangenen der Revolution» bezeichnet, was stark übertrieben, aber eindrücklich war.12 Die «Revolution» – das waren noch immer die versprengten Reste der Narodnaja Wolja (der Name bedeutet zugleich «Volkswille» und «Volks­ freiheit»), von deren Weiterexistenz im Untergrund das Regime, die Stu­ denten und auch die westliche Öffentlichkeit halb zu Recht und halb zu Unrecht noch immer ausgingen. In der kurzen Zeit ihrer Existenz als ­einer landesweiten Geheimorganisation zwischen 1879 und 1881 hatte sie ihre nach Hunderten zählenden Aktiven und nach Tausenden zählen­ den Sympathisanten in drei Kreise gegliedert: in einen ersten, äußeren Kreis lokaler Unterstützer und Helfer, einen zweiten, mittleren der regu­ lären Mitglieder, und in einen dritten der professionellen Revolutionäre, geleitet von einem «Exekutivkomitee», das Manifeste e­ rließ, ein Zentral­ organ druckte und sich fast wie eine Gegenregierung mit Forderungen an den Zaren selbst und seine Regierung wandte. Es gab einen «Zentra­ len Militärzirkel» aus Offizieren sowie einen «Zentralen Universitätszir­ kel» für Studenten und Dozenten. Aber auch einige «Arbeiterzirkel» wurden ins Leben gerufen, ein eigenes «Programm der Mitglieder aus der Arbeiterklasse» aufgestellt und im Dezember 1880 in einer «Arbei­ terzeitung» publiziert – wobei auch die Bauern darin als «Arbeiter» an­ gesprochen wurden. Nachdem die Narodowolzen den Zaren Alexander  II. im siebten ­Anlauf buchstäblich mit der letzten Bombe und dem letzten Mann end­ lich doch noch «hingerichtet» hatten, am 1. März 1881, wandte das ver­ bliebene Exekutivkomitee (unklar, ob von Russland oder vom Ausland aus) sich in einem ultimativen, aber auch werbend gehaltenen Schreiben an den Thronfolger: Wenn er eine liberale Verfassung gewähre, werde man fortan mit friedlichen Mitteln weiterkämpfen. Stattdessen eröffnete Alexander III. den Krieg neu, baute eine schlag­ kräftige Geheimpolizei auf, wie sie zu dieser Zeit kein Land der Erde ­besaß, und ließ unter ihrem Petersburger Chef Georgi Sudeikin (einem

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Ex-Radikalen) und mit Hilfe des zum Verräter gewordenen Mitglieds des Exekutivkomitees der Narodnaja Wolja, Sergej Degajew, fast alle noch in Freiheit befindlichen Mitglieder des inneren Zirkels der Organi­ sation verhaften. Aber dann in einer weiteren, eines Dostojewski-­ Romans würdigen Wendung hatte 1883 ein neues Exekutivkomitee un­ ter dem aus Sibirien geflohenen, illegal nach Russland zurückgekehrten Herman Lopatin diesen Verräter gezwungen oder überredet, den Poli­ zeichef in die Falle zu locken und ihn eigenhändig zu töten.13 Im Jahr ­da­rauf freilich war dann auch Lopatin, Übersetzer des Marx’schen «Ka­ pital» und ehedem russischer Vertreter in der Internationalen Arbei­ ter-Assoziation in London, als der neue Chef verhaftet worden. Damit war die Organisation am Ende; nur dass viele ihrer unentdeckten oder in der Verbannung lebenden Veteranen sich weiterhin als Mitglieder be­ trachteten und neue Rekruten sammelten. Einer von diesen war der Student der Militärisch-Medizinischen Aka­ demie Sergej Nikonow, der Uljanow in einen Studienzirkel für Ökono­ mie eingeführt hatte, Wochen oder Monate, bevor dieser dann in den engeren Kreis der Verschwörer geriet. Nach Nikonows Schätzung ge­ hörten von den rund 2200  Studenten der Petersburger Hochschulen nicht weniger als 1500 zu den studentischen «Landsmannschaften» (semljatschestwy). Ursprünglich Selbsthilfe- und Geselligkeitsvereine, hatten sie seit den 1860 er Jahren immer wieder ein Agitationsfeld für ­revolutionäre Organisationen gebildet, waren polizeilich eng überwacht und von der Universitätsleitung nach Möglichkeit unterdrückt worden; was wiederum den allgemeinen Oppositionsgeist anstachelte. Jeder Stu­ dienzirkel, jede größere Versammlung, jeder selbstorganisierte Mittags­ tisch und jedes Fest trug so das Signum einer irgendwie gefährlichen und verbotenen Tätigkeit. Das war der Humus, auf dem das revolutionäre Zirkelwesen immer neu spross. Dass die ebenso sinnlose wie dilettantische Tat und der heroisch hin­ genommene Opfertod seines Bruders Alexander für den 17-jährigen Wladimir Uljanow ein Schlüsselereignis gewesen ist, bedarf keiner Be­ gründung, aber einer näheren Betrachtung. Alexanders vor der Familie völlig geheim gehaltene Tat, für die er seine Mutter bei ihrem letzten Be­ such im Gefängnis kniefällig um Verzeihung bat, geschah nicht zufällig unmittelbar nach dem frühen Tod des Vaters; sie zerstörte das Uljanow­ sche Familienprojekt auf einen Schlag.14 Alles Gewicht hatte darin auf einer intensiven Bildung und Selbstbil­

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dung der sechs Kinder (drei Mädchen und drei Jungen) gelegen. Es war ein Aufstiegs- und Erziehungsprojekt, das von beiden Elternteilen mit liebevoller Strenge und im Geist eines asketischen Pflichtbewusstseins vertreten wurde. Immerhin hatten der jüdische Großvater Alexander Blank als Sohn eines galizischen Schankwirts genau wie sein Schwieger­ sohn Ilja Uljanow als Sohn eines kalmückischen Schumachers sich vor allem durch Bildung weit nach oben gearbeitet und es zu einem an­ spruchsvollen Beruf und an­gesehenen Status gebracht – ein Weg, der in der nach Ständen und Rängen gegliederten, aber sozial und ethnisch durchlässigen Reichsbürokratie durchaus offen stand, sofern man sich zur orthodoxen Staatsreligion bekannte und dienstliche Loyalität wahrte. Während Maria Uljanowa über den Schulunterricht hinaus als Haus­ lehrerin ihrer Kinder wirkte, war ihr Mann im Simbirsker Gouverne­ ment, das die Größe eines europäischen Kleinstaats hatte, rastlos und wochenlang mit Kutschen oder Schlitten unterwegs, um neue Dorfschu­ len und höhere Lehranstalten zu gründen, Lehrer zu rekrutieren und Kinder in die Schulen zu bringen – mit beeindruckenden Erfolgen, aller­ dings gegen lebhafte Widerstände aus reaktionären Adelskreisen wie aus bäuerlichen Milieus. Auf Alexander als dem Ältesten, aber wohl auch Begabtesten hatten die höchsten Erwartungen der Eltern geruht – die er bis zur Selbstver­ leugnung erfüllte, indem er sich, dem fast religiösen Szientismus ­seines Vaters folgend, mit fanatischer Hingabe auf die Naturwissenschaften stürzte. Darüber war er immer monomaner und verschlossener gewor­ den, in einer Weise, die er selbst als abnorm und zwanghaft empfand. Diese quälende Isolation dürfte ihn neben allen politischen Motiven und Überzeugungen dazu getrieben haben, sich in die Welt der ­oppositionellen Zirkel zu begeben, dann für den Kreis der Attentäter rekrutieren zu las­ sen und schließlich, als alles aufflog, die Verantwortung auf sich zu laden. Das trug in Vielem selbstzerstörerische Züge. Der vier Jahre jüngere, als Jugendlicher eher impulsive und extrover­ tierte, an Literatur und Musik, Sport und Schach interessierte Wladimir durchlief, als sein älterer Bruder verhaftet und hingerichtet wurde, eine sichtbare Persönlichkeitsveränderung. Er wurde «düster beherrscht, strikt und verschlossen», wie sein jüngerer Bruder Dimitrij sich erin­ nerte, machte wie ein Automat noch ein exzellentes Abitur – nur um sich anschließend mit verbissener Energie in die ihm verschlossen ge­ bliebene Gedankenwelt des heroisch gestorbenen Bruders hineinzuar­ beiten.

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Bis dahin war er, immerhin schon 17 Jahre alt, durch keinerlei politi­ sche Interessen oder oppositionelle Ansichten aufgefallen, so wenig wie seine übrigen Geschwister. Das war in der aufgewühlten Atmosphäre, in der sie aufwuchsen, nicht selbstverständlich. Schließlich hatten sie im März 1881 an den schulischen Trauerfeiern teilgenommen, die dem er­ mordeten Zaren Alexander II. galten. Sie müssen auch vorher schon die Serie der immer dichteren, immer kühneren, immer spektakuläreren An­ schläge der mysteriösen, scheinbar allpräsenten Geheimorganisation verfolgt haben, die sich «Volkswille» nannte. Konnte es irgendetwas geben, das jugendliche Phantasien mehr hätte beschäftigen müssen als diese fühlbare Erschütterung eines ganzen, ­autokratischen Staatswesens durch eine kleine, entschlossene Organisa­ tion von professionell zu Werke gehenden Revolutionären; oder als die Bilder der öffentlichen Hinrichtung der Zarenmörder, unter ihnen der jungen, aus höchstem Reichsadel stammenden Sofja Perowskaja, die mit ihrem Geliebten, dem aus dem Bauernstand stammenden, zum Intel­ lektuellen und Berufsrevolutionär gewordenen Andrej Scheljabow, das Führungsduo der Gruppe bildete? Die plausibelste Erklärung für die politische Abstinenz der Uljanow-Kin­ der ist, dass sie mit dem von vielen Seiten beargwöhnten und behinder­ ten Volksbildungsprojekt ihres Vaters hoch identifiziert waren, während sie in einer weitgehend abgeschirmten Binnenwelt mit Hauskonzerten, Lesungen und Familienausflügen aufwuchsen. Nur Alexander scheint sich in seinen letzten beiden Gymnasialjahren in Simbirsk insgeheim schon in die Gedankenwelt der radikalen Intelligenzija hineingelesen zu haben. Er ließ sich vor allem wohl von der Figur des «nihilistischen» Intelli­ gent faszinieren, dem der Kritiker Dmitri Pissarew (der dafür mit 4 Jah­ ren Festungshaft büßte) 1865 eine Heldenrolle als «Das denkende Prole­ tariat» zugeschrieben hatte, aus dem «neue Menschen» entspringen würden. Diese folgen ganz ihrem Intellekt und fassen die menschliche Physiologie, das Denken und Fühlen, genau wie die übrige Natur völlig rational auf. Sie «sündigen nicht und bereuen nicht», eben weil sie eine übergeordnete Moral nicht mehr brauchen. Sie sind gerade darin «ein­ zigartig», dass sie ohne jeden sentimentalen Altruismus, in unbedingter Nüchternheit «eine Passion für die Arbeit zum allgemeinen Wohl der Gesellschaft entwickelt haben»; sodass alles, was «ihnen persönlich von Nutzen ist, mit dem Wohl der Gesellschaft übereinstimmt», während

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«ihr Intellekt in völliger Übereinstimmung mit ihren Gefühlen ist».15 Das war unter dem Deckmantel eines in bewusst einfache Aussagesätze gefassten, strikten Materialismus natürlich eine durch und durch sozial­ religiöser Gospel, dem Tschernyschewskis Roman «Was tun?» eine etwas heiterere Note verlieh. Aber ebenso zogen die zwischen Verbrechen und Heiligkeit changie­ renden Romanfiguren Dostojewskis den jungen Uljanow früh in ihren Bann. Und selbst das karikaturhafte Bild der «Dämonen», der von ­bösen Geistern besessenen, von Hass und Selbsthass, Liebe und Lastern zer­ fressenen Konspirateure, das der zum orthodoxen Ultra-Monarchisten gewordene Dostojewski in sehr freier Interpretation nach den Akten des aufsehenerregenden Mordprozesses 1872 gegen den Ultra-Nihilisten Sergej Netschajew und seine Gruppe gezeichnet hatte, wirkte offensicht­ lich auf ihn keineswegs abschreckend, so wenig wie auf andere seiner Generation. Dass Dostojewski selbst als Mitglied des konspirativen Diskussions­ zirkels der «Petraschewzen» 1849 zum Tod durch Erschießen verurteilt und in letzter Minute erst begnadigt worden war, dass er Jahre in dem von ihm beschriebenen «Toten Haus», einem sibirischen Gefängnis, und ein weiteres Jahrzehnt in der Verbannung v­ erbracht hatte, bevor er vom neuen Zaren Alexander  II. in Gnaden wieder aufgenommen und zeit­ weise zu einem der Erzieher seines Sohnes, des Thronfolgers, bestimmt wurde, das alles war natürlich bekannt. Ob es freilich stimmte, wie kol­ portiert wurde, dass der mittlerweile welt­berühmte Schriftsteller 1880 der Hinrichtung eines der Narodowolzen in der aufgewühlten Menge beigewohnt hatte, und dass er geplant habe, in einer Fortsetzung seiner «Brüder Karamasow» den jüngsten und reinsten, den Priesterschüler ­Aljoscha, zum Terroristen werden zu lassen, ist nicht sicher bezeugt. Es zeigt freilich anekdotisch, wie miteinander verklebt die aus der Intelli­ genzija stammenden Revolutionäre sogar noch mit ihren vehementesten literarischen Antipoden und entschlossensten polizeilichen Verfolgern (unter ihnen viele Ex-Revolutionäre) ­jederzeit waren und blieben. Iwan Turgenjew, der in seinem Roman «Väter und Söhne» 1861 erst­ mals in Gestalt seines Basarow den Prototypus eines «Nihilisten» auf die literarische Bühne gestellt hatte, nur um zu erleben, dass dessen ruppiger Stil und betont verwahrloster Habitus im jungen Publikum ganz gegen seine Intention Kult wurden, schrieb 1878  – wieder in ahnungsvoller Antizipation der bevorstehenden Zuspitzungen – ein Prosagedicht «Die Schwelle». Eine junge Revolutionärin (man stellt sich vor: vom Typ der

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«geschorenen Weiber», wie die Aktivistinnen der Narodniki wegen ihrer Schmucklosigkeit und kurzen Haare gehässig bezeichnet wurden) steht vor einem düsteren allegorischen Gebäude, aus dem eine hohle Stimme sie anspricht  – wie ein Jüngstes Gericht oder ein Weltgericht der Ge­ schichte –, um ihre Bereitschaft zu prüfen: Ob sie wisse, dass sie nicht nur jede Art von Leiden und Entbehrungen auf sich zu nehmen, sondern selbst Verbrechen zu begehen haben werde, auf die Gefahr hin, ihr Han­ deln am Ende als Selbstbetrug zu erkennen, also umsonst getötet und sich und ihre Seele geopfert zu haben? Als das Mädchen mit zitternder Stimme erklärt, dass sie all das weiß und dennoch bereit ist – tritt sie über die Schwelle, ein Vorhang fällt hinter ihr, und von irgendwo ruft es: Närrin! Aber eine andere Stimme antwortet: Heilige!16

Der sich fortschreibende Roman Die eigentümliche Sonderwelt der russischen «Intelligenzija» verdient es, noch einmal etwas näher in den Blick genommen zu werden. Der Be­ griff selbst, der der deutschen «Intelligenz» am nächsten kam, aber nicht ganz entsprach, war erst zu Beginn der 1860 er Jahre, am Beginn einer neuen Welle radikaler Oppositionen, in den Sprachgebrauch eingewan­ dert. Sehr bald gab es die stolze Singularform eines «intelligent», der sich vorzugsweise das Gewand der «rasnotschinjez», der «Standes­losen» anzog, was eher Selbstzuschreibung als soziologische Herkunftsbestim­ mung war. Zwar entsprach dieser russische «Intelligent» in etwa dem französischen «intellectuel» oder deutschen «Intellektuellen», nur wa­ ren das Charakterfiguren, die in Westeuropa erst seit der Dreyfus-­Affäre in den 1890 er Jahren mit einer derart prononcierten Bedeutung verwen­ det wurden. Anders in Russland, wo die Rede von der «Intelligenzija» – im Sinne einer besonderen gesellschaftlichen Größe oder geradezu «Sonder­ klasse» – sich schon viel früher und viel intensiver mit einer Fülle geistes­ geschichtlicher Bezüge aufgeladen hatte, verkörpert durch eine Galerie geistiger Heroen und politischer Märtyrer, deren Wirken und Schicksal sich den Spätergeborenen als eine höchst gegenwärtige und moralisch verpflichtende, dabei sich immer noch fortsetzende Folge von Erzählun­ gen und Dichtungen, Bildern und geheiligten Orten aufdrängte. Nichts und niemand ging in diesem imaginären Pantheon verloren, das in stalinistischer Zeit noch einmal reaktiviert und mit gesteigerter

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Üppigkeit ausgemalt wurde: Nicht der so mutige wie unglückliche Ale­ xander Radisch­tschew zum Beispiel, der 1790 von der Zarin Katharina für seinen Vers-Roman «Reise von St. Petersburg nach Moskau» zum Tode verurteilt und zu zehn Jahren Zwangsarbeit begnadigt worden war und in der Verbannung Selbstmord beging. Immerhin war in Radisch­ tschews Poem nicht nur das Sklaventum der Bauern und der Zynismus der Aristokratie (der er selbst angehörte) gebrandmarkt worden. Son­ dern dort war auch schon zu lesen: «Ein Heer der Rächer wird erstehen, / Die, von der Hoffnung jäh entflammt, / Dereinst die Schande tilgen werden / Im Blut der Quäler allesamt. Frohlockt, Gefesselte und Knechte: / Man führt kraft angebornem Rechte / Den Zaren selbst auf das Scha­ fott.»17 Überwältigend präsent blieb auch der Aufstandsversuch der «Deka­ bristen» im Jahr 1825, die Verschwörung junger Offiziere der kaiser­ lichen Garde. Als Teilnehmer der antinapoleonischen Feldzüge «nach Europa» gekommen, hatten sie sich mit den Ideen der französischen Aufklärung und der Gefühlswelt der deutschen Romantik vollgesogen und nach ­ihrer Rückkehr in Geheimbünden organisiert, wie sie sich in der Restaurationsperiode nach 1815 allenthalben ausbreiteten. Der neue Zar Nikolai I. sollte während der Krönungsfeiern festgesetzt, seinem bei der Thronfolge übergangenen älteren Bruder Konstantin sodann eine ­liberale Konstitution oktroyiert werden. So sah es der Plan des «Nördlichen Bunds» der Dekabristen vor, wäh­ rend die Offiziere des «Südlichen Bunds» forderten, den Zaren an Ort und Stelle zu ermorden und die Monarchie durch eine demokratische Republik zu ersetzen. Ihr ideologischer Kopf Paul von Pestel (Sohn einer deutschen Offiziersfamilie in russischen Diensten) hatte dafür bereits eine Verfassung entworfen, die halb einem jakobinischen Muster, halb dem Idealbild eines altrussischen Gemeinrechts, einer «Russkaja Pra­ wda», folgte. In Pestels Schriften tauchte (Jahre vor Blanqui) auch schon die Vorstellung einer Diktatur der Aufgeklärten auf, die ihre Macht­ vollkommenheit erst nach 8–10 Jahren an einen aus allgemeinen Wahlen hervorgegangenen «Volksrat» (eine «wjetsche», etymologisch dem spä­ teren «sowjet» verwandt) abgeben sollte. Die Leibeigenen sollten befreit und das gesamte Land hälftig zwischen bäuerlichem Gemeinbesitz hier und Staatsgütern für die fiskalischen Bedürfnisse dort aufgeteilt werden (dem sowjetischen Modell von Kolchosen und Sowchosen von Ferne schon verwandt). Der Aufstand scheiterte im Ansatz. Nikolai selbst leitete die Nieder­

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schlagung, bei der Hunderte Aufständische niederkartätscht wurden, und auch die Verhöre der 125 dingfest Gemachten, der Blüte des russi­ schen Adels und des Gardekorps. Und er selbst präsidierte auch der ­öffentlichen Hinrichtung der als Rädelsführer identifizierten Fünf und befahl unbarmherzig (gegen den Brauch) neue Stricke, als die alten we­ gen der Eisenkugeln an den Füßen der Gehenkten rissen – während die 120 anderen, zu lebenslanger Zwangsarbeit oder ewiger Verbannung Verurteilten sich in Ketten nach Sibirien aufmachten, begleitet von ihren tapferen Frauen, einige aus dem ältesten Adel des Reiches. Das alles prägte sich unauslöschlich ein, wurde in Dichtungen von Puschkin oder Mickiewicz weitergetragen und gewann in Abbildungen wie dem Titel­ bild von Alexander Herzens dreißig Jahre später erschienenen Almanach «Polarstern» Klassizität. Herzen, unehelicher Sohn und Erbe eines Adeligen, hatte sich dieser Legende selbst anverwandelt, als er behauptete, als dreizehnjähriger Gymnasiast mit seinem Freund Nikolai Ogarjow auf den Sperlingsber­ gen über Moskau feierlich geschworen zu haben, ihr gesamtes Leben dem Erbe der Dekabristen zu weihen. Und siehe: «Die Sonne, die, Mos­ kau beleuchtend,  … unseren Jünglingsschwur mit sich genommen hatte,  … sie trat nach zwanzigjähriger Nacht wieder hervor», schrieb Herzen 1855 in sein Poesiealbum, als Nikolai  I. starb, und machte sich damit en passant zehn Jahre jünger. In seiner Druckerei, der «Freien Russischen Presse» in London, brachte er neben dem «Polarstern» spä­ ter eine Zeitung, «Die Glocke», heraus, deren Titel im Geiste Pestels die altslawische Legende von der zur «wjetsche», zur Volksversammlung, rufenden Glocke zitierte. Als die ersten, außerhalb der Reichweite der zaristischen Zensur er­ scheinenden Publikationen haben der «Polarstern» und die «Glocke» Epoche gemacht. Mit ihnen begann der aus dem Exil wie im Innern Russlands geführte große Kampf um eine freie Presse, den es auch in vie­ len anderen Ländern Europas gegeben hat, aber nirgends mit so revolu­ tionären Konsequenzen wie im russischen Zarenreich. Das hing nicht nur am besonders rigorosen System der russischen Zensur, die bis 1905 als «Vorzensur» operierte, ein System, das in England, Frankreich, ­Österreich und den deutschen Ländern seit den 1840 er Jahren von der Dynamik des Presse- und Verlagswesens und vom Lesehunger des Publi­ kums unterspült und außer Kraft gesetzt worden war. Der revolutionäre Charakter dieses Kampfs um eine freie, unzensierte Öffentlichkeit hing in Russland auch damit zusammen, dass ein Teil der

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zaristischen Hofgesellschaft und Bürokratie einschließlich der Zensoren selbst mit der dissidenten Intelligenzija liebäugelte. «‹Die Glocke ist eine Macht›, sagte  … Katkow zu mir in London», fuhr Herzen in seinem ­Lebensbericht «Erlebtes und Gedachtes» fort: Die Zeitung liege «als Informationsquelle in der Bauernfrage» bei Mitarbeitern der kaiser­ ­ lichen Reformkommission auf dem Tisch; aber auch «die Generale aus den Reihen der Liberalen, die Liberalen aus den Reihen der Staatsräte, die nach Fortschritt dürstenden Hofdamen und die literaturbeflissenen Flügeladjutanten» verschlängen das Blatt.18 Das berichtete Herzen eben jener Michail Katkow, der damals noch ein Liberaler war, bevor er in den 1860 er Jahren zum machtvollsten pu­ blizistischen Verfechter der Autokratie und eines fanatischen Panslawis­ mus mutierte und damit zum Vertreter einer offensiven Konter-Intelli­ genzija, die ihre eigenen Fanatismen und Dämonen hervorbrachte und auf ihre Weise zur Radikalisierung beitrug. So hatte zu den illustren Gründern der neuen Zensur- und Repressionsorgane auch ein kosmo­ politischer Intel­lektueller namens Iwan Liprandi gehört. Als ein spani­ scher Adelsspross hatte er sich in der Zeit der Napoleonischen Kriege den russischen Auslandsdiensten zur Verfügung gestellt, später in Russ­ land naturalisiert und als Spezialist für orientalische Sprachen, Literatu­ ren und Politik ab den 1830 er Jahren wissenschaftlich qualifiziert, um schließlich im Innenministerium Karriere zu machen. Zugleich war er ein enger Freund ­Alexander Puschkins, über den er schützend die Hand hielt, als der, wegen seiner Verwicklung in die Dekabristen-Verschwö­ rung vom Zaren nur hauchdünn begnadigt, buchstäblich um die Luft zum Atmen kämpfen musste. Aber zur gleichen Zeit tat derselbe Liprandi sich als amtlicher Verfol­ ger aller intellektuellen oder religiösen Häresien hervor. Er selbst war es, der den (vollkommen harmlosen) Lesezirkel um Michail Petraschewski 1847/48 infiltrierte und vor die Gewehrläufe lieferte – zu jener Schein­ hinrichtung, die für die Teilnehmer, darunter Dostojewski, in letzter Se­ kunde mit Begnadigung und Verbannung endete. Und wie könnte man das hysterisch-neurasthenische Romanpersonal dieses Autors nicht mit dieser eben existentiellen Erfahrung in Zusammenhang sehen? Der Zarismus war im 19. Jahrhundert kein exzessiv blutrünstiges Re­ gime; aber er verstand es, seine tatsächlichen oder vermuteten Wider­ sacher zu zerbrechen oder sich gefügig zu machen. So verflochten sich zahllose Schlüsselszenen der russischen Literatur zu einem sich ständig fortschreibenden Familien- oder Gesellschaftsroman, in den immer neue

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Generationen hineinsozialisiert wurden. Es war dieses poetisch verdich­ tete Spannungsfeld, in dem der existentielle Radikalismus der russi­ schen Intelligenzija mit seinen terroristischen Einschüssen immer neue Extreme erreichte, die zum Auslöser der sozialen Eruptionen von 1905 und 1917 wurden. Das dazu passende Dilemma des Zarentums hat der russische Finanz­ minister und kurzzeitige Ministerpräsident Graf Witte, der eigentliche Architekt einer mit kapitalistischen Mitteln vorangetriebenen Moderni­ sierung Russlands, in seinen posthum veröffentlichten Erinnerungen in den lakonischen Satz gefasst: «Bildung verursacht soziale Revolution, aber Unbildung führt zu Niederlagen im Kriege.»19 Zum Modernisierungs- und Industrialisierungsprogramm, das in den 1880 er Jahren, mitten in der politischen Reaktionszeit, begann, gehörten neben dem Eisenbahnbau, den forcierten Rüstungen und der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht auch die rapide Expansion der Bildungs­ einrichtungen sowie die Alphabetisierung der Bevölkerung. Gab es 1877 im ganzen Reich nur rund 10 000 Volksschulen, so waren es 1913 mehr als 40 000. Die Zahl der Studenten in den höheren Bildungseinrichtungen stieg von einigen Tausend am Ende der 1880 er Jahre auf bis zu 120 000 im Jahr 1914. Aber inmitten dieser Bildungsexplosion war die Stimmung an den Universitäten noch immer so, wie Alexander Kerenski, der kurz vor der Jahrhundertwende in Petersburg ein Jurastudium aufnahm, es berichtet hat: Kaum hatte er die Studentenuniform angezogen, zählte er, eben noch ein schwärmerischer Monarchist, sich wie alle in seiner Umgebung zu den «Feinden der Autokratie … Dies schien ein natürlicher Vorgang.» Die «einzige ungeklärte Frage blieb, wo man die rechte Lehre finden werde – bei den Marxisten oder bei den Narodniki».20 Das herkömmliche, in sowjetischer Zeit noch einmal festgezurrte Bild eines überzähligen akademischen Proletariats, «Rechtsanwälte ohne Pra­ xis, Lehrer ohne Schulen, Geistliche ohne Pfründe  …, Chemiker ohne Laboratorien, Techniker, Ingenieure, Statistiker, für die die Industrie ­ keine Verwendung hatte»21, ist neueren Forschungen zufolge eher frag­ würdig: «Bis zum Ende des Zarenreichs gab es einen aufnahmefähigen Markt für geistige Arbeit. Das betraf sowohl die akademische … und erst recht die technische intelligencija». Der Mangel an Fachleuten war so groß, dass Tausende Polen, Balten und Westeuropäer ins Land geholt wurden. Dazu kam eine neue «Semstwo-Intelligenz», Ärzte, Volksschul­

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lehrer, Statistiker usw., die im Rahmen der expandierenden ländlichen Selbstverwaltung tätig waren (ein Drittel davon Frauen). Dieser Gruppe gehörten schon um 1900 Zehntausende mit gehobener Qualifikation an. Ein expandierendes Verlagswesen, das in der Bücherproduktion mit den fortgeschrittenen europäischen Ländern (mindestens nach absoluten Zahlen) Schritt hielt, über hundert zentrale und lokale Tageszeitungen, moderne illustrierte Blätter sowie ein Dutzend anspruchsvoller «dicker Zeitschriften» stellten ein beachtliches Betätigungsfeld für Autoren, Journalisten, Illustratoren usw. Selbst die legalen oder halblegalen, im Inland oder im Ausland gedruckten sozialistischen Blätter zahlten Ho­ norare, von denen einige der exilierten Revolutionäre (wie Lenin oder Trotzki) zeitweise leben konnten. Und weil das Russische Reich eng mit dem westlichen Europa verflochten war, gab es am Vorabend des Kriegs­ ausbruchs fast 10 000 Übersetzer.22 Fasst man den Bildausschnitt noch weiter, ist von einer russischen Kunst und Literatur zu berichten, die sich gerade in den zwei, drei Jahr­ zehnten vor 1914 zu einem «geistigen Weltwunder» (Thomas Mann) und Exportschlager entwickelte, mit Tourneen, Ausstellungen und Lese­ reisen in alle Welt. Überall in Europa, in den Künstlervierteln der Haupt­ städte wie in den Universitätsorten, vor allem in der Schweiz und in Deutschland, trafen die Künstler auf Tausende Landsleute, viele von ­ihnen junge Juden oder höhere Töchter, die wegen eines restriktiven Numerus clausus an den Universitäten des Zarenreichs abgewiesen ­ worden waren, aber von ihren Eltern ein Auslandsstudium bezahlt be­ kamen. Bare materielle Zwänge und existentielle Notlagen können den spezifischen Radikalismus der russischen Intelligenzija nicht wirklich erklären.

Moralisch-literarische Initiationen Nach dem Tod Alexanders verwandelte die Familie Uljanow sich ange­ sichts des Misstrauens ihrer Umgebung vollends in eine verschworene Gemeinschaft. Maria Uljanowa verkaufte das Simbirsker Haus und zog sich mit ihren Kindern zunächst auf das Hofgut Kokuschkino zurück, den Sommersitz, der mit seinen 300 «Seelen» (als Arbeiter und Pächter verpflichteten ehemaligen Leibeigenen) ein Zusatzeinkommen zur Wit­ wenrente lieferte. Gleich nach dem Tod ihres Mannes hatte sie sich von der Simbirsker Adelsversammlung bestätigen lassen, dass sie und ihre

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Kinder auch in Zukunft den rechtlichen Status von «Angehörigen des Erbadels» besaßen. Im Jahr darauf übersiedelte die ganze Familie dann nach Kasan, wo Wladimir, jetzt der Älteste an der Seite seiner Mutter, dank eines Leu­ mundszeugnisses des Schulrektors Kerenski, der ein Freund der Familie war, einen Studienplatz erhalten hatte. Allerdings beteiligte er sich, kaum eingeschrieben, ganz in der Spur seines hingerichteten Bruders an De­ monstrationen, wurde arrestiert und verhielt sich so provokant, als habe er bezweckt, was unweigerlich folgte: eine Relegation, die auch für alle übrigen Universitäten des Reiches galt. So selbstzerstörerisch das wirkte und so sehr Wladimir damit nun ebenfalls alle Brücken hinter sich zu verbrennen schien – er war doch aus anderem Holz als sein Bruder geschnitzt. Wenn ihn am Handeln Alexan­ ders etwas empört hatte, dann war es der planlose, individualistische und defätistische Charakter dieser Tat – aus deren Bann er sich zu lösen suchte, indem er wie besessen die Bücher, die sein Bruder gelesen hatte, nun seinerseits las, um daraus eigene Schlussfolgerungen zu ziehen. Neben Hegel-Fragmenten und Schriften von Marx, darunter angeb­ lich auch schon «Das Kapital» (über dem Alexander in seinem letzten Sommer in Kokuschkino gebrütet hatte), war Wladimirs erste und ein­ dringlichste Lektüre Tschernyschewskis Erziehungsroman «Was tun?», ein Buch, das ihn, wie er später einem Parteigenossen erzählte, buchstäb­ lich «umgepflügt» und sein «ganzes Leben verändert» habe – eine For­ mulierung, die auf ein echtes, allerdings ziemlich spätes Erweckungs­ erlebnis schließen lässt.23 So kurios der heutige Leser die Verbindung zwischen dem verklemmten Erotismus, puritanischen Hedonismus und materialistisch drapierten Romantismus dieser angestaubten «Erzählun­ gen von neuen Menschen» von 1863 und dem strengen revolutionären Utilitarismus des Lenin’schen «Was tun?» von 1902 finden wird, so sehr zeigt diese demonstrative Inanspruchnahme das Bedürfnis einer Tradi­ tionsbildung, die dem Intelligenzija-Radikalismus der vergangenen Jahr­ zehnte ausdrücklich verbunden blieb. Noch kurioser: Die Gestalt des Romans, die Lenins Phantasie in erster Linie gefesselt hat, taucht nur ganz kurz und schemenhaft auf: ein hü­ nenhafter Kraftmensch namens Rachmetow aus halbtatarischem Beam­ tenadel, der immer wieder für lange Jahre verschwindet, die er Gerüch­ ten zufolge mal bei den Wolgaschleppern («im Volk»), mal im Ausland («im Exil») verbracht hat; ein «Rigorist», wie er sich selbst nennt, der in einem betont starren Ja/Nein- oder Nützlich/Nutzlos-Schema denkt,

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liest und argumentiert, allen Genüssen einschließlich der Liebe entsagt hat, mit Ausnahme von Zigarren, billigem Obst, rohem Fleisch und wis­ senschaftlicher Literatur, und der als Nagelprobe (um sich für Foltern zu stählen?) wie ein Fakir auf einem Drahtbett schläft. Wie unwahrscheinlich bis zur Albernheit diese Gestalt oder Ungestalt auch ist – sie hat ihren Lesern als Schema eines «Berufsrevolutionärs» gedient, in dem sowjetische Literaturwissenschaftler später den Proto­ typus eines bolschewistischen Kaders entdeckten. Man staunt über die Unbefangenheit, mit der auch späte DDR-Autoren noch Tschernyschew­ skis Lehre von den «drei Stufen der Menschwerdung» als eine etwas ­idealistische, aber fortschrittliche soziale Anthropologie referiert haben. Danach gliederte die Gesellschaft sich wie die Figuren des Romans in drei Kategorien von Menschen, die verschiedene Evolutionsstufen dar­ stellten: erstens in «niedrige Menschen» wie die besitzgierige, kleinbür­ gerliche Mutter der Hauptheldin Wera Pawlowa; zweitens in «neue Menschen» wie die sich emanzipierende und sozial engagierende Heldin mit ihren beiden, selbstlos einander ablösenden, ansonsten ganz in Beruf und Wissenschaft aufgehenden Ehemännern; drittens in «höhere Men­ schen», Übermenschen und revolutionäre Aristokraten wie den schemen­ haften Rachmetow.24 Ob der 18-jährige Wladimir Uljanow damals tatsächlich schon be­ schlossen hatte, ein solch «höherer Mensch» zu werden, kann offen blei­ ben. Bis zu seinem Eintritt in die revolutionäre Politik vergingen jeden­ falls noch weitere fünf, sechs Jahre. Immerhin schienen seine nächsten Schritte von einer gewissen methodischen Überlegtheit geprägt. Er un­ terstützte seine Mutter in dem Versuch, durch unermüdliches Anticham­ brieren in höchsten Regierungskreisen doch noch eine Zulassung als ­externer Student an der Universität in Petersburg zu erreichen, die er ­Anfang 1890 auch tatsächlich bekam. Entgegen seinen früheren musi­ schen Neigungen hatte er sich für die Rechtswissenschaften entschieden, ein Fach, das in Russland auch politische Ökonomie und Gesellschafts­ kunde umfasste.25 Er unterbrach daraufhin für anderthalb Jahre seine ziellosen autodidaktischen Lektürekampagnen und begann für ein Jura-­ Examen zu büffeln, das er Ende 1891, ohne eigentlich studiert zu haben, als Jahrgangsbester erfolgreich absolvierte. Im Frühjahr 1892 erhielt er seine Zulassung als Anwalt in Samara, wo die Uljanows inzwischen lebten. Hier nahm er wie früher in Kasan spo­ radisch an Debatten sozialistischer Zirkel teil, in denen Volkstümler ­(einige mit der Aura von Veteranen des Terrorismus) und frischgeba­

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ckene «Marxisten» miteinander diskutierten, ohne dass beide Richtun­ gen klar getrennt gewesen wären. Von jedem ernsteren Engagement hielt er sich fern, zeigte allenfalls sporadische Streitlust und einige Belesenheit in Fragen der politischen Ökonomie. Von einem entschlossenen Revolu­ tionär und orthodoxen Marxisten war noch wenig zu sehen. Wann also ist aus der Larve des zwanzigjährigen Bücherwurms der ge­ schlüpft, den alle Welt später als «Lenin» kennen sollte? Weder seine Lektüren noch das Schicksal seines Bruders und die daran anschließen­ den Verfolgungserfahrungen bieten eine ausreichende Erklärung für den unerschöpflichen politischen Hass, der Lenin auszeichnete  – ein Hass, der von Anfang an keineswegs nur der zarischen Autokratie, sondern mit noch größerer Heftigkeit schon der sich herausbildenden bürgerli­ chen Gesellschaft galt, der er selbst zugehörte. Der Punkt, an dem wir den jungen Wladimir Uljanow – jedenfalls in indirekter Überlieferung  – zum ersten Mal mit einer Stimme sprechen hören, die der des späteren Führers der Bolschewiki zumindest ähnelt, fällt mit einem dramatischen Wendepunkt der Geschichte Russlands zu­ sammen: der großen Hungersnot des Jahres 1891/92, in deren Zentrum er selbst sich unvermutet wiederfand. Und dabei scheint gerade jenes Moment sozialer Erfahrung eine Rolle gespielt zu haben, das über seinen bisherigen Lebenshorizont hinausreichte. Man muss noch einmal kurz zurückgehen: Im Frühsommer 1889 war der Familienclan der Uljanows von Kasan aufs Land übersiedelt. Maria Alexandrowna hatte unter Einsatz aller Finanzmittel bei Samara ein grö­ ßeres Landgut von 300 Hektar mit einer Getreidemühle erworben, auf dessen Terrain das Dorf Alakajewka mit 84  Familien und mehreren Hundert «Seelen» lag. Das war eins von vielen Gütern, die der reiche Erbe und liberale Volksfreund, bedeutende Entdecker und Wissenschaft­ ler Alexander Sibirjakow in agrarische Mustergüter hatte verwandeln wollen, die auf Basis einer modernisierten Dorfgemeinschaft arbeiten sollten. Als ihm die Sache über den Kopf wuchs, hatte er diese Güter an sozial engagierte Volkstümler oder an Familien wie die Uljanows, von denen er erwartete, dass sie sein Reformprojekt fortführen würden, günstig verpachtet oder weiterverkauft. Wladimir sollte nach den Plänen seiner Mutter diesen potentiell luk­ rativen, aber auch sozial verpflichtenden Agrarbetrieb als Manager lei­ ten und so bis auf Weiteres den Familienunterhalt sichern. Aber die Beziehungen mit den Dorfbewohnern gestalteten sich, wie er später ­

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wortkarg einräumte, von Anfang an «abnormal». Die Bauern hatten die Ankunft der unerfahrenen neuen Besitzer offenbar genutzt, um Vieh und Inventar des Guts beiseitezuschaffen, und zeigten sich bei der «Abar­ beit», zu der sie verpflichtet waren, ebenso unwillig wie als bezahlte Lohnarbeiter oder Knechte. Angebote, ihre Kinder kostenlos zu unter­ richten, schlugen sie aus. Wladimir seinerseits scheint aber auch keiner­ lei Versuche gemacht zu haben, mit ihnen in engeren Kontakt zu kom­ men, sondern ging lieber jagen und vertiefte sich in seine Lektüren. Binnen eines halben Jahres gaben die Uljanows das Projekt wieder auf. Den größten Teil des Bodens verpachteten sie an die Bauern, so wie die meisten anderen Gutsbesitzer es auch taten, und beauftragten einen professionellen Verwalter, die Pachtzahlungen für sie einzutreiben, wäh­ rend sie selbst sich im nahen Samara niederließen. Das Gutshaus nutzten sie noch einige Jahre als Sommerfrische, bevor sie es mitsamt seinen Gärten und der Mühle an einen Unternehmer von jenem Schlag verkauf­ ten, für den sich der vieldeutige, wohl aus dem Tatarischen stammende Begriff «Kulak» eingebürgert hatte. Das Ganze erwies sich als ein lehrreiches und letztlich sogar rettendes Abenteuer: Der «Kulak», der Gutshof und Mühle gekauft hatte, wurde 1905 von den verschuldeten Dörflern erschlagen, während der Berufs­ revolutionär Lenin auch im Exil von den eingetriebenen Pachteinnah­ men, dann von den Zinsen aus dem Verkauf des Gutes seinen Lebensun­ terhalt mitbestreiten konnte.26 Zugleich dürfte er in den vier Sommern in Alakajewka Eindrücke vom russischen Dorf und den Bauern gesammelt haben, die seine Ansichten über die Agrarfrage und die Rolle der Bauern in einer kommenden Revolution entscheidend vorprägten. Und vor allem mit Studien über Kapitalismus und Landwirtschaft etablierte Uljanow sich ab 1894 als ein neuer theoretischer Kopf und polemischer Kritiker der Volkstümler-Ökonomen in den sozialistischen Zirkeln Petersburgs. Man muss diese episodische Erfahrungsbasis in ihren lebendigen ge­ schichtlichen Kontext stellen: Denn während seiner Studien- und Muße­ zeiten im Gutshaus von Alakajewka 1891/92, wo er zuerst Jura, dann ökonomische Fachtexte und dann immer verbissener Marx und Marxis­ mus paukte, fand er sich tatsächlich im Auge eines Orkans wieder – eben der großen Hungersnot, die sich genau hier, in den Gebieten der mittle­ ren Wolga von Nishnij bis nach Samara, entwickelte. Ringsum waren Millionen Bauern fast ein Jahr lang gezwungen, sich von «Hungerbro­ ten» aus Stroh, Gräsern und Baumrinde zu ernähren, während sie wie

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Gespenster auf der Suche nach Essbarem über Land zogen oder frierend und sterbend in ihren zugigen, düsteren Hütten lagen. Über das, was er damals gesehen und erfahren hat, hat Lenin nie ge­ sprochen. Sicher belegt scheint, dass er auch in der Zeit der Hunger­ katastrophe auf Ablieferung der Pachtzahlungen bestanden hat und dass er noch im Jahr darauf einige Dörfler wegen neuerlicher Übergriffe auf das Gutseigentum verklagte.27 Gleichzeitig trat er in Versammlungen in Kasan und Samara strikt gegen jede Beteiligung an den Hilfskomitees auf, die damals zu Tausenden in ganz Russland ins Leben gerufen wur­ den, um sich dem Massensterben entgegenzustemmen. Auch seine Schwes­ ter Anna zu begleiten, die in den Lazaretten der Stadt als Hilfsschwester arbeitete, lehnte er zu ihrer Verwunderung ab.28 Das war also die erste selbständige politische Stellungnahme, die von dem späteren Lenin überliefert ist – und sie lief diametral gegen die Strö­ mung dieser großen zivilgesellschaftlichen Aufbruchsbewegung, die im Weiteren zur Entstehung politischer Parteien, einer breiteren Öffentlich­ keit und vielseitiger Formen einer sozialen Selbstorganisation jenseits der hierarchischen Staatsgesellschaft geführt und damit Russland ent­ scheidend verändert hat.29 Lenins Gegner und etliche Biografen haben darin ein frühes, bezeich­ nendes Beispiel für eine politische Haltung gesehen, die angesichts der objektiven Gesetze der Klassenentwicklung und des sozialen Fortschritts moralische Indifferenz zur Tugend erhob;30 und sie haben das mit dem nahezu obsessiven Gebrauch von Worten wie «mitleidlos», «unbarm­ herzig» usw. in Lenins Direktiven während der Bürgerkriegsjahre in Be­ ziehung gesetzt. Als dieser Bürgerkrieg 1921/22 in einen regelrechten Bauernkrieg überging und in eine neue Hungerkatastrophe mündete, die noch verheerender war als die von 1891/92 und weitere Millionen das Leben kostete, da ließ Lenin wieder nur halbherzige und von stetem Misstrauen begleitete nationale und internationale Hilfsmaßnahmen zu – insoweit ganz dem Zarenregime folgend, aber vor allem seiner eige­ nen, früheren Position treu. Mehr noch: Er ließ diesen Massenhunger sich wie einen Prozess sozialdarwinistischer Auslese ausrasen. Erst dann legte er das Ruder herum. Trotzki hat in seiner Lenin-Studie, sicherlich mit Blick auf die Politik des Sowjetregimes, die er selbst mitvertreten hatte, die Haltung des jun­ gen Wladimir Uljanow in der Hungerkatastrophe von 1891/92 zu einem frühen, überlegenen Akt politischer Klarsicht s­tilisiert. «Die Marxis­ ten», angeführt von ihrem exilierten Vordenker Plechanow, hätten sich

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damals keineswegs gegen jede Hilfe für die Hungernden gestellt, aller­ dings «gegen die Illusion, man könne mit dem Löffel der Philanthropie das Meer der Not ausschöpfen» – statt ihr mit einer Revolution abzuhel­ fen. Somit sei genau an diesem schicksalhaften Wendepunkt die Biogra­ fie des jungen Uljanow mit der Geschichte Russlands verschmolzen und seine persönliche geistige Entwicklung «mit der objektiven Folgerichtig­ keit des Herannahens der revolutionären Situation des Landes» zusam­ mengefallen. So sei «unter dem Deckmantel der Reaktion der künftige Führer des revolutionären Volkes» herangereift. Von dieser ersten, abso­ lut selbständigen politischen Stellungnahme ausgehend habe Wladimir Uljanow in den darauf folgenden Jahren dann begonnen, «den Marxis­ mus zu verwenden, wie der Zimmermann Axt und Säge».31 Dieser erstaunlichen Formulierung, die offenkundig auf den «Zar als Zimmermann», also auf Peter den Großen anspielte, möchte man fast nicht widersprechen. Vielleicht hatte Trotzki, als er das schrieb, jene Pas­ sage im Ohr, in der Lenin im Frühjahr 1918 seinen Parteiarbeitern das Programm der neuen Sowjetmacht erläutert hatte: Aufgabe der Bolsche­ wiki an der Macht sei es, mit aller Energie dem Vorbild des Zaren Peter zu folgen, «der die Übernahme der westlichen Kultur durch das barbari­ sche Russland beschleunigte, ohne dabei vor barbarischen Methoden des Kampfes gegen die Barbarei zurückzuschrecken».32

3. Marx in Russland

Das kaudinische Joch des Kapitalismus

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ie und warum ausgerechnet im «halbasiatischen» Russland ein dogmatischer Marxismus zur dominierenden und schließlich so­ gar absolut gesetzten Ideologie wurde, die ihren schlagendsten Ausdruck in Lenins absurder, autosuggestiver Phrase von 1913 fand: «Die Lehre von Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist»1 – diese Frage ist philologisch kaum zu beantworten. Dabei gab es für die zur Macht gekommenen Bolschewiki genug Heik­ les in den Werken von Marx und Engels über Russland und das Zaren­ reich. Zu den Todsünden des Marx-Herausgebers Rjasanow, die zu ­seiner von Stalin persönlich betriebenen Entlassung, Verhaftung und Er­ schießung führten, gehörte neben seinen wiederholten offenen Einsprü­ chen gegen die Politik der Partei (den Terror, die Zensur, das sklavische Nachbeten), dass er auch einen Gutteil der Russland-Schriften von Marx und Engels zugänglich gemacht hatte: so ihre 48 er-Aussichten auf einen «Weltkrieg des Westens gegen den Osten»; ihre gegen den Panslawismus gerichteten, von weltpolitischen Verschwörungsvorstellungen getrie­ benen, teilweise slawophob-russophoben Artikel, Ausarbeitungen und Kampagnen aus den 1850/60 er Jahren, in denen das Leitmotiv der «halb­ orientalischen Despotie» variiert worden war; oder die Rundbriefe, An­ klagedossiers und Exzerpte, die die beiden im Zuge ihres erbitterten Kampfs mit dem «Erzrussen» Bakunin und seiner halbanarchistischen «Allianz» verfasst hatten. Mit am heikelsten waren schließlich ihre be­ tont uneindeutigen Stellungnahmen zu den Streitigkeiten zwischen Volks­ tümlern und «Marxisten». Fast immer machte in diesen Texten der Ton die Musik. Hört man in die ex­emplarische Auseinandersetzung mit Bakunin hinein, etwa an­ hand der grimmigen Notate, die Marx sich 1874 zu dessen spätem Hauptwerk «Staatlichkeit und Anarchie» gemacht hat, findet man sich im Spiegelkabinett eines Kulturkampfs, der mehr mit den unterschied­ lichen national- und sozialkulturellen Prägungen zu tun hat als mit prin­ zipiellen weltanschaulichen Kontroversen.

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Alle projektiven Feindbilder der beiden erscheinen unmittelbar spie­ gelverkehrt. Wenn Marx im russischen Zarentum die bedrohliche Vor­ macht der europäischen R ­ eaktion sah, die mit hundert Tentakeln in die deutsche und europä­ische Politik hineinregierte, dann war für Bakunin «Berlin mit Bismarck sichtbares Haupt und Residenz der Reaktion in Europa», und die Deutschen waren die «Herren» in Russland. Wo Marx den Panslawismus als Instrument des großrussischen Imperialismus sah, da war es in Bakunins Augen das «pangermanische» Reich, das «durch die Lippen seines großen Kanzlers den Krieg auf Leben und Tod der so­ zialen Revolution» erklärt hat. Hielt Marx den verwahrlosten Bohemien Bakunin für einen faktischen, wahrscheinlich bezahlten Agenten des Za­ ren innerhalb der westeuropäischen Arbeiterbewegung, so stand für Ba­ kunin hinter Bis­marck schon «Marx, sein Konkurrent und Neider, und hinter ihm alle Führer der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands». Denn: «Im deutschen Blut, im deutschen Instinkt, in der deutschen Tra­ dition ist die Leidenschaft der staatlichen Ordnung und Disziplin.» Bei den von Natur aus «unpolitischen» Slawen sei es gerade umgekehrt: «Um sie zu disziplinieren, muss man sie unter dem Stock halten, wäh­ rend jeder Deutsche … freiwillig den Stock essen würde.» So war für Bakunin auch die Marx’sche Grundidee einer gesellschaft­ lichen Ordnung, die sich auf die freiwillige Kooperation der industriell geschulten Lohnarbeiter stützte, nur der Keim eines künftigen, perfek­ tionierten Staatswesens – während Marx im berüchtigten Revolutions­ katechismus von Bakunins Intimus Netschajew die Predigt «blinden, unbedingten Gehorsams … gegenüber Befehlen, die … von einem unbe­ kannten, namenlosen Komitee kommen», fand. Und wenn in Schriften von Netschajews «Gesellschaft des Volksgerichts» die «Konzentrierung aller Mittel der sozialen Existenz in den Händen unseres Komitees und die Proklamierung der Verpflichtung zur physischen Arbeit für alle» ge­ fordert wurde – was anderes war dies als ein totalitärer «Kasernenkom­ munismus»!2 In internen Aufzeichnungen und sicher auch in mündlichen Erklärun­ gen (Bakunin war ein Mann der Rede, nicht der Schrift) rechnete der alte, müde Berufskonspirateur und rassenstolze Abkömmling ­ einer altrussischen Adelsdynastie, Marx und dessen Fraktion, die «Marxia­ ner», mittlerweile einer «jüdischen Welt» zu, die eine «ausbeuterische Sekte, ein Blutegelvolk, einen einzigen fressenden Parasiten bildet, eng und ­intim nicht nur über Staatsgrenzen hinweg, sondern auch über alle Verschiedenheiten der politischen Meinungen hinweg»; und mehr noch:

3. Marx in Russland

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Er ging davon aus, dass «diese jüdische Welt … einerseits Marx, ande­ rerseits Rothschild zur Verfügung» stand, dass hier also die geheime Quelle der Übermacht seines Gegenspielers innerhalb der Internationale lag, in der dieser mit Hilfe von «deutschen und anderen Juden» ein «Korps hierarchisch organisierter Agenten» aufgebaut und seine persön­ liche Diktatur errichtet hatte, als Vorgriff auf seine Diktatur über ganz Euro­pa. Ob Marx mit seinem Ohr an der Buschtrommel der Internatio­ nalen Arbeiter-Assoziation das alles entgangen ist (in seinen Notaten spielt es jedenfalls keine Rolle), muss dahingestellt bleiben.3 Marx war auf diesem Ohr gleichzeitig taub und hellhörig. Wer ihn als Juden an­ griff, konnte sich seiner absoluten Verachtung sicher sein, bekam aber niemals die Genugtuung einer Antwort auf dieser Ebene. Jedenfalls entsprachen Bakunins Tiraden exakt jenen Zwangsvorstel­ lungen, die man bei allen Ideologen des neuen Antisemitismus dieser Zeit findet, in der Regel allerdings auf der extremen Rechten, bei der «Action Française» und den Dreyfus-Anklägern, bei den Pogromisten der russischen Schwarzhunderter und in äußerster Zuspitzung später bei den deutschen Nationalsozialisten. Aber auch einige Gruppen und Ver­ treter des europäischen Sozialismus waren (in den Spuren Fouriers oder Proudhons) vom Gespenst einer jüdisch-plutokratischen Herrschaft durchaus beeindruckt oder hatten zumindest wenig Lust zu widerspre­ chen. So hielt ein Gutteil der französischen Sozialisten, gerade auch des «marxistischen» Flügels um Guesde, sich in der Dreyfus-Affäre eher neutral, im Unterschied zu Jaurès. Und selbst die Versuche der führen­ den deutschen Sozialdemokraten, dem virulenten Antisemitismus inner­ halb und außerhalb der Partei entgegenzutreten, machten nicht selten bedenkliche Zugeständnisse, fielen eher schwach und zweideutig aus, so wie in August Bebels auch als Broschüre verbreiteter Grundsatzrede von 1893 mit ihrer bekannten Formel vom Antisemitismus als dem «Sozia­ lismus der dummen Kerls».4 Umso bemerkenswerter ist es, dass in der sozialistischen und demo­ kratischen Opposition Russlands, einschließlich ihrer über ganz Europa verstreuten Exilgruppen, gleich ob Volkstümler, Liberale oder Sozial­ demokraten, dieser moderne Antisemitismus nur einen sehr geringen Widerhall gefunden hat, vielleicht weil er in Russland allzu sehr Regie­ rungssache war. Und was Bakunin betrifft, der 1875 starb, so konnte er zwar als der Gründervater eines internationalen, vor allem in West- und Südeuropa virulenten Anarchismus gelten; aber in seinem Heimatland hatte er nach der düsteren Netschajew-Affäre kaum noch Einfluss. Der

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russische Anarchismus, der in den 1890 er Jahren unter dem Einfluss des dissidenten Fürsten Pjotr Kropotkin wiederauflebte, war jedenfalls un­ gleich aufgeklärter und unfanatischer als das Evangelium einer «allumfas­ senden Zerstörung» und entfesselten «Volksrache», das Michail Bakunin gepredigt hatte. Auf einen vollkommen anderen Ton des Respekts waren die öffentlichen und informellen Äußerungen gestimmt, mit denen Marx, Engels und die deutschen Sozialdemokraten den Auftritt der jungen russischen Volks­ tümler, der Narodniki, in den 1870 er Jahren begleiteten, und erst recht die Aktivitäten der aus dieser idealistischen Jugendbewegung hervor­ gegangenen Untergrundpartei der Narodnaja Wolja inklusive ihres Ter­ rors gegen die höchsten Machtträger. Dieser Terror sei ganz und gar den russischen Verhältnissen geschuldet, und daher könne man mit ihm so wenig rechten «wie mit dem Erdbeben auf Chios», schrieb Marx seiner Tochter; und er rühmte die vor dem Tribunal stehenden Attentäter um Scheljabow als «durch und durch tüchtige Leute …, einfach, sachlich, heroisch».5 Darin zeigte sich eine späte, aber tiefgreifende Änderung seiner Hal­ tung gegenüber Russland. Wie viele europäische Beobachter seit den ein­ flussreichen Reiseberichten des Marquis des Custine, «Russische Schat­ ten»6 (von 1839), war Marx von einer tief verwurzelten Übereinstim­ mung zwischen Autokratie, Orthodoxie und Volk ausgegangen. Und wenn dieser orientalische Sklavengeist von Zeit zu Zeit einmal durch einen blindwütigen Aufstand der Leibeigenen und Vaganten durch­ ­ brochen wurde, also den legendären russischen «bunt» (Aufruhr), wie ­Bakunin ihn so delirant beschworen hatte, dann hatten diese anarchi­ schen Aufstände sich regelmäßig als noch despotischer, noch barbari­ scher herausgestellt als die Despotie selbst, wie zu Zeiten Katharinas in der Person des Bauernzaren Jemeljan Pugatschow, der seine Dekrete mit «Peter III.» unterschrieb. Die sozialhistorische Unterlage zu diesem geläufigen Russlandbild war der alte Topos der «(halb)orientalischen» Despotie und Produktions­ weise  – eine Kategorie, die Marx nur rudimentär weiter ausgearbeitet und für Russland mit eher willkürlichen Annahmen unterfüttert hatte: So wenn er die prägende Kraft der «mongolischen Sklaverei» weit über das ältere byzantinische Erbe stellte oder die Reformen Peters und seiner Nachfolgerinnen als bloße Moderni­sierungen einer im Kern noch immer «orientalischen» Despotie und Welt­eroberungsmanie interpretierte, die

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in der Passivität und Zersplitterung der bäuerlichen Dorfgemeinde ihre Grundlage und Ergänzung finde. Erst nach der Niederlage im Krimkrieg, der Aufhebung der Leibeigen­ schaft, dem Bau von Eisenbahnen und der verstärkten Einbindung des Russischen Reichs in die Weltwirtschaft in den 1860 er Jahren öffnete Marx sich der Einsicht, dass der starr-hierarchische Korpus dieser Reichsgesellschaft in eine unaufhaltsame Bewegung geraten war und dass in Russland eine politische, soziale und geistige Krise heranreifte, die das Land aus dem Zirkel seiner nach innen stationären, nach außen expansiven Entwicklungen hinauskatapultieren und damit die Lage in Europa und in der Welt schlagartig verändern konnte. Nach der Nieder­ schlagung der Pariser Commune, nach der reformistischen Versumpfung der englischen Arbeiterbewegung und angesichts der gehemmten He­ raus­bildung einer deutschen Sozialdemokratie richtete sich die Hoff­ nung auf ein «russisches 1789», dem binnen kürzester Frist ein von bäu­ erlichen und proletaroiden Massen und radikalen Intellektuellen getra­ genes «1792» oder «1793» folgen musste, das zur Initialzündung der lange überfälligen europäischen Revolution werden könnte. Das aber würde nicht nur einer sozialistischen Arbeiterbewegung in Europa die Hände frei machen und sie von einem Alptraum befreien, sondern ihr auch «das bäuerliche Chor» liefern, «ohne das ihr Solo­ gesang in allen Bauernnationen zum Sterbelied wird» (wie Marx in der ersten Fassung des «18. Brumaire des Louis Bonaparte» geschrieben hatte).7 Mehr noch: Eine russische «Bauernkommune» wäre im Idealfall die gegebene, geradezu natürliche Ergänzung einer europäischen «Arbei­ terkommune». In dieser plötzlich aufscheinenden historischen Möglichkeit dürfte der tiefere Grund dafür liegen, warum Marx sich in seinem letzten Lebens­ jahrzehnt «auf Tod und Leben» (so seine Frau Jenny) in das Studium der russischen Sprache stürzte, um russische Journale und wissenschaftliche Arbeiten zu lesen, die sich vor allem mit der Agrarstatistik, aber auch mit dem Grundriss der russischen Gesellschaft insgesamt beschäftigten – Studien, denen er die stets angekündigte Fertigstellung der beiden Folge­ bände des «Kapital» opferte. Tatsächlich waren diese komplizierten russischen Verhältnisse nur ein Element der vielfachen Verunsicherungen, in die Marx damals durch die so krisenhaften wie ­ rasanten Entwicklungen der westlich-kapitalisti­ schen Welt, die neuen Finanz- und Eigentumsformen (wie Universalban­

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ken oder Aktiengesellschaften) und die immer dichteren weltwirtschaft­ lichen Vernetzungen gestürzt wurde. Vor allem der kometenhafte Auf­ stieg der USA zur ersten Industriemacht der Welt, die weder auf feudaler noch auf «asia­tischer», sondern auf rein bürgerlicher und kolonialer Grundlage stand, wurde zu einem zweiten großen Studiengebiet seiner letzten Jahre. Kurzum: Der geschärfte Blick auf Russland wie auf Ame­ rika verschob viele Parameter seiner früheren eurozentrischen Weltbil­ der – mit einer Geschwindigkeit, der er nicht mehr wirklich folgen konnte. Aber er versuchte es. Den Anstoß seiner späten Hinwendung zu Russland hatte die anfangs voller Misstrauen, dann mit spöttischer Verwunderung, schließlich mit wachsendem Interesse registrierte Tatsache gebildet, dass «Das Kapital» unter der Intelligenz des Zarenreichs, darunter namhafte Ökonomen, ein weitaus lebhafteres Echo gefunden hatte als irgendwo sonst in ­Europa. Diese Aufgeschlossenheit signalisierte Marx etwas Größeres. Die Entstehung der russischen Narodniki-Sozialisten, die ihrerseits den Kontakt mit den europäischen Sozialisten und gerade auch zu ihm such­ ten, deutete auf einen intellektuellen Reifungsprozess, der nur ein Reflex der rapiden Veränderungen im Lande sein konnte. Wie schon mit German (Herman) Lopatin, der mit der Übersetzung des «Kapital» begonnen hatte und in einer russischen Exil-Sektion der IWA mitarbeitete, bevor er nach Russland fuhr und verhaftet wurde, entwickelte sich auch eine dichte Korrespondenz und vertraute Bezie­ hung zwischen Marx und dem zweiten und wichtigeren Übersetzer sei­ ner Schriften, Nikolai Danielson. Dieser war selbst ein Ökonom und Soziologe von Rang, der unter dem Pseudonym «Nikolaion» publi­ ­ zierte. Danielson war es, der von Petersburg aus Marx mit der wichtigs­ ten sozialtheoretischen Literatur aus Russland vertraut machte. Großen Eindruck machten auf Marx Texte, die Tschernyschewski (der Autor von «Was tun?») schon Anfang der 1860 er Jahre als Überset­ zer von John Stuart Mills «Principles of Political Economy» in Form kri­ tischer Anmerkungen veröffentlicht hatte. Zwar stellte Marx fest, dass Tschernyschewski «keinen Begriff v(on) d(er) kapit(alistischen) Produk­ tionsweise» habe;8 aber dennoch nannte er ihn im Nachwort zur Neu­ auflage des «Kapital» einen «große(n) russische(n) Gelehrte(n) und Kri­ tiker», der die «Bankrotterklärung der ‹bürgerlichen Ökonomie›  … meisterhaft beleuchtet» habe.9 Tschernyschewski hatte den Hedonisten Mill zum Beispiel mit der grundlegenden Frage konfrontiert, ob die öko­ nomische Theorie in erster Linie von den Antrieben und Wünschen von

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Einzelpersonen und Privateigentümern oder nicht vor allem von den Produktions- und Reproduktionsinteressen der ganzen Gesellschaft aus­ zugehen habe. Und er hatte darauf bestanden, dass «nützliche Arbeit» (Mills zentrale Kategorie) eine sein müsste, die die vordringlichen Be­ dürfnisse einer Gesellschaft decke, bevor verfeinerte leibliche oder geis­ tige Genüsse zu ihrem Recht kommen könnten. «Man esse ja auch nicht das Dessert vor der Hauptmahlzeit.»10 Tschernyschewski und die Volkstümler der 1860/70 er Jahre waren eben keine Slawophilen mehr, sondern eher Westler. Europa, so hatte Tschernyschewski 1861 geschrieben, habe vom rückständigen Russland nichts zu lernen, Russland umso mehr vom wissenschaftlich aufgeklär­ ten, dem Glück der großen Mehrzahl verpflichteten Geist des europä­ ischen Sozialismus.11 Und jedenfalls sahen diese neuen, strikt materialis­ tisch statt idealistisch gepolten Volkstümler den einzigen Ausweg für die russische Gesellschaft und ihre zunehmend untergrabene Basis, die «kommunistische» Dorfgemeinde, statt in deren Verklärung in einer möglichst engen Verbindung mit dem europäischen Sozialismus. Das war wiederum der Gedanke, den Marx mit allem Ernst seinerseits zu erwägen begann. Immerhin war Russland das erste große Land, in dem ein «halbasiatisch» verfasstes Staats- und Gesellschaftswesen nicht infolge kolonialer Abhängigkeit (wie in Indien), sondern durch eigene Reformen von oben und durch innere Triebkräfte in den Bannkreis der modernen kapitalistischen Welt eintrat. Und andererseits musste gerade die Rolle, die er dem Zarentum als der angeblichen Vor- und Hinter­ macht der gesamteuropäischen Reaktion zugeschrieben hatte, das Auf­ treten einer revolutionären Bewegung in Russland zu einem weltgeschicht­ lichen Ereignis machen. Aus der Sicht der Jahre 1905 und 1917 war das nicht übertrieben. Die legitime Frage, die Volkstümler wie «Marxisten» umtrieb, war die, ob Russland auf dem Weg seiner Industrialisierung und Modernisierung noch einmal alle qualvollen Entwicklungsstufen und konvulsivischen Wachstumskrisen der westlichen Länder würde durchlaufen müssen, oder, noch dramatischer formuliert: ob Russland, wie Marx selbst es ausdrückte, sich unter das «kaudinische Joch» einer ursprünglichen ­Akkumulation des Kapitals, also einer gewaltsamen Expropriation und Proletarisierung seiner bäuerlichen Massen beugen müsse – oder ob es nicht einen schonenderen und vielleicht sogar «progressiveren» Weg der Entwicklung einschlagen könne.

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Es hätte der Paradefall eines Ideologietransfers sein können: wie die junge Wera Sassulitsch (die als freigesprochene Attentäterin gegen einen zaristischen Gouverneur einige internationale Prominenz besaß) sich im Februar 1881 namens einer Gruppe russischer Sozialisten von Genf aus brieflich an Marx wandte, um von ihm eine autoritative Auskunft in der Frage zu erbitten, wie es um die Zukunft der russischen Bauern­gemeinde, der «obschtschina», stehe – denn dies sei für die russischen Sozialisten «eine Frage auf Tod und Leben». Der ultimative, fast verzweifelte Ton des Briefes ist so bemerkenswert wie die knappe Antwort, die Marx nach zweiwöchiger Beschäftigung mit der Frage und mehreren Briefent­ würfen schließlich abschickte. Noch bemerkenswerter ist aber das Schicksal dieses Briefwechsels, dessen Originale Rjasanow 1923 im Nachlass von Pawel Axelrod fand und mitsamt Marx’ Entwürfen 1926 publizierte. Die Entwurfstexte hatte er schon zehn Jahre früher im Nachlass von Paul Lafargue und sei­ ner Frau Laura, Marx’ Tochter, gefunden. Rjasanow hatte damals alle erreichbaren Mitglieder der Genfer Gruppe (Plechanow, Axelrod, Deutsch sowie die Briefschreiberin selbst) über den Vorgang befragt. Wie sich herausstellte, hatten sie alle, die zentrale Gründergruppe der späteren Sozialdemokratie also, ihre eigene, dringliche Anfrage ebenso wie Marx’ kurze, autoritative Antwort «gründlich vergessen» – ein Ver­ gessen, wie Rjasanow schrieb, das allerdings «einen sehr befremdlichen Charakter» habe und ein Fall für Psychologen sei.12 Die einzige Erklärung ist, dass die Antwort von Marx sie in ihrer Unentschiedenheit nur bestärkt hatte, statt diese endlich aufzulösen. Ihre kleine Gruppe hatte sich zwei Jahre zuvor unter dem emphatisch volkstümelnden Titel der «Schwarzen Umteilung» (der die mythischen Rechte der Bauern am Land beschwor) von der Narodnaja Wolja und ­deren politischem Terrorismus gelöst und war schließlich ins Exil gegan­ gen. Die historischen Alternativen, die Sassulitsch in ihrem Brief an Marx aufgemacht hatte, standen sich wie auf Messers Schneide gegen­ über: Entweder würde eine von Steuern, Abgaben und Willkür befreite bäuerliche Kommune sich in Richtung einer sozialistischen Gemein­ schaftsproduktion entwickeln können  – dann müssten die revolutio­ nären Sozialisten «alle ihre Kräfte» für diese Aufgabe opfern. Oder aber, die bäuerliche Landgemeinde sei zum Untergang verurteilt und das Land müsse erst in die Hände der Bourgeoisie übergehen, bevor «endlich in vielen Jahrhunderten (!) der Kapitalismus in Russland vielleicht ein Ent­ wicklungsniveau erreichen werde, das dem im westlichen Europa gleicht».

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Diese letztere Auffassung, so hatte Sassulitsch Marx gemeldet, werde unter Berufung auf das «Kapital» von einigen Leuten vertreten, die sich selbst als «Marcsisten» bezeichneten.13 Was also sei sein Ratschluss in dieser Frage, von der «sogar das persönliche Schicksal von uns revolu­ tionären Sozialisten abhängt»? Marx’ Antwort, die «nicht für die Öffentlichkeit bestimmt» war, be­ tonte zunächst, dass seine historische Analyse «keinerlei Beweise  – ­weder für noch gegen die Lebensfähigkeit der Dorfgemeinde» enthalte. Die historische Unvermeidlichkeit der Expropriation der Ackerbauern habe er auf Westeuropa eingeschränkt, wo es sich um die Verwandlung einer Form von Privateigentum in eine andere gehandelt habe – während bei den russischen Bauern «ihr Gemeineigentum in Privateigentum» um­ gewandelt würde. Nach dem Studium von Originalquellen zur russi­ schen Landwirtschaft sei er allerdings zu der Überzeugung gekommen, «dass diese Dorfgemeinde der Stützpunkt der sozialen Wiedergeburt Russlands ist» – sofern es gelinge, «die zerstörenden Einflüsse, die von ­allen Seiten auf sie einstürmen», zu beseitigen und ihr so «die normalen Bedingungen einer natürlichen Entwicklung» zu sichern.»14 Diese Stellungnahme richtete sich klar gegen die «Marcsisten», von ­denen Sassulitsch sprach. Marx’ Briefentwürfe waren allerdings noch weitergegangen mit einer Reihe grundlegender Feststellungen. Erstens die, dass die Ackerbaugemeinde kein Spezifikum Russlands war, weder positiv im Sinne eines «natürlichen Kommunismus» noch negativ im Sinne eines «asiatischen Erbes». Sie sei vielmehr die Grundform jeder ur­ sprünglichen Gesellschaftsform von Indien bis nach Europa oder dem indianischen Amerika. Sie habe sich in Russland nur in besonderem Um­ fang erhalten – dies aber in einer durchaus flexiblen und entwicklungs­ fähigen Art und Weise. Jede Bauernfamilie bearbeitete ein eigenes Land­ stück, das bei der regelmäßigen Umteilung des Gemeindelandes ihr ­zugewiesen war, und erntete die Früchte des eigenen Arbeitsfleißes; wäh­ rend die dörflichen Gemeinschaftsarbeiten ebenso wie die in «Artelen» organisierte Lohnarbeit außerhalb des Dorfes die Bauern an eine genos­ senschaftliche Kooperation gewöhnt hätten – beides günstige Vorausset­ zungen für eine organische Höherentwicklung. Die Hauptschwäche der Dorfgemeinden, ihre Isolierung voneinander, würde sich leicht überwinden lassen, wenn sie die Möglichkeit hätten, ihre Vertreter und Beamten auf Bezirksebene selbst zu wählen. Gleich­ zeitig müssten sie von der erdrückenden Steuerlast und den Tributen an

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die Gutsbesitzer entlastet werden, um die Potentiale der genossenschaft­ lichen wie individuellen Arbeit freizusetzen. Und so groß die Gefahr ­einer inneren sozialen Differenzierung und Zersetzung auch sei, so sehr könne eine solche Entwicklung der Entfaltung der Persönlichkeiten und Fähigkeiten der Einzelnen einen entscheidenden Anstoß geben, wie das im primitiven Egalitarismus der «obschtschina» nicht möglich sei.15 Ein solcher Aufschwung der Landgemeinden, die zwanglos auch zu höheren Formen einer in Kooperativen organisierten agrarischen, hand­ werklichen oder industriellen Arbeit übergehen könnten, werde zur ­Regeneration der Gesellschaft im Ganzen beitragen. Russland könne sich auf diesem Wege der Krise entwinden, in der «der Kapitalismus» (hier gebrauchte Marx tatsächlich einmal diesen sonst gemiedenen Be­ griff) sich insgesamt schon befinde – einer Krise, die so oder so schließ­ lich «mit der Rückkehr der modernen Gesellschaften zum ‹archaischen› Typus des Gemeineigentums» enden müsse, freilich «in einer höheren Form». Man dürfe sich «nur nicht allzusehr von dem Wort ‹archaisch› erschrecken lassen».16 Als Marx im Jahr darauf wieder von Sassulitsch gebeten wurde, mit Engels zusammen ein Vorwort zu einer russischen Neuausgabe des «Ma­ nifests» zu verfassen, da gaben die beiden dann doch ein deutliches ­Bekenntnis ab, das allerdings eine neue strenge Bedingung einführte: «Das ‹Kommunistische Manifest› hatte zur Aufgabe, die unvermeidlich bevorstehende Auflösung des modernen bürgerlichen Eigentums zu pro­ klamieren. In Russland aber finden wir … die größere Hälfte des Bodens im Gemeinbesitz der Bauern. Es fragt sich nun: Kann die russische Obschtschina, eine wenn auch stark untergrabene Form des uralten Ge­ meinbesitzes am Boden, unmittelbar in die höhere des kommunistischen Gemeinbesitzes übergehn? Oder muss sie umgekehrt vorher denselben Auflösungsprozess durchlaufen, der die geschichtliche Entwicklung des Westens ausmacht? – Die einzige Antwort hierauf, die heutzutage mög­ lich, ist die: Wird die russische Revolution das Signal einer proletari­ schen Revolution im Westen, sodass beide einander ergänzen, so kann das jetzige russische Gemeineigentum am Boden zum Ausgangspunkt ­einer kommunistischen Entwicklung dienen.»17 Aber eben nur dann. Und da die russische wie die allgemeine europä­ ische Revolution auf sich warten ließen, während die kapitalistische Ent­ wicklung auch in Russland nicht als eine bloße Schwindelblüte, sondern als eine gewaltige transformative Kraft auftrat, verlagerte der Akzent sich immer stärker auf die Konsequenzen dieses Prozesses.

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Wechsel der Wegzeichen Bei diesem Wechsel der Wegzeichen ging Georgi Plechanow – fast sofort nach Marx’ Tod 1883 – voran. Seine winzige fünfköpfige Exilgruppe er­ klärte sich unter dem Programmtitel «Gruppe ‹Befreiung der Arbeit›» nun zum Platzhalter einer künftigen russischen Sozialdemokratie euro­ päischen (im Grunde deutschen) Typs. In seiner Programmschrift «Un­ sere Meinungsverschiedenheiten» von 1885 rechnete Plechanow mit der gesamten bisherigen Weltanschauung der Volkstümler und russischen Sozialisten ab, einschließlich der eigenen, bisher vertretenen Ansichten, und das in einem scharfen, unduldsamen Ton, der wettmachen musste, was an empirisch begründeter Überzeugungskraft noch fehlte. Mit dieser ziemlich abrupten Wendung machte Plechanow sich zum Vorkämpfer eines dogmatischen, vermeintlich buchstabengetreuen «Mar­ xismus», wie es ihn selbst im deutschen Sprachraum noch nicht gab – eine Wendung, der Engels in London mit sehr gemischten Gefühlen zu­ sah. So sehr er in der Sache Plechanow mittlerweile nahestand, so sehr missbilligte er die Schärfe seiner Attacken und versuchte bis zu ­einem letzten Versöhnungstreffen 1892 einen definitiven Bruch zwischen Volks­ tümlern und «Marxisten» zu verhindern. Auch weigerte er sich stand­ haft, seinerseits in autoritativer Weise zu ihren Streitfragen Stellung zu nehmen, weil «von den verschiedenen russischen Emigrantengruppen Passagen aus den Schriften und dem Briefwechsel von Marx in höchst widersprüchlicher Weise ausgelegt worden sind, genau so, als wären es Texte aus Klassikern oder aus dem Neuen Testament».18 Danielson, mit dem er in laufenden brieflichen Kontakt trat, hatte – unter vielfacher Berufung auf Marx – im Vorwort zur russischen Neu­ ausgabe des «Kapital» 1890 die Befürchtung geäußert, der durch den Weltmarkt induzierte Einbruch des Kapitalismus in Russland werde nur «eine korrupte Bourgeoisie und eine mittellose Masse erzeugen – ohne jede Steigerung der Produktivitätsrate».19 1893 kam er mit einer eigenen gelehrten Studie über die Entwicklung der russischen Volkswirtschaft nach den Großen Reformen von 1861 heraus. In seiner Schlussbetrach­ tung fasste er das ihm von Engels brieflich wiederholt vorgehaltene ­Argument – nämlich dass die russischen Hausindustrien als die zweite Säule der dörflichen Ökonomie nur die Wahl hätten, entweder von der eigenen modernen Industrie oder, wie die indischen Handweber, von der auswärtigen Konkurrenz erdrückt zu werden,  – in die abermals recht

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verzweifelt klingende Frage: ob die drohende Gefahr einer «kolonialen Unterwerfung» Russlands durch die fortgeschritteneren Mächte des Westens bedeute, «dass wir die kapitalistische Entwicklung unseres eige­ nen Landes zu propagieren beginnen»?20 Engels’ letzte, recht schroffe briefliche Auskunft konnte durchaus so verstanden werden. Alles, was er von Danielsons Einwänden gelten ließ, war «der Umstand, dass Russland das letzte Land ist, dessen sich die ­kapitalistische grande industrie bemächtigt, und gleichzeitig das Land mit der weitaus größten Bauernbevölkerung»; was in der Tat bedeute, dass der «Prozess der Verdrängung von etwa 500 000 Landeigentümern und von etwa 80 Millionen Bauern» sich «unter fürchterlichen Leiden und Konvulsionen vollziehen» werde. Um mit steinernem Stoizismus zu verkünden: «Aber die Geschichte ist nun einmal der grausamste aller Götter, und sie führt ihren Triumphwagen über Haufen von Leichen, nicht nur im Krieg, sondern auch in Zeiten ‹friedlicher› ökonomischer Entwicklung.»21 Prognosen wie diese mussten die russischen Sozialisten aber erst recht in eine unhaltbare Situation bringen. Entweder verwandelten sie sich, wie es die «legalen Marxisten» um Pjotr Struwe zehn Jahre später tun würden, in Ultra-Liberale, die mit der Vision Russlands als eines «zwei­ ten Amerika» hausierten. Aber dann mussten sie sich konsequenterweise auch an den Triumphwagen der imperialen Modernisierer ketten, die wie Premierminister Witte behaupteten, dass Russland, wenn es sich nicht zu einer modernen, leistungsfähigen Imperialmacht entwickle, von den anderen Mächten unterworfen und zerstückelt werde, so wie China  – eine Argumentation, der nicht wenige ehemalige Marxisten und Volks­ tümler sich im Vorfeld des heraufziehenden Weltkriegs oder spätestens nach seinem Ausbruch anschließen würden, so wie das Gros der Libera­ len auch. Oder aber, die russischen Sozialdemokraten mussten ihre Strategien nach allen politischen Himmelsrichtungen hin nachjustieren und ein hochkomplexes Gegenszenario einander «gesetzmäßig» ablösender demo­ kratischer und sozialistischer Umwälzungen mit ganz neuen, alternati­ ven Akteuren entwerfen – auf die Gefahr hin, sich in eine weitgehend isolierte Position zu bringen. Das ähnelte theoretisch und praktisch der Quadratur des Kreises. Denn wenn nur eine kapitalistisch-industrielle Entwicklung die materielle ­Voraussetzung für eine demokratische und sozialistische Umwälzung lie­

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fern konnte, dann folgte daraus, dass das «Volk», das revolutionäre Subjekt, nicht mehr die niedergehende Bauernschaft sein konnte, son­ dern nur noch das aufsteigende industrielle Proletariat. Mit einer kate­ gorischen Setzung gab Plechanow auf dem Gründungskongress der ­Sozialistischen Internationale 1889 in Paris den neuen Kurs aus: «Die russische Revolution kann nur als eine Revolution der Arbeiter siegreich sein – es gibt keine andere Möglichkeit.»22 Das bedeutete nicht nur die tiefe Spaltung der Opposition. Die offen­ kundige Schwäche des designierten «revolutionären Subjekts» gab der neue Linie etwas Aberwitziges. Um dem abzuhelfen, wurde behauptet, dass in Russland sich die kapitalistische Entwicklung gerade wegen ihrer «Verspätung» umso schneller vollziehen, dass aber auch ihr Niedergang umso schneller und radikaler eintreten werde. Eben deshalb könnte der Träger der ausstehenden «bürgerlich-demokratischen Revolution» nicht mehr das Bürgertum sein; aber auch kein demokratisches Kleinbürger­ tum, das es in Russland ohnedies kaum gab; und ebenso wenig die selbstwirtschaftenden Bauern, die jetzt zum ersten Mal als eigene Klasse auftraten, der «gottlosen» Kultur in den Städten und den sozialistischen Arbeitermilieus jedoch feindlich gegenüberstanden. Als Verbündete der Arbeiterklasse blieben dann nur proletarisierte und radikalisierte Segmente der ländlichen und städtischen Massen. ­Deren Hass auf die kapitalistische Geld- und Warenwirtschaft war in der Tat vielfach noch größer als der auf die persönlichen Abhängigkeiten von den Gutsherren oder auf die Willkür der Beamten und Steuereintrei­ ber des Zaren; nur dass dies ein Hass war, der nach marxistischen Maß­ stäben latent «reaktionär» war und tatsächlich stets in Gefahr stand, in blinden Pogromismus abzugleiten. Dass ein erheblicher Teil der jungen industriellen Arbeiterschaft selbst noch in dieser sozialen und mentalen Zwischenzone siedelte, machte die Konstruktion der vorhandenen «Klassenkräfte» nur noch prekärer und unübersichtlicher. Dazu kam, dass Plechanow als gebildeter europäischer Marxist der ersten Stunde sich ein gewisses Sensorium für all das bewahrt hatte, was unter den Begriff einer «asiatschina», eines «asiatischen Erbes» Russ­ lands gefasst wurde – ein Begriff, der in den Diskussionen der russischen Sozialdemokratie bis in die 1930 er Jahre hinein immer wieder auftau­ chen und verschwinden würde, bevor er auf Stalins Betreiben endgültig verbannt wurde. So hatte Plechanow sich in seinen frühen Schriften mehrfach gegen «blanquistische» Tendenzen innerhalb der russischen revolutionären Bewegung gewandt und eine Warnung ausgesprochen,

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auf die er in seinen Auseinandersetzungen mit Lenin und den Bolsche­ wiki später zurückkommen würde und die prophetischen Charakter trug: Wenn es gelänge, in Russland den Sozialismus auf dem Wege des Staatsstreichs und einer revolutionären Minderheitsdiktatur einzu­ führen, dann könne das Ergebnis nichts anderes sein als «eine politische Missgeburt nach dem Muster des alten chinesischen oder persischen Reichs, also ein Wiederaufguss des zaristischen Despotismus auf kom­ munistischer Grundlage».23 Nur waren Plechanows eigene jakobinische Neigungen davon nicht allzu weit entfernt. Er selbst verstrickte sich immer wieder in den Ratten­ könig seiner fieberhaft produzierten Theorien und Doktrinen. So hörte Engels im Sommer 1893 recht verwundert von einem jungen, speziell ­instruierten Emissär Plechanows, dass dieser informelle Kopf der rus­ sischen Sozialdemokratie unter der «Diktatur des Proletariats» eine Form der revolutionären Machtausübung verstehe, bei der «‹wir› natür­ lich niemandem außer ‹uns› die Freiheit einräumen werden». Auf die Nachfrage, wer «wir» seien, habe er erläutert: «die Arbeiterklasse unter der Leitung von Genossen, die die Lehre von Marx richtig verstanden haben». Woraufhin Engels nach Genf ausrichten ließ, dass dies aller­ dings «zur Verwandlung der russischen Sozialdemokratie in eine Sekte» führen müsse. Statt «alle Narodniki als Reaktionäre abzustempeln», solle Plechanow sich lieber mit «ihm würdigen, wissenschaftlichen ­Arbeiten  …, speziell mit der Agrarfrage», beschäftigen und ansonsten da­rauf setzen, «dass bald in Russland selbst energische Führer auftre­ ten».24 Der junge «energische Führer», der die Lage ändern sollte, betrat ziem­ lich genau in diesem Moment die Bühne. Wenige kannten ihn, keiner hatte ihn auf der Rechnung. Allerdings machte der 24-jährige junge ­Anwalt aus Samara, der im September 1893 in Petersburg ankam, seine Präsenz in den Zirkeln der sozialistischen Intelligenz der Hauptstadt sehr rasch fühlbar. Irritierend, aber auch faszinierend dürfte es gewesen sein, wie der junge Uljanow eine strikte marxistische Orthodoxie à la Plechanow, die das terroristische Verschwörertum eigentlich klar ab­ lehnte, mit einer provokanten Bewunderung genau dieser Tradition ver­ band. So soll er den allgemein geächteten Sergej Netschajew bei Gele­ genheit gerühmt haben, weil dieser Mann aus dem Volk die Fähigkeit zu klaren, eingängigen Formulierungen mit einem «einzigartigen Organisa­ tionstalent» verbunden und auf die Frage, welche Mitglieder des Herr­

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scherhauses man ­liquidieren müsse, die «prägnante und geniale Ant­ wort» gegeben habe: «Natürlich das ganze Haus Romanow».25 Mit solch betont brutalen Reden, die darauf berechnet waren, die «weichen» Stellen des jeweiligen Gegenübers bloßzulegen und ihn so in die Defen­ sive zu bringen, oder später, nach der Machteroberung, seinem Kernka­ der alle Skrupel auszutreiben und ihn moralisch abzuhärten, scheint der spätere Lenin von Beginn operiert zu haben – ohne für seine eigene Per­ son deshalb Züge eines Draufgängers gehabt zu haben, ganz im Gegen­ teil. Er selbst ging jederzeit mit größter Vorsicht vor. Der marxistische Zirkel, in den Uljanow Anfang 1894 in Petersburg hineingeriet, passte allerdings genau zu seinem Naturell. Er bestand im Wesentlichen aus Studenten und Absolventen des «Technologischen Ins­ tituts», einer der ältesten Hochschulen des Reichs, die mehrere hundert Studenten zählte und eine lange Tradition revolutionärer Aktivitäten hatte. Man traf sich im Haus von Robert Klasson, einem Ingenieur am Institut, oder in der Bude von Stepan Radtschenko, einem Studenten, der bereits Anfang der 1890 er Jahre Demonstrationen vorbereitet und eine geheime Druckerei unterhalten hatte. Er war der Kopf eines ersten konspirativen Zirkels gewesen, der 1892 aufgeflogen war, mit Ausnahme Radtschenkos selbst, der sich in perfekter Weise unauffällig zu machen verstand und später zum ersten Organisator des von Lenin konzipierten Netzes von «Agenten» der «Iskra», des neuen Zentralorgans, werden würde – bevor er dann doch den Häschern ins Netz ging. Zu den führenden Mitgliedern dieses Petersburger Zirkels gehörten weiter der Ingenieursstudent Leonid Krassin sowie sein beruflich arri­ vierterer Kollege Gleb Krishanowski (Krzyzanowski). Vielfach gedeckt durch ihre Positionen als leitende Ingenieure oder sogar Direktoren bei großen, teils ausländischen, teils russischen Firmen würden sie beide im Jahrzehnt vor und nach 1905 für den bolschewistischen Untergrund Druckereien einrichten, Waffen und Sprengstoff besorgen, erbeutete Gel­ der waschen sowie Kuriersysteme aufziehen, um nach der Revolution als Diplomaten und Organisatoren des monopolisierten Außenhandels zu dienen. Mit Klasson und weiteren bolschewistischen Ingenieuren wür­ den sie 1920 den hoch qualifizierten Leitungsstab des von Lenin forcier­ ten Großen Plans zur «Elektrifizierung Russlands» bilden, eines magisch-­ phantastischen Generalprojekts zur Wiederbelebung und Erleuchtung des halbtoten, erschöpften, in ägyptische Finsternis versunkenen Sozial­ körpers.26 Jetzt, 1894, waren sie vorerst nur ein Kreis hochbegabter Studenten

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und angehender Ingenieure, die sich außer mit Vorträgen über Fragen der politischen Ökonomie insbesondere damit befassten, wie der Kon­ takt zum neu bestimmten «revolutionären Subjekt», der Arbeiterklasse, herzustellen wäre. Als Ausgangsmilieu des Bolschewismus betrachtet, stellten sie eine charakteristische Mischung aus Leuten teilweise sehr ho­ her, teilweise eher einfacher Herkunft dar. (Am Technologischen Institut brauchte man für die Zulassung keinen Gymnasialabschluss.) Mehr als die Volkstümler standen sie im Bann der deutschen Technik- und ­Organisationskultur; und das ging bei ihnen wie bei Uljanow mit der ­Attraktion des Marxismus als einer deutschen Theorie eng zusammen. Einige wie Klasson hatten selbst deutsche Wurzeln; andere wie Krzy­ zanowski polnische oder jüdische. Radtschenko war Sohn eines ukrai­ nischen Kosaken, Krassin war ein echter Sibirier. Kurzum: Alle kamen sie aus der ferneren Provinz und repräsentierten die multiethnische Mi­ schung des Imperiums, das sie zu Fall bringen wollten.27 Zur sozialen Charakteristik wie zur emotionalen Chemie dieses typi­ schen revolutionären Zirkels gehörte wie eh und je auch eine Gruppe burschikoser junger Frauen mit kurzen Haaren, die vorneweg waren, wenn es sich darum handelte, in Form von Abendkursen, Lesekreisen und Sonntagsschulen einen neuen «Gang ins Volk» anzutreten, jetzt in die Arbeiterschaft. Als Uljanow hinzustieß, ging es um die Gründung ­eines «Vereins für Elementarbildung», der zur Sammlung von G ­ eldern und als legale Fassade dienen sollte  – ein Vorhaben, dem der Neu­ ankömmling «etwas boshaft und trocken» lachend zustimmte: «Nun, warum nicht! Wenn jemand das Vaterland im Verein für Elementarbil­ dung retten will – bitte …»28 So erinnerte sich jedenfalls Nadeshda Krupskaja, Tochter einer wegen liberaler Tendenzen in Ungnade gefallenen und verarmten Generalsfami­ lie, die mangels beruflicher Möglichkeiten als Lehrerin ganz in diesen Aktivitäten aufging. Ihre Erinnerungen an die Alphabetisierungs- und Schulungssitzungen sind wie alle Veteranenberichte dieser Art roman­ tische Sowjetprosa  – und doch nicht ganz unglaubwürdig. Als junge Frau höherer Abkunft wurde sie von den Arbeitern, die ihre Kurse be­ suchten, auf Händen getragen; sie sah den unbeholfen Schreibenden mit Rührung zu, bekam vieles erzählt und lernte vieles über diese ihr unbe­ kannte, mit einer magischen Aura ausgestattete Unterwelt der Arbeit, von der sie trotz der bescheidenen Verhältnisse, unter denen sie als Halb­ waise aufgewachsen war, um Welten entfernt lebte. Uljanow hielt seinerseits Vorträge und veranstaltete Lektürekurse,

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und das mit einigem pädagogischen und intuitiven Geschick, so jeden­ falls nach dem Zeugnis Iwan Babuschkins, eines der frühesten und ra­ ren Arbeiter-Bolschewiken, der 1906 bei einem Waffentransport er­ tappt und standrechtlich erschossen wurde. Wegen seiner autoritativen Art und seines sich lichtenden Haars habe Uljanow den Spitznamen «Starik», der Alte, bekommen. Nadeshda schickte Arbeiter zu ihm, die er wie ein Ethnologe systematisch ausfragte.29 Auch für ihn war es das erste Mal, dass er dem designierten neuen «revolutionären Subjekt» leibhaftig begegnete. Für eine Führungsrolle im sozialdemokratischen Milieu brauchte es vor allem jedoch theoretische Autorität. Die erwarb Uljanow sich durch eine Reihe von polemischen Rezensionen neuerer Arbeiten zur Sozialökono­ mie, vor allem den Agrarverhältnissen. Seine erste größere Arbeit von 1894, die nur hektographiert zirkulierte, war eine einzige Polemik und hieß: «Was sind die ‹Volksfreunde› und wie kämpfen sie gegen die So­ zialdemokraten?» Sie sicherte ihm durch ihre schroffe Diktion und ­Argumentation sofort Aufmerksamkeit, vor allem durch seine absolute Entschlossenheit, die führenden Theoretiker der Volkstümler als angeb­ liche «Volksfreunde» zu verspotten und als «Kleinbürger-Ideologen» zu brandmarken, um sie ein für allemal zu «besiegen». Schon die schiere Respektlosigkeit, mit der dieser Niemand einem hochverehrten Ökono­ men und Sozialphilosophen wie Nikolai Michailowski (einem Schüler Tschernyschewskis) gegenübertrat, weil der sich erkühnt hatte, die rus­ sischen Marxisten und, schlimmer, Marx selbst und sein «Kapital», zu kritisieren, war frappant: «Ei schau doch, was das Möpschen kann: Es bellt den Elefanten an!»30 (Marx war der Elefant, Michailowski das Möpschen.) Theoretische Debatten waren für Uljanow ein bedingungsloser Kampf zwischen «bürgerlicher» und «proletarischer» Weltanschauung, wie auch die ständigen Unterstreichungen und Hervorhebungen signalisierten, mit denen er seine stets apodiktischen Schlussfolgerungen einzuhäm­ mern suchte – ein Stil, der zu seinem Markenzeichen wurde: «Die Sozia­ listen müssen mit allen kleinbürgerlichen Ideen und Theorien ENT­ SCHIEDEN und ENDGÜLTIG brechen  – das ist die WICHTIGSTE, NÜTZLICHSTE LEHRE, die aus diesem Feldzug gezogen werden muss.» Oder: «Die untersuchten, kleinbürgerlichen Theorien sind UNBEDINGT reaktionär, INSOWEIT sie als sozialistische Theorien auftreten.»31 Beachtlich war allerdings auch die Beschlagenheit, die der junge Ulja­

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now von Anfang an mit einem Großaufgebot von Statistiken und Zita­ ten demonstrierte – immer mit einem deutlich vorgetragenen Führungs­ anspruch, der Eindruck machte, auch weil er ihn stets mit der Autorität des fernen Mentors und «Vaters der russischen Sozialdemokratie», Plechanow versah, obwohl einstweilen keinerlei Verbindungen zwischen ihnen existierten. Plechanow selbst publizierte in diesem Jahr 1894 unter dem Pseudo­ nym «Beltow» seinerseits eine scharfe, philosophische Abrechnung mit dem «Idealismus» der Volkstümler. Seine Schrift «Über die Entwick­ lung der monistischen Geschichtsauffassung» trat als eine erste, umfas­ sende Darlegung eines dialektischen und historischen Materialismus in russischer Sprache auf. Entscheidend war, dass Plechanow, weit kate­ gorischer als sein theoretischer Kronzeuge Engels, betonte, dass es sich um eine integrale Lehre von den Gesetzen der sozialen Evolution wie des menschlichen Denkens selbst handele, die man insgesamt aner­kennen musste, wenn man sie nicht deformieren wollte. Es war dieser philoso­ phische Totalitarismus im Wortsinne, den Lenin Plechanow entnahm und der von Stalin in seinen noch kategorischer gefassten Darlegungen der Prinzipien des Diamat und Histomat dann zu einem neuen Hexen­ hammer ausgearbeitet wurde – was Plechanow trotz aller seiner späte­ ren Sünden einen Platz im bolschewistischen Pantheon ­sicherte. 1894 machte seine Schrift nicht zuletzt dadurch Furore, dass sie die Zensur passiert hatte. Dasselbe galt für eine größere Abhandlung des prominenten Pjotr Struwe «Kritische Bemerkungen zur Frage der öko­ nomischen Entwicklung Russlands». Struwe, der als Marxist galt und mit führenden deutschen Sozialdemokraten eng verbunden war, setzte sich hier mit Nikolaions (Danielsons) zitierter, im Vorjahr ebenfalls legal erschienener Arbeit auseinander. Das alles schien zu signalisieren, dass die Behörden diesen Streit der sozialistischen Theorieschulen nicht ge­ rade förderten, aber tolerierten. Es war eine kurze liberale Zwischen­ periode nach dem Thronwechsel zu Nikolai II., als in der intellektuellen Sphäre manches erlaubt war. Die aufschießenden neuen Verlage und Zeitschriften erwarben Rechte an zahlreichen deutschen und französi­ schen gesellschaftstheoretischen, insbesondere auch marxistischen Tex­ ten, die ins Russische übersetzt wurden, so 1895 der dritte Band des «Kapital». Das hatte Züge einer intellektuellen Mode, aber kündete auch von einem genuinen Theoriehunger und Orientierungsbedarf. Die Zensur hielt diese Bücher (Broschüren waren verboten) für zu anspruchs­ voll und zu schwierig, um Breitenwirkung zu erzielen.

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Auch Uljanow wagte sich (unter dem Pseudonym «Tulin») in die Arena der legalen Publizistik, diesmal mit «Kritischen Bemerkungen» zum Buch von Pjotr Struwe, dem zweiten Star des intellektuellen Mar­ xismus, der seine Arbeit mit dem Satz beschlossen hatte: «Bekennen wir uns zu unserem Mangel an Kultur und gehen wir beim Kapitalismus in die Lehre». Uljanow bezichtigte «Herrn Struwe» daraufhin eines «Ob­ jektivismus», der das Gegenteil eines echten «Materialismus» sei. Wenn der Objektivist «von der Notwendigkeit des historischen Prozesses» spreche, laufe er stets Gefahr, zu einem Apologeten dieses Prozesses zu werden. Dagegen schließe der Standpunkt des Materialisten «sozusagen Parteilichkeit in sich ein, da er dazu verpflichtet ist, …. direkt und offen den Standpunkt einer bestimmten Gesellschaftsgruppe einzunehmen».32 Dieser auch mit «Parteigeist» zu übersetzende Schlüsselbegriff («par­ tiinost’») des späteren Leninismus richtete sich implizit auch gegen das ­intellektuelle Zirkelwesen, das zugunsten endloser, mehr oder weniger akademischer Streitigkeiten auf die zielstrebige Organisation des Prole­ tariats und eine darauf gegründete Parteibildung verzichte. Aber gerade im elektrisierenden Klima solcher Debatten, die von heute aus ziemlich öde scholastisch wirken, aber sich immerhin ja um die Schicksalsfragen des Landes drehten, ist der Nukleus der revolutionären Bewegung Russ­ land geformt worden. Das Signum einer strategischen Karriereplanung trug auch die vier­ monatige «Reise nach Europa», zu der Uljanow im Frühsommer 1895 aufbrach. Es war eine Reise in die Welt des europäischen Sozialismus; das Interesse des revolutionären Touristen für die Kunst, den sinnlichen Appeal von Paris oder die modernen Stadtlandschaften anderer europä­ ischer Metropolen hielt sich in Grenzen. So, in seine russisch-revolutio­ näre Binnenwelt eingeschlossen, würde Lenin später auch seine 15 Exil­ jahre im Westen verbringen – bis auf die wochenlangen Bergtouren oder mehrtägigen Fahrradausflüge, die er sich, den Konsultationen ärztlicher Kapazitäten folgend, immer wieder genehmigte, um Nerven und Lungen zu kräftigen. Jetzt, im Sommer 1895, ging es für ihn zunächst darum, sich bei der Schweizer Kerngruppe der russischen Sozialdemokratie als jemand vor­ zustellen, der mit dem überfälligen Aufbau einer Partei im Inland Ernst machen wollte. Plechanow wie Axelrod – inzwischen in ihren Vierzigern und schon Veteranen einer früheren Generation – waren von dem jun­ gen Anwalt höchst angetan, sogar begeistert: «Endlich haben wir den

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richtigen Mann», schrieb Axelrod an Plechanow. Mit einer Melange aus jüdischem Masochismus und Heimweh fügte er hinzu: «Er roch nach russischer Erde.»33 Aber erst einmal nahmen die beiden «Alten» ihn misstrauisch ins Ge­ bet. Wie sich herausstellte, hatten sie ihre Haltungen gegenüber den bür­ gerlichen Liberalen und den Vertretern der Semstwo-Intelligenz seit dem Aufbruch der russischen Zivilgesellschaft von 1891, vielleicht auch im Kontakt mit Struwe und mit anderen, deutlich gemildert, während Ulja­ now ihnen als Vertreter einer jüngeren, unbedingten Generation ent­ gegentrat, die ihre eigenen, früheren Standpunkte eher noch zugespitzter verfocht. Axelrod schärfte seinem Besucher daher ein, «dass beim der­ zeitigen Stand der historischen Entwicklung die dringlichsten Interessen des russischen Proletariats mit den vitalen Interessen der anderen fort­ schrittlichen Elemente in der Gesellschaft gleichlaufend» seien, vor allem was den Sturz des Autokratismus betreffe. Woraufhin Uljanow lächelnd erwiderte, Plechanow habe ihn schon ganz ähnlich gerügt und gewarnt: «Sie wenden den Liberalen den Rücken zu, wir aber das Gesicht …»34 Noch waren das alles strategische Sandkastenspiele, und für Uljanow dürfte das Hochgefühl, mit den großen Alten der russischen Sozialdemo­ kratie von Gleich zu Gleich zu konferieren, alle anderen Empfindungen überwogen haben. Mit ihren Empfehlungen fuhr er weiter nach Paris, wo er mit Marx’ Schwiegersohn Lafargue sprach, und dann nach Berlin, wo er sich mit Karl Kautsky bekannt machte und ebenso mit dem alten Wilhelm Liebknecht, dessen Formel «Studieren, Propagandieren, Orga­ nisieren» er in seiner Polemik gegen die «Volksfreunde» als die zentrale Maxime einer künftigen russischen Sozialdemokratie vorangestellt hatte – grafisch hervorgehoben und (wie es auch Plechanow oft tat) in deutscher Sprache. Die Begegnungen mit Größen des internationalen Sozialismus müssen ihm auch gezeigt haben, wie viel in Paris und Berlin von einer künftigen russischen Sozialdemokratie erwartet wurde und in der gegebenen Kon­ stellation auch tatsächlich abhing  – durchaus im Sinne einer welt­ geschichtlichen Beauftragung. Uljanow versuchte in den drei Wochen in Berlin sein Deutsch zu verbessern, das nun einmal die Sprache des «wis­ senschaftlichen Sozialismus» war, und las dazu im Original den eben ­erschienenen Dritten Band des «Kapital». Aber er traf auch mit der Re­ daktion des «Vorwärts» Absprachen über ihre Versorgung mit frischen Nachrichten aus Russland; und mit den Expedienten des Verlags erör­ terte er Möglichkeiten, die legale oder illegale deutsche wie russische

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Lite­ratur nach Russland zu bringen.35 Die deutsche Sozialdemokratie war für ihn (mindestens solange Bebel lebte) das unbestrittene Vorbild, eine Art Vater­land oder Mutterschiff des internationalen Proletariats.

Die Welt der Kampfbünde Der «Kampfbund zur Befreiung der Arbeiterklasse», der kurz nach sei­ ner Rückkehr nach Petersburg konspirativ aus der Taufe gehoben wurde, war zunächst kaum mehr als eine Weiterentwicklung des bisherigen ­Zirkels, zu dessen Führungskreis Uljanow inzwischen gehörte. Der ent­ scheidende Anstoß war von Julij Martow (Zederbaum) gekommen, der als relegierter Student aus Wilna zurückkam, wo er Erfahrungen unter polnisch-jüdischen Arbeitergruppen gesammelt hatte, aus denen 1897 dann der «Allgemeine Jüdische Arbeiterbund» sowie die «Sozialdemo­ kratische Partei Polen und Litauens» hervorgehen würden. Martow schlug vor, das «Studieren und Propagandieren» mit einer systemati­ schen «Agitation» in den Fabrikbezirken zu verbinden. In Flugblättern sollten alltägliche Beschwerden und Forderungen der Belegschaften auf­ gegriffen werden, um erste Kerne einer revolutionären Arbeiterbewe­ gung zu schaffen. Tatsächlich gelang es dem Petersburger «Kampfbund», in kurzer Frist etwa 150 Mitglieder zu rekrutieren, von denen zwei Drittel Arbeiter wa­ ren. Sie wurden in fünf lokale Sektionen eingeteilt, für deren Anleitung im siebenköpfigen Direktorium jeweils ein Mitglied zuständig war – bis auf Uljanow und Martow, die die politische Gesamtleitung innehatten, während Radtschenko als konspirativer Hintermann und Verbindung zu anderen, ähnlichen Gruppen agierte. Freilich gab es in diesem elitären Leitungsgremium keine Arbeiter; die proletarischen Mitglieder des Bun­ des galten als «Arbeiter-Aktivisten», die ihrerseits den Hebel zur Orga­ nisierung der «Massen» bilden sollten – ein Modell, das teilweise den syndikalistischen Bewegungen in Südeuropa oder den USA ähnelte, teil­ weise aber auch schon Elemente einer späteren bolschewistischen Kade­ rorganisation vorwegnahm. Als im November 1895 in einigen Petersburger Fabriken spontane Streiks ausbrachen, scheint die Agitation des «Kampfbunds» bereits eine beträchtliche Rolle gespielt zu haben; und dasselbe war im Jahr darauf der Fall, als ein großer, dreiwöchiger Streik in den Petersburger Textil­ fabriken (mit großteils weiblichen Belegschaften) ausbrach und Zehntau­

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sende auf die Straßen brachte. Allerdings waren nicht nur der marxis­ tisch orientierte «Kampfbund», sondern auch Volkstümler-Sozialisten («Narodowolzen») daran beteiligt, Unterstützung für die Streikenden zu organisieren und juristische Ratschläge mit politischer Agitation zu ver­ binden. Aber inmitten dieses ersten Brückenschlags zwischen Intellektuellen und Arbeitern zeigten sich schon klar erkennbare Bruchlinien. So hatten Radtschenko wie Uljanow darauf bestanden, die für den «Kampfbund» bei wohlhabenden Gönnern eingeworbenen Gelder für die Arbeit der ­eigenen, engeren Organisation zu reservieren, während einige der Arbei­ ter-Aktivisten sie zumindest teilweise auch für ihre Streik- und Solidar­ kassen verwenden wollten. Ernüchternd war auch die Erfahrung, dass nicht wenige der in den Abend- und Sonntagsschulen weitergebildeten Arbeiter bald dazu tendierten, sich der Fesseln einer einfachen Fabrik­ arbeit möglichst ganz zu entledigen und eigene Lebens- und Berufspläne zu machen. Uljanow selbst schien nicht allzu bedrückt, als er mitsamt der kom­ pletten Leitungsgruppe schon im Dezember 1895, kaum drei Monate nach seiner Rückkehr, verhaftet und aus dem Verkehr gezogen wurde. Er hatte größere Ambitionen. Die Gefängniszelle, die er ein Jahr lang ­bewohnte, verwandelte sich – auch dank dringender Vorstellungen sei­ ner Mutter bei den Zuständigen – binnen Kurzem in eine Studierstube. Unter den Augen eines wohlwollenden Gefängnisdirektors ließ er sich mit großen Mengen an Literatur samt Schreibmaterial versorgen (groß­ zügigerweise auch von dem wohlsituierten Struwe) und begann mit den Vorarbeiten seines längst geplanten theoretischen Hauptwerks «Die Ent­ wicklung des Kapitalismus in Russland», das er in der anschließenden dreijährigen Verbannung in der «sibirischen Schweiz», in einer fast fou­ rierschen Idylle zwischen Jagen und Pilzesammeln, Schwimmen und Fi­ schen, Krafttraining und Sprachstudien, vollenden würde. Seine Briefe an die Familie aus dem Gefängnis und dem Exil lassen zeitweise beinahe etwas von einer Hochstimmung erkennen («Ich habe alles, was ich brauche, sogar mehr als das»), zumal er 1898 seine Verlobte ­Nadeshda Krupskaja samt Schwiegermutter nach Sibirien nachkommen lassen konnte, die auf einer Trauung nach kirchlichem Ritus bestand. Beinahe wäre daraus ein richtiges Familienfest geworden, wäre die Eifer­ sucht der Schwestern Uljanow gegen die Braut (die Anna Iljitschna zu­ folge «wie ein Hering» aussah) nicht so heftig gewesen. Dass die Ehe mit Krupskaja eine eher spröde, ganz der gemeinsamen Sache gewidmete

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Verbindung war, hat Krupskaja in ihren Erinnerungen in die so stolze wie nüchterne Formulierung gefasst: «Er hätte niemals eine Frau lieben können, mit deren Meinungen er nicht übereinstimmte und die nicht seine Kameradin bei der Arbeit war.»36 Ungewöhnlicher war, dass sie selbst ihm vor seiner Abreise diese Kameradschaftsehe vorgeschlagen hatte, ein Angebot, das er annahm, nachdem ihre hübsche Freundin sich für einen anderen entschieden hatte.37 «Die Entwicklung des Kapitalismus in Russland» ist ein wuchtiges, theo­retisch durchaus anspruchsvolles, mit Statistiken und empirischen Materialien gesättigtes, allerdings in seinem vorgegebenen Beweiszweck und polemischen Furor gegen die Volkstümler und die Liberalen ä­ ußerst monomanes Buch – das nicht zuletzt auch deshalb 1899 legal in Peters­ burg erscheinen konnte, diesmal unter dem bewusst durchsich­ tigen Pseudonym «Wladimir Iljin». Uljanow durchschlug in gewisser Weise den gordischen Knoten der bisherigen Debatten durch eine radikale Bereinigung der sozialen ­Akteure, die er aus den zur Verfügung stehenden statistischen Daten herausrech­ nete, sowie durch einige kategorische Setzungen. Demnach entsprach die Entwicklung des Kapitalismus in Russland weitgehend dem west­ europäischen Muster, insbesondere auch was die «Auflösung der Bau­ ernschaft» und die rasche Entstehung eines industriellen Proletariats ­betraf. Alle Flausen, was die Möglichkeit einer eigenständigen, genos­ senschaftlichen Entwicklung der Dorfgemeinden betraf, waren damit ein für allemal erledigt. Ihr Verfall hemmte keineswegs die Entwicklung und Ausdehnung des inneren Marktes, d. h. der kapitalistischen Warenund Geldwirtschaft, wie Nikolaion (Danielson) behauptet hatte, son­ dern beschleunigte sie. Tatsächlich habe die «Entbauerung» in den Dörfern selbst antagonis­ tische Klassenverhältnisse geschaffen: Einer neuen «Dorfbourgeoisie», die rund 30 % der einstigen Bauernschaft umfasse und sich aus kapita­ listisch wirtschaftenden Agrariern sowie aus wohlhabenden Großbau­ ern («Kulaken») zusammensetze, die über ihre eigenen Erlöse hinaus Pacht-, Handels- und Wuchergeschäfte betrieben, stand demnach ein neues «Landproletariat» gegenüber, das 40–50 % der Landbewohner ausmachte und zu dem außer den völlig Besitzlosen auch die Masse der mit einem oder gar keinem Pferd wirtschaftenden, von Schulden und Abgaben niedergedrückten und auf Zusatzeinkommen angewiesenen kleinen Höfe zu zählen waren. Dazwischen stand als verschwindende

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Größe eine «mittlere Bauernschaft», die kaum marktgängige Waren pro­ duzierte und die Gelder, die sie für Pachten, Zinsen, Steuern usw. aufbrin­ gen musste, nur noch durch häusliche Nebengewerbe (die sogenannte Kustarindustrie) erwirtschaften konnte – die ihrerseits völlig unter dem Diktat der kapitalistischen Unternehmer und Aufkäufer stand. Ver­ schärft wurden die Prozesse der «Entbauerung» und Verelendung noch durch die Überbleibsel der Fronwirtschaft wie die Abarbeit für den Gutsherrn. Aber «die Herrin des heutigen Dorfs» war Uljanow zufolge eben nicht mehr die alte Feudalklasse, sondern bereits die neue kapitalis­ tische Dorfbourgeoisie, deren Hauptgruppe die «Kulaken» waren, also die großen, reichen Bauern.38 Was die Entwicklung der industriellen Arbeiterschaften betraf, auf ­denen alle Hoffnungen ruhten, errechnete Uljanow ein Wachstum bin­ nen eines Vierteljahrhunderts von 644 auf 950 «Großbetriebe», worun­ ter ­allerdings schon Fabriken ab 100 Arbeitern gezählt wurden. Immer­ hin gab es Anfang der 1890 er Jahre neben mehr als 700 Betrieben mit über 100 Beschäftigten auch bereits rund 150 Betriebe mit über 500 Be­ schäftigten sowie knapp 100 echte Großbetriebe, die mehr als 1000 Be­ schäftigte zählten. Das ergab nach Uljanows Schätzungen auf Basis lückenhafter Statistiken für 1890 eine Gesamtzahl der Fabrik- und ­ Werk­arbeiter im europäischen Russland von ca. 840 000 Personen. Mit den Berg- und Hüttenarbeitern sowie den Eisenbahnarbeitern war man bei circa 1,4 Millionen. Kamen noch die Arbeiter in den zahllosen klei­ nen Manufakturen in den Städten, Fabrikdörfern usw. hinzu und die auf Baustellen sowie in den kleinen «Artels» und «Kustar»-Betrieben be­ schäftigten ländlichen Lohnarbeiter, gelangte man zu noch deutlich hö­ heren Zahlen. Alles in allem ergab sich zum Stand der «Entwicklung des Kapitalis­ mus in Russland» aus revolutionärer Perspektive: erstens, dass, Stadt und Land zusammengerechnet, die überwiegende Masse der Bevölke­ rung sich (in weitem Sinne) in «proletarischen» Verhältnissen befand; zweitens, dass der Einbruch des Kapitalismus «an die Stelle der frühe­ ren Zersplitterung … eine nie dagewesene Konzentration der Produk­ tion sowohl in der Landwirtschaft als auch in der Industrie» gesetzt habe und die «Produktivkräfte der gesellschaftlichen Arbeit und Ver­ gesellschaftung dieser Arbeit» sich rapide steigerten; sodass drittens «jene Formen der persönlichen Abhängigkeit, die unbedingtes Attribut der vorkapitalistischen Produktionsweisen bildeten», unaufhaltsam ver­ drängt würden.

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Im Vergleich zu allen früheren Phasen der Geschichte sei das eine schnelle und höchst fortschrittliche Entwicklung, im internationalen Vergleich und im Verhältnis zum Stand der zeitgemäßen Technik und Kultur allerdings eine viel zu langsame. Es sei gerade die Kombination moderner und vormoderner Verhältnisse, die die Lage der arbeitenden Klassen in Russland so maßlos verschlechtere, ähnlich, wie es Marx dreißig Jahre zuvor über das deutsche Proletariat gesagt hatte: nämlich dass «nicht nur die Entwicklung der kapitalistischen Produktion, son­ dern auch der Mangel ihrer Entwicklung» es quäle.39 Abwegig waren alle diese Erwägungen und Thesen nicht. Was sie ­allerdings systematisch außer Acht ließen, war die enorme Rolle des Staates sowie die von ihm vermittelte und garantierte massive Aufnahme ausländischer Kredite für die Industrie. Russland war um das Jahr 1900 nicht nur der höchstverschuldete Staat seiner Zeit. Das Zarentum war zugleich auch der größte Landbesitzer und verfügte über den größten, wenn auch stets ungenügenden Beamten- und Militärapparat, vor allem aber auch über die größte staatlich gelenkte Wirtschaftsmaschine der Welt (wenn auch von ausländischen Kapitalgebern finanziert), mit der es bis 1900 zur immerhin fünftgrößten Industriemacht wurde. Dieses staatliche Wirtschaftspotential diente aber nicht in erster Linie kommerziellen Zwecken oder der kapitalistischen Akkumulation, son­ dern ganz überwiegend dem Ausbau der strategischen Infrastrukturen, der Schwer- und Rüstungsindustrien sowie insgesamt der imperialen ­Militärmacht, die nach immer höheren Summen verlangte. So überstieg allein das Militärbudget das für Bildung um ein Zehnfaches. Diese Mit­ tel konnten, auch wenn sie von in- und ausländischen Kreditgebern vor­ geschossen waren, letztlich nur aus Steuern kommen, vor allem auch in­ direkten, die auf dem Massenkonsum lasteten, nicht zuletzt aus dem staatlichen Wodkamonopol. Nach den Berechnungen Danielsons und Miljukows konfiszierte der russische Staat in den Jahrzehnten nach der Bauernbefreiung beinahe die Hälfte des bäuerlichen Gesamteinkom­ mens  – was mehr als alles andere dafür verantwortlich war, dass das russländische Pro-Kopf-Einkommen nur 20 % des englischen und 40 % des deutschen betrug und dass die durchschnittliche Lebensdauer fast auf dem Niveau Indiens und Chinas lag. Die Bevölkerungsexplosion, die Russland ab 1860 erlebte, wurde dadurch nicht etwa gebremst, sondern wie in jedem armen Land des 20. Jahrhunderts nur noch höher getrieben. Das alles bildete einen fatalen Kreislauf und rückte das Land immer nä­ her an den Abgrund heran, der sich zuerst 1905 und dann 1917 auftat.

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Wenn Lenin (mit Marx) dafür nicht nur die kapitalistische Entwick­ lung, sondern mindestens ebenso den Mangel einer solchen Entwicklung verantwortlich machte, war er der Lösung des Problemknotens durch­ aus nahe. Aber in seinem tief verwurzelten Hass auf alles Bürgerliche, Private, Individualistische war er unfähig, daraus die angemessenen ­politischen und ökonomischen Konsequenzen zu ziehen. Im Gegenteil: Mit der Ausblendung der «managerialen» Rolle des Staates und, kom­ plementär, der drastischen Unterschätzung der primären Ausbeutung durch die staatlichen Steuern (die er statt auf 50 % auf 15 % der länd­ lichen Einkommen schätzte40) legte Lenin die theoretischen Grundlagen dafür, dass das Regime seiner Partei nach 1917 und vollends dann unter Stalin in der Kollektivierungsrevolution ab 1929 diesen fehlerhaften Kreislauf der sozialökonomischen Entwicklungen nur partiell durchbro­ chen, in vielen zentralen Elementen aber wiederholt und auf die Spitze getrieben hat.

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Der seltsame Führer

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omit könnte eine Geschichte des modernen Kommunismus beginnen? Zum Beispiel mit dieser Szene: Wie im Oktober 1903 ein Radfahrer in Genf geistesabwesend in eine der neuen elektrischen Stra­ ßenbahnen ­hineinfuhr. Der Mann, ein dreiunddreißigjähriger Russe na­ mens Uljanow, der sich dabei erheblich verletzte, war unterwegs zu einer Konferenz der «Auslandsliga der russischen Sozialdemokratie». Mur­ melnd und gestikulierend wie ein Schlafwandler pflegte er, den Erinne­ rungen seiner Frau Nadeshda Krupskaja zufolge, vor wichtigen Partei­ treffen ganze Nächte hindurch in ihren Exilquartieren in Genf oder München, Paris oder London, Zürich oder Krakau auf und ab zu mar­ schieren, um wie ein Boxer den Schlagabtausch mit seinen Gegnern zu proben. In ähnlich somnambuler Verfassung (stellen wir uns vor) wird er in die Genfer Straßenbahn ­hineingefahren sein. Verspätet, mit Augen­ klappe und bandagiertem Kopf, erschien er zu dem zur Schlichtung an­ gesetzten Parteitreffen, das er nicht hatte verhindern können, und warf sich umso wütender in die Schlacht. Das Treffen endete fast in Hand­ greiflichkeiten und mit einem tiefen Zerwürfnis. Das war ganz in seinem Sinne. «Welches Schicksal hätte wohl seine Partei erlitten, wenn der Zusam­ menstoß mit etwas mehr Wucht passiert wäre?», fragte 1964 der zum Historiker gewordene amerikanische Ex-Kommunist Bertram D. Wolfe in seiner lebendigen, noch immer instruktiven Dreifachbiografie über Lenin, Trotzki und Stalin.1 So unbeantwortbar solche Fragen sind, so erhellend können sie sein. Tatsächlich waren der russische Bolschewismus wie der daraus hervorgegangene moderne Kommunismus zuallererst das mono­ mane Werk Wladimir Uljanows, der sich seit 1902 «Lenin» nannte. Allerdings liegt darin eine schwierige geschichtstheoretische Frage, erst recht für historische Materialisten. Es bedurfte der erstaunlichsten dialektischen Winkelzüge und obskursten Theoreme über Genies und Massen, Führer und Klassen, damit die kommunistischen Parteien und Staaten eine plausible Erklärung für die paradoxe Tatsache anbieten

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konnten, die ja offen zutage lag und der sie in ihren sklavischen Macht­ kulten bis zum Exzess huldigten: nämlich dass sie entgegen ihrer steten Berufung auf die «Massen» und die historischen «Gesetze» ihre ganze Existenz und ihre entscheidenden Siege solitären Gründer- und Führerge­ stalten verdankten, für deren formative Rolle, ungehemmte Entschei­ dungsfreiheit und totalitäre Machtvollkommenheit man kaum historische Parallelen findet. Außer peinlicherweise auf der politischen Gegenseite: bei den Bewegungen des italienischen Faschismus und des deutschen Na­ tionalsozialismus. Allerdings enthüllt dieser Vergleich sofort auch die grundlegenden Unterschiede: Benito Mussolini hatte als Erster halb einschüchternd, halb renommierend jenes Wort «totalitario», totalitär, für sich in An­ spruch genommen. Aber anders als sein russischer Gegenpart war Mus­ solini – als linker Radikalsozialist vor dem Krieg, als Condottiere seiner «faschistischen» Kampfgruppen, schließlich als der Duce seines Landes und Gründer eines neuen, kurzlebigen Römischen Reichs – für alle Welt sichtbar und zu jeder Zeit höchst präsent gewesen, als großer Redner, Organisator oder Kommandeur; und er selbst brauchte, um sich in Form zu halten, noch stets die spektakulären Massenauftritte und plebiszitä­ ren Akklamationen. Noch mehr gilt das für Adolf Hitler, der als Dema­ goge reinsten Wassers von der physischen und affektiven Vereinigung mit seinen Auditorien und Gefolgschaften lebte, bis an den Rand des Obszönen. Am Ende blieben Hitler wie Mussolini historisch ephemere, national beschränkte Figuren, die zwar mit ihren willigen Helfern eine Welt in Trümmer gelegt hatten, aber mit ihnen auch dem Orkus geweiht waren. Ganz anders Lenin, der vom revolutionierten Russland aus eine Welt­ bewegung initiiert hat, die in einem ungleich größeren Radius agiert und das vergangene Jahrhundert sehr viel tiefgreifender geprägt hat – vertre­ ten durch eine Anzahl weiterer Führer, die ihre ideologische und politi­ sche Formatierung allesamt durch ihn und den «Leninismus» erfahren hatten. In diesem Sinne konnte Leszek Kolakowski 1977 unwiderspro­ chen feststellen: «Der Weltkommunismus, wie wir ihn heute kennen, ist wahrhaftig sein Werk.»2 Und: «Misst man die Größe von historischen Gestalten am Ausmaß der Folgen, die wir ihrer Tätigkeit zuschreiben dürfen, dann muss Lenin gewiss als der größte Mensch unseres Jahrhun­ derts anerkannt werden.»3

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Wie Lenin zu einer derart mächtigen Jahrhundertfigur geworden ist, bleibt in Vielem durchaus rätselhaft. Als Agitator vor großen Massen, als den ihn zahllose Bilder und Plastiken dargestellt haben, ist der kleine Mann mit der Glatze, dem schütteren rötlichen Bart und dem Advoka­ tenanzug jedenfalls so gut wie nie aufgetreten, und auch nur ganz selten vor Versammlungen von unsicherer Loyalität. Selbst im Revolutionsjahr 1917 überließ er die Arenen einer demokratischen Öffentlichkeit in ­Petrograd Trotzki oder Sinowjew; er selbst war, außer bei seiner An­ kunft auf dem Finnischen Bahnhof Anfang April, nur selten überhaupt zu sehen. Im weiten Land draußen kannte ihn niemand. Erst im Laufe des Jahres 1918, in größerem Stil erst ab seinem 50. Geburtstag 1920 und vollends dann nach seinem Tod, wurde er den Subjekten seines neuen Sowjetrussland als eine Bildikone vorgestellt – die nach und nach in der «roten Ecke» jedes Hauses, jedes Klubs und jeder Kaserne die ­alten Heiligenbilder zu ersetzen begann. Lenins politisches Wirken war von Anfang bis Ende auf den Umkreis seiner Partei, ihrer Organe und Gremien beschränkt. In diesem geschlos­ senen Rahmen konnte er allerdings mit enormer rhetorischer Durch­ setzungskraft und polemischer Selbstsicherheit auftreten. Über den ­Eindruck der ersten Rede Lenins, die er auf dem Parteitag 1907 hörte, schrieb Gorki: «Mir schien, er spreche schlecht, doch schon nach einer Minute war ich, wie alle anderen, vollkommen im Bann seiner Rede. Ich hatte erwartet, dass Lenin anders ist. Irgendetwas fehlte mir an ihm. Er schnarrt das ‹r›, steckt die Daumen in den Ärmelausschnitt der Weste, steht herausfordernd da. Und überhaupt, der ganze Mensch ist zu ein­ fach, man fühlt nichts von einem ‹Führer›.»4 In dieser posthumen, be­ tont schlichten Schilderung, die natürlich auf das glatte Gegenteil des Gesagten hinauswollte, steckt sicherlich einiges künstlerisches Raffine­ ment. Aber ein Moment authentischer Überraschung dürfte darin doch enthalten gewesen sein. Dabei agierte Lenin als Parteiführer fast zu jeder Zeit und in so gut wie jeder entscheidenden Frage und Situation aus einer minoritären ­Position heraus, die er, wenn er nicht durchkam, allenfalls zeitweise (grollend) räumte oder taktisch modifizierte, aber niemals aufgab  – ­außer, wenn er seinen Standpunkt plötzlich änderte, was mehrfach vor­ kam: Dann galt bedingungslos die neue Linie, für die er sofort neue ­Anhänger sammelte. Wer auf dem alten Standpunkt beharrte, war ein Schematiker, der einer «schöpferischen» Anwendung der Prinzipien ­einer revolutionär-marxistischen Strategie und Taktik nicht fähig war.

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Das bedeutete, dass er nie über längere Zeit hinweg einen stabilen Kreis von Anhängern um sich hatte. Er strebte das nicht einmal an, ob­ wohl er bei aller polemischen Schroffheit auch werbend und sehr zuge­ wandt sein konnte, fast mit Zügen eines Menschenfischers. Einzel­ gespräche waren eine seiner bevorzugten Methoden, um Netze persön­ licher Loyalitäten zu knüpfen. Aber noch seine engsten Vertrauten von heute konnten seine innerparteilichen Gegner von morgen werden – und umgekehrt. Seine verletzende Schärfe in den nie endenden Auseinander­ setzungen war legendär und kaum zu überbieten, aber selten «persönlich» gemeint. Tatsächlich war Lenin (anders als Stalin mit seinem mörderi­ schen Elefantengedächtnis) nicht nachtragend: Wer klein beigab, wurde wieder aufgenommen – als Verbündeter für den nächsten Streit in einer neuen Konstellation. In diesen zahllosen Bataillen um die richtige Strategie und Taktik, aus denen sein politisches Leben von Anfang bis Ende bestand, konnte er sich in unerhörte Erregungszustände steigern und erlitt regelmäßig phy­ sische Zusammenbrüche, wobei die modische «Neurasthenie»5 (nervöse Erschöpfung) sich mit einer Fülle weiterer Leiden kombinierte, vom ­Magengeschwür über die Migräne bis zur Gürtelrose. Immer wieder gab er viel Geld für prominente Ärzte aus, die ihm wie zum Hohn nur raten konnten, mal abzuschalten. Am Ende, kaum an der Macht und gerade erst in seinen frühen Fünfzigern, kamen Schlaganfälle hinzu, die mit der sklerotischen Deformation seines Hirns zusammenhingen. Alles das hin­ derte ihn aber nicht, aus dem bis zur Erschöpfung geführten innerpartei­ lichen Kampf  – oder «Krieg», wie er gern sagte  – eine revolutionäre ­Tugend und Lebensform zu machen, die er enthusiastisch rühmte, weil sie notwendig und gesetzmäßig sei. Gleich in der ersten Ausgabe der von ihm initiierten und redigierten Zeitung «Iskra» (Der Funke) vom Dezember 1900, um die sich die neue Partei bilden sollte, hieß es in einem von ihm verfassten Editorial: «Be­ vor wir uns vereinigen und damit wir uns vereinigen können, müssen wir uns zuerst entschieden und bestimmt voneinander abgrenzen.»6 Ver­ einigen konnte man sich nur auf einer revolutionären Position, die er selbst markierte. «Unterwerfung oder Krieg. Tertium non datur», schrieb er 1902 im Vorfeld des Gründungsparteitags an Julij Martow, der zu die­ ser Zeit noch sein engster Freund und Verbündeter war – bevor er sein wichtigster innerparteilicher Gegenspieler wurde.7

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Eine Generation Revolution «Bei den geheimen Zusammenkünften in den Wäldern um Nikolajew führte man wissenschaftliche Gespräche oder las aus einem von Bron­ stein in Odessa aufgefundenen handschriftlichen Exemplar des Kommu­ nistischen Manifestes vor, das zahlreiche Fehler und Auslassungen auf­ wies. Man rezitierte, sang oder begann sogar selbst Verse zu dichten. Der ‹ratiolistische› Tischler (er hatte sich beim Aufnahmegespräch als «Ratiolist» bezeichnet) schrieb einen ‹Proleten-Marsch›, in dem er Ge­ danken wie ‹Wir sind das Alpha und das Omega, der Anfang und der Schluss› Ausdruck gab. Der rothaarige Nesterenko, ebenfalls ein Tisch­ ler, verfasste ein ukrainisches Lied über Karl Marx: ‹Siehe, es naht ein großer Prophet!›. Draußen auf den Sanddünen oder in den Wäldern au­ ßerhalb der Stadt – wo sie niemand hören konnte – sangen die Arbeiter oft dieses Lied.»8 Im Frühjahr 1897, als in vielen Städten des Reiches Kampf- oder ­Arbeiterbünde aus dem Boden schossen, gründete sich auch in Nikola­ jew am Schwarzen Meer ein «Südrussischer Arbeiterbund». Den Anstoß hatte ein Zirkel gegeben, der vornehmlich aus Gymnasiasten und Stu­ denten bestand. Einer von ihnen war der siebzehnjährige Lew Bronstein, der von seinem Vater, einem jüdischen Landwirt und Kleinunternehmer (nach leninistischen Kriterien ein typischer «Kulak») aus dem ukraini­ schen Steppendorf Janowka nach Nikolajew geschickt worden war, um seine Gymnasialausbildung zu beenden. Der Zirkel, der sich auf dem Anwesen eines hierher verbannten Veteranen der Narodnaja Wolja traf und dort zeitweise wie eine keusche «Kommune» nach dem Muster der Helden Tschernyschewskis zusammenlebte, stritt sich mit aller hochher­ zigen Erbitterung über die unterschiedlichsten Theorien, die sie aus ihren weitgestreuten Lektüren – von Mill über Darwin bis Marx – bezogen; und natürlich über die richtigen politischen Folgerungen. Unter dem Einfluss der sechs Jahre älteren Alexandra Sokolowskaja, die in der Verbannung seine erste Frau werden würde, hatte sich der junge Bronstein dem Marxismus angenähert, ohne seine Volkstüm­ ler-Positionen (die ihm freier, weniger schematisch erschienen) ganz zu räumen. Gleichwohl war es seine Idee, unter dem Eindruck der auffla­ ckernden Unruhen Rekruten für einen zu gründenden «Arbeiterbund» zu finden. Anfangs waren es nur ein paar religiöse Sektierer wie die bei­ den Tischler; dann stießen einige Lehrlinge und junge Handwerker

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hinzu; und als die ersten Flugschriften in der Stadt zirkulierten und Auf­ sehen erregten, kamen auch Gruppen neugieriger Arbeiter aus den Werf­ ten und Reparaturwerkstätten von Nikolajew zu den konspirativen sonntäglichen Treffen in den Wäldern, bei denen diskutiert, rezitiert und gesungen wurde. Und in alledem spielte der blutjunge Bronstein, der seine Schulbildung dafür weitgehend drangab, als Schriftleiter wie als Haupt­ autor einer hektographierten Zeitung namens «Unsere Sache» eine im wörtlichen Sinne «federführende» Rolle. Er begann wie in einem Fieber­ strom, aus dem er nie mehr aufwachen würde, zu schreiben. «Feder» (Pero) war sein erster Kampfname. Im Januar 1898 schlug die Polizei zu, nachdem sie die entstehende ­Organisation und ihre Verbindungen weitgehend durchsetzt und aus­ spioniert hatte. Insgesamt 200 Personen wurden verhaftet, verhört und entweder nach Geständnissen (die oft Beichten glichen) entlassen oder ohne Gerichtsverhandlung in Gefängnisse oder in die Verbannung ver­ schickt. Was für Arbeiter mit Familie existenzvernichtend sein konnte (einer beging Selbstmord), wurde für den Kern der Jüngeren zu einer ers­ ten Bewährungsprobe, durch die sie fast zwangsläufig auf den Weg eines professionellen Revolutionärstums gestoßen wurden. Allerdings war die Haft auch für den jungen Bronstein, nicht zuletzt dank der Interventionen seines Vaters, relativ milde und wurde für ihn wie zuvor für Uljanow zu einer Zeit intensiver Studien und Lektüren. Seine endgültige Konversion zum Marxismus teilte er seinen Genossen per Klopfzeichen mit. Hier im Gefängnis und in der anschließen Verban­ nung zimmerte er sich «einen festen wissenschaftlichen Boden». «Die Ideen der Entwicklung und des Determinismus … bemächtigten sich meiner vollständig. Darwin war für mich der große, gewaltige Wächter, der vor dem Eingang zum Tempel des Universums stand.»9 Dass dieser biologische Materialist seinen Glauben an einen Schöpfer­ gott behalten hatte, konnte er allerdings kaum fassen. Trotzki war ein extremer Rationalist, der den Sozialismus als einen «Versuch, das Leben zu rationalisieren» verstand, sprich: «es nach dem Diktat der Vernunft umzuformen», was die willentliche Beherrschung der menschlichen Triebe, Emotionen und Instinkte einschloss. In einem Rückblick auf seine geistige Entwicklung schrieb er 1929: «Das Gefühl der Überlegen­ heit des Ganzen über das Detail wurde ein unzertrenn­liches Stück mei­ nes schriftstellerischen Schaffens und meiner politischen Betätigung. Der stumpfsinnige Empirismus … war mir verhasst. Ich suchte für die Fak­ ten Gesetze.»10 Hatte er diese Gesetze einmal gefunden, ordneten sich

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alle Tatsachen und Entwicklungen wie von selbst, so wie der «Stoff» für einen Schriftsteller, der den Roman seiner Epoche schreibt, aber nicht nach Laune und Gutdünken, sondern indem er die «von der Geschichte selbst» gezeichneten Lineaturen aufdeckt und sie politisch mitgestaltet. «Kampfbünde» aus Intellektuellen und Arbeitern entstanden vor der Jahrhundertwende in vielen der expandierenden Städte und neuen In­ dustriereviere des Russländischen Reichs. In den baltischen, polnischen, ukrainischen und kaukasischen Randgebieten, wo sich das Soziale und Politische mit Fragen der nationalen Unterdrückung mischten, waren ihre Aktivitäten noch fiebriger als in den russischen Kerngebieten. Diese Gruppen von weltanschaulich oft sehr unterschiedlicher Observanz wurden regelmäßig zerschlagen und bauten sich regelmäßig wieder auf, während ihre Aktivisten und Aktivistinnen sich in den Gefängnissen härteten und schulten und an ihren Verbannungsorten sofort neue Zir­ kel und Gruppen bildeten, nicht selten unter Einschluss älterer Verbann­ ter aus der Zeit der Narodnaja Wolja. Und genau so, wie das Regime es befürchtete, wurden diese Relegierten und Deportierten, die sich über das ganze Reich verteilten, nun erst recht zu Trägern revolutionärer ­Ansteckung. Im überspannten Revolutionarismus dieser jugendlichen Akteure steckte, bei aller authentischen Empörung und bei aller Hochherzigkeit, ein sehr realistischer, wenn auch vorerst hypothetischer Machtinstinkt – wie ihn Lenin dann in äußerster Konzentration verkörpern würde. Denn ­Intelligenzija und Arbeiter, so gering ihr zahlenmäßiges Gewicht in der Gesamtbevölkerung und so unklar ihr Status in der ständischen Ord­ nung des Reiches waren, stellten durch ihre kombinierten Fähigkeiten, die neuen Bühnen der Öffentlichkeit zu besetzen und Knotenpunkte des Staats- und Gesellschaftsmolochs lahmzulegen, eine soziale Macht dar, die mehr war als die Summe ihrer Teile. Hier und da formten sich in den Streiks und Straßenaktionen, die vor und nach der Jahrhundertwende aufflackerten, schon verschworene Kerne von Voll- und Teilzeit-Revolutionären. Proletarisierte Intellektu­ elle und intellektualisierte Proletarier bildeten eine Legierung, die dem von Lenin wenig später propagierten Typus eines von allen Schlacken seiner Herkunft gereinigten berufsrevolutionären Kaders durchaus na­ hekamen. Regelmäßig konnten sie dabei im Schutze bohèmehafter Mili­ eus operieren, in denen Studenten und Gymnasiasten, abenteuernde Töchter aus gutem Hause, dissidente Beamte und unternehmende Bri­

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ganten sich trafen, mal in Wäldern oder Spelunken, mal in adeligen Stadt- oder Landhäusern oder in großbürgerlichen Salons. Und wer sich verstecken oder fliehen musste oder für Missionen und Auslandsreisen falsche Pässe und Identitäten brauchte, konnte (mehr noch als die Revo­ lutionäre der 1860/70 er Jahre) auf Spenden gutsituierter Bürger und praktische Hilfen hochgestellter Sympathisanten rechnen. Sie alle waren Angehörige einer «Generation Revolution», die sich instinktiv und ganz zu Recht sicher war, dass eine große Umwälzung bevorstand. Jedenfalls betraten fast alle Hauptpersonen des großen, mit verteilten Rollen durchgespielten Dramas, das sich in den folgenden beiden Jahr­ zehnten im großen Russländischen Reich entrollen würde, in diesen Jah­ ren vor und nach der Jahrhundertwende bereits die politische Bühne, als Teil eines weiten, ineinanderfließenden oppositionellen Spektrums von Liberalen, Volkstümlern, National- und Sozialrevolutionären, Anarchis­ ten und Sozialdemokraten. Als Prototypus der Klasse von Berufsrevolutionären, die im leninisti­ schen Parteikonzept dann ihre höhere Legitimation und strikte Forma­ tierung fanden, kann ein junger Georgier namens Iossif («Sosso») Dschu­ gaschwili gelten, der 1913 alle seine bisherigen, durchweg georgischen Kampfnamen ablegte und sich, in demonstrativer Anlehnung an seinen Führer und Mentor «Lenin», ab jetzt «Stalin» nannte, was auf Russisch bedeutet: der «Stählerne». Solche Kampfnamen hatten nie mit Konspiration allein zu tun, oder höchstens zu Beginn. Es ging um das Flair des Lebens im Untergrund oder auch im Exil, das man in dem Moment wählte, in dem man unter einem revolutionären Kampfnamen auftrat. Man schlüpfte in eine neue Haut, sagte sich von seiner bürgerlichen Existenz los und wurde durch eigenen, existentiellen und spätestens nach der ersten Verhaftung mehr oder weniger ­irreversiblen Entschluss ein Anderer, ein «höherer Mensch» im Geiste von Tschernyschewskis schemenhaftem Rachmetow, eben ein Berufs­revolutionär, dessen «Persona» die individuelle Biografie aus­ löschte. 1917 wurde die ganze breite politische Bühne Russlands von solch enigmatischen Figuren mit nie gehörten, meistens russifizierten Kampfnamen geradezu überschwemmt, die aus dem Untergrund auf­ tauchten oder aus dem inneren oder äußeren Exil. Und nach der bol­ schewistischen Macht­ eroberung blieben diese internen Kampfnamen wie Lenin, Trotzki, Stalin, Kamenew, Sinowjew, Radek, Kirow usw. auch die gültigen Herrschaftsnamen, auratische Adelstitel, auf die in ei­

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nem beispiellosen Akt machtbetonter Hybris sogar große, jahrhunder­ tealte Städte des neu ­kolonisierten sowjetischen Megastaates getauft wurden. Der junge Dschugaschwili war, wie das Gros der bolschewistischen Kader, eine typische Kreatur der Provinzen, der begabte Sohn eines (ver­ mutlich ossetischen) Schuhmachers aus Gori, der es zu einem kleinen Manufakturbetrieb und einigem Wohlstand gebracht hatte, bevor er das alles verspielte und versoff. Damit stürzte er seine junge Frau, die sich von ihm trennte, und seinen kleinen Sohn in die Armut, aus der die bei­ den durch eine Reihe von Wohltätern und, was den jungen «Sosso» be­ traf, durch Stipendien immer wieder gerettet wurden. Das Gymnasium, in das er in Tiflis aufgenommen wurde, war ein von russisch-orthodoxen Priestern betriebenes Seminar und Internat und sollte als Ausbildungs­ stätte für eine neue Reichselite dienen, mittels derer das Zarentum das wenige Jahrzehnte zuvor unterworfene Georgien regieren und russifizie­ ren wollte  – das sich seinerseits freilich auf eine stolze tausendjährige Tradition von Kultur und Staatlichkeit berief. Die ersten Proteste der Seminaristen hatten sich schon Anfang der 1890 er Jahre (und partiell erfolgreich) gegen die Verbannung der ge­ orgischen Sprache und Literatur aus dem Unterricht gerichtet. Als der sechzehnjährige Dschugaschwili 1895 in das Seminar eintrat, schwamm er auf der Welle eines nationalkulturellen «Wiedererwachens» begeistert mit und übte sich in der Produktion romantisch-folkloristischer Ge­ dichte; sechs von ihnen wurden immerhin in der prominentesten geor­ gischen Literaturzeitschrift abgedruckt und in Anthologien aufgenom­ men. Als attraktiver erwiesen sich jedoch bald die eingeschmuggelten, unter den Seminaristen von Hand zu Hand gehenden Schriftsteller, die aus dem offiziellen Kanon verbannt waren, wie Tschernyschewki oder Ne­kras­ sow, Tschechow, Tolstoi, Hugo, Zola. Hinzu kamen Philosophen und Sozialtheoretiker, die aus einer darwinistischen oder sozialistischen Per­ spektive der russisch-orthodoxen Lehre widersprachen. Irgendwann im Herbst/Winter 1897 lasen einige in Tag- und Nachtschichten in dem für ein paar Kopeken befristet ausgeliehenen «Kapital» von Marx und be­ gannen, abends in sozialistische Zirkel außerhalb des Seminars einzu­ tauchen, wie sie in verschiedenen doktrinären Ausformungen im ganzen Reich aus dem Boden schossen. Aus dem anfangs fügsam-gläubigen ­Seminaristen und Chorknaben «Sosso» (der über eine großartige Sing­ stimme verfügte) wurde wie aus fast allen anderen Absolventen dieser

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Eliteschule ein militanter Atheist und Feind der Monarchie, so wie sich das Seminar überhaupt in eine einzige Pflanzschule für Revolutionäre verwandelte. 1899 wurde der achtzehnjährige Dschugaschwili wegen Renitenz und Nichtteilnahme an den Prüfungen relegiert, zusammen mit mehreren Dutzend anderen Seminaristen, die sich der Russifizierungs­ politik und den erzwungenen Loyalitätsbeweisen verweigerten.11 Das Milieu, in das der junge Stalin nun mit Haut und Haaren eintauchte, ähnelte demjenigen, das dem fast gleichaltrigen Trotzki Gelegenheit zur ersten Bewährung gab. Im Sommer 1898 will Stalin (der späteren offi­ ziellen Parteibiografie zufolge) sich der eben gegründeten «So­zial­demo­ kra­tischen Arbeiterpartei Russlands» angeschlossen haben – so wie sein späterer Antagonist Trotzki auch. In Wirklichkeit blieb diese neue, ge­ samtrussische Partei aber eine Fiktion; ganze neun Delegierte hatten es zur Gründungskonferenz bei Minsk geschafft und wurden anschließend sofort verhaftet, bis auf Radtschenko, der es wieder schaffte, sich (vor­ erst) zu entziehen. Dauerhafter und einflussreicher waren die autochtho­ nen sozialistischen Parteien, die die Polen, Litauer und Letten seit 1892 bereits gegründet hatten, sowie der 1897 ins Leben gerufene, recht schlagkräftige «Allgemeine Jüdische Arbeiterbund» in den Städten des Ansiedlungsgebiets. Die georgischen, armenischen und ukrainischen ­Sozialisten orientierten sich dagegen – in Abgrenzung zu den National­ parteien, die parallel entstanden – eher auf eine multinationale russlän­ dische Parteigründung. Der aus Schülern und Studenten bestehende Tifliser Zirkel begann, nicht untypisch, ein halbes Dutzend junger Arbeiter aus den Eisenbahn­ werkstätten zu rekrutieren. «Sosso» Dschugaschwili, der ein fanatischer Leser war (ausweislich seiner mit vielen Lesespuren und Notizen ver­ sehenen Bibliothek blieb er das auch als Herrscher im Kreml12), tat sich in den Schulungen als Lehrer hervor, der über ein beachtliches Talent verfügte, komplizierte Sachverhalte – so recht und schlecht, wie er selbst sie verstanden hatte – auf einfache, pathetische Formeln zu bringen. Es ging in diesen Kursen um Themen wie die «Mechanik des kapitalisti­ schen Systems»; aber es ging immer auch um «Stürme», die es zu meis­ tern gelte, und um «Blutströme», die noch fließen würden, bevor das Unterdrückungssystem endlich zu Fall gebracht wäre. Er hatte einen bequemen Job an der staatlichen Wetterstation gefun­ den, ließ sich die Haare und einen Bart wachsen, trug eine schwarze ­Satinbluse, gelegentlich mit roten Krawatten, einen schwarzen Filzhut

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und zeigte überhaupt zeittypische Züge eines revolutionären Bohemiens. Wenn man Montefiores Porträt nur halbwegs trauen kann, war der «junge Stalin» ein manischer, tag- und nachtaktiver, mal romantisch ver­ liebter, mal eher zynischer Schürzenjäger, der in den nachfolgenden Jah­ ren im Untergrund fast jede seiner Genossinnen und Hauswirtinnen oder eine ihrer Töchter herumbekam und dabei etliche Kinder zeugte. Von anderer Art war die kurze Ehe mit Ketewan (Kato) Swanidse 1906, die aus einer gebildeten bolschewistischen Familie stammte und die er offenbar aufrichtig geliebt, in der Zeit ihrer Schwangerschaft und bis zu ihrem frühen Tod allerdings nicht geschont hat; so wenig, wie er sich um ihren gemeinsamen Sohn Jakow gekümmert hat.13 Kleinwüchsig und pockennarbig, mit einer verkrüppelten linken Hand, brauchte der ange­ hende Berufsrevolutionär Stalin offenbar die wechselnden libidinösen Engagements als ein zusätzliches Energetikum, aber auch als einen sen­ timentalischen Ausgleich für seine frühe kaltblütige Entschlossenheit, Spitzel, Gegner oder «Diener der Macht» zu identifizieren, zu terrorisie­ ren oder zu liquidieren. Aber auch die Zirkeltreffen selbst waren anfangs keine strengen Partei­ sitzungen, sondern «geprägt von lauten Auseinandersetzungen, Lektü­ ren und ausführlichen Gesprächen, unterbrochen von Gitarrenspiel und Gesang».14 Die soziale Zusammensetzung der entstehenden kaukasi­ schen Sozialdemokratie war durch den hohen Anteil an Adligen und Kindern reicher bürgerlicher Familien noch erstaunlicher als anderswo. Der Initiator Lado Kezchoweli war der Sohn eines Priesters, der in geho­ benen Gesellschaftskreisen verkehrte. Fürst Alexander Zulukidse, zeit­ weise Freund und Mentor Dschugaschwilis, stammte aus einer der reichsten Familien des Hochadels, die in Petersburg am Hof verkehrte, während sie daheim in Abchasien Kontakte ins revolutionäre Milieu un­ terhielt. Ein Neuankömmling im Zirkel war Simon Ter-Petrossjan, Sohn eines reichen armenischen Heereslieferanten, der unter seinem Kriegs­ namen «Kamo» bald zu einem der skrupellosesten Killer und Geld­ beschaffer der Bolschewisten werden würde.15 Alle Aktivitäten entwickelten sich in einem permanenten Katz-undMaus-Spiel mit der Polizei, die die revolutionären Milieus ihrerseits mit Spitzeln und Provokateuren durchsetzt hatte. Zum Bild dieser Unter­ grundaktivitäten gehörten die überall zirkulierenden Flugblätter, Zei­ tungen und Broschüren aus einer illegalen, recht leistungsfähigen Dru­ ckerei, die Leonid Krassin, Ingenieur in Baku, seit 1901 im muslimischen Viertel aufgezogen hatte. In diese Boomtowns des kaukasischen Südens

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zog es, als der polizeiliche Verfolgungsdruck in Tiflis stärker wurde, auch den jungen Dschugaschwili. Zunächst wurde er auf Beschluss eines neugebildeten sozialdemokratischen Parteikomitees aber nach Batumi ge­ schickt, um dort im Ölhafen und der Rothschild-Raffinerie zu agitieren. Damit begann er, seine georgische Lebenswelt und Muttersprache zu verlassen und in eine multinationale und imperiale russischsprachige Welt einzutreten, in die er sich rasch einfügte, ohne seine Tifliser Verbin­ dungen je aufzugeben; so wie er überhaupt seine weitgespannten kauka­ sischen Netzwerke später mit nach Petersburg und Moskau brachte. Sie würden ihm noch als dem Herrn des Kreml einen Großteil seiner Ge­ folgschaft liefern – mit dem praktisch-mafiotischen Vorteil, im Zweifels­ fall Dinge im heimatlichen Idiom besprechen zu können. In Batumi feierte der junge Dschugaschwili seinen ersten Triumph, als es ihm in einer Mischung aus Tollkühnheit und List gelang, sich im Öl­ hafen anheuern zu lassen, eine Gruppe tatbereiter Aktivisten um sich zu sammeln und die Arbeitskonflikte durch Brände, Sabotage und Streik­ aktionen anzuheizen, bis die französische Geschäftsführung Konzessio­ nen machen musste. Als sie sich wenig später mit Massenentlassungen rächte, provozierte das neue Streiks, Verhaftungen, Demonstrationen und schließlich bewaffnete Zusammenstöße. Am Ende der wochenlan­ gen Unruhen stand ein Blutbad mit 13 Toten und einem halben Hundert Verletzten, das als «Massaker von Batumi» in ganz Russland Aufsehen erregte und später eine Gründungserzählung des Kults um Stalin wurde. Hier in Batumi legte er sich den neuen Kampfnamen «Koba» zu, eine literarische Anspielung auf einen legendären Rächer der Enterbten. Und hier entfaltete er tatsächlich (das ist der wahre Kern seiner späteren Le­ gende) Fähigkeiten als Organisator, schattenhafter Gangleader und wir­ kungsvoller, weil schnörkelloser Agitator. Hier scheint er auch das erste Mal bei einem Fememord an einem vermuteten Polizeispitzel dabei ge­ wesen zu sein – Blut, das jeder echte, «harte» Revolutionär wie in einem Initiationsritus geleckt haben musste. Die russische revolutionäre Bewe­ gung war durch und durch «physisch» und tellurisch, während sie gleichzeitig mit dem Kopf in einem Himmel von Theorie, Mythos und Lyrik steckte. Das Gefängnis, das Dschugaschwili schließlich doch erwartete, war die obligatorische Universität, die er durchlief. Als «Politischer» hatte man hier Gelegenheit zu ausgiebigen Debatten und kollektiven Selbst­ schulungen, aber auch zu individuellen Lektüren, nicht zuletzt aus den

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gutbestückten Gefängnisbibliotheken. Neuankömmlinge wurden mit lauten Slogans, roten Tüchern und revolutionären Liedern begrüßt. Und im Kontakt mit den Kriminellen, deren Gesellschaft der spätere Stalin nach eigenem Bekunden vielfach vorzog, weil es unter ihnen angeblich weniger «Ratten» (Spitzel) gab, ließen sich eine Menge praktischer Fer­ tigkeiten erlernen und Tipps für das künftige Leben im Untergrund sam­ meln. In diesen Mischkesseln der zaristischen Repression – mit ihrer typischen Mixtur aus Brutalität und Paternalismus, Strenge und Korruption, Her­ metik und Durchlässigkeit – formierten sich jene eng verschworenen, er­ bittert untereinander streitenden Kohorten von Revolutionären, die das russische Imperium erschüttern, stürzen und schließlich «mit roten Hän­ den» gewaltsam wieder zusammenfügen würden. Die Verbannten trafen auf großteils korrupte, oft devote, zuweilen sympathisierende und notfalls leicht einzuschüchternde Aufseher, Poli­ zisten, Dorfvorsteher oder Lokalbeamte. Sie erhielten von der Regierung ein Taschengeld, das je nach Stand zwischen 12 Rubeln für einen Adeli­ gen wie Uljanow und 8  Rubeln für einen Bauern wie Dschugaschwili ­variierte und für Kleidung, Miete und Nahrung reichte. Sie konnten ­einander besuchen und wählten sich eigene Komitees, die «Parteiregeln» aufstellen und (durch Ächtung oder Schlimmeres) vielfach auch durch­ setzen konnten. Bücher, Broschüren, Zeitungen mussten geteilt werden; die Dorfbevölkerung war korrekt zu behandeln – was nicht hieß, dass man sich deren Sitten und Geboten fügte, die etwa den jungen Frauen den Umgang mit den Verbannten verboten. Im Gegenteil, diese scheinen (den prahlerischen Veteranengeschichten zufolge) oft leichte Beute für die immerhin interessanten Neuankömmlinge gewesen zu sein. Aber es gab auch echte Liebesbeziehungen und Ehen zwischen den Verbannten selbst, unter denen nicht wenige, meist gebildete, junge Frauen waren. Trotzki etwa konnte 1899 seine vierjährige Verbannung mit seiner in einem Moskauer Sammelgefängnis formlos ihm angetrauten «Braut» gemeinsam antreten. In einem Dorf nahe Irkutsk gebar Alexandra Soko­ lowskaja ihm zwei Töchter, während er für verschiedene Zeitungen un­ ter dem Pseudonym Antid Oto (für das italienische «antidoto», Gegen­ gift) schrieb und sich, nicht zuletzt bei den Debatten mit anderen Ver­ bannten, endgültig zu einem «revolutionären Marxisten» und scharfen Kritiker jeglichen «Revisionismus» ausbildete. Für viele war das Schlimmste die Langeweile, während andere (wie

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Lenin und Trotzki) die Ruhe für die literarische Arbeit beinahe genos­ sen; zumal die Verbindungen zur eigenen Organisation und den Ge­ nossen in Freiheit nur selten abrissen. Die Flucht war relativ leicht, ­allerdings nicht billig (Bestechungsgelder, falsche Pässe, Fahrkarten, Unterkünfte usw.). Mal erfolgte sie auf eigenen, mal auf kollektiven Entschluss  – zumindest was die Reihenfolge der Abgänge betraf. So flüchtete im Sommer 1902, wohl mit Zustimmung seiner Frau, die er mit den beiden Kindern zurückließ, auch Lew Bronstein. In den gefälschten Pass, den er sich selbst ausgestellt hatte, schrieb er den Namen «Trotzki», der sein Kriegs- und Autorenname werden würde. In Samara wurde er von Krishanowski, Lenins Vertrautem, in Empfang genommen, der hier neben seiner Stelle als Ingenieur die Inlandsredaktion und Verteilung der «Iskra» leitete, und wurde teils für redaktionelle und journalistische Aufgaben (die er glänzend erledigte), teils als Verbindungsagent in die ukrainischen Städte eingesetzt  – bevor er mit falschen Papieren nach Wien, Paris und London weiterreiste, die er mit großen Augen für sich entdeckte. In diesen Jahren sind sich fast alle, die später den Kern der bolschewis­ tischen Partei gebildet haben, in Untergrundkomitees und auf Parteikon­ ferenzen, in Gefängnissen und Verbannungsorten über den Weg gelau­ fen, haben Freundschaften geschlossen, sich fraktionell entzweit oder vereint und informelle Seilschaften gebildet, die bei ihren späteren Kom­ mandos im Bürgerkrieg und ihren Avancements in den Staats- und Par­ teifunktionen eine oft entscheidende Rolle gespielt haben. Eine soziolo­ gische Durchsicht des Kaderbestandes der späteren bolschewistischen Partei ergibt, dass 1927 noch immer ein Bestand von circa 3800 Mitglie­ dern geblieben war  – mehrheitlich nun in den höheren Rängen des Machtapparats –, die bereits vor 1905 dazugehört hatten. Das zeigt eine beachtliche Stabilität dieses ersten, kleinen bolschewistischen Grün­ dungskaders, der am Beginn des Revolutionsjahres 1905 kaum mehr als 8000 Aktive gezählt haben dürfte.16 Einer nach dem anderen betreten sie die Bühne der Geschichte. Wir sehen sie als kühne, jugendliche «Sturmvögel» der Untergrundjahre vor und nach 1905, deren Porträts Wagemut und Zuversicht ausstrahlen; dann als lebens- und machthungrige Dreißig- bis Vierzigjährige auf den bolschewistischen Revolutionsfeiern, Ratssitzungen oder Kongressen an der Seite Lenins; und zuletzt als Ausgebrannte mit leeren, ausdruckslosen Gesichtern auf den Anklagebänken der Moskauer Schauprozesse oder mit panischen, schicksalsergebenen Blicken in den Häftlingsakten der

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Lubjanka, wie Kamenew oder Sinowjew, Radek oder Bucharin – oder aber als undurchdringliche, feist gewordene Macht- und Maskenträger in Stalins engstem Gefolge, seiner eisernen «drushina» (Leibgarde), wie Woroschilow, Kalinin oder Molotow. Sie alle kannten einander seit zwei, drei Jahrzehnten, waren eng mit­ einander verbunden gewesen (manchmal allerdings in instinktiver, feind­ seliger Rivalität, wie Trotzki und Stalin), hatten Schlafquartiere geteilt, sich die Köpfe heißgeredet und dabei viele Flaschen geleert. Auf den frü­ hen Bildern wirken sie alle jung, lebendig, gutaussehend, Rebellen und romantische Liebhaber voller Hoffnungen und Erwartungen – und kaum einer so arglos und offen, selbst vor dem Polizeifotografen, wie der junge Dschugaschwili, der Meister aller Verstellungen. «Der Verrat an jeman­ dem, mit dem du alles geteilt hast,  … ist schlimmer als der Biss des ­Todes», soll er später einmal gesagt haben. Unklar bleibt, ob er von den vielen sprach, die er als angebliche Verräter in die Lager und Erschie­ ßungskeller schickte – oder von sich selbst.17

Durch Spaltung zur Verschmelzung Die Querelen, in denen die russische Sozialdemokratie entstand, sind aus der Geschichte des europäischen Sozialismus marxistischer Prägung nicht gerade unbekannt. Der oft erbittert ausgetragene Dauerstreit war nicht einmal unverständlich, wenn man in Rechnung stellt, wie überwäl­ tigend neuartig nicht nur der historische Umbruch war, mit dem man es zu tun hatte, sondern auch der Anspruch, diesen Umbruch in seinen weltwirtschaftlichen und weltpolitischen Triebkräften wissenschaftlich zu erfassen und «mit Bewusstsein» zu steuern – was nur in einem glo­ balen, mindestens gesamteuropäischen Maßstab und Verbund denkbar war, während die Wolken eines Weltkriegs sich schon am Horizont auf­ türmten. Aber die Herausbildung des Bolschewismus als einer Seitenströmung des Sozialismus trug von vornherein einen so eigentümlichen Charakter, dass das von Lenin lange Zeit in Anspruch genommene Vorbild der deutschen Sozialdemokratie eher wie eine Camouflage wirkte  – oder schon wie ein eigener Superioritätsanspruch. Hinter der Fassade einer strikten «marxistischen» Orthodoxie baute er an einer ganz eigenen Plattform mit strategisch-politischen und theoretischen Weichenstellun­ gen, die auf einen völlig neuen historischen Pfad führten.

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Natürlich stellt sich bei einer Nachzeichnung der verworrenen An­ fänge des Bolschewismus, die am Ende zu weltgeschichtlichen Resulta­ ten geführt haben, das historiografische Generalproblem mit beson­derer Schärfe: nämlich dass der retrospektive Fokus seine Figur in einer Weise ins Zentrum rückt, wie das in der gege­benen Situation nicht unbedingt immer der Fall war; und dass sein Agieren und Argumentieren zielstrebi­ ger und machtvoller erscheint, als es jeweils war. Aber dieser vom Wissen über die Folgen bestimmte Blick ist unver­ meidlich, und er hat auch seine Richtigkeit. Gerade wenn man die wechselnden Personenkonstellationen oder die blanken Zufälle in Rechnung stellt, zeigt sich die intuitive Sicherheit und taktische Beweg­ lichkeit, mit der Lenin als der wirkliche Gründer und Führer einer «Par­ tei neuen Typs» navigierte, mit oder gegen Wind und Strömung. Nichts war vorgezeichnet, nichts war «historisch notwendig», seine Macht­ eroberung im Revolutionsjahr 1917 am allerwenigsten. Aber sie war eben historisch möglich, und für die Art, wie Lenin diese geschichtliche Gelegenheit am Schopf packte, wie er seine Partei, die vor der Macht­ eroberung wie ein Pferd vor dem Abgrund zurückschreckte, hinter sich her zog und über steile Pfade und durch Einbrüche hinweg auf ein neues historisches Terrain führte, das sich (und wäre es als eine Fata Mor­ gana) nun bis zum Horizont erstreckte – für alles das müssen die Vor­ aussetzungen eben in den ­ ersten, verschlungenen, aber keineswegs konfusen Anfängen gefunden werden. Auch die Zusammenhänge von Theorie und Praxis sind in diesem Quellgebiet einer Weltgeschichte des modernen Kommunismus noch einmal näher zu betrachten. Lenin hat sich, entgegen dem Anschein sei­ ner posthum kompilierten 40- bis 50-bändigen «Werke», selbst nie als Theoretiker gesehen, sondern «nur» als denjenigen, der die «Lehre von Marx», welche «in sich geschlossen und harmonisch» sei und «den Menschen eine einheitliche Weltanschauung» gebe, auf die gegebene his­ torische Situation, zumal die Russlands, «angewandt» habe. Stalin als Erfinder des «Leninismus» und oberster Herausgeber der «Werke Lenins» betonte seinerseits, Lenin habe von der «Lehre von Marx» nichts weg­ genommen und nichts hinzugefügt, sondern sie nur, allerdings in «schöp­ ferischer» Weise, in einen Satz revolutionärer Strategien und Taktiken sowie universell gültiger «Prinzipien» ausgemünzt; was wiederum ihn selbst als den «treuesten Schüler» Lenins auch zum autoritativen Inter­ preten von Marx mit erhob. Dass in diesem Gestus der Bescheidenheit in Wirklichkeit der am wei­

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testen gehende, «totalitärste» Anspruch lag, ist offenkundig. Nicht nur wurde der ganze und fragmentarische Denkkosmos von Marx auf eine kompakte, abgeschlossene, eindeutige «Lehre» eingedampft; sondern ­alles, was man selbst angeblich aus dieser Lehre «abgeleitet» hatte, war damit in gleicher Weise geheiligt und konnte als «proletarische Ideo­ logie» dem engeren Kaderstamm wie dem jugendlichen Nachwuchs in Form katechetischer Zitate und Lehrsätze zur mentalen Stärkung und als Mittel der geistigen Konditionierung verabreicht werden. Im Übrigen war die Behauptung, nichts weggenommen und nichts hinzugefügt zu haben, zumindest was Lenin betraf, direkt falsch. Er war sehr wohl ein Theoretiker eigener Ordnung, der dem marxistischen Kanon, der völlig unterschiedliche Interpretationen und Schlussfolge­ rungen zuließ, eine Reihe wesentlicher Änderungen verpasst hat, in Form seiner Imperialismus-, seiner Staats- oder seiner Wirtschaftstheo­ rien und nicht zuletzt seiner kategorisch vorgetragenen Erkenntnistheo­ rien. Aber seine fatalste Innovation war eben die: den offenen Pluralis­ mus des Marxismus auszulöschen und damit die Notwendigkeit zu leug­ nen, von den Marx’schen Theoriefragmenten aus selbständig weiterzu­ denken, sich den neuen Fragen neuer Zeiten zu stellen, die überkomme­ nen Lehrsätze und allzu fixen theoretischen Axiome immer wieder zu revidieren. Selbst Plechanows «integraler Marxismus» war reinste Frei­ geisterei gegenüber diesem Anspruch, der zu Zeiten Stalins dann die Form eines in Stein ­gemeißelten «Marxismus-Leninismus» annahm  – auf dessen Leugnung oder inkorrekte Anwendung der Tod stand. Immerhin war Lenin noch jemand, der keine Angst hatte, die Sack­ gassen, in die er sich manövriert hatte, wenigstens zu benennen. Das be­ zeugt etwa der Offenbarungseid, den er am Ende seines politischen und persönlichen Lebens ablegte: nämlich dass sein ganzes Agieren und Regie­ ren, das doch angeblich von der «allmächtigen», weil wahren «Lehre von Marx» erleuchtet gewesen war, zu vollkommen anderen Resultaten als erwartet geführt hatte. So wenn er im Schlusswort des Parteitags 1922 sagte: «Jetzt ist es anders gekommen, und kein Marx und kein Marxist konnte das voraussehen.» Der «Staatskapitalismus», den Sowjetrussland praktiziere, sei «ein im höchsten Grade unerwarteter und von absolut nie­ mandem vorausgesehener Kapitalismus»; denn schließlich habe niemand annehmen können, «dass das Proletariat in einem der am wenigsten ent­ wickelten Länder die Macht ergreifen», sich «in Anbetracht des Kultur­ standes» jedoch als unfähig erweisen werde, eine moderne Großpro­ duktion und Verteilung zu organisieren, sodass man nun also wieder «den

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Kapitalismus heranziehen» müsse.18 Aber war nicht er selbst es gewesen, der mit marxistisch klingenden Formeln 1898 «bewiesen» hatte, dass Russland mit Volldampf in den modernen Kapitalismus hineinsteuere und dass der syndizierte, staatlich organisierte «Kriegskapitalismus» nach 1914 die zureichenden Voraussetzungen für einen modernen «Kriegskom­ munismus» unter bolschewistischem Diktat geschaffen habe? In Wirklichkeit waren gerade das permanente Überaufgebot an Theo­ rie und Ideologie und die Verwandlung der «Lehre von Marx» in ein ­autosuggestives Mantra ein sicherer Hinweis, auf welch schwankendem ­Boden man stand. Seine eigentliche Kraft zog der Bolschewismus aus sei­ nem realpolitischen Instinkt: der Erwartung eines bevorstehenden Kol­ lapses, vor allem des Zarenreichs als «des schwächsten Kettenglieds» des Weltimperialismus, der das letzte, höchste Stadium des dem Unter­ gang geweihten Weltkapitalismus sei – eine theoretische Feststellung, die in dieser Allgemeinheit theoretisch mehr als fragwürdig war, angesichts des katastrophischen Weltkriegs und der revolutionären Eruptionen und Umbrüche, die ihm folgten, allerdings prophetisch wirkte. Die entscheidende Rolle für den Sieg (oder Pyrrhus-Sieg) vom Okto­ ber-November 1917 spielte indessen das Bündel von Organisations- und Handlungsmaximen, die Lenin in permanenten, fast selbstzerstörerisch wirkenden Querelen mit seinen jeweiligen innerparteilichen Widersa­ chern Zug um Zug entwickelt hatte – und die sich, jenseits aller theore­ tischen Begründungen, als äußerst realitätstüchtig erwiesen. Aus diesem Wust giftiger Polemiken, kleinlicher Intrigen, ideologischer Beschwö­ rungen und demagogischer Prätentionen den Kern einer von einem un­ beirrbaren Macht- und Siegesinstinkt geleiteten, insoweit hellsichtigen Politik und Praxis herauszupräparieren, der den Bolschewismus als eine leninistische Führerpartei geformt und an die Macht getragen hat – das ist die Aufgabe, die gestellt ist, wenn man sich noch einmal in den Morast der endlosen, doktrinären Debatten der russischen Sozial­ demokratie vor und nach 1905 hineinbegibt. Wie aus Uljanow der Parteigründer «Lenin» wurde, war unter anderem das Ergebnis einer umsichtigen Karriereplanung. Anders als die zehn Jahre jüngeren Bronstein und Dschugaschwili machte er keinen Versuch, aus der Verbannung zu fliehen und in den Untergrund zu gehen, sondern meldete sich Anfang 1900 bei den Behörden in Petersburg zurück mit dem Ziel, einen Reisepass zu erhalten – was ihm auch gelang. Seine Entscheidung, Russland zu verlassen, trug strategischen Cha­

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rakter. Für jede höhere Ambition brauchte er die Verbindung mit dem geistigen Zentrum des russischen Marxismus. Das lag seit fast zwei Jahr­ zehnten in Genf, wo Plechanow residierte; und über diese Verbindung galt es Anschluss an die europäische und vor allem die deutsche Sozial­ demokratie zu gewinnen. Es war klar, dass in Russland ein Zentralorgan die erste Voraussetzung für die Gründung einer Partei war, und dass dies nur vom Ausland aus organisiert werden könne. Denselben Schluss zo­ gen zur selben Zeit auch Viktor Tschernow für seine Partei der Sozial­ revolutionäre (SR), die das Erbe der Narodnaja Wolja antreten wollte, und Pjotr Struwe, der offiziell noch Sozialdemokrat war, tatsächlich aber schon auf die Gründung einer Liberalen Partei (der «Konstitutionellen Demokraten», KD) hinarbeitete. Im Übrigen war die Welt der proletarischen Kampfbünde teils poli­ zeilich zerschlagen, teils im Sumpf eines Reformismus versunken, den Plechanow (von Genf aus) wie Uljanow (noch von Sibirien aus) als «Ökonomismus» oder «legalen Marxismus», jedenfalls als eine Form des «Revisionismus» brandmarkten. Die Protagonisten dieses russischen «Revisionismus» argumentierten zwar strikt marxistisch, so wie Eduard Bernstein es in Deutschland auch tat, kamen allerdings zu vollkommen anderen Schlussfolgerungen – die auf ihre Weise plausibel waren. So nahmen die Ökonomisten um die Zeitschrift «Robotschaja Mysl» (Arbeitergedanke) Marx’ Satz, dass die «Befreiung der Arbeiterklasse nur das Werk der Arbeiter selbst» sein könne, ernst und forderten die sozia­ listischen Intellektuellen auf, bei der Bildung von Gewerkschaften und Syndikaten Hilfe zu leisten, sich aber nicht an die Spitze zu setzen. Struwe wiederum, der 1896 auf dem 4. Kongress der Internationale in London die russische Sozialdemokratie vertreten und noch 1898 das provisorische Programm für den ersten Parteigründungsversuch verfasst hatte, nahm Uljanows Vorwurf des «Objektivismus» seinerseits auf, um ihn gegen den Urheber zu wenden: Wo dieser eine bedingungslose «Par­ teilichkeit» als revolutionäre Primärtugend gefordert hatte, machte Struwe sich, wie Bernstein zur selben Zeit, die neukantianische Kritik am dok­trinären Marxismus zu eigen. Die Überzeugung vom Untergang der bestehenden Gesellschaftsordnung und unvermeidlichen Sieg des So­ zialismus sei so wenig ein tragfähiges Motiv, sich für die Sozialdemokra­ tie zu engagieren, wie die Aufforderung, eine Sonnenfinsternis zu «unter­ stützen». Objektive historische Gesetze könnten ethische Maximen we­ der ersetzen noch begründen. Andererseits sei die Arbeiterklasse, die nach marxistischer Auffassung

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einer unaufhaltsamen physischen und mora­lischen Degradation unter­ liege, schwerlich in der Lage, aus sich heraus und in voller Bewusstheit eine geschichtliche Umwälzung zu vollziehen, die außer Politik und Ökonomie auch Kultur und Bildung umfassen müsse – ein Widerspruch des marxistischen Konzepts, den Lenin in «Was tun?» seinerseits auf­ nahm, um ihn in vollkommen konträrer Weise zu lösen.19 Struwe setzte auf ökonomischen, demokratischen und kulturellen Fortschritt, so gra­ duell-­reformerisch und so sprunghaft-revolutionär, wie es eben kam (das hing vor allem von der Reaktion des Regimes ab). Lenin setzte dagegen auf eine alles umstürzende Revolution, die eine d ­ emokratische Diktatur der Arbeiter und armen Bauern installieren und die vorhandene Gesell­ schaft eingreifend umgestalten würde. Wenn er als ein Vertreter der «Jungen» in der russischen Sozialdemo­ kratie mit den «drei Alten» im Schweizer Exil (Plechanow, Sassulitsch und Axelrod) in diesen ideologischen und theoretischen Grundfragen durchaus übereinstimmte, so galt das nicht für die jeweilige Rolle, die sie bei der Herausgabe des neuen Zentralorgans und der anschließenden Parteigründung spielen sollten. Darüber entwickelte sich bei ihrem ers­ ten Zusammentreffen Ende August 1900 in Genf ein handfester Streit – über den Uljanow eine Woche später auf der Serviette eines Zürcher ­Cafés ein tagebuchartiges Memorandum anfertigte, das erst nach seinem Tod 1924 veröffentlicht wurde und in erstaunlich ungeschützter Weise von einem ödipalen Konflikt kündet, der mit einem symbolischen Vater­ mord endete. Uljanow und sein (vermögender) Mitstreiter Potressow hatten einen fertigen Plan für das geplante Parteiorgan in der Tasche, das «Iskra» (Der Funke) heißen sollte, nach einer Verszeile Odojewskis: «Aus dem Funken wird die Flamme schlagen». Sie hatten sogar die Finanzierung schon gesichert – und stießen eben deshalb auf das Misstrauen und den unverhüllten Machtanspruch des «Vaters des russischen Marxismus», der sie (offenbar in deutscher Sprache) als «Streber» bezeichnete und mit allerhand Tricks und Ultimaten zu seinen Werkzeugen machen wollte; während sie umgekehrt sich selbst zusammen mit Martow als eine Troika der Jüngeren die Redaktionsarbeit teilen wollten und den in praktischen Dingen unerfahrenen «drei Alten» die Rolle der engsten Mitarbeiter oder Mit­herausgeber zugedacht hatten. Es war ein Kampf auf engstem Raum und um scheinbar winzige Formalien – der erste von zahllosen, ähnlich kleinlich wirkenden Kämpfen, die folgen würden und die Lenin stets tödlich ernst nahm. Am Ende stand ein fauler Kompro­

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miss: Alle sechs wurden Redakteure, Plechanow bekam sogar zwei Stim­ men. Aber das Blatt würden sie nicht in der Schweiz, sondern mit Hilfe deutscher Sozialdemokraten in München, später in London machen, was die «Alten» doch ins zweite Glied rückte. Allein die Jungen hatten die nötigen Kräfte und Mittel; Ple­cha­now musste sich grollend fügen. Uljanow diagnostizierte in ungewohnt emotionalen, melodramati­ schen Wendungen, was in diesem Konflikt mit ihm selbst passiert war: nämlich «ein völliger Bruch mit dem, was ich lange Jahre hindurch wie ein geliebtes Kind gehegt und gepflegt hatte». Wie alle sei er von Ferne in Plechanow «vernarrt» gewesen; sie, die Jüngeren, hätten ihn, den ­Älteren, bei ihrem Treffen aufrichtig «umworben»; aber er habe sie «nicht als jüngere Brüder …, sondern als dumme Jungen» behandelt und beinahe sogar zu «Sklaven» gemacht. Seine Intrigen und Erpressungs­ versuche hatten sie letztlich zwar pariert, aber das sollte ihnen eine Lehre sein: «Es ist notwendig, allen Menschen ‹ohne Sentimentalität› entge­ genzutreten, … stets einen Stein wurfbereit in der Tasche zu haben». Tief drinnen «war irgendeine Saite gesprungen, und an die Stelle eines ausge­ zeichneten persönlichen war ein sachliches, kühles Verhältnis getreten». Mehr noch: «das Ideal war zerschlagen, und wir traten es mit voller Ge­ nugtuung mit Füßen, wie einen gestürzten Götzen».20 Er hatte sich aus einem Bann befreit. Der Weg zur eigenen Führerschaft war offen. In seiner Broschüre «Was tun?», die 1902 erschien, hat «Lenin» – wie er ab jetzt meist zeichnete und auch genannt wurde – die erste Blaupause eines Parteikonzepts formuliert, das Epoche gemacht hat und schließlich zur eigent­lichen Scheidelinie zwischen westlichem Sozialismus und östli­ chem Kommunismus geworden ist. Äußerlich war seine Vorstellung eines «Zentralorgans», das als ein «kollektiver Propagandist, Agitator und Organisator» des Parteiaufbaus dienen sollte, ganz dem historischen Vorbild der «Roten Feldpost» ent­ lehnt, dem konspirativen Verteilungssystem der deutschen Sozial­ demokratie in der Zeit des «Sozialistengesetzes». Nur war die SPD schon vor dem Betätigungsverbot eine Partei mit rund 40 000 Mitgliedern und einer halben Million Wählern gewesen, die neben einem Zentralorgan (dem «Vorwärts») über Dutzende von lokalen, an ein breiteres Publikum gerichtete Zeitungen und Zeitschriften (mit ca. 135 000  Abonnenten) verfügte. Und sie war eine Organisation mit offenen, vielfach scharfen internen Debatten und eigenständig argumentierenden Mandatsträgern, Funktionären, Journalisten und Literaten, die Stellung bezogen, auch

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ohne vom Parteivorstand immer eine klare «Linie» vorgegeben zu be­ kommen. Seit 1883 hatte es neben dem «Sozialdemokrat» die von Kautsky legal herausgegebene «Neue Zeit» gegeben, in der unter dem Anschein der «Pflege von Allgemeinwissen und Kultur» grundlegende Weltanschau­ ungs- und Programmfragen erörtert wurden, und das nicht nur im Kreis der Partei selbst: «Jedem Gegner, dem es um die Sache ernst ist, steht da­ her unser Blatt offen», hieß es in Liebknechts Editorial, «und die Re­ daktion wird niemals der lächerlichen Unfehlbarkeitsfiktion huldigen, sich im Allgemeinbesitz der Wahrheit zu düncken  …»21 Es hatte eben immer zum Leben der deutschen Sozialdemokratie gehört, sich in einem politisch und weltanschaulich überwiegend feindlichen Milieu in offener Feldschlacht zu behaupten. Lenins Vorstellungen liefen dem diametral entgegen. Gewiss, auch für sein Konzept konnte er sich – was er demonstrativ tat – auf Äußerungen von Marx und Engels, Lassalle, Bebel oder Kautsky stützen, die stets die Bedeutung einer von der engeren Arbeiterbewegung gesonderten, theore­ tisch informierten politischen Partei betont hatten. Auf neues, ungesi­ cherteres Terrain wagte er sich allerdings vor, wenn er schrieb: «Die Ge­ schichte aller Länder zeugt davon, dass die Arbeiterklasse ausschließlich aus eigener Kraft nur ein trade-unionistisches Bewusstsein hervorzubrin­ gen vermag … Die Lehre des Sozialismus ist hingegen aus den philoso­ phischen, historischen und ökonomischen Theorien hervorgegangen, die von den gebildeten Vertretern der besitzenden Klassen, der Intelligenz, ausgearbeitet wurden. Auch die Begründer des modernen wissenschaft­ lichen Sozialismus, Marx und Engels, gehörten ihrer sozialen Stellung nach der bürgerlichen Intelligenz an. Ebenso entstand auch in Russland die theoretische Lehre der Sozialdemokratie ganz unabhängig von dem spontanen Anwachsen der Arbeiterbewegung, entstand als natürliches und unvermeidliches Ergebnis der ideologischen Entwicklung der revo­ lutionären sozialistischen Intelligenz.»22 Aber gab er damit nicht, wie Plechanow ihm später vorhalten würde, die Grundthese des historischen Materialismus auf, wonach das Sein das Bewusstsein bestimme, das Klassenbewusstsein der Arbeiter also aus ­ihren materiellen Lebensbedingungen selbst erwachse? Dass die aufzu­ bauende Partei unter den Bedingungen der Illegalität nicht einfach dem Muster europäischer Massenparteien folgen konnte, war unumstritten. Und dass sie – wie der Titel «Was tun?» signalisierte – die Traditionen der von der Intelligenzija getragenen revolutionären Vorläuferorganisa­

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tionen in Russland wiederaufnehmen und sich somit auch von den Tra­ ditionen des Terrorismus nicht prinzipiell distanzieren würde, war eben­ falls akzeptiert. Schon in seinem programmatischen Ankündigungstext «Womit be­ ginnen?» von 1901, gleich in der ersten Nummer der «Iskra», hatte Lenin erklärt: «Grundsätzlich haben wir den Terror nie abgelehnt und können wir ihn nicht ablehnen. Er ist eine Kampfhandlung, die (…) unter be­ stimmten Bedingungen durchaus angebracht und sogar notwendig sein kann.» Der Terrorismus sei jedoch «unter den gegebenen Umständen unzeitgemäß und unzweckmäßig». Nicht ein Aufruf zum Sturm, son­ dern die Organisation der Belagerung der Festung sei die aktuelle Auf­ gabe; dafür brauche es eine zentralistische und gesamtrussische Organi­ sation, die die zersplitterten Kämpfe und Proteste zusammenfassen und die Leitung übernehmen könne.23 Der «proletarische» Charakter dieser Partei würde sich nur in zweiter Linie durch ihre soziale Zusammensetzung, in erster Linie durch die Ausrichtung auf das Ziel des Sozialismus und die Konzentration der Agitation und Propaganda auf die Arbeiterschaften ergeben. In den pro­ fessionellen Kader einer solchen Partei rückten die «Arbeiter-Aktivis­ ten» wegen ihrer mangelnden Bildung und ihrer Bindung an Arbeits­ platz oder Familie nur in Einzelfällen auf. Wenn sie es aber taten, dann hörten sie auf, Arbeiter zu sein, und wurden professionelle, von der ­Organisation unterhaltene Glieder des Apparats. Dasselbe galt auch für die mehrheitlich aus der «Intelligenz», also aus Adel, Beamtentum oder Bourgeoisie stammenden Parteikader, die allen familiären Bindungen, aller bürgerlichen Behaglichkeit und Schöngeistigkeit zu entsagen hat­ ten. In «einer solchen Organisation muss jeder Unterschied zwischen Arbeitern und Intellektuellen  … völlig zurücktreten»24  – so wie alle ­Unterschiede der Herkunft oder Nationalität, des Alters oder des Ge­ schlechts. Sämtliche Vorstellungen einer sozialistischen Partei europäischen Typs sprengte Lenin aber schließlich, wenn er die von ihm vorgeschlagene «Organisation von Revolutionären» geradewegs als eine «militärische Organisation von Agenten» und als eine «Führerorganisation» bezeich­ nete; auch das nicht nur aus taktischen Überlegungen, sondern aufgrund ­einer ­soziologischen oder sozialpsychologischen Analyse, die einer radi­ kalen Entmündigung gleichkam. Auch die russischen Arbeiter waren eben zunächst einmal Teil der amorphen, proletarisierten Masse eines Volkes, in dem «999 von 1000 … bis ins innerste Mark demoralisiert

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sind durch politische Knechtsseligkeit und durch einen absoluten Man­ gel an Verständnis für Parteiehre und Parteibindung».25 999 von 1000! Das hieß, dass für die Aufstellung einer «proletari­ schen Klassenarmee» (in Form eines «stehenden Heeres», wie Lenin auch sagte) nicht nur ein «Generalstab» zu bilden, Offiziere und Unter­ offiziere zu ernennen und zu schulen waren, sondern dass auch die ein­ fachen Fußsoldaten, die Parteimitglieder, als eine spartanische Elite aus einer subalternen, helotenhaften Volksmasse herausgezüchtet werden mussten. Einen solchen Parteikader («Kader» war selbst ein der Militär­ sprache entlehnter Begriff) konnte man nur von oben und außen auf­ bauen. Und er musste durchaus «bürokratisch» organisiert sein (Lenin liebte es, Negativbegriffe provokativ positiv zu gebrauchen), da er un­ mittelbar von der Zentrale aus zu führen, zu kontrollieren und notfalls auch zu besolden war. Dass das von vornherein einen Finanzbedarf implizierte, der aus Mit­ gliedsbeiträgen nicht annähernd zu decken war, sondern sich nur aus ­anderen Quellen speisen konnte, aus Großspenden reicher Gönner, aus (mehr oder weniger erpressten) Revolutionssteuern oder auch aus be­ waffneten «Expropriationen», die später zu einem Hauptkonfliktpunkt innerhalb der russischen Sozialdemokratie werden sollten – das verstand sich von selbst, aber blieb natürlich ungesagt. Auch dabei ging es um keine rein pragmatische, sondern eine grundsätzliche Frage: Mitglieds­ beiträge hätten auch demokratische Mitsprache- und Beschlussrechte begründet; Parteigehälter begründeten Loyalitäten. Gleichzeitig stellte Lenin der erst noch aufzubauenden Partei aber schon eine Aufgabe, «welche die revolutionärste Aufgabe von allen nächsten Aufgaben des Proletariats irgendeines anderen Landes ist». Denn der Sturz des Zarentums würde «die Zerstörung des mächtigsten Bollwerks nicht nur der europäischen, sondern (wir können jetzt sagen) auch der asiatischen Reaktion» bedeuten; und diese historische Tat «würde das russische Proletariat zur Avantgarde des internationalen Proletariats machen».26 Gelassen sprach er den Satz aus, der vielleicht wie kein anderer Eindruck machte: «Gebt uns eine Organisation von (professionellen) Revolutionären, und wir werden Russland aus den ­Angeln heben.»27 Die zweite und eigentliche Gründungskonferenz der Sozialdemokrati­ schen Arbeiterpartei Russlands (SDAPR), die im Sommer 1903 zunächst in Brüssel, dann in London über fast drei Wochen hinweg tagte, hätte die

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rivalisierenden Fraktionen und verstreuten lokalen Gruppen innerhalb und außerhalb Russlands wieder zusammenschließen sollen. Stattdessen endete sie mit einer noch tieferen Spaltung, nämlich der um die «Iskra» gescharten Kerngruppe selbst: in «Bolschewiki» (Mehrheitler) und «Men­ schewiki» (Minderheitler). Dazu kamen eine Reihe fluktuierender Zwi­ schenfrak­tionen und -parteien sowie die lose assoziierten, in ihren jewei­ ligen Landessprachen arbeitenden sozialdemokratischen Parteien Polens und Litauens und der jiddischsprachige «Allgemeine Jüdische Arbeiter­ bund» – innerhalb derer es ebenfalls fraktionelle Differenzen gab. Diese vielfachen Spaltungen sollten sich ungeachtet aller Einigungsbemühun­ gen nicht mildern, sondern eher noch vertiefen. Die Konflikte entzündeten sich weniger an den Fragen der politischen Programmatik, um die zwar lange gestritten wurde, die am Ende aber mit großer Mehrheit verabschiedet wurden. Es war Konsens, dass eine «proletarisch-sozialistische» Revolution in Russland nur einer «bürgerlich-­ demokratischen» Umwälzung würde folgen können; was das praktisch und taktisch bedeutete, war dann allerdings die Frage. Die Sozialdemo­ kraten würden jedenfalls gegenüber der Autokratie für eine uneinge­ schränkte Demokratie eintreten, ohne jedoch aus dem allgemeinen Wahl­ recht «einen Fetisch zu machen», wie Plechanow erklärte. Das hieß im Klartext: Sollte in einer revolutionären Situation eine von progressiven Kräften dominierte Volksvertretung gewählt werden, würden die revolu­ tionären Sozialisten versuchen, sie zum Organ immer weitertreibender, politisch wie sozial eingreifender Maßnahmen zu machen. Sollte die Ver­ sammlung sich dagegen als reaktionär im Sinn einer Koalition der besit­ zenden Klassen erweisen, würden die Sozialisten dieses Parlament mög­ lichst bald wieder aufzulösen suchen, um mittels neuer Kämpfe im Bünd­ nis mit der armen Bauernschaft und mit den proletarisierten Klein­ bürgern die Bedingungen einer eigenen politischen Machteroberung in Form einer «demokratischen Diktatur» zu schaffen. Diese hätte die un­ erledigten Aufgaben einer bürgerlich-kapitalistischen Entwicklung nach­ holend zu erledigen, um sodann mit konzentrierten staatlichen Mitteln die sozialökonomischen Bedingungen für den endgültigen Übergang zum Sozialismus zu schaffen. Dieses im europäischen Vergleich ziemlich radikale Programm blieb bis in die Zeit der Revolution von 1917 tatsächlich die gemeinsame Grundlage von Bolschewiki und Menschewiki wie anderer sozialisti­ scher Fraktionen und Parteien des Russischen Reichs. Die Spaltung der Kernpartei auf ihrem Gründungskongress ergab sich allein aus den von

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Lenin kompromisslos verfochtenen Organisationsprinzipien. Erst als ein Teil der Delegierten, insbesondere die angesichts ihrer Mitgliederstärke eklatant unterrepräsentierten jüdischen «Bundisten», empört abgereist waren, gewann Lenin eine hauchdünne Mehrheit von 24:22 Stimmen für das von ihm geforderte Statut, das die Mitgliedschaft in der Sozial­ demokratischen Arbeiterpartei Russlands auf konspirationsbereite ­Aktivisten beschränkte und den vom Exil aus geführten Zentralinstan­ zen weitgehende Vollmachten einräumte. Alle spürten, dass in Lenins Parteikonzept schon das Konzept einer Revolution und darin wie die Puppe in der Puppe das Konzept der neuen Gesellschaft steckte. Martow, anfangs Lenins engster Verbündeter, bestand in der Diskus­ sion darauf, dass der Zentralismus (den er aus praktischen Erwägungen unterstützte) nicht das Recht der Mitglieder, «selbst zu denken» und de­ mokratisch mitzubestimmen, kassieren dürfe. Als Lenin darauf beharrte, dass das von ihm initiierte und geleitete Redaktionskollektiv des Zen­ tralorgans dem zu wählenden Zentralkomitee formell übergeordnet werden müsse, protestierte sogar der junge Trotzki, eigentlich ein Pro­ tégé Lenins: «Das würde ja auf eine vollständige Diktatur des Zentral­ organs hinauslaufen!» Worauf Lenin ihm kühl entgegnete: «Wäre das denn so schlimm?»28 In einem Bericht über den Parteitag brachte Trotzki die Konsequenzen von Lenins Vorstellungen hellsichtig auf den Begriff: «Die Organisation der Partei tritt an die Stelle der Partei selbst; das Zentralkomitee an die Stelle der Organisation; und schließlich tritt der Diktator an die Stelle des Zentralkomitees.»29 Freilich hatte er selbst mit dazu beigetragen, die Kritik zweier «ökonomistischer» Delegierter abzuschmettern, die darauf hingewiesen hatten, dass in den vorgelegten Texten die Partei (rein sprachlich) stets als belebtes Subjekt, das Proletariat aber als unbelebtes Objekt gesetzt sei, was in der russischen Grammatik einen deutlichen Unterschied macht. Und wie vereinbarte sich die Forderung nach einer demokratischen Republik mit der Losung einer «Diktatur des Proletari­ ats», tatsächlich doch wohl der Partei?30 Trotzki hatte ihnen überlegen entgegnet: «Die Herrschaft der Arbeiterklasse tritt erst in den Bereich des Möglichen, wenn sich die große Masse der Arbeiterschaft vereinigt und das Ziel, die Diktatur des Proletariats, anzustreben beginnt. Dann aber wird sie die Herrschaft der überwiegenden Mehrheit sein.»31 Dieses realitätsferne Mantra war der Kern der Schwäche aller Kritiker Lenins – so wie später aller Kritiker Stalins, allen voran Trotzkis selbst. Sie forderten innerparteiliche Demokratie und «Freiheit der Kritik» für

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sich, nachdem sie sie der Gesellschaft, einschließlich der Organisationen der Arbeiter, verweigert hatten. Lenin zeigte sich von all diesen Kritiken denn auch völlig unbeeindruckt und rühmte die neue, fraktionelle Spal­ tung im Moment der Vereinigung als einen schöpferischen Urakt: «Der frische Wind des offenen, freien Kampfes verwandelte sich in einen Wir­ belsturm. Dieser Sturm fegte – und es ist sehr gut, dass er das tat! – sämt­ liche Überreste ausnahmslos aller Zirkelinteressen, -gefühle und -tradi­ tionen hinweg und schuf zum erstenmal wirkliche leitende Parteikolle­ gien.»32 Davon konnte in der Realität überhaupt keine Rede sein. Lenins «Mehrheit» erwies sich als eine Momentaufnahme, die ihrerseits auch nur auf einem faulen Formelkompromiss mit Plechanow beruhte. Schon drei Monate später – genau an jenem Oktobertag 1903, als Lenin mit seinem Fahrrad, seinem bandagierten Kopf und mit einer Handvoll ver­ bliebener Anhänger die zur Schlichtung angesetzte Genfer Konferenz nach mehrtägigem Kampf (oder vielmehr «Krieg») verließ  – hatte er auch die Kontrolle über seine eigene, «bolschewistische» Mehrheit im Zentralkomitee schon wieder verloren; und gleichzeitig auch über das von ihm selbst initiierte Zentralorgan, die «Iskra». Die Kritik an ihm wurde derweil immer härter. Plechanow warf ihm wechselweise Blanquismus und Bonapartismus vor, Trotzki sprach von einem «Abklatsch des Jakobinertums», Rosa Luxemburg, die Mitglied der polnisch-litauischen wie der deutschen Sozialdemokratie war, schrieb, Lenins «Ultrazentralismus» sei nicht von einem «positiven, schöpferischen, sondern von einem sterilen Nachtwächtergeist getra­ gen» und ziele auf die Einengung statt Entfaltung der proletarischen Klassenbewegung  – und das «am Vorabend großer revolutionärer Kämpfe».33 Aber auch die Isolation, in der er sich befand, schien Lenin vollkom­ men «gesetzmäßig» und hinderte ihn nicht, sich als Vertreter eines gleichsam apriorisch existierenden «Bolschewismus» zu sehen, eine Be­ zeichnung, die gerade wegen ihrer Leere eine magische Wirkung entfal­ tete und vielfach mit «Maximalismus» übersetzt oder mit einer anderen Bezeichnung assoziiert wurde, die die Leninisten für sich in Anspruch nahmen: die der prinzipienfesten, tatbereiten «Harten», die einer Masse von opportunistischen, endlos räsonierenden «Weichen» (in heutiger Terminologie: «Weicheiern») gegenüberstanden. Am rätselhaftesten ist allerdings, warum Lenins innerparteilichen Geg­ ner, die «Menschewiki», die über weite Strecken die (knappe) Mehrheit

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in der Partei repräsentierten und es in den Revolutionsjahren 1905/06 an Tat- und Schlagbereitschaft nicht mangeln ließen, sich das Etikett der «Minderheitler» anheften ließen, es sogar selbst benutzten. Sie waren eben tatsächlich «Versöhnler», wie Lenin ihnen unermüdlich vorwarf, die entschieden für die «Freiheit der Kritik», also auch die ihrer Gegen­ spieler, eintraten. Für die Bildung einer großen, geschlossenen Massen­ partei sahen sie sich ihrerseits auf die «Bolschewiki» angewiesen, von denen sie sich – wie so manche misshandelte Frau von ihrem Ehemann – nicht ­losreißen konnten. Martow sagte bei Gelegenheit über sich selbst, er habe «das unangenehme Privileg, von den Menschen gemocht zu wer­ den».34 Lenin dagegen gefiel eine Charakterisierung Wera Sassulitschs: Plechanow sei in aller verbalen Bissigkeit ein Windhund, der seine Beute am Ende loslasse. Er, Lenin, sei dagegen eine Bulldogge: «Sie haben ­einen tödlichen Biss.» Und Lenin, so berichtete sie später Trotzki, habe mit sichtlichem Vergnügen nachgefragt: «Wirklich? Einen tödlichen Biss?»35 «Nicht nur die Gerste wächst nach Hegel, auch die russischen Sozial­ demokraten bekämpfen sich gegenseitig nach Hegel», erklärte Lenin in einer 1904 veröffentlichten Polemik gegen alle Abtrünnigen und Oppo­ nenten («Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück»). Sich «nach ­Hegel» bekämpfen?! Das war wieder eine der esoterischen Formeln, die seine Texte vielfach auszeichneten und bestenfalls Eingeweihten ver­ ständlich sein konnten. Belesene Marxisten oder philosophisch Beschla­ gene wussten, dass Hegel in seiner «Logik» mit dem Keimen eines Gers­ tenkorns das universelle Wirken der Dialektik in Natur und Geschichte illustriert und Engels in seinem «Anti-Dühring» dieses Bild aufgenom­ men und populär ausgedeutet hatte,36 nicht ohne allerdings davor zu warnen, die «Dialektik» in eine neue Metaphysik zurückzuverwandeln. Genau das tat Lenin allerdings, wenn er verkündete, «dass die Ent­ wicklung (der Partei) tatsächlich den dialektischen Weg, den Weg der Widersprüche geht».37 In Alltagssprache übersetzt hieß das: Wenn er, Lenin, heute eine Minderheit vertrat, bildete diese doch stets die Anti­ these zur opportunistischen Mehrheit und bahnte damit einer höheren Einheit («Synthese») den Weg, zu einer neuen, bewussteren Mehrheit also – gegen die es eine nächste Antithese zu formulieren gälte, sobald sie, wie zu erwarten war, wieder opportunistisch zu verfaulen begann; und so fort. Somit konnte dialektischerweise auch die Minderheit, selbst wenn sie nur aus ihm selbst bestünde, eine objektive, wissenschaftlich

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begründete, revolutionäre Mehrheit, und also das Prinzip des «Bolsche­ wismus», vertreten. Die «Freiheit der Kritik», die Lenin für sich stets entschieden forderte, konnte deshalb kein Selbstzweck sein, etwa als ein friedlicher und demo­ kratischer Wettstreit von Meinungen – weil das nur «Eklektizismus und Prinzipienlosigkeit bedeutet» hätte.38 Der Kampf ging in jedem Moment und in jedem Detail um «das Ablösen einer Theorie durch eine andere», nämlich einer falschen durch die richtige. In letzter Konsequenz, so einer seiner ehernen Sätze, «kann die Frage nur so stehen: bürgerliche oder sozialistische Ideologie. Ein Mittelding gibt es hier nicht (denn eine ­ ‹dritte› Ideologie hat die Menschheit nicht geschaffen  …).»39 Hatte er seine Auffassungen aber einmal durchgesetzt, galt es, mittels ­eines «demo­ kratischen Zentralismus» alle früheren Opponenten auf seine Linie zu zwingen – oder sie aus der Partei zu entfernen. In dieser absoluten, selbstsicheren Unbeirrbarkeit, die Lenin gerade deshalb wie jeden großen militärischen oder politischen Strategen zu den abruptesten «schöpferischen» Wechseln der Taktik befähigte, lag sein erstaunliches, sprödes Charisma, das ihn aus jeder Niederlage gestärkt hervorgehen ließ. Tatsächlich erwies sich sein Konzept einer Partei von Berufsrevolutionären, das er in der Revolution von 1905/06 und erst recht dann 1917/18 durchaus flexibel auslegte, aber niemals aufweichte, unter den Ausnahmebedingungen des Weltkriegs und der ohne jedes ­Zutun seiner Partei ausgebrochenen Revolution von 1917 als außer­ ordentlich realitätstüchtig. Erst recht galt das für seinen absoluten, durch polemische Schroffheit und beleidigende Grobheit jederzeit unter­ strichenen Führungsanspruch. Ohne Lenin kein Bolschewismus, ohne Bolsche­wismus keine Sowjetunion, ohne Sowjetunion keine kommunis­ tische Weltbewegung.

TEIL  IX

Vom Weltkrieg zur Weltrevolution

1. Wetterleuchten – Das Jahr 1905

Ein Tag, der alles veränderte

D

er Auftritt der jungen Arbeiterbewegung Russlands im Januar 1905 konnte dramatischer kaum sein; und er erschütterte mit einem Schlag das gesamte Staats- und Gesellschaftsgebäude. Die Szenerie ist der his­torischen Erinnerung eingebrannt: die festlich gekleidete, schwei­ gend vorwärtsdrängende oder Kirchenlieder anstimmende, Zarenbilder und Ikonen vorantragende Menge von 150 000 Männern, Frauen und Kindern, angeführt von einem jungen Prediger – wie sie aus den Armen­ vierteln und Vorstädten der Hauptstadt unter Glockengeläut von meh­ reren Sammelpunkten in Zügen, die Prozessionen gleichen, über die ­Magistralen und Brücken der vom Neuschnee glitzernden Stadt dem Winterpalast zustrebt, um eine Bittschrift an den Zaren zu überbringen. Der allerdings hatte die Stadt verlassen, so wie der englische König im April 1848 beim Aufmarsch der 150 000 Chartisten in London. Aber während gegen die revolutionär gestimmten englischen Arbeiter eine Machtdemonstration der Ordnungskräfte genügt hatte, wurden die friedlichen Aufzüge der Petersburger an den Zugängen zur Innenstadt von Truppen aufgehalten, die, als die Spitzen auf Anruf nicht stehen­ blieben, ohne weitere Vorwarnungen scharf zu schießen begannen. Noch während die Menschen kaum begriffen, was geschah, ritten Kosaken in die dichtgedrängten Menschenmassen hinein und hieben Männer und Frauen wahllos nieder. Als die Teilnehmer immer noch nicht wichen, sich um die Toten und unversorgten Verletzten scharten, hier empört auf die Soldaten einschrien, dort auf die Knie fielen und sich bekreuzigten, wurde erneut scharf geschossen. Das Massaker setzte sich über zwei Stunden fort. Flüchtende wurden in Höfe verfolgt und niedergemacht, Kinder wie Spatzen von den Bäu­ men geschossen. Das alles geschah (so hat es das populäre Bildgedächt­ nis jedenfalls gespeichert) in Sichtweite des kaiserlichen Palasts, in der Mitte der Hauptstadt, wie auf einer gigantischen Bühne. Am Abend, als in den Außenbezirken hier und da Waffen auftauchten, notdürftige Bar­ rikaden errichtet und Amtsgebäude oder Adelspaläste angegriffen wur­

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den, sprach man von Tausenden Toten und Verwundeten. Späteren Un­ tersuchungen zufolge waren es 150 bis 300 Tote und 1000 bis 3000 Ver­ wundete, die dieser «Blutsonntag» gefordert hat. Zar Nikolai notierte in seinem Tagebuch: «Ein schwerer Tag. Infolge des Wunsches der Arbeiter, zum Winterpalais zu ziehen, kam es in ­Petersburg zu ernsten Unruhen. Die Truppen waren in verschiedenen Stadtteilen gezwungen, zu schießen, es gab viele Tote und Verwundete. Ach, Gott, wie schmerzlich und schwer es ist!»1 Die salbungsvolle Klage kaschierte eine wachsende Beunruhigung. Am Vorabend war der Innenminister Fürst Mirsky zum Vortrag beim Zaren gewesen. Mirsky, der den 1904 von Sozialrevolutionären ermor­ deten Polizeigeneral von Plehwe, einen Reaktionär von Format, ersetzt hatte, war ein verhinderter Liberaler, der den Kaiser vergeblich gedrängt hatte, Konzessionen zu machen. Doch Nikolai hing der so weltfremden wie hartnäckigen Vorstellung eines Selbstherrschertums an, das sich als gottgewollte Institution in einer mystischen, unerschütterbaren Über­ einstimmung mit der gläubigen Masse des bäuerlichen Volks befinde, die durch keine profanen Institutionen und Rechtssetzungen gestört werden dürfe oder vermittelt werden müsse. So trug der Zar in seiner apoliti­ schen Entrücktheit und eklatanten Unfähigkeit zu jeder geregelten Re­ gierungsarbeit, die er gleichwohl mit kleinlicher Eifersucht gegen seine fähigeren Minister sich selbst vorbehielt, entscheidend zur Lähmung und Desorientierung dieses ungeheuren Staatswesens bei. Der «Blutsonntag», der das Revolutionsjahr 1905 eröffnete, mag in An­ betracht der Entscheidungsschwäche des politischen Zentrums eher das Ergebnis einer blinden Gewaltroutine als einer zielstrebigen Aktion ge­ wesen sein. Um eine bloße Entgleisung handelte es sich gleichwohl nicht. Denn die in religiösen Formen auftretende, demonstrativ friedliche Mas­ sen­bewegung, bei der rote Fahnen und Parteiembleme nicht erlaubt wa­ ren, hatte schon im Vorfeld einen Druck ausgeübt, mit dem die Regierung noch schlechter zurechtkam als mit den seit der Jahrhundertwende immer zahlreicheren Demonstrationen und Streiks und selbst mit der neuerlich anschwellenden Welle sozialrevolutionären Terrorismus. Andererseits ist es fraglich, ob die von dem charismatischen Arbeiter­ priester Georgi Gapon aufgesetzte Petition, die in einem Dutzend Exem­ plaren gedruckt worden war und deren handschriftliches Original er der Menge vorantrug, eine bloße «demütige und loyale Bittschrift» war2 – oder nicht eher ein kühnes Manifest, das die recht weitgehenden Forde­

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rungen der streikenden Arbeiter nach Mindestlohn, Acht-Stunden-Tag und Selbstvertretung mit den zentralen politischen Forderungen der Li­ beralen und Sozialisten nach einer Verfassung und nach demokratischen Rechten verknüpfte. Und sein Ton äußerster Verzweiflung hatte durch­ aus ­etwas Ultimatives. Auch der Sternmarsch, eine Invasion des inneren Stadtkerns durch die Bewohner der proletarischen Außenbezirke und daher polizeilich verboten, war als solcher schon eine Kühnheit sonder­ gleichen. In Dutzenden Massenversammlungen der «Union der russi­ schen Fabrik- und Werksarbeiter», in denen der junge Pope – Spiritus Rector und unbestrittener Führer dieser ersten, legalen Arbeiterorganisa­ tion Russlands – den Text verlesen hatte, hatten die Teilnehmer mit ­ihren zum Kreuzzeichen erhobenen Händen feierlich geschworen, dass sie lie­ ber sterben als von ihren Forderungen lassen wollten. Derartiges hatte Ferdinand Lassalle in seiner Rondorfer Rede 1864 von seinen Zuhörern nicht verlangt, auch wenn sein Verfahren einer drängenden Petition an den König, gepaart mit der suggestiven Erwartung, er müsse «seinem ­Arbeitervolk» zu Hilfe kommen, einer ganz ähnlichen Logik gefolgt war. Jetzt, in Gapons Petition, firmierten die Arbeiter als die Speerspitze ­einer breiten sozialen Protest- und demokratischen Reformbewegung, die sie auch tatsächlich waren. Und dieser Anspruch konnte in der Spra­ che eines christlichen Gospel machtvoller und authentischer vorgetragen werden als in den hölzernen Parolen einer sozialistischen Agitation, so wenn es etwa hieß: «Herr! Wir Arbeiter der Stadt St. Petersburg, unsere Frauen und Kin­ der und unsere hilflosen alten Eltern sind zu Dir, Herrscher, gekommen, um Wahrheit und Schutz zu suchen. Wir sind verelendet, wir werden un­ terdrückt, mit schwerer Arbeit überlastet … Für uns ist jener furchtbare Augenblick eingetreten, da der Tod besser ist als die Fortsetzung der un­ erträglichen Leiden. Und nun haben wir die Arbeit niedergelegt und unseren Unterneh­ mern erklärt, dass wir sie nicht eher wiederaufnehmen werden, bis sie unsere Forderungen erfüllt haben. Wir haben nicht viel verlangt … Aber selbst das Recht, unsere Wünsche vorzutragen, ist uns verweigert wor­ den … Unsere Forderung nach einem Arbeitstag von 8 Stunden hat man für illegal erklärt  … Einen Mindestlohn für ungelernte Arbeiter von ­einem Rubel täglich, die Abschaffung der Überstunden, bessere Sorge für die Kranken, Beseitigung ungesunder Arbeitsbedingungen  … alle diese unsere Forderungen hat man als ungesetzlich zurückgewiesen, und selbst diese Petition hat man als ein Verbrechen behandelt …

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Herr! Verweigere Deinem Volk die Hilfe nicht … Nimm von ihm das unerträgliche Joch der Beamten, reiße nieder die Scheidewand zwischen Dir und Deinem Volk, und lasse es gemeinsam mit Dir das Land regie­ ren … Befiehl, unverzüglich eine Versammlung der Vertreter aller Klas­ sen und Schichten der russischen Erde einzuberufen. Darin sollen alle, der Kapitalist und der Arbeiter, der Beamte und der Geistliche, der Dok­ tor und der Lehrer vertreten sein, einfach alle, wer sie auch seien. Und lass sie … ihre Vertreter wählen, von denen jeder gleich gelten soll. Und dann befiehl, dass die Wahlen für eine Konstituierende Versammlung unter den Bedingungen einer allgemeinen und gleichen Stimmabgabe stattfinden. Dies ist unsere dringlichste Bitte … Schwöre uns, diese unsere Bitte zu erfüllen, und Du wirst Russland glücklich und ruhmreich machen … Befiehlst Du es aber nicht und er­ hörst nicht unser Gebet, so wollen wir hier, auf diesem Platz vor Deinem Palast, sterben … Möge unser Leben dann ein Opfer für das ganze, lei­ dende Russland sein! Wir scheuen dieses Opfer nicht, wir werden es gerne erbringen!»3 In diesem Text, seinem Verfasser und dem Ereignis selbst kommen fast alle Elemente zusammen, die Russland nach 1900 zum Land der Revo­ lution par excellence gemacht haben – und das Jahr 1905 zu einem di­ rekten Vorläufer von 1917. Dass dieser junge Pope an der Spitze einer derart machtvollen Arbeiterbewegung stand, mag ungewöhnlich schei­ nen, hatte aber einige biografische wie so­zialkulturelle Stimmigkeit. Gapon verkörperte alle die scheinbar unvereinbaren Züge, die der Re­ volution von 1905 (wie später der von 1917) eine so elementare Wucht verliehen haben. Wie viele ihrer Akteure stammte er als Sohn ­eines ­ukrainischen Kosaken aus den Grenzgebieten des Reichs. Sein Vater hatte als Bezirksältester bäuerliches Selbstbewusstsein mit einem verhal­tenen Groll gegen die Vornehmen und Amtsträger verbunden. Dass der Sohn auf Betreiben seiner Mutter auf ein geistliches Seminar geschickt wurde, war einer der vorgezeichneten Wege des Aufstiegs durch Bildung und glich insoweit dem des Schuhmachersohns Iossif Dschugaschwili. Der junge Gapon entschied sich trotz vieler Zweifel, Priester zu wer­ den. Nach dem Studium an der Theologischen Hochschule in Petersburg arbeitete er als Seelsorger in Waisenhäusern, Armenvierteln und einem Gefängnis. Seine leidenschaftlichen Predigten, in denen er ein Stück gött­ licher Gerechtigkeit im Hier und Heute zugunsten der Armen verlangte, zogen zunehmend große Mengen an, während er zugleich praktische

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Hilfen und ein soziales Gemeindeleben mit Teestuben und Bildungszir­ keln organisierte, für die es wie in allen frühindustriellen Milieus einen starken Bedarf gab. Diese Aktivitäten und Predigten weckten die teils argwöhnische, teils wohlwollende Aufmerksamkeit seiner Vorgesetzten. Gapons eigener, im Exil verfasster Bericht über sein Leben als Kirchenmann und Sozialakti­ vist ist freilich so instruktiv wie irritierend.4 Denn anfangs waren es gerade die ausgemachtesten Reaktionäre wie der Generalprokurator ­ Pobedonoszew oder der Polizeigeneral Plehwe, die seine «Arbeitermis­ sion» unter dem Schirm der 1881 gegründeten, staatlich gesponserten «Gesellschaft für die Verbreitung moralisch-religiöser Bildung im Geiste der Orthodoxen Kirche» protegierten. Die Konzentrationen proletari­ sierter Massen rings um die neuen Industriezentren, in denen liberale Modernisierer wie Witte einen Wettbewerbsvorteil sahen, galten ihnen (keineswegs zu Unrecht) als Herde moralischer Depravation und Gesetz­ losigkeit, von Alkoholismus, Prostitution und Kriminalität, denen man auch mit geistlichen und karitativen Mitteln entgegenwirken musste.5 Als sich Ende der 1890 er Jahre abzeichnete, dass Sozialisten der un­ terschiedlichsten Schattierungen die Orientierungslosigkeit der in die Städte strömenden Arbeiterschaft zu nutzen begannen, taten die Vertei­ diger der Autokratie einen bemerkenswerten Schritt: Der umtriebige Chef der Geheimpolizei Ochrana, Sergej Subatow  – wie etliche seiner Zunft ein ehemaliger Terrorist  –, erhielt grünes Licht für sein Projekt, durch Einflussagenten legale Arbeitervereine ins Leben zu rufen, die ­ihren Mitgliedern Möglichkeiten einer berufsständischen Vertretung und ver­ einsmäßigen Geselligkeit bieten sowie paternalistische Förderung und sittliche Bildung angedeihen lassen sollten. Das erwies sich wie alle die vielfältigen und oft abenteuerlichen Ver­ suche der Geheimpolizei, die revolutionären Milieus zu durchdringen, als ein zweischneidiges Schwert. Denn um ihre Anhänger bei der Stange zu halten, mussten die auf Subatows Initiative aufgezogenen Arbeiter­ verbände sich hier und dort an Protest- und Streikaktionen beteiligen, oder sie gerieten auf andere Weise in den Strom der gesellschaftlichen und politischen Bewegung. In Odessa hatten sie durch einen ihrer Dop­ pelagenten in den Reihen der Sozialdemokraten im Sommer 1903 sogar die Initialzündung für einen kurzen Generalstreik geliefert  – was den Ochrana-Chef intern in ernste Schwierigkeiten brachte, ohne dass die von ihm geförderten Vereine ihren Ruf als «Polizeigewerkschaften» hät­ ten abschütteln können.

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Um diesen Ruf aufzupolieren und in der Hauptstadt Petersburg selbst endlich Fuß zu fassen, hatte Subatow 1903 um Gapon zu werben begon­ nen, der trotz seiner Protektion aus höchsten Kreisen als integer galt und über einigen Einfluss in den Arbeitermilieus verfügte. So fraglich Gapons eigene, spätere Darstellung dieser Anwerbung durch Subatow im Einzel­ nen sein mag: Klar ist, dass er mittlerweile ein gehöriges Sendungs­ bewusstsein entwickelt hatte und in gesellschaftlichen wie in politischen Fragen keineswegs so naiv war, wie Subatow annahm. Im Gegenteil: Er ließ sich auf den Handel unter der Bedingung ein, dass er freie Hand bekomme, legal eine wirkliche Arbeiterorganisation, halb Verein, halb Gewerkschaft, aufzubauen – was er auch mit bemerkenswerter Energie tat. Aus fünf Vertrauten will er sogar eine Art geheimes Zentralkomitee gebildet haben, das die Fäden in der Hand hielt. Was Gapons Version halbwegs plausibel macht, ist nicht nur seine wei­ tere Entwicklung, sondern die Tatsache, dass das kirchliche Milieu, aus dem er kam, sich gerade in diesen Jahren in zwei Richtungen radikali­ sierte. Gapon hatte vielen eine Zeitlang als designierter Nachfolger des greisen Johann von Kronstadt gegolten, der mit extravaganten Bußpre­ digten seit den 1860 er Jahren große Massen angezogen und als Wohlund Wundertäter aus Millionenspenden der Reichselite eine Art Kon­ zern aus Armen-, Waisen- und Krankenhäusern aufgebaut hatte. Schon für Zar Alexander  III., dem er die letzte Ölung erteilt hatte, und erst recht für den jungen Nikolai  II. und seine schwärmerisch-orthodoxe deutsche Frau Alexandra war Vater Johann der bevorzugte geistliche Trost- und Segensspender, der das Paar in seinem mystischen Glauben an die Einheit mit dem einfachen Volk bestärkte. Zu den Beben, die der Revolution von 1905 vorausliefen, gehörten aber nicht nur soziale und politische Unruhen, sondern auch immer blu­ tigere Pogrome, wie insbesondere das gegen die Juden von Kischinjow 1903. Es hatte sich in der typischen Weise an Ritualmord-Vorwürfen entzündet und unter den Augen der untätig zuschauenden Staatsorgane zu einer zweitägigen Orgie von Mord und Misshandlung, Vergewalti­ gung und Plünderung entwickelt. Diese Gewalttat erregte weltweit Auf­ sehen und gab der jüdischen Auswanderung Züge einer Massenflucht. Vater Johann von Kronstadt hatte das Pogrom in einem Sendbrief an­ fangs als Zuchtlosigkeit verurteilt, dann aber wie Innenminister von Plehwe und andere die Aktivitäten jüdischer Revolutionäre sowie den jüdischen «Geldhandel» als Gründe des «Volkszorns» angeführt.

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Dieser mehr oder weniger amtliche, religiös verbrämte Antisemitis­ mus (in dessen Kontext auch die berühmt-berüchtigten «Protokolle der Weisen von Zion» entstanden sind) war Teil einer groß angelegten zaris­ tischen Politik, die unter den bäuerlichen und proletarisierten Massen die Ressentiments gegen «Fremdstämmige» schürte, um die verschiede­ nen Nationalitäten des Reiches gegeneinander auszuspielen oder mittels gemeinsamer antisemitischer Affekte bei der Stange zu halten. So hatten sich unter dem Schirm staatlicher Organe und von Teilen der Orthodoxen Kirche seit den späten 1890 er Jahren eine Reihe von Bünden und Gruppierungen entwickelt, die unter der Sammelbezeich­ nung «Schwarze Hundertschaften» 1905 eigene, konterrevolutionäre Massenorganisationen bilden würden, die sich an staatlichen Repres­ sionen beteiligten, während sie gleichzeitig versuchten, dem Volkszorn durch neue Judenpogrome ein Ventil zu schaffen. Im Oktober 1905 war es keine Überraschung mehr, als Gapons vermeintliches Vorbild, Vater ­Johann, dem «Bund des russischen Volkes», der bekanntesten und im Wortsinne schlagkräftigsten dieser protofaschistischen Organisationen, beitrat. Gapon dagegen hatte alle Versuche, die unter Ägide der Ochrana ge­ bildeten Arbeitervereine in eine solche Richtung zu drängen, argwöh­ nisch registriert und war sich der anschwellenden antisemitischen Stim­ mungen auch unter seiner Klientel sehr bewusst, ohne ihnen Tribut zu zollen. Im Gegenteil: Durch seine Aktivitäten kam er zunehmend mit Li­ beralen, Sozialrevolutionären und Sozialdemokraten, von denen viele Juden waren, in Kontakt; und im Zuge des Generalstreiks und der Vor­ bereitungen für den Marsch zum Winterpalast trat er mit ihnen auch in förmliche Verhandlungen. Noch am Abend des 9. (21.) Januar, des «Blutsonntags», den der junge Pope wie durch ein Wunder (oder die Scheu der Soldaten, auf einen Geistlichen zu schießen) überlebt hatte, während seine engeren Vertrau­ ten großteils gefallen waren, hatte er seine «Arbeiterkameraden» in ­einem Sendschreiben aufgefordert, alle «Bilder des blutsaugerischen Za­ ren zu zerreißen», den er mit einem geistlichen Fluch belegte: «Nie mehr wird eine moralische Bindung zwischen Dir und Deinem Volk beste­ hen  … Sei verflucht mit deiner ganzen kaiserlichen Schlangenbrut.» Kurz darauf erklärte er seinen Beitritt zur Partei der Sozialrevolutionäre, die ihn am Tag des Massakers in sichere Quartiere in Petersburg, später nach Finnland brachte und seine Flucht ins Exil organisierte. Über Deutschland ging Gapon mit falschen Papieren in die Schweiz,

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dann nach Frankreich und England. In Genf versuchte er sich als Einiger der verschiedenen sozialistischen Fraktionen und wollte sie für den kom­ promisslosen bewaffneten Kampf gegen das Zarenregime gewinnen. Auch Lenin hatte einige Gespräche mit dem «kleinen Popen» und zeigte sich von dessen Kampfgeist beeindruckt, so wie auch Gapon Interesse an den Bolschewiki zeigte, deren doktrinäre Texte er jedoch nicht studieren mochte und in deren Kader er in keiner Weise hineinpasste. In London schrieb er Erinnerungen, die in einem amerikanischen Verlag erschienen. Für seine Auftritte und Interviews kassierte er hohe Honorare, die er teilweise in ein Schiff mit Waffen für den russischen Widerstand inves­ tierte, das unter unklaren Umständen sank. Schon nach kurzer Zeit fühlte er sich im westlichen Exil aber wie ein abgebrochener Ast. Ende 1905, als die konstitutionellen Zusagen der Zarenregierung Frei­ räume zu eröffnen schienen und eine Amnestie lockte, wollte er nach Russland zurück, was ihm auch gelang  – nur um dort ein grausames Ende zu finden, das in ein anderes, noch näher zu beleuchtendes Kapitel dieser ersten russischen Revolutionszeit gehört.

Vor dem Sturm So elementar die revolutionären Energien in Russland 1905 ausbrachen, so deutlich waren die Vorzeichen gewesen. Dass die sozialen Beziehun­ gen sich vor und nach der Jahrhundertwende Zug um Zug angespannt hatten, war unübersehbar. In die andauernden Reibungen zwischen ­einem selbstbewusster werdenden liberalen Bürgertum und dem auto­ kratischen Machtapparat, der selbst von Reformwünschen bewegt war, mischte sich zunehmend ein bedrohliches Grollen im Unterbau der Ge­ sellschaftspyramide. Zum immer drängenderen Landhunger der Bauern kamen akute Notlagen, die vor allem auch das Heer der städtischen Lohnabhängigen in die Politik ziehen mussten. Der vom Staat forcierte, von ausländischen Kapitalzuflüssen genährte, nur allmählich sich selbst tragende industrielle Aufschwung war immer wieder mit konjunkturellen Einbrüchen und Massenentlassungen ver­ bunden – während die beiden Hauptstädte in nie gesehenem imperia­ lem Glanz erstrahlten und sich eines Kulturbetriebs und einer Vergnü­ gungsindustrie, die an Paris und Berlin Maß nahm, erfreuten. Diese grelle kapitalistische Explosion im Russischen Reich verband sich, für die Menschen unbegreiflich, immer wieder mit steigenden Getreide- und

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Brotpreisen, die weniger mit Ernteausfällen als mit lückenhaften Versor­ gungsketten sowie der wachsenden Ausrichtung auf den Export zusam­ menhingen. Zur städtischen Teuerung trugen schließlich die Wuchermie­ ten für die überfüllten Mietskasernen und Elendsquartiere bei. Das despotische Reglement in den Fabriken und Werkstätten, die Ar­ beitstage von 12–14 Stunden (bei einer Nettoarbeitszeit von 10–12 Stun­ den), häufig unter gesundheitsschädlichen Bedingungen und bei anhal­ tend niedrigen Löhnen, nährten den Eindruck, dass selbst diejenigen, die Beschäftigung fanden, vom Aufschwung kaum profitierten  – während alle, die krank, entkräftet oder verletzt von den Betrieben ausgespuckt wurden, mit den dauernd Arbeitslosen ein wachsendes Heer der Armen bildeten, die von Almosen leben mussten, wenn sie nicht in die Krimina­ lität oder in die Prostitution abrutschen wollten. Hier fand nicht nur ­jemand wie Gapon eine Aufgabe, die mit einiger Zwangsläufigkeit vom Seelsorgerischen ins sozial Aktivistische und von dort ins Revolutionäre hinübergleiten musste. Hier war es auch für die sozialistischen Zirkel leicht, mit radikalisierten und bildungshungrigen Fraktionen der rasch wachsenden Arbeiterschaft in Kontakt zu kommen. Dabei waren die Abgrenzungen zwischen den revolutionären Grup­ pen und Parteien im Alltag fließend. Neben den beiden Fraktionen der Sozialdemokratie, den Menschewiki und den Bolschewiki, gab es die un­ terschiedlichsten Verzweigungen von Anarchisten und Bauernsozialis­ ten, wie Bakunisten, Anhänger Kropotkins, Tolstoianer und viele andere ­politische oder religiöse Sekten; das alles vielfach nach Sprachen, Kultu­ ren und Regionen getrennt oder vermischt. Seit Ende 1901 gab es auch die in den Traditionen des russischen Volkstümlertums neugegründete Partei der Sozialrevolutionäre (SR). Ihr Initiator und theoretischer Kopf Viktor Tschernow stammte wie Kerenski und wie Lenin aus dem Wolga­ gebiet und war der Sohn eines bäuerlichen Aufsteigers ins niedere Beam­ tentum. Als Student und Jurist hatte Tschernow die übliche Kar­riere ver­ schwörerischer Zirkelaktivitäten der 1890 er samt Haft und Verbannung durchlaufen. 1899 war auch er ins Schweizer Exil gegangen, von wo aus er sich als Redakteur des Zentralorgans «Revolutionäres Russland» betä­ tigte. Der Nimbus der Sozialrevolutionäre begründete erneut, wie in den Zeiten der Narodnaja Wolja, ein professioneller Terrorismus, der von ei­ ner schattenhaften «Kampforganisation» ausgeübt wurde. Formell soll­ ten die «bojewiki» (Kämpfer) von der Parteiführung politisch angeleitet werden; tatsächlich folgten sie jedoch immer mehr ihren eigenen Geset­

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zen, insbesondere bei der Auswahl der Opfer und der Wahl der Waffen; sie entwickelten ihr ­eigenes Ethos, ihren eigenen Korpsgeist und Lebens­ stil; und vor allem hatten sie ihre eigenen, selbst beschafften Geldmittel. Im Übrigen vertraten sie sehr unterschiedliche, selbstgestrickte Weltan­ schauungen, die mit der rationalistischen Ideologie und den Zielen der Partei keineswegs übereinstimmen mussten. Anfangs waren es nur wenige, spektakuläre Anschläge, die als Vergel­ tungsaktionen für die Repressionen gegen Streiks und Demonstrationen oder für die antijüdischen Pogrome deklariert wurden; aber sie versetz­ ten das Regime abermals (wie in den 1870/80 er Jahren) in einen Belage­ rungszustand und machten die schattenhaften sozialrevolutionären Kampforganisationen zu einem direkten und scheinbar gefährlichen Kontrahenten. Nach den Morden an dem Unterrichtsminister Bogole­ pow (1901), dem Innenminister Sipjagin (1902) und an zwei Provinz­ gouverneuren in Charkow und Ufa sowie in Finnland (1902/03) war es vor allem das Bombenattentat gegen den neuen Innenminister Plehwe im Juli 1904 mitten in Petersburg, das die Regierung im Mark erschütterte und den Dammbruch von 1905 vorbereitete. Fast noch gravierender als die Tat selbst waren das beredte Schweigen oder die in zweideutige Kommentare verpackte, kaum verhohlene Ge­ nugtuung nahezu der gesamten bürgerlichen und literarischen Öffent­ lichkeit, die deutlich machte, wie tief die Kluft inzwischen war, die sich zwischen dem Zarentum und einem Großteil der Gesellschaft aufgetan hatte. Einen Monat nach dem «Blutsonntag» folgte im Februar 1905 ein noch spektakuläreres Attentat, dem der Onkel des Zaren, Großfürst ­Sergej Alexandrowitsch, den viele für den wahren Herrscher hielten, zum Opfer fiel. Und wieder war es nicht allein die schiere Fähigkeit der Terroristen, höchste Amtsträger fast nach Belieben zur Strecke zu brin­ gen, die erschütterte, sondern der Märtyrerkult um die überlebenden und vor Gericht gestellten Attentäter. In noch schwülerer Weise als ihre Vorgänger wurden diese neuen so­ zialrevolutionären Terroristen unter den Studenten und Gymnasiasten und selbst in den liberalen bürgerlichen Salons als eine Art «heilige Mör­ der» verehrt. Ihre Motive wurden literarisch ausgedeutet, mal subtil psy­ chologisch wie in Leonid Andrejews Revolutionszyklus «Die sieben ­Gehängten» von 1908, mal kulturkritisch wie in Andrej Belyis avantgar­ distischem «Petersburg»-Roman von 1913 und mal existentialistisch wie in der Novelle «Das fahle Pferd» von Boris Sawinkow von 1909.6

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Die Erklärung der Partei der Sozialrevolutionäre zum Attentat auf Plehwe im Juli 1904 war, ganz wie einst die Manifeste der Narodnaja Wolja, als eine förmliche Anklageschrift und Urteilsbegründung eines ­revolutionären Volkstribunals abgefasst. Der Innenminister sei «wegen seiner Verbrechen gegen Volk und Vaterland, gegen Zivilisation und Menschheit hingerichtet» worden. Er habe «gegen alles, was in Russ­ land denkt und leidet», unerhörte Repressalien verhängt, habe «tapfere Vorkämpfer des Rechts und der Freiheit aufs Schafott geschickt oder ­lebendig in den Grüften unserer Bastillen begraben», das Pflaster der ­Industriezentren «mit Proletarierblut überschwemmt», Judenpogrome («wahre Bartholomäusnächte») organisiert, während er die Bauern und ihre Frauen durch seine Kosaken habe auspeitschen und vergewaltigen lassen, wie es das «seit dem orientalischen Despotismus und den bar­ barischen Volksstämmen» nicht mehr gegeben habe. Überdies habe er Hass zwischen den Nationalitäten des Reiches gesät und in Finnland, Polen, Armenien die Autonomierechte kassiert. Schließlich sei er einer der Hauptantreiber beim Krieg gegen Japan gewesen, der sich zu «einem der unheilvollsten Abenteuer, die die Geschichte kennt», entwickelt habe, für das «hunderttausend junge Leute und Milliarden Rubel» hin­ geopfert würden.7 Das war nun allerdings ein Sündenregister, wie es erdrückender kaum sein konnte. Auch liberal-demokratische Organe wie Pjotr Struwes in Stuttgart erscheinende Zeitung «Befreiung» sahen in den terroristischen Anschlägen die «logische Entwicklung einer todgeweihten Autokratie», deren reaktionärer Charakter eine «Atmosphäre des Grolls und der Ent­ rüstung» in der gesamten Gesellschaft hervorgerufen habe. Mindestens verbal kam das einer Billigung des Terrors sehr nahe, solange er sich ge­ gen die Repräsentanten des zaristischen Regimes richtete, und knüpfte insoweit an die Tradition der «Narodowolzen» an, die man vielfach als «Liberale mit einer Bombe» bezeichnet hatte. Kaum weniger schroff war das internationale Echo, das alle diese Er­ schütterungen des russischen Imperiums in der westlichen Öffentlichkeit fanden. Karl Kautsky gab wie in vielen zentralen Fragen die Linie seiner Partei vor. Der «Terrorismus», den er mit dem «Anarchismus» gleich­ setzte, sei eine in «Kulturstaaten» längst überholte Kampfform. Die deutsche Sozialdemokratie, die «eine revolutionäre, aber keine Revolu­ tion machende Partei» sei, habe gegen den Anarchismus sowohl natio­ nal wie in der Sozialistischen Internationale eine scharfe und prinzipielle Grenze gezogen. Nur sei das russische Zarenreich eben kein «Kultur­

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staat», und insofern seien die dortigen Attentäter auch keineswegs «Ab­ schaum», sondern «todesmutige Märtyrer der Freiheit» und «vielleicht irregeleitete, aber edle und große Fanatiker».8 Ob der Terrorismus, der zwischen 1905 und 1911 noch einmal in ganz neue Dimensionen vorstieß, tatsächlich dazu beigetragen hat, dem zaris­ tischen Regime «das Rückgrat zu brechen, es physisch wie geistig zu ver­ wunden», bleibt eine Frage der Einschätzung.9 Bedeutsamer als alles, was er politisch bewirkte und bedeutete, war jedenfalls, was sich symp­ tomatisch in ihm ausdrückte: nämlich ein Bruch zwischen Gesellschaft und Staat, wie er (so schien es jedenfalls) tiefer kaum sein konnte.

Revolution und Niederlage 1905 Tatsächlich waren es 1905 wie 1917 nicht gezielte revolutionäre Gewalt­ akte oder Agitationen, sondern spontan sich entwickelnde Massen­ aktionen, die das Zarentum in seinen Fundamenten erschütterten und am Ende stürzten. Dabei spielten die sozialistischen Parteien zu Beginn noch kaum eine Rolle, so wenig wie die professionellen Terroristen. Die Führung fiel 1905 wie 1917 zunächst den bürgerlichen Demokraten und Liberalen zu. Im Mai 1905 schlossen eine Reihe neugegründeter Berufs­ verbände, ohne behördliche Genehmigungen abzuwarten, sich zu einem «Verband der Verbände» (Sojus Sojusow) zusammen, der Schriftsteller wie Schriftsetzer, Professoren wie Volksschullehrer, Ingenieure wie Rechts­ anwälte, Apotheker wie Ärzte vereinte. Im Lauf des Jahres erweiterte sich dieser «Verband der Verbände» sozial immer mehr, von den Angestellten der Eisen­bahnen, Post- und Telegrafenämter, denen eine Schlüsselfunk­ tion für das ganze Land zukam, über einen neuen Verband der Facharbei­ ter verschiedener Industrien bis hin zu den ersten Frauenligen. Mit ihrem bildungsbürgerlichen Anhang verfügten die Liberalen als einzige über publizistische Organe, die das ganze Land erreichen, sowie über Sprecher, die als Vertreter einer allgemeinen «Öffentlichkeit» auftre­ ten konnten. Auch in den Semstwos in der Provinz gaben liberale und ­demokratische Kräfte umso deutlicher den Ton an, je halbherziger und hinhaltender der Zar sich gegenüber dem Drängen nach konstitutionel­ len Reformen zeigte. So mischten sich in dieser bürgerlichen und profes­ sionellen Bewegung Ansprüche einer Revolution steigender Erwartungen mit Gefühlen einer immer tieferen Frustration über die Unbeweglichkeit des absolutistischen Machtapparats.

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Als sich im Oktober die informell längst existierende «Partei der Kon­ stitutionellen Demokraten» (KD, auch «Kadetten» genannt) gründete, da war sie zwar völlig von Professoren, Journalisten, Juristen, Semstwo-­ Vertretern und Freiberuflern, Angehörigen der Elite, dominiert, und doch mit 100 000 Mitgliedern die größte aller Parteien Russlands, dazu auch als einzige landesweit vertreten.10 Dass mehr als die Hälfte der Mitglieder adeliger Herkunft war, zeigte nur die rapide Auflösung der alten Stän­ deordnung im Milieu der expandierenden Bildungsschichten. Die «Kadet­ ten» gaben sich mehr oder weniger revolutionär; alle Abgrenzungen nach links lehnten sie vorerst ab. Bedeutsamer war jedoch, dass sie trotz laten­ ter Ängste vor einer allgemeinen Anarchie nicht davor zurückscheuten, die Autokratie auch durch die direkte oder moralische Unterstützung ­radikaler, auch gewaltsamer Massenaktionen unter Druck zu setzen. Des­ halb wurden sie von den entschlossenen Konservativen in Adels- und Re­ gierungskreisen wie von den erklärten Konterrevolutio­ nären und den Ideologen der «Schwarzhunderter» als Komplizen der dunklen Kräfte des Aufruhrs angegriffen – was sie wiederum zusammenschweißte. Das Panorama der Erhebungen des Jahres 1905 umfasste beinahe die ­gesamte Gesellschaft und das ganze Reich. So etwas hatte es, zumal mit dem «proletarischen» Gepräge, das die großen politischen Massenkund­ gebungen dieses Jahres durchweg trugen, noch nie und nirgends auf der Welt gegeben, oder allenfalls in sporadischen Vorformen wie 1792 und 1848 in Paris und einigen anderen Städten. Russland wurde an der Schwelle des 20. Jahrhunderts zum «Land der Revolution» par excel­ lence, und das in einer so handgreiflichen Weise, dass die Erwartung oder jedenfalls die Möglichkeit einer neuen Revolution im Zarenreich zu einem festen Faktor in den Berechnungen der anderen imperialistischen Großmächte wie in den Zukunftsprospekten der Sozialisten aller Länder wurde. Nicht nur Rosa Luxemburg befand, dass die Aufstände in Russ­ land «den ausgesprochensten proletarischen Charakter von allen bishe­ rigen Revolutionen» gezeigt hätten. Auch der distanziertere Karl Kautsky prophezeite, dass das «Sturmzentrum» der überfälligen demokratischen und sozialistischen Umwälzungen sich nunmehr nach Osten verlagert habe, von wo sie früher oder später auf den Westen und vor allem das Deutsche Kaiserreich zurückschlagen müssten.11 Der Petersburger «Blutsonntag» hatte, statt einschüchternd zu wir­ ken, in vielen anderen Städten des Russischen Reichs Proteste und Mas­ senstreiks provoziert, die das ganze Jahr hindurch in immer neuen Auf­

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wallungen Hunderttausende erfassten. Nach offiziellen Erhebungen ­haben sich im Lauf des Jahres 1905 im ganzen Reich rund 2,8 Millionen Beschäftigte an Streikaktionen beteiligt; das entsprach, auch wenn man Mehrfachbeteiligungen einrechnet, der Zahl fast aller industriell und ­gewerblich Beschäftigten Russlands.12 Wie in Gapons Manifest verban­ den sich in den Erklärungen der Streikenden stets Forderungen an ihre Arbeitgeber mit dem Verlangen nach demokratischen Rechten und kon­ stitutionellen Reformen – ein Verlangen, das selbst viele Arbeitgeber un­ terstützten. Zu den Streiks der Arbeiter kamen fast obligatorisch Studentenunru­ hen. Deutlicher als früher wurden die Studenten dabei von Teilen des Lehrkörpers und zugleich auch von einem bürgerlichen Publikum unter­ stützt, das seinerseits in Form von «Banketten» und durch andere For­ men geschlossener Kundgebungen seine Forderungen anmeldete. Das ­alles war wiederum Teil einer Flut von Eingaben und Petitionen, die aus allen sozialen Milieus die Regierung erreichten und an die «cahiers de doléances», die Beschwerdebriefe an den König, erinnerten, die das Vor­ spiel zur Revolution von 1789 gebildet hatten.13 Insoweit war und blieb die entstehende Arbeiterbewegung Russlands, so marginal sie im soziologischen Gesamtaufriss war, die Speerspitze ­einer allgemeinen Protest- und Aufbruchsbewegung, so wie die gewerk­ schaftliche Organisation der beruflich und regional zersplitterten Arbei­ terschaften ein Teil der ungleich breiteren zivilgesellschaftlichen Bewe­ gung war. Als Ende des Jahres die gesetzlichen Beschränkungen fielen, wurden auf Anhieb 165  Einzel- oder Branchengewerkschaften regist­ riert. Damit wurde die russische Arbeiterbewegung, jedenfalls in ihren großindustriellen und großstädtischen Kernen, schlagartig moderner und europäischer, politischer und revolutionärer als in irgendeinem an­ deren Land der Welt.14 Die städtischen Unruhen griffen sehr bald auch auf das Land über, wo in den traditionellen Zentren der Unruhe – an der unteren Wolga, in der Ukraine, aber auch in Zentralrussland – Dorfgemeinden schon im Som­ mer 1905 mit Pacht- und Steuerstreiks begannen und bald zu ersten wil­ den Landnahmen und Raubzügen auf die benachbarten Güter übergin­ gen. Gleichzeitig bildeten sich erstmals bäuerliche Interessenverbände, die im administrativen Vakuum so etwas wie lokale Selbstregierungen begründeten, während sie sich gleichzeitig zu einem Gesamtverband ­zusammenschlossen, der dem «Verband der Verbände» beitrat und ein weitgehendes bäuerliches Forderungsprogramm formulierte.

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Existentiell für den Bestand des Vielvölkerreichs waren schließlich die Erhebungen in vielen Randgebieten des Reiches, vor allem im Kaukasus, in ­Polen, Lettland und Finnland, in denen sich die soziale und politische Unruhe mit nationalen Forderungen auflud. In diesen Bewegungen der nichtrussischen Nationalitäten dominierten vielfach nicht bürgerliche Nationalisten oder Liberale, sondern Sozialisten unterschiedlicher Cou­ leur, die mit den russischen Sozialrevolutionären oder Sozialdemokraten verbunden waren, ohne in ihnen aufzugehen. Alle nationalen Anliegen – vom Recht auf die eigene Sprache und Kultur bis zu den Möglichkeiten einer erweiterten Selbstvertretung oder auch völligen staatlichen Unab­ hängigkeit – hatten eben immer auch eine soziale Pointe, waren Teil der Empörung gegen die alltägliche Entmündigung, vor allem der Bauern, die ihre eigenen, zu «lokalen Dialekten» degradierten Sprachen spra­ chen, und natürlich gegen die staatlich-imperiale Ausplünderung. Entsprechendes gilt für die jüdischen, meist jiddischsprachigen Ge­ werkschaften, Parteien und bewaffneten Selbstverteidigungseinheiten. In vielen Städten, vor allem im jüdischen Ansiedlungsgürtel, spielten sie durch die hohe Zahl ihrer Aktivisten wie durch Disziplin und Entschlos­ senheit eine führende Rolle – was ihnen den umso brennenderen Hass der Antisemiten und zaristischen Behörden eintrug.15 All diese vielfältigen Bewegungen und Bestrebungen kulminierten schließlich in einem gesamtrussischen Generalstreik, der mit einem Aus­ stand der Moskauer Drucker und Setzer am 20. September begann oder genauer gesagt: mit der obligaten polizeilichen Unterdrückung dieses Streiks und den fast ebenso obligaten Solidaritätsaktionen, die immer radikaler wurden und sich binnen Tagen auf beide Hauptstädte und weite Teile des Reichs ausdehnten. Anfang Oktober brachte der Streik der Eisenbahner, dem sich die Belegschaften nahezu aller großen und kleinen Industriebetriebe und Handelshäuser, Werkstätten, staatlichen Behörden und selbst der Theater anschlossen, das ganze Land über zwei, drei Wochen fast völlig zum Stillstand. Das war der erste nicht mehr nur lokale «Generalstreik» der modernen Geschichte, der  – fast wie die ­Anarchosyndikalisten es seit Langem erträumt und radikale Sozialisten wie Rosa Luxemburg oder der junge Trotzki es klar vorhergesehen hat­ ten – trotz oder gerade wegen seines proletarischen Gepräges Züge einer allgemeinen Erhebung gegen die Machtordnung annahm. Es war erst dieser Generalstreik, der das Regime zu wirklichen Zuge­ ständnissen zwang, zum Erlass des «Oktoberedikts», das der eilig zum Premierminister berufene Graf Witte formulierte. Erstmals wurden da­

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rin bürgerliche Freiheits- und Mitwirkungsrechte versprochen und all­ gemeine Wahlen angekündigt – allerdings nach einem Zensus, der dem längst überholten preußischen Dreiklassenwahlrecht ähnelte, und zu ­einem Parlament, der «Duma», dessen Rechte weiterhin eng begrenzt bleiben sollten. Deshalb wurde auch der Begriff «Konstitution» für die zugesagte Staatsreform sorgsam vermieden. Nur unter dieser gesichtswahrenden Bedingung war Nikolai bereit zu unterschreiben und bereute das im selben Moment schon heftig. Seiner Mutter schrieb in jammervollem Ton: «Du erinnerst Dich zweifellos an jene Januartage – nach dem ‹Blutigen Sonntag› –, als wir in Zarskoje zu­ sammen waren – sie waren erbärmlich, nicht wahr? Aber das war nichts im Vergleich zu dem, was sich jetzt zugetragen hat … Wir sind mitten in einer Revolution mit einem anscheinend des­organisierten Verwaltungs­ apparat, und darin liegt die größte Gefahr.»16 Die Nachrichten über die neuerdings ausgebrochenen Pogrome, die in Odessa und anderswo Hunderte von Toten, Tausende von Verletzten und Zehntausende von Flüchtlingen forderten, richteten ihn wieder auf: «Die Unverschämtheit der Sozialisten und Revolutionäre hat das Volk noch einmal in Zorn gebracht, und weil neun Zehntel der Unruhestifter Juden sind, wandte sich der ganze Zorn des Volkes gegen sie.» Mit sa­ distischer Genugtuung registrierte er, «wessen ein rasender Mob fähig ist: sie umzingelten die Häuser, in die sich die Revolutionäre geflüchtet hatten, setzten sie in Brand und töteten jeden, der zu entkommen suchte.»17 Das treue, empörte Volk erhob sich gegen die Unruhestifter, die zu «neun Zehntel Juden» waren! Weiter entfernt von der Realität konnte man kaum sein. Eine elementare Voraussetzung der «Revolution», von der auch der Zar selbst jetzt sprach, bildete der im fernöstlichen Hintergrund spielende Russisch-Japanische Krieg, der dem heutigen Bewusstsein weitgehend entschwunden ist. Im Februar 1904 war er willkürlich vom Zaun ge­ brochen worden. Die russische Regierung hatte ihn als «kleinen», sieg­ reichen Feldzug gedacht, der den inneren Zusammenhalt festigen sollte. Stattdessen hatte er sich zu einer Machtprobe ausgewachsen, die in ihrer internationalen Tragweite wie den internen Konsequenzen dem Krim­ krieg vergleichbar war. Nur dass es jetzt nicht die beiden Weltmächte England und Frankreich waren, die dem Imperium des Zaren seine Schranken setzten, sondern eine junge, viel kleinere asiatische Nation, die als Vertreterin der «gelben Rasse» einem Russland gegenübertrat,

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das sich mit dem Bau der Transsib und der neuen Häfen gerade als Vor­ kämpfer der «weißen Rasse» und als «Bannerträger christlicher Gesit­ tung und Zivilisation im fernen Osten» gerierte.18 Schon die spektakuläre Folge der Ereignisse zur See, die im Februar 1904 mit dem japanischen Überraschungsangriff und der fast vollständi­ gen Vernichtung der Ostasiatischen Flotte im frisch ausgebauten Hafen von Port Arthur begannen und sich mit der Versenkung und Kapitulation fast der gesamten, rund um den Globus herangedampften Baltischen Flotte in der Meerenge von Tsushima im Mai 1905 zu einem beispiel­ losen Debakel auswuchsen, war in ihrer materiellen wie symbolischen Bedeutung kaum zu übertreffen. Eine Vernichtung zweier Flotten binnen eines Jahres hatte es in der Kriegsgeschichte noch nicht gegeben. Aber die Niederlagen zu Lande waren militärisch fast noch verhee­ render und moralisch noch niederschmetternder. Dem Fall der Festung Port Arthur Anfang Januar 1905 folgte im Februar/März die 14tägige Schlacht von Mukden, die mit über 600 000 Kombattanten die größte und längste Schlacht der gesamten bisherigen menschlichen Geschichte war, größer und verlustreicher als selbst die «Völkerschlacht» von Leip­ zig 1813. Auch hier erwiesen sich die zahlenmäßig unterlegenen, aber moderner bewaffneten, beweglicher operierenden und besser geführten japanischen Streitkräfte als überlegen. Unter den eine Million an die fern­östlichen Fronten transportierten, in menschenfeindlichem Gelände ausgesetzten, kaum versorgten russischen Soldaten forderte dieser Krieg Zehntausende an Toten sowie ein Mehrfaches an Verletzten und Kran­ ken, Verstümmelten und Gefangenen. Damit stieß das Russische Reich im Zenit seiner imperialen Expansionen an seine letzten, äußersten Grenzen  – die es erst unter Stalin 1945 noch einmal überschreiten würde. Die Katastrophen sickerten durch die Filter der Zensur, auch wenn es kaum Bilder und präzise Berichte gab. Schon im März 1905 war es den Behörden in einem Großteil Russlands nicht mehr möglich, frische Trup­ pen für die Front auszuheben; die Dörfer, die die Rekruten stellen soll­ ten, boykottierten die Rekrutierung versteckt oder ganz offen. Im Juni folgte die episodische, aber elektrisierend wirkende Meuterei auf der «Potjomkin». Diese Meuterei, die durch Sergej Eisensteins Film «Pan­ zerkreuzer Potjomkin» von 1925 in den Rang eines modernen Mythos erhoben worden ist, befeuerte einen Generalstreik in Odessa, dessen ­militärische Niederschlagung mit Hunderten Toten und Tausenden Ver­ letzten in unserem Gedächtnis wieder mit den Filmbildern Eisensteins

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verschmilzt (der Treppe zum Meer, der Frau mit dem Kinderwagen, dem ballettösen Schritt der Soldaten). Züge einer Meuterei hatte auch schon der von Gapons Arbeiter-Union ausgerufene Streik in den Putilow-Werken, der größten Waffenschmiede Russlands, im Dezember 1904, also mitten im Krieg, getragen. Das war, wie der Marsch zum Winterpalast, ein Akt kühner Illoyalität gewesen, der bereits einer um sich greifenden defätistischen Stimmung Ausdruck gab, in der sich – so wie in den Petersburger Streiks und Hungerdemons­ trationen des Winters 1916/17 – nationale Demütigung mit sozialer Er­ bitterung mischte. So wie die deutschen Diplomaten es ein Jahrzehnt später im Weltkrieg tun würden, alimentierte der japanische Militär­ attaché in Stockholm im Winter 1904/05 mit vollen Händen die Revolu­ tionäre ganz Russlands, die keinerlei Bedenken hatten, Geld vom Feind zu nehmen; die Partei der Sozialrevolutionäre und ihre terroristische Kampforganisation ebenso wenig wie die Finnen, die Polen (um Josef Pilsudski) und die Georgier. Die Bolschewiki gingen leer aus, man hatte sie noch gar nicht wahrgenommen. Dabei waren alle von der zaristischen Geheimpolizei als Mitglieder so­ zialistischer Organisationen Registrierten vom Armee- und Kriegsdienst «ausgeschlossen» – und nahmen das gerne an. Beispiele einer ­organisierten Agitation innerhalb der Armee sind jedenfalls nicht überliefert, auch wenn einzelne Matrosen der «Potjomkin» Kontakte zu r­evolutionären Gruppen gehabt haben sollen und die Soldaten der hauptstädtischen Garnisonen nach dem Urteil ihrer Kommandeure vom Bazillus des allge­ meinen Aufruhrs infiziert und unzuverlässig geworden waren. Tatsächlich hatten die Sozialrevolutionäre wie die Sozialdemokraten den Krieg anfangs eher als eine störende Einmischung in ihre Organisa­ tionsbemühungen wie ihre internen Dispute wahrgenommen und seine Bedeutung gravierend unterschätzt. Eine Ausnahme bildete Lenin. An­ fang Januar 1905 schrieb er in einem Editorial seines bolschewistischen Fraktionsorgans über den Fall Port Arthurs, das Proletariat Russlands und der Welt habe «allen Grund, sich zu freuen … Das fortschrittliche, das fortgeschrittene Asien hat dem rückständigen und reaktionären ­Europa einen nicht wiedergutzumachenden Schlag versetzt». Nicht das russische Volk, sondern der russische Absolutismus habe «eine schimpf­ liche Niederlage erlitten … Die Kapitulation Port Arthurs ist der Prolog zur Kapitulation des Zarismus  … und bringt uns dem Beginn eines neuen großen Kriegs näher, des Volkskriegs gegen den Absolutismus, des Krieges des Proletariats für die Freiheit.»19

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Unmittelbarer als auf das städtische Publikum wird der Krieg auf die bäuerlichen Gemeinden gewirkt haben. Mit ihrer Weigerung, Rekruten zu stellen, begann ihre politische Radikalisierung. Das Machtvakuum, das durch die kriegsbedingte Ausdünnung der inländischen Garnisonen entstand, ermutigte sie ebenso, wie das Opfer ihrer Söhne an der Front sie motivierte, sich alles «zurückzuholen», was ihnen ihrem Rechtsemp­ finden nach gehörte. So triumphal und nahezu allgemein der Jubel war, mit dem das Manifest des Zaren am 17. Oktober von großen Menschenmengen in den Städten Russlands begrüßt wurde, so rasch und gründlich machte sich binnen weniger Tage Ernüchterung, ja Verbitterung breit. Was auf den ersten Blick wie ein Sieg aussah, war auf den zweiten Blick ein vages, unge­ decktes Versprechen und zugleich eine Falle. An der Frage, ob und wie man sich auf das Feld eines «Scheinkonstitutionalismus» (wie Max ­Weber diagnostizierte) und einer kastrierten Demokratie begeben sollte oder nicht, zerbrach schließlich auch die Einheit der demokratischen Volksbewegung – und das großteils entlang von Klassen- und Standes­ grenzen. Die Differenzen traten noch am Tag der Bekanntmachung zutage. Es war der junge Bronstein alias Trotzki, der als Sprecher und Kopf des ­Petersburger «Rats (Sowjet) der Arbeiterdeputierten» die Widersprüch­ lichkeit der Situation auf den Punkt brachte, als er einer großen, eigent­ lich jubelnden Menge zurief: «Man hat uns eine Konstitution gegeben, aber die Autokratie bleibt. Alles hat man uns gegeben, und nichts hat man uns gegeben.» Um zum Schrecken der einen und zur Begeisterung der anderen das gedruckte Zarenmanifest in der Luft zu zerreißen.20 Reine Demagogie war das nicht. Schließlich gab es keinerlei Garan­ tien  – nicht einmal für die «gewährten» Freiheiten der Rede, der De­ monstration und der Organisation. Die Polizei und die Truppen, die beide Hauptstädte in Heerlager verwandelt hatten, waren nicht zurück­ gezogen. Die Zensur bestand weiter. Ob es eine Amnestie für die Tau­ sende von Festgenommenen geben würde, war unklar. Und jeder ver­ stand, was es hieß, dass zusammen mit der Ernennung des Halbliberalen Witte zum Premierminister der ehemalige Polizeichef Alexanders  III., und Erzreaktionär Pjotr Durnovo, reaktiviert und zum neuen Innen­ minister berufen worden war. In dieser Situation fiel dem Petersburger «Sowjet» eine Rolle zu, die seine pragmatischen Anfänge und seine ursprünglichen Zwecke bei Wei­

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tem überstieg. Gegründet nur Tage vorher in den Räumen der liberalen «Freien Ökonomischen Gesellschaft» und unter dem informellen Dach des «Bundes der Bünde» zur Koordinierung der streikenden Betriebe, markierte dieser Arbeiterrat mit seinen 562 Delegierten eine klare Ver­ schiebung der sozialen Gewichte, die der entscheidenden Rolle der Arbei­ terbelegschaften, damit aber auch ihrem sozialen Geltungsanspruch legi­ timen Ausdruck gab. Der Begriff «Sowjet» war jedenfalls wie selbstver­ ständlich da, setzte sich fest und war 1917 sofort wieder präsent. Mit der Wahl eines fünfzigköpfigen Exekutivkomitees, in das auch je sieben Ver­ treter der drei sozialistischen Parteien (Menschewiki, Bolschewiki und Sozialrevolutionäre) gewählt wurden, zeigte der Sowjet von Anfang an ein deutlich linkes Profil. Die Wahl des parteilosen, linken Anwalts Chru­ staljow-Nossar und des jungen, den Menschewiken zugerechneten Jour­ nalisten Leo Trotzki, der sich als ein begnadeter Organisator und Red­ ner erwies, zu Ko-Vorsitzenden unterstrich das noch deutlicher. Auch wenn man alle die nachträglichen Mythisierungen dieses ersten Petersburger Arbeiterrats wie dicke Lackschichten ablaugt, bleibt sein Wirken ein eindrückliches Beispiel revolutionärer Selbstorganisation und (wenn man das nicht zu pathetisch nimmt) proletarischer Emanzi­ pation. So war der Sowjet klug genug, den Generalstreik, der für die ­Arbeiter wie die ganze Stadtbevölkerung längst an die Substanz ging, in einer Form zu beenden, die klarmachte, dass dies nicht das Ende, son­ dern der Anfang war. Am festgelegten Tag, dem 20. Oktober, zur festge­ setzten Stunde zogen die Belegschaften im ersten Frühlicht geschlossen unter ­roten Fahnen zu ihren Fabriken. Als Tage später die im Zuge der verschiedenen Streiks und Aktionen Verhafteten noch nicht freigekom­ men waren, zogen wieder, gerufen und geführt vom Arbeiterrat, Zehn­ tausende unbewaffnet, aber in geschlossener Formation und unter roten Fahnen zu den Gefängnissen – und hatten die Genugtuung, angesichts des schon aufgezogenen Militärs ein Amnestiedekret verlesen zu bekom­ men, das die Gefangenen tatsächlich freisetzte.21 Ähnlich wurde die faktische Aufhebung der Zensur durchgesetzt: Alle Zeitungen wurden vom Sowjet «per Dekret» aufgefordert, die Zensur ab sofort zu ignorieren; und der Arbeiterrat ging mit seinem Mittei­ lungsorgan «Iswestija» (Nachrichten) voran. Blätter, die noch mit einem Zensurstempel erschienen, sollten bestreikt und boykottiert werden. Auch das war erfolgreich: Anfang November wurde die «Freiheit der Presse» von der Regierung zugesagt.

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Damit begannen erst wirklich die «Tage der Freiheit», die ein kurzer Sommer der Anarchie waren, ein Karneval der endlosen Meetings und Straßendiskussionen, befeuert durch zahllose Flugblätter, Plakate und Hunderte neuer Zeitungen und Zeitschriften, die in allen Städten und in allen Sprachen des Reiches gegründet wurden. Neben den politischen Organen, die alle Parteien, einschließlich der in halblegaler Position ver­ harrenden Sozialrevolutionäre und Sozialdemokraten, herausgaben, er­ schienen neue Publikumsblätter, darunter eine von Gorki finanzierte, den Bolschewiki zuneigende, aber auf breitere Wirkung berechnete Zeitung, die «Nowaja Shisn» (Neues Leben) genannt wurde. Ein noch kühnerer Coup war die Übernahme des Boulevardblatts «Russkaja Gaseta» durch Trotzkis Mentor und Kompagnon Alexander Helphand («Parvus»), der daraus eine sozialistische Massenzeitung mit einer Auflage von zeitweise 250 000 Exemplaren machte. Noch populärer waren womöglich die unzähligen illustrierten, meist satirischen Blätter und Zeitschriften, die mit giftigen Karikaturen und düster-allegorischen Zeichnungen, volkstümlichen Spott- oder Hassge­ dichten, Feuilletons und Satiren einen publizistischen Tsunami entfes­ selten, der – so schien es – selbst schon alle überkommenen Macht- und Lebensordnungen wegspülen musste. Diese Blätter, die eine enorme Straßenpopularität genossen, aber auch in den Salons der Gebildeten ge­ lesen wurden, waren selten lustig; man kommt ihnen eher mit dem Be­ griff des Galgenhumors nahe. Sie trugen Namen wie «Holzwurm» oder «Popanz», «Rotes Lachen» oder «Höllenpost», «Knute» oder «Maschi­ nen-Gewehr». Einige griffen als Motto einen Satz auf, den der Moskauer Generalgouverneur Trepow seinen Soldaten zugerufen haben sollte: «Spart keine Kugeln!» Das taten diese Blätter auf ihre Weise auch nicht. Fingierte Meldungen besagten etwa, der Oberste Kriegsrat habe das Ziel der Eroberung ­Tokios aufgegeben und plane nun die Eroberung Moskaus. Ein Stellen­ gesuch hieß: «Metzger sucht Position als Generalgouverneur.» Schlag­ zeilen verkündeten: «Hooligans verlangen bessere Bezahlung – 25 Kope­ ken für ein totes Kind, 50 für einen erschlagenen Juden, 75 mit Verstüm­ melung». Die Zeitschrift «Stachel» erklärte als neue ökonomische Faust­ formel: «Bauer mit Gutsherr bedeutet Armut, Bauer minus Gutsherr be­ deutet Reichtum». Graf Witte firmierte in einer illustrierten Fabel als «Graf Fuchs», der sein Land ausländischen Kapitalgebern anpries. Aber auch der Zar selbst und seine Familie, die frömmelnde Zarin und der kränkelnde Zarewitsch, der Zarenbruder Alexej und dessen polnische

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Mätresse wurden mehr oder weniger kaschiert zur Zielscheibe. Gorki (an den sich wegen seines internationalen Ruhms die Behörden nicht he­ ranwagten) apostrophierte die Romanows als eine Dynastie von «Syphi­ litikern und Fresssäcken», die als «unwissende Barbaren und Räuber, mehr Tiere als Menschen, morbide und lüstern, berauscht von Leiden, Grausamkeiten und Blut», drei Jahrhunderte lang nichts als Schande über Russland gebracht hätten.22 Kein Wunder, dass diese Blätter serienweise verboten wurden. Aber ebenso oft standen sie unter neuen Namen wieder auf. Nichts hätte die Auf­lösung der Macht- und Sozialordnung deutlicher zum Ausdruck bringen können. In einer Flut von Klatsch und Gerüchten, von Spott und Schmäh, von Flüchen und Zoten, Couplets und Karikaturen, Bildern und Gesängen, teils volkstümlich grob und teils künstlerisch raffiniert, sollte das Zarentum zwölf Jahre später auch tatsächlich untergehen. Es sei eine «Zeit des Wahnsinns» voll «erschöpfenden Gelächters» ge­ wesen, die «in Aufruhr und Blasphemie» geendet habe, schrieb Alexan­ der Blok Jahre später, schon mit deutlichen Untertönen von Reue. Er selbst gehörte zu den meist jungen Schriftstellern, Malern, Theater­ leuten, die sich in diesen reißenden Strom hineinwarfen und ihn selbst mit erzeugten. Die Revolution von 1905 wirkte für eine ganze Genera­ tion wie ein mächtiger Generator jener künstlerischen Energien, die Russland damals zu einem «Kulturland» allerersten Ranges machten. Viele, die man später zur russischen Avantgarde oder zur modernen Klassik zählen würde, mischten in vorderster Linie mit: Schriftsteller wie Sologub, Bely, Andrejew, Brjussow, Woloschin, Blok und Gorki oder Maler wie Kustodiew und Bilibin, Brodsky und Somow. Einige von ­ihnen würden später unter dem bolschewistischen Regime reüssieren und einige untergehen; wieder andere würden in der inneren oder der äußeren Emigration überleben oder dort untergehen. Aber fast alle sind sie in die Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts eingegangen. Viele Autoren und Zeichner zogen es in diesen «Tagen der Freiheit» freilich schon vor, anonym zu bleiben; die Repressionen rückten unauf­ haltsam näher, das Ende war absehbar. Gleichzeitig erschraken viele von ihnen je länger, desto mehr vor dem bürgerkriegsförmigen Gewaltaus­ bruch, in den die Auflehnung gerade nach dem Oktoberedikt des Zaren mündete und in dem sie schließlich erstickt wurde. Wenn in der Bilder­ flut dieser Wochen und Monate allenthalben die Farbe Rot dominierte, dann war es nur selten schon ein parteiliches, sozialistisch codiertes Rot – sondern eher ein ökumenisches, apokalyptisches Rot.

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Die Furien von Terror und Gegenterror Tatsächlich hatte das Zarenregime im Herbst 1905 sofort nach dem schmählichen Krieg und glimpflichen Friedensschluss begonnen, die ­demoralisierte Armee neu zu formieren, um sie zur Eindämmung und Niederschlagung der städtischen und ländlichen Unruhen einsetzen zu können. Insoweit stimmte die Reformpolitik Wittes (der auch den Frie­ densvertrag ausgehandelt hatte) mit der seines Innenministers Durnovo überein, der mit großer konterrevolutionärer Umsicht daran ging, die noch für halbwegs zuverlässig gehaltenen Truppen und Kosakenregimen­ ter zu sammeln, sie mit Solderhöhungen aufzupäppeln und propagandis­ tisch zu bearbeiten, während die als unzuverlässig betrachteten Einheiten in ihren Kasernen gehalten wurden. Eine Meuterei der Garnison in Kron­ stadt im Oktober wurde mit drakonischen Mitteln unterdrückt. Parallel dazu wurden die überall aufschießenden «Schwarzen Hundert­ schaften», deren Führer oft selbst höhere Staatsbeamte waren, zu parami­ litärischen Verbänden zusammengefasst, die mit Überfällen und Provoka­ tionen versuchten, die Gewaltbereitschaft der revolutionären Organisati­ onen aufzustacheln, um Chaos und damit Vorwände für polizeiliches oder militärisches Eingreifen zu schaffen. Wie in Odessa sammelten sie auch in anderen Orten des jüdischen Ansiedlungsgebiets und in den rus­ sischen und ukrainischen Städten einen Mob aus Lumpenproletariern, Kleinbürgern und religiösen oder antisemitischen Fanatikern, um in einer Serie neuer blutiger Pogrome die Juden als die angeblichen Organisatoren und Nutznießer der Revolution zu «bestrafen» und die sozialen Frustra­ tionen auf ein anderes Gleis zu lenken – was teilweise auch gelang. Tau­ sende beteiligten sich an diesen Plünderungen, Brandschatzungen und Mordaktionen. Vor allen in Gestalt der «Union des Russischen Volkes» entstand eine chauvinistische und antisemitische, entschlossen gegenrevo­ lutionäre Massenorganisation, die auf ihre Weise «volkstümliche» Züge trug, sich moderner politischer und agitatorischer Mittel bediente und so zur schlagkräftigsten politischen Formation dieser Zeit wurde. Im Gegenzug entstanden jüdische wie sozialistische Selbstverteidi­ gungsgruppen, und die sozialrevolutionären Kampforganisationen nahmen ihre Terrorkampagnen wieder auf. Auch ohne den Segen ir­ gendeiner Parteiführung bildeten sich lokale Gewaltkader, die unter phantastischen Revolutionsnamen (wie «Die Unversöhnlichen») sich sehr bald in persönliche Rachefeldzüge oder Geldbeschaffungsaktionen

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verstrickten, die von gewöhnlichen Verbrechen kaum noch zu unter­ scheiden waren. Von größerer Tragweite war, dass die Differenzen zwischen Libera­ len und Sozialisten, zwischen dem «Verband der Verbände» und dem Sowjet, zwischen den Arbeitgebern und den Arbeitern sich rasch auf­ heizten. Ein Aufruf der Semstwo-Verbände, nach dem Zaren-Manifest fürs erste «weitere Unruhen» zu vermeiden, wurde auf Anordnung des Petersburger Sowjets von den organisierten Druckereiarbeitern nicht ­gedruckt – was einem Zensureingriff nahe kam. Noch ernster war der Konflikt zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, als die Belegschaf­ ten, wieder auf Initiative des Sowjet, beschlossen, den Arbeitstag auch ohne tarifliche Einigung auf acht Stunden Nettoarbeitszeit zu verkürzen. «Um 15.15  Uhr verließen sie bei hellichtem Tag frisch und frei ihren ­Arbeitsplatz, sangen die ‹Marseilleise›, marschierten in einem geschlos­ senen Zug von Fabrik zu Fabrik und holten die Zögernden heraus.»23 Diese Schilderung, so idealisierend sie ist, verrät doch etwas vom eman­ zipativen Pathos einer solchen Aktion, geboren aus dem Impuls, größe­ ren Raum für soziale und politische Mitwirkung zu gewinnen. Anderer­ seits drehte sie die wirtschaftliche Abwärtsspirale weiter und veranlasste die Arbeitgeber, sich ihrerseits zu organisieren und die Löhne proportio­ nal zu kürzen, mit dem Ergebnis neuer Streiks und Unruhen. Mit in dieses Bild gehört, dass nach dem Erlass des Oktoberedikts und dem Ende der Ernteperiode die Übergriffe der bäuerlichen Dorfgemein­ den auf die Adelsgüter einen endemischen und zunehmend gewaltsamen Charakter annahmen. Die Bauern waren enttäuscht, dass das «liberale» Reformedikt auf ihre spezifischen Forderungen und Interessen kaum ­eingegangen war, und nutzten das Machtvakuum. Ihren Kulminations­ punkt erreichte die Welle bäuerlicher Landnahmen trotz der rasch ein­ setzenden Repressionen erst im Sommer 1906; und auch dann endeten sie noch nicht. Nach offiziellen Erhebungen sind zwischen 1905 und 1907 dreitausend Gutshöfe – fast jeder siebte! – in Flammen aufgegan­ gen und von den Dorfbewohnern geplündert worden, gespeist aus der Erwartung, dass die (meist) abwesenden Gutsherrschaften, ihre Ver­ walter und ihre Pachteintreiber sich nicht zurücktrauen würden. Im Gouvernement Saratow etwa blieb kein einziges größeres Gut ver­ schont24 – auch nicht das, welches die Uljanows ein Jahrzehnt zuvor an einen «Kulaken» und Mühlenbetreiber verkauft hatten. «Den ganzen Sommer hindurch krochen ungeheure Rauchwolken über den Konti­ nent; sie besagten, dass der Rote Hahn das Kommando über die Bau­

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ern bei ihrem Ansturm auf die Grundherren ergriffen hatte», schrieb Großfürst Alexander Michailowitsch, ein Cousin und Schwager des Zaren, in seinen Erinnerungen.25 Die autokratische Machtordnung wankte, aber sie fiel nicht. Anders als 1917 gelang es der Regierung 1905, die Armee wieder unter Kon­ trolle zu bringen. Mehr noch: Durch Witte wurde ein Teil der bürger­ lichen Opposition neutralisiert, auch wenn die Liberalen jede aktive Mitwirkung an der Regierung standhaft verweigerten. Gleichzeitig wur­ den unter dem Kommando des energischen Durnovo mittels regulärer Truppen, sekundiert von «Schwarzen Hundertschaften», sowie der rasch aufgefüllten Gendarmerie und nicht zuletzt einer fieberhaft arbeitenden Justiz die sozialen Unruhen mit eiserner Hand beendet. Die Niederschlagung der städtischen Erhebungen begann Ende No­ vember und Anfang Dezember mit der erstaunlich problemlosen Verhaf­ tung der beiden Vorsitzenden Chrustaljow-Nossar und Trotzki und mit ihnen der Hälfte aller Mitglieder des Petersburger Arbeiterrats. Darauf reagierten vor allem die Moskauer Revolutionäre mit der Ausrufung ­eines neuen Generalstreiks, der schon die trügerischen Züge eines be­ waffneten Aufstands für eine demokratische Republik unter Führung der Arbeiterklasse trug. Tatsächlich agierten die von den Sozialrevolutionä­ ren, Menschewiki und Bolschewiki jeweils gesondert aufgestellten prole­ tarischen Hundertschaften und terroristischen Kampfgruppen unkoordi­ niert und standen mit ihren wenigen Schusswaffen, handgefertigten Brand- oder Sprengsätzen und notdürftigen Barrikaden gegen die in Linie und mit Artillerie vorgehenden Gardetruppen auf verlorenem Posten. Währenddessen denunzierten ihre sozialistischen Parteiführer und Or­ gane sich gegenseitig und sie alle gemeinsam die Liberalen und bürger­ lichen Verbände, die sich anfangs noch solidarisiert, dann aber abseits gehalten hatten. In den einwöchigen Moskauer Dezemberkämpfen, die in den anderen Industriezentren des Landes einschließlich Petersburgs nur noch ein schwaches Echo fanden, fielen rund 700  Aufständische oder wurden summarisch exekutiert; 3000 wurden verwundet. Dann war die «Kommune von Moskau» zerschlagen. Das Gros der Opfer der jetzt systematisch einsetzenden Strafexpedi­ tionen brachten die Bauern, gegen die von Provinz zu Provinz bis zu 20 000 regulär oder irregulär Bewaffnete aufgeboten wurden. Nicht sel­ ten wurde die männliche Bevölkerung ganzer Dörfer ausgepeitscht, wenn sie sich weigerte, Rädelsführer auszuliefern; ihre Hütten wurden verbrannt, ihr Vieh geschlachtet oder weggetrieben, ihre Frauen verge­

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waltigt, Alte und Kinder misshandelt. Dabei taten sich in angestammter Weise die Kosaken hervor; mit ihnen die von Fall zu Fall eingesetzten ­Paramilitärs. Aber auch die mit Wodka enthemmten einfachen Soldaten, meist selbst einfache Bauernsöhne, schienen ihre Skrupel durch blanke Brutalität zu ersticken, auch weil die immer wieder vorkommenden Be­ fehlsverweigerungen drastisch geahndet wurden. Alles in allem sollen diese Repressionen, bei denen nach einem aus­ drücklichen Befehl Durnovos «alle Mittel» eingesetzt werden sollten, von Oktober 1905 bis April 1906 nicht weniger als 48 000 Todesopfer gefordert haben – eine Zahl, die von einem regelrechten inneren Krieg kündet. Die Verletzten, Verstümmelten, Verstörten hat man nicht ge­ zählt. 70 000 junge oder ältere Männer, hier und da auch Frauen, wur­ den als Aufrührer verhaftet und meist zu langjährigen Gefängnisstrafen, Zwangsarbeit (Katorga) oder Verbannung verurteilt.26 Das erinnerte in vieler Hinsicht an die «orientalischen» Massaker im Osmanischen oder Chinesischen Reich oder auch an die «Kolonialgräuel» dieser Jahre. Das Gegenstück zu diesem gegenrevolutionären Terror war eine neue Folge revolutionären Terrors, der das Russische Reich zwischen 1905/06 und 1910/11 in einem bis dahin nicht gekannten Ausmaß heimsuchte. Nicht nur die Sozialrevolutionäre, auch die anderen Parteien, die den «individuellen Terror» als Kampfweise offiziell ablehnten, hielten ihn in­ offiziell für legitim und praktizierten ihn gerade in der ersten Phase bis 1907 teilweise exzessiv, so die polnischen, lettischen und georgischen So­ zialisten oder der jüdische «Bund» und nicht zuletzt Lenins Bolschewiki. Mal rivalisierten diese Gruppen, nicht selten kooperierten sie aber auch und teilten sich den Ruhm der Attentate und die Beute der «Expro­ priationen» genannten Überfälle auf Büros, Banken oder Geldtrans­ porte. In Hunderten solcher Aktionen sollen bis 1910 rund 7 Millionen Goldrubel erbeutet worden sein.27 Eine der größten Aktionen dieser Art leitete im Juni 1907 «Koba» Dschugaschwili, der zum wichtigsten klan­ destinen Geldbeschaffer Lenins wurde und dadurch in der bolschewisti­ schen Hierarchie aufrückte. Dazu kamen Hunderttausende von Rubeln, die in- und ausländische Fabrikbesitzer oder vermögende Personen an die verschiedenen revolutio­ nären Gruppen und Organisationen zahlten, sei es als politische Spenden (mit Gorki als dem prominenten Geldeintreiber für die Sozialdemokra­ ten), sei es als erpresste Schutzgelder. Das gilt etwa für eine Reihe von Be­ sitzern und Managern der sprudelnden Ölquellen und Raffinerien in

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Baku, einschließlich führender Manager der Rothschilds, die sich oft in direkten Verhandlungen mit den Revolutionären von Streiks loskauften oder auch Entführungen und Lösegeldzahlungen vermieden. Es soll so­ gar gedruckte Formulare mit der höflichen Wendung: «Das bolschewis­ tische Komitee schlägt vor, dass Ihre Firma …. Rubel beisteuert» gege­ ben haben. Dass die Bedrohten ihrerseits irreguläre Schlägertrupps und Todesschwa­ dronen aufstellten, trug zur Dschungelatmosphäre dieser Jahre bei.28 Während sich zunehmend Phänomene blinder sektiererischer Gewalt, einer grassierenden Massenkriminalität und eines organisierten Gangs­ tertums in die Untergrundaktivitäten mischten oder einbezogen wurden, verschob sich die Zusammensetzung der terroristischen Kampfgruppen: weg von den Angehörigen der Intelligenzija, die es allerdings in Gestalt blutjunger Gymnasiasten und Studenten, höherer Töchter und gebildeter Bürger noch immer zahlreich gab, und hin zu jungen Arbeitern und ent­ wurzelten Bauernsöhnen, die inzwischen die Mehrheit der Untergrund­ kämpfer stellten, ohne die Disziplin und Resistenz dieser Gruppen aller­ dings zu steigern, eher im Gegenteil. In diesem Halbdämmer konnten die zaristischen Behörden, nament­ lich die weiter ausgebaute Ochrana, die inzwischen über eine lange Er­ fahrung verfügte, mit großer Souveränität und einiger Kühnheit eigene Agenten infiltrieren oder rekrutieren. Der spektakulärste Fall war der des Jewno Asef, eines jüdischen Schneidersohns, der schon in den 1890 er Jahren Mitglied einer revolutionären Gruppe, aber bald auch Informant der Polizei geworden war. Weil er der einen wie der anderen Seite Tipps geben konnte, stieg er sowohl in der Hierarchie der Polizeiagenten wie in jener der sozialrevolutionären Kampfgruppen auf, deren Führung er 1903 übernahm. In einer schier unglaublichen Volte organisierte er 1904 das tödliche Attentat auf seinen eigenen Dienstherrn von Plehwe wie die anschließende Verhaftung seiner Mitattentäter; und dasselbe noch ein­ mal bei dem Anschlag auf den Großfürsten Sergej Alexandrowitsch 1905 – nur um danach fast den gesamten Rest der Kampf­organisation in die Fänge der Polizei zu liefern. Mit der gleichen kriminellen Energie war er im Winter 1905/06 am Wiederaufbau der sozialrevolutionären Kampforganisation beteiligt und an einer Fülle neuer Attentate – bis er 1909 zur völligen Fassungs­ losigkeit seiner Mitstreiter und Bewunderer, darunter seines langjähri­ gen Stellvertreters Sawinkow, durch Dokumente zweifelsfrei als Agent der Ochrana entlarvt wurde. Dem gegen ihn verhängten Femeurteil

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konnte er sich durch Flucht nach Deutschland entziehen. Ende 1917 wurde er an die neue, mit Deutschland informell verbundene Sowjet­ regierung ausgeliefert, die ihn umgehend hinrichtete, nicht ohne ihn als Kronzeugen gegen die Partei der Sozialrevolutionäre zu verwenden, die soeben die Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung gewonnen hatte und für die Bolschewiki der letzte, gefährliche politische Gegner war.29 Für die Zeit von 1905 bis 1907 haben amtliche Stellen eine Zahl von rund 4500 Staatsbediensteten (einschließlich Spitzeln) sowie noch ein­ mal so vielen Privatpersonen ermittelt, insgesamt 9000 Menschen, die durch gezielte terroristische Aktionen getötet oder verwundet wurden. Aber auch in der Periode einer repressiv-reformatorischen Stabilisierung von 1908 bis 1911 unter dem neuen «eisernen» Kanzler Stolypin und nach dem fast völligen Erliegen aller politischen oder sozialen Massen­ aktivitäten nahm die Zahl der terroristischen Anschläge nur allmählich ab, die Anschläge wurden sogar noch irregulärer und unkontrollier­ barer. Fast 8000 Amts- oder Privatpersonen sollen in dieser kurzen Zeit­ spanne noch einmal Anschlägen, Fememorden und Überfällen zum ­Opfer gefallen sein, insgesamt also 17 000 – und am Ende auch Minis­ terpräsident Stolypin selbst.30 In diesem Strudel aus Chaos und Gewalt ging unter, was im Oktober und November 1905, in den kurzen, karnevalesken «Tagen der Frei­ heit», einen Moment lang das Gepräge einer allgemeinen Volkserhebung und hochherzigen Klassenverbrüderung getragen hatte. Das waren Tage gewesen, in denen tatsächlich «alles Rot» war. Darin schwang sicher die Doppelbedeutung von «krasny» als «rot» und als «schön» in der russi­ schen Volkssprache mit, die schon im 16. Jahrhundert den Platz vor dem alten Zentrum der Staatsmacht, dem Moskauer Kreml, als den «Roten» oder «Schönen Platz» bezeichnet hatte. Russisch-Rot war die Farbe alles Schönen, Guten, Glücklichen – und umgekehrt die Farbe des vergosse­ nen Blutes und der Apokalypse. Ein politischer Grund für diese monochrome Farbwahl dürfte aber auch gewesen sein, dass es eine allgemein an­erkannte Nationalfahne Russlands nicht gab, so wenig wie eine der U ­ kraine, Georgiens oder der anderen nichtrussischen Völker und Nationen (mit Ausnahme des RotWeiß der Polen). Die allrussische weiß-blau-rote Trikolore, die das Za­ rentum im Zuge seiner Politik der Russifi­zierung des Vielvölkerreichs und der panslawischen Agitation 1883 e­ingeführt hatte (die heutige

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Staatsfahne Russlands), war im Alltag nur eine Militärfahne inmitten ­eines bunten Buketts dynastischer und imperialer Embleme. Indem die Einheit des «Volkes» sich unter dem Druck der Repression wie der Dynamik der Entwicklungen in ihre unterschiedlichen und ge­ gensätzlichen sozialen, politischen und kulturellen Elemente und Farben auflöste, in Rot und Weiß, Grün oder Blau, wurde Russland ein moder­ neres Land – allerdings eines, das der entfesselten zentrifugalen Kräfte nicht mehr Herr wurde. Dabei hatte es nach 1906 einen kurzen Moment lang so ausgesehen, als könnte unter dem neuen Premierminister Stoly­ pin, einem Bewunderer Bismarcks, ein entschlossenes politisches Han­ deln in Form einer «Revolution von oben» das Imperium noch einmal zusammenfügen. Noch waren Staat und Gesellschaft nicht annähernd so atomisiert, wie das 1917 am Ende des Weltkriegs der Fall sein würde. Die Scheidung in Gesellschaftsklassen und in Nationen hatte der Gesell­ schaft immerhin erstmals eine Struktur gegeben, die ein reformiertes ­Zarenreich vielleicht noch ein Stück hätte weitertragen können. Dazu hätte allerdings der gesellschaftliche Aufbruch in positive Energien um­ gewandelt werden müssen, statt abgewürgt zu werden. Die Wahlen zur Duma im Frühjahr 1906 hatten nicht die konservative Mehrheit erbracht, auf die Witte und Durnovo angesichts des anhal­ tenden Chaos und des Zensus-Wahlrechts gesetzt hatten, sondern im Gegenteil eine riesige Mehrheit für die liberalen Kadetten und für gemä­ ßigte So­zialisten, die sich ad hoc zu einer «Partei der Werktätigen» («Tru­ dowiki») zusammengeschlossen hatten und durch Vertreter der Natio­ nalitäten flankiert wurden. Blamiert durch das Resultat und die hohe Wahlbeteiligung waren allerdings auch die Partei der Sozialrevolutio­ näre und die Sozialdemokraten, die unisono zum Boykott aufgerufen hatten. Der Zar empfing diese widerborstige, beharrlich auf eine verbindliche Konstitution, auf erweiterte Kompetenzen und eine große Agrarreform drängende Versammlung mit demonstrativer Feindseligkeit und löste sie nach kurzer Zeit auf. Witte und Durnovo schickte er ohne Dank in die Wüste und ernannte den Gouverneur von Samara, Pjotr Stolypin, der sich dort als harter Unterdrücker, aber auch tatkräftiger Verwalter her­ vorgetan hatte, zum Premier- und zugleich Innenminister. Der ließ die eben gewählte Duma auflösen und nach einem noch restriktiveren Zensus im Februar 1907 eine zweite wählen – wieder mit einem uner­ wünschten Ergebnis. Mehr noch: Die Wahl in «Kurien», die der alten Ständeordnung ent­

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lehnt und jetzt auf die städtischen Arbeiter ausgedehnt worden war, er­ zeugte im Bürgertum wie bei den Bauern und den Arbeitern und selbst bei aristokratischen Landbesitzern und Beamten ein noch ausgeprägte­ res Klassenbewusstsein – mit dem Resultat einer scharfen Polarisierung des Parteienspektrums entlang politischer und weltanschaulicher Pro­ gramme, die wie in einem Lehrbuch des Marxismus weithin den sozialen Interessen entsprachen. Die Sozialrevolutionäre wie die Sozialdemokra­ ten hatten nach heftigen internen Debatten 1907 eigene Kandidaten auf­ gestellt, waren trotz und inmitten der Repressionen und Terrorakte viel­ fach gewählt worden und nun mit kleinen, aber lautstarken Fraktionen vertreten – so wie auf der Gegenseite die entschieden reaktionär auftre­ tenden Parteien, die den Reformvorhaben Stolypins auf ihre Weise (und vielfach im direkten Einvernehmen mit dem Zaren und seiner Kama­ rilla) entgegenwirkten. Gleichwohl trugen die brachialen Modernisierungen und Reformen, die Stolypin bruchstückhaft durchzusetzen vermochte, trotz aller Blo­ ckaden zu einem spektakulären, neuen Aufschwung von Industrie und Landwirtschaft bei. Außer der Fortsetzung der staatlich angestoßenen und mit ausländischen Krediten finanzierten Industrialisierung setzte er eine fragwürdige, aber viele Kräfte mobilisierende ­Agrarreform ins Werk. Sie zielte auf die Schaffung einer neuen Klasse mittelgroßer «Far­ mer», welche sich auf die Produktion für den Markt, nicht zuletzt auch für den Export, konzentrieren sollten. Um staatliche Förderungen zu er­ halten, mussten sie allerdings aus der Dorfgemeinde austreten, was ma­ ximal ein Viertel der Bauern auch tatsächlich tat – mit harschen Kon­ sequenzen für den Rest der Dorfgenossen, die das (oft aus guten Grün­ den) weder konnten noch wollten. So zogen deren Söhne und Töchter in wachsender Zahl auf der Suche nach Arbeit in die expandierenden Industriebezirke und Städte und bildeten dort ein volatiles, für radikale Parolen und militante Aktio­nen empfängliches, neues Proletariat. Als Stolypin 1911 von der Hand eines Attentäters starb, nach vielen Indizien womöglich ein Werkzeug seiner Intimfeinde im Regierungs­ apparat oder sogar am Zarenhof selbst, war das ein Fanal. Die be­ schleunigte kapitalistische Entwicklung, die gelegentlich schon mit der in den USA verglichen wurde, zerriss Gesellschaft und Staatsgefüge des Russländischen Reiches nur noch weiter, statt ihm ein neues, stabiles Gravitationszentrum zu schaffen.

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Die Leere nach dem Tumult

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uf einen großen Krieg als Brandbeschleuniger hatte Lenin seit den Erfahrungen von 1905 gesetzt. Allerdings sprach er das nur ver­ traulich aus, wenn er zum Beispiel Ende Januar 1913 vor dem Hinter­ grund des nicht endenden, von extremen Brutalitäten begleiteten Balkan­ kriegs an Gorki schrieb: «Ein Krieg zwischen Österreich und Russland wäre für die Revolution (in ganz Osteuropa) sehr nützlich, aber es ist kaum anzunehmen, dass Franz Joseph und Nikolaschka uns diesen Ge­ fallen tun werden.»1 Das war en passant dahingesagt. Da ihm die beiden Monarchen die­ sen «Gefallen» partout nicht tun wollten, zog er sich im Frühsommer 1913 wie auch im Jahr darauf mit Frau und Schwiegermutter in sein ­Feriendomizil Poronin in der Niederen Tatra zurück. Diese langen Aus­ zeiten hatte er sich über alle Exiljahre hinweg regelmäßig genommen, mal allein, meist in Begleitung von Krupskaja, oder auch zu Dritt mit seiner zeitweisen Geliebten Inessa Armand. Nach Wochen oder Mona­ ten zurückgekehrt, stürzte er sich in Phasen fieberhafter Publizistik und Korrespondenz, um sich dann wieder für ausgedehnte Studien in Biblio­ theken zurückzuziehen. Halb Privatier, ausgestattet mit den Kapitalein­ künften und Beamtenpensionen seiner Mutter und Schwieger­ mutter, halb Berufsrevolutionär mit festem Parteigehalt (ab 1909) plus Artikelund Vortragshonoraren und immer zugleich aufmerksamer Verwalter der Rücklagen aus Großspenden und Subventionen, die seine Partei von verschiedenen Seiten erhielt, sowie von gewaschenen Geldern, die bol­ schewistische Kampfgruppen bei «Expropriationen» erbeutet hatten, verbrachte Lenin mindestens so viel Zeit in seinen abgeschirmten, stillen Bücherwelten und Refugien wie in den geräuschvollen Welten der Cafés und Kantinen, der Versammlungs- oder Vortragssäle oder auf den Kor­ ridoren der internationalen Konferenzen. Das war sein Lebens- und Ar­ beitsstil, der sich auch nach der Machteroberung 1917 kaum ändern würde. In der Hauptsache ging es in dem zitierten Brief an Gorki (der neben

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Inessa Armand in diesen Jahren sein wichtigster Vertrauter war) um die üblichen fraktionellen Streitigkeiten und um die Schaffung eines neuen, legalen bolschewistischen Theorieorgans. Das waren die Themen, die Lenin an erster Stelle interessierten und absorbierten. So sektiererisch, kleinteilig und vielfach von intimen Rankünen absorbiert das Agieren dieses Mannes von heute aus wirkt – es muss einige wesentliche Voraus­ setzungen dafür geschaffen haben, dass er im Jahr 1917 in eine histori­ sche Rolle schlüpfen konnte, wie sie größer kaum sein konnte. Also müssen wir seine Spur in den Jahren vor 1914 noch einmal ver­ folgen, in denen die Weichen für den epochalen Zusammenbruch Russ­ lands im Krieg gestellt worden sind. Ohne diesen Kollaps wäre alles, was Lenin trieb und schrieb, bedeutungslos gewesen. Aber er bewegte sich eben in Zeittendenzen und Ereignissen, die umstürzender kaum sein konnten. Sein unbeirrbar im Auge behaltenes Ziel einer Revolution, die das Unterste nach Oben kehren und das Imperium aus den Angeln he­ ben würde, war angesichts der Erfahrungen von 1905 keine bloße Phan­ tasie, sondern fast schon eine Wahrscheinlichkeit. Daher tauchte diese Möglichkeit in den Denkschriften und Gesprächen der herrschenden Kaste des Zarenreichs und in den Erwägungen der europäischen Kabi­ nette fast ebenso regelmäßig auf wie in den Debatten und Resolutionen der politischen Parteien des Landes. Im Juni 1912 hatte Lenin seinen Wohnsitz aus Paris ins habsburgische Krakau verlagert, um seine Bolschewistische Partei neu aufzubauen und strikter anzuleiten, nachdem er im Januar auf einer «Prager Konferenz» mit 14 hastig zusammengerufenen «Delegierten» die endgültige Tren­ nung von den Menschewiki vollzogen hatte, damit aber auch vom Gros der jüdischen, polnischen, litauischen, lettischen und kaukasischen So­ zialdemokraten. Die auf maximal eintausend, vielleicht nur noch ein paar Hundert operative Kader in Russland und im Exil zusammenge­ schrumpfte Minipartei der Bolschewiki stellte jetzt mehr denn je einen allein um Lenin gruppierten Gefolgschaftsverband dar. Das ä­ nderte frei­ lich nichts daran, dass unter seinen verbliebenen Exil- und Inlandska­ dern immer neue taktische oder theoretische Differenzen und persönli­ che Querelen aufbrachen. Trotz dieser endgültigen Abspaltung vom Gesamtverband der Russi­ schen Sozialdemokratie blieben die Bolschewiki Teil eines weiten, in ste­ ter Fluktuation begriffenen Feldes von Fraktionen, Einzelparteien und Einzelpersönlichkeiten, in die die Partei sich sofort nach ihrer formalen Wiedervereinigung 1906/07 entlang alter und neuer Linien wieder ge­

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spalten und neugruppiert hatte. Wenn sie als «allrussische» Gesamtpar­ tei für einen Moment immerhin 100–150 000 Mitglieder gezählt hatte,2 dann konnten die durchweg im Exil lebenden Führer der verschiedenen Fraktionen und nationalen Teilparteien ab 1910 allenfalls noch auf 10 000 aktive Mitglieder zählen, von denen etwa ein Zehntel Bolsche­ wiki waren.3 Damit war die gesamtrussische Sozialdemokratie, die nur als solche ein akzeptierter Teil der Internationale war, auf ihren Aus­ gangspunkt vor 1905 zurückgeworfen. Für diesen Rückschlag gab es viele Gründe. Die so unberechenbaren wie methodischen Repressionen der Stolypin-Jahre ab 1906 hatten die ein­ fachen Mitglieder mit einem festen Beruf und Lebensort besonders hart getroffen, trotz oder gerade wegen der halblegalen Existenz der Partei, die zur Wahl antreten, aber kaum öffentlich agitieren durfte. Zwar wa­ ren die zu Hunderten, oft vor Zuschauern vollzogenen Hinrichtungen mit dem Strick («Stolypins Krawatte») und die zu Zehntausenden ausge­ sprochenen Verurteilungen zur Katorga (Zwangsarbeit) oder Verban­ nung in erster Linie gegen den anarchischen, politisch oft kaum noch zu­ rechenbaren Terrorismus und gegen die begleitende Massenkriminalität gerichtet. Aber die Repressionen dienten auch der gewaltsamen Pazifizie­ rung der Sozialkonflikte durch systematische Bestrafung der politischen Rädelsführer und Einschüchterung aller anderen. Die allgegenwärtigen Bespitzelungen und Denunziationen taten ebenfalls ihr Zermürbungs­ werk. Schließlich dürften die demoralisierenden Erfahrungen der krimi­ nellen Exzesse und Bandenkriege an den ausfransenden Rändern der Partei für viele Parteimitglieder Grund genug gewesen sein, sich ins Pri­ vatleben zurückzuziehen. Was die Intellektuellen betraf, die noch immer den aktivistischen Kern und das nährende Umfeld sämtlicher oppositioneller Parteien bildeten, so gerieten sie zunehmend in den Strudel der Kritiken und Selbstkriti­ ken, wie sie am pointiertesten 1909 im erregt diskutierten A ­ lmanach «Vechi» (Wegzeichen) artikuliert worden waren. «Die Autoren der Vechi taten etwas Ungeheuerliches: Sie brachen das Tabu, das darin be­ stand, zu glauben, dass jede Kritik an der Intelligenzija nur dem ‹Feind› … dienen müsse» (Karl Schlögel). In der Krise nach der Nieder­ lage von 1905/06 sahen sie in allen Enttäuschungen auch die Chance ­einer heilsamen Selbstbesinnung. Die Intelligenzija sollte sich als einen «für sich selbst verantwortlichen Akteur» sehen statt als die ewige Mär­ tyrerin altruistischer Selbstopfer. Sie geißelten den von Generation zu Ge­

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neration tradierten Typus des russischen «Intelligent», für den «Opposi­ tion aus Prinzip» jedes lebendige Interesse an Wissenschaft und Kunst, soliden Kenntnissen und beruflichen Fähigkeiten erstickte; der für alle kleinen Schritte und «formalen Rechte» nur Verachtung übrig hatte; der die profansten Dinge des Lebens in Gegenstände theoretischer Kontro­ versen verwandelte, um dem Volk, für das er angeblich sprach, von ho­ her Warte aus zu sagen, was ihm frommte und was es zu unterlassen hatte; der jedes normale Leben für spießbürgerlich hielt und sich nur da­ für interessierte, «wie man den vorhandenen Reichtum umverteilt, nicht, wie er produziert wird».4 Und so weiter. Es war ein langes Sündenregis­ ter. Auf so heftigen Widerstand diese Texte trafen, gerade weil sie von Leuten kamen, die alle selbst den typischen Stationenweg eines «russi­ schen Intelligent» durchlaufen hatten, so sehr rührten sie an den Nerv vieler, die auf den opferreichen, anarchischen Tumult von 1905 mit ge­ mischten Gefühlen zurückschauten und seine Wiederkehr in Form des typischen, schon von Puschkin eher angst- als erwartungsvoll beschwo­ renen «russischen Aufruhrs» (russkij bunt) fürchteten, der «so sinnlos wie erbarmungslos» sein werde. Zugleich waren es Dokumente einer weitgehenden Abkehr vom Posi­ tivismus, Szientismus, Materialismus und Naturalismus, von dem sich sowohl der Liberalismus wie der Sozialismus über Jahrzehnte intellek­ tuell genährt hatten. So erlebte in den Texten Nikolai Berdjajews, Semjon Franks oder Sergej Bulgakows, die alle vom Marxismus kamen, die rus­ sische Religionsphilosophie des 19. Jahrhunderts eine Renaissance. Insbesondere die historiosophischen Schriften des vom materialis­ tischen Atheisten zum universalreligiösen Theologen gewandelten, 1900 früh verstorbenen Wladimir Solowjow übten posthum eine beträcht­ liche Attraktion aus. Die fast zum Allgemeinplatz gewordene russische «Allmenschlichkeit», von der Dostojewski gesprochen hatte, steigerte sich bei Solowjow zur Vorstellung einer kosmologischen und ontolo­ gischen «All-Einheit». Dem entsprach die neu aufgefrischte Vision einer ökumenischen Wiedervereinigung der Christenheit. Solowjows Vor­ schlägen zufolge sollte das moskowitische «Dritte Rom» in den Schoß des römischen Papsttums zurückkehren, es dadurch aber grundlegend reformieren und zum Fels eines künftigen theokratischen Weltregimes erheben, in dem die «Sophia» regieren würde, eine ewig-weibliche Weltseele als die Spitze der Trinität und als ein alles fürsorglich umgrei­ fender Heiliger Geist. Zu diesem Universalgemälde gehörten natürlich

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auch Elemente der sozialistischen Idee einer brüderlichen und schwester­ lichen Vereinigung der Armen und der Proletarier aller Länder. Aber auch die Furcht vor einer freimaurerisch-plutokratischen Weltherrschaft in Gestalt eines «Comité permanent universel», das der Alliance Israélite Universelle in den «Protokollen der Weisen von Zion» stark ähnelte, fand in Solowjows letzter Schrift, einer «Kurzen Erzählung vom Anti­ christ», ihren Niederschlag, ohne dass er dem Antisemitismus gehuldigt hätte. So war hier alles in einem einzigen apokalyptischen Weltgemälde vereint, das die Begriffe eines deutschen «Kulturpessimismus» noch deutlich überstieg.

Russland als geistiger Generator Der Radius der geistig-politischen Entwicklungen vor 1914, in denen ­Lenin und seine Bolschewiki sich orientieren und behaupten mussten, lässt sich enger kaum ziehen. Das Russische Reich wurde gerade in den Jahren seiner konvulsivischen Umbrüche und chaotischen Erschütte­ rungen zu einem der bedeutendsten Produzenten und Exporteure schriftstelle­ rischer, philosophischer, künstlerischer Hervorbringungen und Experimente jeder Art, während es seinerseits wie eh und je, aber mit noch ­gesteigerter Intensität, alles las, schaute und hörte, was das westliche ­Europa zur selben Zeit hervorbrachte und exportierte. Nie zuvor und vielleicht nie seither hat es zwischen Moskau, Peters­ burg, Kiew, Warschau, Berlin, München, Wien, Mailand, Paris, London oder Madrid einen solch spannungsvollen, kosmopolitischen Austausch gegeben wie in den beiden Vorkriegsjahrzehnten. Das Russische Reich war in diesem Austausch vielfach der große Mischkessel, in dem alle ­europäischen Kunststile und Ideenpartikel verwirbelt und mit russischer «Tiefe», «Seelenhaftigkeit», kindlicher «Frische» oder auch mit dämoni­ scher «Zerrissenheit» (um nur einige der geläufigsten Klischees aufzuzäh­ len) aufgeladen und zurückgespiegelt wurden. Diese geistige Unruhe war ein sozialkulturelles Pendant der beispiello­ sen großen Beschleunigung, die seit den 1890 er Jahren Russland wie ganz Europa und die atlantische Welt erfasst hatte. «Niemand wusste genau, was im Werden war (…), ob es eine neue Kunst, ein neuer Mensch, eine neue Moral oder vielleicht die Umschichtung der Gesell­ schaft sein solle. (…) Es wurde der Übermensch geliebt und es wurde der Untermensch geliebt; es wurden die Gesundheit und die Sonne angebe­

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tet, und es wurde die Zärtlichkeit brustkranker Mädchen angebetet; man begeisterte sich für das Heldensglaubensbekenntnis und für das so­ ziale Allemansglaubensbekenntnis (…); man träumte von alten Schloss­ alleen, herbstlichen Gärten, gläsernen Weihern, Edelsteinen, Haschisch, Krankheit, Dämonien, aber auch von Prärien, gewaltigen Horizonten, von Schmiede- und Walzwerken, nackten Kämpfern, Aufständen der ­Arbeitssklaven, menschlichen Urpaaren und Zertrümmerung der Gesell­ schaft.» So hat Robert Musil im «Mann ohne Eigenschaften» die Welt­ gefühle der Jahrhundertwende im Rückblick beschrieben.5 Im großen Russland als einem Land der scheinbar unbeschränkten geistigen Möglichkeiten war Platz für all das und noch viel mehr – wäh­ rend umgekehrt für viele zivilisationsmüde oder kulturkritische Euro­ päer, besonders Deutsche, der angeblich unverbildete, zwischen endloser Erde und weitem Himmel lebende, den Urgründen der menschlichen Seele noch ganz nahe, von Natur aus tiefgläubige und kindlich-künst­ lerisch begabte «russische Mensch» jenseits von Hofgesellschaft und ­Bürokratie zu einem Mysterium allererster Sorte wurde. Unnötig zu sa­ gen, dass diese Phantasiebilder großteils nur ein Abbild der positiven oder negativen Vorurteile der Russen über sich selbst waren.6 In dieses Panorama west-östlicher Wechselspiele lässt sich die besondere Intensität, in der Nietzsche in Russland gelesen und adaptiert wurde, wie eine Signalfarbe einzeichnen. Nietzsches Kritik der christlichen Skla­ venmoral, der bürgerlichen décadence, der «Stimme der Herde», und seine vitalistische Gegenvision vom heroischen, tätigen, suchenden, Mit­ leid wie Bequemlichkeit verachtenden «Übermenschen» fanden ein ge­ schichtsmächtiges Echo in Maxim Gorkis Beschwörung des «Menschen in Großbuchstaben» – welcher «nur mit der Kraft des Gedankens ausge­ rüstet  … weit vor der Menge und auf höherer Bahn als das Leben» schreitet, «allein inmitten der Rätsel des Seins, allein inmitten seiner zahlreichen Fehler», immer «vorwärts und – höher hinauf».7 In Gorkis weltweit gespieltem Stück «Nachtasyl» taucht das in der (meist verball­ hornt zitierten) Sentenz auf: «EIN MENSCH – wie stolz das klingt!»8 Diese Zitate wurden in stalinistischer Zeit zu Lebensmaximen des «sowjetischen Menschen» erhoben. Das obligate Gegenstück war die ­Figur des von animalischer Besitzgier zerfressenen, moralisch und geistig verkommenen Kleinbürgers, den Gorki in unendlichen, von einem au­ thentischen Hass (und Selbsthass) gespeisten Variationen zeichnete. Un­ terfüttert wurde das durch die auch in Russland vielgelesenen sozialdar­

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winistischen, latent rassentheoretischen Schriften des militanten Zionis­ ten Max Nordau über die «Degenerierten» und «Entarteten», archety­ pisch verkörpert durch die blassen «Nervenjuden», aus denen «Muskel­ juden» (geistig und physisch) gezüchtet werden sollten. In diesem Sinne hatte Gorki etwas von einem russischen Zionisten, der im Sozialismus sein «neues Jerusalem» suchte, voller tätiger, heroischer, geistiger «Mus­ kelrussen» (gerne mit einem «Tropfen jüdischen Bluts»). Im «Lied vom Sturmvogel» erfährt der kühne, starke Einzelkämpfer schließlich eine mythische Steigerung zum Künder und naturhaften ­Element des sich zusammenbrauenden revolutionären Sturms: «Ob der grauen Meeresebene schart der Wind Gewölk zusammen. / Zwischen Wolken und Gewässern gleitet stolz der Sturmverkünder, / einem schwar­ zen Blitz vergleichbar. / Bald die Flut mit Flügeln streifend, / bald als Pfeil die Wolken treffend, / schreit er hell. / Die Wolken hören / Lust im Schrei des kühnen Vogels. / In dem Schrei klingt Sturmessehnsucht! / Kraft des Zornes, Glut der Leidenschaft / und Siegeszuversicht.» Und während die Möwen und die Tauchervögel, denen «der Genuss des Lebenskampfes» fremd ist, sich ängstlich ducken und der dumme, feiste Pinguin sich hin­ term Felsen verbirgt, rast der Sturmvogel durch die von blauen Flammen lodernden Wolken, durch das Grollen des Donners, das Brüllen der Winde, die Feuerschlangen der Blitze: «Des Sturmes schwarzer Dämon», lachend, schluchzend, «schreit er, ein Prophet des Sieges: ‹Immer stärker tobe, Sturmwind!›»9 Die auf Schritt und Tritt aufspringenden Nietzsche-Anleihen, die sich bei Gorki wie bei vielen anderen finden, zeugen von einem eigenen rus­ sischen Nietzscheanismus mit sozialdarwinistischen Zügen, der (anders als in Deutschland) politisch und sozial eher nach links als nach rechts ausschlug.10 Aber auch das war nur eine Komponente in einem Furioso künstlerischer Schöpfungen und geistiger Tendenzen. Selbst von einer «Russischen Renaissance» hat man gesprochen, ob mit Blick auf den alle Konventionen umstürzenden Charakter der Musik Skrjabins im «Prometheus» oder Strawinskys in «Le Sacre du Printemps»; auf die ­experimentelle Auflösung aller gegenständlichen Formen in der Malerei Kandinskys oder auf Malewitschs «Suprematismus» als einen Versuch, «die Kunst vom Ballast der objektiven Welt» zu befreien und eine «Kunst der fünften Dimension» zu entwerfen.

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Philosophische Schlachten Dass sich um Gorki auf seinem Sommersitz in Capri ab 1908 eine Strö­ mung sammelte, die als «Gottbildnertum» (Bogostroitelstwo) bezeich­ net wurde, war kein Zufall, leitete die Bezeichnung selbst sich doch aus einer Passage in Gorkis Roman «Die Beichte» her, in der ein ehemaliger Priester dem gottsuchenden Helden erklärt, dass in Wahrheit «das Volk» der Schöpfer Gottes als eines idealen Ebenbildes seiner selbst sei – und damit selbst der wahre Gott: «Und es soll neben Dir keine anderen Göt­ ter geben, denn Du bist der eine Gott, der alle Wunder schafft».11 Eben diese These führte einer von Lenins engeren Mitarbeitern noch im gleichen Jahr aus, Anatoli Lunatscharski, der spätere «Kommissar für Volksaufklärung», in einer Abhandlung über «Religion und Sozialis­ mus». Nur wenn die Sozialisten die in religiösen Erzählungen und Gebe­ ten ausgedrückten Hoffnungen und Sehnsüchte aufnähmen und in eine moderne Menschheitsreligion überführten, so Lunatscharski, werde der ewige Aberglaube der Massen sich überwinden lassen. Der Sozialismus musste also selbst leisten, was die Religionen von jeher geleistet hatten: das Gefühl eines sinnerfüllten Daseins, eines Einsseins mit der Welt, ei­ ner Großen Kommunion zu vermitteln, in der die Existenz der sterbli­ chen Einzelnen sich in eine endlose Kette der Generationen und Traditi­ onen einreiht und transzendiert. Soweit eine solche «atheistische Religion» des Sozialismus und des «Menschen» (im Sinne Gorkis) ihre eigenen Ausdrucksformen, Riten und Glaubensbekenntnisse hervorbringen musste, dann waren diese in den Sonnenmetaphern, den zeremoniellen Auftritten, den Chorälen und allegorischen Abbildungen sowie in der Verehrung der Märtyrer der ­Arbeiterbewegung längst vorgezeichnet. Auch alle großen Mythen der Menschheit würden in diesem Kultus des Sozialismus eine neue, gestei­ gerte Bedeutung gewinnen: an erster Stelle natürlich die antike Erzäh­ lung von Prometheus als Gott-Menschen und Verkörperung des Lichts der Vernunft, der von Herakles, dem «werktätigen Menschen», befreit wird, bis sie Hand in Hand den Olymp besteigen; aber auch das bibli­ sche Bild des Sündenfalls, das nur den eingeborenen Hunger der Men­ schen nach Erkenntnis ausdrückte; oder der Bericht vom Turmbau zu Babel als dem ersten, heroischen Versuch der Errichtung einer gemein­ samen «Allstadt» der Menschheit; und schließlich die christliche Kern­ geschichte vom Selbstopfer Jesu Christi, welches das Martyrium der

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­ ariser oder der Moskauer Kommunarden, ihren Triumph über den Tod P und ihre Auferstehung in der kommenden Revolution spirituell vorweg­ nahm.12 Lenin zog gegen diese «Gottbildnerei» in der eigenen Partei mit einer Vehemenz zu Felde, die sich nicht von selbst versteht, obwohl Lunat­ scharski doch nur philosophisch formulierte, was bei Gorki schon über­ deutlich ausgemalt war. Und Gorkis literarische Aura war immerhin die massenwirksamste Attraktion, über die der Bolschewismus, dem der Dichter seit 1905 mehr oder weniger zuneigte, verfügte. So trug die ­Figur des Agitators Pawel in Gorkis 1906/07 verfasstem, weltweit ver­ breitetem Roman «Die Mutter» gut sichtbar die Züge eines idealen bol­ schewistischen «Arbeiter-Aktivisten», dessen ­ Arbeit für Partei und Klasse nach seiner Hinrichtung dann von seiner Mutter Pelageja über­ nommen wird. Dass dieser Literaturstil sogar für Lenin zu wenig «literarisch» war, was er dem Schriftsteller auch sagte, änderte nichts daran, dass die bei­ den annähernd Gleichaltrigen spätestens seit ihrem näheren Kennenler­ nen beim Londoner Parteitag 1907 eine vertraute Beziehung pflegten, die früh schon das Modell «Der Führer und der Dichter» vorweg­ nahm  – wie Gorki es nach Lenins Tod und Verklärung in einer noch masochistischeren fast ins Monströse entrückten Weise dann mit Stalin ausleben würde. Lenins verehrungsvoller Umgang mit dem Dichter hing allerdings auch mit dessen Rolle als Geldbeschaffer und Sponsor seiner Parteifraktion zusammen. Warum also zog Lenin in dieser Weise gegen Lunatscharski und die «Gottbildnerei» in der eigenen Partei zu Felde? Zunächst, weil er darin eine gefährliche Konzession an den Zeitgeist sah, ein Parallelstück zu den Selbstkritiken und Reflexionen der «Vechi»-Autoren, obwohl das revolutionäre «Gotterbauertum» ja die ewige, elende russische «Gott­ sucherei» endlich ablösen und erledigen wollte. Letztlich enthielt seine Intervention aber eine viel weiter greifende Umorientierung, was die Haltung der Sozialisten zu diesen Fragen betraf. Lenin stellte klar, dass die Trennung von Staat und Kirche die Religion zwar zur Privatsache mache, dass die Partei sich diese liberale Haltung für ihre eigenen Mit­ glieder aber nicht zu eigen machen dürfe. Vielmehr hatte sie in ihren ­eigenen Reihen und nach einer siegreichen Revolution dann auch gegen­ über den unaufgeklärten proletarischen Massen eine strikt wissenschaft­ liche Weltanschauung und einen militanten Atheismus zu verfechten. Dieser Hass auf die Religion, die nicht mehr nur mit Marx als «Seufzer

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der bedrängten Kreatur» und «Opium des Volkes» betrachtet wurde, sondern von Lenin nun viel brachialer als «Branntwein für die Seele» de­ nunziert wurde, hob den Bolschewismus vom Hauptstrom der europä­ ischen Sozialdemokratie ab und rückte ihn näher an die militant anti­ klerikalen anarchistischen oder syndikalistischen Ränder heran – deren Vertreter es als Staatsfeinde allerdings abgelehnt hätten, dafür die Zwangs­ mittel einer «proletarischen Diktatur» einzusetzen. In dieser programmatischen Festlegung steckte aber mehr als ein ideo­ logischer Spleen; darin äußerte sich auch ein sicherer machtpraktischer Instinkt. Lenins radikaler Atheismus richtete sich im Kern gegen die ­eigentliche, ursprüngliche Funktion aller Religion als Feier der Gemein­ schaft. Eben deshalb konnte die Religion keinen Platz in einem Regime haben, das genau dasselbe für sich beanspruchte und jede religiöse Alter­ native daher als ein inneres Karthago auslöschen musste. Einen ähnlich weiten Schatten voraus warf der Kreuzzug, den Lenin ge­ gen die philosophischen Ansichten von Alexander Bogdanow eröffnete, der nach der innerbolschewistischen Spaltung von 1904 eine Zeitlang (gemeinsam mit Lunatscharski) sein wichtigster Weggefährte gewesen war. Dieser Rundumkampf im allerengsten Umfeld wirkte fast wie eine blindwütige Selbstdestruktion, wie ein Familienkrach, bei dem kein Außen­stehender mehr durchblickte. Im April 1908 hatten sie noch zusammen Ferien bei Gorki auf Capri verbracht und in einer berühmten Fotoserie miteinander Schach gespielt, sich gestritten, aber nicht zerstritten. Ursprünglich hatte Lenin vorge­ habt, den «philosophischen Kampf» vom fraktionellen Kampf zu tren­ nen, in den er mit Bogdanow und anderen verwickelt war. Aber dann wandte er diese Differenzen mittels einer philosophisch-weltanschau­ lichen Großoffensive doch ganz ins Grundsätzliche und vertrieb Bogda­ now schließlich aus allen Parteigremien und publizistischen Organen – um den Preis einer neuen, nächsten, tiefgreifenden und verlustreichen Spaltung. Auf einer ganz falschen Spur war Lenin freilich nicht. Schon der Auto­ ren- und Kampfname «Bogdanow», den Alexander Malinowski (so sein eigentlicher Name) sich 1895 gegeben hatte, bedeutete: der «Gottbe­ gabte». Früh hatte Bogdanow die Ansicht vertreten, dass die revolutio­ näre Bewegung sich von den niederen Fragen der Ökonomie in gleicher Weise zu emanzipieren habe, wie sie auch die Natur über alle materiellen Schranken und bisher gültigen Gesetze hinausheben müsse. Bogdanow

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war ein hochgebildeter Arzt, Naturwissenschaftler, Philosoph, Soziologe und Ökonom, und zugleich ein unermüdlicher Publizist und Literat. 1894 hatte er den dritten Band des Marx’schen «Kapital» in russischer Übersetzung herausgegeben. 1908 verfasste er einen utopischen Roman «Der rote Planet», der nach der Revolution als Entwurf einer idealen ­sozialistischen Gesellschaft ein größeres Publikum finden würde. Der Stein des Anstoßes war für Lenin aber eine dreibändige, 1905/06 teilweise im Gefängnis geschriebene philosophische Abhandlung unter dem Titel «Empiriomonismus», in der Bogdanow sich in eigenständiger Weise an einer Verknüpfung des dialektischen Materialismus marxisti­ scher Provenienz mit den Thesen und Schriften des österreichischen Phy­ sikers und Philosophen Ernst Mach versucht hatte. Mach hatte unter dem Programmtitel «Empiriokritizismus» betont, dass die objektive ma­ terielle Welt und das menschliche «Weltbild» nicht einfach gleichzuset­ zen seien, da auch experimentell verifizierte wissenschaftliche Erkennt­ nisse durch die menschlichen Wahrnehmungs- und Begriffsapparate ­hindurch gefiltert und selektiert seien. Zugleich hatte er die Axiome Isaac Newtons von Zeit und Raum als absoluten Größen in Frage ge­ stellt und damit das für jeden aufgeklärten Geist seit zwei Jahrhunderten verbindliche physikalische Weltbild. Dass eine kleine politische Partei sich mit solchen Fragen überhaupt befasste, darf man für ungewöhnlich genug halten, entsprach allerdings der deutschen Tradition des Marxismus. Immerhin, es ging um die ­aktuellen Fragen der Natur- und Geisteswissenschaften, die sich auch in Literatur und Kunst abbildeten. Alexander Bogdanow hatte den Machschen «Empiriokritizismus», der einen skeptischen Umgang mit den menschlichen Erkenntnismög­ lichkeiten nahelegte, in paradoxer Weise mit einem «Monismus» zu kombinieren versucht, einer anderen philosophischen Richtung, die mit den Mitteln der modernen Wissenschaften das alte Streben wiederauf­ nahm, einen einzigen (monos) Schlüssel zu sämtlichen Phänomenen von Natur und Gesellschaft zu finden und deren Weiterentwicklungen aus einem Wirkungsprinzip zu erklären. 1913 würde Bogdanow in einem nächsten, großangelegten Werk «Allgemeine Organisationslehre – Tek­ tologie» den Versuch machen, die Grundzüge einer Universalwissen­ schaft zu entwerfen, um Philosophie und Psychologie, Gesellschaftsund Naturwissenschaften, Medizin und Technik in ein einziges System zu bringen, getreu seinem «Empiriomonismus», demzufolge alle geisti­ gen, physischen und sozialen Lebensäußerungen, alle irdischen wie kos­

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mischen Phänomene untrennbar zusammenhingen und letztlich in einer umfassenden Harmonie theoretisch und praktisch aufgehoben werden würden. So fragwürdig und zeitgeistig dieses Unternehmen war, so originell war es in all seiner Phantastik – weshalb Bogdanow als ein früher Wis­ senssoziologe, Systemtheoretiker und «Kybernetiker» (bevor es diese Be­ griffe überhaupt gab) eine gewisse, späte Anerkennung gefunden hat.13 Aber um alle diese diffizilen Fragen ging es in dem Feldzug, den Lenin ge­ gen ihn eröffnete, nur vordergründig. Lenins schweres Geschütz im «philosophischen Krieg» war seine fast 400 Seiten umfassende Kampfschrift «Materialismus und Empiriokriti­ zismus»,14 für die er eigens nach London gefahren war, um mehrere ­Wochen in der British Library zu verbringen. 1909 publizierte er sie unter Pseudonym, aber legal in Russland. Seine polemischen Beweisführungen zielten darauf ab, das, was er für eine gesicherte, von Hegel begründete und von Marx und Engels «auf die Füße» einer wissenschaftlichen Welt­ anschauung gestellte, von Plechanow für Russland gültig explizierte ­materialistische Erkenntnistheorie hielt, zu verteidigen. Ob Lenin wirk­ lich so halsstarrig am überholten Newtonschen Weltbild festhielt, wie ihm später vorgeworfen worden ist,15 kann dahingestellt bleiben. Wenn der Führer der Bolschewiki im hohen Ton des enthusiastischen Laien von der «Unerschöpflichkeit des Elektrons» und dem immer tieferen Eindringen in die Geheimnisse der Materie sprach, dann war immerhin deutlich, dass es ihm nicht um die absurde Behauptung einer Endlichkeit und Absolutheit des Wissens ging, etwa in der Art der französischen ­Enzyklopädisten, die glaubten, das Wissen der Menschheit ein für alle mal zwischen Buchdeckel fassen zu können, sondern dass er (mit Engels) die wissenschaftliche Erkenntnis für eine potentiell unendliche Aufgabe hielt.16 Das Problematische und Verhängnisvolle seines Feldzugs war viel­ mehr die Art, in der er dekretierte, dass die von Marx und Engels entwi­ ckelte Erkenntnistheorie grundsätzlich alle nötigen Instrumentarien und Begriffe bereithalte, um diese Aufgaben zu meistern. Deshalb musste alles, was je noch herausgefunden würde, axiomatisch und immer wieder die Gültigkeit eben dieser Meta-Wissenschaft beweisen: «Die moderne Phy­ sik liegt in Geburtswehen. Sie ist dabei, den dialektischen Materialismus zu gebären.»17 Wenn für Marx wie für Engels die gesellschaftliche «Pra­ xis» das Medium war, in dem die Natur- wie die Gesellschaftswissen­ schaften sich empirisch zu bewähren und theoretisch immer weiter zu

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entwickeln hatten – dann war für Lenin eine «revolutionäre Praxis» der einzig legitime Sinn- und Verwertungszusammenhang jeder wissenschaft­ lichen Erkenntnis. Der «dialektische Materialismus» bzw. der «revolu­ tionäre Marxismus», von dem er wenig später sagte, dass er «objektiv wahr» und somit «allmächtig» sei, war für ihn das wissenschaftliche und das philosophische, das gesellschaftliche und das politische Passe­ partout, die magische «Axt», die ein Revolutionär keinen Moment aus der Hand geben durfte. Die eigentliche Sünde Bogdanows, die ihn als einen «Revisionisten» entlarvte und dem Reformisten Bernstein zur Seite stellte, bestand darin, dass er den Marxismus als ein Denksystem betrachtete, das selbst einer bestimmten Zeit angehörte und also zu historisieren war: War es nicht gerade die erkenntnistheoretische Leistung des Marxismus, die histori­ sche Bedingtheit aller Ideensysteme und Erkenntnismöglichkeiten offen­ zulegen? Wenn der Marxismus selbst ein Reflex der Produktions- und Gesellschaftsverhältnisse war – musste nicht auch er sich weiterentwi­ ckeln, wenn die objektiven Verhältnisse sich weiterentwickelten? Anders gesagt: Musste er nicht, wenn man ihn in eine absolut gesetzte, ewig gül­ tige «Systemidee» verwandelte, selbst konservativ oder sogar reaktionär werden? In ähnlicher Weise hatte auch Lunatscharski bezweifelt, dass man die in der Religion hartnäckig geltend gemachten Aspirationen mit den For­ meln marxistischer Religionskritik einfach erledigen könne und die Marxisten sich per se schon in einem Zustand höherer Weltweisheit ­befänden. «Vielleicht irren wir, aber wir suchen», hatte er geschrieben, und Lenin hatte höhnisch repliziert: «Nicht ihr sucht, sondern man sucht euch». Sprich: Die Vertreter der reaktionären geistigen Moden und des religiösen Obskurantismus fanden in den Fehlern und Konzessio­ nen der «Gottbildner» und «Empiriokritizisten» die Einfallstore in die Phalanx der proletarisch-revolutionären Bewegung. Was mit Skeptizis­ mus, Psychologismus und Subjektivismus begann, endete in «Theismus», «Fideis­mus» und «Obskurantismus» und am Ende in «unverhülltem Schwarzhundertertum»18 – in späterer Terminologie: im Faschismus. Warum sich mit all dem überhaupt noch beschäftigen? Schließlich muss diese Kontroverse auf damalige Leser schon ähnlich esoterisch gewirkt haben, wie sie es erst recht heute tut. Lenins polemische Schrift hat als solche zu seinen Lebzeiten kaum besondere Wirkung erzielt und ist erst in der Ära Stalins posthum zu einem Grundlagentext des Marxismus-­

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Leninismus erhoben worden. «Materialismus und Empiriokritizismus» und die Nachfolgeschriften mögen tote Texte sein, Simula­tionen einer hohepriesterlichen Kompetenz in der Kernfrage aller modernen Philoso­ phie, «wie zuverlässige Erkenntnis möglich sei» (Jürgen Habermas). Für den Wandel des Marxismus von einem Instrument der Gegenwartskritik in eine Herrschaftsideologie und -liturgie sind sie allerdings unbedingt ernst zu nehmen.* Lenins Schrift war ein Zeugnis der gebieterischen und intellektuell oft aufwendigen Art und Weise, in der er den Bolschewismus zu e­ inem eige­ nen Ideologiekorpus formte, welcher sich vom Theoriekanon der euro­ päischen Sozialdemokratie seiner Zeit in entscheidenden Punkten abzu­ lösen begann  – so wie auch der aller pejorativen Konnotationen ent­ ledigte, ins Positive gewendete Begriff der «Ideologie» als solcher schon eine Wegscheide markierte. Eine «proletarische Ideologie» stand ab jetzt frontal einer «bürgerlichen Ideologie» gegenüber mit dem Ziel, diese nicht etwa nur zu kritisieren, zu blamieren, zu enthüllen, sondern ein für alle Mal zu vernichten. Von dieser Warte aus konnte Lenin von Philosophen wie von Natur­ wissenschaftlern wie von jedem anderen «Parteilichkeit» verlangen. Da es zwischen Idealismus und Materialismus keine «dritte Ideologie» gab, waren alle philosophischen und wissenschaftlichen Theorien Instru­ mente des Kampfs mit der «bürgerlichen Ideologie». Damit begann eine Entwicklung, in der die sowjetische Philosophie oder Wissenschaftstheo­ rie von jedem lebendigen, dialogischen Kontakt mit anderen Gedanken­ systemen abgeschnitten wurde, während man deren Infiltrationen in das eigene, hermetische System oder ihre «spontanen» geistigen Wiederauf­ erstehungen in einer endlosen Folge von Hexenjagden zu bekämpfen hatte. Die marxistisch-leninistische Theorie der Geschichte, der Gesell­ schaft, des Menschen und der Natur sprach in endlosen Monologen nur noch mit sich selbst – was die undialektischste Form des Denkens ist. Insofern kann man in Lenins «Materialismus und Empiriokritizis­ *  In seinem «Kurzen Lehrgang der KPdSU (B)» von 1938 hat Stalin, unter Rückgriff auf einige Engels-Schriften und -Fragmente (wie «Dialektik der Natur»), Lenins Schrift über «Materialismus und Empiriokritizismus» zum Ausgangspunkt seiner eigenen, dogmati­ schen Formulierung eines Histomat und Diamat gemacht und ihr damit einen kanoni­ schen Status verliehen. – Bemerkenswert ist, dass fast genau zur gleichen Zeit Mao Tsetung im Feldquartier in Jenan das, was er vom sowjetischen Marxismus-Leninismus bis dahin aufgeschnappt hatte, in seinen Schriften «Über den Widerspruch» und «Über die Praxis» mit Elementen des chinesischen Denkens verschnitt und damit das Fundament eines ganz eigenen Kanons von «Mao-Tse-tung-Ideen» schuf.

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mus» schon den fatalen Anfangsfehler identifizieren, der die ganze spä­ tere Verfallsgeschichte der Sowjetmacht bestimmt hat: «Es gab keine ­Sozial- oder Kulturanthropologie, keine Philosophie, die über das Jahr 1908 hinausging; die  – vor allem empirische  – Soziologie verküm­ merte …; Einstein wurde verworfen …, Interpretationen der Quanten­ physik wurden als Idealismus verworfen.» Ob moderne Genetik oder Psychoanalyse – die sowjetische Wissenschaftsgeschichte beschnitt und sterilisierte sich, trotz aller unbestreitbaren Leistungen, letztlich immer von Neuem selbst.19 Und viele, die sich «reaktionärer» Irrtümer oder «bürgerlicher» Abweichungen schuldig machten, wurden eben nicht nur kritisiert, sondern sozial oder sogar physisch vernichtet, wie es das in der Geistes- und Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts sonst nir­ gends gegeben hat, nicht einmal unter faschistischen Regimes einschließ­ lich des Nationalsozialismus. Auch das argwöhnische Verhältnis zur Kunst wie zu allen Kulturformen, das die Kommunisten, einmal zur Macht gekommen, immer und überall demonstrierten, lässt sich aus diesen leninistischen Grundpositionen herleiten. Gerade ein als Meta-Wissenschaft begriffener, katechetisch fi­ xierter «Marxismus» oder «Leninismus» musste zu einem säkularen Glaubenssystem werden, das nicht nur zu jeder Religiosität, sondern auch zu sämtlichen künstlerischen Verarbeitungen des Lebens in einem notorischen Konkurrenzverhältnis stand. Da Kunst ihrer Natur nach «subjektivistisch» und uneindeutig ist, machtvoll an Gefühle appelliert, ganz eigene Welten, Bilder, Klangräume, Figuren und Ensembles ent­ wirft, die zu unkontrollierbaren Assoziationen und unverfügbaren Ge­ danken einladen, war sie nach Form wie nach Inhalt etwas konstitutio­ nell Gefährliches. Deshalb glaubten die Kommunisten an der Macht alle Künste und künstlerischen Expressionen eng kontrollieren zu müssen, so wie die Wissenschaften auch. Aber sie mussten sie gleichzeitig in Dienst nehmen und sogar zur Blüte bringen, wenn die neue Gesellschaft nicht am Stiel verdorren sollte – indem man den Künstlern und Wissenschaftlern von Staats wegen Bühnen und Säle, Verlage und Publikationen, technische Kapazitäten, Labore und Forschungsmittel bot, die sie unter den alten Verhältnissen nie gehabt hatten. Das war dann allerdings zu jeder Zeit eine Gratwanderung, am gefährlichsten gerade im ersten nachrevolutio­ nären Jahrzehnt, als die imperative Gestaltungsmacht Lenins nicht nur an ihre Grenzen stieß, sondern paradoxe Gegeneffekte erzeugte, deren

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Wurzeln und Triebe Stalin im Jahrzehnt darauf brachial zurückschnei­ den und aus­roden würde. Es lag ja offen zutage, und offenbar auch für Lenin selbst: Eine so ver­ armte, so niedergedrückte, aufgelöste und aufgewühlte Gesellschaft wie die des nachrevolutionären Russland hätte aus dem beschränkten geisti­ gen Horizont, ästhetischen Konservativismus und kargen Gefühlshaus­ halt eines Revolutionsführers, dem schon «die Musik … zeitlebens eine Irritation, eine beunruhigende Erinnerung an eine andere, sinnliche Er­ fahrungsweise der Welt» war und blieb, niemals leben und sich regene­ rieren können.20 So kam es, dass Lenin noch im Zuge der Machterobe­ rung ausgerechnet die «Gottbildner», die er zehn Jahre zuvor so erbittert bekämpft hatte, in die Schlüsselstellen der Kulturpolitik seines neuen Regimes einrücken ließ, allen voran seinen Kulturkommissar Lunat­ scharski, aber auch den «Empiriomonisten» Bogdanow als den Begrün­ der einer recht dynamischen Kultur- und Selbstbildungsbewegung (dem «Proletkult»). Die Fronten verliefen offenkundig nicht ganz so klar und eindeutig, wie das in den Debatten von 1908/09 den Anschein erweckt hatte. Die Revolution erwies sich ungeachtet der diktatorischen Strenge und ideo­ logischen Enge als eine Art künstlerische Situation, deren exzessive Pro­ duktivität und utopische Überschüsse sich wie naturwüchsig aus der ­tabula rasa des Bürgerkriegs, der Leere des geistigen Raums und der ­Destruktion aller gewohnten Lebensweisen speisten. So kam es, dass ­Lunatscharski als Volkskommissar für Kultur zum Bewahrer mancher Reste der alten, vorrevolutionären Künste und Wissenschaften und gleichzeitig zum Schirmherrn all derer werden konnte, die die avantgar­ distischen Kunststile der Vorkriegszeit in einen neuen Revolutionsstil zu überführen suchten  – beides sehr zum Missfallen Lenins, der meinte, dass in den alten Akademien und Institutionen zu viele Reaktionäre Un­ terschlupf fanden, während er Clara Zetkin «mutig» gestand, in puncto zeitgenössischer Kunst, Literatur und Musik ein «Barbar» zu sein, der «die Werke des Expressionismus, Futurismus, Kubismus und anderer ­Ismen» weder verstehe noch an ihnen Freude habe.21 Aber er war eben auch klug genug, aus seinem persönlichen Geschmack nicht gleich eine Heckenschere des «ideologischen Kampfes» zu machen. Wachsamkeit war natürlich geboten, hier wie auf jedem anderen Ge­ biet, auf dem man unzuverlässigen Elementen Konzessionen machen musste, den Künstlern wie den Bauern, den «bürgerlichen Spezialisten», den Offizieren der alten Armee oder den nichtmarxistischen Wissen­

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schaftlern. Für den «Proletkult»-Kongress im Oktober 1920 verfasste Lenin daher eine Resolution, die ein für alle Mal festlegte, dass die Kunst im Sowjetstaat «vom Geist des Klassenkampfs» getragen und zur «Par­ teilichkeit» verpflichtet sei. Der «Proletkult», der eine Bewegung zur Entwicklung einer eigenständigen «proletarischen Kultur» sein wollte, solle das Proletariat erst einmal zur Aneignung der «wertvollsten Errun­ genschaften des bürgerlichen Zeitalters» befähigen, die von reaktionä­ ren Überresten sorgfältig gereinigt werden mussten, statt «eine eigene, besondere Kultur auszuklügeln».22 Genau das aber war die Ausgangs­ idee Bogdanows bei der Gründung der «Proletkult»-Bewegung gewesen, aus der er damit verbannt wurde. Mit diesem prätotalitären Akt von Zensur und Ausschluss endet die ­Geschichte aber noch längst nicht, sondern es beginnt eine andere, die den Bolschewismus noch einmal in ein anderes Licht stellt. Es konnte gar nicht ausbleiben, dass die von Lenin zur Tür hinausgetriebenen Ten­ denzen zum Fenster wieder hereinkamen. Lenin mochte – wie er meinte, Marx folgend – «die Frage des Kommunismus», das hieß: der künftigen Höherentwicklung der Gesellschaft, so betont nüchtern behandeln, «wie der Naturforscher die Frage der Entwicklung einer neuen, sagen wir, biologischen Abart stellen würde, wenn man weiß, dass sie so und so entstanden ist und sich in der und der bestimmten Richtung modifi­ ziert»23. Nur war dieser machtbewehrte, szientistische Antiutopismus natürlich das mächtigste Utopicum, das sich denken lässt – eines, das im Vakuum, das die Revolution geschaffen hatte, einen fast grenzenlosen Entfaltungsraum fand. Nichts hat den posthumen Triumph einer bolschewistischen «Gott­ bildnerei» und eines magischen Szientismus für die nachfolgenden Gene­ rationen so eindrücklich versinnbildlicht wie der einbalsamierte Lenin in seinem gläsernen Sarg im ägyptischen Totentempel auf dem Roten Platz. An seinem Grab treten sie uns alle wieder gegenüber: die «Gottbildner», die ihn als einen auf ewig konservierten Körper in diese Mausoleums­ pyramide auf dem Roten Platz legen, und die «Empiriomonisten», die – wie Leonid Krassin, der alte Gefährte Lenins wie Bogdanows und Vor­ sitzende der «Kommission zur Verewigung des Gedenkens an Genossen Lenin»  – sich Gedanken über die künftige Unsterblichkeit der großen Menschen machen, ein Dauerthema der biopolitischen Utopien der frü­ hen Sowjetjahre.24

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Sektenkriege als Weichenstellung Frühe, aber weit vorausgreifende Weichenstellungen enthielten, wenn wir noch einmal in die Zeit vor 1914 zurückgehen, auch einige der poli­ tischen Festlegungen, die Lenin im Zuge der endlosen Fraktionskämpfe und Sektenkriege der Vorkriegsjahre traf. Das entnervte Kopfschütteln, das sein verbissener Kampf um jedes Wort und jeden Satz in den Reso­ lutionen der Konferenzen, Parteitage oder Fraktionssitzungen provo­ zierte, störte ihn nicht, sondern war im Gegenteil eines seiner Machtmit­ tel. Es machte klar, welches Gewicht jede einzelne Position hatte. Das folgte einer komplexen Doppelstrategie, die das Geheimnis seiner fast unbegrenzten taktischen Flexibilität bei gleichzeitiger doktrinärer Starrheit war. So hatte er der Durchsetzung demokratischer Freiheiten in allen Programmen und Proklamationen «im Prinzip» stets einen hohen Stellenwert eingeräumt und vor allem deshalb die Selbstbezeichnung als «Sozial-Demokraten» (statt als «Sozialisten» oder «Kommunisten») nachdrücklich verteidigt. Dass eine «demokratische Revolution» einer «sozialistischen Revolution» vorangehen musste, war und blieb auch für ihn ein Axiom. Die Frage war nur, was das in einer revolutionären Si­ tuation, wie sie sich 1905 entfaltete, praktisch bedeutete. So hatte Lenin die Entstehung von Sowjets als Organen einer direk­ ten Demokratie, die Teil der zivilgesellschaftlichen Aufbruchsbewegung waren, anfangs mit offenem Misstrauen begleitet, weil diese «Räte» als spontane Selbstorganisationen der Arbeiter unvermeidlich von klein­ bürgerlich-demokratischen oder von trade-unionistischen Motiven be­ stimmt sein mussten und letztlich in Konkurrenz zur Partei treten wür­ den. Deshalb war es für ihn auch logisch, dass die Menschewiki und ­illustre Einzelkämpfer wie der junge Trotzki und sein Mentor Parvus (Helphand) darin den Ton angaben. Aber in der sich zuspitzenden Situation des Winters 1905/06 rief ­Lenin diese Sowjets plötzlich als die designierten Organe eines bewaff­neten Aufstands und einer demokratisch-proletarischen Diktatur auf der Linie der Pariser Commune aus. Ähnlich verhielt er sich zu den überall ent­ standenen «Fabrikkomitees», in denen Bolschewiki, Menschewiki und Sozialisten verschiedener Couleur meist eng zusammenarbeiteten – was Lenin schließlich bei einem stürmisch verlaufenen Treffen mit seinen «komitetschiki» Anfang 1906 widerstrebend guthieß, aber nur, um im bolschewistischen Fraktionsorgan «Wperjod» (Vorwärts) seine Polemi­

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ken gegen die Menschewiki und die Sozialisten der anderen Fraktionen und Parteien noch mehr zu verschärfen. Überhaupt wirkte sein Agieren – durchweg aus der zweiten, nie der vordersten Linie – für seine Parteigänger, die ihn großteils nur dem Na­ men nach kannten, durchaus befremdlich. So hatte er nach seinem ver­ späteten Eintreffen im revolutionierten Petersburg im November 1905, in den kurzen «Tagen der Freiheit», mit aller, vielfach beleidigender Schärfe darauf gedrungen, unverzüglich bewaffnete Kampfgruppen der Partei aufzustellen, Bomben in Serie zu bauen und Vorbereitungen für den Straßenkampf zu treffen, statt die neuen Spielräume für eine kon­ zentrierte Agitations- und Organisationstätigkeit zu nutzen. Revolution hieß für Lenin eben früher oder später Bürgerkrieg und musste in einer «Diktatur des Proletariats und der armen Bauernschaft» enden. Eine Diktatur war aber nun einmal ein Regime der offenen, direkten Gewalt. Das hämmerte er seinen Gefolgsleuten unermüdlich ein, weshalb diese als Vertreter der «Harten» in der Sozialdemokratie unbedingt die revo­ lutionären Traditionen Russlands einschließlich des Terrorismus zu stu­ dieren und zu verteidigen hatten. In diesem Geiste pries er auch den gescheiterten Moskauer Dezem­ ber-Aufstand, so sinnlos und verlustreich er war, als eine notwendige erste Machtprobe und als ein Fanal; und er trat strikt gegen eine Beteili­ gung an den Wahlen zur ersten Duma ein, da dies bedeute, den Weg der Legalität und des «parlamentarischen Kretinismus» zu gehen. Doch als die Liberalen und die gemäßigten Agrarsozialisten (Trudowiki) trotz ­aller Repressionen einen überwältigenden Sieg bei diesen ersten halb­ wegs freien Wahlen der Geschichte Russlands errangen, einen Sieg, mit dem sie allerdings wenig anfangen konnten, schwenkte Lenin unvermit­ telt um. So trat er auf den Parteitagen im April 1906 in Stockholm und 1907 in London plötzlich nicht nur für die Wiedervereinigung der gesamt­ russischen Sozialdemokratie und für die Aufnahme der neuen Arbeiter­ aktivisten in die Partei ein, sondern zusammen mit den Menschewiki und gegen einen Teil seiner eigenen Genossen stimmte er auch für eine ge­ meinsame Beteiligung an den Dumawahlen (wenn auch mit jeweils eige­ nen fraktionellen Kandidaten). Dieser realpolitische Schwenk führte prompt zur Bildung neuer, linksoppositioneller Fraktionen und letztlich zu einer erneuten Spaltung der Bolschewiki selbst. Auf dem einen Flügel standen «Otsowisten», die die Gewählten sofort wieder «abberufen» (otsyvat’) wollten, oder «Ulti­ matisten», die die Anerkennung der parteilosen Organisationen (wie

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S­ owjets, Gewerkschaften, ­Fabrikkomitees) oder jedes Wahlbündnisses von der Anerkennung der proletarischen Diktatur abhängig machen wollten. Auf dem Gegenflügel standen die «Versöhnler», die mit der so­ zialdemokratischen Parteieinheit Ernst machen wollten, oder die «Liqui­ datoren», die sich vorerst ganz auf die Arbeit in legalen Arbeiterorgani­ sationen und Publikationen konzentrieren wollten, nachdem auf der Ebene der Wahlen und politischen Bündnisse kein Vorankommen mehr war. Was war daraus aber zu schließen? Nur dies: dass es eines steten Kampfes gegen Links- und Rechtsabweichungen bedurfte. Keine kor­ rekte Politik oder, wie Stalin es später nennen würde, keine «General­ linie» der Partei ohne Kampf gegen linke oder rechte Abweichungen. Auch das war eine epochemachende Entdeckung Lenins, die die Praxis der künftigen Kommunistischen Parteien bestimmen und in Phasen des Staatsterrors zu Formen einer blutigen Selbstzerfleischung führen würde. Die Spitzel, die Lenins Partei von oben bis unten durchsetzten, konnten in diesem Klima nicht anders als im Jargon dieser Fraktionskämpfe zu berichten; und ihre Führungsoffiziere berichteten entsprechend nach oben. So hieß es etwa in einem Bericht des Leiters des Moskauer Polizei­ departments vom Juni 1909 an die Ochrana-Führung: «Die Mitglieder des ­bolschewistischen Zentrums Bogdanow … und Nikitin (Krassin) … sind eingeschwenkt auf die Linie des Otsowismus und Ultimatismus und ­haben, nach Aneignung eines Großteils der in Tiflis geraubten Gelder, mit der Agitation gegen das bolschewistische Zentrum … begonnen.»25 In dieser knappen Meldung steckt das ganze Chaos der Vorkriegs­ jahre. Das «bolschewistische Zentrum» war natürlich unverrückbar Lenin mit seinen wechselnden Unterstützern. Allerdings scheint sogar von seiner «Abwahl» die Rede gewesen zu sein, als er sich 1907 gegen das Gros der eigenen Delegierten stellte, und zwar zugunsten Bog­ danows, der dadurch in die Rolle des Kopfs der «Otsowisten» geriet – was den Furor des «philosophischen Feldzugs» gegen ihn und seinen «Empiriomonismus» teilweise erklärt.26 Leonid Krassin war seit 1902/03 eine der zentralen Säulen der bol­ schewistischen Parteifraktion. Unter seinem Tarnnamen «Nikitin» orga­ nisierte er nicht nur die wichtigsten Untergrunddruckereien, sondern als Leiter des «Finanzkomitees» hatte er auch die bewaffneten «Expropria­ tionen» dirigiert. Alles in allem sollen bis 1908 von bolschewistischen Kampfgruppen, nicht selten in Kooperation mit anderen professionellen

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Terroristen wie Sozialrevolutionären und Maximalisten, rund eine Mil­ lion Goldrubel erbeutet oder erpresst worden sein.27 Der spektakulärste Coup war der Tifliser Überfall auf einen staat­ lichen Geldtransport im Juni 1907, den «Koba» Dschugaschwili geplant hatte. Das Kommando über die circa 40-köpfige, mit Bomben und ­Pistolen bewaffnete Gang führte der als Killer berüchtigte «Kamo» Ter-­ Petrossjan. Vierzig Tote und eine noch größere Zahl Verletzter bedeck­ ten danach das Schlachtfeld; die Beute betrug mindestens 250 000 Gold­ rubel. Das Geld wurde von «Kamo» und einer seiner halbwüchsigen ­Pistolenbräute persönlich an Lenin, Krupskaja und Krassin in Finnland übergeben. (Man stelle sich die Szene vor.) So offenkundig die Täterschaft, so groß war der Skandal, den der Tif­ liser Überfall innerhalb der Sozialdemokratie selbst machte, die in Lon­ don 1907 wie schon in Stockholm 1906 die Praxis der bewaffneten Raub­überfälle ausdrücklich verboten hatte. Es war offensichtlich, dass sich die Aktivitäten der sozialdemokratischen Kampfgruppen mit dem grassierenden sozialrevolutionären und anarchistischen Terrorismus und einer mafiotischen Bandenkriminalität vermischten, und dass dies die prekären, aber immerhin bestehenden legalen Betätigungsmöglichkeiten der Partei in akute Gefahr brachte. Insofern war das Verbot der «Expro­ priationen» eine Entscheidung über die Strategie der Partei insgesamt. So groß die Repression in der Ära Stolypin auch war: Wahlkandidaturen und legale Publizistik gingen mit Terrorismus und Bandenkriminalität schlecht zusammen. Lenin wie Krassin (beide seit 1906 Mitglieder im neugewählten Zen­ tralkomitee der vereinten SDAPR) hatten sich an diesen Debatten und Abstimmungen nicht beteiligt. Sie machten einfach weiter, schon weil sie keinen Moment lang bereit waren, ihr «bolschewistisches Zentrum» den Parteigremien tatsächlich zu unterstellen. Natürlich waren Untergrund­ kader, die in der terroristisch-kriminellen Grauzone agierten, korrumpie­ renden Einflüssen ausgesetzt; «Koba», «Kamo» und ihre Gang erschie­ nen vielen schon als reine «Mobster» amerikanischen Typs; hier stand ein Tor der Infiltration durch Spitzel und Provokateure offen. Das alles war Lenin durchaus bewusst. Aber er brauchte diese Gelder für die Fi­ nanzierung seines eigenen konspirativen Apparats. Erst als die Verluste die Gewinne zu übersteigen begannen und auch Stalin, der in diesen Jahren zu Lenins Hauptgeldbeschaffer aufstieg, mit seinen engsten Gefährten in Baku festgenommen wurde, stellte Lenin für diese Art der Parteifinanzierung die Ampel vorerst auf Gelb (nicht auf

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Rot)  – nicht zuletzt weil ihm die Menschewiki, als «Kamo» 1908 in Deutschland verhaftet wurde, mit einer parteioffiziellen Untersuchung zusetzten, in die auch die Internationale einbezogen war. Neben den bewaffneten «Expros» hatten die Bolschewiki, wie andere revolutionäre Gruppen auch, sich in erstaunlichem Maße Großspenden und regelmäßige Zuwendungen reicher Gönner erschlossen. Diese Sub­ ventionen der Großbourgeoisie für die Revolutionäre zeigten jedenfalls den Grad der Entfremdung einiger der modernsten Industriellen oder ih­ rer Söhne und Töchter vom zaristischen Regime. Der berühmteste Fall war der Moskauer Textilfabrikant und große Sozial- und Kulturmäzen Sawwa Morosow, Freund und zeitweise Arbeitgeber Krassins, der auch wegen seiner verzweifelten Liebe zu der Schauspielerin Maria Andre­ jewa, der Freundin Gorkis, die Bolschewiki 1905 mit großen Donatio­ nen bedachte, bevor seine Familie ihn entmündigte und er unter unkla­ ren Umständen starb. Zu einer cause célèbre der Internationale wurde die von einem sym­ pathisierenden Petersburger Fabrikerben (einem Neffen Morosows) den Sozialdemokraten zugedachte «Schmidtsche Erbschaft», um die Lenin einen derart erbitterten Kampf führte, dass am Ende (nach Kriegsaus­ bruch) keine der Parteifraktionen etwas bekam.28 Klar war jedenfalls ei­ nes: dass Geld für Lenin ein unverzichtbares Mittel jeder revolutionären Realpolitik war; je kleiner seine Partei war, umso mehr.

Bolschewismus und Internationale Alle diese fraktionellen Neben- und Geheimpolitiken hinderten Lenin nicht, als Führungsmitglied der Russischen Sozialdemokratie eine Zeit­ lang auch auf internationalen Konferenzen aufzutreten, so auf dem bis dahin größten Kongress der Internationale, den die Sozialdemokratische Partei Deutschlands im Sommer 1907 erstmals auf eigenem Boden in Stuttgart ausrichten konnte. Hier lernte er Bebel, Jaurès, Clara Zetkin und andere Größen des Sozialismus persönlich kennen. Allerdings be­ schränkte er sich auf Grußworte und kleinere Interventionen; dass die schweflige Aura, die ihn umgab, viele der deutschen und westeuropä­ ischen Genossen auf Abstand hielt, dürfte er gespürt und vielleicht auch genossen haben. Immerhin wurde er ins «Internationale Sozialistische Büro» (ISB) gewählt. Auf dieser Bühne der Internationale hatten alle die nach 1905 weithin

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bekannten Größen der russischen Sozialdemokratie ihre Auftritte. Ge­ orgi Plechanow war noch immer der vielbewunderte «Vater des russi­ schen Marxismus», und mit diesem Ruhm im Rücken warf er im Streit zwischen den Fraktionen sein Gewicht mal in die eine und mal in die an­ dere Waagschale. Aber er wurde unaufhaltsam zur historischen Figur und zog sich zunehmend auf literarische und wissenschaftliche Arbeiten zur Ökonomie, russischen Geschichte und ästhetischen Kritik zurück.29 Seinen wichtigsten theoretisch-politischen Beitrag hätte er leisten kön­ nen, wenn er seine aus der Kritik des «orientalischen» Erbes hergeleite­ ten Positionen in der Agrardebatte 1906/07 hartnäckiger und empirisch fundierter verfolgt hätte. Diese Kritik richtete sich zentral gegen die von Lenin und anderen – in Anlehnung an Kautsky – vertretene Forderung einer vollständigen Verstaatlichung des Bodens. Plechanow sah darin die Gefahr eines Rückfalls in eine «kitaischtschina», ein chinesisches System der asiatischen Tributwirtschaft. Als Alternative schlug er, an den späten Marx anknüpfend, eine «Kommunalisierung» des Bodens vor, die die Organe der ländlichen Selbstverwaltung zu kollektiven Besitzern ma­ chen würde. Damit könnten sie als «Bollwerk» gegen die gutsherrlichen, agrarkapitalistischen und großbäuerlichen Machtansprüche wirken, wäh­ rend sie zugleich ein Antidot gegen die konservative Selbstgenügsamkeit der patriarchalen Dorfgemeinschaften bildeten. Damit stand Plechanow allerdings fast allein, nachdem Lenin mitten auf dem Parteitag 1907 seine bisherige Position abrupt fallen ließ und auf die von Stalin vertretene, scheinbar völlig entgegengesetzte Position einer Aufteilung des Bodens unter die Bauern umgeschwenkt war. Nach diesem Konzept sollten die bäuerlichen Privatwirtschaften unter der Vormundschaft einer künftigen «demokratischen Diktatur» auf einen «amerikanischen Weg» der Entwicklung der Agrikultur gebracht wer­ den, nämlich einer modernen, die Fläche des Reiches in großem Stil ­kolonial erschließenden Landwirtschaft, die man dann wie die Groß­ industrien und den Großhandel über staatliche Vorgaben dirigieren und über Steuern würde abschöpfen können, um sie schließlich schrittweise zu nationalisieren oder anderweitig zu sozialisieren. Dieser Schwenk war eine weitere programmatische Weichenstellung, die Lenin im Jahr 1917 freie Hand lassen würde. Damit verschwand allerdings auch das Thema der «halborientali­ schen» Interpretation der russischen Herrschafts- und Sozialgeschichte, das bei Marx noch eine so zentrale Rolle gespielt hatte. Es schrumpfte auf die beliebig verwendbare, pejorative Vokabel einer «asiatschina»,

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mit der allenfalls ein erstickender staatlicher «Bürokratismus» gemeint war. Aus dem alten Topos der spezifischen russischen «Knechtschafts­ ordnung» (krepostnitschewstwo) wurde in bolschewistischen Texten ­zunehmend ein «Feudalismus» (was die Gutsherrschaften betraf) sowie eine «patriarchale», «vorkapitalistische» Ausbeuterordnung (was die Dorfgemeinden betraf); und aus der «halborientalischen Despotie» ein «bürokratischer Despotismus» oder auch ein «militärisch-feudaler Im­ perialismus». Nichts an diesen wechselnden Begriffen war ganz falsch, aber keiner hatte mehr eine genaue Bedeutung.30 Hauptgegenspieler Lenins in den Debatten der Fraktionen waren wie eh und je die führenden Menschewiki, an erster Stelle Julij Martow, und in einigen wichtigen Fragen und theoretischen Kontroversen (insbesondere über die Nationalitätenpolitik und den Imperialismus) Rosa Luxem­ burg. Aber mit steigender Vehemenz und mit wachsendem publizisti­ schen Radius wuchs in den Jahren vor dem Weltkrieg auch Leo Trotzki zu einem Beinahe-Rivalen Lenins heran. Nach seiner abenteuerlichen Flucht aus Sibirien war er im April 1907 auf dem Londoner Parteitag aufgetaucht und hatte dort sein schon 1905 eingeführtes Strategem einer «permanenten Revolution» erneut und mit großem rhetorischen Nachdruck verfochten – das sich von den Strate­ gemen Lenins oder Plechanows, nämlich einer stufenweise, sich Schritt um Schritt radikalisierenden «demokratischen Diktatur», nur in zwei Aspekten unterschied: erstens durch eine noch stärkere Betonung der ­Initiativrolle der russischen für eine westeuropäische, dann schon klar sozialistische Revolution, von der letztlich aber alles abhängen würde; und zweitens durch die Rolle der Arbeiterklasse als der einzig zuverläs­ sigen progressiven Kraft, die allein in der Lage wäre, eine Koalition an­ derer, für sich genommen impotenter oder unzuverlässiger sozialer Kräfte um sich zu sammeln, um auch nur eine «bürgerliche Demokra­ tie» zu erkämpfen. Seine «glänzende Isolation» hinderte Trotzki nicht, sich immer wieder als eine vermittelnde Instanz in den jahrelang sich hinziehenden fraktio­ nellen Streitereien anzubieten oder mit den Absprengseln mal der einen, mal der anderen Fraktion eigene Bündnisse zu schließen. Freilich war er nicht der einzige, der sich fraktionell nicht klar zuordnen ließ. Die russi­ sche Sozialdemokratie der Jahre 1907–1914 stellte sich als eine ganze, zerklüftete Landschaft von Zeitungen und Zeitschriften, Büros und Parteischulen, Gremien und Konferenzen dar, auf dem Personen auf­

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tauchten, sich zusammentaten, wieder trennten und verschwanden, nur um in anderem Kontext wieder aufzutauchen. Außer Lenin und Martow gab es wohl niemanden, der über die gesamte Zeit hinweg eine eindeu­ tige fraktionelle Affiliation gehabt hätte. Trotzkis Hauptplattform war eine 1909 mit Rjasanow, Joffe und an­ deren in Paris gegründete, etwa vierzehntägig erscheinende Zeitung ­namens «Prawda». Sie war unter den Exilanten verbreitet, wurde auch nach Russland geschmuggelt und trug die zurückhaltende Devise: «Leh­ ren, nicht führen». (Mit der 1912 in Petersburg legal gegründeten bol­ schewistischen «Prawda» ist sie nicht zu verwechseln, sie musste ihr letztlich weichen.) Darüber hinaus standen Trotzki nach seinem von ­einer Aura der Berühmtheit umwehten Auftritt auf dem Stuttgarter Kon­ gress und aufgrund seiner vielseitigen Bekanntschaften mit so ziemlich allen großen Namen der deutschen, österreichischen, französischen und italienischen Sozialisten viele sozialistische Blätter Europas offen, in ­denen er gegen Honorar eifrig und polyglott publizierte, so etwa als Korrespondent aus den Balkankriegen 1912/13.31 Kurzum, Trotzki war hauptberuflicher Journalist, der für ein europäisches wie ein russisches Publikum schrieb, immer mit einer globalen Perspektive. An größeren Abhandlungen, die ihm den Ruf eines Theoretikers hätten einbringen können, versuchte er sich dagegen nicht. Sein Lebensprogramm war es, den Zeitläuften auf den Fersen zu bleiben und sie wie ein Historiker der Gegenwart in Begriffe und «Gesetze» zu fassen. Was Trotzki, Martow oder die in der deutschen, polnischen und rus­ sischen Partei gleichzeitig beheimateten Akteure wie Rosa Luxemburg, Karl ­Radek oder Julian Marchlewski in den westeuropäischen Parteior­ ganen über die endlosen Differenzen der russischen Fraktionen und Teil­ parteien berichteten, trug zu deren Verständnis allerdings wenig bei, im Gegenteil. Kautsky, der 1905 von einer Verlagerung des Sturmzentrums der Revolution nach Osten gesprochen hatten, war wie andere Köpfe der Internationale kurz davor, die russische Partei für klinisch «tot» zu erklären (so auf einer Sitzung des Internationalen Sozialistischen Büros im Dezember 1913)  – wofür er und Luxemburg, die sich ähnlich ge­ äußert hatte, eine wütende Replik Lenins ernteten: Gerade in diesem Moment stehe Russland vor einem stürmischen Neuaufschwung der ­revolutionären Bewegung.32

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«The commening revolution» Tatsächlich erwies sich der kleine, «harte» Kader der Bolschewiki in­ mitten der 1912 wieder anschwellenden sozialen Unruhen im ganzen Russländischen Reich als vergleichsweise aufnahmefähig und reaktions­ schnell. Der von Baku nach Petersburg übersiedelte «Koba» Dschuga­ schwili, der sich jetzt «Stalin» zu nennen begann, assistiert von einem Jungbolschewiken namens Skrjabin mit dem Kampfnamen «Molotow» (der Hammerharte) sowie anderen, dafür abgestellten Kadern wie Lew Rosenfeld, der sich «Kamenew» (der Steinerne) nannte, gaben im Auf­ trag der nominell ins Inland zurückverlegten Parteiführung ab Mai 1912 eine neue, rein bolschewistische Tageszeitung heraus, die sie «Prawda» nannten und die ein beachtlicher Erfolg wurde. Zeitweise soll sie es auf 6000  Abonnenten und auf 40–60 000 frei verkaufte Exemplare ge­ bracht haben, womit sie die menschewistische «Lutsch» immerhin über­ flügelte. Zwar wurde sie regelmäßig beschlagnahmt oder mit Strafen be­ legt, und ihre Redakteure und Kolporteure wurden laufend verhaftet und in die Verbannung geschickt, doch nur um nach einiger Zeit wieder aufzutauchen. Dennoch konnten bis zum Juli 1914 (unter vordergründig wechselnden Namen, die immer «Prawda» im Titel trugen) 636  Aus­ gaben erscheinen, in denen Lenin 280 Artikel veröffentlichte, mit leicht gezügelter Diktion, aber klar genug. Es war eine merkwürdige Situation der Halblegalität, in der insbeson­ dere die Menschewiki vermuteten, dass die Behörden durch eine dis­ krete Förderung der Bolschewiki die Spaltung der Sozialdemokratischen Partei und der mit ihr verbundenen Arbeiterkomitees betrieben. Ihr Ver­ dacht richtete sich schnell auf Roman Malinowski, den neuen Inlands­ führer der Bolschewiki, einen ehemaligen Metallarbeiter, begabten Auto­ didakten und feurigen Redner, der schon seit seiner Militärzeit 1904 ein wegen diverser Delikte erpressbarer, durchaus williger Informant der Geheimpolizei war. 1910 war er als Einflussagent in die Sozialdemokra­ tische Partei eingeschleust worden, hatte sich auf die bolschewistische Seite geschlagen und war im Oktober 1912 als einer von insgesamt 14 Sozialdemokraten in die Duma gewählt worden, nachdem die Polizei alle seine potentiellen Mitbewerber verhaftet und für seinen Wahlkampf eine beträchtliche Summe investiert hatte. Nach der förmlichen Spaltung der Partei hatte Lenin ihn aus dem Stand ins neue bolschewistische ZK befördert und als engsten Vertrau­

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ensmann und sichtbaren Sprecher im Inland installiert. Wie sich 1917 nach Öffnung der staatlichen Archive herausstellte, standen allerdings auch eine ganze Reihe weiterer führender Mitglieder der bolschewisti­ schen Parteikomitees in Moskau und Petersburg im Dienste der Polizei, so zum Beispiel der im Mai 1913, nach der Verhaftung Swerdlows, zum Chef­redakteur der «Prawda» avancierte Miron Tschernomasow. Kurzum, die Geheimpolizei war über alle Interna und Verbindungen bestens ­informiert, konnte nach Belieben verhaften und verhören, deportieren oder wieder freilassen und allzu gefährlichen Umtrieben nach Bedarf die Flügel stutzen, ohne jedoch einen ernsthaften Versuch zu machen, die Partei insgesamt zu zerschlagen, die ihr offensichtlich als Spaltpilz nütz­ lich war. Die immer häufiger gegen Malinowski erhobenen Verdächtigungen wies Lenin wutschäumend als ein Komplott gegen die Partei und ihn selbst zurück. Dass Malinowski fast als einziger von allen bolschewisti­ schen Inlandskadern nie ernsthaft behelligt wurde, schien aus seiner par­ lamentarischen Immunität und Popularität erklärlich, auf die die an­ deren neidisch waren. Und wirklich: Malinowski trat in der Duma als charismatischer Fraktionsführer auf und hielt Reden, die Lenin oder Sinowjew für ihn aufgesetzt hatten – und welche die mitredigierenden Ochrana-Beamten allenfalls abmildern konnten. Vielen schien es, als hätten die Bolschewiki tatsächlich ihren «russischen Bebel» gefunden, von dem Lenin so lange gesprochen hatte. Bis Malinowski im Mai 1914 plötzlich ohne jede Erklärung alle Funk­ tionen niederlegte und verschwand. Eine neue Ochrana-Führung hatte dieses Spiel, das auch für sie zum Skandal werden konnte, abgepfiffen und ihren Mann mit einer größeren Abfindung fristlos entlassen. Nur dass dieser nicht mit falschen Papieren ins Ausland ging, wie jeder reine Polizeiagent es zum Selbstschutz getan hätte, sondern in aufgelöstem Zustand zu Lenin nach Krakau eilte, sich dort als Opfer übler Verleum­ dungen präsentierte, die er nicht mehr habe ertragen können, und sich einem Parteigericht stellte, dem Lenin persönlich, flankiert von seinen beiden engsten Adlaten Sinowjew und Fürstenberg-Hanecki, vorsaß. Sie nahmen einige der innerparteilichen Belastungszeugen ins Kreuzverhör, und natürlich auch Malinowski selbst, nur um ihn am Ende in einem vom Juristen Lenin förmlich aufgesetzten Urteilsspruch zwar wegen Ver­ letzung der Parteidisziplin zu rügen, von allen ehrenrührigen oder krimi­ nellen Verdächtigungen aber freizusprechen.33 Tage später brach der Krieg aus.

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Im Gesamtspektrum des europäischen Sozialismus wirkten die Bolsche­ wiki mittlerweile wie eine extremistische Sonderformation, obwohl Lenin sich bis zum Tod Bebels 1913, dem er einen ehrfürchtigen Nachruf wid­ mete, verbal noch immer eng im Windschatten der deutschen Partei be­ wegte und jede offene Kritik an ihr sorgsam vermied. Vielen Beobach­ tern schien der Bolschewismus aber dem militanten Syndikalismus, der in Frankreich und südeuropäischen Ländern seit 1909 einen großen Aufschwung erlebte, näher zu stehen als der zentraleuropäischen Sozial­ demokratie. Zu solchen Schlüssen kam auch der Vorsitzende des Brüsseler Büros der Internationale, Vandervelde, bei einem Besuch in Petersburg Anfang 1914 – sicherlich bestärkt durch die Ansichten führender Menschewiki wie des Duma-Abgeordneten Tschenkeli, der am Vorabend des Welt­ kriegs schrieb, in der jungen Arbeiterschaft Russlands, die jetzt von «grünen» Jungen mit «revolutionärer Gesinnung» und minimaler Bil­ dung dominiert werde, herrsche «Prawdismus, kein Marxismus». Wie in Paris würden auch in Petersburg die aufrechten Sozialisten jetzt «ver­ lacht, während die syndikalistischen Führer in hoher Gunst» stünden.34 Tatsächlich hatte sich ein neuer spontaner Arbeiterradikalismus ent­ wickelt, der in den wochenlangen Streiks auf den sibirischen Goldfel­ dern an der Lena, die im April 1912 in einem Massaker mit über 100 To­ ten endeten, einen ersten Höhepunkt fand. Er nährte sich aus dem ­Zustrom junger, dörflich sozialisierter Arbeiter in die Industriezentren, Bergwerke oder auf die Großbaustellen des Reiches. Diese neuen, viel­ fach bunt zusammengewürfelten Arbeiterschaften spürten inmitten ihrer durchweg miserablen Arbeitsbedingungen etwas von der möglichen Macht, die sie g ­ erade wegen der Hochkonjunktur besaßen. Die Zahl der Streiks im Russischen Reich soll sich von knapp 500 im Jahr 1911 auf über 2000 im Jahr 1912 gesteigert haben, wobei sich immer häufiger poli­ tische Forderungen hineinmischten. Bis zum Kriegsausbruch im ­August 1914 ist von noch einmal über 3500 Streiks die Rede – was wie alle Angaben der späteren sowjetischen Geschichtsschreibung mit Vor­ sicht zu genießen ist.35 Aber der Aufschwung ist unbezweifelbar. Ein ähnliches Bild zeigte sich auch in Polen-Litauen, in Lettland und in eini­ gen kaukasischen Städten. Unter diesen jungen, ungelernten Arbeitern konnten gerade die Bol­ schewiki neue Anhänger werben. Insgesamt strömten ihnen bis 1914 ­einige Zehntausend neue Mitglieder zu. Wie viele dieser bei Kriegsaus­ bruch zur Armee eingezogenen oder in den kriegswichtigen Industrien

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beschäftigten Jungbolschewiken im Frühjahr 1917 noch zum Grund­ stock oder Reservepotential der Partei gezählt werden konnten, lässt sich nicht ermitteln. Immerhin zeigt sich in diesen Daten eine Ratio des Handelns von ­Lenin, das unbeirrbar darauf ausgerichtet war, das Gerüst einer ganz auf ihn selbst ausgerichteten Partei zusammenzuzimmern, die keinerlei Zugeständnisse an politische oder sozialökonomische Zwischenziele ­ machte, sondern in einer Position revolutionärer und ideologischer ­Unversöhnlichkeit verharrte. Das allein hätte Lenin und seine Partei ­allerdings schwerlich über die Position einer radikalen Randströmung hi­nausbringen können. Das konnte erst der Weltkrieg, der  – lange er­ wartet und doch ganz plötzlich – hereinbrach. Während sich diese Sturmwolken zusammenbrauten, war Lenin noch immer ganz in seine innerparteilichen Spaltungsarbeiten vertieft. Zu ­seinem maßlosen Ärger hatte die Internationale für Mitte Juli alle Frak­ tionen des Russländischen Reichs zu einem Einigungstreffen nach Brüs­ sel geladen, im Vorfeld des Treffens des ISB, das sich mit den wachsen­ den Kriegsspannungen beschäftigen sollte. Lenin hielt das eine wie das andere für «Zeitvergeudung» und sandte nur seine engsten Vertrauten, Hanecki (für die probolschewistische Fraktion der polnischen Partei) ­sowie die von ihm persönlich instruierte Inessa Armand, die keinerlei Parteifunktionen innehatte, nach Brüssel. Während die Vertreter aller anderen zehn erschienenen russländischen Parteifraktionen, darunter Plechanow, Trotzki, Martow, Luxemburg und viele andere, sich in An­ wesenheit prominenter Vertreter der Internationale wie Vandervelde, Kautsky und anderer für eine Wiedervereinigung der russischen Sozial­ demokratie aussprachen, verlas Armand nur eine von Lenin aufgesetzte Erklärung, die die anderen Fraktionen beschuldigte, eine Einigung mit der Bourgeoisie anzustreben und den revolutionären Kurs der Partei zu sabotieren. Die klassenbewussten Arbeiter stünden hinter der «Prawda». Lenin hatte Armand eingeschärft, es gehe ausschließlich darum «zu be­ weisen, dass nur wir die Partei sind».36 Als die übrigen Anwesenden ein­ stimmig beschlossen, für den 23. August eine Gesamtrussische Einigungs­ konferenz einzuberufen, enthielt sie sich weisungsgemäß der Stimme. Was Lenins Zuversicht weiter steigern mochte, war die Tatsache, dass es unmittelbar nach der Brüsseler Konferenz in Petersburg neue Streiks und Straßenunruhen gab, die sich gegen den Besuch des französischen Staatspräsidenten Poincaré und der französischen Kriegsmarine richtete. Mit einem Krieg, gar mit einem Weltkrieg, rechnete Lenin, in Krakau

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e­ inen Tagesmarsch von der russischen Grenze entfernt, sieben Tage vor dessen Ausbruch offenbar nicht. In einem Brief an Armand vom 25. Juli 1914 wütete er in gebrochenem Englisch über das sinnlose Partei­ tribunal gegen Malinowski und die Anschwärzungen gegen ihn: «I am so angry, so angry!! Losing of time for such stupid stories!!!» Zwar klagte er: «We are here without news.» Aber die spärlichen Meldungen über die Petersburger Unruhen scheinen ihn in einen Zustand der ­Euphorie versetzt zu haben. Jedenfalls schrieb er Inessa in fast über­ schwänglicher Laune, vielleicht um sie aufzumuntern: «Best greetings for the commening revolution in Russia.»37

3. Menschheitsdämmerung – August 1914

Im Kraftfeld des Weltkriegs

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as historische Kraftfeld und entscheidende Medium, worin der Kommunismus des 20. Jahrhunderts als eine neue politische Bewe­ gung geformt und zu einer geschichtsmächtigen Kraft geworden ist, war der Erste Weltkrieg. Dieser Krieg erschütterte die von den europäischen Mächten dominierte und etablierte Weltordnung und zerriss das bis da­ hin geknüpfte dichte Netz weltwirtschaftlicher Verflechtungen. Im Inne­ ren der kriegführenden Mächte selbst wirkte er als ein großer Gleich­ macher, der alte aristokratische und junge akademische Eliten wie Lilien auf dem Felde wegmähte und tiefgreifende soziale Umschichtungen in Gang setzte. Aber mit seinen konzentrierten, entfesselten Produktivund Destruktivkräften war dieser Krieg auch ein großer Innovator und Mobilisator, und zugleich ein Katalysator aller in diesen Umbruch ein­ fließenden sozialen oder nationalen Bestrebungen. Und nicht zuletzt ­totalisierte er alle ideologischen Strömungen dieses Zeitalters, das eine ganze Weltkriegsepoche eröffnete und zum Brutkasten aller nachfolgen­ den «totalitären» Massenbewegungen wurde, und das nicht nur in Eu­ ropa. George  F. Kennans Formel von der «great seminal catastrophe» be­ tont den «schöpferischen», weit vorausweisenden Charakter und wäre, statt wie üblicherweise als «Urkatastrophe», eher als die «bahnbre­ chende» oder «Gründungskatastrophe» des 20. Jahrhunderts zu über­ setzen. Das Ergebnis war jedenfalls eine wirkliche Weltrevolution, die größte, die es bis dahin gegeben hatte  – mit all den Ambivalenzen und Gleichzeitigkeiten progressiver und retrograder Elemente, die dem Begriff «Re-volution» innewohnen. Der Mechanismus von Ultimaten, Mobilisierungen und Kriegserklä­ rungen, der sich im Juli 1914 in Gang setzte, muss an dieser Stelle nicht rekapituliert werden. Binnen eines Jahres hatten die Kampfhandlungen sich bereits von der Westfront bis ins östliche Mitteleuropa, von der Nordsee bis zum Schwarzen Meer, von den Alpen über den gesamten Balkan bis in den Nahen und Mittleren Osten und ins koloniale

3. Menschheitsdämmerung – August 1914

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Schwarzafrika erweitert. Dieser «Weltkrieg», um den es sich jetzt wirk­ lich handelte, erweiterte seinen Radius noch immer weiter und wurde zum ersten Mal auch unter Wasser und in der Luft geführt. Er entzündete immer neue kleine und große Brandherde ringsum, und je länger er dau­ erte, je weitere Kreise er zog und je mehr Opfer er forderte, umso weniger konnte er beendet werden. Eine Rückkehr zum Status quo ante konnte es nach all den maßlosen Opfern und Verlusten kaum noch ­geben. Im Herbst 1918 kam der Krieg endlich zum Stillstand, aber nur, um sich in eine Unzahl von Umstürzen, Bürgerkriegen, Grenzkriegen und Invasionen, Pogromen und «ethnischen Säuberungen», Depressionen und Inflationen, Hungerkatastrophen und Seuchen aufzulösen. Was im­ mer die antiken oder biblischen Erzählungen als Unheilsmetaphern be­ reit hielten, von der «Sintflut» über die «Büchse der Pandora» bis zu den «Reitern der Apokalypse», erschien damals und erscheint noch heute als einzig angemessene Form der Beschreibung. Es war eine wahrhaftige «Menschheitsdämmerung», wie sie der Titel einer Anthologie deutscher expressionistischer Dichtung 1919 verkündete – mit all den unbestimm­ ten Erlösungshoffnungen, die in dieser Wortschöpfung steckten. Dass dieser Weltkrieg keine unausweichliche Naturkatastrophe und kein metaphysisches Strafgericht war, sondern die Akteure Handlungs­ alternativen hatten, versteht sich von selbst. Auch sind alle neueren Dar­ stellungen mehr oder weniger darin einig, dass es für den Ausbruch und Verlauf des Ersten Weltkriegs  – anders als im Fall des Zweiten Welt­ kriegs – keinen eindeutigen Haupt- oder Alleinschuldigen gab, was nicht heißt, dass alle gleichermaßen Schuld trugen. Wenn dem Deutschen Reich im berüchtigten Paragraphen 231 des Versailler Vertrages die «Kriegs­ schuld» aufgebürdet wurde, dann trug das der besonderen Radikalität seiner Kriegführung Rechnung, aber war selbst schon Teil eines schwelen­ den «Nachkriegs», der die Keime eines zweiten, noch totaler geführten Weltkriegs in sich trug. Das alles macht die Frage nur noch drängender, unter welchen über­ mächtigen Handlungszwängen die Akteure von 1914 gestanden haben. Wie konnten eher besonnene, meistens konservative, keineswegs aben­ teuerlustige Staatsmänner in solcher Weise zu «Schlafwandlern» wer­ den, sich mit derart blindem Leichtsinn in «brinkmanship», in einer Poli­tik am Rande des Abgrunds üben oder sich sehenden Auges – nach dem Wort des deutschen Kanzlers Bethmann-Hollweg – zu einem «Sprung ins Dunkel» verleiten lassen? Das sind nur einige von vielen prägnanten

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Teil IX: Vom Weltkrieg zur Weltrevolution

Formeln, die man zitiert und verwendet hat, um das Unfassbare dieses Umschlags von einem spannungsvollen Frieden in einen globalen und zunehmend «totalen Krieg» zu umschreiben. Diese Formel, die man ab 1917, zuerst in Frankreich, zu verwenden begann, um die vollständige Mobilisierung aller Ressourcen für die Kriegsanstrengung zu bezeich­ nen, wurde zu ­einem weiteren unheilvollen Signum der Epoche. Dabei gab es, abgesehen vom Mord am österreichischen Thronfolger in Sarajevo am 28. Juni 1914, kaum wirklich akute, unüberwindbare Konflikte zwischen den beteiligten Hauptmächten. Die beiden Bünd­ nisse, die sich bei Ausbruch des Weltkriegs gegenüberstanden  – der «Dreibund» zwischen Deutschland, Österreich-Ungarn und Italien auf der einen, die «Triple-Entente» zwischen Frankreich, Russland und Eng­ land auf der anderen Seite  –, waren in Wirklichkeit viel weniger fest ­gefügt, in ihren Ansprüchen und Verpflichtungen weitaus undefinierter und brüchiger als die Militärblöcke des «Kalten Kriegs» vier Jahrzehnte später. Gerade der situative Charakter dieser Dreierallianzen war ein Problem, da er Phantasien nährte, einen der gegnerischen Verbündeten herausbrechen zu können (was der Entente mit Italien auch gelang, den Deutschen aber nicht). Für die eilig hinzurekrutierten Nebenverbünde­ ten, die Türken und Bulgaren auf Seiten der Mittelmächte, die übrigen Balkanstaaten auf der anderen Seite, galt das erst recht. Nicht einmal die beiden zentralen Bündnisachsen, die sich ab 1890 verfestigt hatten – die französisch-russische Militärkonvention und der deutsch-österrei­ chische Zweibund – waren sicher belastbar. Je detaillierter, vielseitiger und methodischer diese «Gründungskata­ strophe» des 20. Jahrhunderts von Generationen von Wissenschaftlern durchforscht und ausgeleuchtet worden ist, desto rätselhafter sieht sie aus. Nicht in der Abfolge und Verkettung der Ereignisse, nicht in den konfligierenden Interessen und Absichten der Hauptmächte, nicht im Charakter der entscheidenden Staatsmänner, nicht in der Fortune oder dem Genius der Schlachtenlenker (oder dem Gegenteil davon), noch in den fieberhaften Aufstiegs- oder den hysterischen Untergangsphantasien der kriegführenden Nationen wird man den Schlüssel zum Geschehen finden  – allenfalls in einer Kombination all dieser und vieler anderer Faktoren. Und jedenfalls bleibt der Gesamtrahmen immer mit zu beden­ ken, in dem sich das alles bewegte: für den die zeitgenössische Literatur seit 1900 den Terminus eines modernen, wesentlich von inneren, sozia­ len und öko­nomischen Entwicklungsdynamiken bestimmten «Imperia­ lismus» geprägt hat.

3. Menschheitsdämmerung – August 1914

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Aber auch das ist natürlich kein Generalschlüssel, sondern nur eine mit hundert Widersprüchen gespickte Formel, die erst einmal zu ent­ falten ist. Dass sie mit Lenins Schrift von 1916 über den «Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus» Generationen von Kommunis­ ten in doktrinäre Sackgassen und auf politische Abwege geführt hat und gerade in der Form eines militanten und globalen «Antiimperialismus» geschichtsmächtig geworden ist, hat für die Entstehung der beiden Welt­ kriege dieses Zeitalters keine ausschlaggebende Rolle gespielt – für ihre historischen Verläufe, Ausgänge und Folgen allerdings dann umso mehr.

Gegen die Strömung Lenins erste Stellungnahme zum Ausbruch des Krieges, nachdem er sei­ ner Internierung als «feindlicher Ausländer» mit Hilfe der österreichi­ schen Sozialdemokraten entronnen war und mit Familie in die neutrale Schweiz hatte übersiedeln können, war fern jeder Klage. Vielmehr war sie von grimmiger Kaltblütigkeit und begann mit dem lapidaren Satz: «Der europäische Krieg, den die Regierungen und bürgerlichen Parteien aller Länder jahrzehntelang vorbereitet haben, ist ausgebrochen.» Es steht nicht da, aber unwillkürlich liest man: «ist endlich ausgebrochen». Denn Lenins Blick war unbeirrbar schon auf den Ausgang des Gemetzels gerichtet: «Je mehr Opfer der Krieg fordern wird, desto klarer werden die Arbeiter den Verrat sehen, den die Opportunisten an der Arbeitersa­ che begehen, desto besser werden sie die Notwendigkeit erkennen, dass man die Waffe gegen die Regierungen und die Bourgeoisie eines jeden Landes richten muss.»1 Bemerkenswert ist bereits die Struktur des Satzes: Je mehr Opfer, desto klarer … Ebenso auffällig ist die Reihenfolge: Erst musste der Ver­ rat der Opportunisten entlarvt werden, dann würden die Arbeiter die Waffe gegen die eigene Regierung richten. Weil die «opportunistischen» Führer der Internationale so beharrlich auf die Einheit der russischen ­Sozialdemokratie gedrängt hatten, hatte Lenin schon den außerordent­ lichen Kongress 1912 in Basel, der ganz im Zeichen des eben ausgebro­ chenen Balkankriegs stand, links liegen lassen. Ebenso hatte er die Dringlichkeitssitzung des Internationalen Sozialistischen Büros, die an­ gesichts der akuten Kriegsgefahr für den 29./30. Juli nach Brüssel einbe­ rufen worden war, boykottiert. Freilich, diese Sitzung hatte auch in einem Offenbarungseid geendet.

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Victor Adler aus Wien beschrieb die Hilflosigkeit der Partei angesichts der unerwarteten, ungezügelten Begeisterung für einen Straffeldzug ge­ gen Serbien. Hugo Haase berichtete namens der deutschen Sozialdemo­ kratie von großen Demonstrationen gegen den Krieg, deutete aber auch an, dass der lange befürchtete, vielmals durchgespielte Krieg des Zaren­ reichs und Frankreichs gegen Deutschland zu einer nationalen Existenz­ frage werde, der die Sozialdemokratie sich werde stellen müssen. Der Mitbegründer der britischen Labour-Party, der linke Keir Hardie, er­ klärte, seine Partei befürworte nach wie vor die Ausrufung eines Gene­ ralstreiks – aber die Gewerkschaften machten nicht mit. So wurde lediglich eine Resolution verabschiedet, die die Arbeiter aller Länder dazu aufrief, gemäß den einstimmig gefassten und ­akklamierten Beschlüssen von Basel ihren Kampf für den Frieden zu verstärken und am 9. August zu einem neuen, großen, entscheidenden Kongress aller euro­ päischen Arbeiterparteien nach Paris zu kommen – statt wie ursprünglich geplant nach Wien. Denn von dort wurde bereits gemeldet, dass die Bom­ bardierung Belgrads unter dem Applaus erregter Massen begonnen hatte, so wie auch in Petersburg kaum eine Woche nach den Streiks und De­ monstrationen ein chauvinistischer Mob den laufenden Mobilisierungen applaudierte. Einen Tag, nachdem die Delegierten aus Brüssel abgereist waren, am Tag des deutschen Ultimatums an Frankreich, wurde in Paris Jean Jaurès von einem Nationalisten erschossen. Nichts hätte sinnträchtiger sein können als diese Abfolge der Ereig­ nisse, die irgendeinem übermächtigen Bann zu gehorchen schienen, dem auch die Gegner des Krieges und der bestehenden Macht- und Gesell­ schaftsordnung sich nicht entziehen konnten. Feigheit, Opportunismus, Verrat? Das alles spielte mit. Aber eine elementare Hilflosigkeit war es auch, gepaart mit einer tiefen inneren Zwiespältigkeit, die keineswegs nur im parlamentarisch eingebundenen Führungspersonal der Sozialisti­ schen Parteien zu finden war oder in den solide reformistisch und auf ­sozialen Zugewinn eingestellten Funktionären der Gewerkschaftsflügel, sondern die sich ebenso in den schwankenden Affekten und Energien ih­ rer einfachen Mitglieder und radikal gestimmten Aktivisten fanden. Die seit 1909 von Syndikalisten, Anarchisten und Linkssozialisten ­geführten Streiks und Barrikadenkämpfe in Spanien, Italien, Frankreich und anderen europäischen Ländern, die sich gegen koloniale Expeditio­ nen, imperialistische Machtdemonstrationen und fieberhafte Rüstungen der eigenen Regierungen gerichtet und mit den unterschiedlichsten so­ zialen und demokratischen Anliegen verbunden hatten, mochten von

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e­ inem hochherzigen Geist des Internationalismus getragen gewesen sein. In Wirklichkeit waren auch sie bereits von tiefen Ambivalenzen geprägt, die sich in ihren führenden Protagonisten wie Gustave Hervé in Frank­ reich oder Benito Mussolini in Italien auch deutlich artikulierten. Statt einem humanitären Pazifismus huldigten diese militanten Anti­ militaristen einem «bewaffneten Pessimismus», wie der französische Ideologe eines neuen, gewaltgeladenen Syndikalismus, George Sorel, ihn als Antidot und Antithese zum faulen liberalen «Fortschritts-Optimis­ mus» gerühmt hatte. Der reine «Mythos» eines großen, alles umstürzen­ den Generalstreiks galt ihm jenseits aller praktischen Erfolgsaussichten als «eine Kraft, die die Seele mit einer Vision des Lebens erfüllt».2 Insofern war es kein Zufall, dass diese «antimilitaristischen» Opposi­ tionen gegen die in koloniale Abenteuer und globale Geschäfte verstrick­ ten bürgerlichen und adeligen Eliten immer wieder in blinden, ziellosen Gewaltorgien implodierten, wie in der «tragischen Woche» 1909 in Bar­ celona. Noch weniger war es ein Zufall, dass gerade die glühendsten Pro­ pagandisten des «sozialen Kriegs» wie Hervé oder Mussolini 1914 dann diejenigen waren, die am entschiedensten für die Ausnützung der kriege­ rischen Mobilmachungen für eine heroische Strategie proletarischer und sozialer, und damit erst wirklich nationaler Machtentfaltung eintraten – und dass sie gerade in dieser Hinsicht, wenngleich in deutlich unterschie­ denen ideologischen Ausprägungen (die man ab 1919 dann «faschistisch» zu nennen begann), zu den eigentlichen Parallelfiguren Lenins wurden. Die Übergänge zwischen Nationalismus und Sozialismus waren den pri­ mären Motiven und Affekten nach überhaupt viel fließender, als ihre ideologischen Ausmünzungen jeweils zu erkennen geben; und etwas Ähnliches gilt für Krieg und Bürgerkrieg. Anthropologisch oder sozial­ psychologisch betrachtet, stillen sie beide ein Verlangen nach Gemein­ schaft und nach ­einer Opferbereitschaft, die (ideell oder auch faktisch) eine andere, neue Hierarchie von Status und Verdienst schafft. Beide be­ freien sie von der Last individueller Verantwortlichkeit für Leben und Tun. Beide durchbrechen sie die Ödnis und Langeweile eines durch­ schnittlichen Alltagslebens. Und beide stellen sie den Tendenzen sozialer Indifferenz kriegerische Tugenden entgegen, «deren Religion nichts Be­ rechnendes anhaftet», sondern «Poesie und Liebe» atmen kann (so Henri Bergson).3 Und alle glänzenden Rhetoriken von Humanität, Brü­ derlichkeit und Zivilisation können nicht verbergen, wie sich gerade un­ ter diesen Deckmänteln das «Unbehagen in der Kultur» breitmachen

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kann (um Freuds klas­sische Diagnose zu zitieren), als ein atavistischer Befreiungswunsch von allen hemmenden, mit Entsagungen verbundenen ethischen Forderungen eines zivilisierten Sozialverhaltens.4 Klassisch ist noch immer die unheimlich-nostalgische Erinnerung, die ein linker Pazifist wie Stefan Zweig ausgerechnet im Jahr 1939 nieder­ schrieb. Es habe im Moment des Kriegsausbruchs 1914, in «diesem ers­ ten Aufbruch der Massen etwas Großartiges, Hinreißendes und sogar Verführerisches» gelegen, etwas, «dem man sich schwer entziehen konnte». Denn jeder Einzelne «erlebte eine Steigerung seines Ichs  …, war eingetan in eine Masse, er war Volk, und seine … sonst unbeachtete Person hatte einen Sinn bekommen».5 In derselben Menge in Wien muss auch Leo Trotzki gestanden haben. Und auch er konnte anderthalb Jahrzehnte später noch – freilich mit käl­ ter analysierendem Blick  – den Sog nachvollziehen, der gerade die er­ fasste, «deren ganzes Leben, tagaus, tagein, in monotoner Hoffnungs­ losigkeit verläuft … Die Alarmglocke der Mobilisierung dringt in ihre Leben wie eine Verheißung … Kann es Pospichil schlimmer ergehen als zu ‹normalen› Zeiten? … Hätten sich zu einer anderen Zeit die Gepäck­ träger, Waschfrauen, Schumacher, Gehilfen und Halbwüchsigen der Vorstadt auf der Ringstraße als Herren der Lage fühlen können? … Das soll nicht paradox genommen sein, dass ich in der Stimmung der Wiener Menschenmenge … jene Merkmale wiederfand, die ich von den Peters­ burger Oktobertagen 1905 her kannte.»6 Damit war ausgesprochen, dass national- und sozialrevolutionäre Aufbrüche sich aus einem sehr ähnlichen seelischen Fonds speisten. Auch Lenin machte sich wenig Illusionen, als er 1922 rückblickend fest­ stellte, «wie hilflos die gewöhnliche Organisation der Arbeiter, auch wenn sie sich als revolutionäre Organisation bezeichnet, angesichts eines tatsächlich heraufziehenden Krieges ist». Für ihn schien es fast gesetz­ mäßig, dass in einer solchen Situation «die gewaltige Mehrheit der Werktätigen [die Frage der ‹Vaterlandverteidigung›] unvermeidlich zu­ gunsten ihrer Bourgeoisie entscheiden wird».7 So wie die Arbeiter im Alltag der Ausbeutung von sich aus nur ein «tradeunionistisches», also bürgerliches Bewusstsein entwickeln konnten, und so wie sie sich unwei­ gerlich in den Netzen eines kleinbürgerlichen Demokratismus verfangen mussten, so optierten sie im Kriegsfall «unvermeidlich» patriotisch. Eben deshalb konnte es eine «Arbeiterklasse» im politischen Sinne ohne revolutionäre Partei nicht geben. Umgekehrt musste die Partei diese spontanen Impulse der Massen unbedingt auf ihre Mühlen len­

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ken – Impulse, die im Falle eines Krieges einen weit existentielleren Cha­ rakter trugen als alle Fragen der alltäglichen Existenz. Gerade in dieser Unterbrechung des stumpfen Gangs der kapitalistischen Ausbeutung und Unterdrückung, die aus sich heraus die Fermente ihrer Umwälzung nicht zu produzieren vermochten, lag für Lenin die epochale Chance, die dieser Weltkrieg bot. So schwor er 1916, während Schlachten zwischen Millionenarmeen tobten, seine verbliebenen Anhänger auf ein weltrevo­ lutionäres Bürgerkriegstheater ein, das alle hergebrachten Horizonte der sozialistischen Parteien überschritt und mit «Klassenkämpfen» herge­ brachten Stils nur noch sehr vermittelt zu tun hatte. Darin war, so könnte man sagen, auch die ganze künftige Entwicklung der Kommunistischen Internationale und ihrer Mitgliedsparteien vorgezeichnet, in der die Kämpfe der Arbeiter mit den Kapitalisten nur eine ganz untergeordnete Rolle spielen würden. «Wer eine ‹reine› soziale Revolution erwartet», schrieb Lenin, «der wird sie niemals erleben». Neben oder statt den Kämpfen von Fabrik­ arbeitern seien vielmehr zu erwarten: Aufstände unterdrückter Nationen und Nationalitäten; Angriffe halbproletarischer bäuerlicher Massen ge­ gen Grundeigentümer und Kirche; Soldatenmeutereien gegen sämtliche angestammten Gewalten; sowie Rebellionen kleinbürgerlicher Schichten mit all ihren «reaktionären Phantastereien», wie sie in Russland von den antisemitischen Pogromisten der «Schwarzhunderter» vertreten wur­ den, im Westen von den entstehenden, vorerst noch namenlosen faschis­ tischen Bewegungen.8 Die Bolschewiki, hieß das, mussten bereit sein, den Tiger der «dunk­ len», anarchischen, vielleicht sogar reaktionären Leidenschaften der Massen zu reiten. Und sie mussten diesem Tiger sogar die Sporen geben, um die alte Welt vollends zu zerreißen und inmitten des Tumults im ­eigenen Namen nach der Macht zu greifen. Anders – vielleicht nie. Fern jeder bloßen pazifistischen «Kriegsgegnerschaft» zeigte Lenins ­Politik eines «revolutionären Defätismus» sich daher auch von Anfang an als ein revolutionärer Bellizismus allergrößten Formats – eine Politik, mit der er sich wieder einmal und mehr als je in eine Position glänzender Isolierung begab. Die «einzig richtige proletarische Losung», die er von Beginn an ausgab und mit äußerster Verbissenheit gegen jegliche Aufoder Abweichung selbst der Handvoll seiner engsten verbliebenen Par­ teigänger verteidigte, war eben die Losung der «Umwandlung des gegen­ wärtigen imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg».

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In einem Furioso von Artikeln, Vorträgen und Briefen baute er diese Position nach allen Seiten hin immer weiter praktisch und theoretisch aus. Einer Versammlung russischer und schweizerischer Sozialisten in Bern am 1. Oktober 1914 erklärte er, dass dieser Krieg der lange erwar­ tete Krieg der imperialistischen Mächte sei, «in dem es ganz und gar nicht wichtig [ist], wer der Angreifer ist». Er berief sich auf die Resolutionen der Internationale von Stuttgart 1907 bis Basel 1912, worin die «Pflich­ ten in einem bereits ausgebrochenen Kriege klar angegeben seien», und zwar durch das Beispiel der russischen Revolution von 1905, die den Krieg gegen Japan mit Massenstreiks und bewaffneten Meutereien offen­ siv bekämpft habe, vor allem aber durch das Vorbild der Pariser Com­ mune von 1871. Die Commune aber – «das ist der Bürgerkrieg».9 Alexander Schljapnikow, seinem Verbindungsmann in Stockholm, schärfte er ein, sich beim Parteitag der schwedischen Sozialisten jedem Ruf nach «Frieden» und Wiederherstellung der Internationale zu wider­ setzen: «Die Epoche des Bajonetts ist angebrochen  …, folglich muss auch mit solcher Waffe gekämpft werden.» Im Ruf nach «Frieden» fän­ den die klugen Kapitalisten und die Opportunisten sich zusammen, um den Kapitalismus in reformierter Form wiederherzustellen. Ganz im Ge­ gensatz dazu müsse dieser Krieg unbedingt «ausgenutzt werden …, um den Untergang des Kapitalismus zu beschleunigen».10 «Sozialpazifisten» wie Kautsky oder Haase in Deutschland oder Mar­ tow in Russland, die für einen «demokratischen Frieden» und einen Ab­ bruch des Kriegs «ohne Annexionen und Kontributionen», also für eine Rückkehr zum Status quo ante eintraten, waren somit noch viel gefähr­ licher und verachtungswürdiger als die zahllosen «Sozialpatrioten» aller Länder, die sich eine zivilisatorisch verbrämte «Vaterlandsverteidigung» auf die Fahnen geschrieben hatten, wie auch ein Gutteil der russischen Sozialdemokraten es tat, die es in der Regel allerdings vorzogen, sich statt an die Seite der zaristischen Regierung an die ihrer französischen Genossen zu stellen, angeführt von Plechanow in Genf, der (wie Lenin spitz schrieb) mit seinen Ausfällen gegen den deutschen Militarismus «ein französischer Chauvinist» geworden sei.11 Allen diesen Opportunisten und Verrätern gegenüber musste sich die revolutionäre Partei vollkommen unbeugsam zeigen. Sie musste mit ab­ soluter Standhaftigkeit für eine Politik des «revolutionären Defätismus» eintreten, also für die Niederlage der eigenen Regierung und die Um­ wandlung des Weltkriegs in einen Bürgerkrieg, und dann auch gleich in einen europäischen Bürgerkrieg, an dessen Ende nur «die Gründung der

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republikanischen Vereinigten Staaten von Europa» stehen konnte12 als die Vorform einer Union Sozialistischer Sowjetrepubliken Europas. Da­ hinter ging kein Weg zurück. Diese Politik musste auch international ­offensiv vertreten und propagiert werden, in Form eines klaren Bruchs mit der alten Internationale und Vorbereitungen zur Gründung einer neuen, dritten Internationale. Deshalb stießen bei Lenin auch alle auf Granit, die – wie Clara Zetkin als linke Flügelfrau der deutschen Sozialdemokratie oder Angelica Bala­ banoff als Vertreterin der italienischen Linkssozialisten  – im Frühjahr 1915 den Versuch machten, durch eine Konferenz mit zwei Dutzend Frauen aus allen kriegführenden Ländern zu zeigen, «dass die Interna­ tionale … als Glaube, Überzeugung und leuchtendes Ideal weiterlebte». Zu dieser Konferenz in Bern kamen, wie Balabanoff sich erinnerte, als russische Delegierte «Lenins und Sinowjews Frauen und noch eine dritte Bolschewikin» – nur um sich gegen jede Deklaration zu sperren, in der die Losung der Verwandlung des Kriegs in den Bürgerkrieg fehlte. «Die Delegierten saßen aufgebracht und entmutigt da und waren bereit, un­ verrichteter Dinge abzureisen  … Schließlich wurde die Sitzung unter­ brochen und Clara Zetkin ging in das Café, wo Lenin sein Quartier auf­ geschlagen hatte, um einen Ausweg zu finden.» Nach stundenlangen Verhandlungen konnte die Friedensresolution dann doch noch verab­ schiedet werden, allerdings nur unter der Bedingung, dass die leninisti­ sche Resolution gleichberechtigt in den Bericht aufgenommen wurde. Exakt das gleiche Spiel wiederholte sich kurze Zeit später, als sich Ver­ treter der sozialistischen Jugendbewegungen am gleichen Ort trafen; und nicht anders würde es bei den beiden Konferenzen der sozialisti­ schen Kriegsgegner in Zimmerwald im Herbst 1915 und Kiental (beides in der Schweiz) im Frühjahr 1916 sein. «Während ein jeder von uns in höchster Bedrängnis jede Einzelheit der entsetzlichen Tragödie betrach­ tete …, schob Lenin schon die Figuren auf seinem Schachbrett herum, Heer gegen Heer, das Auf und Ab der Siege und Niederlagen», um sein Ziel zu erreichen: «die Spaltung der Arbeiterklasse in der ganzen Welt und damit die Gründung einer neuen Internationale, die auf bolschewis­ tischen Auffassungen und Methoden beruhen sollte»  – so Balabanoff, die 1919/20 Lenin als erste Sekretärin der neuen Moskauer Internatio­ nale dienen sollte, um danach das Land entmutigt zu verlassen.13

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Deutsch-bolschewistische Kollusionen Wenn der Kampf für «die Niederlage der Zarenmonarchie» als «der re­ aktionärsten und barbarischsten Regierung, die … die größten Bevölke­ rungsmassen Europas und Asiens unterjocht», seiner Natur nach eine welt- und völkerbefreiende Tat war und daher das erste Ziel der Bolsche­ wiki sein musste, ergaben sich unvermeidlich problematische Nachbar­ schaften und Interessensgemeinschaften, die aber auch vollkommen neue Handlungsmöglichkeiten eröffneten. Denn auch die deutschen und österreichischen Sozialdemokraten be­ riefen sich bei der Unterstützung der Kriegsanstrengungen ihrer Länder ja auf die alte, von Marx, Engels und Bebel (scheinbar) klar geforderte Politik des Kampfs gegen den Zarismus, «den blutigen Hort der europä­ ischen Reaktion, den Feind allen Fortschritts und aller Kultur, den Tod­ feind ­aller Demokratie und aller Freiheit». Und in den Resolutionen des Internationalen Kongresses 1912 in Basel konnten sie für diese Position durchaus Unterstützung finden – so wenn darin der Zarismus noch ein­ mal als «die Hoffnung aller reaktionären Mächte Europas» und «der grimmigste Feind der Demokratie» gegeißelt wurde, «dessen Untergang herbeizuführen die gesamte Internationale als eine ihrer vornehmsten Aufgaben ansehen muss».14 Nur unter Berufung auf diese vermeintlich eindeutigen Bekundungen der gesamteuropäischen, einschließlich der französischen und der rus­ sischen Sozialdemokratie hatten die SPD-Führer im August 1914 die Kriegserklärung des Deutschen Reichs an Frankreich und England als «Bundesgenossen des Zarismus» rechtfertigen können. Erst wenn es ge­ linge, Frankreich und England daran «zu verhindern, die Niederwerfung des Zarismus aufzuhalten», könne der Weg freigemacht werden zu der von jeher angestrebten Verständigung der «drei großen Kulturnationen» England, Frankreich und Deutschland.15 Im Klartext hieß das, dass die sozialdemokratische Parteiführung im Westen für einen Status-quo-Frie­ den eintrat, ohne allerdings, wie Scheidemann später klagte, «jenseits des Kanals oder der Vogesen eine Hand zu finden, die bereit gewesen einzuschlagen».16 Nach Osten dagegen eröffnete das proklamierte Ziel einer «Befreiung der Nationen … vom Moskowitertum»17 Spielraum für politische Manöver und militärische Aktionen größten Stils. Diese antirussische Rhetorik ließ sich wiederum mühelos mit der anti­ britischen Politik des späteren Staatssekretärs des Äußeren Arthur Zim­

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mermann verbinden, der im Herbst 1914 schon darauf hingewiesen hatte, dass ein Sonderfrieden mit Russland kaum mehr als ein Waffen­ stillstand sein werde und nur auf Kosten der engsten Verbündeten (Ös­ terreich und Türkei) erkauft werden könne. Für einen «Krieg bis zum äußersten» gegen England, wie ihn die öffentliche Meinung fordere, solle man sich daher im Westen (nach dem Rückschlag an der Marne) auf ein Halten der Front verlegen. Umso energischer müsse die Entschei­ dung zunächst im Osten forciert werden, wo eine kombinierte Politik von Krieg und Revolutionierung zu bedeutenden Erfolgen führen könne.18 Aus den dort zu gewinnenden Ressourcen und Rückräumen könne dann der «Krieg bis zum äußersten» gegen England und Frank­ reich siegreich geführt werden. Das Kalkulieren mit einer «Revolutionierung» Russlands war, auch weil die Erfahrungen von 1905 noch in frischer Erinnerung waren, in die Überlegungen der deutschen Reichsleitung als eine stille Größe jederzeit eingestellt – so wenn Reichskanzler Bethmann-Hollweg 1913 in einem Privatbrief schrieb, man müsse, um in Kenntnis der militärischen Kräf­ teverhältnisse noch ruhig zu schlafen, «schon einen guten Teil Gottver­ trauen haben, und auf die russische Revolution als Bundesgenossen rechnen».19 Sein Adlatus Kurt Riezler, der in der Folge zum «Beauftragten für po­ litische Kriegführung» ernannt wurde, sah im Russischen Reich eigent­ lich eine Art Vorbild und zugleich ein natürliches Pendant des Deutschen Reichs. Russland habe «mehr als alle Völker der Gegenwart Grund, an seine Ewigkeit zu glauben», schrieb er in seinem (unter Pseudonym ver­ öffentlichten) Hauptwerk «Grundzüge der Weltpolitik in der Gegen­ wart», das unmittelbar vor Kriegsausbruch erschien.20 Für einen Remis­ frieden und Schulterschluss mit Russland wäre er sogar bereit gewesen, Österreich und die Türkei als «Liquidationsmasse» in den Verhand­ lungstopf zu werfen.21 Eben aus dieser tiefen Bewunderung hatte er das Russische Reich aber als einen auf Deutschland lastenden Alp gesehen und im Dezember 1914 begonnen, sich Gedanken zu machen, wie dieser Koloss, da er militärisch nicht zu besiegen war, von innen geschwächt und das Zarentum in einen moralischen Zusammenbruch getrieben wer­ den könne.22 Im Januar 1915 trug er dem Reichskanzler eigene, recht zynisch klin­ gende «Vorschläge wegen Organisation russischer Meutereien durch procentuale Beteiligung polnischer Juden» vor.23 Die Fronten im Osten verliefen großteils ja durch das jüdische «Ansiedlungsgebiet»; und eine

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der Geheimpolitiken des Deutschen Reichs war es, mit Hilfe der Zionis­ tischen Organisationen in Berlin die Juden zur Auflehnung gegen das Zarentum aufzurufen und ihnen für alle ihre Autonomiebestrebungen wie für Siedlungspläne in Palästina den Schutz des deutschen Kaisers zu offerieren.24 Es war somit alles andere als überraschend, dass die deutsche Reichs­ regierung sich höchst aufgeschlossen zeigte, als Ende 1914/Anfang 1915 einige ehemalige russische Sozialdemokraten in Denkschriften vorschlu­ gen, die Politik einer «Revolutionierung» Russlands offensiv voranzutrei­ ben. Der prominenteste war der jüdische Sozialist Alexander Helphand (Parvus), der mit Trotzki 1905 an der Spitze des Petersburger Sowjet ge­ standen hatte, inzwischen Mitglied der deutschen Sozialdemokratie war und jetzt vor allem mit dem deutschen Botschafter in Kopenhagen in ei­ ner engen, fast vertrauten Beziehung stand. Ein anderer war der estnische Revolutionär Alexander Kesküla, der 1905/06 für den bolschewistischen Untergrund gearbeitet hatte, nun in der Schweiz lebte und mit dem deut­ schen Botschafter in Bern in regelmäßigem Kontakt stand.25 Noch weniger überraschend ist, dass beide als das Kernstück einer ak­ tiven Revolutionierungspolitik außer der Förderung nationalrevolutio­ närer Gruppen von Finnland bis zum Kaukasus sowie der Organisatio­ nen jüdischer Sozialisten auch die Herstellung einer Verbindung zu den defätistischen russischen Sozialdemokraten vorschlugen und vor allem zu Lenin als dem Führer der bolschewistischen Partei. Dass Lenin auf diese diskreten Anbahnungen einging, ist noch weniger überraschend, und im Wesentlichen ist man dabei nicht auf Vermutun­ gen angewiesen. Eher kann man sich wundern, in welch sensationell auf­ gebauschter Weise über das «deutsche Gold» geraunt wird, das den ­eigentlichen Kitt für jenen «Teufelspakt» (Sebastian Haffner) geliefert haben soll, der die Durchschleusung Lenins und seiner Gruppe im «plombierten Zug» im April 1917 ermöglicht und den Bolschewiki erst den Weg zur Macht geebnet habe. Aber man kann sich auch umgekehrt wundern, mit welch frommer Scheu ein Gutteil der akademischen Ge­ schichtsschreibung diese realpolitisch bedeutsame, in ihren Grund­zügen klar nachweisbare Kollaboration zwischen der deutschen Reichsleitung und Lenins Exilorganisation immer wieder ins rein Episodische und je­ denfalls Nebensächliche abdrängt.26 Grundsätzlich hatten die russischen Sozialisten aller Richtungen, allen voran die jetzt äußerst patriotisch auftretende Partei der Sozialrevolu­

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tionäre (SR), 1904/05 keinerlei Bedenken gehabt, die ihnen angebotenen Unterstützungen der japanischen Regierung anzunehmen, die der poly­ glotte Konsul Akashi in Stockholm wie Manna herabregnen ließ. Frei­ lich hatte es sich damals um einen vom Zarentum willkürlich entfessel­ ten Eroberungskrieg in Asien gehandelt, während Russland jetzt Teil ­eines Bündnisses mit den westlichen Demokratien gegen den deutschen Machtanspruch in Europa war. Wenn schon, würde man diskrete Sub­ ventionen aus Pariser oder Londoner Schatullen, wie sie 1917 dann auch flossen, annehmen. Die Annahme deutscher oder österreichischer Sub­ ventionen dagegen galt als ein Fall von flagrantem Landesverrat. Tatsächlich lag die Bedeutung der Zusammenarbeit zwischen Lenin und der deutschen Reichsleitung vor dem und im Revolutionsjahr 1917/18 höchstens in zweiter Linie in den (nicht unbeträchtlichen) Geldtransfers, die es in direkter und indirekter Form gegeben hat. Vielmehr ging es in erster Linie um die Eröffnung einer politischen Handlungslinie und Her­ stellung einer Kräftekonstellation, die mitentscheidend sein würde, um Deutschland eine letzte Chance auf Sieg im Weltkrieg zu eröffnen und die Bolschewiki an die Macht zu tragen bzw. dort zu halten. Diese Kon­ stellation bzw. Kollaboration reichte denn auch weit über Krieg und Niederlage, Revolution und Konterrevolution hinaus, wie noch zu zei­ gen sein wird. Das bolschewistische Machteroberungsprojekt und der Aufstieg der UdSSR zu einer alten Weltmacht neuen Typs waren auf essentielle, viel­ leicht sogar existentielle Weise mit den Dynamiken des deutschen «Griffs zur Weltmacht» in den beiden Weltkriegen verbunden – der seinerseits entscheidend von einer Verbindung mit einem wiederhergestellten und ­reorganisierten Russländischen Staatskomplex und einem wie auch im­ mer politisch gestalteten Zugriff auf dessen Rückräume und Ressourcen abhing. Diese mehrfach durchbrochene, von extremen Ausschlägen durchzogene, und dennoch starke, zeitweise beherrschende Magistrale ­einer deutsch-russischen Verbindung auf der Linie Berlin-­Moskau (und vice versa) in das Kräftespiel der Weltmächte, die Peripetien der Weltpoli­ tik und die Krisen der Weltwirtschaft der ersten Jahrhunderthälfte einzu­ zeichnen, ist noch immer ein geschichtswissenschaftliches Desiderat erster Ordnung.27 Das eben war die globalstrategische Weichenstellung, die Lenin 1915 kaltblütig eingeleitet hat  – in einem Moment, da seine Verbindungen nach Russland zum großen Teil abgebrochen waren und er sich auf sei­ nen winzigen Zürcher Hausstaat mit Frau, Schwiegermutter und einer

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Handvoll von Helfern zurückgeworfen sah. Das Notizbuch Krupskajas, die gemeinsam mit Sinowjews Frau Lilina das Sekretariat bildete, enthielt 1915/16 gerade noch zwanzig operative Adressen in Russland. Die An­ laufstelle des «Russischen Büros», also der Inlandsführung der Partei, befand sich in der Petrograder Wohnung von Lenins älterer Schwester Anna (Tarnname «James») und ihres Mannes Mark Jelisarow, leitender Angestellter einer Versicherungsgesellschaft. In dieser Wohnung lebte auch Lenins jüngere Schwester Maria Uljanowa, die das lokale Sekreta­ riat bildete.28 Aber selbst unter den radikalsten europäischen Kriegsgegnern  – die bei der Konferenz von Zimmerwald Anfang September 1915, wie Trotzki bemerkte, ohnehin in vier Fiaker passten – fand Lenin sich mit seinem Defätismus bzw. der manischen Bürgerkriegsrhetorik fast völlig isoliert, sodass er sogar Mühe hatte, seine engsten Par­teigänger wie R ­ adek oder den jungen Münzenberg einigermaßen auf ­Linie zu halten. Kurz darauf schickte Lenin Jakub Hanecki, der seit der Krakauer Zeit so etwas wie der Majordomus seines Haus- und Parteistaats war, von Zürich nach Kopenhagen. Schon im Oktober nahm dieser unter seinem Familiennamen Fürstenberg als Kompagnon und Geschäftsführer an der Gründung einer ins Kopenhagener Handelsregister eingetragenen Im­ port-Export-Firma teil, die Alexander Helphand mit dem professionel­ len Handelsagenten des Berliner Generalstabs Georg Sklarz als Drittem im Bunde initiiert und mit einem Kapital von 40 000 Kronen ausgestat­ tet hatte. Alles war ­offenkundig genau vorbereitet. Hanecki war keine periphere Person. Als Sohn einer Bankiersfamilie und umsichtiger Orga­ nisator aller Verbindungen und Transaktionen Lenins in seinen letzten Exiljahren bis zur Rückkehr 1917, wird er nach der Oktoberrevolution als erster Chef der Zentralbank und ­Organisator des Außenhandels­ monopols der Sowjet­republik sowie als ­Hüter des für weltrevolutio­ näre Zwecke gehorteten Schatzes im Keller des Moskauer Kreml wei­ terhin die Rolle eines Schatzmeisters Lenins spielen.29 Über die weitgespannten und wegen des Blockadebruchs äußerst ge­ winnträchtigen Transaktionen dieses Kopenhagener Handelskontors  – und weniger über direkte Geldtransfers aus den Reptilienfonds der deut­ schen Reichsregierung  – dürfte das Gros der Finanzierungen bis zum April 1917 gelaufen sein. Die Geschäftspartner in Petrograd waren eben­ falls Bolschewiki, wie Samuil Sachs (Gladnev), die dort Firmen unter­ hielten und die Überschüsse aus den Verkäufen der lukrativen Schmug­ gelware (von Kondomen bis Bleistiften) durch falsche Verrechnungen

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abzweigten und auf Konten leiteten, die der Rechtsanwalt Mieczyslaw Koslowski (aus polnischem Schlachta-Adel stammend, später Mitglied der Tscheka und des Obersten Revolutionstribunals) für die Petrograder Parteiorganisation verwaltete.30 Daneben gab es noch eine Reihe von weiteren informellen Verbindun­ gen, die Lenins Organisationsnetz, so dünn es war, über den Krieg ­hinweg finanziell und organisatorisch geholfen und mit den deutschen Instanzen verknüpft haben. Darin spielten einige schweizerische und deutsche Sozialdemokraten ein zentrale Rolle, so etwa der vermögende Sozialist Carl Moor oder der Engels-Biograf Gustav Mayer, die beide in aller Form für die deutschen (Moor zugleich auch für die österreichi­ schen) Behörden engagiert waren. Die Liste dieser Namen lässt sich noch um einiges verlängern; und nichts an den Motiven der Beteiligten ist besonders undurchsichtig oder suspekt.31 Alexander Helphand hatte es in der Türkei während der Balkankriege nach genau demselben Muster wie jetzt in Kopenhagen mit Kriegsliefe­ rungen und Blockadehandel zu einem Vermögen gebracht. Doch so zwielichtig seine elefantöse Gestalt mit ihren ausgestellten Zügen eines neureichen Lebemanns wirkte, so ernst war «Parvus» (der «Kleine», so sein ironischer Kampfname) als ein sozialistischer Revolutionär inter­ nationalen Formats zu nehmen. Als marxistischer Theoretiker und uner­ müdlicher Publizist, der die von ihm gegründeten Zeitschriften zeitweise selbst vollschrieb, wirkte er fast wie eine Kombination aus Kautsky, Trotzki und Lenin. Aber darüber hinaus war er auch ein politischer Kopf mit zielsicherem Instinkt. Der «Plan», den er im August 1915 (vor dem Treffen mit Lenin) der deutschen Reichsleitung unterbreitete und der Meutereien in der Armee, Streiks in den Rüstungsindustrien, Hungerdemonstrationen der Frauen, Sabotageakte, Attentate und separatistische Umtriebe in der gesamten nichtrussischen Peripherie prognostizierte bzw. zu schüren versprach, mochte reichlich großspurig wirken. Angesichts der Szenen im Februar/ März 1917 nahm er sich geradezu prophetisch aus. Und immerhin: Von den 1 Million Goldmark, die die Reichsregierung im Dezember 1915 für diese Zwecke freigab, scheinen größere Beträge ihre Adressaten erreicht zu haben. Jedenfalls zeigten sich 1916 im weiten Binnen- und Rück­ raum des Reichs und hier und da auch an den Fronten die von Hel­ phand prophezeiten Symptome einer wachsenden Unruhe, und es kam zu einer Serie von Streiks in den Petersburger Rüstungsfabriken, in de­ nen vor allem Vertreter der ad hoc gebildeten sozialdemokratischen

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«Meshrayonzy», einer lokalen Zwischenfraktion, eine erhebliche Rolle spielten. Das lag auf der Linie von Helphands Bemühungen, mit den verschiede­ nen sozialdemokratischen Haupt- und Zwischenfraktionen in Russland und im Exil ins politische Geschäft zu kommen, nicht nur mit den Petro­ grader «Meshrayonzy», sondern auch mit Trotzki und der Gruppe um die von Martow unterhaltene Pariser Zeitschrift «Nasche Slowo», mit unzufriedenen Menschewiken wie Uritzki oder Surabow oder mit einigen Jungtürken der Lenin-Fraktion wie Bucharin, Pjatnitzki oder Rakowski. So versuchte er für ein von ihm 1915 gegründetes und finanziertes Kopen­ hagener «Institut zur Erforschung der sozialen Folgen des Krieges» einen Mitarbeiterstab aus russischen Sozialisten verschiedener Fraktionen zu engagieren und gleichzeitig einige Petrograder Journalisten zur Grün­ dung einer legalen sozialistischen Zeitung zu bewegen.32 Wenn ihm das misslang, so war es dennoch wirksam: Denn es war dieses lose interfrak­ tionelle Netzwerk, das Lenin nach seiner Rückkehr 1917 zur Erweiterung seiner bolschewistischen Basis für sich einspannen konnte. Irgendwelche direkten Beziehungen oder Absprachen zwischen ihm und Helphand oder mit deutschen Stellen waren dafür nicht notwendig. Die Politik der «Revolutionierung» des Russischen Reiches war auf deutscher Seite nur eine Aktionslinie unter mehreren, die im Erfolgsfall allerdings, wie Graf Brockdorff-Rantzau in einer Denkschrift vom De­ zember 1915 an den Reichskanzler schrieb, weiteste Perspektiven eröff­ nete: «Der Sieg und als Preis der erste Platz in der Welt ist aber unser, wenn es gelingt, Russland rechtzeitig zu revolutionieren und dadurch die Koalition zu sprengen.» Dafür seien auch die allerradikalsten Mittel nunmehr gerechtfertigt, da der «schwache und unaufrichtige Herrscher» (der Zar) jedes «Recht auf Schonung von unserer Seite verwirkt» habe.33 Angesichts der relativ engen Verwandtschaft von Wilhelm («Willy») und Nikolaus («Nicky») als kaiserliche Cousins war das eine Strategie von erstaunlicher dynastischer Rücksichtslosigkeit. Gleichzeitig versuchte die deutsche Politik, auf traditionellere Weise die russische Regierung doch noch zu einem Separatfrieden zu bewe­ gen: durch verdeckte Einkäufe in die konservative Petersburger Presse sowie über Kontakte mit einer als «deutschfreundlich» eingeschätzten Fraktion von großen Wirtschaftsleuten, abgehalfterten Politikern so­ wie Teilen des Hofadels. Diese Option, nämlich den Knoten durch einen großen Ausgleich mit Russland zu durchschlagen und das notfalls auch

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auf Kosten Österreich-Ungarns und des Osmanischen Reiches, hätte ein beträchtlicher Teil der konservativen deutschen Öffentlichkeit, der Industrie, der politischen Beamtenschaft und des Militärs letztlich be­ vorzugt. Allerdings darf diese weitgespannte, vielfach imaginäre deutsche «Welt­ politik» auch nicht überzeichnet werden. Zu einem Gutteil war sie ein­ fach aus der Not der Isolation und der Abschottung von den Weltmärk­ ten geboren, und sie trug eher Züge einer hastigen Improvisation als ­einer groß angelegten Strategie. Den Löwenanteil der für subversive ­Aktionen aufgewendeten deutschen Gelder und Energien verschlangen die zahlreichen, meist erfolglosen Unternehmen zur Aufwiegelung des Britischen Empire von Ägypten über Persien und Afghanistan bis Indien sowie die Versuche, den «Acheron der farbigen Völker» in den französi­ schen Kolonien aufzurühren. Dagegen standen für die Revolutionierung des Russischen Reiches deutlich beschränktere Mittel zur Verfügung.34 Doch die Politik der «Revolutionierung» Russlands und das Spiel mit den Bolschewiki war diejenige Karte im deutschen Spiel um die Welt­ macht, die stach. Legt man nur die gesicherten Einzelteile dieses Puzzles zusammen, ergibt sich ein ziemlich eindeutiges Bild, das spekulativer ­Interpolationen kaum bedarf  – so groß die dokumentarischen Lücken auch sind, weil viele Spuren auf bolschewistischer Seite gelöscht worden sind, vielleicht schon im Sommer 1917, in der Zeit der Anklage der Ke­ renski-Regierung gegen Lenin und seine Partei als «deutsche Agenten»; oder nach Lenins Machteroberung, als er sich in der Zeit des Brester Waffenstillstands und Sonderfriedens dieses Vorwurfs immer noch drin­ gend entledigen musste; oder spätestens in der Ära Stalins, dessen An­ kläger und Folterknechte die noch überlebenden Hauptbeteiligten wie Hanecki, Marchlewski oder Radek (alle polnisch-jüdischer Herkunft) im Großen Terror 1937/38 schriftliche oder auch öffentliche Geständ­ nisse ablegen ließen, dass sie schon seit der Zeit des Ersten Weltkriegs «deutsche Agenten» gewesen zu sein, um sie anschließend zu erschießen.

Imperialismustheorie als Realpolitik Dass die Niederlage Russlands einen Sieg Deutschlands bedeutete, und dass eine revolutionäre Politik dies in Kauf zu nehmen hatte, weil «der Zarismus … hundertmal schlimmer als das Kaisertum» sei, konnte Le­ nin nur intern so offen aussprechen.35

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Teil IX: Vom Weltkrieg zur Weltrevolution

In der öffentlichen Propaganda brauchte es eine Brückenargumenta­ tion, die er in einem Artikel «Über den Nationalstolz der Großrussen» auch lieferte. «Man kann im 20. Jahrhundert … nur dadurch das ‹Vater­ land verteidigen›, dass man mit allen revolutionären Mitteln gegen die Monarchie, die Gutsbesitzer und Kapitalisten des eigenen Vaterlandes, d. h. gegen die schlimmsten Feinde unserer Heimat kämpft …» Aus einer allgemeinen Feststellung wurde so in einem Satz eine sehr spezifische: Denn anders als den «schlimmsten Feinden unserer Heimat», den kos­ mopolitisch verflochtenen Monarchen, Adeligen und Kapitalisten, sei «uns großrussischen Proletariern das Gefühl des nationalen Stolzes», der Liebe für «unsere Sprache und unsere Heimat», alles andere als fremd. Im Gegenteil, «wir» seien die Erben einer stolzen revolutionären Tradition, wie sie etwa Tschernyschewski vertreten habe, als er sagte: «Eine erbärmliche Nation, eine Nation von Sklaven, von oben bis un­ ten …» – das sei das zaristische Russland von jeher und noch immer. Die­ ses Sklaventum abzuschütteln, «ein freies und unabhängiges, ein selb­ ständiges, demokratisches, republikanisches, stolzes Großrussland» zu errichten, das gerecht nach innen und mächtig nach außen sei und das mit seinen nicht-russischen Nationalitäten in einen freien, gleichberech­ tigten, neuen Bund eintrete – das eben heiße, das Vaterland wahrhaft zu verteidigen.36 Abseits solch virtuoser Wortspiele bedurfte das praktische Eintreten für die Niederlage des eigenen Landes und damit ziemlich sicher auch der westlichen Kriegskoalition sowie der Übergang zu einer mühsam be­ mäntelten Kollaboration mit dem Kriegsgegner einer tieferen theoreti­ schen Begründung. Das war der Grund, warum Lenin sich in der ersten Hälfte des Jahres 1916 in die Zürcher Bibliothek zurückzog und eine theoretische Schrift über den «Imperialismus als das höchste Stadium des Kapitalismus» verfasste. So verblüffend es klingt: Auch diese Schrift konnte (wie frühere Hauptschriften Lenins) im zaristischen Russland unter Pseudonym legal veröffentlicht werden. Die Literatur, auf die Lenin sich primär bezog – so die sozialliberale Imperialismus-Kritik des englischen Publizisten und Ökonomen John A. Hobson sowie die Schriften sozialdemokratischer Theoretiker wie Karl Kautsky, Rudolf Hilferding und vor allem Rosa Luxemburg –, behan­ delte vor allem den Kolonialismus und die Globalisierung der kapitalis­ tischen Ausbeutungsverhältnisse, statt etwa eine Erklärung für den direk­ ten, mörderischen Zusammenstoß der imperialistischen Hauptmächte auf ihren eigenen Territorien zu liefern. Dennoch lassen sich einige der

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grundlegenden Fehlwahrnehmungen Lenins (wie seiner Referenzauto­ ren) klar feststellen. Seine Kernthesen entwickelten sich in drei Schritten: Erstens kommen sich die verschiedenen imperialistischen Mächte bei ­ihrem Kampf um die Neuaufteilung ihrer überseeischen Rohstoffquel­ len, Absatzgebiete und Anlagesphären für Kapitalexporte notwendig in die Quere. Zweitens erklärt sich die verzweifelte Heftigkeit ihres Kamp­ fes aus der stetig wachsenden Monopolisierung und Kartellierung der Industrie- und Handelskapitalien sowie aus ihrer immer weitergehenden Unterwerfung unter die Herrschaft des Finanzkapitals und einer parasi­ tären Rentneroligarchie. Und das alles demonstriert nur die «Fäulnis» bzw. den staatsmonopolistischen Übergangscharakter der kapitalistischen Produktionsweise und bourgeoisen Ausbeutungsordnung als Ganzer, und zwar am ausgeprägtesten gerade in den reichsten und vermeintlich fortgeschrittensten Ländern.37 Tatsächlich waren diese Grundannahmen und Hauptthesen aber em­ pirisch ziemlich willkürlich und tappten in logische Widersprüche, die auch dem Autor hätten erkennbar sein können. So lagen die Hochzeiten der territorialen Landnahmen in den Jahrzehnten vor 1900 – jenem Jahr, auf das Lenin den Beginn des modernen Imperialismus erst datierte. 1914 konnte von einer «Vorherrschaft» eines Monopol- und Finanz­ kapitals weder in England noch in Frankreich oder in den anderen betei­ ligten Ländern die Rede sein. Die Investitionen in den Kolonien bildeten einstweilen nur einen winzigen Bruchteil der Kapitalexporte, verglichen mit den Investitionen in Dominions wie Kanada oder Australien, vor ­allem aber in unabhängigen Staaten wie den USA, Argentinien, China, auf dem Balkan oder in Italien  – und vor allem im Russischen Reich selbst. Kurzum, einige der Kriegführenden, an erster Stelle Russland, waren Kapitalimporteure, nicht -exporteure. Überhaupt konnte eine derart einseitig ökonomische Erklärung des modernen Imperialismus keine Begründung dafür liefern, warum dieser Krieg sich gerade nicht in Übersee abspielte, sondern in Europa selbst; warum er 1914 ausbrach, als alle Parameter der Weltwirtschaft auf Expansion, nicht etwa auf Krise zeigten; und warum er mit solcher selbstzerstörerischer Unnach­ giebigkeit zwischen gerade diesen Mächtegruppen tobte statt zum Bei­ spiel zwischen England und Frankreich. Lenins Beweisziel und das dahinter stehende strategische Programm erschließen sich erst, wenn man die Konstellation der Weltmächte, wie sie sich Ende 1916 aus Lenins Zürcher Perspektive ausnahm, näher be­ trachtet – die er in einem alarmierten Artikel im Parteiorgan «Sozialde­

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mokrat» relativ präzise umriss. Demnach war der aktuelle Weltkrieg ei­ nem zweifachen Interessenkonflikt entsprungen: dem zwischen England und Deutschland und dem zwischen Deutschland und Russland. «Eng­ land führt Krieg, um Deutschlands Kolonien zu rauben und seinen Hauptkonkurrenten zu vernichten, der ihm mit seiner überlegenen Tech­ nik, Organisation und kommerziellen Energie unbarmherzige Schläge versetzte und so schwer traf, dass England ohne Krieg seine Weltherr­ schaft nicht mehr hätte behaupten können.» Demnach hatte das indus­ triell zurückgefallene England diesen Krieg gegen Deutschland zwingend führen müssen, um seine «Weltherrschaft» zu behaupten! Deutschland wiederum führe «Krieg, weil seine Kapitalisten – und durchaus begrün­ det – von sich der Meinung sind, dass sie das ‹heilige› bürgerliche Recht auf den ersten Platz in der Welt bei der Ausplünderung der Kolonien und abhängigen Länder besitzen». In historisch-materialistischer Perspektive klang das immerhin nach einem «durchaus begründeten», höheren Recht – auch wenn die Deutschen «insbesondere» gedachten, «sich die Balkanländer und die Türkei zu unterwerfen», was natürlich ungerecht war. Bemerkenswerter als diese Erwähnungen sind allerdings die Auslassun­ gen. Was war mit den deutschen Kriegszielen in Polen und im Baltikum, und was mit dem Programm der «Dekomposition» und «Zurückdrän­ gung Russlands», von der ja nicht nur im (geheimen) «Septemberpro­ gramm» Bethmann-Hollwegs und in internen Denkschriften, sondern in allen deutschen Gazetten laut die Rede war? Lenin zeigte sich, was das anging, zumindest nicht alarmiert. Denn Russland, die reaktionärste Macht von allen, führte diesen Krieg seinerseits mit dem Ziel, «Galizien zu erobern, das es braucht, um das ukrainische Volk niederzuhalten», sowie «um Armenien und Kons­ tantinopel zu erobern und ebenfalls, um die Balkanländer zu unterwer­ fen». Darin stecke dann schon der nächste große, unausweichliche Kon­ flikt: nämlich ein Krieg zwischen England und Russland! Gerade des­ halb hielt Lenin es Ende 1916 für äußerst wahrscheinlich, dass der Zar den deutschen Friedensangeboten demnächst nachgeben und einen Se­ paratfrieden schließen werde, um die Arbeiterbewegung Russlands und die nichtrussischen Nationalitäten noch brutaler unterdrücken und den nächsten Krieg vorbereiten zu können: den gegen England um die Be­ herrschung Süd- und Ostasiens, von China über Indien bis Persien, viel­ leicht im Bunde mit Japan und Deutschland.38 Lenins unermüdliche Warnungen vor einem deutsch-russischen Sepa­

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ratfrieden rührten somit ausschließlich aus der Furcht vor einer Stär­ kung des Zarismus – nicht etwa Deutschlands. Wenn er seine Position bekräftigte, «dass die Niederlage des Zarismus, sein vollständiger mili­ tärischer Zusammenbruch ‹in jedem Fall› das kleinere Übel ist»39 – dann signalisierten die bedeutungsvollen Anführungszeichen um ‹in jedem Fall› im November 1916 im Klartext: so weit ein solcher militärischer Zusammenbruch die deutschen Armeen in Mitteleuropa auch tragen würde, deren Besatzungsregime im Zweifelsfalle fortschrittlicher war als die russische Sklaverei.

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Russlands Zusammenbruch

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as Drama des russischen Zusammenbruchs im Weltkrieg, der in die Revolution vom Februar/März 1917 mündete, entwickelte sich so scheinbar unausweichlich und «tragisch», als gehorche alles einem Rich­ terspruch der Nemesis. Im Zentrum des Dramas stand ein Zar, der dem Geist seines übermächtigen, früh verstorbenen Vaters bei seiner Thron­ besteigung 1894 geschworen hatte, die Autokratie ungeschmälert zu er­ halten, im politischen Alltag aber regierender Autokrat weder sein konnte noch sein wollte. Stattdessen war er Wachs in den Händen seiner Zarina ­Alexandra von Hessen-Darmstadt, die sich gleich nach der Hochzeit zu seinem «Schutzengel» ernannte und ihn in allen Krisensituationen mit schrift­lichen, in mangelhaftem Englisch verfassten Botschaften ermahnte: «You are Autocrat & they dare not forget it!» Denn: «Russia loves to feel the whip». Russen brauchten väterliche Liebe, aber auch die Knute und eiserne Hand. Gleichzeitig war sie eine frömmelnde orthodoxe Kon­ vertitin geworden, die sich als eine von Gott erleuchtete, geheime Len­ kerin des Reiches sah.1 Im verzweifelten Bemühen, nach mehreren Töchtern einen männli­ chen Thronfolger zu gebären, nahm sie die Dienste eines französischen Scharlatans namens «Dr. Philippe» in Anspruch, der in spiritistischen Sitzungen den Kontakt mit dem Geist des toten Alexander III. herstellte. Nachdem Dr. Philippe abreisen musste, weil die Gerüchte überschwapp­ ten, und nachdem 1904 der ersehnte Thronfolger Alexej tatsächlich ge­ boren war, schuf die Zarin sich einen neuen inneren Zirkel um die ­Gräfin ­Wyrubowa, die ihr behilflich war, das tiefste und existentiellste Staats­ geheimnis zu wahren: die unheilbare Bluterkrankheit des kindlichen Thronfolgers. Allen Eingeweihten, an erster Stelle aber dem Zaren selbst, erschien diese Krankheit wie ein Zeichen, dass seine Regierung unter ­einem Unstern stand – oder, wie er bei seiner Abdankung gesagt haben soll: «dass er für das Unglück geboren sei».2 Um den todgeweihten Zarewitsch zu heilen, hatte die Wyrubowa 1906 einen neuen Wunderheiler an den Hof gebracht, «einen Mann

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Gottes namens Grigori» aus dem sibirischen Tobolsk, einen keiner Kon­ gregation angehörigen, halb analphabetischen Mönch, der mit wirren Reden und stechendem Blick auf viele Höflinge und hohe Kirchenleute als Urtypus eines «Volksheiligen» einen hypnotischen Eindruck machte. Nach einem bedrohlichen Unfall des Zarewitsch 1907 gelang es ihm an­ geblich, durch Gebete und Handauflegen die Blutung und das Fieber des Kindes zu stillen. Mehr noch: Er versicherte dem verzweifelten Paar, Gott habe ihre Gebete erhört. Im 12. Lebensjahr des Zarewitsch werde die Krankheit mit seiner Hilfe verschwunden sein. Sein Name «Rasputin» enthielt im Russischen bereits alle Konnota­ tionen eines «Wüstlings», als der er sich mit seinem unersättlichen, bi­ sexuell gerichteten Appetit und einem Hang zur Völlerei und zur Kor­ ruption bald auch entpuppte – ohne dass die frömmelnde Zarin und ihre Busenfreundin, und also auch der Zar selbst, das irgendwie zur Kenntnis nehmen wollten. Im Gegenteil, sie räumten dem «von Gott Gesandten» nach und nach eine Stellung als «unser Freund» ein, die ihm Einblick in die Geheimnisse des Hofes und Einfluss auf alle politischen und perso­ nellen Entscheidungen einräumte, nicht zuletzt, weil er Zar und Zarin in dem Glauben bestärkte, sie befänden sich in einer spirituellen, uner­ schütterbaren Einheit mit dem einfachen, gottesfürchtigen, treuen russi­ schen Volk – das er selbst, Rasputin, repräsentiere. Dass Nikolai nicht eigentlich regierte, sondern am liebsten seine Zeit in Zarskoje Selo im Kreise seiner Familie, seiner ihn «beschützenden» Frau, seiner vier Töchter und seines tapferen, kleinen Thronfolgers ver­ brachte, ohne lästige Ministerbesuche und amtliche Anliegen, machte die Autokratie nur noch schlimmer. Während nichts ohne den Zaren ent­ schieden werden konnte, wurde auch nichts von ihm entschieden. Und das Oktoberedikt von 1905 hatte eine zusätzliche, institutionelle Kom­ plikation geschaffen: Damit war das Russische Reich eine «konstitutio­ nelle Autokratie» geworden – was ein Widerspruch in sich war und be­ deutete, dass selbst ein so kraftvoller, autoritärer Reformer wie Stolypin nicht nur gehindert war, sich (nach dem Vorbild Bismarcks) eine eigene parlamentarische oder außerparlamentarische Basis zu schaffen, son­ dern dass er sich innerhalb der von ihm geführten Administration in ­einem Dickicht von Widerständen und Feindschaften gefangen fand, dessen Fäden irgendwo im Dunkel des Hofes zusammenliefen. Diese ­politische Selbstlähmung fand im Opfertod Stolypins 1911 in der Oper von Kiew, vor den Augen des Zaren, der sich eilig entfernte, ihren sinn­ trächtigen Höhepunkt. Tatsächlich war nichts schlimmer, wie der mon­

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archistische Duma-Abgeordnete und spätere Ideologe der «Weißen», Wassili Schulgin, in seinen Erinnerungen feststellte, als eine «Selbstherr­ schaft – ohne einen Selbstherrscher».3 Die Attentäter, die im Dezember 1916, zwei Monate vor der Revolu­ tion, den zu einem intimen Rendezvous in das Palais des jungen Fürsten Jussupow gelockten Rasputin erst vergifteten, dann in Panik erstickten und schließlich erschossen (er wollte einfach nicht sterben), eine Gruppe von Décadents aus allerhöchstem Adel, die vom Kopf der Rechtsradi­ kalen in der Duma, Purischkewitsch, angestiftet worden waren, glaub­ ten, den bösen Geist des Zarenhauses exorziert zu haben. Sein Tod führte aber nur zur endgültigen Lähmung des Zentrums der Staatsmacht und zum sichtbaren Verfall aller monarchischen Autorität. Wie über­ haupt die Intim­geschichte des letzten Zarenhauses in ihrer aufdring­lichen Symbolik fast allzu passend wirkt. Die Herausforderungen, denen das Zarenreich sich gegenübersah, wa­ ren gewaltig – und die Scheu des Zaren, als «Selbstherrscher» zu agie­ ren, reflektierte das auf eigene Weise. Petersburg sah sich in den beiden Jahrzehnten vor dem Weltkrieg von einem Kranz vitaler neuer und po­ tenter alter Mächte umgeben, die seine eigenen globalen Aspirationen beschnitten. Da war das siegreich auftrumpfende, reformierte Japan, das in Ostasien von der Mandschurei bis Korea eine eigene Machtsphäre zu errichten suchte. Und da waren die USA als neuer globaler Akteur, der ebenfalls in den pazifischen Gefilden fischte und in seinen sozialökono­ mischen Entwicklungen ein Tempo vorlegte, das Russland niemals errei­ chen konnte. Auf der anderen Seite rührte sich das nach einem «Platz an der Sonne» strebende Wilhelminische Deutschland, das sich gleichzeitig auch um die Schaffung eines kontinentalen Glacis in «Mitteleuropa» be­ mühte, gestützt auf staunenswerte Industrialisierungs- und Modernisie­ rungserfolge. Das Berliner Kaiserreich kaufte ein Drittel aller russischen Exporte, lieferte die Hälfte aller Importe und nahm damit, nicht zuletzt über drei Millionen Russlanddeutsche, eine dominierende Stellung im Wirtschaftsleben des Russischen Reichs ein. Auch deswegen war die Abhängigkeit des Zarenregimes von seinem Hauptverbündeten Frankreich, dessen Banken die wichtigsten strategi­ schen Investitionen (in Eisenbahnen, Häfen und Rüstung) finanzierten und den Großteil der russischen Staatsschulden hielten, immer stärker geworden. Zugleich kam die «Jagd nach der Grenze», bei der das Briti­ sche Weltreich und das Zarenreich sich in Zentralasien und am Kauka­

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sus gegenüberstanden, nicht zur Ruhe. Hier wie auf dem Balkan mischte auch das Osmanische Reich mit, das sich immer noch und immer wieder als ein zäher Widersacher russischer Bestrebungen erwies, statt einfach zur Beute zu werden. Und schließlich war da ein Gestrüpp aus zahl­ losen Konflikten mit dem Hause Habsburg vom polnisch-ukrainischen Galizien bis hinunter nach Bosnien, die die vom Hof gepäp­pelten Ultra­ orthodoxen mit fieberhafter panslawistischer Propaganda anzuheizen suchten  – eine Propaganda, die 1914 die Attentäter von ­Sarajevo und ihre Belgrader Hintermänner ermutigte. Die Anerkennung der österreichischen Annexion Bosnien-Herzego­ winas von 1908 durch die Zarenregierung versetzte aber auch die libe­ rale und konstitutionelle Opposition in Erregung. Der Oktobrist Ale­ xan­ der Gutschkow nannte das ein «diplomatisches Tsushima» und ­versicherte, das russische Volk sei zum «unvermeidlichen Krieg mit den deutschen Rassen» jederzeit bereit. Der Präsident der Duma, Michail Rodsjanko, erklärte dem Zaren bei einer Audienz 1913 vor dem Hinter­ grund der Balkankriege in drängendem Ton: «Die Meerengen müssen unser werden!» Jeder Krieg für dieses historische Ziel werde «freudig begrüßt und das Ansehen der Regierung heben».4 Diese halb orthodox-panslawische, halb großrussisch-nationalistische Propaganda sollte zugleich eine mentale Leere füllen, die der ehemalige Ministerpräsident Witte schonungslos bezeichnete: Seit der Zeit Peters habe es immer nur ein Russländisches Imperium gegeben – aber nie «so etwas wie Russland». Und da es nun einmal unmöglich sei, aus allen Be­ wohnern des Vielvölkerreichs «wahre Russen» zu machen, müsse wenigs­ tens das großrussische Staatsvolk zu einer «wahren» Nation werden.5 Im Bewusstsein dieses Mangels hatte Stolypin bereits versucht, einen großrussischen Nationalismus zur Staatsideologie zu machen und durch formelle Diskriminierungen bei Wahlen und Ernennungen eine Majori­ sierung des minoritären russischen Staatsvolks durch «andere Völker­ schaften» zu verhindern – ohne möglichst für die Politik der Russifizie­ rung, wie sie schon seit Alexander  III. betrieben wurde, die delikate ­innere Balance des Reiches aufs Spiel zu setzen und die Nationalismen der nichtrussischen Völker erst recht hervorzutreiben. Genauso kam es allerdings. Ins Zentrum aller orthodox-panslawistischen wie großrussisch-natio­ nalistischen Agitationen rückte zunehmend das Gespenst eines «Panger­ manismus», das in den Umtrieben der «Alldeutschen» im Wilhelmini­ schen Reich, aber auch in Teilen der balten- und russlanddeutschen

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­ evölkerungen reichlich Nahrung fand. Solche deutschfeindlichen Stim­ B mungen, so patriotisch sie sich gerierten, waren wiederum riskant, weil sie sich gegen ein ganzes Segment des Bürgertums der russischen Städte, vor allem aber gegen eine Säule der zaristischen Macht richteten: die noch immer übergroße Zahl deutschstämmiger, dabei vollkommen loya­ ler Beamter und Militärs. Und diese Stimmungen konnten sich jederzeit auch gegen den Hof, die «deutsche Zarin» und den Zaren selbst wen­ den, so wie es im Laufe des Krieges dann in einer steigenden Fieberkurve der Fall sein würde. So unauflöslich diese innen- und außenpolitischen Dilemmata waren, so fast ausweglos die politischen Alternativen. Der ehemalige Polizei- und Innenminister Pjotr Durnovo, der 1905/06 die mörderischen Strafexpe­ ditionen geleitet hatte, denen der Zar vielleicht Kopf und Krone ver­ dankte, und der nun als Vertreter der äußersten Rechten im Staatsrat saß, wandte sich im Februar 1914 mit einem alarmierten Memorandum an den Herrscher. Darin sagte er voraus, dass ein sich hinziehender ­europäischer Krieg Russland unweigerlich in eine Revolution stürzen müsse. Erst werde eine von den Liberalen geführte Kampagne die Regie­ rung für sämtliche Schrecken dieses Krieges verantwortlich machen. Früher oder später würden die Liberalen dann von den Sozialisten über­ spielt werden, die die Massen in Aufruhr versetzen und den Kampf um die Verteilung des Agrarlandes und womöglich allen privaten Eigentums eröffnen würden. Eine dezimierte und demoralisierte Armee, «von der primitiven bäuerlichen Gier nach Land mitgerissen», werde statt zum Bollwerk von Gesetz und Ordnung dann zu einer Hauptkraft der Revo­ lution werden. Alle staatlichen Institutionen und alle gesetzgebenden Körperschaften würden unfähig sein, sich gegen eine solche Flut zu stemmen, «und Russland wird in hoffnungslose Anar­chie stürzen, deren Ausgang nicht vorauszusehen ist».6 In der gegebenen Situation war das eine eindringliche Warnung an den Zaren, sich auf keinen Fall in einen Krieg gegen Deutschland und Öster­ reich hineinziehen zu lassen, für den es keinen zwingenden Grund gab. Genau umgekehrt beschworen Außenminister Sasonow und andere Re­ gierungsmitglieder den Zaren, als er in den letzten Stunden der Julikrise 1914 zögerte, die vollständige Mobilmachung anzuordnen: Wenn er nicht der allgemeinen Forderung nachgebe, für das bedrängte Serbien das Schwert zu ziehen, werde er umso sicherer eine Revolution und den Verlust seines Thrones riskieren. Der Zar, so Sasonows Erinnerungen,

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sei erbleicht: «Bedenken Sie, welche Verantwortung Sie mir auferle­ gen!»7 Dann unterschrieb er. Jede der Alternativen, Krieg oder Neutralität, bedrohte ihn gleicher­ maßen, und dasselbe galt, nachdem der Krieg ausgebrochen war, für alle Optionen zwischen bedingungslosem Durchhalten und plötzlichem Aus­ scheiden. Für den Zaren schien es nur den Weg nach vorn zu geben: Ein triumphaler, rascher Sieg und ein patriotischer Aufschwung «wie der von 1812» würden ihn nicht nur retten, sondern seinem Reich erst die große Zukunft eröffnen, die ihm immer wieder vorhergesagt worden war. So gesehen, war die Kriegserklärung der einzige Ausweg – oder, wie viele suggerierten, sogar eine «Jetzt oder Nie»-Gelegenheit, um die zen­ trifugalen Kräfte im Innern zu bändigen, sich endlich der Meerengen zu bemächtigen, Herr des Balkans zu werden und die gefährdeten Positio­ nen in Zentraleuropa wie in Ostasien auszubauen. Ein rascher Sieg war freilich schon so gut wie ausgeschlossen, als gleich im ersten Monat die russischen Armeen, die auf dringende Vor­ stellungen aus Paris ohne große Vorbereitungen nach Ostpreußen einge­ fallen waren, bei Tannenberg eine eklatante Niederlage erlitten und in ungeregelter Flucht zurückströmten oder sich en masse gefangen gaben. Das Desaster zeichnete sich früh und überdeutlich ab – und man muss sich eher wundern, dass entschlossene Reaktionäre wie Durnovo, hohe Ochrana-Beamte und führende Staatsmänner das Gespenst einer anar­ chischen Revolution sehr viel eindringlicher und andauernder beschwo­ ren als die Führer der revolutionären Parteien, die sich noch im Februar/ März 1917 großteils überrascht oder geradezu überrumpelt zeigten; Le­ nin und seine Bolschewiki am allermeisten. Deren Niedergeschlagenheit resultierte nicht nur aus dem sang- und klanglosen Zusammenbruch der Internationale, sondern auch aus den Eindrücken der ersten Wochen und Monate, als in den russischen Haupt­ städten jubelnde Mengen die Erinnerung an vorangegangene Streiks und Demonstrationen völlig auslöschten. Selbst unter vielen avantgardisti­ schen Künstlern und progressiven Intellektuellen brach eine kurze, hef­ tige Kriegsbegeisterung aus, die sich von den hundertjährigen, geheilig­ ten Erinnerungen eines «russischen Volkskrieges» mit revolutionären Zügen nährte. Alle sozialistischen Funktionäre und Parteikader, die noch auf freiem Fuß waren, so die bolschewistischen Duma-Abgeordne­ ten, ließen sich fast widerstandslos einsammeln und in die fernsten Ver­ bannungsorte schicken, wo sie in depressiver Stimmung abwarteten.

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Währenddessen machten sich Gruppen junger Frauen, viele in Männer­ kleidung, auf den Weg zur Front, um als Krankenschwestern oder in den Versorgungseinheiten zu dienen – oder zu kämpfen, wie sie es in den Frauen-Bataillonen des Revolutionsjahrs 1917 auch tatsächlich tun wür­ den. Aber auch Scharen entlaufener Halbwüchsiger und Kinder, die als Meldegänger, Kuriere, Träger oder sonstwie «Hilfswillige» an der Front dienen wollten, strömten nach Westen – Vorboten der Spatzenschwärme entwurzelter, verwahrloster, verwaister Jungen und Mädchen der Bürger­ kriegsjahre. Solche Phänomene sind in keinem anderen der kriegfüh­ renden Länder beobachtet worden, sie waren wohl eher schon Vorzei­ chen einer sozialen Entbindung als Ausdruck patriotischer Geschlossen­ heit.8 Die Mobilisierung der ersten Millionen-Aufgebote lief zunächst rei­ bungsloser, als das angesichts der dürftigen Kommunikationsnetze und nach den Erfahrungen von 1904/05 zu erwarten war. Auch die Anfangs­ niederlage in Ostpreußen wurde immerhin durch Erfolge gegen die Ös­ terreicher und Türken und durch die zähe Standfestigkeit der russischen Armeen an den weitgestreckten Fronten des Winters 1914/15 halbwegs kompensiert. Allerdings waren die Verluste von Beginn an überpropor­ tional hoch, weil sowohl die Ausrüstung mit Waffen und Munition, aber auch mit Schuhwerk, Kleidung und Nahrung ungleich schlechter war als auf der Gegenseite und die Kommandeure für das Leben der bäuerlichen Soldaten kaum Interesse zeigten, während ihre operativen Fähigkeiten hinter den Standards moderner Kriegführung meist zurückblieben. Im Übrigen blieb dem Großteil der Soldaten der Sinn dieses Krieges schleierhaft. Wie General Brussilow, der energischste und erfolgreichste Armeekommandant, in seinem Tagebuch notierte, wussten die meisten Rekruten nicht, «wer die Serben waren … und was das war – die Sla­ wen». Sie hatten zwar gehört, dass «irgendein Erz-Herz-Perz und seine Frau  … von irgend jemandem ermordet worden» seien; aber warum «die Deutschen Serbiens wegen auf den Gedanken gekommen waren, Krieg zu führen», war ihnen unbegreiflich.9 Auch dass sie nun allesamt «Russen» sein sollten, statt «Landsleute» aus dieser oder jener Gegend, auf die das Los gefallen war, für «Väterchen Zar» zu kämpfen, ging ih­ nen nicht leicht ein. Oder waren es vielleicht eher die französisch spre­ chenden «Herrschaften», die «Reichen» und «burshui» (Bourgeois, wie es 1917 plötzlich allgemein hieß), für deren nebulöse Prestige- oder Ge­ schäftsinteressen sie Leben und Gesundheit opfern sollten? Wie sich jedenfalls rasch und deutlich erwies, war die alte patriarchale

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«Knechtschaftsordnung» und mit ihr der hergebrachte Kadavergehor­ sam irreparabel zerbrochen, während irgendeine neue, patriotische Vor­ stellung von nationalen Gemeinschaftszwecken, die die erbarmungslose Härte dieser Kriegserfahrungen hätten rechtfertigen können, fehlte und damit auch der nötige, ideologisch gezüchtete Hass auf den Kriegsgeg­ ner, trotz der Flut der einschlägigen Propaganda. Es waren gerade die wirklichen Patrioten vom Schlage des modernen Karriereoffiziers Brussi­ low, die das früh und schonungslos feststellten. So wurde schon 1915, das Jahr des «Großen Rückzugs», bei dem das Zarenreich weite Teile Polens, des Baltikums und Weißrusslands aufge­ ben musste, zum Jahr der großen Katastrophe. Es stellte sich heraus, dass Russland trotz seiner scheinbar unerschöpflichen Menschenreser­ ven und materiellen Ressourcen bei der Auffüllung der Mannschaftsbe­ stände wie bei ihrer Ausrüstung und Versorgung hinter den dringends­ ten Erfordernissen zurückblieb. Für einen Krieg dieser Größe und Dauer war es nicht gerüstet. Tatsächlich litt das Reich – nach dem enormen Geburtenzuwachs seit 1860 kaum vorstellbar – an akutem Menschenmangel, jedenfalls überall dort, wo es darauf ankam: an den Fronten und in den Rüstungsfabriken. Von den 27 Millionen statistisch für die Armee zur Verfügung stehenden jungen Männern kam fast die Hälfte nicht in Frage, weil sie in den bäu­ erlichen Familienbetrieben oder kriegswichtigen Industrien, Eisenbah­ nen, Baustellen, Gutswirtschaften usw. unabkömmlich oder auch weil sie wegen möglicher Unzuverlässigkeit, ob als Sozialisten oder als Mus­ lime, dispensiert waren. Deutschland wie Frankreich vermochten als ­urbanere, entwickeltere Länder einen zwei- bis dreifach höheren Anteil ihrer kriegstauglichen Bevölkerung für die Armee oder die Kriegswirt­ schaft zu mobilisieren als das riesige Russische Reich. Bis Ende 1916 waren 1,7 Millionen russische Soldaten gefallen, 8 Mil­ lionen verwundet, 2,5 Millionen in Gefangenschaft geraten (oder gegan­ gen) und Zehntausende desertiert; das lief im Ganzen auf einen Ausfall von fast 13 Millionen jungen Männern hinaus. Diese immensen Verluste konnte je länger desto weniger durch Neurekrutierungen oder Wieder­ eingliederungen ausgeglichen werden.10 Noch gravierender war, dass das Korps der geschulten Frontoffiziere schon im ersten Kriegsjahr fast ausgelöscht wurde und durch frisch abkommandierte, unerfahrene Fähnriche (oft Studenten) und bürgerliche Reserve-Leutnants oder aber durch ältere Feldwebel und Unteroffiziere aus den Mannschaftsrängen

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ersetzt werden musste, während ein Gutteil der älteren, adeligen Reserve­ offiziere den Verpflichtungen des Frontdienstes weiterhin zu entgehen wusste und sich in den Etappen herumdrückte. Das war eine moralische Schieflage und zugleich eine stille soziale Umwälzung, die sich 1917 als mitentscheidend erweisen würde. An vielen Fronten kam gerade noch ein Dutzend, oft blutjunger, Offiziere auf mehr als 3000 Soldaten, wäh­ rend aus den Reihen der Unteroffiziere und «Kriegsfähnriche» das Kern­ segment der Meuterer und Aufständischen dieses Revolutionsjahres wuchs und später dann die ersten Kader und sogar die Generäle einer neuen «Roten Arbeiter- und Bauern-Armee» hervorgingen. Aber auch wo frische Rekruten herangeschafft und Reservisten mobi­ lisiert werden konnten, was zunehmend nur noch gegen offene oder ver­ deckte Widerstände möglich war, fehlte es in vielen Fällen an Waffen. Die an sich ausgedehnte russische Rüstungsindustrie konnte vorerst nur viel zu geringe Stückzahlen an Gewehren und Maschinengewehren lie­ fern – Präzisionsgeräte mit fast 300 Einzelteilen, die in mehr als 1400 Ar­ beitsgängen herzustellen, zu prüfen und zu montieren waren. Und noch mehr fehlte es an der kriegsentscheidenden Waffe, der Artillerie. Schlecht stand es auch mit der Munitionsversorgung, weil Grundstoffe (Metalle, Chemikalien) fehlten. Am allerschlechtesten sah es mit modernen Kom­ munikationsmitteln wie Telegrafen und Feldtelefonen sowie mit leis­ tungsfähigen Transportmitteln wie Automobilen oder Eisenbahnwag­ gons aus. Meldegänger zu Pferd oder zu Fuß mussten wie eh und je die Befehle oder Berichte überbringen, Kanonen auf Fuhrwerke gesetzt wer­ den, Ochsenkarren die Munition über verschlammte Wege an die Front bringen. Massen wichtiger Militärgüter lagerten auf Fabrikhöfen, an Ei­ senbahnknotenpunkten oder in Häfen unter freiem Himmel, weil sie nicht transportiert werden konnten. Russland musste bei den westlichen Mächten, vor allem den USA, auf Kredit und in riesigem Umfang Waffen, Munition, Fahrzeuge und Feld­ telefone einkaufen, die über die beiden einzigen nicht vom Feind blo­ ckierten eisfreien Häfen Archangelsk und Wladiwostok auf überlasteten, schier endlosen Transportwegen herangeschafft werden mussten. Das­ selbe galt für alle anderen Importe, die die zuvor meist aus Deutschland gelieferten, lebenswichtigen Industrie- und Verbrauchsgüter ersetzen mussten. In einer enormen Kraftanstrengung mussten zur gleichen Zeit auch neue Eisenbahnlinien und Straßen, Fabriken und Lagerhallen aus dem Boden gestampft werden. Alles das dauerte viel zu lange und ver­ schlang viel zu viel an Menschen, Material und finanziellen Mitteln.

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Als das Land sich Ende 1916 endlich mit Munition und mit anderen kriegswichtigen Gütern versorgen konnte und seine industrielle Produk­ tion in beachtlichem Maße hochgefahren, sogar in völlig neue Bereiche wie den Automobil- und Flugzeugbau vorangetrieben hatte, sodass man fast von einem Boom sprechen durfte, stabilisierte das die militärische Lage. Aber dafür klafften neue, dramatische Risse in der sozialen Textur, vor allem zwischen Stadt und Land. Denn obwohl es ausreichend Lebens­ mittel gab (nicht zuletzt aufgrund des Wegfalls der Getreideexporte), waren die großen Gutswirtschaften wegen Mangels an Arbeitskräften bzw. an modernen Maschinen weder in der Lage noch bereit, zu den festgesetzten, niedrigen Aufkaufpreisen zu liefern. Vielfach verkauften oder verpachteten sie ihre Böden ganz oder teilweise an bäuerliche Ein­ zelbetriebe oder Dorfgemeinden, die sie mit ihren eigenen, einfacheren Mitteln bearbeiteten. So brachte der Krieg eine weitere Beschleunigung der Übernahme von Agrarland in bäuerlichen Besitz, ohne den chroni­ schen Landhunger der Ärmeren, die weder zupachten noch kaufen konn­ ten, zu stillen. Auch die Einzelbauern und Dorfgemeinden waren aber nur noch un­ ter Zwang bereit, an die staatlichen Aufkaufstellen zu liefern, da sie sich für ihre Erlöse wegen der Geldentwertung und der mangelnden Versor­ gung nichts kaufen konnten. Stattdessen zogen sie sich auf eine bessere Eigenversorgung, die Auffütterung und Vermehrung ihres Viehs und auf die lohnenderen hausindustriellen Tätigkeiten zurück  – und natürlich auf den Schwarzhandel. Wie sich zeigte, war der zaristische Staat nicht in der Lage, Ernten und Vorräte mit ähnlich drakonischen Zwangsmaß­ nahmen (bis hin zur Erschießung) wegzunehmen, wie die bolschewisti­ schen Requirierungskommandos es im Bürgerkrieg 1918–22 und end­ gültig dann in den Kollektivierungskampagnen ab 1929/30 tun wür­ den.11

Mobilisierung und «Verrat» Allein die russische Zivilgesellschaft, die sich selbst mobilisierte, konnte die extremen Kriegsanstrengungen noch schultern – und tat das mit eini­ gem Erfolg. Die ohne amtlichen Auftrag auf die Beine gestellten «Kriegs-Industriekomitees», die reaktivierten «Semstwo-Verbände» und der «Allrussische Städtebund», die sich jeweils eigene, ausgedehnte Ver­ waltungsstrukturen schufen, sowie die in den kriegswichtigen Industrien

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miteinbezogenen «Arbeiter-Gruppen», eine Art Betriebsräte, nahmen sich auf eigene Faust der Planung, Produktion und Verteilung an bis hin zur Versorgung der Verwundeten und der Notleidenden, und das groß­ teils vorbei an der Bürokratie des Staates, deren Indolenz und Inkompe­ tenz sie damit offenlegten. Umso mehr wurden diese Organisationen zu Treibhäusern bürgerlichen oder auch proletarisch-professionellen Selbst­ bewusstseins, gepaart mit Erbitterung und blanker Empörung. Das Grundmuster dieser Konflikte ähnelte dem von 1904/05, mit dem Unterschied, dass es jetzt etablierte publizistische Organe und gesell­ schaftliche Vertretungskörperschaften gab. Dazu zählte, wie notdürftig und impotent auch immer, eine Duma, die wenigstens zur Hälfte aus ge­ wählten Repräsentanten mit eigener Legimitation bestand, aber nur zu­ sammentreten durfte, wenn sie – hauptsächlich zur Budgetbewilligung – vom Zaren einmal im Jahr für ein paar Tage einberufen wurde. Aber so machtlos sie war, sie wurde zur Bühne einer politischen Konfrontation, die sich unaufhaltsam zuspitzte. Die Ereignisse, die in der Revolution von 1917 kulminierten, begannen mit einer Verfassungskrise. Die große Mehrheit der Duma-Abgeordneten hatte sich angesichts des undurchsichtigen Gebarens des Hofes und der immer rascher wech­ selnden, immer unfähigeren, vom Zarenhof nach unklaren Kriterien er­ nannten Regierungen (1914 bis 1917 wurden allein vier Ministerpräsi­ denten und sieben Innenminister verschlissen) im August 1915 zu einem «Progressiven Block» zusammengeschlossen, der alle Fraktionen von Nationalisten, gemäßigt Konservativen und Liberalen umfasste und mit Sozialrevolutionären und Sozialisten, die den Krieg mittrugen, eng ko­ operierte. Die Forderungen dieser breiten parlamentarischen Mehrheit waren ­dieselben wie 1905 und wurden immer drängender vorgetragen: Ernennung einer dem Parlament verantwortlichen «Regierung des Ver­ trauens» (das schloss den Zaren noch mit ein) und Schritte zu einer Ver­ fassung, die die konstitutionelle Autokratie in eine konstitutionelle Mo­ narchie umwandeln und die Bürgerrechte sichern würde. Angesichts der desolaten Lage schloss sich 1916 in einem Akt schüchterner Zivil­ courage sogar die Mehrheit der amtierenden Minister diesem Wunsch an. Sie wurden prompt entlassen. Das alles mochte mit dazu beigetragen haben, dass der Zar sich seit dem Herbst 1915 dem Getriebe der Hauptstadt fast völlig entzog und in einem verhängnisvollen Schritt selbst das Oberkommando von seinem ähnlich inkompetenten Cousin, dem Großfürsten Nikolai Nikola­ jewitsch, übernahm. Alle seine Minister und Berater hatten ihm das

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­ ffensichtliche erklärt: dass seine Untertanen ihn nun persönlich für O sämtliche Niederlagen und Härten des Krieges verantwortlich machen würden. Dieses eine Mal setzte er sich gegen alle Einsprüche durch, der phantastischen Vorstellung folgend, seine «Anwesenheit» werde die Sol­ daten bestärken, «bis zum letzten Blutstropfen zu kämpfen». Auf der politischen Rechten formierten sich daraufhin die nach Kriegs­ ausbruch in den Hintergrund getretenen ultraorthodoxen oder protofa­ schistischen Kräfte zu einem «Konservativen Block». In jeder Einschrän­ kung der autokratischen Machtvollkommenheit sahen sie die Herauf­ kunft einer bourgeoisen, gott- und vaterlandslosen, letztlich jüdischen Weltordnung, die das Vielvölkerreich und die angestammte Dynastie in den Abgrund reißen musste. Stoff für zusätzliche Panik und Hetze lie­ ferte ihnen die Tatsache, dass der «Große Rückzug» 1915/16, der sich vor allem im jüdischen Ansiedlungsrayon abgespielt hatte und der von chaotischen Deportationen, Beschlagnahmen und pogromistischen Über­ griffen gegen die als unzuverlässig geltenden Juden begleitet gewesen war, trotz Zuzugsverboten zu einem sprunghaften Anwachsen der jüdi­ schen Bevölkerung in den Hauptstädten Russlands geführt hatte; so wie überhaupt alle die notorischen Repressionen und Diskriminierungen der zaristischen Behörden das gesellschaftliche Gewicht dieses intellektuell einflussreichen und kommerziell erfolgreichen Bevölkerungs­ segments letztlich nur gestärkt hatten. Den rechten politischen Rand lähmte allerdings, dass viele seiner Pro­ tagonisten den einzigen Ausweg in einem Separatfrieden mit Deutsch­ land sahen, der sich auf Kosten Österreichs vielleicht sogar noch günstig gestalten ließe. Damit gerieten sie aber selbst bei Nationalisten wie Libe­ ralen in den Ruch des Landesverrats. Das erklärt teilweise, aber nicht ganz, warum die pauschal als «Schwarzhunderter» bezeichneten, ul­ traorthodoxen, protofaschistischen und antisemitischen Gruppen, die in den Vorkriegsjahren mit Hunderttausenden Mitgliedern noch die stärks­ ten politischen Massenorganisationen des Landes gebildet hatten, im Laufe des Krieges immer kraft-, orientierungs- und führungsloser wur­ den, um im Revolutionsjahr 1917 schließlich zu einem Schatten ihrer selbst zu schrumpfen. Im Gegenlager der politischen Linken hatte sich gleich nach Kriegs­ ausbruch bei den Menschewiki wie bei den Sozialrevolutionären und den diversen Zwischenfraktionen im Exil wie im Lande selbst eine Min­ derheit von «Internationalisten» gebildet, die jegliche Unterstützung des imperialistischen Krieges ablehnten. Lenins Aufruf zur Verwandlung des

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Kriegs in den Bürgerkrieg verweigerten sie sich jedoch ebenso entschie­ den und wurden daher als «Sozialpazifisten» zu den Hauptzielscheiben seiner Polemik. Je länger der Krieg dauerte und je aussichts­loser alle Ver­ suche sich darstellten, auf internationalen Friedenskonferenzen eine wirk­ same oder wenigstens sichtbare Antikriegs-Bewegung über die Front­ linien hinweg zu initiieren, desto mehr radikalisierten sich allerdings die Positionen einiger prominenter «Internationalisten» wie Trotzki, Bucha­ rin, Kollontai oder Lunatscharski, die sich ihrer früheren bolschewisti­ schen Sympathien besannen und trotz aller Zusammenstöße mit Lenin auf seine kompromisslose Position allmählich zugingen. Freilich waren das vorerst reine Federgefechte. Wie sehr die Verfechter eines «revolutionären Defätismus» sich aller Handlungsmöglichkeiten vorerst beraubt sahen, zeigt die Tatsache, dass sowohl Kollontai wie Bucharin und Trotzki sich ausgerechnet für ein Exil in den USA entschie­ den. Im Januar 1917, kaum einen Monat vor Ausbruch der Revolution in Petrograd, kam Trotzki in New York an, und Bucharin holte ihn am Schiff ab, um dem übermüdeten Neuankömmling als erstes die nachts ­geöffnete Public Library zu zeigen und zu besprechen, wie er sich ein­ richten und für wen er schreiben könnte. Das war ihre Welt und würde es, wie sie annahmen, noch für längere Zeit bleiben. Andere Linke, angeführt vom alten Plechanow in seinem südfranzösi­ schen Exil, gingen mit umso größerer Entschiedenheit auf die Gegenpo­ sition eines offensiv zu führenden revolutionären Verteidigungskriegs über. So hatte Plechanow im September 1915 gewohnt autoritativ de­ kretiert: «Die Befreiung Russlands von seinen inneren Feinden (dem al­ ten Regime und seinen Verteidigern), erkämpft im Prozess der Selbstver­ teidigung gegen die äußere Invasion», nämlich den «reaktionären und kulturvernichtenden deutschen Militarismus» – dies müsse das «große Ziel» aller russischen Sozialdemokraten sein.12 Das war eine fast spiegel­ bildliche Gegenposition zu der Helphands oder Lenins, aber aus einem ganz ähnlichen marxistischen Gestus heraus. Von einer revolutionären Agitation innerhalb der Armee, gar einem praktischen Versuch, «die Bajonette umzukehren», war nichts zu sehen. Meutereien, die es ab Ende 1915 immer wieder gab, entzündeten sich an konkreten Beschwerden oder Konflikten und entsprangen einer beinahe kreatürlichen Verzweiflung über Hunger, Kälte, Seuchen, den Stumpfsinn in den Schützengräben und die sinnlosen Verluste, vor allem bei Frontal­ angriffen, in die Einheiten immer wieder hineingetrieben wurden.

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Wo fähige Generäle das Kommando führten wie der Befehlshaber der Südwestfront, Brussilow, der sich um die Versorgung und Ausrüstung seiner Soldaten kümmerte, konnten die Erfolge bedeutend sein. Die im Sommer 1916 bis tief in die österreichischen Linien in Galizien hinein vorangetragene «Brussilow-Offensive» zertrümmerte den Kern der Habsburger Streitmacht. Erst von der Westfront herangeführte deutsche Truppen, deren Abzug Frankreich womöglich vor dem Zusammenbruch gerettet hat, konnten im Herbst 1916 die russische Offensive zum Halten bringen. Mit ihrem Abbruch im kalten Herbstregen starb allerdings auch die letzte Hoffnung auf eine Wende des Krieges. Die Stimmung be­ gann zu kippen. Mehr als ein Dutzend Regimenter der siegreichen, aber erschöpften und dezimierten Armeen meuterten, als man sie noch «ein letztes Mal» über die mit verwesenden Leibern bedeckten Schlachtfelder zum Angriff treiben wollte. Eine Kompanie telegrafierte an den Zaren: «Sie können uns alle erschießen, aber wir werden nicht mehr weiter­ kämpfen.» Gerüchte über Hungersnöte daheim, über Streiks und De­ monstrationen in der Hauptstadt machten die Runde.13 In diesen Protesten ebenso wie in den (von Militärzensoren mitgelese­ nen) Briefen oder den alltäglichen Gesprächen der Soldaten artikulierte sich ein diffuser, anschwellender sozialer Hass gegen alle «Wohlgebore­ nen» und Kriegsgewinnler, Drückeberger und Parasiten, vom wohlge­ nährten Marktweib über den bebrillten jüdischen Regimentsschreiber bis hin zu den Betreibern und Gästen der überall gut gefüllten Restau­ rants und Bars in den Etappenorten. In diese unbestimmte Wut mischte sich eine wachsende Furcht vor al­ lenthalben vermuteten Agenten, Saboteuren, Spionen – eine Paranoia, die immer wieder die Grenzen zwischen Protest und Pogrom ver­ schwimmen ließ und von den staatlichen Instanzen selbst gehegt und genährt wurde. Nach der Entlarvung eines Spions im Generalstab wurde selbst der langjährige Kriegsminister Suchomlinow verhaftet, und der Militärstaatsanwalt erklärte in einem Ton, der fast schon stali­ nistisch klang, dass «keine Schicht der Gesellschaft garantiert frei von Spionen und Verrätern» sei. Darin wurde er unterstützt von der Zarin, die sich in Briefen an ihren Mann unablässig über «Verräter-Minister» oder «Verräter-Generäle» beschwerte und allenthalben «dunkle Kräfte» am Werk sah.14 Dabei rückte die Zarin selbst unaufhaltsam ins Zentrum der «defätis­ tischen» Stimmungen an den Fronten wie im Hinterland, die sich in ei­ ner Flut spöttischer, vielfach obszöner Anekdoten, Witze und Spottverse

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Luft machten. Eine ganze Industrie nährte sich mit Postkarten und Sam­ melbildchen, Büchern und Broschüren (mit Titeln wie «Die Geheimnisse der Romanows» oder «Das fröhliche Leben des Grischka Rasputin») vom angeblichen Sodom und Gomorrha am Hofe, wo die «deutsche Za­ rin» und ihre Hofdamen es mit dem unersättlichen Bauernwüstling Ras­ putin trieben – während «der Hausherr nicht daheim war». Wie in den «libelles», den schlüpfrigen Schmähschriften, Versen und Couplets in Frankreich vor 1789, wurde auch in Russland lange vor 1917 der «Kör­ per des Königs» verbal entweiht, bevor man es wagte, ihn anzutasten. Und wie einst Ludwig wurde Nikolai als effeminierter, impotenter Schwächling gezeichnet, während seine Frau Alexandra zu einer Megäre und neuen Marie-Antoinette stilisiert wurde, die sogar vor Landesverrat nicht zurückschreckte. Selbst Teile der Militärführung, der hohen Beamtenschaft und haupt­ städtische Intellektuelle wie die Schriftstellerin Sinaida Hippius waren überzeugt, dass am Hof ein Nest des Verrats existiere. Großfürst Kirill erklärte später einem Journalisten, er habe sich oft gefragt, «ob die Kai­ serin nicht eine Komplizin von Kaiser Wilhelm» gewesen sei. Der engli­ sche Botschafter Buchanan wie der Chef der britischen Militärspionage in Petrograd, Samuel Hoare, waren fest überzeugt, dass Rasputin ein deutscher Agent sei.15 Für die äußerste Rechte, die bis in den Heiligen Synod reichte, war Rasputin dagegen von den Juden, Freimaurern und «Agenten der Internationale» ausgewählt, um die Regierung zu Fall zu bringen (wobei die «Internationale» hier wohl die «goldene Internatio­ nale» war, das internationale Finanzkapital, dessen Hauptsitze London und New York waren).16 Von den oberen Gesellschaftsetagen floss dieser trübe Strom abwärts in die Eingaben, Streiks und Demonstrationen der städtischen Arbeiter, deren soziale Forderungen sich mit politischen Losungen mischten. Ihre Proteste entzündeten sich an der Militarisierung und Verschärfung der Arbeitsbedingungen, an den miserablen Wohnverhältnissen, der man­ gelnden Versorgung mit Lebensmitteln und der galoppierenden Teue­ rung, die nur die Facharbeiter der Waffen- und Munitionsfabriken mit ihren relativ hohen Löhnen noch ausgleichen konnten. Oft lag die Initia­ tive dieser Proteste bei den Frauen, die als Angelernte in die Betriebe ein­ gerückt waren, miserabel entlohnt wurden und Teuerungen und Ver­ knappungen in allererster Linie zu spüren bekamen. Das Selbstbewusstsein, das in diesen Streiks zum Ausdruck kam, speiste sich aus der offenkundigen Tatsache, dass von der Leistungsfä­

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higkeit der Industrie die Existenz von Staat und Gesellschaft abhing. Eine aus den Rüstungsbetrieben rekrutierte, den «Kriegsindustrie-Komi­ tees» angegliederte «Arbeiter-Gruppe» um den Metallarbeiter Kusma Gwosdew, der den Menschewiki nahestand, fungierte seit September 1915 als eine Art legale Gesamtvertretung aller kriegswirtschaftlich ein­ gespannten Betriebe (Gewerkschaften oder Betriebskomitees waren ver­ boten). Als Sozialpatrioten waren sie bemüht, die Kriegsproduktion in Gang zu halten oder in Schwung zu bringen, nutzten ihre Spielräume aber auch, um die eigenen Positionen zu stärken und die politischen For­ derungen des Progressiven Blocks zu unterstützen sowie weitergehende soziale Forderungen wie die nach dem Acht-Stunden-Tag vorzutragen. Indem Gwosdew und seine Mitstreiter so wie damals Gapon und seine Leute nicht bereit waren, diese Forderungen bis «nach dem Krieg» zu vertagen, kam in ihre sozialpatriotisch motivierte Arbeit eben doch ein Zug des «Defätismus» – während sie gleichzeitig schon vom revolutio­ nären Untergrund als Verräter angeprangert wurden. Der Versuch der Regierung, die «Arbeiter-Gruppe» im Februar 1917 zu suspendieren und ihre Führer zu verhaften, sowie der dagegen gerich­ tete Proteststreik von Zehntausenden Petrograder Arbeitern waren denn auch ein unmittelbares Vorspiel der revolutionären Unruhen – auch das fast wie eine Reprise des Winters 1904/05, als der Streik der Putilow-Ar­ beiter und die Verhaftung der Streikführer die große Prozession zum Winterpalast ausgelöst hatten. Immer häufiger waren jetzt Rufe zu hö­ ren wie «Nieder mit der Verräter-Regierung!» und «Nieder mit dem Krieg!», Nicht nur die Niederlagen, auch der Krieg selbst erschien nun als das Werk von «Verrätern». Die Angst vor einer epochalen Niederlage Russlands, einem Auseinan­ derbrechen des Reiches und vor der Anarchie hielt allerdings die Libera­ len um Miljukow davor zurück, es auf eine offene Machtprobe mit dem Monarchen ankommen zu lassen. Kaum anders verhielt es sich mit den patriotischen Sozialrevolutionären und Sozialisten, deren Sprecher Ale­ xander Kerenski war. Während der Duma-Session im Dezember 1916 hatten beide sich in ihren Reden gegenseitig hochgepeitscht. Miljukow hatte das Sündenregister der Regierung im Stil eines Shakespeare-Dra­ mas jeweils mit der rhetorischen Frage abgeschlossen: «Ist das Dumm­ heit oder Verrat?» Eigentlich hatte er die verbrecherische «Dummheit» der Regierung anprangern wollen; aber die Öffentlichkeit, die Streiken­ den und die Demonstranten hatten vor allem «Verrat» gehört und

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schrien es ihrerseits jetzt überall heraus. So hatte er, wie er später selbst­ kritisch feststellte, der Revolution ungewollt das Stichwort geliefert. War dieser Staat, dieses Reich überhaupt noch zu retten? Ende 1916 waren sich nahezu alle politischen Kräfte, sogar ein Teil der extremen Rechten, mit sämtlichen führenden Generälen einschließlich des Gene­ ralstabschefs Alexejew, den wichtigsten Großindustriellen und Bankiers, den Vertretern fast aller Medien und sogar mit einem Teil des Hofstaats und der Großfürsten, der Brüder und Cousins des Zaren, darin einig, dass umgehend eine «Regierung des Vertrauens», die der Duma verant­ wortlich war, gebildet werden musste. Als Zar und Zarin sämtliche ­Gesuche, persönlichen Vorstellungen, dringenden Warnungen und alar­ mierenden Berichte ignorierten, während sie sich in Trauer über ihren ermordeten «Freund» ergingen, erklärten sogar die letzten, gerade erst zu Ministern ernannten Günstlinge im Januar 1917 ihren Rücktritt – den der Zar ablehnte. Der britische Botschafter wurde bei Nikolai vorstellig und beschwor ihn im Interesse der Kriegsallianz, «die Mauer zwischen sich und dem Volk niederzureißen, um dessen Vertrauen wiederzugewinnen». Der Zar fragte spitz zurück: «Muss es [das Volk] nicht eher mein Vertrauen zu­ rückgewinnen?»17 Damit war für alle klar, dass man ihn auf irgendeine Weise zur Abdankung zwingen musste; der britische Botschafter gab diesbezüglichen Plänen jetzt Rückendeckung. Nur gab es dazu keinen verfassungsmäßigen Weg. Coups und Attentate wurden erwogen und doch nicht ausgeführt. Gravierender war, dass die Duma-Mehrheit sich nicht aufraffen konnte, auf eigene Faust zusammenzutreten und die stets geforderte «Regierung des Vertrauens» einfach selbst auf die Beine zu stellen. Sie hätte jeden Notstand für sich beanspruchen, den Zaren ohne Widerstand absetzen und durch einen konstitutionellen Platzhalter er­ setzen können. Dabei war das Land Anfang 1917 noch in einem vergleichsweise sta­ bilen Zustand. Es erlebte so etwas wie einen industriellen Aufschwung, wenn auch auf Kredit, und es litt nicht an Hunger, jedenfalls an keinem absoluten Mangel an Lebensmitteln. Darin unterschied es sich vom Hauptkriegsgegner Deutschland, der seinen ersten Hungerwinter durch­ stehen musste. Wenn Anfang 1917 auch in Petrograd und in anderen Städten des Reichs der verzweifelte Ruf nach Brot aufkam, hatte das noch nicht mit dem absoluten Mangel an Mehl zu tun. Vielmehr fehlte es an Transportmitteln, an Heizmaterial, um zu backen, und an einer Organisation der Verteilung.

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Um die Abwärtsspirale zu stoppen, hätte sich in Petrograd eine Koali­ tion finden und eine Regierung bilden müssen, um den Zaren zu ent­ machten und mutige, ja heroische Entschlüsse zu fassen. Sie hätte als ­erstes die Kriegshandlungen einseitig beenden und auf alle eigenen Ex­ pansionsziele explizit verzichten müssen; was allerdings nur möglich und glaubhaft gewesen wäre, wenn sie von sich aus das Recht auf Selbst­ bestimmung der Nationen aller östlichen Vielvölkerreiche, einschließlich derer ihres eigenen Reichs, erklärt hätte, bevor diese selbst es taten. Sie hätte so rasch wie möglich eine aus allgemeinen, freien Wahlen hervor­ gehende Verfassunggebende Versammlung einberufen müssen, um dem Land eine neue Staatsform zu geben, die vielleicht noch eine konstituti­ onelle Monarchie hätte sein können; und sie hätte jedenfalls alle ständi­ schen Privilegien abschaffen, alle Bürger vor dem Recht gleichstellen so­ wie umfassende politische Freiheiten gewähren müssen. Schließlich hätte sie eine eingreifende Landreform ankündigen müssen, die die Reformen Stolypins zugunsten der Dorfgemeinden modifiziert hätte, ohne die für den Massenmarkt und den Export wirtschaftenden Großbetriebe deshalb abzuwürgen. Und sie hätte den Arbeitern und ­ihren Vertretungen soziale Standards und Selbstvertretungsrechte garan­ tieren müssen, die sie einbinden und für eine Stabilisierung der Industrie einspannen konnten. Es gab aber kaum jemanden, der eine solche ex post konstruierbare Reform- und Rettungspolitik vertreten hätte. Zu tiefen Einschnitten in ererbte Besitzstände war ein Großteil der Inhaber von Staats- und Stan­ desprivilegien und der adeligen Grundbesitzer noch längst nicht bereit. Nationalisten und Nationalliberale wollten nach allen Opfern und Teil­ siegen zumindest auf einige ihrer expansiven Kriegsziele nicht verzich­ ten. Auch wollten sie im Übrigen ihre westlichen Verbündeten nicht ein­ fach im Stich lassen, aus Gründen der Moral wie des Prestiges, aber auch, weil ein siegreiches deutsches Kaiserreich tatsächlich eine ernst­ hafte Gefahr für ein künftiges Russland hätte werden können. Da Berlin bereits dabei war, sich selbst (mit oder gegen Wien) zum Patron aller Un­ abhängigkeitsbewegungen in Finnland, im Baltikum, in Polen, in der Ukraine und selbst in Georgien aufzuwerfen, waren die maßgeblichen Dumapolitiker und ihre Verbündeten erst recht nicht bereit, den An­ spruch eines «einigen und unteilbaren», zentralistisch regierten Russlän­ dischen Reiches von sich aus aufzugeben. Aber was sie mehr als alles andere hinderte, irgendeinen Schritt gegen die lähmende Obstruktion des Zaren zu unternehmen, war die Furcht,

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dass schon eine Palastrevolution eine viel größere, allgemeine «Revolu­ tion» entfesseln werde – eine Furcht, von der sich alle geradezu hypnoti­ sieren ließen. Schon im Herbst 1916 hatte der französische Botschafter Maurice Paléologue bei einem Diner mit dem 1914 entlassenen Minister­ präsidenten Wladimir Kokowtzew und dem Rüstungsindustriellen und Gründer der «Russisch-Asiatischen Bank», Alexej Putilow, gehört, wie die beiden sich an Pessimismus geradezu überboten: «Kokowtzew er­ klärt: ‹Wir gehen der Revolution entgegen.› Putilow fährt fort: ‹Wir ge­ hen der Anarchie entgegen.›»18

Auferstehung in Rot Am 9./22. Januar 1917, dem 12. Jahrestag des «Blutsonntags», sagte Lenin in einem langen Vortrag im Zürcher «Volkshaus» vor Schweizer Jungsozialisten, dieser Tag könne «mit Recht als Beginn der russischen Revolution betrachtet werden». Wer das als eine Anspielung auf die ­aktuelle Krise in Russland verstand, irrte sich freilich. Vielmehr, sagte Lenin, sei diese russische Revolution von 1905 «ein Vorspiel der kom­ menden europäischen Revolution» gewesen, mit der der Kontinent jetzt schwanger gehe. Der imperialistische Krieg werde «in den kommenden Jahren» in eine Reihe von «Volkserhebungen in Europa unter der Füh­ rung des Proletariats» münden, die mit dem «Sieg des Sozialismus» en­ den müssten. Diese kommende europäische Revolution werde allerdings weniger einer plötzlichen Empörung gegen die Obrigkeit und mehr ­einem lang dauernden Bürgerkrieg gleichen. Lenin endete mit dem elegi­ schen Satz: «Wir, die Alten, werden vielleicht die entscheidenden Kämpfe dieser kommenden Revolution nicht erleben.» Die hier versammelten Jungen aus der «sozialistischen Bewegung der Schweiz» aber würden «das Glück haben, nicht nur zu kämpfen, sondern auch zu siegen in der kommenden proletarischen Revolution».19 Man hat aus dieser Rede Resignation lesen wollen, aber das trifft nicht den Punkt. Seine im Prinzip optimistische Perspektive, dass die «kommen­ den Jahre» eine Kette europäischer Volksrevolutionen und den Durch­ bruch zum Sozialismus bringen mussten, führte ihn stattdessen für einige Monate zu einer – im Nachhinein kurios anmutenden – Verlagerung des Schwerpunkts seiner Aktivitäten. Vom Oktober 1916 bis zum Februar 1917 verwendete er seine Haupt­energie darauf, ausgehend von der nahezu imaginären, fast nur von ihm selbst und seiner engsten Entourage mar­

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kierten «Zimmerwalder Linken» und vor allem vermittels der winzigen Kerngruppe einer «Jugend-Internationale» in die Parteien der Nachbar­ länder Deutschland, Österreich, Italien und Frankreich hineinzuwirken. Gleichzeitig bemühte er sich mit enormem schriftstellerischem Einsatz ­darum, den «Sozialchauvinismus» in der Schweizer Sozialdemokratie zu bekämpfen – immer unter dem Gesichtspunkt der bevorstehenden Über­ führung des Kriegs in eine europäische Revolution, für die die Schweiz dann womöglich eine ideale Aktionsbasis darstellen könnte. Mehr denn je verband dieser Kampf auf allerengstem Terrain (dem Zürcher oder Berner «Volkshaus») sich mit einer weltpolitischen Per­ spektive, wie sie weiter nicht sein konnte. Und wie immer richtete sich sein polemischer Furor an erster Stelle gegen die Nächststehenden, also die versöhnlerischen «Internationalisten» (wie Martow in Paris oder Turati in Italien), die jetzt, wo die Sozialdemokratien sich unter dem Druck des Krieges latent zu spalten begannen, als «Kriegsgegner» einen Schulterschluss mit den «Sozialpazifisten» à la Kautsky in Deutschland oder Tscheidse in Russland suchten, welche sich in Wirklichkeit vom «Sozialchauvinismus» der offenen Kriegsbefürworter wie Ebert, Guesde oder Plechanow aber nicht unterschieden, die ihrerseits nur Steigbügel­ halter der liberalen und bürgerlichen Imperialisten waren; und diese un­ terschieden sich ihrem Wesen nach nicht von den monarchistischen «Schwarzhundertern» … Diese Argumentationskette, die dem logischen Muster von fallenden Dominosteinen folgte, stand unter dem kategorischen Imperativ einer gesetzmäßigen und daher mit Entschiedenheit zu verfolgenden Spaltung der Internationale im Zeichen des Krieges. Lenin versuchte sich von sei­ nem Zürcher Exil aus selbst zum Nukleus einer neuen, dritten Interna­ tionale zu machen – ein wenig wie Marx und Engels in London Anfang 1850. Tatsächlich gewann er aus seiner winzigen Exilgefolgschaft einen Gründungskern der 1919 in Moskau proklamierten «Kommunistischen Internationale». Nur dass diese Gründung eine radikale Revolution in Russland voraussetzte – deren Ausbruch er ums Haar verpasst hätte. Es musste erst der Tag der Abdankung des Zaren kommen (der 2./16. März 1917), und es musste erst der junge Bronski mit der Nach­ richt hereinplatzen: «Haben Sie es denn nicht gehört?! In Russland ist die Revolution ausgebrochen!»20 – damit Lenin sich eilends Zeitungen mit den allerneuesten Meldungen besorgte. Seinem Genossen Karpinski, den er unterwegs traf, sagte er, was da gemeldet werde, sei ja wirklich «atemberaubend», weil es «so unglaublich unerwartet» kam.21 So «un­

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glaublich unerwartet»?! Schon seit einer Woche hatten aufständische Massen die Hauptstadt in ihrer Hand, schon vier Tage zuvor hatten sich ein «Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten» sowie ein «Pro­ visorisches Komitee der Duma», das die Rolle einer Notregierung über­ nahm, gebildet. Damit war Lenin so ziemlich der letzte unter den russischen Revolu­ tionären, im Exil wie im Lande selbst, der begriff, was für ein Damm­ bruch sich da soeben vollzog. Ganz allein stand er nicht. «Die Revolu­ tion überraschte uns, die damaligen Parteimitglieder, im tiefen Schlaf, gerade wie die törichten Jungfrauen des Evangeliums», schrieb der füh­ rende Sozialrevolutionär, Sergej Mstislawski, später in seinen Erinnerun­ gen.22 Und der parteilose Sozialist und Journalist Nikolai Suchanow stellte in seinem «Tagebuch der russischen Revolution», das uns gleich noch beschäftigen wird, fest: «Keine einzige Partei bereitete sich auf den großen Umsturz vor.»23 So verblüffend das war: Es handelte sich weder um Blindheit noch um Schläfrigkeit; es ging vielmehr um die Einschätzung der Situation. Der «internationalistische» Menschewik und Duma-Abgeordnete Tscheidse, der keine sechs Wochen später der Vorsitzende des Sowjet der Arbeiter und Soldatendeputierten sein würde, hatte noch Anfang Januar 1917 ka­ tegorisch erklärt: «Gegenwärtig gibt es überhaupt keine Hoffnung auf ein Gelingen der Revolution. Ich weiß, dass die Polizei versucht, revolu­ tionäre Aufbrüche zu inszenieren und die Arbeiter auf die Straße zu ­locken, um sie dann fertigzumachen.» Das war eine direkte Warnung: Für eine Palastrevolution der bürgerlichen Opposition, die bestenfalls auf einen Thronwechsel und eine neue, für den «Sieg bis zum Ende» kämpfende, von den Alliierten gestützte Kriegsregierung hinauslaufen würde, sollten die Arbeiter sich auf keinen Fall einspannen lassen.24 Das Revolutionsjahr 1917 fand seinen Chronisten im schon zitierten ­Nikolai Suchanow (Nikolai Himmer) – dessen «Tagebuch» in «einer sel­ tenen Mischung von kritischer Distanz und Aktivismus»25 die von Tag zu Tag wechselnden Stimmungen und Konstellationen im Kreuzungs­ punkt aller revolutionären Bewegungen, dem Petrograder Sowjet, nach­ gezeichnet hat. Suchanow, ein parteiloser Sozialist, der nach 1905 vom Volkstümler zum Marxisten und vom Fachmann für Agrar- und Wirt­ schaftsfragen zum Journalisten und Redakteur von Gorkis Zeitschrift «Letopis» geworden war, fand sich, als er am Abend des dritten und ent­ scheidenden Tages der Unruhen in den Taurischen Palast ging, zu seiner

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eigenen Überraschung formlos aufgefordert, in das «Exekutivkomitee» eines erst noch zu gründenden «Petrograder Sowjet» einzutreten. Die erste Schwelle zur Revolte war am 23. Februar/8. März, dem ­«Internationalen Frauentag», überschritten worden. Arbeiterfrauen, die in aller Frühe und eisiger Kälte stundenlang vor den Brotläden standen und trotzdem wieder leer ausgingen, hatten sich mit dem verzweifelten Ruf «Brot!» in einen gut gelaunten Umzug von Bürgersfrauen, Steno­ typistinnen und Studentinnen gemischt, die für Frauenrechte einschließ­ lich des Wahlrechts demonstrierten. Textilarbeiterinnen, die die Arbeit niederlegten und die Männer aus den benachbarten Betrieben holten, stießen dazu. Gegen Abend waren es bereits 100 000, die in gehobener Stimmung das Stadtzentrum füllten. Am nächsten Morgen waren es noch mehr Menschen, die nicht zur Arbeit gingen, sondern ins Stadtzentrum drängten. Politische Organisa­ tionen oder Agitatoren waren nur wenige zu sehen, obwohl viele selbst­ gemalte Transparente auftauchten, überall Ansprachen gehalten und ­Parolen gerufen wurden oder sich Diskussionstrauben bildeten. Wieder einen Tag später, am Samstag, dem 25. Februar/10. März, handelte es sich faktisch bereits um einen «Generalstreik», ohne dass jemand ihn ausgerufen oder organisiert hatte – und ohne dass klar war, worum es ging. Doch schien es, als handelten alle wie auf Verabredung. Das Grundmuster dieser Massenbewegungen war stets dasselbe: Ströme von Menschen bewegten sich aus den Außen- und Industrievier­ teln ins imperiale und kommerzielle Zentrum der Hauptstadt, das wie 1905 zu einer großen, doch überschaubaren Bühne des Kampfes wurde. Männer und Frauen in Arbeitskluft oder verschlissenen Mänteln frater­ nisierten mit Stadtbürgern jeglicher Herkunft und Stellung, beiderlei Ge­ schlechts und jeden Alters. Über allem waltete eine universelle, alle ver­ bindende Verachtung des tauben, schwachen, unfähigen Regimes, des­ sen Embleme und Standbilder hier und da schon entweiht wurden. Damit war die Staatsgewalt in einer Weise herausgefordert, die sie zum sofortigen Handeln zwang. Am Abend fielen erste Schüsse und es gab erste Tote, auch auf der Seite der Gendarmen, als in zwei, drei Situ­ ationen Soldaten, sogar Kosaken, plötzlich gegen sie Front machten. Die Menge betrachtete die Gendarmen generell als Feinde, während die ein­ fachen Soldaten eher als «Unsere» galten, an die man sich auffordernd oder hilfesuchend wandte. In der Nacht erteilte der Zar unwirsch den telegrafischen Befehl, die Unruhen sofort und «mit allen Mitteln» zu beenden. In den Kasernen

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der Hauptstadt und des näheren Umlandes waren mehr als 300 000 Sol­ daten konzentriert, unter denen sich genügend zuverlässige Einheiten finden mussten, um die Unruhen nach bewährtem Muster zu unterdrü­ cken. Im Dezember 1905 hatten einige Tausend disziplinierte und gut ­gerüstete Mann genügt, um die Hauptstädte gewaltsam zu pazifizieren. Dass es wieder so kommen würde, davon gingen auch die meisten von den Ereignissen überrumpelten Revolutionäre aus, die jeden Moment eine blutige Reaktion erwarteten. Der Petersburger Generalgouverneur und der Stadtkommandant ließen Bekanntmachungen in Alarmrot anschlagen, die sofortige «Waffenan­ wendung» gegen jede Zusammenrottung ankündigten. Die Anschläge wurden großteils einfach abgerissen. Obwohl an diesem Sonntag, dem 26. Februar/11. März, die Stadt einem einzigen Militärlager glich, ließen die Menschen sich nicht abhalten, abermals zu Hunderttausenden in die Innenstadt zu strömen und – den Frühling zu genießen. Die Anspannung verflog, als immer deutlicher wurde, dass die überall präsenten Truppen sich unbeteiligt oder unwillig zeigten, lässig herumstanden oder mit der umstehenden Menge sprachen; einzelne Streifen ließen sich sogar wider­ standslos entwaffnen. Das ganze, riesige Machtaufgebot, so Suchanow, «hatte irgendwie einen zufälligen, unernsten, unechten Charakter».26 Am Mittag schoss auf dem Newski-Prospekt Infanterie (ein Ausbil­ dungsregiment der Wolhynier) in die Menge und veranstaltete ein Mas­ saker mit Dutzenden Toten und Verwundeten. Für einen Moment schien es, «als habe der Zarismus den Einsatz wieder gewonnen». Aber dann folgte jener Vorfall, der wie in jeder revolutionären Situation den Um­ schlag brachte: An einem der innerstädtischen Kanäle beschossen Gen­ darmen eine Menschenansammlung auf der anderen Seite, und ein Zug desselben Regiments, das selbst ins Schussfeld geraten war, schoss auf die Gendarmen zurück. Das machte wie ein Lauffeuer die Runde. In mehreren Kasernen der Garde- und Leibregimenter, die ausrücken soll­ ten, kam es zu Befehlsverweigerungen und zu handgreiflichen Auseinan­ dersetzungen, bei denen in mehreren Fällen Offiziere angegriffen oder sogar angeschossen wurden. Liest man die Aufzeichnungen des späteren Literaturwissenschaftlers und Schriftstellers Wiktor Schklowski, der als Führer eines Panzerwa­ gens von den ersten Tagen der Revolution an dabei war, dann verlieren die Motive der Soldaten ein wenig von ihrer Aura des heroischen Über­ gangs «auf die Seite des Volkes». Sie hassten die Gendarmen schon lange, weil sie von ihnen schikaniert und angezeigt wurden, sobald sie

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die Kasernen verließen. Jetzt konnten sie Revanche üben.27 Aber indem sie Befehle verweigerten oder auf die Gendarmen schossen, überschrit­ ten sie natürlich eine rote Linie.28 Ab jetzt waren sie Meuterer. Dasselbe galt freilich für alle, die ihre Kasernen verließen, mit oder ohne Waffen, um sich vom Strom mitreißen zu lassen und «wie die Heringsschwärme oder Plötzen bei ihren Laichzügen … nur ihrem Instinkt» zu folgen. Viel­ fach zogen sie in Formation zu anderen Kasernen, um die Kameraden zur ­Solidarität und Befehlsverweigerung aufzufordern. Immer mehr Uni­ formierte mischten sich unter die Menschenmassen, die ihrerseits began­ nen, sich durch den Sturm auf Polizeistationen, Waffenfabriken und ­Arsenale zu bewaffnen. In kurzer Zeit waren Zehntausende, bald sogar Hunderttausende von Waffen in den Händen der Demonstranten, bin­ nen zwei, drei Tagen dann sogar Panzerwagen, Maschinengewehre und Geschützbatterien. Aus ziviler Auflehnung war ein bewaffneter Auf­ stand geworden. Nichts in der Abfolge der Ereignisse dieser Revolution war unausweich­ lich; aber alles gehorchte einer prozessualen Logik, die im Nachhinein fast zwingend erscheint. Es brauchte den offenen Aufstand, der von den Arbeiterfrauen und den Belegschaften der Großbetriebe ausging, dann auf das Gros der Stadtbevölkerung und schließlich auch der Soldaten übergriff, um die politischen Kräfte in verspätete, aber umso hektischere Bewegung zu setzen. Als erstes bildete sich am Abend des 27. Februar/ 12. März im linken Flügel des Parlamentsgebäudes, des Taurischen Palasts, aus eben freigelassenen Mitgliedern der «Arbeiter-Gruppe», ei­ nigen sozialistischen Duma-Abgeordneten wie Kerenski, Tscheidse und Skobelew sowie mehr oder weniger zufällig anwesenden «Persönlichkei­ ten» (wie Suchanow) ein «Provisorisches Exekutivkomitee des Rats der Arbeiterdeputierten». Wie sich herausstellte, war schon am Vortag zur Wahl von betrieblichen Sowjets nach dem Muster von 1905 aufgerufen worden – bezeichnenderweise auf Initiative zweier parteiloser Sozialis­ ten, des Anwalts Sokolow, der einmal den Bolschewiki nahegestanden hatte, und des ehemaligen Menschewiken Tscherewanin, die 1914 beide entschiedene «Vaterlandsverteidiger» geworden waren. Das zeigt, wie ambivalent die Motive waren – eine Ambivalenz, die zur Schicksals- und Entscheidungsfrage der Revolution werden würde, aber vorerst noch re­ volutionäre «Defätisten» und «Defensisten» vereinte. Dem selbsternannten «Exekutivkomitee» traten am Tag darauf je zwei Vertreter der insgesamt sieben sozialistischen Parteien bei, ein­

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schließlich der Bolschewiki. Der am folgenden Abend zusammentre­ tende «Petrograder Rat der Arbeiter- und Soldatendeputierten» erwies sich allerdings als ein chaotischer Auflauf von Hunderten, später zeit­ weise sogar dreitausend gewählten oder selbsternannten Vertretern der Betriebe und Militäreinheiten, die sich «für die Revolution» erklärt hat­ ten; wobei die grauen Uniformen der bäuerlichen Soldaten sehr schnell dominierten. Natürlich konnte dieser Sowjet kein arbeitendes, sondern nur ein zeremonielles und akklamierendes Organ sein, das als Quelle ei­ ner notdürftigen Legitimität gleichwohl unverzichtbar war. Denn die Bildung von «Sowjets» (Räten) erwies sich als die einfachste Form einer Artikulierung und Vertretung betrieblicher, städtischer und dörflicher Bevölkerungen und breitete sich deshalb blitzartig und in den kunter­ buntesten Formen im ganzen Land aus. Unter dem Druck dieser Entwicklungen hatte sich nur Stunden nach dem Zusammentreten des Exekutivkomitees ein «Provisorisches Du­ ma-Komitee zur Wiederherstellung der Ordnung» im rechten Flügel des Taurischen Palastes gebildet, auch das auf Initiative der linken Abgeord­ neten um Kerenski und Tscheidse, die zuvor schon das Exekutivkomitee gegründet hatten. So zwangen sie die Führer des bürgerlichen «Progres­ siven Blocks», sich pro forma «der Revolution anzuschließen». Dazu mussten sie sich allerdings selbst zur Keimzelle einer «Provisorischen Regierung» ernennen, um den Zaren zur Abdankung zu zwingen und ­einen geregelten Übergang auszuhandeln. Tatsächlich hatten die führenden Militärs dem Zaren bereits ein ei­ genes, als «Meinungsbild» verkapptes Ultimatum gestellt – auch weil klar geworden war, dass die zur Niederschlagung des Aufruhrs nach Petrograd geschickten Militäreinheiten sich auflösten, sobald sie die Stadt betreten hatten. Die Befehlshaber fürchteten mit Recht den Zer­ fall auch der Fronttruppen. Also drängten sie Nikolai zur Abdankung, der dieser (fast erleichtert) zustimmte. Da er ihnen und den Duma-­ Abgesandten gegenüber erklärte, den Zarewitsch bei sich behalten zu wollen, kam als Nachfolger nur noch der Zarenbruder Michail in Frage, der nach kurzem Überlegen dankend ablehnte. Derart sang- und klang­ los trat die Dynastie der Romanows nach über dreihundert Jahren von der Bühne ab – zur Beunruhigung der liberalen Konstitutionalisten um Miljukow, denen in der Provisorischen Regierung nach allgemeinem Konsens die Führung zufiel und die aus gutem Grund fürchteten, dass das durch den Sturz der Autokratie entstandene Vakuum sich nicht so schnell werde füllen lassen.

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Das waren auch die Befürchtungen der Alliierten. So erklärte der fran­ zösische Botschafter Maurice Paléologue am Vorabend der Revolution seinem italienischen Kollegen in Form eines historischen Vergleichs, was ein Sturz des Zarentums bedeuten würde: Nehmen wir an, sagte er, eine moderne «Pulververschwörung» jage in London auf einen Schlag den König, die Minister, das gesamte Parlament, die obersten Richter und die Militärs in die Luft. Natürlich würde das eine augenblickliche und vollständige Zerrüttung des Staates und e­ inen Stillstand aller Lebensvor­ gänge der Gesellschaft zur Folge haben. «Aber es wäre nur eine vorüber­ gehende Ohnmacht; nach einer kurzen Zeit der Bestürzung und Betäu­ bung würde man sehen, wie das öffent­liche Leben wieder erwachte, wie es sich durch die spontane Tätigkeit der Provinz- und Stadtbehörden, der geistlichen Körperschaften, der Hochschulen, Klubs, Handelskammern, Syndikate, mit einem Wort durch die zahllosen privaten, geistlichen, po­ litischen (…), literarischen, wissenschaftlichen, sportlichen Gesellschaf­ ten usw. aufs neue organisieren würde.» Etwas Derartiges sei in Russ­ land nicht zu erwarten, «denn der Zarismus ist nicht nur die offizielle Verkörperung der russischen Regierung, er ist auch die Grundlage, das Gerüst, der ganze Bau der russischen Gemeinschaft». Ein Verschwinden des Zarentums werde daher zu einer endlosen Reihe von Unruhen, ei­ nem vollständigen gesellschaftlichen Zusammenbruch und wahrschein­ lich einem Zerfall des Reiches führen. Das wäre «Russlands Ende».29 Auch wenn dieses schlichte Bild Paléologues nicht mehr ganz der Re­ alität entsprach, da ein erheblicher Teil der Allgemeinaufgaben bereits in die Hände gesellschaftlicher Einrichtungen übergegangen war, blieb es doch richtig, dass die informellen neuen Strukturen das alte, bürokrati­ sche Staatsgefüge nur in Teilen ersetzen konnten und kaum eine eigene Autorität besaßen. Der «Gossudar», der Herrscher, mochte nur eine Puppe auf dem Thron sein, aber sein Platz durfte nicht leer bleiben. Die «Doppelherrschaft», die sich im Februar herauskristallisierte, ent­ sprang keinem strategischen Plan, allerdings einem informellen Kon­ sens. Das Exekutivkomitee stützte das «bürgerliche» Duma-Komitee in seiner Rolle als Provisorische Regierung, lehnte es jedoch ab, sich selbst zu beteiligen, mit Ausnahme Kerenskis, der den Ehrgeiz hatte, in beiden Organen zum starken Mann zu werden. Das entsprach einer schema­ tischen, aber auch pragmatischen marxistischen Stufentheorie, wonach erst einmal die Bourgeoisie eine neue demokratische Ordnung schaffen und die drängendsten Probleme des Tages lösen müsse. Die Topographie

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der neuen Macht – die Provisorische Regierung im rechten Flügel, das Exekutivkomitee im linken Flügel des Taurischen Palastes – brachte diese Arbeitsteilung deutlich zum Ausdruck. Das Exekutivkomitee verstand sich allerdings nicht nur als Kontroll­ organ der Regierung, sondern als das eigentliche Organ der «Demokra­ tie» und insofern als Quelle der Souveränität. In der Praxis handelte es sich freilich um wenig mehr als ein selbsternanntes Direktorium aus so­ zialistischen Partei-Intellektuellen unterschiedlicher Orientierung, das von den Massenversammlungen des «Arbeiter- und Soldaten-Sowjet» akklamiert, aber kaum kontrolliert wurde. Immerhin konnte es sich aber auf die einzelnen Deputierten und die verschiedenen sozialistischen Parteigruppen in den Betrieben und bald auch in den Militäreinheiten stützen. Dadurch hatte das Exekutivkomitee eine weit größere, faktische Gestaltungs- oder Verhinderungsmacht als die Provisorische Regierung, der es in den ersten Wochen in konflikthafter, aber kollegialer Form we­ sentliche Entscheidungen diktieren konnte. Von umso größerer Bedeutung war es, dass es diese Provisorische Re­ gierung überhaupt gab. Es brauchte einen neuen, sichtbaren Pol der Le­ gitimität, dem die aufständischen Militäreinheiten und bald alle Garni­ sonen der Hauptstadt sich unterstellen konnten, was sie reihenweise auch taten, erst durch Delegierte der überall gebildeten Soldatenkomi­ tees, später auch gefolgt von ihren Offizieren – freilich immer zugleich mit Meldung im linken Palastflügel, beim Exekutivkomitee. Dasselbe ta­ ten in den ersten Wochen die Vertreter der zentralen Behörden und Ver­ bände. Alle waren vital daran interessiert, die in der Hauptstadt ausge­ brochene und sich mittlerweile auf das ganze Land ausbreitende Anar­ chie einzudämmen. Diese Ängste waren nicht aus der Luft gegriffen. Nachdem die Ge­ fängnisse gestürmt worden waren, gingen auch Gerichte und Gerichtsak­ ten in Flammen auf, Kriminelle kamen zu Tausenden frei. Während die Lebensmittelversorgung und der normale Arbeits- und Geschäftsbetrieb in Teilen zusammenbrachen, nahm die Straßenkriminalität zu. Hysterie und Verwirrung wurden noch gesteigert durch die fixe Annahme, dass hinter den Ausschreitungen die «Schwarzen Hundert» steckten, die so das Terrain für eine Ordnungsdiktatur bereiten wollten und dafür wo­ möglich die Unterstützung einer «deutschen Partei» am Hof, im Militär, in der äußersten Rechten erhielten. Dass es Versuche einer Konterrevo­ lution gab, hatte sich doch gezeigt, als noch tagelang von den Dächern herab in die Menge geschossen wurde, die das Feuer erwiderte. Aller­

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dings blieb auch hier unklar, wer auf wen schoss, was reale Bedrohung und was Hysterie war. Schklowski, der immer wieder mobilisiert wurde, um gegen MG-Nester auf den Dächern vorzugehen, konnte nie eines fin­ den und glaubte später, dass die meisten Toten von den Kugeln der eige­ nen Leute getroffen worden waren.30 Der berühmte «Befehl Nr. 1» wurde schon in den ersten Tagen des Aufstands erlassen, auf Drängen der Soldaten, die sich als Meuterer ohne Rückendeckung nicht in die Kasernen zurücktrauten und ihre For­ derungen dem übernächtigten Sokolow, während sie ihn dicht umstan­ den, direkt in die Feder diktierten. Jede Anordnung eines Offiziers musste ab jetzt vom «Soldatenkomitee» der Einheit genehmigt werden, das sich seinerseits allein der Autorität des Petrograder Sowjets unter­ warf und den Anweisungen der «Militärkommission der Duma» nur so weit folgen würde, als diese nicht mit denen des Rates im Konflikt lagen. Schon der Titel des Dokuments «Befehl Nr. 1» war eine Usurpation von Macht, sogar von höchster Macht, die das Exekutivkomitee opera­ tiv gar nicht ausüben konnte. De facto lief dieser Befehl auf die Aufhe­ bung jeder herkömmlichen Armeedisziplin hinaus, und im weiteren Ver­ lauf des Jahres auf die Auflösung der Armee selbst. Aber anfangs brachte er die Masse der Soldaten in die Kasernen zurück und wirkte ordnend, nachdem sich auch das Gros der Offiziere in einer großen Versammlung förmlich «der Revolution angeschlossen» hatte. Oft waren die Vertreter der Soldatenkomitees Unteroffiziere oder Fähnriche, die eine eigene Kommando-Autorität reklamierten und sie vielfach auch hatten. In den Marinestützpunkten in Kronstadt und Helsingfors allerdings, wo sich in der Enge der Schiffe und Quartiere ein starker, bald von Anarchisten ge­ schürter Hass aufgestaut hatte, kam es Ende März / Anfang April zu ers­ ten Lynchmorden an Marineoffizieren; in den Wochen darauf würden diese Offiziersmorde sich häufen und Hunderte Opfer fordern. Nach offiziellen Angaben der Provisorischen Regierungsbehörden hat die «Februarrevolution», wie sie bald genannt wurde, mehr als 300 Tote und über 1000 Verletzte gefordert. Nach informellen, vielleicht dramati­ sierenden Mitteilungen von Mitgliedern der Regierung gegenüber auslän­ dischen Journalisten sollen es sogar rund 1500 Tote und 6000 Verwun­ dete gewesen sein – allein in Petersburg und Umgebung.31 Für das Reich im Ganzen gibt es offenbar keine belastbaren Daten. Dass es sich um eine «friedliche Revolution» gehandelt habe, wie viele damals beschwörend sagten und auch später in Erinnerung behielten, ist insofern ein Euphe­ mismus. Dennoch hat es auch seine Richtigkeit. Denn mit Blick auf das

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schiere Format dieser Staatsumwälzung, die einen riesigen altetablierten, imperialen Machtapparat zu Fall brachte – und das mitten in einem Welt­ krieg  –, kann man diese Zahlen überraschend niedrig finden. Fast ver­ schwindend wirken sie im Verhältnis zu den monströsen menschlichen, materiellen und kulturellen Verlusten, die der völlige Zusammensturz des Russländischen Reichs im Sommer 1917 und erst recht der Bürgerkrieg nach der bolschewistischen Machtübernahme fordern würden. Gerade die Furcht vor der Entfesselung solcher zerstörerischen Kräfte gab den ersten Wochen der Revolution ihren Charakter einer großen theatralischen Beschwörung und eines erhebenden Festes der Gemein­ schaft. Es kulminierte im Begräbnis der «Gefallenen der Revolution» am 23. März / 1. April auf dem Marsfeld im Beisein von Hunderttausenden festlich gekleideter, vielfach nach Fabriken, Behörden, Einheiten ange­ tretener Menschen in Zivil und in Uniform – ohne religiöse Riten und Symbole, die das Exekutivkomitee abgelehnt hatte, dafür mit revolutio­ nären Gesängen in einem Meer roter Fahnen und Transparente. Wie 1905 war 1917 die Farbe Rot das universelle Zeichen, das allegori­ sche Kleid, in das die Auflehnung sich von den ersten Tagen an hüllte, gleich welche Kräfte und Schichten sie einbezog. Arbeiter, Büromäd­ chen, kleine Geschäftsleute, Angestellte und Beamte, Lehrer und Schüler, Soldaten wie Offiziere – wer sich «der Revolution anschloss», legte sich eine rote Armbinde um, bastelte sich eine rote Kokarde, überreichte rote Blumen, flocht ein rotes Bändchen in die Mähne der Pferde oder schnitt aus irgendeinem Stoff eine rote Fahne. Schmale rote Banner, oft aus der Trikolore ausgeschnitten, flatterten auf den Autos und Lastwagen, mit denen Soldaten und Zivilisten, unter dem Applaus der Bevölkerung, durch die Straßen fuhren. Es steckte in der Auflehnung gegen die Autokratie eben auch die in­ ständige Hoffnung auf eine neue Einheit des Volkes. Unbekannte schüt­ telten sich die Hände, umarmten oder küssten sich, wie man es an O ­ stern tat, beglückwünschten einander mit dem traditionellen «Christus ist auferstanden» oder dem abgewandelten «Russland ist auferstanden». Dieses Bild einer Auferstehung wurde auch in den zahllosen Reden und Deklarationen endlos variiert, mit oder ohne religiöse Bezüge, und mit allem Pathos in Dichtungen und Feuilletons wie privaten Aufzeichnun­ gen der ­Literaten, die ihre verzweifelten Hoffnungen auf diese Revolu­ tion richteten. Alexander Blok begrüßte die Revolution als eine Reini­ gung von allen Sünden der Vergangenheit; Tatjana Gippius, die Schwes­

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ter Sinaidas, notierte nach der großen Totenfeier auf dem Marsfeld: «Gott sei Dank, dass sobornost’ über parteijnost’ triumphiert hat» – der spezifisch russische Gemeinschaftsgeist über den Parteienhader.32 Soweit dieses Rot die Farbe der Arbeiterklasse oder des Proletariats war, kündete es in der Tat von einer Erhebung des gesamten armen, ar­ beitenden, geknechteten Volkes. Damit füllte es als ein Symbol der De­ mokratie, des Gemeinwesens, der Nation, den leeren Raum, den die un­ ter dem alten Regime sporadisch verwendete weiß-blau-rote Trikolore inmitten der verwirrenden Vielfalt dynastischer und imperialer Embleme nie ausfüllen konnte. So wehte bald über der gestürmten russischen «Bastille», der Peter-und-Paul-Festung, wie über dem Taurischen Palast und selbst über dem Winterpalast die rote Fahne – als eine neue Staatsoder Nationalfahne. Das aber war sie, wie sich bald zeigte, nur in einem tendenziell exklusiven Sinn: Denn der Begriff der «Demokratie», in de­ ren Namen die Revolution stattfand, schloss im Verständnis der breiten Massen nicht nur die alten adeligen, grundbesitzenden Eliten, sondern auch die «Bourgeoisie» und die mit ihr assoziierten, als «parasitär» be­ trachteten Schichten aus – nicht zuletzt auch jene «bürgerlichen Intellek­ tuellen», die die Revolution und ihren österlichen Geist der Verbrüde­ rung so emphatisch begrüßt hatten. Dieses Rot war in all seinen polaren, unvereinbaren Bedeutungen eben auch ein apokalyptisches Rot. Es erinnerte an die Ströme des im Krieg «vergeblich» vergossenen Bluts, welches Vergeltung forderte – wie und von wem, blieb vorerst offen. Diese immense, irgendwie abzugel­ tende Blutschuld lastete als eine ungeheure Hypothek auf der Revolu­ tion. Wenn in dem universellen Rot, in das sie sich kleidete, immer auch das Pathos einer weltweiten Befreiungsmission mitschwang, sei es im Sinne einer religiös oder slawophil gefärbten «Allmenschlichkeit», ­eines französischen und demokratischen Pathos der «Menschenrechte» oder eines «proletarischen Internationalismus» der marxistischen Schule (Be­ deutungen, die sich vielfach miteinander vermischten), dann waren die Konsequenzen, die angesichts des nicht enden wollenden Weltkriegs da­ raus zu ziehen waren, allerdings diametral entgegengesetzter, bruder­ mörderischer Art. Wenn alle diese Szenerien und Konstellationen dem Ereignis der russi­ schen Revolution eine Art von Klassizität verliehen haben, als habe sich erst in ihnen das wahre Antlitz einer «großen Revolution» enthüllt, wie man es selbst 1789 oder 1830, 1848, 1871 oder 1905 nicht gesehen hatte

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(und im Übrigen auch seither nicht wieder gesehen hat) – dann hat das auch damit zu tun, dass die authentischen Bilder des Februar/März mit den Erzählungen der «Oktoberrevolution», von der es kaum Bilder gibt, in einem Akt der bewussten Usurpation kunstvoll verschmolzen worden sind, so als wäre der Oktober die organische, notwendige Fortsetzung und Vollendung des Februar gewesen. Nichts könnte halbwahrer sein. Nicht nur das universelle, vieldeutige Rot des Februar/März unter­ schied sich vom «parteilichen», monochromen Rot des Oktober/Novem­ ber. Der bolschewistischen Machteroberung fehlte fast alles, was der Re­ volution anfangs den Zug von Volkstümlichkeit und Hochherzigkeit, ih­ ren spontanen, rauschhaften und wahrhaft «massenhaften» Charakter gab. So hatte es in den Februartagen große Bedeutung, dass Militäreinhei­ ten, die sich «der Revolution anschlossen», dies vielfach in der Form des Ausmarsches mit dem kompletten Regimentsorchester taten, das dabei obligatorisch die «Marseillaise» spielte. Es wurde in den Straßen  – vor ­allem im Monat der ersten Freiheit, dem März 1917 – viel und überall ge­ sungen, wenn auch mit unterschiedlichen Texten. Die «Marseillaise» als Hymne der Demokratie und der Revolution schlechthin wurde in der Re­ gel mit einem vom Volkssozialisten Pjotr Lawrow in den 1870 er Jahren verfassten Text gesungen: «Wir sagen uns los von der alten Welt, / und schütteln ihren Staub von den Füßen. / Wir brauchen kein goldenes Idol, / wir verachten den zarischen Götzen.» Und mit dem Refrain: «Steh auf und erhebe dich, Arbeitervolk! / Auf gegen den Feind, hungernder Bruder! / Vorwärts! Vorwärts! / Lasst den Schrei der Volksrache erklingen!» Es gab zahlreiche andere populäre Revolutionslieder wie die «Warsza­ wianka» (in der entnationalisierten Version von 1905) oder den unzäh­ lige Male gesungenen, ebenfalls von 1905 stammenden, ergreifenden Trauermarsch «Unsterbliche Opfer». Immer häufiger und immer ent­ schiedener wurde die bis dahin noch kaum eingebürgerte «Internatio­ nale» angestimmt. Lenin wollte sie bei seiner Ankunft im April aus­ drücklich statt der immer wiederkehrenden «Marseillaise» hören, die ja schließlich auch die Hymne der französischen Bourgeoisie war. Aber als er im Oktober die Macht eroberte, waren die Straßen dunkel und still, abgesehen von einzelnen Schusswechseln; gesungen wurde nicht mehr. Das gab es erst wieder bei den organisierten Massenaufmärschen, etwa am 1. Mai des folgenden Jahres, in denen die neue Macht und ihre Par­ teigänger sich selbst feierten, aber nicht in Form spontan angestimmter Gesänge, sondern als martialisch intonierte, aus vollem Hals herausge­ schmetterte Hymnen.

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Viele Rituale und Ausdrucksformen der ersten Wochen und Monate waren den Traditionen der Französischen Revolution entlehnt, wie die Anrede «Bürger» oder «Bürgerin», die alle gleich stellte, keine «Herren» und «Damen» mehr kannte, Titel und Ränge aufhob. Soldaten, Haus­ mädchen, Kellner verlangten ab jetzt, mit «Sie» angesprochen zu werden statt wie Bauern und Lakaien geduzt zu werden. Da hinein mischte sich die sozialistische Anrede «Genosse» und «Genossin», die eine (vorerst noch sehr weitläufige) Parteinahme und eine besondere Vertrautheit sig­ nalisierte. Solche informellen Verbindungen ergaben sich freilich auch über die Körpersprachen und darüber, wie die Soldaten oder die Matro­ sen ihre Mützen (andersherum) und ihre Mäntel (weit offen) und ihre Gewehre (nach unten) trugen. Natürlich wurde daraus eine Mode, schon weil die jungen Frauen sich selbst aus Uniformstücken daraus eine zu­ recht­schnitten. In gewisser Weise nahm die ganze Revolution Züge eines Kostümfests an, in dem vor allem die Aktivisten sich durch immer neue Stile, Codes und Accessoires miteinander zu verbinden oder voneinander abzuheben suchten, vom Matrosenhemd bis zur halbmilitärischen Tunika, wie Ke­ renski sie trug, oder zu den Lederjacken der Armee-«Kommissare». Da­ gegen riskierte sein Leben, wer noch Offiziersepauletten trug. Und es konnte das Herz stillstehen lassen, wenn Delegierte von Fronteinheiten in Säcken ihre «mit ihrem Blut erkauften» Orden und Medaillen dem Sowjet überlieferten, als ultimatives Zeichen ihrer Loyalität und als ein Schwur, die Revolution zu verteidigen. Die Leere, die der Sturz des Zarismus hinterließ, war eben auch eine symbolische Leere. Erst in der Entweihung und dem Sturz der Denkmä­ ler wurde der Fall der Dynastie unumkehrbar. Das hatte vielfach karne­ valistischen Charakter oder Züge eines heidnischen Rituals, so beim Einschmelzen metallischer Herrschaftssymbole, dem «Adler-Rösten», oder wenn den überall hängenden Porträts der Zaren, Gouverneure, Ge­ neräle und früheren Amtspersonen die Augen ausgestochen wurden. Gleichzeitig trugen diese Aktionen auch einen vandalischen Charakter und verbanden sich mit Plünderungen, die in den Monaten des Zusam­ menbruchs endemisch wurden. Dieser Kehraus hinterließ wieder eine saugende Leere. Auf Amtsschil­ dern und Dokumenten, Geldnoten oder Briefmarken, überall mussten dringend neue Embleme erscheinen, die oft nur Abwandlungen der alten sein konnten, so wenn der Doppeladler einfach nur seiner Krone be­ raubt wurde. Für die bürgerlichen und konstitutionellen Kräfte und Par­

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teien, die die staatsrechtliche Kontinuität auf keinen Fall abbrechen las­ sen wollten, war es gerade wichtig, das kenntlich zu machen; so wie sie auch versuchten, die alte Hymne «Gott schütze den Zaren» zur neuen Nationalhymne «Gott schütze des Volk» umzuwandeln. Das provo­ zierte die Herausbildung neuer, eigener, scharf abgegrenzter kultureller Symbole, wie die Traditionen der Volkstümler und Sozialisten sie in gro­ ßer Vielfalt zur Verfügung stellten, von der «aufgehenden Sonne» bis zu «Hammer und Sichel», die in einer altertümlichen Zunftsprache die Ver­ bindung von Arbeiter- und Bauernschaft symbolisieren sollten – natür­ lich auf rotem Grund.33 Das alles trug durchaus Züge eines latenten «Klassenkampfs», allerdings entlang von Frontlinien, die keiner klassischen Beschreibung entspra­ chen: nämlich zwischen dem lesekundigen, politisch aktiven Teil der Ge­ sellschaft und einem anderen, unendlich größeren Teil, einer «dunklen Masse», die außerhalb von Gesellschaft, Medien und Politik stand und, auch wenn sie nicht mehr illiterat war, bisher «stumm» geblieben war.34 Eben das änderte sich mit dem Ausbruch der Revolution. Im Februar/ März 1917 explodierten – wie 1905 schon einmal – die Anzahl der Zei­ tungen und Zeitschriften, Bücher und Broschüren, Bilderbogen oder Lie­ derbücher, mit Auflagen, die in die Hunderttausende und Millionen gin­ gen. Auf manchen Gebieten – etwa der Broschürenliteratur – überflügelte das aufschießende sozialistische Verlagswesen mit einer Gesamtauflage von beinahe 30 Millionen Exemplaren im Jahr 1917 die entsprechende Produktion der «bürgerlichen» Pressehäuser bereits um das Dreifache; was allerdings auch damit zusammenhing, dass Liberale und Konserva­ tive es verschmähten, ihre Positionen derart billig unters Volk zu brin­ gen.35 Das würde sie teuer zu stehen kommen. Eine Ebene darunter erlebten Theater und Kinos, Musikcafés und Ca­ barets, Teeräume und Volkshäuser, die sich seit der Jahrhundertwende enorm vermehrt hatten, einen nochmaligen Boom, ähnlich wie die durchaus seichte und vielfach obszöne Serienproduktion von Spottver­ sen und Sketchen, in denen das Sodom am Zarenhof jetzt schon als ver­ bürgte Tatsache galt. So war der revolutionäre Ausbruch vom Frühjahr 1917 auch ein großes hysterisches Gelächter, in dem vieles mit unterging, das man eben noch zum «silbernen Zeitalter» der russischen Kultur ge­ rechnet hatte. Schließlich produzierte die Revolution etwas noch Elementareres: «In wenigen Monaten sprach Russland alles aus, worüber es ganze Jahrhun­

4. Auferstehung – März 1917

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derte geschwiegen hatte. Von Februar bis Herbst 1917 glich das Land Tag und Nacht einer pausenlosen, chaotischen Volksversammlung. Die Menschen rotteten sich zusammen und lärmten auf den Plätzen der Städte, an Denkmälern, auf den nach Chlor riechenden Bahnhöfen, in Fa­ briken und Dörfern, auf Märkten, auf jedem Hof, auf der Treppe jedes halbwegs bewohnten Hauses.» So Konstantin Paustowski in seinem Be­ richt vom «Beginn eines unbekannten Zeitalters», dem zweiten Teil seines großen, spätsowjetischen Memoirenwerks «Erzählungen vom Leben».36 Russland, das sich in diesen Wochen und Monaten rühmte, das «frei­ este Land der Welt» zu sein, erging sich im Rausch des freien Wortes, der entbundenen Gedanken, eines aus den Tiefen des Unbewussten gespeis­ ten, von phantastischen Erwartungen oder psychotischen Gespenstern getriebenen Bewusstseinsstroms. Nach dem Oktober war mit dem gro­ ßen Palaver Schluss, und was davon übrig blieb, versickerte in die Mik­ rostrukturen des Alltags, der Hausflure, der Gemeinschafts­küchen, wäh­ rend die Zeit der pathetischen Ansprachen, autoritativen Belehrungen und routinierten Sprechakte begann. Aber solange das große, öffentliche Palaver dauerte, war es ein außerordentliches Ereignis, eine Grundwelle, die freilich mit dazu beitrug, dass der «Staat zerfiel wie ein Klumpen feuchten Lehms». Was aus den Mündern herauskam, war ebenso freilich anrührend wie erschreckend. «Schwarze Wolken wollen die strahlende Sonne unserer Freiheit verdunkeln», hob einer an, der ein selbst verfasstes Gedicht ver­ lesen wollte, aber nach wenigen Zeilen vom Sockel des Moskauer Pusch­ kin-Denkmals heruntergezerrt wurde. «Mehr als die Hälfte von euch sind Spione!», erklärte als nächstes ein Soldat der verblüfft schweigen­ den Menge: «Saubande! Habt euch rote Binden angesteckt und denkt, wir durchschauen euch nicht!» Er forderte die anwesenden «Kameraden von der Front» auf, die Menge zu umzingeln, die Papiere zu kontrollie­ ren und mit allen, die keine hatten, kurzen Prozess zu machen.37 Jeder war jetzt aufgerufen, das Land, das Volk, die Heimat zu schützen – ge­ gen die «Anderen».

TEIL X

Marsch ins Niemandsland

1. Elementarkräfte – Juli 1917

Über den Rubikon

E

in «strahlendes, blendendes, fremdartiges Licht» habe alle geblendet, die bei Lenins Ankunft auf dem Finnischen Bahnhof in Petrograd am 3./16. April 1917 zugegen waren, und ein «neuer, scharfer, etwas betäu­ bender Ton» sei zu ihnen gedrungen, als sie der kurzen Ansprache des bisher kaum jemandem persönlich bekannten Führers der Bolschewiken zuhörten – so Nikolai Suchanow. Tscheidse hatte namens der zur Begrü­ ßung angetretenen Führer des Exekutivkomitees des Petrograder Sowjet seiner Hoffnung Ausdruck gegeben, dass die Bolschewiki sich am Zusam­ menschluss der demokratischen Kräfte zur Verteidigung der Revolution beteiligen würden. Woraufhin Lenin sich, ohne darauf im Geringsten Be­ zug zu nehmen, an die «Genossen, Soldaten, Matrosen und Arbeiter» wandte und sie als «die Avantgarde der proletarischen Armee der ganzen Welt» begrüßte. Die Stunde sei nicht fern, da der Zusammenbruch des imperialistischen Kriegs den «Beginn eines Bürgerkriegs in ganz Europa» markieren werde, in dem «die Völker ihre Waffen gegen die kapitalisti­ schen Ausbeuter wenden». Um zu schließen: «Es lebe die sozialistische Weltrevolution!»1 Seine Parteigenossen hatten einige Tausend Arbeiter und Soldaten, dazu Schiffsscheinwerfer, eine Musikkapelle und einen Panzerwagen or­ ganisiert, mit dem sie ihren Führer «im Triumph» zum Hauptquartier der Partei im okkupierten Palais der zaristischen Staatsballerina Kseshin­ skaja geleiteten. Ungewöhnlich war das nicht: Plechanow hatte ein paar Tage vorher einen ähnlich «triumphalen» Empfang bekommen, Tscher­ now, der Führer der Sozialrevolutionäre, würde zwei Tage später Ähn­ liches erleben. Die Führer der revolutionären Parteien kehrten einer nach dem andern aus dem Exil zurück. Allerdings hatten die Bolsche­ wiki, genauer gesagt: der kleine, eben wieder aufgetauchte Restkader, Lenins Rückkehr genutzt, um aus ihrer marginalen Rolle in den ersten Revolutionstagen herauszutreten und zu zeigen, dass sie auch während des Krieges in den großen Betrieben einigen Einfluss behalten und im Militär jetzt frisch dazugewonnen hatten.

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Unzählige Abbildungen haben daraus eine revolutionäre Urszene ge­ macht, Stefan Zweig erhob sie zur letzten seiner «Sternstunden der Menschheit»: Wie «der Mann, der vorgestern noch bei dem Flickschus­ ter gewohnt, schon von Hunderten Händen gefasst und auf ein Panzer­ automobil gehoben» wurde, und wie er, von Scheinwerfern beleuchtet, «seine erste Rede an das Volk» gerichtet habe: «Die Straßen beben, und bald haben die ‹Zehn Tage, die die Welt erschüttern›, begonnen».2 In Wirklichkeit war dies eine der ganz wenigen Situationen, in denen Lenin jemals vor einer größeren, unbestimmten Masse sprach. Inmitten des Wirbels von Begrüßungen, Ansprachen, Gesängen und Hochrufen, die auf ihn einprasselten, soll er, wie Trotzki (der selbst gar nicht dabei war) in seiner «Geschichte der russischen Revolution» schrieb, eher «wie ein ungeduldiger Passant» gewirkt haben, der den Regen unter einer Torein­ fahrt abwartet und dabei immer wieder auf die Uhr blickt.3 Denn er war gekommen, um seine Partei aus dem Massentaumel der Februarrevolution herauszulösen und auf ganz andere Aufgaben vorzu­ bereiten. Gleich nach dem Empfang im bolschewistischen Hauptquar­ tier entrollte er vor Teilen seines Kaderkorps sowie etlichen Gästen aus anderen sozialistischen Parteien in einer zweistündigen Rede sein Pro­ gramm, wie er es im ersten seiner «Briefe aus der Ferne» und in seinen auf der Fahrt durch Deutschland, Schweden und Finnland formulierten, bislang niemandem bekannten «April-Thesen» zusammengefasst hatte. Dieses Programm machte fast alle bisherigen Positionen und sämtliche praktischen Interventionen seiner Genossen zur Makulatur. Seine anwesenden Anhänger applaudierten frenetisch, froh, ihren his­ torischen Führer endlich zu sehen. Aber die Gebildeteren unter ihnen «starrten mit einem merkwürdigen Augenausdruck einen unbestimmten Punkt an oder ließen ihren geistesabwesenden Blick über die Versamm­ lung streifen» – so Suchanow, dem selbst die ganze Nacht hindurch noch so war, «als ließe jemand ständig Dreschflegel auf meinem Kopf nieder­ sausen.»4 Denn was Lenin da entwickelt hatte, sprengte jedes noch so radikal formulierte marxistische Schema der Entwicklung und jedes bis­ herige Programm. «On s’engage et puis on voit», man stürzt sich ins Gefecht, und dann sieht man weiter. Dieser Napoleon zugeschriebenen Devise sei seine ge­ samte Politik seit der Machteroberung gefolgt, schrieb Lenin in einem seiner letzten Artikel, kurz vor seinem Tod, als er in den soeben erschie­ nenen «Aufzeichnungen Suchanows über die Revolution» blätterte.

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Teil X: Marsch ins Niemandsland

Stürze man sich aber einmal ins Gefecht, wie die Bolschewiki es 1917 ge­ tan hätten, dann sei man eben zu solchen taktischen Wendungen wie zum Beispiel dem Brester Frieden mit Deutschland und Österreich oder der 1921 inaugurierten NEP (der liberaleren «Neuen Ökonomischen Po­ litik») genötigt. Wenn die Revolution demnächst die «Länder des gesam­ ten Ostens» erreiche, werde man noch ganz andere Entwicklungen erle­ ben als in Russland.5 Die Verstörung, die Lenins «April-Thesen» auslösten, hatte allerdings gerade damit zu tun, dass er, wie es vielen schien, starrsinnig an einer Po­ litik der Spaltung und Selbstisolation festhielt und seine früher schon als extrem empfundenen Ansichten noch einmal radikalisiert hatte, statt sie der revolutionär verwandelten Situation anzupassen. Er seinerseits hatte in seinem Schweizer Exil genau das befürchtet: «dass «sich die Unsern auf eine ‹Einheit› mit Tscheidse & Co. einließen» und «der allgemeinen Krankheit verfallen …, sich ‹einfach› zu begeistern».6 Eben deshalb hatte er sich fieberhaft Gedanken gemacht, wie er so rasch wie möglich nach Russland zurückkehren könne. So bat er Inessa Armand zu prüfen, ob nicht einige «russische Sozialpatrioten» in Genf «bei den Deutschen für eine Durchreisegenehmigung» ansuchen und «einen Eisenbahnwagen bis Kopenhagen für verschiedene Revolutio­ näre» besorgen könnten. Die deutsche Seite war ihrerseits interessiert, die russischen Revolutionäre, zumindest die «Defätisten» unter ihnen, durchzuschleusen. Die Kriegserklärung der USA stand unmittelbar be­ vor, und die deutsche Regierung wie die Öffentlichkeit waren zu der Auf­ fassung gekommen, dass es sich beim demokratischen Februar-Umsturz in Petersburg in Wahrheit «um eine englische Revolution auf russischem Boden» handele (so die «Kreuz-Zeitung»).7 Kurt Riezler, der «Russ­ land-Beauftragte» des Reichskanzlers, notierte am 1. April: «Das freie Russland wird die große Gefahr der Zukunft – es bekommt nach zwei Jahrzehnten eine schreckliche Kraft.»8 Eile war also geboten. Lenin trieb die Verhandlungen mit der deutschen Botschaft in Bern seinerseits voran, gegen die Bedenken des Großteils der mittlerweile 300 heimkehrwilligen Exilanten, die für eine derart anrüchige Reise durch das Land des Kriegsgegners zumindest ein Placet des Petersburger Exe­ kutivkomitees einholen wollten. Mit Hilfe des jungen Schweizer Sozial­ demokraten Karl Platten, der die Gespräche führte und als «Transport­ führer» fungieren sollte, stellte Lenin einige «Bedingungen», die etwa die Exterritorialität des «plombierten Waggons» betrafen, legte einige falsche Spuren, was seine angeblich gescheiterten Bemühungen einer

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Ausreise via Frankreich und England betraf, ließ sich von einigen Schwei­ zer und russischen «Internationalisten» eine Art Unbedenklichkeits­ erklärung ausstellen, und machte sich schließlich mit einer Gruppe von 32 Emigranten – mehrheitlich, aber nicht ausschließlich Bolschewiki – auf die Reise, die sie mit der Bahn via Stuttgart und Berlin nach Saßnitz auf Rügen, und von dort mit der Fähre nach Stockholm führte. Dort installierte er aus Radek, Worowski und Hanecki ein «Auslands­ büro» seiner Partei. Drei Tage später kam er, da die Provisorische Regie­ rung nicht gewagt hatte, ihn und seine Entourage an der schwedisch-fin­ nischen Grenze aufhalten zu lassen, in Petrograd an. Wie eng und wie interessiert die deutsche Seite die Entwicklung verfolgte, zeigt die Voll­ zugsmeldung des Residenten der deutschen Abwehr in Stockholm, die die Oberste Heeresleitung vom 17. April an das Auswärtige Amt weiter­ leitete, wo sie die höchsten Reichsinstanzen beschäftigte: «Eintritt Lenins nach Russland geglückt. Er arbeitet völlig nach Wunsch. Daher Wut­ geheul Stockholmer Entente …»9 Das besagte wenig über Lenin, umso mehr aber über die Interessen der deutschen Seite – mit d ­ enen Lenin sei­ nerseits Politik machen konnte. Lenins zehn «April-Thesen», so unfertig und unstimmig sie waren, be­ gründeten eine vollkommen neue Haltung zur eben erfolgten demokra­ tischen Revolution. Schon von Zürich aus hatte er ein Telegramm an die nach Petrograd rückkehrenden Parteimitglieder geschickt: «Unsere Tak­ tik: vollständiges Misstrauen, keine Unterstützung der neuen Regierung; Kerenski besonders verdächtig; Bewaffnung des Proletariats die einzige Garantie; sofortige Wahlen zu der Petrograder Duma; keine Annähe­ rung an andere Parteien.» Besonders das Letztere war, wie er seinem Genfer Kontaktmann Karpinski erklärte, «die conditio sine qua non».10 (Man beachte, wie immer in Lenin-Texten, die Hervorhebungen, die im Original kräftige Unterstreichungen waren.) Die Thesen, die er seinem noch immer ziemlich kleinen Parteikader in einem Stakkato von internen Versammlungen, Artikeln und Broschüren einhämmerte, trugen Züge eines Diktats: Erstens, keinerlei «revolutio­ näre Vaterlandsverteidigung» für diese Republik, da ohne proletarische Revolution kein demokratischer Frieden möglich war. Zweitens, sofor­ tige Aufnahme des Kampfs für die Übergabe der Macht aus den Händen der Bourgeoisie in die Hände des Proletariats und der armen Bauern. Drittens, bis dahin keinerlei Unterstützung der Provisorischen Regie­ rung. Viertens, unbedingte Abgrenzung der bolschewistischen Minder­

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heit in den Sowjets von der sozialistischen Mehrheit, die mit dieser Re­ gierung zusammenarbeitete. Fünftens, keine parlamentarische Republik, sondern eine Republik der Sowjets der Arbeiter-, Soldaten-, Landarbei­ ter- und Bauerndeputierten, von oben bis unten; Abschaffung der Armee, der Polizei, der Beamtenschaft. Sechstens, Konfiskation aller Gutslände­ reien durch die Sowjets der Bauern und Landarbeiter bei gleichzeitiger Nationalisierung allen Grund und Bodens. Siebtens, Errichtung einer Nationalbank unter Kontrolle eines (obersten) Sowjet. Achtens, Kon­ trolle der gesamten gesellschaftlichen Produktion und Verteilung durch die (betrieblichen, lokalen und zentralen) Arbeiterkomitees und Sowjets. Neuntens, Revision des Parteiprogramms und Änderung des Partei­ namens in Kommunistische Partei Russlands. Zehntens, Aufbau einer neuen, revolutionären, kommunistischen Internationale gegen Sozial­ chauvinisten und Sozialpazifisten.11 Allen war klar, dass Lenin damit den Rubikon zu einer vollkommen anderen Revolution überschritten hatte. War die unter aktiver Selbst­ organisation der proletarischen Massen und der mit ihnen verbundenen sozialistischen Parteien siegreiche demokratische Revolution nicht erst einmal genau das, was man gefordert und erhofft hatte? Sollte man die neuen, provisorischen Institutionen, deren Mehrheiten sich Woche für Woche weiter nach links verschoben, nicht wenigstens eine Zeitlang un­ terstützen? Sollte man nicht zumindest eine Aktionseinheit der sozialis­ tischen Parteien oder wenigstens Fraktionen anstreben, um die Sowjets zu wirksamen Kontrollorganen der sozial-liberalen Regierung auszu­ bauen, um später, wenn eine neue, demokratische Verfassung verab­ schiedet wäre und die Mehrheiten es erlaubten, selbst die Regierung als Teil einer Linkskoalition zu übernehmen? Alexander Schljapnikow, der Hauptkontaktmann Lenins während des gesamten Krieges, schrieb in seinen Erinnerungen: «Wir waren mit den Menschewiki darin einig, dass wir den Moment eines revolutionären Bruches der Feudal- und Leibeigenschaftsverhältnisse durchleben und dass diese durch verschiedene, den bürgerlichen Verhältnissen eigene ‹Freiheiten› abgelöst werden.»12 Deshalb hatten weder im Exekutivko­ mitee noch im Plenum des Sowjet die Vertreter der Bolschewiki (darun­ ter Stalin und Molotow) Einwände gegen die Bildung und bedingte Un­ terstützung einer von den Liberalen gebildeten Provisorischen Regierung erhoben. Schlimmer noch: Sie hatten mit «Meshrayonzy» und Mensche­ wiki, mit denen sie in den Betrieben und auf allen möglichen Ebenen zu­ sammenarbeiteten, Gespräche über eine Wiederannäherung aufgenom­

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men. Schließlich musste man sich doch auf die fälligen Wahlen zu den Sowjets, den Stadt-Dumas und einer möglichst bald einzuberufenden Verfassunggebenden Versammlung vorbereiten. Alles daran war falsch. Die Uhren mussten neu gestellt werden. Lenin konterte die geläufigsten Einwände gegen seine «April-Thesen» (die in der «Prawda» nur mit einem distanzierenden Vorwort abgedruckt wor­ den waren) frontal. Das Argument seiner Kritiker: «Es droht der ökono­ mische Zusammenbruch. Darum wäre die Beseitigung der Bourgeoisie ein Fehler», drehte er genau um: «Je näher der Zusammenbruch, desto dringender die Beseitigung der Bourgeoisie.» Die Errichtung einer «un­ eingeschränkten Herrschaft der Sowjets», d. h. eines Staates «vom Typus der Pariser Kommune», werde es alleine ermöglichen, mittels diktatori­ scher Eingriffe in Produktion, Versorgung, Verwaltung usw. Schritte hin zum Sozialismus einzuleiten. «Was aber zwingt zu solchen Schritten? Der Hunger. Die Zerrüttung der Wirtschaft. Der drohende Zusammen­ bruch. Die Schrecken des Krieges.»13 Der imperialistische Weltkrieg also war es, der es ermöglichte und er­ zwang, alle überkommenen Strategien und Programmatiken zu über­ denken. Als «ein großer, mächtiger und allgewaltiger ‹Regisseur›, der … imstande war, einerseits den Gang der Weltgeschichte ungeheuer zu be­ schleunigen und andererseits weltumfassende Krisen … von ungeahnter Intensität hervorzurufen», hatte er im großen Welttheater «die kriegfüh­ renden Mächte … mit eisernen Ketten aneinandergefesselt». Alles trieb auf eine finale Krise zu. Dass gerade im zaristischen Russland diese ­«revolutionäre Krise zuerst ausgebrochen ist», war ganz natürlich, weil hier «die Desorganisation am ungeheuerlichsten war und … das Proleta­ riat am revolutionärsten ist». Und wenn es sich dabei zunächst um eine «bürgerliche Revolution» handelte, dann bedeutete das gerade nicht, «die Bourgeoisie (zu) unterstützen», sondern genau umgekehrt: sofort «den Betrug der bürgerlichen Politikaster» zu entlarven, die Arbeiter und das Volk mittels der Sowjets zu organisieren und ihnen zu helfen, sich «auf die eigene Bewaffnung zu verlassen».14 Die manische Textproduktion Lenins – von Texten wohlgemerkt, die für die Masse nur schwer verständlich waren und im Wesentlichen Di­ rektiven für seinen wachsenden Parteikader darstellten – hat immer wie­ der Anlass gegeben, in seinen theoretischen Konzeptionen den Schlüssel zum Erfolg seiner Politik und zur Charakteristik des Sowjetstaates zu ­suchen. In der Tat kann man, wenn man sich in Lenins 40-bändige «Werke» vertieft, eine Art «doctrinal revolution» finden, die auf eine

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Reformulierung oder Verschärfung der von ihm seit 1902 entwickelten Doktrinen hi­nauslief und seiner Machteroberung vorausging.15 Ebenso überzeugend kann man aber auch eine enorme Reaktionsschnelligkeit und situative Wendigkeit seiner Politik in diesem Revolutionsjahr 1917 konstatieren, die keine Scheu vor logischen Widersprüchen und prakti­ schen Selbstrevisionen kannte und auch vor bewussten Unwahrheiten gegenüber Dritten wie den eigenen Anhängern nicht zurückschreckte.16 Taktik, Strategie, Theorie – alles war funktional und stets im Fluss. Zugleich geschah vieles, was seiner Partei den Weg zur Macht geebnet hat, gegen Lenins erklärten Willen. Zwar folgte ihm der Führungskader seiner Partei in allen entscheidenden Wendungen, aber oft nur sehr wi­ derstrebend, unter eigener Interpretation oder stillschweigender Ignorie­ rung seiner Direktiven. Trotzki, den Lenin noch im Februar 1917 in ­einem Brief an Kollontai als «Schwein» bezeichnet hatte, das man ent­ larven müsse,17 den er nach der Rückkehr aus Amerika im Mai aber ­zusammen mit Lunatscharski, Rjasanow, Joffe und einigen anderen Ver­ tretern der mit den Petrograder «Meshrayonzy» verbundenen Zwischen­ fraktion seinem eigenen Machtzentrum eingegliedert hatte, erwies sich als ein Rhetor und Stratege eigenen, selbständigen Formats, dessen Rolle in der Oktoberrevolution wie im Bürgerkrieg kaum überschätzt wer­ den kann. Andererseits gab es außerhalb der bolschewistischen Partei Akteure, die sie zunehmend unter Druck setzten, Aufgebote bewaffneter, anarchisch gestimmter Arbeiter, Soldaten, Matrosen, die (wie Lenin sagte) «links von der Partei standen», und zu deren Anführern wie Dy­ benko in der Flottenbasis Helsingfors und Raskolnikow im «roten Kron­ stadt» er einen Draht persönlicher Loyalität spannte, um sie notfalls ­gegen das zögernde Zentralkomitee seiner Partei in Stellung zu bringen. Wenn Lenin den Weg zur Macht als einen langen, windungsreichen Feldzug beschrieb, war das keine bloße Metapher. Da der Krieg nach Clausewitz eine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln war, konnte oder musste revolutionäre Politik umgekehrt eine Form des Krieges, des Bürgerkrieges oder notfalls des Staatenkrieges sein. Einmal begonnen, dominierte das Unvorhergesehene, war alles Improvisation, Kampf mit dem Chaos. Eine sozialistische Revolution konnte nur ein Marsch in ein historisches Niemandsland sein, für den es keine Karten gab. Dabei waren viele, fast alle Grundannahmen der Politik Lenins frag­ würdig oder falsch; aber den Sieg und die Konsolidierung des von ihm begründeten Staatswesens haben diese Irrtümer trotzdem nicht behin­ dert, teilweise sogar befördert. Das galt für seine erschütternd schlichten

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Wirtschafts- und Gesellschaftsvorstellungen ebenso wie für seine «Impe­ rialismustheorie», die, je länger der Weltkrieg dauerte, umso weniger zu erklären vermochte, warum die kapitalistischen Hauptmächte sich selbstmörderisch zerfleischten. Das ganze Jahr 1916 hindurch hatte Lenin die Alarmglocke geschlagen, dass ein imperialistischer Separat­ frieden zwischen dem Deutschen Reich und dem Zarenreich unmittelbar bevorstehe und zur Fortführung des Weltkriegs in völlig veränderten Konstellationen führen werde.18 Nach der Februarrevolution ging er ­davon aus, dass genau diese Gefahr eines deutsch-russischen «Friedens­ komplotts» der Hauptgrund gewesen sei, warum der «englisch-französi­ sche Imperialismus mit dem oktobristisch-kadettischen Kapital Russ­ lands» sich zum Zweck der «Organisierung einer Verschwörung gegen Nikolaus Romanow» zusammengeschlossen habe – um den Krieg nun erst recht «bis zum endgültigen Sieg» weiterzuführen.19 Das war nicht gänzlich falsch. Aber in der Zeit seines eigenen Griffs nach der Macht zeigte er sich davon überzeugt (oder verkündete das je­ denfalls), dass nunmehr ein Separatfrieden und ein globaler Interessen­ ausgleich zwischen Deutschland und England unmittelbar drohe, um «die Regierung der Weltrevolution», also sein eigenes neues Regime, ge­ meinsam zu erwürgen – weshalb er sich nicht zu scheuen brauchte, im Gegenteil gezwungen und legitimiert war, mit dem kaiserlichen Deutsch­ land in Brest einen Separatfrieden mit allen weltpolitischen Folgen ab­ zuschließen. Als das Deutsche Reich im November 1918 unerwartet ­kapituliert hatte und sich die Friedensbedingungen von Versailles an­ kündigten, fand Lenin für die Tatsache, dass «der Weltimperialismus sich nicht so auf uns stürzen konnte wie dies seiner Feindschaft und sei­ ner durch den Krieg unerhört gesteigerten kapitalistischen Profitgier ent­ sprochen hätte», nur die höchst unmaterialistische Erklärung: «Der Krieg mit seinem Blutrausch trübte den Blick.»20 Im Banne dieses leninistischen Zwangs- und Fehlgedankens einer stets drohenden, eigentlich gesetzmäßigen Vereinigung des «Weltimperialis­ mus» gegen Sowjetrussland und die sozialistische Weltbewegung haben die Kremlherrscher von Anfang bis Ende gestanden. Das motivierte sie nur umso mehr, alle Spaltungen innerhalb des «kapitalistischen Lagers», sprich: das Spiel der verfeindeten «alten» und «jungen» Großmächte möglichst kaltblütig auszunutzen. Erst Gorbatschow löste sich, halb der Not, halb dem eigenen Drang folgend, im 70. Jahr der Oktoberrevolu­ tion für einen kurzen, glücklichen Moment aus diesem fatalen Bann.

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Die Verwandlung des Weltkriegs in den Bürgerkrieg, wie Lenin sie seit 1914 prognostiziert und gefordert hatte, ging im Sommer 1917 in Erfül­ lung. Als eine bloße «Kriegsmüdigkeit» und «Friedenssehnsucht» der Massen, der allein die Bolschewiki entsprochen hätten, ließ sich diese ­innere Radikalisierung allerdings kaum verstehen. Es handelte sich viel­ mehr um eine geballte, bewaffnete Akkumulation gesellschaft­licher An­ sprüche, die ihre Legitimation gerade aus den im Krieg gebrachten ­Opfern bezog. Es war ein nach innen gerichteter Revanchismus, bei dem soziale und nationale Motive sich im Vorwurf des «Verrats» der Herr­ schenden an ihrem Volk vermischten. In dieser Stimmung hatte sich be­ reits der Übergang der Soldaten auf die Seite der Demonstranten im ­Februar/März vollzogen, der diesen Unruhen von Beginn an ein voll­ kommen anderes Gepräge gab als 1904/05. Und aus diesem Fonds von Affekten und Ansprüchen nährte sich erst recht die Machteroberung der Bolschewiki im Oktober/November. Das «revolutionäre Subjekt», das alle politischen und sozialen Kon­ flikte entscheidend verschärfte, aber in einem soziologisch strengen Sinn kaum zu fassen war, bildeten die ca. neun Millionen jungen Männer in Uniform (sechs Millionen an der Front, zwei bis drei Millionen in den inländischen Garnisonen, Stäben, Verwaltungen und Lazaretten). Zu mehr als 90 % bäuerlicher Herkunft und fern der Heimat, waren die Soldaten in ihren Kasernen gleichsam in Dauerversammlung, weil die militärischen Übungen großteils ausgesetzt waren und sie nichts zu tun hatten. Sie wählten pro Kompanie ihre Deputierten (die schon deshalb rein zah­lenmäßig die Arbeiter und Vertreter der anderen Professionen in den hauptstädtischen Sowjets dominierten) sowie Soldatenräte, die die «Kontrolle» über die Offiziere und Versorgungsfeldwebel ausübten. Viele ­Regimenter hatten sich in den ersten zwei Revolutionswochen per Konfiszierung einen Wagenpark zugelegt, mit dem sie (samt ihren Mäd­ chen) auf «Patrouille» fuhren, und durchgesetzt, dass sie auf den Stra­ ßenbahnen und in Zügen umsonst fahren durften, während Zivilisten zu Fuß gehen oder zurückbleiben mussten. Diese Ansprüche leiteten die Soldaten jetzt vor allem aus ihrer Rolle als «Verteidiger der Revolution» her, auch als es die Gefahr einer Konter­ revolution kaum noch gab – außer sie wäre von ihnen selbst ausgegan­ gen. Umso eifriger traten sie in den ersten Wochen allerdings, in Über­ einstimmung mit der Mehrheit des Exekutivkomitees und des Sowjet, für einen entschiedenen «revolutionären Defensismus» ein, wie das neue politische Schlagwort lautete. Ihre martialisch demonstrierte Entschlos­

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senheit, die Revolution nach innen wie nach außen zu verteidigen, äu­ ßerte sich nicht nur in Angriffen auf alle für unzuverlässig gehaltenen Offiziere, sondern ebenso auf all diejenigen, die in der Presse oder in der Propaganda gegnerischer Parteien als trojanische Pferde oder Agenten des Feindes denunziert wurden. Das galt anfangs auch für die Bolschewiki, sobald die deutsche Hilfe für Lenin ruchbar geworden war. Die Einheit, die den Panzerwagen für seinen Empfang gestellt hatte, bereute dies öffentlich. Auf nicht wenigen Versammlungen gab es Resolutionen, Lenin und seine Leute müssten wegen Kollaboration verurteilt werden, so wie alle, die bereit seien, das Vaterland zu verraten. Außenminister Miljukow fühlte sich im April von einer Woge des Patriotismus getragen, als er den Alliierten versicherte, Russland werde seine Bündnispflichten erfüllen und hoffe, seine legiti­ men Kriegsziele, wie die Kontrolle der Dardanellen, durch verstärkte Kriegsanstrengungen und einen gemeinsamen Sieg zu erreichen. Das wurde als Ankündigung verstanden, wieder aktiv in den Welt­ krieg einzutreten. Daraufhin schlug die eben noch so militant verteidi­ gungsbereite Stimmung abrupt um, und der Zorn der Garnisonssolda­ ten, die fürchteten, an die Front verlegt zu werden, richtete sich nun ­gegen die liberalen Minister. Der Arbeiter- und Soldatenrat erzwang un­ ter dem Druck aufmarschierter bewaffneter Einheiten Ende April einen ausdrücklichen Verzicht der vom Fürsten Lwow geführten Regierung auf alle imperialistischen Expansionsziele und im Mai den Rücktritt von Außenminister Miljukow und Kriegsminister Gutschkow. Von der Posi­ tion eines «revolutionären Defensismus» rückte der Sowjet deshalb je­ doch nicht ab, ganz im Gegenteil: Jetzt war klargestellt, dass die Armee der Sicherung der Revolution sowie eines gerechten «Friedens ohne An­ nexionen und Kontributionen» dienen würde. Diesen Friedensschluss allerdings brauchte Russland dringend. Und hier lag das große Dilemma für den Sowjet. Sein feierlicher Aufruf «An die Völker der ganzen Welt» von Mitte März, in dem die «Genossen, Prole­ tarier und Werktätigen aller Länder», aber insbesondere die deutschen und österreichischen Arbeiter zur «Wiederherstellung und Befestigung der internationalen Einheit» und zum «entschiedenen Kampf gegen die Eroberungsgelüste» ihrer Regierungen aufgefordert worden waren,21 hatte auf beiden Seiten nur ein sehr verhaltenes Echo gefunden. Wohl gab es in Deutschland einige größere Streiks und Flugblätter, worin sich – wie beim Aprilstreik in Berlin – inmitten eines Katalogs politischer

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Forderungen auch eine Aufforderung an die Betriebe und Berufsgruppen fand, «Vertreter zu entsenden, um einen Arbeiterrat zu bilden». Kurt Riezler hatte schon unter dem Datum des 28. März in seinem Tagebuch notiert: «Situation im Innern ungeheuer prekär. Hunger, Unruhe, daher die Soz[ial] Dem[okraten] im Innern fordernd – leider nicht ohne Unter­ ton der Erpressung und [mit dem] Finger nach Russland zeigend  … Dazu auf der anderen Seite Wutgeheul aller konservativen Militairs … Wenn der Hunger kommt und nicht zum mindesten gleichzeitig der Friede, dann bekommen wir Zustände, die zur Revolution führen müs­ sen, wenn sie dauern.» Zugleich finden sich jedoch auch Einträge wie: «Wenn wir jetzt noch Atem hätten, um Russland niederzuwerfen! Wir könnten uns auf ein Jahrhundert sichern!» (16. April) Und: «Die Be­ richte von der russischen Armee lauten so, dass man sich schwer vorstel­ len soll, wie diese Armee dem Angebot eines Waffenstillstands sollte standhalten können. Ich hoffe, es geschieht.» (25. April)22 Aber gerade wegen der erodierenden russischen Fronten, wo ein fak­ tischer Waffenstillstand herrschte, hatte es seine kriegspolitische Logik, dass die Regierungs- und Verfassungskrise im Juli 1917 mit dem Sturz Bethmann-Hollwegs und einer neuerlichen Machterweiterung der Obersten Heeresleitung endete, wogegen der «Interfraktionelle Aus­ schuss» der auf Parlamentarisierung drängenden Reichstagsmehrheit sich trotz des Kriegseintritts der USA und der Eröffnung des unbe­ schränkten U-Boot-Kriegs zu keiner entscheidenden Tat aufraffen konnte. Solange das so war, konnten die russischen Soldaten ihre Schützen­ gräben nicht einfach räumen. Selbst die «Prawda» hatte in einem von Kamenew zusammen mit Stalin verfassten Editorial vom 15./28. März erklärt, statt der Losung «Nieder mit dem Krieg!» müsse es darum ge­ hen, die eigene Regierung wie die Regierungen aller kämpfenden Länder zur sofortigen Aufnahme von Friedensverhandlungen zu zwingen. «So­ lange eine Armee der anderen gegenübersteht, wäre es politisch unsin­ nig, einer Seite zu empfehlen, die Waffen niederzulegen und nachhause zu gehen. Ein freies Volk wird fest auf seinem Posten ausharren und jede Kugel mit einer Kugel beantworten.»23 Dafür waren sie beide von Lenin gleich bei seiner Rückkehr persön­ lich zusammengestaucht worden. Aber dessen Position war selbst höchst zweideutig. Gegen das neue, bürgerlich-demokratische Russland wagte er die Forderung nach einer Umkehr der Bajonette und einer vollstän­ digen Niederlage dann doch nicht zu erneuern, obwohl es seiner Ansicht

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nach noch immer einen «imperialistischen Krieg» führte. Dagegen machte seine vage Aussage, dass es «ohne den Sturz des Kapitals unmög­ lich» sei, den Krieg zu beenden, diese drängendste aller Fragen zu einem bloßen propagandistischen Vehikel des Kampfs für eine Sowjetregie­ rung – die ihrerseits, wie er unermüdlich beteuerte, keinesfalls einen Se­ paratfrieden anstreben dürfe. Was also dann?! Sollte ein «Frieden ohne Annexionen und Kontributionen», wie Russland ihn im Mai auch offizi­ ell anbot, bis zum allgemeinen «Zusammenbruch des imperialistischen Weltkriegs in einer Kette von Volksrevolutionen für den Sozialismus» warten? Oder ging Lenin in Wirklichkeit davon aus, dass es für das Ziel einer europäischen sozialistischen Revolution eigentlich besser sei, wenn der Krieg zwischen den Mittel- und Westmächten vorerst weiterging, da jeder Friedensschluss zwischen den Imperialisten nur ein «Gewaltfrie­ den» sein konnte, der sie vor dem Zusammenbruch retten sollte? Wenn das aber so war: Mussten die in ihren Schützengräben ausharrenden russischen Armeen dann nicht erst recht dort ausharren?

Von der Revolution zur Involution «Verbrüderung» stand in der Druckfassung der «April-Thesen» als ein lakonisch für sich stehendes Stichwort. Diese gab es bereits an den Fron­ ten, allerdings in sehr einseitiger Art und Weise. Tausende Soldaten gin­ gen, von deutschen Flugblättern eingeladen, in der österlichen Kampf­ pause mit weißen Fahnen an vielen Frontabschnitten auf die deutsche Seite hinüber, wo Marketenderwagen mit Wodka, Zigaretten und Bor­ dellen lockten. Nicht selten kamen deutsche Propagandaoffiziere, eben­ falls mit weißen Fahnen, auf die russische Seite hinüber, ließen Zeitun­ gen in russischer Sprache zirkulieren und sagten den Soldaten, sie sollten nicht länger für die imperialistischen Interessen Frankreichs und Eng­ lands ihr Blut vergießen.24 Deutsche Sozialdemokraten wirkten an dieser Agitation mit, und das aus eigener Überzeugung. Es war hohe Zeit, Frieden zu machen, und ge­ rade mit dem revolutionierten Russland. Deutschland stand nach dem Scheitern der französischen Frühlingsoffensive 1917 gesichert da und verlegte seine Divisionen für einen letzten, vernichtenden Schlag von ­Osten nach Frankreich, wo es im April und Mai nach der verheerend fehlgeschlagenen Nivelle-Offensive zu ausgedehnten Militärstreiks kam und Hunderte von Meuterern und Deserteuren von Feld­gerichten er­

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schossen wurden. Vielleicht konnte man auch dort bald e­ inen Waffen­ stillstand erzielen? Vorerst boten die russischen Unruhen und Meuter­ eien die Chance, aus dem tödlichen Zweifrontenkrieg he­rauszukommen und damit die Westmächte zu einem günstigen Frieden zu zwingen. Also wurden alle eigenen Kriegshandlungen an den russischen Fronten fürs erste zugunsten einer systematischen Zersetzungspropaganda eingestellt, die mit der sich ausdehnenden Frontpropaganda der Bolschewiki unver­ meidlich Hand in Hand lief. Diese Verbrüderungen vermischten sich auf russischer (nicht auf deut­ scher) Seite mit einer Welle von Desertionen, gegen die es keine diszipli­ narischen Mittel mehr gab. Im Herbst waren es schon eine Million De­ serteure, die sich in den Städten und Garnisonen herumtrieben und auf eigene, nicht selten kriminelle Weise versorgten  – oder aber per Bahn und oft mit vorgehaltener Waffe in ihre fernen Dörfer zurückkehrten, in denen der Kampf um das Land begonnen hatte. Dass die Inbesitznahme von Gutsländereien, die gleich im Februar/ März sporadisch begonnen hatte, im April/Mai bereits einen militante­ ren Charakter annahm und im Spätsommer und Herbst zu einer allge­ meinen Erscheinung wurde, hatte nicht zuletzt mit diesem Zustrom von Deserteuren zu tun. Aber auch in den Dörfern selbst brachten die Revo­ lution und mit ihr der Zusammenbruch der lokalen staatlichen Instan­ zen eine Machtverschiebung von den Dorfältesten zu den alphabetisier­ ten, politisch aufgeweckteren Jüngeren mit sich, die das zum geflügelten Wort gewordene Rechtsbewusstsein der Bauern «Unser war der Herr, unser ist das Land» in revolutionäres Handeln umsetzten. Was mit der Aussetzung von Pachtzahlungen und harten Preis- und Lohnverhandlungen begann, wurde binnen weniger Wochen und Mo­ nate zu einer kollektiven Inbesitznahme der Böden, des Viehs und des In­ ventars der Gutswirtschaften durch die angrenzenden Bauerngemeinden. Nicht selten wurden die Herrenhäuser bereits geplündert, nieder­gerissen oder abgebrannt; darin lebende Adelsfamilien wurden davon­ gejagt, wenn sie nicht schon geflohen waren. In Einzelfällen wurden Verwalter oder Amtsleute auch misshandelt oder umgebracht – ein spontaner Ter­ ror, der dem Ziel diente, für immer die Rückkehr der «Herrschaften» unmöglich zu machen. Vor allem die Partei der Sozialrevolutionäre, die moderne Agrarpar­ tei, deren Vorsitzender Tschernow im Mai zum Landwirtschaftsminis­ ter ernannt worden war, versuchte diesen Prozess in eine organisierte, gesetzlich geregelte große Reform zu überführen, die allerdings das

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Plazet der sich verzögernden Verfassunggebenden Versammlung hätte bekommen müssen. All diese Versuche sahen sich binnen weniger Wo­ chen und Monate von den Entwicklungen überrollt. Bis zum Herbst 1917, spätestens Frühjahr 1918 wurde die gesamte mehrhundertjährige materielle Basis und Lebenskultur des russländischen Adels ausge­ löscht und damit auch ein Großteil der modernen, agrarkapitalistisch wirtschaftenden Großbetriebe. Verschärft wurden die ökonomischen Auswirkungen der anarchi­ schen Agrarrevolution noch dadurch, dass auch das Gros der nach 1907 aus der Dorfgemeinde ausgetretenen Bauernwirtschaften – bis zu einem Drittel der Höfe  – in die Dorfgemeinde zurückkehrte, teils freiwillig, teils moralisch oder materiell genötigt. Die Gründe waren handfester Natur: Es war die Gemeinde, die kollektiv beschloss, sich des Guts­ landes zu bemächtigen; wer dabei sein wollte, musste dazugehören. Das­ selbe galt auch für alle anderen Grundpfeiler des ländlichen Lebens. Die Komitees oder Sowjets, die sich auf lokaler Ebene bildeten, waren nicht nur die einfachste und nach dem ehernen Muster der ursprüng­lichen Dorfversammlungen auf Konsens und Einstimmigkeit gestellte Form der Selbstvertretung; sie waren auch das Schutzgehäuse, in dem die Bauern diese neue «Zeit der Wirren» überstehen konnten. Es hätte eigentlich ihrem Programm und Lenins Aprilthesen entspro­ chen, wenn die Bolschewiki darauf gedrungen hätten, die Gutsländereien und Agrarbetriebe in Genossenschaften der Landarbeiter und Landar­ men umzuwandeln. Dass sie darauf verzichteten, die Nationalisierung des Grund und Bodens zu fordern, und stattdessen die wilde bäuerliche Landnahme und die Wiederherstellung der Dorfgemeinde (scheinbar) unterstützten, kann als zaghafter Opportunismus wie als zynisches Machtkalkül bewertet werden. Jedenfalls war dies die zweite der sozialen «Elementargewalten», auf denen sie zur Macht ritten und die ihnen im Kampf um die Macht die passive Loyalität eines Gutteils der Bauern­ schaft sicherte. Die Übernahme der Industriebetriebe durch Arbeiterkomitees war eine dritte soziale «Elementargewalt», die die Bolschewiki weder ins Leben riefen noch kontrollierten, unter dem Stichwort der «Arbeiterkontrolle» allerdings förderten und für ihre Machteroberung nutzten. Auch diese Bestrebungen waren von einer wachsenden Not diktiert, gepaart mit der Angst vor einer stets drohenden bürgerlichen Konterrevolution sowie der robusten Selbstermächtigung eines Teils der betrieblichen Sowjets, in

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denen die Bolschewiki bald erheblichen Einfluss gewannen. Vordergrün­ dig gehörten die Arbeiter, die am Sturz des Zarentums so entscheiden­ den Anteil gehabt hatten, zu den sozialen Gewinnern dieser Revolution. Weder die Unternehmer noch die Behörden konnten an den überall ge­ bildeten Betriebskomitees oder Sowjets noch vorbei. Mitte April waren die Inhaber der 300 größten Betriebe in Petrograd nach kurzem, hinhal­ tendem Widerstand genötigt, in Verhandlungen mit dem Exekutivkomi­ tee (nicht der Regierung!) den Achtstunden-Tag als Normalarbeitszeit einzuführen, verbunden mit einer Reihe weiterer Zusagen zu Arbeits­ bedingungen, Lohnangleichungen oder Mutterschutz. Aber alle diese Verbesserungen wurden von der Teuerung und Man­ gelversorgung rasch aufgefressen oder blieben auf dem Papier. Viele Be­ triebe begannen wegen Verlusten oder stockender Versorgung mit Kohle und Rohstoffen Teile der Belegschaften in Urlaub zu schicken oder zu entlassen, was die Arbeiter als «Sabotage» oder eine gezielte Strategie zur «Aushungerung der Revolution» verstanden. Die Betriebskomitees sahen sich daher zunehmend berechtigt, aber auch genötigt, die Produk­ tion selbst in die Hand zu nehmen, für Nachschub und Vertrieb zu sor­ gen, Einstellungen oder Entlassungen vorzunehmen, auch ordnend und teilweise disziplinierend zu wirken, also unternehmerische Funktionen wahrzunehmen. Das entsprach keinem Programm einer systematischen Expropriation, doch es lief auf eine schleichende Sozialisierung hinaus. Mit der wachsenden allgemeinen Nervosität, dem beginnenden Zu­ sammenbruch des Warenaustauschs zwischen Stadt und Land (wo die Bauern ihr Getreide weniger denn je zu den festgesetzten Niedrigpreisen abzuliefern bereit waren), der Inflation und dem Chaos im städtischen Leben zogen sich die Betriebsbelegschaften  – nicht anders als Bauern­ kommunen und Militäreinheiten – auf sich selbst zurück. Mit den ein­ brechenden Lohnzahlungen wurden die Betriebsanlagen, die Waren- und Rohstoffvorräte selbst zum Grundstock oder Unterpfand der sozialen ­Sicherung; und es begann, mindestens sporadisch, eine Entwicklung, die in den Jahren des Bürgerkriegs dann immer weiter um sich griff: dass in den stillliegenden Betrieben und Abteilungen Dinge produziert wurden, die im Alltag verkäuflich oder eintauschbar waren. Damit fiel die indus­ trielle Produktion wie ein wachsender Teil des städtischen und des dörf­ lichen Lebens in die Sphäre eines Naturaltauschs zurück, der auflösend auf den gesellschaftlichen Zusammenhang wirken musste. Man müsste dieses Bild auf einen großen Teil der städtischen und kleinstädtischen Bevölkerungen ausdehnen. So hatten sich im Zuge der

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Revolution des Frühjahrs, die fast alle Schichten, alle Städte und Orte des Reiches erfasst hatte, auch die im Dienstleistungsbereich Beschäftig­ ten, von den Kutschern über die Verkäuferinnen und Hausangestellten bis zu den Kellnern, in einer Welle von Streiks und Demonstrationen Verbesserungen ihrer Löhne und Arbeitsbedingungen erstritten, oft mit einem starken Akzent auf der persönlichen Würde, dem Verbot körper­ licher Züchtigungen oder willkürlicher Privatstrafen, dem Schutz der ­Intimsphäre und anderen elementaren «Menschenrechten». Anrührend wie das war, konnte es zur Auflösung sozialer Texturen führen, die auf Gegenseitigkeit beruhten, wie zwischen bürgerlichen Haushalten und ihren Hausangestellten, kleinen Ladenbesitzern und ­ihren Handlungsgehilfen, Handwerkern und ihren Gesellen. Alle diese traditional geregelten Verhältnisse, denen sich Mädchen vom Lande und junge Männer jeglicher Herkunft im Rausch ihrer neuen, einen hekti­ schen Sommer lang ausgekosteten Freiheiten entzogen, aber auf die sie sich, als die Tage kürzer und die Zeiten härter wurden, wieder angewie­ sen sahen, mochten bis dahin erodiert sein. Somit war auch dieses große, volatile städtische Halbproletariat, das keinesfalls in seine Herkunfts­ dörfer zurückwollte, noch vor aller Politik und Ideologie auf der Suche nach neuen Dienstverhältnissen, neuen Bindungen, einem «anderen Le­ ben» – nicht anders als viele der herumlungernden Soldaten und Deser­ teure, die mit den Mädchen anbändelten und mit den Burschen lose Gangs bildeten. Währenddessen begannen betriebliche Selbstschutzeinheiten, sich un­ ter dem Einfluss der Bolschewiki, teilweise auch der Anarchisten, als «Rote Garden» zu bezeichnen, interne Kommandostrukturen auszubil­ den und ihre eigene Politik zu betreiben, vor allem in Form regelmäßiger Machtdemonstrationen oder bewaffneter Proteste, mit denen die Rück­ nahme unerwünschter Entscheidungen erzwungen wurde. Hand in Hand oder im Konflikt mit den Betriebskomitees wurden diese «Roten Garden» zu einem eigenen paramilitärischen Sozial- und Lebensmilieu, das auch die Wohnquartiere einschloss und sich mit nahegelegenen Mi­ litäreinheiten verband, vermutlich auch Deserteure aufnahm. Ab Juni wurden diese bewaffneten Verbände, die in Petrograd rund 20 000 Mann umfassten, auf Initiative der Bolschewiki in übergeordneten lokalen Koordinierungs- und Kommandostrukturen zusammengefasst. Beim ­ Machtstreich der Bolschewiki im Oktober sollten diese «Roten Garden» eine entscheidende Rolle spielen.

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Die «Doppelherrschaft» von Provisorischer Regierung und Sowjet konnte trotz der grundlegenden Loyalität, die das Exekutivkomitee im linken Flügel des Taurischen Palastes mit den Ministern im rechten Flügel ver­ band, das Vakuum nicht ausfüllen, das der Sturz der Autokratie hin­ terlassen hatte. Daran änderte sich auch nichts, als im Mai eine erste «Koalitionsregierung» gebildet wurde, in der führende Mitglieder des Exekutivkomitees zentrale Ministerien übernahmen. Sie war nur die erste in einem Reigen von Koalitionsregierungen aus Sozialisten und ­Liberalen, in denen unter der Führung von Alexander Kerenski als Jus­ tiz-, dann Kriegsminister und schließlich Ministerpräsidenten immer von Neuem um die Formierung eines stabilen Mittelblocks von sozialen Kräften und politischen Parteien gerungen wurde – mit dem problemati­ schen Effekt, dass alle beteiligten Parteien (Liberale, Sozialrevolutionäre, Menschewiki) sich dabei selbst nach links und rechts polarisierten. Im Nachhinein erscheint die aus der Februarrevolution hervorgegan­ gene demokratische Republik wie ein vergebliches, dem Untergang ge­ weihtes Unternehmen, dessen kurzlebige Elite wie auf einer schlüpfrigen schiefen Ebene unaufhaltsam abrutschte, bis alles in den fast kampflosen bolschewistischen Oktoberumsturz mündete. Das russische Bürgertum, die demokratischen Traditionen, die Kräfte einer zivilen Gesellschaft seien nach dieser Lesart zu schwach oder Russland noch nicht «reif» ge­ wesen, um den Sturz des alten Regimes in einen gesellschaftlichen und staatlichen Neuaufbau zu überführen. Das kann man allerdings auch anders sehen. Wie niemals davor und niemals seither gab es 1917 nach Jahrzehnten gesellschaftlicher Selbst­ organisation ein Spektrum von Parteien, Verbänden, Publikationsorga­ nen und Institutionen, aber auch ein Ensemble von administrativen und professionellen Strukturen, modernen Industrien und gesellschaftlicher Kommunikation, die ein neues, reformiertes Staats- und Gemeinwesen sehr wohl hätten tragen können. Das Personal der Parteien Russlands und deren Programme und Analysen waren nicht selten von einem hohen sozialen Ethos getragen und keineswegs dilettantisch. Das Russländische Reich war in seiner Literatur und in den modernen Künsten eines der avanciertesten Länder seiner Zeit; und auch in den Geistes- und Natur­ wissenschaften oder dem Ingenieurswesen stand es weithin auf der Höhe der Entwicklungen. Fürst Lwow, Tschernow, Tscheidse, Zereteli waren keine der unerfahrenen oder unfähigen Leute, im Gegenteil. Und man hätte wohl auf allen Ebenen und im ganzen Land noch eine Fülle fähiger und motivierter Leute finden können.

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Gerade darin lag das Problem: Die soziale Grundspannung dieses ­Revolutionsjahres war die Kluft zwischen einem gebildeten, mobilen, er­ folgreichen und polyglotten Bürgertum, das den beiden russischen Hauptstädten einen modern-metropolitanen Charakter aufprägte, und einer in die Vorstädte und Industriereviere eingeströmten Arbeiterschaft und Dienstleistungsbevölkerung erster oder zweiter Generation, deren lebensweltliche Verbindungen noch immer eher in das weite, bäuerliche Umland oder in die ländliche Tiefe des Reiches führten als in die Zentren der eigenen Stadt – in der sie in gewisser Weise Fremde waren, eine Art Vorstadtwilde. Immer wieder taucht der Begriff einer «Elementargewalt» in Su­cha­ nows Bericht auf, wenn es um die fordernden, drohenden und vielfach vandalischen «Auftritte» von bäuerlichen Soldaten und Matrosen, von Betriebsbelegschaften und Roten Garden geht. Auch Lenin spricht immer wieder von der «kleinbürgerlichen Elementargewalt», womit in erster Li­ nie die Bauern bei ihren wilden Landnahmen, aber auch alle anderen, in engen Eigentums- und Familieninstinkten gefangenen Schichten ange­ sprochen waren, bis hin zu beträchtlichen Segmenten der Arbeiterschaft. Für Lenin bestand die Kunst einer offensiven revolutionären Politik ge­ rade darin, diese blinden, «dunklen», ungerichteten Energien gegen die sozialen und administrativen Fundamente des alten Regimes zu lenken, sie also nicht zu bremsen, sondern sich austoben zu lassen, sie unter be­ stimmten Bedingungen sogar durch vage Losungen wie «Brot, Land, Frieden» oder das «Recht auf nationale Selbstbestimmung» selbst zu schüren und zu unterstützen. In den meist unerklärten oder in Nebensät­ zen verborgenen Kautelen waren dann allerdings auch die Haken und Hebel verborgen, die es ihm später ermöglichen würden, diese entfes­ selten Elementargewalten wieder ins Joch zu spannen, zu neutralisieren und aufzuspalten, in «Dorfarme» und «Kulaken», in «klassenbewusste» und «rückständige» Arbeiter, in «Werktätige» und «Kleinkrämer», in revolutionäre und reaktionäre Nationalisten. Denn klar war, dass nach dem Sturz des Adels und der Enteignung der Bourgeoisie eben aus die­ sem «Meer des Kleinbürgertums» eine Konterrevolution erstehen könnte. Vorerst aber war diese große, in diffuse Erregung versetzte Masse die ­eigentliche und sogar einzig mögliche Basis einer eigenen, als demokra­ tisch deklarierten Machteroberung. Zum größten Kritiker eben dieser «elementaren» Bewegungen der brei­ ten Massen und der sie anheizenden Agitationen seiner eigenen Partei, entwickelte sich Maxim Gorki. In den fortlaufenden, unter dem Titel

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«Unzeitgemäße Gedanken» veröffentlichten Feuilletons seiner ab 18. Ap­ ril / 1. Mai 1917 wieder erscheinenden Zeitung «Nowaja Shisn» (Neues Leben), als deren Redakteur auch Suchanow arbeitete, geißelte Gorki die anarchische Welle, die er als einen fortdauernden Pogrom sah, der die so mühsam erworbene Kulturschicht des Landes in rasendem Tempo wie eine dunkle Flamme aufzehrte. Er empörte sich über höhnische Zeitungsberichte, wie die im Schloss von Zarskoje Selo internierte Herrscherfamilie von Besuchern wie Tiere im Zoo begafft und verspottet wurde: «Die hier lachen, sind die gleichen russischen Menschen, die noch vor fünf Monaten in Furcht und Schre­ cken vor den Romanows gelebt haben …». Berichte über «Pogrome in Samara, Minsk und Jurjew» und über «die rohen Ausschreitungen der Soldaten auf den Eisenbahnstationen» galten ihm als Belege seiner ein­ dringlichen Feststellung: «Wir selbst sind moralisch nicht weniger er­ schüttert als die uns feindlichen Kräfte».25 Hinzu kam eine Woge des Antisemitismus, der sich diffus in die allge­ meine Erregung mischte und Gorki als besonderes Alarmsignal galt. Er wiederholte sein Credo, wonach «die Juden … viel ehrlicher und energi­ scher für die Freiheit Russlands gekämpft haben als viele Russen», schüt­ telte seinen Kopf über Zuschriften, in denen mal die Anarchisten, mal die Liberalen, mal die Bolschewisten mit den Juden gleichgesetzt wur­ den, und zitierte zustimmend die Zuschrift eines angesehenen Bürgers: «Man wird von Grauen gepackt, wenn man auf den Straßenversamm­ lungen hört, wie sich Soldaten, die so eifrig die extremsten Parolen der Leninisten verteidigen, von der Pogromhetze gewisser Leute verführen lassen, die ihnen einreden, der jüdische Einfluss im ‹Arbeiter-und-Solda­ ten-Rat› sei übermächtig.»26

Der gestrandete Leviathan Seinen Zenit erreichte das Revolutionsjahr 1917 exakt auf seiner kalen­ darischen Mitte, Ende Juni/Anfang Juli, als die Ereignisse sich zu über­ stürzen begannen und scheinbar unaufhaltsam auf jenen Punkt ­zuliefen, an dem die Macht auf der Straße lag und so «leicht wie eine Feder» auf­ zuheben war, wie Lenin selbst später sagen würde. Letztlich waren es nicht die sozialen und politischen Polarisierungen, sondern es war der Weltkrieg, genauer gesagt: die mit ihm verbunde­ nen Dilemmata und die Fehlentscheidungen der maßgeblichen Politiker,

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allen voran Alexander Kerenskis, die den Reichs-Leviathan stranden lie­ ßen. Kerenskis Stil und Gestus, anfangs bewundert, dann zunehmend bespöttelt und schließlich gehasst, seine Neigung, sich immer und über­ all in pathetischen, improvisierten Reden an die Massen zu wenden, seine hysterischen Ausbrüche und die offenbar echten Ohnmachtsan­ fälle – das alles lässt sich auch als Symptom einer extremen Überforde­ rung deuten. Dabei war von Haus aus ein redlicher Anwalt und nicht unkluger Kopf, der sozialistische mit liberalen Positionen und städtische mit ländlichen Interessen zu verknüpfen suchte. Als einziger war er be­ reit – nachdem die liberalen Minister einer nach dem anderen das Hand­ tuch warfen und auch die starken Männer des Exekutivkomitees irgend­ wann erschöpft resignierten –, jenes «blutige Knäuel» zu lösen, von dem Lenin mit Blick auf den Weltkrieg gesprochen hatte. Folgt man Kerenskis Memoiren, in den 1960 er Jahren im amerikani­ schen Exil verfasst, kann man sogar der verhängnisvollsten Entschei­ dung, dem Entschluss zur militärischen Offensive im Juni/Juli 1917, die Logik nicht absprechen. Eine imperialistische Logik war es nicht, und von Hysterie oder «Bonapartismus» ist wenig zu sehen. Wenn es der Plan des deutschen Oberkommandos war, «die russische Front durch Propaganda und Verbrüderung zu zersetzen, die gesamte Schlagkraft des deutschen Heeres auf die Westfront zu konzentrieren und dort im Spätsommer vernichtend zuzuschlagen, bevor die Amerikaner eintra­ fen», wie Kerenski später resümierte, dann war es nicht blinde Nibelun­ gentreue, wenn er entgegen allen Warnungen «nur eine Möglichkeit» für Russland sah: nämlich «die Initiative zu ergreifen und die Kampfhand­ lungen wieder aufzunehmen».27 Das Ziel dieser Offensive waren nicht eigene Eroberungen oder auch nur Rückeroberungen, sondern es ging darum, deutsche Divisionen an der Ostfront zu binden, um den drohen­ den Zusammenbruch Frankreichs zu verhindern und gleichzeitig die Reste der eigenen Armeen zu stabilisieren und den vollständigen Zerfall des Landes zu stoppen – den das Scheitern der Offensive natürlich erst recht in Gang setzen würde, wie ihm vollkommen klar war. Kerenski fürchtete, dass ein bloß passives Ausharren erst recht zur Zersetzung führen und Russland am Ende zur Konkursmasse der imperialen Kriegsund Nachkriegspläne der siegreichen Mächte machen werde. Pläne da­ für gab es genug, auch auf Seiten der Alliierten. Was im Nachhinein wie ein selbstmörderischer Entschluss wirkt, ent­ sprach einer weit verbreiteten, verzweifelten Stimmung. Auch Gorki schrieb am Tag des Beginns der Offensive an seine Frau Jekatarina: «Ob­

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gleich ich Pazifist bin, begrüße ich die kommende Offensive in der Hoff­ nung, dass sie wenigstens ein bisschen Ordnung ins Land bringt».28 Und Wiktor Schklowski, der den Sozialrevolutionären nahestand, unter­ stützte diese letzte Kriegsanstrengung Russlands mit großem persönli­ chen Einsatz: «Ich war für die Offensive, weil ich die Revolution selbst als Offensive betrachtete», und «weil ein Sieg der russischen republika­ nischen Truppen sehr bald eine Revolution in Deutschland nach sich ge­ zogen hätte».29 Schklowski diente als einer der neu eingeführten Frontkommissare, eine Rolle, die für ihn, dessen Vater Jude war, weniger ungewöhnlich war, als man denken könnte, denn von allen Intellektuellen waren ja «hauptsächlich die gebildeten Juden beim Ausbruch der Revolution noch gemeine Soldaten».30 Wo einer wie er sich mit roter Armbinde und Le­ derjacke meuternden Soldaten gegenübersah, wurde es allerdings schnell lebensgefährlich. Mehrmals fand er sich in Situationen, in denen er von den angetretenen Soldaten unterbrochen, gepackt und angeschrien wurde: «Ihr seid bloß gekommen, um uns aufzuhetzen.»31 Er verstand sie: «Erschöpft, zerquält, von Russland isoliert, bildeten sie eine eigene Republik. (…) Sie flüchteten sich in den ‹Bolschewismus›, wie sich ein Mensch vor dem Leben in irgendeine Psychose flüchtet.»32 Nicht nur er und viele der Kommissare, auch ein Gutteil des jüngeren Offizierskorps, der Leutnants und «Kriegsfähnriche» waren ja längst ­alles andere als «zaristische Militärs», vielmehr mobilisierte Studenten und Leute aus intellektuellen Berufen oder auch soziale Aufsteiger; und nicht wenige von ihnen waren Juden, die nun zum Objekt einer Wut wurden, der sie mehr oder weniger schutzlos ausgeliefert waren. Einer der berühmtesten Fälle war der des Feldwebels Fjodor Linde, sozialrevo­ lutionärer Aktivist seit seinen Jugendjahren, der am ersten Tag der Fe­ bruarrevolution eines der meuternden Garderegimenter angeführt hatte und im April als Soldatenrat mit seinen Soldaten losgezogen war, um das annexionistische Kriegszielprogramm Miljukows durch eine bewaff­ nete Demonstration vor dem Taurischen Palast zu Fall zu bringen – was auch gelang. Als Kommissar war er auf dem Weg zur Front mutig ­genug, sich ohne militärischen Schutz einer großen Gruppe von Meuterern ent­ gegenzustellen, um sie zu bewegen, zu ihren Einheiten zurückzukehren. Als er sie an ihrer Ehre zu packen versuchte, schossen sie ihn nieder und zerfleischten ihn mit ihren Bajonetten. Anschließend jagten sie mehrere der begleitenden Offiziere, die in Sichtweite gewartet hatten, durchs Feld, folterten sie bestialisch und ermordeten sie ebenfalls.33

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Der «I. Allrussische Kongress der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndepu­ tierten», der vom 3./16. Juni bis 24. Juni/7. Juli in Petrograd tagte und die Offensive gutheißen, der neuen Regierung eine erhöhte Legitimität verschaffen und die Weichen für eine neue Verfassung stellen sollte, er­ wies sich mit seinen fast 1100 Delegierten als ein schwerfälliges, zu kei­ nerlei Entscheidungen fähiges Forum. Ein Forum der großen, öffentli­ chen, prinzipiellen Auseinandersetzung war es dennoch. Deshalb trat Lenin zweimal persönlich vor diesem ihm kaum geneig­ ten, allerdings neugierig zuhörenden Auditorium auf, das erste Mal am 4./17. Juni, dem zweiten Tag des Kongresses. Zereteli, der starke Mann des Exekutivkomitees, hatte als Vorredner die Koalitionsregierung ver­ teidigt, der er selbst angehörte, und erklärt, dass keine einzelne politi­ sche Partei bereit und in der Lage sei, die Staats­gewalt allein zu überneh­ men; es gelte, die Kräfte des Landes zusam­menzufassen. Lenin erklärte dagegen, dass die Sowjets ihrer Klassen­bestimmung nur gerecht werden könnten, wenn sie die neue, immer noch bürgerliche Regierung stürzten und den Weg zu einer Regierung der Arbeiter und der armen Bauern­ schaft beschritten (das Wort Diktatur gebrauchte er nicht). Um diese al­ les entscheidende Frage, deren Lösung in Russland «ausnahmsweise als friedliche Revolution möglich» sei, da keine Gruppe oder Klasse «sich der Macht des Sowjets widersetzen könnte», müsse sich der Kampf der Parteien innerhalb der Sowjets jetzt drehen. Wenn Zereteli behaupte, keine Partei könne Russland ­allein regieren, so irre er sich. Seine Partei, die Bolschewiki, seien «jeden Augenblick bereit, die gesamte Macht zu übernehmen». «Der Saal brach in Gelächter aus», hieß es im Protokoll.34 Es war in der Tat kurios: Lenin sagte dem «Allrussischen S­ owjet», der ihm zufolge die entscheidende demokratische Errungenschaft der Revo­ lution und als proletarisches Klassenorgan der oberste Souverän war, dass er diese Rolle nur vermittels einer Übernahme der «gesamten Macht» durch die Minderheit der Bolschewiki würde ausüben können. Da er sich explizit auf das Vorbild von 1792 bezog, lag das Rollenmodell (Robespierre und die Jakobiner) auf der Hand – während für alle die­ jenigen, die mit Heiterkeit reagierten, die Rolle der russischen «Giron­ disten» reserviert war. In seinem zweiten Auftritt fünf Tage später griff Lenin frontal die ­Politik des «revolutionären Defensismus» an, wie sie von der überwälti­ genden Mehrheit des Sowjet vertreten wurde. Der im März ergangene, feierliche «Aufruf an alle Völker», nicht weiterhin «als Werkzeug der Er­ oberung und Vergewaltigung in den Händen der Könige, Gutsherren

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und Bankiers zu dienen», sei gut und schön – «nur fehlen hier die Worte: ‹auch der eigenen›». In Wahrheit sei die Provisorische Regierung noch immer eine «der Gutsherren und Bankiers» und verfolge unverändert imperialistische Ziele. Den Bolschewiki werfe man vor, einen «Separat­ frieden» mit Deutschland anzustreben, aber in Wirklichkeit habe doch diese Regierung einen Separatfrieden mit England und Frankreich ge­ schlossen – und dieser Sowjet habe einen Separatfrieden mit der eigenen Bourgeoisie geschlossen! Während man feierlich von einem Verzicht auf «Annexionen» spreche, treibe man die zaristische Vergewaltigungs- und Annexionspolitik gegenüber den Völkern der Ukraine, Finnlands und der anderen nichtrussischen Nationen weiter fort! Und dann, mit dem Hammer ans Tor der Weltgeschichte genagelt: «Der einzige Ausweg aus dem Krieg ist die Revolution.» Russland könne aus diesem Krieg aber allein nicht herauskommen. Das russische Prole­ tariat brauche «gewaltige Bundesgenossen» in Gestalt der Arbeiter aller kriegführenden Länder, die ihre eigene Bourgeoisie stürzen, sowie in Gestalt der kolonial unterdrückten Völker von Indien bis Ägypten, die sich einer proletarischen Revolution in Russland ebenfalls anschließen würden. Eine «Außenpolitik der russischen Revolution», die «das auf­ richtige, echte Bündnis mit den unterdrückten Klassen und Völkern» su­ che, werde «mit 99 Prozent Sicherheit Erfolg haben».35 Prompt meldete sich am Abend desselben Tags der Petrograder So­ wjetvorsitzende Tscheidse in einer außerordentlichen Erklärung zu Wort, während Lenin und alle führenden Bolschewiki spurlos verschwunden waren: Für den kommenden Tag werde von Bolschewiken und Anarchis­ ten ein bewaffnetes «Auftreten» vorbereitet, gegen das sich der Kongress sofort stellen müsse. Die Delegierten sollten in die Fabriken und Kasernen ausschwärmen und alle sowjettreuen Kräfte mobilisieren. Das erwies sich vorerst als wirkungsvoll. Das bolschewistische Zentralkomitee sagte spät in der Nacht die geplante «friedliche Demonstration» bewaffneter Einhei­ ten ab. Aber als das Exekutivkomitee des Sowjetkongresses für den 18. Juni/1. Juli seinerseits zu einer großen Kundgebung für die «revolutio­ näre Einheit» nach innen und außen aufrief, da wurde daraus, wie Gorki beklagte, eine einzige Demonstration der «Machtlosigkeit der loyalen demo­kratischen Kräfte», während die von den Bolschewiki kontrollierten Marschkolonnen, die «Alle Macht den Sowjets!» forderten, das Bild be­ herrschten – auch wenn viele der 400 000 Teilnehmer dies wahrscheinlich für eine Demonstration ihrer Loyalität g­ egenüber dem noch immer tagen­ den Allrussischen Sowjetkongress hielten. Die Verwirrung stieg.

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Am 1./14. Juli begann die lange angekündigte Offensive. Mit überwälti­ gender Mehrheit erklärte der bis dahin zögernde Sowjetkongress seine Unterstützung für ein Unternehmen, das den Frieden bringen und die de­ mokratische Ordnung stärken sollte. Für einen kurzen Moment waren alle von den ersten Siegesmeldungen an der galizischen Front beflügelt. Aber schnell war klar, dass viele Einheiten gar nicht oder nur zögernd mitmachten oder sich nach einem oder zwei Tagesmärschen unter Feuer weigerten, weiter vorzurücken, obwohl die Gegner sich großteils nach kurzem Widerstand zurückgezogen hatten. Dasselbe Bild zeigten zwei anschließende Offensiven, die in ähnlicher Weise nach ersten Erfolgen stecken blieben – und zur Katastrophe wurden, als zwei Wochen später auf deutscher Seite keineswegs starke, aber gut ausgerüstete und diszi­ pliniert gehorchende Truppen zu koordinierten Gegenoffensiven ansetz­ ten. Die Rückzüge der russischen Einheiten arteten in wilde Fluchten aus. Alles in allem verlor die russische Armee binnen eines Monats 400 000  Soldaten durch Tod, Verwundung oder Gefangenschaft. Die deutschen Truppen rückten weiter vor. Mitten in dieses sich ankündigende Debakel hinein organisierten die bolschewistisch geführten Militäreinheiten und Betriebe in Petrograd am 3.–4./16.–17. Juli neue, bewaffnete «Auftritte», bei denen die Beleg­ schaften Dutzender Großbetriebe, geführt von «Roten Garden» und flankiert von Garnisonstruppen, in großen Marschkolonnen in das Stadt­ zentrum einrückten und den Sturz der «kapitalistischen Minister» und «Alle Macht den Sowjets!» forderten. Dazu kamen 20 000  Matrosen, die aus dem «Roten Kronstadt» mit Schiffen, Marschkapellen und in voller Kampfausrüstung angelandet waren. Ob es sich bei diesem Aufmarsch um einen ersten Versuch der Partei Lenins gehandelt hat, «die gesamte Macht zu übernehmen», ist fraglich. Eher scheint es, als hätten die aktionslüsternen Betriebs- und Armee­ kader die Erklärung Lenins auf dem Sowjetkongress allzu wörtlich ge­ nommen und seine Mahnung auf einer Konferenz der bolschewistischen Militärorganisation am 20. Juni geflissentlich überhört: «Eine falsche Bewegung kann alles zerstören». Zwar werde es auch jetzt schon mög­ lich sein, die Macht zu ergreifen, aber unmöglich, sie «auch zu halten». Noch seien die Bolschewiki nur eine «unbedeutende Minderheit» im Land. «Ereignisse sollten nicht vorweggenommen werden. Die Zeit ist auf unserer Seite.»36 Gerade die neu gegründete bolschewistische Militärorganisation war es offenbar, die vorpreschte, getrieben von der Furcht, dass Teile der

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Garnison an die Front verlegt werden sollten. Die Meuterei nutzte das Gerücht, dass die Stadt für eine Konterrevolution reif gemacht werden solle. Gorki beobachtete «Bilder des Wahnsinns»: «Da rast ein vor Ge­ wehren und Maschinengewehren strotzender Lastwagen wie ein beses­ senes Schwein vorüber», während aus der Mitte dieser buntscheckigen «Revolutionsarmee» ein «struppiger Kerl … hysterisch schreit: ‹Genos­ sen, die soziale Revolution›».37 Als sich vor dem Taurischen Palast Wik­ tor Tschernow weigerte, als Landwirtschaftsminister zurückzutreten oder «die ganze Macht» für den Sowjet zu reklamieren, wurde er in ein Auto gezerrt und als Geisel genommen. Es war Trotzki, der den tod­ bleichen Führer der Sozialrevolutionäre mit einem pompösen Appell an die Soldaten, ihre großartige Sache nicht zu «besudeln», wieder he­ rausholte und ihm in einem Akt machtbetonter Höflichkeit die Freiheit zurückgab. Lenin hatte Petrograd Tage vorher verlassen, aber er kehrte in der Nacht eilig zurück, als die Situation ausartete und immer mehr Truppen, deren Loyalität unklar war, in die Stadt kamen. Vor einer erregten Menge Bewaffneter, die sich vor dem bolschewistischen Hauptquartier sammelten und Instruktionen forderten, war er gezwungen, ein paar Worte vom Balkon zu sprechen, die aber kaum eine Minute dauerten und völlig unverständlich blieben. Dann verschwand er im Inneren und ließ seine Anhänger unschlüssig stehen. Später kam es an der Kreuzung von Newski- und Litejny-Prospekt zu einer Schießerei mit zahlreichen Toten und Verwundeten. Viele der bewaffneten Demonstranten flüchte­ ten, warfen Fahnen, Transparente und Gewehre weg und verwandelten sich, wie Gorki verachtungsvoll schrieb, «in eine wildgewordene Ham­ melherde».38 Gleichzeitig weiteten sich Gefechte und Schießereien aus, und nach zwei chaotischen Tagen zählte man 600 Tote und Verletzte. Am Ende trieben sintflutartiger Regen und der Hunger die roten Garden und Militäreinheiten wieder in ihre Quartiere zurück. Es bleibt offen, worum es sich bei diesem «Aufstand» eigentlich ge­ handelt hat: um eine Machtprobe, einen ernsthaften Umsturzversuch oder eine anarchische Massenaktion, der die Bolschewiki sich nicht ent­ gegenstellen wollten oder konnten. Was der gesamten russischen und ausländischen Presse aber ins Auge stach, war der Zusammenfall mit dem Beginn der deutschen Gegenoffensive.

1. Elementarkräfte – Juli 1917

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Der «Agent» und der «Diktator» Erst durch «einen Dolchstoß Lenins in unseren Rücken» sei der totale Zusammenbruch der Offensive eingeleitet worden, schrieb Kerenski in seinen Memoiren. Der Begriff ist übel beleumdet. Der Vergleich mit der deutschen Dolchstoßlegende macht allerdings die fundamentalen Unter­ schiede deutlich: Eine organisierte defätistische Propaganda von ent­ scheidender Wirkung in den deutschen Schützengräben ist auch 1918 nicht über­liefert. Für Ludendorff war es die ganze vaterlandsvergessene «Heimat», die die «Front» im Stich gelassen habe. Kerenski sprach sehr viel realistischer von einem organisierten politischen Handeln, das trotz der demokratischen Revolution die «eigene Niederlage» als das kleinere Übel sah und dabei mit dem Feind Hand in Hand arbeitete. Eine reine Konstruktion war das nicht. Kerenski zitiert aus einer in der Truppe umlaufenden Zeitung namens «Towarischtsch» (Genosse oder Kamerad), die in Wilna vom dortigen deutschen Stab hergestellt und als ein neutrales Nachrichtenblatt camoufliert wurde, das laut Kopf­ zeile «die Leser mit den wichtigsten Ereignissen, die den Krieg betreffen, bekanntmachen will». Unter dem Datum des 3./16. Juli fand sich darin der Bericht einer «Petrograder Nachrichtenagentur», die meldete, dass «die Offensive in Galizien im russischen Volk große Entrüstung aus­ gelöst» habe. Der «Zorn über die Engländer, die jedermann für die Ver­ längerung der Schrecken des Krieges verantwortlich hält», habe sich an diesem Tag in «Massendemonstrationen» in beiden Hauptstädten Luft gemacht, auf denen «Kerenski … ganz offen als Vaterlandsverräter be­ zeichnet» worden sei. Die auflagenstarke Zeitung «Russkoje Slowo» habe berichtet, «dass die linksextremen Führer Petrograd verlassen und auf dem Lande Zuflucht suchen» müssten.39 Kerenski nimmt die «erstaunliche Voraussicht» dieses Berichts (die ge­ meldeten Ereignisse würden sich ja erst am Erscheinungstag ereignen) als einen weiteren Beweis für das Zusammenspiel der Leninisten mit den deutschen Stellen.40 Freilich war Lenin durch Informanten im Ministe­ rium längst über die Existenz belastenden Materials gegen ihn ins Bild gesetzt worden (das mag die Kürze seines Auftritts und sein Verschwin­ den am 4./17. Juli erklären). Tage später verließ er ohne Bart, mit Perü­ cke und Mütze als Eisenbahner kostümiert, die Hauptstadt, um in Finn­ land zu verschwinden – und bis zum Oktober nicht mehr aufzutauchen. Kerenski ärgert sich in seinen Memoiren zu Recht, wie panisch und

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ungeschickt der Justizminister und seine Staatsanwälte mit dem Mate­ rial umgegangen waren, das sie in Händen hielten. Im Kern handelte es sich um einige Dutzend verschlüsselte Telegramme, die seit April, also nach Lenins Rückkehr, von der französischen und russischen Gegenspio­ nage abgefangen worden waren. Aus ihnen ergaben sich in Umrissen das Verbindungsnetz Lenins sowie eine Vielzahl weiterer geschäftlicher Verbindungen und Transaktio­nen, die die Geheimdienstleute allerdings für ­codierte Spionagemitteilungen hielten statt für das, was sie waren.41 Vierzig Jahre später konnte Kerenski mit einiger Genugtuung die mitt­ lerweile zugänglichen deutschen Akten über die Verbindungen mit den Bolschewiki zitieren, die belegten, was er und seine Staatsanwälte im Juni 1917 ahnten, aber nicht beweisen konnten. Was man heute über die Sache wissen kann, ist mehr als eindeutig, wenn auch interpretierbar, was die Tragweite betrifft. Aktenmäßig belegt ist, dass das Auswärtige Amt in Berlin am 1. April 1917, noch während der Verhandlungen mit Lenin über seine Durchreise, fünf Millionen Mark «für politische Propaganda in Russland» beim Reichsschatzamt beantragt hat, die auch umgehend über Parvus weitergeleitet wurden und späteren deutschen Quellen zufolge nicht ausschließlich, aber zu ­einem Löwenanteil an die Bolschewiki flossen.42 Tatsache ist auch, dass die Partei der Bolschewiki, die im März/April 1917 nach eigenen Anga­ ben nicht mehr als 25 000 Mitglieder zählte, in den Wochen und Mona­ ten danach einen staunenswerten, höchst aufwendigen Publikationsap­ parat ins Feld stellte, der mit dem Zustrom neuer Mitglieder mehr als nur Schritt hielt und aus eigenem Beitrags- und Spendenaufkommen nicht annähernd zu erklären ist. Nicht nur die «Prawda» als Zentral­ organ steigerte ihre Auflage auf 100 000  Exemplare. Wichtiger noch ­waren die für die Soldaten bestimmten Ausgaben (die «Soldatskaja Pra­ wda» für die Garnisonstruppen, die «Golos Prawdy» für die Matrosen und die «Okopnaja Prawda» für die Frontsoldaten), die in Zehntausen­ den von Exemplaren verschickt wurden, so dass (theoretisch) jede Kom­ panie der Armee ein Exemplar erhielt.43 Dass die bolschewistische Parteipresse «sowohl in den großen Städten als auch in der Armee nur einen Bruchteil des Medienangebotes»44 stellte, ist richtig. Aber ist der Vergleich mit der Boulevardpresse der pas­ sende Maßstab? Es war ja gerade die Ver­bindung von persön­licher Agi­ tation, Infiltration und Organisation mit dieser Propaganda, die die Schlagkraft der Partei ausmachte, eine Kombination, die alles in den Schatten stellte, was Lenin sich in «Was tun?» erträumt hatte.

1. Elementarkräfte – Juli 1917

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Die förmliche Anklage der Provisorischen Regierung, «deutsches Geld» erhalten zu haben und «Agenten der deutschen Regierung» zu sein (zwei ganz verschiedene Dinge), wies Lenin in einem Extrablatt der «Prawda» voller Hohn zurück. Das gegen ihn und andere a­ ngestrengte Ermitt­ lungsverfahren verglich er mit dem «Beilis-Prozess», dem berüchtigten Ritualmordprozess von 1913. Sinowjew wie Trotzki brandmarkten in erregten Erklärungen vor dem Sowjet und in schneidenden Artikeln die Anschuldigungen gegen Lenin als «einen neuen Fall Dreyfus».45 Damit setzten sie ihre Ankläger in den Ruch, Werkzeuge eines reak­ tionären, antisemitischen «Schwarzhunderter»-Komplotts zu sein – was absurd, fast pervers war. Allerdings konnten sie Vorteile aus der Tatsache ziehen, dass die reaktionären Presseorgane sich an der Vielzahl jüdischer Namen in den veröffentlichten Telegrammen delektierten. So diente der Popanz der «Schwarzhunderter» hier wie stets den Bolschewiki als ­probates Mittel, um den jähen Stimmungsumschlag – der sich in vielen Betrieben und Armeeeinheiten in Resolutionen gegen den bolschewisti­ schen «Verrat» äußerte – selbst als Teil eines konterrevolutionären Kom­ plotts zu denunzieren. Damit gelang es, die alten Solidaritätsreflexe zu reaktivieren. Das Exekutivkomitee setzte umgehend eine eigene Unter­ suchungskommission ein, und zwar «für Lenins Rehabilitierung», wie der verblüffte Suchanow feststellte. Als erstes nahm die Kommission den Justizminister unter Beschuss, der die Dokumente gezielt an die Presse hatte durchsickern lassen und daraufhin seinen Rücktritt erklärte. Wie­ der war ein Dominostein gefallen. Das «deutsche Gold» war kaum mehr als ein Indikator der parallel lau­ fenden beiderseitigen Interessen. Die Hauptmasse der Subventionen floss im Übrigen erst nach der Machteroberung im November/Dezember und im Umfeld des Brester Friedens, und auch sie sind nicht der bedeutendste Teil dieses großen historischen Zusammenspiels. Die Lenin’sche Stan­ dardfrage «Wer wen?» (wer wen letztlich ausgenutzt hat), beantwortete sich im Herbst 1918, als das Deutsche Reich zusammenbrach und die bolschewistische Macht sich hauchdünn behauptete. Bedeutsamer als alle materiellen Unterstützungen war für den Verlauf des Revolutionsjahres 1917 die Anklage selbst, die gegen Lenin und seine Partei erhoben wurde, begleitet von der zeitweisen Schließung des Zentralorgans, der Verhaftung einiger Hundert Parteikader sowie der Entwaffnung des 1. Maschinengewehr-Regiments und einiger anderer Einheiten. Flankiert wurde das durch Vorstöße des neu besetzten Gene­

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ralstabs, die Todesstrafe für Meuterer und Deserteure wiedereinzufüh­ ren, die Autorität der Offiziere zu stärken sowie insgesamt die Disziplin der auseinanderlaufenden Armee wiederherzustellen. Diese Versuche blieben vergeblich und führten im August/September zum offenen Zer­ würfnis zwischen Kerenski und dem neuen Militärchef General Korni­ low, an dessen Ende ein merkwürdig ziel- und kraftloser Putschversuch stand, bei dem kein Schuss fiel, aber das Zentrum der Staatsmacht end­ gültig paralysiert wurde. Lenin hatte sofort nach dem Fehlschlag der Anklage gegen ihn und seine Partei das Ende der «friedlichen Periode unserer Revolution» er­ klärt und den bewaffneten Aufstand als einzige Möglichkeit genannt, um die «konterrevolutionären Henker» der «Militärclique» um Ke­ renski zu stürzen. Für den Entscheidungskampf könne die Losung «Alle Macht den Sowjets!» nicht mehr erhoben werden, weil die bestehenden Sowjets eine blökende «Hammelherde» geworden seien. «Sowjets kön­ nen und müssen in dieser neuen Revolution in Erscheinung treten, aber nicht die jetzigen Sowjets …», sondern im Feuer des Aufstands erneu­ erte, gestählte, geschulte Sowjets.46 Kerenski interpretierte Lenins Aufruf später als Eingeständnis seines Scheiterns  – und dieses als einen schweren Rückschlag «für die Deut­ schen», die Hindenburg zufolge auf einen Separatfrieden im Osten drin­ gend angewiesen gewesen seien. Nach dem Fehlschlag des bolschewis­ tischen Aufstands Ende Juli hätten sie es über schwedisch-finnische ­Vermittler sogar «gewagt, an mich heranzutreten», um die Möglichkei­ ten eines Separatfriedens zu sondieren. Das habe er empört abgelehnt und so die Deutschen um die Möglichkeit gebracht, im Sommer 1917 «die anglo-französische Front zu überrollen» – wofür es 1918 dann zu spät gewesen sei.47 Ein fragwürdiger Trost, der übergeht, dass auch er selbst und die Alli­ ierten, die alle Friedensvorstöße 1917 in Erwartung der amerikanischen Truppen hartnäckig zurückwiesen, ein weltpolitisches Endspiel betrie­ ben. Schklowski führt den «Kriegsbolschewismus» der einfachen Solda­ ten wesentlich darauf zurück, dass «unsere Alliierten, Fluch über sie, … ihre Zustimmung zu unserer Definition eines Friedens ‹ohne Annexionen und Kontributionen›» verweigerten: «Oh, hätten wir doch vor den Regi­ mentern der Junioffensive das geheiligte Banner des gerechten Krieges entfalten können»  – dann wäre die deutsche wie die bolschewistische Propaganda, die den Soldaten sagte, dass sie ihr Blut für die englisch-fran­ zösischen Imperialisten vergossen, nicht so glaubwürdig gewesen!48

1. Elementarkräfte – Juli 1917

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Kerenski und die ihn unterstützenden Führer des Sowjet hätten es im Juli, trotz des Debakels der Offensive, noch immer in der Hand gehabt, die Bolschewiki, die ihren moralischen Kredit für einen Augenblick verlo­ ren hatten, in die Defensive zu treiben – wenn sie ihrerseits entschlossen die Möglichkeiten eines dauerhaften Waffenstillstands und Präliminarfrie­ dens mit den Mittelmächten ausgelotet hätten. Vielleicht wäre es auch der geeignete Moment gewesen, an dem Kerenski, Zereteli, Tscheidse und die anderen Protagonisten der immer noch stabilen So­wjetmehrheit ihrerseits die Losung «Alle Macht den Sowjets» hätten aufnehmen sollen. Sie hätten eine rein sozialistische Reformregierung bilden können, gestützt auf das gewählte Allrussische Exekutivkomitee als letzte noch vorhandene Auto­ rität, statt um jeden Preis die Liberalen in der Regierung zu halten, die al­ les Heil in einem Sieg der Alliierten sahen und die für September anbe­ raumten Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung abermals verta­ gen wollten. Deren rechtzeitiger Zusammentritt hätte vielleicht alles noch retten können, und jedenfalls wäre sie nicht so einfach auseinanderzuja­ gen gewesen, wie es die Bolschewiki nach ihrer Machteroberung (und Wahlniederlage) im Januar 1918 dann tun konnten. Sie hätten nicht nur eine neue republikanische Staatsverfassung auf den Weg bringen müssen, sondern auch die Grundzüge einer zugunsten der Bauern reformierten Ag­ rarverfassung verabschieden und die wilden Landnahmen in geregelte Bahnen leiten können. Schließlich hätte eine russische Sowjetregierung noch im Juli/August 1917 versuchen müssen, mit den finnischen Autono­ misten, der ukrainischen Rada (auch sie ein Sowjet) und den anderen, sich allenthalben formierenden Nationalparteien und -vertretungen, die über­ wiegend noch nicht die volle Unabhängigkeit verlangten, Umrisse einer neuen, föderativen Reichsverfassung zu bestimmen. Solch hypothetische Überlegungen kann man obsolet finden, da nie­ mand sie in dieser Form vertreten hat und ihre Resultate unsicher gewe­ sen wären. Sie dennoch anzustellen, hat eine einzige Funktion: dem Ein­ druck eines unabänderlichen historischen Fatums, das vom Februar in den Oktober münden musste, etwas entgegenzuhalten. Ein solcher Aus­ flug in die kontrafaktische Geschichte mag deutlich machen, dass von einer «historischen Notwendigkeit» der Machteroberung der Bolsche­ wiki keine Rede sein kann – wohl aber von einer einmaligen historischen Gelegenheit. Und umgekehrt: dass alles, was unter Lenin, Stalin und sei­ nen Nachfolgern mit Russland und dem gesamten, in eine UdSSR verwan­ delten Reichskomplex im 20. Jahrhundert passiert ist, «unwahrschein­ licher» gewesen ist als alles, was im Sommer 1917 noch möglich war.

2. «Es schwindelt» – November 1917

Zwei, drei Tage des Kampfes Wo ist der Aufstand?», lässt Leo Trotzki in seiner «Geschichte der russischen Revolution» seine enttäuschten Leser fragen. «Dürftig und farblos sind die Berichte über die Episoden der Oktobernacht; sie glei­ chen einem Polizeiprotokoll.» Es «fehlen große Massenhandlungen, dramatische Zusammenstöße mit den Truppen, es fehlt alles, was mit ei­ ner Revolution gemeinhin verbunden wird». Natürlich war das ein lite­ rarisches Verwirrspiel mit der Naivität eines Publikums, das den höhe­ ren Charakter der bolschewistischen Revolution nicht verstand. Denn: «In Wirklichkeit hatte dieser von allen Aufständen in der Geschichte am stärksten den Charakter einer Massenbewegung. Die Arbeiter brauchten nicht auf die Straße zu gehen … Den Soldaten war sogar untersagt, die Kasernen ohne Weisung zu verlassen … Aber diese unsichtbaren Massen gehen mehr denn je im Gleichschritt mit den Ereignissen.»1 So mythisierend dieses nur scheinbar nüchterne Bild von den «unsicht­ baren Massen» ist, das Trotzki den stalinistischen Rückerfindungen der «Großen Proletarischen Oktoberrevolution» entgegenstellte, so genau und bemerkenswert offen protokolliert sein Bericht die fragwürdigen, ja trügerischen Voraussetzungen, unter denen dieser fast kampflos gewon­ nene, wesentlich von ihm organisierte Machtstreich ins Werk gesetzt wurde. Gegen seine Darstellung dieser zweiten Revolution, die sich ganz um Lenin und ihn selbst zentriert, sind von Historikern viele begründete Einwände erhoben worden. Trotzdem ist man in der Verlegenheit, es noch einmal und auf fast penetrante Weise mit der Figur des «großen Mannes» zu tun zu haben, die sich nicht einfach in Struktur-, Gesell­ schafts- oder Ideologiegeschichte auflösen lässt, sondern auch in Kate­ gorien von Charisma und Gefolgschaft, von Bewegungsenergie und «Masse» beschrieben werden muss. Und wie im Fall von Marx und En­ gels, allerdings in vollkommen anderer Konfiguration, müsste man auch hier sagen: Ohne Trotzki kein «Lenin»  – jedenfalls nicht in der über­ lebensgroßen Rolle, die diesem als dem Führer einer siegreichen Revolu­

2. «Es schwindelt» – November 1917

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tion und neuen Staatsgründung zugewachsen ist. Trotzki brachte Eigen­ schaften und Fähigkeiten mit, die Lenin fehlten, und ermöglichte es die­ sem erst, seine Rolle als der allpräsente, aber fast unsichtbare Lenker im Hintergrund zu spielen. Dass Stalin schon stärker mit in dieses Bild ge­ hört, keineswegs nur als ein «grauer Fleck» (Suchanow) und meinungs­ loser «Epigone» (Trotzki), sondern vom ersten Moment an als ein fähiger Organisator und interner R ­ ivale Trotzkis, steht dem nicht entgegen. ­Stalin ist, anders als Trotzki, ganz das Produkt der von Lenin geschaffe­ nen Partei; und erst mit der von Lenin angeschobenen, von Trotzki ge­ lenkten Machteroberung wächst er in eine neue Rolle als Politiker, Stra­ tege und Ideologe ­hinein, die ihm niemand zugetraut hatte. Auf welche Weise Trotzki sich in den Wochen nach seiner Rückkehr in die Position eines «zweiten Mannes» an der Seite Lenins gebracht hat, ist nur in Umrissen rekonstruierbar. Als er Anfang Mai mit dem bekann­ ten Zeremoniell auf dem Finnischen Bahnhof empfangen wurde, dürfte ihm rasch klar geworden sein, dass er keine Hausmacht besaß. In die Partei der Bolschewiki wurde er erst Ende August in absentia (er saß in Haft) aufgenommen – nachdem er in einer langen Aussprache mit Lenin eine Art persönlichen Treueeid auf ihn abgelegt haben dürfte, den er bis an sein Lebensende hielt. Fast wurde er, der langjährige beißende Kriti­ ker des leninistischen Gefolgschaftswesens und Ultrazentralismus, zu ­einem ­Ultrabolschewiken, der in einem für ihn schicksalhaften Moment 1925, als das bereits von Stalin dominierte Politbüro ihn als ein «fremdes Element» wieder auszuspeien begann, nur umso starrer am Credo fest­ hielt, ein Bolschewik könne «nur innerhalb, nie außerhalb der Partei» recht haben, also niemals gegen die Parteiführung an eine allgemeine ­Öffentlichkeit appellieren. Es waren gerade die eigenständige, offensive Art, in der Trotzki den «Juli-Aufstand» verteidigt hatte, und sein kühner Schachzug, sich nach der Anklage gegen Lenin in einem Offenen Brief an die Regierung zu wenden und darauf zu bestehen, dass auch gegen ihn, Trotzki, Anklage erhoben werden müsse, die ihm die dauerhafte Anerkennung Lenins ein­ trugen. Die fünfwöchige Untersuchungshaft, die nichts ergab und seinen Wirkungsradius kaum einschränkte, steigerte seinen Nimbus unter den bolschewistisch inspirierten Arbeitern und Soldaten. Der Strom seiner giftigen Gegenanschuldigungen gegen die Ankläger in diesem «neuen Fall Dreyfus» trug mit dazu bei, dass die kurzlebige nationalistische Em­ pörung gegen die Bolschewiki als «deutsche Agenten» sich binnen Kur­ zem wieder gegen die Provisorische Regierung, ihre «bourgeoisen Hin­

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termänner» und die «englisch-französischen Imperialisten» richtete, die Russland als ihr Werkzeug in den Krieg mit Deutschland hetzten. Waren nicht Kerenski und die Liberalen eigentlich die «bezahlten Agenten»? Vor allem nach seiner Freilassung Anfang September entdeckte Trotzki seine Fähigkeit wieder, ein beliebiges, begieriges Massenpublikum als Redner und Demagoge fast antiken Zuschnitts zu elektrisieren. Je ver­ worrener und desolater die Lage, umso größere Mengen drängten sich in diesem Sommer in Fabriken und Veranstaltungshallen in einer Art per­ manenter Teach-ins (wie man 1968 gesagt hätte), um Rednern aller so­ zialistischen Parteien und ihren Wortgefechten zuzuhören. Trotzki hat natürlich selbst das eindringlichste Bild des Zusammen­ spiels geliefert, das sich zwischen «der Masse» (er hatte kein Problem, diesen Singular der zeitgenössischen Massenpsychologie zu verwenden) und «Trotzki» (immer wieder spricht er von sich selbst in der dritten Person) entwickelte. Seine Schilderung klingt zuweilen fast kindlich un­ geschützt: So wenn er von der «warmen Höhle menschlicher Leiber» spricht, aus der heraus er da gesprochen habe; wie diese «Masse … ei­ nem Säugling (glich), der mit ausgetrockneten Lippen an den Zitzen der Revolution sog», einer Revolution, die er für sie verkörperte; und wie am Ende seiner langen, oft zweistündigen Reden die «Menge ihre Ver­ schmolzenheit nicht aufgeben» wollte, während er in «einer fast ohn­ mächtigen Erschöpfung … auf den Händen der Menge über den Köpfen zum Ausgang (schwamm)».2 In der Beschwörung dieser revolutionären Familien-Urszene und im Selbstporträt als Volkstribun, dem es zuweilen «schien …, als lausche er sich selbst», fühlte Trotzki sich von einer «Inspiration» erfüllt, die jeder echte Schriftsteller, Redner und revolutionäre Führer kenne, wenn «je­ mand Anderer, Stärkerer ihm die Hand führt» und wenn «aus seinem Munde etwas Stärkeres spricht, als er selbst».3 Er sah sich als einen Mann der Vorsehung, der im Einklang mit «der Geschichte selbst» han­ delte. So ist seine «Geschichte der russischen Revolution» eine mit dramaturgischen Kniffen und Suspense-Effekten gespickte Große Erzäh­ lung, die, als er sie 1930 niederschrieb, einen historischen Anspruch be­ gründen sollte: den eines revolutionären Weltdiktators im Exil. Die bolschewistische Machteroberung, «Oktoberrevolution» genannt, ist in ihren historischen Folgen kaum zu überzeichnen. Als Ereignis ist sie dagegen immer weiter geschrumpft, seit die historische Wahrneh­ mung sich aus dem Bann der überlebensgroßen Nachinszenierungen und

2. «Es schwindelt» – November 1917

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Bildpropaganda der Sowjetära gelöst hat, die zu einer eigenen, macht­ vollen zweiten Realität geworden war. Allerdings sollte man die Deflationierung des Ereignisses nicht so weit treiben, dass die von dem sympathisierenden US-Journalisten John Reed einst mit fliegender Feder beschriebenen «Zehn Tage, die die Welt er­ schütterten» ganz verschwinden.4 Eher käme es darauf an, das Undra­ matische dieses Machtwechsels, der einem nächtlichen Wachwechsel glich und den die Einwohner Petrograds, geschweige die Bürger des Russländischen Reichs, anfangs kaum mitbekamen, selbst erst einmal zu entschlüsseln und in ein Verhältnis zur Wucht der weltgeschichtlichen Geschehnisse zu setzen, die diese Machteroberung möglich gemacht hat­ ten, und erst recht derer, die in den Jahren und Jahrzehnten danach aus ihr entsprungen sind. Das Gefühl, einem neuartigen politischen Geschehen von größter Tragweite beizuwohnen, hatte jedenfalls nicht nur der notorische Revo­ lutionsromantiker Reed. Ähnliches gilt für einen ganzen Schwarm west­ licher Journalisten und Beobachter, deren zwischen Alarm und Bewun­ derung schwankende Korrespondenzen und Fotografien dazu beitrugen, dass die Ereignisse des Jahres 1917 in Russland von der Weltöffentlich­ keit annähernd «live» verfolgt werden konnten und die bis dahin unbe­ kannten Führer der Bolschewiki, vor allem Lenin und Trotzki, über Nacht das Ansehen weltpolitischer Akteure gewannen.5 Ihren kometenhaften Wiederaufstieg verdankten die Bolschewiki dem gescheiterten, vielleicht auch nur eingebildeten «Kornilow-Putsch» Ende August, der sie über Nacht wieder in eine Schlüsselposition brachte. Der misstrauisch gewordene Kerenski hatte in einem abrupten Schwenk selbst das Gespenst einer blutigen Konterrevolution von rechts an die Wand gemalt und an die Selbstverteidigungskräfte der Republik und der Sowjets appelliert. Das machte den Slogan «Alle Macht den Sowjets!», den die Bolschewiki auf Betreiben Lenins gerade erst hatten fallen las­ sen, wieder aktuell, während die Bewaffnung der «Roten Garden» jetzt in das Gewand einer Mobilmachung gegen die drohende Konterrevolu­ tion gekleidet werden konnte. Das Gerücht, Kornilow habe den Deutschen Riga, das diese im Au­ gust nach kurzem Kampf eingenommen hatten, absichtlich überlassen, um seine Fronttruppen gegen die aufrührerische Hauptstadt einzuset­ zen, erlaubte es der bolschewistischen Propaganda, die Militärführung, die Bourgeoisie, die «Schwarzhunderter» und in einem Aufwasch auch Kerenski der Kollaboration mit den Deutschen  – und gleichzeitig mit

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den Engländern!  – zu verdächtigen. Angeblich planten sie, Petrograd den «Truppen Wilhelms» und Kronstadt der englischen Flotte auszulie­ fern, während sie sich selbst nach Moskau zurückziehen wollten. Dazu passte die Behauptung, die westlichen Alliierten strebten in Geheimkon­ takten mit Österreichern und Deutschen «einen Friedensschluss auf Kosten Russlands» an. Das würzte die Agitation noch mit einer scharfen Prise Patriotismus.6 Die Körnchen Wahrheit in all diesen Behauptungen verschwanden im überlebensgroßen Konstrukt der imperialistischen Weltverschwörung. Es würde die Bolschewiki an die Macht tragen hel­ fen, um nach Brest und im Bürgerkrieg durch andere, ähnlich paranoide Konstrukte ersetzt zu werden. In Neuwahlen zu den Betriebs- und Soldatenkomitees Anfang Septem­ ber erzielten die Bolschewiki inmitten politischer Zerfahrenheit und öko­ nomischen Zerfalls spektakuläre Zuwächse, die ihnen in den Sowjets der beiden Hauptstädte die Mehrheit sicherten. Dasselbe galt, noch überraschender, auch für die Wahlen zu den städtischen Dumas in Mos­ kau und Petrograd, in denen die Bolschewiki ein Drittel bis zur Hälfte der Stimmen erhielten, allerdings bei einem massiven Rückgang der Wahlbeteiligung. Tatsächlich standen der Apathie und Enttäuschung eines Teils des städ­ tischen Publikums, das ganz von seinen Alltagsproblemen belegt war, eine wachsende Radikalisierung und politische Polarisierung in anderen Teilen gegenüber, auf der Linken wie auf der Rechten. Die virulente, auch unter Soldaten, Arbeitern und Arbeitslosen populäre antisemitische Pub­ lizistik, etwa der auflagenstarken «Kleinen Zeitung» des reaktionären Publizisten Suworin, die sich jetzt als ein «nationaler Sozialismus» dekla­ rierte, setzte sich nicht in eine schlagkräftige gegenrevolutionäre Orga­ nisation um. Aber gerade weil es so ungreifbar war, blieb das Gespenst der «Schwarzhunderter» stets im Raum und trug wesentlich dazu bei, dass alle nicht-bolschewistischen Parteien und Politiker der Linken bis zu ­Kerenski selbst die Gefahr eines Staatsstreichs – wenn man so will: einer Konterrevolution von links – weit unterschätzten und vor dem Versuch ­einer Parteidiktatur der Bolschewiki (die sie für unmöglich hielten) vor allem deshalb warnten, weil sie einer Konterrevolution von rechts den Weg bereiten würde. Dass die Leninisten, einmal an der Macht, die Sozialisten der anderen Fraktionen, mit denen sie Zeiten gemeinsamer Aktivitäten, der Haft, Verbannung oder des Exils geteilt hatten und mit denen sie im neuen Quartier des Petrograder Sowjet Tür an Tür hausten, vollständig aus­

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schalten oder sogar an die Wand stellen könnten – das war noch völlig unvorstellbar. Anfang September wurde der eben freigelassene Trotzki zum Vorsitzen­ den des Petrograder Sowjet und seines Exekutivkomitees gewählt und be­ gann diese Schlüsselposition sofort robust auszufüllen. Der ursprünglich von den Menschewiki stammende Vorschlag, ein «Militärisches Revolu­ tionskomitee» zur Verteidigung der Hauptstadt gegen die drohende Kon­ terrevolution einzurichten, wurde übernommen und geschickt genutzt, um Kasernen, Waffendepots und Stabsstellen zu inspizieren, zuverlässige Einheiten zu mustern und autoritativ zu verfügen, dass sämtliche Befehle der Offiziere und militärischen Stäbe bis hin zum Oberkommando ab jetzt vom «Militärischen Revolutionskomitee» gegenzuzeichnen seien. Das lief schon auf einen halben Staatsstreich hinaus. Eine zumindest passive Loyalität der Garnisonssoldaten wuchs aus der kunstvoll geschürten Angst vor ihrer Verlegung an die Front, wo sie die sich unaufhaltsam auflösenden Einheiten hätten ablösen sollen. Nichts war leichter, als diese Pläne zu einem weiteren konterrevolutionä­ ren Komplott zu stilisieren und die Soldaten aufzurufen, sich stattdessen zur «Verteidigung der Revolution» bereit zu halten. Flankierend forcierte die neue bolschewistische Sowjetmehrheit eine Politik, die den Unternehmern aggressiv unterstellte, Teil des konter­ revolutionären Komplotts zu sein und mithilfe einer bewussten Politik wirtschaftlicher Chaotisierung und «der bleichen Hand des Hungers» die Arbeiterbewegung zerschlagen zu wollen  – weshalb ihnen namens des Sowjet «untersagt» wurde, noch Entscheidungen ohne Zustimmung ihres jeweiligen Betriebskomitees zu treffen. Diese Politik einer bewaff­ neten «Arbeiterkontrolle» lief tendenziell schon auf eine schleichende Inbesitznahme der Betriebe hinaus, ohne das Wirtschaftsleben irgendwie neu organisieren zu können, das in einen sich weiter drehenden Ab­ wärtsstrudel gerissen wurde. Damit gingen nicht nur die industriellen Beziehungen und Arbeitsver­ hältnisse aus den Fugen, sondern das ohnehin schon überstrapazierte so­ ziale Gefüge als Ganzes. Die Brotrationen mussten von anderthalb auf ein Pfund pro Kopf herabgesetzt werden; auch Zucker war rationiert. Schuhe und Stoffe wurden selbst für die, die noch Löhne und Gehälter bekamen, unerschwinglich. Der Rubel fiel auf ein Drittel seines Werts. Überall gab es wieder Schlangen vor den Bäckerläden, Einbrüche und Straßendiebstähle, die mit sadistischer Lynchjustiz geahndet wurden.

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Streiks wurden im September erneut zu einer endemischen Erscheinung und umso «politischer», je weniger sie ökonomisch erreichen konnten, da sie Teuerung und Mangel nur weiter anfachten. Am Ende des Sommers kam es vor der Ernte zu einer neuen Welle van­ dalischer Landbesetzungen. Sie wurden von bewaffneten Deserteuren angeführt, durch Beschlüsse des Petrograder Sowjet bzw. seiner bolsche­ wistischen Mehrheit sanktioniert und der Regie der (spärlich gesäten, aber rapide sich vermehrenden) ländlichen Sowjets überwiesen. Auch das war ein Stück «Sowjetlegalismus», der wie in den ersten Wochen der Februarrevolution, nun aber mit weit radikalerer Stoßrichtung eine Quasi-Gesetzeskraft für sich beanspruchte, vorbei an allen Beschlüssen der Regierung – aber auch des «Vorparlaments», der «Demokratischen Versammlung», die bis zur Wahl der Konstituierenden Versammlung im November alle Kräfte und Strömungen der Gesellschaft zusammenfas­ sen sollte und folgerichtig von der bolschewistischen Fraktion erst ob­ struiert, schließlich boykottiert wurde. Diese Paralyse des russischen Zentralstaats trug dazu bei, dass die von ukrainischen Sozialrevolutionären im Sommer gebildete Kiewer Rada, ein nationaler Rat oder «Sowjet», weitgehende Autonomie­ rechte für sich forderte, wie sie von Finnen, Esten, Armeniern und an­ deren Nationalitäten ebenfalls in Anspruch genommen wurden. Diese Bestrebungen schlugen sich jetzt auch in der Formierung separater, ­nationaler Militäreinheiten an den Fronten oder im Hinterland nieder, die ein weiteres Element des hier und dort bereits aufflammenden, sich wie ein Flächenbrand ausbreitenden Bürgerkriegs aller gegen alle wur­ den. All diese Entwicklungen allein hätten jedoch nicht hingereicht, um den als «Oktoberrevolution» bezeichneten Staatsstreich der Bolschewiki in den beiden Nächten des 24. und 25. Oktober (6. und 7. November) zu ermöglichen oder auch nur zu motivieren. Die bolschewistische Partei selbst und ihre leitenden Gremien hätten aus sich heraus nicht den Ent­ schluss zu dieser einseitigen Machtergreifung gefasst  – wäre nicht das monomane Drängen ihres Gründers und Führers Lenin gewesen, das sich ab Mitte September zu einem Bombardement von Botschaften an sein Zentralkomitee und einzelne Parteigliederungen steigerte mit der immergleichen Botschaft: Jetzt oder nie einen «bewaffneten Aufstand» zu organisieren, mit dem die Partei die Macht an sich reißen oder unter­ gehen müsse.

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Die Vorbehalte und Widerstände in den zentralen Parteigremien waren so stark, dass Lenin Anfang Oktober mit falschen Papieren und Perücke, erst im Kostüm eines finnischen Eisenbahners, dann eines bebrillten lutherischen Pfarrers nach Petrograd zurückkehrte. Damit handelte er direkt gegen die Anweisungen seines Zentralkomitees, denen auch er nach den Regeln des «demokratischen Zentralismus» eigentlich zu fol­ gen hatte. Zeitweise erwog er offenbar (oder drohte das jedenfalls an), aus dem Zentralkomitee auszutreten und einen regelrechten Militär­ putsch von links zu organisieren, gestützt auf einige Führer der Petrogra­ der «Roten Garden», der Soldatenkomitees der Nordfront und der «Kommunen» von Kronstadt und Helsingfors. So entrollte er in seinen «Ratschlägen eines Außenstehenden» (d. h. nur im eigenen Namen Spre­ chenden) vom 8./21. Oktober das wahnwitzig anmutende Szenario einer «Offensive auf Petrograd», die «unbedingt sowohl von außen wie von innen, sowohl aus den Arbeitervierteln, wie aus Finnland, aus Reval und aus Kronstadt» geführt werden müsse, begleitet von einer «Offensive der gesamten Flotte», damit es zur «Konzentrierung eines ungeheuren Kräfteübergewichts» der bolschewistischen Aufstandsarmeen gegenüber den «15–20 000köpfigen … ‹Vendee-Truppen›» (Bürgerwehr, Offiziers­ schüler, Kosaken) käme. Die Losung müsse sein: «Auch wenn wir alle ­zugrunde gehen, der Feind kommt nicht durch.»7 Welcher Feind? Lenin behauptete: «Kerenski wird Petrograd den Deutschen ausliefern». Und um «Petrograd zu retten, muss Kerenski ge­ stürzt werden».8 Die Stunde des Handelns sei gekommen, «Verzögerung bedeutet den Tod». Alles hänge jetzt am seidenen Faden der eigenen, un­ bedingten Entschlossenheit. Der Einsatz konnte größer nicht sein: «Der Erfolg der russischen sowohl wie der Weltrevolution hängt von zwei, drei Tagen des Kampfes ab.»9 Illusionär und kurzatmig wie das war, war es vielleicht auch realistisch. Ein schmales, womöglich einzigartiges Zeit­ fenster, ein historisches window of opportunity, öffnete sich in diesem einbrechenden Winter 1917 und konnte sich ebenso rasch wieder schlie­ ßen, falls nicht hier und jetzt vollendete Tatsachen geschaffen wurden. Aber stand nicht der II. Allrussische Sowjetkongress vor der Tür, der in wenigen Tagen zusammentreten sollte und in dem die Bolschewiki vermutlich schon den stärksten Block, vielleicht sogar die Mehrheit stel­ len würden? Wie konnte man glaubhaft «Alle Macht den Sowjets» for­ dern, wenn nicht für diesen Sowjetkongress? Genau umgekehrt, keilte Lenin zurück: «Einen solchen Augenblick verpassen und den Sowjet­ kongress ‹abwarten› ist vollendete Idiotie oder vollendeter Verrat.»

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Denn «der Kongress wird nichts ergeben, kann nichts ergeben!» Ohne die Machtfrage vorab zu entscheiden, «degradieren wir die Sowjets zu erbärmlichen Schwatzbuden.»10 Gerade vom Sowjetkongress ging für ihn also die Hauptbedrohung aus, zumal die Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung sich un­ mittelbar anschließen sollten. Dabei war die gesamte bolschewistische Agitation seit Wochen «unter dem Zeichen der konstituierenden Ver­ sammlung und ihrer Verteidigung geführt» worden, gestützt auf die Be­ hauptung, die Bourgeoisie und die Kerenski-Regierung suchten die Wah­ len zu vereiteln. «Ohne diesen Ausspruch gab es keine bolschewistische Rede, Resolution, Deklaration und keinen Zeitungsartikel», schrieb Suchanow.11 Für Lenin war es dagegen der Gipfel der Verblödung, der eigenen Propaganda aufzusitzen. Auf «die Konstituierende Versamm­ lung zu warten, die offenkundig nicht auf unserer Seite sein wird», son­ dern «unsere Aufgabe komplizieren» wird, komme erst recht nicht in Frage, erklärte er seinem Zentralkomitee auf der vorentscheidenden Sit­ zung am 10./23. Oktober, auf der er nach dreimonatiger Abwesenheit ohne Vorwarnung wieder aufgetaucht war.12 Kamenew und Sinowjew wandten ein, auch jene 45% der Petrograder Wähler, die den Bolschewiki ihre Stimme gegeben hätten, und selbst die in großer Zahl ihnen zugeströmten neuen Parteimitglieder seien für eine einseitige Machteroberung und Diktatur weder reif noch bereit, wohl aber für eine sozialistische Sowjet-Regierung. Lenin entgegnete katego­ risch: Auf gar keinen Fall «dürfen wir uns von der Stimmung der Massen leiten lassen, sie ist wankelmütig und nicht genau zu berechnen». Die Massen wollten «nicht Worte, sondern Taten» sehen.13 Durch eine mit 10:2 Stimmen angenommene Resolution verpflichtete Lenin alle bolsche­ wistischen Leitungskader, ohne Verzug «den bewaffneten Aufstand all­ seitig und tatkräftig vorzubereiten». Er musste es allerdings dem ZK und dem Sowjet überlassen, Zeitpunkt und Mittel des Angriffs festzulegen.14

Der unsichtbare Aufstand Das war der historische Moment des Leo Trotzki. Er machte sich, so ziemlich als einziger im Führungskader der Bolschewiki, die Position Lenins vorbehaltlos zu eigen, dass die bewaffnete Machteroberung dem Sowjetkongress unbedingt zuvorkommen müsse. Nur so seien ihm die Agenda und die entscheidenden Resolutionen zu diktieren, nur so sei er

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als das legitimierende Organ einer von den Bolschewiki gebildeten oder jedenfalls geführten Provisorischen Sowjet-Regierung zu nutzen. Diese könnte dann die anschließenden Wahlen zur Verfassunggebenden Ver­ sammlung beeinflussen und, da die Mehrheit der gewählten Abgeordne­ ten «offenkundig nicht auf ­unserer Seite sein wird», diese Konstituante vor die Wahl stellen, entweder als Ermächtigungsorgan einer proletari­ schen Diktatur den Weg zu ebnen oder auseinandergejagt zu werden. Trotzki brachte das manische Drängen Lenins und das Widerstreben des Führungskaders in einer Strategie zusammen, der zufolge weder die Bolschewistische Partei noch der Sowjetkongress als das primäre Organ des Aufstands firmieren würden, sondern das von ihm, Trotzki, kontrol­ lierte «Revolutionäre Militärkomitee» des Petrograder Sowjets. Dieser als Verteidigung der Revolution geführte Schlag sollte mit dem sich ver­ zögernden Zusammentritt des Kongresses exakt zusammenfallen. Dass alle Gazetten schon von einem bevorstehenden Staatstreich der Bolschewiki sprachen  – erst recht, nachdem Kamenew und Sinowjew vor einem solchen Abenteuer öffentlich gewarnt hatten –, verwandelte sich in Trotzkis intuitiver Strategie in ein weiteres Mittel der Camouf­ lage. Alle Mitglieder des bolschewistischen Führungskaders gingen na­ türlich davon aus, dass man im Falle eines «bewaffneten Aufstandes» die Massen zu Streiks und Demonstrationen aufrufen, Kasernen und Stabsquartiere loyaler Regierungstruppen belagern und den Winter­ palast, in dem Kerenski sich und seine Regierung in einem fatalen sym­ bolischen Akt soeben einquartiert hatte, im Sturm werde nehmen müs­ sen; auf die Gefahr hin, dass es, wie im Juli, zu chaotischen Aufläufen, Schießereien, Plünderungen kommen würde, die die Bolschewiki erneut isolieren würden. Dagegen wettete Trotzki darauf, dass es einen nennenswerten Wider­ stand überhaupt nicht mehr geben werde, und tat etwas völlig anderes: Er ließ kleine, ausgewählte Truppeneinheiten, unterstützt von Roten Garden und Trupps von Matrosen, mit gleichsam offiziellen, von Revo­ lutionären Militärkomitees abgestempelten Befehlen «zum Schutz gegen die Konterrevolution» die Nervenzentren der Stadt besetzen, das Telegra­ fen- und Telefonamt, die Bahnhöfe, die Brücken, die Elektrizitätswerke und einige Ämter. Er stellte Posten auf zentralen Plätzen auf, die neutrale Wachposten «ablösten», und betrieb eine schleichende Übernahme der Stadt, ohne dass irgendjemand so richtig begriff, was da vor sich ging. Insgesamt ­waren maximal 6000  Bewaffnete an diesem lautlosen Um­ sturz beteiligt – und ob ihnen annähernd klar war, worum es sich han­

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delte, ist sehr fraglich. Am nächsten Morgen erschienen noch immer alle Zeitungen, die Verdächtiges, aber nichts Entscheidendes meldeten; noch immer tagte die eben neu gewählte Stadt-Duma im Marienpalast; noch immer arbeiteten die einstweilen unbehelligte Regierung im Winterpalast und die Kommandantur im gegenüberliegenden Generalstabsgebäude – bis dort die Alarmglocken schrillten, weil Befehle nicht mehr ausgeführt wurden und eigene Versuche, die heiklen Punkte der Stadt zu sichern, abgewiesen oder rückgängig gemacht wurden. In der zweiten Nacht (vom 24./25. Oktober bzw. 6./7. November) be­ griff Kerenski, was die Stunde geschlagen hatte. Frühmorgens schaffte er es mit knapper Not, an allen Wachposten vorbei aus der Hauptstadt ­herauszukommen, um über Zarskoje Selo zum Generalstabsquartier in ­Pskow zu gelangen und dort loyale Truppen zu finden. Deren Generäle, darunter Köpfe der späteren «weißen» Bewegung wie der Kosakengeneral Krasnow, hätten ihn ums Haar an die Bolschewiki ausgeliefert. Viele der hohen Militärs warteten tatsächlich auf einen bolschewistischen Putsch, der scheitern würde, aber ihnen Kerenski vom Halse schaffen und einer Ordnungsdiktatur von rechts den Weg bereiten könnte. So fühlte Ke­ renski sich (nicht zu Unrecht) als Opfer eines linken und eines rechten Komplotts. Am Morgen des 25. Oktober/7. November trat Lenin auf einer Sitzung des Petrograder Stadtsowjets nach Monaten der Abwesenheit für einen kurzen Moment aus den Kulissen, um die Stimmung zu testen. Eben hatte Trotzki der Versammlung mitgeteilt, die Regierung Kerenski sei gestürzt und das Revolutionäre Militärkomitee habe die Macht übernommen, eine Nachricht, die erst auf «gespanntes Schweigen», dann auf Beifall traf, der allerdings «kein stürmischer, sondern ein nachdenklicher» war.15 Lenin, frenetisch begrüßt, sagte ein paar Worte über die bevorste­ hende «siegreiche Erhebung des Proletariats in der ganzen Welt», um darauf wieder in einem der hinteren Räume zu verschwinden und sich erneut seine Tarnkappe aufzusetzen – während bereits Hunderte Dele­ gierte aus dem ganzen Land zum Allrussischen Sowjetkongress eintru­ delten, der am gleichen Abend im gleichen Gebäude eröffnet werden sollte und dem der bolschewistische Aufstand, wie von Lenin gefordert, zuvorkommen musste. Nur war dieser «Aufstand» weder in der Stadt bemerkbar noch ­öffentlich erklärt. Erst im Verlauf des Tages tauchten inmitten zahlloser anderer Bekanntmachungen Plakate des Revolutionären Militärkomi­

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tees an den Wänden der Stadt auf, dass die Regierung gestürzt sei. Bis in die Nacht hinein blieb die Situation diffus. Es gab am Winterpalast ein paar sporadische Schusswechsel (eher Warnschüsse als Gefechte), wäh­ rend Gruppen neugieriger oder beutelustiger Soldaten und Rotgardisten im Dunkeln bereits durch Seiteneingänge in den riesigen Palastkomplex eindrangen, sich staunend umsahen, widerstandslos festnehmen und entwaffnen ließen, den Verteidigern aber kameradschaftlich zuredeten, einfach zu gehen. Das taten auch immer mehr – erst recht, als die gegen­ überliegende Peter-und-Paul-Festung einen Blindschuss abfeuerte (sich einer Beschießung des Palastes aber verweigerte) und der kleine Kreuzer «Aurora» in der ersten Morgenstunde ein Dutzend Granaten auf den Palast abschoss, die das riesige Ziel wundersamerweise verfehlten oder nur den Putz beschädigten. Dann passierte wieder nichts. Irgendwann in den Morgenstunden kippte die Sache schließlich, als klar war, dass es keine Verteidigung mehr gab und eine Schar Bewaffneter und Neugieriger, unter ihnen John Reed, den Haupteingang «stürmte», der weit offen stand. Ein Mitglied der Revolutionären Militärkomitees, der bohèmehafte Wladimir Bontsch-Brujewitsch, nahm die verbliebenen Minister fest, die noch eine würdevolle Sitzung simulierten. Das Gros der Offiziersschüler konnte unter Zusicherung, sich nicht gegen die neue Macht zu stellen, nachhause gehen. Einige der Frauen aus dem viel ver­ höhnten Frauenbataillon, die beschuldigt wurden, geschossen zu haben, wurden in eine Armeebaracke gebracht und misshandelt, zwei vergewal­ tigt, eine erschoss sich selbst. Aber schließlich kamen auch sie, die einzi­ gen wirklichen Verteidigerinnen des Winterpalastes, halbwegs heil heraus. Von einem «Sturm auf den Winterpalast», wie die sowjetische Propa­ ganda ihn analog dem Sturm auf die Bastille 1789 zum Gründungsmy­ thos des neuen Staats erhoben hat, konnte also keine Rede sein. Und doch lieferte die Einnahme in den frühen Morgenstunden des 26. Okto­ ber/8. November das Signal für den (vorläufigen) Sieg des bolschewisti­ schen Coups. Im Sowjetkongress, der am späten Abend unter Protest eröffnet wurde, konnten sich die Gegner des Umsturzes (ihre Zahl ist nicht genau festzustellen) zunächst auf keine gemeinsame Strategie einigen und über­ ließen den Bolschewiki fast kampflos die Regie. So wurde ein mehrheit­ lich bolschewistisches Präsidium einschließlich Lenins gewählt, der sich aber nicht zeigte, sondern «noch nicht abgeschminkt, in Perücke und großer Brille … in einem Durchgangszimmer» saß: «Er wollte vorläufig

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noch beobachten, die Fäden fester in seinen Händen anziehen und einst­ weilen in den Kulissen bleiben»  – so Trotzki, voller Bewunderung für Lenins Strategie der Unsichtbarkeit, die jetzt wie später ein Teil seines Nimbus wurde und ihm (Trotzki) die dankbare Vorderbühne überließ.16 Die beiden Regisseure des Umsturzes konnten beobachten, wie ihre Hauptgegner, die bisherige «Sowjetmehrheit» von Menschewiki und So­ zialrevolutionären, sich zurückzogen, um getrennt darüber zu beraten, ob sie überhaupt noch am Kongress teilnehmen oder gleich ausziehen sollten. Darüber spalteten sie sich noch einmal, so wie ihre Parteien sich Wochen vorher bereits in «linke» und «rechte» Fraktionen gespalten hatten. Im Laufe der Nacht zogen immer neue, kleine und größere Dele­ giertengruppen des Kongresses unter Protest aus. So ziemlich die letzten, die gingen, waren die menschewistischen «Internationalisten» um Mar­ tow, deren Dringlichkeitsantrag, den Bürgerkrieg draußen durch «fried­ liche Verhandlungen» beizulegen, einstimmig angenommen worden war, ohne an der Politik der bewaffneten Machtübernahme das Geringste zu ändern. War die Kapitulation der Regierungskräfte etwa keine friedliche Verhandlung? Trotzki, der zwischen seinem Militärstab, dem bolschewistischen Fraktionsbüro, in dem Lenin saß, und dem Kongress (alles Tür an Tür) hin und her pendelte, rief Martow, immerhin seinem ältesten und engs­ ten Gefährten, die so bühnenreifen wie geschichtsträchtigen Sätze hin­ terher: «Der Aufstand der Volksmassen bedarf nicht der Rechtferti­ gung … Und jetzt schlägt man uns vor: verzichtet auf euren Sieg, geht eine Verständigung ein. Mit wem? … Mit jenen kläglichen Häuflein, die davon gelaufen sind? … (Ihr) seid armselige Einzelgänger, ihr seid Bank­ rotteure, eure Rolle ist ausgespielt, schert euch hin, wohin ihr von nun an gehört: auf den Kehrichthaufen der Geschichte!»17 Die Stadt war an diesem dunklen Morgen des 26. Oktober/8. Novem­ ber ruhig (so ruhig, wie vielleicht nie in ihrer ganzen Geschichte, glaubte Reed), aber die Zivilgesellschaft mobilisierte sich. Im Gebäude der Stadtduma und mit deren Unterstützung hatte sich aus den Sowjetdepu­ tierten, Vertretern von Gewerkschaften und anderen Organisationen ein «Komitee zur Rettung des Vaterlandes und der Revolution» gebildet, das aufforderte, den Anordnungen des Revolutionären Militärkomitees nicht Folge zu leisten, da es sich um einen bolschewistischen Staats­ streich handele. Dasselbe sagten die liberalen und konservativen Blätter, deren Druckereien allerdings teilweise schon besetzt wurden. Die Zeitun­ gen der linken Menschewiki und Sozialrevolutionäre sowie Suchanows

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«Nowaja Shisn» riefen vermittelnd dazu auf, endlich eine wirkliche So­ wjetregierung aus allen sozialistischen Parteien zu bilden, ohne Liberale und Konservative. Gegen dieses «Kompromisslertum», dem Reed zu­ folge auch «ein großer Teil der Bolschewiki» anhing, mussten Lenin und Trotzki weiterhin ankämpfen. Noch immer schien es einer Mehrheit seines eigenen Führungskaders undenkbar und vollkommen abenteuer­ lich, alleine die Macht zu übernehmen.18 Am späten Abend betrat Lenin unter dem «nicht enden wollenden» Beifall der verbliebenen, mehrheitlich bolschewistisch orientierten Dele­ gierten (die ihn fast alle zum ersten Mal leibhaftig sahen und entspre­ chend enttäuscht waren) die Tribüne. Er soll mit dem einfachen Satz be­ gonnen haben: «Wir beginnen jetzt mit dem Aufbau der sozialistischen Ordnung.»19 Ob das stimmt, ist freilich unklar. Es gibt keine Protokolle des Kongresses. Auch die Stenotypistinnen des Sowjet hatten unter Pro­ test die Arbeit niedergelegt und waren gegangen – für Trotzki «eine der ersten Sabotageepisoden», denen bald schon die «Sabotage» eines Groß­ teils der Gesellschaft folgen würde. Anschließend verlas und begründete Lenin  – assistiert von Lunat­ scharski mit seiner Stentorstimme – die Dekrete über den Frieden, über das Land und über die Sowjetmacht, die er in der durchwachten Nacht zuvor mit einigem literarischem Schwung handschriftlich zu Papier ge­ bracht hatte. Keiner der vielleicht 500 verbliebenen Delegierten hatte diese Texte vorliegen. Ob sie das Verlesene richtig hören konnten (es gab ja keine Lautsprecher) und richtig verstanden, spielte insofern keine Rolle, als sie ohnehin nur zu akklamieren hatten. Stimmen wurden nicht mehr gezählt (außer ein paar Gegenstimmen beim Agrardekret). Da die linken Sozialrevolutionäre sich weigerten, als Feigenblatt zu dienen, wurden eine rein bolschewistische Provisorische Regierung sowie ein neues, ebenfalls von den Bolschewiki majorisiertes Exekutivkomitee «gewählt». Zwischendrin stimmte jemand die «Internationale» an, und danach wurden die Delegierten aufgefordert, unverzüglich nachhause zu fahren und die Revolution dort voranzutreiben und zu verteidigen. Damit legte «das demokratischste aller Parlamente der Weltgeschichte» (Trotzki)20 die Macht in die Hände einer den meisten kaum oder gar nicht bekannten Gruppe von Männern, die sich selbst den Titel eines «Rats der Volkskommissare» gab. Natalja Sedowa, Trotzkis Frau, die ihnen am Morgen danach Essen und frische Wäsche brachte, blickte in graugrüne, übernächtigte, unrasierte Gesichter. «In den Bewegungen, in den Worten war etwas Somnambulisches, Mondsüchtiges.» Lenin habe

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sie freundschaftlich, «mit eckiger Verlegenheit» begrüßt und, indem er «eine kreisende Handbewegung um den Kopf» machte, zu ihr ins Deut­ sche fallend gesagt: «Es schwindelt».21

Die Logik der Totalisierung Die Revolution selbst «machte» die Revolutionäre, mindestens so sehr wie diese die Revolution «machten»  – nicht anders als im Frankreich Robespierres, Dantons, Saint-Justs nach 1789. So verschworen und er­ fahren die berufsrevolutionäre Machtkohorte der Bolschewiki war, so «schwindelerregend» war dann doch die Situation, in der sie sich am Morgen danach wiederfanden und auf die sie in keiner Weise vorbereitet waren. Alle veränderten sie ab diesem Moment noch einmal ihr Natu­ rell, wechselten ihr Charakterkostüm, auch äußerlich. Trotzki, anfangs noch relativ elegant gekleidet und vollendet höflich, trat ab dem Septem­ ber nur noch schroff und schneidend, in halbmilitärischer Tunika und grauem Soldatenmantel auf und warf sich nach der Machteroberung ins schwarzlederne Kostüm des «Tschekisten», eines (wie er selbst spä­ ter schrieb) den «Samurai» ähnlichen, bewaffneten und mit einem Ethos moralischer Unempfindlichkeit ausgestatteten Machtordens. Auch Swerdlow, Sohn eines Druckereibesitzers, gelernter Apotheker und der dritte Mann im engsten Machtzirkel, bevor er 1919 an der spanischen Grippe starb, trat nur noch in schwarzem Leder auf. Stalin, der vierte Mann, bevorzugte eine eigene, an Kerenski erinnernde, frei stilisierte Militärkluft, die er lebenslang beibehielt – ähnlich wie Dzierzynski, der seine neue Funktion als Chef der «Tscheka», der Geheimpolizei, eben­ falls in einer selbstgewählten Dienstuniform zum Ausdruck brachte. Nur Lenin behielt Anzug und Hemd mit gestärktem Kragen, ein ziviles ­Habit, was ihn von allen anderen gerade unterschied. Stalin, Swerdlow und Dzierzynski brachten für ihre neue Rolle als Träger einer unmittelbar auf Gewalt gestützten Diktatur immerhin einige Erfahrungen aus ihrer Tätigkeit im Untergrund mit, in dem es viel­ fach sehr «physisch» oder auch blutig zugegangen war, vor allem dort, wo sich die bolschewistische Organisation mit terroristischen Praktiken und kriminellem Brigantentum verband. Trotzki und vor allem Lenin waren bis dahin dagegen reine Männer der Feder und des Wortes ge­ wesen, Trotzki umtriebiger und mehr auf sinnliche Eindrücke bedacht, Lenin stationärer, ganz im Gehäuse seines familiären Umfelds, seiner

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­engeren Gefolgschaft, seiner Schreib- und Leseplätze und Publikationen. Nichts bereitete sie auf die Rolle vor, die sie jetzt zu spielen hatten und in die sie mit einer übermenschlichen Energie hineinschlüpften. So verfasste Lenin in den ersten Wochen mit eigener Hand so gut wie alle relevanten Dekrete und Dokumente des neuen Regimes. In dichtem Strom verließen sie sein spartanisch ausgestattetes Büro, erst im Petro­ grader Smolny, später im Moskauer Kreml, jedes ein strategischer Zug und gezielter Schlag: Deklaration der Rechte der Völker Russlands, De­ kret über die Arbeiterkontrolle, Über die Einrichtung eines Obersten Volkswirtschaftsrats, Über die Nationalisierung der Banken, Über die Verstaatlichung der Großindustrie, Über die Volksbildung usw. Dabei wohnte er mit seiner Frau, die zur Stellvertretenden Kommissarin für Volksaufklärung ernannt wurde, inmitten seiner kleinen Machtappara­ tur fast «wie kleine Handwerksmeister ‹über ihrem Laden›»22 , in einer Art Wohnbüro, das sie kaum verließen, außer zu spätabendlichen Spa­ ziergängen, die sie machen konnten, weil niemand sie kannte. Zwar überwand er seine Scheu, vor nicht-parteigebundenen Auditorien aufzutreten, und hielt einige Dutzend Durchhaltereden, um das unmittel­ bare soziale Umfeld zu festigen, die Stimmungen zu testen und wenigstens etwas von der zweiten russischen Hauptstadt zu sehen, die er kaum kannte – so wie den größten Teil des Landes auch nicht. An physischem Mut kann es ihm, anders als behauptet, nicht ganz gemangelt haben, denn in den chaotischen ersten Monaten bewegte er sich mit Automobil, Chauf­ feur und kleinster Eskorte durch die Stadt. Dabei ist mehrfach auf ihn ge­ schossen worden, unklar von wem genau; einmal wurden sie von Gangs­ tern des Fahrzeugs (eines Rolls Royce) und ihrer Mäntel beraubt. Diese Nonchalance, die in merkwürdigem Kontrast zu seinen paranoiden Ver­ dächtigungen gegen die überall lauernden Feinde und seinen chronischen Erregungszuständen und Zornausbrüchen stand, änderte sich erst durch das dilettantische, aber gefährliche Attentat der halb blinden Fanny Kap­ lan Ende August 1918. Das unglaubliche Arbeitspensum, das er sich auferlegte, trieb ihn im­ mer von Neuem in seine bekannten «neurasthenischen» Zusammenbrü­ che mit Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit und Gereiztheit. Die «Überwin­ dung» der Gewaltenteilung zwischen Partei, Regierung und Sowjet (dem eigentlich legislativen Organ) bedeutete eben auch eine weitgehende Aufhebung aller internen Arbeitsteilungen. Als Revolutionsführer musste er sich mit schlechthin allem befassen. Man hat errechnet, dass Lenin zwischen 1917 und 1922 nicht weniger als 676 Gesetze, Dekrete und In­

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struktionen geschrieben, diktiert oder redigiert hat – eine Rückkehr zum moskowitischen Ukas als dem Inbegriff der Autokratie, aber in x-ter Po­ tenz.23 Gleichzeitig erteilte er in handschriftlichen kleinen Kassibern formlose Weisungen, äußerte sich zu Beschlüssen, Initiativen und Perso­ nalvorschlägen seiner Kollegen oder schleuderte Zornesblitze. Stalin würde das in seinem phlegmatischeren Tonus ganz genauso machen. Schließlich agitierte Lenin sein Parteivolk mit einer Flut von Artikeln, polemischen Rundumschlägen, um in einem Meer von Unbildung, Bor­ niertheit und Idiotismus die eigene, korrekte und daher unbedingt (zwei­ mal unterstrichen) zu verfolgende Linie herauszuarbeiten – womit er oft zunächst in der Minderheit war, bevor er nach langem, zähem, manch­ mal rasendem Kampf eine jeweilige Mehrheit fand. Dazu kamen seine ein- oder zweistündigen Reden auf so gut wie allen größeren Konferen­ zen und Kongressen, nach Stichworten frei gehalten. Später musste er die Stenogramme redigieren, damit sie gedruckt und zur Leitlinie der je­ weiligen Politik werden konnten. Allen posthumen Devotionskitsch beiseitegelassen, ist klar, dass Lenin sich in den fünf Jahren, in denen er an der Macht war, physisch, nervlich und geistig vollkommen aufgerieben hat. Verbissen kämpfte er gegen den Zusammenbruch, weil seine Physis und Psyche buchstäblich das Ner­ venzentrum und der «Körper der Macht» waren. Aber: Die Landkarte seines immensen, ein Sechstel der Erde umfassenden, erst noch rückzu­ erobernden, neu zu kolonisierenden Reiches wie ein einziges sozialhisto­ risches Experimentierfeld zu überblicken; es im Staatlichen Elektrifizie­ rungsplan, dem GOELRO-Plan von 1920, in einem umfassenden, halb magischen, halb szientistischen Sinne aus seiner ägyptischen Finsternis zu erwecken und zu energetisieren (gemäß seiner neuen, geflügelten Formel: Sozialismus ist Elektrifizierung + Sowjetmacht); gleichzeitig die geopoli­ tischen Szenarien, in denen der neue Großstaat sich zu bewegen hatte, wie in einem Strategiespiel (das er für ein Endspiel hielt) auszurechnen, um seine diplomatischen, militärischen, weltrevolutionären Schach- oder Feldzüge entsprechend anzusetzen – darin bestand wohl sein ultimativer Lebensgenuss. Einen anderen hatte er nicht. «Werden die Bolschewiki die Staatsmacht behaupten?» war der Titel eines längeren Textes gewesen, den Lenin schon anderthalb Monate vor der Machteroberung in seinem finnischen Versteck verfasst und für ­einen engeren Kaderzirkel publiziert hatte. Die ungeschminkte Offenheit des Machtanspruchs paarte sich darin mit einer furchterregenden

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Schlichtheit der Staats- und Gesellschaftsvorstellungen und trügerischen Leichtigkeit der Lösungen. «Utopisch» wie diese Vorstellungen waren, entsprangen sie dennoch keinem abstrakten oder rosaroten Gesellschaftsideal, sondern präsen­ tierten sich zunächst einmal als zwingend notwendiger Ausbruch aus ei­ ner sich täglich verschlimmernden Katastrophe. Das war für Lenin kein Widerspruch, im Gegenteil: Wenn die Frage des Übergangs zum Kom­ munismus so wissenschaftlich nüchtern behandelt werden musste, «wie der Naturforscher die Frage der Entwicklung einer neuen, sagen wir, biologischen Abart stellen würde, wenn man weiß, dass sie so und so entstanden ist und sich in der und der bestimmten Richtung modifi­ ziert»,24 und wenn seit Darwin feststand, dass die entscheidenden evo­ lutionären Entwicklungssprünge sich gerade unter dem Druck existen­ tieller Notlagen vollzogen – dann musste die Krise des Imperialismus als des letzten, höchsten Stadiums des Kapitalismus der historische Punkt sein, den Übergang zum Sozialismus in Angriff zu nehmen. Alle Sowjetparteien, schrieb Lenin, seien sich darüber im Prinzip ei­ nig: «Und nichts geschieht.» Dabei seien alle «Mittel zur Bekämpfung der Katastrophe und des Hungers vorhanden» und die erforderlichen «Kampfmaßnahmen völlig klar und einfach, voll durchführbar». Diese Mittel und Maßnahmen seien: «Kontrolle, Aufsicht, Rechnungsfüh­ rung, Regulierung durch den Staat, richtige Verteilung der Arbeitskräfte in Produktion und Distribution, Haushalten mit den Kräften des Vol­ kes».25 In der hier und jetzt zu errichtenden Sowjetrepublik oder Kom­ mune würden alle diese Tätigkeiten bereits in die Hände der bewaffneten und organisierten Arbeiter- und Bauernschaft gelegt werden können. Denn die im Weltkrieg entwickelte Kriegswirtschaft habe alle auf Mono­ polismus und Planung zielenden Entwicklungen des modernen Kapita­ lismus schon über sich selbst hinausgetrieben und damit die Grundlagen eines Sozialismus niederer Ordnung fertig bereitgestellt: «Der Kapitalis­ mus hat Apparate der Rechnungsführung in Gestalt der Banken, der Syndikate, der Post, der Konsumgenossenschaften und der Angestellten­ verbände geschaffen», das alles unter dem Kommando weniger Groß­ banken. Diese brauche man nur in eine «einheitliche Staatsbank … mit Zweigstellen in jedem Amtsbezirk, bei jeder Fabrik» überführen, um eine «gesamtstaatliche Buchführung, eine gesamtstaatliche Rechnungs­ führung über die Produktion und die Verteilung der Produkte» zu ge­ währleisten, und schon hatte man «eine Art Gerippe der sozialistischen Gesellschaft».26

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«Russland wurde nach der Revolution des Jahres 1905 von 130 000 Gutsbesitzern regiert … Und da sollen 240 000 Mitglieder der Partei der Bolschewiki nicht imstande sein, Russland zu regieren?» Im Gegenteil, die Bolschewiki hätten, anders als jene alten Eliten, bereits Millionen hinter sich, und über die Sowjets könnten sie noch zehnmal mehr Menschen aus «der armen Bevölkerung zur täglichen Arbeit an der Verwaltung des Staates» heranziehen. Das sei ihr «Wundermittel». Zwar sei es noch notwendig, über die bürgerlich-privilegierten, die kleinbürgerlich-individualistischen und die reaktionär-rückständigen Teile der Bevölkerung eine repressive oder disziplinierende Diktatur aus­ zuüben. Aber auch diese vorerst notwendige regressive Seite der Dikta­ tur könne großteils bereits der Initiative der Massen selbst überlassen werden. Denn der «kriegführende kapitalistische Staat» habe schon das Getreidemonopol, die Brotkarten und die allgemeine Arbeitspflicht ein­ geführt. Nun denn: «Getreidemonopol, Brotkarte, Arbeitspflicht sind in den Händen eines proletarischen Staates … das machtvollste Mittel der Rechnungsführung und Kontrolle. Dieses Mittel der Kontrolle und des Arbeitszwanges ist stärker als die Gesetze des Konvents und seine Guillo­ tine. Die Guillotine schüchterte nur ein, brach nur den aktiven Wider­ stand. Uns genügt das nicht.»27 Dieses Lenin’sche Konzept einer sozialen Diktatur ging tatsächlich über alle hergebrachten Vorstellungen einer politischen Diktatur systematisch hinaus – und dies gerade durch die illusionäre Annahme, soziale Kon­ trollmaßnahmen würden «jeden wie immer gearteten Widerstand un­ möglich … machen». Wenn der erste, verzweifelte Widerstand der gestürzten Ausbeuter­ klassen einmal gebrochen sei, werde sich diese revolutionäre Diktatur als eine «verhältnismäßig leichte, einfache und natürliche Sache» her­ ausstellen, die «viel weniger Blut kosten wird als die Unterdrückung von Aufständen der Sklaven».28 Und wenn alle Bürger sich früher oder später an diese neue, einfache, im Grunde vollkommen «natürliche» sozialisti­ sche Ordnung gewöhnt hätten – dann könne der Staat als Zwangsorgan mitsamt dem Wust von Gesetzen und bürokratischen Verordnungen, wie Engels einst gesagt hatte, nach und nach «absterben» und in die Rumpelkammer der Geschichte verbannt werden. Das in den Sowjets organisierte, bewaffnete Volk werde selbst zum neuen Staat, der mit dem wirtschaftlichen Apparat und den gesellschaft­ lichen Einrichtungen zu einem einzigen Komplex verschmelzen könne:

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«Alle Bürger werden Angestellte und Arbeiter eines das gesamte Volk umfassenden Staatssyndikats’», in dem alle Prozesse von Produktion und Verteilung, die schon «durch den Kapitalismus bis zum äußersten vereinfacht» worden sind, von jedem überwacht und kontrolliert wer­ den können, der des Lesens und Schreibens kundig ist und «die vier Grundrechenarten beherrscht». Damit werde die gesamte Gesellschaft «ein Büro und eine Fabrik mit gleicher Arbeit und gleichem Lohn». So­ weit es noch besonderer Kenntnisse von Fachleuten bedürfe, biete auch das keine Schwierigkeit: Denn alle diese «Herrschaften» (Ingenieure, Agronomen usw.), die heute für die Kapitalisten arbeiten, würden «mor­ gen noch besser arbeiten und sich den bewaffneten Arbeitern fügen».29 Diese von Lenin für seine Verhältnisse recht lebhaft und idyllisch aus­ gemalte, allseitige, freiwillige Selbsttätigkeit der proletarischen Massen verwandelte sich, einer nicht besonders vertrackten Dialektik folgend, vom ersten Moment der Machteroberung an allerdings in ihr glattes Ge­ genteil: in ein System weitgehender Verstaatlichung des gesellschaftli­ chen Lebens und einer «totalitären» (auf die Gesamtheit aller gesell­ schaftlichen Beziehungen zielende) Sozialkontrolle, für die es dann eben doch ein besonderes «Organ» brauchte. Dieses «Organ» aber musste außerhalb der formalen Staatsordnung, der geschriebenen Gesetze und sogar der führenden Partei stehen und sich (anfangs jedenfalls) tatsächlich ganz auf die «Selbsttätigkeit» seiner Mitarbeiter verlassen. Seiner geflüsterten Bezeichnung als «Geheimpoli­ zei» machte es insofern alle Ehre, als die Begründungen seiner Existenz und Aufgaben nicht einmal bekannt gegeben wurden. Dafür trug dieses «Organ» seinen bewusst unklaren Daseinszweck und entsprechend wei­ ten Umfang seiner Kompetenzen schon im Titel: «Allrussische Außeror­ dentliche Kommission zur Bekämpfung von Konterrevolution, Sabotage und Spekulation» (Wetscheka, kurz: Tscheka). In Felix Dzierzynski, einem aus niederem polnischen Adel stammen­ den Veteranen der polnisch-litauischen Sozialdemokratie, fand Lenin einen Gründer und Organisator, um den sich wegen seiner «Unbestech­ lichkeit» bei der Vertilgung von Konterrevolutionären und weil er sich wie Lenin in seinem Amt sichtbar verzehrte, schon zu Lebzeiten, und erst recht nach seinem frühen Tod 1926, ein eigener Kultus als eines Märty­ rers der eigenen Grausamkeit und «Ritters der Revolution» bildete. Auf der Sitzung des Rates der Volkskommissare, auf der Dzierzynski mit die­ ser Aufgabe betraut wurde, erklärte er keine sechs Wochen nach der bol­ schewistischen Machteroberung: «Denken Sie nicht, ich hätte eine Form

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revolutionärer Justiz im Sinn: Justiz wird jetzt nicht gebraucht. Jetzt geht ein Kampf auf Leben und Tod, Brust an Brust! Ich befürworte, nein, ich fordere die organisierte Gewalt gegen die Aktivisten der Konterrevolu­ tion.»30 «Sabotage» war jetzt der Konterrevolution gleichgestellt und in den Zu­ sammenhang einer einzigen großen Verschwörung gestellt. Jede Form von zivilem Widerstand, von Streik, Boykott, Verweigerung, Passivität war ab jetzt «Sabotage», also ein Akt des Krieges «auf Leben und Tod». Schon darin steckte eine totalitäre Steigerung der Ansprüche des Staates auf seine Subjekte, die neuartig war. An die Stelle der Zusicherungen in Lenins Schriften, dass die Errichtung einer Sowjetmacht im Prinzip ein­ fach und leicht sein werde, trat nun die Erklärung eines Präventivkriegs gegen eine Hydra maskierter innerer Feinde. Schon in seinem ersten Entwurf eines Dekrets zur Bekämpfung der Sa­ botage und Konterrevolution, das der Tscheka-Gründung zugrunde lag, hatte Lenin die vollständige Registrierung der pauschal für «konterrevo­ lutionär» erklärten Bourgeoisie verlangt, tatsächlich des gesamten Stadt­ bürgertums, und zwar mittels neuer Arbeits-, Einkommens- und Identi­ tätsnachweise, die von den zuständigen Bezirkssowjets ausgegeben und von «Hauskomitees», in Wirklichkeit den Hausmeistern, also dem be­ währten Basispersonal der alten Ochrana, abgestempelt und regelmäßig überprüft werden sollten – bei Strafe des Entzugs der Lebensmittelkar­ ten, der Arbeitsstelle und der Wohnung.31 Ende Dezember verfasste er dann unter dem harmlosen Titel «Wie soll man den Wettbewerb organisieren?» einen Aufruf an «Arbeiter und Bauern! Werktätige und Ausgebeutete!», den man allerdings nicht zu veröffentlichen wagte, bis Stalin ihn am Vorabend der Kollektivierung 1929 aus dem Archiv holen ließ, weil alles darin Postulierte im Zuge der Kollektivierungs- und Industrialisierungskampagne endlich einer sozia­ len Gesamtlösung zugeführt werden sollte. In diesem, wie immer in eige­ ner Handschrift fast ohne Korrekturen flüssig geschriebenen Text for­ derte Lenin mit gewollt brutaler Deutlichkeit die «Säuberung der russi­ schen Erde von allem Ungeziefer». Folgt man der deutschen Ausgabe, zählte er zu diesem Ungeziefer «die Reichen und ihre Kostgänger, die bürgerlichen Intellektuellen, die Gauner, Müßiggänger und Rowdys».32 Im kaum übersetzbaren Original sprach er, bäuerlich-derber, von den «Bettwanzen von Reichen» und «Schufte-Flöhen», die es zu zerquet­ schen gelte. Die absolute Beliebigkeit der Bezeichnungen war nicht zu

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übersehen. Die marxistischen Klassenkategorien verwandelten sich in eine Dämonologie, in der die «Kapitalisten» oder «Imperialisten» als die persönlichen Träger negativer Weltprinzipien mit anderen populären Hassfiguren verschmolzen, die den Rahmen jedes hergebrachten sozia­ listischen Gesellschaftsbildes verließen und sich strukturell und sozial­ psychologisch am ehesten den Wahnbildern des modernen Antisemitis­ mus zur Seite stellten. Die Liste der «Klassenfeinde» oder «Volksfeinde» ließ sich fast unbe­ grenzt erweitern. Neben den «Burshui» als Volksausgabe eines «Bür­ gers», der eine Brille oder einen guten Mantel trug, trat die schimpfliche Gestalt des «bürgerlichen Intellektuellen». Eine Stufe tiefer wimmelte es von «Spekulanten», die irgendeinen kleinen Schwarzhandel betrieben, und von «Kulaken», die vielleicht zwei Pferde oder einen Knecht hatten. Dahinter folgte eine höllische Rotte aus nicht näher bezeichneten «Bluts­ augern», «Parasiten», «Saboteuren», «Diversanten», «Hooligans», «korrupten Elementen», «Rowdys», «Müßiggängern». Und schließlich gab es die vage politisch konnotierten «Weißgardisten» und «Schwarz­ hunderter», «Banditen», «Pogromisten», «Spione», «bezahlten Agen­ ten» und «geschworenen Konterrevolutionäre». Fast nie war zu sagen, wer genau unter was zu fassen war. Ob es sich dabei um bloße volkstümelnde Rhetorik handelte oder ob die führenden Bolschewiki selbst, sobald sie das geschützte Feld ortho­ doxer Theoriedebatten verließen, tatsächlich in diesen Kategorien dach­ ten und empfanden, kann offen bleiben. Es handelte sich jedenfalls um einen leeren, aus keiner bestimmten persönlichen Erfahrung gespeisten «Klassenhass», genauer gesagt: um dessen Entfesselung. In der Praxis diente dieser Text Lenins als Begleitinstruktion zum Aufruf der Tsche­ ka-Führung an die Sowjets in den Provinzen, auf eigene Faust bewaff­ nete Abteilungen «zum Kampf gegen Konterrevolution und Sabotage» aufzustellen. Lenin war sich nicht zu schade, sondern hielt es offensichtlich für seine pädagogische Pflicht, ganz praktische Ratschläge zu geben, wie er sich einen offensiv geführten sozialen Terror vorstellte, und das in einem spielerischen Ton, der signalisierte, dass den Teilnehmern dieses «Wett­ bewerbs» (wie Dostojewskis «Dämonen») «alles erlaubt» und ihrer ­sadistischen Phantasie keine Grenzen gesetzt waren: «An einem Ort wird man zehn Reiche, ein Dutzend Gauner, ein halbes Dutzend Arbei­ ter, die sich vor der Arbeit drücken, ins Gefängnis stecken. An einem an­ deren Ort wird man sie die Klosetts reinigen lassen. An einem dritten

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Ort wird man ihnen nach Abbüßung ihrer Freiheitsstrafe gelbe Pässe [wie den Prostituierten, G. K.] aushändigen, damit das ganze Volk sie bis zu ihrer Besserung als schädliche Elemente überwache. An einem vierten Ort wird man einen von zehn, die sich des Parasitentums schuldig ma­ chen, auf der Stelle erschießen.»33 Die Machtusurpation der Bolschewiki traf tatsächlich auf vielfachen Widerstand  – aber vorerst einen rein zivilen, und das keineswegs nur von Seiten der «Bourgeoisie» oder «Reichen». Schon in der Nacht ihrer Machtübernahme protestierte der Verband der Eisenbahnarbeiter und erklärte, nur mit einer aus allen Sowjetparteien zusammengesetzten Re­ gierung zusammenzuarbeiten. Die Arbeiter der Druckereien wandten sich energisch gegen die sofort verfügten Schließungen oppositioneller Zeitungen und Verlage und die Einführung einer neuen Zensur. Die Be­ amten der zentralen Ministerien und Behörden weigerten sich ebenso wie ein großer Teil der städtischen Angestellten, unter den neuen Macht­ habern ­ihren Dienst anzutreten. Auch die Angestellten der Post, der ­Telegrafie, der Elektrizitätswerke traten in den Streik, und bald danach die Lehrer, die Ärzte und die Krankenschwestern. Die Professoren der Universitäten und der gesamtrussische Verband der Ingenieure erklärten ihren kategorischen Protest. Aber auch in einigen großen Betrieben und Militäreinheiten gab es Resolutionen für eine echte Sowjetregierung. Das war nicht weniger als das Gros der Petrograder Bürgerschaft, im weiten, ­demokratischen Sinne dieses Wortes verstanden und formell ver­ treten durch die kürzlich neugewählte städtische Duma. Dieser zivile Widerstand entzündete sich an so gut wie allen Maßnah­ men des neuen Regimes. Sie wurden als vollkommen sachfremd und willkürlich empfunden und mussten teilweise, wie gleich am ersten Tag bei den Beamten des Finanzministeriums, mit vorgehaltener Waffe durchgesetzt werden. Umgekehrt war für die Bolschewiki klar, dass die­ ser Boykott der städtischen Bürgerschaften ihr Unternehmen im Ansatz bedrohte. Eine andere Machtbasis als die großen Städte Zentralruss­ lands sowie einige Städte im Süden besaßen sie nicht. Freilich ging das Gros der Gesellschaft noch immer davon aus, dass mit den auch von den Bolschewiki geforderten allgemeinen Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung, die am 12./25. November (also nur zwei Wochen nach dem bolschewistischen Staatsstreich) begannen, die Dinge wieder ins Lot kommen würden. Dass Lenin schon am ersten Tag seiner Machtergreifung für eine Aussetzung der Wahlen eingetreten war,

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was vom ZK seiner Partei wie vom neuen ZEK des Allrussischen Sowjets abgelehnt worden war, drang kaum nach außen. So verliefen diese ersten und bis 1989 letzten demokratischen Wahlen in der Geschichte Russlands relativ korrekt, bei einer Wahlbeteiligung von beachtlichen rund 60 %. Das Ergebnis war eindeutig, obwohl es nie vollständig festgestellt worden ist: Die Bolschewiki erhielten 23–24 % der Stimmen (über 9 Millionen) und waren in den beiden Hauptstädten und einigen zentralrussischen Städten, in den meisten Industrierevieren sowie unter großen Teilen der Armee die stärkste Partei. Dennoch brach­ ten sie es mit den Mandaten der linken Sozialrevolutionäre und einzel­ ner anderer Deputierter landesweit nur auf einen Stimmenblock von etwa 30 %. Ihnen standen 70 % gegenüber, die deren Regime ablehnten oder nicht unterstützten. Davon gingen rund 40 % der Stimmen (ca. 17 Millionen) an die «rechten» Sozialrevolutionäre, die mit Sozialisten aus den Nationalitäten womöglich eine absolute Mehrheit hätten bilden können. Die Menschewiki schnitten mit kaum 2,5 % der Stimmen (knapp 700 000) sehr schwach ab, waren in einzelnen Industrieorten aber relativ stark und konnten es mit den Jüdischen Bundisten und an­ deren auf einen Stimmenblock von rund 1,5 bis 2  Millionen bringen. Schwach war auch das Ergebnis der Liberalen (Kadetten) mit rund 5 % (knapp 2 Millionen); aber trotz massiver erster Repressionen und Behin­ derungen und scharfer Hetze gegen sie als angebliche Kornilow-Anhän­ ger waren sie in Moskau wie in Petrograd und anderen Großstädten nach den Bolschewiki die zweitgrößte Partei, die das Gros des modernen Bürgertums zusammenfasste. Rechtsparteien waren so gut wie über­ haupt nicht mehr vertreten, auch weil ihre Exponenten faktisch schon außerhalb des Gesetzes standen. Die Wahlen bedeuteten ein klares Misstrauensvotum gegen eine bol­ schewistische Diktatur. Angesichts von rund 80 % der Stimmen für sozia­ listische Parteien ließ sich daraus zugleich ein starkes Votum für eine so­ zialistische Koalitionsregierung herauslesen, die sich überdies auf eine deutliche Mehrheit in den landesweiten Sowjets hätte stützen können. Was wieder nur zeigte, wie recht Lenin hatte. Denn nach solchen demo­ kratischen Wahlen wäre ein bolschewistischer Aufstand vollends un­ möglich gewesen. Umgekehrt bewiesen die Wahlen, dass die Bolschewiki sich, weniger als Partei, sondern als eine radikale Strömung oder Bewe­ gung, auf einen kompakten Block der großstädtischen Bevölkerungen, der Arbeiter vieler Industriebezirke sowie vor allem auf Millionen Solda­ ten stützen konnten, während sie auch in den städtischen Sowjets wie in

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den Betriebs- und Soldatenkomitees Schlüsselpositionen hielten. Klar war auch, dass ihr resoluter Griff nach der Staatsmacht sie vielen als die letzte noch verbliebene Ordnungspartei empfahl  – die als einzige zu­ gleich bereit war, auch unabhängig von den westlichen Alliierten in so­ fortige Waffenstillstandsverhandlungen einzutreten, als ersten Schritt zu einem Frieden, ohne den Russland vollends zerfallen und in Anarchie versinken werde. Letzte Versuche Kamenews, Sinowjews und anderer, doch noch Wege zu einer von den Bolschewiki geführten Koalitionsregierung auszuloten, beantwortete Lenin mit der erneuten Drohung, in diesem Fall selbst aus dem Zentralkomitee seiner Partei auszutreten und «zu den Matrosen» zu gehen. Auf Kommando des Volkskommissars für Marine, Dybenko, waren 9000 Kronstädter am 26. November in volle Gefechtsbereitschaft versetzt worden, als sich einige zehntausend Demonstranten, aufgerufen von einem «Komitee zur Verteidigung der Konstituante», am Taurischen Palast einfanden, um gegen die Verzögerung des Zusammentritts der Versammlung zu protestieren. Die «Volkskommissare» behandelten das als einen Akt des Bürgerkriegs und erklärten zwei Tage später die Kadet­ ten zu «Feinden des Volkes», verhafteten eine Reihe ihrer Führer, verbo­ ten ihre Zeitungen und ließen offen, wie sie mit den Wahlergebnissen und der Verfassung selbst umgehen würden. Ende Dezember machte Lenin den nächsten und entscheidenden Zug. In seinen «Thesen zur konstituierenden Versammlung» stellte er klar, dass die Sowjetmacht bereits eine höhere Form der Demokratie darstelle und daher alle Versuche, die Entwicklung in den «Rahmen einer ge­ wöhnlichen bourgeoisen Demokratie» zurückzudrängen, «ohne Berück­ sichtigung des Klassenkampfes und des Bürgerkrieges … ein Betrug an der proletarischen Sache» seien, also ein Verbrechen.34 In einer knappen «Deklaration der Rechte des werktätigen und ausgebeuteten Volkes» entwarf er kurzerhand (mehr als zwei, drei Tage brauchte es dafür offen­ bar nicht) einen eigenen Verfassungstext, der sich aber schon nicht mehr an die für den 5./18. Januar 1918 endlich einberufene Verfassunggebende Versammlung richtete, sondern an den wenige Tage später angesetzten Sowjetkongress, den seine Partei schon klar dominierte. Dieser würde damit endgültig zum höchsten Souverän proklamiert werden  – ohne dass seine wirklichen Kompetenzen gegenüber den Volkskommissaren, vor allem aber der bolschewistischen Partei und ihren Gremien geklärt waren.

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Die Verfassunggebende Versammlung, zu der von den über 700 ge­ wählten Abgeordneten nur noch gut 400 angereist waren (viele Liberale, auch einige Sozialrevolutionäre waren bereits verhaftet oder einge­ schüchtert zuhause geblieben), fand sich in einer Stadt unter Belage­ rungszustand wieder. Schon vor der Eröffnung waren Demonstrations­ züge von einigen Zehntausend, die zur Unterstützung der gewählten Vertreter des Volkes zum Taurischen Palais ziehen wollten und in der auch Abordnungen vieler Petrograder Betriebe unter roten Fahnen mit­ marschierten, von bolschewistischen Roten Garden ohne Vorwarnung zusammengeschossen worden – ein (wenn auch kleineres) Massaker, das Gorki in einem Leitartikel mit dem «Blutsonntag» von 1905 verglich, als die Soldaten des Zaren die «Petrograder Demokratie, Arbeiter und An­ gestellte» erschossen hatten, die genau wie jetzt auch «friedlich für das fast hundert Jahre alte Ziel einer Konstituierenden Versammlung de­ monstrierten».35 In der Versammlung wurden die Abgeordneten gleich eingangs (wäh­ rend Lenin das Geschehen von der früheren Regierungsloge aus amü­ siert verfolgte) mit einer Erklärung der bolschewistischen Fraktion kon­ frontiert, wonach der «Wille des ganzen Volkes», den diese Konstituante zu verkörpern beanspruche, «eine Fiktion» sei, die nur die Macht der herrschenden Klassen verfestige. Swerdlow beantragte, die Versamm­ lung möge die Gültigkeit der im bolschewistischen Verfassungsentwurf festgelegten «Grundsätze für eine sozialistische Umgestaltung der Ge­ sellschaft» bestätigen und dann ihre Arbeit beenden. Als die Mehrheit (ungefähr 60 % der Anwesenden) das empört zurückwies, zogen die bol­ schewistischen Abgeordneten und ihre Verbündeten, die «linken SR», aus und überließen die Versammlung der Willkür der Matrosen, die für ihren «Schutz» sorgen sollten  – und denen Lenin im Weggehen sagte, man solle die Abgeordneten noch «solange schwatzen lassen wie sie wollen» und dann die Bude schließen. Die Rumpfversammlung beriet unter dem Vorsitz von Viktor Tscher­ now, dem Führer der Sozialrevolutionäre, noch eine Nacht lang in flie­ gender Hast über die Grundzüge einer neuen Verfassung, die eine «Russ­ ländische Demokratische Föderative Republik» errichten sollte. Sie sollte die Rechte der nationalen Minderheiten schützen und sich nach den Prinzipien einer weitgehenden Selbstverwaltung organisieren. Ein Grundgesetz über den Boden sah dessen Nationalisierung und ausgegli­ chene Verteilung unter der Regie der lokalen Selbstverwaltungsorgane vor. Auch der Großteil der Industrie war nach den Vorschlägen von

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Tschernow und Zereteli zu sozialisieren und unter die Kontrolle der Ge­ werkschaften zu stellen, der Acht-Stunden-Tag und die Einführung einer allgemeinen Sozialversicherung verfassungsmäßig zu sichern. Die Be­ kämpfung der Arbeitslosigkeit sowie Preiskontrollen sollten zur Staats­ aufgabe, Einkommen und Vermögen progressiv besteuert werden. Schließ­ lich wollte man Kriegsgegner und Verbündete zu einem sofortigen demo­ kratischen Friedensschluss auffordern, was implizierte, dass Russland sich aktiv nicht mehr am Krieg beteiligen werde. Einen Separatfrieden, über den die Volkskommissare inzwischen in Brest verhandelten, lehnte die Versammlung allerdings einhellig ab.36 Morgens gegen 5.00 Uhr erklärten die Matrosen, sie wollten jetzt schlafen gehen. Am nächsten Tag fanden die Delegierten den Taurischen Palast, nach dem Februar 1917 auch hymnisch als «Palast der Demokra­ tie» apostrophiert, verschlossen vor. Er wurde nicht mehr geöffnet. Warum war die demokratische Mehrheit so hilf- und wehrlos? Und wo­ raus speiste sich umgekehrt die Macht der bolschewistischen Minder­ heit? Konnte es, da alle Programme in Richtung einer sozialistischen Umgestaltung wiesen, nicht doch eine Verständigung geben? Die Führer der Menschewiki wie der Sozialrevolutionäre haben trotz der nackten Willkür, mit der sie unterdrückt wurden, die Anwendung von Gewalt­ mitteln für ihren Teil ausgeschlossen. Sie glaubten offenbar, durch die Mobilisierung eines friedlichen, demokratischen Widerstands von unten die bolschewistischen Usurpatoren aushebeln zu können, deren Regime auf sehr schwachen Beinen stand. Aber die bittere Lektion, die sie fast sofort lernen mussten, war, dass ihre Mehrheit bei den Wahlen eine rein numerische war. Die Bauern hat­ ten zwar die SR gewählt. Aber tatsächlich waren eine demokratisch ge­ wählte Nationalversammlung und Zentralregierung für sie eine fremde, abstrakte Sache, für deren Verteidigung sie nicht zu mobilisieren waren. Ihre Dorfräte waren ihnen näher und wichtiger, was nicht hieß, dass sie den von Bolschewiki und linken SR beherrschten «Allrussischen Sowjet-­ Kongress» als legitime Repräsentanz angesehen hätten, denn dort waren sie durch den Wahlzensus, der die Städte und die Arbeiter bevorzugte, massiv unterrepräsentiert. Viele der (bäuerlichen) Soldaten begegneten, wie der als Militärarzt tätige Sozialrevolutionär Boris Sokolow feststellte, der Konstituierenden Versammlung sogar mit ausgeprägtem Misstrauen, da sie ihre Räte und Deputierten schon gewählt hatten, die «alles entscheiden können» – und

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das meistens auch einstimmig, so wie die Dörfler.37 Da die Soldaten sich in ihren Gräben oder Garnisonen mehr oder minder dauerhaft in Ver­ sammlung befanden und für sie die sofortige Beendigung des Krieges die alles überschattende Frage war, bildeten sie und ihre Komitees einen un­ gleich kompakteren Resonanzkörper für die Bolschewiki, als es Zehn­ tausende über das weite Land verstreute Dorfräte für die Sozialrevoluti­ onäre je hätten sein können. Das wirft die Frage auf, ob eine «Sowjetdemokratie» nicht tatsächlich die Russland gemäßere, direktere Form einer demokratischen Vertretung war als eine reine parlamentarische, repräsentative Demokratie. Dafür sprach manches – nur dass die lokalen und sozialen Borniertheiten einer reinen Rätedemokratie auf der Hand lagen und einer Ergänzung durch Institutionen einer föderativ-gesamtstaatlichen Zusammenfassung be­ durften, die nur aus allgemeinen Wahlen nach Parteilisten hervorgehen konnten. Es hätte also genau jener Kombination der verschiedenen For­ men bedurft, die die Mehrheit der Verfassunggeber vorgesehen hatte. Gleichzeitig bewog die Einsicht, dass die Wahlen zu einer parlamenta­ rischen Körperschaft allein das riesige auseinanderfallende Reich nicht hatten zusammenbinden können, viele der führenden Köpfe der Sozial­ revolutionäre, ähnlich wie der Menschewiki, dazu, einen modus vivendi mit dem neuen Regime zu suchen. Sie erkannten die neue Sowjetverfas­ sung vorerst an, erklärten sich bereit, mit ausschließlich zivilen Mitteln um Mehrheiten zu kämpfen, und stellten sich ansonsten mit ihren beruf­ lichen Fähigkeiten zur Verfügung. Aber wo immer es den Sozialrevolutionären wie den Menschewiki in den Jahren des ringsum entbrennenden Bürgerkriegs gelang, in unzufrie­ denen Belegschaften oder in lokalen Sowjets Mehrheiten zu gewinnen, was sogar sehr häufig der Fall war, da wurden ihre (offensichtlich stand­ festen und populären) Vertreter wie ihre Unterstützer sofort als Agenten der Konterrevolution denunziert und mit willkürlichen, drakonischen Repressionen überzogen, mit Verhaftungen und Erschießungen, mit der Erstürmung der streikenden Betriebe (ruchloser als es das zaristische Mi­ litär je gewagt hätte) und der gewaltsamen Auflösung der von ihnen be­ herrschten Sowjets. Das neue Regime duldete keine noch so friedliche und demokratische Opposition. Für die Bolschewiki waren die «Sowjets» letzten Endes nur Resonanz­ körper, Instrumente der Machteroberung und der sozialen Exklusion, und wie die Gewerkschaften bloße «Transmissionsriemen», mittels de­ rer sie «Massen mobilisieren», zugleich aber auch kontrollieren konn­

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ten. Die Kongresse der eintausend Sowjetdeputierten waren ein leicht manipulierbares Instrument, und das von ihm gewählte 200-köpfige Ex­ ekutivkomitee wurde, statt ein Parlament «höherer Ordnung» zu wer­ den, nur ein bürokratischer Apparat inmitten eines Wustes anderer Ap­ parate – vor allem weil die Regierung, der «Rat der Volkskommissare», und die anderen, teilweise mit diktatorischen Vollmachten ausgestatte­ ten zentralen Behörden diesem «Souverän» nur nominell verantwortlich waren. Alle wirklichen Entscheidungen fielen in der Partei und ihren Gremien, die über allem standen, über der Verfassung, über dem Staat und über den Sowjets. Mit der gewaltsamen Auflösung der Konstituante und der Ausschaltung aller Elemente einer bürgerlichen Demokratie, auch auf lokaler und föderativer Ebene, hatte sich der Sowjetkongress, der eine höhere Form «proletarischer Demokratie» verkörpern und eta­ blieren sollte, in Wahrheit gleich mit entmachtet. So war die «Russländische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik», deren Verfassung im Juli 1918 endgültig verabschiedet wurde, eine in vieler Hinsicht «vormoderne» Konstruktion, die durch die Aufhebung aller ohnehin nur rudimentär entwickelten Gewaltenteilungen die tief eingewurzelten Traditionen autokratischer Macht fortsetzte. Aber zu­ gleich war sie auch eine fatal moderne Konstruktion, ein Behemoth oder «Unstaat»38, ein Reich der Gesetzlosigkeit, der Willkür, der Anomie, das sich aller zeitgemäßen Mittel von Organisation, Planung, Mobilisierung, Propa­ganda usw. bediente. Das bedeutete nicht nur einen auf Dauer ge­ stellten Dualismus von Staat und Partei, sondern eine Anarchie geschlos­ sener, nach eigenen Regeln arbeitender Organisationen, die den Charak­ ter riesiger Klientelverbände annahmen, von der Armee über die Justiz und die Planbehörden bis zu den Republiksführungen, alle durchsetzt und überwacht von einer Geheimpolizei, die sich zu einem monströsen, «außerhalb des Gesetzes» stehenden Sonderüberwachungsapparat mau­ serte – ein institutionalisiertes Chaos, das nur durch die Institution eines obersten Führers gesichert und verklammert werden konnte, eines Füh­ rers, der seinerseits nicht nur über der Verfassung und dem Gesetz, son­ dern auch über seiner Partei und ihren zentralen Organen stand. Die überlebensgroße Gestalt Lenins geht in seiner formell-informellen Funktion eines obersten «Staats- und Parteiführers» allerdings nicht auf. Er war tatsächlich der Schöpfer oder Erfinder dieses Un-Staats, Un-Sys­ tems, Un-Gemeinwesens, vergleichbar vielleicht mit den mythischen, gottgleichen Gründerkaisern und Gesetzgebern, die große Reiche schu­ fen. Im historischen Nachhinein wirken solche Vergleiche befremdlich.

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Aber wie könnte man eine Devotion charakterisieren, die nach Lenins lange erwartetem frühen Tod (an einer Serie von Schlaganfällen infolge eines sklerotisch deformierten Gehirns) das Zentralkomitee seiner Partei veranlasste, eine «Kommission zur Verewigung des Gedenkens an Ge­ nossen Lenin» einzusetzen, die im Januar 1924 beschloss, seinen gefro­ renen Leichnam dauerhaft zu balsamieren und in ein Mausoleum zu le­ gen (in vielleicht nur halbbewusstem Zusammenhang mit dem Weltwun­ der der Entdeckung der Mumie Tutenchamuns in der Cheops-Pyramide 1922)? Wie soll man den weiteren Entschluss qualifizieren, eine interna­ tionale Kommission zur wissenschaftlichen Untersuchung der «Geniali­ tät des Genossen Lenin» zu bilden, die in der «Architektur» seines Ge­ hirns durch mikroskopische Untersuchungen die Spuren eben dieser «Genialität» finden sollte?39 Eine rein politik-, sozial- oder gesellschaftsgeschichtliche Rekonstruk­ tion verfehlt leicht das Ungeheure, Unerhörte, alle hergebrachten Maß­ stäbe Sprengende der ins Übergeschichtliche entrückten Gestalt Lenins. Als «Charismarch»,40 der in gefühlsarmer Beziehungslosigkeit zu seinen wechselnden Mitstreitern wie zum profanen Menschenvolk draußen lebte, hat er aus sektiererisch wirkenden Anfängen eine Machtkohorte und mit ihr einen neuen Staat und eine globale Bewegung geformt, die die Geschichte des 20. Jahrhunderts entscheidend bestimmt haben. Zwar muss, wie Max Weber feststellt, das Charisma des Propheten oder Führers sich «bewähren», um «eine aus Begeisterung oder Not und Hoffnung geborene gläubige, ganz persönliche Hingabe» unter den Jün­ gern und Gefolgsleuten zu produzieren. Aber im altbekannten Modus der Heilsverzögerung kann das Charisma sich auch «veralltäglichen». So bildet sich eine spirituelle «Gemeinde» und/oder eine politisch-mili­ tärische «Gefolgschaft» heraus und jedenfalls eine Struktur, worin der Führer vermittels seiner engsten Vertrauensmänner und weitgehend ohne eine nach festen Regularien arbeitende Beamtenbürokratie herrscht und immer neue Gebote und Gesetze (Dekrete) verkündet, während er mit seinem Gefolge in Formen eines «Liebes- bzw. Kameradschaftskommu­ nismus» zusammenlebt.41 Hier könnte man sich den 3000 Köpfe starken engsten Machtkern der Bolschewiki samt Familien, Helfern und Domestiken vor Augen stellen, wie er im März 1918 nach einem bei Nacht und Nebel vollzogenen Um­ zug nach Moskau sich im eilig wiederhergestellten und provisorisch um­ gebauten Kreml ansiedelte, in dieser Stadt in der Stadt, die bei den Kämpfen im Oktober/November von der roten Artillerie schwer beschä­

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digt worden war. Trotzki wohnte mit seiner Frau im ehemaligen Kava­ lierspalais gleich gegenüber von Lenin und Krupskaja, während Stalin mit seiner jungen Frau und anderen Mitgliedern des engsten Führungs­ kreises in einem der anderen Kreml-Paläste wohnte und arbeitete. Was sich im politischen Kern dieses Gefolgschaftsverbandes früh als eine Konkurrenz von tödlicher Härte abzeichnete, sah im weiblichen Alltag freundlicher aus. Es ist Ostern 1918, und Nadeshda, die dem fast vierzigjährigen Stalin kurz vor der Abreise noch eilig angetraute, gerade Achtzehn gewordene Tochter seiner langjährigen Gastfamilie, der Allilu­ jews, «backt mit Trotzkis Kindern Osterfladen». Man «begibt sich ins Gemeinschaftskasino am Ende des Ganges, wo Früchte … und georgi­ sches Gebäck bereitstehen», und Trotzkis Frau Natalja Sedowa, die sich der blutjungen, mit dem Kosenamen «Hirschkuh» gerufenen Frau ange­ nommen hat, hat «ihr ein Kompliment zu ihrem Gebäck gemacht» und sagt lächelnd zu einer anderen, auf Allilujewa weisend: «Sie hat ein Pro­ fil wie auf einer Ikone von Rubljow.» Aber die Männer sind alle in ihren Zimmern geblieben (weil Lenin nicht dazugekommen ist), lesen und ­arbeiten. So feiern die Frauen und Kinder ihr Osterfest alleine. Am Vorabend ist der Kreml von hunderttausend Osterpilgern umgeben gewesen, weil das rote Tuch, mit dem Trotzki die Statue des wundertäti­ gen «Heiligen Nikolai» am Zugang zum Kreml für einen Vorbeimarsch der ersten Einheiten seiner neuen Roten Arbeiter- und Bauern­armee hatte verhüllen lassen, plötzlich in Brand geraten, das Gerüst zusammengebro­ chen und der Frevel gesühnt worden sei. Und also waren Hunderttausend mit Kerzen aus den 450 Kirchen der Stadt zum Kreml gezogen, dem Sitz der neuen Macht, viele «rote Soldaten» mittendrin, und hatten (wie nach der Februar-Revolution im Jahr zuvor) Osterküsse getauscht, sich um­ armt und mit dem rituellen «Christ ist erstanden» begrüßt. Lunatscharski hatte sich mit Lenin, nicht ohne Unruhe, diese Lichter-Demonstration von oben angeschaut und sich schließlich mit ihm geeinigt, dass es «trotz allem sehr schön» aussah.42 Sie mussten ihr Unternehmen eben inmitten eines Meeres von Aberglauben in Angriff nehmen. Noch war die Liebes- und Kameradschaftskommune im Kreml eine be­ lagerte Zitadelle, der kleine, innerste, magische Kern eines «roten Mos­ kowien». Es musste, wie Trotzki später in betont hochpatriotischem Ton schrieb, eine «Moskauer Periode … zum zweiten Mal in der russischen Geschichte eine Periode des Sammelns von Staaten und der Schaffung von Organen ihrer Verwaltung» werden, sprich: der Rückeroberung

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e­ines in zahllose «Republiken» zerfallenen Russländischen Reiches.43 Dafür brauchte es dann allerdings nicht nur eine unmittelbare, inspirierte «Gefolgschaft», sondern einen ausgedehnten, neu errichteten Macht­ apparat und eine neue, große Rote Armee. Diesem ganzen, erst noch zu rekrutierenden, zu formenden und energetisch aufzuladenden Macht­ körper musste der charismatische Führer dann allerdings auch «die nöti­ gen inneren und äußeren Prämien … in Aussicht stellen». Innere Prämien waren etwa: «Befriedigung des Hasses  … und des Bedürfnisses nach pseudoethischer Rechthaberei». Äußere Prämien waren: «Abenteuer, Sieg, Beute, Macht und Pfründen». Aber so wie der Führer im Moment seines Erfolgs «vom Funktionieren dieses seines Apparates» abhängig sei, prophezeite Max Weber, so werde er immer zunehmend auch «von dessen  – nicht: von seinen eigenen  – Motiven» abhängig. Denn auch «die materialistische Geschichtsdeutung ist kein beliebig zu besteigender Fiaker und macht vor den Trägern von Revolutionen nicht halt».44 Sie alle – seine engeren Gefolgsleute, seine widerstrebenden Parteige­ nossen wie die ganze, in einer chaotischen Melange von Motiven und In­ teressen sich herausbildende, millionenköpfige, in Wahrheit buntge­ mischte Bürgerkriegspartei der «Roten» – hatte Lenin in einen Kampf gegen zahllose Gegenparteien von «Weißen», «Schwarzen», «Grünen» usw. und damit in ein historisches Niemandsland geführt, von dem es kein Zurück mehr gab. Er hatte sie dazu getrieben und trieb sie immer weiter dazu an, die ungeheuerlichsten Mittel des Terrors anzuwenden, um nicht nur jeden aktiven Widerstand, sondern auch die sie allenthal­ ben umgebende «Sabotage» zu brechen – die, wie der Dichter und Ge­ werkschafter Alexej Gastjew im Mai 1918 auf einem Kongress der nati­ onalisierten Betriebe sagte, im Grunde doch «einer Sabotage der Nation, des Volkes, des Proletariats» gleichkam.45 In seinem ewigen Advokatenhabit, in dem er Dekret nach Dekret ver­ fasste, war Lenin damit ein Typ des charismatischen Führers, wie es ihn in der Geschichte bis dahin wohl noch nicht gegeben hatte – eben wegen der «Totalität» des Unternehmens selbst. Aber umgekehrt war er auch ein Gefangener seines Apparats, vor dem er am Ende seines Lebens fast wie vor einem Golem selbst erschrak. Dieser Apparat musste seinerseits auf das Höchste interessiert sein, Lenins Charisma im magischen Akt seiner Balsamierung und Ausstellung «zu verewigen» und es in Form eines kanonisch ausgedeuteten «Leninismus» auf sich zu übertragen: Trotzki in der Attitüde des einzigen «Kongenius» unter lauter Epigonen, Stalin als der «treueste Schüler» des großen Toten.

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Teil X: Marsch ins Niemandsland

Die Parteileute und kleinen Apparatschiks hatten ihrerseits schon zu Lenins Lebzeiten, rund um seinen 50. Geburtstag 1920, begonnen, sich mit seinem Charisma zu salben und unangreifbar zu machen, durch erste Umbenennungen ganzer Städte (in «Leninsk» usw.) oder durch Huldigungsadressen, die sich nicht scheuten, ihn als den «neuen Gott der Menschheit» zu apostrophieren, der «den Weg zur Herrschaft des Sozialismus gezeigt» habe.46 Dagegen war er bereits machtlos gewesen; und als Toter war er erst recht einer kultischen Verehrung ausgeliefert – aber nun nicht mehr nur seiner interessierten und indoktrinierten An­ hänger, sondern auch einer Masse seiner vielfach misshandelten bäuer­ lich-abergläubischen Subjekte, die sein Abbild als das eines strengen, tat­ sächlich gottgleichen Abgotts in jene «roten Ecken» ihrer Hütten und Wohnungen hingen, die den Ikonen des Herrn und seiner Heiligen vor­ behalten waren.

3. Russland in Blut gewaschen

Krieg aller gegen alle

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ussland brennt. Wir sind auf der Flucht.» Wiktor Schklowski, der sich im Herbst 1917 an die Front im nördlichen Iran und im Kauka­ sus gegen die Türken hatte abkommandieren lassen, erlebte den schlag­ artigen Zerfall der Armee nach dem Oktoberumsturz als den Beginn ­eines Krieges aller gegen alle: «Der armenische, georgische, mohamme­ danische und gelegentlich auch ukrainische Nationalismus … zeigte sich in den grellen Farben der Mützen und Hosen  … Nur vom großrussi­ schen Nationalismus war nichts zu spüren, er äußerte sich nur in Form einer erbitterten Sabotage.» Viele der Einheiten machten sich auf eigene Faust und mit vorgehaltener Waffe auf den Weg nachhause, während links und rechts der Strecke schon Dutzende Bürgerkriege entbrannt ­waren. «Tagsüber säumten Rauchsäulen unseren Weg, nachts Feuersäu­ len.» Mohammedaner hielten die Züge an und verlangten die Ausliefe­ rung der Armenier. «Die Tscherkessen kamen von den Bergen herunter und überfielen die Terekkosaken … Die Auls brannten, die Kosakensied­ lungen brannten  … Russland begann, in seine Bestandteile zu zerfal­ len.»1 Nach seiner Rückkehr schloss sich Schklowski einer in den Unter­ grund gegangenen antibolschewistischen Widerstandsorganisation aus Sozialrevolutionären in Moskau, in Samara, in Kiew an, entging mehr­ fach hauchdünn der Verhaftung und damit der Erschießung, die seinen jüngeren Bruder Nikolai traf: «Er war kein Rechter. Er liebte die Revo­ lution tausendmal mehr als drei Viertel der sogenannten ‹roten Kom­ mandanten›. Er konnte nur nicht glauben, dass die Bolschewisten das verbrannte Russland zu neuem Leben erwecken würden.» Auf reinen Verdacht hin war er als Geisel genommen und auf einem Exerzierplatz «von Soldaten seines eigenen Regiments» getötet worden2  – eines der vielen blutigen Exerzitien, mit denen die neue «Rote Armee» zusammen­ geschweißt wurde. Kaum ein Jahr zuvor hatten die Bolschewiki uner­ müdlich die nie ausgeführte Absicht Kerenskis gegeißelt, in der Armee die Todesstrafe wiedereinzuführen.

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1919 stellte Schklowski sich der Petersburger Tscheka, die von Lenins Sekretärin Jelena Stassowa politisch instruiert wurde. Stassowa «sah gut aus», entschied über Leben und Tod und ließ ihn laufen. Schklowski fand sporadische Beschäftigung in der neuen, staatlichen Kulturverwal­ tung, später in Verlagen, und schrieb an dem Aufsatz, den er die ganze Zeit über schon im Kopf hatte: «Das Verhältnis zwischen den Kunstgrif­ fen des Handlungsaufbaus und den allgemeinen Kunstgriffen des Stils.»3 So wurde aus ihm einer der bedeutenden Literaturwissenschaftler und Schriftsteller der Sowjetzeit, die er trotz stetem Verdacht unbeschadet überstanden hat. Nicht wenige große Staatsschriftsteller der Stalinzeit waren wie er ehemalige Gegner und «weiße» Rückkehrer, Alexej Tolstoi oder Ilja Ehrenburg zum Beispiel. Stalin mochte Leute, die «kapituliert» hatten und in seiner Hand waren. Dagegen geriet Nikolai Kotschkurow, der Sohn eines «barfüßigen» Lastenträgers von der Wolga, Bolschewik und Rotarmist der ersten Stunde, der 1920 als «proletarischer Schriftsteller» in der Schule von Bogdanows Proletkult das Schreiben gelernt hatte und sich im Stil eines Sängers von Volksepen «Artjom Wesjoly» (Artjom der Fröhliche) nannte, 1937 in die Mühlen des Großen Terrors und wurde irgendwo erschossen; worin man, so zynisch es klingt, einen Epilog zu seinem literarischen Werk sehen könnte, das ganz dem Terror der Bürgerkriegsjahre gewidmet war – ein Schicksal, das Wesjoly mit einer Reihe anderer sowjetischer Schriftsteller aus der ersten Reihe teilte, wie Boris Pilnjak oder Isaak Babel. Wesjoly hatte ein rotes «Krieg und Frieden», ein Epos des Bürger­ kriegs, schreiben wollen, von dem aber nur eine chaotische Sammlung fragmentarischer Erzählungen überliefert ist. 1927 wurden einige von ihnen unter dem wahrhaft angemessenen und beileibe nicht kritisch, sondern tragisch-pathetisch zu verstehenden Titel «Russland in Blut ge­ waschen» veröffentlicht. Wegen ihrer ungeschminkten, fast brachialen Offenheit und wegen der Authentizität der wirren Redeströme und viel­ stimmigen Wortwechsel seiner großteils anonymen Helden sind diese Er­ zählungen gerühmt worden. Sie nahmen ein in der russischen Literatur als «Skas», als stilisierte Folge von Wortwechseln, bekanntes Stilmittel auf; nur sprengten Wesjolys Figuren jeden Rahmen einer sozialen Typik durch ihre schiere «Redegewalt», als käme darin eine dunkle Unterseite ihres Bewusstseins zum Vorschein, als wären sie Stimmen eines Um­ bruchs, der das Unterste nach oben kehrte und Alle gegen Alle stellte, quer durch die Familien und die Dörfer, die Land- und die Industrie­ bezirke, die ethnischen und die religiösen Gruppen.

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Wohl nur durch das Prisma solcher Erzählungen kann man eine annä­ hernde Ahnung davon bekommen, wie die kühlen Schachzüge Lenins und seiner Partei und der heiße Atemstrom ihrer propagandistischen Losungen, ihrer plakativen Formeln und Bilder sich im leeren Raum der sozialen Anomie in blindwütiges, von elementaren Instinkten und spontanen Parteinahmen gespeistes Handeln zusammengewürfelter Menschenmassen und Gewalthaufen übersetzte; und wie gerade aus diesem Chaos ein neuer Machtpol und, wie Späne darauf ausgerichtet, jugendliche Massen sich formten, um ein neues «revolutionäres Sub­ jekt» abzugeben. Schauplatz der entscheidenden Prozesse war neben den Haupt- und Provinzstädten Zentralrusslands die über 2000 Kilometer von der Ost­ see bis zum Schwarzen Meer sich erstreckende Frontlinie mit ihren zer­ wühlten Grabenlandschaften und ihrem kahlgefressenen, großteils von «Fremdstämmigen» bewohnten Hinterland. In dieser stillgestellten Zone des Weltkriegs vegetierten am Ende des Revolutionsjahres 1917 noch immer vier bis fünf Millionen Männer in Waffen und Uniformen – die mit den Soldaten der Garnisonen und den Deserteuren zusammenge­ nommen eine größere und politisch gewichtigere Menschenmasse erga­ ben als die zwei bis drei Millionen Industriearbeiter, die über das ganze Land verstreut lebten. In den Momentaufnahmen und Sprachfetzen Wesjolys erschließen sich die Grundsituationen dieser gewaltgeladenen sozialen und psychi­ schen Auflösungsprozesse und entwickeln sich mit beklemmender Folge­ richtigkeit. Es beginnt damit, dass die Soldaten, als im einbrechenden Winter alle Kampfhandlungen enden, die Schützengräben verlassen und in die nächstgelegenen Orte strömen: Überall «Meetings unübersehbar, unüberhörbar  – auf den Basaren, in den Duchans, an jeder Ecke ein Meeting …» Überall ein Wirrwarr von Stimmen und jähen Entschlüs­ sen, die laut verkündet werden: «‹Schlagt die Burshuis, nieder mit dem Krieg!› … ‹Hat kein Zweck Jungs … Wir haun mit dem ganzen Regi­ ment ab›.»4 Dazu die fast obligaten ethnischen Pogrome, die aus dem Mundraub der Soldaten, die schon lange keinen Sold mehr bekommen haben, entstehen und jedes reguläre soziale Leben ersticken: «Der Hafen wimmelte von Soldaten … wie Mückenschwärme … …. Auf einmal Ge­ schrei: ‹Hurra, Hilfe, Allah-Allah!› Auf dem Basar waren Artilleristen über die Asiaten hergefallen … Such dir aus, was du willst.»5 Der schwelende Kampf mit den Offizieren, die versuchen, ihre Solda­ ten an der Front zu halten, wird vollends mörderisch: «Das Regiment

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fürchtete Polowzow … – und es liebte ihn auch für seine Offizierstapfer­ keit … ‹Da, schreit er, eure Deputierten … einer blöder als der andere, und obendrein vielleicht deutsche Spione.› … ‹Spiooone? … Herr Oberst, sto­ cher lieber nicht in unsern Wunden› … ‹Maxim, knall ihm eins vor sein Froschmaul›  … ‹Gibs ihm!›». Die Soldaten werden zur Hetzmeute, die sich selbst aufpeitscht: «Wir zerrupften dem Kommandeur die Rippen, zerstampften ihm das Gedärm …, jedem hämmert das Herz, die Faust ver­ langte nach Zuschlagen.»6 Wie in einem blutigen Opferritual befreite das bäuerliche Russland sich von seiner eingefleischten Untertänigkeit, schlug Kadergehorsam jäh um in Vernichtung aller hergebrachten Autoritäten. Halb Flüchtende, halb Heimkehrer, bahnten die Soldaten sich den Weg auf eigene Faust: «Riesige Wolken von Soldaten belagerten Statio­ nen und Haltepunkte … Alles drängte in die Züge, aber da war kein Ein­ steigen.» – «Im Telegrafenbüro stürmten die Frontsoldaten auf den Tele­ grafisten ein und verlangten von ihm Lokomotiven  …. ‹Sag, sag zum letztenmal, kommen Lokomotiven oder nich?› ‹Wir schneiden sie dir aus den Rippen!›»7 Ganze Züge wurden von den Soldaten mit vorgehaltener Waffe gekapert: «Auf den zertrümmerten Stationen machten sie selber das Wasser heiß, läuteten selbst die Glocken  …  – freie Fahrt!» Die Bahneinrichtungen wurden verwüstet, Wärterhäuschen, Zäune, sogar Schwellen verfeuert. «Zu beiden Seiten des Bahndamms lagen  – wüst umgestürzt … – Lokomotiven, Tankwagen und Waggons, verstümmelt wie Kinderspielzeug. Den Spuren der Reparaturbrigaden … folgten wie Schakale Banden von Marodeuren …»8 Überall entlang der Strecke waren schon Kleinkriege im Gang: «‹Sol­ daten, helft uns … Gebt uns Schutz, Landsleute!› ‹Was ist passiert?› ‹Die Tschetschenen setzen uns zu. Sie rauben und morden› … Eine Abteilung von Freiwilligen wurde gebildet, stürmte den nächsten Aul. Der Aul brannte prasselnd und funkensprühend nieder, Weiber und Kinder heul­ ten …»9 Früher oder später gerieten die Heimkehrer in die Fronten des innerrussischen Bürgerkriegs, der sich in Südrussland nach der Zerschla­ gung der Konstituante im Januar 1918 entwickelt hatte, entlang sozialer und politischer Frontlinien, die von Ort zu Ort wechselten. Auf allen Bahnhöfen Versammlungen. Ein Rotarmist erklärte den Soldaten: «Das Volk hat Mut geschöpft … Jede Stadt ist eine Front, jedes Dorf …, die Kontras kriechen aus sämtlichen Ritzen.» An einer Station wurden die Frontheimkehrer mit Maschinengeweh­ ren umstellt und entwaffnet – falls sie sich nicht den Truppen des «Ar­ mawirer Sowjets der Arbeiter-, Bauern- und Soldatendeputierten» an­

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schlossen, was etliche taten. Ringsum wurde bereits heftig gekämpft, und Verwundete berichteten, es sei «ein Gefecht wie an der türkischen Front, mit Maschinengewehren und Geschützfeuer, drei Tage und drei Nächte ohne Atempause. Verflucht sollen sie sein!»10 Wem der Fluch galt und wer gegen wen kämpfte, bleibt unklar. Der Weltkrieg war übergangslos zu einem Bürgerkrieg geworden, der für viele Soldaten noch grauenhafter und verlustreicher sein würde als alles, was sie schon erlebt hatten. Folgen Wesjolys Szenarien bis hierhin noch einem nachvollziehbaren «roten Faden», verwirren sich in seinen anschließenden Erzählungen alle Frontlinien, alle Motive und alle moralischen Urteile. Im Kriegshafen Noworossijsk verlangten die an Land gegangenen Matrosen vom Stadt­ sowjet, in dem verschiedene Sozialisten noch zusammenarbeiteten, Au­ tomobile und Champagner, okkupierten Hotels und «Burshuihäuser», feierten mit abenteuernden Mädchen «Blitzhochzeiten» und rühmten sich, wie sie «auf der Reede von Sewastopol die Offiziere im Meer er­ säuft» hatten: ‹Steine um den Hals und ab›. ‹Ausrotten mit der Wurzel!›‚ Richtig, Onkel. Einmal Offizier, immer Kontra›». Als die Schiffe nach dem Vertrag von Brest an die Deutschen ausgelie­ fert oder versenkt werden sollten, meuterten die Besatzungen, aber «Ver­ treter des bolschewistischen ZK aus Moskau … setzten durch, dass der Befehl ausgeführt wurde». Viele Matrosen schlossen sich daraufhin ei­ ner der umherstreifenden Partisaneneinheiten an, die vor den einrücken­ den deutschen Truppen kampflos zurückwichen. An ihrer Spitze stand, wie in allen Bauernkriegsepen Russlands, als selbsternannter «Ataman» ein junger, dissidenter Kosakenabkömmling, und hinter ihm, in «fette Staubwolken gehüllt», marschierte das archetypische Bürgerkriegsauf­ gebot: die «verwilderten Soldaten der Westfront», dann die Matrosen, die «größten Draufgänger», scharf getrennt von den «schnauzbärtigen Bauern aus dem Dneprgebiet»; dahinter in einem «mit Pferden bespann­ ten, kaputten Automobil … bebrillte Jünglinge», die «Hymnen an die Anarchie» singen; gefolgt von Equipagen, in denen «abgefeimte Gauner und Banditen aus den großen Städten» sitzen; und am Ende dieses apo­ kalyptischen Zugs eine «Kompanie von Bergarbeitern» aus dem Don­ bass. Sie fielen in die Dörfer ein, requirierten und plünderten, vergewal­ tigten und feierten wüste Feste. Es herrschte ein strenges Reglement: «Todesstrafe für Feiglinge und Plünderer, die ihre Beute nicht mit den Kameraden teilen wollten, alles übrige bleibt ungestraft». Auf einer Fahne mit Totenkopf und aufgehender Sonne waren die Worte aufge­ näht: «Es gibt keine Rettung – Das Kapital muss sterben».11

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Wer gegen wen kämpfte, entschied sich von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt, von Landstrich zu Landstrich. Überall im «wilden Feld» des Step­ pengürtels, der sich von der südlichen Ukraine bis ins südliche Russland zieht, kam es zu erbitterten Kämpfen zwischen Kosaken und «Mu­ shiks», den bäuerlichen Neusiedlern, die großteils Dorf an Dorf lebten. Aber auch innerhalb der patriarchalen Kosakengemeinden und -ver­ bände brachen tödliche Konflikte auf, vor allem zwischen Vätern und Söhnen, Daheimgebliebenen und Heimkehrern. Von Stadt zu Stadt gab es die ­unterschiedlichsten Machtkombinationen, die durch den Allein­ vertretungsanspruch der bolschewistischen Kommissare in Moskau auf eine Zerreißprobe gestellt wurden. Oft mussten die Städte sich nach ­allen Seiten verteidigen, wurden mal von der einen, mal der anderen Kriegspartei besetzt und erobert  – gefolgt von einem Blutgericht, das ­unbarmherzig über die tatsächlichen oder vermeintlichen Loyalisten der jeweils anderen Seite gehalten wurde, nicht selten auf den zentralen Plät­ zen und in den grauenhaftesten, archaischsten Formen. Woher dieser jähe, sektiererische Hass und diese schier unendliche Mordbereitschaft kamen, und welcher Logik die Parteinahmen jeweils folgten, bleibt rät­ selhaft. Die ersten «weißen» Armeen, die sich im Frühjahr 1918 bildeten, be­ standen aus ganz heterogenen Elementen. Da waren einmal die in ihre Heimatgebiete zurückgekehrten Kosakenverbände unter dem Kom­ mando des Kavalleriegenerals Kaledin, der sich aber schon im Februar aus Verzweiflung erschoss, und dann unter der Führung von General Krasnow, der sich im Mai zum Hetman der Donkosaken wählen ließ, auf dieser traditionalen, patriarchalen Grundlage aber nie eine schlag­ kräftige, offensiv verwendbare antibolschewistische Armee auf die Beine bekam. Die Kosaken wollten ihre Gebiete verteidigen, hatten aber wenig Lust, nach Moskau zu marschieren. Unabhängig davon bildete sich eine erste «Freiwilligen-Armee» unter dem Kommando des aus der Haft entkommenen Generals Kornilow und des früheren Generalstabschefs Alexejew. Anfangs war das nur ein kleines, zwei-, dreitausend Mann zählendes, notdürftig bewaffnetes und bunt zusammengewürfeltes Kontingent aus geflohenen Offizieren und Offiziersschülern, Studenten, Gymnasiasten und Intellektuellen, Adeli­ gen und Bürgerlichen, Sozialrevolutionären und Liberalen, Monarchis­ ten oder Faschisten. Gleich zu Beginn mussten die beiden alten Generäle ihre kleine Armee auf einen Hunderte Kilometer langen «Eismarsch»

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führen, der das Zeug zum Gründungsepos gehabt hätte. Viele, fast alle kamen dabei in Kämpfen mit wechselnden Gegnern um; der Haudegen Kornilow wurde von einer Granate zerfetzt, der Stratege Alexejew starb an Entkräftung, bevor der zerschlagene Rest sich mit einer zweiten, klei­ nen «weißen» Armee unter General Denikin vereinen konnte, dem aller­ dings jede politische Statur fehlte. Fast alle dieser «Weißen» der ersten Stunde hatten Offiziersränge und stammten aus den höheren, gebildeten Gesellschaftsklassen, fast alle wa­ ren sie Großrussen. Darin lag schon der Keim aller Niederlagen, die sie in den folgenden beiden Jahren erleiden würden, eine «weiße» Armee nach der anderen: erst die Denikins im Süden; dann die Admiral Kolt­ schaks in Sibirien; schließlich die General Judenitschs im Baltikum; und zuletzt, Ende 1920, die Baron Wrangels auf der Krim. Als großrussische Nationalisten und Zentralisten mussten sie überwiegend in Gebieten mit nicht-russischen oder jedenfalls auf Eigenständigkeit bedachten Bevöl­ kerungen operieren, denen sie nichts anzubieten hatten, ja deren Auto­ nomiebestrebungen sie aktiv niederzuhalten versuchten, nicht selten mit einem eigenen «weißen Terror». Ebenso wenig waren sie bereit, den Bauern Zusicherungen zu geben, das ihren Dorfgemeinden einverleibte Guts- oder Kirchenland behalten zu können. Das machte es fast unmöglich, aus den Millionen bäuerli­ chen Exsoldaten oder den Dörflern freiwillige Rekruten zu gewinnen, zumal es kaum Sold gab. Im Gegenteil, wo immer die «weißen Armeen» operierten, sich durch Requirierungen ernährten und durch Zwangsre­ krutierungen aufzufüllen versuchten oder mit Gewalt eine eigene Ver­ waltung zu installieren suchten, bildeten sich in Wäldern, Sümpfen oder Steppen «grüne» bäuerliche Banden oder Kleinarmeen  – und das von Fall zu Fall auch im Bündnis mit «roten» Partisanen oder Armeeeinhei­ ten, gegen die sie sich ansonsten ihrerseits zur Wehr setzten. In einem noch gespannteren Verhältnis standen die «Weißen» zu den Arbeiterschaften der eroberten Städte, die sie pauschal unter Sozialis­ musverdacht stellten und mit eiserner Hand zu kontrollieren suchten und so den «Roten» buchstäblich in die Arme trieben. Aber auch Teile der zivilen, demokratisch gesinnten Intelligenz stießen sie durch Milita­ rismus und Standesdünkel ab. Ein besonders dramatisches Kapitel wa­ ren die jüdischen Gemeinden, vor allem in der Ukraine, die bereits unter den Pogromen durch bürgerliche Nationalisten und bäuerliche Anar­ chisten litten und von den zeitweise vormarschierenden weißen Armeen abermals mit Raub und Mord überzogen wurden, da sie angeblich das

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Reservoir eines «jüdischen Bolschewismus» bildeten – zu dem sie dann auch tatsächlich wurden, als Zehntausende junger Männer unter die ­roten Fahnen flüchteten, die als einzige Rettung verhießen. So mussten die «Weißen» an noch mehr Fronten gegen noch feindse­ ligere Bevölkerungen kämpfen als ihre Hauptfeinde, «die Roten». Zwar hatten auch die weißen Generäle nicht mehr im Sinn, die zaristische Au­ tokratie wiederherzustellen; aber Demokraten waren sie auch nicht, und Kerenski hatten sie noch mehr gehasst als die Bolschewiki, denen sie auf diese Weise in den Sattel geholfen hatten. Das führte schon im Sommer 1918 zum Zerwürfnis mit den Abgeord­ neten der Konstituante, die nach Samara geflohen waren, um eine legi­ time demokratische Gegenregierung («Komutsch») und eine eigene «Volksarmee» aufzubauen, was aber nur für kurze Zeit gelang. Am Ende verworrener Kämpfe wurden die Einheiten der «Komutsch» (der die weißen Generäle sich nie politisch angeschlossen hatten) von Trup­ pen der neuen Roten Armee Trotzkis zerschlagen und mussten sich in die Arme des sibirischen Regenten Koltschak werfen. Dass alle diese heterogenen, kaum miteinander kooperierenden wei­ ßen Armeen und Formationen in wechselndem Maße von den westli­ chen Alliierten unterstützt wurden, die ab dem Frühsommer 1918 am Schwarzen Meer (die Franzosen), am Weißen Meer (die Briten und Ame­ rikaner) und im Fernen Osten (Amerikaner und Japaner) kleine oder größere Expeditionskorps absetzten und Stützpunkte aufbauten, machte ihre Sache nicht aussichtsreicher, im Gegenteil: Keine der verbündeten Mächte wurde als ein uneigennütziger Befreier Russlands vom bolsche­ wistischen Joch wahrgenommen, auch nicht die Amerikaner. Als der Weltkrieg im November 1918 schließlich endete und das ganze Russländische Reich vollends in zahllose, sich für autonom erklärende «Republiken» zerfiel (auch in Zentralrussland selbst und in Sibirien), da erschien es ungewisser denn je, was die siegreichen Mächte, die das Ter­ ritorium ihres vormaligen Verbündeten informell in «Interessensphä­ ren» aufgeteilt hatten, eigentlich vorhatten. Selbst erbitterte Gegner der Bolschewiki sahen sich politisch wie persönlich in einem tiefen Dilemma: Das große Russland und mit ihm die Grundlagen ihrer eigenen Existenz immer weiter zerfallen zu sehen oder sich – wie grollend, verbittert, ge­ demütigt, terrorisiert auch immer – dem neuen roten Regime zur Verfü­ gung zu stellen, aus physischer wie aus moralischer Not. Denn so minoritär dieses Regime war, kontrollierte es eben doch den größten Teil der Einwohner des ehemaligen Reiches, im Winter 1918/19

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rund 70 Millionen Menschen, vorwiegend in Zentralrussland. Mit sei­ nem auf Moskau sternförmig zulaufenden Eisenbahnnetz und den wich­ tigsten Industrie- und Rüstungszentren verfügte dieses «rote Mosko­ wien» über entscheidende Machtmittel und Ressourcen, während die von den «Weißen» beherrschten Gebiete im Süden und in Sibirien kaum geeignete Verkehrswege besaßen und von höchstens neun Millionen Menschen bewohnt waren.12

Der Separatfrieden als Kriegsakt Zuerst mussten die Bolschewiki Russland selbst erobern, und Vorausset­ zung dafür war, sich aus dem Weltkrieg herauszulösen. Mit «Frieden» hatten die in Brest geschlossenen Abkommen allerdings wenig zu tun, im Gegenteil: Sie waren von beiden Seiten Akte des Krieges, nach innen wie nach außen. Nur für einen kurzen, trügerischen Moment konnte es so aussehen, als hätten die Bolschewiki tatsächlich wie versprochen «Frieden» ge­ schaffen, als ihre Unterhändler am 20. November / 3. Dezember erstmals deutschen und österreichischen Militärs in Brest gegenübersaßen und nach kurzer Verhandlung ein mehrwöchiger Waffenstillstand unter­ zeichnet war. Gleichzeitig übernahm ein bolschewistisches Kommando das Hauptquartier in Mogiljow im Handstreich und säbelte den unbot­ mäßigen Oberkommandierenden Duchonin nieder. Wie sehr die Mittelmächte der bolschewistischen Regierung behilflich waren, das Gesicht zu wahren, zeigte sich auch daran, dass sie fürs erste keine förmlichen Friedensverhandlungen und keinen Abbruch der Bündnisbeziehungen zu den westlichen Alliierten verlangten, sondern diese selbst einluden, sich den Brester Gesprächen über einen allgemei­ nen Waffenstillstand und Frieden anzuschließen – im sicheren Bewusst­ sein, dass London und Paris darauf nicht eingehen würden. Im Übrigen ­waren die deutschen und österreichischen Unterhändler auch einver­ standen, die Verhandlungen wie von den Bolschewiki gefordert öffent­ lich zu führen.13 Die Reaktionen in der deutschen Öffentlichkeit auf den bolschewis­ tischen Umsturz waren hoffnungsfroh, wenngleich in unterschiedlicher Pointierung. Die offiziöse «Norddeutsche Allgemeine Zeitung» schien sich geradezu in der Sprache eines neuen Zeitalters üben zu wollen, wenn sie unter der Schlagzeile «Chaos in Petersburg» meldete: «Das Ziel,

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für das das Volk kämpfte, nämlich Vorschlag eines sofortigen demokra­ tischen Friedens, Aufhebung des Rechtes der Grundeigentümer, Land zu besitzen, Aufsicht der Arbeiter über die Erzeugung und Bildung einer Regierung des Arbeiter- und Soldatenrates, ist gesichert.» Der sozial­ demo­kratische «Vorwärts» stellte die Errichtung des Rats der Volks­ kommissare in Russland gleichberechtigt den Schritten zu einer parla­ mentarisch gestützten Regierung in Deutschland an die Seite und schrieb: «Der 8. November hat Deutschland die erste parlamentarische und Russland die erste proletarische Regierung gebracht. Die neue deutsche Regierung ist nicht denkbar ohne die deutsche sozialdemokra­ tische Taktik, so wie die neue russische den bolschewistischen Metho­ den ihre Entstehung verdankt. Hier ein schrittweises Vordringen, dort der kühne Taumelsprung in die Stühle der Macht.» Die taktischen ­Differenzen zwischen russischer und deutscher Sozialdemokratie seien ­offenkundig «auf entwicklungs­geschichtliche Notwendigkeiten zurück­ zuführen».14 Tatsächlich trug der in Brest vereinbarte allgemeine Waffenstillstand in vieler Hinsicht das Gepräge einer einseitigen Kapitulation: «Es war gegen 11 Uhr vormittags, als der Telephonist aus seinem Bau gestürzt kam und uns zurief: ‹Friede! Gefechtsmeldung: auf dem russischen Brü­ ckenkopf drei weiße Fahnen. Russische Kapelle spielt auf der Brustwehr, russische Offiziere sind zu unserem Brückenkopf hinübergestiegen, wol­ len wegen Waffenstillstand verhandeln!› … Es war Tatsache: sämtliche Stützpunkte zeigten weiße Fahnen  … ‹Friede! Friede!› Aus den [deut­ schen] Unterständen dringt freudiger Gesang. Dazwischen laut und lau­ ter, ein Lied, wild­trotzig, als seien die Augusttage 1914 wiedergekehrt: ‹Frankreich, ach Frankreich, wie wird’s dir ergehen …›.»15 Dass schon die Einleitung von Waffenstillstandsverhandlungen dem Deutschen Reich in dem auf Messers Schneide stehenden Krieg einen enormen Vorteil verschaffte, war den Führern der Bolschewiki selbstver­ ständlich klar. Sie nahmen das nicht nur in Kauf, sondern verschärften diese Situation durch die einseitige Kündigung aller Bündnisverträge mit den Alliierten, die Kassierung der riesigen Kriegs- und zivilen Vorkriegs­ schulden Russlands sowie die Veröffentlichung der «Geheimabkom­ men» über die alliierten Kriegsziele, was den deutschen Darstellungen über die wahren Ursachen des Krieges – nämlich den Wunsch der west­ lichen Mächte, das Deutsche, das Habsburger und das Osmanische Reich niederzuhalten, zu amputieren oder aufzuteilen – in vielen Punk­ ten entgegenkam.16

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Darin steckte ein weitreichendes Angebot. Lenin hätte sich nicht ge­ scheut, es sogar vorgezogen, seine prekäre innere Machtstellung von An­ fang an im Rahmen eines großzügigen Arrangements mit dem Deut­ schen Kaiserreich zu festigen, also doch jenen «Separatfrieden» zu schließen, den die Bolschewiki öffentlich immer zurückgewiesen hatten. Mit dieser Position stand er allerdings innerhalb seiner Partei und Regie­ rung so gut wie allein. Sinowjew sollte Mitte Februar 1918 reuevoll fest­ stellen: «Rückblickend muss man sagen, dass wir den Frieden im Novem­ ber hätten schließen sollen … Wir ließen uns viel zu sehr von den Streiks in Wien und Berlin hinreißen und verpassten den Moment.»17 Diese Streikwelle, die im Dezember begann, im Januar 1918 kulmi­ nierte und dann rasch abebbte, hatte den Bolschewiki für kurze Zeit die Illusion verschafft, es auf der Gegenseite bald schon mit passenderen und jedenfalls geschwächten Partnern zu tun zu bekommen. Lenin, der die Perspektive einer fast sicheren deutschen Revolution am frühesten im Munde geführt hatte, war auch der erste, der sie abhakte und auf ­einen Friedensschluss mit dem Kaiserreich drängte. Die im Dezember gebildete, von der sozialliberalen Parlamentsmehr­ heit gestützte Berliner Regierung unter Graf Hertling, vor allem aber die immer selbstherrlicher agierende Militärführung waren ihrerseits unfä­ hig, die Gunst der Stunde zu erfassen. Selbstzufrieden äußerte sich der neue Staatssekretär des Äußeren von Kühlmann in einem Vortrag beim Kaiser am 3. Dezember, dessen Niederschrift sich wie eine Rekapitula­ tion der deutschen Revolutionierungspolitik im Osten seit 1915 liest: «Die Sprengung der Entente und in der Folge die Bildung neuer, uns ge­ nehmer politischer Combinationen ist das wichtigste diplomatische Kriegsziel. Als schwächstes Glied in der feindlichen Kette erschien der russische Ring; es galt daher, ihn allmählich zu lockern und wenn mög­ lich herauszulösen. Diesem Zweck diente die destruktive Arbeit, die wir hinter der Front in Russland vornehmen ließen, in erster Linie die För­ derung der separatistischen Tendenzen und die Unterstützung der Bol­ schewiki. Die Bolschewiki sind nun zur Herrschaft gelangt; wie lange sie sich an der Macht halten können, ist noch nicht zu übersehen. Sie brau­ chen zur Befestigung ihrer eigenen Stellung den Frieden; und auf der ­anderen Seite haben wir alles Interesse daran, ihre vielleicht nur kurze Regierungszeit auszunutzen, um zunächst zu einem Waffenstillstand, so­ dann wenn möglich auch zum Frieden zu gelangen. Der Abschluss eines Separatfriedens würde die Verwirklichung des erstrebten Kriegszieles, den Bruch Russlands mit seinen Verbündeten, bedeuten. Die Stärke der

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aus diesem Bruch notwendigerweise sich ergebenden Spannung wird die Intensität des Anlehnungsbedürfnisses Russlands an Deutschland und seine künftigen Beziehungen zu uns bestimmen.»18 Kühlmanns Vortrag war die ressortmäßige Antwort auf eine kaiser­ liche Direktive vom 29. November, die allen Ernstes gefordert hatte, «falls es in absehbarer Zeit mit Russland zu Friedensverhandlungen komme, doch zu versuchen, ob wir mit Russland nicht in eine Art Bünd­ nis- oder Freundschaftsverhältnis kommen könnten».19 Ein Bündnis mit Sowjetrussland also, und das auf Vorschlag des Kaisers! Dagegen ver­ langte Ludendorff für die Großoffensive im Frühjahr 1918 in Frankreich, die die militärische Entscheidung bringen sollte, bevor die amerikanischen Verstärkungen eintrafen, im Osten «klare Verhältnisse … und schnelles Handeln».20 Sich hinziehende Friedensverhandlungen in Brest lehnte er ab. Er wollte eine sofortige Okkupation der baltischen Gebiete und eine einseitige Annexion und Germanisierung des sogenannten «polnischen Grenzstreifens», außerdem separate Verhandlungen mit den Ukrainern und ein klares Diktat gegenüber den Bolschewiki, die er als bloße Glücks­ ritter und bezahlte Marionetten für eine kurze Übergangsperiode ansah. In Ludendorffs späteren Betrachtungen über «Kriegführung und Poli­ tik» wird freilich deutlich, wie sehr seine starre Politik von einer überaus pessimistischen Sicht auf die inneren und äußeren Zwangslagen des Rei­ ches diktiert war. Nach seiner Auffassung musste die deutsche Reichslei­ tung jetzt alles auf eine Karte setzen, weil nur die Aussicht auf einen ­raschen Gesamtsieg das wackelige Bündnis mit Österreich und mit der Türkei zusammenhalten, den «niedergedrückten Volksgeist» in der Hei­ mat wiederaufrichten und die «Abnahme der kriegerischen Tugenden» im deutschen Heer stoppen konnte. Allein schon die dramatische Ver­ sorgungslage habe eine «abwartende Kriegführung» nicht mehr zugelas­ sen; und dabei konnte die «fehlende Verpflegung … nur aus der Ukraine genommen werden». Für eine vollständige «Besetzung Russlands», die eigentlich zu wünschen gewesen wäre, habe leider «eine starke Verwal­ tung aus zaristischen Elementen» gefehlt.21 Man sieht, wie die Versuche, alle widerstrebenden Ziele der deutschen Weltpolitik unter einen Hut zu bringen, der Quadratur des Kreises äh­ nelten. Die schwankenden und überspannten Selbsteinschätzungen der Politiker und Militärs in Berlin fanden ihr genaues Pendant in den dramatischen, teilweise panischen Lageeinschätzungen und Ausblicken der Alliierten.

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Dem britischen Generalstabschef Robertson zufolge würde ein effektiver deutsch-bolschewistischer Separatfrieden die Aussichten auf einen alli­ ierten Sieg im Jahre 1918 – trotz der amerikanischen Truppen – zunichte machen.22 Der im Januar 1918 aus Petrograd ausgewiesene britische Botschafter George Buchanan hielt es geradezu für eine Frage «von Le­ ben und Tod», den drohenden Brester Separatfrieden zu verhindern, denn «eine russisch-deutsche Allianz nach dem Krieg würde eine stän­ dige Bedrohung Europas und ganz besonders Englands bedeuten».23 Eine Denkschrift des französischen Außenministeriums vom Februar 1918 konstatierte ebenfalls, dass eine Organisierung Russlands durch Deutschland eine noch furchtbarere Bedrohung für die fernere Zukunft darstelle als für den gegenwärtigen Moment; und sie nahm die Warnun­ gen Marschall Fochs vom Dezember 1917 auf, der in fast grotesker Weise die Gefahr einer deutschen Durchdringung Sibiriens und des ge­ samten Fernen Ostens ausgemalt hatte.24 Auch die japanische Regierung war davon überzeugt, dass Deutschland nach Russland auch China, die Mongolei und die Mandschurei kolonial durchdringen werde; Außen­ minister Goto sah bereits eine bipolare Welt voraus, in der sich die Ver­ einigten Staaten von Amerika als atlantisch-pazifische Seemacht und Deutschland als eine ­ eurasische Kontinentalmacht gegenüberstehen 25 würden. Die Verkündung der «14 Punkte» durch Präsident Woodrow Wilson am 8. Januar 1918 war denn auch vorrangig von dem Bemühen diktiert, die Brester Verhandlungen zu torpedieren. Sie erkannten die Bolsche­ wiki indirekt an und kamen ihnen erstaunlich weit entgegen. Gleichzei­ tig erhöhten sie den politischen Preis für die Kriegsgegner und enthielten das Versprechen einer neuen, freieren Weltordnung, die – so viele Hoff­ nungen sie in weiten Teilen der außereuropäischen und kolonialen Welt auch weckte – Paris und London nur wenig abverlangte. Im Gegenteil: Das Deutsche Reich sollte nicht nur alle besetzten Gebiete räumen, sondern Elsass-Lothringen und eventuell Teile Oberschlesiens abtreten; das Osmanische Reich auf seine innertürkischen Kerngebiete reduziert und von Ägypten über Palästina und Syrien bis Irak in halbkoloniale Protek­ torate aufgeteilt werden. Als deren Schutzherren kamen nur Großbritan­ nien und Frankreich in Frage. Dagegen sollte «den Völkern Öster­ reich-Ungarns  … die freieste Gelegenheit zu autonomer Entwicklung gewährt werden». Ihnen wurde also volle staatliche Unabhängigkeit in Aussicht gestellt, während das Habsburger Reich bis auf einen deutsch-­ österreichischen Kern aufzulösen war.

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Dagegen wurde «Russland» – offensichtlich in seiner historischen Ge­ stalt als Russländisches Vielvölkerreich – in Wilsons «14 Punkten» nach wie vor als eine politische Einheit angesprochen, deren Gebiete von allen fremden Truppen zu räumen seien. Die Unabhängigkeitserklärungen der Ukraine, Finnlands und der baltischen Republiken blieben unerwähnt. Allein Polen wurde als ein wiederherzustellender Staat genannt. Das üb­ rige «Russland» wurde «eines aufrichtigen Willkommens im Bunde der freien Nationen unter von ihm selbst gewählten Staatseinrichtungen ver­ sichert».26 Das war die einzige Passage in diesem spröden Memorandum, in der plötzlich ein sehr warmer Ton angeschlagen wurde. Dass Lenins Regime gerade dabei war, eine despotische Alleinherrschaft zu errichten, war Wilson von seinem Vertrauensmann Edgar Sisson in Petrograd in dramatischer Form annonciert worden. Aber den Herold der internatio­ nalen Demokratie schien der bolschewistische Machtstreich kaum zu berühren, so sehr war ihm daran gelegen, die Volkskommissare von ­einem Separatfrieden mit den Mittelmächten abzuhalten. Hätte der amerikanische Präsident den Friedensaufruf des Petrogra­ der Sowjet vom April 1917 mit ähnlicher Verve unterstützt – welch enor­ mes Gewicht hätte er ihm verleihen können. Weder Berlin und Wien noch London und Paris hätten es damals so einfach gehabt, sich dem Ruf aus Petersburg zu entziehen, und Kerenski hätte sich vielleicht nicht in seine Verzweiflungsoffensive stürzen müssen. Aber Wilson, 1916 mit dem Versprechen wiedergewählt, sein Land weiterhin aus dem Weltkrieg herauszuhalten, hatte, nachdem er die USA unter dem Druck der deut­ schen U-Boot-Angriffe einmal in den Weltkrieg hineingeführt hatte, auch seine ursprüngliche Forderung nach einem «Frieden ohne Sieger und Be­ siegte» fallengelassen – und sich deshalb gegenüber den Friedensinitiati­ ven aus Petrograd wie auch aus dem Vatikan taub gestellt. Tatsächlich spielte er damit den Mittelmächten in die Hände. Diese warfen sich jetzt zu Garanten der neuen Unabhängigkeit der nichtrus­ sischen Völker auf und versuchten, sich unter diesem Titel einen Gürtel neuer Klientenstaaten oder Protektorate von Finnland über das Balti­ kum und Polen bis zur Ukraine zu verschaffen – eine Vorstellung, die in den Phantasien mancher deutscher Liberaler und Sozialdemokraten so­ gar die Züge einer bis Persien, Afghanistan und Indien reichenden deut­ schen Befreiungsmission und Einflusssphäre annahm.27 Das hatte es den deutschen und österreichischen Unterhändlern in Brest leicht gemacht, gleich vorab die Verhandlungsgrundsätze «Recht auf Selbstbestimmung, keine Annexionen und keine Reparationen» zu akzeptieren, die wie ein

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Zugeständnis an die bolschewistischen Friedensresolutionen wirkten. Tatsächlich konnten sie ebenso gut auch als Waffe gegen die Dominan­ zansprüche der Bolschewiki gewendet werden. So tauchte Anfang Januar als eine zweite, eigenständige Verhand­ lungspartnerin die Kiewer Rada in Brest auf, die Mitte Dezember die Ukraine für unabhängig und sich selbst zur Provisorischen Regierung erklärt hatte. Ihre Vertreter warfen den bolschewistischen Unterhänd­ lern vor, weder den Ukrainern noch den Kaukasiern noch irgendwel­ chen anderen Völkern des ehemaligen Reiches echte demokratische Selbstbestimmungsrechte zuzugestehen – und dem russischen Volk auch nicht.28 Mitte Februar unterschrieb die Rada ein eigenes, dem Wortlaut nach großzügiges Friedensabkommen mit den Mittelmächten, obwohl oder gerade weil sie kurz zuvor von einer zusammengewürfelten Armee roter Truppen aus Kiew vertrieben worden war. Tatsächlich hatten die Bolschewiki die Unabhängigkeit der Ukraine, die sie theoretisch «forder­ ten», keine Sekunde lang akzeptiert, sondern die sozialistische Kiewer Räteregierung von Beginn an als eine Bastion der «weißen» Konter­ revolution denunziert, die das sowjetische Russland wirtschaftlich er­ drosseln wolle und durch eine echte «Volksregierung» ersetzt werden müsse. Zwar gelang für kurze Zeit die Installierung einer bolschewis­ tischen Regierung in Kiew. Aber die Brester Verhandlungen steckten ­damit vollends in einer Sackgasse. Trotzki ließ die entgeisterten Unter­ händler der Mittelmächte am 10. Februar einfach mit der Erklärung ­sitzen, seine Regierung werde weder die ihnen vorgelegten Friedens­ bedingungen unterschreiben, die unter anderem die Respektierung der Selbstbestimmung der für unabhängig erklärten Randgebiete verlang­ ten, noch werde sie die Kriegshandlungen an der Westfront wiederauf­ nehmen – und reiste mit seiner gesamten Delegation ab. Was zunächst wie ein genialer Schachzug aussah, erwies sich binnen Kurzem als Bluff und Katastrophe. Die deutschen und österreichischen Truppen nahmen nicht nur in der Ukraine, wo sie die Rada wieder in­ stallierten, sondern auch im Baltikum und in Weißrussland entlang der intakten Bahnlinien ihre Vormärsche wieder auf, ohne auf irgendeinen Widerstand zu stoßen. Sie näherten sich bis auf einige Tagesmärsche so­ gar Petrograd, machten dann allerdings Halt. Dass diese deutsche Politik, vor allem in der Ukraine, statt des ver­ sprochenen «Brotfriedens» (Getreide gegen Industrieprodukte) sehr bald Züge eines nackten Raubfriedens annahm, lag nicht zuletzt an ­einem Umschwung in Berlin, bei dem die Regierung unter Graf Hertling

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und Außenminister von Kühlmann gegenüber der Obersten Heereslei­ tung unter Ludendorff zurückstecken musste. In Ludendorffs Perspektive war der Kampf um Russland nur das Vorspiel für einen noch größeren Kampf gegen die Westmächte. Ludendorff spielte sogar mit dem Gedan­ ken, Petrograd einzunehmen und dann auch Moskau, wohin sich Lenins Räteregierung Anfang März hastig zurückzog. Diese Pläne scheiterten al­ lerdings schon an dem eklatanten Mangel an Truppen. So wurde ein neues Friedensangebot zu verschärften Bedingungen und in Form eines Ultimatums an die Regierung Sowjetrusslands gerichtet. Am 26. Februar tauchte in letzter Minute eine zweitrangig besetzte bolschewistische De­ legation wieder in Brest auf, weigerte sich, das vorgelegte Vertragsdoku­ ment auch nur zu lesen, unterschrieb es blind und reiste dann ohne wei­ tere Erklärung wieder ab. So großartig diese trotzig anti-diplomatische Geste wirkte, durch die das bolschewistische Regime sich selbst und ganz «Russland» als das Opfer eines brutalen Diktats deklarierte, so verlogen war sie auch. Denn gerade Brest-Litowsk lieferte Lenin erst die entscheidenden Instrumente und Vorwände zur Totalisierung seiner Herrschaft, während er So­wjetRussland in eine neue, grundlegende Frontstellung gegen den Westen ­hineinführte. Der Brester Vertrag brachte Russland nicht nur keinen «Frieden»; er brachte dem Regime auch keine «Atempause», wie die nachträgliche, aus der sowjetischen Apologetik in die westliche Histo­ riographie übernommene Standardformel lautete. Warum hat Lenin derart bedingungslos für Brest gekämpft – obwohl er mit seiner Position innerhalb wie außerhalb seiner Partei so allein stand wie nie seit der Verkündung seiner «Aprilthesen» im Jahr zuvor? Sicher­ lich konnte er den Linken Sozialrevolutionären und der Fraktion der «Linken Kommunisten» in seiner eigenen Partei um Bucharin, Radek, Kollontai, die für eine Verweigerung der Unterschrift eintraten, plausi­ bel vorrechnen, was das bedeutet hätte. Aber die Kosten der Unter­ schrift waren im Zweifelsfall noch ungleich höher, und auch das war vollkommen absehbar: Die eben erst geschlossene Koalition mit den lin­ ken SR zerbrach; der Bürgerkrieg entbrannte jetzt erst recht an allen Fronten; das Land, auch Zentralrussland selbst, zerfiel völlig; und die Alliierten sahen sich legitimiert, die Häfen im Norden, Süden und Osten zu besetzen. Umgekehrt hätte Lenins Regime, wenn es sich den Mittelmächten ver­ weigert hätte, die Unterstützung der Menschewiki und selbst der meis­

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ten Sozialrevolutionäre zurückgewinnen können, und darüber hinaus die Loyalität der städtischen Bürgerschaften. Eine auf eine breite Sowjet­ mehrheit gestützte revolutionäre Verteidigungsregierung hätte sich ihrer­ seits die Losung des Selbstbestimmungsrechts auf die Fahnen schreiben können, gegen das immer drückendere deutsche Besatzungsregime in der Ukraine, in Polen und im Baltikum wie gegen die haltlosen Versprechun­ gen, die Berlin und Wien den Unabhängigkeitsbewegungen im Kaukasus und anderswo machten. Und Wilsons Amerika hätte dieses sich verteidi­ gende, föderativ reorganisierte Russland mit Sicherheit großzügig unter­ stützt. Aber alles das wollte Lenin gerade verhindern. Nie hat er so verbissen und so kompromisslos gegen die allgemeine Ablehnung seiner Politik angekämpft wie in diesem Fall. Dabei legte er sich auch noch den Nim­ bus eines überlegenen Realpolitikers bei, der als einziger klarsichtig er­ kannt habe, dass ein Widerstand gegen Deutschland nicht möglich sei. Aber war denn kein Widerstand möglich? Dass ein hinhaltender Klein­ krieg im Osten für die deutsche Heeresleitung ein Alptraum gewesen wäre, da sie schon für die kampflose Besatzung der Ukraine und die wei­ teren Vorstöße nach Osten kaum Truppen und Material aufbringen konnte, war leicht auszurechnen. Auch haben die improvisierten ersten Aufgebote der Roten Armee wie die ihrer Bürgerkriegsgegner in ihren sektiererischen Schlachten gegeneinander ein Maß an fanatischer Kampf­ bereitschaft und militärischer Kraftentfaltung gezeigt, das alle Reden von einer allgemeinen «Kriegsmüdigkeit» Lügen strafte und einer besse­ ren Sache würdig gewesen wäre. Das alles beschreibt freilich exakt die Gründe, warum Lenin auf die Vorschläge eines demokratisch fundierten und revolutionär geführten Verteidigungskrieges auf keinen Fall eingehen konnte. Umgekehrt lie­ ferte ihm die hypothetische Gefahr, dass «die Deutschen die Offensive wollen, um die Sowjetregierung zu stürzen»29, nicht nur einen pseudo­ patriotischen Vorwand, um unter der Losung «Das sozialistische Vater­ land ist in Gefahr» die ersten Bataillone einer neuen Roten Armee auf­ zustellen, sondern gleichzeitig auch das gesamte zivile Leben unter Kriegsrecht zu stellen. «Alle Kräfte und Mittel des Landes werden rest­ los in den Dienst der revolutionären Verteidigung gestellt», hieß es in dem einschlägigen, überall plakatierten Dekret. Eisenbahner, Arbeiter, Bauern wurden dienstverpflichtet und aufgefordert, Bataillone zu bil­ den, denen «alle arbeitsfähigen Angehörigen der bürgerlichen Klasse, Männer und Frauen» für Schanz- und Hilfsarbeiten unterstellt werden

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sollten; «wer sich widersetzt, ist zu erschießen». An Ort und Stelle zu er­ schießen waren aber auch: «Feindliche Agenten, Spekulanten, Plünderer, konterrevolutionäre Agitatoren und deutsche Spione».30 Ergänzend wurde geregelt, dass alle Bürger ab sofort ein Arbeitsbuch zu führen hat­ ten, in dem die Wohlhabenden «zur allwöchentlichen Eintragung der Einnahmen und Ausgaben» verpflichtet waren; bei Nichtbefolgung wur­ den sie wiederum «nach Kriegsrecht bestraft» (erschossen). Dasselbe galt für die «Hinterziehung von Lebensmittelvorräten».31 Erschießen war ab jetzt die Grundoperation einer proletarischen Notstandsdiktatur, die bestrebt war, alle ihre Subjekte zu erfassen und zu mobilisieren.

«Lerne beim Deutschen» Die apokalyptisch-dialektische Einheit von Sozialismus und Krieg erfuhr in einer Rede Lenins vor dem IV. Sowjetkongress am 1. März 1918 (wäh­ rend die Zeitrechnung auf den gregorianischen Kalender umgestellt wurde) eine nochmalige theoretische und praktische Steigerung. Lenin nahm die patriotischen Widerstände gegen das Brester Diktat in einer dostojewskihaften Argumentationsfigur auf: «Wir müssen den ganzen Abgrund der Niederlage, der Zerstückelung, der Versklavung, der Er­ niedrigung, in den man uns gestoßen hat, restlos, bis auf den Grund durchmessen. Je klarer wir das verstehen, desto fester, härter und stäh­ lerner wird unser Wille zur Befreiung sein  …» Wenn Russland jetzt  – woran nicht gezweifelt werden könne – «einem nationalen Aufschwung, einem großen vaterländischen Krieg entgegengeht, so ist der Ausweg für diesen Aufschwung  … der Ausweg zur internationalen sozialistischen Revolution.» Das war ein listiges Quid pro Quo. Denn die Spitze dieses «großen va­ terländischen Krieges» sollte sich gerade nicht gegen die deutschen Ok­ kupanten richten, im Gegenteil: «‹Hass gegen die Deutschen, schlage den Deutschen!› – das war und ist die Losung des gewöhnlichen, d. h. bürgerlichen Patriotismus. Wir aber sagen: ‹Hass gegen den imperialisti­ schen Räuber …› und gleichzeitig: ‹Lerne beim Deutschen!› … Jawohl, lerne beim Deutschen!  … Es ist so gekommen, dass gerade jetzt der Deutsche nicht nur den bestialischen Imperialismus, sondern auch das Prinzip der Disziplin, der Organisation, des harmonischen Zusammen­ wirkens auf dem Boden der modernsten maschinellen Industrie, der strengsten Rechnungsführung und Kontrolle verkörpert.»32

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Im April baute Lenin in einer Serie weiterer Artikel diese Argumenta­ tion aus. Hauptobjekt seiner Polemik war noch immer die (längst abge­ schlagene) Parteilinke um Bucharin und deren unbestreitbare Feststel­ lung, dass der «Zusammenbruch des imperialistischen Systems  … im Falle eines Sieges des deutschen Imperialismus» weiter hinausgezögert werde. Lenin stellte auch dieses Argument dialektisch auf den Kopf: ­Solange die internationale sozialistische Revolution nicht in der Lage sei, den Imperialismus insgesamt zu besiegen, so lange gelte es in der Tat «abzuwarten, bis das Ringen der Imperialisten gegeneinander diese noch mehr schwächt».33 Das hieß in der aktuellen Lage – soeben waren die mörderischen deutschen Durchbruchsoffensiven im Westen ange­ laufen – nichts anderes, als dass es im Interesse der russischen Revolu­ tion liege, den Weltkrieg weiter hinzuziehen. Denn ein «imperialisti­ scher Friede» zwischen Mittelmächten und Alliierten werde sofort den Übergang zur gemeinsamen militärischen Erdrosselung Räterusslands bedeuten. Dies war aber nur die Eröffnung einer noch weiterreichenden gedank­ lichen Operation. Wer oder was sei denn, nachdem die alten herrschen­ den Klassen gestürzt seien, der Hauptfeind der russischen Revolution? Die kleinbürgerliche Anarchie! «Gestern war es der Angelpunkt der ge­ gebenen Lage, möglichst entschieden zu nationalisieren, zu konfiszieren, die Bourgeoisie zu schlagen und zu vernichten, die Sabotage zu brechen. Heute sehen nur Blinde nicht, dass wir mehr nationalisiert, konfisziert, zerschlagen und zerbrochen haben, als wir zu erfassen vermochten.» Deshalb könne das von den Linken an die Wand gemalte Gespenst einer «Evolution zum Staatskapitalismus» nur das homerische Gelächter ­aller Revolutionäre hervorrufen. Gerade die Errichtung eines Staatska­ pitalismus sei der notwendige nächste Schritt zum Sozialismus in Russ­ land.34 «Um die Frage noch klarer zu machen, wollen wir zunächst ein ganz konkretes Beispiel des Staatskapitalismus anführen. Alle wissen, was für ein Beispiel das ist: Deutschland. Hier haben wir das ‹letzte Wort› mo­ derner großkapitalistischer Technik und planmäßiger Organisation  … (Man) setze an die Stelle des militärischen, junkerlichen, bürgerlichen, imperialistischen Staates ebenfalls einen Staat, aber einen Staat von an­ derem sozialen Typus, mit anderem Klasseninhalt, den Sowjetstaat, das heißt einen proletarischen Staat, und man wird die ganze Summe der Be­ dingungen erhalten, die den Sozialismus ergibt.»35 Wenn das aber so war, wenn in einer drastisch vereinfachten Gleichung «Staatskapitalis­

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mus + proletarischer Staat = Sozialismus» war, und Deutschland darin für den Staatskapitalismus, Russland für den proletarischen Staat stand, dann musste das für die Außenpolitik Sowjetrusslands noch weiterrei­ chende Folgen haben. In einer einprägsamen Wendung, die auch die einfachen Parteikader verstehen konnten, beschrieb Lenin das Panorama seine weltrevolutio­ nären Perspektiven: «(Die) Geschichte  … nahm einen so eigenartigen Verlauf, dass sie im Jahre 1918 zwei getrennte Hälften des Sozialismus gebar, eine neben der anderen, wie zwei Kücken unter der einen Schale des internationalen Imperialismus. Deutschland und Russland verkör­ pern 1918 am anschaulichsten die materielle Entwicklung einerseits der ökonomischen, produktionstechnischen, sozialwirtschaftlichen und an­ dererseits der politischen Bedingungen für den Sozialismus.»36 Die erste Schlussfolgerung betraf das sowjetische Russland selbst: «Solange in Deutschland die Revolution noch mit ihrer ‹Geburt› säumt, ist es unsere Aufgabe, vom Staatskapitalismus der Deutschen zu lernen, ihn mit aller Kraft zu übernehmen, keine diktatorischen Methoden zu scheuen, um diese Übernahme noch stärker zu beschleunigen, als Peter die Übernahme der westlichen Kultur durch das barbarische Russland beschleunigte, ohne dabei vor barbarischen Methoden des Kampfes ge­ gen die Barbarei zurückzuschrecken.»37 Es galt also, Russland mit «deutschen», d. h. petrinischen Mitteln grundlegend zu erneuern und zu reformieren, gleich wie barbarisch diese sein mochte. Aber da Deutsch­ land nun einmal tief nach Russland eingedrungen war, lag es auch in der Logik des Lenin’schen Argumentes, diese Verflechtung, die so oder so auf der Linie des historischen Fortschritts lag, noch weiter zu steigern – in einer ähnlich unklaren, reziproken, allerdings noch viel zielstrebige­ ren Verbindung von Kollaboration und Subversion, wie die deutsche ­Politik sie zur gleichen Zeit betrieb. Im Juni 1918 war über Moskau der Belagerungszustand verhängt, das Geschäftsleben fast zum Stillstand gekommen. Frühmorgens und selbst am hellichten Tage waren Gewehrsalven und Maschinengewehrfeuer zu hören. Die Linken Sozialrevolutionäre, die durch ein tödliches Attentat auf den deutschen Botschafter Graf Mirbach eine Kursänderung der bol­ schewistischen Politik und einen Bruch mit Berlin herbeizwingen wollten, probten den Aufstand. Gerettet wurde Lenins Regime, während Dzier­ zynski sich in der Gewalt seiner eigenen meuternden Tschekisten befand, nur durch die Prätorianergarde der Lettischen Schützen, die a­ llerdings

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eine ganz eigene, nationalbolschewistische Agenda verfolgten und durch ihren Kommandanten Vacietis parallel auch Kontakte zur deutschen Seite unterhielten. In dieser Situation, in der das Überleben des bolschewistischen Regi­ mes an einem seidenen Faden hing und auch in Berlin wieder einmal er­ wogen wurde, die belastenden Verbindungen mit den Bolschewiki zu kappen, betrieb Lenin nur umso offensiver eine Politik der «Umarmung» und materiellen Verflechtung beider Länder. Da Botschafter Joffe, der die sowjetische Botschaft in Berlin zu einer Agitationszentrale ausbaute, und Außenminister Tschitscherin die Verhandlungen über die verein­ barten «Zusatzverträge» zum Brester Vertrag zu «geschäftsmäßig» an­ gingen, beorderte Lenin Ende Juni 1918 seinen Vertrauten Hanecki, mittlerweile Chef der Nationalbank in Moskau, und Leonid Krassin als prominenten Mann der Wirtschaft in die deutsche Hauptstadt. Krassin, der ehemalige Ingenieur deutscher Elektrofirmen, wurde «vom alten ­Siemens selbst und einem ganzen Regiment von Direktoren seiner Firma empfangen». In Begleitung des AEG-Direktors Felix Deutsch fuhr er zu Ludendorff an die Westfront, der in Aussicht stellte, bei Belieferung mit kriegswichtigen Rohstoffen die deutschen Armeen aus Teilen Südruss­ lands zurückzuziehen.38 Krassin führte die Verhandlungen seinerseits in großem Stil. Wenn sich das eilig formierte «Russland-Syndikat» der deutschen Industrie das Ziel gesetzt hatte, «eine Beteiligung an Bergwerks-, Industrie- und Baum­ wollunternehmen» im bolschewistischen Russland zu erwerben und ver­ mittels der aus deutschen Mitteln wiederhergestellten Verkehrswege «die wirtschaftliche Durchdringung der Rohstoffgebiete» voranzutrei­ ben, so schufen diese Pläne die Voraussetzungen, mit denen Lenin die enge, zentral kontrollierte Verflechtung beider Länder und Volkswirt­ schaften vorantreiben wollte. Die immense Summe von sechs Milliarden in Goldrubeln, die die bolschewistische Regierung als Entschädigung für enteignete deutsche Firmen in Aussicht stellte, hätte ein machtvolles In­ strument des deutschen Einstiegs in die russische Industrie und vor allem das darniederliegende Verkehrswesen sein können. Krassin jedenfalls nährte solche Vorstellungen, wenn er in langen Gesprächen mit Gustav Stresemann, der auf deutscher Seite die Federführung übernommen hatte, darlegte, «dass der Staatssozialismus in Russland  … sich auch praktisch schließlich nur in einer stärkeren Betonung der Arbeiterinter­ essen von dem Staatssozialismus in Deutschland unterscheide». Strese­ mann fasste diese Gespräche seinerseits in dem Eindruck zusammen,

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dass «der Gedanke einer deutsch-russischen Verständigung in der Luft zu liegen» scheine.39 Selbst der Einbruch der deutschen Fronten im Westen nach dem «schwarzen» 8. August führte nicht zum Abbruch der Gespräche, im Gegenteil. Lenin steigerte den Einsatz noch einmal. Noch am 27. August ließ er – gegen alle Bedenken und Widerstände seiner eigenen Verhand­ lungsführer, die ihn beschworen, das «systematische Doppelspiel» der deutschen Seite nicht zu übersehen – die Berliner «Zusatzverträge» un­ terzeichnen.40 Er sah eine direkte «Übereinstimmung der Interessen» mit dem deutschen Imperialismus: «Wir wären Idioten, das nicht auszunüt­ zen.»41 So flankierte er die wirtschaftlichen Abmachungen noch durch Angebote einer direkten militärischen Zusammenarbeit beim Kampf ge­ gen die Truppen der Alliierten in Murmansk und Archangelsk im Nor­ den und auf den Ölfeldern von Baku im Süden – wozu es dann allerdings nicht mehr kam.42 Offensichtlich rechnete Lenin mit einer verschärften Fortsetzung des Weltkriegs im Westen, der ihm notwendig und dringend schien, schon weil er sein Land und sein eigenes Regime seinerseits in einen Existenz­ kampf verstrickt sah, bei dem Neutralität keine Option war, da «der englisch-französische Imperialismus, der nun schon seit vier Jahren um der Weltherrschaft willen die ganze Erde mit Strömen von Blut über­ schwemmt  …, unmittelbar an Russland herangerückt» sei. Russland stehe jetzt abermals «im Krieg», diesmal gegen die Mächte der Entente, und «der Ausgang der Revolution hängt jetzt völlig davon ab, wer in diesem Krieg siegen wird».43 In einem «Aufruf zum letzten, entscheidenden Kampf» Ende August erweiterte er diese Perspektive noch einmal, als er feststellte, dass die So­ wjetrepublik sich nunmehr einem konzertierten Angriff sowohl des eng­ lisch-französischen wie des japanisch-amerikanischen Imperialismus ge­ genübersehe. Nach einem vorbereiteten Plan breite sich jetzt «eine Welle von Kulakenaufständen … über Russland aus». Die Kulaken aber seien «die letzte und zahlreichste Ausbeuterklasse unseres Landes» – auf die die westlichen Alliierten demnach setzten. Deshalb sei der Kampf gegen die Kulaken der entscheidende Kampf: «Tod den Kulaken! Hass und Verachtung den Parteien, die sie verteidigen: den rechten Sozialrevoluti­ onären, den Menschewiki und den heutigen linken Sozialrevolutionä­ ren!»44 In diesen Aufrufen wie in den parallelen, betont blutrünstigen Befeh­ len Lenins an seine Truppen, in den widerständigen ländlichen Gebieten

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des eigenen Landes Geiseln zu nehmen und von Ort zu Ort «nicht weni­ ger als hundert notorische Kulaken, Reiche, Blutsäufer aufzuhängen», oder auch «alle Vorbereitungen zu treffen, um Baku vollständig nieder­ zubrennen»,45 falls britische oder türkische Truppen sich dessen zu be­ mächtigen suchten, verschränkten sich die Perspektiven der Totalisie­ rung des Bürgerkriegs unmittelbar mit der des Weltkriegs – dessen baldi­ ges Ende die Bolschewiki weder wünschten noch voraussahen.

4. Phönix und Asche

Wahnsinn und Methode

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nsere Partei ist für den Bürgerkrieg. Der Bürgerkrieg entbrennt um der Getreidefrage willen. Wir, die Sowjets, haben die Initiative ergrif­ fen.» Das erklärte Trotzki Anfang Juni 1918 in einer Sitzung des Mos­ kauer Sowjets auf den Zwischenruf eines linken Sozialrevolutionärs, dass der proklamierte «Kreuzzug für das Getreide», nämlich die gewaltsame Requirierung der Vorräte der Bauern, zum allgemeinen Bürgerkrieg füh­ ren werde.1 Was konnte die Bolschewiki veranlassen, sehenden Auges einen Bür­ gerkrieg gegen das Gros der ländlichen Bevölkerung zu eröffnen, die sich trotz der Entwertung ihres demokratischen Votums durch das Auseinan­ derjagen der Konstituante ihnen gegenüber weitgehend neutral hielt? Tatsächlich hatten die russischen Bauern im anbrechenden Jahr 1918 so etwas wie den Moment eines kleinen Glücks erlebt und waren, im Unter­ schied zu großen Teilen der städtischen Bevölkerungen, relativ friedlich gestimmt. Die Art und Weise, in der sie die patriarchalen Dorfinstitutio­ nen und autoritären Lokalverwaltungen unter dem Einfluss sozialrevo­ lutionärer Bauernführer und Agitatoren sowie auf Druck der jüngeren Dorfmitglieder und Frontheimkehrer in demokratische Selbstverwaltungs­ organe umgewandelt hatten, entsprach fast den Vorstellungen, die Marx 1881 entwickelt hatte: «Man müsste einfach die volost’, eine Regie­ rungsinstitution, durch eine Bauernversammlung ersetzen, die die Gemein­ den selbst wählen und die als ökonomisches und administratives Organ ihren Interessen dienen würde.»2 Auf dieser Grundlage hatte er eine «Wiedergeburt der russischen Landgemeinde» auf der Höhe der moder­ nen Welt für möglich gehalten – eine Idee, die unter russischen Marxis­ ten allerdings keine Wurzeln geschlagen hatte. Nach der Legalisierung ihrer Landnahmen von Adelsgütern, Staatsund Kirchenland durch ein Dekret des Sowjetkongresses und der – groß­ teils einvernehmlichen – Rückkehr derer, die als Freibauern die Gemeinde verlassen hatten, lebte das Gros der bäuerlichen Gemeinden etwa so, wie es ihrem idealisierten Selbstbild entsprach: als eine große «Familie», was

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sie durch Heiraten und Abstammungslinien oft auch tatsächlich waren. Die Nahrungsmittel, die sie erzeugten, waren zwar nicht in Papiergeld (für das man kaum etwas kaufen konnte), wohl aber im naturalen Tausch mit den Städtern, die aufs Land strömten, um sich zu versorgen, viel wert – mit Mehl als Goldstandard. Das hieß nicht, dass die Bauern nach der katastrophalen Ernte von 1917 im Überfluss lebten; sie aßen sich einigermaßen satt, statteten sich in dörflicher Eigenarbeit mit Gerät­ schaften und Haushaltsgegenständen aus, erweiterten ihren Viehbestand und ihre Aussaaten. Es war ein Moment der Regeneration und Reorga­ nisation, der auch die Basis einer Regeneration und Reorganisation der gesamten Volkswirtschaft hätte sein können3. Die Bolschewiki behaupteten stattdessen, die Dorf- und Bezirksräte stünden unter der Kontrolle der «Kulaken», und diese organisierten un­ ter dem Einfluss der imperialistischen Mächte und ihrer Agenten, der Menschewiki und Sozialrevolutionäre, einen mörderischen «Getreide­ streik» gegen die roten Städte und Gebiete, mit dem sie sich an der Not des Volkes bereichern und die Sowjetmacht in die Knie zwingen woll­ ten. Im Mai wurde der «Kreuzzug für das Getreide» proklamiert. Be­ waffnete proleta­ rische Requirierungskommandos (prodotrjady), die aus den Arbeitslosen der Städte rekrutiert wurden, und neue, überall zu schaffende «Komitees der Dorfarmen» (kombedy) durchkämmten die Dörfer und zwangen mit drakonischen Strafen von der Auspeitschung bis zur Hinrichtung die «getreidehortende Dorfbourgeoisie» zur Heraus­ gabe ihrer Überschüsse. Tatsächlich waren die über die Bürgerkriegsjahre hinweg immer neu aufgenommenen Raubzüge gegen die Bauerngemeinden, die dadurch in eine Folge immer neuer, verzweifelter Rebellionen hineingetrieben wur­ den, komplette Fehlschläge. Die Razzien und Repressionen konnten eben nicht auf die wenigen «Kulaken», die eine Magd und einen Knecht hat­ ten und zwei Pferde oder etwas Milchvieh besaßen, beschränkt werden; die Dorfgemeinden als Ganze mussten terrorisiert werden, um ihnen ihre Getreidevorräte zu entreißen, selbst wenn diese nur der eigenen, ele­ mentaren Existenzsicherung oder als Saatgetreide dienten. Allenfalls ein kleinerer Teil des requirierten Getreides kam wirklich in den staatlichen Sammelstellen an, teils mangels Transport- und Lagermöglichkeiten, teils weil die aus den Städten gesandten Kommandos sich im Verein mit den sogenannten «Dorfarmen» – in der Regel einige in die Dörfer ausgewi­ chene städtische Arbeitslose, unzufriedene Exsoldaten und randständige Existenzen jeder Art – erst einmal selbst versorgten. Auch die neubesetz­

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ten Sowjetbehörden, die die von den Bauern gewählten Dorf- und Be­ zirkskomitees systematisch verdrängten, zweigten erst einmal das Nötige für sich ab.4 Noch irrwitziger und schädlicher wirkten die anderen Formen der prokla­ mierten «Ernährungsdiktatur», die immer zugleich Teil des Terrors gegen die städtischen «burshui», die dörflichen «Blutsauger» und alle möglichen kleinbürgerlichen «Parasiten» waren: so vor allem die hartnäckig-vergeb­ lichen Versuche der gewaltsamen Unterbindung des sogenannten «Sack­ handels», der armseligen Formen eines Austauschs zwischen Stadt und Land, der generell als «Spekulation» verboten und verfolgt wurde. Über Jahre hinweg sah man Kommandos leidlich genährter Tschekisten und Zivilisten mit roter Armbinde auf Bahnhöfen, Straßen oder Plätzen damit beschäftigt, vom Land kommenden Frauen versteckte Waren unter den Röcken hervorzuziehen oder aus den Taschen und Bündeln von Passagie­ ren, Passanten oder Markthändlern Mehlbeutel, Speckstücke oder Eier herauszuholen. Dass der größte Teil der in den Städten noch verfügbaren Nahrungsmittel längst aus diesem «Schleichhandel» stammte, da das bolschewistische Regime noch weniger als seine Vorgänger in der Lage war, seine Bürger zu ernähren, wusste Lenin natürlich. Für blanken Irrwitz würde man – selbst als Notwehrmaßnahme eines Staates, der sich jeder Fähigkeit beraubt hatte, reguläre Steuern zu erhe­ ben – auch die Praxis der städtischen Requirierungskommandos halten, die in adeligen oder bürgerlichen Wohnungen sich Geld, Gold und Juwe­ len in die Taschen stopften, Gemälde in Teppiche einpackten und auch sonst mitnahmen, was wertvoll aussah. Die Augenzeugenberichte von Flüchtlingen und Emigranten wurden in der europäischen und amerika­ nischen Presse vielfach als eine neue Sorte «Tatarenmeldungen» aufge­ nommen: von Damen der Gesellschaft, die unter den obszönen Späßen der Soldaten deren verseuchte Latrinen zu putzen hatten; von den auf Hunger­ration gesetzten, ihrer Kleidung beraubten Bürgern, die Typhus­ leichen begraben oder auf eisigen Böden sinnlose Schanzarbeiten verrich­ ten mussten; oder wiederum die Genrebilder von Rotgardisten und Ma­ trosen, die mit ihren pelzbehängten Bräuten oder Huren in requirierten Autos dahinrasten. Das alles wirkte allzu sehr wie Klischees des sozialen Hochmuts enterbter Reicher, als dass man es ganz hätte glauben wollen. Wenn dann berichtet wurde, wie etwa in einer Reihe von Orten auf der Krim gleich nach der erstmaligen Übernahme der Macht durch den «Arbeiter- und Soldatensowjet» Anfang 1918 ein roter Mob für die klas­

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sischen drei «freien» Tage (wie bei den Judenpogromen unter dem Za­ ren) plündern, vergewaltigen, foltern und morden durfte, bis am Ende in den Häfen von Jalta, Sewastopol oder Eupatoria Hunderte von Bür­ gern und Offizieren mit zerschlagenen Gliedern, mit Steinen beschwert, auf dem Meeresboden einen Menschenwald bildeten; oder wie in Tag­ anrog fünfzig halbwüchsige Kadetten, die sich der Machtübernahme widersetzt hatten, in den Hochofen einer Metallgießerei gestoßen wur­ den, ­einer nach dem anderen; wenn von Folterern in Jekaterinburg be­ richtet wurde, die ihren Opfern die Haut mit kochendem Wasser von den Händen abzogen; oder wie in Kiew oder Odessa mit Kokain aufge­ putschte Exe­kutoren, darunter auch einige Frauen von trauriger Be­ rühmtheit, sich Nacht für Nacht ihre Opfer holten – dann spürt man bis jetzt noch den Widerwillen, den solche Horrorgeschichten nun einmal zivilisierten Menschen einflößen; zumal es ja auch tatsächlich so war, dass diese Berichte, so horribel und vielleicht übertrieben sie waren, ­selbst schon von der erfolgreichen Terrorisierung derer zeugten, die sie kolportierten.5 Dabei waren dies nur die ersten Fanale jenes «roten Terrors», der nach den sozialrevolutionären Attentaten auf den Ernährungskommis­ sar Wolodarski, den Petrograder Tscheka-Chef Uritzki und schließlich auf Lenin selbst Ende August 1918 auch in aller Form als ein «Massen­ terror» proklamiert wurde und im Laufe des fünfjährigen Bürgerkriegs mehrere hunderttausend Opfer gefordert haben dürfte, mehr, als in den Kampfhandlungen umgekommen sind.6 Gegenüber dem «weißen Ter­ ror», der eher Züge einer herrenhaften Disziplinierungspolitik alten Stils oder einer desperaten Rache trug, oder gegenüber dem «grünen» (natio­ nalistischen oder bäuerlichen) Terror, der zwischen Raubmord, Verge­ waltigung und Pogrom oder «ethnischer Säuberung» oszillierte, zeichnete der «rote Terror» sich durch eine Kälte und Willkür aus, die methodi­ sche Züge trug, sowie durch die Kombination sozialer und politischer Mittel und eine schier unbegrenzte Bereitschaft zur Steigerung («für ­einen von uns zehn von ihnen»). Dieser rote Terror war ebenso formativ wie destruktiv. Darin liegt viel­ leicht seine eigentliche, wenn man so will: seine innovative Leistung. Es ging nicht nur darum, Feinde und nicht kontrollierbare Strukturen und Kommunikationen auszuschalten. Die Entfesselung einer anarchischen oder selbst kriminellen Massengewalt war zugleich auch die Form, sie nach und nach – dem jakobinischen Muster folgend – zu kanalisieren

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und politisch einzubinden und auf diese Weise einen eigenen, neuen Machtapparat, eine neue Sozialhierarchie und letztlich ein neues «revo­ lutionäres Subjekt» herauszubilden. Viele lokale Tscheka-Einheiten gründeten sich anfangs im Geiste von Lenins «Wettbewerb» einfach selbst aus Rotgardisten und Arbeitslosen, Soldaten oder Matrosen. Im Juni 1918 zählte der Gesamtapparat der Tscheka etwa 12 000 Kader, die freilich immer auch als Kern zahlreicher, jeweils ad hoc gebildeter Requirierungs-, Durchsuchungs- oder Verhaf­ tungskommandos dienten. Im Dezember 1918 waren es bereits 40 000 und bis 1921 schon rund 140 000 festbesoldete Tscheka-Beamte, das Mehrfache der alten Ochrana.7 Hinzu kamen eine Reihe weiterer, spezia­ lisierter «Organe» der Überwachung, Aufklärung und Disziplinierung, so in der Roten Armee oder bei den Eisenbahnen, sowie ein umfangrei­ ches Personal für den ersten, sich über das ganze Land ausdehnenden Archipel improvisierter Gefängnisse und «Kontslager» (Konzentrations­ lager), deren Einrichtung für «undurchsichtige Agitatoren, konterrevo­ lutionäre Offiziere, Saboteure, Parasiten, Spekulanten» Trotzki im August 1918 forderte und mit Lenins Unterstützung durchsetzte.8 Alle diese bewaffneten Organe der «Inneren Sicherheit», ebenso wie die ersten Einheiten der ab dem Frühjahr 1918 unter Trotzkis Leitung aufgestellten «Roten Arbeiter- und Bauernarmee», die ja ebenfalls eine reine Bürgerkriegsarmee war und sich nur sehr selten in Kämpfe mit den ausländischen Interventionskräften begab, sollten tägliche Zuteilungen bekommen, die sie über die hungernde Zivilbevölkerung weit hinaus­ hoben: ein Pfund Brot, 40 Gramm Fleisch oder Fisch, 60 Gramm Gemüse, 10 Gramm Fett, 10 Gramm Zucker und ½ Gramm Tee (zum Beispiel), plus Ausrüstung und Unterkunft. Das war im allgemeinen Hunger ein starkes Motiv, auch wenn die Versorgung in Wirklichkeit viel schlechter war. Aufgenommen wurden in die neue Rote Armee anfangs vor allem städtische Rotgardisten, Arbeitslose und «Proletarier» der unterschied­ lichsten Sorten zwischen 16 und 40 Jahren; das sollte ihren Klassencha­ rakter sichern. Ab dem Sommer 1918 wurden dann auch wieder bäuer­ liche Wehrpflichtige eingezogen, mussten die Dörfer wie eh und je, aber nun unter drakonischen Strafandrohungen, ihre Menschentribute lie­ fern. Die «proletarische Diktatur» war zuallererst ein Kalorienregime, das tatsächlich eine neue Gesellschaftsgliederung hervorbrachte: «Bürger! Die Kommune unterscheidet nur vier Kategorien von Essern. 1. Katego­ rie: Arbeiter mit Bescheinigung ihres Betriebes haben Anspruch auf eine

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Tagesration von 100 Gramm Brot, 2 Eiern, 10 Gramm Fett, 10 Gramm Trockengemüse. 2. Kategorie: Büroangestellte erhalten 50 Gramm Brot und die Hälfte der übrigen Zuteilungen für die erste Kategorie. 3. Kate­ gorie: Sonstige Angestellte, Intellektuelle, Professoren, Journalisten er­ halten 50 Gramm Brot und die Hälfte der übrigen Zuteilungen für die 2. Kategorie. 4. Kategorie: Bourgeois, Immobilienbesitzer, Kaufleute, La­ deninhaber usw. erhalten 25 Gramm Brot und haben keinen Anspruch auf Eier, Fett und Gemüse.» So ein Plakat in Petrograd im Herbst 1918.9 Dagegen konnten die Angehörigen der neuen zentralen Staats- und Parteiapparate sich aus Kantinen ernähren, die im wörtlichsten Sinne ihre Futtertöpfe waren. Solche Zuteilungen in natura über Kantinen und Versorgungsstellen der Betriebe und Behörden  – bis hin zu den Fress­ paketen (pajoks) und den exklusiven Sonderläden für die Familien der höheren Kader – blieben für Jahrzehnte ein Charakteristikum, fast ein Strukturelement der Sowjetmacht. Und natürlich war klar, dass entge­ gen allen Appellen, allem Selbstlob, allen Selbstreinigungskampagnen die Instanzen des neuen Staates sich im rechtsfreien Raum mit Kor­ ruption und Nepotismus zwangsläufig infizierten. So war es Ausdruck einer universellen Bürokratisierung und zugleich Ergebnis des elementa­ ren Impulses zur schieren Selbsterhaltung und zum sozialen Aufstieg, wenn die Zahl der Staatsangestellten sich von 1917 bis 1921 bereits ver­ vierfachte, von ca. 580 000 auf 2,4 Millionen.10 Konstantin Paustowski hat in seinen Erinnerungen geschildert, wie sie, eine Rotte hungriger, arbeitsloser junger Journalisten, im Frühjahr 1920 in Odessa, das gerade wieder von den Weißen geräumt und von den ­Roten eingenommen worden war, in ein beliebiges Behördengebäude gin­ gen, über dessen Tor ein Transparent mit der mystischen Bezeichnung «Oprodkomgrub» hing, sich in Labyrinthen aus Sperrholzwänden, wo­ rin neu organisierte Abteilungen sich verschanzten, einen eigenen Ver­ schlag suchten, das handgemalte Schild «Informationsabteilung» an die Tür hingen und sich anschließend beim Leiter der Behörde, einem ehema­ ligen Studenten der Rechte, in eben dieser Funktion vorstellten. Obwohl er sie durchschaute (aber eine Behörde brauchte nun einmal eine Abtei­ lung für Information und Propaganda), erhielten sie anstandslos Lebens­ mittelkarten und sonstige Bezugsscheine und waren den Wirren des Bür­ gerkriegs und der Pogrome damit für erste entkommen.11 Lenins Idealvorstellung, mit der Einbeziehung der Massen in die Tätig­ keiten der Kontrolle, Verteilung und Rechnungsführung den bürgerlichen «Kriegskapitalismus» durch einen proletarischen «Kriegssozialismus» in

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der Verteilung plus einen organisierten «Staatskapitalismus» in der Pro­ duktion abzulösen, ging glänzend auf – nur dass der neue Machtapparat keinerlei Tendenzen zum «Absterben», umso mehr dagegen zum expo­ nentiellen Wachstum zeigte.

Das Ende der Klassen Was «abstarb», waren stattdessen die sozialen Klassen und mit ihnen die vielseitig gegliederte, arbeitsteilig differenzierte Gesellschaft Russlands selbst. Dass es mehrere Bürgerkriegsjahre brauchte, um nach der Elimi­ nierung des grundbesitzenden Adels und des zaristischen Beamtenappa­ rats auch das städtische Bürgertum «als Klasse» auszuschalten, zeugt von der relativen Stärke der zivilgesellschaftlichen Strukturen, die sich in dem Vierteljahrhundert vor 1917 herausgebildet hatten. Dazu musste dieses Bürgertum allerdings unter Verhältnisse gesetzt werden, die jeden einzelnen in eine existentielle Entscheidungssituation brachten. Diejeni­ gen, die ihre Dienste nicht anbieten wollten oder konnten, mussten sich als Straßenhausierer oder «Sackträger», als Kellner oder wie viele junge Frauen als Prostituierte durchschlagen – und waren umso mehr ein vor­ bestimmtes Objekt des roten Terrors wie der täglichen Schikanen und Requisitionen, mit denen jede «schwarze» Tätigkeit unterbunden wer­ den sollte; und natürlich auch einer Alltagskriminalität, gegen die sie wehrlos waren. Ein erheblicher Teil des Bürgertums der Hauptstädte floh direkt ins Ausland oder in die südlichen Städte, vor allem an Wolga und Don, wo sich im Sommer 1918 ein ganzes «St. Petersburg in der Steppe» auftat. Viele versuchten aber auch, in einer Nische oder (wie Pasternaks Doktor Schiwago) in einem entlegenen Landstrich eine selbstgenügsame Exis­ tenz zu fristen, um irgendwie zu überwintern. Aber wo immer die Rote Armee die Oberhand gewann, bildeten diese Flüchtlinge mit ortsansäs­ sigen «burshui» und «Kulaken» wieder bevorzugte Objekte der Geisel­ nahmen und eines zuweilen an Exterminismus grenzenden Massenter­ rors oder mussten weiterfliehen. Der letzte Akt spielte im Frühsommer 1920 auf der Krim, als sich zwi­ schen den fliehenden «weißen» Soldaten 200 000 Bürgerkriegsflüchtlinge mit ihren Koffern und Bündeln auf eine Flottille von Evakuierungsschif­ fen drängten – oder in der Falle saßen. In einem monströsen Massaker sollen zehn- oder zwanzigtausend, die nicht mehr weiterkamen, Solda­

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ten wie Zivilisten, Männer wie Frauen, erschossen oder gelyncht worden sein. Was die Entkommenen berichteten, entzieht sich jeder Vorstel­ lungskraft: «Der Nachimowsky Prospekt (in Sewastopol) wies keine ­Telegraphenstange, keine Laterne auf, an der nicht eine oder mehrere Leichen hingen … Die Stadt war tot, die Bevölkerung versteckte sich in den Kellern und auf den Speichern. Alle Zäune, Hausmauern, Telegra­ phenmasten und Schaufenster … waren mit Aufrufen ‹Tod den Verrä­ tern› überklebt.»12 Alles in allem (sämtliche Zahlen sind bis heute nur Schätzungen) dürf­ ten bis zum Ende des Bürgerkriegs 1,5 – 2,5 Millionen russische Bürger auf irgendwelchen Wegen unter Hinterlassung all ihrer Besitztümer das Land verlassen haben und bildeten von nun an ein «Russland jenseits der Grenzen».13 Das bedeutete einen intellektuellen und kulturellen Aderlass, der nur mit dem Deutschlands nach 1933 verglichen werden kann. Die Liquidierung der «Bourgeoisie als Klasse» ging im Massenterror und Exodus nicht auf. Denn tatsächlich waren die neuen Machthaber, wie sich bald zeigte, auf die Fähigkeiten der Schicht, die sie «als Klasse» auszulöschen trachteten, dringend angewiesen. Gerade in den Moskauer Ministerien und Zentralbehörden, die man nach kurzem Zögern in die «Volkskommissariate» integrierte, hatten mehr als die Hälfte der Ange­ stellten und Beamten bereits vor dem Oktober 1917 in ihren Funktionen gearbeitet. Entgegen allen Deklarationen einer «Staatsmacht vom Typ der Pariser Kommune» war die personelle und institutionelle Kontinui­ tät sehr hoch.14 Dazu kamen jetzt Armeen junger, gebildeter Frauen aller möglichen, aber selten proletarischen Herkunft, die als Stenotypistin­ nen, Kontoristinnen usw. die nach allen Seiten hin auswuchernden Be­ hördenzüge bevölkerten und die es in dieser Anzahl früher so nicht ge­ geben hatte; oder städtische Newcomer vom Schlage Paustowskis, die sich das Kostüm einer «werktätigen Intelligenz» überzogen und auf die Seite der neuen Macht «übergingen».15 Noch dringender auf «bürgerliche Spezialisten» angewiesen war der von Lenin proklamierte «Staatskapitalismus», d. h. der Komplex der ­nationalisierten Großindustrien. Dessen höchstes Organ war ein «Obers­ ter Volkswirtschaftsrat», der sich auf die «Hauptabteilungen» (Glawki) in den zuständigen Ministerien, auf Reste der aus der zaristischen Kriegs­ wirtschaft übernommenen Syndikate und Kriegswirtschaftskomitees so­ wie auf einen Unterbau regionaler Wirtschaftsräte stützte. Um die Betriebe

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am Leben zu erhalten, mussten auf allen Ebenen «Spezialisten», oft so­ gar ehemalige Direktoren und Eigentümer, als Manager, Techniker oder Buchhalter mit vergleichsweise hohen Gehältern eingestellt oder weiter­ beschäftigt werden. Sogar mit einigen prominenten ehemaligen Groß­ industriellen (von denen ja nicht wenige vor 1914 die Bolschewiki alimen­ tiert hatten) wurden Gespräche geführt, um ganze Produk­tionszweige staatsmonopolistisch zu reorganisieren, ohne nennenswerte Resultate ­allerdings. Die Hass- und Verachtungsrhetorik und das Misstrauen mach­ ten jede konstruktive Zusammenarbeit letzten Endes unmöglich. Eine drastische Verschärfung des sozialen Drucks auf das Bürgertum bedeutete im Herbst 1918 die Zwangsverpflichtung zur Roten Armee, die auf alle gedienten Offiziere, also keineswegs nur die Berufsoffiziere ausgedehnt wurde. Bei Androhung schwerer Strafen gegen sie und ihre Angehörigen im Falle der Verweigerung oder der Flucht und unter der argwöhnischen Kontrolle ihnen beigeordneter politischer Kommissare und «Politruks» (Polit-Instrukteure) hatten sie als «militärische Spezia­ listen» zu dienen. Auf dem Höhepunkt des Kriegs zwischen Rot und Weiß im Jahr 1919 dienten im operativen Kommandostab und der Verwaltung der Roten Armee bereits mehrere zehntausend Offiziere, ebenso viele wie in den «weißen» Armeen und deutlich mehr, als die Rote Armee an «eigenen», aus den unteren Rängen beförderten und geschulten «Roten Kommandeuren» ins Feld stellen konnte. 1920, in der Zeit des Polen­ feldzugs, traten noch einmal 14 000 ehemalige Offiziere, selbst Mitglie­ der des alten Generalstabs, auf einen Aufruf Brussilows hin in die Rote Armee ein, nun schon ganz im Zeichen der patriotischen Verteidigung und Wiederherstellung «Rossijas», des großen Russland.16 Die diesen «bürgerlichen Spezialisten» zugewiesene Kommandogewalt und die wiederhergestellten Offiziersprivilegien mit besonderen Kanti­ nen, Grußpflicht usw. trafen auf das plebejische Ressentiment der un­ gleich schlechter versorgten Soldaten, die unter eine Militärdisziplin ge­ stellt wurden, wie die alte Armee sie in dieser bedingungslosen Härte nicht annähernd gekannt hatte. Im Konflikt mit ­ihren Kommissaren (die sie jederzeit verhaften und erschießen konnten) oder Vorgesetzten waren diese «Militärspezialisten» ohne gesetzliche Deckung. Umgekehrt bot die neue Armee allerdings jungen Offizieren, die sich der roten Sache mit Haut und Haaren verschrieben, auch steile Karrieren und militärischen Ruhm, wie die alte Armee ihn nicht hatte bieten können. Wenn etwa der aus altem, verarmtem Adel und dem kaiserlichen Kadettenkorps stam­ mende Oberleutnant der Zarenarmee, Michail Tuchatschewski, es nach

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seinem Eintritt in die Rote Armee 1918 binnen zwei Jahren zum General und Führer ganzer Armeen brachte, dann erinnerte das (so ein vielfach gezogener, für den Adressaten am Ende verhängnisvoller Vergleich) an die Karrieren, die Napoleon und seine jungen Generäle hatten machen können. Ähnlich wie mit den zwangsrekrutierten Offizieren und den «bürger­ lichen Spezialisten» in den Betrieben und Verwaltungen verhielt es sich mit dem Gros der «bürgerlichen Intelligenz», den Lehrern und Hoch­ schullehrern, Redakteuren oder Verlagslektoren, Schriftstellern und Journalisten, Forschern und Wissenschaftlern, die irgendwo eine Be­ schäftigung gefunden hatten  – oder auch nicht, und dann oft einfach verhungerten oder an leichten Krankheiten starben. In einem gereizten Briefwechsel mit Gorki, der sich, so zerrissen und zermürbt wie er war, mit halbherziger Rückendeckung Lunatscharskis den Schutz der entlas­ senen, verfolgten und verhafteten Intellektuellen und Wissenschaftler zur Hauptaufgabe gemacht hatte, schrieb Lenin den gewollt brutalen Satz: «Die Bourgeoisie und ihre Komplizen, die gebildeten Klassen, diese Lakaien des Kapitals, die sich selbst für den Kopf der Nation halten, … sind in Wirklichkeit nicht der Kopf, sondern die Scheiße der Nation.»17 (Was im Russischen ein Sprachspiel enthält: «golowa», Kopf, und «gowno», Scheiße.) Auch hier war das Bild allerdings nicht einheitlich. Inmitten von Ver­ armung und Hunger, von Zensur und Terror blühte ein fieberhaftes und improvisiertes Kunst- und Kulturleben, teils traditioneller und konven­ tioneller Art mit altetablierten Größen und lokalen Berühmtheiten, teils experimentell und von fiebriger Intensität mit einer Vielzahl neuer ­Namen und Organe, Bühnen und Plattformen. Es gab große Editionen und geschützte wissenschaftliche und künstlerische Institute, in denen viele, wenn sie Beziehungen hatten, unterkommen oder einfach weiter­ machen konnten. Es gab die Enthusiasten und Profiteure einer neuen ­Revolutionskunst und Kunstpropaganda, die selbstproklamierten Pio­ niere avancierter Techniken und Wissenschaften, die auf eigene Faust neue Institute mit phantastischen Abkürzungen wie das 1920 gegründete WCHUTEMAS (die «Höheren Künstlerisch-Technischen Werkstätten» in Moskau, mit Ablegern in der Provinz) gründeten. Und dann w ­ aren da die Beamten der zentralen Kultur- und Zensurbehörden und der partei­ nahen Ideologiestäbe, die ihrerseits aus allen möglichen sozialen Schich­ ten der alten Gesellschaft stammten und mit Eifer auf die vielfältigen Ange­bote und glänzenden Karrieren einstiegen, die sich ihnen eröffneten.

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Viele der intellektuellen und künstlerischen «Weggefährten» (eine fast amtliche Kategorie, die auch als «Mitläufer» übersetzt werden könnte) sowie der unpolitischen «Spezialisten», Fachleute und Manager, Inge­ nieure und Wissenschaftler, wurden aber bereits im Laufe der 1920 er Jahre durch ehrgeizige und angriffslustige Nachrücker ersetzt und im Zuge der «Kulturrevolution», der Säuberungskampagnen, Schaupro­ zesse und Verhaftungswellen gegen «bürgerliche Schädlinge» vor und nach 1930 ganz aussortiert. In den Schüben des Großen Terrors ab 1935/36 waren sie als «Ehemalige» oder «gewesene Leute» (wie der qua­ si-literarische, halbamtliche Begriff lautete) erneut designierte Objekte der Bereinigung der gesellschaftlichen Texturen – und teilten sich die Ge­ fängniszellen, Deportationszüge und Lagerpritschen mit den Enthu­siasten der ersten Jahre. Jedenfalls lebte die en masse produzierte neue, junge «Sowjetintelli­ genz», so viele Begabungen und starke Charaktere es unter ihr gab, in soziologischer Sicht von der intellektuellen Einebnung und der sozialen oder physischen Eliminierung der alten, «bürgerlichen» Intelligenz. Dass deren Erbe unter der Hand in dem neuen sowjetischen Bildungsbürger­ tum schließlich doch stilbildend wirkte und sogar in liebenswürdig anti­ quierten Formen weiterlebte (jede sowjetische Intelligenzlerwohnung der 1980 er Jahre ein kleines Museum der «Kultiviertheit»), während die «Akademiker» der Stalin-Ära vorzugsweise im feierlichen Gewand und steifen Gestus einer Geistesaristokratie auftraten, hatte dann allerdings wieder seine ganze eigene sozialpsychologische Schlüssigkeit. Der Vernichtung des Bürgertums folgte die der Arbeiterschaft. Die Me­ tallindustrien in Petrograd, deren 250 000  Arbeiter ein Zentrum der ­Arbeiterbewegung mit einem starken, im Herbst 1917 sogar dominanten bolschewistischen Flügel gebildet hatten, konnten schon im Frühjahr 1918 nur noch ein Fünftel ihrer früheren Belegschaften beschäftigen. Die «Nationalisierung» der Betriebe als Teil der Wendung zum «Staatskapi­ talismus» machte nicht zuletzt auch allen Formen einer tatsächlichen «Arbeiterkontrolle» durch die Betriebskomitees ein Ende und unterwarf die Belegschaften dem Diktat der neu oder wieder eingesetzten Direkto­ ren und vor allem der sie beaufsichtigenden Sowjetinstanzen. Das Lenin­ sche System von «Brotkarte und Arbeitspflicht» nahm für die Industrie­ arbeiter eine sehr konkrete Gestalt an. Während ihre Essensrationen auf ein halbes, bald ein Viertelpfund Brot und eine dünne Suppe am Tag he­ rabgesetzt wurden und es für die inflationär gedruckten Geldscheine, die

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als Löhne ausgezahlt wurden, fast nichts mehr zu kaufen gab, wurden die eingespielten Formen, in denen die Belegschaften in einem Teil ihrer Arbeitszeit kleine Gebrauchsgüter wie Feuerzeuge, Lampen oder Werk­ zeuge für die Tauschmärkte produziert hatten, nach Möglichkeit unter­ bunden. Viele der nur noch nominell Beschäftigten oder bereits Entlassenen ­waren genötigt, sich auf den verbotenen «Sackhandel» zu verlegen, an­ dere zogen sich ganz in die Dörfer zurück, aus denen sie oder ihre Fami­ lien kamen und in denen sie als Zimmerleute, Schmiede oder in den Haus­ industrien meist willkommen waren. Wieder andere, vor allem Mitglieder der «Roten Garden», schlossen sich dagegen, so wie Zehntausende demo­ bilisierter Soldaten und Arbeitsloser, den bewaffneten Organen an, von der Roten Armee über die «Versorgungsarmee» bis zur Tscheka, wobei ihr sozialer Status als «Arbeiter» und eine eventuelle Parteimitgliedschaft ihnen einen Startvorteil für Unteroffiziers- oder Kommissarskarrieren gab. Wer alphabetisiert und Parteimitglied war, suchte sich einen Platz im neuen, anschwellenden Heer der «Sowjetangestellten». Dagegen begannen die an den Werkbänken verbliebenen Arbeiter sich neu zu organisieren. Zu ihrer Unzufriedenheit trug nicht nur die Entmach­ tung ihrer «Fabrikkomitees» bei, sondern auch die Tatsache, dass ein Großteil, oft sogar die Mehrheit der Belegschaft sich in den warmen ­Büros herumdrückte und im Zweifelsfall besser versorgt war. Schon bei den Neuwahlen zu den Betriebs-, Lokal- und Provinz-Sowjets im April 1918 errangen in 19 von 30 Städten Russlands trotz aller Einschüchterun­ gen und Verfolgungen menschewistische und sozialrevolutionäre Kandi­ daten Sitze und Mehrheiten. Unverzüglich gingen sie daran, «Außerordent­ liche Versammlungen der Fabrik- und Werksvertreter» zu organisieren, die nichts anderes als eine Wiederbelebung der ursprünglichen «Sowjets der Arbeiterdeputierten» von 1905 und 1917 waren. Die existierenden «Sowjets», die dem neuen Staatswesen ihren Namen geben sollten, hat­ ten sich dagegen in subalterne, bürokratische Hilfsorgane verwandelt: «Das in unserem Namen errichtete Sowjetsystem ist uns inzwischen voll­ kommen fremd geworden», erklärten etwa die Streikenden der Fabrik von Sarmowo im Juni 1918.18 Die bolschewistische Regierung reagierte umgehend mit der Schließung von etwa 200 noch nicht gleichgeschalteten Zeitungen und Zeitschriften (als letzter auch Gorkis «Nowaja Shisn») und mit der gewaltsamen Auf­ lösung vieler der neugewählten Sowjets und Betriebskomitees. Eine Viel­ zahl von Proteststreiks und Demonstrationen in Petrograd und einigen

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Industrierevieren wurden von Tscheka-Truppen blutig unterdrückt. Da­ bei waren die Repressionen, die die organisierte Arbeiterschaft trafen, selten milder, manchmal noch brutaler als die gegen «Burshui» und Bau­ ern – so als im Frühjahr 1919 eine Welle neuer Streiks ausbrach, die sich von den Putilow-Werken in Petrograd auf nahezu alle industriellen Zen­ tren ausdehnte. Den Anstoß lieferte die erneute Verhaftung einer Reihe linker Sozialrevolutionäre. Die Forderungen der Streikenden waren jetzt direkt politischer Natur: Übertragung der wirklichen Macht an die Sow­ jets und unbehinderte Neuwahlen, Freilassung der Gefangenen der «au­ thentisch revolutionären Parteien», Beendigung der Privilegien für die Mitglieder der bolschewistischen Partei, Freiheit der Versammlung, Ver­ einigung, Presse sowie ein Ende der Zwangsrekrutierungen für die Rote Armee. Im Übrigen forderten die Arbeiter das Recht auf einen unbe­ schränkten, direkten Austausch mit dem Land und die Angleichung ihrer Lebensmittelzuteilungen an die der Roten Armee. Die Lage war so kritisch und der Streik von so hoher Symbolkraft, dass Lenin selbst, begleitet von Sinowjew, offenbar versuchte, vor Tausen­ den von Putilow-Arbeitern zu sprechen. Das dürfte sein einziger überlie­ ferter Versuch gewesen sein, vor Massen zu sprechen, die offen feindselig eingestellt waren. Er kam kaum zu Wort. Hier soll ihm und Sinowjew der Ruf «Nieder mit den Juden und Kommissaren» aus der Menge ent­ gegengeschallt sein – ein Beweis, dass man es mit «Schwarzhundertern» zu tun hatte! Dass unter den Menschewiki und linken Sozialrevolutionä­ ren, für deren Freilassung gestreikt wurde, der Anteil jüdischer Aktivisten besonders hoch war, zählte nicht. Die Begebenheit bot einen Vorwand mehr, um die bestreikten Petrograder Fabriken mit Tscheka-Einheiten zu stürmen. 900 Arbeiter wurden verhaftet, 200 Streikführer ohne Urteil hingerichtet. Die anderen wurden entlassen und nach einem ab jetzt fest etablierten Ritual erst wieder eingestellt, nachdem sie schriftlich bezeugt hatten, dass sie von konterrevolutionären Anführern zu «kriminellen Handlungen» angestiftet worden seien. Sie unterzeichneten damit das Todesurteil für ihre Kameraden  – eine Machttechnik, die die Bolsche­ wiki als eine universelle psychologische Zersetzungs- und Demoralisie­ rungsstrategie auch in rebellischen Dörfern einsetzten und überall sonst, wo sie auf Widerstand trafen.19 Nach demselben Muster wurden unter der direkten Leitung Dzier­ zynskis Streiks in den Waffenfabriken von Tula sowie im Textilzentrum Iwanowo-Wosnessensk und in einer Reihe anderer Orte gebrochen. In Astrachan, das ein vorgeschobener Stützpunkt im Kampf gegen die wei­

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ßen Armeen war, wurde ein Streik, dem sich meuternde Soldaten ange­ schlossen hatten, als ein «konterrevolutionärer Aufstand» behandelt. Sergej Kirow als zuständiger Armeekommissar befahl die «Vernichtung der weißgardistischen Nester mit allen Mitteln». Die Stadt, in der ein neu gewählter Sowjet die Macht übernommen hatte (wie zwei Jahre spä­ ter in Kronstadt), wurde militärisch eingeschlossen und erobert; 2000 bis 4000 Streikende und Meuterer wurden erschossen oder in der Wolga ertränkt.20 Dennoch traten im Frühjahr 1920 abermals fast drei Viertel aller noch verbliebenen Industriearbeiter Russlands in den Streik, zur Verzweiflung getrieben durch die nochmalige Verringerung der Rationen, die mit einer direkten «Militarisierung der Arbeit» verbunden war, wie sie vor allem von Trotzki als universelles Erziehungs- und Effektivierungsmittel pro­ pagiert wurde. Auch diese Streiks wurden gewaltsam gebrochen: Nach hinhaltenden, in drohendem Ton geführten Verhandlungen folgten die Erstürmung der Fabriken, die Verhaftung aller Aktiven, die Erschießung der Rädelsführer und die Verschickung ihrer als «Geiseln» genommenen Familienmitglieder in Konzentrationslager.21 Derartiges hatte es unter dem alten Regime nur in ganz vereinzelten Fällen gegeben, wie 1905 oder 1912, die sich dem Legendenschatz der Arbeiterbewegung tief ein­ geprägt hatten. Dagegen wurden die Streiks der Arbeiter gegen das Re­ gime der Bolschewiki über alle physischen Repressionen hinaus in einem Kokon des Schweigens erstickt. Irgendwelche Medien, darüber zu be­ richten, gab es schon nicht mehr. Daraufhin formierte sich innerhalb der Kommunistischen Partei selbst eine «Arbeiteropposition» – als eine von zwei letzten dissidenten Frak­ tionen in der Partei, bevor im Jahr darauf ein formelles Fraktionsverbot erlassen wurde. Diese «Arbeiteropposition» um Alexander Schljapni­ kow, Alexandra Kollontai und andere Bolschewiki der ersten Stunde forderte auf dem IX. Parteikongress, zumindest einige Rechte der Ge­ werkschaften und Betriebsräte wiederherzustellen, und verstieg sich im Übrigen zu der These, dass von allen Klassen der Sowjetrepublik «die Arbeiterklasse die einzige Klasse ist, die ein Sträflings-, ein schmähliches, elendes Dasein fristet». Ihre Kritik wurde von Lenin mit der Feststellung abgefertigt, es gebe doch in den meisten Betrieben überhaupt keine Arbei­ ter im marxistischen Sinne mehr, sondern nur noch Leute, die sich vor dem Militärdienst drückten, oder «allerlei zufällige Elemente».22 Was Schljapnikow wiederum zu der komisch-verzweifelten Replik veranlasste, dann müsse die Partei sich ja wohl als «die Avantgarde einer nicht exis­

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tierenden Klasse» betrachten.23 Soviel war richtig: Triumph und Diktatur der Bolschewiki beruhten nicht zuletzt auf der vollständigen Zerschla­ gung der russischen Arbeiterbewegung. Das große Drama im Hintergrund aller städtischen «Klassenkämpfe», aller Rundumschlachten gegen die weißen Armeen, aller Eroberungszüge bolschewistischer Expeditionsarmeen an den Peripherien des alten Rei­ ches waren die Bauernkriege im Innern Russlands, die sich am «Kreuzzug für das Getreide» entzündeten. Schon im Sommer und Herbst 1918 be­ fanden sich weite Gebiete des Landes latent oder offen im Aufstand. Viele Bauernsöhne leisteten im Winter, wenn die Nahrungsmittel knapp wur­ den, den Gestellungsbefehlen der Roten Armee Folge und desertierten im Sommer vor der Ernte. Manchmal lösten sich ganze Regimenter auf Ver­ abredung hin auf. Bei der Jagd nach Aufständischen und Deserteuren, die meist in der Nähe ihrer Dörfer lebten, wurden die Gemeinden mit Kol­ lektivstrafen belegt, unter den Verwandten Geiseln genommen. Viele der «Kontslager», in die sie gebracht wurden, waren wegen Hunger, Kälte und Seuchen zu wahren Todeslagern geworden. Zahlreiche Geiseln wur­ den auch gleich erschossen. In einem Tscheka-Bericht aus der Provinz ­Jaroslawl vom Juni 1919 heißt es zum Beispiel ganz routinemäßig: «Nach­ dem wir begonnen haben, einen Mann pro Deserteurs­familie zu erschie­ ßen, haben die Grünen begonnen, aus den Wäldern zu kommen und sich zu ergeben. 34 Deserteure wurden zur Abschreckung erschossen.»24 Die barbarische Härte und systematische Willkür dieser Repressionen fachte den bäuerlichen Widerstand immer von Neuem zum offenen Bür­ gerkrieg an. 1919/20 bildeten sich – meistens geführt von Anarchisten und Sozialrevolutionären – Bauernarmeen mit Zehntausenden von Be­ waffneten, die dazu übergingen, die Stützpunkte der Staatsmacht in den Provinzstädten militärisch anzugreifen und Vertreter der Partei rache­ halber zu exekutieren  – nicht selten in Ritualen der Grausamkeit, die exorzistische oder fast psychotische Züge trugen, so etwa durch die Kreuzigung der Gefangenen oder die Einritzung von Hammer und Sichel, bis sie verbluteten, oder selbst ihre Ausweidung bei lebendigem Leib.25 Erneut verlor die Regierung Lenins die Kontrolle über weite Gebiete, auch über solche, die sie eben erst den ukrainischen Nationalisten Petl­ juras oder den weißen Armeen Denikins und Koltschaks entrissen hatte. Die politischen und militärischen Führer dieser letzten großen Auf­ stände wie Nestor Machno in der Ukraine und Alexander Antonow in der zentralrussischen Provinz Tambow waren auf regionalen Kongres­

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sen gewählt worden, sahen sich als Vertreter einer legitimen republika­ nischen Selbstregierung und traten der Zentralmacht mit einem ausge­ arbeiteten Programm politischer Forderungen gegenüber: Beendigung der gewaltsamen Requirierungen, der Zwangsrekrutierungen für die Armee und der Geiselnahmen; Anerkennung der geschaffenen Selbstverwaltun­ gen (Sowjets); Freiheit der politischen Betätigung; Beendigung der bol­ schewistischen Alleinherrschaft, die als eine «Kommissarokratie» be­ zeichnet wurde, sowie freie Wahlen für eine neue Verfassunggebende Versammlung; Auflösung der Tscheka-Kommandos und sonstigen Spe­ zial­­truppen; Zulassung eines freien Handels, Minderung der Steuern, der Naturalabgaben und Zwangsarbeiten; sowie die definitive Übergabe des Landes in den freien Besitz derer, die es bearbeiteten. Doch kaum dass der Vormarsch der Roten Armeen auf Warschau im August 1920 mit einem verlustreichen Rückzug abgebrochen werden musste und die letzte Bedrohung durch die «weiße» Krim-Armee Wran­ gels eliminiert war, wandten sich die vom Schlachtenstaub bedeckten ­Divisionen der Roten Armee unter ihren erprobtesten Heerführern wie Tuchatschewski und Budjonny mit 100 000  Soldaten, mit Kavallerie, Artillerie (die auch Gasgranaten in die Wälder schoss, um die Rebellen «auszuräuchern») und Flugzeugen gegen die kleineren, schlechter be­ waffneten und kaum koordinierten aufrührerischen Rotten der Bauern mit dem erklärten Ziel, sie vollständig und endgültig zu vernichten. Dieser letzte russische Bauernkrieg zog sich über ein volles Jahr vom Herbst 1920 bis zum Herbst 1921 hin und erfasste nicht nur einige zen­ tralrussische Provinzen, sondern noch einmal auch das Wolgagebiet und Westsibirien. Die Brutalität der Unterdrückung überstieg jedes Maß. Hunderte von Dörfern und kleinen Ortschaften wurden abgebrannt, ihre Bewohner deportiert. Ein von Tuchatschewski und Antonow-Owse­ jenko unterzeichneter Tagesbefehl im Juni 1921 befahl die sofortige ­Erschießung eines jeden, der seinen Namen nicht nannte, Waffen besaß oder einen Rebellen verborgen hielt. In größerem Umfang als je wurden Geiseln genommen; Denunzianten wurden belohnt, indem sie das Gut der Denunzierten überschrieben bekamen.26 Das war von der Idee, den «Klassenkampf ins Dorf zu tragen», geblieben. Der letzte Akt des Bürgerkriegs war von unüberbietbarer Symbolik und führte das Regime der Bolschewiki im Frühjahr 1921 ungeachtet aller Siege noch ein letztes Mal an den Rand des Abgrunds – als in den Petro­ grader Betrieben und einigen anderen Industrierevieren abermals ver­

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zweifelte, man darf schon sagen: todesmutige Streiks und Demonstra­ tionen ausbrachen, denen sich im Februar auch die Matrosen der Schlachtschiffe und die gesamte, von ihrem lokalen Sowjet geführte Be­ völkerung der «Kommune von Kronstadt» anschlossen, dem Haupt­ bollwerk aller bolschewistischen Machtdemonstrationen des russischen Revolutionsjahres 1917. Auslöser der Unruhen waren eine erneute Kürzung der Lebensmittel­ rationen und das Erliegen jeglichen menschenwürdigen Lebens in den ungeheizten Fabriken, Kasernen und Wohnungen. «Die Unzufriedenheit ist allgemein», meldete die Informationsabteilung der Tscheka bereits im Januar. «In Arbeiterkreisen wird der baldige Fall des Regimes vorherge­ sagt. Niemand arbeitet, die Leute haben Hunger. Streiks von großer Aus­ dehnung stehen bevor. Die Einheiten der Moskauer Garnison werden immer unsicherer und können in jedem Moment unserer Kontrolle ent­ gleiten. Prophylaktische Maßnahmen sind dringend geboten.» Die Revolution schien an ihren Ausgangspunkt im Frühjahr 1917 zu­ rückzukehren. In Petrograd wählten die Arbeiter der großen Fabriken am 22. Februar 1921 erneut eine «Versammlung der Arbeiterdeputier­ ten», in der Menschewiki und Sozialrevolutionäre den Ton angaben und Forderungen formulierten, die über die der Vorjahre noch hinausgingen. Als Tscheka-Einheiten das Feuer auf Demonstranten eröffneten und zu Massenverhaftungen schritten, gingen Tausende (allerdings unbewaff­ nete) Soldaten der Garnison auf die Seite der Demonstranten über. Sino­ wjew, der Parteichef von Petrograd, sandte ein dringendes Telegramm an Lenin: «Die Arbeiter haben Kontakt mit den Soldaten in den Kasernen aufgenommen. (…) Wenn nicht binnen weniger Stunden zuverlässige Truppen eintreffen, werden wir überrannt.»27 Am folgenden Tag brach die Meuterei in Kronstadt aus, wo ein Revo­ lutionskomitee gebildet wurde, das gleichfalls einen kompletten Katalog gesellschaftlicher Forderungen aufstellte und ins Land hinausfunkte. Auch ein Gutteil der bolschewistischen Parteimitglieder in Kronstadt und Petrograd schloss sich an. Diese Situation zwang das Regime der Bolschewiki zu einem histori­ schen Offenbarungseid. Die Forderungen der Streikenden und Meuterer lagen noch immer auf der Linie eines freiheitlichen Sozialismus, bedeu­ teten aber unausweichlich das Ende der bolschewistischen Alleinherr­ schaft. Dazu aber waren die Führer der Partei keinen Moment bereit – schon weil es nach dem Massenterror der Vorjahre für sie tatsächlich keine Rückkehr zu einer friedlichen und demokratischen politischen

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Auseinandersetzung mehr gab. So wurden die Streikenden und Meuterer in fast schon routinemäßiger Hasspropaganda als «Sozialrevolutionäre-­ Schwarzhunderter» verleumdet, die von ausländischen Mächten bezahlt und angestachelt seien. Während zusammengezogene Tscheka-Truppen mit Gewalt gegen die Streikenden der Petrograder Fabriken vorgingen und Tausende verhafte­ ten, wurde unter dem Kommando Tuchatschewskis eine Freiwilligen­ armee von 10 000 Mann zum Sturm auf Kronstadt angesetzt, das nach zehn Tagen schwerer Bombardements und verlustreicher Kämpfe schließ­ lich über das Eis gestürmt wurde. Hunderte Gefangene wurden an Ort und Stelle erschossen, Tausende kamen in die Eismeerlager von Perto­ minsk und Cholmogory, wo ein Teil der Gefangenen nach einem schon üblich gewordenen Verfahren in der Dwina-Mündung gefesselt ertränkt wurde, während andere auf die Solowki-Inseln im Eismeer verbracht wurden, das erste dauerhafte Lager für Opponenten des Regimes, der Beginn des späteren GULag-Systems. Im Jahr darauf wurden tausende nach Finnland geflüchtete Aufständische mit falschen Versprechungen zurückgelockt und ebenfalls in die Lager verschickt, während noch ein­ mal mehr als 2500 Zivilisten aus Kronstadt nach Sibirien verbannt wur­ den. Nur wenige kehrten lebend zurück.28 Das war ein Strafgericht, das in seiner exemplarischen Brutalität die Massaker unter den Pariser Kommunarden, die sich eben zum 50. Male gejährt hatten, um ein Vielfaches übertraf. Und das ganz bewusst: Wie Paris 1871, sollte Kronstadt 1921 ein sichtbares Fanal des Schreckens sein, das einen Schlusspunkt unter den Bürgerkrieg setzte – ein Fanal, das unweigerlich Marx’ Wort vom «Kannibalismus der Konterrevolu­ tion» in Erinnerung rufen musste. Aber solche Reminiszenzen und Ver­ gleiche konnte man nur noch in der weltweit verstreuten sozialistischen und anarchistischen Emigrantenliteratur finden, die in den Gastländern wenig gelesen wurde. Die Nachkriegswelt ging zur Tagesordnung über und war der «Tatarenmeldungen» aus Russland überdrüssig.

Der letzte Akt Erst als die «Kommune von Kronstadt» vor dem Fall stand, legte Lenin auf dem gleichzeitig tagenden X. Parteitag im März 1921 das Ruder ­herum und verkündete den Übergang zu einer «Neuen Ökonomischen Politik», deren Kernstück die Ersetzung der willkürlichen Zwangsabga­

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ben durch eine feste «Natural-Steuer» sein sollte. Lenin gab sich schein­ bar einsichtig, als er sagte: «Wir wissen, dass nur eine Verständigung mit der Bauernschaft die sozialistische Revolution in Russland retten kann … So wie es bisher war – dieser Zustand ist nicht länger haltbar.» In Wirk­ lichkeit handelte es sich zunächst aber nur um eine gewisse Mäßigung der Zwangsabgaben  – auf jene Menge, die in der Requirierungskam­ pagne des Winters auch real zusammengebracht worden war. Nach wie vor hatte die Versorgung der Städte und des eigenen Apparats Vorrang: Die Bauern, verkündete Lenin, müssten noch weiterhin «etwas Hunger leiden», um «die Fabriken und die Stadt vom Hunger zu befreien».29 Der Zynismus dieser leutseligen Bemerkung enthüllt sich erst vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die Ernte des Jahres 1920 auf weniger als die Hälfte der Vorkriegserträge gefallen war, wegen einer Dürre (der im Jahr darauf eine zweite folgen sollte), vor allem aber wegen der ver­ stärkten Zwangsrekrutierungen für den großen Westfeldzug der Roten Armee nach Warschau und darüber hinaus. Gebietsweise waren 30 bis 50 % der jungen Männer zur Armee eingezogen worden, mehr als im Weltkrieg. Gleichzeitig lagen die Zwangsabgaben höher denn je, auch in Gebieten mit einer schweren Missernte wie denen an der Wolga, die zu ihrem Unglück besonders gut per Bahn erreichbar waren und daher seit 1918 in allererster Linie der Versorgung der Hauptstädte hatten die­ nen müssen. Diese ihnen gewaltsam abgenommenen Getreidevorräte beraubten die Bauern vielfach ihrer letzten Reserven und teilweise schon des Saatgutes für das kommende Jahr, obwohl ihr eigener ProKopf-Verbrauch auf ein Drittel des Niveaus von 1914 gefallen war und bereits an Unterernährung oder offenen Hunger grenzte. Eine Katastro­ phe war damit vorprogrammiert. Die Dürre des Sommers 1921 tat ein Übriges.30 Im übrigen war Lenin noch immer nicht bereit, die «Ernährungsdikta­ tur» aufzugeben und einen freien Handel zuzulassen. Dabei war gerade die Zeit zwischen Frühjahr und Herbst 1921, als der Hebel endlich um­ gelegt wurde, auch die letzte Frist, die für Millionen Menschen über Sein oder Nichtsein entschied. Die weiterschwelenden Aufstände in Tambow und in anderen Gebieten trugen bereits Züge äußerster Verzweiflung, die mit der drohenden Hungerkatastrophe zu tun hatte. Auf einer Konfe­ renz im Juni berichteten die Verantwortlichen der von «Ernährungs­ schwierigkeiten» betroffenen Provinzen, dass die Bauern seit Jahres­ beginn kaum mehr zu essen hatten und dabei seien, das Saatgut zu ver­ zehren.31 Ungeachtet dessen sandten Lenin und Molotow noch am

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30. Juli 1921 ein Telegramm an alle Bezirks- und Provinzkomitees der Partei, worin sie aufgefordert wurden, für eine pünktliche und vollstän­ dige Ablieferung der Naturalsteuern zu sorgen.32 Noch immer hatte Lenin sich von den schrecklich schlichten Illusio­ nen des «Kriegskommunismus» nicht gelöst, den er im Rückblick «selbst­ kritisch» so beschrieb: «Wir waren der Meinung, dass uns die Bauern aufgrund der Ablieferungspflicht die notwendige Menge Getreide liefern und wir es auf die Fabriken und Werke verteilen werden, und dass wir dann eine kommunistische Produktion und Verteilung haben werden.»33 Im Herbst gab er endlich zu, dass auch der letzte Versuch einer Eintrei­ bung der «Naturalsteuern» gescheitert sei: «(Der) Privatmarkt hat sich als stärker erwiesen als wir, und statt des Warenaustausches ist gewöhn­ licher Kauf und Verkauf, ist Handel zustande gekommen.» Erst jetzt ließ sich von einer wirklichen «Neuen Ökonomischen Politik» (NEP) spre­ chen, wurden der Einzelhandel und die Kleinproduktion freigegeben, und konnten die Bauern einen Teil ihrer Ernte – nach Ablieferung der «Naturalsteuer» bei den staatlichen Ankaufstellen  – selbst vermarkten. Gleichzeitig entschloss sich die Regierung der Volkskommissare wider­ strebend, ein informell entstandenes «Komitee zum Kampf gegen den Hunger» zu legalisieren, in dem sich viele der bekanntesten Agrar- und Wirtschaftswissenschaftler, Ärzte und Schriftsteller des Landes unter dem Protektorat Gorkis zusammengeschlossen hatten – nur um dieses Komitee kaum einen Monat später schon wieder aufzulösen und einige seiner führenden Mitglieder zu verhaften. Der Sinn dieser scheinbar ziellosen Politik enthüllte sich, als die Sowjet­ regierung beschloss, den Hunger offensiv und in eigener Regie als eine moralische Waffe ihrer inneren und äußeren Politik einzusetzen. Sie selbst gründete jetzt eine zentrale «Staatskommission der Hilfe für die Hungernden» und appellierte an die internationale Arbeiterklasse, aber auch an die karitativen Organisationen und Regierungen des westlichen Auslandes, Hilfe zu leisten. Neben der Trockenheit machte sie die «in­ ternationale Blockade» Sowjetrusslands verantwortlich – sie sei es, die die Menschen in Russland zum Hungertod verurteile! Dieser Appell, über Gorki, der das Land schon verlassen hatte, an füh­ rende Intellektuelle des Westens weitergeleitet, entfaltete eine gewaltige Wirkung. Fridtjof Nansen, Flüchtlingskommissar des Völkerbundes, ­koordinierte die Aktivitäten einer Reihe karitativer Organisationen, ins­

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besondere des Roten Kreuzes und der von Herbert Hoover geleiteten «American Relief Administration» (ARA), die auf dem Höhepunkt der Hungersnot elf Millionen Menschen täglich speisten und retteten. Dane­ ben war es die «Internationale Hungerhilfe» des Willi Münzenberg, die in Deutschland und anderen Ländern Europas das Mitleid mit dem hun­ gernden Russland in politische Sympathie umzuwandeln verstand. Durch ihre Einladung zur Weltwirtschaftskonferenz in Genua im Frühjahr 1922, die nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund der Hunger­ katastrophe zustande kam, gelang es der Moskauer Räteregierung, ihr internationales Pariadasein zu überwinden. Aber wie der am Rande die­ ser Konferenz unterzeichnete Vertrag von Rapallo zwischen Sowjetruss­ land und dem ebenfalls erstmals auf dieser Ebene wieder zugelassenen Deutschland ein diplomatischer Coup ersten Ranges war, so war er für eine Politik des friedlichen Ausgleichs Sowjetrusslands mit seinen Nach­ barstaaten und den westlichen Mächten ein neues Hindernis. Moskau weigerte sich für alle Welt sichtbar und ein für alle Mal, die goldene Brü­ cke einer Reintegration in die Weltwirtschaft zu betreten. Ein interna­ tionales Konsortium für den Wiederaufbau Russlands, wie es in Genua als Teil eines großen Plans zur Entschärfung der globalen Schuldenkrise zur Verhandlung gestanden hatte, war für die Bolschewiki eine Horror­ vorstellung. Genau zu dieser Zeit, im Frühjahr 1922, erreichte der Hunger in Russ­ land seinen Höhepunkt. Nicht weniger als 29 Millionen Menschen, ein Fünftel der Gesamtbevölkerung, in einigen Provinzen mehr als die Hälfte der Menschen, litten an Unterernährung; mehr als 5 Millionen starben, viele auf den Straßen der Städte, den Eisenbahnstationen, in den Binnen­ häfen. Millionen verließen ihre Siedlungen und begaben sich auf eine ­unbestimmte Wanderung, als flöhen sie vor der Pest, darunter Hundert­ tausende, schließlich sogar Millionen verwaister Kinder, «besprisorniki», Unbeaufsichtigte), die sich zu kriminellen Gangs oder in regelrechten Kinderrepubliken zusammenschlossen. Kannibalismus war keine Aus­ nahmeerscheinung mehr, sondern in vielen Gebieten fast die Regel ge­ worden. Die Lebenden aßen ihre Toten. Menschenfleisch wurde auf den Märkten angeboten. Die Katastrophe war mit früheren Naturkatastrophen nicht entfernt zu vergleichen. Dabei waren die klimatischen Umstände der großen Hungersnot des Jahres 1891/92 ganz ähnlich gewesen, aber dank der Mobilisierung der Zivil­gesellschaft hatte diese nur ein Zehntel der Opfer von 1921/22 gekostet. Diesmal handelte es sich um eine sehenden Auges

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«gemachte», nicht ­gewollte, aber in Kauf genommene und kaum wirk­ sam gemilderte Katastrophe.34 Schon damals (1891/92) habe Lenin, wie ein Hagiograph in einer späteren sowjetischen Publikation schrieb, als einziger «den Mut» gehabt habe, «offen zu erklären, dass die Hungers­ not viele positive Konsequenzen habe», indem sie nämlich mit «der Zer­ störung der rückständigen bäuerlichen Wirtschaft … uns unserem End­ ziel, dem sich direkt an den Kapitalismus anschließenden Sozialismus, objektiv ein Stück näher» bringt.35 Jetzt, 1921/22, war der Hunger nicht nur die ultimative Waffe im Kampf mit dem widerstrebenden Bauerntum. Sondern darüber hinaus diente er auch als Vorwand, um einen letzten, entscheidenden Schlag gegen die ­orthodoxe Kirche und die liberale und sozialistische Intelligenzija zu führen. Auch jetzt hatte Lenin «den Mut», die Hungersnot zu nutzen, um sein Regime weiter zu festigen und das auch offen (wenngleich nicht öffentlich) auszusprechen: «Jetzt, und nur jetzt bei all den ausgehunger­ ten, sich von Menschenfleisch ernährenden Leuten und den mit Hunder­ ten, Tausenden von Leichen übersäten Straßen können (und müssen) wir mit energischem Eifer und ohne Erbarmen den Kirchenbesitz konfiszie­ ren. Genau jetzt und nur jetzt  … ist der Augenblick, die Priester der Schwarzen Hundert niederzumachen, und zwar mit einer solchen Ent­ schiedenheit, Erbarmungslosigkeit und Brutalität, dass sie sich noch jahrzehntelang daran erinnern werden.» Das schrieb er in einem Brief an die Mitglieder seines Politbüros vom 19. März 1922, der aus der Zusam­ menstellung seiner «Werke» allerdings ausgeschlossen blieb und erst in den 1990 er Jahren im Zentralen Parteiarchiv (zusammen mit 122 ande­ ren, oft ähnlich haarsträubenden Telegrammen und Anweisungen) ent­ deckt und veröffentlicht wurde.36 Nach Angaben von Exilautoren, die später in einer sowjetischen Pu­ blikation bestätigt worden sind, wurden allein 1922 knapp 2700 Welt­ priester, knapp 2000 Mönche und 3500 Nonnen «liquidiert», im Zuge von beinahe 1500, zuweilen spektakulären «Zwischenfällen», bei denen Gläubige und Geistliche sich der Konfiszierung von Kirchenbesitz, vor allem von Sakralgegenständen, und einer demonstrativen Entweihung der Heiligtümer widersetzt hatten.37 Die Kirchenführer, darunter Patri­ arch Tichon und eine Reihe von Metropoliten, die von sich aus angebo­ ten hatten, Kirchengold für die Hungernden zu spenden, aber gegen die Beraubung der Kirchen und Klöster protestiert hatten, wurden inhaftiert und teilweise in Schauprozessen abgeurteilt.

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Diesem Schlag gegen die Kirche war im Juni 1922 ein spektakulärer, von internationalen Beobachtern begleiteter Schauprozess gegen 34 noch im Lande befindliche Führer der Partei der Sozialrevolutionäre vorge­ schaltet, der mit einer Reihe von Todesurteilen (die nach internationalen Protesten dann in langjährige Lagerstrafen umgewandelt wurden) endete. Parallel dazu wurde Anklage erhoben gegen die Mitglieder des zivilen Hilfskomitees für die Hungernden, das die Iswestija als «Hilfskomitee für die Konterrevolution» bezeichnete. Als Fürsprecher der Verhafteten bei der Tscheka-Führung vorstellig wurden und darauf hinwiesen, dass diese kein einziges Gesetz übertreten hätten, gab ihnen der stellvertre­ tende Vorsitzende Unszlicht ohne Weiteres recht: «Aber es (das Komitee) spielte die Rolle eines gesellschaftlichen Kristallisationspunktes. Und das können wir nicht zulassen.»38 Alle diese sorgsam orchestrierten Anklagen und Prozesse waren erste Probeläufe für die Anwendung eines neuen Strafrechts, für das Lenin in einem Brief an den Justizminister Kurski einen Sonderparagrafen vorge­ schlagen hatte, der den Terror in eine juristische Form bringen und über die Ausnahmesituation des Bürgerkriegs hinaus verstetigen und regula­ risieren sollte. Das neue Strafrecht müsse «den Terror … prinzipiell, klar, ohne Falsch und ohne Schminke begründen und gesetzlich verankern». Dieser Artikel müsse «so weitgefasst wie möglich sein, denn nur das revo­ lutionäre Rechtsbewusstsein und das revolutionäre Gewissen legen die Bedingungen fest für die mehr oder minder breite Anwendung in der Pra­ xis».39 Daraus entstand der immer weiter ausgefeilte Artikel 58 des sow­ jetischen Strafgesetzbuchs für «gegenrevolutionäre Verbrechen», der es dem sowjetischen Staat erlaubte, fast alles zu bestrafen, was ein Mensch tun oder lassen, denken oder sagen konnte – ein Artikel, nach dem Mil­ lionen Menschen in den folgenden drei Jahrzehnten zu fünf-, zehn-, fünf­ zehn- oder zwanzigjähriger Lagerhaft oder Verbannung als den «Nor­ malmaßen» oder mit der Erschießung als dem «Höchstmaß» bestraft wurden. In seinem «Archipel Gulag» nannte Alexander Solschenizyn die 14 Absätze dieses in seiner Phantastik, wie er fand, noch gar nicht aus­ reichend gewürdigten Artikels Blätter «eines Fächers, der alle Facetten der menschlichen Existenz» bedecke. Und: «Wo ein Gesetz ist, da findet sich auch das Verbrechen.»40 Doch das alles war noch nicht genug. Für einen letzten, großen, intel­ lektuellen Kehraus entwickelte Lenin einen detaillierten Plan zur «Aus­ weisung von Schriftstellern und Professoren, welche die Konterrevolution unterstützen» – ein Unternehmen, das durch die Anlegung vollständiger

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Listen von Verdächtigen, die Durchforstung ihrer Vergangenheit, ihres Schrifttums usw. systematisch vorbereitet und vorangetrieben werden sollte. Im August 1922 wurde daraufhin eine erste Gruppe von 160 ­renommierten Intellektuellen, Philosophen, Schriftstellern, Historikern und anderen Professoren zwangsweise auf zwei deutsche Schiffe, die legendär gewordenen Philosophendampfer, verbracht und mit einem ­ kleinen Koffer in der Hand und 20 Dollar in der Tasche ins westliche Ausland expediert. Unter den insgesamt mehr als 220  Ausgewiesenen waren die Philosophen Nikolai Berdjajew, Sergej Bulgakow und Semjon Frank (die Hauptautoren der «Vechi» von 1909), Fjodor Stepun und Iwan Iljin, der Soziologe Pitrim Sorokin, der Schriftsteller Michail Ossor­ gin sowie ganze Kontingente von Wissenschaftlern, Ärzten, Juristen, Journalisten und Ingenieuren. Für Dzierzynski war diese Aktion – die er als Gnadenakt deklarierte – erst der Anfang. In einer internen Direktive vom September 1922 ver­ langte er: «Jeder Intellektuelle muss bei uns eine Akte haben.» Lenin for­ derte seinerseits in einem Memorandum die «Ausweisung der Mensche­ wiki, der Volkssozialisten, der Kadetten usw.», die immer noch in Uni­ versitäten oder Kliniken, Verlagen oder Redaktionen tätig seien: «Wir werden Russland ein für allemal säubern.»41 Das war der große, lei­ tende, immer wiederkehrende Gedanke, der sich in diesen Jahren einer vorläufigen Vollendung näherte. Jetzt, da er auf der ganzen Linie (so schien es) gesiegt hatte, wurde Lenin immer unruhiger, wütender, fast verzweifelter, und das nicht nur wegen der Schlaganfälle, die seine Arbeits-, Schreib- und Sprechfähigkeit zu­ nehmend einschränkten. Vielmehr entsprang diese Unruhe der Einsicht, dass seine ungeteilte, scheinbar totale Macht dicht an Ohnmacht grenzte – so als er in seiner letzten öffentlichen Bilanz auf dem Parteitag 1922 ­(offenkundig auf sich selbst bezogen) sagte: «Das Steuer entgleitet den Händen: Scheinbar sitzt ein Mensch da, der den Wagen lenkt, aber der Wagen fährt nicht dorthin, wohin er ihn lenkt, sondern dorthin, wohin ein anderer ihn lenkt – jemand, der illegal ist, der gesetzwidrig handelt, der von Gott weiß woher kommt, Spekulanten oder Privatkapitalisten, oder die einen und die anderen zugleich  –, jedenfalls fährt der Wagen nicht ganz so und sehr häufig ganz und gar nicht so, wie derjenige, der am Steuer dieses Wagens sitzt, sich einbildet.»42 Paranoid wie das war  – Kapitalisten und Spekulanten griffen ins Steuer und lenkten den Staatswagen woanders hin, als er sollte … –, war

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dieses Bild auch realistisch. Die geschichtsphilosophische Parallele, die Lenin für sich und seine Partei zog, war vielleicht noch bemerkenswer­ ter, weil gänzlich unverblümt: «Man hat uns gelehrt: es kommt vor, dass ein Volk ein anderes unterwirft, und dann ist dieses Volk, das ein ande­ res unterworfen hat, das Eroberervolk … Wenn das Eroberervolk eine höhere Kultur hat als das besiegte Volk, dann zwingt es ihm seine Kultur auf, ist es aber umgekehrt, dann kommt es vor, dass das besiegte Volk seine Kultur dem Eroberer aufzwingt.» Genau das sei den Bolschewiki am Ende eines fünfjährigen, siegreichen Bürgerkriegs nun passiert. Da­ bei besäßen die Besiegten nicht einmal eine sonderlich hohe Kultur: «Ihre Kultur ist armselig, … aber dennoch steht sie höher als die unsrige, … höher als die unserer verantwortlichen kommunistischen Funktionäre, weil diese die Kunst der Verwaltung nicht genügend beherrschen.»43 Der Vergleich der Bolschewiki mit einem «Eroberervolk» oder mit Kolonisa­ toren war in vielen Varianten geläufig. Stalin nannte die bewaffnete Par­ tei einmal einen «Schwertbrüderorden», was eine bemerkenswerte An­ spielung auf die Kolonisierung und gewaltsame Christianisierung der baltischen Länder durch den Livländischen Ritterorden im späten Mit­ telalter enthielt. Betrachtet man die Bolschewiki als eine aus aktivistischen Elementen aller Klassen, Schichten und Ethnien der alten Gesellschaft synthetisierte neue Elite, dann erscheint der Fanatismus, mit dem sie den Sturz, die De­ gradierung oder auch die physische Eliminierung der alten Eliten betrie­ ben, weniger «ideo-logisch» als ganz praktisch-sozialdarwinistisch be­ gründet. Die durch die Implosion des alten, autokratischen Staatswesens und durch einen bewusst destruktiven «Klassenkampf» erzeugte soziale Leere schuf einen Raum rapider Aufstiegs- und vitaler Selbstverwirk­ lichungsmöglichkeiten für alle, die bei diesem Griff nach der «ganzen Staatsmacht» und potentiell nach der Weltmacht mit von der Partie wa­ ren. Napoleons geflügeltes Wort vom Soldaten, der einen Marschallstab im Tornister trage, oder das Versprechen der «Internationale», heute «nichts» und morgen «alles» zu sein, konnten sich für die Mitglieder dieser neuen, im Feuer des Bürgerkriegs sich härtenden Kohorte fast wortwörtlich erfüllen. Nikolai Berdjajew, 1922 einer der Ausgewiesenen an Bord des Philo­ sophendampfers, brachte das auf die hellsichtige Formel, dass in Russ­ land alle früheren Klassen im Kern vernichtet worden seien – der Adel und die Bourgeoisie ebenso wie die Arbeiterschaft, nur die Bauernschaft (noch) nicht. Inmitten dieses gewaltigen sozialen Vernichtungswerks

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habe sich «eine neue, nicht so sehr soziale, als vielmehr anthropologi­ sche Schicht gebildet», durch eine «Auslese der biologisch Stärksten». Ihre Zentralfigur sei «der junge Mann in dem nach englischem Muster zugeschnitten Soldatenrock, glatt rasiert, von militärischem Typus, sehr energisch, tüchtig, vom Willen zur Macht besessen». Er, nicht die Figur des «alten Kommunisten, die am Aussterben ist», sei die unheilvollste Erscheinung im neuen Russland.44 Das sah die Entwicklungen, die im Stalinismus zusammenliefen, schon weit voraus.

5. Das neue alte Reich

Stalin, der Gründer

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talin trat mit voller Montur aus Lenins und Trotzkis Schatten, als er im Juni 1918 in einem gepanzerten Zug, ausgerüstet mit Telegraf und Büro (das seine junge Frau Nadeshda betrieb), mit Kisten voller Geld und Wertsachen sowie mit einer bewaffneten Sondereinheit von 460 Mann, darunter einer Abteilung Tschekisten, als Bevollmächtigter für die Getreidebeschaffung von Moskau nach Zarizyn an der unteren Wolga entsandt wurde. Das ganze Jahr 1917 hindurch hatte er bereits zum inneren Zirkel der Macht gehört, war als rastloser Organisator, Redakteur der «Prawda» und Redner tätig gewesen, wobei er wegen seiner leisen, bedächtigen, fast phlegmatisch wirkenden Redeweise, die später zu seinem Markenzei­ chen wurde, allerdings keinen solchen Eindruck hinterlassen haben dürfte wie die großen Redner der Partei, allen voran Trotzki. Bei den wichtigsten Entscheidungen  – dem Oktoberaufstand wie dem Brester Frieden – hatte Stalin zu den Skeptikern gehört, ohne sich jedoch zu expo­ nieren. Letztlich war er immer, wenn auch mit Bedenken, Lenin gefolgt. Dennoch bedeutete seine Entsendung nach Zarizyn, das im Sommer 1918 als Verkehrsknotenpunkt für die Belieferung der hungernden Haupt­ stadt von entscheidender Bedeutung war, ein erstes Heraustreten aus sei­ ner eher zurückgenommenen Rolle. Kaum angekommen, etablierte er ein Schreckensregime, das in seiner methodischen Willkür herausstach, auch weil der Terror sich zum Gutteil gegen «bürgerliche Militärspezialisten» richtete, die auf Befehl Lenins und Trotzkis mit einer hastig zusammen­ gewürfelten Truppe die Stellung gegen Kosaken und «Weiße» hielten. Sta­ lin, der überall Verrat witterte, ließ Dutzende von ihnen verhaften, unter Foltern verhören und auf einer Barke im Fluss internieren, auf der sich bald 400 Arrestierte drängten, wo sie langsam verhungerten, verdurste­ ten, an Krankheiten starben, erschossen wurden oder unter den Foltern starben (vom Absägen von Händen und Füßen als einer Spezialmethode der Zarizyner Tscheka ist die Rede). Man kann es ein Modell-Todeslager nennen.1

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Trotzki, der weiter oben an der Wolga die Front hielt und seinerseits mit exemplarischen oder auch summarischen Erschießungen – darunter in einem berühmten Fall die Hinrichtung eines «Kommissars»  – eine neue, eiserne Disziplin herzustellen suchte, sandte Telegramme, die Sta­ lin ignorierte, und schickte Bevollmächtigte, die zumindest einige seiner besten Offiziere retten konnten. Aber Tatsache war eben auch, dass Sta­ lin mit seinem Schreckensregiment, seiner intensiven Propagandaarbeit und erfolgreichen Mobilisierung frischer Roter Garden aus dem lokalen Proletariat seinerseits die Front hielt und einige Züge mit dem verspro­ chenen Getreide losschickte. Gleichzeitig schuf er sich zusammen mit seinem Armeekommissar Kliment Woroschilow ein eigenes Korps von Gefolgsleuten, die bald darauf als eine proletarische «Militär-Opposi­ tion» gegen den Aufbau einer professionalisierten und zugleich aus bäu­ erlichen Wehrpflichtigen rekrutierten Armee auftraten. Im Oktober sorgte Trotzki dafür, dass Stalin abberufen wurde. Das war allerdings nicht das Ende der Querelen. Im März 1919 kamen sie schließ­ lich vor dem Forum des Parteitags zum Austrag, auf dem die «Mili­ tär-Opposition» eine Niederlage erlitt. Stalin beharrte darauf, dass die bürgerlichen «Militärspezialisten» grundsätzlich unzuverlässig seien; und auch die Bauernsoldaten würden «nicht für den Sozialismus kämp­ fen … Freiwillig werden sie nicht kämpfen».2 Wichtiger als alles andere sei deshalb eine Stärkung der Parteiarbeit und der Kommissare in der Armee  – eine Position, mit der Lenin wie Trotzki schließlich überein­ stimmen konnten. So wurde nicht nur ein Großteil der neuen Parteimitglieder in die ­Armee geschickt, deren politisches Rückgrat sie bilden sollten. Auch das Kommissarswesen wurde massiv ausgebaut und durch «Politruks» (Politische Instruktoren) ergänzt, die mittels Alphabetisierungskampa­ gnen und permanenter Indoktrination aus der Roten Armee eine Schule der sozialistischen Nation machen sollten, was teilweise auch gelang. Nachdem Trotzki die beiden entscheidenden Schlachten gegen den im Oktober bis an die Tore Petrograds vorgerückten General Judenitsch bei Zarskoje Selo und den bis auf 120 Kilometer auf Moskau vorgerückten General Denikin bei Orjol kurz nacheinander für sich entschied, wäh­ rend er mit seinem Panzerzug von Front zu Front eilte, stand er so glän­ zend wie nur je ein Feldherr im Zenit seines Ruhms. Diesen Panzerzug hat Trotzki später zu einer überlebensgroßen Le­ gende erhoben. Der Zug, schrieb er in seinen Erinnerungen, habe auf 36 Fahrten über mehr als 105 000 Kilometer zurückgelegt – fast drei­

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mal um die Welt. Er sei eine «fliegende Militäreinheit» gewesen mit leichten Feld­geschützen, Maschinengewehren, Automobilen und kleinen LKWs, mit Munition und Ausrüstungen, zugleich ein «fliegender Ver­ waltungsapparat» mit Telegraf, Büro, Bibliothek, sowie eine «fliegende Propaganda­einheit» mit Druckerei, Setzerei und Fotoatelier – geschützt von einer eingeschworenen Truppe in schwarzer Ledermontur, wahren Samurais, die man an kritischen Punkten wie eine Landungstruppe habe ins Gefecht werfen können.3 So viele Zurücksetzungen Stalin in dieser Zeit hinnehmen musste, in der Trotzkis Stern am hellsten leuchtete: Er war wegen seiner Energie, seiner Ruch- und Rücksichtslosigkeit, die er schon als Geldbeschaffer in den Jahren der «Expros» nach 1905 bewiesen hatte, und sogar wegen seiner an Insubordination grenzenden Renitenz für Lenin unersetzbar. Lenin spielte dabei sein eigenes, nicht einmal verstecktes Spiel, um seine Dia­ dochen mal gegeneinander zu stellen, mal zu Waffenstillständen zu zwin­ gen und so zu kontrollieren, was ihm so gut gelang, dass es in der Zeit seines Siechtums keinen designierten Nachfolger gab. Nach der Entlassung aus dem Obersten Militärrat suchte Stalin sich einen neuen Weg zur Macht und besetzte mit sicherem Instinkt die beiden Nahtstellen, von denen das Regime der Bolschewiki letztlich abhing. Das war zum einen der Organisationsapparat des Machtzentrums selbst, der nach dem Tod Swerdlows im Mai 1919 verwaist war und den Stalin als Mitglied des Sekretariats des Zentralkomitees und Leiter eines «Orgbü­ ros» (das die Kaderakten führte) schrittweise übernahm, verbunden mit behörde, der «Arbeiter- und Bauerninspektion», einer Antikorrup­ tions­ die die ersten großen, noch rein bürokratisch-disziplinarischen Partei­ säuberungen mit vorbereitete. Diese Positionen prädestinierten ihn, 1922 das neugeschaffene Amt eines «Generalsekretärs» zu übernehmen, von dem aus er sich eine stetig wachsende Hausmacht schaffen und die Ent­ scheidungen des übergeordneten Politbüros, dem er ebenfalls angehörte, vorbereiten, hintertreiben oder steuern konnte, bis nichts mehr an ihm vorbei ging. Aber die tiefere Grundlage dieser Machtstellung war eine Praxis und eine zugleich politische und soziale Neuschöpfung, die man im Nach­ hinein unter den Begriff einer «Nomenklatura», eines internen Beset­ zungsschlüssels, gefasst hat und der mit dem Begriff einer «Bürokratie» viel zu schwach belegt ist. Effektive Bürokratien entspringen der Notwen­ digkeit zur Rationalisierung sachlicher Probleme und bedürfen interner

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Verfahrensregeln sowie einer politischen Kontrolle, auch wenn diese den dazu befugten Instanzen immer entgleiten kann. Die «Sowjetbürokra­ tie», deren Kern die «Nomenklatura» war, war eher das Zerrbild einer wirklichen Bürokratie, eben weil dieser Partei- und Führerstaat jede ein­ zelne sachliche oder Personalentscheidung unter den Primat der Behaup­ tung und Konzentration von Macht stellte. Als sich der totalitäre Zugriff nach Stalins Tod lockerte, bürgerte sich der universelle Begriff des «Funktionärs» ein, was immer noch etwas anderes bezeichnete als ein beamtetes Mitglied einer funktio­nierenden Bürokratie. Stalin erfasste bei seiner Ernennung zum «Generalsekretär» sofort die Möglichkeiten, die der leere soziale Raum und die Form- und Regel­ losigkeit dieses «Unstaats» ihm eröffneten. Vordergründig stand seine Politik im Zeichen der Effektivierung, die allerdings auch dringend not­ wendig war, so wenn er programmatisch bei seiner Ernennung ausführte: «Es gilt, die Funktionäre so auszulesen, dass die Posten von Menschen bekleidet werden, die es verstehen, die Direktiven zu verwirklichen …» Nach einem frühen, zum geflügelten Wort gewordenen Satz «entschei­ den die Kader alles»  – was diesen nicht etwa Handlungsfreiheit ein­ räumte, sondern nur eine absolute Bevollmächtigung bei der Ausführung der «Direktiven», für die sie dann mit ihrer Stellung und potentiell mit Leib und Leben auch einstehen mussten. Über jeden Kader war deshalb eine Kaderakte zu führen, die er selbst nicht einsehen konnte und die er bei den periodischen Parteisäuberungen mit eigenen Lebensläufen und Charakterisierungen seiner Mitarbeiter immer wieder ergänzen musste – was bei Wechseln der Parteilinie oder der Versetzung eines Patrons gegen ihn verwendet werden konnte. Jede Ernennung war jetzt eine «Kommandierung» (kommandirowka). Als Stalin seinen Posten antrat, fand er einen Körper von 17 000 «kom­ mandierten» Funktionären vor. Noch im selben Jahr 1922 nahm er 10 000 weitere «Kommandierungen» vor, um diese innerparteiliche Praxis auf «ausnahmslos alle Verwaltungszweige und den gesamten Funktionärs­ körper der Industrie auszuweiten».4 Damit riss er zielstrebig Kompe­ tenzen der ­Ministerien und des Obersten Volkswirtschaftsrates an sich, und es begann die Verschmelzung von Staats- und Parteiapparat, was insofern keine «Dualität» war, als die Partei in allem das letzte Wort hatte. Trotzkis Kritik der «Bürokratisierung» blieb kraftlos, weil er selbst, wie Lenin ihm attestierte, einen unstillbaren und universellen Drang zum «Administrieren» hatte. Seine Forderungen nach Aufstellung von

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«Arbeitsarmeen» aus demobilisierten Soldaten sowie einer allgemeinen Militarisierung der Industrien, der Verkehrswege und der Verwaltungen waren eine Scheinalternative, die sogar noch autokratischere Züge trug, zumal er das Oberkommando für sich selbst forderte. Im Übrigen fühl­ ten die von Stalin «Kommandierten» sich von Trotzkis Machtanspruch bedroht und bildeten in den Konflikten um die Nachfolge Lenins eine natürliche Hausmacht Stalins. Zu einer letzten echten Bedrohung seiner in aller Stille ausgebauten Machtstellung kam es, als der todkranke Lenin in einem seiner als «Brief an den Parteitag» bezeichneten letzten Diktate vom Dezember 1922 warnte, dass Stalin inzwischen «eine unermessliche Macht in seinen Händen konzentriert» habe, und empfahl, ihn wegen der Gefahr einer Spaltung der Partei von diesem Amt abzulösen und durch jemanden zu ersetzen, der weniger grob, dafür «toleranter, loyaler, höflicher und den Genossen gegenüber aufmerksamer» sei.5 Tatsächlich hatte Stalin inzwi­ schen eine einschüchternde Aura um sich herum aufgebaut. Die Wir­ kung dieser letzten Warnung Lenins wurde aber auch dadurch gemin­ dert, dass er allen anderen Kandidaten politische Haltungsnoten gab, die zwischen 2 minus (für Trotzki) und 3 plus (für den Rest) schwankten. Die Leere im Zentrum der Macht, die niemand, so schien es, füllen konnte, hatte Lenin selbst durch seine Allpräsenz erzeugt. Stalin konnte jedenfalls verhindern, dass das bedrohliche Dokument dem Parteitag zur Kenntnis gebracht wurde, was dem nach Stalins Tod unter Chrusch­t­ schow veröffentlichen Text erst recht den Nimbus eines letzten Willens Lenins gab. Allerdings ist bis heute nicht geklärt, ob dieses maschinen­ schriftliche, unsignierte Dokument tatsächlich von dem Kranken selbst stammt, dessen Stammeleien nur Krupskaja zu verstehen beanspruchte, die sie den Sekre­tärinnen diktierte.6 Wenn es tatsächlich Lenin war, der in diesem «Brief» sprach (und er klingt nach Lenin), dann muss er sich zu einer allerletzten Anstrengung seines sklerotisch deformierten Hirns aufgerafft haben, wie nur die ultimative Verzweiflung über die eigene Ohnmacht sie wecken konnte. Das enthielte eine Symbolik, die eine höhere Authentizität hätte als dieses unterschlagene «Testament» selbst. Die zweite Nahtstelle, deren Bedeutung Stalin erkannte, war die des «Natio­nalitätenkommissars», die sich mit seiner Stellung als Chef des «Org­büros» und dann als Generalsekretär perfekt verband. Dabei zog er in der einen wie der anderen Funktion keineswegs nur von seinen

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Moskauer Büros aus die Fäden, sondern er bewegte sich wie Trotzki mit einem eigenen, bescheidener eingerichteten Zug und militärischer Beglei­ tung von einem Krisenpunkt zum anderen. Doch im Gegensatz zu Trotzki, der kaum persönliche Freunde und Verbündete hatte, zeigte Sta­ lin dabei – geschult durch seine frühen Jahre im kaukasischen Völker­ hader und im bolschewistischen Untergrund – großes taktisch-praktisches Geschick. Er förderte die einen, ließ die anderen fallen, machte hier wirk­liche oder vorgetäuschte Zugeständnisse, drohte dort (und machte seine Drohungen auch wahr), während er sich überall, wo er hinkam, ei­ gene Gefolgschaften schuf. Entscheidend für seinen Aufstieg war letztlich aber seine Fähigkeit, auch politisch-konzeptionell zu denken. Als Mitglied der Kommission, die die erste Verfassung Sowjetrusslands entwarf (sie wurde im Juli 1918 auf dem Sowjetkongress angenommen), hatte er darauf gedrungen, in den Namen des neuen Staatswesens den in marxistischer Tradition eigentlich verpönten Terminus «Föderation» aufzunehmen. Im Verfassungstext der «Russischen Föderativen Sozialistischen Sowjetrepublik» (RSFSR) wurde nicht ausgeführt, was Föderalismus bedeute, aber es war klar, dass er ­gerade als Mittel dienen sollte, einen integrierten Gesamtstaat zu schaf­ fen, in dem «die arbeitenden Massen ihre eigene Sprache sprechen» konnten, um sie propagandistisch erreichen zu können und so dem Ein­ fluss des «bürgerlichen Nationalismus» zu entziehen, der sich in der Kette der Unabhängigkeitserklärungen und Sezessionen des Revoluti­ onsjahres 1917 als unerhört wirkungsmächtig erwiesen hatte. Auf dem Parteitag der KP Russlands im März 1919 ging Lenin noch einen Schritt weiter. Gegen die erbitterten Proteste der «linken Kommu­ nisten» um Bucharin drang er darauf, das Prinzip eines natio­ nalen «Selbstbestimmungsrechts» uneingeschränkt, auch ohne den von Stalin vorgeschlagenen Zusatz «der arbeitenden Massen», in das Programm der Partei selbst aufzunehmen, während er zugleich den unitaristischen Charakter der Partei selbst im Statut festschreiben ließ. Die Kommunis­ ten der nichtrussischen Gebiete hatten sich demnach als bloße «regionale Komitees … dem Zentralkomitee der Russischen Kommunistischen Par­ tei vollständig unterzuordnen» und alle seine Beschlüsse als «bedingungs­ los bindend» zu betrachten.7 Das war an sich nicht neu, sondern entsprach den Positionen, die ­Lenin  – sekundiert vom jungen Stalin  – schon vor 1914 in einer Serie ausgedehnter Polemiken gegen Rosa Luxemburg, gegen Austromarxis­ ten wie Otto Bauer und gegen den jüdischen «Bund» entwickelt hatte.8

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Kategorischer als irgendein anderer unter den Köpfen des europäischen Sozialismus oder innerhalb der russischen Sozialdemokratie hatte er das «Selbstbestimmungsrecht der Nationen» bis hin zum Recht auf Sezession und Eigenstaatlichkeit verfochten, mit Blick sowohl auf die Kolonien, um deren Zukunft viele der deutschen, französischen oder englischen Sozialisten sich herumdrückten, wie auf die Vielvölkerreiche des Ostens, und vor allem natürlich das zaristische «Völkergefängnis», in denen die­ ses nationale Selbstbestimmungsrecht sich zu einem Sprengmittel ent­ wickeln konnte – das 1917 dann auch zündete. Mit entsprechendem Nachdruck, und auch hier radikaler als irgend­ jemand sonst, hatte Lenin andererseits «die Verschmelzung der Natio­ nen zu einer höheren Einheit» als eines der Hauptziele des Sozialismus verfochten – eine Verschmelzung, die in der Partei selbst vorweggenom­ men werden musste. Ein bolschewistischer Berufsrevolutionär musste sich von sämtlichen sozialen und nationalen Vorurteilen und Prägungen seiner Herkunft vollständig lösen. Damit enthielt Lenins Parteidoktrin für das Russländische Vielvölker­ imperium implizit bereits das fertige Konzept einer offensiven neuen Reichsdoktrin, welche alle alten und neuen Grenzziehungen überschritt, und gleichzeitig auch schon die Grundzüge einer künftigen «bolschewis­ tischen Weltpartei», als welche die entstehende Kommunistische Inter­ nationale konzipiert war. Denn wenn die ukrainischen, lettischen und litauischen ebenso wie die polnischen, finnischen und kaukasischen Kom­ munisten ein integraler, allen zentralen Beschlüssen unterworfener Teil der «Kommunistischen Partei Russlands (Bolschewiki)» waren, dann bedeutete dies, dass eine eventuelle Anerkennung der Unabhängigkeit abgefallener Reichsteile durch die Moskauer Sowjetregierung immer nur einen bedingten, vorläufigen Charakter tragen konnte  – bis sich auch dort die Sowjetmacht etabliert hatte. Dieses Muster ließ sich im Geiste eines «proletarischen Internationalismus» natürlich auf jedes beliebige Land der Welt, in dem Kommunisten den Aufstand probten, ausdehnen. «Die isolierte Existenz separater Sowjet-Republiken ist angesichts der Bedrohungen ihrer Existenz durch die kapitalistischen Staaten instabil und unhaltbar. Das gemeinsame Interesse einer Verteidigung der So­ wjetrepubliken …, die Notwendigkeit, ihre Produktivkräfte wiederher­ zustellen  … und die getreidearmen durch die nahrungsmittelerzeugen­ den Sowjetrepubliken zu versorgen – alles dies diktiert gebieterisch die Notwendigkeit der Herstellung einer staatlichen Union aller einzelnen

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Sowjetrepubliken als dem einzigen Weg der Rettung vor dem imperialis­ tischen Joch und der nationalen Unterdrückung.»9 Mit dieser auf Vorschlag Stalins gefassten Resolution des X. Parteitags der KPR(B) im März 1921 konnte keine zwei Jahre nach dem Sieg über die «Weißen» ein weiteres, besonders chaotisches und blutiges Kapitel des Bürgerkriegs, die Rückeroberung des Großteils der 1917 abgefallenen Gebiete des alten Reiches, abgeschlossen und der Weg zu einer Staats­ gründung historisch neuen Typs eröffnet werden. Die Beschwörung ­einer steten Bedrohung dieser neuen Republiken durch «die kapitalisti­ schen Staaten» folgte der stets und prinzipiell vertretenen Behauptung, wonach hinter jedem Streik, jeder Revolte und jeder Sezession die Hand des «Weltimperialismus» stecke. In diesem Geiste wurde der gesamte Bürgerkrieg in der späteren sowjetischen Historiographie in die patrioti­ sche Formel eines «Kriegs der 14 Staaten gegen Sowjetrussland» gefasst, die einen «antibolschewistischen Kreuzzug» geführt hätten, um das Reich letztlich zu kolonisieren und untereinander aufzuteilen. Tatsächlich waren die, die es kolonisierten und neu zuschnitten, die Bolschewiki. Von einem «Krieg der 14  Staaten gegen Sowjetrussland» konnte in Wirklichkeit nur sehr bedingt die Rede sein. Die Landungen alliierter Truppen 1918 nach dem Brester Sonderfrieden hatten primär der Siche­ rung der noch an das ­Zarenreich gelieferten Waffenlager, und natürlich auch Russlands selbst, vor einem Zugriff der deutschen Armeen gedient. Soweit ein Politiker wie Winston Churchill tatsächlich mit der Erdrosse­ lung der noch ungefestigten bolschewistischen Macht geliebäugelt und im Februar 1919 die eigene Regierung wie die der Verbündeten für ein militärisches Vorgehen zu gewinnen versucht hatte, stand er weitgehend isoliert da. Die Perspektive, einen «Krieg mit Deutschland zu beenden, nur um einen totalen Krieg gegen Russland zu beginnen» (so Adam Tooze), hätte einen Aufschrei in der westlichen Öffentlichkeit provo­ ziert. Und wie Premier Lloyd George seinem kriegerischen Verteidi­ gungsminister vorrechnete, würde man dafür mindestens 400 000 Sol­ daten mobilisieren müssen  – mitten in der allgemeinen Demobilisie­ rung.10 Jedenfalls konnten sich die Alliierten niemals auf eine gemeinsame Strategie gegenüber den Bolschewiki einigen, so wenig wie auf eine ein­ heitliche Haltung gegenüber den «Weißen», geschweige auf deren koor­ dinierte Unterstützung. Nicht zufällig war es gerade Großbritannien, das sich als erste der Interventionsmächte darauf festlegte, allen tieferen Verstrickungen in den russischen Bürgerkrieg auszuweichen – und damit

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ein bolschewistisches Regime im Zweifelsfall und vorläufig zu akzeptie­ ren. Wenn es eine imperialistische Macht gegeben hat, die im Bürgerkrieg aktiv konterrevolutionär aufgetreten ist, dann war es Deutschland. So wurde eine im Januar 1918 proklamierte «Sowjetrepublik Finnland» durch ein «weißes» Bürgeraufgebot unter General Mannerheim in drei­ monatigen Kämpfen blutig ausradiert, bei denen ein deutsches Korps unter General von der Goltz eine mitentscheidende Rolle gespielt hat. Ähnlich war es im Baltikum im Frühjahr 1919, als rote Truppen unter dem Kommando des Führers der Lettischen Schützen und zeitweiligen Oberbefehlshabers der Roten Armee, Jukums Vacietis, ein Räteregime in Riga und in allen baltischen Ländern zu errichten suchten. Das Unter­ nehmen wurde von einer unheiligen Allianz lettischer und estnischer Bürgergarden, zarentreuer «Weißer» sowie deutscher Freikorps in einer Orgie zügelloser Gewalt nach monatelangen Kämpfen vereitelt. Der erste und entscheidende Testfall für Lenins Kombination von natio­ naler Selbstbestimmung und proletarischer Verschmelzung war aber die Ukraine, die sich im Dezember 1917 für unabhängig erklärt hatte. Kaum dass die Bolschewiki in Petrograd die Macht usurpiert hat­ ten, sandte ­Lenin der Kiewer Rada ein Ultimatum: Die russische Sowjet­ regierung erkenne das Recht der Ukraine wie das aller bisher unterdrück­ ten Natio­nen des alten Reiches bedingungslos an, «sich von Russland völlig zu trennen»  – könne es allerdings nicht dulden, dass die Rada «unter dem Deckmantel nationaler Phrasen … die Sowjetmacht in der Ukraine nicht anerkennt». Dies mache es unmöglich, sie als «bevoll­ mächtigte Vertretung der werktätigen und ausgebeuteten Massen der Ukrainischen Repu­blik anzuerkennen». Sollte die Rada nicht sofort ge­ gen die «Verschwörung und Erhebung gegen die Sowjetmacht» vorgehen, müsse sie ihrerseits «als im offenen Kriegszustand mit der Sowjetmacht» betrachtet werden.11 Das war eine eigene, kaum kaschierte Kriegserklä­ rung. Schon im Januar 1918 marschierten hastig zusammengekehrte rote Truppen in Kiew ein und errichteten dort ein Schreckensregiment, nur um nach dem Brester Frieden vor den einrückenden deutschen Besatzungs­ truppen kampflos zurückzuweichen, die ihrerseits die Rada durch eine Marionettenregierung unter dem Hetman Skoropadski ersetzten, wäh­ rend die ukrainischen Bauern die deutschen Armeen an der Westfront ernähren mussten. Nach dem Abzug der deutschen Truppen Anfang 1919, die den Hetman gleich mitnahmen, und einem kurzen Intermezzo,

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in dem ukrainische Nationalisten unter Symon Petljura die Stadt besetz­ ten, wurde Kiew ein zweites Mal durch rote Partisanen und Truppen eingenommen, nur um Wochen später von einer der weißen Armeen ­Denikins vertrieben zu werden. Nach deren Niederlage fiel die Ukraine ein drittes Mal an die Roten, bevor im Mai 1920 die Polen einmarschier­ ten und Petljura abermals installierten. Das wiederum lieferte den Aus­ löser für den massiven Gegenschlag der Roten Armee gegen Kiew und weiter gegen Lemberg und Warschau. Insgesamt hatte Kiew bis dahin ein Dutzend Mal den Herrscher gewechselt, bevor im Dezember 1920 schließlich eine «Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik» proklamiert wurde, deren Status durch einen «Unions-Vertrag» mit der Russischen Sowjetrepublik geregelt wurde. So wie die erschöpfte Ukraine der Moskauer Sowjetregierung am Ende fast kampflos in die Hände fiel, so auch die drei transkaukasischen Re­ publiken Aserbeidshan, Armenien und Georgien, die sich im Frühsom­ mer 1918 für unabhängig erklärt hatten. Der umkämpfteste und alles entscheidende Ort war Baku mit seinen Ölquellen, Stalins altes Terrain. Ein erster Versuch bolschewistischer Militärs und Agitatoren im März 1918, gestützt auf Teile der russischen und jüdischen Bevölkerung der Stadt und im Bündnis mit den Milizen der linksrevolutionären armeni­ schen Nationalpartei, der Daschnaken, eine «Kommune von Baku» zu errichten, mündete in ein Massaker an den als «Türken» betrachteten Aserbeidshanern und brach binnen weniger Wochen zusammen. Aber auch die neue Republik Aserbeidshan konnte sich zu keiner Zeit dauer­ haft der Vielvölkermetropole Baku als ihrer Hauptstadt bemächtigen, auch nicht, nachdem eine türkisch geführte «Armee des Islam» die Stadt einnahm und ein weiteres Massaker anrichtete, diesmal an den Armeni­ ern. Im November 1918, nach der Kapitulation der Türkei, besetzte da­ raufhin ein britisches Expeditionskorps von Iran aus die Stadt, ohne die aserbeidshanische Regierung auch nur zu informieren oder einzubezie­ hen. Als die Briten im Herbst 1919 wieder abzogen, weil ihnen der Boden zu heiß geworden war und persische Ölquellen winkten, hatte das «Trans­ kaukasische Gebietskomitee» der Bolschewiki unter Stalins engem Ge­ folgsmann Sergo Ordshonikidse freie Bahn, den Druck von innen und von außen zu erhöhen. Die Regierung Aserbeidshans übergab die Macht kampflos an eine Gruppe frischgebackener Nationalkommunisten, die als Gründungskern einer Kommunistischen Partei fungieren sollten. Im Herbst 1920 unterstellte sich auch die Regierung Armeniens aus

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Angst vor einem türkischen Einmarsch dem Schutz Sowjetrusslands, das seinerseits mit der Türkei Kemal Atatürks einen diplomatischen und ter­ ritorialen Ausgleich suchte. Im Januar 1921 fiel als letztes das von den Menschewiki regierte, zu einer Herzenssache der europäischen Sozial­ demokratie gewordene «freie Georgien», nachdem ein inszenierter Auf­ stand georgischer Bolschewiki den Vorwand für eine erneute militärische Intervention der 11. Armee geliefert hatte. Die Moskauer Sowjetregierung schloss umgehend auch mit diesen neuen «Sowjetrepubliken» Freund­ schaftsverträge, die deren Außen-, Militär- und Wirtschaftspolitik mit der Moskaus verschmolz. Faktisch standen alle drei Republiken unter der Vormundschaft des «Kaukasusbüros» der KP Russlands und namentlich Stalins rechter Hand Ordshonikidse, der sich wie ein Statthalter alten Stils aufführte, nur dass er sich als georgischer Adelsspross und bolschewistischer Kader seit 1905 bestens in allen nationalen Querelen auskannte. Im März 1922 zwang Moskau die Regierungen und Parteien der drei Länder, die sich nicht zusammenraufen konnten, eine «Union der Sowjetrepubliken Trans­ kaukasiens» zu bilden, aus der dann eine einheitliche «Transkaukasische Föderative Sowjetrepublik» wurde. Das war allerdings ein Diktat, das auch von den Parteigängern der Bolschewiki und allen übrigen politi­ schen Kräften in allen drei Republiken scharf abgelehnt wurde. Vor allem in Teilen Georgiens wie in der bäuerlichen Bevölkerung des muslimischen Aserbeidshan, die sich sozial wie kulturell enteignet fühlte, traf es auf bewaffneten Widerstand. Alle diese Aufstände wurden mit militärischen Strafexpeditionen und systematischem «roten Terror» bis hin zu Massen­ exekutionen Hunderter oder auch Tausender Gefangener niedergewor­ fen.12 Blieb Zentralasien, wo schon im Oktober 1917 ein von bolschewisti­ schen Sympathisanten geführter Sowjet in Taschkent die Macht übernom­ men hatte, der sich exklusiv auf die russische Siedlerbevölkerung sowie auf lokale Einheiten der zerfallenden Armee stützte. Mit einem Massaker an der muslimischen Stadtbevölkerung und gewaltsamen Landnahmen russischer Siedler im fruchtbaren Ferghana-Tal behauptete es seine Stel­ lung. Eine von muslimischen Nationalisten in Kokand errichtete «Provi­ sorische Regierung» appellierte an die Sowjetregierung in Moskau, dem feierlich zugesicherten Recht auf nationale Selbstbestimmung Genüge zu tun. Die «Turkestan-Kommission» beim bolschewis­tischen ZK, die mit dem stellvertretenden Tscheka-Gründer Jekabs (Jakow) Peters, mit Lasar Kaganowitsch, Walerian Kujbyschew und Grigori Sokolnikow hoch­

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rangig besetzt war, beschäftigte sich daraufhin mit der Pazifizierung und Reorganisierung des gesamten zentralasiatischen Raumes. Im April 1918 wurde eine «Autonome Sowjetrepublik Turkmenistan» proklamiert, die unter der Anleitung eines «Zentralasienbüros» der Regierung in Moskau stand und riesige, von Turkmenen, Kirgisen, Usbeken, Tadshiken und ­Kasachen besiedelte Gebiete provisorisch zusammenfasste. Nachdem auch eine Fernöstliche (Sowjet-)Republik, die als Puffer ge­ gen die japanischen Expeditionstruppen im Amurgebiet gedient hatte, nach deren Abzug 1922 aufgelöst und integriert wurde, war das Territo­ rium einer künftigen UdSSR abgesteckt. Erst damit endete auch, mit Ausnahme einiger zentralasiatischer Berg- und Steppengebiete, die noch von Gruppen islamischer, pauschal als «Basmatschen», «Banditen» be­ zeichneten Rebellen kontrolliert wurden, der russländische Bürgerkrieg. Nach der absoluten und relativen Zahl der Gesamtopfer  – es waren ­sicherlich 8–10 Millionen –, dem grenzenlosen Territorium, auf dem er ausgetragen wurde, sowie den wirtschaftlichen und kulturellen Verlusten hatte er in der menschlichen Geschichte bis dahin kaum seinesgleichen.13

Das neue, rote Imperium Dass es den Bolschewiki gelang, das Russländische Reich – oder jedenfalls seine Kerngebiete – zu einem neuen multinationalen Megastaat wieder zusammenzufügen, im Unterschied zu den zivilen «austromarxistischen» Erben des Habsburgischen oder den militärischen «jungtürkischen» ­Erben des Osmanischen Reiches, hatte zunächst Gründe in der Weltpoli­ tik. Tatsächlich gehörte es zu den entscheidenden Voraussetzungen des Sieges der Bolschewiki, dass die Versailler Friedenskonferenz einen Bogen um jenes «Russland» machte, welches Wilson in seinen «14 Punkten» noch im Januar 1918 als eine selbstverständliche historische Einheit ­anerkannt hatte. Zwar war die Regierung Sowjetrusslands zu dieser Konferenz nicht eingeladen; aber auch die Vertreter der abgefallenen ­Republiken, die in Versailles auftauchten, fanden dort kaum Gehör, mit Ausnahme der Finnen und der Polen. Dass die weißen Armeen, die im Sommer und Herbst 1919 gegen Moskau vorrückten, kurz danach schon auf die Verliererstraße gerieten, änderte nichts an der Entscheidung der alliierten Mächte, das Gros ihrer Truppen, der Nachkriegsstimmung fol­ gend, aus Russland abzuziehen, noch bevor der Bürgerkrieg entschieden war.

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Insofern hatten die Bolschewiki in Wirklichkeit freie Hand, den Bür­ gerkrieg bis zu ihrem totalen Sieg zu führen. Ihr Erfolg bei der Rück­ eroberung der Peripherieländer war nicht «unwahrscheinlicher», als es ihr Sieg gegen das Gros der eigenen Bevölkerung im innerrussischen Bür­ gerkrieg war. Gerade die verwirrende Vielzahl der Akteure, mit denen sie es jeweils zu tun hatten, und deren endemisch mörderische Konflikte untereinander ermöglichten die Errichtung einer neuen Moskauer Zen­ tralmacht. So wenig wie auf Seiten ihrer «weißen» Bürgerkriegsgegner oder der «grünen» Bauernguerillas stießen sie innerhalb wie zwischen den Unabhängigkeitsbewegungen im Süden auf stabile Gegenkoalitio­ nen. Sobald die bolschewistische Zentralmacht aber einmal Fuß gefasst hatte, war es ihr leicht möglich, Nationalitäten und Bevölkerungsgrup­ pen gegeneinander auszuspielen. Dabei konnte sie sich teils auf große russische Siedlerkolonien wie in Teilen Turkestans, teils auf russophone Arbeitsmigranten wie im Donbass oder auch auf russisch orientierte städtische Bevölkerungen wie in Baku, Charkow oder Kiew stützen. Im Übrigen setzte ab 1920 innerhalb der alten russischen Staatsnation so etwas wie ein patriotischer Umschwung zu Gunsten der Bolschewiki ein. Nicht nur die hohen zaristischen Offiziere, die sich 1920 für den Krieg gegen Polen zur Verfügung stellten, waren ein Indiz für diesen Stimmungswechsel; auch die Pamphlete prominenter Antibolschewisten in der Emigration kamen dem neuen Regime entgegen und wurden in Sowjetrussland selbst gedruckt. Sie kündeten von einem «Wechsel der Wegzeichen» («Smena Wech», so der Titel einer aufsehenerregenden Schrift des nationalistischen Schriftstellers Nikolai Ustrjalow, der unter Koltschak gewirkt hatte). Nun, da für niemanden mehr zu übersehen sei, dass die Bolschewiki mit «roten Händen die Sache Russlands» voll­ bracht hätten, und zwar des großen, des ungeteilten Russlands, wie die «Weißen» das eben nicht vermocht hätten, sei es an der Zeit, sich um das neue Moskauer Zentrum zu scharen. Wenn Ustrjalow den Bolschewiki überdies bescheinigte, dass sie «die verfaulenden Wasser der revolutionären Überschwemmung» eingefro­ ren hätten, also eigentlich als Konterrevolutionäre gewirkt hätten, so wie auch ihr Terror notwendig gewesen sei, um «die Herzen in Furcht erstarren zu lassen, den Willen der Feinde zu fesseln, die Disziplin in der Armee und unter den entfesselten Massen wiederherzustellen»14 – dann entsprach das in vieler Hinsicht den Positionen Maxim Gorkis, der 1921 das Land verlassen hatte. Schon 1919 hatte er brieflich bemerkt, die Bol­ schewiki hätten, was immer ihnen vorzuwerfen sei, zumindest das Land

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«vom toten Punkt weggebracht». In seiner 1922 in Paris veröffentlichten Schrift «Vom russischen Bauern» – geschrieben in der Zeit der Hunger­ katastrophe, zu deren Linderung er aufgerufen hatte – war zu lesen, dass die Bolschewiki durch ihren Terror «bewusst Schaden an ihrer Seele, zum Wohle der anderen» genommen hätten und dass am Ende aller die­ ser tierischen Grausamkeiten hoffentlich «die halbwilden, dummen, schwerfälligen Menschen der russischen Dörfer aussterben» und durch «ein neues Geschlecht von erzogenen, verständigen lebensmutigen Men­ schen» ersetzt würden.15 Während Gorki wieder nach Capri übersiedelte (Stalin würde ihn 1928 als Staatsschriftsteller in die Heimat zurückholen), setzte in der Gegenrichtung ein erster, noch dünner Strom «weißer Rückkehrer» ein, unter ihnen auch einige Schriftsteller wie Ilja Ehrenburg oder Alexej Tolstoi, die später ebenfalls zu den Großschriftstellern der Stalin-Ära ge­ hören würden. Aber auch viele der im Land gebliebenen Opponenten und Bürgerkriegsgegner gingen jetzt auf die bolschewistische Seite über und nicht nur aus Opportunismus – wie der aus dem halblegalen Unter­ grund aufgetauchte Wiktor Schklowski oder wie der Arzt und ange­ hende Schriftsteller Michail Bulgakow, der in seinem (autobiografisch gefärbten) Roman «Die weiße Garde» seine Helden, eine Gruppe junger Offiziere in Kiew, als geschlagene, in der Falle sitzende großrussische Monarchisten am Ende aus schierer Abscheu vor der ukrainischen Natio­ nalbewegung sehnsüchtig die Ankunft der Roten Armee erwarten lässt – die wenigstens eine russische Armee sei.16 Die Anfang 1924 proklamierte «Union Sozialistischer Sowjetrepubli­ ken» war die Nachfolgerin des alten russländischen Imperiums, aber zu­ gleich auch ein Staatswesen neuen, nie gesehenen Typs. Schon ihre Karte zeigte ein komplexes Geflecht aus 11 Republiken (die formell das Recht auf Austritt besaßen und in Moskau wie teilweise sogar im Ausland ­eigene Repräsentanzen unterhielten) sowie mehr als zwei Dutzend Auto­ nome Sowjetrepubliken, vor allem innerhalb der Russischen Föderativen Republik. Dazu kamen eine Vielzahl autonomer Gebiete, Bezirke und Kreise, deren Institutionen in der Regel, jedenfalls auf der unteren Ebene, von Einheimischen gebildet werden sollten. Im Unterschied dazu hatte das Zarenreich nur nach rein administrativen Gesichtspunkten zuge­ schnittene Gouvernements gekannt. Die Strukturen der Verwaltungen, der Sowjets wie die der Partei muss­ ten diesen Einteilungen folgen, sodass auch sie ein Gestrüpp von Ebenen

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und Einheiten bildeten. Als das entscheidende Element nationaler Zuge­ hörigkeit galt die Sprache, mit dem Ergebnis, dass es Ende der 1920 er Jahre 192 offizielle Sprachen gab, die teilweise auch lokale Amtsspra­ chen sein mussten. 1928 wurden Bücher in 66 Sprachen, Zeitungen in 47 Sprachen gedruckt; das Ministerium für Volksaufklärung in Moskau hatte 14 nationale Abteilungen. Selbst kleine Gebiete, wie beispielsweise Abchasien als Autonome Republik innerhalb der Republik Georgien, hatten drei offizielle Amtssprachen, die auch Unterrichtssprachen ­waren, sowie darüber hinaus noch Dutzende Schulen in weiteren Sprachen ­(Armenisch, Griechisch, Deutsch usw.). Die Partei selbst teilte sich, trotz strengem Zentralismus, auf in Repu­ bliksparteien mit eigenen Zentralkomitees und Apparaten. Zugleich wurden entlang der größeren Sprachlinien nationale Sektionen gebildet, darunter auch eine «Jewsekzija», eine Jüdische (jiddischsprachige) Sek­ tion, obwohl oder weil die Juden ausdrücklich nicht als eigene «Natio­ nalität» galten. Im Grundsatz sollten alle Nationalitäten sich jedoch ­territorial organisieren, d. h. die lokal majoritären Populationen sollten die politische Gliederung bestimmen. Entsprechend aufwendig waren die Versuche, durch Zensuszählungen und eine ausgedehnte ethnogra­ phische Forschung – eine traditionell hoch entwickelte Disziplin in Russ­ land – ein realistisches Tableau und eine Statistik dieser Völkerkarte zu bekommen. Seit den frühen 1930 er Jahren war die «Nationalität» aller Bürger der Sowjetunion im Ausweis wie in den Arbeitsbüchern einzu­ tragen.17 Man kann dies als eine Ethnisierung der sowjetischen Politik beschrei­ ben, die aber unter der Prämisse der «Annäherung» oder perspektivisch der «Verschmelzung» der Völker stand  – wovon allerdings je länger, umso weniger die Rede war. Insgesamt handelte es sich bei dieser «Lenin­ schen Nationalitätenpolitik», wie sie bald genannt wurde, um eine Zivi­ lisierungsmission, die nur möglich war, wenn es gelang, autochthone Kader aus den Minderheiten heranzuziehen, immer in kritischer Balance mit Vertretern der russischen Siedlerbevölkerung, die oft das früheste Bollwerk der bolschewistischen Macht bildeten. Schon der offizielle Begriff der «Einwurzelung» oder «Einpflanzung» («korenisazija») war entlarvend. Tatsächlich wurde er auch nur für die indigenen Minderheiten Sibiriens und die Völkerschaften der orienta­ lischen Peripherie, insbesondere die Muslime, verwendet und wies sie als reine Objekte statt als Subjekte einer Erziehung zur Zivilisation aus; so wie auch die Rede von «indigenen» (eingeborenen) oder von «muslimi­

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schen Kommunisten» den Geist kultureller Herablassung atmete. Inso­ weit unterschieden sich diese Modelle der Politik und des «Teile und herrsche» nicht grundsätzlich von denen des alten Regimes oder der Bri­ ten in Indien einschließlich der Heranziehung lokaler Eliten; nur dass diese Politik in der Sowjetunion mit einer ungleich größeren Konsequenz verfolgt wurde.18 Grigori Sinowjew brachte das 1919 einmal in die euphemistische For­ mel: «Wir können nicht ohne aserbeidshanisches Erdöl, nicht ohne ­turkestanische Baumwolle auskommen. Wir werden die Produkte, die wir brauchen, nehmen, aber nicht, wie sie die alten Ausbeuter genom­ men haben, sondern wie ältere Brüder, die die Fackel der Zivilisation bringen.»19

Der multinationale Machtkader Wer waren aber die «älteren Brüder»? Eben der multinationale Macht­ kader der Bolschewiki, der im buchstäblichen Sinne «eine Klasse für sich» war oder sogar eine besondere menschliche Spezies, etwa in dem Sinne, in dem Stalin an Lenins Grab in seinem von Generationen von Schulkin­ dern auswendig gelernten «Schwur» gleich eingangs sagte: «Wir Kom­ munisten sind Menschen von besonderem Schlag.»20 Tatsächlich war der bolschewistische Parteiorden, der 1917 zur Macht kam, «von besonderem Schlag», ebenso wie die um ihn herum formierte neue Staatsklasse: ein multinationaler Kader, der aus dem riesigen Rück­ raum des Vielvölkerreichs nicht nur Menschen aller sozialen Herkünfte («Klassen»), sondern auch aller Nationalitäten an sich zog. Und je höher man in der Hierarchie blickte, desto höher war (anfangs jedenfalls) der Anteil der Nichtrussen. Als wichtigste Führer der Partei im ersten Jahr der Revolution galten: Lenin, Trotzki, Swerdlow, Stalin, Dzierzynski, Sinowjew und Kamenew. Das waren neben dem (seiner offiziellen Vita nach) halben Russen Lenin ein Georgier, ein Pole und vier Juden. Besonders hoch war der Anteil von Nichtrussen (vor allem von Let­ ten, Juden, Polen und Kaukasiern) unter den Tschekisten und den «Trup­ pen zur besonderen Verwendung», einschließlich der Requirierungs­ kommandos. Während die Masse der bäuerlichen, meist großrussischen Wehrpflichtigen der Roten Armee nicht zu Unrecht im Verdacht der ­Unzuverlässigkeit stand, zählten die aus anderen Nationalitäten oder aus ungarischen, österreichischen, deutschen oder tschechischen Kriegs­

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gefangenen rekrutierten «Internationalisten» zu den zuverlässigeren Einheiten. Zeitweise sollen sie, die an fast allen Fronten kämpften, bis zu 270 000 Mann umfasst haben.21 Das trug dazu bei, dass nicht nur an der nichtrussischen Peripherie, sondern im russischen Herzland selbst die bolschewistische Macht ten­ denziell Züge einer Fremdherrschaft trug. Das rührte an alte Traumata. Schon in den Zeiten Peters und Katharinas mit ihrer deutschen Entourage und hohen Beamtenschaft, den Diplomaten, Akademikern, Hauslehrern und Beratern war das Zarentum immer wieder wie eine «Fremdherr­ schaft im eigenen Land» erschienen. Waren nicht auch Nikolai und ­Alexandra gestürzt, weil sie «in Wirklichkeit» Deutsche waren? Befremdend wirkte auch, dass viele Bolschewiken an der Macht ihre alten Kampfnamen oder Autorenpseudonyme weiterführten, sodass es für Nichteingeweihte schwer war festzustellen, mit wem sie es zu tun hat­ ten – während es den neuen Machthabern leicht machte, sich neu zu er­ finden, so wie die Partei unablässig an der propagandistischen und künstlerischen Verspiegelung ihres Regimes arbeitete. Für viele Bolschewiki aus den nichtrussischen Peripherien des alten Reiches wie eben einen Stalin spielte biografisch ein ursprünglicher Hass auf die zaristische Zentralmacht und ihre gewaltsame Russi­fi­zierungs­ politik eine Rolle und hatte sogar ihre frühe Politisierung bestimmt. Letztlich dürfte für Jossif Dschugaschwili wie für die meisten Bolsche­ wiki aus der nichtrussischen Peripherie aber immer klar gewesen sein, dass ihr Kampf – in scharfer Absetzung von den georgischen Mensche­ wiki oder den ukrainischen Sozialrevolutionären zum Beispiel – in einer möglichst raschen und vollständigen Wiederangliederung ihrer nach der Revolution abgetrennten Herkunftsländer enden musste, in welcher Form auch immer. Ein unabhängiges Georgien, Armenien oder Polen wären für einen Stalin oder Ordshonikidse, Mikojan oder Dzierzynski ein viel zu ­enges Feld gewesen, reine Duodezstaaten. In Russland dage­ gen, gerade in der weiten, imperialen Bedeutung dieses geopolitischen Begriffs, ganz vorne und ganz oben mit dabei zu sein – das lohnte jeden Einsatz. Die besondere Stellung der jüdischen Kommunisten im gesamten Sowjet­ apparat wie in der Partei war noch einmal ein Phänomen eigener Ord­ nung. Wenn darüber, öffentlich jedenfalls, selten gesprochen wurde, dann weil die Formel vom «jüdischen Bolschewismus» in der Agitation ihrer Bürgerkriegsgegner wie in den feindseligen Stimmungen großer Teile

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der Bevölkerung trotz aller Strafandrohungen immer stärker wurde  – und in der Partei und Sowjetbürokratie selbst Widerhall fand. Selbst in der internationalen Öffentlichkeit dieser Jahre wurde die historische Rolle, die dem Typus des «jüdischen Revolutionärs» (nicht nur mit Blick auf Russland) zugeschrieben wurde, obsessiv diskutiert. Sogar hohe und höchste Repräsentanten der westlichen Öffentlichkeit (von Lloyd George und Churchill über Clemenceau bis zur Entourage Wilsons) waren eine Zeitlang ernsthaft von der Frage obsediert, ob es sich beim bolschewis­ tischen Umsturz nicht doch um eine jüdische Machteroberung handele, die, wie amtliche Quellen und führende westliche Zeitungen mit immer neuen, echten oder gefälschten Belegen behaupteten, das Resultat einer «deutsch-bolschewistischen Verschwörung» sei.22 Trotzki, der im Zentrum all dieser Spekulationen stand, konnte dem Thema, das seine Karriere von Anfang an begleitet hatte, nicht auswei­ chen. Seine immer wiederholten Erklärungen, dass seine jüdische Her­ kunft für ihn keinerlei Rolle spiele, mochten so aufrichtig wie möglich sein und trugen doch Züge der Beschwörung; ihm selbst war das nur zu bewusst. So behauptete er in seiner Autobiografie, gleich nach der Macht­ eroberung habe er einen Vorschlag Lenins, den Vorsitz des «Rats der Volkskommissare» zu übernehmen, unter Protest abgelehnt; und als ­Lenin ihm daraufhin angetragen habe, Volkskommissar des Inneren zu werden, habe er das zur Entrüstung Lenins ebenfalls ausgeschlagen – weil es nicht lohne, «den Feinden noch eine solche Waffe wie mein Juden­tum in die Hand zu geben».23 In der Zeit von Lenins Siechtum im Oktober 1923, als der Kampf um die Nachfolge voll entbrannt war, soll er in ­einer Rede vor dem inneren Machtzirkel (die erst 1990 bekannt wurde) noch einen desperaten Schritt weiter gegangen sein: Um sich gegen den ständigen Vorwurf zu wehren, sich bonapartistisch über die Partei erhe­ ben zu wollen, behauptete er, der todkranke Lenin habe ihm noch im Jahr zuvor vorgeschlagen, sein Stellvertreter (und damit sein Nachfol­ ger) zu werden. Auch dies habe er abgelehnt, weil es da «ein persönli­ ches Moment gibt», nämlich «mein Judentum».24 Indem Trotzki alle Vorwürfe gegen seine Machtambitionen derart ver­ nünftelnd und mit einem Gestus revolutionärer Selbstlosigkeit zurück­ wies, der erst recht arrogant wirkte, gab er sich verblüffend schutzlos der Meute seiner Genossen preis und katapultierte sich aus dem Machtspiel um die Nachfolge, noch bevor es richtig begonnen hatte. Dass er die an­ deren Parteiführer jüdischer Herkunft wie Sinowjew und Kamenew, die ihn besonders aggressiv attackierten, gleich mit erledigte, mag ihm ganz

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recht gewesen sein. Als sie sich zwei Jahre später zur «Linken Opposi­ tion» gegen den Aufstieg Stalins zusammenschlossen, war es zu spät – und stand das besagte «persönliche Moment» erst recht im Weg. Stalin wusste es raffiniert auszuspielen. Einen «jüdischen Bolschewismus» als sozialkulturelles Phänomen hat es natürlich gegeben. Allerdings geht es dabei um Fragen ganz anderer Dimension  – Fragen, die Yuri Slezkine in seinem Buch «Das jüdische Jahrhundert» mit einiger intellektueller Furchtlosigkeit angerissen und mit der Rolle, die die Juden für die Heraufkunft der modernen Welt ins­ gesamt gespielt haben, in Verbindung gesetzt hat. In diesem erweiterten Kontext gewinnt der «jüdische Bolschewismus» ein Gewicht, das aus begreiflicher Abwehr antisemitischer Mythen und schwarzer Legenden noch kaum als eines der vielleicht bedeutendsten Kapitel der Sozial- und Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts gewürdigt worden ist. Das Russländische Reich war schließlich, trotz der Emigra­ tionswellen vor und nach der Jahrhundertwende, 1914 noch immer das große Reservoir eines «Weltjudentums» und blieb es als dessen zentraler Lebensort trotz aller neuen Pogrome und Fluchtbewegungen der Bürger­ kriegsjahre, bis dem nationalsozialistischen Judenmord drei Millionen der seit 1939/40 auf dem erweiterten Territorium der UdSSR lebenden fünf Millionen Juden zum Opfer fielen. Dass die Nationalsozialisten für ihren Antisemitismus des Vorwandes eines «jüdischen Bolschewismus» nicht bedurften, so wie auch ihr schein­ bar so prononcierter Antibolschewismus gegenüber anderen, tiefer lie­ genden Motiven eher konjunkturell und taktisch blieb,25 ändert wenig daran, dass die Last des Judenmords auf diesem Thema liegt – und nicht einfach als «Tabu» abgeschüttelt werden kann.26 Die Zahl jüdischer Mitglieder war im bolschewistischen Parteikader ­ursprünglich deutlich niedriger gewesen als in anderen sozialistischen Parteien und Fraktionen, vor allem den Menschewiki. Unter den «Alt­ bolschewiken», den Parteimitgliedern vor 1917, waren nur etwa 5 % jü­ discher Herkunft. Im Bürgerkrieg schnellte dieser Anteil zeitweise em­ por, bevor er sich 1922 nach einer ersten Welle von Parteisäuberungen und Masseneintritten wieder auf die früheren 5 % einpendelte. In abso­ luten Zahlen waren das nicht mehr als 50–60 000 jüdische Kommunis­ ten in ­einem Parteikader von über einer Million und einer Gesamtbevöl­ kerung Sowjetrusslands von 140 Millionen. Umgekehrt waren die jüdi­ schen Bolschewiki unter den Millionen Juden des Reiches eine winzige

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Minderheit, allerdings eine nun dominierende und sichtbar herausgeho­ bene Gruppe.27 Bereits im Juli 1918 hatte Lenin ein «Dekret über die Ausrottung der antisemitischen Bewegung» erlassen, das «alle Pogromisten und Pogrom­ agitatoren außerhalb des Gesetzes» stellte. Dieser Erlass war nur eine Waffe mehr im Krieg gegen die aufständischen Kosaken und die reniten­ ten Bauern, während er für die Juden kaum Schutz, eher eine zusätzliche Gefahr bedeutete, weil er die weit verbreitete Identifikation von Juden und «Roten» scheinbar bestätigte. Umso stärker war der Zuzug der jüdi­schen Jugend und Intelligenz zur bolschewistischen Macht, aus den Pogromgebieten des Südens in die Städte des Nordens, die sich zur glei­ chen Zeit vom alteingesessenen Bürgertum leerten. Mehr noch: Wie Lenin im Rückblick kaltblütig bemerkte, hatte dieses «jüdische Element» ge­ holfen, «der allgemeinen Sabotage, der wir nach der Oktoberrevolution gegenüberstanden, ein Ende» zu machen und so «die Macht im Staats­ apparat zu übernehmen».28 Auch deshalb haben viele nahe und ferne Beobachter den russischen Bürgerkrieg bereits als Beginn oder Vorzeichen eines Untergangs des ost­ europäischen Judentums gedeutet. Isaak Babel, selbst Flüchtling aus Odessa, begleitete als Korrespondent und Übersetzer in Diensten der Tscheka die bolschewistische «Rote Reiterarmee» im Sommer 1920 bei ihrem Zug nach Westen. Vor Zamość liegend beobachtete er mit einem ukrainischen Bauern die Stadt, um die gekämpft wurde: «Ringsum schwebte der Brodem heimlichen Mordes. ‹Da wird jemand umge­ bracht›, sagte ich  …  – ‹Der Pole regt sich›, sagte der Bauer. ‹Der Pole schneidet dem Juden die Kehle durch.› … ‹Der Jude ist an allem schuld›, sagte er. ‹An unserem und an eurem Unglück. Nach dem Krieg werden nur noch ganz wenige da sein. Wie viel Juden mag’s auf der Welt ge­ ben?› – ‹Etwa zehn Millionen›, antwortete ich … – ‹Es werden nur zwei­ hunderttausend übrigbleiben!›, rief der Bauer und berührte meine Hand …»29 Dabei strebte die in die russische Revolution eingelagerte «jüdische Revolution», von der Slezkine spricht, ganz entgegen der antisemitischen Legende nichts so sehr an wie eine radikale Emanzipation vom Judentum selbst. Das war der große Reiz, den der Marxismus auf die jüdischen ­Intellektuellen von Anfang an ausübte: die Vorstellung, der stickigen Welt der Vorfahren in eine neue Form des Modernseins zu entkommen, nicht durch bürgerliche Assimiliation, sondern durch die imaginäre Symbiose mit einem Proletariat, das selbst ein phantastisches Doppel­

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wesen war, voller «apollinischer» Kraft und tellurischer Bodenhaftung, und doch auch schon literat, urban, «merkurianisch».* In Babels Be­ wunderung für seinen Kommandeur Sawitzki, für «das Ebenmaß seines gewaltigen Körpers» und seine «grauen Augen, in denen Fröhlichkeit leuchtete», während der ihn als «Milchsöhnchen» mit einer «Brille auf der Nase» verspottete, aber trotzdem mitreiten ließ, entdeckt Slezkine den Wunsch des jüdischen Literaten, der sich für die Dauer des Feldzugs das literarische Pseudonym «Ljutow» (der Grausame) zulegte, etwas vom proletarischen Apolloniertum zu erben.30 Umgekehrt freilich wird in den Romanen und Erzählungen der bolsche­ wistischen Bürgerkriegsliteratur, bei Babel wie bei Fadejew, Tarasow-­ Rodionow, Ostrowski, Scholochow oder Libedinski, der Charaktertypus des «Kommissars» wie der des «Tschekisten» häufig nach den Bildern oder Klischees des «Jüdischen» gezeichnet, als schmächtig, fast hinfällig, dafür mit unbeugsamem Willen, unendlicher Hingabe und absoluter Rücksichtslosigkeit ausgestattet, sogar wenn er offensichtlich kein Jude ist. So lässt sich dieser «zentaurischen» Verbindung jüdischer Kommis­ sare und russischer Bauernsoldaten, wie Kopf und Leib, eine gewisse ­Realitätshaltigkeit nicht absprechen.31 Darüber hinaus wurden die «Juden zum Rückgrat der neuen Sowjet­ bürokratie», so Slezkine. «Je weiter nach oben man in der Statushierar­ chie blickt, desto größer wird der jüdische Anteil.» Das war auch dann noch der Fall, als der Anteil jüdischer Kader im politischen Zentrum, im Zentralkomitee und Machtzirkel um Stalin, im Laufe der 1930 er Jahre rapide zu sinken begann und im Vorfeld des Hitler-Stalin-Paktes weiter zurückgestutzt wurde. Gerade zu dieser Zeit gab es ungeachtet aller Kam­ pagnen gegen «Judas Trotzki» und trotz der vielfach jüdischen Ange­ klagten der Moskauer Schauprozesse noch immer einen exorbitant ­hohen Anteil von Juden in den oberen Rängen der Geheimpolizei (des NKWD) wie in der Fach- und Kulturelite des Landes, von den Verlagen, Zeitungen und Zeitschriften über die Theater und Orchester bis zu den Universitäten. Auch der Anteil junger Juden unter den Studenten lag 1939 je nach Hochschule noch zwischen 20–30 %.32 * Slezkine, von Haus aus Ethnologe, bezeichnet die Juden in einer etwas poetisch-­ mythisierenden Terminologie als «Merkurier»: als eine jener vielen, seit alters her und in allen Kulturen auftretenden «Gruppen dauerhaft Fremder, die Aufgaben erfüllten, welche die [vorwiegend agrarisch wirtschaftenden] Einheimischen nicht erfüllen konn­ ten oder wollten» – die Slezkine reziprok «Appollonier» nennt. (Das jüdische Jahrhun­ dert, S. 30)

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Aber es waren eben auch jüdische Kommunisten, die seit dem Beginn der 1920 er Jahre die eigene «Jewsekzija», eine Jüdische Sektion innerhalb der KP Russlands, bildeten, welche die zu einem überproportional großen Anteil ebenfalls jüdischen «NEP-Männer», die Glücksritter und Klein­ kapitalisten in den kurzen Jahren der «Neuen Ökonomischen Politik», mitleidlos verfolgten und aussortierten, so wie sie in den antireli­giösen Kampagnen und im «Kulturfeldzug», der die Kollektivierungs­revolution seit 1929/30 begleitete, alle Überreste der noch existierenden, religiös ge­ bundenen, jiddischsprachigen Shtetl-Kultur in den Orkus stürzten. Es ­waren jüdische Vernehmer, die die (jüdischen oder nichtjüdischen) «Trotz­ kisten» folterten und in die Erschießungskeller schleppen ließen – bevor viele von ihnen, aber nicht alle, ihren Opfern nachfolgten. 1940 war der NKWD wie ein beträchtlicher Teil der Parteigremien, Ministerien und Ideologieapparate bereits massiv russifiziert – ohne dass die Juden aller­ dings, wie viele der zu «feindlichen Nationalitäten» erklärten Minderhei­ ten (Polen, Deutsche, Griechen usw.), «als Juden» verfolgt worden wären. Erst mit den «antizionistischen» und «antikosmopolitischen» Säube­ rungen der späten Stalinzeit zerbrach, was Slezkine als «das große Bünd­ nis zwischen jüdischer Revolution und Kommunismus» bezeichnet.33 Nüchterner könnte man sagen, dass die Juden damit endgültig aus der Rolle eines sekundären Staatsvolks der UdSSR verstoßen wurden, das in vieler Hinsicht «sowjetischer» war als alle anderen.

Das ungreifbare Russland Tatsächlich führte das primäre Staatsvolk der Russen selbst in den ersten beiden Jahrzehnten nach der Revolution eine fast ominöse Sonderexis­ tenz. «Russland» im strikten Sinne war auf der Karte der UdSSR nur das, was innerhalb der «Russischen Föderativen Sowjet-Republik» nicht als eines der (oft riesigen) autonomen Gebiete einer nationalen Minder­ heit ausge­wiesen war. Als einzige der Sowjet-Republiken besaß «Russ­ land» keine ­ eigene Regierung, keine eigene Parteiorganisation, aber auch keine Akademie der Wissenschaften – was die Russen fast zu einer Nicht-­Nation machte. Dafür waren die sowjetischen Staats- und Parteiorgane mit denen Russlands identisch, was als Diskriminierung wie als Privilegierung ge­ deutet werden konnte. Diskriminierung war es, insofern die Masse des russischen Volkes, die Nachfahren der Leibeigenen, die Bauern, als Ob­

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jekte einer Zivilisierungsmission betrachtet wurden, ohne dabei wie die «Eingeborenen» der nichtrussischen Gebiete den Vorzug einer besonde­ ren ethnischen Förderung zu genießen, sondern allenfalls den ­einer sozi­ alen Bevorzugung, wenn sie sich etwa bei Bewerbungen für die «Arbei­ terfakultäten» (Rabfaks) als ein «proletarisches Element» aus der armen Bauernschaft qualifizierten. Eine Privilegierung war es wiederum, weil die russischen Kommunisten damit gleichsam selbstverständlich den Stamm der «Sowjetmacht» bildeten, was sehr früh auch der Realität ent­ sprach, als sie 70 % der Gesamtmitgliedschaft der Partei stellten.34 In den 1930 er Jahren rückten die Russen durch die förmliche Aner­ kennung ihrer Nationalität im Pass, durch die Betonung ihrer National­ geschichte und nationalen Literatur (mit Puschkin als Nationaldichter) und schließlich ab 1938 durch die Etablierung des Russischen als der ers­ ten und von allen zu beherrschenden Sprache Zug um Zug dann doch in die Rolle eines informellen Staatsvolkes auf. Aber es bedurfte erst des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg, damit im Toast Stalins auf dem Siegesbankett am 8. Mai 1945 im Kreml das «russische Volk» in aller Form als «die hervorragendste Nation» unter den Völkern der Sowjet­ union anerkannt und als deren «älterer Bruder» gerühmt werden konnte.35 Diese ungelöste Spannung zwischen Staat und Staatsvolk hat die Ge­ schichte der UdSSR entscheidend geprägt, von ihren Anfängen bis in die Tage der Auflösung, als Boris Jelzin, der erste frei gewählte Präsident Russlands, auf dem Kreml die rote Sowjetfahne durch die russische Triko­ lore ersetzen ließ und den Generalsekretär der KPdSU und letzten Präsi­ denten der UdSSR, Michail Gorbatschow, aus dem Amt drängte. In vie­ ler Hinsicht war und ist diese innere Unsicherheit, Gestaltlosigkeit und Schwäche sogar die eigentliche Schicksalsfrage Russlands, wie sie von Wladimir Putin in der Wendung von der «größten geopolitischen Kata­ strophe des 20. Jahrhunderts» aufgeworfen wurde und in Formen eines nach allen Seiten kriegsbereiten großrussischen Revisionismus heute neu aufgerollt wird. Dass gerade die Wiedergeburt des alten «großrussischen Chauvinismus» die Gründung einer Union sozialistischer Sowjetrepubliken auf dem Ter­ ritorium des alten Russländischen Reiches zu Fall bringen könnte, war ein Gedanke, der Lenin als Todkranken noch einmal jäh umgetrieben hat. In dem neuen sowjetischen Staatsmoloch, seinem eigenen Ge­ schöpf, sah er plötzlich die Züge jenes Apparats durchschimmern, «den wir  … vom Zarismus übernommen und nur ganz leicht mit Sowjetöl

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g­ esalbt haben» und dem er einen letzten «Kampf auf Leben und Tod» zu liefern schwor. Auf keinen Fall dürfe Sowjetrussland wieder «in imperi­ alistische Beziehungen zu den unterdrückten Völkerschaften hineinschlit­ tern»36 – eine panische Vision, die sich mit trüben Betrachtungen über die «Kulturlosigkeit» der bäuerlichen Massen Russlands und über die Beschränktheit und Lernunwilligkeit eines Großteils seines Staats- und Parteikaders, der selbst aus diesen «finsteren» Massen stammte, ver­ band. Dieser Argwohn hatte sich unter anderem an Stalins erstem Verfas­ sungsentwurf entzündet, der die Gründung eines neuen Gesamtstaats durch den einfachen «Beitritt» der neuen, nichtrussischen Republiken zur Russischen Föderativen Sowjet-Republik vorsah. Stalins Entwurf hätte ihnen nicht nur das formelle Recht auf einen «Austritt» aus dem Staats­ verband verwehrt (von dem in Wirklichkeit natürlich keine Rede sein konnte), sondern auch ihre nominelle Gleichrangigkeit kassiert. Der Hintersinn von Stalins Verfassungsvorschlag, den er nach Lenins Einspruch zurückzog, wäre es freilich gerade gewesen, das Übergewicht des russischen Staatsvolks zu neutralisieren und gleichzeitig direktere Möglichkeiten für das bolschewistische Parteizentrum zu schaffen, die nationalen Spannungen auszutarieren. In diesem Sinne war sein Entwurf nicht «großrussisch», sondern eher «russländisch-imperial» und zugleich «inter-nationalistisch» inspiriert. Im Übrigen sah er für «ein künftiges Sowjet-Deutschland, Polen, Ungarn, Finnland» die Möglichkeit einer «Konföderation (einer Union unabhängiger Staaten) als der angemes­ sensten Form des Zusammenschlusses» mit Sowjetrussland vor. Was wiederum Lenins Zorn hervorrief, da er dies nun umgekehrt als ein Zu­ geständnis an den Nationalismus der europäischen Beitrittsländer wer­ tete. Denn in nicht zu ferner Zukunft werde es «eine zentralisierte Welt­ wirtschaft, die von einem einzigen Organ geleitet wird», geben müssen, wie das nur in einer «Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken Europas und Asiens» zu gewährleisten sei.37 Aber so konnte der entstehende neue Überstaat sich vorläufig nicht nennen; zumal die Perspektiven eines «Sowjet-Deutschland», «Sowjet-­ Polen» oder eines «Sowjet-China» in weitere Fernen rückte und Lenins Vorstellungen selbst in zunehmend wirrer Weise zwischen den Polen von Selbstbestimmung und Verschmelzung, Zentralismus und Föderalismus schwankten. So war die Bezeichnung des neuen Staatswesens als einer national nicht näher bezeichneten «Union Sozialistischer Sowjetrepubli­ ken» (UdSSR) ein Kompromiss, der die widerstrebenden Ambitionen

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und Interessen der Fraktionen wie der nominellen Verfassungssubjekte in eine Sammlung von Formelkompromissen überführte, auf deren Geltung sich ohnehin niemand berufen konnte. Letztlich war es die neu formierte Machtkohorte der Bolschewiki, die sich wie eine Super-Ethnie des alten Vielvölkerreichs bemächtigte – und dies binnen Kurzem in der Umbenennung alter Städte, ganzer Gebiete und stolzer Berggipfel auf die Namen verstorbener, und bald auch leben­ der Führer von Partei, Staat und Armee auch zum Ausdruck brachte. Man kann das wie eine zweite Landnahme sehen, nach der Übernahme der prunkvollen Paläste des alten Regimes und der prachtvollen Villen und Datschen der enteigneten Bourgeoisie durch die Granden, Vasallen und Organe der Partei, der Armee und des Staates sowie diverser «ge­ sellschaftlicher Organisationen». So erhielt schon 1920 Nowo-Nikolajewskaja am Asowschen Meer den Namen «Budjonnowka» nach Semjon Budjonny, dem Komman­ deur der roten Reiterarmee. Die alte Stadt Aschchabad wurde in «Polt­ oratsk» nach dem «Befreier Turkmenistans» Poltoratski umbenannt. Nach dem Attentat auf Lenin und nach seiner Erkrankung waren zwei Ortschaften bei Petersburg und bei Moskau in «Leninsk» oder «Ulja­ nowka» umbenannt worden. Er selbst betrieb das nicht, verbot es aber auch nicht, so wenig wie er den an seinem 50. Geburtstag 1920 begin­ nenden Kult um seine Person wirksam unterband. Das alles trat insoweit noch in eine Tradition ein, die tatsächlich aus der Zarenzeit überkommen war, in der die Gründer und Erbauer einer der neuen Städte des Imperiums (Zaren und Großfürsten) oder die Er­ oberer einer der alten Städte an der Peripherie (prominente Generäle oder Statthalter) diesen ihren Namen hatten beilegen können  – eine Herrschaftspraxis, die nun demonstrativ umgekehrt wurde, indem z. B. der Petersburger Liteini-Prospekt in Wolodardski-Prospekt oder der Wladimir-Platz in Nachimson-Platz umbenannt wurden. Eine andere Qualität hatte es allerdings schon, als 1923 ausgerechnet Trotzki, der sich später über die neue sowjetische Industrie zur «Erfindung phantas­ tischer Biografien» und «Führerreklame auf Bestellung» so sehr erhei­ tern würde, es zumindest duldete, dass die Stadt Gatschina bei Peters­ burg, wo er seine erste Schlacht geschlagen hatte, in «Trotzk» umbe­ nannt wurde. Das war, zumindest aus der Sicht seiner Rivalen, ein Schachzug im Kampf um die Nachfolge, der den bisherigen Rahmen überschritt.

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Die Umbenennung von Sankt Petersburg, der zweihundertjährigen Hauptstadt des Reiches, der Stadt Peters des Großen, von «Petrograd» (dem russifizierten Kriegsnamen von 1914) in «Leningrad», also Lenin­ stadt, im Frühjahr 1924, unmittelbar nach der Einschreinung des toten Führers in einem noch provisorischen Mausoleum auf dem Roten Platz, war dagegen ein Akt von ganz anderer Reichweite und in seiner Art bei­ spiellos. Diese spektakuläre Umbenennung öffnete die Schleusen eines ungehemmten Führer- und Personenkults um den Verstorbenen. Sein Geburtsort Simbirsk wurde zu «Leninsk», und so ging es weiter, bis es «Leninos», «Leninabads», «Iljitschgorods» usw. im Dutzend gab. Aber damit wurden auch die Ventile eines aufgestauten Konkurrenz­ drucks im Zentrum der Macht geöffnet. Als erstes wurde Jekaterinburg nach dem toten «Swerdlowsk» benannt, der dort die Ermordung der Zarenfamilie angeordnet hatte. Nachdem es Stalin im April 1925 gelun­ gen war, aus dem nun schon in seine persönliche Legende eingegangenen Zarizyn «Stalingrad» zu machen und für dessen beschleunigten Ausbau zur Industrie- und Verkehrsmetro­pole bedeutende Mittel zur Verfügung zu stellen, gab es kein Halten mehr. In kürzester Zeit erbeuteten mehr oder minder sämtliche Mit­glieder des Politbüros eine Stadt und manch­ mal auch schon zwei, so wenn aus Elisawetagrad «Sinowjewsk» und aus Jusowka (dem heutigen Donezk) «Stalino» wurde. Bald waren solche Ehrungen auch den Armee­führern und schließlich selbst lokalen Staatsund Parteiführern oder Kommandeuren nicht zu verweigern, die Straßen und Plätzen, Fabriken und Heimen, Schulen und Hochschulen, kleinen oder größeren Ortschaften ihre Namensstempel aufdrückten.38 Wohlgemerkt, man war gerade im Jahr Sieben der neuen, revolutionä­ ren Zeitrechnung angekommen, und die Usurpatoren waren alle noch recht junge Männer zwischen 35 und 45. Aber schon gingen sie daran, dieses eben erst zusammengezimmerte, noch immer verwüstet dalie­ gende oder sich mühsam erholende Reich auf ihre bis vor Kurzem voll­ kommen unbekannten Namen zu taufen. Auf die Gefahr hin, sich zu wiederholen: Findet sich ein anderes historisches Beispiel für eine solche Vermessenheit?

VIERTES BUCH

Der Kommunismus in seinem Zeitalter

TEIL XI

Der rote Planet

1. Phantome einer Weltrevolution

Eine Moskauer Weltpartei

W

ie aus dem Urchaos der russischen Revolution eine sich immer weiter festigende, ausdehnende und totalisierende bolschewistische Machtformation entstanden ist, lässt sich – so «unwahrscheinlich» das schon war – aus den Verhältnissen des Russländischen Reiches weitaus plausibler erklären als die anschließende Frage: wie es Lenin und seiner Partei gelungen ist, eine bolschewistische Weltpartei zu schaffen, die als Petrischale, Brutkasten und Aufzuchtstation weiterer kommunistischer Parteien auf allen fünf Kontinenten gedient hat. Die Gründung einer «Kommunistischen Internationale» in Moskau im März 1919 war zunächst Teil eines Nachkriegsszenarios, das Lenin nach der (als Waffenstillstand verkleideten) deutschen Kapitulation im Novem­ber 1918 entwickelt hatte: Jetzt stehe Sowjetrussland alleine der «Siegergruppe» der imperialistischen Mächte gegenüber, die «ihre Haupt­ aufgabe darin (sieht), den Weltbolschewismus zu erwürgen».1 Deshalb gelte es, alle Kräfte zu sammeln und für den auch im Westen nun bevor­ stehenden Weltbürgerkrieg zu mobilisieren. Die hastig improvisierte, viele der geladenen Teilnehmer überrum­ pelnde Gründung einer neuen, dritten Internationale hatte unter diesen Umständen einen doppelten Zweck: Sie war eine Antwort auf das mehr oder weniger ergebnislos verlaufene Versöhnungstreffen der durch den Krieg entzweiten und in konkurrierende Flügel gespaltenen Parteien der alten, zweiten Sozialistischen Internationale im Vormonat in Bern, das die radikaleren Segmente heimat- und orientierungslos zurückgelassen hatte. Zugleich war die Gründung der Moskauer Internationale aber auch eine strategische Reaktion auf die im Januar eröffneten Friedens­ konferenzen, die, wie Lenin in seiner Rede prophezeit hatte, den Besieg­ ten einen Frieden auferlegen würden, dessen Bedingungen noch weitaus drückender sein würden als die des deutschen Diktats in Brest – und der dementsprechend auf Widerstand treffen und die Welt in Aufruhr verset­ zen statt befrieden musste, was neue Chancen eröffnete. Unter den 51 «Delegierten», die sich zur Gründungsversammlung im

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Kreml einfanden, waren ganze neun Auswärtige; den Rest bildeten ein­ zelne, in Russland anwesende Sozialisten, die sich im Vorjahr schon zu einer «Föderation ausländischer Gruppen» innerhalb der KP Russ­ lands (B) zusammengeschlossen hatten, aber sonst kein Mandat besa­ ßen. Etliche von ihnen waren ehemalige Kriegsgefangene oder Zivil­ internierte. Die Hauptverhandlungssprache der neuen Internationale war Deutsch; künftiger Sitz sollte in Berlin sein. Bevor es aber so weit war, würde die Armee Sowjetrusslands, wie Trotzki versicherte, «die Rote Armee der Dritten Internationale» bilden  – bereit, überallhin zu marschieren, wohin sie gerufen wurde.2 Nur in Österreich und Deutschland, in Ungarn und der Tschechoslo­ wakei hatten sich im Moment des Zusammenbruchs schon kleine Par­ teien nach bolschewistischem Vorbild gegründet. In allen sozialistischen Massenparteien Europas kam es jedoch zu scharfen Linkswendungen oder ersten Spaltungen, die von Massenstreiks, der Bildung von Betriebs­ räten und einem Zustrom zu den Gewerkschaften begleitet wurden. Überall bildeten demobilisierte Soldaten mit bewaffneten Arbeitern, ge­ führt von radikalisierten Künstlern und Intellektuellen sowie Rückkeh­ rern oder Emissären aus Sowjetrussland eine Kräftekombination, die in vieler Hinsicht an Petrograd 1917 erinnerte. So trat auch Karl Radek, der sich als Instrukteur und geheimer Leiter der zu gründenden Kommunistischen Partei Deutschlands und einer un­ mittelbar bevorstehenden deutschen und mitteleuropäischen Revolution sah, mit der Aura eines Abgesandten Lenins auf. Bei seinem Eintreffen in Berlin Weihnachten 1918 war er allerdings auf die fast allergische Abwehr seiner einstigen Mentorin Rosa Luxemburg gestoßen, die laut erklärte: «Wir brauchen keinen Kommissar für Bolschewismus.»3 Von ihrer Bres­ lauer Gefängniszelle aus hatte sie die Verhandlungen der Sowjetvertre­ ter in Berlin im Sommer 1918 mit wachem Misstrauen verfolgt und an Julian Marchlewski in Moskau geschrieben: «Das Gespenst einer ‹Alli­ anz› mit dem ‹Reich der Mitte› (dem deutschen Kaiserreich) scheint im­ mer drohender zu werden, und das wäre schon die letzte Sauerei, dann schon wirklich besser den Strick um den Hals.»4 In der von ihr verfassten Programmerklärung des Spartakusbundes vom Dezember 1918, die auch der Gründungsversammlung der KPD vorlag, hatte sie zwar gefordert: «Der Gewalt der bürgerlichen Gegen­ revolution muss die revolutionäre Gewalt des Proletariats entgegengestellt werden.» Aber in prinzipieller Abgrenzung von den bolschewistischen Praktiken hieß es auch: «Die proletarische Revolution bedarf für ihre

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Ziele keines Terrors, sie hasst und verabscheut den Menschenmord … Sie ist kein verzweifelter Versuch einer Minderheit, die Welt mit Gewalt nach ihrem Ideal zu modeln.»5 Genau umgekehrt hatte Radek im Organ der «Bremer Linksradikalen» die Stellung zum Bolschewismus und «roten Terror» für entscheidend er­ klärt: «Die sozialistische Arbeiterrevolution Russlands zeigt dem europä­ ischen Proletariat den Weg, der zur Macht führt … Wen dieses Gesicht erschreckt, wer sich davon abwendet wie von einem Medusenhaupte, der wird sich von der proletarischen Revolution überhaupt …. abwenden.»6 Im geschlagenen Deutschland gelte das erst recht. Denn, so Radek am 31. Dezember 1918 gegenüber den Delegierten des Spartakusbundes und einer Reihe kleiner linksradikaler Gruppen: Die in Versailles und anderen Pariser Vororten zusammentretenden Sieger des Weltkriegs wollten sich ganz Mitteleuropas bemächtigen und die Revolutionen erdrosseln, so wie sie es mit ihren Interventionsarmeen eben jetzt in Russland versuchten. Damit ziehe die Weltrevolution, der «internationale Bürgerkrieg», mit Eilschritten und eiserner Konsequenz herauf. Deshalb sei nicht die defä­ tistische «Wehrlosmachung des deutschen Volkes», sondern ein revolu­ tionärer Widerstand gegen das zu erwartende Friedensdiktat und eine drohende alliierte Okkupation das Gebot der Stunde. Einem auf revolu­ tionäre Weise «wehrhaft gemachten» Deutschland biete Moskau einen «Waffenbund» an, auf den es rechnen könne, denn: «Nichts ruft einen solchen Enthusiasmus bei den russischen Arbeitern hervor, als wenn wir ihnen sagen, es kann die Zeit kommen, wo die deutschen Arbeiter euch zu Hilfe rufen und wo ihr zusammen mit ihnen am Rhein kämpfen müsst, wie sie an unserer Seite am Ural kämpfen werden.»7 Bereits Ende 1919/Anfang 1920 war jedoch klar, dass die fiebrigen ­Erwartungen eines unmittelbaren Umschlags des Weltkriegs in einen ge­ samt- oder mitteleuropäischen Bürgerkrieg auf der Lenin’schen Kampf­ linie zwischen «Weltimperialismus und Weltbolschewismus» nicht auf­ gegangen waren. Für die noch kaum existierende Dritte Internationale war es ein erstes Jahr der Niederlagen, denen viele folgen würden. Schon die forcierte Gründung der KPD war Ergebnis einer demokrati­ schen Niederlage gewesen: Karl Liebknecht, der Sohn des Mitgründers der deutschen Sozialdemokratie, ein Schwarmgeist, der in der Moskauer «Prawda» bereits zum Führer der deutschen Revolution ausgerufen wor­ den war, hatte am 19. Dezember auf dem Reichskongress der Arbeiterund Soldatenräte für seine Proklamation einer sozialistischen deutschen

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Räterepublik kaum ein Zehntel der rund 500 Delegierten gewinnen kön­ nen. Stattdessen hatte dieser erste allgemeine deutsche Rätekongress, wie der erste Rätekongress Russlands im Frühjahr 1917 auch, Wahlen zu einer verfassunggebenden Versammlung verlangt und Grundzüge einer «sozia­ len Republik» entworfen, die auf eine Kombination parlamentarischer und rätedemokratischer Institutionen sowie auf eine von Belegschaften und Gewerkschaften kontrollierte Sozialisierung der Schlüsselindustrien hinauslief, nicht aber auf eine Verstaatlichung der Wirtschaft als Ganzer. Erste Versuche, dem von Sozialdemokraten beider Flügel gestellten «Rat der Volksbeauftragten» durch bewaffnete Aktionen der «Volks­ marine-Division» das Heft aus der Hand zu nehmen, waren an Weih­ nachten bereits gescheitert, so wie ein improvisierter Umsturzversuch in Wien einen Monat zuvor auch. In ähnlicher Weise wurde Anfang Januar 1919 der sogenannte «Spartakus-Aufstand», der sich aus einem General­ streik unter Führung einer Gruppe «Revolutionärer Obleute» der Berliner Großbetriebe und aus Hungerdemonstrationen mit Hunderttausenden von Teilnehmern heraus entwickelt hatte, binnen weniger Tage blutig nie­ dergeschlagen. Liebknecht, der sich hatte überreden lassen, den Vorsitz eines «Revolutionsausschusses» zu übernehmen, und Luxemburg, die sich gegen die in Gang gekommenen Aktionen einer bewaffneten Min­ derheit nicht stellen wollte, obwohl sie sie missbilligte, wurden von Frei­ korps-Kämpfern, die der sozialdemokratische Wehrminister Noske neben regulären Truppen aufgeboten hatte, bestialisch gelyncht, so wie Dut­ zende gefangener Aufständischer auch. Radek, der sich seit seinem Auftritt auf dem Gründungsparteitag ver­ borgen gehalten hatte, versuchte einen «Nachrichtendienst» zu organisie­ ren. Aus Moskau waren einige weitere Aktivisten wie Samuil Sachs-Glad­ new, Mieczysław Broński und Julian Marchlewski, der im Ruhrgebiet tätig werden sollte, nachgekommen. Die Führung der vorerst abgetauch­ ten KPD-Spartakus fiel an Leo Jogiches zurück, bevor er im März eben­ falls gefangen genommen und ermordet wurde. Es waren vor allem ­Aktivisten der alten Polnisch-Litauischen Sozialdemokratie, die an der Spitze der wenigen deutschen Kommunisten und des ersten, dem bol­ schewistischen Oktoberstreich nachgebildeten Projekts eines «bewaffne­ ten Aufstands» in Berlin standen. Wie peripher und wie kontraproduktiv dieses Projekt war, zeigte sich auch, als nur eine Woche nach dem Spartakus-Aufstand in Berlin, am 19. Januar 1919, die Deutschen – alle Männer und (erstmals) Frauen ab

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dem 20. Lebensjahr – aufgefordert waren, in freier, gleicher und geheimer Wahl eine verfassunggebende Nationalversammlung zu bestimmen. Bei einer Wahlbeteiligung von 83 % war dies «das bei weitem eindrucks­ vollste demokratische Schauspiel in der ganzen westlichen Welt».8 Die SPD gewann 38 % der Stimmen, während die USPD, in der Sympathisan­ ten der Bolschewiki mit ihren schärfsten Kritikern wie Karl Kautsky ko­ existierten, nur ernüchternde 8 % erhielt. Die Parteien der Rechten, von den Nationalliberalen bis zu den Deutschnationalen, kamen auf weniger als 15 % der Stimmen. Mit den liberalen Deutschen Demokraten und dem katholischen Zentrum konnten die Sozialdemokraten eine «Weimarer Koalition» bilden, die Dreiviertel aller Mandate auf sich vereinte und die Ausarbeitung der neuen Verfassung in einem sozialstaatlich-liberalen Geiste dominierte. Dieser Schein einer demokratischen Konsolidierung kontrastierte aller­ dings mit der anhaltenden, fiebrigen Unruhe, von der das Deutsche Reich wie fast alle Länder Europas, auch die Siegermächte und selbst die USA, erfasst waren und die sich in einer Welle von Streiks und Sozialpro­ testen jeder Art niederschlug. Mit rund 4000  Streiks jährlich, die von Straßenunruhen und bürgerkriegsartigen Kämpfen begleitet waren, stand das Deutsche Reich dabei so ziemlich an der Spitze. Unter dem Eindruck von Hunger und Epidemien, vor allem der Spanischen Grippe, ging es wie in allen anderen Ländern vorrangig um Löhne und die nackte Exis­ tenz, aber auch schon um den Acht-Stunden-Tag und die Sozialisierung der Schlüsselindustrien. Überall in dieser Nachkriegswelt raste die Inflation, mit der die exor­ bitanten Kriegsschulden getilgt wurden. Die Sozialmaßnahmen gegen die Massenverarmung waren selbst im reichen England kaum mehr als Beruhigungsmittel, und erst recht im besiegten, noch immer unter Blockade gehaltenen Deutschland. Drastische Vermögensabgaben zur Tilgung der Kriegsschulden ließen sich politisch und ökonomisch kaum durchsetzen. Dennoch schmolzen auch viele große, ererbte Vermögen in der Inflation zusammen und wurden überall dort, wo monarchische durch republikanische Ordnungen ersetzt wurden, ständische Privilegien kas­ siert. Das aber trug zur Stabilität keineswegs bei, sondern erzeugte eher einen «weißen» Sozialhass von oben gegen die neue, demokratische Ordnung und ihre plebejischen Träger.9 Die Münchner Räterepublik, die sich im Frühjahr 1919 aus einer kaum zu entwirrenden Verschlingung politischer, sozialer und nationaler Mo­ tive unter linkssozialistischer Führung etabliert hatte, konnte sich unter

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diesen Umständen nur für kurze Zeit halten, erst recht, nachdem die Führung hier ebenfalls in die Hände bolschewistischer Emissäre über­ gegangen war. In ähnlicher Weise hatte sich auch eine Räterepublik in Bu­ dapest gebildet. Auf der Maikundgebung im umzingelten Moskau ver­ kündete Lenin allen Ernstes, «dass binnen eines Jahres ganz Europa ­sowjetisch» sein werde; und auf Gruß-Telegramme aus Budapest und München antwortete er mit eigenen Telegrammen, in denen er sich mah­ nend erkundigte, ob die Genossen auch die Arbeiter bewaffnet, die Bourgeoisie ­entwaffnet, die Fabriken und Reichtümer konfisziert, die Presseorgane beschlagnahmt, die Banken übernommen und Geiseln aus der konter­revolutionären Bourgeoisie genommen hätten – was sich, in Ansätzen realisiert, als ein Rezept für den Untergang erwies. Geführt von den in Russland geborenen, in Deutschland aufgewach­ senen Mitgründern der KPD Eugen Leviné und Max Levien, wurde die Münchner Räterepublik nach wenigen turbulenten (viele fanden: karne­ valesken) Wochen unter dem Applaus großer Teile des städtischen Bür­ ger- und Kleinbürgertums durch einen Einmarsch regierungstreuer Trup­ pen und rasch gebildeter Freikorps niedergeschlagen. Besiegelt wurde dieser leichte Sieg mit einer Serie willkürlicher Exekutionen, brutaler Lynchaktionen und glatter Justizmorde. Dagegen war die Ungarische Räterepublik schon ein ernsterer Fall. Angeführt wurde sie von Béla Kun (Kohn) und Mátyás Rákosi (Rosen­ feld), die, in russischer Kriegsgefangenschaft zu Bolschewiken gewor­ den, nach Ungarn entsandt worden waren. Der Eintritt der Kommunis­ ten in die von Sozialdemokraten geführte Regierung im April 1919 war mit der expliziten Hoffnung verbunden, im Kampf gegen die in Trianon sich abzeichnende Aufteilung Ungarns Waffenhilfe der russischen Roten Armee zu erhalten, die gerade zum zweiten Mal die Ukraine überrannt hatte. Anfangs war die sozial- und nationalrevolutionäre Mobilmachung bei der Aufstellung einer Ungarischen Roten Armee höchst erfolgreich. Sie wurde von einem irregulären «roten Terror» nach Tschekisten-Art in Leder gekleideter «Lenin-Jungs» begleitet und folgte auch sonst fast sklavisch den bolsche­wistischen Mustern, nur um nach 133 Tagen vor den von der Entente unterstützten rumänischen Invasionstruppen und einer «weißen» Nationalarmee unter dem ehemaligen k. u. k-Admiral Miklós Horthy zu kapitulieren. Wer nicht fliehen konnte, wurde Opfer eines «weißen Terrors», der weitaus systematischer war als der vorangegangene «rote Terror» und durch eine mehr oder minder offizielle antisemitische Hasspropaganda

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an «Volkstümlichkeit» gewann, aber auch international ausstrahlte – nicht zuletzt zurück bis nach München, wo ein merkwürdig guttural ­redender Bierhallendemagoge, der buchstäblich aus dem Nichts der ­Kasematten auftauchte, sich wenige Monate nach dem Ende der Räte­ republik zum Führer einer «Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiter­ partei» aufschwingen sollte. Dieser virulente, zu Ausrottungsphantasien gesteigerte Antisemitismus konnte sich in den bürgerkriegsartigen Zuständen immerhin an Realitäts­ partikeln kondensieren, die allerdings weniger die Macht als die Ohn­ macht des halb imaginären, halb realen «internationalen» (und implizit «jüdischen») Bolschewismus demonstrierten. Wenn Hitler die Weimarer Republik insgesamt als eine «Judenrepu­ blik» denunzierte oder vom «jüdischen Marxismus» sprach, dann war keineswegs nur die passagere Rolle jüdischer Kommunisten in den Tagen einer deutschen Revolution angesprochen, sondern vor allem die sicht­ bare Gegenwart jüdischer Sozialdemokraten und Liberaler in der ersten Phase der neuen Republik. Darüber hinaus ging es um die Rolle, die ­jüdische Bankiers, Kaufleute und Industrielle, Ingenieure und Wissen­ schaftler, Künstler und Literaten, liberale Politiker oder sozialistische Arbeiterführer in den Umwälzungen dieses Zeitalters, oft gegen ihre eigenen konservativen Neigungen, gespielt haben. Auch in diesem Sinne propagierte Hitlers erster Mentor Dietrich ­Eckart, der eigentliche Erfinder des Münchner «Nationalsozialismus», noch im August 1919 einen «deutschen Bolschewismus», der als erstes die Abschaffung der «Zinsknechtschaft» erzwingen müsse, unter die das Deutsche Reich durch die Siegermächte und die jüdische Weltfinanz ge­ raten sei  – wohingegen die Aufgabe des lügnerischen, nämlich «jüdi­ schen Bolschewismus» darin bestehe, durch Ausrottung aller nationalen Eliten und gesunden Volkskerne und mittels Kollektivierung der arbei­ tenden Volksmassen diese Zinsknechtschaft zu verewigen.10 Das war das Standardargument der deutschen Antisemiten, in dem die jüdischen Füh­ rer des russischen Bolschewismus und der «roten Internationale» vor ­allem als die Höllenhunde des internationalen Finanzkapitals firmierten, einer «goldenen Internationale», deren Sitz in London und New York lag und bei der alle Fäden zusammenliefen.11 Wie alle großen Verschwö­ rungstheorien hatte diese Theorie einer «jüdischen Weltverschwörung» den Vorteil, eingängiger zu sein als alle sonstigen Versuche, die Realitä­ ten dieser Zeit zu begreifen.

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Nach Westen, marsch, marsch! Die wirkliche Gründung der Kommunistischen Internationale erfolgte erst auf dem II. Kongress im Juli/August 1920, an dem mehr als 200 De­ legierte aus 37 Ländern teilnahmen. Zwei Drittel von ihnen vertraten ein knappes Dutzend kleiner, mittlerweile existierender Kommunistischer Parteien, der Rest linke Abspaltungen, Fraktionen oder Parteien, die ei­ nen Beitritt erwogen. Dazu kamen noch einige illustre Beobachter. Natürlich war es ein ungeschminktes Diktat, wenn der vorab schon ernannte Vorsitzende Grigori Sinowjew den Versammelten «21 Bedin­ gungen» vortrug, die verbindlich festlegten, dass alle Mitgliedsparteien nur als nationale «Sektionen» einer einheitlichen Gesamtorganisation zu betrachten seien, eben einer «Weltpartei», die nach bolschewistischem Vorbild selbst «demokratisch-zentralistisch» organisiert und von einer Moskauer Zentrale aus geführt würde, und zwar durch ein Exekutiv­ komitee, in dem die russischen Genossen ihrem Gewicht entsprechend klar dominierten. Für alle, die mit von der Partie sein wollten, gab es nur den bedingungslosen Zutritt, nichts sonst. Die Mitgliedsparteien der Komintern wurden per Statut verpflichtet, den Charakter von Kampf- und Kaderparteien bolschewistischen «neuen Typs» anzunehmen. «Fast in allen Ländern Europas und Amerikas tritt der Klassenkampf in die Phase des Bürgerkrieges ein», hieß es in Punkt 3 der «21 Bedingungen», weshalb auch die legal existierenden und even­ tuell in Parlamenten vertretenen Kommunistischen Parteien verpflichtet wurden, einen «parallelen illegalen Organisationsapparat zu schaffen».12 Gleichzeitig hatten sie sich aller «Reformisten» und «Sozialpazifisten» zu entledigen und zugleich aller «Linksradikalen» oder sonstigen Ab­ weichler, wie Lenin sie in seinem Pamphlet über den «Linksradikalismus als Kinderkrankheit des Kommunismus» angeprangert hatte. Für die gerade erst stark gewordenen Massenparteien wie die italieni­ schen und die französischen Sozialisten, ebenso wie für die deutschen Unabhängigen, die gerade mit 17,9 % der Stimmen einen Triumph bei den Reichstagswahlen erlebt hatten, bedeutete das, sich unter Anleitung eigens entsandter Emissäre  – im Falle der USPD des Kominternvorsit­ zenden Sinowjew persönlich – aufzuspalten und mit den viel kleineren Kommunistischen Parteien zu fusionieren oder sie erst zu gründen; und dies selbst dann, wenn ein Großteil oder die Mehrheit der Mitglieder nicht mitzog.

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Für die Kräfteverhältnisse der Zwischenkriegsjahre waren das folgen­ reiche, in einigen europäischen Ländern bereits verhängnisvolle Grund­ satzentscheidungen. Das demonstrierte vor allem die nahezu widerstands­ lose Machtübernahme durch Mussolini und seine faschistische Bewegung im Oktober 1922 in dem von Klassenkriegen zerrissenen Italien. Die eben noch so starke Sozialistische Partei, die als einzige in Europa wäh­ rend des Weltkriegs allen chauvinistischen Versuchungen getrotzt hatte und intakt geblieben war, schrumpfte nach ihrer von Moskau ultimativ erzwungenen Spaltung zu einem Schatten ihrer selbst. Dagegen blieb die von einer Minderheit der «reinen Kommunisten» unter Führung von Amadeo Bordiga und Antonio Gramsci gegründete Kommunistische Partei Ita­liens eine intellektuell attraktive, politisch aber kraftlose Neu­ gründung, deren Stunde erst zwei Jahrzehnte später schlagen würde. Vor dem Forum dieser neuen, kommunistischen Internationale ent­ rollte Lenin in seiner großen Eingangsrede das Panorama einer Welt, worin vier Fünftel der Menschheit, einschließlich der Besiegten des Weltkriegs (Österreich, Ungarn, Bulgarien und vor allem Deutschland) seit dem Versailler Friedensdiktat einem kolonialen Ausbeutungsregime der Siegermächte unterworfen seien. Milliarden Ausgebeuteten und ­Unterdrückten dieser Erde, von Deutschland bis China, standen somit «nicht mehr als eine Viertelmilliarde Einwohner in den Ländern (gegen­ über), die  … von der Aufteilung der Welt profitierten». Gleichzeitig hatte das US-amerikanische Finanzkapital aber auch die «alten» Kolo­ nialmächte Großbritannien und Frankreich schon in eine Schuldknecht­ schaft gebracht, von der diese sich durch gesteigerte Aggressivität nach allen Seiten zu befreien trachteten – eben durch die Schuldendiktate und Zwangsvollstreckungen gegen ihren deutschen Rivalen wie durch ge­ waltsame Versuche, Kolonialimperien und Einflusszonen zu behaupten oder noch zu erweitern. Alle zusammen aber steuerten diese Sieger­ mächte des Westens dem absehbaren «Zusammenbruch des kapitalisti­ schen Weltsystems» entgegen.13 Unter diesen Umständen konnte die Internationale nicht mehr nur eine Kampforganisation der Proletarier aller Länder sein, sondern sie musste zur Befreiungsorganisation aller von den «Versailler Mächten» unterdrückten, von den USA ausgesaugten Völker der Welt werden  – und in diesem Sinne ein Anti-Völkerbund, dessen Verkehrs- und Amts­ sprachen Deutsch und Russisch waren, während im Genfer Völkerbund­ palast Französisch und Englisch gesprochen wurden.

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Das seit 1917 beschworene Phantom einer «Weltrevolution» war nicht ganz so ominös und rein ideologisch, wie es im Nachhinein wirkt. Gewiss, die «gesetzmäßige» Verwandlung des Weltkriegs in einen Weltbürgerkrieg war nicht mehr als eine haltlose Hypothese, die das vollkommen Theo­ riewidrige und Halsbrecherische der bolschewistischen Machtübernahme überspielen und legitimieren musste – was im Umkehrschluss hieß, dass ein russischer «Kriegskommunismus» nur als Initialzündung überhaupt Sinn hatte und Sowjetrussland ohne eine sozialistische Revolution im Westen dem Untergang geweiht war. Also musste man der darbenden Be­ völkerung und dem eigenen Machtkader in immer neuen pathetischen Formeln und Ausmalungen die heraufziehende Revolution im Westen vorgaukeln. Auf den en masse produzierten Plakaten und Karikaturen, die wie in den apokalyptischen Bilderfluten von 1905 zu einer eigenen, eindrucksvollen Kunstgattung wurden, erschien die Welt als ein großes Panoptikum arche­typischer Figuren, in dem das auf Geldsäcken thro­ nende Weltkapital die prominenten westlichen Staatsmänner, weißen Ge­ neräle und fetten Popen vorschickte, während die roten Recken Russlands und das aufbegehrende Proletariat aller Länder ihnen in einem blutigen «letzten Gefecht» entgegentraten, dessen Ausgang schon klar war. Ihren realpolitischen Kern hatte diese bolschewistische Rhetorik und Propaganda aber immerhin in der Tatsache, dass – wenn man den Begriff weiter fasst – eine vom Weltkrieg ausgelöste «Weltrevolution» tatsächlich im Gange war, nämlich in Gestalt eines «Nachkriegs», der sich, kaum dass die Waffen an den Fronten schwiegen, in einem weiten Krisenbogen von den kaukasischen und nahöstlichen Grenzzonen des zerfallenen ­Osmanischen Reichs über die südost- und mitteleuropäischen Länder des Habsburgischen Reichs bis zu den baltischen und polnischen Sied­ lungs- und Okkupationsgebieten des besiegten Deutschen Reichs entwi­ ckelte. In einem schier unendlichen Panorama von Umstürzen, Grenz­ kriegen, ethnischen «Säuberungen» und Massakern sind zwischen 1918 und 1923 allein auf den Territorien des Habsburgischen und des Osma­ nischen Reiches noch einmal etwa drei bis vier Millionen Menschen ge­ waltsam ums Leben gekommen.14 So waren die Pariser Friedenskonferenzen (in Versailles, St. Germain, Neuilly, Trianon und Sèvres) in der Hauptsache damit beschäftigt, diese an allen Ecken aufflammenden Konflikte einzudämmen, indem neue Grenzen gezogen und Staaten gegründet, hier Minderheitenrechte eta­ bliert, dort «Bevölkerungstransfers» (die euphemistische Bezeichnung für Vertreibungen und Deportationen) organisiert oder sanktioniert wurden

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und neue Institutionen wie vor allem der «Genfer Völkerbund» zur Schlichtung künftiger Konflikte gegründet wurden. Weit über Europa und seine Randgebiete hinaus wurde die Weltkarte von Afrika über den Nahen Osten bis nach Asien neu gezeichnet. Dass die Regelungen dieser Pariser «Vorortverträge» ebenso viele neue Kon­ flikte schufen oder anheizten, wie sie beilegten, zumal die Garantiemächte dabei vielfach ihren eigenen, miteinander im Konflikt liegenden impe­ rialen Interessen folgten, war Teil einer globalen Revolution/Restaura­ tion, wie es sie so noch nie gegeben hatte. Aus dem Tableau dieses weltweiten Nachkriegs und seiner Akteure ragt der russische Bürgerkrieg allerdings durch seine ungeheuerlichen Men­ schenverluste von rund zehn Millionen Toten noch einmal weit heraus. Was ihn zu einem vollkommen neuartigen Ereignis machte, war aber erst der aufs Ganze gehende, «totalitäre» Charakter der Politik seiner Sieger, der Bolschewiki, der sich nicht zuletzt in ihrem grenzenlosen Gel­ tungs- und Gestaltungsanspruch manifestierte. Insofern war Lenin eine Figur vollkommen anderer Statur und Ausstrahlung als ein Atatürk oder Piłsudski. Wo jene Staaten gründeten, begann erst der lange Marsch der roten Parteiarmee Lenins in ein historisches Niemandsland, der der alten russischen «Jagd nach der Grenze» gleichzeitig vollkommen neue Di­men­ sionen hinzufügte. «Soldaten der Roten Armee! Der Tag der Abrechnung ist gekommen … Über den Leichnam Weißpolens hinweg führt der Weg zum allgemeinen Weltenbrand. Auf den Spitzen unserer Bajonette werden wir der werk­ tätigen Menschheit Glück und Frieden bringen. Nach Westen! Die Stunde des Angriffs hat geschlagen. Nach Wilna, Minsk und Warschau! Marsch, marsch!»15 Der von Michail Tuchatschewski und seinem Stab gezeichnete, im Ton einer messianischen Exaltation gefasste Tagesbefehl vom 2. Juli 1920 eröffnete, was Lenin intern «die offensive Phase der russischen Revolution» nannte, als deren Endziel er dem parallel ge­ schalteten, sorgsam choreographierten Kongress der Internationale unter großem Beifall nichts Geringeres als «die Schaffung einer weltumspan­ nenden Sowjetrepublik» ankündigte. Den Anlass hatten der Vormarsch polnischer Truppen nach Kiew und die Installation einer ukrainischen Marionettenregierung im Frühjahr geliefert, die es der bolschewistischen Führung ermöglichten, eine Gene­ ralmobilmachung einzuleiten, welche in betont patriotischen Wendun­ gen alle unter die roten Fahnen rief, «die verstanden haben, dass die

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Rote Armee die Freiheit und Unabhängigkeit Russlands rettet». Karl Radek, aus Berlin zurück, wo sich in seinem «Moabiter Salon» (dem ihm angewiesenen Ort seiner Ehrenhaft) hohe Militärs, Industrielle und Politiker aller Parteien die Klinke in die Hand gegeben hatten, rief im Mai 1920 in der «Prawda» mit verstellter Stimme zur Verteidigung von «Mütterchen Russland» auf, mit dem Ziel, in einem großen, revolutio­ när geführten Feldzug «alle russischen Gebiete wiederzuvereinigen und Russland vor kolonialer Ausbeutung zu schützen».16 Diese vaterländische Mobilmachung war selbst aber nur ein Paravent, um Ziele zu verbergen, die ungleich weiter reichten. Worum es sich ­eigentlich handelte, legte Lenin erst zwei Monate nach dem Scheitern dieses Feldzugs auf einer internen Parteikonferenz offen, als er sagte: «Das Vordringen unserer Armee auf Warschau hat unwiderleglich be­ wiesen, dass sich irgendwo in der Nähe dieser Stadt der Angelpunkt des gesamten auf dem Versailler Vertrag fußenden Weltsystems befindet.» Diese neue Versailler Weltordnung «mit dem Bajonett zu prüfen» und möglichst insgesamt aus den Angeln zu heben, war somit der eigentliche Sinn des Unternehmens, und Warschau war nur der archimedische Punkt dieses weltrevolutionären Feldzugs nach Westen.17 Im historischen Nachhinein erscheint der Angriff einer Roten Reiter­ armee auf eine europäische Großstadt als eine antiquierte, fast romanti­ sche Sache; und das mag mit dazu beigetragen haben, dass der pol­ nisch-russische Krieg von 1920 im historischen Gedächtnis (außer dem der Polen selbst) ein unterschätztes, fast vergessenes Ereignis ist. Aber die Rote Armee bot an dieser weit aufgefächerten Westfront immerhin 800 000 Soldaten auf, darunter 100 000 Freiwillige. Dazu gehörten zwei Reiterarmeen: die rote Kosakenarmee unter Semjon Budjonny im Süden, gegen Lemberg (Lwów), und eine kaukasische Armee unter Ghaia Ghai, einem Berufsoffizier der alten Armee weiter nördlich, gegen Warschau. Diese zwei Reiterarmeen, jede von ihnen mehr als 10 000 Kavalleristen stark, waren die größten Aufgebote dieser Art, die es in moderner Zeit gegeben hat, beide schlachterprobt. Im Übrigen dienten sie nur als Stoßund Schocktruppen, die von weitaus größeren, teilweise motorisierten Fronttruppen und Nachschubeinheiten flankiert und unterstützt wur­ den. In einer exemplarischen Begegnung am 19. Juli bei Grodno zwi­ schen Roter Kavallerie und zwei polnischen Tankkompanien mit 30 Pan­ zern waren das Überraschungsmoment wie die Mobilität auf Seiten der Reitertruppen. Von infanteristischer Unterstützung und Nachschub ab­ geschnitten, irrten die Tanks blind umher und blieben (bis auf zwei) lie­

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gen, ihre Besatzungen wurden niedergesäbelt, und Ghai schloss daraus, dass «ein gepanzerter Tank für einen erfahrenen Kavalleristen nichts ist, was ihn erschrecken kann».18 Tuchatschewski hatte seinerseits aus den Erfahrungen des russischen Bürgerkriegs die These entwickelt, dass die Rote Armee im Unterschied zu allen anderen Armeen der Geschichte in der Lage sei, sich bei ihren Vormärschen, trotz aller Verluste, immer wieder neu aufzufüllen und Unterstützung zu mobilisieren, sodass sie im Prinzip endlos weitermar­ schieren könne, wenn es sein müsste, bis ans Ende der Welt. Er nannte das die Theorie der «permanenten Offensive».19 Ein «Polnisches Revolutionäres Komitee» (Polrevokom), das am 30. Juli unter Julian Marchlewski in Białystok gegründet wurde und zu dem Tage später der gebürtige Pole Felix Dzierzynski mit einem Stab von 100 erprobten Tschekisten stieß, sollte nach dem Einmarsch die Macht in Warschau übernehmen. Diese provisorische Revolutionsregierung verkün­ dete die Nationalisierung der Großindustrien und den Acht-StundenTag, während sie es versäumte, wie Lenin alarmiert feststellte und durch den eilig nachgeschickten Radek ausrichten ließ, die sofortige Übergabe des Großgrundbesitzes in Bauernhand zu fordern und die polnischen Bauern aufzurufen, «die Grundbesitzer und Kulaken unbarmherziger und etwas schneller und energischer zu vernichten».20 Von einer Erhebung des polnischen Proletariats oder von Bauernauf­ ständen war allerdings wenig zu sehen; vielmehr floss die soziale Unruhe, die es gegeben hatte, in eine patriotische Gegenmobilisierung ein. Vor Warschau stießen die sowjetischen Armeen auf den zähen Widerstand neuformierter polnischer Einheiten, die am 16. August zur Gegenoffen­ sive übergingen und durch die weit überdehnten Linien ihres Gegners hindurchstoßen, ihn in völlige Verwirrung und am Ende in eine spekta­ kuläre Niederlage treiben konnten. Der polnische Sieg, das «Wunder an der Weichsel», verdankte sich teil­ weise einer erneuten, offenen Insubordination Stalins und seines Mili­ tärstabs, die sich geweigert hatten, nach Norden einzuschwenken. Statt­ dessen wollten sie um jeden Preis ganz Galizien erobern, um es – so der strategische Plan, den Lenin am 23. Juli an Stalin übermittelt hatte – in eine Ausgangsbasis für die «Sowjetisierung» Mitteleuropas zu verwan­ deln, von der Tschechoslowakei über Ungarn bis nach Rumänien und Bulgarien, und gleichzeitig «die Revolution in Italien zu ermutigen», die mit einer neuen Welle von Besetzungen (von Rathäusern, Fabriken und

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Ländereien) im Gang zu sein schien. «Wir müssen den Anker lichten und in Fahrt kommen, bevor der Imperialismus  … seine eigene, entschei­ dende Gegenoffensive eröffnet», schrieb Lenin in einer Art träumeri­ scher Weltkriegsstimmung.21 Gravierender als die Eigenmächtigkeit Stalins und seiner Komman­ deure, die Trotzkis Generalstab und Feldkommandeuren mit offen feind­ seliger Rivalität begegneten, dürfte die Entscheidung Lenins selbst gewe­ sen sein, die Truppen Tuchatschewskis und Ghais anzuweisen, zunächst nördlich an Warschau vorbei gegen den in Versailles Polen zugesproche­ nen «Korridor» und das zur Freistadt erklärte Danzig vorzustoßen. Da­ mit sollte nicht nur der alliierte Nachschub unterbrochen werden; son­ dern gleichzeitig ging es darum, diese Gebiete, die Ostpreußen vom Reich trennten, an Deutschland zurückzugeben. Die Kommandeure der Roten Armee hatten Anweisung, bei Begegnungen mit deutschem Mili­ tär an der Grenze eine freundliche Haltung einzunehmen und das Ange­ bot zu machen, gemeinsam am Rhein gegen Frankreich zu kämpfen.22 Diese politische und strategische Fehlentscheidung Lenins führte dazu, dass die Linien der Roten Armeen vollends überdehnt wurden und auf­ rissen. Die Stoßtruppen Ghais, die nach der Einnahme von Thorn/Torún nur noch 250 km von Berlin entfernt standen, fanden sich plötzlich ab­ geschnitten und waren gezwungen, mit Zehntausenden Soldaten auf ost­ preußisches Gebiet überzutreten, um sich dort entwaffnen und ­internieren zu lassen. Tatsächlich trafen sie dort eher auf Sympathie als etwa auf Furcht oder Abwehr; aber von einer national- und sozialrevolutionären Stimmung, auf die Lenin gerechnet hatte, war auch nichts zu sehen. Nach einer Reihe von raschen Gegenstößen der polnischen Truppen wurde am 12. Oktober 1920 ein Waffenstillstand vereinbart, der im Früh­ jahr darauf im Friedensvertrag von Riga weitgehend bestätigt wurde und der Republik Polen Territorien deutlich östlich jener «Curzon-­ Linie» zugestand, wie der britische Außenminister George Curzon sie 1919 in Paris vorgeschlagen hatte. Sowjetrussland behielt die Kontrolle über eine Sowjet-Ukraine um Kiew und eine Weißrussische Sowjetrepu­ blik um Minsk, während das südliche Litauen um Wilna, Weißrussland um Brest und Galizien um Lemberg an Polen fielen – Gebiete, die 1939 im Hitler-Stalin-Pakt und dem anschließenden Freundschafts- und Grenzvertrag dann zusammen mit den baltischen Republiken heim ins große Sowjetreich geführt wurden, welches seine Ansprüche nie aufge­ geben hatte.

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«Für Russland eröffnet ein Bündnis mit Deutschland, unabhängig da­ von, ob die Revolution dort siegt oder nicht, riesige wirtschaftliche ­Perspektiven», erklärte Lenin auf einer internen Parteikonferenz im Sep­ tember 1920, wobei er die Delegierten bat, «weniger mitzuschreiben», weil er ihnen über den gescheiterten Vorstoß auf Warschau und dessen Ziele jetzt reinen Wein einschenken wollte. In dieser, erst in den 1990 er Jahren im Originaltext zugänglich gewordenen Rede legte Lenin offen, dass die Offensive der Roten Armee gegen Warschau auf die «Sowjetisie­ rung» (Lenins ungeschminkter Begriff) ganz Mitteleuropas gezielt und zugleich auf eine nationalrevolutionäre Mobilisierung Deutschlands ge­ gen das Versailler Diktat gerechnet habe. Und tatsächlich habe sich beim Herannahen der Roten Armee in Deutschland, vor allem in Ostpreu­ ßen, ein «Block aus extremen Nationalisten und Kommunisten, … von Schwarzhundertern mit Bolschewiki» gezeigt; und dieser «widernatür­ liche Block war für uns». Aus diesen impressionistischen Beobachtungen zog Lenin die Schlussfolgerung, dass «die deutsche Bourgeoisie im Grunde für uns» ist.23 Man reibt sich die Augen. Denn bei diesen «extremen Nationalisten» und «deutschen Schwarzhundertern» handelte es sich um die im März 1920 gescheiterten Kapp-Putschisten, deren Angriff auf die Republik durch einen Generalstreik, dem die Kommunisten sich (allerdings nur zögernd) angeschlossen hatten, gestoppt worden war. Nach ihrem Schei­ tern hatten sie Ostpreußen in ein geheimes Heerlager für die «schwarze Reichswehr» und Reste der Freikorps verwandelt. Tatsächlich waren diese Offiziere und Landsknechte, so viele «Rote» sie in Riga oder in Berlin niedergemacht hatten, jetzt von virulenten nationalbolschewisti­ schen Stimmungen erfasst, in denen der Polenfeldzug Sowjetrusslands und vage Erinnerungen an eine preußisch-russische Waffenbrüderschaft gegen Napoleon eine zentrale Rolle spielten.24 Die Reichswehrführung war schon früher zu noch radikaleren Schluss­ folgerungen gelangt, so in einem Memorandum ihres Chefs Hans von Seeckt vom Februar 1920: «Nur im festen Anschluss an ein Groß-Russ­ land hat Deutschland die Aussicht auf Wiedergewinnung seiner Welt­ machtstellung.» Und «ob uns das heutige Russland in seinem inneren Aufbau gefällt oder nicht, das spielt jetzt keine Rolle». Sowjetrussland strebe wie das Zarentum nach der Einheit des Reiches. «Dieses aber ist es, was wir gebrauchen, ein einiges, starkes Reich mit breiter Grenze an unserer Seite.» In der gegebenen Situation sei Polen der Todfeind, dessen Existenz mit der des Reiches unverträglich sei, und das verschwinden

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müsse. Aber «wie ein Wunder Gottes erscheint jetzt am Horizont die Hülfe für uns in unserer tiefen Not».25 Auf dieser Basis waren in einer Vielzahl diskreter Kontakte bereits erste Absprachen über eine geheime Militär- und Rüstungskooperation zwi­ schen Reichswehr und Roter Armee getroffen worden, die sich schließ­ lich bis in den Herbst 1933 erstrecken würde und Zusammenarbeit bei der Entwicklung und Erprobung moderner Waffensysteme (Flugzeuge, Tanks, Chemiewaffen), gemeinsame Stabsmanöver sowie einen regel­ mäßigen Austausch der Militärführungen umfassten. In der Zeit der Ruhrkrise 1923 führte diese geheime Parallelpolitik bis an den Rand ­eines virtuellen Kriegsbündnisses, das allerdings nie operativ ausbuch­ stabiert werden konnte; so wenig wie die zeitweise gigantisch aufgebläh­ ten Pläne einer deutsch-sowjetischen Wirtschaftszusammenarbeit. Nicht anders verhielt es sich auch in der Sphäre der offiziellen Politik. Der in Genua im April 1922 geschlossene Vertrag von Rapallo und der Berliner Vertrag von 1926 konnten weder für die deutsche noch für die sowjetische Seite am Ende mehr sein als Druckmittel gegen die West­ mächte, nie eine echte Bündnisbeziehung. Im Übrigen wurde alles, was auf diplomatischer Ebene ausgehandelt wurde, eine Ebene tiefer konter­ kariert durch die teils legalen, teils illegalen Umtriebe der Kommunisti­ schen Internationale, die Berlin als ihre zweite Hauptstadt und die alte russische Botschaft Unter den Linden mitsamt der Handelsmission mit Hunderten von Beschäftigten als einen logistischen Hauptstützpunkt für ihre globalen Operationen betrachtete. In schroffem Gegensatz zu jedem «Bündnis mit Deutschland», von dem Lenin gesprochen hatte, stand eine Serie sinnloser Aufstandsversuche, angefangen mit der «März-Aktion» in Mitteldeutschland im Frühjahr 1921, die von Moskauer Emissären gegen den Willen der eben erst, nach dem Zusammenschluss mit einem Teil der USPD, zur Massenpartei ge­ wordenen «Vereinigten Kommunistischen Partei Deutschlands» (VKPD) und ihres Vorsitzenden Paul Levi in Szene gesetzt wurde. Eine Gruppe politisch-militärischer Aufstandsspezialisten unter der Leitung von Béla Kun kam konspirativ nach Deutschland, um dort  – ­dirigiert von Radek, der sich seinerseits meist ganz offen und selbstver­ ständlich auf der Berliner Bühne bewegte – einen «Test mit dem Bajo­ nett» auf die Revolutionsbereitschaft der deutschen Arbeiterschaft zu unternehmen. Heraus kamen ein unter falschen Voraussetzungen (einer akut drohenden militärischen Besetzung) inszenierter, kaum befolgter

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Generalstreik im mitteldeutschen Industrierevier, einige bewaffnete Be­ triebsbesetzungen (vor allem der Leuna-Werke) sowie eine Reihe von Straßenkämpfen und militärischen Scharmützeln, die am Ende der zwei­ wöchigen Aktionen etwa 180 Tote gefordert und Tausende ins Gefäng­ nis gebracht hatten. Kurzum, das Unternehmen war ein Fehlschlag, der die deutsche Partei einen erheblichen Teil ihrer eben erst gewonnenen Mitgliedschaft kostete, darunter ihre Führung um Paul Levi, den frühe­ ren Vertrauten Rosa Luxemburgs. Will man sich auf diese immer neue «Doppelstrategie» von Bündnis und Subversion, die auch in den Jahren danach das Verhältnis Moskaus zur Weimarer Republik prägte, irgendeinen Reim machen, stechen einige Aspekte hervor, die für die gesamte verfehlte Politik der Komintern-Füh­ rung von 1919 bis 1939 von exemplarischer Bedeutung waren, und das nicht nur in Deutschland. So galt axiomatisch, dass die bolschewistische Taktik eines bewaffneten Aufstands in einer Situation der allgemeinen Krise ohne Weiteres auch auf beliebige andere Länder übertragbar sei. «Die Waffe bringt die Entscheidung. Und die Gegenrevolution will die Waffen nicht aus der Hand geben», erklärte Béla Kun den zögernden deutschen Genossen.26 Die Gegenrevolution aber war, wie im Russland der Kerenski-Zeit, in erster Linie die «verräterische» Sozialdemokratie, die in der Weimarer Republik zugleich auch die entschiedenste Vertreterin einer politischen, ökonomischen und sozialkulturellen Westorientierung Deutschlands war und mit Ausnahme einiger Sektoren und Regionen das Gros der Arbeiterschaft, ihrer Gewerkschaften und Betriebsräte ver­ trat. In Berlin und Preußen, in Mitteldeutschland und vielen anderen Ländern des Reichs kommandierte sie auch die Polizei und konnte Re­ gierungstruppen anfordern – und zögerte auch nicht, das zu tun. Sie war die eigentliche Säule der Weimarer Republik. Gegen diese von einer breiten, aber schwankenden demokratischen Mehrheit getragene und von einer reaktionären Justiz und Beamtenschaft vielfach boykottierte Republik hoffte man in Moskau auf eine Fusion national- und sozialrevolutionärer Energien, die sich durch einen gene­ ralstabsmäßig vorbereiteten Aufstand womöglich bündeln ließen. Hat­ ten nicht auch die Bolschewiki mit ihrer energischen diktatorischen Poli­ tik am Ende soziale wie nationale Motive verbinden können? Um wie viel mehr musste das für Deutschland gelten, welches nach Lenins Urteil «zu den fortgeschrittensten, gebildetsten, kultiviertesten» Ländern zählte und dennoch oder gerade deshalb aber von den Versailler Mächten «in koloniale Abhängigkeit, Elend, Hunger, Ruin und Rechtlosigkeit» gesto­

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ßen worden war.27 Einer Formel der Komintern-Propaganda zufolge war das Deutsche Reich zu einer bloßen «Industriekolonie» der westlichen Siegermächte degradiert worden – eine Formel, die den sterilen Hyste­ rien Zucker gab, die das republikanische Weimarer Deutschland ohne­ hin überschwemmten und es hinderten, seine Chancen wahrzunehmen. Ihren letzten, verfehltesten Ausdruck fand diese fixe Vorstellung schließ­ lich im Projekt eines «deutschen Oktober», der im Herbst 1923, im An­ schluss an die französische Ruhrbesetzung und die Hyperinflation, gene­ ralstabsmäßig von Moskau aus vorbereitet und geleitet wurde  – und ­gerade deshalb erneut eklatant scheiterte. Auch das quecksilbrige Talent eines Karl Radek, der morgens als Moskauer Regierungsmitglied im Berliner Außenministerium offizielle Gespräche führte, nachmittags mit deutschen Militärs geheime Absprachen traf und abends mit KPD-­ Genossen oder Untergrundkadern der Komintern über bewaffnete Auf­ standspläne sprach, vermochte das Unvereinbare in der sowjetischen ­Politik nicht mehr zu überspielen. Noch weniger passte es zusammen, wenn derselbe Radek, kaum dass die Gespräche über eine taktische «Einheitsfront» mit Vertretern der (zeitweise zwei) Sozialistischen Inter­ nationalen gescheitert waren, sich demonstrativ bemühte, die «extremen Nationalisten» und «deutschen Schwarzhunderter», einschließlich der ebenfalls putschistisch gestimmten Nationalsozialisten, für eine gemein­ same Aktion des bewaffneten Widerstands an Rhein und Ruhr zu umwer­ ben – als neueste Variante der fixen Idee einer gemeinsamen «Schlacht am Rhein». Von dieser Enttäuschung all der virulenten politischen, ökonomischen und militärischen «Ostorientierungen», die die Weimarer Republik von der äußersten Linken durch eine bürgerlich-nationale Mitte bis zur extre­ men Rechten und Teilen der NSDAP immer wieder durchzogen haben, lebte die Umstellung auf eine neue, antibolschewistische «Ostpolitik», die Hitler, kaum aus der Haft entlassen, auf der «Führertagung» seiner Partei Anfang 1926 gegen massive Widerstände des Flügels um Goebbels und die Strassers erzwang. Mit seiner in «Mein Kampf» entwickelten ­Vision eines «neuen Germanenzugs nach Osten» drehte Hitler sämtliche hypo­ thetischen Bündnisoptionen und alle deutsch-russischen Ver­ schwis­ te­ rungs­vorstellungen um und ersetzte sie durch die pseudologischen Pros­ pekte einer kriegerischen Eroberung und Gewinnung von «germanischem Lebensraum» auf dem Territorium des vom jüdischen Bolschewismus be­ herrschten und daher dem Kollaps geweihten Sowjetrussland.28

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Vom Rhein an den Jangtse Kaum weniger phantastisch wirkten die Weltrevolutions-Projekte, die in diesen Jahren in den Stäben der Kommunistischen Internationale ausge­ brütet wurden. Auf dem Kongress im Juli/August 1920 hatten die Dele­ gierten täglich mit fieberhafter Anspannung auf einer großen Karte das Vorrücken der Roten Armee auf Warschau verfolgt – in der fälschlichen Annahme, dass es sich um eine heroische Verteidigungsoperation handele, die im Falle eines Sieges ­natürlich ganz Europa revolutionieren müsse. Parallel hatte eine kleine bolschewistische Expeditionstruppe nach der Einnahme Bakus und Aserbeidshans die gegen England gerichtete Unruhe im Iran genutzt und gestützt auf lokale Rebellen und eine neu gegründete Kommunistische Partei des Iran eine «Persische Sozialisti­ sche Sowjetrepublik» in Rascht ausgerufen. Damit schien Sowjetruss­ land auch eine «rote Brücke» in den gesamten, in nationaler Gärung be­ findlichen Nahen Osten und nach Indien geschlagen zu haben. Für den 1. September 1920 war in Baku ein Kongress der «Bauern und Arbeiter Persiens, Armenien, Aserbeidshans» angesetzt, der in der Hoch­ stimmung des Moskauer Komintern-Kongresses kurzerhand zu einem «Ersten Kongress der Völker des Ostens» umdeklariert wurde. Auf die­ ser Bühne sollte das von Lenin proklamierte «Bündnis aller nationalen und kolonialen Freiheitsbewegungen mit Sowjetrussland»29 in möglichst spektakulärem Format zelebriert werden. Neben Delegierten des Mos­ kauer Komintern-Kongresses waren in einem organisatorischen Kraftakt rund 1800 Delegierte aus 32 «Nationen des Ostens», von Marokko über Indien bis zur Mandschurei, zusammengebracht worden, Sozial- und Nationalrevolutionäre sehr unterschiedlichen Formats, viele in betont malerischen Gewändern, von denen ein Gutteil weder Kommunisten noch Säkulare waren, sondern muslimische Revolutionäre. Inmitten ­dieser Masse kampfbereiter Männer und Krieger, manche mit großen Dolchen an der Seite, saßen, für die orientalische Welt unerhört, auch 34 Frauen. Die Niederlage vor Warschau verlieh diesem Kongress eine noch ge­ steigerte Aktualität. Denn wie Lenin bei der Debatte im neugebildeten Exekutivkomitee der Internationale ausführte: Man könne London und New York auch über den Ganges und den Jangtse erreichen30  – ein Phantasma, das Trotzki im Vorjahr bereits in einem internen Memo­ randum entwickelt hatte,31 in dem wie auf einem Schachbrett die Ak­

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teure hin- und hergeschoben wurden und man beispielsweise den briti­ schen Imperialismus über Afghanistan und Indien «in der Flanke fas­ sen» und dem morschen französischen Imperialismus an der Levante oder in Nordafrika «den Todesstoß versetzen» konnte. In diesem Sinne wurden die in Baku Versammelten zu einer weltum­ spannenden Einheitsfront gegen den Imperialismus aufgerufen. Sinow­ jew in seiner Würde als neuer Vorsitzender der Kommunistischen Inter­ nationale geißelte zwar auch die traditionelle Herrschaft der Emire, Beys und Khans, der Imame und Mullahs, unter denen die Arbeiter und Bau­ ern, die Männer und die Frauen der muslimischen Welt litten (was spo­ radisch Unruhe hervorrief). Aber donnernden Applaus erntete er vor ­allem, als er «zum Heiligen Krieg gegen das britische Weltreich» aufrief, zu einem antiimperialistischen «Djihad» also.32 Auf dem Dritten Weltkongress der Internationale im Frühsommer des Jahres darauf bezeichnete Trotzki den proletarischen Klassenkampf West­ europas und den nationalen Befreiungskampf Asiens bereits als zwei Arme einer gewaltigen Zange, die den Kapitalismus und Imperialismus zerquetschen werde. Sollte die europäische Arbeiterbewegung, vor allem in den beiden Hauptkolonialmächten Frankreich und England, aller­ dings versagen, dann werde sich fürs Erste «das Schwergewicht der Re­ volution nach Osten» verschieben.33 Im Fokus stand dabei zunehmend China, in dem die Nationalbewegung der Kuomintang unter Sun Yat-sen ebenfalls «im Grunde für uns» war und daher in der Weltpolitik der Moskauer Internationale eine ähnliche Rolle spielte wie auf der anderen Seite das Deutsche Reich. Damit antizipierte Trotzki eine Entwicklung, die aus Sicht vieler west­ europäischer Marxisten bereits mit der russischen Revolution und ihren Zügen eines «socialismus asiaticus» begonnen hatte und die den Gang der kommunistischen Weltbewegung in den folgenden Jahren und Jahr­ zehnten tatsächlich tiefer prägen würde, als gerade Trotzki, der ewige Visionär einer «internationalen Arbeiterrevolution», sich jemals hätte vorstellen können: nämlich eine epochale Verlagerung des internationa­ len Sozialismus von Westen nach Osten, von Europa nach Asien, von den industriellen, bürgerlichen und demokratischen Gesellschaften west­ lichen Zuschnitts zu den agrarisch, patriarchal und autokratisch gepräg­ ten östlichen Gesellschaften. Das bedeutete aber, dass alle marxistischen Kategorien eines Gegen­ satzes von Arbeitern und Kapitalisten und alle Vorstellungen einer Über­ windung des Kapitalismus als einer Produktionsweise, die in den entwi­

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ckeltsten Industrieländern schon zum Entwicklungshindernis geworden war, während sie in den weniger industrialisierten Ländern noch immer revolutionär und progressiv wirkte, zunehmend durch Fragen nationaler Integrität und externer Exploitation überformt oder ersetzt wurden  – was für sich genommen vollkommen legitim war und dennoch eine pro­ blematische Verschiebung der Perspektiven und Kategorien bedeutete. Als Mao Tse-tung, der im Frühjahr 1921 in den Zirkel der von der ­Komintern initiierten Gründung einer Kommunistischen Partei Chinas geraten war, ohne vom Marxismus oder dem Leninismus Genaueres zu wissen, 1926 eine «Klassenanalyse» der Gesellschaft Chinas vorlegte, da identifizierte er als «Feinde des Volkes» neben einer Klasse «feudaler» Grundbesitzer (eine für die chinesische gentry eher irreführende Katego­ rie) diejenigen Schichten, die als «Kompradoren» (Geschäftsvermittler) direkt oder indirekt mit dem Weltmarkt verbunden waren oder sonstwie von ihrem Kontakt mit dem ausländischen Kapital moralisch kontami­ niert und korrumpiert seien.34 Statt zum Motor einer modernen Ent­ wicklung wurde der globalisierte Kapitalismus so zu einem Geschwür, das man aus dem erkrankten Leib des chinesischen Volkes herausschnei­ den, oder zu einer Infektion, deren Träger man eliminieren musste – so wie Sowjetrussland es gemacht hatte.

Nationalrevolutionäre und Faschisten Die seit Mussolinis Machteroberung 1922 «Faschismus» genannte Be­ wegung verschärfte und verunklarte gleichzeitig das Bild dieser Nach­ kriegssituation. Das von diesem ehemaligen Linkssozialisten beschwo­ rene Bild einer von den plutokratischen, imperialistischen Weltmächten um ihren Anteil am Sieg betrogenen und niedergehaltenen «proletari­ schen Nation» ermöglichte es auf ihre Weise, national- und sozialrevo­ lutionäre Motive zu verschmelzen und große Massen für das Projekt ­eines neuen «Römischen Reiches» zu mobilisieren. Um theoretisch und praktisch damit zu Rande zu kommen, begab die Moskauer Komintern­ führung sich auf ein schlüpfriges Terrain, auf dem alle angestammten Schwächen des älteren Marxismus, sich von den protofaschistischen und antisemitischen Kampfbewegungen des späten 19. Jahrhunderts einen Begriff zu machen (Bebels «Sozialismus der dummen Kerls»), sich mit den latent positiven Bewertungen nationalrevolutionärer Bewegungen im Moskauer Weltsze­nario auf neue Weise vermischten.

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Im Juni 1923, im Zeichen des deutschen Kampfs gegen die Ruhrbeset­ zung, attestierten Clara Zetkin und Karl Radek bei einer Sitzung des ­Exekutivkomitees der Komintern, also vor dem Hohen Haus des Welt­ kommunismus, den deutschen Freikorpsleuten wie den italienischen ­Faschisten, dass sie keineswegs nur «weiße» Konterrevolutionäre und gekaufte Prätorianer seien, sondern dass sie «die energischsten, entwick­ lungsfähigsten Elemente» aus den ins Proletariat abstürzenden klein­ bürgerlichen Schichten verträten und organisierten.35 In all ihren fehl­ geleiteten Kämpfen seien sie von «brennender Sehnsucht» nach sozialer Gemeinschaft und nationaler Würde getrieben.36 Ja, Faschismus sei nichts anderes als der «Sozialismus der kleinbürgerlichen Massen» – so Karl Radek in seiner pompösen Gedenkrede auf Leo Schlageter, einen «Mär­ tyrer des deutschen Nationalismus», der soeben von den Franzosen ­wegen Sabotageakten hingerichtet worden war. Die Frage sei in weltpolitischem Maßstab längst gestellt: «Gegen wen wollen die Deutschvölkischen kämpfen: gegen das Ententekapital oder gegen das russische Volk?» Sowjetrussland sei der einzige zuverlässige Verbündete Deutschlands. «Wenn sich die patriotischen Kreise Deutsch­ lands nicht entscheiden, die Sache der Mehrheit der Nation zu der ihri­ gen zu machen und so eine Front herzustellen gegen das entistische und das deutsche Kapital, dann war der Weg Schlageters ein Weg ins Nichts». Dann werde Deutschland selbst völlig zerschlagen werden. «Dies hat die Kommunistische Partei, dies hat die Kommunistische Internationale am Grabe Schlageters zu sagen … Wir sind sicher, dass Hunderte Schlage­ ters sie vernehmen und sie verstehen werden.»37 Noch verdrehter wurde diese Argumentation durch die stereotype Be­ hauptung, erst der Verrat der Sozialdemokraten bereite den Faschisten in Italien, Deutschland und anderswo den Weg.38 1924 war kursorisch dann bereits davon die Rede, dass die Sozialdemokratie im Grunde nur «einen Flügel des Faschismus» darstelle (so Sinowjew) und dass die bei­ den «keine Antipoden, sondern Zwillinge» seien (so Stalin).39 Das ­waren erste Vorformen der 1927/28 zur offiziellen Doktrin erhobenen «Sozial­ faschismus»-Theorie, die alle in der Sozialistischen II. Internationale zu­ sammengeschlossenen Parteien zum ersten Feind der Kommunisten aller Länder erhob. Allein die Kommunisten vertraten demnach noch die ­Arbeiterklasse – selbst wenn die übergroße Masse der Industriearbeiter in allen Ländern des Westens nach wie vor durch die Sozialdemokraten organisiert und vertreten wurde. Noch weiter zugespitzt wurde diese sektiererische Frontstellung durch

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die Ausdehnung der internen Fraktionskämpfe der sowjetischen Füh­ rung auf Politik und Personal der Internationale und ihrer Mitgliedspar­ teien. Die Serie von Säuberungen im Kominternapparat, die Stalin initi­ iert hatte, zielte auf eine angebliche «internationale ultralinke Opposi­ tion» gegen die sowjetische Führung – was im Klartext bedeutete, dass der «Trotzkismus» an den «Sozialfaschismus» der Sozialdemokratie he­ rangerückt wurde. So sprach Stalin im Mai 1927, als sich die Beziehun­ gen mit Großbritannien nach einem von der Komintern angeheizten ­Generalstreik gerade erneut anspannten, in düsteren Andeutungen da­ von, dass «eine Art Einheitsfront von Chamberlain bis Trotzki» entstan­ den sei: «Die einen drohen der KPdSU(B) mit Krieg und Intervention. Die andern – mit Spaltung.»40 Als ein wahrer «Internationalist» galt jetzt nur noch derjenige, der die UdSSR Stalins als das Vaterland aller Werktätigen bedingungslos vertei­ digte. Das Ergebnis all dieser Kurswechsel, Spaltungen und Säuberungen war der lange Abstieg der westlichen Parteien. Umfasste die Komintern auf ihrem Höhepunkt, beim III. Weltkongress 1921, noch 68 Parteien aus allen fünf Kontinenten, die nach eigenen Angaben 1,9  Millionen Mit­ glieder zählten, von denen allerdings rund 700 000 der Russischen Partei angehörten, so waren auf dem VI. Kongress im August 1928 nur noch Vertreter von 40 Parteien anwesend, die es außerhalb der UdSSR gerade noch auf 440 000  Mitglieder brachten  – ein Drittel der früheren Mit­ gliedschaft und weniger als ein Zehntel der Parteien der Sozialistischen Internationale.41 So schrumpften die Kommunistischen Parteien Frankreichs oder der Tschechoslowakei, die 1923/24 noch Züge von Massenparteien mit eigenen Gewerkschaften trugen, bis 1930 auf einen Rumpfbestand von kaum 30 000 Mitgliedern. Die anfangs ebenfalls noch relativ starke, in der Gewerkschaftsarbeit gut verankerte Kommunistische Partei Groß­ britanniens wurde mit 2500 Mitgliedern fast schon zur Sekte. Ähnlich schlecht stand es, nach einer Serie von Spaltungen, Säuberungen und er­ zwungenen Richtungswechseln mit den ohnehin schwachen Kommunis­ ten der USA.42 Gerade in jenen Zentren des Weltkapitalismus, in denen während der Weltwirtschaftskrise die Lebensbedingungen sich drama­ tisch verschlechterten und sehr reale Kämpfe «Klasse gegen Klasse» tob­ ten, waren die Kommunisten am schwächsten. Allein die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) wuchs in der Wirt­ schaftskrise noch einmal an, von 130 000 Mitgliedern und gut 3,2 Mil­

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lionen Wählern im Jahr 1928 auf 360 000 Mitglieder und über 5,0 Mil­ lionen Wähler 1932 – obwohl oder gerade weil sie sich durch ihre mili­ taristischen Bürgerkriegspolitiken von der Masse der sozialdemokrati­ schen oder katholischen Industriearbeiter immer weiter absonderte, fast bis zur völligen Isolation.43 Der Schub neuer Mitglieder seit 1930 be­ stand fast ausschließlich (bis zu 80 %) aus jungen Arbeitslosen und lie­ ferte in der Verbindung mit einem teilweise einflussreichen Segment der künstlerischen und literarischen Intelligenz, vor allem in Berlin, die Basis für die paramilitärische Straßenpartei, die die KPD in der Ära Ernst Thälmanns geworden war.44 Es ist kaum zu beurteilen, inwieweit diese Rekrutierungserfolge sich auch den Versuchen der KPD verdankten, die im Aufstieg begriffene ­NSDAP durch Machtproben auf der Straße und in Versammlungen, gleichzeitig aber auch durch eigene großdeutsche Töne und Forderungen wie in der «Programmerklärung zur nationalen und sozialen Befreiung des deutschen Volkes» vom August 1930 45 zu übertrumpfen oder ihr durch sporadische Angebote zur Aktionseinheit 1931/32 das Wasser ab­ zugraben. Die «nationalbolschewistischen» Sympathiegewinne, die die KPD in Teilen der bündischen Jugendbewegungen oder unter nationalis­ tischen, sogar «faschistischen» Intellektuellen erzielte, waren bemer­ kenswert, aber blieben begrenzt  – und liefen oft abseits der regulären Parteiaktivitäten. Das gilt etwa für jene «Arbeitsgemeinschaft zum Studium der Plan­ wirtschaft» (Arbplan), die Georg Lukács und Karl August Wittfogel auf Initiative der Komintern gründeten und der zeitweise auch prominente Nationalisten wie Ernst Jünger und Carl Schmitt lose zugehörten.46 Zum eigentlichen Spiritus Rector wurde der ehemalige Münchner Volks­ kommissar, linksnationalistische Präzeptor der deutschen Jugendbewe­ gung und Initiator des «Widerstands»-Kreises (um die gleichnamige Zeitschrift) Ernst Niekisch.47 Wenn er der KPD naherückte, dann weil diese Partei genau das war, was Sozialdemokraten und Bürgerliche ihr vorwarfen: ein Statthalter Moskaus. Denn der Wiederaufstieg des Deut­ schen Reiches zur Weltmacht konnte Niekisch zufolge «nur über Mos­ kau» führen: «Aus dem Schutt erst, in den das französische Europa mit Russlands Hilfe gelegt wurde, kann ein deutsch beherrschtes Mittel­ europa aufgebaut werden.»48 Alle diese Erfolge verblassten freilich vor dem kometenhaften Aufstieg der NSDAP, den die von Moskau angeleitete KPD-Führung nicht auf der Rechnung hatte. Die Partei Hitlers kam 1932 in demokratischen Wahlen

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zum ersten Mal in der deutschen Geschichte dem Bild einer «Volkspar­ tei» nahe. Gleichzeitig aber dehnte sie den martialisch-raumgreifenden Machtanspruch ihrer SA-Kolonnen auf die Straßen, Plätze oder Zentren ganzer Städte aus, die sie schon vorab oft «erobern» konnte, weil sie nur auf einen zersplitterten Widerstand traf, der selbst bürgerkriegsmäßige Züge trug. Die Schlüsselrolle kommt hier der KPD zu, die ihrerseits ihre «roten Gebiete» und «Klein-Moskaus» erbittert verteidigte oder neue zu er­ obern suchte, auf Kosten der Sozialdemokraten und ihrer «Eisernen Front» und im ständigen Kampf mit den «Grünen», der Bereitschafts­ polizei, mit der sie seit den Kämpfen am 1. Mai 1929 in Berlin in einem latenten Schießkrieg stand. Zu diesem Panorama revolutionärer Rund­ um­­kämpfe kamen nun noch die Saal- und Straßenschlachten mit den «Braunen». Die Sozis als notorische «Sozialverräter» und als direkte Teilhaber an der «faschistischen» Staatsmacht (durch sozialdemokrati­ sche Ministerpräsidenten oder Polizeiführer) blieben die unmittelbaren, nächsten Feinde; die Nazis waren dagegen Revierrivalen, die sich als Hilfs­truppen an das Groß­kapital verkauft hatten. Aber auch über die bürgerkriegsartigen Konfrontationen hinaus muss der aggressive Autismus der KPD- und Komintern-Politik in Deutsch­ land eine lähmende Wirkung auf alle Kräfte, die zur Verteidigung der Republik bereit waren, ausgeübt haben. So gut wie alle übrigen Parteien wurden als «faschistisch» gebrandmarkt. «Klerikalfaschisten» standen neben «Nationalfaschisten» oder eben «Sozialfaschisten», und jede Re­ gierung seit 1930 war eine «faschistische Diktatur». Schlimmer als die «Sozialfaschisten» waren allenfalls noch die als «Trotzkisten» oder als «Versöhnler» aus der Partei hinausgesäuberten oder aus freien Stücken ausgetretenen Dissidenten, die eigene Parteien oder Gruppen neben der KPD bildeten und ihren Kurs zugleich weiterhin zu beeinflussen ver­ suchten, was sie erst recht als «Spalter» und feindliche Agenten aus­ wies. Sogar die Machteroberung der Nationalsozialisten im Januar 1933 wurde seitens der maßgeblichen Komintern-Funktionäre wie der KPD-­ Führung um Thälmann mit einem blinden Triumphalismus begleitet. Bis weit ins Jahr 1934 hielten diese daran fest, dass die Lage im Grunde günstig sei – weil die «offen faschistische» Diktatur nur noch die pro­ letarische Diktatur als Ausweg übrig ließ. Der Komintern-Vorsitzende Manuilsky erklärte in einer Grundsatzrede Ende Februar 1933, dass die Führer der SPD und der Gewerkschaften vor einer wirklichen, revolu­

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tionären Einheitsfront «gegen den Faschismus und die Offensive des ­Kapitals» panisch zurückschreckten, weil sie unweigerlich dabei die Füh­ rung verlieren würden – und dass genau deshalb jetzt der Moment ge­ kommen sei, ähnlich wie 1919/20, «ganze Schichten der Arbeiterklasse» zu sich herüberzuziehen, durch eine Einheitsfront von unten den «Haupt­ kader der sozialdemokratischen Arbeiter» zu gewinnen und so «die Sozial­demokratie zu zerschlagen», und das «nicht nur in Deutschland, sondern in der internationalen Arena». Das Angebot der Sozialistischen Inter­nationale «über die Einstellung gegenseitiger Angriffe» könne man ruhig annehmen – wenn klargestellt sei, dass gegen jeden, der «die Ein­ heitsfront verletzt, der unbarmherzigste Kampf geführt werden soll», wie ­jeder klassenbewusste Arbeiter das instinktiv auch empfinde: «sol­ chen Deserteuren muss man nicht nur Worte der Kritik, sondern eine Kugel in den Rücken jagen».49 In Georg Glasers autobiografischem Bericht «Geheimnis und Gewalt» wird begreiflich (fast möchte man sagen: handgreiflich), worin die ­Attraktion und Bindekraft der kommunistischen Milieus für einen jun­ gen, vagabundierenden Arbeitslosen wie ihn, einen unter Millionen, be­ standen hat; wie die Opferung der eigenen Integrität funktionierte, wenn man dazugehörte und im permanenten Kampf stand  – und worin die Lähmung und moralische Unterminierung bestand, als die Nationalsozia­ listen die Macht übernahmen. Wegen «krankhaften Wandertriebes» in Fürsorgeanstalten eingelie­ fert, hatte der junge Glaser mit seinem Freund den ebenfalls von zwei Freunden verfassten, autobiografischen, 1927 verfilmten sowjetischen Kultroman «Die Republik Shkid» gelesen, der von einem Waisenhaus im Bürgerkrieg berichtet, in dem die Zöglinge sich anarchisch durch Dieb­ stähle und Kleinhandel ernähren, bis eine kriminelle Hierarchie an die Stelle ihres ursprünglichen, solidarischen «Kriegskommunismus» tritt. Aber schließlich bricht ein von ihnen insgeheim bewunderter Heimleiter, der die Macht des neuen Staates verkörpert, ihren Diebeskodex und er­ setzt ihn durch einen neuen, strafbewehrten Kollektivgeist.50 Glaser und sein Freund identifizieren sich mit den beiden halbwüchsi­ gen Helden und werden im Geiste «Komsomolzen» wie sie. Eine «Zei­ tung der Verwahrlosten», die sie der kommunistischen Bezirksleitung präsentieren, wird allerdings wegen anarchistischer Linksabweichung gerügt. Trotzdem gehen sie immer öfter in kommunistische Versammlun­ gen, werden in die nächtlichen Revierkämpfe mit den «Braunen» (Jungs

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wie sie selbst) verwickelt, noch öfter aber mit den «Grünen», den Poli­ zisten, die es (angeblich) vor allem auf sie, die «Roten», abgesehen ha­ ben. Als junge Rotfrontkämpfer grüßen sie mit geballter Faust, legen sich eine Lederjacke zu (wie die Tschekisten in den Erzählungen vom Bürgerkrieg) und berauschen sich inmitten der allgemeinen wirtschaft­ lichen Depression an den gigantischen Erfolgsziffern der sowjetischen Fünfjahrpläne, die «wie flammende Botschaften aus der Zukunft» wir­ ken. Hunger und Armut werden erträglicher: «Wir litten weniger als ­unsere Mitmenschen. Denn wir erhofften kein Glück und keine Lauf­ bahn mehr. Wir hatten  … bis zum Anbruch der neuen Zeit Ferien im Reich des Elends genommen.» Eine Laufbahn machen die beiden aber doch, als ein Beauftragter der Partei den Blick auf ihnen ruhen lässt und lächelnd sagt: «Die jungen ­Offiziere der künftigen Roten Armee Deutschlands.» Glaser wird selbst Parteibeauftragter und hilft den großen Berliner Verkehrsarbeiterstreik in Berlin im September 1932 organisieren, den «letzten großen Streik auf deutschem Boden», den «die Partei, mit den Braunen verbündet, gegen die freien Gewerkschaften führte», die Lohnkürzungen zugestimmt hat­ ten. Er schämt sich zutiefst – aber «wir klirrten umso mehr mit der Härte und Unerbittlichkeit unserer Beweisführung; so wie die jungen Arbeits­ losen in den Kampfverbänden mit den Absatzeisen». Mehr als die «arm­ seligen Jungen der Sturmabteilungen  …, die einst zu einem guten Teil unter unseren Fahnen gesungen hatten», hassen sie die «vornehmen SS-Studenten mit ihren edlen Schmissen», die grinsend zuschauen, wie sie, die jungen Kommunisten, die älteren sozialdemokratischen Arbeiter mit Gewalt nötigen, ihre Arbeit zu verlassen, von der doch ihre Existenz abhängt. Es war «uns widerlich» – aber «die Partei legte uns den Gehor­ sam auf wie ein Schulterjoch». Trotzdem gab es für Kritiker in den eige­ nen Reihen keine Sympathie, weil «die Nörgler nichts, nichts hatten, um sie (die Partei) zu ersetzen». Und dann, plötzlich die geflüsterte Nachricht: Hitler war Reichskanz­ ler. «Wann begann das große Entsetzen? … (Es) entstand langsam, wie ein grauenhafter Stoff, der zunächst einem Nebel glich». Man mobili­ sierte noch einmal im März für die Wahlen: 14 Millionen Stimmen für die Arbeiterbewegung, die aber tief verfeindet war, und 17  Millionen Stimmen für die Nationalsozialisten. Gerade der (fast) demokratische Sieg Hitlers lähmte. «Wir versteckten uns hinter Sätzen, die wir krampf­ haft wie Beschwörungsformeln wiederholten»: dass Hitler nur ein Stroh­ mann sei, dass das Ausland ein starkes Deutschland nicht dulden werde,

1. Phantome einer Weltrevolution

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dass der Kapitalismus am Ende sei. Schlimmer, lähmender als alles, was auf ihn, den abgetauchten, im Parteiauftrag auf Achse befindlichen Jung­ kader an grausamen Prüfungen zukommen würde, war es, in den klei­ nen hessischen und pfälzischen Handwerkerstädtchen, aus denen er selbst stammte, zu sehen, wie dort, wo früher ein einziger Nazi lebte, die Jungen in Scharen überliefen und nicht einmal gemaßregelt wurden, wenn sie weiterhin übermütig das «Lied der Roten Armee» sangen: «Er macht die ganze Welt erzittern, wer bricht das schwere Sklavenjoch …» «Das ganze Land … hatte sich in Bewegung gesetzt in eine entgegen­ gesetzte Richtung. Überall waren die Straßen, Plätze und Gassen voll fröhlich harrender Menschen …, wie am Abend vor einem Kirchweih­ tag.» Alle wussten, dass zur gleichen Zeit Leute gefoltert, misshandelt, ermordet wurden, aber: «Vielleicht waren die Greuel im Gewissen der Menschen nur wie die Bilder einer Schaubude …» Nach dem Reichstags­ brand sympathisiert Glaser mit dem mutmaßlichen Brandstifter, dem niederländischen Anarchokommunisten van der Lubbe – und hört ange­ widert, wie der als Drahtzieher dieser Brandstiftung verhaftete und vor dem Leipziger Staatsgerichtshof angeklagte Komintern-Vertreter Georgi Dimitroff den jungen Linksabweichler als Provokateur anklagt und des­ sen Kopf fordert. Während diesen höchst selbstbewusst auftretenden Komintern-Kader, der im Jahr darauf in einem unklaren Handel auf An­ ordnung Hitlers nach Moskau entlassen, von Stalin im Triumph emp­ fangen und zum neuen Vorsitzenden der Internationale gemacht wurde, seine «Sache nie verlassen hatte, hatte die Sache mich verlassen».51 Glasers autobiografischer Bericht ist nach seiner späten Wiederent­ deckung in den 1950 er Jahren unter die Rubrik einer «Renegatenlitera­ tur» gefasst worden, die fast immer von den tiefen Depressionen und der inneren Leere handelt, die der Verlust der existentiellen Kampfgenossen­ schaft für die Ausgestoßenen oder Ausgetretenen selbst bedeutet hat, während die Partei selbst weiter ihren eisernen Weg zog.52 Es gab, so schien es, kein Leben und kein Heil außerhalb der Revolution und der Partei. Mit diesem Tenor haben Silone, Koestler, Sperber und viele an­ dere das Drama ihres Bruchs mit der Partei und der kommunistischen Weltbewegung beschrieben, die in immer neuen Schüben «ihre Kinder entließ» – oder gleich fraß.53

2. Das kommunistische Momentum

Ein Weltkriegskader

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n seinem Jahrhundertabriss «Das Zeitalter der Extreme» hat Eric Hobsbawm, politisch sozialisiert als Gymnasiast im Berlin der aufstei­ er genden NS-Bewegung, zum Kommunisten geworden Ende der 30  Jahre im Milieu der englischen Eliteuniversitäten, die Aktivisten der viel­ fach auf winzige Kerne geschrumpften Kommunistischen Parteien dieser Vorkriegsjahre beschrieben: «Die Anzahl der Soldaten jener notwendi­ gerweise skrupel­losen und disziplinierten Armee zur Emanzipation der Menschheit belief sich auf nur wenige zehntausend; die internationalen Berufsrevolutionäre, die ihre Länder öfter als ihre Schuhe wechselten, wie Bertolt Brecht in einem Gedicht schrieb, zählten insgesamt nicht mehr als ein paar hundert.» Doch ohne das Wirken der einen wie der ­anderen wäre «kaum begreiflich, weshalb sich knapp dreißig Jahre nach der Oktoberrevolution ein Drittel der Menschheit unter kommunisti­ scher Herrschaft befand».1 Gegen das Pathos dieser Feststellung, die Hobsbawm natürlich auch in eigener Sache getroffen hat und die ganz aus dem heroischen Gefühlsund historischen Sinnhaushalt eines globalen Antifaschismus schöpft, während der Zynismus der stalinistischen Politik als notwendiger Preis für die «Emanzipation der Menschheit» erscheint, kann man gravie­ rende Einwände erheben. Sind in der «Menschenfalle Moskau»2 im Großen Terror nicht mehr antifaschistische Emigranten und Berufsrevo­ lutionäre erschossen worden als bis dahin im Deutschland Hitlers oder in anderen, faschistisch genannten Ländern? Und wenn Hobsbawm Lenins Partei neuen Typs sogar zu «einer gewaltigen Innovation für die Gesellschaftskonstruktion des 20. Jahrhunderts» erhebt, vergleichbar «nur mit der Begründung der christlichen Klosterkultur und anderer Or­ den des Mittelalters», wird man zunächst mit Kopfschütteln reagieren.3 Und doch ist etwas Richtiges in seiner Feststellung. Gerade in den ­extremen Prüfungen und Opfergängen, in die die Parteien der Interna­ tionale ab 1928 hineingezwungen wurden, in den Säurebädern der immer erneuten Kritik und Selbstkritik, im zermürbenden Spaltungs- und Säu­

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berungsfuror ist eine kleine, neue, aber umso härtere, gegen alle Skrupel und Zweifel imprägnierte, in jeglichen Überlebenstechniken geschulte Kohorte von Berufsrevolutionären herausgebildet worden, die sich in ­allen Verlusten immer wieder neu auffüllen konnte. Erst dieser zweite Weltbürgerkriegskader, der durch die Schulen des Stalinismus wie des Faschismus, des Weltkriegs, der Besatzungsregimes und ganze Ausrottungsaktionen gegangen war, wurde ab etwa 1940 zum Gründungskern neu rekrutierter Kommunistischer Parteien, neu aufge­ stellter roter Partisanenarmeen und neu gebildeter nationaler Befrei­ ungsorganisationen. Und erst diese haben, geführt von wenigen über­ lebenden Veteranen der 1943 aufgelösten alten Komintern, wie Mao, Tito oder Ho, auf der sozial planierten und physisch verbrannten Fläche des von Europa bis Asien reichenden Schlachtfeldes ab 1944 nach der Macht greifen können, fast immer erst in neuen mehrjährigen Bürger­ kriegen (gegen die königstreuen Tschetniks oder die nationalistische Kuomintang) – bis im Dezember 1949 beim weltweit gefeierten 70. Ge­ burtstag Josef Stalins wie in einer epochalen Choreographie Mao Tse­ tung mit den Führern der anderen, eben gegründeten Volksrepubliken an der Seite des phlegmatisch applaudierenden «Vaters der Völker» im Kreml-Palast auftrat. In diesem Moment, so schien es, tat sich der Hori­ zont eines «sozialistischen Weltlagers» auf, das nach einer geläufigen Propagandaformel «von der Elbe bis zum Jangtse» reichte. Der Ausgang des Zweiten Weltkrieges war, in einem noch ungleich größeren Maß und in noch weit verheerenderen Formen als der Erste Weltkrieg und sein «Nachkrieg», eine wirkliche politische, soziale und kulturelle Weltrevolution. Anders als am Ausgang des Ersten Weltkriegs endete der Konflikt nicht mit einer auf Friedenskonferenzen besiegelten neuen «Weltordnung», sondern mit Verträgen der «Großen Vier» unter­ einander, bei denen meistenteils nicht einmal Grenzen, sondern nur De­ markationslinien festgelegt wurden, die fast sofort überschritten wurden; wie überhaupt dieser Zweite Weltkrieg fast unvermittelt in eine Kette neuer heißer und kalter Kriege, Bürgerkriege und Konfrontationen mün­ dete, von Griechenland über Indochina bis zum Inferno des Kriegs um Korea. Diese Kriege und Konflikte haben die vierzig Jahre des sogenannten «Kalten Krieges» zu einer der blutigsten Epochen der Weltgeschichte ­gemacht, bis in den späten 1970 er und frühen 1980 er Jahren, inmitten eines «zweiten Kalten Kriegs», der Zenit erreicht und plötzlich über­ schritten war. In Weltkriegen und Bürgerkriegen ist der Kommunismus

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des 20. Jahrhunderts entstanden und groß geworden; und genau in dem kurzen Moment, in dem die innere und äußere Kriegsspannung nach­ ließ, Ende der 1980 er Jahre, ist er kollabiert und hat sich transformiert. Sein historisches Momentum hat der Kommunismus, wie schon dieser kurze Blick auf die Zyklen seiner Existenz zeigt, weniger aus sich selbst geschöpft, aus seinen großen Ideen oder Ideologien, seinem Pathos der Brüderlichkeit oder aus seinen utopischen Allmachtphantasien und be­ rauschenden Fortschrittsprospekten – als vielmehr aus den Katastrophen des Weltkriegszeitalters, den Krisen und Konflikten des europäischen Im­ perialismus und Kolonialismus und aus den Krisen und Krämpfen eines global sich durchsetzenden Kapitalismus. Erst sie haben den kommunisti­ schen Kampfbewegungen die Waffen, die Argumente und die moralische Kraft («moralisch» im Sinne starker, ursprünglicher, gerechter Empörun­ gen und einer daraus gespeisten, notfalls amoralischen Kampfmoral) ge­ liefert, wie materielle Klasseninteressen oder blasse Erlösungshoffnungen sie alleine nie hätten liefern können. Und es waren insbesondere die Ausrottungs- und Versklavungsfeld­ züge der «faschistischen» Mächte, vor allem Deutschlands und Japans, die für den zweiten Aufschwung der kommunistischen Weltbewegung als Wegbereiter dienten. Später waren es die Counter-insurgency-Opera­ tionen und die verheerenden Bombardements der westlichen Mächte, der Kolonialmächte Frankreich, England oder Portugal und vor allem dann der USA, sowie die Folterkeller und die Korruption der von ihnen gestützten Diktaturen, die kommunistischen Parteien und Partisanen praktisch und moralisch noch einmal den Weg zur Macht ebneten. Die im Jahr 1975 aus ihren Unterwelten steigenden, disziplinierten «Viet­ cong», die als Spartaner das globale, imperiale Athen durch ihre schiere Ausdauer in eine epochale Niederlage getrieben haben, und parallel dazu die wie aus dem Nichts auftauchende, tellurische Pyjama-Armee der «Roten Khmer» (die in manchem an die IS-Kämpfer von heute erin­ nern) markieren den Abschluss dieser dritten, großen Welle kommunis­ tischer Machteroberungen. Was alles zusammen nichts entschuldigt: nicht den bolschewistischen Terror der Bürgerkriegszeit, nicht die exter­ ministischen Säuberungen und die Staatssklaverei der Stalinära, nicht die Exzesse der maoistischen Kampagnen, nicht die Ausrottungspraktiken der Roten Khmer – außer dass es diese Extreme psychisch und praktisch erst möglich gemacht hat. Der von Lenin begründete Bolschewismus kam theoretisch und orga­

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nisatorisch ursprünglich aus dem Umfeld des europäischen Sozialismus, der vor 1914 eine kämpferische und «fundamentale» Antithese zur über­ kommenen Klassengesellschaft verkörperte – eine Antithese, die in der bürgerlichen Welt bereits elementares Entsetzen auslöste bis hin zu apoka­ lyptisch gefärbten Untergangsvisionen. Aber dieser europäische Sozialis­ mus war eben eine «bestimmte» Antithese gewesen, die in ihren revolu­ tionären wie in ihren reformistischen Ausprägungen und gerade auch im Ergebnis der beiden Weltkriege letztlich in die Entwicklung einer moder­ nen, säkularen, pluralen, demokratischen Gesellschaft mit eingegangen ist. Er hat der Ausbildung eines moderierenden, die gesellschaftlichen Produktivkräfte (wenn auch selektiv) fördernden Sozial-, Rechts- und Funk­tionsstaates entscheidende Anstöße geliefert, bis in den 1970 er Jah­ ren der Liberale Ralf Dahrendorf sogar von einer allgemeinen «Sozial­ demokratisierung» der westlichen Gesellschaften sprach. Im scharfen Unterschied dazu hat der im Weltkrieg kreierte Bolsche­ wismus mit seiner betont «unbestimmten», totalitär erweiterten und ins Absolute gesteigerten Skala von Sozial-, National- und Weltfeinden alle vorgefundenen sozialen Strukturen gesprengt und aus herausfrak­ tio­ nierten, aktivistischen und ambitionierten Elementen aller Klassen seine Aufgebote für einen offensiv geführten Bürgerkrieg formiert. Auf diese Weise hat er auf dem Boden des alten Russländischen Imperiums eine Macht- und Sozialformation «neuen Typs» geschaffen, die als östlicher Antagonist dem westlichen Kapitalismus und Imperialismus gegenüber­ trat. Wo immer die Parteien der Kommunistischen Internationale als ­innere Gegenspieler ihrer Regierungen und Eliten auftraten, da bezogen sie einen Gutteil ihrer Kraft, ihres Gewichts, ihrer Aura aus der Verbin­ dung mit diesem globalen Gegenpol, dem «Mutterland aller Werktäti­ gen», der siegreichen Sowjetunion, die der Ausgangspunkt und das Rückgrat des späteren «sozialistischen Welt­lagers» blieb, bis man vom «Kampf zweier Systeme» sprach. Die genuine historische Leistung der Kommunisten hat nur sehr par­ tiell in der Formierung antikapitalistischer Klassenbewegungen und in der Formulierung programmatischer Antithesen gelegen und dort, wo sie zur Macht kamen, nur sehr ausnahmsweise zu vorbildhaften s­ ozialen, ökonomischen oder kulturellen Innovationen geführt. Wenn schon, dann lagen die dauerhaften Resultate des Wirkens kommunistischer Parteien auf dem Gebiet des nation-building, der Herausbildung neuer oder der Wiederaufrichtung alter Staaten im Zuge der Zerschlagung des europäischen Hegemonial- und Kolonialsystems  – oft allerdings mit

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fragwürdigen oder brüchigen Resultaten wie etwa in Jugoslawien und um den Preis einer unerhörten, sektiererischen Gewalt und sozialkultu­ rellen Selbstzerstörung wie in China oder in Vietnam. Insoweit ein Hauptresultat des 20. Jahrhunderts die vollständige ­Organisation der Weltbevölkerung in Einzelstaaten war, zeigte sich der Kommunismus mit all seinen theoretischen Verirrungen, paranoiden Weltideen, untauglichen Produktionsweisen und autoritär deformierten Sozialformen letztlich doch auf der Höhe der Zeit. Wo immer er einen legitimen nationalen und sozialen Widerstand gegen eine imperialisti­ sche Einmischung, eine koloniale Unterjochung oder eine faschistische Okkupation organisierte, da ist er zu unerhörten militärischen Kraftent­ faltungen fähig gewesen. Im Großen und Ganzen sind die kommunis­ tischen Parteien und Staaten, so erstaunlich diese Tatsache angesichts ­ihrer sozialökonomischen Schwächen und inneren Selbstzerfleischungen anmutet, «im Felde unbesiegt» geblieben. Wollte man Eric Hobsbawms Vergleich mit den «Klosterkulturen des Mittelalters» einen Sinn abge­ winnen, müsste man an die mönchischen Ritterorden jenes Zeitalters den­ ken, die als Speerspitzen einer «ecclesia militans», einer militärisch ge­ rüsteten Weltkirche, im mittelmeerischen Raum wie im östlichen Europa als Kreuzzügler und als Kolonisatoren Land und Menschen in Besitz nahmen und «christianisierten»; was wiederum an Stalins bemerkens­ werte Formel vom «Schwertbrüder-­Orden» denken lässt, die als Selbst­ zuschreibung immerhin einigen historischen Sinn bewies. Historischen Sinn haben die Kommunisten aber vor allem darin bewie­ sen, dass sie auf der Basis von Lenins schwach begründetem, widersprüch­ lichem, aber flexiblem Theorem vom «Weltimperialismus» zwar stets mit einer konterrevolutionären Koalition aller Mächte, zugleich aber auch mit ­deren Rivalität bis hin zu einem neuen, tödlichen Zusammenstoß ge­ rechnet haben, einem zweiten Weltkrieg, und das in den 1930 er Jahren je­ denfalls zu Recht. Diese Spaltungen und Widersprüche der impe­ria­lis­ tischen Mächte untereinander waren im Weltkriegszeitalter tatsächlich so stark und so elementar, dass noch die verheerendsten Irr­tümer – wie die eklatante Unterschätzung des deutschen Nationalsozia­lismus und der Lebensraumpläne Hitlers  – Stalin schlussendlich in die Hände gespielt haben, 1939 als dem Komplizen und stillen Unterstützer Hitlers und Mus­ solinis, dann, nach dem deutschen Überfall 1941, in einer «Antifaschisti­ schen Koalition» an der Seite der Westmächte. In ganz entsprechender Weise hat Maos Taktik einer nationalen Ein­ heitsfront, die er propagandistisch forderte und praktisch verweigerte,

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ihm den Weg zur Macht bereitet. Gelassen verfolgte er die Zerschla­ gung seines inneren Feindes, der Kuomintang, durch den äußeren Feind, die japanischen Invasoren, und die Verheerung der entwickelten Küstenprovinzen Chinas durch die Okkupanten und hielt sein Pulver trocken gemäß der alten chinesischen Devise: Auf dem Berg sitzen und den Tigern zuschauen, wie sie kämpfen. In dieser Weise haben erst die «faschistischen» Bewegungen und Groß­ reichsprojekte der 1930 er Jahre, die selbst ein Teil der imperialistischen Mächtekonkurrenz gewesen sind, aber in ihren Eroberungszügen dann nie ge­sehene Formen einer systematischen Menschenvernichtung prakti­ ziert haben, den Kommunisten aller Länder als Wegbereiter gedient. Erst Hitler hat Stalin, der selbst ein großer Menschenvernichter war und den «totalen Krieg» der Angreifer durch eine noch totalere Kriegführung übertrumpft hat, in die Rolle eines Vaters des Vaterlandes und Befreiers der Menschheit gerückt und dem nachträglich konstruierten sowjeti­ schen «Antifaschismus» eine weit ausstrahlende moralische Würde ver­ schafft, die er von sich aus nicht hatte. Eine für die historische Entwicklung bis heute entscheidende Verände­ rung war es daher, dass sich mit dem Beginn des «Kalten Krieges» und der Konfrontation mit dem entstehenden «sozialistischen Weltlager» des Ostens ein politisch geeinter, wirtschaftlich und sozialkulturell verbun­ dener «Westen» – unter Einschluss der Besiegten des Weltkriegs, West­ deutschlands, Italiens und Japans  – bildete, wie es ihn so nie gegeben hatte. Aber auch dann haben die Kommunisten, ob an der Macht, in der Opposition oder im Widerstand, die inneren Konflikte der bürgerlichen Welt für sich nutzen können, nicht zuletzt auch die kulturellen Affekte, die es gegen den Siegeszug «westlicher», vor allem amerikanischer Le­ bensformen in aller Welt gab. Das Hauptfeld des letzten Expansionszyklus des Weltkommunismus waren schließlich die legitimen, bewaffneten oder unbewaffneten Auf­ stände, die sich weltweit gegen die kolonialen Landnahmen und hegemo­ nialen Politiken der europäischen Mächte gerichtet haben. Das «sozialis­ tische Weltlager» wuchs in den 1960/ 70 er Jahren noch immer weiter, trotz der schismatischen Spaltung zwischen der Sowjetunion und China und trotz aller dramatischen Auflehnungen im eigenen Macht­bereich, von Ostberlin 1953 über Budapest 1956 und Prag 1968 bis Danzig 1980/81, die die Kommunisten aller Länder mit den postkolonialen ­Krisen, Interventionen und Kriegen um Suez und Kuba, den Kongo und Vietnam, Angola und Jemen weltpolitisch vielfach überspielen konn­

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ten. Was sie im eigenen Lager und im Westen an Prestige verloren, das konnten sie im Süden und in der «Dritten Welt» noch immer dazu­ gewinnen. In allen diesen Hinsichten war der moderne Kommunismus, bevor er sich materiell, moralisch und mental erschöpft hat, für die bürgerlich-­ kapitalistische, westliche Welt, aus der er selbst stammte, ihre «eigene Frage als Gestalt».* Hat es den Kommunismus (im Singular) überhaupt gegeben? Kann man die politischen Bewegungen, die sich diesen Titel im 20. Jahrhundert auf ihre Fahnen schrieben, als ein historisch-politisches Gesamtphänomen sinnvoll verhandeln? Bei allen Zweifeln, die sich daraus speisen, dass man es am Ende mit vielfach verfeindeten Nationalkommunismen und vor allem mit zwei wiederaufgerichteten und miteinander rivalisierenden ­roten Imperien, Russland und China, zu tun hatte, gab und gibt es doch gute Gründe, vom «Kommunismus» als einem Gesamtphänomen zu spre­ chen: Erstens typologisch – insofern die unter diesen Namen gefassten Par­ teien und Bewegungen, Staats- und Sozialformationen bei allen Unter­ schieden und Differenzen jedenfalls einen strikter systematischen Cha­ rakter getragen haben, als man das für andere politisch-weltanschauliche Großphänomene wie «den Faschismus», «den Konservativismus», «die Sozialdemokratie» oder «den Liberalismus» sagen könnte. Nur ihre ideologische Wahlverwandtschaft hat es den Kommunisten so vieler ganz unterschiedlicher Länder zudem ermöglicht, über Jahrzehnte hin­ weg (ungefähr zwischen 1920 und 1960) internationale Organisations­ strukturen aufzubauen und zu erhalten, die einen halb realen, halb fikti­ ven «Weltkommunismus» verkörpert haben. Zweitens historisch – insofern es sich beim Kommunismus des 20. Jahr­ *  «Der Feind ist unsere eigene Frage als Gestalt.» Diese Verszeile stammt von dem Ex­ pressionisten Theodor Däubler, aus einer 1916 geschriebenen Hymne an den Kriegsgeg­ ner Italien als dem Land, in dem er geboren und aus dem er verwiesen worden war – und dem er sich gleichwohl existentiell verbunden fühlte. Es war also ein lyrischer Versuch, den Motiven eines ideologisierten Völkerhasses nachzuspüren, der sich gerade aus der gegenseitigen intimen Kenntnis und kulturellen Nähe speiste. Dass der Freund-Feind-­ Theoretiker Carl Schmitt sich diesen Satz später auf zweideutige Weise zu Eigen gemacht hat, hat die selbstreflexive Pointe von Däublers Vers verdunkelt. Allerdings macht dieser Satz in Schmitts, gerade mit Blick auf Lenin, Mao und Guevara entwickelter «Theorie des Partisanen» einen eigenen, beklemmenden Sinn. (Carl Schmitt, Theorie des Partisa­ nen, Berlin 1963, S. 87)

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hunderts um eine ganz bestimmte Sequenz historischer Ereignisse gehan­ delt hat, die einander bedingt, sich gegenseitig vorangetrieben und so ­etwas wie einen historischen Gesamtzyklus ergeben haben, der von 1917 bis 1989 (oder 1992) gereicht hat. Ohne die Machteroberung der Bol­ schewiki und ohne die Gründung der Sowjetunion als eines imaginären «Vaterlands aller Werktätigen» hätte es schwerlich eine Kommunisti­ sche Internationale als «Weltpartei des Proletariats» mit einer Moskauer Zentrale geben können, sondern allenfalls eine lose Föderation radikal­ sozialistischer Parteien unterschiedlicher Observanz. Ohne die Moskauer Internationale und ohne die Existenz der Sowjetunion als Hinterland wären aber auch die nachfolgenden, von Kommunisten geführten Revo­ lutionen des 20. Jahrhunderts nur schwer denkbar gewesen und jeden­ falls nicht in den Formen, die sie schließlich annahmen. Alle wichtigen Kommunistischen Parteien und alle bedeutenden histo­ rischen Führer, von Josip Broz Tito über Ho Chi Minh bis Mao Tsetung, sind mehr, als sie später zugeben wollten, in der Schule dieser bol­ schewistischen «Weltpartei» geformt und ausgebildet worden. Dass die Emanzipation von den Moskauer Direktiven am Ende eine Bedingung ihres Sieges war, ändert nichts daran, dass sie ab 1944 in einer durch die Sowjetunion und die Rote Armee entscheidend mitbestimmten Weltsitua­ tion agierten, die es ihnen erst ermöglicht hat, sich durchzusetzen. Das gilt auch für Jugoslawien, Albanien oder Nord-Vietnam, wo kommunis­ tische Partisanen aus eigener Kraft die Macht erobert haben; und letztlich auch für den Siegeszug der roten Bauernarmeen Chinas 1947–49. Dann war es wiederum China, das durch seine massive militärische Interven­ tion im Koreakrieg und auf die unterschiedlichste Weise den anderen kommunistischen Staaten und Kampfbewegungen in Ostasien Rücken­ deckung gegeben hat; so wie die Sowjetunion und ihre Satelliten noch bis in die 1960/70 er Jahre den Kommunisten an der Spitze nationaler Befreiungsbewegungen in Afrika oder den Führern linksnationaler Mili­ tärputsche im Nahen Osten entscheidende Hilfe geliefert haben. Inso­ fern stellt diese mehr als ein halbes Jahrhundert umfassende Ausbreitung des «Weltkommunismus» sich als eine einzige, lange, sich fortzeugende Sequenz dar. Dass die Kommunisten, sobald sie an der Macht waren, entgegen ihrem emphatisch verkündeten «Internationalismus» ihre eigenen Länder unter Quarantäne stellten und mit Wachtürmen und Stacheldrahtverhauen umgaben, angeblich um sie vor dem Imperialismus zu schützen, tatsäch­ lich aber, um ihre Untertanen vom subversiven Reiz bürgerlicher Freihei­

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ten und kosmopolitischer Warenwelten und Lebensstile abzuschotten und an der Flucht zu hindern, hat ihrem Nimbus allerdings weniger ­geschadet, als man annehmen könnte. Im Gegenteil: Auch hier hat ein Mechanismus von Anfang bis Ende zuverlässig funktioniert  – und im stillgestellten Kuba Fidel Castros sogar bis weit über die Lebenszeit des «realen Sozialismus» hinaus –, der ihrem militanten Ausharren und sta­ tionären «Anderssein» in den Augen internationaler Bewunderer noch stets die Würde oder auch den Charme der Schlichtheit, Prinzipienfestig­ keit und malerischen Rückständigkeit verlieh. Den vielleicht ersten, archetypischen Text hat einer der frühesten Au­ genzeugen des bolschewistischen Russland, der Schriftsteller und Korre­ spondent der «Frankfurter Zeitung» Alfons Paquet, geliefert, der 1918 in der Zeit des Brester Friedens nach Moskau entsandt worden war. Dort hatte er sich als romantischer Verfechter einer deutschen Weltmission unter dem Einfluss Karl Radeks und anderer Mitglieder der Sowjetregie­ rung für die Perspektive einer gemeinsamen deutsch-bolschewistischen Widerstandsfront und revolutionären Mobilmachung gegen die drohende «Pax Americana» gewinnen lassen, trotz aller moralischen Skrupel, den der rote Terror in ihm auslöste. Als er sich im November 1918, nach der sang- und klanglosen Niederlage des Deutschen Reichs, auf der Rück­ fahrt nach Berlin befand, überschwemmten ihn Erinnerungen an das verfallende, hungernde, heroisch ausharrende Moskau  – welches nie­ mals «so schön gewesen wie in dieser Verwilderung» und gleichsam in den «Naturzustand» zurückgekehrt sei: «Jubel des Unterganges …, an­ archische Geburt des neuen Wesens … Aber das Leben, fragwürdig in jedem Schritt, ist wieder ein Dasein geworden! Das verhasste Zeitalter der Geschäfte ist wahrhaftig hingemordet, das alte feige Philistertum … Roh und gespenstig bauen sich größte Entwürfe, unsichtbare Türme ­eines entfesselten idealen Willens in das geräumige Nichts.»4

Sowjetrussland als U-topos Von Anfang an war es die «reale Existenz» Sowjetrusslands, später des «sozialistischen Weltlagers», die die erschütterten Nachkriegswelten in Frage gestellt und herausgefordert hat, mehr als das noch so radikale Ideen oder sozialistische Bewegungen vor dem Weltkriegszeitalter jemals hätten tun können. War der Sozialismus vor 1914 vor allem ein innerer Widerspruch der alten, feudal-bürokratischen und der neuen bürger­

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lich-kapitalistischen Welt, so nahm er nun die Form eines äußeren An­ tagonisten, einer eigenen, anderen Welt an – «A world apart».5 Damit wurde die entstehende Union Sozialistischer Sowjetrepubliken zu einem U-topos im ganz wörtlichen Sinne: einer außerhalb der bekannten Staa­ tenwelt und selbst jenseits des Kontinuums der menschlichen Geschichte gelegenen «Neuen Welt» oder Gegenwelt. Dem jungen Philosophen Ernst Bloch in seinem Schweizer Exil er­ schien dieses rote Moskowien schon 1918 als «ein Indien im Nebel», voll «russischer Wärme und Erwartung», ein traumhafter, weiter Osten, über den der «leere, westliche Mensch von neuem ins Tiefere dahinter» sich zurückbegeben könne, heim in den Schoß des «mütterlichen Orient», von dem alle Menschheitsgeschichte, alle Religionen, alle Staatsbildun­ gen ihren Ausgang genommen haben. Hier, im sowjetischen Russland, sei jener von Marx erträumte «Bund zwischen den Armen und den Den­ kern» tatsächlich geschlossen worden, damit der «entzündete Egoismus» der Klasseninteressen mit «der sittlichen Reinheit des Kommunismus» verbunden und aufgehoben würde.6 Zu diesem «u-topischen» Charakter des roten Moskowien trug seine Aura einer «belagerten Festung» bei, die von allen niederen Dämonen der alten Welt von innen wie von außen bedroht wurde, zugleich aber auch seine neuartige Statur eines sozialistisch transformierten Vielvöl­ kerreichs, das mit seinen industriellen und urbanen Zentren, seinen rie­ sigen ländlichen Rückräumen und seinen «hundert Völkern» wie ein Ab­ bild der Welt im Ganzen erschien, als ein rot gezeichnetes «Sechstel der Erde». Mit der Internationale war zugleich ein globaler Resonanzraum entstanden, dessen politisch-psychologische Wirkungen weitaus bedeu­ tender waren als alle tatsächlichen Erfolge. In vieler Hinsicht haben ­gerade die Parteien des Westens immer wieder die Rolle eines ideellen Komplements zum «realen Sozialismus» des Ostens gespielt, das diesem Unternehmen erst den Anschein von Universalität verlieh. Allein schon «die Reise hinüber» gewann einen Zug des Transzenden­ talen. Die zu einer Art Alterspräsidentin der Komintern gewordene Clara Zetkin forderte alle Genossen auf, beim Übertreten der sowjetischen Grenze ihre Schuhe auszuziehen, weil man heiligen Boden betrete.7 Eine ganze Literatur der «Reisen in die Welt des Sozialismus» entstand seit den frühen 1920 er Jahren, und immer mit dem Gestus einer Entdeckungs­ reise, gleich von welcher politischen Position aus die Berichte verfasst waren. Schon die eigentümliche Mischung von alten Palästen mit ihrem imperialen Glanz und den darin tagenden proletarischen Versammlun­

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gen mit ihrer phantastisch-weltrevolutionären Emblematik verströmte ein unwiderstehliches Aroma von Weltgeschichte. Die Armut und die Spuren des Bürgerkriegs, die Anzeichen urbanen Verfalls und eines notorischen Warenmangels hatten bei allen Irritationen immer auch etwas Erheben­ des, etwas von einem Purgatorium, einem Marsch durch die Wüste, der Bewunderung abnötigte. Auch der totalitäre Anspruch der neuen Macht­ haber, «alles» von Grund auf neu zu gestalten, einschließlich ihrer Be­ reitschaft, alle sichtbaren und verborgenen Feinde der Revolution zu vertilgen, wirkte ebenso anziehend wie erschreckend.8 Jeder fand, was er suchte. Der Expressionist Arthur Holitscher schrieb in seinem Bestseller «Drei Monate in Sowjet-Russland» 1920: «Ich suchte in Russland eine Religion und fand eine Partei. Eine Partei aber, die allerdings eine große Idee, die größte vielleicht, die Menschen je ge­ dacht haben, mit allen Mitteln der politischen Macht und sogar der diplo­ matischen Schlauheit durchzusetzen bestrebt ist.»9 Vor allem die «Ge­ stalt Lenins, in dessen Natur der Fanatismus des russischen Bauern mit der Weltklugheit eines Führers der Massen sich auf seltsamste Weise paart», zog ihn in seinen Bann. Ihm schrieb er die Mission zu, sein Volk wie die Menschheit «zu einer neuen, erst in den nebligen Anfängen er­ kennbaren Gläubigkeit hin» zu lenken.10 Was Holitscher in Moskau 1920 sah, war freilich «ein System des eiser­nen Zwanges»11, das er bedauerte, aber nicht beklagte. Denn neben der messianischen Erlösergestalt Lenins und der des Volksaufklärers ­Lunatscharski stand die düster umwitterte Figur des obersten Anklägers und Menschenvertilgers Felix Dzierzynski – «ein etwa vierzig Jahre alter Mann von sanften, ja schüchternen Umgangsformen», recht gebildet und von puritanischer Denkungsart. «Man hat ihn  … mit Franziskus von Assisi verglichen. Es ist bekannt, dass er im Warschauer Gefängnis die Unratkübel seiner Mitgefangenen täglich selber aus den Zellen ge­ holt und entleert hat, ‹weil einer das Niedrigste für alle anderen besor­ gen muss, damit diese anderen vom Niedrigsten befreit seien›  … Als oberster Kommissar der gefürchteten und wild gehassten Behörde tut Dzierzynski meines Erachtens etwas Ähnliches: er besorgt das Entsetz­ liche, aber unumgänglich Nötige in der kommunistischen Gemeinschaft der Regierenden.»12 Und war nicht jede große Menschheitsbewegung mit Strömen von Blut getauft? Entscheidend war doch, dass in Russland – und gerade in Russland – die Menschheit einen neuen Weg betreten hatte, auch wenn das zunächst ein Leidensweg war: «Es ist Schweres, was man im Russ­

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land der Sowjets erlebt  … Aber dann erhebt sich vor dem schier Ver­ zweifelnden der mystische heilige Mensch Russlands, Tolstoi, der … von Verklärung und Unsterblichkeit beschienen sich auf dem winterlichen Weg ins Ungewisse vorwärts tastet … Es ist der Weg der Menschheit, den der russische Mensch geht,  … über Trümmer und Not und Alp­ traum zur Wiedergeburt und zur Gemeinschaft der beseelten Ver­ nunft.»13 Ein Utopicum war dieses «Neue Russland» aber auch für seine eigenen Köpfe und jugendlichen Parteigänger, und noch mehr vielleicht für das Umfeld seiner intellektuellen und künstlerischen «Weggefährten». Ohne diesen Energiestrom eines phantastisch-utopischen Denkens und eines futuristischen Wollens hätte der Bolschewismus in entscheidenden Situa­ tionen vielleicht nicht überleben und jedenfalls kein derart ausstrahlen­ des Prestige gewinnen können – trotz der Reserve Lenins wie später Sta­ lins gegenüber allem schwärmerischen, also unkontrollierbaren Über­ schwang und trotz des Befremdens, das die avantgardistische «Revolu­ tionskunst» bei ihren Adressaten, den «Volksmassen», auslöste. Vor dem Hintergrund der apokalyptischen Erfahrungen von Weltund Bürgerkrieg füllte sich die Behauptung, der globale Kapitalismus produziere «gesetzmäßig» seinen eigenen Untergang und setze den So­ zia­lismus auf die ­Tagesordnung, mit einer Vielzahl tradierter, volks­ tümlich-mystischer, religiös grundierter Heils- und Unheilserwartungen, in irisierender Mischung und Überschneidung mit Eruptionen eines entgrenzten wissenschaftlichen oder künstlerischen Utopismus. Statt ­ zum Hort eines ­naiven Idealbilds vom irdischen Paradies wurde das bol­ schewistische Russland zum Sammelbecken nahezu aller Ideen und Avantgardismen des Zeitalters, zum zeitweise avanciertesten «Labo­ ratorium der Moderne»14 und damit zur Geburtsstätte einer vermeint­ lichen sozialistischen Hypermoderne, worin die Welt als ein Gesamt­ kunstwerk ganz neu entworfen wurde. So sah es zumindest einen kurzen historischen Moment lang aus; und so hat es sich  – vor allem unter Kunsthistorikern – im schwärmerischen Bild einer «Großen Utopie» bis heute erhalten.15 Tatsächlich führte die mehr ersehnte als realisierte Verbindung mit der neuen bolschewistischen Macht  – die als Kombination von Feder und Pinsel mit Maschine und Pistole gedacht war wie zur gleichen Zeit im faschistischen Italien auch – nach einem kurzen Höhenflug fast alle aus dem glänzenden Gestirn russischer Futuristen und Konstruktivisten,

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Proletkultleute oder Biokosmisten binnen ein, zwei Jahrzehnten in die künstlerische und intellektuelle Regression oder geradewegs in den phy­ sischen und sozialen Absturz  – so wie Ikarus bei der Annäherung an «Die Sonne, die uns verbrennt».16 Und diese Sonne hieß Stalin. Kaum weniger problematisch als alle obligatorischen Eingriffe der Zensur, alle Gängeleien, Abkanzelungen und Maßregelungen der Kul­ tur- und Propagandabehörden waren oft allerdings diese entgrenzten Ideen selbst. Alles schien machbar, alles stand zur Disposition, angefan­ gen mit der Natur, die als bloßes Material galt, das beliebig ausgebeutet werden konnte, oder sogar als ein Feind, den man besiegen musste, zu­ gespitzt in obsessiv wiederkehrenden Metaphern von den Bergen, die man versetzen, und den Flüssen, die man zwingen könne, ihren Lauf umzukehren. «‹Und dir sage ich es geradezu, du Herr mit dem Hut: Die Erde werden wir in unsere Hände nehmen – unbedingt! Und alles auf ihr werden wir ändern …› – ‹Und die Flüsse, die werden wohl nach rück­ wärts fließen?›  – ‹Wohin wir wollen, dorthin werden sie fließen. Was lachst du, Herr?›» Diesen im Geist des von ihm selbst kreierten «Sozialistischen Realis­ mus» (oder richtiger: revolutionären Romantizismus) verfassten Dialog ließ Maxim Gorki, inzwischen zum Großschriftsteller der Stalinära avan­ ciert, in seiner Erzählung «Dnjeprostroi» von 1931 einen roten Soldaten mit einem bourgeoisen «Herrn mit Hut» im Revolutionsjahr 1917 füh­ ren.17 Womöglich ließe sich das ganze, grausam fehlgeschlagene Unter­ nehmen des Kommunismus im 20. Jahrhundert in dieser Metapher zu­ sammenfassen: den Lauf der Geschichte umzukehren, so wie den Lauf der Flüsse. Russland war jedenfalls der historische Ort und das «geo­ politische» Milieu, an dem dieser Gedanke sich zum ersten Mal über­ haupt fassen und erproben ließ. Das eigentliche Objekt aller Machbarkeitsphantasien war aber die menschliche Gesellschaft mit allen ihren Akten der Produktion und Re­ produktion des Lebens, der «alte» Mensch selbst. Der Utopismus einer gesamtgesellschaftlichen Planung und Steuerung nach wissenschaftlichen Kriterien und mit unbegrenzt einsetzbaren technischen Instrumenten ging unmittelbar über in den neuen Utopismus eines social engineering, das den vorhandenen Sozialkörper im Ganzen wie in allen seinen Einzel­ gliedern zu modeln und zu optimieren trachtete. Das Zusammendenken von Physiologie und Psychologie, Bildung und Erziehung, eugenischer Auslese und medizinischer Nachbesserung konnte sich bei einem selbst­

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entworfenen Universalgenie wie Leo Trotzki zu literarisch hochfliegen­ den Vorstellungen einer bewussten Selbst- und Höherzüchtung der Ein­ zelnen wie des sozialen Gesamtkollektivs steigern, um in einer endlosen Kette von Evolutionen oder Mutationen «einen höheren gesellschaft­ lich-biologischen Typus, und, wenn man so will – den Übermenschen zu schaffen».18 Damit bewegte Trotzki sich freilich nur im breiten Strom eines «magi­ schen Szientismus»,19 wie er in der frühen Sowjetunion beklemmende Realität wurde. Auch die letzte Grenze, die das Leben vom Tod trennt, wurde in diesen Sozial- und Bioutopien überschritten. Schon 1921 soll der Altbolschewik, Elektroingenieur und Volkskommissar für Handel und Transport, Leonid Krassin, beim Begräbnis eines Bürgerkriegshelden verkündet haben, die Zeit werde kommen, in der man fähig sein werde, «die großen Persönlichkeiten, die Kämpfer für die Befreiung der Mensch­ heit, wiederzuerwecken». Krassin als einer der alten Freunde Lenins stand auch der Staats- und Parteikommission zur «Verewigung des Gedenkens an Genossen Lenin» vor. Der zum Schöpfer des Mausoleums auf dem Roten Platz berufene Architekt Konstantin Melnikow sah die Mumifizie­ rung des Führers ausdrücklich als ein Mittel seiner «ewigen Erhaltung» und einer perspektivischen Überwindung des Todes.20 Derweilen machte das bäuerliche Volk sich seine eigenen Gedanken, so wie in Andrej Plato­ nows allegorischer Novelle «Die Baugrube» von 1929, in der einer der Protagonisten seinen Kollegen erklärt: «Der Marxismus wird alles kön­ nen. Weshalb liegt dann Lenin in Moskau ganz heil? Er wartet auf die Wissenschaft – er will auferstehen.»21 Ähnliche Motive bewegten den Neurologen Wladimir Bechterew, als er die Anregung zu jenem (bis heute existierenden) «Pantheon» genialer Sowjethirne gab, in das das sklerotisch deformierte Resthirn des toten Lenin als «Reliquie Nr. 1» eingeliefert wurde, so wie später ein Dutzend weiterer «Elitehirne», von Majakowski über Lunatscharski bis Clara Zetkin. Der durch seine Theorien über Genialität und Degeneration be­ kannte deutsche Hirnforscher Oskar Vogt wurde von der Sowjetregierung beauftragt, Lenins Hirn zu beforschen, um in dessen Struktur «Hinweise auf eine materielle Begründung der Genialität W. I. Lenins» zu finden (was Vogt und seinem Kollegen Sarkissow auftragsgemäß auch gelang). Vogt wie seine sowjetischen Kollegen verbanden diese Forschungen in dem ­eigens dazu eingerichteten Moskauer Institut mit der Vorstellung, dass «die Analyse des Elitehirns und seiner Genese … die wichtigste Basis für die Höherzüchtung des Gehirns» insgesamt liefern werde.22

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Natürlich waren solche szientistischen Omnipotenzphantasien ein ­Signum der wissenschaftlichen Hoffnungen der Zeit überhaupt und ­mögen uns heute wieder allzu zeitgemäß erscheinen. Nur dass man sich hier eben nicht im Bereich der reinen Wissenschaften bewegte, sondern zugleich in den höchsten Machtsphären eines neuartigen Staatswesens. In diesem Rahmen bekamen diese Forschungen eine ganz andere Bedeu­ tung. Sie verwiesen auf ein organizistisches Gesellschaftsbild, worin der Führer als Hirn, das Zentralkomitee als Nervensystem, die Partei als Herz und das Proletariat als physisches Gerüst, das den Sozialkörper trug, firmierten. Zwar wurden diese Genialitätsforschungen, ähnlich wie die Ansätze einer sowjetischen Eugenik und Rassenkunde,23 im Stalinismus irgend­ wann zu toten Zweigen im Evolutionsbaum der Sowjetwissenschaften. Dieses Schicksal teilten sie allerdings mit vielen seriösen Disziplinen, so der Genetik, in denen die russische Wissenschaft seit der Jahrhundert­ wende führend war – was ihren bedeutendsten Kopf Nikolai Wawilow nur umso mehr prädestinierte, 1938 als Konterrevolutionär verhaftet zu werden und 1942 in einem Lager zu sterben. Denn über allem erhob sich triumphierend jetzt eine neue, von dem Scharlatan Lyssenko führend vertretene Leitwissenschaft, die auf nichts weniger als eine universelle stalinistische Vererbungslehre oder Züch­ tungswissenschaft hinauslief. Die von Lyssenko unter der persönlichen Redaktion Stalins 1948 ex cathedra verkündete Lehrmeinung, der zu­ folge sich «erworbene», also planmäßig induzierte und antrainierbare Eigenschaften auf kurzem Wege in den  – nicht genetisch, sondern ge­ samtphysiologisch bestimmten – Erbpool von Pflanzen überführen lie­ ßen (und warum dann nicht auch in den von Menschen?),24 war nur der Endpunkt einer sukzessiven Rücknahme aller wildwüchsigen geistigen Produktionen in die zentrale Utopie des Regimes: die einer unbegrenzten Gestaltungsmacht nach dem Paradigma eines zum Ende geführten Klas­ senkampfs. Nichts war natürlich utopischer als dieser Anspruch selbst. Die Katego­ rie der «Klasse» hatte in einem Land wie Russland, das gerade unter e­ inem Mangel an moderner Klassenbildung litt, schon vor der Revolution nur beschränkten Sinn gemacht; am Ausgang des Bürgerkriegs war sie angesichts der sozialen Destruktionen vollends sinnlos geworden. Indem die Bolschewiki sich auch über ihre Machteroberung hinaus als «prole­ tarische Klassenpartei» definierten, rekurrierten sie auf eine rein ideelle

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Substanz, die sich in ihnen selbst verkörpern sollte – so wie Lenin es früh gelehrt hatte: dass es ohne die Partei eine «Arbeiterklasse» gar nicht gebe. Insofern drückte die hektische Suche nach Mitteln zur Produktion von «Neuen Menschen» auch ein höchst reales, machtpraktisches Bedürfnis aus: nämlich ein neues, «eigenes» politisches und soziales Substrat zu schaffen, das man in der aufgelösten Klassenstruktur der Gesellschaft sonst nicht mehr hatte. Zuverlässiger als alle Biopolitik oder alle künst­ lerischen und philosophischen Selbstüberhebungen waren dabei letztlich die Praktiken einer sozialen Selektion und «Säuberung» – Praktiken, die angesichts der bunten Vielgestalt der Lebens-, Arbeits- und Sozialisa­ tionsprozesse in den vielsprachigen, multikulturellen, ländlichen, provin­ ziellen und urbanen Milieus des Reiches als eine äußerst primitive, aber wirksame Maschine der Klassifizierung, Homogenisierung, Selektierung und Standardisierung wirkten. Auf dem Ersten Kongress der «Pädologen» (einer aus den USA über­ nommenen, für sowjetische Bedürfnisse adaptierten Technik der Erzie­ hung) 1928 erklärte Lunatscharski, das sowjetische Erziehungssystem sei auf dem besten Wege «zur Herstellung des neuen Menschen, welche parallel zur Produktion neuer Ausrüstungen in der Wirtschaft zu organi­ sieren ist». Bucharin sprach an gleicher Stelle davon, es gelte «in kürzester Frist eine ausreichende Stückzahl von aktiven Arbeitern zu produzieren, qualifizierte, speziell geschulte Maschinen, die man sofort einsetzen» könnte.25 Im dem Maße, in dem Freud und alle individualpsychologischen Theo­rien und Praktiken aus dem sowjetischen Wissenschaftskanon ver­ bannt wurden, wurde die «Reflexlehre» Iwan Pawlows hegemonial und zu einer der hoch geförderten Leitwissenschaften der Sowjetperiode, weil sie – auch wenn das selten so ausgesprochen wurde – mit der Vor­ stellung einer universellen «Konditionierung» des menschlichen Verhal­ tens (analog dem der sprichwörtlichen Pawlowschen Hunde) verbunden war. Ob Lenin sich 1918 bei Pawlow tatsächlich nach den Möglichkei­ ten einer wissenschaftlichen Steuerung des menschlichen Verhaltens er­ kundigt hat, wirkt zumindest nicht unplausibel.26 Jedenfalls wurde Pawlows Reflexlehre nach seinem Tod 1936 zum un­ antastbaren Dogma erhoben, bis sie auf einer großen «Pawlow-Konfe­ renz» im Juni 1950, zwei Jahre nach der von Lyssenko dominierten ­Tagung zur Entwicklung einer «neuen sowjetischen Biologie», ganz dem organizistischen Gesellschaftsmodell des Stalinismus eingepasst wurde:

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Das entscheidende Vermächtnis Pawlows, so hieß es nun, sei «die Dik­ tatur des Cortex» (der Großhirnrinde) über den Gesamtorganismus. Um noch besser verstanden zu werden, erklärte Andrej Shdanow, der Chef­ideologe dieser Jahre, in einem Artikel in der «Prawda», dass – ent­ sprechend den Lehren des Genossen Stalin über den «dialektischen Ma­ terialismus» und entgegen «den westeuropäischen Ansichten»  – «die mate­rialistische Theorie der Entwicklung … in jedem Prozess eine füh­ rende Abteilung» feststelle, die es erlaube, «schädliche, lasterhafte Kreise und kreisförmige Abhängigkeiten zu zerbrechen».27 Das bedeutet weder, dass wir uns hier in einer Sphäre des reinen wis­ senschaftlichen Humbugs bewegen, noch dass die Führer der Bolsche­ wiki in ihrer Rolle als Gesellschaftsingenieure reine Zyniker und freie Erfinder gewesen wären. In vieler Hinsicht waren sie Gefangene – weni­ ger ihrer Ideologien, mit denen sie durchaus «undogmatisch» verfuhren, sobald die alten durch neue Leerformeln zu ersetzen waren, als vielmehr ihrer Projekte und ihrer politischen Lage. Was ihnen blieb, als sich die spekulativen weltrevolutionären Erwartungen der ersten Bürgerkriegs­ jahre verflüchtigt hatten, war das Projekt der Sowjetunion selbst als eines Weltstaats eigener Ordnung in einer «kapitalistischen Umwelt».

Kapitalistische Weltkrise und Internationale Mit der Losung vom «Aufbau des Sozialismus in einem Land» sprach Stalin 1925 die unterschwelligen nationalen und sozialen Konsolidie­ rungswünsche eines breiten Stamms der neuen Sowjetkader an und er­ hob sich zum ordnenden Zentrum und ruhenden Pol in den von Diado­ chenkämpfen erschütterten Machtstrukturen. Damit revidierte er nicht nur das von Lenin stammende und von Trotzki weiter verfochtene Axiom, wonach eine sozialistische Revolution in einem zurückgebliebe­ nen Land wie Russland sich nur durch ihre Ausdehnung auf ein oder mehrere fortgeschrittene Länder des Westens werde behaupten und ent­ falten können. Er verlegte den unaufhaltsamen Vormarsch des Weltsozia­ lismus damit auch in eine andere, realpolitisch ungleich wirkungsvollere Sphäre. In einem künftigen Weltkonflikt, erklärte Stalin, würden auch die Sowjetunion und die Rote Armee «auftreten» müssen; aber erst «als letzte», um ihr Gewicht in die Waagschale zu werfen – «ein Gewicht, das ausschlaggebend sein dürfte».28 Damit trat Sowjetrussland von Neuem in das Spiel der Mächte ein,

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a­ llerdings noch immer als ein Staatswesen neuen Typs, das sich gegen alle kapitalistisch-imperialistischen Einflüsse imprägnierte, indem es sich aus den weltwirtschaftlichen Arbeitsteilungen und außenpolitischen Konflikten bewusst ausschaltete. Diese Grundsatzentscheidung hatte die Sowjetregierung noch unter der Ägide Lenins im April 1922 getroffen, als sie trotz oder gerade wegen des Übergangs zur «Neuen Ökonomi­ schen Politik» die Weltwirtschaftskonferenz von Genua durch den Son­ dervertrag mit Deutschland in Rapallo gesprengt hatte. Auf dieser Konferenz, zu der Sowjetrussland erstmals eingeladen worden war, hätte es zentral um ein internationales Konsortium zum Wiederaufbau Russlands gehen sollen, als Dreh- und Angelpunkt einer ­Wiederherstellung der Weltmarktbeziehungen im Ganzen. Doch die ­Sowjetunion legte sich selbst und die gesamte Kommunistische Interna­ tionale erneut auf eine offensive Revisionspolitik gegen die «Weltord­ nung von Versailles» fest und ging stattdessen ein loses, durch konspira­ tive Militärbeziehungen gestütztes Bündnis mit Deutschland ein. Lenins Konzeption einer Politik der limitierten Konzessionen für ein­ zelne ausländische Kapitalgesellschaften und eines strikt bilateralen, doch mit gewissen Kreditspielräumen ausgestatteten staatlichen Außenhan­ dels wurde von seinen Nachfolgern freilich ebenso wenig konsequent verfolgt wie die «Neue Ökonomische Politik» im Innern, die diese vor­ sichtige Öffnung zum Weltmarkt hätte flankieren sollen. Stattdessen prak­ tizierte die Sowjetunion in der Ära Stalins ein gewollt schlichtes System des Außenhandels in Kontingenten, im Grunde eines internationalen Naturaltauschs, in dem die Importe westlicher Maschinen und Turbi­ nen, vor allem aus Deutschland und den USA, gegen gleichwertige Ex­ porte von Getreide, Holz, Pelzen oder Gold verrechnet wurden und das mit stetig abnehmender Tendenz, auch in der Periode der Fünfjahrpläne. In einem von Alexander Radó erstellten «Atlas für Politik, Wirtschaft, Arbeiterbewegung» von 1930 liegt die Sowjetunion als eine kompakte, rot gezeichnete «Proletarische Großmacht» im Zentrum der geopoliti­ schen Weltkarten. Umgeben ist sie an ihrer südlichen und östlichen Flanke von einem Kranz nationalrevolutionärer Staaten, von China über Afghanistan und Persien bis zur Türkei, im Westen dagegen von einem Cordon meist feindlicher «weißer» Staaten. Unter den imperialistischen Mächten dominiert nach wie vor das blau eingezeichnete Britische Em­ pire, das nicht nur die meisten Länder Europas und große Teile der kolo­ nialen Welt kontrolliere, sondern aggressiv bemüht sei, den Kranz der nationalrevolutionären Staaten von China bis zur Türkei zu sprengen,

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um die Sowjetunion einzukreisen und mit Krieg und Konterrevolution zu überziehen. Diese globale Hauptkonfrontationslinie zwischen Revolution und Kon­ terrevolution werde, so die knappen Kommentare zu den Karten, durch innerimperialistische Rivalitäten durchbrochen, insbesondere «den Kampf zwischen Großbritannien und den Vereinigten Staaten um die Weltherrschaft». Kleinere Großmächte wie Frankreich, Italien oder ­Japan müssten sich auf die eine oder andere Seite schlagen. Deutschland, das in dieser Aufstellung nur als eine gestürzte und amputierte Macht vorkam, sei noch immer das fortgeschrittenste Industrieland Europas, wegen der Fesseln von Versailles aber beständig zum Lavieren gezwun­ gen. Während es die freundschaftliche Rückendeckung der Sowjetunion «zu seiner Entfaltung auszunutzen» suche, sei es gleichzeitig bemüht, sich einem der beiden imperialistischen Weltblocks anzudienen, um seine militärische und politische Freizügigkeit wiederzugewinnen.29 Im Vorwort des sowjetischen Weltökonomen Eugen Varga zu einer noch im Frühjahr 1933 in Wien und Berlin (!) erschienenen Broschüre mit Lenin-Texten über den Versailler Vertrag hieß es optimistisch, dass dieser Vertrag, indem er die imperialistischen Räuber in unlösbare Kon­ flikte untereinander verstrickt habe, letztlich «die Position der Sowjet­ union» gestärkt habe, da sie nun «zu einer Art Polarisierungszentrum der durch den Versailler Vertrag bedrohten Völker» geworden sei, zu de­ nen eben auch Deutschland gehörte. Der «Kampf um die Neuverteilung der Welt» habe mit dem Überfall Japans auf China (die Invasion der Mandschurei 1932) bereits begonnen. Ein neuer «Turnus von Kriegen und Revolutionen», der dem imperialistischen Weltsystem insgesamt ein Ende bereiten werde, habe damit begonnen.30

Die irreversible Zäsur Der Zusammenfall von «Großer Depression» im Westen mit dem soge­ nannten «Großen Umschwung» in der Sowjetunion legt einen Zusam­ menhang nahe, der bestenfalls indirekt existierte. Tatsächlich war der Übergang zur forcierten sozialistischen Industrialisierung und Kollekti­ vierung keine Antwort auf die kapitalistische Weltwirtschaftskrise, son­ dern entsprang den existentiellen Schwierigkeiten des Regimes, und zwar als Folge weniger des Scheiterns als vielmehr des relativen Erfolgs der «Neuen Ökonomischen Politik». In vielen Bereichen hatte die sowjeti­

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sche Wirtschaft sich bis 1928 regeneriert und statistisch dem Vorkriegs­ stand von 1913 wieder angenähert. Aber gerade von dieser Entwicklung fühlten die herrschenden Bolschewiki sich bedroht. Als Stalin 1928 begann, von einem «Ablieferungsstreik» der Kulaken zu sprechen, mit dem sie «die Sowjetmacht in die Knie zwingen» oder «an der Gurgel fassen» wollten, war das eine Konstruktion, die gerade in ihrer fast schon habituellen Paranoia bezeichnend war. Dabei war der sachliche Konflikt klar umrissen: Viele Bauern waren nicht mehr bereit, ihre Überschüsse zu den staatlich oktroyierten Niedrigstpreisen und für Geldscheine abzuliefern, für die sie weder elementare Konsumgüter noch notwendige Arbeitsmittel kaufen konnten. Es gab keine Nahrungs­ mittelkrise im Land, nur eine Krise der staatlichen Getreideaufkäufe, die ungefähr ein Siebtel der produzierten Gesamtmenge jährlich betrugen und vor allem für den Export bestimmt waren, um den Ankauf neuer Maschinen zu finanzieren.31 So vergleichsweise geringfügig dieser Konflikt war und so unange­ fochten das Regime der Bolschewiki die Macht in Händen hielt, so rich­ tig war, dass es am Scheideweg stand, wie die Unruhe innerhalb der ­Arbeiterschaft und der großen Städte signalisierte.32 Entweder musste es der zurückgestauten sozioökonomischen Dynamik von Hunderttausen­ den kleinkapitalistischer Produzenten freie Bahn geben und so die Ver­ sorgungskrise lösen. Oder es musste jetzt oder nie das Ruder abrupt ­herumlegen, wie die Stalin’sche Führung es in einer Folge sich überstür­ zender, immer radikalerer Maßnahmen und vermessenerer Zielvorgaben schließlich tat. Dabei hätte sich die Situation der Sowjetunion Ende der 1920 er Jahre, etwa unter der Ägide eines Nikolai Bucharin und begleitet von dem noch vorhandenen Korps glänzender Wirtschaftstheoretiker, Planer und Sta­ tistiker, vielleicht ähnlich produktiv auflösen lassen, wie das Jahrzehnte später unter der Ägide Deng Xiaopings in China möglich war. Ob die herrschende Partei der eben erst konstituierten Sowjetunion in ähnlich unangefochtener Weise ihr Machtmonopol hätte behaupten können, wie die KP Chinas das nach 1989 konnte und bis heute kann, ist aller­ dings fraglich. Tatsächlich war leicht auszurechnen, dass bei einer Fortdauer der NEP sich der Entfaltungsdrang der privaten wie staatlichen Produzenten mit den Konsolidierungs- und Konsumbedürfnissen beträchtlicher Teile des wildwuchernden Staats- und Parteiapparats verbinden würde. Noch plausibler war diese Einschätzung für die gerade erst pazifizierten Repu­

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bliken und Autonomen Gebiete der nichtrussischen Peripherie, in denen die «Einwurzelung» von Parteigliederungen und Sowjetinstitutionen mit Konzessionen an die jeweiligen Kulturen und Religionen der Mehrheiten oder Minderheiten erkauft war, aus denen die «nationalen Kader» einen Gutteil ihrer Legitimität oder sogar Popularität bezogen. Kurzum, die Stalin’sche Führung sah sich in einer Situation, in der das «besiegte Volk» des hundert Nationen umfassenden, großen Russland auf dem besten Wege war, den bolschewistischen Siegern «seine Kultur aufzuzwingen» statt umgekehrt – genau so, wie Lenin es befürchtet hatte. In dieser Hinsicht glich die als «Großer Umschwung» deklarierte Kol­ lektivierungs- und Industrialisierungsrevolution von 1929/30 mitsamt dem bereits eröffneten «Kulturfeldzug» zur Ausrottung von religiösen und sonstigen «reaktionären» Kultformen, Sitten und Bräuchen einer abermaligen politisch-militärischen Reconquista, einer zweiten Erobe­ rung und Durchdringung des eigenen Landes, in dem es oft auf Dutzen­ den Dörfern und hunderte Kilometer kaum eine Parteizelle gab. Anders betrachtet, trug diese Politik Züge einer erneuten Flucht nach vorn, aus einer selbstgeschaffenen Zwangslage und Kalamität in die nächste, dies­ mal von irreversibler Tragweite und Dramatik, von der aus es nun kein Zurück mehr gab. Das gehörte womöglich mit zum Zweck dieses Unter­ nehmens, das für die Geschichte des Kommunismus im 20. Jahrhundert ebenso entscheidend wurde wie die bolschewistische Machteroberung selbst. Die gewaltigen mentalen und materiellen Sprünge, in denen die indus­ trielle und militärische Aufrüstung der Sowjetunion in den beiden ersten Planjahrfünften sich vollzog, haben  – vor dem Hintergrund der Welt­ wirtschaftskrise – den Blick vieler Beobachter geblendet. Dass die So­ wjetunion sich in den 1930 er Jahren und noch einmal in den ersten Nach­ kriegsjahrzehnten in kürzester Frist aus einem rückständigen Agrarland in einen Industriestaat verwandelt hat, ist unbestreitbar. Aber das be­ schreibt zugleich auch schon ein zentrales Problem ihrer Existenz: das einer permanenten Überakkumulation, das heißt Überindustrialisierung, Überrüstung und Überzen­tralisation. Deshalb stellt sich die Frage, ob es sich bei der stalinistischen Zwangs­ kollektivierung und Blitzindustrialisierung tatsächlich um eine reale, nachhaltige gesellschaftliche Modernisierung gehandelt hat, oder ob sie nicht zugleich auch einen weithin ungeplanten und wildwüchsigen Pro­ zess mit Zügen einer großen sozialhistorischen Regression in Gang ge­

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setzt haben. Skepsis ist gegenüber allen Erklärungsmodellen angebracht, die den sowjetischen Weg als den einer mehr oder weniger erfolgreichen «nachholenden» Industrialisierung respektive Modernisierung beschrei­ ben oder auch als den Prozess einer gewalttätigen und letztlich geschei­ terten «anderen Moderne».33 Was entstand, war eine Sozialformation ganz eigener Art, die die Keime ihrer Auflösung von Beginn an in sich trug. Die Skepsis wächst, wirft man einige Schlaglichter auf die politische Ökonomie des realen Sozialismus, deren Grundzug sich in der stalinistischen «zweiten Revo­ lution» ausgebildet, über Jahrzehnte erhalten und für spätere kommunis­ tische Staatsgründungen, selbst des maoistischen China oder des Kam­ bodscha der Roten Khmer, als primäre Vorlage gedient hat. Die Kollektivierung der sowjetischen Landwirtschaft war nach allen Maßstäben, die man anlegen kann, eine Katastrophe von langer Wir­ kung. Das betrifft nicht nur die ohnehin mit nichts verrechenbaren «menschlichen Kosten», die Millionen der Ermordeten, Verhungerten ­ odes Gestorbenen sowie die unerhörte und sonst eines unnatürlichen T Zahl aus der Bahn geworfener menschlicher Existenzen. Es betrifft auch nicht nur die anfänglichen Verluste an lebendem und totem Inventar der Bauernwirtschaften, die noch ein Jahrzehnt später kaum wettgemacht waren. Es geht vielmehr um die Tatsache, dass die sowjetische Land­ wirtschaft trotz gewaltiger Investi­tionen bestenfalls stagnierte. Statt, wie Stalin in seinem «Prawda»-Leitartikel vom 7. November 1929 verspro­ chen hatte, «in, sagen wir, drei Jahren … zum getreidereichsten Lande der Welt (zu) werden»,34 mündete die Kollektivierung exakt zu diesem Zeitpunkt in die größte Hunger­katastrophe der Geschichte Russlands. Aber auch später konnte der größte Flächenstaat der Erde seine Menschen nur mangelhaft ernähren und entwickelte sich von einem Agrar­exportland (vor 1914) schließlich in den 1970 er Jahren zu einem Nettoimporteur von Getreide – von anspruchsvolleren Produkten wie Obst oder Südfrüchten, Fleisch und Milch ganz abgesehen. Die Verwüs­ tungen durch den großindustriellen Betrieb der Landwirtschaft haben darüber hinaus zu einer gesellschaftlichen, landschaftlichen und ökolo­ gischen Verödung geführt, indem sie mit der Vernichtung der «Kulaken als Klasse» den Kern des Bauerntums selbst und damit das landwirt­ schaftliche Wissen und Können der Familien auslöschten. An diesem Verlust laboriert noch das heutige, sich entvölkernde Russland. Zur grimmigen Ironie dieser Geschichte gehört es, dass von einer so­ zialistischen Landwirtschaft dennoch kaum die Rede sein konnte. Nach

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der Hungersnot von 1933 und den anhaltenden Versorgungsschwierig­ keiten im ganzen Land musste die Sowjetregierung faktisch den Rück­ zug antreten und sich damit begnügen, eine stabile Aufkaufmenge an billigem Getreide den Kolchosen abzunehmen. Das war letztlich der ganze Erfolg des in jeder Hinsicht kostspieligen Unternehmens der Kol­ lektivierung. 1936 produzierte die sowjetische Landwirtschaft mit einem riesigen Kapitaleinsatz kaum mehr Getreide und Kartoffeln als 1928 – oder als 1913.35 Durch das Kolchosstatut von 1935 wurden den Bauern (vor allem den Frauen) Flecken von Hofland zur Eigenbewirtschaftung überlassen, deren Überschüsse sie zu Markte tragen konnten. Von die­ sen (relativ teuren) Privatverkäufen und Kolchosmärkten hat die Masse der städtischen Bevölkerung der Sowjetunion sich über Jahrzehnte hin­ weg wesentlich ernährt, zuzüglich der eigenen Datschen-Gärten. Sozial­ historisch könnte die Kolchoswirtschaft als eine modifizierte Form der überkommenen Leibeigenschaft, der Halbpacht oder des share-cropping betrachtet werden, worin der sozialistische Staat als der universelle Grundherr firmierte, dem die halbe Jahresarbeit gehörte.36 Das Resultat war eine selbstgenügsame, dorfgemeinschaftliche und helotische Lebensweise, die auf die sowjetische Gesellschaft im Ganzen abgefärbt hat. So trugen auch die sowjetischen Betriebe als offizielle und inoffizielle Tauschbörsen und Versorgungsstationen in vieler Hinsicht das Gepräge von «Industriekolchosen». Nicht viel anders sah es in den staatlichen Behörden aus, in denen Leistungen und Zuteilungen für Ge­ genleistungen jeder Art getauscht oder umverteilt wurden (noch vor aller Korruption). Diese permanente Diffusion von Arbeits- und Lebenswel­ ten war zugleich eine der vielen paradoxen Wirkungen der staatlichen Monopolisierung von Handel, Zirkulation und Dienstleistungen, die ebenfalls zu den Konstanten einer politischen Ökonomie des Sozialis­ mus gehörte. Der Grund, warum die stalinistischen, maoistischen oder auch castristischen Machtorgane jegliche, selbst die bescheidensten For­ men eines regulären städtischen Kleinhandels oder Dienstleistungsgewer­ bes zu unterdrücken suchten, dürfte (wieder jenseits aller Ideologie) vor allem in deren Unkontrollierbarkeit gelegen haben, die ein latent erwei­ terbares Feld sozialer Autonomie schuf, das korrosiv wirken musste. Das waren nur einige der Faktoren, die dazu beitrugen, dass den so­ wjetischen Städten in ihrer Mischung aus Herrschaftsarchitektur, seriel­ ler Monotonie und einem auf den Plätzen und Hinterhöfen sich entfal­ tenden, bukolischen Dorfleben die eigentlichen Attribute des Urbanen fehlten. Während die alten Reichsstädte Russlands mit ihren einst hun­

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dert Glockentürmen oder ihren prachtvollen Jugendstilbauten den Pro­ zessen sozialer Versteppung ausgesetzt waren – eine gewisse Ausnahme waren Moskau und Leningrad –, konnten die etwa 460 über das Terri­ torium der UdSSR verteilten industriellen «Monostädte» (monogoroda), bis heute ein Haupt­erbe der stalinistischen Industrialisierung, als sozia­ listische Nachfahren der mit ihrer ländlichen Umgebung verbundenen halbfeudalen «Fabrikgüter» der Jahrhundertwende gelten. Aber auch die staatlich-volkstümliche Kultur, der Habitus der einfa­ chen Funktionäre, der Stil der offiziellen wie der privaten Festlichkeiten trugen, mindestens bis zum Einsickern westlicher Lebensstile in den 1960 er und 1970 er Jahren, einen eher bäuerlichen Charakter, durchbro­ chen nur von einigen höfisch-aristokratischen, berufsständischen oder der alten russischen Intelligenzija-Kultur entstammenden Einsprengseln (vom Bolschoi bis zur Akademie), die diesem «Sowjetleben» insgesamt seinen eigentümlich stationären Charakter oder auch Reiz verliehen. In paradoxem Gegensatz zu diesen Phänomenen der Entschleunigung stehen scheinbar die phänomenalen Wachstumsraten, die die sowjetische Industrie in den 1930 er Jahren und dann noch einmal in der Rekon­ struktionsphase der 1950 er Jahre erzielte. Der für diese forcierte Aus­ dehnung des industriellen Apparats genutzte primäre Akkumulations­ fonds finanzierte sich aus den Naturalsteuern der Kolchosen (vor allem Getreide) sowie den Konsum- und den Alkoholsteuern (die bis zur rui­ nösen Antialkoholkampagne Gorbatschows 1987 eine der zentralen Einnahmequellen des sowjetischen wie früher des zaristischen Staates waren37), aus den drastisch unterbezahlten Leistungen der industriellen Arbeiter selbst (deren Reallöhne in den 1930 er Jahren und frühen 1950 er Jahren zeitweise auf weniger als die Hälfte des Standes von 1928 bzw. 1913 gedrückt wurden38) sowie aus den mit Millionen von Zwangs­ arbeitern und Deportierten erschlossenen und exploitierten Rohstoff­ quellen des Landes. Das war ein Wirtschaften aus der humanen wie der natürlichen Substanz, eben aus jener «inneren Kolonie», die in den Wirtschafts­debatten der 1920 er Jahre noch unbefangen als die gegebene Basis der «ursprünglichen sozialistischen Akkumulation» bezeichnet wor­ den war. Die mit dem GULag (dem System der Zwangs- und Strafarbeitslager) assoziierte Sphäre formeller Staatssklaverei war zunächst ein Instrument «außerökonomischer» Gewalt, von Strafe und Einschüchterung, aber entwickelte sich von früh an zu einem regulären, keineswegs exterrito­ rialen Sektor der Gesamtökonomie. GPU/NKWD/MWD, die mehrfach

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umbenannte und reorganisierte Geheimpolizei, schuf sich ein eigenes, auf Zwangsarbeit gegründetes Wirtschaftsimperium. Bis zu einem Zehn­ tel des gesamten sowjetischen Arbeitskörpers befand sich zeitweise unter ihrer Aufsicht in abgestuften Verhältnissen unfreier Arbeit, als Häftlinge in Straflagern, als «Sondersiedler» (Deportierte), als adminis­trativ Ver­ bannte oder als «Chemiker» (an Betriebe und Orte gebundene Exhäft­ linge).39 Riesige Zwangsarbeiterbrigaden waren mitten in den großen Städten und Seite an Seite mit regulären Arbeitern eingesetzt (so beim U-Bahn-Bau in Moskau), sodass die Grenzen zeitweise verschwammen – zumal angesichts der generellen Rechtlosigkeit auch der «Freien» und des 1940 noch einmal drakonisch verschärften Fabrikregimes für die regu­ lären Arbeiter. Aber sogar in Schlüsselbereichen der militärischen Hoch­ technologie arbeiteten und forschten Flugzeugkonstrukteure, Atomwissen­ schaftler oder andere Spezialisten als Häftlinge in eigenen Sonderlagern (scharaschkas). Fast unnötig zu sagen, dass alle diese Formen stalinis­ tischer Zwangs- und Sklavenarbeit die sowjetische Arbeitsgesellschaft insgesamt tief geprägt haben müssen. Entsprechendes lässt sich in abge­ stufter Form wohl über alle kommunistischen Gesellschaften des 20. Jahr­ hunderts sagen.

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Die Mysterien des Terrors

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ie Bilder des Großen Terrors haben sich durch die Dokumente, die in den 1990 er Jahren aus den sowjetischen Archiven aufgetaucht sind, noch einmal sehr verändert. In Nikita Chruschtschows Geheim­ rede am Ende des XX. Parteitags 1956, in der er den «Personenkult» Sta­ lins und die gegenüber den eigenen Genossen begangenen Verbrechen brandmarkte, firmierte die KPdSU selbst und gerade ihr stalinistischer Kern, dem sie alle entstammten, als das erste und eigentliche Opfer des Terrors.1 Dieser Versuch einer Relegitimierung der Partei nach den «Exzessen», die nun allein Stalin und seinen NKWD-Chefs wie Jeshow und Berija zu­ geschoben wurden, war natürlich mehr als zweifelhaft. Von niemandem ist er mit solcher Schärfe zurückgewiesen worden wie von dem Ex-Kom­ munisten und Ex-Häftling Alexander Solschenizyn in seinen frühen Er­ zählungen und dem monumentalen «Archipel GULAG». Mit einem am kommunistischen Pathos geschulten Blick rückte er das einfache «Volk» in der Gestalt des «Sek», des namenlosen Lagerhäftlings, als dem wah­ ren Opfer des stalinistischen Terrors ins Zentrum. Was der zum ortho­ doxen Christen gewordene Autor mit sicherem Gespür erkannte, und was wir durch die heute zugänglichen Dokumente über die Vorbereitung der Geheimrede Chruschtschows wissen, ist das Ausmaß, in dem die ­politischen Erben Stalins durch die Millionen Toten, auf die ihre Herr­ schaft sich gründete, durch das Gespenst Hunderttausender Rückkehrer aus den Lagern und die Forderungen der Angehörigen der Ermordeten nach Informationen, Rehabilitierung und Entschädigungen beunruhigt und geängstigt wurden2  – so wie unter den Augen von Shakespeares Macbeth und seinen Getreuen «Birnams Wald zum Dunsinan empor­ steigt».3 Niemals haben diese Toten aufgehört, die Kommunistischen Parteien an der Macht wie ihre westlichen Parteigänger moralisch zu zermürben und zu verfolgen. Sie mussten deshalb mit einem Mantel des Schweigens bedeckt werden, weil die Massaker und Menschenopfer sich jeder mora­

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lischen Legitimation und sachlichen Begründung verweigern. Dafür hat sich durch die archivalischen Rekonstruktionen der letzten beiden Jahr­ zehnte das soziologische und ethnographische Profil der Opfer des stali­ nistischen Terrors geklärt. Zugleich tritt die innere Mechanik oder auch die intuitive «Folgerichtigkeit» dieses Prozesses deutlicher hervor. Den Ausgangspunkt bildete die bürgerkriegsartige Kollektivierungs­ kampagne von 1930/31, in deren Verlauf etwa 20 000 bis 30 000 Men­ schen wegen Widerstands an Ort und Stelle einzeln erschossen oder in gezielten Militäroperationen als Gruppen vernichtet wurden. Rund zwei Millionen Menschen, ganze Familien, wurden als «Kulaken», «Subkula­ ken», «Kulakenknechte» oder sonstwie «sozial Fremde» aus den Dör­ fern getrieben, in Zwangsarbeitslager verschickt oder in langen Depor­ tationszügen in entlegene Landesteile verschleppt. Ungefähr 300 000 von ihnen, vor allem Alte, Frauen oder Kinder, sind auf solchen Trans­ porten oder bald nach der Ankunft erfroren, verdurstet, verhungert. Zehntausende fanden als Zwangsarbeiter auf den ersten Großbaustellen des Sozialismus den Tod. Wenigstens fünf Millionen Menschen starben in der (mit der gnadenlosen Eintreibung der Getreideablieferungen zu­ mindest in Kauf genommenen) Hungerkatastrophe von 1932/33, die meisten davon in der Ukraine und in Kasachstan.4 Millionen Erwach­ sene und Waisenkinder wurden, wie im Bürgerkrieg, abermals zu Vagan­ ten im eigenen Land. Das war die erste Phase. Mit der Einführung der «Inlandspässe» 1933/34 wurde die vorwie­ gend städtische «legale Sowjetbevölkerung» administrativ erfasst (27 von insgesamt 160 Millionen), während die Masse der Kolchosbauern durch die Verweigerung von Pässen an Boden und Dorf gefesselt wurde. Im selben Prozess einer polizeilich-bürokratischen Filtration wurden in den Städten 1934/35 Hunderttausende «Illegaler» in mehreren Schüben zusammengetrieben und deportiert. Auch dabei sind Zehntausende qualvoll umgekommen, nicht wenige, indem sie einfach ohne alle Hilfsund Lebensmittel ausgesetzt wurden.5 Auf dieser Linie einer nochmaligen, letzten «sozialen Säuberung» lagen schließlich, gruppiert um den Befehl 00447 vom Juli 1937, die in mehre­ ren Wellen ausgeführten Massenoperationen zur Liquidierung aller noch vorhandenen «antisowjetischen Elemente». Das konnten aus ihren Ver­ bannungsorten entlassene oder entlaufene Kulaken sein, «Ehemalige» jeglicher Kategorie (ehemalige Beamte, Offiziere, Priester, Zionisten, So­ zialrevolutionäre, Menschewiki, NEP-Leute usw.) und schließlich ein­ fache Kriminelle oder Bettler, auch Kinder. Bis zu einer halben Million

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Menschen sind im Zuge dieser Operationen nach vorgegebenen Quoten, die von den Lokalbehörden überboten werden konnten, verhaftet oder deportiert, rund 200 000 von ihnen sind erschossen worden. Eine zweite Linie des Großen Terrors waren die ethnischen Säuberun­ gen, «nationale Operationen» genannt. Rund 350 000  Menschen sind unter der neuen Kategorie «konterrevolutionäre nationale Kontingente» (so der Ausdruck im NKWD-Dokument vom Januar 1938) verhaftet oder familienweise deportiert worden. Die Todesraten lagen hier sogar noch höher als in den «sozialen Säuberungen»; es können 250 000 Er­ schossene gewesen sein, das wären siebzig Prozent der unter dieser Kate­ gorie Verhafteten. Darin kulminierten lang andauernde Prozesse einer gewaltsamen Homogenisierung des Vielvölkerimperiums, angefangen mit der gewaltsamen Eingliederung und Pazifizierung der nichtrussischen Republiken am Ende des Bürgerkriegs über die fortdauernden antireli­ giösen Kampagnen und die «Kulturrevolution» von 1928/29 bis zur Kollektivierungskampagne in den Jahren darauf. In deren Verlauf waren bereits ganze Populationen und Nationalitäten (kaukasische Bergvölker, kasachische Nomaden, turkmenische Bauern) zu «Banditen» oder zu «Weißgardisten» umdefiniert und verfolgt worden.6 Als potentielle fünfte Kolonne eines der durchweg als feindlich mar­ kierten Nachbarstaaten der UdSSR galten in den Jahren des Großen Ter­ rors etwa Finnen, Letten, Esten, Polen, Deutsche, Griechen (auf der Krim), Türken, Iraner, Armenier (außerhalb Armeniens), Kurden, Koreaner, Chinesen usw. Nimmt man die Deportationen ganzer Bevölkerungen wie der Wolga-Deutschen, Krim-Tataren, Tschetschenen oder Litauer wäh­ rend und nach dem Weltkrieg mit in den Blick, dann sind in der stalinis­ tischen Sowjetunion 3,0 bis 3,5  Millionen Menschen aus 58  Nationa­ litäten Opfer von Repressionen geworden, von der Erschießung über die Lagerhaft bis zur kollektiven Verbannung.7 Man ermisst, in welchem Zustand einer permanenten, beinahe allseitigen xenophoben Abwehr nach innen wie nach außen die sowjetische Führung sich in der gesamten Stalin-Ära befunden hat. Erst recht verdächtig waren «feindliche Ausländer», wozu jetzt auch ein großer Teil der politischen Emigranten sowie des Kaderbestandes der Kommunistischen Internationale gerechnet wurde. Am härtesten ver­ folgt wurden Politemigranten polnischer, jugoslawischer, ungarischer und deutscher Herkunft, einschließlich der in Moskau residierenden Führungskader der Parteien dieser Länder; mehr als zwei Drittel ihrer Mitglieder wurden verhaftet und zu Lagerhaft oder zur Erschießung ver­

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urteilt  – und das in einer Periode, in der die Internationale seit ihrem VII. Kongress 1935 unter den Losungen einer «Volksfront» und «kollek­ tiven Sicherheit» angeblich zu einer Politik der breiten Bündnisse mit ­Sozialdemokraten wie bürgerlichen Kräften gegen die faschistische Welt­ gefahr übergegangen war. Inwieweit die fast vollständige Vernichtung und sogar formelle Auflösung der Kommunistischen Partei Polens (KPP) schon der Vernichtung Polens im Zuge des Hitler-Stalin-Pakts vorgriff, bleibt offen. Relativ geschont wurden lediglich Vertreter der westlichen Parteien – nicht allerdings die Überlebenden des spanischen Bürgerkriegs, die generell verdächtig waren, «trotzkistische» oder «faschistische Agen­ ten» zu sein, so wie alle Flüchtlinge aus NS-Deutschland auch.8 Noch mysteriöser wird das Gesamtphänomen des Großen Terrors, wenn man seine dritte Seite betrachtet: die politische «Säuberung» der herrschenden Partei und des sowjetischen Machtapparats selbst von allen tatsächlichen oder angeblichen Oppositionellen und Saboteuren. Die drei spektakulären Schauprozesse gegen die Garde der alten Gefährten Lenins und insoweit auch Stalins wie Sinowjew, Kamenew, Radek, ­Rykow oder Bucharin bildeten nur die Vorderbühne eines beispiellosen Blutbads  – das im selben Moment übertüncht und überdröhnt wurde von den Fanfaren eines neuen augusteischen Zeitalters im Zeichen der «freiesten Verfassung der Welt», der «Stalin-Verfassung» von 1936. Die sozialpsychologische Macht der «Geständnisse» der Hauptangeklagten in diesen vom obersten Ankläger Wyschinski nach den Formalien regu­ lärer Prozessführung gelenkten Inszenierungen ist kaum zu überschät­ zen – einschließlich der Tatsache, dass keiner der Angeklagten der drei großen Moskauer Schauprozesse die Anwesenheit westlicher Beobach­ ter nutzte, um die Farce zu durchbrechen. Mit den Massenverhaftungen und Ausrottungsaktionen zur Zerschla­ gung angeblich überall eingenisteter trotzkistischer, sinowjewistischer oder bucharinistischer Verschwörungen tritt man in den Arkanbereich des Terrors ein. Denn sowohl der soziale wie der ethnische Massenterror waren nur letzte Steigerungen einer bereits während der Revolution und des Bürgerkriegs verfolgten Politik der «Säuberung der russischen Erde», mit der alle nicht assimilierbaren oder nicht kontrollierbaren Residuen sozialer, nationaler, kultureller oder religiöser Herkunft aus der vielfar­ bigen Reichsgesellschaft Russlands und seiner Peripherie herausgewa­ schen werden sollten. Die Art und Weise dagegen, in der die herrschende Partei sich selbst einem monströsen «Blutaustausch» unterzog, bedeu­ tete eine nochmalige Überschreitung bisher gewahrter Schranken.

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Die Zahlen sind frappant: 5 von 16 Mitgliedern und Kandidaten des Politbüros, 98 von 139 Mitgliedern des Zentralkomitees, 319 von 385 regionalen Parteisekretären, 2210 von 2750  Distriktsekretären, 1108 von 1966 Delegierten des «Parteitags der Sieger» (der Helden der Kol­ lektivierung und des ersten Fünfjahrplans) von 1934 wurden verhaftet, gefoltert und wanderten in die Erschießungskeller oder Lager. In der Uk­ raine haben nur 3 von 200 Mitgliedern des ZK überlebt, ähnlich verhält es sich auf den regionalen und lokalen Ebenen. Nicht viel anders sah es in den übrigen Republiken und autonomen Gebieten der UdSSR aus. Instruktiv ist auch der Blick auf die Entwicklung der Partei im Gan­ zen. Schon 1927 hatte es unter den rund 1,2 Millionen Mitgliedern nur noch knapp 10 000 gegeben (meist in höheren Funktionen), die bereits der vorrevolutionären Sozialdemokratie angehört hatten; von den eigent­ lichen Oktoberrevolutionären des Jahres 1917 waren noch ganze 27 000 übrig; zusammen bildeten diese Parteiveteranen etwa 3 % der Gesamt­ mitgliedschaft. Somit waren nach zehn Jahren an der Macht nur noch ein Siebtel jener 240 000 Bolschewiken übrig, von denen Lenin im Okto­ ber 1917 gesagt hatte, dass sie Russland ebenso gut wie 130 000 Guts­ besitzer regieren könnten.9 Fast drei Viertel der Parteimitglieder von 1927 waren erst seit 1924 eingetreten. Die Partei erreichte im Jahr 1933 mit 3,55 Millionen Mitgliedern und Kandidaten durch den Massenzufluss vor allem junger Aufsteiger ihren vorerst höchsten Bestand. Nach einer noch unblutigen Säuberung waren 1935 davon 2,3 Millionen übrig. Zu dieser Zeit rechnete das ZK-Sekre­ tariat alarmiert aus, dass es mittlerweile im Land weitaus mehr Ex- als Noch-Mitglieder gab – von denen man annehmen musste, dass sie feind­ lich gesinnt seien. Im Zuge der Großen Säuberung 1937/38 sank die Zahl der Parteimitglieder trotz zahlreicher Neuzugänge auf 1,92 Millio­ nen, um bis 1939 wieder auf 2,3  Millionen zu steigen. Da seit 1934 1,2 Millionen neu beigetreten waren, bedeuteten diese Zahlen, dass bin­ nen fünf Jahren zwei bis drei Millionen Mitglieder und Kandidaten «hi­ nausgesäubert» worden waren, jetzt vielfach auch physisch; wobei auch für die, an denen der Kelch von Verhaftung und Tod vorbeiging, der Ver­ lust der Mitgliedschaft ein Leben als Paria bedeutete. Dass gerade die noch vorhandenen «Altbolschewiken» (die keineswegs alt sein mussten) mit ihren dicken Kaderakten in besonderem Maße der Abweichung und Illo­yalität verdächtig waren, war eben durch die Schauprozesse demons­ triert worden. In Stalins jugendlichen Parteikadern des Jahres 1939 waren allenfalls noch Spurenelemente von Lenins ebenfalls ziemlich jungen Re­

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volutionskadern von 1917 zu finden, ein paar hundert höhere Funktions­ träger vermutlich. Ansonsten handelte es sich um eine vollkommen neue, ausgetauschte Partei.10 Da Partei und Staat seit dem Beginn der 1930 er Jahre unmittelbar ver­ schmolzen waren, bedeutete die terroristische Säuberung der Partei auch die des Staatsapparats. In der Moskauer Zentralregierung traf es «nur» ein Drittel der amtierenden Volkskommissare, dafür aber große Teile, manchmal das vollständige Korps der leitenden Ministerialbeamten. Von dort ging es hinunter auf die Ebene der großen Behörden, der Kombi­ nate und Industriekomplexe. Wer stürzte, riss oft eine ganze Befehlskette mit ins Verderben. Der neue Industriekommissar Kaganowitsch  – er hatte dieses Schlüsselressort übernommen, nachdem dessen langjähriger Inhaber, der älteste Gefährte Stalins, Sergo Ordshonikidse, sich im Fe­ bruar 1937 in einem Akt stummer Verzweiflung selbst erschossen hatte – verkündete auf dem Parteitag 1939 als Erfolgsmeldung, dass «das lei­ tende Personal der Schwerindustrie vollständig erneuert worden» sei.11 Mit anderen Worten: Das personelle und fachliche Zentrum aller In­ dustrialisierungs- und Modernisierungsbemühungen war fast komplett liquidiert und ausgetauscht worden, einschließlich der leitenden Kader der mehrfach «gesäuberten» Obersten Planbehörde, der Staatsbank, des Statistischen Zentralamtes. Dasselbe galt für die Leiter der Planungs­ stäbe für Städtebau oder für Infrastrukturen, der Eisenbahnen oder Schifffahrtsbetriebe; und in großem Maße auch für die Landwirtschaft. Dezimiert oder fast ausgerottet wurden auch ganze Abteilungen des Außenministeriums und des diplomatischen Korps  – eine Säuberungs­ aktion, die sich mit der des Komintern-Kaders eng verschlang. Der neue Komintern-Chef Dimitroff selbst musste die ihm vorgelegten Verhaftungs­ listen seiner Mitarbeiter abzeichnen, die «Untersuchungen» gegen sie unterstützen (etwa gegen Stassowa, Lenins Mitarbeiterin der ersten Stunde, oder gegen Moskwin, seine rechte Hand) und daran mitwirken, verdächtige Mitarbeiter aus dem Ausland nach Moskau zu locken, um sie zu verhaften.12 Scharf gesäubert wurden auch die Akademien der Wissenschaften ebenso wie die Lehrkörper der Universitäten, der Gymnasien und der Schulen. Danach kam die Reihe an prominente und weniger prominente Schriftsteller, Theater- und Filmregisseure, Komponisten, bildende Künst­ ler oder Architekten. Unter denen, die in die Folter- und Erschießungs­ keller des NKWD wanderten, waren 1938/39, am Ende der großen

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Terror­kampagne, auch noch einmal einige der größten Künstler der Sow­jetzeit, wie der weltberühmte Schauspieler und Regisseur Wsewolod Meyerhold; der in der ganzen Sphäre der linken antifaschistischen Kul­ tur im Westen bekannte Feuilletonist und Reporter Michail Kolzow; oder eben Isaak Babel, der Autor der «Reiterarmee», der (wie es hieß) an einem «Tscheka-Roman» schrieb. Alle drei wurden sie im Februar 1940 in einer einzigen Nacht abgeurteilt, erschossen und im Krematorium des Donskoi-Klosters mitten in Moskau eingeäschert; in einer Grube im Klostergarten mischte ihre Asche sich mit der des schrecklichen Gnoms und vormaligen Leiters des NKWD, Nikolai Jeshow.13 Schon im Mai 1937 begann auf Stalins persönliche, sorgfältig vor­ bereitete Initiative die Verhaftung und Liquidierung eines Großteils der Führung der Roten Armee, insgesamt 980 hohe Offiziere, angefangen mit dem Generalstabschef Michail Tuchatschewski und von dort ab­ wärts, bis zu einer Gesamtzahl von 35 000 verhafteten Offizieren, von denen ungefähr 11 000, die noch am Leben waren, nach Ausbruch des Weltkriegs in ihre Positionen zurückkehrten, ohne auch nur andeuten zu dürfen, was ihnen widerfahren war.14 Mit der Armee fiel die letzte Insti­ tution, die mit einem gewissen Maß an Autonomie und Korpsgeist aus­ gestattet war. Umso bestürzender ist die hilflose Lähmung, mit der dieses zum Teil kampferprobte Offizierskorps sich in sein Schicksal ergab, ein Beispiel für jenen totalitären Zustand, der uns hier beschäftigt. Fast noch unwahrscheinlicher und doch gleichsam der logische Schlusspunkt war die Kaninchenstarre, mit der die erprobten Verhörer, Folterer und Exekutoren, die alten Tschekisten, nun selbst auf die Stie­ felschritte in den Gängen lauschten und der Reihe nach aus ihren Ver­ schlägen in der Lubjanka abgeholt und nach den Prozeduren, die sie selbst nur zu genau kannten, zu menschlichen Wracks zerschlagen und nach Ablegung von Geständnissen (oder auch ohne) dem obersten Hen­ ker des Kreml, Wassili Blochin, dem «Mann mit der Lederschürze», und seinem kleinen, professionellen Stab von Exekutoren überliefert wur­ den.15 Zwischen 1936 und 1939 verschwanden Tausende Mitarbeiter des NKWD, darunter Hunderte aus den oberen Rängen, ebenso im ­Orkus wie zur selben Zeit die Hälfte aller sowjetischen Richter und Staats­anwälte, kurzum: die Träger des Massenterrors selbst.16 Mit der Ersetzung, Verhaftung und Erschießung zuerst des korrupten und dekadenten, noch aus der alten Dzierzynski-Garde stammenden Genrich Jagoda, dann der Ablösung seines moralisch, physisch und psy­ chisch vollkommen dekompensierten, mit Drogen über Wasser gehalte­

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nen Nachfolgers Nikolai Jeshow durch den kalten Sadisten und fähigen Organisator Lawrenti Berija endete der Große Terror als Kampagne ­Anfang 1939 wie auf Kommando – allerdings nur, um in stillere, «regu­ lärere» und (was Zwangsarbeit und Polizeiarbeit betrifft) effektivere Formen überführt zu werden. Der Große Terror hat in der Gesamtbilanz allein in den beiden Schre­ ckensjahren 1937/38 wenigstens eine Million Menschen gewaltsam zu Tode gebracht, davon etwa 700 000 durch Erschießung. Er stand im Zeichen einer «endgültigen» Säuberung von Partei, Staat und Gesell­ schaft, einer Art politisch-sozialer Endlösung, wenn man das so sagen dürfte, wie sie Stalin in seinem Toast am 7. November 1937 verkündet hatte: «Wir haben diesen Staat als Erbe erhalten  … Und wir werden ­jeden seiner Feinde vernichten, … wir werden seine Sippe, seine Familie komplett vernichten.»17 Wann jemals hat es ein solch konzentriertes, von höchster Stelle betriebenes und mehr oder weniger organisiertes Massaker binnen zwei Jahren und noch immer in Friedenszeiten gege­ ben? Die Zahl der Gefängnis- und Lagerinsassen schwoll in dieser Zeit auf etwa drei bis vier Millionen Menschen an, von denen in diesen bei­ den Jahren allein nach den offiziellen Unterlagen 120 000 starben. Gleichzeitig lebten jenseits der Lagerzäune mindestens noch einmal so viele oder eher mehr Deportierte, Verbannte oder bedingt Entlassene, alle unter Aufsicht der «Organe».18 Nimmt man die Millionen Toten der Kollektivierungs- und Industria­ lisierungskampagnen der frühen 1930 er Jahre dazu, sowie alle, die zwi­ schen 1926 und 1936 in den Gefängnissen und Lagern bereits umgekom­ men waren, dann ist klar, dass die Bevölkerungsverluste dieser ersten Stalin-Periode, nach denen des Bürgerkriegs und der ersten Hungerkata­ strophe von 1921/22, eine abermalige demographische Katastrophe be­ deuteten, für die es zumindest begründete Schätzungen gibt. Bei Durch­ sicht verschiedener Berechnungen und Statistiken für die Zeit zwischen 1926 und 1939, den beiden Jahren, für die halbwegs glaubwürdige Zensus-Ziffern vorliegen, ist ein absoluter Bevölkerungsrückgang von 9 bis 11 Millionen Menschen ermittelt worden, was unter Einschluss der ungeboren gebliebenen Kinder eine Bevölkerungslücke von 13 bis 15 Mil­ lionen Menschen ergibt.19 Eine bezeichnende Episode verrät die eklatante Ahnungslosigkeit der sowjetischen Führung über ihr eigenes Land; allerdings auch die Unzu­ verlässigkeit aller verfügbaren Daten. So gab Stalin auf dem Parteitag 1934 die Zahl der sowjetischen Bevölkerung mit 168 Millionen an. In

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Wirklichkeit besagten die internen Schätzungen der Statistiker, die aus Angst bereits eine doppelte Buchführung betrieben, dass es nur noch 160,5 Millionen Menschen gab. Aber auch diese Zahl war noch zu hoch gegriffen. Ausgerechnet zu Beginn des Jahres 1937, als der Große Terror einsetzte, wurde ein neuer Zensus veranstaltet, der nur 162  Millionen Menschen ermitteln konnte, was für 1934 zurückgerechnet eine Zahl von circa 158 Millionen ergab. Das bedeutete, dass Stalin 1934 auf dem Parteitag eine um 10 Millionen zu hoch gegriffene Zahl angegeben hatte. Zur Strafe wurde der gesamte Zensus-Stab erschossen; die Zahlen wur­ den unter Verschluss genommen.20 Wie schon zwischen 1914 bis 1923, ist demnach in der Zeit von 1926 bis 1939/40 abermals ein Zehntel der sowjetischen Bevölkerung umge­ kommen. Wenn die offizielle Statistik für das Jahr 1950 eine Zahl von 178,5 Millionen Bewohnern der UdSSR angab, dann waren das – unter Einschluss der 1940 hinzuannektierten Gebiete  – statistisch abermals über 15 Millionen Menschen weniger als 1939/40. Nimmt man die Zah­ len der Neugeborenen in dieser Periode hinzu, dann kommt man eben auf jene immensen Verlustziffern von 20 bis 28 Millionen Menschen, die für die Kriegsjahre genannt werden. Das waren noch einmal etwa 15 Prozent der Bevölkerung des erweiterten Imperiums. Kein anderes großes Land  – außer China  – hat eine solche Folge ­demografischer Verluste durchlaufen, davon die eine, wahrscheinlich größere Hälfte im dreißigjährigen Bürgerkrieg des bolschewistischen ­Regimes mit der eigenen Bevölkerung. Vor 1914 hatten Bevölkerungs­ statistiker auf Basis der Wachstumsziffern der Jahrzehnte davor für das Russländische Reich in seinen damaligen Grenzen, die denen der Sowjet­ union nach dem Zweiten Weltkrieg annähernd entsprachen, für 1950 eine Gesamtbevölkerung von 344 Millionen vorausgesagt.21

Zur Psychologie totalitärer Entgrenzung Dass der Große Terror Stalins das dunkle Zentrum der historischen Kommunismusforschung geblieben ist, kann kaum verwundern. Tat­ sächlich sind fast alle kommunistischen Regimes durch kurze oder lange Phasen blutigen, auch internen Terrors gegangen; insofern müssen diese anfänglichen oder auch wiederholten Selbstzerfleischungen zu ihrem Systemcharakter gerechnet werden. Aber es war noch ein Sittengemälde eigener Art, wenn Stalin in seinem «roten Hofstaat» selbst gegen die

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engsten, ältesten und treuesten Mitarbeiter «Material sammeln» ließ und sie durch die Inhaftierung ihrer Ehefrauen, Brüder, Söhne oder sonstigen Angehörigen fast alle unter Druck setzte. Etwas Ähnliches hat es in der relativ stabilen Kerngruppe der KP Chinas um Mao, Tschou En-lai, Tschen Po-ta und einige andere so nicht gegeben – allerdings minus Liu Shao-chi und Deng Xiaoping, die während der Kulturrevolution zu Ob­ jekten des Massenhasses gemacht, aber nicht erschossen wurden. Liu starb im Gefängnis; Deng wurde sogar noch zu Maos Lebzeiten in seine Ämter wieder eingesetzt. Selbst die Roten Khmer haben zwar einen Gut­ teil ihres eigenen Kader­stamms massakriert; aber die miteinander viel­ fach verschwägerte Kerngruppe um Pol Pot, Khieu Samphan, Nuon Chea und Ieng Sary blieb eng verschworen.22 Dagegen gehörte das unvermittelte Changieren zwischen familiärer Nähe und gegenseitiger Zerfleischung zur Charakteristik des stalinisti­ schen Machtmilieus.23 Alte Kampfgenossen und langjährige Nachbarn, die einander eben noch bei den Festgelagen im Kreml zugeprostet oder bei den Gesellschaften auf Stalins Datscha zur Erheiterung des Haus­ herrn eng umschlungen Foxtrott oder kaukasische Tänze miteinander getanzt hatten, belasteten sich bei «Gegenüberstellungen» in den Amts­ zimmern des Kreml mit ausgeschlagenen Zähnen und erloschenen Augen. Oder sie zeichneten (wie Molotow, Woroschilow oder Kaganowitsch) als Davongekommene und vermeintlich Unantastbare eifrig jene 383 To­ deslisten mit ab, auf denen unter den 44 000 höheren Parteifunktionä­ ren, Wirtschaftsführern oder Armeekommandanten, fast alle mit der Ziffer «1» für Erschießung markiert, ihr eigener Name durchaus auch hätte stehen können. Ohne mit der Wimper zu zucken, schickten sie die Kinder und Frauen der Verurteilten, auch wenn sie Gäste in deren Häu­ sern gewesen waren, gleich mit in die Lager oder in die Erschießungskel­ ler, während sie sich als wahre Sozialkannibalen die Datschen mit allen Möbeln, Gemälden, dem Porzellan oder die importierten Luxuskarossen ihrer unglücklichen Genossen aneigneten.24 Nichts Vergleichbares findet man in den faschistischen Bewegungen einschließlich des Nationalsozialismus, die durch einen internen Ehrenko­ dex, durch eine tragfähige sozialökonomische und administrative B ­ asis sowie durch einen klar definierten Kreis von Außenfeinden recht stabil verschweißt waren – bis in ihre nibelungenhaften Untergänge hi­nein. Analog zu Max Webers «Gehäuse der Hörigkeit» ließe sich von einem «Gehäuse des Wahns» sprechen, in das Stalin sich selbst mit seinen gan­ zen Machtkadern einschloss und dazu das weitere Umfeld derer, die sich

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zu diesem Machtpol drängten oder in seinem Bann standen  – einem Bann, aus dem sich selbst ein großer Teil der Betroffenen nicht lösen konnte. Michail Bulgakow, der «weiße» Schriftsteller, dessen Stücke nicht mehr gespielt wurden und der immer noch auf Stalins Protektion hoffte, verfolgte die Prozesse mit grimmiger Befriedigung: «Jeden Morgen, wenn ich die Zeitung aufschlage – denke ich, was für ein Monster, dieser Jagoda!» Die Frau des verhafteten Organisationschefs der «Kommunis­ tischen Internationale» Ossip Pjatnitzki, der als Hauptangeklagter eines vierten Schauprozesses präpariert werden sollte (aber seinen Folterern widerstand), notierte am Tag der Erschießung Bucharins und anderer Angeklagten: «Heute um vier Uhr werden die Ungeheuer vernichtet. Mit ihrer Vernichtung wird mein Hass nicht geringer.»25 Aber Julja Pjatnitzkaja begann auch an ihrem verhafteten Mann selbst zu zweifeln: «Wer ist er? Wenn er ein Berufsrevolutionär ist, wie er be­ hauptete, dieser Mann, den ich siebzehn Jahre lang kannte, dann war er glücklos. Denn ihn umgaben Spione und Feinde … Doch anscheinend ist Pjatnitzki  … ein Berufshalunke und Spion, was erklärt, warum er als Mensch so verschlossen und streng war.» Der eine Sohn war ebenfalls verhaftet worden, der andere hasste den Vater. Sie erklärte sich gegen­ über dem Staatsanwalt bereit, sich von ihrem Mann loszusagen, nicht aber von ihrem Sohn – und bot an, selbst für den NKWD zu arbeiten. Als der Sohn zu fünf Jahren Lager verurteilt wurde (ihr Mann war schon erschossen, aber das wusste sie nicht), verlangte sie, ebenfalls verhaftet zu werden. Das geschah auch, und in einem Arbeitslager in Kasachstan, wo sie hüft­hoch im Winter im Schlamm stehend arbeiten musste, ist sie Anfang 1940 gestorben.26 Aber dieser Wahn, der die ganze, jedenfalls die lesende, «bewusste» Gesellschaft erfasste, war ein Produkt des Machtzentrums selbst. Dass der Mord an Sergej Kirow im Dezember 1934 mit einer Welle neuer, un­ tergründiger Unruhe (wieder einmal über die hohen Brotpreise) zusam­ menfiel, und dass der Attentäter Nikolajew als einer der enttäuschten Kindersoldaten des Bürgerkriegs sich ausweislich seines Tagebuchs in der Tradition der Zarenmörder und sozialrevolutionären Terroristen sah, erklärt nicht, im Gegenteil, warum die offizielle Propaganda ihrerseits in einer fast obsessiven Weise von geplanten Attentaten auf Stalin, Molo­ tow oder Kaganowitsch sprach – bis es fast eine Frage der Rangfolge war, wer wie oft das Objekt von Anschlägen war, die wundersamerweise immer schon im Vorfeld vereitelt wurden.

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Die Schauprozesse und öffentlichen Schuldbekenntnisse seiner vormali­ gen Opponenten brauchte Stalin, um glaubhaft zu machen, dass prak­ tisch sämtliche Führungsfiguren der Sowjetunion, mit Ausnahme von ihm selbst und seiner engsten Gefolgschaft (und selbst da gab es Verrä­ ter), von Beginn an bestrebt gewesen seien, die Revolution zu verraten. Um sie politisch und moralisch definitiv zu vernichten, bedurfte es ihrer Mitwirkung. Je unwahrscheinlicher die Vorwürfe und Selbstbezichti­ gungen, je monströser die Lügen, umso wehrloser machten sie die, die das lasen oder als Zuschauer verfolgten, darunter auch ausländische Korrespondenten oder prominente Besucher wie Lion Feuchtwanger. Auf den einfachen Gedanken, dass nur diejenigen Angeklagten einen Prozess und eine letzte große Bühne bekamen, die (nach schweren Fol­ tern, vor allem aber nach massiven Drohungen gegen das Leben ihrer Angehörigen) bereit waren, ihre Rolle zu spielen, kam kaum jemand die­ ser Beobachter. Und doch überstieg das Maß der Bereitschaft, die Rolle eines verbor­ genen Feindes, Doppelzünglers, Attentäters überzeugend zu spielen, die viele der Angeklagten zeigten, alle zu profanen Erklärungen. Arthur Koestlers in seinem Roman «Darkness at noon» («Sonnenfinsternis», 1938/39) entwickelte Vorstellung, wonach der Appell an die Moral der alten Revolutionäre, der Partei einen «letzten Dienst» zu erweisen, das Schlüsselmotiv für die Geständnisse gewesen sei, war sicherlich eine allzu «romanhafte» Interpretation.27 Trotzdem war etwas Richtiges an der Annahme, dass es eine Art Komplizenschaft von Anklägern und ­Angeklagten gegeben habe. Diese waren viel zu lange in der Sphäre der bolschewistischen Macht zuhause gewesen, um sich den von Wyschinski sophistisch entwickelten Begriff der «objektiven Schuld» nicht selbst zu eigen zu machen. Wer sich über Jahrzehnte als Vollstrecker eines «objek­ tiv notwendigen» historischen Prozesses gesehen hatte, dem er mit allen, noch so gewaltsamen Mitteln zum Durchbruch verholfen hatte, konnte sich dieser Suggestion jetzt am Ende nicht mehr entziehen. Zudem war ihr «Geständnis» ja auch nur der Abschluss einer Kette demonstrativer Unterwerfungen, die sie schon lange vor ihrer Verhaf­ tung praktiziert hatten. Koestler hatte als Korrespondent und Jungkom­ munist einige von ihnen Anfang der 1930 er in Moskau getroffen und in seinen Erinnerungen ein eindrucksvolles Kollektivporträt gezeichnet: «Sie waren alles müde Männer … Die Geschichte hatte sie bis zum letz­ ten Tropfen ausge­quetscht, bis zur letzten Kalorie ausgebrannt; dennoch glühten sie immer noch in erstarrter Hingabe, wie phosphoreszierende

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Leichen.»28 Vor die Alternative gestellt, gleich in die Keller geschleppt zu werden oder noch einmal einen großen politischen Auftritt zu haben, entschieden sich zumindest einige für das Letztere. Alles, was künftige Generationen ihnen als Schuld würden anrechnen können, waren dann subjektive Irrtümer, Zweifel, Schwankungen. So war die Konstruktion der «objektiven Schuld» für sie die goldene Brücke, über die sie in die Geschichtsbücher einzugehen hofften. Im dritten und letzten der Schauprozesse hat Nikolai Bucharin in sei­ ner Schlussrede – ein Monolog, wie ihn kein Shakespeare hätte erfin­ den können – dieser inneren Verfassung gültigen Ausdruck gegeben, als er sagte: «Denn wenn man sich fragt: Wenn du stirbst, wofür stirbst du? – dann ergibt sich mit plötzlicher, erschütternder Deutlichkeit eine absolute schwarze Leere. Es gibt nichts, wofür es sich zu sterben lohnte, wenn man sterben wollte, ohne bereut zu haben. Und umgekehrt nimmt all das Positive, das in der Sowjetunion leuchtet …, im Bewusst­ sein der Menschen andere Ausmaße an. Dies hat mich letzten Endes endgültig entwaffnet und dazu getrieben, meine Knie vor der Partei und dem Lande zu beugen. … Die Weltgeschichte ist das Weltgericht. Eine Reihe von Führern trotzkistischer Gruppen hat bankrott gemacht und wurde auf den Kehrichthaufen geworfen … Denn in Wirklichkeit steht hinter Stalin das ganze Land. Er ist die Hoffnung der Welt – der Schöpfer.»29 Man muss sich dabei vorstellen, dass die Schlussfassung dieser Texte, so wie sie dann gedruckt und in alle Sprachen übersetzt wurden, von Stalin persönlich redigiert worden war, so wie er auch die Anklage­ schriften und Prozessszenarien mitredigiert hatte. Besser noch als das metaphysische Licht, das auf ihn, den «Schöpfer», fiel, wird ihm die «absolute schwarze Leere» gefallen haben, die auf seine «kniefälligen» Gegner wartete. Sie besagte, dass es für die Angeklagten keinerlei «Drau­ ßen» mehr gab, für das es sich noch gelohnt hätte, Widerstand zu leis­ ten. Sie waren niemandes Kronzeugen, niemandes Märtyrer. Sie waren politisch vollkommen vernichtet. Wenn es so etwas wie einen «totalitären Zustand» gegeben hat, dann muss er genau hier, in den konzentrischen Kreisen des stalinistischen Machtapparats, und in der höchsten Konzentration womöglich im inners­ ten, «neunten Kreis» dieser Machthölle zu finden gewesen sein, in der zeitweise die Menschen wie Puppen in einem Strom des blanken Wahns umhergewirbelt wurden. Aber gerade dieser Befund, der sich jedem his­

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torischen Verstehen zu entziehen scheint, muss auch einen Schlüssel, wenn nicht zum Verständnis, so immerhin zur faktischen Möglichkeit eines solchen Zustands enthalten. Ein paar Faktoren und Motive dieses internen Terrors sind immerhin erkennbar: Da war, erstens, der erwähnte Zusammenhang einer nominell totalen Macht mit dem rasenden Gefühl der Unfähigkeit, die sozialökonomi­ schen Prozesse und die technischen, wissenschaftlichen und kulturellen Evolutionen dieser Sowjetgesellschaft effektiv zu planen und zu steuern. Mit seiner nominellen Allzuständigkeit verwandelte das Politbüro sich – schon aus Gründen schierer Überlastung – zu einem vielfach hysterisch entgleisenden Stresskollektiv, in dem ein unentwirrbarer Wust von Ein­ zelfragen und Interessenkämpfen verhandelt wurde. In fast jeder Frage war Stalin derjenige, der letztinstanzlich entschied, weil kaum ­jemand sich das ohne sein Votum noch traute. Umso mehr sah er sich von lauter «Schwachköpfen», «Kretins», «Kriminellen», «Schurken» usf. umgeben, die alles sabotierten.30 Dabei war das voluntaristische Einpeitschen und Erzwingen das Gegenteil jeglicher «Planmäßigkeit» oder auch nur Bere­ chenbarkeit. Zugleich offenbarte gerade die totalitäre Handlungsmacht des Zentrums, dass es feste «gesellschaftliche Zusammenhänge» in dem Sinne, in dem eine sozialhistorische Forschung sie sucht, kaum noch gab. Die Zerstörung aller überkommenen Sozialformen war weitgehend «gelungen». Daran knüpften sich, zweitens, fast notwendig paranoide Projektio­ nen einer allgemeinen Sabotage oder Subversion. Ob die Tatsache, dass Stalin sein Land kaum noch kannte, jedenfalls so gut wie nicht bereiste, ein Resultat dieses Verfolgungswahns war, oder ob dieser Wahn sich um­ gekehrt aus seiner Ahnungslosigkeit nährte, bleibt ununterscheidbar. Ab einem bestimmten Punkt können Stalin und seine Leute nicht mehr ge­ wusst haben, was von den Geständnissen, gegenseitigen Anschuldigun­ gen und den wahnhaften Verschwörungskonstruktionen, die die ganze Gesellschaft durchzogen, stimmte oder nicht stimmte.31 In einer solchen schizoiden Wahnwelt lebt man aber nicht auf Dauer, ohne davon selbst angesteckt zu werden. Gleichzeitig zeugen die beschriebenen Phänomene, drittens, von einer moralischen Enthemmung und sozialen Entbindung des inneren Macht­ clans, die mit der Preisgabe der eigenen Familien  – einschließlich der engsten Verwandten Stalins  – nur noch besiegelt wurde. Es gab keine ­institutionellen Korrektive und Kontrollen mehr, keine konventionellen Beschränkungen, keine sozialen Komments, keine schlichten Anstands­

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regeln mehr, die die immer weiter ausgreifenden, schon habituell gewor­ denen destruktiven Impulse noch hätten hemmen können. Gerade die sich auflösenden Strukturen einer regulären Machtaus­ übung waren aber das Medium, in dem sich die absolute Diktatur Stalins wie von selbst ergab. Niemand, der sich ihm ernsthaft und praktisch-­ politisch hätte widersetzen wollen, konnte sich noch auf feste, berechen­ bare innerparteiliche oder gesellschaftliche Konstellationen stützen. Nicht einmal die ältesten Politbürokraten konnten, außer in Einzelfragen und informell, tragfähige Koalitionen untereinander bilden, da ihnen ­immer schon Nachrücker im Nacken saßen, die sie in jedem Moment er­ setzen konnten. Diese jüngeren Nachrücker selbst, die es bis in die zweite Reihe schafften, die führenden sowjetischen Politiker der 1960/70 er Jahre, die Breschnew, Kossygin, Gromyko, Andropow und Genossen, hatten sich ihrerseits ja jeweils auf den Stuhl eines Verhafteten oder vielleicht schon Erschossenen gesetzt; und keiner von ihnen konnte diesen Sessel anders als durch die prophylaktische Säuberung des nunmehr ihm unter­ stellten Apparates sichern.32 Allenfalls in ihren erstarrten Physiognomien konnte man später noch etwas von diesen frühen Prägungen lesen. Dass Stalin in der Innen- wie in der Außenpolitik immer auch ein vor­ sichtiger Machtmensch war, der es vorzog, hier zu geben und dort zu nehmen und die verschiedenen gesellschaftlichen Korporationen, Pro­ fessionen und Milieus mal zu spalten, mal gegeneinander auszuspielen; dass er gelegentlich sogar seine Meinungen änderte und Widerspruch in Einzelfragen duldete (oder eben nicht); und dass er überhaupt als ein «operativer Diktator» (vollkommen anders als Hitler, aber auch als Mao) ein virtuoses Spiel mit vielen Figuren und Faktoren aufzog – das alles machte ihn nicht zu einem von seiner Umgebung abhängigen oder gar «schwachen» Diktator, als den man ihn gelegentlich hat charakterisieren wollen.33 Das bedeutet umgekehrt aber nicht, dass die Lösung der rätselhaften Gewaltexzesse im Wesentlichen im Charakter Stalins als Mensch oder Unmensch, als kaukasischer Connaisseur von Macht und Gewalt, der «gerne tat», was er tat, als Zyniker oder als Gläubiger, als Realist oder als Paranoiker zu suchen wäre.34 Sondern die Charakteristik Stalins ver­ weist zurück auf die Charakteristik des Systems, das dies ermöglichte, und insbesondere der Lenin’schen Partei, die ihn tatsächlich «nach ihrem Ebenbild erschaffen und erzogen» hatte, wie er 1929 in einer bescheide­ nen Dankrede zum 50. Geburtstag sagte. Die Partei selbst hatte ihm nach dieser Logik allmählich die volle Macht über jede beliebige Frage

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und jeden Einzelnen in seiner Umgebung übergeben  – und er erschuf diese Partei und ihre Kader in e­ inem blutigen Geburtsakt nach seinem Ebenbild neu. Der utopische Hoffnungsstrom und die vitale Aufbruchsstimmung, die nach vielen Zeugnissen einen Teil der jugendlichen Aufsteiger und der städtischen Kernbevölkerung der Sowjetunion gerade in den Terrorjah­ ren 1936/37 wie in einer gegenläufigen Fließrichtung erfassten, bedürfen nochmals eigener Deutungen. Eine zentrale Rolle dürfte die anfängliche Hoffnung gespielt haben, dass die Härten der ersten Kollektivierungsund Indus­trialisierungsphase jetzt endlich überwunden seien, dass das Alltagsleben tatsächlich, wie Stalin 1936 verkündete, «leichter, fröh­ licher» werde. Zwar deckten die Reallöhne der einfachen Arbeiter noch immer (sofern sie nicht als «Stoßarbeiter» reüssierten) kaum das existen­ tielle Minimum, waren die Wohn- und Versorgungsverhältnisse in den explodierenden, in riesige Großbaustellen verwandelten Hauptstädten und in den neuen Industriezentren mit den Baracken auf freiem Feld so misera­bel wie noch je. Aber wer das «neue Moskau» mit seinen pom­ pösen Verwaltungs-, Industrie- und Wohnpalästen, seinen proletarisch-­ barocken Metro­stationen, seinen Freizeitparks, Sport- und Kulturstätten mit Kinderaugen betrachtete; wer sich an den dicht aneinandergereihten Festtagen in der Menge drängte, welche in theatralischen Masseninsze­ nierungen oder mit allen Mitteln einer oft künstlerisch anspruchsvollen Massenkunst in Filmen, Konzerten, Ausstellungen die Prospekte eines «Lebens in der Zukunft», das schon begonnen hatte, entrollt bekam – für den mochte diese Fiktion eine Realität eigener Art sein.35 So paarte sich die große Säuberung, paradox wie dies erscheint, in ­ihren Anfängen mit einer jugendlichen Vergnügungssucht ebenso wie mit den Ruhe- und Erholungsbedürfnissen und wiederum mit den Rache­ impulsen einer erschöpften, radikal durcheinandergeschüttelten, jedes sozialen Haltes beraubten Gesellschaft. Vielleicht könnte man, um den strapazierten Begriff Trotzkis aufzunehmen, tatsächlich von einem popu­ lären «Thermidorianertum» sprechen: dem kategorischen Bedürfnis nach Ruhe und Ordnung, nach «machtgeschützter Innerlichkeit»36 und zu­ gleich nach emotionalen Kompensationen durch einen Staat, der sich in diesen Jahren mit vielen Insignien einer traditionalen Ordnung versah – von den Uniformen für Diplomaten und den Achselstücken für Offiziere bis zu den Bratenröcken für Akademiker und den hellen Sommeranzü­ gen für die Stachanowisten; das alles überwölbt von einem Neo-Klassi­

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zismus der öffentlichen Repräsentation, der dem gesamten Leben einen neuen Stil aufzuprägen begann. Auch ein Hauch von Luxus und Eleganz (etwa in Zeitungsannoncen und Reklamepostern) gehörte zum Aroma der Zeit, so wie im Kino die Musical-artigen Filmopern oder Filmepen dieser Jahre einen eigenen sowjetischen Stil einer getragenen, gehobe­ nen, patriotischen Fröhlichkeit und Ergriffenheit entwickelten. Gleich­ zeitig verhieß der «sozialistische Realismus» eine Rückkehr zum herge­ brachten, opulenten Erzählen, den Beginn einer neuen sozialistischen Klassik, die sich der großen russischen Literatur, Malerei, Musik des späten 19. Jahrhunderts unmittelbar anschließen würde. Das Schre­ ckensjahr 1937 war auch das «Puschkin-Jahr», in dem eine neue Gene­ ration sowjetischer Schülerinnen und Schüler sich in diesen heiteren Dichter, seine Tatjana und seinen Onegin, und in sein schweres Los ver­ liebte.37 Vielleicht hat der diffuse Schrecken dieser Zeit die Innerlichkeit und den hektischen Lebensdrang, der aus vielen privaten Quellen spricht, ge­ steigert – ähnlich wie das von Festen in Pestzeiten berichtet wird oder auch von der Intensität des Lebens in Kriegszeiten. Hier wie in allem his­ torischen Rekonstruieren ist immer zu bedenken, dass in den Zwischen­ räumen der großen katastrophalen Ereignisse und Entwicklungen auch immer gelebt und geliebt, gegessen und getrunken wurde, Pläne ge­ schmiedet und Karrieren gemacht, Familien und Existenzen gegründet wurden. Alexander Solschenizyn hat über seine Zeit an der Universität 1937/38 und die wölfische Mentalität, mit der er und die Jahrgangsgenossen auf­ wuchsen, in der schonungslosesten Weise gesprochen: Wie es ihnen völ­ lig schnuppe war, dass alle Honoratioren des Gebiets und mehrere Pro­ fessoren verhaftet waren: «Sind wir mit ihnen tanzen gegangen? Die Prüfungen würden nur leichter werden.» Von der Universität ging es auf die Militärschule, wo er zum ersten Mal «die Freude des Einfach-so-­ Lebens empfand  …, sich einzufügen in die Art, wie alle leben, wie’s Brauch ist in unserem Offiziersmilieu». Unterrichtet wurden sie «wie junge Tiere: wütend gemacht, aufgehetzt, damit wir später den Zorn an anderen ausließen». Man war stets hungrig und schlief zu wenig. «Der­ weilen übten wir … fleißig den tigerhaften Offiziersgang und den metal­ lischen Befehlston.» Aber irgendetwas hinderte ihn dann doch, den Wer­ bungen nachzugeben und auf die NKWD-Schulen überzuwechseln, «die mit üppigen Naturalien und doppeltem bis dreifachem Gehalt» lockten. «Irgendwo, nicht im Kopf – in der Brust saß der Widerstand!»38

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Fanden die Deportationen von Ex-Kulaken und «Ehemaligen» oder Angehörigen «feindlicher Nationalitäten» großteils außerhalb des Wahr­ nehmungsfelds der neuen städtischen Eliten und jugendlichen Aufsteiger statt, so galt das für die Verhaftungen, die in ihrem unmittelbaren Um­ feld bei Tag und bei Nacht stattfanden, nur zum Teil. Zwar kamen die «schwarzen Raben» meistens nachts, verschwanden die Menschen in ominöser, schreckensstarrer Stille, und die Angehörigen mussten so tun, als sei nichts geschehen. Aber vielfach waren dem eben doch öffentliche, pogromistische Scherbengerichte vorangegangen, die über Direktoren, leitende Angestellte, einfache Kollegen, Professoren und Lehrer, Kom­ militonen oder Mitschüler, Mitglieder der Partei oder des Komsomol, Schriftsteller, Künstler oder Architekten in ihren Betrieben oder Institutio­ nen abgehalten wurden. In sorgsam instrumentierten Hasskampagnen erhielten die einfachen Arbeiter, Angestellten oder Kolchosniki Gelegen­ heit, ihre oft nur zu berechtigten Beschwerden und Anklagen hinauszu­ schreien, und missgünstige Kollegen konnten durch giftige Andeutungen oder vernichtende Anschuldigungen gegen Amtsleiter, Direktoren, lei­ tende Ingenieure usw. die Posten freiräumen, auf die sie selbst scharf ­waren. Man kann das als «Terror von unten» beschreiben, in dem nach einer alten russischen Fabel die Mäuse die Katzen erlegten.39 Aber diese Scher­ bengerichte waren doch nur als Teil einer von oben entfesselten Kam­ pagne denkbar. Und das muss alles die Beteiligten dann doch in einer im Nachhinein für sie selbst kaum noch nachvollziehbaren Weise hysteri­ siert und hypnotisiert haben. Es entstand ein Klima des universellen Ver­ dachts bis an den Rand einer kollektiven Psychose, genährt auch von ­einem grassierenden Informanten- und Spitzelwesen, das gleichzeitig auch noch von einer Flut anonymer Denunziationen gegen Wohnungsnach­ barn, Arbeitskollegen, Vorgesetzte oder lokale Beamte überspült wurde, so wie eine trübe Grundwelle, die alle Strukturen, Verantwortlichkeiten, Verlässlichkeiten fortriss. Es war ein anomischer Zustand, die Erschüt­ terung eines sozialen Grundvertrauens, durch das jeder in einen «Dop­ pelzüngler» verwandelt wurde, der in der Öffentlichkeit so und im engs­ ten Kreise ganz anders sprach.40

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Antifaschismus und Antitrotzkismus Stand das alles schon im Zeichen des aufziehenden Weltkriegs? Diente die terroristische Große Säuberung, wie die nachträglichen Legitimatio­ nen lauteten, der Eliminierung einer faschistischen «Fünften Kolonne» – so wie zur gleichen Zeit im belagerten Madrid? Tatsächlich hatte in den Augen der Stalin’schen Führung spätestens 1936 mit dem Bürgerkrieg in Spanien, dem Überfall Mussolinis auf ­Libyen und Abessinien und der japanischen Invasion Chinas ein zweiter imperialistischer Weltkrieg schon begonnen. Und während der ruhende Pol des sozialistischen Staates von der entrückten, in unerschütterbarer Ruhe dargestellten Figur Stalins (den in der Wirklichkeit fast niemand zu sehen bekam) verkörpert wurde, gab es den düster ausstrahlenden Negativpol eines «Judas Trotzki», der aus einem fernen bourgeoisen Exil mit Hilfe zahlloser Agenten, die er auch im engsten Führungskreis von Partei, Staat und Armee fand, an einem diabolischen Komplott zur Ermordung des Führers, zur Unterminierung der Sowjetunion und zur Auslieferung des Landes an den Weltimperialismus arbeitete. Die Überzeugung, ein neuer Weltkrieg liege in der Luft, hätte Realitäts­ sinn beweisen können, aber diente gerade dem Gegenteil. Zu lange hatte die sowjetische Führung schon wechselnde Szenarien eines zweiten im­ perialistischen Weltkriegs an die Wand gemalt – und sich dabei nie ent­ scheiden können, wer gegen wen stehen werde. 1930 war es noch in ­erster Linie Großbritannien gewesen, das sich im Kampf um die Weltherr­ schaft gegen die USA wenden würde. Japans Einfall in die Mandschurei 1932 ließ in Moskau die Alarmglocken schrillen, weil hier ein Einflussoder auch Expansionsgebiet der Sowjetunion selbst lag, das sich bis nach China erstreckte. Japan war deshalb die ganzen 1930 er Jahre hin­ durch der direkteste Gegner, der mit dem «weißen» Polen in geheimer Übereinstimmung stehe; die Kämpfe mit japanischen Truppen 1938 in der Mandschurei waren die ersten ernsten Kämpfe der neuen Sowjet­ armee seit dem Bürgerkrieg. Mit dem faschistischen Italien hatte Mos­ kau dagegen relativ gute Beziehungen, bevor Mussolini sich 1937 in eine Allianz mit Hitler-Deutschland begab, das bereits ein «Antikomin­ tern»-Bündnis mit Japan geschlossen hatte. Hitler war es auch gewesen, der 1934 durch eine lose Allianz mit Polen den noch 1933 erneuerten «Berliner Vertrag» mit der Sowjetunion und die Zusammenarbeit von Reichswehr und Roter Armee einseitig ­ge­kündigt

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hatte. Aber der komplementäre Schwenk der sowjetischen A ­ ußenpolitik zu einem System der «kollektiven Sicherheit», flankiert vom Übergang der Komintern-Parteien zu einer Politik der «Volksfront» mit Sozialisten und bürgerlichen Kräften (exemplarisch in Frankreich), und schließlich die Proklamation eines «Antifaschismus» als neuer ideologischer Gene­ rallinie auf dem VII. Komintern-Kongress 1935 war, was die internatio­ nalen Konstellationen betraf, keineswegs eindeutig. Zwar prangerte Georgi Dimitroff, der neue Vorsitzende der Komin­ tern, die Nazibewegung als «die reaktionärste Abart des Faschismus» an. Dieser sei jedoch zu einer «allgemeinen Erscheinung» in der Welt ge­ worden, eben weil die «Klassenkräfte im Weltmaßstab» sich immer mehr zugunsten der revolutionären Kräfte verschoben hätten. Der deut­ sche Faschismus sei der «Hauptanstifter eines neuen imperialistischen Krieges», allerdings nur als ein «Stoßtrupp der internationalen Konter­ revolution», ein Instrument dritter Mächte also. Die «Lebensraum»-Pläne der Nationalsozialisten, die sich gegen die Sowjetunion selbst richteten, blieben unerwähnt, im Gegensatz zur «Großasien»-Politik Japans und Mussolinis Phantasien eines neuen «Römischen Reiches». Hitler wurde als ein Möchtegern von «deutschem Messias» vorgestellt, dem es gelun­ gen sei, die Massen durch seine Losung «Gegen Versailles!» zu täuschen, und der nun versuche, sich den Westmächten als Speerspitze gegen den Bolschewismus anzudienen. Die neue Strategie der «Volksfront» bedeutete, gegen die weltweite Tendenz einer «Faschisierung» und «Kriegspolitik» der Bourgeoisie die Arbeiter aller Länder und alle ehrlichen, auch bürgerlichen und klein­ bürgerlichen Menschen unter der Fahne der Nation, der Demokratie und der Zivilisation zu sammeln, um auf dieser Grundlage zur Erkämp­ fung der «Sowjetmacht» zu schreiten. Von der Errichtung einer welt­ weiten Einheitsfront gegen die faschistischen Staaten und insbesondere Nazideutschland war in Dimitroffs mit Stalin abgestimmter Programm­ rede mit keinem Wort die Rede.41 Wie verhielten sich dann aber der offizielle Antifaschismus und die irr­ witzigen, auf die internationale Ebene gehobenen Kampagnen gegen den Trotzkismus zueinander? Was bedeutete es für das Verständnis der Welt­ lage und der Gefahr, die vom Dritten Reich ausging, wenn in der stalinis­ tischen Weltsicht nicht Hitlers «Mein Kampf», sondern Trotzkis «Ver­ ratene Revolution» als die Programmschrift des Weltimperialismus galt? War der «Trotzkismus» also der internationale Hauptfeind?

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Hatte es eine mehr als nur propagandistische Bedeutung, wenn das Bild des «Trotzkismus» sich dem nationalsozialistischen Bild vom «jüdi­ schen Bolschewismus» strukturell und zuweilen (etwa in Karikaturen) auch bildlich annäherte, insofern beide jeweils innere und zugleich ­äußere Feinde bezeichneten? Was sollte signalisiert werden, wenn ins­ besondere jüdische Emigranten aus Deutschland in den von Stalin selbst redigierten Drehbüchern der Moskauer Schauprozesse 1936/37 als Agenten Himmlers präsentiert wurden, die es auf das Leben der sowje­ tischen Führer abgesehen hätten – während andere Angeklagte und Alt­ bolschewiken sich in ihren erzwungenen Geständnissen mal als briti­ sche, mal als polnische und mal als französische Agenten bezichtigen mussten? Was besagte es in diesem Zusammenhang, dass weder in der Phase des offiziellen «Antifaschismus» (zwischen 1935 und 1938) noch in der Zeit des Hitler-Stalin-Paktes (von 1939 bis 1941) die Verfolgung der Juden in Deutschland und ihre Ghettoisierung und Terrorisierung im besetzten Polen angeprangert oder auch nur erwähnt wurden? Und wie war die Anweisung der Komintern von 1936 an die im Dritten Reich überlebenden deutschen Kommunisten zu verstehen, in die nationalsozi­ alistischen Massenorganisationen einzutreten, um dort für den «wahren Sozialismus» gegen den (falschen) Nationalsozialismus zu werben?42 Fragen dieser Art laufen nicht auf die schlichte Konvergenz beider Systeme hinaus, deuten allerdings auf Parallelitäten in der Konstruktion der Feind- und selbst der Weltbilder hin. Und sie widerlegen alle nachträg­ lichen Antifa-Legenden, denen zufolge der Große Terror der dreißiger Jahre das Resultat einer legitimen, wenn auch überzogenen Notwehr ­gegen die «faschistische Bedrohung» war. In Wirklichkeit wurde gerade diese Bedrohung eklatant unterschätzt und fehlgedeutet. Der Hitler-Stalin-Pakt 1939 und die Weisungen der Komintern an die Parteien in Frankreich und Großbritannien, die Kriegsanstrengungen ­ihrer Länder zu obstruieren und, als sie von der Wehrmacht überrannt waren, sich mit der deutschen Besatzungsmacht zu arrangieren, lagen ganz auf der Linie der deutsch-russischen Beziehungen, der wir als einem der roten Fäden unserer Darstellung bisher gefolgt sind. Zwar ging die sowjetische Politik ab 1935 dazu über, durch den Beitritt zum Völkerbund sowie Verträge mit Frankreich und der Tschechoslowa­ kei auf einen Kurs der «kollektiven Sicherheit» umzuschwenken. Aber sofort nach deren Unterzeichnung erschien der Presseattaché Gnedin (der Sohn Alexander Helphands) im Auswärtigen Amt in Berlin, um zu

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versichern, dass diese Verträge nicht als Beistandsverpflichtungen zu in­ terpretieren seien – falls die deutsche Armee beabsichtige, in das entmi­ litarisierte Rheinland einzumarschieren. Offensichtlich ging die sowjetische Politik fest davon aus, dass der deutsche Revisionismus sich vor allem gegen die westlichen Mächte richten werde und das «germanische Siedlungsland im Osten» allenfalls in Polen oder der Tschechoslowakei liege. Jedenfalls wurde in der Sow­ jetunion während der dreißiger Jahre «keine einzige Geschichte des ­Nationalsozialismus geschrieben, noch irgendein anderes allgemeines Werk über die Außen- und Innenpolitik des Dritten Reichs, wie sie zu Hunderten in der übrigen Welt erschienen».43 Keine einzige sowjetische Untersuchung befasste sich etwa spezifisch mit den «Lebensraumplä­ nen» der Nationalsozialisten.44 Thesen vom ewigen deutschen «Drang nach Osten», vom «Zuspätkommen» des deutschen Kapitalismus und von seiner «besonderen Aggressivität», die später zum festen Repertoire der sowjetischen Nachkriegs-Geschichtsschreibung gehörten, waren in der sowjetischen Literatur der dreißiger Jahre nicht einmal in Andeutun­ gen zu finden. Umgekehrt diente der prononcierte «Antibolschewismus» der NS-Pro­ paganda durchsichtigen innen- wie außenpolitischen Zwecken, sowohl gegenüber dem eigenen Bürgertum wie gegenüber den konservativen Eli­ ten Frankreichs und Englands, die denn auch stillhielten, als Hitler sich 1935 daran machte, die «Fesseln von Versailles» abzustreifen. Der «Anti­ komintern»-Pakt mit Japan und Italien entsprach in keiner Weise dem, was er zu sein behauptete. Nicht einmal für den Fall eines sowjetischen Angriffs sicherten sich die Beteiligten verbindlich Unterstützung zu. Es war nicht schwer zu erkennen, dass es in Wahrheit um eine Koalition zum Umsturz des Status quo ging und der Pakt insofern mindestens so sehr gegen die Westmächte wie gegen die Sowjetunion gerichtet war. Nicht anders sah es auch die sowjetische Führung – für die der «Antikom­ intern»-Pakt allerdings hervorragende Dienste bei der Konstruktion ab­ surder innenpolitischer Verschwörungsszenarien leistete. Der «Kurze Lehrgang der Geschichte der KPdSU (B)», der Mitte 1938 erschien und den Stalin (wie jeder wusste) persönlich redigiert hatte, er­ fand nicht nur die Geschichte der Partei als das gemeinsame Werk Lenins und seines getreuesten Schülers Stalin noch einmal neu und denunzierte das gesamte Wirken Trotzkis wie aller anderen historischen Führer der Partei. Das Buch, das ab jetzt zur obligatorischen Lektüre jedes Partei­

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kaders und Lehrers, Oberschülers und Studenten gehörte, enthielt auch eine autoritative Einschätzung der Weltlage – so wenn Stalin feststellte, «dass der zweite imperialistische Krieg in der Tat schon begonnen hat», dass die Aktionen der faschistischen Mächte aber «im letzten Grunde gegen die kapitalistischen Interessen Englands, Frankreichs, der Ver­ einigten Staaten gerichtet» seien. Dieser Krieg «von Gibraltar bis zum Jangtsekiang» um die Beherrschung der Seewege und strategischer Stütz­ punkte trage allerdings «einen ziemlich seltsamen und einseitigen Cha­ rakter». Denn die «alten» Imperialisten des Westens machten den «jun­ gen» aggressiven Mächten ein Zugeständnis nach dem anderen. Diese Politik der «Beschwichtigung» beweise aber nur, dass die westlichen ­Kapitalisten «die Arbeiterbewegung in Europa und die nationale Befrei­ ungsbewegung in Asien» noch mehr fürchteten als die faschistischen ­Aggressoren und dass sie deshalb versuchten, deren Angriff auf die So­ wjetunion abzulenken.45 In seiner berühmten «Kastanien-Rede» auf dem KPdSU-Parteitag am 10. März 1939, knapp sechs Monate nach dem Münchner Abkommen (dem ­Höhepunkt der «Appeasement»-Politik) und nur wenige Tage vor Hitlers Einzug in Prag, ließ Stalin alle diplomatischen Rücksichten fallen. Es sei offenkundig, dass die Westmächte «den Deutschen Gebiete der Tschechoslowakei als Kaufpreis für die Verpflichtung, den Krieg ge­ gen die Sowjetunion zu beginnen», zugeschanzt hätten. Dieses «große und gefährliche politische Spiel» habe allerdings mit einem Fiasko geen­ det – denn jetzt stelle sich heraus, dass die Deutschen sich «weigern, den Wechsel einzulösen, und den Gläubigern die Türe weisen». Damit habe eine Politik Bankrott gemacht, die darauf abzielte, Deutschland, Japan und die Sowjetunion in einen Krieg hineinzutreiben, «damit sie einander schwächen und erschöpfen, dann aber, wenn sie genügend geschwächt sind, mit frischen Kräften auf dem Schauplatz zu erscheinen und … die Bedingungen zu diktieren». Die den Westmächten unterstellte Strategie war offenkundig genug ­genau die, die Stalin selbst verfolgte. «Wie billig und wie nett!», höhnte er nun. Die sowjetische Führung werde sich von «Kriegsprovokateuren, die es gewohnt sind, sich von andern die Kastanien aus dem Feuer holen zu lassen», nicht in einen Konflikt mit Deutschland hineintreiben lassen, für den es überhaupt «keine sichtbaren Gründe» gebe.46 Tatsächlich hatte das negative Echo in der westlichen Öffentlichkeit auf die Novemberpogrome 1938 Hitler das Ende der kampflosen, rein politischen Eroberungen signalisiert. Auch hatte er gerade das, was die

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sowjetische Presse unterstellte, bei der Konferenz in München von den westlichen Regierungschefs nicht erhalten: «freie Hand im Osten», ein Mandat für einen eventuellen Angriff auf die So­wjetunion unter der Fahne des Antibolschewismus. Goebbels reagierte mit heftigen Angrif­ fen gegen «die Macht einer gewissen internationalen Presse» (gemeint war die westliche)  – während mit der Sowjetunion bereits im Winter 1938/39 ein stillschweigendes Abkommen über die Einstellung der ge­ genseitigen Presseangriffe getroffen wurde. Die brennenden Synagogen, die auch in den sowjetischen Medien kurz und feierlich verurteilt wor­ den waren, verschwanden aus der sowjetischen Öffentlichkeit. Im Gegenzug beschuldigte Hitler in einer drohenden Reichstagsrede am 30. Januar 1939 die USA der offenen Feindseligkeit und führte dies unmittelbar auf das Wirken des «internationalen Finanzjudentums» zu­ rück, das drauf und dran sei, «die Völker noch einmal in einen Weltkrieg zu stürzen». Wenn dies aber geschehe, «dann wird das Ergebnis nicht die Bolschewisierung der Erde und damit der Sieg des Judentums sein, sondern die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa».47 Man be­ merkt, wie die «Bolschewisierung der Erde» hier explizit als Instrument eines besonders mit den USA assoziierten «internationalen Finanzjuden­ tums» erscheint. Indem Hitler dieses beschuldigte, die Völker zu einem Krieg gegen Deutschland aufzustacheln, wurde eine strukturelle Ähn­ lichkeit seiner Argumentation mit der Stalins gegen den «Trotzkismus» wie gegenüber den Westmächten sichtbar. Der Gedanke, beide Staaten könnten auch zusammengehen, lag spä­ testens nach der Stalinrede in der Luft. Nachdem Hitler im April 1939 in Prag einmarschiert war und immer aggressivere Forderungen gegen Po­ len erhob, das im Gegenzug eine Garantie seiner Unabhängigkeit durch Großbritannien erhielt, kamen die deutsch-sowjetischen Kontakte wie von selbst in Gang. Die Ersetzung des sowjetischen Außenministers Lit­ winow (in der Nazipresse «Litwinow-Wallach» genannt) durch den Erz­ russen Molotow beseitigte das letzte Hindernis. Zugleich zeigte die ­Ernennung Molotows, der die rechte Hand Stalins war, dass die Sowjet­ union ab jetzt einer aktiven Außenpolitik entscheidendes Gewicht bei­ messen würde. Die Reise des deutschen Außenministers von Ribbentrop nach Moskau am 21. August signalisierte schon durch ihre ungewöhnlichen Umstände, dass es jetzt nicht mehr um taktische Manöver, sondern um strategische Pläne ging. Die «Nichtangriffs»-Klausel war der unbedeutendste Teil des

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Vertragswerks, die Fassade. Die Verhandlungen fanden – wie die deut­ sche Seite ohne jede Scheu zu erkennen gab – parallel zu den bereits lau­ fenden Vorbereitungen eines Angriffs auf Polen statt. Das war ein großer Vertrauensvorschuss. Eine sowjetische Hinhaltetaktik, selbst um wenige Tage, hätte Hitler in erhebliche Verlegenheit gebracht. Aber auch Stalin war bereit, den Rubikon zum Krieg zu überschreiten. Tatsächlich handelte es sich um eine Absprache über ein paralleles kriegerisches Vorgehen zur Aufteilung des östlichen Mitteleuropa, um einen Angriffsvertrag. Die Geheimprotokolle umrissen bereits die bei­ derseitigen Einflusssphären. Die sowjetische Seite machte ebenfalls kein Geheimnis daraus, dass es ihr um den gewaltsamen Wiederanschluss «historisch» zur Sowjetunion gehöriger Gebiete ging. In dieser Hinsicht war das Programm Stalins ein direktes Pendant der «großdeutschen» Ziele Hitlers. Der Einmarsch der sowjetischen Truppen am 17. September in die öst­ lichen Landesteile Polens, während mehrere polnischen Armeen noch im Kampf standen und das belagerte Warschau aushielt, wurde bereits mit der Behauptung begründet, dass der polnische Staat aufgehört habe zu existieren. Die sowjetische Regierung habe ihre «ukrainischen und weiß­ russischen Blutsbrüder» nicht im Stich lassen können und stelle die 1921 vom Mutterland losgerissenen Landesteile wieder unter ihren Schutz. Das war die Sprache eines völkischen Wiederanschlusses, wie sie Hitler mit Blick auf das Sudetenland auch gebraucht hatte. Schon am 28. September, dem Tag der Kapitulation Warschaus, wurde ein «Grenz- und Freundschaftsvertrag» zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion geschlossen, der offensichtlich fertig ausgehandelt war. Es handelte sich um einen förmlichen Vertrag über die Teilung ­Polens und weiter Teile des östlichen Europa, und darüber hinaus um ein informelles Kriegsbündnis. In der begleitenden «Gemeinsamen Erklä­ rung» wurde festgestellt, dass mit der Auflösung des polnischen Staates jeder Kriegsgrund entfallen sei. Sollten Paris und London an ihrer Kriegs­ erklärung gegen Deutschland festhalten, so «würde dies demonstrieren, dass England und Frankreich für die weitere Fortsetzung des Krieges verantwortlich sind», also die Aggressoren seien. In diesem Falle würden die deutsche und die sowjetische Regierung «weitere Konsultationen be­ züglich notwendiger Maßnahmen einleiten». Von Neutralität der So­ wjetunion im ausgebrochenen Weltkrieg war soweit keine Rede. Allerdings war man trotz einer gewissen gegenseitigen Bewunderung, die die Verhandlungen und die Berichte darüber prägte, von einer Part­

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nerschaft weit entfernt. Es war eine Komplizenschaft, wobei Hitler unter Zugzwang stand. Er hatte darauf gesetzt, durch das von niemandem für möglich gehaltene Bündnis mit Stalin die Westmächte abschrecken zu können. Aber diese Rechnung war nicht aufgegangen. England und Frankreich hatten Deutschland den Krieg erklärt, wenn auch noch nicht eröffnet. Jetzt musste Hitler nach der Logik seines Handelns weiterge­ hen. Er konnte es sich weder innen- noch außenpolitisch mehr leisten, stehen­zubleiben und die erreichte Position zu konsolidieren. Seine Poli­ tik der immer atemloseren, immer weiteren Aggressionen trug Züge einer Flucht nach vorn. Genau darin lag seine Funktion für die Stalin’sche Politik. Es waren dieselben spekulativen Erwartungen, die die sowjetische Führung schon 1918 an den Vertrag von Brest-Litowsk, 1920 und 1923 an die «extremen Nationalisten» und «Schwarzhunderter» in Deutschland und vor und nach 1933 an den Aufstieg der Hitlerpartei geknüpft hatte. Eine Auf­ zeichnung Dimitroffs über ein Gespräch mit Stalin vom 7. September 1939, das der Festlegung der Kominternpropaganda angesichts des aus­ gebrochenen Krieges diente, ist von unüberbietbarer Deutlichkeit. Stalin erklärte die Lage wie folgt: «Der Krieg wird zwischen zwei Gruppen kapitalistischer Staaten (armen und reichen in Bezug auf Kolo­ nien, Rohstoffe usw.) um die Aufteilung der Welt und um die Weltherr­ schaft geführt. Wir haben nichts dagegen, wenn sie ordentlich gegen­ einander Krieg führen und sich schwächen. Es wäre nicht schlecht, wenn durch die Hand Deutschlands die Position der reichsten kapitalistischen Länder (besonders Englands) zerrüttet werden würde. Ohne es zu wis­ sen und zu wollen, untergräbt Hitler das kapitalistische System … Wir können manövrieren und die eine Seite gegen die andere aufhetzen, da­ mit sie sich umso heftiger gegenseitig zerfleischen. Der Nichtangriffspakt hilft Deutschland in gewisser Weise. Bei nächster Gelegenheit muss man die andere Seite aufhetzen.»48 Von einem großdimensionierten Zynismus zeugt in diesem Zusam­ menhang noch die taktische Direktive für die Komintern, der zufolge die Kommunistischen Parteien «entschlossen gegen den Krieg und seine Schuldigen auftreten» müssten, was sich vor allem an die Parteien im Westen, an erster Stelle die KP Frankreichs, richtete, jegliche «Vater­ landsverteidigung» zu verweigern. Später, als Belgien, Frankreich, die Niederlande überrannt und okkupiert waren, gab es sogar informelle Direktiven, sich mit der deutschen Besatzungsmacht zu arrangieren. Unüberwindliche ideologische Hindernisse für eine begrenzte gemein­

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same Politik zwischen den Vertragspartnern gab es jedenfalls nicht. Und wie wir heute wissen, war Stalin bereits im Frühjahr 1941 bereit, für einen neuen, erweiterten Ausgleich mit Hitler auch die Kommunistische Inter­ nationale aufzulösen – was er dann erst im Mai 1943 als Konzession an die westlichen Verbündeten wie zur Erhöhung der eigenen Handlungsfrei­ heit tat.49 Was immer man im historischen Rückblick über die Aussichten eines Viererpakts zwischen der Sowjetunion, Deutschland, Italien und ­Japan sagen kann, die im Winter 1940/41 informell sondiert wurden: Überlegungen dieser Art waren weder unlogisch noch «widernatürlich».50 Der Überfall der Armeen Hitlers auf die Sowjetunion im Juni 1941 hatte für die internationale kommunistische Bewegung etwas Befreiendes. Auch sowjetische Bürger haben ihn, vielen literarischen und biografischen Zeugnissen zufolge, so empfunden,51 ungeachtet der Tatsache, dass Sta­ lins Vabanquepolitik die große, hoch gerüstete, aber völlig falsch, näm­ lich offensiv aufgestellte und vieler ihrer besten Offiziere beraubte Rote Armee zunächst in ein beispielloses Debakel führte. Hätte Hitler tatsächlich einen «antibolschewistischen Kreuzzug» ge­ führt, wäre für die Macht Stalins und die Existenz der Sowjetunion ange­ sichts ihrer inneren Instabilität und äußeren Isolation nicht zu garantieren gewesen. In Wirklichkeit handelte es sich jedoch, wie binnen kürzester Zeit auch den Bauern klar war, die die deutschen Truppen mit Brot und Salz empfangen hatten, um einen Eroberungs-, Versklavungs- und Ver­ nichtungskrieg, wie es noch keinen gegeben hatte. Gerade das ermöglichte es der Stalin’schen Führung, sich ihrerseits hinter den Paravent eines «Großen Vaterländischen Kriegs» der Völker Russlands zurückzuziehen – um den es sich jenseits aller Parolen je länger desto mehr auch tatsächlich handelte. Gerade in diesem Krieg konnte das Regime alle relativen Stär­ ken seiner zentralisierten, ohnehin auf Kriegsfuß gestellten politischen Ökonomie mit seinen drakonischen Zwangsmitteln zur Geltung bringen. Je rücksichtsloser die Besatzer sich aufführten, umso mehr entwickelte sich ein wirklicher nationaler Volkskrieg, vor allem von Seiten des Staatsvolks der Russen, dessen Vorrang in der neuen Stalin-Hymne von 1943 («Von Russland, dem großen, auf ewig begründet / ragt hoch der Sowjetrepubliken Bastion») bestätigt wurde. Die «Heimtücke» des all­ gegenwärtigen Feindes wiederum rechtfertigte aus deutscher Sicht jede noch so barbarische Sanktion; und das propagandistische Bild vom «Untermenschen» setzte vollends die spontanen Racheaffekte der Solda­ ten frei. Zugespitzt gesagt, war dieser Versklavungs- und Eroberungs­

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krieg im Osten mit anderen als verbrecherischen Mitteln auch nicht zu führen. Aber er war mit diesen Mitteln erst recht nicht zu gewinnen. Nach den nüchternen Worten Arthur Koestlers aus dem Jahr 1944 war angesichts der menschlichen und materiellen Potentiale der Sowjetunion sowie der natürlichen Bedingungen von Raum und Klima «von vorn­ herein kein Grund vorhanden, warum die Russen von den Deutschen besiegt werden sollten», schon gar nicht angesichts des Mehrfronten­ krieges des Reichs gegen die Westmächte.52 Die menschenverachtenden Formen der sowjetischen Kampfführung bei ihren Rückzügen wie bei ihren Vormärschen waren in vieler Hinsicht das Spiegelbild der deutschen Kriegs- und Besatzungspraxis, so wie die Aufrufe zur «Vernichtung der faschistischen Bestien» und Ehrenburgs Losung «Töte den Deutschen» eine direkte Replik auf die deutsche Hass­ propaganda gegen den «jüdischen Bolschewismus» und die «slawi­ schen Untermenschen» waren. Hier wie dort hatten die ideologischen Formeln die Funktion einer Freischaltung destruktiver Impulse jeder Sorte. Im Widerspruch zur chauvinistischen Entfesselung aller russischen ­Affekte gegen «die Deutschen» spielte die alte deutsch-russische Option für Stalin allerdings noch immer die Rolle einer Nebenpolitik zur Anti­ faschistischen Kriegskoalition mit den Westmächten, deren innere Wider­ sprüche offen zutage lagen. Auf dieser Nebenlinie lag die verblüffend ­erfolgreiche Gründung des in den schwarz-weiß-roten Reichsfarben auf­ tretenden «Nationalkomitees Freies Deutschland» und des ergänzenden «Bundes deutscher Offiziere» in den sowjetischen Gefangenenlagern, oder der Wechsel von den Plänen einer vollständigen «Zerstückelung» (dis­ memberment) Deutschlands in Teheran und Jalta zur offen gehaltenen Option einer Wiederherstellung des Reiches in Potsdam. Stalins früher Satz «Die Hitler kommen und gehen, das deutsche Volk, der deutsche Staat bleiben» konnte gegenüber den Gespenstern eines «Morgenthau­ plans» der westlichen Alliierten im Moment des deutschen Zusammen­ bruchs vielen wie ein letzter Rettungsanker erscheinen. Hitlers Marsch ins Niemandsland, in einen unbestimmten «Ostraum», war von keinem fundamentalen Antibolschewismus getragen, wie etwa Ernst Nolte argumentiert hat  – oder wie ein linker Common Sense es will, der den stalinistischen Terror als eine Reaktion auf die national­ sozialistische Bedrohung interpretiert, so wie Nolte den Nationalsozia­ lismus als eine Reaktion auf die bolschewistische Bedrohung.53 Der reale Nexus zwischen dem Lebensraum-Projekt Hitlers und dem Bolsche­

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wismus lag vielmehr in der Ahnung eines historisch ausgeleerten Rau­ mes, eines Vakuums – und bewegte sich insoweit in einer unheimlichen Komplementarität zum Projekt Stalins der terroristischen Eroberung und Neuformatierung seines eigenen Reiches. Soweit die nationalsozialistische Kriegführung einer Ratio folgte, war es die des Terrorkriegs, der die materiell überlegenen Gegner und ihre fragilen Kriegskoalitionen spalten und in einen moralischen Zusammen­ bruch treiben sollte. Nach der Seite des eigenen Volks und der Verbün­ deten hin war es eine Politik der Bindung im kollektiven Verbrechen durch das systematische Verbrennen aller politischen und moralischen Brücken hinter sich. Nichts war daher so authentisch wie die rasende Enttäuschung Hitlers über sein designiertes «Herrenvolk», das sich «im Kampf als das Schwächere erwiesen» habe und zu einem Vaterländi­ schen Krieg, wie ihn die Russen auf eigenem Boden geführt hatten, nicht mehr bereit und fähig war. Der totalste aller Kriege hatte mit der totals­ ten aller Niederlagen geendet.

Der Vater der Völker Auf Seiten der Sowjetbürger produzierte die existentielle Alternativlosig­ keit, zumal nach dem historischen Sieg von 1945, suggestive Sinnstiftun­ gen. Alle die ungeheuerlichen Opfer, die Leiden und Härten der voran­ gegangenen Kollektivierungs- und Terrorjahre schienen auf eine für den gemeinen Menschenverstand nicht zu entziffernde und gerade deshalb irgendwie überzeugende Weise mit dem Faktum dieses schrecklichen Überfalls und dieses historischen Siegs verbunden, der die Sowjetunion unter der Führung Stalins auf die Höhe einer zweiten, potentiell sogar ersten Weltmacht katapultiert hatte. Es ist eine Sache, diese überlebensgroße Lebenslüge des stalinistischen Regimes – dass die Kollektivierung, der Terror und auch der Pakt mit Hitler-Deutschland Belege einer genialen Voraussicht und überlegenen Staatskunst Stalins seien – wissenschaftlich zu widerlegen. Es ist eine an­ dere Sache, die andauernde psychische Macht dieser «postfaktischen» Konstruktion und Mythologie als eine historische Tatsache eigener Ord­ nung «anzuerkennen». Freilich begründete der Anschein, wonach die Sowjetunion fast im ­Alleingang «die faschistische Bestie erwürgt» habe, unter den Sowjet­ bürgern zusammen mit einem mehr als begreiflichen Patriotismus auch

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latente Ansprüche nach innen: dass die ungeheuren Opfer dieses Krieges nun auch irgendeine Kompensation finden müssten; gepaart mit Erwar­ tungen, dass das neue, «antifaschistische» Kriegsbündnis mit den USA und den Westmächten andauern und neben der Hilfe beim Wiederaufbau auch eine Öffnung des Landes und eine innere Entspannung mit sich bringen werde. Genau gegen diese Erwartungen richtete sich die Attacke, die das für Kultur und Ideologie zuständige Mitglied des Politbüros, Andrej Shda­ now, im August 1946 gegen eine Reihe von Leningrader Autoren, vor allem die Lyrikerin Anna Achmatowa und den Satiriker Michail Sost­ schenko, startete und die sich ganz allgemein gegen «Formalismus» und «Dekadenz» in Kunst und Kultur richtete. Jeder begriff, dass dies nur der Auftakt für eine neue ideologische und politische Säuberung nach dem Krieg sein würde. Shdanow lieferte im Jahr darauf mit seiner For­ mel von den «Zwei Welten» und «Zwei Kulturen» zugleich auch den übergeordneten Rahmen der Interpretation. Als Inbegriff aller negativen Tendenzen kristallisierte sich schließlich der «bürgerliche Kosmopolitis­ mus» heraus, der die Antithese zum «proletarischen Internationalis­ mus» darstellte. Das war eine ziemlich präzise Bezeichnung des Gegensatzes, um den es sich handelte. Dort  – eine neue Dynamik der weltwirtschaftlichen Verflechtung, die tatsächlich eine gewisse «kosmopolitische», also «welt­ bürgerliche» Integration der Kulturen und Gesellschaften mit sich brachte. Und auf der Gegenseite  – eine «inter-nationalistische» Bewegung zur Verteidigung der jeweiligen nationalen Autarkie und der Souveränität eines planenden und disponierenden Staates. Die erklärte Aufgabe der Kommunisten aller Länder war es jetzt, sich an die Spitze des Kampfes um die Verteidigung der nationalen Souveränität jedes Landes und der nationalen Kultur jedes Volkes gegen die kosmopolitische Weltwirtschaft und die «billige Massenkultur» des Kapitalismus zu setzen. So lautete seit der Gründung der «Kominform», einer loseren, informellen Zusam­ menfassung der ehemaligen Komintern-Parteien, die neue Moskauer Generallinie für die Kommunisten aller Länder. Im Übrigen lief die These von den «Zwei Welten – Zwei Kulturen» auf eine welthistorische Gegenüberstellung hinaus, worin die neue, russisch-­ proletarisch geprägte Sowjet-Zivilisation der europäisch-kosmopoliti­ schen Zivilisation des kapitalistischen Westens den Primat auf allen Fel­ dern streitig machte, und das bis weit rückwärts in die Geschichte. Zum Entdecker des Gesetzes der Erhaltung der Energie und zum Erfinder

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der Dampfmaschine wurde der universale Denker des 18. Jahrhunderts W. M. Lomonossow ernannt. Als russische Erfindungen wurden das elek­ trische Licht, das Radio, der Transformator, das Flugzeug, die Rakete, der Fallschirm und vieles andere mehr reklamiert. Soviel Anlass zu schö­ nen Witzen das gab, so blutig ernst gemeint war es. Denn den Hasskampagnen gegen alle verborgenen «Kosmopoliten» und bald auch «Zionisten» – Kampagnen, die ab 1949 auf das gesamte neue sozialistische Weltlager ausgedehnt wurden und im «Titoismus» bald ­einen neuen Trotzkismus fanden – stand ein zu immer neuen Höhepunk­ ten getriebener Liebeskult um Stalin gegenüber. Dessen 70. Geburtstag im Dezember 1949 wuchs sich zu einer alles in den Schatten stellenden Orgie der internationalen Huldigungen aus – einer wahren Kakophonie von Millionen Stimmen, aus denen sich nach dem Muster von Rezitativ und Arie die «Großen Gesänge» der bedeutenden Dichter und Künstler der Zeit emporschwangen. Die «Prawda» ließ sich eigens die Erlaubnis geben, täglich nur zwei Seiten mit Grußadressen zu füllen, was sich allerdings über Wochen hin­ zog. Keine Fabrik, kein Kolchos, keine Behörde, die es gewagt hätte, kein Geschenk nach Moskau zu schicken, so wie es auch die Bruderländer, die Bruderparteien, die Friedenskämpfer und «ehrlichen Menschen» jeg­ licher Hautfarbe und Nation taten. Die Donationen und Devotionalien aus aller Welt füllten zehn Säle des Revolutionsmuseums, wo sie noch jahrelang zu betrachten waren: unzählige Pfeifen und Tabaksdosen, kleine Panzermodelle, ein Kopfschmuck aus Adlerfedern von einem in­ dianischen, ein Spazierstock von einem schwarzafrikanischen Häuptling oder ein «Brief des koreanischen Volkes» mit (angeblich) über 16 Mil­ lionen Unterschriften, auf purpurne Atlastäfelchen gestickt. Bedeutende Dichter aller Nationen, von Louis Aragon bis Rafael ­Alberti, von Nazim Hikmet bis Pablo Neruda, von Vitezlav Nezval bis Johannes R. Becher, schrieben kleinere oder größere Poeme zum Ruhme «des größten aller lebenden Menschen», wie er jetzt schon offiziell hieß. George Bernard Shaw als 91-jähriger Methusalem erklärte auf dem Sterbe­ bett: «Stalin ist der größte Verteidiger des Friedens. Ihm verdankt die ­Sowjetunion ihre Stärke und Einheit. Diese Stärke aber sichert den Welt­ frieden.» Eine besondere Intensität erreichte der Kult in Deutschland. In allen Städten Ost- und Westdeutschlands fanden Stalin-Geburtstagsfeiern statt, die in einer großen Rundfunk-Ringschaltung mit denen aller ande­

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ren Länder kurzgeschlossen wurden – eine Weltoper aus Musiken, Hym­ nen, Rezitationen und Adressen, die die Sphären füllte. Kurt Barthel (Kuba) hatte eine Kantate geschrieben, die mit Chor und Orchester in einem Staatsakt in Berlin aufgeführt wurde. Stephan Hermlin lieferte ein siebenseitiges Großpoem «Stalin», das in einer wahren Apotheose mün­ dete: «Aus dem unendlichen Raunen von Inseln und Ländern / Hebt das Entzücken sich mit einer Botschaft dahin, / Wo die Verheißungen leben und die Epochen verändern, / Namenlos sich die Zeit endlich selbst nennt: Stalin.»54 Wahrscheinlich erfasste der Stalinkult der Nachkriegsperiode, viel stärker als in den dreißiger Jahren, nicht mehr nur den aktiven Kern der Gläubigen und Aufstrebenden, sondern befriedigte auch in den breiten Massen, vor allem der Sowjetunion selbst, ein Bedürfnis nach Begrün­ dung, Legitimation, «Heiligung» alles Erlittenen und Durchlebten. Die Kette von radikalen Umbrüchen, die Erfahrungen des Terrors und schließ­ lich der Einbruch des Krieges hatten alle Schrecken der Kontingenz, der Zufälligkeit des individuellen Lebens bis ins Extrem gesteigert. Und da der Himmel leer war, da es irgendeinen anderen spirituellen oder institu­ tionellen Haltepunkt für einen Sowjetmenschen nicht mehr gab und für ­einen «unbehausten» Intellektuellen oder kommunistischen Arbeiter im Westen erst recht nicht, ließ sich Sinnstiftung nirgendwo so wie im ­So­wjetstaat, in seinem Sieg und seiner Erhebung zu einer Großmacht der Zeit finden, und am Ende auch in der Figur des Oberbefehlshabers und Führers, des Siegers im Weltkrieg und Hüters des Weltfriedens, der Ko­ ryphäe aller Wissenschaften, des «besten Freunds» der Kinder und der Frauen, des Vaters aller Völker. Stalin ist der «hohe Mittag / der Men­ schen und der Völker Reife», wie Pablo Neruda dichtete. George Orwell ließ in seinem 1948 geschriebenen Roman «1984» sei­ nen dissidenten Helden Winston nach allen Kämpfen und Widerständen am Ende, nachdem er verhaftet und einer terroristischen Gehirnwäsche unterzogen worden ist, zu sich selbst sagen: «Aber nun war es gut, war alles gut, der Kampf beendet. Er hatte den Sieg über sich selbst errungen. Er liebte den Großen Bruder.»55 Das war eben nicht nur Resultat der schieren Repression, sondern auch einer tiefen, persönlichen ­Regression seines Helden. Natürlich war der Roman eine Parabel. Aber Orwell hatte damit einen elementaren Mechanismus beschrieben: wie in einer Situation totaler Ausgeliefertheit Furcht und sogar Hass, Leiden und sinn­ lose Opfer sich am Ende in Liebe verwandeln können.

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er Sieg der chinesischen Kommunisten im Bürgerkrieg im Oktober 1949 war jenes epochale Ereignis nach der russischen Revolution, das – parallel zur Gründung der DDR – die zweite Periode des Kommu­ nismus eröffnete. Dessen Geschichte im 20. Jahrhundert ist im Kern die Geschichte dieser beiden roten Reiche. Der Sieg der Partei Maos verdankte sich einer Dynamik, die deutlicher noch als im Fall der Bolschewiki die primären Kräfte bloßlegt, die diese historische Bewegung über eine so lange Strecke des 20. Jahrhunderts vorangetrieben haben, bevor sie schließlich erlahmten – oder sich, wie gerade im Falle der Volksrepublik China seit 1992, mit einer vollkommen neuen, keineswegs nur importierten, sondern selbst generierten kapi­ta­ lis­tischen Entwicklungsdynamik kombiniert haben. Diese primären Triebkräfte lagen nur sekundär im Feld sozialer Wider­ sprüche und Kämpfe. Soweit es überhaupt Sinn hat, in einem Land wie China von Klassen und Klassenkämpfen zu sprechen, waren alle virulen­ ten sozialen Konflikte für die chinesischen Kommunisten vor allem das Medium, um einen ihnen gehorchenden politisch-militärischen Macht­ körper zu schmieden, der dem neuen, zentralistisch und diktatorisch operierenden Staatswesens als Gerüst dienen und alle humanen und ma­ teriellen Potentiale des Landes in seiner Hand vereinigen sollte. Der zum geflügelten Wort gewordene Satz Maos am Vorabend der Proklamation der «Volksrepublik China» am 1. Oktober 1949: «Das chinesische Volk, ein Viertel der Menschheit, hat sich endlich erhoben» klingt wie ein ferner Nachhall von Napoleons Diktum von 1817: «Wenn China sich erhebt, wird die Welt erzittern»  – eine Formulierung, die Mao gekannt haben mag. Tatsächlich stellte er die Gründung der Volks­ republik explizit in die Kontinuität der chinesischen Reichsgeschichte, wenn er etwa sagte: «Die Chinesen sind von jeher eine große, mutige und arbeitsame Nation; erst in der neueren Zeit sind sie zurückgeblie­ ben. Diese Rückständigkeit ist einzig und allein auf die Unterdrückung und Ausbeutung durch den ausländischen Imperialismus und durch die

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einheimischen reaktionären Regimes zurückzuführen. Seit mehr als einem Jahrhundert haben unsere Vorgänger unbeugsam gegen die in- und aus­ ländischen Unterdrücker gekämpft und niemals damit aufgehört  … ­Unsere Nation wird niemals mehr eine Nation sein, die sich beleidigen und demütigen lässt.»1 Das sind stolze und sehr verständliche Worte, aber sie künden von na­ tionaler Wiedergeburt, nicht von sozialer Emanzipation. Nicht das Pro­ letariat ist aufgestanden, sondern China. Möglich geworden war dieser Griff der chinesischen KP zur Staatsmacht und ihr Aufstieg zur Führerin der Nation nur durch den Weltkrieg, nicht durch eine sozialrevolutionäre Erhebung. Deshalb handelte es sich eigentlich auch nicht um eine Revo­ lution im klassischen Sinne dieses Wortes. Mao zog an der Spitze seiner Feldarmeen in Peking ein und danach in die anderen alten Hauptstädte und Zentren des Reichs. Möglich geworden war dieser Sieg nur durch den wahnwitzigen Ver­ such Japans, sich zum Herrn über ganz China und damit auch über ganz Ostasien und sogar (mit der Vernichtung der amerikanischen Flotte in ­Pearl Harbor) über den gesamten Pazifik zu machen – ein Gegenstück zu Hitlers kontinentalem Eroberungskrieg. Die Kuomintang-Armeen hatten die Hauptschläge der japanischen Okkupationsarmeen aushalten müssen; und die Verwüstung der Küstenzonen und Hauptwirtschaftsgebiete war – neben allem Chaos und aller Korruption  – dann auch der elementare Grund für den Mahlstrom der Inflation und des Zerfalls, in dem die Natio­nalregierung 1948/49 unterging. Erst dieser japanische «Lebensraum»-Krieg machte ganz Ostasien zum neuen Zentrum des Weltkommunismus, das ein Gegenstück zur So­ wjetisierung Osteuropas durch den Vormarsch der Roten Armee bis Ber­ lin darstellte. Dieses neue sozialistische Weltlager «von der Elbe bis zum ­Jangtse» umfasste nun genau jene eurasische «Weltinsel», deren Kon­ trolle nach den Lehren des britischen Geopolitikers Halford Mackinder über die Weltherrschaft entscheiden werde und, wie Mackinder zuerst 1904 und noch einmal drängender 1919 festgestellt hatte, das Ende des «kolumbischen Zeitalters» der Seemächte bedeuten konnte.2 Neben der KP Chinas ragte die KP Indochinas unter Ho Chi Minh unter den asiatischen Parteien heraus, die im und nach dem Zweiten Weltkrieg nach der Macht griffen. Beide Parteien waren ursprünglich unter der direk­ten Anleitung der Kommunistischen Internationale gegründet wor­ den, um sich dann in eigenen Bahnen zu entwickeln, die der unterschied­

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lichen Lage ihres Landes entsprachen: Vietnam als Teil der französischen Kolonie «Indochina», aber auch im Banne einer weit zurückreichenden, mythisch umwitterten Geschichte streitender Königreiche und Reichs­ gründungen, in deren Tradition die vietnamesischen ebenso wie die chi­ nesischen Kommunisten eintraten – mit der Komplikation, dass die alte kulturelle Verwandtschaft beider Länder sich auf vietnamesischer Seite mit einer ebenso alten Animosität gegenüber dem noch älteren, stets übermächtigen, hegemonialen chinesischen Imperium paarte, und auf chinesischer Seite mit einer entsprechenden kulturellen Herablassung. Ho Chi Minh (Ho der Aufklärer) war die zweite und bleibende Ver­ wandlungsform von Ngyen Ai Quoc (Ngyen der Patriot), der eigentlich Ngyen Tat Thanh hieß und der Sohn eines konfuzianischen Gelehrten und Dorflehrers war. 1911 war er als Student und Tellerwäscher nach England und Frankreich gegangen und hatte 1919 als Sprecher einer «Vereinigung Annamitischer Patrioten» (Annamiten ist eine alte Bezeich­ nung für Vietnamesen) vergeblich versucht, Wilson in Versailles für eine Petition zu interessieren, die «Selbstbestimmung» (nicht notwendig «Unabhängigkeit») für sein Land forderte. Als Mitglied der Sozialisti­ schen Partei Frankreichs wurde Ho alias Ngyen, angezogen von den Schriften und der Figur Lenins, 1920 Mitgründer einer kommunisti­ schen Abspaltung und lebte in Paris, inmitten einer dicht verwobenen Community linker Dissidenten und Unabhängigkeitskämpfer aus allen Kontinenten  – unter ihnen auch einige der späteren Führer der KP Chinas wie Tschou En-lai oder Deng Xiaoping. Wenn Berlin in den 1920 er Jahren die «zweite Hauptstadt» der Komintern war, dann war Paris eine Nebenhauptstadt für die koloniale Peripherie. Auf einer der Moskauer Kaderschulen 1924 ausgebildet, ging der spä­ tere Ho als politischer Instrukteur und Organisator vietnamesischer Wanderarbeiter nach China, entkam 1927 den Repressionen Tschiangs, wurde einer der typischen Schattenkader der Internationale, bevor er 1930 in Hongkong zu einem der Gründer der Kommunistischen Partei Indochinas wurde. Zwischen 1934 und 1938 tauchte er wieder in Mos­ kau auf, wo er die Säuberungen der Komintern überlebte – eine Periode seines Lebens, die im Dunkeln liegt, was allerdings für seine Biografie im Ganzen gilt. Seine wegen ihrer Bedürfnislosigkeit gerühmte Person ver­ schwindet in seinem späteren Bild als Staatsgründer und «Onkel Ho» (Bac Ho). Zu den verdrängten Kapiteln seiner Geschichte gehört auch das – sehr begreifliche und relativ offene – Doppelspiel mit den USA in den Jahren

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der japanischen Besetzung Indochinas nach 1940. Intensiv hatte er um amerikanische Unterstützung für seine patriotische Untergrundbewegung der «Vietminh» geworben. Als er 1945, mit emphatischen Bezügen auf die amerikanischen Verfassunggeber, die Gründung einer «Demokrati­ schen Republik Vietnam» verkündete, hoffte er wieder auf die Unter­ stützung Washingtons, das sich allerdings taub stellte und nicht bereit war, Frankreich an der Rekolonialisierung Indochinas zu hindern. Auch in Moskau, wo sich alles um das Spiel der Großmächte drehte, ließ man ihn am ausgestreckten Arm verhungern. Zwar stand Ho im Dezember 1949 an Stalins Geburtstag in der Reihe der Staats- und Parteiführer des neuen «Sozialistischen Weltlagers», aber Moskau hatte seinen Unter­ grundstaat bis dahin nicht anerkannt; Ho selbst galt nach einer kolpor­ tierten Äußerung Stalins als ein «Höhlenmensch», eine Art Steinzeit-­ Kommunist. Solche groben Abqualifizierungen, misstrauischen Zweifel und diplomatischen Kopfstöße, die die vietnamesischen Kommunisten seit den 1930 er Jahren von Seiten der sowjetischen Führer und Emissäre immer wieder erfahren haben, eint in mancher Hinsicht die politischen Werdegänge und Orientierungen von Mao wie die von Ho oder Tito – und vielleicht auch von Kim Il Sung, dem Gründer der Demokratischen Volksrepublik (Nord-)Koreas. Die Kommunistische Partei Chinas war im Juli 1921 unter Aufsicht der anwesenden Komintern-Instrukteure von 13 Delegierten einiger lokaler Studienzirkel (mit circa 60 Mitgliedern) gegründet worden. Anfangs war sie nahezu eine Phantompartei; und etwa die Hälfte derer, die man auf dem Ölgemälde der Gründungssitzung sieht, wurde wenige Jahre später schon von den eigenen und den sowjetischen Genossen als «Kuo­ mintang-Agenten» oder «Trotzkisten» entlarvt. Innenpolitisch war diese neue Partei ein direkter Abkömmling der pat­ riotischen «4.-Mai-­Bewegung» von 1919, die sich an der Anerkennung der japanischen Ansprüche auf den deutschen Kolonialbesitz in China sei­ tens der übrigen Versailler Mächte entzündet hatte – was zu Recht als ein Akt imperialer Konterrevolution aufgefasst wurde, dem nur mit einer Revolution, und zwar einer nationalen Volksrevolution, begegnet werden konnte. Umso mehr wurde für viele der (meist studentischen) Aktivisten der 4.-Mai-Bewegung das «neue Russland» zum Vorbild, weil es sich ge­ gen alle Ein­mischungen der westlichen Siegermächte behauptet hatte. Erst vor diesem Hintergrund und mit dem Umweg über die Sowjet­ union erreichte auch der Marxismus nach 1919 China – fast vier Jahr­

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zehnte nach der Gründung der ersten marxistischen Zirkel in Russland. Dabei waren die chinesischen Schulen, Universitäten und Reformgesell­ schaften seit dem Sturz des Kaisertums 1911 und vor allem mit der «Neuen Kulturbewegung» ab 1915 ein höchst vitales Ideenlaboratorium, in dem alle theoretischen Systeme der europäischen Moderne, vom Libe­ ralismus über den Sozialdarwinismus bis zum Anarchismus oder Femi­ nismus, intensiv studiert und erprobt wurden – der Marxismus jedoch nur ganz sporadisch, offensichtlich weil er von den Problemen der chine­ sischen Gesellschaft weit entfernt schien und es allenfalls winzige Keime einer Arbeiterbewegung gab.3 Der knapp dreißigjährige Mao Tse-tung, Sohn eines wohlhabenden Bauern (eines «Kulaken» also), der nach verbummelten Studienjahren als patriotischer Aktivist und Lehrer in der Provinzstadt Changsha halb zufällig in den Kreis der KP-Gründer geraten war, hatte zu diesem Zeit­ punkt lediglich das «Kommunistische Manifest», einen Text von Kautsky und etwas von Lenin gelesen, während er sich im Kanon der klassischen chinesischen Literatur gut auskannte, aber auch mit einem beachtlichen Teil des westlichen Schrifttums, von Darwin über Dewey bis Kropotkin, vertraut war. Er war also in keinem bestimmten Sinne «Mar­ xist-Leninist», als er die Kommunistische Partei mit gründete – ging von der Gründungsversammlung aber bereits als ein bestallter Vertreter der Internationale zurück nach Changsha mit dem Auftrag, einen Buchladen als Fassade und Zentrum eines örtlichen Kulturzirkels zu betreiben.4 Die marginale Situation der frischgebackenen chinesischen Sektion der Internationale änderte sich grundlegend in den Jahren 1923 bis 1926, die die Zeit eines nationalrevolutionären Einigungsversuchs Chinas unter Führung Sun Yat-sens und der von ihm gegründeten Kuomintang waren. Die kleine, aus ein paar Hundert, dann ein paar Tausend Aktivisten ­bestehende KP Chinas, in der nach wie vor Intellektuelle (teils hoch­ belesene Büchermenschen, teils kühne Abenteurernaturen) den Ton an­ gaben, setzte sich 1925 an die Spitze einer rapide wachsenden gewerk­ schaftlichen Kampf- und Organisationsbewegung, vor allem in den ausländischen Konzessionsgebieten in Shanghai und andern Hafenstäd­ ten Chinas. Zuvor hatte sie sich bereits unter Anleitung der Moskauer Internationale – die in Absprache mit Sun Yat-sen Hunderte von Polit­ kommissaren und Militärberatern und mit Michail Borodin fast eine Art Statthalter nach China entsandt hatte – in die Zivilverwaltungen und Militärstäbe der Kuomintang eingeschaltet. Damit wurde China neben und nach Deutschland zum zweiten Schlüsselland der forcierten Ver­

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suche der bolschewistischen Weltpartei, an der gegebenen Weltordnung zu rütteln. Das war nicht die einzige Ursache, aber doch eine sehr wichtige, die nach dem Tod Suns 1925 die neue Führung der Kuomintang unter dem in Russland ausgebildeten General Tschiang Kai-shek 1927 dazu trieb, sich ihres Verbündeten in einer Serie blutiger Repressionen, Massaker und Feldzüge zu entledigen. Während die von der Moskauer Zentrale ­instruierte und mehrfach ausgetauschte Shanghaier Parteiführung an der Generallinie einer städtisch-proletarisch basierten antiimperialistischen Einheitsfront festhielt und sich in selbstmörderische Aufstände (so in Kanton 1928) hineintreiben ließ, errichtete der für Agrar­fragen zustän­ dige Mao Tse-tung mit seinen Gefolgsleuten und deser­tierten Kuomin­ tang-Truppen in ländlichen Berggebieten im Süden eine Reihe roter «Stützpunktgebiete». Sie glichen durchaus den Warlord-­Regimes in an­ deren Gebieten Chinas, verbanden Requirierungen und Rekrutierungen allerdings mit einer Politik agrarrevolutionärer Mobilisierung und Ein­ bindung der Bauern, die zum eigentlichen Erfolgsgeheimnis des Maois­ mus werden sollte. Maos Linie setzte sich schließlich mit der Ausbruch- und Absetzbewe­ gung 1935/36 nach Norden, dem «Langen Marsch», durch – schon weil es keine Alternativen mehr zu dieser Politik gab. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die gesamte Existenz- und Kampfweise der Kommunistischen Partei Chinas von allen historischen Vorbildern bereits weit entfernt; und im Zuge dessen hatte sie sich auch von ihren wechselnden Komin­ tern-Beratern und den Moskauer Direktiven weitgehend emanzipiert. Der noch vorhandene Aktivkader der Partei war bis auf kleine Zellen, die in den großen Städten und einigen Provinzen überwinterten, mit der Roten Arbeiter-und-Bauern-­Armee, als deren politischer und militäri­ scher Leitungsstab er fungierte, unmittelbar verschmolzen; nur dass es als ehernes Gesetz galt (und das bis heute), dass «die Partei die Gewehre kommandiert». Mao, der sich erst im neuen Stützpunktgebiet in Jenan ab 1937 syste­ matischer mit dem Marxismus und Leninismus auseinandersetzte, begann fast im selben Atemzug auch schon mit Hilfe eines kleinen brain-trusts ­unter Tschen Po-ta ein eigenes System von Doktrinen zu formulieren und in einem Textkanon zu fixieren, der unter dem Titel der «Mao-Tse-tungIdeen» schon 1945 im Parteistatut verankert und zum ideologischen Kern­ bestand des chinesischen Kommunismus erhoben wurde5 – etwas, das ­niemand sonst neben Stalin hätte wagen können. Gerade in Maos steten

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Berufungen auf den Marxismus-Leninismus drückte sich der Anspruch auf künftige Parität mit der Sowjetunion und Stalin aus. Anders als die Bolschewiki, die erst nach der Zentralmacht griffen und den Bürgerkrieg vom metropolitanen Zentrum her gegen die Peripherie entfalteten, wurde der chinesische Kommunismus in der Situation eines längst tobenden Bürgerkriegs, weitgehenden staatlichen Zerfalls und ­einer endemischen Gewalt geboren. Auch wenn die Partei in China wie überall von städtischen und intellektuellen Milieus ihren Ausgang nahm und von hier auch später immer neuen Zuzug erhielt, hatte es doch eine tiefere historische Schlüssigkeit, dass in der maoistischen Doktrin die Strategie des Einkreisens der Städte vom Land her als die Grundbewe­ gung der Revolution theoretisch fixiert und praktisch realisiert wurde.6 Das war zugleich freilich eine historische Rückzugsbewegung vom «blauen» China der modernen, kosmopolitischen Küstenstädte und der auf sie ausgerichteten ländlichen Wachstumsregionen in das «gelbe», ­agrarische, stationäre, innere China – eine Bewegung, für die man bei Mao neben taktischen Erwägungen auch prinzipielle und theoretische Anhaltspunkte findet, so in der bereits zitierten Schrift «Über die Klas­ sen in der chinesischen Gesellschaft» von 1926. Über die tatsächliche agrarrevolutionäre Politik der Kommunisten in den zwei Jahrzehnten des Bürgerkriegs lässt sich, ohne der Komplexität dieses Themas Gewalt anzutun, so viel sagen: dass sie weniger einem für sich stehenden Ideal egalitärer Gerechtigkeit folgte als vielmehr ein ziel­ strebiger Versuch war, das vielfältige Geflecht von Spannungen und Kon­ flikten in den Dörfern (und oft auch zwischen den Dörfern oder Klans) so zur Entladung zu bringen und zu nutzen, dass die Selbsterhaltungsund Rekrutierungsbedürfnisse der roten Macht in derselben Weise ge­ sichert waren, wie es später einmal der Bestand des Staates sein würde. Mangels großer «feudaler» Grundbesitzer oder agrarischer Kapitalisten waren es vor allem die vielgestaltigen Lokaleliten, in der Regel Inhaber staatlicher Funktionen und Privilegien, die sich so zu Grundbesitzern und Pachteintreibern entwickelt hatten, und teilweise auch die unter­ nehmenden «reichen Bauern» vom Schlage des Vaters von Mao, sowie schließlich alle möglichen zu Konterrevolutionären erklärten «üblen Ele­ mente», die zur Zielscheibe von organisierten und propagandistisch vor­ bereiteten Enteignungs- und Bestrafungskampagnen wurden, an denen sich – so das Grundmuster – die Masse der Dörfler aktiv zu beteiligen hatte. Waren die Schleusen der sozialen Anklagen und Beschwerden aber

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erst einmal geöffnet, waren die in Quoten und Kategorien erfassten Klas­ senfeinde vor aller Augen verurteilt und exekutiert, waren alle Schulden oder Pachtzahlungen gestrichen und das Land, die Häuser, die Besitz­ tümer unter die ärmeren Dorfbewohner aufgeteilt, dann gab es auch für passiv Beteiligte kein Zurück mehr. Dann war das Dorf oder das Gebiet (vor allem auch in den Augen der Bürgerkriegsgegner) «rot» geworden.7 Allerdings waren die kommunistischen Kader und Rotarmisten ge­ halten, sich – anders als die durchziehenden Armeen der Kuomintang-­ Regierung oder der Warlords – korrekt zu verhalten, möglichst für die eigene Ernährung zu sorgen, die vielfach analphabetischen Dörfler zu lehren und «zu erziehen», also zu agitieren, aber auch praktisch zu unter­stützen. Was vom Gestus einer heiligmäßigen Selbstlosigkeit der chinesischen Kommunisten auch immer Legende und was Wirklichkeit gewesen ist – das Resultat war ein je nach Ort und Kriegslage liberaler oder restriktiver gehandhabtes kriegskommunistisches Wirtschafts- und Verteilungssystem, das die lokale Bevölkerung auf enge und selbstgenüg­ same Weise mit den rudimentären Institutionen und Kommandostruktu­ ren der neuen roten «Arbeiter-und-Bauern-Macht» verschweißte. Diese konnte ihre Reihen meist ohne Mühe mit neuen (und fast durchweg frei­ willigen) Rekruten auffüllen, so wie sie auch große Menschenmassen für die notwendigen Schanz-, Bau- oder Meliorations-Projekte aufbieten konnte. In dieser Weise bildeten sich in den «befreiten Gebieten» Chinas Jahre vor der Machteroberung bereits Grundelemente einer neuen Staats- und Gesellschaftsordnung aus. Dennoch ist es mehr als unwahrscheinlich, dass die chinesischen Kom­ munisten mit ihren militärisch gestützten, agrarrevolutionären Aktivi­ täten und den begleitenden Untergrundaktivitäten in den Städten aus ­einem Bürgerkrieg siegreich hervorgegangen wären. In höchst sinnfälli­ ger Weise wurden sie 1937 – als sie in ihrem neuen Stützpunktgebiet in Jenan erneut eingekreist waren und kurz vor der Vernichtung standen – durch die Invasion japanischer Truppen in die zentralen Küstengebiete Chinas gerettet. Tschiang und die Kuomintangführung mussten, von ande­ren Warlords und einer Woge patriotischer Empörung gezwungen, ihren Kurs des Hinhaltens und Beschwichtigens gegenüber den von der Mandschurei aus vordringenden Japanern aufgeben. Die Kommunisten dagegen erzielten jetzt mit ihren Losungen einer «Antijapanischen Ein­ heitsfront» politische Geländegewinne, die sie mit ihren sozialrevolutionä­ ren Losungen allein nie hatten erringen können, insbesondere auch unter einer neuen Generation von gebildeten Städtern und Intellektuellen.

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Nach den Bombardements und Okkupationen der großen Städte durch die Japaner schlugen sich Tausende junger Männer und Frauen in die roten Stützpunktgebiete durch, wo sie sich allerdings sehr bald har­ schen Kampagnen der «Gedankenreform» unterwerfen mussten, die in den Jahren 1942/43 mit einer neuen Welle von Parteisäuberungen ein­ hergingen. Diese Kampagnen wurden in stalinistischem Geist, aber mit maoistischen Methoden durchgeführt: Physischer Terror wurde obliga­ torisch in öffentliche Anklage- und Reuezeremonien eingebunden, denen die Parteimitglieder, Rotarmisten oder lokale Bevölkerungen beiwohnen mussten. Politische Abweichungen wurden in den einschlägigen Schrif­ ten Maos als eine Art geistiger Krankheit behandelt, von der die «Patien­ ten» geheilt wurden, indem man sie schüttelte und die «Rinderdämo­ nen» und «Schlangengeister» (von denen er immer wieder sprach) aus ihnen heraustrieb.8 Daneben gab es aber auch eine Geheimpolizei in den schwarzen Ledermonturen der Tschekisten, aufgebaut von dem in der Sowjetunion ausgebildeten Kang Sheng, die verhaftete, verhörte und fol­ terte, wie überhaupt die Unterschiede zwischen stalinistischer «Kader­ politik» und maoistischer «Massenlinie» wohl nicht überzeichnet wer­ den sollten.9 Trotz eines teilweise erfolgreichen, aber regional eng begrenzten Par­ tisanenkriegs, der den von Mao in seinen Militärschriften entwickelten Maximen folgte, waren es am Ende doch die sowjetischen Truppen, die im Sommer 1945 in die nördliche Mandschurei einmarschierten und den Roten Feldarmeen nach dem Ausbruch des neuen Bürgerkriegs 1947 ­ihren raschen und durchschlagenden Erfolg gegen die nach Zahl und Ausrüstung noch immer weit stärkeren Kuomintang-Truppen ermög­ lichten. Auch wenn Stalin dem entschlossenen Griff Maos nach der unge­ teilten Macht in der Partei und nun auch im Staat weiterhin nur zögernd nachgab und seine diplomatischen Beziehungen zur Kuomintang bis zum letzten Tag vor der Proklamierung der Volksrepublik zäh aufrecht­ erhielt: Er konnte nicht übersehen, dass die von der internationalen Ge­ meinschaft anerkannte Nationalregierung Tschiangs sich in einer rapiden Abwärtsspirale befand, die keinen Spielraum mehr für außenpolitische Manöver bot. Also setzte Stalin dann doch auf den unheimlichen Neben­ buhler, der ihm in der KP Chinas und der Figur Maos erwachsen war. Die Proklamation der Volksrepublik am 1. Oktober 1949 war sicher­ lich von vielen, auch begründeten Hoffnungen getragen, die sich insbeson­ dere auf die Wiederherstellung einer neuen gesamtstaatlichen Ordnung richteten. Ein düsteres Omen war allerdings die Flucht von Millionen

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Menschen vor den kommunistischen Truppen, erst nach Süden und dann außer Landes. Das war ein ähnlich gravierender brain-drain wie der, den Russland im Bürgerkrieg erlebt hatte. Das schon viel ältere und nun neu bevölkerte «China jenseits der Grenzen», auf Taiwan, in Hongkong oder Singapur wie in den Diasporagemeinden ganz Südostasiens, reprä­ sentierte zu einem Gutteil das der Welt zugewandte «blaue» China. Des­ sen kulturelle und sozialökonomische Potentiale wurden in der neuen Volksrepublik alsbald in einer Kette gewaltsamer Expropriationen und terroristischer Säuberungen der großen Küstenstädte eingeebnet – bevor es mit der Öffnungspolitik Dengs seit 1992 und vor allem nach der Rückkehr Hongkongs 1997 auch in China selbst eine triumphale Renais­ sance erlebte.

Dialektiken des Kalten Kriegs Der chinesische Bürgerkrieg ging unmittelbar einher mit dem Ausbruch eines globalen «Kalten Kriegs» zwischen den USA als der Vormacht ­eines erweiterten atlantisch-pazifischen «Westens» und der UdSSR, die das sich formierende Sozialistische Lager eurasisch-kontinentalen Zu­ schnitts anführte. In einer Serie von neuen Bürgerkriegen (von Griechen­ land bis China) oder auch von direkten Konfrontationen (so bei der Ber­ linblockade 1948) standen alle von den «Großen Drei» in Teheran, Jalta und Potsdam getroffenen Abmachungen wieder in Frage. In Asien war der Rückzug der japanischen Armeen überdies begleitet von anachronis­ tischen Rekolonisierungsversuchen Großbritanniens, Frankreichs und der Niederlande sowie von quasi-kolonial anmutenden Einflussnahmen der USA auf den Philippinen und in Südkorea  – alles jetzt unter der Fahne einer «Eindämmung des Weltkommunismus». Allerdings hatte auch die Sowjetunion den Radius ihrer Interessenund Einflusssphären in den Verhandlungen der Siegermächte bis 1947 immer weiter gezogen: von der «Finnlandisierung» Finnlands und der Kon­trolle der Ausgänge der Ostsee und des Schwarzen Meeres über den nördlichen Balkan, Griechenland und den Nahen Osten bis nach Libyen und Tanger, von Nordiran bis Afghanistan, von der Mandschurei bis zur Annexion der Kurilen und zur Installation von Kim Il Sung, einem Ab­ solventen einer sowjetischen Militärakademie, im Norden Koreas. Das überschritt selbst die Reichweite der überspanntesten Großmachtambi­ tionen des zaristischen Russland, auf dessen historische Titel und An­

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sprüche sich Stalin ohne Scheu jetzt vielfach bezog. Die Sowjetunion sah sich als Siegermacht im Aufwind. Den greisen Molotow ärgerte in seinen Gesprächen als Pensionär mit Feliks Tschujew sogar der Begriff eines «Kalten Krieges»: «Was soll das heißen, ein ‹kalter Krieg›? Zugespitzte Beziehungen! Wir waren in der Offensive, und sie waren erbittert gegen uns  …, überall musste Ordnung geschaffen, der Kapitalismus an die Kandare genommen werden.»10 Im Sinne der klassischen Kriegslehre von Clausewitz war der Westen mit seiner Politik des «containment», der Eindämmung, zweifellos die verteidigende und daher die «angreifende» Seite, von der der Kalte Krieg ausging; erst recht, wenn man den Blick von der nach 1948 mehr oder weniger stillgestellten Situation in Mitteleuropa auf die weltpolitischen Sturmzentren in Ostasien richtet. Dann rückt anstelle des relativ stati­ schen Gegensatzes des östlichen und westlichen Militärblocks vor allem die offensive und zunehmend unabhängige Weltpolitik des maoistischen China ins Zentrum und besteht der angeblich «kalte» aus einer Folge mörderischer «heißer» Kriege.11 Vor allem China war es, das den vietnamesischen Kommunisten unter der Führung Ho Chi Minhs die entscheidende Rückendeckung gab. Der nach 1945 systematisch aufgebauten Untergrundarmee der KP Indo­ chinas, die sich nominell auf eine «Nationale Befreiungsfront» stützte, gelang es unter Führung ihres genialen Strategen, des Generals Giap, Frankreich in einem langen, erbitterten Befreiungskrieg 1954 mit dem spektakulären Sieg in Dien Bien Phu aus ganz Indochina zu verdrängen und eine «Demokratische Republik Vietnam» im Norden des Landes zu errichten. Unmittelbar nach dem Friedensschluss machte die Führung der eben erkämpften Demokratischen Republik im Norden sich daran – trotz oder gerade wegen einer eigenen, schweren Krise durch eine fehl­ gesteuerte, terroristisch durchgeführte Kollektivierungskampagne, die in der Flucht von Hunderttausenden nach Süden kulminierte –, das un­ ter dem Schirm der USA mühsam etablierte, hybride Staatswesen Süd­ vietnams politisch und militärisch zu unterminieren. Am Ende eines dreißigjährigen Krieges gelang es den vietnamesischen Kommunisten, die größte Militärmacht der Welt durch eine schier endlose Kette erbit­ terter Abnutzungsschlachten in eine epochale Niederlage zu treiben. Als die Führung der Demokratischen Volksrepublik Vietnam nach 1975 allerdings daran ging, unter der Patronage Moskaus ihr altes, dis­ kret verfolgtes Reichsprojekt eines sozialistischen «Indochina» in die Tat umzusetzen, war es wiederum Peking, das durch die massive Unterstüt­

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zung der Roten Khmer und nach deren Verjagung aus Phnom Penh durch vietnamesische Truppen 1979/80 in diskreter Absprache mit den USA das zu mächtig gewordene, zu eng an die Sowjetunion angelehnte Vietnam durch eine «militärische Lektion» (eine blutige, massive Inva­ sion der Grenzgebiete) in die Schranken wies. Ungleich kühner und von noch größerer historischer Tragweite war die Art und Weise, in der das kommunistische China, kaum dass es seine Macht etabliert hatte, den Versuch des Führers der nordkoreanischen Kommunisten Kim Il Sung unterstützte, den von US-Truppen gesicher­ ten antikommunistischen Süden Koreas in einer Blitzoffensive im Som­ mer 1950 zu überrennen – ein Unternehmen, das am Rande der Geburts­ tagsfeiern für Stalin in Moskau im Dezember 1949 vereinbart worden war, bei dem Stalin sich aber weitgehend heraushielt. Als der Blitzkrieg Kims im ersten Anlauf scheiterte und zu einer mas­ siven Gegenoffensive der von den USA geführten Interventionsarmee ­unter UNO-Fahne führte, war es wiederum China, das ihr mit einer Mil­ lion «Freiwilliger» – tatsächlich regulären Divisionen der chinesischen «Volksbefreiungsarmee»  – über den Grenzfluss Yalu hinweg auf dem Schlachtfeld frontal entgegentrat. So war der Koreakrieg binnen Kurzem nichts anderes als ein unerklärter, von beiden Seiten ohne Rücksicht auf Verluste geführter Krieg zwischen China und den USA, der den mörde­ rischsten Schlachten des vorangegangenen Weltkriegs in nichts nachstand. Er kostete Hunderttausende von Soldaten und Millionen von Z ­ ivilisten das Leben und ließ ein verheertes und entlang der alten Demarkations­ linie neuerlich geteiltes Land zurück. Das sinnlose Patt, in dem der Krieg endete, war für keinen der Kontrahenten eine Niederlage; aber für die Volksrepublik China ein emblematischer Triumph, insofern ihre Feld­ truppen den massiven Flächenbombardements und atomaren Drohun­ gen des US-Generalstabs (deren neue Hauptwaffe Mao kaltblütig als «Papiertiger» abtat) standhielten. Im Schatten dieses Krieges konnte die UdSSR, die China über die Mandschurei mit Waffen versorgte, durch die Explosion einer Wasser­ stoffbombe im August 1953 ein nukleares Gleichgewicht mit den USA herstellen, das die weltpolitische Lage seinerseits einschneidend verän­ derte. Aus einer gepanzerten Landmacht wurde binnen eines Jahrzehnts nach dem Weltkrieg eine Luftmacht mit Fernbombern und Raketen von stetig wachsender Reichweite, die ab den späten 1950 er Jahren die Ver­ einigten Staaten potentiell zu übertrumpfen und bald auch direkt zu be­

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drohen schien. Damit nicht genug, begann die UdSSR eine Flotte auf die Weltmeere zu entsenden, die schließlich die größte der Welt werden sollte. Zwar entsprang das eher einer Logik der Reziprozität, die in vieler Hinsicht zwanghafte Züge trug, als etwa einer weltrevolutionären Stra­ tegie, wie ihre westlichen Gegenspieler sie als Menetekel an die Wand malten. Aber konnte man das sicher wissen?12 Jedenfalls markierten die ernsthaften Erwägungen im Pentagon und Weißen Haus über den Einsatz von Atomwaffen gegen Nordkorea und China zwischen 1950 und 1952 den ersten Höhepunkt eines hysteri­ schen Antikommunismus, der seine eigene moralische Legitimität immer wieder untergrub. Das heutige Schattenreich Kims III. im atomar aufge­ rüsteten Nordkorea ist gewiss ein Konzentrat aller terroristischen und obskuranten Seiten der kommunistischen Regimes des letzten Jahrhun­ derts und in diesem Sinne ein Monument, das als düsterer Anachronis­ mus ins 21. Jahrhundert hineinragt. Aber es ist eben auch eine Erinne­ rung daran, dass in Korea wie in anderen Ländern Asiens, Afrikas oder Lateinamerikas der mit allen Mitteln einer modernen Militärmacht ge­ führte amerikanische «Krieg gegen den Terror» von einst, der sich gegen die angeblichen Einkreisungsstrategien eines «Weltkommunismus» rich­ tete, in vielen Fällen erst den Weg dieser Parteien zur Macht geebnet oder sie vollends ins Gegenlager getrieben hat – wie 1960/61 das Kuba des Fidel Castro. Die Washingtoner Strategen haben damit vielfach genau den «Domino­ effekt» produziert, um dessen Verhinderung es ihnen ging. Selbst im Er­ folgsfall hat dieser Kampf dort, wo er vorwiegend mit den Mitteln einer Counter-insurgency und gestützt auf reaktionäre Gegendiktaturen ge­ führt wurde, den Stoff geliefert, den eine kommunistische Propaganda brauchte, um zu übertönen und zu übertünchen, was aus den eigenen Verliesen, Lagerkomplexen oder «killing fields» nach draußen drang. In diesem Krieg der Bilder und Informationen haben kommunistische Propagandisten mit ihrer Gegensuggestion einer weltweiten imperialisti­ schen Konterrevolution unter Führung der USA in vielen Ländern der Dritten Welt, aber auch unter beträchtlichen Segmenten der Jugend des Westens in den 1960 er und 70 er Jahren noch einmal Erfolge erzielt, vor allem durch eine demagogische Fusion antiimperialistischer und anti­ faschistischer Motive. Die Vorstellung eines «amerikanischen Faschis­ mus», in dem sich ein fanatischer Antikommunismus mit Rassismus und Lynchjustiz, mit Gefühlskitsch und christlich-fundamentalistischer Bi­ gotterie, mit kapitalistischer Ausbeutung, neo-kolonialer Ausplünde­

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rung und atomarer Vernichtungsdrohung zu amalgamieren schien, konnte in den Augen vieler, dem kommunistischen Lager sonst durchaus fernstehenden Menschen einige Plausibilität gewinnen. Diese Stimmun­ gen fanden im Widerstand gegen die Stationierung von Atomwaffen in Europa und in Asien seit den späten 1950 er Jahren einen Kristallisati­ onspunkt. Dass die neue Weltmachtstellung der USA ihren schlagends­ ten Ausdruck in einer Art globaler Lufthoheit fand, schien mit ­ihrer Rolle als Geld- und Wirtschaftsmacht irgendwie zusammenzupassen. Und dass sie, wie die Bomben auf Hiroshima und Nagasaki gezeigt hatten, zur Verteidigung ihrer Vormachtstellung auch vor der Vernichtung gan­ zer Städte und ahnungsloser Menschenmassen nicht zurückschreckten, so wie sie auch in Korea und dann in Vietnam durch massive Luft­ bombarde­ments ein militärisches Gleichgewicht herstellten, das sie auf dem Boden allein nicht hätten halten können – das alles hatte (und hat) etwas moralisch durchaus Empörendes. Letztlich blieben das für die staatskommunistischen Regime jedoch propagandistische Pyrrhussiege. Die antiautoritären Jugendrebellionen von 1968 mit all ihren lebensweltlichen und schwärmerischen Zügen standen für kommunistische Rekrutierungen älteren Stils nur sehr be­ grenzt oder gar nicht zur Verfügung. Eher waren sie hausgemachte mora­ l­ische Reaktionen auf jene neuen Entwicklungen in der kapitalistischen Welt, die Eric Hobsbawm als ein historisch (fast) singuläres «Goldenes Zeitalter» bezeichnet hat: nämlich eine Periode von rund zwanzig Jah­ ren zwischen 1953 und der Ölkrise von 1973, in der alle Parameter der ökonomischen, sozialen und alltagskulturellen Entwicklung steil nach oben wiesen und eine globale «revolution of rising expectations» auslös­ ten.13 Auf die Frage, wie «dieser außergewöhnliche und unerwartete Sieges­ zug eines Systems  …, das ein halbes Leben lang am Rande des Ruins ­gestanden zu haben schien», des Kapitalismus nämlich, zu erklären sei,14 gesteht Hobsbawm, keine «wirklich zufriedenstellenden Erklärungen» zu haben. Jedenfalls habe in den westlichen Gesellschaften durch alle ­sozialen Auseinandersetzungen hindurch «eine Art Vermählung des wirt­ schaftlichen Liberalismus mit der sozialen Demokratie stattgefunden», ja, der Kapitalismus dieser Periode habe Züge einer «gemischten Wirt­ schaft» angenommen. Dafür, so seine Kernthese, hätten diese Länder ­allerdings «eine entscheidende Anleihe bei der Sowjetunion» machen müssen, nämlich bei ihrer «Idee der wirtschaftlichen Planung», während sie insgesamt durch «die Angst vor dem Kommunismus» zu sozialen

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Kompromissen getrieben gewesen seien.15 Was Hobsbawm zu dem argu­ mentativen Salto mortale verleitet, dass «das dauerhafteste Resultat der Oktoberrevolution … ausgerechnet die Rettung ihres Antagonisten im Krieg wie im Frieden»16 gewesen sei. Fragt sich nur, warum die «Retter» selbst dabei untergingen. Verhielt es sich nicht eher umgekehrt? Angetreten waren die Kommunisten als radikale Anti­ poden zum verfallenden Kapitalismus und parasitären ­Imperialismus der «alten» Mächte des Westens, die mit der Großen De­ pression und dem Konflikt zwischen faschistischen und demokratischen Mächten in eine finale Krise eingetreten zu sein schienen. Nun, in den 1950 er Jahren, mussten die Kommunistischen Parteien und Staatsfüh­ rungen zur Kenntnis nehmen, dass sie es mit einem völlig veränderten welthistorischen Gegner zu tun hatten. Noch in seiner letzten, testamen­ tarischen Schrift «Ökonomische Probleme des Sozialismus» von 1952 hatte Stalin eine ­finale Krise des Weltkapitalismus vorhergesagt, verbun­ den mit dem Szenario eines dritten imperialistischen Weltkriegs zwi­ schen den kapitalistischen Hauptmächten, insbesondere den Besiegten und den Siegern von 1945, der mit dem endgültigen und «gesetzmäßi­ gen» Sieg des Sozialismus im Weltmaßstab enden werde.17 Stattdessen fanden sich die kapitalistischen Hauptmächte des Zeitalters, einschließ­ lich der Besiegten des Weltkriegs, in einem neu formierten atlantisch-pa­ zifischen Lager, einem politischen «Westen» vereint, der zum eigentli­ chen Motor jenes ökonomischen Entwicklungsschubs wurde, der die Wiederaufbauerfolge der sozialistischen Länder fast von Beginn an deut­ lich in den Schatten stellte – und auf diese selbst einwirkte. Damit entwickelte sich das asymmetrische Grundmuster, das den «Kal­ ten Krieg» prägte: Auf der einen Seite ein anscheinend beharrliches, poli­ tisch-militärisch gestütztes Ausgreifen des neuen sozialistischen Lagers und seiner beiden Hauptmächte ins Zentrum Mitteleuropas und nach Ostasien sowie in weite Bereiche der sich entkolonialisierenden Dritten Welt; andererseits ein hysterisch reagierender und aggressiv ausschlagen­ der Westen, der seine demokratischen Stärken und zivilen Attraktionen darüber vielfach vergaß und verriet – obwohl gerade sie längst zum ent­ scheidenden Faktor der Gesamtentwicklung geworden waren und das sozialistische Gegenlager tiefer herausforderten, als das umgekehrt jemals der Fall gewesen war. Tatsächlich hatte diese Asymmetrie sich von Beginn an abgezeichnet. Schon der siegreiche Vormarsch der sowjetischen Armeen bis in die Mitte

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Berlins und die Errichtung eines vorgelagerten Cordons mittelosteuropä­ ischer Volksdemokratien hatte statt des Gefühls gewachsener Sicherheit im Moskauer Zentrum nur neue Schübe phobischen Wahns hervorgeru­ fen, da die Kontaktflächen zum Westen wieder vielfältiger und durch­ lässiger geworden waren. In einer Ersatzhandlung von expressiver Sym­ bolik wurden mit Ausbruch des Kalten Krieges die sowjetischen Juden als ­potentielle Agenten eines westlichen Kosmopolitismus zur jüngsten und womöglich gefährlichsten «feindlichen Nationalität» der UdSSR er­ klärt und damit zum designierten Objekt einer letzten stalinistischen Säu­ berungsaktion.18 Parallel dazu wurde der allzu eigenständige und ehrgeizige Führer der jugoslawischen Kommunisten, Josip Broz Tito, über Nacht exkommuni­ ziert und zum «Trotzkisten» und «Faschisten» umdeklariert. In sämt­ lichen Vasallenrepubliken Mittelosteuropas wurden zwischen 1949 und 1953 unter der direkten Regie sowjetischer Geheimdienstoffiziere die schmalen Schichten loyaler Führungskader, insbesondere die aus dem westlichen Exil Zurückgekehrten, in einer gespenstischen Neuauflage der Moskauer Schauprozesse und Säuberungen der 1930 er Jahre auf ­angebliche «Titoisten» oder «Zionisten» hin durchkämmt und blutig ge­ säubert. Diese Hexenjagden kann man als eine unmittelbare Parallele zur ame­ rikanischen Spionagefurcht und Gesinnungsinquisition dieser Jahre be­ trachten – als die von Senator Joseph McCarthy initiierten Verhöre vor dem «Committee for Un-American Activities» Hollywood-Regisseure, Schriftsteller und hohe Ministerialbeamte des Landes sowie eine Reihe bekannter Emigranten aus Nazi-Deutschland wie Bertolt Brecht und so­ gar Thomas Mann unter den Verdacht stellten, sich als kommunistische Sympathisanten (die sie teilweise auch waren) «subversiv» und «illoyal» verhalten zu haben. Aber diese Parallele enthüllt sofort auch den entschei­ denden Unterschied, der nicht nur in der Existenz einer demokratischen Öffentlichkeit lag, sondern auch darin, dass die Infiltration, insbeson­ dere des Washingtoner Außenministeriums während und nach dem Welt­ krieg, ebenso wie die Atomspionage durch das Ehepaar Rosenberg (das 1950 dafür hingerichtet wurde) und den rechtzeitig geflohenen Klaus Fuchs sowie eine ganze Gruppe professioneller Agenten und Helfer sehr real und erfolgreich waren. Dagegen waren die «titoistischen» oder «zionistischen Komplotte» der 1949 bis 1952 in großen Schauprozessen vorgeführten, zu «Geständnis­ sen» gezwungenen und hingerichteten ungarischen, bulgarischen, rumä­

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nischen und tschechoslowakischen Kommunisten ein paranoides oder zynisches Konstrukt; erst recht galt das für die nach einem Geheimpro­ zess im Oktober 1952 erschossenen letzten Mitglieder des «Jüdischen Anti­faschistischen Komitees» der Sowjetunion oder für die gefolterten Kreml-Ärzte in Moskau (die nur durch Stalins Tod im März 1953 mit dem Leben davonkamen). Vieles deutete darauf hin, das der siebzigjäh­ rige Stalin, der sich offiziell einer eisernen Gesundheit erfreute, eine neue, allerletzte Säuberung vorbereitete, die ebenso blutig hätte werden kön­ nen wie die frühere, und die sich selbst gegen seine engsten Mitarbeiter und ältesten Gefährten richten sollte. Zwar endeten diese Terrorpraktiken mit dem Tod Stalins und mit der Verhaftung und Erschießung Berijas nach und nach. Aber die Streiks und Rebellionen in Ostberlin und der gesamten DDR im Juni 1953 und erneut dann die Unruhen und Aufstände in Polen und Ungarn im Som­ mer und Herbst 1956 signalisierten – nach den Enthüllungen Chrusch­t­ schows auf dem XX. Parteitag der KPdSU – bereits Erschütterungen, die weitaus tiefer gingen, als die unter massivem Einsatz sowjetischer Streit­ kräfte konsolidierte Lage verriet. Spätestens 1957 begannen die ersten «revisionistischen» Reformdiskussionen in Polen und in der Sowjet­ union, die den Rahmen der Parteigremien sehr bald überschritten. Gleich­ zeitig sprangen überall autonome Jugendkulturen und ausstrahlende künstlerische Milieus ins Leben, die in den 1960 er Jahren eigene, trans­ nationale Verbindungsfäden zwischen Moskau, Kiew oder Leningrad bis nach Riga, Warschau, Prag und Berlin spannen. Vielfach waren diese Kontakte auch vermittelt über Verbindungen zu den westlichen Kommunistischen Parteien, die ihrerseits in parteiinterne Auseinandersetzungen verstrickt waren und sich den kritischen philoso­ phischen oder literarischen Debatten ihres sympathisierenden Umfelds nicht entziehen konnten. Gerade hier, an der westeuropäischen Periphe­ rie, in Kernländern wie Frankreich oder Italien, in denen die Kommunis­ tischen Parteien nach dem Weltkrieg durch ihr reales oder symbolisches Prestige als kämpferische Antifaschisten und Helden der ­Résistance noch einmal einen spektakulären Aufschwung mit Hunderttausenden neuer Mitglieder erlebt hatten, verwandelten sich alle Zuwächse und Er­ weiterungen des «sozialistischen Weltlagers» fast sofort in ebenso viele Komplikationen und Risse  – wie sich 1968 während der Jugendrebel­ lionen und Bürgerbewegungen in Warschau und Prag, Westberlin oder Paris, Mailand oder Belgrad deutlich erwies.

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In irreversibler Weise begann der Kommunismus als Weltbewegung sich gerade in seinem ursprünglichen Quellgebiet, im westlichen Europa und Westdeutschland, in häretische und dissidente, zwischen Revolution und Reform schwankende Seiten- und Unterströmungen, in Splitter- und Rumpfparteien zu verwandeln, von der Kritischen Theorie bis zum aka­ demischen Marxismus, vom reformerischen Eurokommunismus über den aktivistischen Neotrotzkismus bis zum radikal schicken oder purita­ nisch strengen Maoismus westlichen Zuschnitts, von pazifistischen Anti­ atombewegungen bis zur Amok laufenden «Rote Armee-Fraktion», der RAF. Auf den überall herumstehenden Tapetentischen lagen in diesem langen «Roten Jahrzehnt» in raubgedruckten Reprints oder in regulären Editionen großer Verlage sämtliche Kapitalismuskritiken und Revoluti­ onstheorien des 19. und 20. Jahrhunderts pluralistisch versammelt, die der Klassiker des Marxismus und Leninismus ebenso wie die der Abtrün­ nigen oder Verstoßenen. Freilich, was wie ein großes neokommunisti­ sches Revival aussah, war am Ende doch eher ein letzter Kehraus.19 Ähnlich, allerdings mit gerade umgekehrter Tendenz, verhielt es sich mit der östlichen Peripherie des erweiterten sozialistischen Weltlagers. Hier war es vor allem die KP Chinas unter der Führung Mao Tse-tungs, die sich beim Welttreffen der Kommunistischen und Arbeiterparteien im November 1957 in Moskau zur Kritikerin der von der sowjetischen Bru­ derpartei unter Chruschtschow betriebenen, vorsichtigen Entstalinisie­ rung und der Politik einer «friedlichen Koexistenz» mit den westlichen Imperialisten aufschwang. Mao zitierte seine aus dem Koreakrieg stam­ mende Parole «Die Atombombe ist ein Papiertiger» und unterstrich sie mit Berechnungen, die seinen nicht gerade zartbesaiteten Zuhörern wohl das Blut in den Adern gerinnen ließen: wonach bei einem Atomkrieg vielleicht die Hälfte der 2700 Millionen in der Welt lebenden Menschen sterben – aber die andere Hälfte überleben, sich bald wieder verdoppeln und den Imperialismus in Grund und Boden stampfen werde.20 Wenn Mao vor diesem Forum als weltrevolutionäres Credo verkündete: «Der Ostwind besiegt den Westwind»  – dann war das eben nicht nur eine doktrinäre Differenz, sondern eine direkte Herausforderung der sowjeti­ schen Vormacht. Der «Ostwind», das war jetzt vor allem das aufstre­ bende China an der Spitze aller «jungen», nach Unabhängigkeit streben­ den, blockfreien Völker und Nationen. Diese Kritik Pekings verdichtete sich binnen weniger Jahre bereits zum kategorischen Verdikt eines sowjetischen «Revisionismus», also eines offenen Verrats an der sozialistischen Weltrevolution überhaupt. Damit

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nicht genug: Im Zeichen des entbrennenden neuen Kriegs in Indochina steigerten sich die Pekinger Polemiken bis zum expliziten Vorwurf einer Komplizenschaft Moskaus mit Washington gegen die Völker der Dritten Welt, nur um sich in einer nochmaligen Steigerung zum Vorwurf eines moskowitischen «Sozialimperialismus» zu verdichten, der potentiell noch aggressiver und gefährlicher sei als der US-Imperialismus – während die Ideologen des Kreml das globale Abenteurertum und die Sozialprakti­ ken der chinesischen Führer im Gegenzug als einen neuen «Sozialfaschis­ mus» brandmarkten und Mao an die Seite Hitlers rückten. 1969 schie­ nen beide Mächte sich bei ihren eskalierenden Grenzkämpfen am Ussuri am Rande eines großen, womöglich atomar geführten Kriegs zu bewe­ gen. Selbst für die Beteiligten waren hysterische Erregungen und reale Konflikte nicht mehr klar unterscheidbar. In ganz China wurden fieber­ haft Tunnels und Luftschutzbunker für den Fall eines atomaren Kon­ flikts mit der Sowjetunion gegraben. So war es nur scheinbar paradox, dass ausgerechnet das aus seinen kulturrevolutionären Wirren wieder auftauchende maoistische China (parallel zu einem angeblich von der UdSSR angestifteten Staatsstreich­ versuch des entthronten Mao-Nachfolgers Lin Piao) im Sommer 1971 auf den subtilen Pfaden einer Ping-Pong-Diplomatie eine neue, eigene Verbindung zu den USA suchte und die Europäische Gemeinschaft zu umwerben begann. Im April 1972 stieß US-Präsident Richard Nixon be­ reits mit Ministerpräsident Tschou En-lai in Peking auf eine Ära neuer, guter Beziehungen an. Einem Globalstrategen wie Henry Kissinger hatte es schließlich nicht entgehen können, dass hinter dem Rauchvorhang der Ideologiedebatten zwischen der KPdSU und der KP Chinas zugleich auch Kämpfe um die Führungsrolle innerhalb der Bewegung der Blockfreien und einer sich ausdifferenzierenden Dritten Welt ausgetragen wurden, die Züge eines multipolaren Mächtespiels älteren Typs annahmen, und was Moskau, Peking und Washington selbst betraf, ein neues, weltpoli­ tisches Dreieck ergaben.

Chinas großer Sprung ins Chaos Mit dem 1964 programmatisch vollzogenen Schisma, das in einer Serie von neun Bannbriefen aus Peking formuliert wurde, trennten sich die Wege der beiden Hauptmächte des Weltkommunismus auf exemplari­ sche Weise. Die theoretischen Formeln sollten in prinzipieller und ab­

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schließender Manier die gegensätzlichen Strategien umreißen, mit denen die Führer beider Länder jeweils auf jenen «‹Großen Sprung nach vorn› der kapitalistischen Weltwirtschaft» reagierten, von dem Eric Hobsbawm (nicht als Mitglied der KP Großbritanniens in jener Zeit, sondern als Historiker) rückblickend gesprochen hat.21 Sie setzten damit zugleich aber auch innerparteiliche Konflikte in Gang, die ihre eigene selbstzerstörerische Dynamik entwickelten. Der neunte und letzte Bannbrief Maos gegen den «Pseudokommunismus Chruscht­ schows» enthielt bereits die Grundzüge der Verdikte, die wenig später ge­ gen den eigenen Regierungschef Liu Shao-chi und alle Partei­kader und Technokraten, «die den kapitalistischen Weg gehen», erhoben wurden.22 Die ganze chaotische Sequenz der Umbrüche Chinas in seiner maois­ tischen Hochphase zwischen 1957 und 1976 ist bis heute in Vielem rät­ selhaft geblieben. Zwar könnte man in abgewandelter Reihenfolge fast alle Phasen der früheren sowjetischen Entwicklungen sich auf verwir­ rende Weise wiederholen sehen – aber weniger im Sinne einer dogmati­ schen Nachahmung als im Sinne ähnlich wirkender Handlungslogik und Prozessdynamik. Die ersten, Millionen «konterrevolutionäre Elemente» erfassenden Ter­ ror- und Säuberungskampagnen in den urbanen Zentren Chinas Anfang der 1950 er Jahre hatten noch wie eine Verlängerung des Bürgerkriegs ­gewirkt. Darin hatte die Jagd auf tatsächliche oder angebliche Unter­ grundaktivisten der Kuomintang sich mit Kampagnen gegen das organi­ sierte Verbrechen, Rauschgift und Prostitution, dekadente, bürgerliche Lebens­stile usw. praktisch und propagandistisch verbunden. Die relativ maßvolle und erfolgreiche Politik der Bodenreform und des Genossen­ schaftswesens gegenüber Bauern, Kleinhändlern, Handwerkern und die Konzessionen für patriotische Fabrikanten und selbst ausländische Kon­ zerne trugen dagegen fast Züge einer «Neuen Ökonomischen Politik» und sorgten, ähnlich wie dreißig Jahre zuvor in Sowjetrussland, für eine gewisse Erholung. Aber aus ganz ähnlichen Motiven wie bei Stalins «Großem Um­ schwung» 1929 leitete Mao bereits 1955/56 eine Phase forcierter Enteig­ nungen und Kollektivierungen ein, vor allem durch die Etablierung der «Volkskommunen», die vorerst noch eher Kolchosen als Sowchosen ­ähnelten. Im April 1956, schon mit Blick auf das «Tauwetter» in der ­Sowjetunion und Osteuropa und zugleich im Rückblick auf eine jüngst entfesselte Kampagne gegen «Versteckte Konterrevolutionäre» (auch in­ nerhalb der Partei), erklärte Mao vor einer Versammlung von Partei­

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kadern: «Dass wir in der Vergangenheit zwei, drei Millionen (Konter­ revolutionäre) getötet, eingesperrt oder überwacht haben, war ausge­ sprochen notwendig  … Heute sind die Konterrevolutionäre weniger ­geworden, doch man muss zugeben, dass es noch Konterrevolutionäre gibt. Man muss seine Zustimmung geben, dass auch in diesem Jahr ­einige getötet werden. In Behörden und Schulen ist zu säubern, man darf nicht erschlaffen, sondern muss harte Arbeit leisten.»23 Zwei, drei Mil­ lionen waren offensichtlich nicht sehr viele. Diese Reden und Direktiven Maos zirkulierten in einem zweiten, ­internen Kreislauf, der mit den offiziell veröffentlichten Texten nicht identisch war – und noch immer nicht vollständig zur Verfügung steht, der heutigen chinesischen Historiografie und Öffentlichkeit noch weni­ ger als der internationalen Forschung. Aus Gründen, über die man nur spekulieren kann, verkündete Mao Anfang 1957 (möglicherweise mit Blick auf die Gärungen in Osteuropa) ein eigenes, kurzes Tauwetter. Seine Losung von den «Hundert Blumen», die auf dem Feld der sozialistischen Kultur ab jetzt blühen durften, konnte von Ferne an die Versprechen der Stalin’schen Verfassung von 1936 erinnern – und mündete nach dem gleichen Muster in einer neuen, gewaltsamen Säuberungsorgie gegen loyale, aber kritische Intellektuelle und eine angebliche «rechte Abweichung» in der Partei. Tatsächlich hatte Mao vor Provinz-Parteisekretären das Ziel von Anfang an offen­ gelegt, als er sagte, diese «Hundert Blumen»-Kampagne werde die Partei letztlich stärken: «Auf den Feldern wachsen zwei Arten von Pflanzen: Getreide und Unkraut … Wenn ihr sagt, nur duftende Blumen dürfen blühen, aber giftiges Unkraut dürfe nicht wachsen, dann könntet ihr ge­ nauso gut verlangen, dass auf den Feldern nur Getreide, aber kein einzi­ ges Unkraut wachsen solle … Das Unkraut hat einen Vorteil – unterge­ pflügt wird es zu Dünger.»24 Schon nach wenigen Monaten begannen unter Leitung Deng Xiaopings Repressionen, durch die Zehntausende von Parteikadern, Wissenschaftlern und Intellektuellen ihre Stellung ver­ loren, verschickt oder auch physisch «untergepflügt» wurden. Der Ende 1958 proklamierte «Große Sprung nach vorn» wirkte in vie­ ler Hinsicht wie eine Reprise der Stalin’schen Politik des «Großen Um­ schwungs» 1929/30, appellierte im Unterschied zu den zentralistischen sowjetischen Fünfjahrplänen aber in extrem voluntaristischen, mytholo­ gisch umwitterten Wendungen an die revolutionäre Selbsttätigkeit der Massen und lokalen Funktionäre und an ihre Fähigkeit, «Berge zu ver­ setzen». Diese Politik diente nicht nur dazu, China von sowjetischer

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Wirtschafts- und Militärhilfe unabhängig zu machen; sie war zugleich auch ein Versuch, die Kollektivierungs- und Industrialisierungskam­ pagne der 1930 er Jahre und den Nachkriegsaufbau der UdSSR spekta­ kulär zu übertreffen. Parallel zu Chruschtschows waghalsiger, nach einem Besuch in den USA 1958 verkündeter Parole vom «Einholen und Über­ holen» erklärte nun auch Mao, dass China mit seinem «Großen Sprung» bald schon Großbritannien und in naher Zukunft auch Amerika hinter sich lassen werde – und damit dann ebenso die UdSSR.25 In einer monumentalen Mobilisierung aller Kräfte und Ressourcen sollten ländliche Großprojekte (vor allem mit äußerstem Arbeitseinsatz errichtete Straßen- und Wasserbauten) für sprunghaft steigende Ernten sorgen, während eine improvisierte Industrialisierung von unten, deren emblematischer Ausdruck Zehntausende untauglicher «Volkshochöfen» waren, die Grundlagen einer ebenso sprunghaft gesteigerten Stahl- und Eisenproduktion und damit einer eigenständigen Schwerindustrie liefern sollte. Gleichzeitig wurden die gerade erst gegründeten Volkskommu­nen zu riesigen Einheiten mit einem radikal kollektivierten Arbeits- und Le­ bensregime zusammengefasst. Das Resultat war, wie in der Sowjetunion am Ende der Kollektivierung, die größte Hungersnot seit Menschen­ gedenken, die nach verschiedenen Schätzungen etwa 30–40  Millio­nen Menschen in den zentralchinesischen Gebieten das Leben gekostet haben dürfte.26 In China selbst durfte, wie in der Sowjetunion 1932/33, darü­ ber nicht berichtet und gesprochen werden. Bis heute ist es verpönt, die­ sen toten Vorfahren ein Grabmal des Gedenkens zu errichten, und wäre es in Form persönlicher Erinnerungen und Berichte.27 Während Mao sich angesichts des offenkundigen Desasters grollend zurückzog und halb entmachtet schien, leiteten Ministerpräsident Liu Shao-chi und sein Stellvertreter Deng Xiaoping eine Phase vorsichtiger Rückzüge und einer sozialökonomischen Regeneration ein, die – trotz der 1962 abrupt eingestellten sowjetischen Wirtschaftshilfe  – binnen zwei Jahren zu positiven Veränderungen führten. Gerade diese innere Entspannung war es wiederum, die Maos kunstvoll komponierten Ge­ genschlag herausforderte. Die 1965/66 entfesselte «Große Proletarische Kulturrevolution» war zu­ nächst ein handfester, allerdings sehr einseitig geführter Machtkampf ­innerhalb der Führung von Partei und Staat, bei dem am Ende auch Maos älteste und treueste Kampfgefährten vor dem völlig unberechen­ bar gewordenen, in eine gottgleiche Position entrückten Revolutionsfüh­

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rer zittern mussten und nacheinander abserviert wurden. Mao zerschlug mit einer ähnlichen Radikalität wie Stalin im Großen Terror, allerdings mit anderen Mitteln, nicht nur einen Großteil seines konsolidierten Par­ teikaders, sondern ebenso das Korps der sozialistischen Fachleute und stellte mit Hilfe einer informellen Hofkamarilla um seine exzentrische Gattin Tschiang Tsching, die sich selbst zur Kulturdiktatorin erhob, ein unmittelbares, hypercharismatisch aufgeladenes Verhältnis zu den jugend­ lichen und proletarischen «Massen» her. Er selbst hatte diese «Kulturrevolution» mit einer internen Kritik an dem Theaterstück «Die Entlassung des Hai Jui», eines kaiserlichen Be­ amten, eröffnet  – einem Stück, das, wie jeder wusste und Mao selbst ­unverblümt sagte, eine historisch verkleidete Parabel auf die Verbannung des Marschalls Peng Tehuai, des Helden des Korea-Kriegs und Verteidi­ gungsministers, wegen dessen offener Kritik an Maos Politik des «gro­ ßen Sprungs» 1959 darstellte. Der Autor Wu Han war sogar zum stell­ vertretenden Bürgermeister Pekings ernannt worden. Als Mao sich mit seiner Forderung nach einem Verbot nicht durchsetzte, schleuderte er im April 1965 einen Bannfluch gegen alle, die für die Kulturpolitik zustän­ dig waren – in einer Sprache, die der Auseinandersetzung selbst ­etwas Literarisch-Phantastisches verlieh: «Das Propagandaministerium ist der Palast des Höllenkönigs. Es ist notwendig, den Palast des Höllenkönigs zu stürzen und die kleinen Teufel freizulassen! Ich habe immer gesagt, dass es notwendig ist, die lokalen Autoritäten zur Rebellion aufzurufen, wenn die Zentralregierung falsch handelt  … Überall in den Regionen braucht es jetzt kluge Affenkönige vom Schlag Wu-Kungs, die im Palast des Höllenkönigs Unruhe stiften.»28 Diese metaphorischen Anspielungen waren dem klassischen chinesi­ schen Roman «Die Reise in den Westen» entlehnt, in dem der weise Mönch, der nach Indien fährt, um die Schriften des Gautama Buddha zu suchen, von einem Affen mit übernatürlichen Gaben, der sogar den Himmel selbst in Aufruhr versetzen kann, begleitet wird.29 Zugleich ­zitierte Mao damit aus einem seiner eigenen Gedichte von 1961, das mit den Versen endete: «Doch der weise Affe nimmt nur ein Haar und er siegt. / Lob und Preis seiner richtigen Lehre, / selbst das Schwein über­ windet seine Unwissenheit.»30 Nur allzu deutlich war Mao darin der weise Affe und Chruschtschow das dumme Schwein. Der Appell an die vielen klugen Affen und kleinen Dämonen, die den «Palast des Höllenkönigs» niederreißen sollten, fand ein  – für Mao selbst unerwartetes – Echo unter der Jugend. Noch im Jahr zuvor hatte

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er Edgar Snow, der mit «Roter Stern über China» 1938 seinen Ruhm in der westlichen Welt begründet hatte, sehr offenherzig seinen Pessimis­ mus mitgeteilt: Dass diese Jugend «noch niemals einen Krieg gekämpft … und nie den Kapitalismus an der Macht erlebt» habe und deshalb wo­ möglich erschlafft sei und «die Revolution verleugnet».31 Manches spricht dafür, dass diese Befürchtung bei einer friedlichen, reformerischen Ent­ wicklung des Landes auch vollkommen gerechtfertigt war. Wenn, dann lieferte die Kulturrevolution, die sehr bald Züge eines wahren Hexensab­ bats annahm, ein neues, weiteres Beispiel dessen, was sich in der bolsche­ wistischen Machteroberung schon gezeigt hatte: nämlich dass es möglich ist, Energien zu entfesseln, deren Quellen gerade nicht im «Sozialen» lie­ gen, entgegen allzu schlichten totalitarismustheoretischen Auffassungen aber auch nicht einfach im «Ideologischen», sondern in einer Mixtur sehr unterschiedlicher Affekte, Interessen und Ambitionen. War der Appell an die «Kleinen», die «klugen Affen», vor allem ein Aufruf an die Jugend, so war der erste und entscheidende Schritt doch die Mobilmachung der Armee durch den engsten Gefolgsmann Maos, Marschall Lin Piao, der sich selbst als seinen designierten Erben sah und im Jahr zuvor das «Rote Buch» kompiliert hatte. Es bestand aus einer Sammlung von Mao-Zitaten, die die Soldaten morgens beim Appell und abends in den Schulungen unablässig, geradezu sklavisch, zu rezitieren hatten. Lin Piao malte (wie Jeshow 1936/37) das Gespenst eines überall lauernden «konterrevolutionären Staatsstreichs» an die Wand und mobi­ lisierte die gesäuberte Armee, während gleichzeitig Mao-treue Jugend­ liche in sorgsam instrumentierten Kampagnen aufgefordert wurden, ­gegen die «alten Autoritäten» zu rebellieren und Wandzeitungen anzu­ schlagen – die erste in der Pekinger Universität im August 1966. Darin wurde eine «finstere Bande, die einen wütenden Angriff auf die Partei, auf den Sozialismus und die Lehren Mao Tse-tungs unternommen hat», angeprangert, und die «revolutionären Massen» wurden aufgerufen zu einem «Kampf auf Leben und Tod». Mao adelte diese erste Wandzeitung sogleich als das «Manifest der chinesischen Pariser Commune des 20. Jahrhunderts» und verlangte ihre Verbreitung im ganzen Land. Worum es eigentlich ging und gegen wen der Angriff sich letztlich richtete, war noch nicht klar. Aber das Zentral­ komitee, unter scharfen Druck gesetzt, stimmte zu, alle Schulen und Universitäten für ein halbes Jahr zu schließen, um «die Kulturrevolution erfolgreich zu Ende zu führen». Die chinesische gebildete Jugend war damit in toto aufgefordert, sich «mit Politik zu befassen» und einen

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«Kampf auf Leben und Tod» gegen ominöse Verschwörungen und dämo­ nische «Rindsteufel» und «Schlangengeister» zu entfesseln, die man durch die Kampagnen selbst erst hervortreiben musste. Von vornherein wurde diese «Große Proletarische Kulturrevolution», wie sie bald rituell hieß, als ein Triumph der Jugend proklamiert, deren Aufgabe es sei, die «vier Alten» zu zerstören (die alten Ideen, die alte Kultur, die alten Sitten und die alten Lebensweisen). Als Ziele der Atta­ cken wurden eine «revionistische Clique alter Männer», «alte Herren, die dem Weg des Kapitalismus folgen», oder «alte Tröpfe aus der Klasse der Großgrundbesitzer» ausgedeutet. Tatsächlich war der Chefeinpeit­ scher aller Massenaufmärsche der Rotgardisten eben Verteidigungsminis­ ter Lin Piao, assistiert von Maos Sekretär und Ghostwriter Tschen Po-ta und dem reaktivierten Chef der Geheimpolizei aus Jenaner Zeiten, Kang Sheng. Hinzu trat Maos Gattin Tschiang Tsching, die sich zur Schöpfe­ rin einer neuen, revolutionären Massenkultur und obersten Bilderstür­ merin aufwarf. Dies war das oberste Direktorium der Kulturrevolution, Maos Küchenkabinett. Wenn Lin Piao im Vorwort des «Roten Buches» die Mao Tse-tung-Ideen als eine «geistige Atombombe von unermesslicher Macht» pries, dann war das eine beunruhigende und zugleich realistische Metapher: Tat­ sächlich trug die «Kulturrevolution» Züge einer psychischen und geis­ tigen Kernspaltung der jugendlichen Massen, die – unter der Regie der Armee – jetzt begannen, in endlosen Zügen das Land zu durchziehen, um «Propaganda unter den Massen» zu treiben, zunehmend in Form ­inszenierter und brutalisierter Tribunale. Die mit Schandhüten, Schmäh­ plakaten und geschwärzten Gesichtern erniedrigten, auf die Tribünen geschleppten, durch das Ausharren in qualvoll gebeugten Posen gefolter­ ten «alten Herren» und «alten Tröpfe» waren Parteikader der ersten Stunde, Fachleute, Verwaltungsbeamte, Rektoren und Professoren, Künst­ ler oder «Konkubinen». Aber es war auch eine Art «sozialer Kernspaltung», vorangetrieben durch einen Revanchismus der Nachkriegs- und Nachrevolutionsgenera­ tion gegen die Übermacht der Väter (der «alten Kader»), ein Kinderkreuz­ zug, in den sich freilich viele andere Motive, durchaus auch emanzipato­ rische, mischten, so etwa bei den jungen, rechtlosen Wanderarbeitern in den Städten oder bei den vielen Schulmädchen und jungen Frauen, die vielfach vorneweg dabei waren, auch wo es um physische und psychi­ sche Misshandlung ging. In maoistischer Formelsprache wurden reale

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Beschwerden und Anliegen vorgetragen, für die es demokratische Aus­ drucksformen oder institutionelle Kanäle (wie Studentenvertretungen, Gewerkschaften oder Bauernvereinigungen) eben nicht gab. Aber «spon­ tan» war diese ganze Bewegung nur in einem sehr eingeschränkten Sinne. Es war vor allem eine planvolle Entfesselung adoleszenter Ener­ gien von oben und letzten Endes eine gigantische Demonstration der Missbrauchbarkeit der Jugend. Schließlich kämpften Tausende von Rotgardistengruppen gegeneinan­ der, schufen sich eigene Abzeichen und eigene «Hauptquartiere» und suchten sich gegenseitig anzuschwärzen oder abzuschlachten. (Einer, der bei einem solchen Überfall knapp mit dem Leben davonkam, war der heutige Parteichef und Sohn eines gestürzten Parteiführers und «schwar­ zen Elements», Xi Jinping.) Aber auch ganze Armeeeinheiten spalteten sich 1967 ab und lieferten einander Artillerieduelle. Betriebe stellten Selbstschutzeinheiten auf und kämpften gegen Rotgardisten oder gegen die Armee. Viele der Rotgardistengruppen, die aufs Land zogen (alle durf­ ten die Verkehrsmittel frei benutzen), warfen sich in den Dörfern zu loka­ len und regionalen Machthabern auf und trafen nicht selten auf ­erbitterten und gewaltsamen Widerstand. Wie noch in jedem früheren chinesischen Bürgerkrieg fanden die bizarrsten Massaker statt. Täglich trieben «Flöße» aneinandergebundener, verstümmelter Leichen den Perl­fluss hinunter und wurden vor Hongkong angeschwemmt; nur so erfuhr die Welt etwas über die Gewaltsamkeit der «kulturrevolutionären» Wirren. Aber worum es bei allen diesen Kämpfen und Massakern letztlich ging, hätte niemand so recht sagen können, die Beteiligten am aller­wenigsten. Alle traten ja unter roten Fahnen an, und alle schwenkten das Rote Buch. Denn die «Kulturrevolution» war zugleich auch eine ungeheuerliche geistige Monokultur, wie es sie historisch so vielleicht niemals gegeben hat, auch nicht in der Sowjetuion. Nicht nur dass die Auflagen der Mao-Schriften ins Astronomische stiegen – 740 Millionen Exemplare des «Roten Buchs» (1 Exemplar pro Person), 150 Millionen der «Ausgewähl­ ten Werke» in vier Bänden (eine Ausgabe pro Haushalt), 100 Millionen «37 Gedichte» Maos (für die gesamte Schuljugend) sowie zwei Milliar­ den seiner Schriften in Einzelbroschüren, vor allem die von Lin Piao aus­ gewählten «Drei ständig zu lesenden Artikel».32 Alle mussten in der Lage sein, für alles, was sie taten oder ließen, ein passendes Zitat zu finden. Gleichzeitig wurden unter der Anleitung Tschiang Tschings durch ­eigens zusammengestellte Gruppen von Musikern, Schauspielern, Tän­ zern und Regisseuren vier revolutionäre Musteropern entwickelt, die das

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klassische Medium der «Peking-Oper» einer künstlerischen Transfor­ mation unterzogen und die Melodien beliebter Arien bewahrten, aller­ dings mit neuem, revolutionärem Text versahen. Daneben gab es noch zwei revolutionärem Balletts, beide zu «feministischen» Themen («Das rote Frauenbataillon» und «Das weißhaarige Mädchen»), sowie ein Kla­ vierkonzert («Der gelbe Fluss») und ein Figurentheater («Hof für Pacht­ einnahmen»). Schließlich gab es ein gutes Dutzend im Chor zu singender «roter Lieder» wie «Der Osten ist rot» und «Für die Seefahrt braucht man einen Steuermann». Das war im Großen und Ganzen, was von einer der ältesten Weltkulturen übrig blieb – während die Werke der klassi­ schen und modernen chinesischen Kunst und Literatur und erst recht die der gesamten übrigen Weltkultur über Jahre hinweg ausgesondert oder unter Verschluss genommen wurden. Die Kulturrevolution endete schließlich 1968 damit, dass das Gros der autonomen Rotgardisten- und Rebellengruppen von der Armee zusam­ mengetrieben wurde, um zusammen mit den «bürgerlichen Überresten» der städtischen Bevölkerung zu Millionen aufs Land verschickt zu wer­ den. Sie wurden entlegenen Volkskommunen zugewiesen oder in kargen Gebieten regelrecht ausgesetzt. Der ernste Hintergrund: Es waren bereits wieder Hungersnöte ausgebrochen, und die Produktion war in fast allen Sektoren der gewerblichen Wirtschaft zurückgegangen. Erst in den 1980 er Jahren setzte eine anfangs illegale, dann ab 1988 legale Rückwanderer­ bewegung der deportierten Rotgardisten ein – eine verlorene Generation wie kaum eine andere. Der «Große Sprung» und die «Proletarische Kulturrevolution» markie­ ren den Höhe- und zugleich den Schlusspunkt einer in der Geschichte des 20. Jahrhunderts fast beispiellosen Reihung bürgerkriegsartiger revolu­ tionärer Erschütterungen. Für die Periode von 1900 bis 1949 hat man eine Zahl von 18,6 Millionen Menschen errechnet, die aus primär poli­ tischen Ursachen umkamen, wobei die Forscher den größeren Teil dieser Opfer den barbarisch herrschenden Warlords sowie der Kuomintang ­zugeschrieben haben, den Kommunisten etwa 3,5 und den Japanern 4,0 Millionen. Dazu kamen, vor allem im Weltkrieg, 95 Millionen Men­ schen, die zu Flüchtlingen im eigenen Land wurden. Noch weitaus mehr Menschen starben durch Hungersnöte, Seuchen, durch eine endemische kriminelle Gewalt auf dem Land wie in den Städten sowie durch die wie­ derkehrenden Naturkatastrophen. Insgesamt ergibt das eine Bilanz von 42 Millionen Toten.

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Die Gründung der Volksrepublik setzte diesen Bürgerkriegen und äu­ ßeren Aggressionen ein Ende, aber nur um einen neuen Zyklus einseitiger staatlicher Gewaltexzesse zu eröffnen. Zwischen 1949 und 1987 sollen noch einmal über 35 Millionen Menschen Opfer politisch begründeter Gewalt geworden sein, zu denen die 27  Millionen Hungertoten von 1959–1961 (zumindest teilweise) hinzuzurechnen wären, insgesamt etwa 62 Millionen Menschen. Auch wenn solche Angaben bestenfalls begrün­ dete Schätzungen sind, handelt es sich alles in allem «um einen der größ­ ten Fälle von ‹Demozid› im 20. Jahrhundert», vergleichbar nur mit dem russisch-sowjetischen Parallelfall.33 Allerdings muss immer bedacht werden, dass das Mörderische der ­unter dem Sammeltitel von «Bürgerkrieg» und «Revolution» gefassten sozialen Eruptionen nur teilweise das Ergebnis organisierter staatlicher, polizeilicher oder militärischer Gewalt war. Gerade in China gehörten auch «spontane» Gewaltexzesse mit ins Bild, von den Bandenzügen und Gangsterkriegen der 1920 er und 1930 er Jahre bis zu den exzessiven, viel­ fach «wilden» Mordaktionen der maoistischen Agrarrevolution oder den sektiererischen Folter- und Tötungszeremonien der Kulturrevolution. Geschichte lässt sich allerdings nicht auf Opferbilanzen und Sozial­ katastrophen reduzieren. Schließlich gehört es zu den verstörendsten Seiten der europäischen Geschichte im 20. Jahrhundert, dass selbst in der Periode der Weltkriege und Bürgerkriege, wirtschaftlicher Depressi­ onen und faschistischen Regimes bedeutende sozialökonomische, kultu­ relle oder wissenschaftliche Entwicklungen zu verzeichnen sind. Nicht anders im zerrissenen China der Republikzeit von 1911 bis 1949, dessen Lage inmitten aller Kriegs- und Bürgerkriegswirren keineswegs so aus­ sichtslos war, wie insbesondere die kommunistische Historiografie sie später gezeichnet hat.34 Und auch in den Jahrzehnten des maoistischen Regimes gab es Entwicklungen, die für das machtvolle industrielle Wachsen des Landes ab den 1980 er Jahren tragend gewesen sein dürf­ ten: ein etablierter staatlicher Rahmen; Leistungen für die Infrastruktur; ein (wenn auch wenig urbanes) Wachstum der großen Städte; eine ele­ mentare Gesundheitsversorgung und allgemeine Schulbildung; sowie als vermutlich bedeutendstes sozialkulturelles Faktum die Verschiebungen in den überkommenen Generations- und Geschlechterordnungen. Aber abgesehen davon, dass es zynisch ist, «Bilanzen» aufzumachen, wo es keinen plausiblen oder gar «notwendigen» Zusammenhang zwi­ schen den Morden von damals und dem reicheren Leben von heute gibt – es bedurfte einer erneuten historischen Zäsur, damit sich die Poten­

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tiale des Landes endlich entfalten konnten. Denn alle Wege der histori­ schen Rekonstruktion führen letztlich in ein Zentrum der Macht zurück, das zeitweise fast leer erschien. Der zunehmend von Parkinson gezeich­ nete Revolutionsführer versank manchmal über Wochen in seine Lek­ türen und Gedichte, ließ seiner schwindenden Potenz in Gestalt junger Tänzerinnen und Schwimmerinnen stets das nötige «Yin» zuführen, be­ fasste sich mit möglichst überraschenden Personalrochaden und äußerte in der sprunghaftesten Weise «Kritiken» oder erließ «Direktiven», die seine engsten Mitarbeiter einfach nicht mehr verstanden, am wenigsten, wenn er seine langen, monologischen Reden hielt. Doch niemand wagte, sein Unverständnis zu äußern.35 Auch in Maos engerer Umgebung stößt man, so zum Beispiel in der Person des exzentrischen Geheimdienstchefs Kang Sheng oder des depres­ siven «kleinen Generals» Lin Piao, auf ganz ähnliche Prozesse mora­ lischer und psychischer Depravation wie im Umfeld Stalins.36 Hätte nicht die ordnende Hand des heroischen Opportunisten Tschou En-lai (der fast als einziger der alten Revolutionäre ungeschoren blieb) an ent­ scheidenden Wendepunkten diskret eingegriffen, dann wäre China mög­ licherweise abermals zerbrochen. Als Mao starb, bebte die Erde, was nicht wenigen wie ein Zeichen des Himmels erschien. Aber die zwischen Angst, Trauer und Erleichterung changierenden Ausbrüche, die Maos Aufbahrung und Begräbnis im Sep­ tember 1976 begleiteten, waren schon deutlich schwächer als jene Hys­ terien, die man beim Tod Stalins 1953 gesehen hatte. Erst recht fehlte jene überwältigende Anteilnahme, die im Januar des gleichen Jahres die großteils spontanen Trauerbekundungen zum Tod Tschou En-lais, des Reichsverwesers Chinas, ausgezeichnet hatten – und teilweise Züge halb­ oppositioneller Manifestationen trugen. Mit Mao starb der «Maoismus». Die Versuche der «Viererbande» um die Mao-Witwe Tschiang Tsching, die Nachfolge anzutreten und einen Hyper-Maoismus zu kreieren, fanden weder im Apparat noch unter den vermeintlich maoistisch indoktrinierten Massen die geringste Basis. Der Schauprozess, der ihnen Jahre später gemacht wurde, war zugleich ein Scherbengericht über die Kulturrevolution. In einer Resolution von 1980 wurde sie als ein «schwerer Rückschlag» für Partei, Staat und Volk Chinas gewertet. Dabei setzte sich die Partei (wie in Chruschtschows Geheimrede 1956) selbst an die erste Stelle derer, die «schwere Verluste» erlitten hatten. Zwar wurde festgehalten, dass diese «Kulturrevolution» (nun schon in Anführungszeichen gesetzt, wie ein fremdes Geschehen)

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«vom Genossen Mao Tse-tung initiiert und geleitet» worden sei. Sein Wirken als «Großer Steuermann» der Revolution und der Gründung der Volksrepublik blieb jedoch nach der einst auf Stalin gemünzten Formel «siebzig Prozent gut, dreißig Prozent schlecht» Teil des historischen Er­ bes von Partei und Staat.37 Aber es waren weniger ideologische Rochaden, die es der von Deng ­Xiaoping als dem «kleinen Steuermann» und Fortsetzer Tschous geleite­ ten neuen Führung von Staat und Partei erlaubten, Ende der 1970 er Jahre in einer kurzen, betont knapp begründeten Wendung zu jener pragmati­ schen Politik der «Vier Modernisierungen» überzugehen, die in den 1980 er Jahren den Anfang des steilen industriellen Aufstiegs Chinas mar­ kierte. Sondern es waren gerade die traumatischen Erfahrungen der «Kul­ turrevolution», die am Ende «eine viel tiefer greifende kulturelle Revolu­ tion auslösten: nämlich genau die, die Mao hatte verhindern wollen».38 Die historische Referenz seiner Reformen hatte Deng schon 1977, im Jahr nach Maos Tod, in aller lakonischen Direktheit einmal genannt: «Die Meiji-Restauration39 war eine Art Modernisierungsfeldzug, der von der aufsteigenden japanischen Bourgeoisie ausging. Als Proletarier sollten und können wir das besser machen.»40 Diese «Meiji-Restaura­ tion» Dengs ist in der Tat zur großen Wasserscheide der Geschichte Chinas im 20. Jahrhundert geworden. Ganz wie in Japan hundert Jahre zuvor ist es durch die Öffnung des Landes und seine Eingliederung in moderne weltwirtschaftliche Arbeitsteilungen gelungen, eine Fülle lange zurückgestauter Entwicklungskeime zur Entfaltung zu bringen, vermut­ lich aber auf Basis einer alten agrarischen und handwerklichen Arbeits­ kultur und früh entwickelter städtischer Lebensformen, die immer wie­ der unterdrückt wurden, aber nie auszulöschen waren. Auf dieser Basis war es der Kommunistischen Partei möglich, die Kla­ gen und Ansprüche der rückkehrenden Zwangsverschickten der Kultur­ revolution zu unterdrücken, die sich 1978/79 in einer «Mauer der Demo­ kratie» und anderen Formen äußerten, und zehn Jahre später noch einmal die – von Teilen der Parteiführung mit Sympathie betrachteten – Forde­ rungen einer neuen Studentengeneration nach demokratischen Freihei­ ten und rechtlich gesicherter Partizipation auf dem Tian’anmen im Juni 1989 militärisch niederzuschlagen. Seither ist die Volksrepublik China tatsächlich das, was das maoistische China nie wirklich sein konnte: eine Modernisierungs- und Entwicklungsdiktatur, die den eklatanten Wider­ sprüchen, die dieser Begriff selbst beinhaltet, durch eine rastlose Flucht nach vorn zu entkommen sucht.

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Von der Stagnation zum «Umbau» Zwanzig Jahre früher, nach 1956, hatte eine ganz entsprechende Legi­ timationskrise die KPdSU unter Nikita Chruschtschow bereits veran­ lasst, die Wette eines friedlichen Wettlaufs mit den USA einzugehen. Der Logik des eigenen Arguments folgend, hatte Chruschtschow auf dem XXII. Parteitag im Oktober 1961 ein neues Programm vorgelegt, in dem er verbindlich verkündete, dass bis zum Jahr 1980 die «materiell-techni­ schen Grundlagen des Kommunismus» planmäßig zu schaffen seien  – während er seinem Sohn Sergej schon keine Antwort mehr auf die Frage zu geben vermochte, was der Kommunismus eigentlich sein werde.41 Worin lag sie also, die «große Ironie des Jahrhunderts», von der Hobs­ bawm gesprochen hat? Wenn im friedlichen «Wettkampf der Systeme», zu dem die Mächte des Zeitalters letztlich verurteilt waren, eine Seite die Getriebene war, dann waren das kaum die USA und die Länder des Wes­ tens, die diese sozialökonomische Konkurrenz des Ostens nie fürchten mussten und für deren Gewerkschaften und soziale Bewegungen die Verhältnisse im «real existierenden Sozialismus» hinter der Mauer selten ein positives Vorbild, eher schon eine Hypothek waren. Als Getriebene erwiesen sich stattdessen die beiden kommunistischen Großmächte, je mehr sie selbst und das um sie gescharte Lager wuchsen. Vor allem die Sowjetunion blieb für die gesamte Dauer ihrer Existenz eine Gefangene ihrer historisch-politischen Rolle als der zentralen Ge­ genmacht zum kapitalistischen Westen. Der überraschende amerika­ nisch-chinesische Friedensschluss in Peking 1972 trieb sie nur noch tiefer in diese Rolle hinein. In vieler Hinsicht ähnelte sie damit ihrem histori­ schen Vorläufer, dem Zarenreich, das ebenfalls wie im blinden Selbstlauf rüstete und wuchs, ohne durch diesen steten territorialen und hegemo­ nialen Zuwachs an Stärke zu gewinnen, im Gegenteil. Die wilden Zick­ zacks, die die sowjetische Führung unter Chruschtschow in ihrer inneren wie in ihrer äußeren Politik vollführte, vom versöhnlichen «Geist von Genf» 1955 bis zur hochriskanten Raketenstationierung auf Kuba 1962, waren ein getreuer Ausdruck dieser vielfachen Zwangslagen; wie über­ haupt die Figur Chruschtschows in ihrer expressiven Widersprüchlich­ keit dieses «Gefangensein» schlagend zum Ausdruck brachte. Chruschtschows (immerhin unblutige) Ablösung als Generalsekretär brachte 1964 eine Führungsgarde von seltener Homogenität an die Macht, die noch einmal einen zwanzigjährigen Zyklus eröffnete, die Ära

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Breschnews. Es ist nicht ohne tiefere Bedeutung, dass diese im Zuge des Großen Terrors in verantwortliche Positionen eingerückten mürrischen Apparatschiks, denen ein uneingestandener Schrecken in den Gliedern saß, sich um den Zentralbegriff der «Stabilität» scharten. Gleich nach ihrem Machtantritt erfuhr die neue sowjetische Führung allerdings durch ein internes Memorandum des führenden Ökonomen Abel Aganbegjan, dass nicht nur das Produktivitätswachstum, sondern auch das absolute Wachstum der sowjetischen Wirtschaft im Sinkflug begriffen waren. Daraufhin eingeleitete Reformversuche unter Premier­ minister Kossygin erwiesen sich jedoch als systemisch undurchführbar. Im «Schtschekino-Experiment» etwa sollten Belegschaften nach Vor­ schlägen ihrer Betriebsleitungen selbst darüber entscheiden, wie sie die Produktivität steigern und Arbeit einsparen könnten, um so ihre Löhne und Gehälter zu erhöhen. Gerade wegen der partiellen Erfolge dieser ­Reformen wurden sie bald schon durch eine latente soziale Unruhe von oben wie von unten abgebrochen. Die Furcht vor Arbeitslosigkeit und die Störung des sozialökonomischen Gleichgewichts waren stärker als alle produktiven Gewinne.42 Dabei war die Sowjetunion in der Ära Breschnews das «höchst indus­ trialisierte» Land der Welt, insofern als siebzig Prozent ihres Kapital­ stocks in Fabriken und Gruben, Transportmitteln und Bauten feststeck­ ten, mit einem entsprechenden Bedarf an Rohstoffen und Energie und auch an Erneuerungsinvestitionen. Sie produzierte – und verbrauchte! – mit Abstand den meisten Stahl auf der Welt (160 Mio. Tonnen),43 für ein reales Bruttosozialprodukt, das entgegen den überzogenen Schätzungen der CIA-Analysten eher dem eines mittelgroßen europäischen Landes entsprach. Während ihre Rüstung zu Lande, zur See und in der Luft (ein­ schließlich des Weltraums) immer extravagantere Wachstumsziffern, aber auch technische Standards erreichte, verfügte die Zivilwirtschaft der UdSSR in den 1980 er Jahren über ganze 200 000 Computer, meist von KGB-Firmen konspirativ auf dem Weltmarkt eingekauft. In den USA waren damals bereits 25  Millionen Großrechner oder Personal Computer im Einsatz.44 Was die sowjetische Wirtschaft – und womöglich das Staatswesen im Ganzen – vor einem Abrutschen rettete, war der 1973 einsetzende Öl­ boom, der die Weltmarktpreise auf das Vierzigfache hochschnellen ließ. Gerade erst zu einem Nettoexporteur von Energie geworden, setzte die sowjetische Führung jetzt ganz auf die Erschließung neuer Ölquellen

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und Gasfelder. Die Erlöse der Öl- und Gasexporte der 1970 er und 1980 er Jahre, die bis zu achtzig Prozent der Deviseneinnahmen aus­ machten, waren das Opiat, mit dem die schwächelnde Weltmacht sich über Wasser hielt. In beträchtlichem Umfang konnten so auch westliche Kredite aufgenommen werden, mit denen Produktionsanlagen und Tech­ nologien importiert oder selbst entwickelt wurden, die im «friedlichen Wettkampf der Systeme» eine Ausstattung der sowjetischen Privathaus­ halte mit Kühlschränken und Fernsehern, teilweise mit PKW und in res­ triktiverem Maße sogar mit Telefonen ermöglichten. Aber auch Weizen und Tierfutter wurden in Mengen importiert. Es gab genug zu essen, und die Chancen, eine kleine Wohnung in den expandierenden Platten­ bau-Vierteln zu erhalten, wuchsen für die neuen städtischen Mittel­ schichten. Die im Rückblick vielfach verklärten «goldenen Siebziger» über­ brückten künstlich eine systemische Schwäche, die allerdings gerade so noch vertieft wurde. Einiges spricht dafür, den Beginn des russischen Kollapses in diese Zeit, die frühen Siebziger, zu datieren. Besonders hei­ kel war das Schicksal jener 15 000  Kombinate und Gruben, in denen sich der schwerindustrielle Komplex, der Stolz der Sowjetmacht, verkör­ perte. Für diese Industrien, wie sie jedes entwickelte Land (wenn auch in geringerem Umfang) besaß, hatte sich damals in den USA der derbe Be­ griff eines «Rostgürtels» (rust belt) eingebürgert. Alle diese schwerindus­ triellen Rostgürtel, vom Ruhrgebiet über Lothringen und Wales bis Penn­ sylvania, waren mit den explodierenden Energiepreisen in den 1960 er und 1970 er Jahren in tiefe Strukturkrisen geraten. Nach dem «Öl­ schock» 1973 zogen sie auch die westlichen Volkswirtschaften gehörig nach unten, die sich aus dieser Phase einer drückenden «Stagflation» je­ doch um den Preis schmerzhafter und kostspieliger Umstrukturierungen wieder lösen konnten. Genau diese Modernisierungen versäumte die ­Sowjetunion, freilich nicht aus Versehen, sondern weil ihr alle politi­ schen Sensoren und praktischen Instrumente einer Selbstkorrektur fehl­ ten. Dabei hätte sie für einen kurzen Moment dank des Ölbooms sogar die Mittel dazu gehabt. Ebenso wenig Segen lag auf dem vermeintlichen Machtzuwachs, den die immer neuen Verbündeten aus allen Kontinenten mit sich brachten – nicht nur, weil das ebenso viele neue Klienten waren, die auf Subven­ tionen rechneten, sondern weil die militärischen Nachrüstungs- und geopolitischen Handlungszwänge der UdSSR sich damit exponentiell vermehrten. Selbst die devisenträchtigen Exporte hochentwickelter Rüs­

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tungsgüter wie Kampfflugzeuge oder Raketensysteme oder die Massen­ lieferungen einfacher Waffen wie der Kalaschnikow in all die Kriege und Bürgerkriege dieses Zeitalters konnten nicht verhindern, dass das stetig erweiterte globale Engagement Moskaus zu einem gewaltigen Verlustge­ schäft wurde. Während die UdSSR als ein Macht- und Militärstaat par excellence so von immer neuen, wechselnden weltpolitischen Imperativen gefesselt und vom blinden Selbstlauf ihrer auf Parität oder gar Superiorität ge­ richteten «strategischen Rüstungen» getrieben war, blieb sie gleichzeitig doch immer auf stillschweigende Arrangements mit ihren westlichen Ge­ genspielern angewiesen. Soweit diese Arrangements Züge einer ausge­ handelten Détente annahmen, mussten sie – vor allem mit dem Eintritt in die Verhandlungen über «Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa» (KSZE) ab 1973 – mit formellen Zugeständnissen in Sachen Menschen­ rechte erkauft werden, die wiederum die Erosionsprozesse an ihrer mit­ teleuropäischen Peripherie wie im Innern des eigenen Landes verstärkten. Als die Gerontokratie dieser Ära sich nach einem Interregnum der Dauerbegräbnisse endlich selbst beerdigt hatte und im April 1985 mit der Wahl Michail Gorbatschows zum neuen Generalsekretär verspätet den überfälligen Generationsschnitt vollzog, befand die Sowjetunion sich nicht nur in einer mühsam kaschierten Rezession. Auch die öko­ logischen Verwüstungen nahmen dramatische, mit der Kernschmelze in Tschernobyl im April 1986 katastrophische Formen an, während eine scharfe demographische Abwärtsspirale einsetzte und die Lebenserwar­ tung russischer Männer sich nach kurzer Erholung wieder Drittwelt­ standards annäherte. In all dem verbargen sich natürlich weitere Pro­ zesse einer sozialen und moralischen Desintegration und Degradation. Gorbatschows Politik der «Perestrojka» , eines «Umbaus» von oben, den er in leninistischen Begriffen als eine «zweite Revolution» deklarierte, überschwemmte das gealterte Gewebe dieser Gesellschaft gleichsam mit einer massiven Hormondosis spätleninistisch inspirierter Kampagnen und Mobilisierungsanstrengungen. Die Resultate waren zwiespältig. Hieß die Parole des neuen Generalsekretärs anfangs noch «Mehr So­ zialismus!», was heißen sollte: «mehr Dynamik, Elan und schöpferische Anstrengung, mehr Organisation, Gesetz und Ordnung (…) mehr Patrio­tismus und Streben nach hohen Idealen»,45 so wurde die neue Führung mit der Lockerung der Zensur und der kontrollierten Zulassung inoffizieller Öffentlichkeiten von jähen Strömen offener Gegenwartskri­

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tik und einer zeitweise obsessiven Beschäftigung in Literatur, Kunst und Publizistik mit den Abgründen der eigenen Vergangenheit überrumpelt und entwaffnet. In diesem Prozess veränderten sich die Männer an der Spitze rapide selbst, allen voran Gorbatschow mit dem engsten Kreis seiner Berater, so dem 1986 zum Sekretär des Ideologiereferats des Zentralkomitees und Mitglied des Politbüros ernannten Alexander Jakowlew. Ab 1988 ge­ standen sie sich ein, dass es draußen in der Welt keine feindliche Macht gab, die die UdSSR erobern oder vernichten wollte, und sie begannen über politische und wirtschaftliche Reformen zu diskutieren, die den Rahmen der bestehenden Gesellschaftsordnung überschritten oder in Frage stellten. Darin zeigte sich fast so etwas wie ein Erlöschen der Über­ zeugung von der eigenen Sache im Zentrum der Macht.46 Das geschah nicht voraussetzungslos. Ihren Biografien waren die Er­ fahrungen der sowjetischen Geschichte eingeschrieben. Jakowlew etwa hatte als angehender Ideologiekader auf der Empore des Kongresssaales im Kreml die Geheimrede Chruschtschows im Februar 1956 gehört: «Im Saal unter mir war es totenstill. Kein Stuhl knarrte, kein Husten oder Flüstern war zu vernehmen. Niemand schaute seinen Nachbarn an; die Anwesenden waren entweder zu sehr von dem Unerwarteten oder von der Furcht überwältigt, die in der Psyche, im tiefsten Innern der soge­ nannten Sowjetmenschen für immer Wurzeln geschlagen zu haben schie­ nen … Wir gingen mit gebeugten Köpfen hinaus … Niemand sagte ein Wort.» Über die Wirkung der Rede auf ihn selbst schrieb er: «Alles brach zusammen und wurde nie wiederhergestellt.»47 Gorbatschow, der wie Jakowlew aus einer bäuerlichen Familie stammte, hatte als Kind erlebt, wie erst der eine Großvater, der sich ge­ weigert hatte, der Kolchose beizutreten, 1933 abgeholt wurde und 1937 dann der andere, der der Vorsitzende der Kolchose war und nun des «Trotzkismus» beschuldigt wurde. Beide kamen sie zurück, aber für die Familie waren das nicht nur Jahre materieller Not, sondern auch der so­ zialen Quarantäne als Angehörige eines «Volksfeindes». Der Krieg heilte die moralischen Wunden, aber nur um den Preis verheerender Opfer (drei Brüder des Vaters fielen, der verwundet zurückkam). Gorbatschow selbst findet in diesen Erfahrungen seiner Kindheit «die Erklärung dafür, warum gerade wir Kriegskinder die Lebensweise von Grund auf ändern wollten».48 Mit 19 Jahren bekommt er ein Stipendium in Moskau, fährt zum ers­ ten Mal mit dem Zug und sieht die Hauptstadt, wie überhaupt die Welt

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außerhalb seines Dorfes. Es sind die letzten Jahre der Stalinära, das geis­ tige Klima ist erstickend, gegen die eingefrorene stalinistische Orthodo­ xie hilft allein die Lektüre von Lenin und von Marx  – das ist erlaubt. Seine persönliche Position war im Übrigen durch die Haltung des Regi­ mes zu den Bauern bestimmt, die «wie Leibeigene» behandelt wurden. Die «Ungerechtigkeit … sowohl bei der Kollektivierung als auch im Kolchossystem» blieb der Stachel, der auch seine weitere Karriere bei der Staatsanwaltschaft, dann in der Partei im heimatlichen «Stawropo­ ler Land» im südrussischen Vorkaukasus bestimmt. Er bleibt bis 1978, bis zu seiner Berufung ins Zentralkomitee nach Moskau, ein Mann der Provinz und der praktischen Lösungen und Vorschläge, die immer wie­ der zurückgewiesen werden. Alles muss zentral bei der Plankommission vorgetragen und abgezeichnet werden, sodass die Sowjetunion «ein Land der Bittsteller und Förderer» wurde – Förderer, die er als tatkräfti­ ger Provinzchef schließlich selbst im Agrarexperten Kulikow und dem Geheimdienstchef Andropow fand, der als eine Art Freidenker im Zwangsapparat lebte (sein Lieblingslied war das eines Barden, das auf den Re­frain endete: «Wer will das? Niemand! Wer braucht das? Nie­ mand!») Sie förderten seine loyalen Kritiken und Vorstöße, um dem sie­ chenden Appa­rat ein paar Impulse einzugeben. Reisen in den Westen (in die Bundesrepublik, Italien, Frankreich) hat­ ten Gorbatschows Horizont als Bauernjunge, der er war, erweitert und ihm beunruhigende Fragen aufgegeben. Gewiss, die ausländischen Ge­ nossen hatten ihm immer wieder die Arbeitslosigkeit, die soziale Rück­ sichts­ losigkeit usw. im Kapitalismus vor Augen geführt  – aber sein «Glaube an die Vorzüge der sozialistischen Demokratie» gegenüber einer freien Bürger­gesellschaft war ebenso erschüttert, wie ihn die Frage um­ trieb, warum «die Menschen im Westen unter besseren Bedingungen leb­ ten», mehr noch: warum die Sowjetunion «im Lebensstandard, in der Le­ bensqualität, bei der Entwicklung neuer Technologien» zurückblieb statt aufzuholen.49 Klar war ihm, «dass sich Veränderungen in unserem Land nur von oben einleiten ließen»; also betrieb er mit einer eigenen Agenda seine Karriere in den zentralen Aufstiegskanälen der Partei. 1985 findet er sich als fast einziges jüngeres Gesicht und als Kompromisskandidat der in­ formellen Fraktionen plötzlich selbst in der Position des Generalsekre­ tärs wieder, nur um binnen kürzester Zeit von der Dynamik der Ent­ wicklungen, die er durch eine Politik der Lockerungen losgetreten hatte, selbst überrollt zu werden.

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Die Katastrophe von Tschernobyl, die er anfangs noch in der alten Manier der Geheimhaltung zu managen suchte, wurde zu mehr als nur einem Fanal, sie bedeutete einen Riss im Staatscontainer selbst. Aber ­einen solchen Riss bedeutete auch die Welle der neuen Forderungen nach Rehabilitierungen, die Alexander Jakowlew in Form zuweilen blut­ verschmierter Akten auf den Tisch bekam.50 Als Gorbatschow 1987 mit seiner Formel von den «weißen Flecken» an die Enthüllungen Chruscht­ schows anknüpfte (ohne diesen zur Unperson Gewordenen freilich zu erwähnen), hatte von neuem eine Periode begonnen, in der sich die Grä­ ber öffneten und die Toten «zurückkehrten». Das war keine bloße Metapher: In vielen Gebieten der Sowjetunion machten sich 1988/89 Tausende junger und älterer Leute daran, die über das unendliche Territorium verstreuten Massengräber und Reste von ­Lagerkomplexen zu finden, um die Gebeine der Erschossenen oder nach­ lässig Verscharrten zu exhumieren, zu sammeln, zu identifizieren. Und jetzt ging es nicht mehr nur um die Kommunisten oder poli­tischen Ge­ fangenen; jetzt ging es auch um die Millionen der Namenlosen, deren soziologischer Querschnitt wie ein Abbild der sowjetischen Gesellschaft insgesamt war. Gleichzeitig tauchten in den bis dahin verschlossenen Archiven die Akten, Verhörprotokolle und letzten Fotos der gefolterten und ermorde­ ten Dichter, Künstler, Intellektuellen auf und mit ihnen der labyrinthische Untergrund ihrer verschollenen, beschlagnahmten Gedichte und Romane, Bilder und Kompositionen. Das interne Wissen und die archivarischen Zeugnisse weiterhin hermetisch unter Verschluss zu halten, erwies sich als praktische und moralische Unmöglichkeit. Die internationale Öffent­ lichkeit ließ sich im anbrechenden Informations- und Medienzeitalter nicht mehr draußen halten. Die historische Wahrheit sickerte durch alle Ritzen. Freilich dienten alle die Lockerungen und Reformen Gorbatschows noch immer und vor allem dem Ziel, das Imperium zu retten, das im Zuge die­ ser Prozesse jetzt an seinen inneren und äußeren Peripherien in Bewe­ gung geriet – vor allem dort, wo Protestbewegungen wie im Baltikum direkten Anschluss an die Entwicklungen in Polen und anderen Ländern Osteuropas hatten. Die Abrüstungsverhandlungen mit den USA und der NATO sicherten Gorbatschow ein überragendes persönliches Prestige auf der Weltbühne, das ihm moralisch-politisch allerdings die Hände band, als die Dinge im

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mittelosteuropäischen Vorfeld 1989 in Fluss gerieten. Die westliche, be­ sonders auch die deutsche Gorbimanie dürfte dazu beigetragen haben, dass sich der Generalsekretär der KPdSU im Sommer 1989 verpflichtete, demokratische Veränderungen im Bereich des Warschauer Paktes nicht mehr militärisch zu unterdrücken, sondern den Ländern des sowjeti­ schen Lagers die Freiheit gab, ihren eigenen Weg zu gehen. Dass er sich nach dem Fall der Berliner Mauer und der Atrophie der SED-Herrschaft im Sommer 1990 die Zustimmung zur deutschen Wiedervereinigung und sogar zur NATO-Erweiterung über die Elbgrenze hinaus ohne be­ sondere Kompensationen abhandeln ließ, war freilich auch schon der dramatisch verschärften inneren Situation in der UdSSR geschuldet  – und den übertriebenen Hoffnungen, die ihm Bush wie Kohl auf Kredite und Investi­tionen gemacht hatten. Nach dem Urteil vieler westlicher Sowjetologen sollen die verspäteten, hektischen und halbherzigen Wirtschaftsreformen Gorbatschows, die er noch als Generalsekretär der KPdSU gegen wachsenden Widerstand durchsetzte, die Krise erst recht vertieft haben. Er hatte die alten diri­ gistischen Instrumente und Kontrollen, die zumindest ein stationäres Wei­ terwirtschaften garantiert hätten, außer Kraft gesetzt, ohne die entschei­ denden nächsten Schritte gehen zu können oder zu wollen: Aufbrechen der Monopole, echte Preisreform, Herstellung autonomer Geld- und Kre­ ditmärkte, Freigabe der Wirtschaftsbeziehungen zum Weltmarkt, Bo­den­­ reform usw.51 Aber wäre ein stationäres Weiterwirtschaften eine Alternative gewe­ sen? Sie hätte vermutlich eine «chinesische Lösung» erfordert, die auch ihn beiseite gefegt hätte, so wie seinen chinesischen Amtskollegen Zhao Ziyang, mit dem er Anfang Juni bei seinem Besuch in Peking gesprochen hatte, während der Tian’anmen-Platz und die ganze Stadt von Hundert­ tausenden, meist jungen Menschen geflutet waren, die ihn, Gorbatschow, ebenso wie Zhao hatten sehen und sprechen wollen  – und die sofort nach seiner Abreise von Panzern überrollt und in einem betont blutigen Massaker unter den Augen der Weltöffentlichkeit niedergemacht wor­ den waren. Das konnte sein Weg nicht sein. Die slapstickartigen Züge, die der Zusammenbruch von 1989 trug, ­waren schwerlich zufällig. Man hat Erich Honeckers Falsett im Ohr, wie er ins Leere rief: «Vorwärts immer, rückwärts nimmer!», und Erich Mielkes gepresstes Geständnis vor der Volkskammer, die ihn ausbuhte: «Ich liebe euch doch alle!» Da war das ungläubige Erstaunen auf dem Ge­

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sicht des Nicolae Ceauşescu, als die Hunderttausende vor seinem ­Palast ihm nicht zujubelten, sondern «Nieder!» schrien. Und da waren die vom Alkohol zitternden Hände des Gorbatschow-Stellvertreters ­Janajew bei jener denkwürdigen Pressekonferenz im August 1991, auf der er sich als der Vorsitzende eines verfassungsmäßig vorgesehenen «Notstandskomi­ tees» vorstellte, das die angekündigte Machtübernahme zur Rettung des Staates irgendwie nicht zuwege brachte – auch deshalb, weil in der Figur des ebenfalls selten nüchternen Boris Jelzin ein Gegenspieler von For­ mat die Bühne betreten hatte, der auf den zentralen Unionsgebäuden in Moskau statt der Sowjetfahne die russische Trikolore hissen ließ, wäh­ rend er wie in einer Karikatur der Lenin’schen Urszene von 1917 auf ­einem Panzer stand und mit Stentorstimme sämtliche Kommandostäbe, Plan­behörden und Instanzen des Imperiums seinem eigenen Kommando unterstellte. Das alles verweist nur darauf, in welch sozial leerem Raum die Führer der kommunistischen Parteien und Staaten mangels klarer Gewaltentei­ lungen, kritik- und korrekturfähiger Vertretungskörperschaften, auto­ nomer und pluraler Öffentlichkeiten usw. bis zum Ende agierten. Doch zugleich war die Sowjetunion im Jahr 1991 noch immer die größte, bis an die Zähne gerüstete Militärmacht der Welt – deren halbwegs fried­ liche und vertragliche Auflösung durchaus das Gefühl eines Ritts über den Bodensee hinterlässt, wenn man es mit dem Zerfall Jugosla­wiens in einer Serie von Kriegen, Bürgerkriegen und Interventionen vergleicht. Es war ein «Armageddon Averted», ein abgewendetes Armageddon, um den Titel eines Buches von Stephen Kotkin aufzugreifen. Und dann war da noch jene Szene, worin der Abschied von dieser Epo­ che, wie György Dalos schrieb, Züge eines klassischen Königsdramas annahm: Anfang April 1989 wurden die sterblichen Überreste des er­ schossenen Imre Nagy und seiner Gefährten exhumiert. Tage später, die exhumierten Körper waren gerade identifiziert worden, erschien János Kádár, der drei Jahrzehnte an der Spitze der ungarischen Partei gestan­ den hatte, im Zustand offenkundiger geistiger Verwirrung auf einer Sit­ zung des Politbüros. Nagy hatte sich im Herbst 1956 die Forderungen des Ungarischen Volksaufstands zu eigen gemacht, während Kádár, sein einstiger Schüler und Weggefährte, sich den einmarschierenden Sowjets zur Verfügung gestellt und später die Todesurteile gegen Nagy und viele andere mit abgezeichnet hatte. Jetzt, im April 1989, hielt er eine letzte, lange, surreale Rede: «Sie werden etwas Seltsames von mir hören. Was ist meine Verantwortung? Das, womit ich nicht nützlich war …. Ich bin

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zwar ein primitiver Mensch, denn ich habe nur vier Klassen Mittelschule gemacht … Aber die Schulen ­waren damals besser, und das Kind konnte schreiben und lesen lernen, nicht immer diese ewigen Reformen … Und mir ist es egal, was Sie mir sagen, meinetwegen kann mich jeder erschie­ ßen, denn ich bin mir immer dieser Verantwortung bewusst, dass ich niemanden namentlich nennen werde … Und ich bitte um viel Wasser, denn ich bin nervös.»52 Wochen später, am 6. Juli 1989, am Tag der offiziellen Rehabilitierung des drei Wochen zuvor in einem Staatsakt zu Grabe getragenen Imre Nagy, starb János Kádár an Herzversagen. So, rein assoziativ gesehen, trug auch das Herzversagen der Sowjetunion und des um sie gescharten sozialistischen Lagers Züge einer moralischen Selbstaufgabe. Man könnte auch von einem Ermüdungsbruch mit materiellen wie mentalen Kompo­ nenten sprechen – die noch einmal auf die überspannten Geltungs- und Gestaltungsansprüche zurückverweisen, die am Anfang des ganzen, von Lenin eröffneten Unternehmens namens «Kommunismus» gestanden und die Grundlage seiner historischen raison d’être, seines Daseinszwecks, gebildet hatten.

TEIL XII

Die postkommunistische Situation

1. Wege der Auflösung

Politische Ökonomie des «realen Sozialismus»

N

ach einer Lenin’schen Faustformel ist eine revolutionäre Situation dann gegeben, wenn die Herrschenden nicht mehr können und die Beherrschten nicht mehr wollen. Das scheint auf die Situation von 1989 zuzutreffen; nur dass Revolutionäre alten Stils fast völlig fehlten, die den Unwillen der Beherrschten offensiv vertreten hätten, während die Frage gestellt werden kann, ob die Herrschenden selbst eigentlich noch woll­ ten, jedenfalls so wie bisher. Die Ereignisse 1989 waren wie 1917 eher eine Kette von Involutionen und Implosionen als von Revolutionen und Explosionen. Ohne den Mut der hunderttausend Leipziger Demonstranten zu schmälern: Dem letzten SED-General-Sekretär Egon Krenz stand eine blutige «chinesische Lö­ sung» nach Lage der Dinge, vor allem der Moral der Truppen und seiner Partei, nicht mehr offen. Die einzigen Bilder von 1989, die an eine klas­ sische Revolution erinnern könnten, sind mehrdeutig: die Schusswechsel zwischen loyalen und übergelaufenen Soldaten in Rumänien, die Flucht des Despotenpaares vom Dach ihres Zentralkomitees und das kurze, standrechtliche Tribunal, das über sie gehalten wurde. Sicher ist nur, dass die, die über Nicolae und Elena Ceauşescu so hastig Gericht hielten, deren eigene Militärs und Geheimdienstobersten waren, die sich damit reinwuschen und eine neue Zukunft eröffneten – mit bestem Erfolg. Das lässt sich verallgemeinern. In allen postsowjetischen Republiken waren die neuen Führer zunächst die alten oder kamen aus den bisherigen Machtclans. Auch in den ehemaligen Volksrepubliken Mittelosteuropas waren es in den 1990 er Jahren selten die Vertreter der Bürgerrechts­ bewegungen, viel häufiger gewendete, smarte Postkommunisten, die sich im neuen parlamentarischen Terrain behaupteten und über weite Strecken die Regierungen stellten. Meist repräsentierten sie politisch-ökonomi­ sche Kartelle jüngerer Parteikader aus dem zweiten Glied, die auch bei der Privatisierung oder Autonomisierung sozialistischer Staatsbetriebe und Monopole ganz vorne mit dabei waren. Vielleicht konnte es ange­ sichts des Mangels alternativer Eliten auch nicht anders sein. Aber diese

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Kontinuität muss – fern aller Konspirationstheorien – erst einmal festge­ halten werden. Sie macht den widerstandslosen Übergang der alten Regi­ mes und Eliten in die neuen Verhältnisse sehr viel plausibler. Darin könnte man, problematisch wie es war, durchaus auch einen zivi­lisatorischen Fortschritt sehen. Immerhin scheint das Schicksal der Machtformationen kommunistischen Typs im 20. Jahrhundert zu bewei­ sen, dass totalitäre Überspannungen ganzer Gesellschaftssysteme sehr lange, aber nicht ewig dauern können, dass sie sich früher oder später von ­innen heraus erschöpfen und Prozessen einer neuen, sich reorgani­ sierenden zivilen Gesellschaftlichkeit Platz machen müssen. Eine rundum tröstliche Erkenntnis ist das allerdings nicht. Denn der «postkommunis­ tische Zustand» ist großteils der einer sozialen Anomie und politischen Apathie, geprägt von einem weltanschaulichen und moralischen Zynis­ mus der Herrschenden wie der Beherrschten, und damit das sarkastische Gegenbild der universellen Ideologisierung und Moralisierung von einst. Soweit nicht die Europäische Union den Beitrittskandidaten elemen­ tare Rechts- und Sozialstandards vorgegeben hat, ist das neue Betriebs­ system der postkommunistischen Staaten ein mehr oder weniger mafiös organisierter, von keiner Gewerkschafts- und Arbeiterbewegung be­ grenzter, durch keine gesetzlichen Normen oder demokratischen Öffent­ lichkeiten eingehegter, überwiegend auf den Weltmarkt und auf Devisen­ gewinne ausgerichteter, monopolistischer Kapitalismus, der eine neue Oligarchie hervorgebracht hat, die sich mit den politischen Funktions­ trägern aller Ebenen zu einer «herrschenden Klasse» zugleich älteren und neueren Typs amalgamiert hat. Das verrät aber vor allem etwas über den Grad der Zerstörung aller sozialen Bindungen und Verbindlichkeiten, ­sicheren Rechtsgrundsätze, etablierten Aushandlungsverfahren usw. nach Jahrzehnten kommunistischer Diktatur. Es ist also gerade ein «postkom­ munistischer» Zustand, der diese «frühkapitalistischen», in Wirklichkeit eher «spätkapitalistischen» Verhältnisse ermöglicht hat. Ein kurzer Blick auf die Grundzüge der sozialistischen Industrialisierung zeigt, warum es der sowjetischen Ökonomie wie allen ihr nachkonstru­ ierten Volkswirtschaften nie gelungen ist, eine selbsttragende Wirtschafts­ dynamik und sich selbst generierende Akkumulationsleistung hervorzu­ bringen – ungeachtet ihrer forcierten Zuwachsraten. Er zeigt aber auch, warum dieses Wirtschaftsmodell so leicht aufgegeben wurde und warum es im Grunde nicht schwer war, es nach dem Umbruch von 1989 in kapi­ talistischen, sogar ultra-kapitalistischen Formen fortzuführen. Die Gren­

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Teil XII: Die postkommunistische Situation

zen zwischen Staats-, Monopol-, Kollektiv- und Privatwirtschaft waren längst vorher schon verschwimmend geworden. Alles Wirtschaften begann nach einem Modus, der sich in den frühen 1930 er Jahren in der Sowjetunion mit dem Hauen und Stechen der Kör­ perschaften und Betriebe um staatliche Investitionsmittel herausbildete. Die Resultate waren nur in Stückzahlen und Tonnen zu messen – nicht wegen einer speziellen «Tonnenideologie», sondern weil es andere, qua­ litative Parameter nicht gab, so wenig wie Kostpreise, die die real aufge­ wendeten Mittel und Leistungen hätten beziffern können. Diese Produk­ tionsweise, in der Ressourcenverbrauch prämiert statt sanktioniert wurde, trug dazu bei, dass sich das Übergewicht der Abteilung I (Inves­ titionsgüter samt Rohstoffen und Energie) gegenüber der Abteilung  II (Konsumgüter und Lebensmittel) mit blinder Eigendynamik immer wei­ ter steigerte, jenseits aller Pläne und Wünsche der politischen Instanzen. Sehr vereinfacht gesagt, zehrte die Abteilung I (meist als Schwerindus­ trie bezeichnet) eine stetig wachsende Masse dessen, was sie ausstieß, selbst auf. Damit wurde sie zu einem weithin selbstgenügsamen oder leerlaufenden industriellen Aggregat, dessen «Wachstum», statt den ge­ sellschaftlichen Wohlstand zu mehren, als ein totes Gewicht auf der ­Gesamtwirtschaft lastete und alle mit der Mechanisierung verbundenen Produktivitätsgewinne annullierte oder ins Minus drückte. Sehr hohe Wachstumsraten des industriellen Anlagevermögens waren notwendig, um bescheidene Produktivitätsgewinne zu erzielen, was die Bilanz im Verhältnis zum eingesetzten Kapital fast durchweg negativ gestaltete.1 Die «Planung», das Kernstück allen sozialistischen Wirtschaftens, war bei näherer Betrachtung nicht nur eine Fiktion, sondern wurde zu einem Instrument der universellen Desinformation. Irreal war bereits die Vor­ stellung, die Produktionsprozesse von Millionen von Einzelprodukten zentral planen und steuern zu können. Tatsächlich waren die legendären Fünfjahrpläne ohne jede bindende Wirkung, sie trugen rein propagandis­ tischen Charakter. Sie bestanden aus etwa zwanzig aggregierten Leitindi­ katoren, die in den Verhandlungen des Politbüros mit einem Federstrich verändert werden konnten und deren «Erfüllung» nicht messbar war. Dagegen fielen die operativen Pläne (Jahres-, Quartals- und Monats­ pläne) für die einzelnen Branchen, Regionen oder Kombinate unter das alles umspannende Staatsgeheimnis. Ausgehandelt wurden sie zwischen den Produzenten und den sich immer weiter vermehrenden und spezia­ lisierenden Ministerien mit ihren Abteilungen und «Stäben». Die Zah­ len konnten aber nur die Produzenten selbst liefern; in der Regel waren

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das eher Schätzungen als konkrete Festlegungen. Faktisch konnten die operativen «Pläne» daher nicht vorausschauend, sondern nur nachträg­ lich aufgestellt und verabschiedet werden. Im routinierten Betrieb schrieben sie sich einfach selbst mit kleineren oder größeren Aufschlä­ gen fort.2 Da nichts in den gesamtökonomischen Abläufen gesichert war, mussten die Betriebe schon in den Jahren des Terrors und auch später versteckte Reserven von Rohstoffen, Maschinen, Fahrzeugen, eigenen Produkten oder auch Barmitteln anlegen  – aus Gründen schieren Selbsterhalts. ­Jeder suchte zu kaschieren, was er hatte und leisten konnte, weil jede substantielle Produktivitätssteigerung steuerlich abgeschöpft wurde und in die nächsten Planvorgaben mit einging. Daraus entwickelte sich von Beginn an ein System abgeschirmter horizontaler Wirtschaftskreisläufe, oft durchaus komplexer Art mit vielen Beteiligten, die sich durch Sys­ teme gegenseitiger Kreditierungen über Wasser hielten. Diese informel­ len Lieferkredite und Beziehungen waren es, die die Wirtschaft der UdSSR überhaupt am Laufen gehalten haben.3 Mit in dieses Bild gehört die Föderations- bzw. Unionsstruktur der UdSSR. Praktisch jedes der zentralen Ministerien hatte eine Entspre­ chung auf der Ebene der vierzehn nichtrussischen Republiken, so wie die Parteigliederungen auch. Entsprechendes galt, eine Stufe tiefer, für die zentralen oder autonomen Gebiete der Russischen Föderation. Sie alle waren in die Prozesse der Zuweisung von Investitionen, der Planung von neuen Industrien und Infrastrukturen, aber auch der Versorgung mit Rohstoffen, Lebensmitteln oder Konsumgütern involviert, bis ein wahrer Rattenkönig von Zuständigkeiten und Einspruchsrechten ent­ stand, begleitet naturgemäß vom exponentiellen Wachstum der Verwal­ tungsapparate. Vor allem die regionalen Parteichefs übernahmen die Funktion opera­ tiver Clearingstellen, mittels derer sie sich neben ihrer Zugehörigkeit zu vertikalen Machtclans eigene horizontale Netzwerke schufen. Eine ein­ drückliche Illustration lieferte Boris Jelzin, damals der erste Sekretär der Industrieregion Swerdlowsk im Ural, als er seine ersten Kontakte mit Michail Gorbatschow, dem Parteisekretär des agrarischen Stawropol, beschrieb: «Es war zunächst eine Telefonbekanntschaft. Es kam öfter vor, dass wir einander helfen mussten. Aus dem Ural brauchte er Metall und Holz, aus Stawropol benötigten wir Lebensmittel.»4 So entwickelte sich, was als eine zentrale Planwirtschaft unter dem Primat politischer Vorgaben daherkam, immer mehr zum direkten Ge­

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genteil: zu einem naturwüchsig sich selbst reproduzierenden Wirtschafts­ prozess, der im Wesentlichen den partikularen Interessen seiner lokalen oder betrieblichen Akteure folgte oder auch schon zu einer oligarchisch-­ monopolistisch strukturierten Privatwirtschaft mutierte. In den 1980 er Jahren verbanden sich diese abgeschirmten horizontalen Warenkreisläufe wie selbstverständlich mit der nie ausgerotteten und nun erst recht dyna­ misch zutage tretenden Schattenwirtschaft, oder sie wurden zunehmend selbst ein Teil davon. Eben daran konnten die nur scheinbar «neoliberalen» Privatisierungen der 1990 er Jahre, die in Wirklichkeit ganz den Mustern eines sowjeti­ schen Industriefeudalismus folgten, organisch anknüpfen.5 Die eingeflo­ genen «Chicago Boys» mit ihren monetaristischen Ideologien waren kaum mehr als die nützlichen Idioten dieses Prozesses einer neuen «ur­ sprünglichen Akkumulation», nämlich der mehr oder weniger gewalt­ samen und handstreichartigen Übernahmen von Betriebsanlagen, Fuhr­ parks, Ländereien, Rohstoffquellen usw. für rein symbolische Kaufpreise, erleichtert durch eine inflationierte Währung und getarnt mit wertlosen «Coupons» für die Bürger, die die Kriegskosten des ganzen Sowjetunter­ nehmens zu tragen hatten. Darin bestätigte sich noch einmal der grundlegende Sachverhalt, dass im sowjetischen System kein Wirtschaftsgut einen objektivierbaren Wert besaß. Anders gesagt, bedeutete der «reale Sozialismus» durch seinen durchgängigen Verzicht auf die ökonomischen Basisinstrumente von Geld, Kredit und Zins (als autonomen Faktoren statt als willkürlichen ­Rechengrößen) einen epochalen Rückfall in ein System des Natural­ tauschs. Die autarkistische Ausgliederung der Sowjetunion aus allen welt­ wirtschaftlichen Austauschprozessen trug dazu auf ihre Weise bei, da die Beziehungen zwischen den sozialistischen Ländern im Prinzip densel­ ben Regeln eines Clearinghandels mit willkürlichen «politischen» Ver­ rechnungspreisen folgten, wie sie im Binnenverkehr der sowjetischen Be­ triebe und Behörden herrschten. Das hatte zunächst die folgenschwere Konsequenz, dass auch im gro­ ßen sozialistischen Wirtschaftsblock (dem RGW) die komparativen Vor­ teile von Arbeitsteilung nur begrenzt genutzt werden konnten. Noch ­paradoxer: Die Weltmachtstellung der Sowjetunion wurde umso prekä­ rer, desto weiter sie den Radius des «sozialistischen Lagers» spannte, das sie durch verbilligte Energielieferungen und andere Subventionen zu­ sammenhalten musste.6

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Dem entsprach das exponentielle Wachstum des militärisch-industriel­ len Komplexes, der immer größere Teile des Sozialprodukts verschlang, um eine nominelle weltpolitische Parität zu erhalten – auch und gerade dort, wo der Gegner unschlagbar war: in der Luft und zur See.7 Die rea­ len Rüstungsausgaben der UdSSR dürften von den späten 1930 er bis in die 1980 er Jahre hinein bis zu 20 % oder mehr des gesamten Sozial­ produkts verzehrt haben, proportional vermutlich mehr, als je ein Land für Rüstung ausgegeben hat, während die Staaten des westlichen Bünd­ nisses einschließlich der USA selbst in den Hochzeiten des Kalten Kriegs nie mehr als 3 bis maximal 8 % ihres (ungleich größeren) Sozialprodukts auf ihre Rüstungen verwandten.8 Aber der Militärsektor war nicht nur technisch, sondern auch ökono­ misch der avancierteste, weil in ihm eine echte Konkurrenz herrschte, die es sonst nicht gab. Die sowjetischen Rüstungsbetriebe hatten sich mit ihren Prototypen auf dem «Markt» des Rüstungsbudgets zu bewähren, auf dem strenge Qualitätskriterien herrschten und über Preise und Stück­ zahlen hart und realistisch verhandelt wurde. Nicht zufällig waren viele dieser Betriebe, besonders in der Luftfahrt, nach Gründerdynastien be­ nannt (Mikojan, Lichatschow, Tupolew, Jakowlew, Iljuschin, Suchoi) und hatten einen hohen Grad an Corporate Identity aufgebaut, manch­ mal über zwei oder drei Generationen hinweg. Der tiefere Grund dieses halben Systembruchs dürfte in der Tatsache gelegen haben, dass die Rüs­ tungsgüter (neben Rohstoffen und Energie) zu den wenigen devisenträch­ tigen Exportgütern der Sowjetunion zählten und sich im Ernstfall der ­internationalen «Konkurrenz» am Himmel über Hanoi oder Damaskus bewähren mussten. Das beschreibt im Umkehrschluss, warum die Sowjetunion wie jedes andere sozialistische Land weithin unfähig war, technisch und ästhetisch befriedigende zivile Gebrauchsgüter zu produzieren. Ausnahmen, so die handwerklich oder manufakturmäßig fortgeführten Produktionslinien von Traditionsgütern wie Porzellan oder Keramik, Kinderspielzeug, Musikinstrumenten oder Zigarren (wie in Kuba) bestätigten die Regel und waren so gut wie immer Devisengüter; oder es handelte sich bereits um Lizenzfertigungen westlicher Firmen. Die sowjetischen Betriebe und Entwicklungslabors konnten robuste Panzer und schweres Gerät jeder Art, Großcomputer für Zentralbehörden und Steuerungssysteme für ­Raketen entwickeln – aber kein brauchbares Auto und keinen universell einsetzbaren PC. Der Ausweg war schon seit den 1970 er Jahren die systematische Er­

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schließung und Ausbeutung der scheinbar unbegrenzten Naturressour­ cen des Landes für Devisen; verbunden mit dem hohen Standard einer Militärproduktion, die über alles verfügte, was der Zivilproduktion fehlte. So gesehen, ist es nicht erstaunlich, dass das Rückgrat der neuen «Machtvertikale» der Russischen Föderation, so wie sie sich unter Jel­ zins ausgewähltem Nachfolger, dem KGB-Offizier und Kreml-Administ­ rator Putin aus dem Chaos der 1990 er Jahre erhob, der Geheimdienst und das Militär waren; und dass die sozialökonomische Grundlage des neuen Superstaats neben dem militärisch-industriellen Komplex der als Staatsmonopol organisierte Komplex der Roh- und Energiestoffe war, der mit seinen Pipeline- und Transportsystemen zugleich auch den post­ sowjetischen Raum umspannt – und gefügig halten soll. In einer Gesamtbilanz der sozialistischen Gesellschaftsformationen sind die genuinen, vielfach bewundernswerten Ingenieurs- und Arbeitsleistun­ gen, die in die industrielle Akkumulation und den staatlichen Macht­ aufbau einflossen, sicher nicht außer Acht zu lassen; ebenso wenig wie die in aufdringlichen Formen plakatierten, in der Presse hinausposaun­ ten heroisch-enthusiastischen Motive sozialistischer oder patriotischer Färbung. Nur waren diese «moralischen» Faktoren kaum zu quantifizie­ ren und zu objektivieren. Jedenfalls entging es der Aufmerksamkeit des kubanischen Industrieministers Ernesto «Che» Guevara bei seinen Besu­ chen im Mutterland des Sozialismus nicht, dass die Kompensationen für sowjetische «Stoßarbeiter» sich neben allen Orden und Auszeichnungen eben doch in den materiellen Accessoires eines «kulturvollen» Privat­kon­ sums ausdrückten.9 Dasselbe galt in gesteigerter Form für die abge­ schirmte Binnenwelt der Parteieliten, die sich (in Castros Kuba nicht an­ ders als in der Sowjetunion) als ein System von Naturalzuwendungen und Privi­legien darstellte, allen voran des Zugangs zu den fetischisierten ­Importwaren. Der Wunsch, Karriere zu machen und soziale Geltung zu gewinnen, kam natürlich hinzu. Was in diesen Funktionärsmilieus noch Überzeugung, was Arbeitsethos, was Lebensgier oder nur noch routinier­ ter Zynismus war, blieb ununterscheidbar. Noch schwieriger ist es, die beachtlichen Erfolge in der Hervorbrin­ gung eigener Techniker, Manager, Wissenschaftler usw. in ein Verhältnis zu den enormen Verlusten an Wissensressourcen, an Kompetenz und insgesamt an «Humankapital» in den verschiedenen Wellen sozialer Säuberungen zu setzen. Einen solchen an Selbstverstümmelung reichen­ den Aderlass mühsam erworbener intellektueller und kultureller Subs­

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tanz wie die Sowjetunion in der Ära Stalins haben wenige andere Länder erlitten, außer vielleicht das maoistische China und das Kambodscha der Roten Khmer oder der Iran und Afghanistan unter islamistischen Re­ gimes. Diese mehrfache Elitenvernichtung ging einher mit der Austreibung eines Gutteils genau jener wissenschaftlichen Theorien und Disziplinen, die man im Rückblick unter die bedeutendsten Wissensfortschritte des Jahrhunderts zählen würde, von der Relativitätstheorie über die Genetik bis zur Psychoanalyse. Auf der Habenseite stehen sicherlich beachtliche Resultate wissenschaftlicher Einzelforschungen und technischer Verfah­ ren auf vielen Gebieten. Aber in der Gesamtbilanz würde man vermut­ lich feststellen, dass die jahrzehntelange, mehr oder minder systemati­ sche Abschottung der UdSSR wie des gesamten sozialistischen Lagers zu einem dramatischen Zurückbleiben der Geistes- wie der Naturwissen­ schaf­ten geführt hat, die der ihres industriellen Apparats parallel ging. Das waren Jahrzehnte nie gelesener Fachbücher in fremden Sprachen – während die geistige Produktion der kommunistischen Länder im Wes­ ten großteils sehr genau verfolgt, übersetzt und archiviert wurde. Vieles von dem, was in der Sowjetunion oder anderen sozialistischen Ländern originär geschrieben, gedacht und entwickelt, aber aus dem offiziellen Wissenschaftskanon ausgeschlossen worden ist, wie die literaturtheore­ tischen Schriften eines Michail Bachtin oder die Konjunkturtheorien ­eines Nikolai Kondratjew, hat zeitweise nur im Westen überlebt oder Aufnahme gefunden. Darüber hinaus geht es auch um Jahrzehnte nie geführter kontrover­ ser Debatten, nie erörterter Forschungsfragen, nie erlernter Weltspra­ chen – und damit um einen epochalen Rückfall hinter bereits erreichte Standards. Gravierender als alle bloßen Wissensmängel war, dass der Ausschluss von lebendigem Widerspruch aus der Politik und Gesell­ schaft und damit auch aus dem Denken selbst zu einem undialektischen, zahnlosen Empiris­mus, Positivismus, Akademismus und einer antiquari­ schen Geschichtsschreibung führen musste.

Humanismus und Terror Fast erscheint der intellektuelle und emotionale Bann, den der Kom­ munismus jahrzehntelang über ein bedeutendes Segment der Künstler, Schriftsteller und Wissenschaftler in aller Welt verhängt hat, angesichts

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des müden Zynismus der späten Jahre nicht mehr nachvollziehbar. Dass der Weltkommunismus einige der bedeutendsten Kapitel der Kultur­ geschichte des 20. Jahrhunderts geschrieben hat, oft auf die Haut der Autoren selbst, war für die Länder des «real existierenden Sozialismus» ein geistiges Erbe, das sie ähnlich selektiv und rituell zitierten und damit in die Bedeutungslosigkeit abschoben, wie das für den originären Mar­ xismus oder alle revolutionären Traditionen auch galt. Schlimmer: Es verschwand das tragische Moment, aus dem diese lite­ rarische, künstlerische, wissenschaftliche und philosophische Produktion sich genährt hatte – nämlich jene extreme Spannung zwischen dem Höchs­ ten und dem Niedrigsten, zwischen Humanismus und Terror, in der sich der Kommunismus ursprünglich bewegt hat. In diesem Spannungsfeld sind nicht wenige literarische und künstlerische Werke entstanden, die zum Kernbestand der Kultur des vergangenen Jahrhunderts zählen, wie man das für die Kunst und Literatur der rivalisierenden faschistischen Bewegungen (mit Ausnahme einiger exzentrischer Gestalten wie Ezra Pound oder Louis-Ferdinand Céline) schwerlich sagen könnte. Wo in der Weltliteratur hätte man wie in dem Michail Scholochow zu­ geschriebenen, zwischen 1928 und 1932 verfassten Kosaken-Epos «Der stille Don» einen positiven Helden des Massenterrors wie den roten Kommissar Buntschuk erschaffen können, umwittert von der Tragik des moralischen Selbstopfers: «Buntschuk erlosch ganz plötzlich … Er be­ trachtete seine Handflächen und sagte: ‹Dreckige Menschen zu vertilgen ist eine schmutzige Angelegenheit. Weißt du, erschießen ist schädlich für Gesundheit und Seele  … Alle wollen im blühenden Garten wandeln. Aber – hol sie alle der Teufel – bevor man Blumen und Bäume pflanzt, muss man den Dreck wegputzen! Düngen muss man! Die Hände muss man beschmutzen!› Er sprach immer lauter …, seine Lider zitterten über den blutunterlaufenen Augen.»10 Das Unheimliche ist gerade, dass in solch furchtbaren Sätzen, die nie­ mand einem Mitglied der SS-Einsatzgruppen hätte in den Mund legen können, die literarische Wucht dieses Bürgerkriegsepos mit begründet liegt; weil man sich hier in jenem Bereich bewegt, in dem die blutigen Mittel den finalen, höheren, «menschheitlichen» Zweck scheinbar heilig­ ten. Wenn es zutrifft, dass der junge Scholochow nur eine Art Strohmann für die Gemeinschaftsproduktion eines Literatenteams unter Aufsicht des Geheimdienstes war und in den Roman in einem Akt von wahrem Kan­ nibalismus die Aufzeichnungen eines erschossenen weißen Offiziers ein­ geflossen sind, dann erhöht das erst recht die Authentizität dieses Wer­

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kes, dessen Autor vom Nobelpreiskomitee «für seine künstlerische Kraft und Ehrlichkeit» 1956 ausgezeichnet wurde.11 Wo andererseits hätte man einfache Menschen, Bauernsoldaten, in ­einer solchen künstlerischen Verdichtung sprechen hören wie in Isaak ­Babels Erzählzyklus «Die Reiterarmee», der unmittelbar aus dem Erleben des Autors beim blutigen, vielfach pogromartigen Feldzug gegen Polen im Sommer 1920 schöpfte und sich zwischen Enthusiasmus und Entset­ zen buchstäblich wie auf Messers Schneide bewegte: «In seinem kurzen Leben hat sich Genosse Kutsow unendlich beunruhigt über diesen Verrat, der uns bald aus den Fenstern zublinzelte, bald über das derbe Proletariat spottete – doch das Proletariat, Genossen, weiß selbst, dass es derb ist, und leidet darunter; aber wir wollen leben, wir wollen sterben, die Seele brennt und zerreißt wie Feuer das Gefängnis unseres Körpers und das Zuchthaus unserer Rippen, in dem wir’s nicht mehr aushalten …»12 Gerade von diesen Verstrickungen ist immer auch eine dunkle Faszi­ nation ausgegangen. Selbst die Schicksale der vielen erschöpften oder verstummten, deportierten oder erschossenen Dichter, Theater- und Filme­ macher, Maler und Wissenschaftler, aus deren abgebrochenen oder ver­ stümmelten Biografien die Kulturgeschichte der Sowjetunion zu ­einem übergroßen Teil besteht, erscheinen im Blick einer kunst- und literatur­ beflissenen Nachwelt als authentische Beglaubigung jener «Großen Uto­ pie», die bis heute eher mit Andacht als mit Schrecken evoziert wird. ­Erhöhten diese tragischen Schicksale nicht womöglich noch den posthu­ men Reiz jener «Internationale der guten Menschen», von der Babel den sterbenden Rabbinersohn und Rotarmisten Gedalje sagen lässt, sie sei «mit dem besten Blut gewürzt» – bevor eben dieser Isaak Babel, der in der Nacht des 27. Januar 1940 erschossen wurde, seine Chronistenrolle der Sowjetrevolution mit seinem eigenen Blut zu «würzen» hatte?13 Vom literarischen Widerschein dieser Zeit, von all den aufgetauchten Manuskripten, die beschlagnahmt oder versteckt, aber nicht «verbrannt» waren, wie Bulgakows «Meister und Margarita» oder Platonows «Bau­ grube», oder von den erstmals in den 1970/80 er Jahren wieder gezeigten Werken der sowjetischen Avantgarde war nicht nur eine westliche Kul­ turlinke elektrisiert. Sie beflügelten auch eine ganze Reihe junger Auto­ ren und Künstler, die in der Sowjetgesellschaft, die keine Widersprüche zuließ, aus der Reihe tanzten, ihr Spiel mit der Zensur trieben, die Gren­ zen des offiziellen Kanons ausloteten und dabei eine Beweglichkeit, Sprachmacht, einen Bilderreichtum, scharfen Witz oder auch tiefen Ernst entwickelten, der ihren sorgloseren westlichen Kollegen vielfach fehlte.

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So ist beispielsweise aus der kalten Asche des eng kontrollierten DDR-Kulturbetriebs, von der Literatur über das Theater und den Film bis zur Malerei, ein großer, sogar überproportional großer Teil der geis­ tigen Produktion der deutschen Nachkriegsära gewachsen, wie in den Gärten am Hang erloschener Vulkane. Mentalitätsgeschichtlich ist die Sache noch komplexer. Es gab die latent totalitäre Ambition der neuen, zur Macht gekommenen kommunisti­ schen Parteieliten auf die Gestaltung der Gesamtgesellschaft; es gab eine künstlerische und geistige Produktion, die sich gerade an dieser totalitä­ ren Ambition hochrankte; und es gab eine passive, auf ihre Weise totali­ täre Bereitschaft großer Massen, sich diesem Macht- und Gestaltungs­ anspruch mehr oder weniger zu überlassen. Die mittragende Rolle der stets zitierten «Massen» für die Konstitution und zeitweise Stabilität staatssozialistischer Gesellschaften wäre noch ein­ mal näher zu untersuchen. Es bleibt eine offene Frage, in welchem Grade kommunistische Systeme in Zeiten totalitärer Mobilisierung wie posttota­ litärer Stagnation den regressiven Wünschen großer Massen von Men­ schen entgegengekommen sind. Wenn die «real existierenden» sozialisti­ schen Systeme, statt sich zu höheren, also komplexeren, selbsttragenden Formen von Vergesellschaftung zu entwickeln, zu einer passiven, außen­ geleiteten, weniger komplexen Organisation des sozialen Lebens geführt haben, dann hatte das eben auch seine angenehmen Seiten im Sinne eines regulierten, «einfachen Lebens». Hier liegt vermutlich die Wurzel der er­ staunlichen Bereitschaft so vieler, sich willig einzufügen, an den Festtagen mitzumarschieren, obwohl nichts zu feiern war; an den richtigen Stellen zu klatschen, obwohl sie kein Wort glaubten; bei den Pseudowahlen «fal­ ten zu gehen», obwohl es nichts zu wählen gab; oder auch aktiv bei der Überwachung des «Lebens der anderen» mitzuwirken – sogar dann, viel­ leicht gerade dann, als keine allzu schlimmen Repressionen mehr drohten, wie in der späten DDR oder CSSR, wo die Zahlen der inoffiziellen Mitar­ beiter der Sicherheitsorgane Rekordhöhen erreicht haben. Man erinnert sich an den philosophischen Topos der «freiwilligen Knechtschaft» nach Etienne de La Boéties gleichnamiger Schrift aus dem 16. Jahrhundert, an den menschlichen Wunsch, sich gerade in der Unter­ werfung unter eine (scharfe oder milde) Tyrannei «ganz eins» (tout un) zu fühlen. In dieser Hinsicht haben die modernen Formen totalitärer Macht beunruhigende Möglichkeiten aufgewiesen.14 Die sowjetische Zeitschrift «Familie und Schule» (Semja i Škola) sprach es 1948 gerade­

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wegs aus: «Die Herrschaft des Sozialismus hat die Tragödie der Einsam­ keit beseitigt, unter der die Menschen in der kapitalistischen Welt lei­ den.» Richard Sennett hat daraus den allgemeinen Schluss gezogen, dass eine paternalistische Ordnung nicht nur «Obhut und Macht», sondern «genauer und irritierender formuliert: Liebe und Macht» verheiße.15 Es ist ein uraltes und zugleich hochmodernes Problem, das in der Welt des Jahres 2017 gerade erneute Urstände feiert. Die Anforderungen einer immer komplexer werdenden, dem Einzelnen immer weitere psychische und organisatorische Alltagsleistungen abnötigenden kapitalistischen Bürgergesellschaft produzierten im Gegenzug regressive Wünsche nach kommunistischer oder nationalistischer, traditionaler oder religiöser Ver­ bindlichkeit, nach Zuständen also, worin Gesellschaft als beschützende Solidargemeinschaft oder als «große Familie», als verschworene Kampf­ genossenschaft, als inspirierte Gemeinde, als geeinte Nation oder als «Umma» der Rechtgläubigen phantasiert wird, die sich einem ein für alle Mal gegebenen «Gesetz» unterwirft, einer «Volonté generale» oder «wissenschaftlichen Weltanschauung», einem «chinesischen Denken» oder einer «Scharia», gültig ausgelegt und angewandt von den dazu Berufenen. Dass es nichts von alledem jemals wirklich g ­ egeben hat, än­ dert nichts an der Universalität des so archaischen wie modernen Wun­ sches nach einer übergeordneten Instanz, die für das ­Lebensglück der Menschen zu sorgen imstande wäre. In einem der unglaublichsten panegyrischen Texte überhaupt, in Henri Barbusses märchenhafter Stalin-Biografie von 1936, überkommt den ­laizistischen französischen Schriftsteller bei einem Gang über den nächt­ lichen Roten Platz der Gedanke, dass dort in der Gruft «der einzige in dieser Welt ist, der nicht schläft … Er ist der väterliche Bruder, der wirk­ lich für alle gesorgt hat. Ihr, die ihr ihn nicht gekannt habt – er hat von euch gewusst». Und wenn der Blick des späten Spaziergängers sich em­ por zum Kreml wendet, in dem noch ein Licht brennt (Stalin war ein nachtaktiver Despot), dann in der ruhigen Gewissheit, dass dort oben «der beste Teil eures Geschicks jetzt in den Händen jenes anderen Man­ nes liegt, der jetzt … für euch wacht und arbeitet – der Mann mit dem Kopf des Gelehrten, mit dem Gesicht des Arbeiters und dem Anzug des einfachen Soldaten».16 Wer sich in diesen Kosmos der keineswegs nur erzwungenen «Großen Gesänge», des literarischen Führer- und Heldenkults dieses Zeitalters vertieft, der kommt unvermutet an den Punkt, an dem er sagen mag: Wäre es nicht eigentlich schön? Hatte Ernst Bloch nicht recht, wenn er

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im großen historischen Überblick von Spartacus bis Stalin sagte: «Der Wunsch nach einem Führer dürfte der älteste sein». Wie das Kind den Vater, wie die Herde das Alphatier, wie die Jagdvölker den Häuptling, so suchten die Unterdrückten, Bloch zufolge, von jeher den Befreier und Führer ins gelobte Land: Moses, Alexander, Augustus, Christus, Barba­ rossa … Nicht anders die revolutionäre Klasse und die unentschiedenen Massen: Sie alle «wünschen ein Gesicht an der Spitze, das sie hinreißt», einen «Steuermann, dem sie vertrauen».17 Der Wunsch nach dem Führer ist also der Wunsch nach einer großen Ordnung, welche «die Tragödie der Einsamkeit» beseitigt. Der junge, schwule, langhaarige, proletarische Schriftsteller und Decadent Ronald M. Schernikau aus Westberlin, der noch am 1. September 1989 gegen den Strom Bürger der DDR geworden war, erklärte auf dem letzten ost­ deutschen Schriftstellerkongress Anfang 1990 unter dem Titel «Ich bin Kommunist» in einer bemerkenswerten Programm- und Abschiedsrede: «Honeckers Versuch, ein guter König zu sein, so klein und mickrig er auch ausfiel, es war der Versuch zum Konsens … Ich vermute, Sie alle haben diesen Konsens unterschätzt. Er war es, von dem Sie lebten. Er hat Ihre Reden so kunstvoll gemacht, Ihre Kinderbücher so lustig, Ihren Blankvers so spannend. Die BRD hat in ihren vierzig Jahren keinen ein­ zigen Blankvers hervorgebracht, keinen einzigen … Es gibt keinen Blank­ vers ohne Konsens. Warum haben alle mitgemacht? Weil Sozialismus war.»18 Damit hat dieser trotzig zu spät geborene Simplicissimus beiläufig auf eines der Betriebsgeheimnisse der kommunistischen Bewegung dieses 20. Jahrhunderts verwiesen. Tatsächlich war die Errichtung und Siche­ rung kommunistischer Gesellschaften immer und unweigerlich mit einer drastischen Senkung des längst erreichten Grades an Differenziertheit und Komplexität verbunden. Die Voraussetzung jeder Planbarkeit menschlicher Bedürfnisse ist eben ihre Reduktion – und damit zugleich die Beschneidung aller vitalen, unberechenbaren, anarchischen Triebe und Bestrebungen der Menschen. Das erfordert eine Art Absenkung der gesellschaftlichen Körpertemperatur, eine Dämpfung der natürlichen Um­ triebigkeit der Menschen und die Neutralisierung oder Ausscheidung ­sozial «unnützer» oder «schädlicher» Elemente – nach derselben Logik und denselben Gesetzen, die auf der erträumten Insel «Utopia» des Tho­ mas Morus und seiner literarischen Nachfolger galten.

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Condition totalitaire Die Spezifik der kommunistischen Bewegungen und Regimes ist in den klassischen Totalitarismustheorien gleich mehrfach verfehlt worden. Entwickelt in der Auseinandersetzung mit den faschistischen Regimes und ihren dynamischen Projekten eines «totalen Staats» und eines «to­ talen Kriegs», wurden die daraus gewonnenen Kriterien der Unterschei­ dung von liberalen und demokratischen Gesellschaften westlichen Typs im Kalten Krieg nun auch gegen die Sowjetunion und ihre Verbündeten gewandt. Erst in dieser neuen politischen Frontstellung gewann der Be­ griff des «Totalitarismus», der in den späten zwanziger und frühen drei­ ßiger Jahren sporadisch und eher adjektivisch («totalitär») schon in den politischen Wortschatz eingewandert war, seine wissenschaftliche und weltpolitische Bedeutung. Das Problematische dieses Theorems lag in der rein typologischen ­Parallelisierung zweier «diktatorischer Systeme», insbesondere der bol­ schewistischen UdSSR und des nationalsozialistischen Deutschen Reichs, bei weitgehender Absehung von ihren vollkommen unterschiedlichen historischen Voraussetzungen und «Aufgaben». Der Akzent lag daher auf den abstrakten Übereinstimmungen statt auf den spezifischen Diffe­ renzen. Damit wurde das Wesentliche verfehlt, und zwar nach beiden Seiten hin, nach der des Kommunismus wie der des Faschismus. Tatsächlich sind die politischen Systeme, die sozialökonomischen Ver­ fassungen und auch die ideologischen Kanons der faschistischen wie der kommunistischen Regimes immer in ­ihrer jeweiligen historischen Funk­ tion und Plausibilität zu sehen und zu verstehen. Die ersteren waren, summarisch gesprochen, darauf angelegt, durch politische Gleichschal­ tung, eugenische und ethnische Homoge­ni­sierung sowie durch eine totale Mobilmachung und Militarisierung sämtliche menschlichen und mate­ riellen Ressourcen ihres Landes für imperiale Eroberungs- und Groß­ raumprojekte einzusetzen – Projekte, die es ihnen als den Vertretern der aufstrebenden, aber frustrierten Großmächte Italien, Deutschland und Japan erst ermöglichen würden, ihren westlichen Rivalen Frankreich, Großbritannien und USA siegreich entgegenzutreten. Das war Sinn und Zweck ihres gesamten historischen Daseins. Soweit es sich um die Elimi­ nierung aller als schädlich, unnütz oder zersetzend deklarierten Teile der eigenen oder der frisch unterworfenen «Volkskörper» sowie um die Her­ auszüchtung einer neuen «Herren­rasse» handelte, da jedenfalls im Stahl­

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bad dieser entgrenzten Expansionskriege und kolonialen Landnahmen, in die auch der große Judenmord, der «Holocaust», als der Versuch ­eines totalen Genozids letztendlich eingebettet ist. Im Unterschied dazu waren die zur Macht gekommenen Kommunis­ ten in Russland wie in China zuallererst darauf konzentriert, im Feuer der von ihnen offensiv geführten Bürgerkriege diese kollabierten multi­ nationalen Großreiche auf neuer Basis wieder zusammenzufügen; die ­ihnen zugefallenen immensen historischen Räume zu durchdringen, ab­ zuschirmen und zu arrondieren; alle humanen und materiellen Ressour­ cen ihrer Länder und Gesellschaften möglichst einzuschmelzen und nach eigenen neuen Regeln zu reorganisieren; sowie ihren Machtkader und die darum sich kristallisierenden Massenorganisationen durch gezielte Rekrutierungen zu vergrößern und durch periodische Säuberungskam­ pagnen zu «reinigen» und zu stählen. Ihr terroristischer, oft paranoider Furor konzentrierte sich vorwiegend auf den eigenen heterogenen Ge­ sellschaftskörper, den es politisch-ideologisch zu modeln und sozial zu homogenisieren galt, und regelmäßig auch auf den eigenen Machtkader, bis in das oberste Führungskorps hinein. Zu solchen radikalen Formen einer Totalisierung ihrer Macht und ­gewaltsamen Einschmelzung ihres sozialen und nationalen Substrats waren die faschistischen Regimes weder in der Lage, noch hatten sie das angesichts ihres breiten Rückhalts quer durch alle Bevölkerungsschichten überhaupt nötig. In diesem Sinne kamen die kommunistischen Regimes dem Begriff einer «totalitären» Machtentfaltung jedenfalls weitaus näher als ihre faschistischen Rivalen, die intern nach viel konventionelleren Mustern funktionierten, ihre korporative Gliederung bis zum Ende wahr­ ten und gerade so eine furchtbare Effektivität an den Tag legten. Hannah Arendt war sich dieser Schräglage durchaus bewusst. Ihre Phänomenologie des «Totalitarismus» konzentrierte sich auf eine sehr eng umgrenzte historische Kernzone (von 1930 bis 1953), und sie be­ tonte, dass wir «allen Grund (haben), mit dem Wort ‹totalitär› sparsam und vorsichtig umzugehen» – weil totalitäre Regimes die einzigen seien, «mit denen es keine Koexistenz geben kann».19 Viele der entscheidenden Kriterien einer «totalen Herrschaft», die sie entwickelt hat: die Auflösung der Klassen; die Transzendierung der Na­ tion als Handlungsrahmen; die Zerschlagung staatlicher Strukturen und Institutionen, die Aufhebung rechtlicher Verbindlichkeiten und büro­ kratischer Verfahren; die Etablierung einer pseudo-wissenschaft­lichen Ideologie, die sich vermittels einer betäubenden Propaganda von allen

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Tatsachen löst; die Schaffung eines neuen, gesellschaftlichen Zusam­ menhalts durch einen umfassenden, auf keinen bestimmten politischen Gegner mehr gezielten Terror, der «alle so eng aneinanderschließt, dass nicht nur der Raum der Freiheit …, sondern auch die Wüste der Nach­ barlosigkeit und des gegenseitigen Misstrauens … verschwindet, und es ist, als seien alle zusammengeschlossen in ein einziges Wesen von gigan­ tischen Ausmaßen» – alle diese natürlich idealtypischen Bestimmungen und Tendenzen lassen sich auf die kommunistischen Regimes jedenfalls genauer und umfassender anwenden als auf ihre historischen Gegner.20 In alldem liegen aber auch die ungleich größeren intellektuellen und emotionalen Schwierigkeiten, die einer «Aufarbeitung», geschweige einer «Bewältigung» der Geschichte der kommunistischen Regimes und Par­ teien entgegenstehen. Über die besiegten Nationalsozialisten konnte in Nürnberg ein Internationales Tribunal gehalten werden, dessen Urteile auch als «Siegerjustiz» vor der Geschichte Bestand haben. Die Ge­ schichte der kommunistischen Bewegungen ist dagegen nicht nur in einem vollkommen anderen, fast entgegengesetzten Rhythmus verlaufen; son­ dern ihre entscheidenden Siege und Durchbrüche haben die Kommu­ nistischen Parteien erst im Widerstand gegen die Okkupationen und Versklavungsversuche der faschistischen Mächte errungen, bis sie bei Kriegsende dann die Nutznießer von deren historischen Niederlagen und der neuen geopolitischen Grenzlinien wurden. Eine Voraussetzung dafür war allerdings, dass die Kommunisten tat­ sächlich nicht – oder jedenfalls nicht in gleich sichtbarer Weise wie die Faschisten  – im Zeichen eines rassistischen «Lebensrechts des Stärke­ ren» und einer offenen Verachtung aller «Fremden» und «Untermen­ schen» antraten, sondern dass sie sich im Gegenteil so feierlich wie mög­ lich dem «Höchsten der Menschheit» und einer prinzipiellen Gleichheit aller Völker und Rassen verpflichtet erklärten. So verlogen das faktisch war, war das doch mehr als eine rhetorische Differenz. In dieser histori­ schen Konstellation liegt die eigentliche und vielleicht auch unaufheb­ bare Schwierigkeit, die Geschichte der kommunistischen Bewegungen intellektuell und emotional nach einem ähnlichen Muster zu «bewälti­ gen» wie die des Nationalsozialismus. Die ganze Paradoxie eines posttotalitären Seelenzustands enthüllt sich erst beim Blick auf diejenigen, die zu den überlebenden Opfern des Gro­ ßen Terrors von einst gehörten, oder zu den Angehörigen und Nachfah­ ren der Millionen von Ermordeten, Umgekommenen oder aus der Bahn

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Geworfenen. Sie alle blicken auf Jahrzehnte eines verordneten und habi­ tuell gewordenen Schweigens zurück, das bis tief in die Familien hinein­ reichte. Wie Orlando Figes in seiner groß angelegten biografischen Untersu­ chung «Die Flüsterer» gezeigt hat, internalisierten die «Angehörigen von Volksfeinden» oder die «Kulakenkinder» vielfach in absurder Weise das ihnen aufgedrückte soziale Stigma und versuchten, diesen Makel durch besondere Leistungsbereitschaft oder Loyalität vergessen zu machen, um sich auf diese Weise einen Weg zurück in die Gesellschaft zu bahnen und ihre Kinder und Enkel «nicht zu belasten». Wie überhaupt der Ter­ ror klebrige Bindungen zwischen den Terrorisierten und der Macht pro­ duzierte, die der Bindung misshandelter Kinder an ihre gewalttätigen ­Eltern glich. Deshalb war die offizielle sowjetische Haltung, wonach die Opfer des Terrors mit denen des Großen Vaterländischen Krieges und weiter mit allen Härten und Entbehrungen des «sozialistischen Aufbaus» ununter­ scheidbar zusammenflossen, für die Überlebenden und Angehörigen auch eine Möglichkeit, die eigenen traumatischen Erfahrungen zu bewälti­ gen. In Städten wie Norilsk oder Magadan, die einst so etwas wie den Kälte­pol der stalinistischen GULag-Welt bildeten und in denen heute die Nachfahren der ehemaligen Häftlinge und der Wärter zusammenleben, flossen alle Leidenserfahrungen in einem hybriden patriotischen Bürger­ stolz zusammen, der die Sklavenarbeit für das Regime in eine gemein­ same Kriegsanstrengung ummünzte und rühmte (so wie seit Neuestem in dem seinen Initiatoren enteigneten, unter staatliche Regie genomme­ nen GULag-Museum in Perm, das aus diesem widersinnigen Impuls eine hybride Geschichtspolitik gezimmert hat).21 In ihrer Untersuchung über Leiden und Sterben in Russland («Stei­ nerne Nächte») bezweifelt Catherine Merridale nach ihren Gesprächen mit Überlebenden und Hinterbliebenen sogar die Annahme, es müsse angesichts der unterdrückten Erfahrungen des Massenterrors so etwas geben wie «Traumata, die von einer Generation auf die andere übergin­ gen» (wie Figes sie voraussetzt). So weit diese alten Männer und Frauen überhaupt bereit waren, über ihre Leiden zu sprechen, oft zum ersten Mal, aber nie unter Tränen, zeichneten sie eher «Bilder des Stolzes und nicht des individuellen Schmerzes» – eines Stolzes auf das eigene Über­ leben.22 So subtil Merridale diese psychischen Bewältigungsformen mit tief verwurzelten, spezifisch russischen Haltungen zu Tod und Leiden in Verbindung bringt, so irritiert konstatiert sie, dass die sowjetische Manier,

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«durch Arbeit, Gesang und das Schwenken roter Fahnen» sowie einen aufgesetzten Optimismus über die ungeheuerlichen Verluste hinwegzu­ gehen, auf irgendeine Weise funktioniert haben müsse. Selbst wenn die Betroffenen heute über diese früheren Rituale lachten, sehnten sie sich nach «der Kollektivsphäre und dem Gemeinsinn zurück», den sie mehr als Wunsch denn als Wirklichkeit erlebt hatten. Über alles das lässt sich nur mit größter Zurückhaltung urteilen. Was weiß man schon über die Art und Weise, in der die Menschen in Ländern wie Albanien oder Vietnam, Nordkorea oder China diese Erfahrungen verarbeitet haben. Was hat es bedeutet, dass der maoistische Massenter­ ror, anders als in der stalinistischen Sowjetunion, fast immer in aus­ gedehnten Ritualen vor großen Massen ausgeübt wurde, die dadurch ­ihrerseits terrorisiert, aber zugleich auch mit «Blutsbanden» an das Re­ gime gefesselt wurden? Macht es den Schrecken wie die Empörung nicht im Nachhinein fast abstrakt, wenn kaum noch eine Regel zu erkennen war, wer in welcher Weise zum Opfer wurde und wer nicht? Nahm der Terror damit nicht fast den Charakter eines Unglücksfalls, eines Ver­ hängnisses, einer gesellschaftlichen Naturkatastrophe an? Schaut man auf die Erfahrung meiner, der bundesdeutschen Nach­ kriegsgeneration, drängt die Frage sich auf, ob es nicht womöglich leich­ ter war, mit Menschen, die im Nationalsozialismus als vorab bezeich­ nete Opfer (als Juden, als Zigeuner oder «Lebensunwerte») aus der Ge­ sellschaft ausgesondert oder zu Opfern eines maßlosen Vernichtungs­ kriegs geworden waren, posthum mitzufühlen oder sich sogar mit ihnen zu identifizieren – und sich damit als Nachgeborene von all den Tätern, Mittätern oder Zuschauern politisch abzugrenzen. Wie soll jemand dagegen eine Situation verarbeiten, in der die Tren­ nung zwischen «Opfern und Tätern» mitten durch die Gesellschaft und die Familien lief, wenn in der Blüte ihres Lebens stehende Eltern und Ver­ wandte, Kollegen oder Nachbarn auf irgendeinen Verdacht oder irgend­ eine Denunziation hin nachts lautlos abgeholt oder einem öffentlichen Scherbengericht unterzogen wurden, bei dem alle die Hand heben muss­ ten, nur um irgendwann später (aber darüber durfte niemand sprechen) in einem Erschießungskeller im Fließbandverfahren liquidiert zu werden oder in einem Arbeitslager an Typhus und Entkräftung zu sterben und in einem Massengrab anonym zu verschwinden? Eine Ahnung dieser ungeheuren Schwierigkeit überkam mich in der Zeit meiner intensivsten Beschäftigung mit der sowjetischen Geschichte,

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nach einem Besuch bei «Memorial» in Moskau im Dezember 1989, wo Menschen mit Briefen, Dokumenten, letzten Fotos ihrer verschollenen Angehörigen kamen, um wenigstens zu erfahren, wann und wo sie ge­ storben waren – wie man es aus Zeiten nach einem großen Krieg kennt. Damals schrieb ich: «Heute öffnen sich im Mutterland der Großen Sozialistischen Okto­ berrevolution endlich die Archive. Und gleichzeitig öffnen sich die Gräber. Das ist ein geschichtlicher Moment von furchtbarer Intensität. Inmitten der mehr oder minder dichtbesiedelten Kerngebiete Russlands – und kei­ neswegs nur im hohen Norden oder im fernen Sibirien – ist der Archipel der Lager und ‹Sondergebiete› wie ein urzeitliches Monstrum aufge­ taucht. Oder das, was davon übrig ist: eine Welt verfallener Wachtürme und Baracken, geisterhaft leerer Klöster und Paläste, manchmal von überirdischer Schönheit. Und fast immer umgeben von regelmäßig ange­ ordneten oder irregulär verstreuten Gräberfeldern. Darin liegen Men­ schen mit einem akkuraten kleinen Loch im Schädel, jeweils hundert beieinander, und das mal Tausend oder ein Vielfaches von Tausend. Gruppen Jugendlicher sind, wie auf einem Kinderkreuzzug, seit mehre­ ren Sommern unterwegs, um diesen Archipel zu vermessen, zu fotogra­ fieren, auszugraben. Und ihn nach Lebenszeichen zu durchstöbern: nach Stapeln niemals abgeschickter Briefe, nach Ausweisen und Blechnäpfen, nach geschnitzten Figuren und eingeritzten Botschaften. – Aber niemand scheint mehr da, der diesen historischen Moment in seiner ganzen furcht­ baren Intensität wahrnimmt. Oder jedenfalls erscheint das, was wahr­ genommen wird, ungleich abstrakter, ferner, mysteriöser als die anderen Menschheitsverbrechen dieses Zeitalters. Es scheint, als sollte die Über­ legenheit des Kommunismus über seinen primitiveren Gegenspieler und Konkurrenten, den Faschismus und deutschen Nationalsozialismus, da­ rin noch einen letzten Triumph feiern.»23 Womöglich noch skeptischer war im selben Jahr 1990, ein Jahr nach dem Massaker auf dem Platz des himmlischen Friedens, mein Blick auf China: «In China ist die Zeit dieser archäologischen Grabungen noch nicht gekommen. Vielleicht wird es sie in dieser Form auch später nicht geben, obwohl die Zahlen, die genannt werden, denen aus der Sowjet­ union bestürzend gleichen. Aber vielleicht werden sich die Grabfunde hier, im Reich der Mitte, in ganz anderer Weise über die Oberfläche des Landes verteilen, sind sie auf andere Weise dem Lehm, dem Wasser und der Luft überantwortet gewesen. Vielleicht gibt es ja hier überhaupt nicht dieses übermächtige Pathos des Erinnerns, Pamjat’ oder Memorial

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genannt, wie heute in Russland … Ich habe als langjähriger Maoist nicht die geringste Ahnung.»24 Jedenfalls hat es viele politische wie psychische wie intellektuelle Gründe, warum die Auseinandersetzung mit den Abgründen der eigenen Geschichte in den Hauptländern des heutigen Postkommunismus noch ungleich schwieriger und langwieriger ist als die Abrechnung mit dem Nationalsozialismus, dessen Verbrechen in einem Zeitraum von zwölf Jahren verübt worden waren und 1945 gleich offen zutage lagen. Für die Mordtaten kommunistischer Regimes ist niemand je verurteilt worden, mit Ausnahme einer Handvoll führender Roter Khmer. Alles versinkt im Morast einer historischen Tragik, die Mörder und Gemordete gleicher­ maßen zu umschließen scheint, während die Orte des einstigen Schre­ ckens im Wind der Geschichte verwehen. Schließlich kommt, was die sowjetischen Opfer betrifft, noch etwas anderes hinzu – nämlich dass gerade für die Überlebenden dieses Zeit­ alters von Terror und Krieg die postsowjetische Welt der 1990 er Jahre womöglich noch härter war als die Breschnew-Jahre, jedenfalls für sie als alte Menschen, deren Renten fast wertlos und deren Ersparnisse über Nacht vernichtet wurden. Für die etwas jüngeren Überlebenden der maoistischen Terrorkampagnen mag dieses Schicksal im aufstrebenden China der letzten beiden Jahrzehnte nicht ganz so harsch gewesen sein, sind die bitteren Erinnerungen vom Baulärm der aus dem Boden schie­ ßenden Mega-Cities überdröhnt und von den Möglichkeiten, noch spät der Armut zu entkommen, kompensiert worden. Allerdings hat auch das postmaoistische China im Jahrzehnt nach Maos Tod seine wenngleich gedämpften großen Debatten erlebt. Seine Bürger haben den vergangenen Terror und die ungeheuren Menschen­ opfer ihrer jüngeren Geschichte womöglich noch frischer im Gedächtnis als die Bürger der ehemaligen Sowjetunion – gespeichert in einer groß­ artigen Gegenwartskunst und -literatur und in einem enormen Fundus mühsam, oft auf eigenes Risiko gesammelter Lebenszeugnisse, Doku­ mente und Bilder.25 Je mehr die herrschende Partei alle diese Brüche und Kataklysmen ihrer jüngeren Geschichte aber mit einem vorangepeitsch­ ten Wirtschaftswachstum zu überspielen sucht, umso drängender – sollte man meinen – müsste die Frage im Raum stehen, wozu dann die Abermil­ lionen von Opfern und alle die zerstörten Leben eigentlich nötig waren. Wozu das alles?! Nicht nur in den Lebensgeschichten und Ahnentafeln von Hunderten Millionen von Menschen und ganzen Familien und Clans klaffen Lücken,

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die sich nicht schließen lassen. Selbst die offizielle Geschichte der herr­ schenden Partei gleicht einem Vexierbild, in dem es mehr blinde Flecken als erkennbare Konturen gibt, mehr Geheimnisse als Tatsachen; wäh­ rend die Galerie der historischen Führer einem grinsenden Gebiss gleicht, in dem jeder zweite Zahn fehlt, weil jeder zweite historische Parteiführer eine Unperson ist. Dieses China der Kommunistischen Partei hat bis heute kein brauchbares und vollständiges, auf Quellen gestütztes, auf der Höhe der internationalen Forschung gezeichnetes, kritischen Erörte­ rungen zugängliches Bild der eigenen Geschichte, weder der älteren noch der jüngeren; jedenfalls nicht in seinen offiziellen Hervorbringungen, ganz im Gegensatz zu den glänzenden Arbeiten chinesischer Historiker an allen großen Universitäten der Welt.26 Kann ein Land, und ausgerech­ net ein Land mit einer so alten und reichen Kultur, auf Dauer so leben?

2. Das Gespenst des Kapitals

Ende des Kommunismus?

T

axonomisch ist die Volksrepublik China des 21. Jahrhunderts ein welthistorisches Novum: die Kombination von etwas, das nach allen konventionellen Maßstäben eine vorwiegend kapitalistische Ökonomie darstellt, mit etwas, das nach allen konventionellen Maßstäben unzwei­ felhaft ein kommunistisches Staatswesen ist – und beide sind bis heute die dynamischsten ihrer Art.»1 Gegen diese Einschätzung Perry Andersons habe ich mich wie viele Beobachter lange gesperrt – nicht gegen das Urteil über die ultrakapita­ listische, extrem weltmarktorientierte, nach Dauer und Energie präze­ denzlose Entwicklungsdynamik Chinas seit den 1990 er Jahren, sondern gegen das über den politischen Charakter dieses Staatswesens. Wenn Be­ griffe wie «Sozia­lismus» und «Kommunismus» noch irgendeine norma­ tive oder deskriptive Bedeutung haben sollen, dann können sie für die Volksrepublik China von heute doch allenfalls als ideologische Fassaden dienen. Was die chinesischen Kommunisten als neue Leitbegriffe verkün­ det haben wie 2007 etwa das Ziel einer «Großen Harmonie», wirkt the­ oretisch kaum satisfaktionsfähig und ist nur zu offensichtlich eher dem Vorstellungshorizont des Konfuzianismus entlehnt, in diametralem Wi­ derspruch zum Marxismus-Leninismus oder den «Mao Tse-tung-Ideen». Hatte Mao seine mörderischen Kampagnen gegen «Revisionismus» und «Rechtsabweichung» nicht exakt gegen jenen «kapitalistischen Weg» entfesselt, den diese Partei unter der Ägide Deng Xiaopings seit 1978 in einer abrupten Kehrtwende eingeschlagen hat? Was können Mao, Stalin und ­Lenin und erst recht Marx und Engels für die Kommunistische Par­ tei Chinas heute also mehr sein als Säulenheilige, die eine Legitimität verbürgen sollen, über die diese Partei längst nicht mehr verfügt? Und doch zwingt das Beispiel Chinas (und auf andere Weise das der Länder der ehemaligen Sowjetunion) uns nicht nur dazu, die Formel vom «Ende des Kommunismus» nach 1989 stark zu relativieren, son­ dern ebenso, die Geschichte des Kommunismus vor 1989 selbst noch einmal zu re-interpretieren. Auch wenn man den Exaltationen nicht auf

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den Leim geht, mit denen eine ausgedehnte internationale Literatur jeg­ licher Couleur das chinesische Entwicklungsmodell als die erfolgreichere Antwort auf ein liberales, mit Menschenrechtspostulaten verknüpftes, konflikthaftes westliches Entwicklungsmodell rühmt: Es bleibt die Frage, wie die Folgen und Residuen eines kommunistischen Gesellschaftssys­ tems und wie selbst die kulturrevolutionären Exzesse der Mao-Ära sich in das Bild eines welthistorisch präzedenzlosen Entwicklungsschubs fü­ gen, den China als das älteste Reich der Welt in den vergangenen drei Jahrzehnten durchlaufen hat. Aber sind es eigentlich nur «Residuen»? Wirkt nicht manches, was man als überkommenen ideologischen Formelkram abtun oder als eine neo­ totalitäre geistige Konditionierung für anachronistisch halten möchte, schon wieder beunruhigend modern und zeitgemäß? Stellt das kom­ munistische China von heute womöglich alle unsere konventionellen Weisheiten in Frage, wonach eine gesellschaftliche Pluralisierung und sozialökonomische Höherentwicklung sich früher oder später in einem Bedürfnis nach Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und persönlicher Selbst­ bestimmung geltend machen müssten? Wird womöglich das, was man einmal als «Kommunismus» bezeichnet hat, im heutigen China gerade neu erfunden – oder jedenfalls re-formatiert? Vielleicht hatten der «Kommunismus» oder «reale Sozialismus» auch im vergangenen 20. Jahrhundert schon viel weniger mit Gemeinschaft und Gemeinwirtschaft in irgendeinem emphatischen Sinne zu tun als mit Akkumulation und Zentralisierung staatlicher, ökonomischer und mili­ tärischer Macht in den Händen einer neuen Klasse, und statt mit sozialer Gerechtigkeit oder Egalität eher mit beschützender Kollektivität und ­einem (imaginären) Aufgehobensein in einem großen, unhinterfragbaren Ganzen. Und vielleicht war die hochfliegende Losung des «Internationa­ lismus» von jeher eher mit Bindestrich zu schreiben – als ein militanter «Inter-Nationalismus», der sich unter dem Banner des Antiimperialismus, Antifaschismus und Antizionismus vor allem dem subversiven «Kosmo­ politismus» westlicher Finanz-, Waren-, Denk- und Lebenswelten ent­ gegenstellte. Jedenfalls war die Errichtung der von Kommunisten geführten Gesell­ schaftssysteme am Ausgang der Weltkriege des 20. Jahrhunderts, wie wir zu zeigen versucht haben, an ein ganz bestimmtes globales Mächte­ spiel geknüpft: an einen weltpolitischen oder sogar welthistorischen Ge­ gensatz zwischen den beiden gestürzten und wiederaufgerichteten alten autokratischen Reichen des Ostens, Russland und China, auf der einen

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Seite und einem neuen, atlantischen, hegemonialen Westen, der sich am Ausgang des Ersten und des Zweiten Weltkriegs seinerseits erst weltpoli­ tisch formiert hat. So betrachtet, war das, was als ost-westliche «Sys­ temkonkurrenz» und ideologischer Gegensatz von «Kapitalismus» und «Sozialismus» erschien, immer auch Ausdruck und Medium einer in der sozialen und mentalen Konstitution dieser Länder tief verankerten geo­ politischen Rivalität, die in umgekehrter politisch-ideologischer Kons­ tellation (sozialistischer Westen versus kapitalistischer Osten) wohl schwer vorstellbar gewesen wäre. Die Weltsituation im dritten Jahrtausend scheint von all dem weit weg – und trägt doch in Vielem das Gepräge eines wieder auflebenden Kalten Kriegs, in dem die beiden Hauptmächte des einstigen Weltkommunis­ mus, Russland als Erbin der UdSSR und die Volksrepublik China, einer zunehmend fragilen westlichen Allianz gegenüberstehen. Diese Konstel­ lation trägt latent wieder Züge einer neuen Systemkonkurrenz, die sich allerdings weniger als früher um die Produktions- und Eigentumsverhält­ nisse, umso mehr dagegen um Fragen der demokratischen Verfassung, der alltäglichen Rechte, der geistigen Freiheiten sowie der zivilen Lebenskul­ tur dreht  – Differenzen, die mit den Attributen «kapitalistisch» oder «sozialistisch» nicht annähernd noch zu beschreiben sind. Umgekehrt fast: In ihren ­Arbeits- und Wirtschaftsregimes sind die postkommunisti­ schen Staaten «kapitalistischer» und in ihren Außenpolitiken «nationa­ listischer» als die Staaten und Gesellschaften des Westens, die ihrerseits in ihrer Sozialverfassung «sozialistischer» und in ihren Verflechtungen «internationalistischer» sind als ihre alten und neuen Antipoden. In Russland und China lassen sich Züge eines politischen und ideolo­ gischen Farbwechsels beobachten, der dem sozialökonomischen System­ wechsel folgt und hilft – so wenn Präsident Putin seinem oligarchischen Machtclan den russisch-orthodoxen Fundamentalisten und glühenden Antibolschewisten Iwan Iljin als seinen Leitphilosophen empfiehlt, in gar nicht so paradoxer Kombination mit der Rehabilitierung Stalins als dem Sieger im Großen Vaterländischen Krieg; oder wenn Präsident und Parteichef Xi Jinping neben der erhöhten Bedeutung, die er Mao Tse­ tung als dem Partei- und Staatsgründer wieder zuschreiben möchte, nun auch ganz explizit dem geistigen Erbe des Konfuzius huldigt. Freilich ­handelt es sich um einen «Konfuzianismus» in der posthum kodifizier­ ten, verstümmelten Ideologie eines hierarchischen Beamtenstaats und ­einer darin eingepassten, paternalistisch gegliederten Gesellschaft, statt

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etwa im Sinne jenes «Meisters Kong», der ein Ethos geistiger Unabhän­ gigkeit, ironisch-dialektischen Denkens und passiver Widerständigkeit lehrte. Diese vollkommen unvereinbaren ideologischen Referenzen, die reinen Zitat- und Signalcharakter tragen, eröffnen vielleicht einen neuen, klare­ ren Blick auf das, was der Kommunismus des vergangenen Jahrhunderts tatsächlich gewesen ist und bedeutet hat. Es wird damit deutlicher, wel­ che Ratio und welche untergründigen Motive jenseits der ideologischen Formeln den kommunistischen Umstürzen und Staatsgründungen zu­ grunde gelegen haben. War das übergeordnete Ziel der Kommunisten überhaupt «der Kommunismus» im Sinne der schönen, unangreifbaren Marx’schen Vorstellung einer «Association, worin die freie Entfaltung eines Jeden, die Bedingung der freien Entfaltung Aller» wäre? Oder war die «kommunistische», sprich: die kollektivistische, staatliche Zusam­ menfassung aller menschlichen und materiellen Ressourcen in den Hän­ den einer angeblich wissenschaftlich erleuchteten, diktatorisch herrschen­ den Partei und Machtelite nicht eher nur ein Mittel zu anderen, viel handgreiflicheren sozialen, nationalen oder imperialen Zielsetzungen, die diesen Parteien und Staaten auch den entscheidenden Teil ihrer histori­ schen Binde- und Durchschlagskraft geliefert haben? Die Frage stellen, heißt sie beantworten.

Die Welt von 2017 Für die exponentiellen Wachstumsschübe, in denen China sich (anders als Russland und die Nachfolgestaaten der UdSSR) seit dem Beginn der Reformperiode der 1980 er Jahre entwickelt, gibt es kaum einen ange­ messenen historischen Vergleich. Allerdings sind sie nur ein Ausschnitt aus einem größeren Bild, in dem sich die Zentren einer kapitalistischen Wirtschaftsdynamik zunehmend von Europa und Amerika nach Asien, vom Atlantik in den Pazifik verlagern. Man kann die historische Tragweite dieser Entwicklungen, in denen eine fünfhundertjährige Geschichte binnen weniger Jahrzehnte an ihr Ende kommt, kaum überzeichnen – auch wenn die weiteren Konsequen­ zen unklar sind. Dass schon der Begriff «Asien» eine europäische Kon­ struktion ist, weder einen Kontinent noch eine kulturelle Einheit bezeich­ net, ist ein Gemeinplatz, der dennoch gerne übergangen wird. Was ist zum Beispiel mit Indien, das mittlerweile die am schnellsten wachsende

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Volkswirtschaft der Welt ist, aber als eine viel weniger kompakte, he­ terogenere Gesellschaft mit China vorerst nicht konkurrieren kann. Die­ ses Indien hat die längste umstrittene Grenze der Welt gerade mit China, um die beide Länder schon einmal einen Krieg geführt haben – mit einem Nachbarn also, der das «Dach der Welt» mit seinen lebenswichtigen Wasserreserven, dem alle seine Flüsse entspringen, ebenso im Blick hat wie das süd- und ostchinesische Meer, über das seine Verkehrsverbin­ dungen laufen. Der Anspruch Chinas auf die Kontrolle dieser Meere ist die bei Weitem größte Territorialforderung irgendeines Landes gegen seine Nachbarn seit dem Zweiten Weltkrieg, eine Forderung, die sich auf Inseln und unterseeische Ressourcen, aber auch auf die Kontrolle der am dichtesten befahrenen Schifffahrtsrouten der Welt bezieht. Anders als das alte Reich der Ming und Quing hat das heutige China nicht mehr vor, sein Ausgreifen in die Welt auf seine engere Peripherie zu beschrän­ ken. Die Wucht seiner sozialökonomischen und gesellschaftlichen Ent­ wicklung macht es zugleich auch zu einem «unruhigen Reich», ähnlich wie Deutschland es an der Wende zum 20. Jahrhundert war. Allerdings steht «Asien» mit seinen 4,4 Milliarden Bewohnern noch immer nicht auf Augenhöhe mit Europa und den USA zusammengenom­ men. Auch die globale Ausstrahlung der «asiatischen Werte» (wenn es sie in irgendeinem Sinne gibt) hält sich im Verhältnis zum Universalis­ mus westlicher Denkweisen (zu denen auch der Marxismus zu zählen ist) vorerst in engen Grenzen. Das gilt auch für die chinesische «Soft­ power»  – ein erstaunlich läppischer Begriff, der das Künstliche dieses ideologischen Verschnitts aus einem vagen «sinisierten» Marx mit Mao, Xi und Konfuzius noch unterstreicht  –, trotz Hunderter, wie Cham­ pignon-Kulturen angesetzter «Konfuzius-Institute» in aller Welt. Noch schauen asiatische Schlüsselländer wie Japan, Südkorea, Vietnam oder Indien im Zweifelsfall eher nach Europa und Amerika und kann von ­einem neuen, weltpolitisch und kulturell ausgreifenden «Osten» in dem Sinne, in dem man von einem «Westen» spricht, nicht die Rede sein – wovon gerade der Kampf zeugt, den China, ähnlich wie Russland, mit einem «Great Firewall» und einem verdeckten «Cyberkrieg» gegen die «schädlichen westlichen Ideen» führt.2 Wo Xis China sich für seinen Aufstieg zur Weltmacht der Rücken­ deckung von Putins Russland versichert, da ergibt das eine starke Veto-­ Koalition gegen den Westen; aber eine aktive Bündnisachse ist das bisher nicht. Das weltwirtschaftlich auf dem Niveau Brasiliens stagnierende Russland muss selbst das Übergewicht seines unbeirrt aufsteigenden

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Nachbarn fürchten, wenn nicht sogar eine stille Übernahme seiner man­ gelhaft erschlossenen sibirischen und fernöstlichen Räume sowie ein Ab­ gleiten der zentralasiatischen Mitglieder seiner defizitären «Eurasischen Union», durch die gerade eine «neue Seidenstraße» geschlagen wird, in den chinesischen Orbit. Und auch sonst steht China der neuen Mission Russlands als einer «eurasischen» Weltmacht eher im Weg als zur Seite. Wenn Peking dem neuen, ruinösen weltpolitischen Auftrumpfen Moskaus von der Ukraine bis Syrien Rückendeckung gibt, dann ohne selbst etwas zu riskieren. Wo immer Russland sich als revitalisierter Militärstaat fest­ rennt und Pyrrhussiege feiert, the winner is China. Nordkorea, der einzige und zugleich hochproblematische Verbündete Chinas, zeigt seiner weltpolitischen Garantiemacht ein schauerliches Zerrbild der eigenen Vergangenheit  – so wie es überhaupt vieles von dem verkörpert, was ein kommunistisches Regime im Extremfall bedeu­ ten konnte und noch immer kann: eine existentiell verschweißte, um ­einen omni­potenten, allwissenden, vergötterten Führer gruppierte «innere Partei», die ein breites Funktionärskorps dirigiert, das in der Hauptstadt Pyöngyang wie in einem pompösen Kollektivbau konzentriert ist, und die gleichzeitig ein ausgedehntes Offizierskorps aufgebaut hat, mit des­ sen Hilfe sie eine machtvolle Massenarmee und eine avancierte militäri­ sche Hochrüstung unterhält. Diese Machtpyramide erhebt sich unange­ fochten auf der Basis einer weitgehend ausgesaugten, totalitär erfassten und mobilisierten, mit extremen Zwangsmitteln disziplinierten, nach vererbbaren Kriterien der Zuverlässigkeit segregierten und vom ersten Tag im Kinderhort an geistig konditionierten Bevölkerungsmasse von 25  Millio­nen, in einem Land ohne Öffentlichkeit, ohne Statistik und ohne Geschichte – außer einer Schöpfungsgeschichte, in deren Zentrum als mythischer Ahnvater und Gottkaiser Kim I. steht, in Bronze gegossen oder in süßlichen Kinderbildern ausgemalt, umgeben von einem Helden­ pantheon, dessen plastinathafte Figurengruppen und Kampfszenen in ­einer Endlosschleife gefeiert werden. Diese einzigartige Sozialformation, ein Amalgam aus modernen mao­ istischen und stalinistischen Machttechniken mit dem Geist einer orien­ talischen Despotie ältesten Stils, das dank einer möglichst luftdichten Abschließung bis in die Sprache hineinwirkt (ein Neusprech aus Alt­ koreanisch und Ideologiejargon), existiert nun bereits in der dritten oder vierten Generation. Was das mit Menschen macht, lässt sich aus den Schicksalen der wenigen Entkommenen, die in der Welt draußen meist nur schwer zurechtkommen, allenfalls erahnen. Die Hälfte kehrt zu­

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rück – was sogar die Vermutung genährt hat, es handele sich um ein ech­ tes totalitäres Utopia, in dessen Bann, mehr als auswärtige Beobachter sich vorstellen können, das Gros seiner Bürger unverändert stehe. Einem Wort Kim Il Sungs (Kim die Sonne) zufolge liege «die starke, brüderliche Liebe», die alle Koreaner vereine, vor allem nämlich in ihrer Homogeni­ tät, da «unser Volk … das reinste und sauberste in der Welt ist», wie der Sohn Kim Jong Il gesagt haben soll. Diese «Heimat …, aus deren Busen alles wahre Leben und Glück entspringt», sei im Kampf gegen alle äuße­ ren Invasoren (Chinesen, Japaner, Amerikaner) noch stets verteidigt oder zurück­erobert worden. Im heiligen Berg Paektu habe sie ihr ewiges, spirituelles Zentrum und durch den Urkönig Tangun sei sie in unvor­ denklichen Zeiten geschaffen worden. Somit vollendet sich in der «elter­ lichen» Führerfamilie der Kims das glückliche Schicksal dieses einzig­ artigen, sich von allen unreinen, schädlichen Elementen immer wieder säubernden Volkes.3 Alle diese Einschränkungen ändern nichts am Bild eines Aufstiegs ­«Asiens» – und an der zentralen Rolle, die darin dem nach-maoistischen China mit seinem sozialökonomischen take-off zukommt, das alle Para­ meter sprengt. Eine kurze, sehr summarische wirtschaftsgeschichtliche Langzeitbetrachtung mag das illustrieren: Die Wachstumsraten in England, später in Frankreich, Deutschland und den USA in der Phase der «industrious» und «industrial revolution» zwischen 1780 und 1914 lagen im Durchschnitt nie höher als 2 bis 4 %, und die Investitionsraten bewegten sich zwischen 5 und maximal 12 % des Sozialprodukts. Das war nach allen historischen Vergleichsmaßstä­ ben ungeheuer viel und bedeutete bereits einen exponentiellen Entwick­ lungssprung in der Geschichte der Menschheit, der jedoch im Ersten Weltkrieg und nach einer kurzen Zwischenblüte in der großen Depres­ sion der 1930 er Jahre mündete.4 In China lagen die Investitionsraten seit der endgültigen weltwirt­ schaftlichen Öffnung 1992 konstant bei 35 bis 40 % des Bruttoinlands­ produktes BIP. Durch den immer höher getriebenen Kapitaleinsatz von zuletzt 45 bis 50 % des BIP, dem ein Absinken des Privatkonsums von 50 auf 35 % entspricht, ist über drei Jahrzehnte hinweg ein kontinuier­ licher Zuwachs der Wirtschaftsleistung von fast 10 % pro Jahr erzielt worden.5 Damit hat sich seit dem Beginn der Reformen Anfang der 1980 er Jahre der ökonomische Stoffwechsel dieser Gesellschaft um das Zwanzigfache (oder eine ähnliche Größenordnung) aufgebläht  – eine

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fast monströse Vorstellung, die nur einen annähernden Begriff davon ge­ ben kann, was das im Leben und in der Psyche von Menschen bedeutet. Dieser späte Entwicklungssprung Chinas unterscheidet sich qualita­ tiv wie quantitativ vom sowjetischen Modell einer beschleunigten, aus­ schließlich aus inneren Reserven von Arbeitskraft und Bodenschätzen schöpfenden Industrialisierung, die in China beim «Großen Sprung» ähnlich fragwürdige Resultate erbracht hatte. Stattdessen hat China seit den achtziger Jahren den Akt der kapitalistischen Urzeugung – die Kom­ bination von akkumuliertem Kapital und vollkommen «freigesetzter» Arbeitskraft – in größtem Maßstab noch einmal vollzogen. Dengs Faustformel «In wirtschaftlichen Fragen gelockerte Kontrolle, in politischen Fragen strikte Kontrolle» verband den Selbsterhaltungs­ trieb seiner Partei mit den Raubtierinstinkten nepotistischer Selbstberei­ cherung – also mit denjenigen Instinkten, die sich auch überall sonst in der postkommunistischen Welt im Zugriff jüngerer Parteikader und Ge­ heimdienstler auf das herrenlose Staatsvermögen geltend machten. Mit einem wesentlichen Unterschied: Die oligarchische Macht- und Wirt­ schaftselite blieb und bleibt, anders als in Russland, noch immer von der eisernen Klammer der Kommunistischen Partei zentralistisch zusam­ mengefasst. Über das System nomenklaturistischer Ernennungen, über die staatlichen Planvorgaben, die daran geknüpften Kreditvergaben der staatlichen Banken und die stets notwendigen Genehmigungen ver­ mochte und vermag die Partei jederzeit ihre diktatorische Kontrolle aus­ zuüben, nicht nur über die rund 100 gigantischen Staatsbetriebe, die Schlüsselbereiche besetzt halten und noch immer rund 30 % der Wirt­ schaftsleistung erbringen, sondern auch über die neuen, superreichen Privatunternehmer, die so etwas wie Konzessionäre sind und ganz über­ wiegend selbst der Partei angehören und im Volkskongress sitzen. So wurde ein hybrides System neuen Typs geschaffen, in dem die kapi­ talistischen Prinzipien des Wirtschaftens und Akkumulierens sich fast ungehindert entfalten können, während die Partei nach leninistischem Rezept die Kommandohöhen des Staates wie der Wirtschaft besetzt hält und sich in nahezu jeder gesellschaftlichen Entscheidung das letzte Wort vorbehält. Dabei steht sie selbst laut Verfassung über der Verfassung, also über dem Staat und außerhalb des Rechts, mittels dessen sie die ­übrige Gesellschaft streng reguliert und beherrscht, notfalls, indem sie «die Gewehre kommandiert».

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Der von niemandem erwartete Erfolg dieses hybriden Systems, der bis heute andauert, war allerdings auch Teil einer epochalen Auftriebsbe­ wegung, die sich im Laufe der 1970 er Jahre bereits von den USA und Westeuropa nach Asien zu verlagern begonnen hatte. Zunächst war es das besiegte Japan, das – auf der Grundlage eines hundertjährigen Vorlaufs sozialer und technologischer Modernisierungen seit der «Meiji-Res­ tauration» der 1870 er Jahre – in vielfältiger, enger Verbindung mit den USA wieder zu den führenden Industriestaaten der Nachkriegszeit auf­ schloss. Dahinter folgten während der 1980 er Jahre mit noch größeren Entwicklungssprüngen die diktatorisch regierten kleinen «Tigerstaaten» Südkorea und Taiwan, im Verbund mit anderen Ländern Südostasiens. Entwicklungsmuster und Wachstumsraten dieser «Tigerstaaten» unter­ schieden sich in den 1980 er und 1990 er Jahre noch nicht wesentlich von denen der Volksrepublik China; dafür gehörten sie selbst zu den exter­ nen Antreibern und Nutznießern dieser innerchinesischen Konjunktu­ ren, die insbesondere auch durch den Austausch mit den kommerziell höchst erfolgreichen auslandschinesischen Communities im ganzen pazi­ fischen Raum getragen wurden, mit den beiden Stadtrepubliken Singa­ pur und Hongkong als sichtbaren Eckpfeilern und mit Kalifornien am anderen Ende. Festlandchina und Überseechina gingen eine in dieser Art beispiellose Verbindung ein.6 Dabei zeigt sich ein Paradox, das die Erfolgsgeschichte des kommunis­ tischen China in ein etwas ironisches Licht rückt. Zwar haben Taiwan oder Südkorea die kapitalistische Transformation ihrer stationären, bäuerlich-patriarchalen Gesellschaften und ihre forcierten Industrialisie­ rungskampagnen seit den 1960 er Jahren in ähnlich politisch repressiven und staatlich organisierten Formen vollzogen, aber dafür deutlich so­ zialverträglicher und egalitärer. Nach allen Parametern  – der Einkom­ mens- und Eigentumsverteilung, der Kluft zwischen Stadt und Land, dem Anteil des privaten Konsums am Sozialprodukt, der Abhängigkeit vom Export und von ausländischem Kapital – schneidet die kommunis­ tische Volksrepu­blik China weitaus schlechter ab als diese Bollwerke des Antikommunismus von einst.7 Umso weniger Hemmungen zeigte das internationale Kapital, in das nach dem Massaker auf dem Tian’anmen unverändert von der Kommu­ nistischen Partei beherrschte Land zu strömen und die Arbeitskraft der im Zustand förmlicher Rechtlosigkeit und Abhängigkeit gehaltenen, viel­ fach zunächst in Baracken behausten «proletarischen Massen» (zu einem übergroßen Teil junge Frauen) mittels großer Joint Ventures mit Staats­

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firmen oder über einheimische Subkontraktoren auszubeuten. Gerade die diktatorische Verfassung des Landes und seine fortexistierenden zen­ tralwirtschaftlichen Strukturen dürften für westliche Konzerne und In­ vestoren, bei allen Klagen über Bürokratie und Bestechung, letztlich sehr vorteilhaft und vergleichsweise übersichtlich sein. Umgekehrt waren und sind diese um Konzessionen kämpfenden westlichen Geschäftsleute für die robusten kommunistischen Wirtschaftsmanager gut beherrsch­ bare Lieferanten von Kapital und Know-how, die man finanziell und technologisch abschöpfen und denen man die meisten Bedingungen dik­ tieren kann. Die Lenin’sche Elementarfrage «Wer wen?» beantwortet sich ziemlich einseitig. Die Macht des internationalen Kapitals findet an der Macht einer diktatorisch herrschenden, aber auch managerial tüchtigen politischen Elite eines so großen Landes wie China jederzeit ihre Grenze. Historisch voraussetzungslos war dieser Entwicklungssprung nicht. China war schon seit dem Mittelalter das ferne Andere Europas. Alle neueren Globalgeschichten, ob Christopher  A. Baylys «Geburt der modernen Welt» oder Jürgen Osterhammels «Verwandlung der Welt», nehmen, wenn sie den epochalen Aufbruch der europäischen Staaten von den frü­ hen Entdeckungen bis zum modernen Kapitalismus und Imperialismus beschreiben, als Referenzpunkt China in den Blick, so wie es Adam Smith auch schon getan hatte.8 Auf eine dichte Population, intensive Arbeits­ kultur und große Gelehrsamkeit gestützt, war das chinesische Kaiser­ reich bis zum Ende des 18. Jahrhunderts nicht nur in seiner Macht- und Prachtentfaltung Europa eher voraus; selbst im Lebensstandard seiner Bewohner, der Reichsten wie der Ärmsten, stand es Europa (auch wenn das wirtschaftsgeschichtlich umstritten ist) nicht wesentlich nach. Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts tat sich jene «Great Divergence» (Kenneth Pomeranz) auf, jene abrupte Kluft zwischen China und Europa, die seither die Historiker beschäftigt.9 Diese Große Divergenz beginnt sich jetzt wieder zu schließen – so voreilig es auch ist, ein «Pazifisches Zeit­ alter» als die neue, beherrschende Weltkonstellation des 21. Jahrhunderts auszurufen, die die «Atlantische Revolution» des vorigen Jahrhunderts überflügelt. Eher handelt es sich um eine multipolare, globale Entwick­ lung und um die Herstellung einer dichten, allseitigen, sich permanent ändernden wirtschaftlichen und kommunikativen Verflechtung, die mittlerweile alle Kontinente fast lückenlos umfasst. Seit den 1990 er Jahren befindet sich die Welt in einem neuen, vierten Schub einer noch längst nicht ans Ende gekommenen industriellen Revo­

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lution – die mit der allseits beschworenen «Industrie 4.0» vorerst noch sehr wenig zu tun hat, geschweige mit einem «postindustriellen» Zeit­ alter. Wer auf die glitzernden Büro- und Wohntürme der neuen Mega­ metropolen und die zahllosen Baustellen, auf denen rund um die Uhr ge­ arbeitet wird, schaut – in Shanghai nicht anders als in Dubai, Singapur oder Mumbai  –, der kann mit bloßem Auge erkennen, dass alle diese himmelstürmenden Bauten aus Glas, Stahl und Beton außer mit moder­ ner Großtechnik völlig unverändert mit den nackten «muscles and ­bones» der Arbeiter errichtet werden, die in Arbeitspausen aus Papp­ eimern ihre aufgegossenen Instantsuppen löffeln und abends in ihre Container verschwinden. So wie auch die schicken devices der globalen Informations- und Entertainmentindustrien und die coole Kleidung der internationalen Labels noch immer in riesigen überfüllten Fabrikanlagen oder in kleinen erstickenden Sweatshops von Hand gefertigt werden, in China wie in Mexiko, Bangladesh oder Vietnam, vielfach unter gesund­ heitsschädlichen, ausbeuterischen Regimes von Subkontraktoren, die zu den eigentlichen, niemandem verantwortlichen Produzenten geworden sind. Was für eine zwergenhafte «Werkbank der Welt» waren die neuen Industriestädte und Fabrikviertel Englands im 19. Jahrhundert, vergli­ chen mit den rings um die Megacities aufs freie Feld gesetzten Industrie­ arealen und staatlich geplanten Sonderwirtschaftszonen im China des 21. Jahrhunderts. Aber auch von einem «postfossilen», ökologischen Zeitalter kann schwerlich die Rede sein in diesem historischen Moment, da sämtliche Schichten und Zonen der Erde, einschließlich der Meeresböden und ­Polarkappen, der Urwälder und Naturreservate in einer neuen, poten­ zierten Explorations- und Extraktionsbewegung umgewühlt und ange­ bohrt werden. Der Kampf um Rohstoffe ist wieder so erbittert, wie er in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg war. Der bundesdeutsche Weg eines schrittweisen Ausstiegs aus den nuklearen wie den fossilen Energien bleibt, so halbherzig er ist, ein Sonderweg. Die Übereinkünfte über «Klima­schutz» stehen bisher großteils nur auf dem Papier oder werden gerade wieder (vor allem von den USA) in Frage gestellt. Im Übrigen greift diese vierte, globale Industrialisierung viel tiefer als alle früheren. Nicht nur werden alle Reservate handwerklicher, selbst­ genügsamer Güterproduktionen noch in den abgelegensten Winkeln der Welt durch die industrielle Konkurrenz ausgetrocknet. Zugleich erleben wir einen neuen Schub der quasi-industriellen Zerlegung, Standardisie­ rung und Reorganisation von Büroarbeiten und Dienstleistungen, ob in

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Fast-Food-Ketten und auf Großmärkten, in Laboren und Ingenieur­ büros, in Call-Centern oder IT-Firmen, die überall auf der Welt angesie­ delt sein können. Sozial und ökologisch noch einschneidender sind die Tendenzen einer Industrialisierung der Nahrungsmittelverarbeitung, be­ gleitet von einem globalen «Landgrabbing», das die von Marx beschrie­ benen Entwurzelungs- und Entvölkerungsprozesse der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals auf den Britischen Inseln wie in den über­ seeischen Kolonien in ungleich größerem Maßstab und oft kaum weni­ ger gewaltsam wiederholt. Natürlich stimmt es heute wie im frühindustriellen Europa, dass in der freien Existenz der neuen Arbeiterschichten auch gewaltige Hoffnungsund Befreiungspotentiale stecken. Die Megacities der ehemaligen «Drit­ ten Welt» sind Orte vitaler, massenhafter Aufstiegsmobilisierung. Aber der menschliche und soziale Preis dieses neuen industriellen Nomaden­ tums ist so unerträglich hoch wie eh und je – wie Aman Sethi das etwa in seinem herzzerreißenden Lebensbericht des indischen Arbeiters Moham­ med Ashraf noch einmal exemplarisch geschildert hat.10 Die kulturellen, rechtlichen und politischen Mittel, um diese myriadischen Aufbruchsener­ gien auf der einen Seite und die aus diesen Arbeitsleistungen geschöpften Vermögen auf der Gegenseite für eine zivilisatorische Gesamtanstrengung zusammenzuspannen, scheinen allerdings nach wie vor beschränkt. Die Instrumente zur Steuerung und Einhegung der Weltwirtschaft sind ebenso hilflos wie die zur Einhegung und Beschränkung des Klimawandels. Denn aus diesen Vermögen speisen sich zugleich ja die um die Welt vagie­renden Kapitalströme und die sie steuernden und abschöpfenden «Finanzindustrien». Auch auf diesem Feld herrscht inzwischen «indus­ trielle Massenproduktion»  – und zwar von computergenerierten, in automatisier­ten Verfahren hergestellten Zertifikaten, also Wertpapieren, die «neben den bisherigen Primärproduktpaletten auch die Anlage- und Hebelprodukte» anderer finanzindustrieller Papierproduzenten in Tau­ senden von Varianten bündeln und den Anlegern «regelmäßige Kupons» versprechen, natürlich mit dem Risiko der abrupten «Insolvenz des Emit­ tenten».11 Ja, handelte es sich nur um die gute, alte «Macht der Banken»! Eher befinden wir uns hier in einem Cyberspace voller Schwarzer Löcher, in dem das Mehrfache des Weltsozialprodukts in Form papierner An­ sprüche «umgesetzt» wird, nach Algorithmen, die weder die Emittenten noch die Anleger kontrollieren oder auch nur verstehen können.

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Kommunismus 4.0 «Das höchste Ideal und das endgültige Ziel der Partei ist die Verwirk­ lichung des Kommunismus», heißt es im ersten Absatz des «Statuts der Kommunistischen Partei Chinas», das bezeichnenderweise auch ihr Par­ teiprogramm ist. Alle Mitglieder haben beim Eintritt das Gelübde abzu­ legen, ihre «Kraft ihr ganzes Leben lang» diesem höchsten Ziel zu wid­ men, das allerdings nirgends näher definiert wird. Die Verkörperung des «Kommunismus», ein lateinischer Begriff, der in chinesischer Umschrei­ bung (gangchanzhuyi) so etwas wie «Die gemeinsame Wiedergeburt der Herrschaft der Gerechtigkeit» bedeutet, ist in vollendeter Selbstreferen­ tialität die Partei selbst. «Der Glaube an den Marxismus und Kommu­ nismus ist das Herzblut und die Seele der Kommunisten» hat Xi Jinping auf einer nationalen Konferenz zur Propaganda- und Ideologiearbeit im August 2013 ausgeführt. Diese «Ideale und Überzeugungen» seien «das geistige ‹Kalzium› für die Kommunisten» und damit für die Nation im Ganzen, die andernfalls an «Rachitis» leiden werde, in Form von «wirt­ schaftlicher Gier, moralischem Verfall und korruptem Leben». Dabei, so Xi in einer nur scheinbar abrupten Wendung, bilde «die her­ vorragende traditionelle Kultur Chinas  … unsere substanziellste Soft ­Power», nach innen wie nach außen.12 Nicht erst mit dieser Rede ist in aller Form und im Superlativ bestätigt, was konservative Enthusiasten einer überlegenen chinesischen «Supraplanung» westlichen Auditorien voller Manager unermüdlich erklären: dass China seit alters her über eine Vision der «Großen Gemeinschaft» (Da Tong) verfüge, die mit dem modernen Ziel des «Kommunismus» identisch sei.13 Diesem Ziel habe die Volksrepublik China durch alle Irrungen und Wirrungen hindurch stets zugestrebt, einer Vision folgend, die  – anders als die hektischen Länder des Westens – in großen Zeiträumen denke. Tatsächlich fällt der Begriff der «Großen Harmonie» mit dem der «Großen Ordnung» zusam­ men, den schon Kang Youwei, der konfuzianische Reformer der Jahr­ hundertwende, verwendet hat, ebenso wie der Vater der modernen chi­ nesischen Nation, Sun Yat-sen, der sie als einen Endpunkt der Geschichte sah, in dem die Unterschiede der Staaten, Klassen, Rassen, Geschlechter usw. abgeschafft oder vielmehr eingeebnet wären – was freilich nur unter einer Herrschaft der «Edlen», einer für das Volk handelnden Elite, zu rea­lisieren sei. Dass die Kommunisten als die «führende Kraft des Volkes» nach leni­

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nistischem Prinzip eben diese «Edlen» sind, ist nicht gerade weit her­ geholt. Wenn dem Parteiprogramm zufolge China im Jahr 2021, zum 100. Jahrestag der Gründung der Partei, das Etappenziel einer «Gesell­ schaft von bescheidenem Wohlstand» erreicht haben wird, dann stammt der darin verwendete Begriff «Xiaokang» aus dem «Buch der Riten», wo er eine stabile Gesellschaft, in der alle Grundbedürfnisse gedeckt sind, bezeichnet, die eine Stufe unter der «Da Tong» (der «Großen Gemein­ schaft») rangiert.14 Letztere kann ab 2049 in Angriff genommen werden, wenn das Land pünktlich zum 100. Jahrestag der Gründung der Volks­ republik einen Grad der technischen und kulturellen Entwicklung er­ reicht haben wird, der es ihm ermöglicht, seinem Endziel endgültig ­näherzutreten – dem «vollen Sozialismus» und später dem Kommunis­ mus.15 In solchen symbolischen Setzungen identifiziert die Partei ihre ­eigene Geschichte in einer Weise mit der «ihres» Landes und «ihres» Volkes, wie man das seit den metaphysischen Selbstzuschreibungen der großen chinesischen Kaiser als den «Herrn der zehntausend Jahre» nicht erlebt hat. Seit dem Machtantritt Xi Jinpings im November 2012 ist es unüber­ sehbar geworden, dass die Kommunistische Partei Chinas sich von allen Vorstellungen einer Lockerung ihres physischen und geistigen Zugriffs verabschiedet und stattdessen auf den Pfad einer offensiven Reideologi­ sierung begeben hat, die den überfälligen und schmerzhaften sozialöko­ nomischen Anpassungen abermals die Aura überlegener Weisheit und wissenschaftlicher Unanfechtbarkeit verleihen soll. So hat Xi den bis­ herigen Regierungsdevisen (eine alte kaiserliche Tradition bei jedem ­Dynastiewechsel) und den jeweils dazugehörigen theoretischen Formeln (eine neuere Parteitradition) sofort eigene hinzugefügt, so die Losung vom «Chinesischen Traum» und die Formel von den «Vier Umfassenden», sprich: einem wissenschaftlichen Konzept der «umfassenden» gesell­ schaftlichen Weiterentwicklung – die bei dem Parteitag im Herbst 2017 in das Programm aufgenommen werden, so wie die Losungen seiner Vor­ gänger auch. Ob diese Ideologeme irgendwelche persönlichen Überzeugungen aus­ drücken, ist möglicherweise eine müßige Frage. Es sind rituelle Sprech­ akte, die ähnlich wie das alte konfuzianische Prüfungswissen der kaiser­ lichen Beamten durch stetes Repetieren das Denken prägen. Indem das Funktionärskorps nach den Regularien eines modernen «Kadermanage­ ments» jährlichen «Evaluationen» unterzogen wird, während die be­ währten Praktiken kommunistischer Kritik und Selbstkritik reaktiviert

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und durch öffentliche, ausschnittsweise im Fernsehen übertragene Reue­ bekundungen ergänzt werden, kann man von einer wirkungsvollen Me­ thode der mentalen Steuerung ausgehen. Sie ist von jeher der eigentliche Sinn der «Gedankenreform» maoistischen Typs gewesen und lässt sich womöglich mit Techniken kapitalistischer Unternehmensführung und Motiva­tionssteigerung problemloser verbinden, als man es dem Ideal mündiger Bürgerschaft und Aufgeklärtheit folgend gerne annehmen möchte. «Wenn das 20. Jahrhundert … durch die Verlaufskurve der Russischen Revolution beherrscht worden ist, dann wird das 21. Jahrhundert durch das Ergebnis der Chinesischen Revolution bestimmt werden», schrieb Perry Anderson in seinem bereits zitierten Essay «Two Revolutions» von 2010.16 Man kann das erstere wie das zweitere bezweifeln, zumal diese Feststellung eine wesentliche Differenz verfehlt: Als politisch-öko­ nomisches Modell hatte die Sowjetunion nur eine begrenzte Ausstrah­ lung; sie prägte das Jahrhundert vor allem als eine Militärmacht, die sich am Ende (in Maos Begriffen) als «Papiertiger» erwies. Dagegen kann die Volksrepublik China heute von einer ungleich breiteren, fes­ teren Grundlage aus in die Arena der Weltpolitik treten. Und ihre «füh­ rende Partei» kann sich unverändert auf ihre politisch-militärische Machteroberung von 1949 als auf eine «Revolution» berufen, die sie als ihre Grundlegitimation eisern verteidigt, obwohl sie das Erbe ihres Füh­ rers und Gründers Mao in der Praxis weitgehend revidiert hat. Mehr noch: China baut seine Positionen Schritt für Schritt aus und operiert mit seinen gigantischen Staatskonzernen, die inzwischen zu den größten Kapitalkomplexen der Welt zählen, in einer Art und Weise, die fast immer globalstrategische mit kommerziellen Interessen verknüpft, wie die Sowjetunion das niemals hätte tun können. Binnen zehn Jahren ist China zum führenden Handelspartner von über 100  Ländern der Welt geworden, einschließlich der USA und Australiens. Diese Expansion wird mit gigantischen Staatsfonds finanziert, die unbeschränkten Kredit bei der Staatsbank haben (Xi hat für die nächsten 10 Jahre 1,6 Billionen Dollar für Entwicklungs- und Infrastrukturprojekte in Asien, Afrika und dem Nahen Osten angekündigt), ohne dass Investitionen oder Kredit­ vergaben an menschenrechtliche, ökologische oder andere Bedingungen geknüpft wären. Wenn das in Teilen der Welt, so vor allem in einigen Ländern Afrikas, mittlerweile Züge eines Neo-­Kolonialismus annimmt, dann gerade in der Ruchlosigkeit, mit der einheimische Potentaten und

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Strohmänner dazu gebracht werden, zentrale Ressourcen oder weite Ge­ biete ihres Landes zu verkaufen oder zu verpachten, sowie darin, dass alle Verträge nicht nur eine mehr oder weniger vollständige Kontrolle der wirtschaftlichen Unternehmungen vorsehen, sondern auch, dass ihre Projekte von komplett eingeflogenen Teams aus chinesischen Managern, Technikern und Vorarbeitern bis hin zu Köchen und Kantinenpersonal betrieben und versorgt werden.17 Diese Formen einer hochkonzentrierten, staatlich gesteuerten Wirt­ schaftsexpansion beruhen allerdings sowohl im Land selbst wie in der globalen Sphäre auf einem breiten sozialen Unterbau, der vielleicht das eigentliche Geheimnis der chinesischen Dynamik ist: einer nachgerade myriadischen Aktivität von Hunderten Millionen Wander- und Kontrakt­ arbeitern, von kleinen Händlern und Handwerkern, Betreibern von Im­ bissbuden, Restaurants oder Massagesalons, von Kleinunternehmern, die zu expansiven Unternehmertypen und Subkontraktoren werden, von Geldverleihern alten Stils und Mikrofinanziers neuen Stils, und wiede­ rum von Hunderttausenden Technikern, Informatikern und von Hoch­ schulabsolventen aller Fächer und Grade, die zu Angestellten, Mana­ gern, Maklern oder Investoren werden. Sie alle lassen nicht nur die Städte Chinas explodieren, sondern bilden auf allen Kontinenten, in allen großen und oft auch nur mittleren Städten der Welt ihre Communities und fassen Fuß. Dazu kommen die Scharen chinesischer Studierender beiderlei Geschlechts, die die Universitäten Europas und der USA be­ suchen, nicht zuletzt die teuren Eliteuniversitäten der USA, und oft mit exzellentem Erfolg absolvieren. Fast müsste man sagen, die Chinesen seien dabei, zum Weltvolk oder zu den «Merkuriern» des 21. Jahrhunderts zu werden – nur dass nicht absehbar ist, in welchem Grade sie sich, auch wenn sie in zweiter und dritter Generation bleiben, mit den Kulturen und Lebensformen ihrer Gastländer verbinden werden, verglichen etwa mit den europäischen ­Juden oder auch mit den 20  Millionen Deutschen, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Auswanderer auf allen Kontinenten lebten. Der oft sehr ausgeprägten Fähigkeit zur Akkulturation, die sich beispielsweise in einer ungewöhnlich hohen Zahl von Mischehen ausdrückt, für die es reli­ giöse Hindernisse jedenfalls nicht gibt, stehen nicht nur die traditionalen Bindungen an Familie, Clan, Land und Nation gegenüber, die für jede Einwanderer-Community typisch sind. Der eifersüchtig einschließende «Kommunismus» des Parteiregimes besteht unter heutigen Verhältnis­ sen auch darin, durch einen mit eigenen Fernsehkanälen, organisierten

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Einflussgruppen und Kulturinstituten genährten Superpatriotismus die Millionen von Auslandschinesen gegen die «schädlichen westlichen Ein­ flüsse» (wie sie offiziell heißen) zu immunisieren und an das große Kol­ lektivprojekt zu binden, «China reich und mächtig zu machen» (auch das eine offizielle Formel). Alles dies hat so großartige und so furchterregende Seiten, wie es noch jeder große Entwicklungssprung in der menschlichen Geschichte gehabt hat. Man könnte freilich auch sagen, wenn man die rücksichtslose öko­ nomische und finanzielle Akkumulations- und Verwertungsenergie mit der Tatsache einer nahezu kompletten, fugenlosen politischen Parteidik­ tatur und mit der ähnlich fugenlosen, obligatorischen Staatsideologie zusammen sieht, dass dieses neue China (frei nach Marx) «die Gehässig­ keiten zweier Produktionsweisen» miteinander verknüpft, wenn nicht sogar die dreier Lebens- und Gesellschaftsformen: a) eines traditionalen, paternalistischen Autoritarismus; b) eines umfassenden, tendenziell tota­ litären kommunistischen Despotismus; sowie c) eines rücksichtslosen und entgrenzten Kapitalismus. Aber gerade in einer mehr denn je von der Ökonomie abhängigen Welt wie der unseren sieht es eben vor allem wie eine präzedenzlose Er­ folgsgeschichte aus, die es ja auch ist. Die große Frage bleibt nur, ob sich in den hochgetriebenen Wachstumsziffern (im Augenblick ca. 7 %) eine immer noch sich steigernde politisch-ökonomische Potenz des Landes zeigt oder nicht eher schon der Beginn einer kommenden, vielleicht exis­ tentiellen gesellschaftlichen Krise, einer Superblase, mit deren Platzen demnächst zu rechnen ist. Chinesische Autoren selbst sprechen von einer «weichen Landung», auf die man hofft  – eine Formulierung, die eine «harte Landung» jedenfalls für möglich hält. Denn ob das Regime, das hunderttausend «Zwischenfälle mit Mas­ sencharakter» pro Jahr registriert, aber mit Schweigen bedeckt, über die Mittel eines wirksamen politischen und sozialen Krisenmanagements verfügt, ist mehr als ungewiss. Demokratische Mittel gibt es nicht ein­ mal in Ansätzen. Auf keiner Ebene wird demokratisch gewählt, gibt es Formen kontroverser, nicht von vornherein abgezirkelter, wirklich öf­ fentlicher Aussprache, darf etwa legal gestreikt und demonstriert, infor­ miert und publiziert werden, kann vor einer unabhängigen Justiz ge­ klagt werden, schon gar nicht gegen die Partei. Ihre Herrschaft und All­ zuständigkeit ist in einer Weise «sakrosankt», wie das sonst nur reli­ giöse und d ­ ynastische Legitimitätstitel sein konnten. «Die Partei ist wie Gott, der überall ist. Man kann ihn nur nicht sehen», zitiert Richard

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McGregor einen Universitätsprofessor, der das ganz sachlich fest­ stellte.18 Eben diese letzte, höchste Legitimation soll sich aus dem wolkigen Endziel des Kommunismus als einer «Großen Gemeinschaft» speisen. Das ist das, was von einem historischen Impuls, dem Marx’schen Momen­ tum, übrig geblieben ist, das China in Gestalt der bärtigen Zwillinge aus Trier und Wuppertal seinem synkretistischen Götterhimmel aus Welt­ weisen und Geistwesen hinzugefügt hat. So führt der chinesische Kommunismus in all seiner Modernität viel­ leicht ungebrochener in eine «Alte Welt des Kommunismus» zurück, als man das für den europäischen Sozialismus des 19./20. Jahrhunderts hätte sagen können. Auch in der Welt der alten «orientalischen Reiche» haben sich, wie in der abendländisch-europäischen Welt, Tendenzen einer privaten Reichtumsproduktion und individuellen Persönlichkeitsbildung von jeher spürbar gemacht, die man als proto-«bürgerlich» und -«kapi­ talistisch» bezeichnen könnte, auch wenn das ahistorische Begriffe sind. Hier wie dort wurden diese Bestrebungen stets als dissozial empfunden und trafen auf eine Phalanx traditionaler Verbote, konventioneller Äch­ tungen und philosophisch-religiöser Einsprüche, untermauert durch die «Erinnerung» an eine mythische Vorzeit schuldloser Ungetrenntheit oder an ein «Goldenes Zeitalter» unter dem Schirm eines göttlichen, fürsor­ genden Gründerkaisers. Dabei war China weder politisch noch ökonomisch noch geistig jenes hermetisch «abgeschlossene» Land, das die Europäer nach ihrem Raus­ wurf im 18. Jahrhundert zu sehen glaubten. Im Gegenteil: China war über weite Strecken seiner Geschichte bereit, sich alle möglichen äuße­ ren Einflüsse in allerdings ganz eigener Weise anzuverwandeln. So wie der Buddhismus erst ein Jahrtausend nach seiner Kreierung in Indien nach China eingewandert ist und sich in den unterschiedlichsten Aus­ prägungen in die synkretistische Mischung der autochthonen Ahnenund Himmelskulte und philosophischen Lebenslehren eingefügt hat, so hat auch der Islam eine beträchtliche Verbreitung sowie eigene, originäre Ausformungen in China gefunden. Die Bekanntschaft mit dem Christentum war Teil der neuzeitlichen Expansion europäischer Mächte, aber keineswegs aufgezwungen. Die christlichen Kirchen und Missionare wirkten vielfach gerade durch ihre aktive Einschaltung in die intellektuelle Kultur des Landes – vor allem durch das Wirken der Jesuiten, die im frühen 17. Jahrhundert die mathe­

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matischen, naturwissenschaftlichen und kartographischen Kenntnisse ­Europas in die geistige Kultur Chinas einbrachten, während sie umge­ kehrt in Europa das chinesische Denken und weise Regieren zu einem intellektuellen Faszinosum machten. Ab den 1830/40 er Jahren waren es dann englische, deutsche und amerikanische Protestanten unterschied­ licher Prägung, die durch die Einrichtung von Sonntags- und Volksschu­ len, später auch über die Gründung von Hochschulen, Bibliotheken und Verlagen einen intellektuellen Kontaktraum schufen, durch den fast alle Köpfe der national- und der sozialrevolutionären Bewegungen des 20. Jahrhunderts in China gegangen sind, darunter auch die Begründer des chinesischen Kommunismus. Zwischen Kommunismus und Kapitalismus liegt keine chinesische Mauer, weder historisch noch praktisch. Alle Versuche, eine platonische Poli­ teia, eine christliche communitas, einen monastischen Orden, eine mil­ lenaristische Bruderschaft, einen Mormonenstaat, eine frühsozialistische Kommune oder einen zionistischen Kibbuz zu gründen, sind Gedanken­ spiele geblieben oder mehr oder weniger rasch in Auflösung gemündet – oder aber sie haben sich in hoch leistungsfähige Organe einer kapitalis­ tischen Akkumulation und gewerblichen Produktion transformiert, die integraler Teil der Herausbildung der modernen Welt gewesen sind, ins­ besondere auch in England und Amerika. Natürlich ist die Art und Weise, wie die «Volksrepublik» China von heute in einer konzentrierten Modernisierungs- und Industrialisierungs­ kampagne und durch die Anlage gigantischer, strategischer Entwicklungs­ fonds in den Händen einer letztlich winzigen, autokratisch regierenden Machtkaste am eisernen «kommunistischen» Zusammenhalt wie am kol­ lektiven Machtaufbau von Staat und Nation gearbeitet hat, ein histori­ sches Novum und eine Geschichte, die sowohl den Rahmen kapitalisti­ scher Entwicklungen wie den sozialistischer Transformationen sprengt. Sie stellt die Formel vom «Ende des Kommunismus» ebenso in Frage wie zugleich auch die axiomatische Verknüpfung einer «freien Wirtschaft» mit einer «liberalen Gesellschaft». Sie fordert auch den europäischen Begriff einer «Moderne» heraus, der ganz auf Pluralität, Säkularität, Individualität, Demokratie, Gleichheit vor dem Recht, Verbot jeder Diskriminierung nach Herkunft, Geschlecht oder Konfession, auf Freizügigkeit und Selbstbestimmung gestellt ist  – ­alles Prinzipien, die keineswegs irgendwelche westlichen Luxusgüter be­ schreiben, sondern in der UN-Menschenrechtscharta verbindlich formu­

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liert sind. Aber sie sind eben in großen Teilen der Welt nicht nur nicht gesichert, sondern finden sich auf verschiedene Weise religiösen, traditio­ nalen oder nationalen Lebensordnungen untergeordnet oder werden ge­ gen «soziale Rechte» ausgespielt, die es oft nur auf dem Papier gibt. Die chinesischen Kommunisten demonstrieren, dass alle diese Rechte und Ti­ tel für eine forcierte wirtschaftliche, technische und soziale «Modernisie­ rung» als solche nicht notwendig, vielleicht sogar hinderlich sind. Das alles bleibt zu kritisieren, zu beklagen, auch einzuklagen. Doch ist darüber nicht zu vergessen, dass die kleine Gruppe «westlicher» Staaten, die diesen Standards einer modernen Gesellschaft heute am ehesten ent­ sprechen, nicht nur selber katastrophale historische Rückschläge und Einbrüche durchlebt hat, sondern bis in die allerjüngste Zeit den von ­ihnen abhängigen Ländern diese universellen Menschenrechte verweigert hat, zugunsten einer «Modernisierung», die (etwa in Britisch-Indien) der Chinas heute gar nicht so unähnlich war: mit moderner Infrastruktur, kontrollierter Urbanisierung und Industrialisierung, intensiver Ausbeu­ tung der agrarischen und gewerblichen, humanen und materiellen Res­ sourcen für die Produktion exportfähiger Güter sowie der Heranziehung einer halbwegs gebildeten Funktionärsklasse. Es kommt hinzu, dass die europäischen oder westlichen «Werte» in vielen der europäischen und westlichen Länder, und mittlerweile selbst in den ältesten Demokratien, zunehmend in Verruf geraten sind und als zu anstrengend, zu instabil, zu unsittlich, zu gottlos, zu weltoffen und zu wenig «volkstümlich» abgelehnt werden. Ein wachsendes Segment der westlichen Gesellschaften, keineswegs nur die durch die Globalisierung «Abgehängten», sehnt sich offenbar nach einem starken Mann oder einer eisernen Lady, nach mehr Autoritarismus, weniger Liberalität und grö­ ßerer kultureller Eindeutigkeit. Die Märkte, die Börsen sind davon nicht allzu beunruhigt, sondern sehen Möglichkeiten für neue Privilegien, für den Abbau sozialer und ökologischer Regulierungen und für vom Staat geschützte, heimische Kartelle, die ihnen in ähnlicher Weise als Basis für ein globales Operieren dienen können wie die Privilegien und Schutz­ zonen, die die chinesische Regierung ihren Staats- und Großkonzernen einräumt. Es bleibt abzuwarten, ob sich in diesem Sinne einige Länder des Westens zunehmend «sinisieren» werden – während Wladimir Putin mit seiner «gelenkten Demokratie» zugleich zum Rollenmodell für einige Partner des westlichen Bündnisses geworden ist.

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Glanz und Schrecken der einen Welt Die liberal-humanistische Schwärmerei von der einen unteilbaren Welt, schreibt Hannah Arendt in ihren «Elementen und Ursprüngen totaler Herrschaft», habe vielleicht «niemals den Ernst und den Schrecken er­ fasst, die der Idee der Menschheit … zukommen, sobald nun wirklich alle Völker auf engstem Raum mit allen anderen konfrontiert sind». Denn: «Je besser die Völker einander kennenlernen, desto mehr scheuen sie begreiflicher Weise vor der Idee der Menschheit zurück, weil sie spü­ ren, dass in der Idee der Menschheit … eine Verpflichtung zu einer Ge­ samtverantwortung mitenthalten ist, die sie nicht zu übernehmen wün­ schen.»19 Wenn sich durch alle Zusammenstöße und Sintfluten, Weltkri­ sen und Weltkriege des 20. Jahrhunderts hindurch ein immer engerer Zusammenhang der Weltwirtschaft, der Weltpolitik, der Weltmedien und der Weltkulturen hergestellt hat, dann geschah das in einem nur selten bewusst gewollten und gesteuerten, eher blinden, von roher Gier und nackter Angst getriebenen, aber dennoch wohl irreversiblen Prozess. Welche physischen Erschütterungen, gewaltsamen Eruptionen, mentalen Unverträglichkeiten und Paniken dieser sozialökonomische Naturpro­ zess erzeugt, der dem Ineinanderschieben tektonischer Platten gleicht und mit globalen Migrationen einhergeht, lesen wir täglich in der Zei­ tung. Jedenfalls liegt eine gewisse Logik darin, dass von allen religiösen, poli­ tischen und ethnischen Fundamentalismen des 20. und 21. Jahrhunderts vor allem der moderne Islamismus in seinen verschiedenen politischen und weltanschaulichen Ausprägungen, angefangen mit der Revolution im Iran 1979, sich als der jüngste, zentrale Antipode eines libe­ralen Säku­larismus westlicher Provenienz herauskristallisiert hat. Er repräsen­ tiert – nach dem Ende des Kommunismus – keineswegs die ­einzige, aller­ dings die radikalste und globalste Antithese. Und wie der Kommunis­ mus in seinem Zeitalter ist auch der moderne Islamismus keineswegs ­etwas uns völlig Fremdes; er kommt gerade in seinen djihadistischen ­Extremen nicht aus irgendwelchen zäh verteidigten traditionalen Lebens­ ordnungen, sondern aus den Vorstädten von Paris wie von Algier, von London wie von Kairo, und mindestens so sehr aus der «World of War­ craft» und aus dem Rap oder Porn des weltweiten Netzes wie aus den ­salafistischen Gebetshallen – und ist insofern wieder «unsere eigene Frage als Gestalt».

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Der sozialen Entbindung, sowohl zwischen den Geschlechtern wie zwischen den Generationen, stellt er eine erneuerte, strikte, religiös be­ siegelte familiäre Bindung und Einbindung entgegen. Auf eine Kultur der Entblößung antwortet er mit Verhüllung, auf mediales Dauergeräusch mit Rückzug und Stille, auf die fließende Entgrenzung des Tages, der Woche, des Jahres mit alltagsreligiösen Ritualen und einem unverrück­ baren Kalender, usw. Diese Affekte verstehen, heißt nicht, sie «zu verzei­ hen» oder zu relativieren, schon gar nicht in ihrem tödlichen, nihilis­ tischen Drive. Es heißt allerdings, sich das Schwierige, das Prekäre, das Anstrengende und das Verunsichernde einer modernen, «emanzipier­ ten» und autonomen Existenz zu vergegenwärtigen. Im Zentrum all die­ ser in Wellen aufspringenden Verunsicherungen und Affekte liegt, was seit zwei Jahrhunderten als ein weitgehend blinder, sich selbst antreiben­ der, seiner gesamtgesellschaftlichen und globalen Wirkungen kaum be­ wusster Antrieb all dieser epochalen Umwälzungen wirkt, die sich noch immer beschleunigen: der Kapitalismus. Alle fachlichen Einwände oder Widerlegungen, die gegen die originäre, von Marx zu Lebzeiten fragmentarisch ausgearbeitete «Kritik der Politi­ schen Ökonomie» und die daraus abgeleitete Soziologie einer bürger­ lichen Klassengesellschaft (abgesehen von ihrer Zeitbedingtheit) erho­ ben worden sind, finden eine Schranke an der Feststellung, dass es eine gültige, allgemein akzeptierte Theorie der Funktionsweise der als «Kapi­ talismus» bezeichneten Wirtschaftsweise und Sozialordnung bisher jeden­ falls nicht gibt, nur eine Vielzahl einander diametral widersprechender Denkschulen, die ihrerseits jeweils an eine bestimmte historische Phase gebunden gewesen sind (wie Neoklassik, Keynesianismus, Monetaris­ mus usw.) und sich nach einer bestimmten Zeit ihrer wirtschaftspoliti­ schen Dominanz jeweils überlebt, transformiert oder gegenseitig kanni­ balisiert haben. Ob die mathematischen Formeln und Computersimulationen, in die einige Wirtschaftstheorien der letzten drei Jahrzehnte sich wie in ein eige­ nes, virtuelles Paralleluniversum eingesponnen haben, die realen Prozesse und Tendenzen einer kapitalistischen Weltökonomie zuverlässig erfassen oder nicht eher auf reines Reparaturhandwerk plus allerhand Voodoo hinauslaufen, wie man angesichts der eklatanten Orientierungslosigkeit der Wirtschaftstheoretiker, Zentralbanker, Politiker und Lenker der ­Finanzimperien vor der letzten großen Krise 2008/09 vermuten könnte – das hat sich den Verständnismöglichkeiten gewöhnlicher Sterblicher

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j­edenfalls längst entzogen. Schon dies ist ein beunruhigender Befund eige­ner Ordnung. Vielleicht gilt der Satz Joan Robinsons, einer britischen Ökonomin, von 1966 noch immer oder mehr als je: «Das ökonomische System, in dem wir leben, kann niemals begriffen werden, wenn wir es als einen rationalen Komplex interpretieren.»20 Als was aber dann? Kann es ­ überhaupt nicht begriffen werden? Ist es vielleicht gar kein «System», sondern ein blind und selbsttätig wirkender, dem Zugriff politischer und gesellschaftlicher Instanzen wie dem seiner Macher selbst weitge­ hend entzogener Mechanismus der «Selbstverwertung des Werts», der nicht einmal feststellbaren funktionellen «Gesetzen» gehorcht, sondern sich in einem beobachtbaren, aber kaum steuerbaren «Naturprozess», eher dem globalen Klima und Klimawandel vergleichbar, seinen Weg bahnt? Was heißt es, wenn Lester Thurow in seinen Betrachtungen über «Die Zukunft der Weltwirtschaft» die heutigen Ökonomen mit Geologen ver­ gleicht, die über die Gefahren des Lebens und Siedelns auf der kaliforni­ schen Andreasspalte genau Bescheid wissen, allerdings nicht sagen kön­ nen, wann das nächste Erdbeben ausbrechen wird, das für die Stadt San Francisco und das ganze Land Kalifornien womöglich auch das letzte sein könnte?21 Die Metaphern, mit denen der Stand der weltwirtschaftlichen Dinge beschrieben wird, werden jedenfalls immer kühner: «Ride the surf and learn to enjoy it», «Reite die Welle und lerne es zu genießen», rät der bri­ tisch-indische Ökonom Meghnad Desai, was eher nach einer Devise für die Londoner City als einer irgendwie lebbaren Maxime für Normal­ sterbliche klingt.22 Peter Sloterdijk hat die ältere Metapher Otto Neu­ raths vom improvisierten «Umbau des Schiffs auf hoher See» durch das bewegte Bild vom «unkontrollierten Sturz nach vorn, der unter Piloten Fliegen heißt», noch getoppt – nur handele es sich mittlerweile um eine «Luftfahrt ohne Landebahnen». Wenn es das Verdienst Joseph Schum­ peters gewesen sei, auf die «Dynamik des Kredits» aufmerksam gemacht zu haben, auf dem die Ritter der industriellen Expansion einst als «glo­ rious bastards» ihre Privatreiche gründeten, so richte der Blick sich heute «mehr und mehr von den heiteren Erben riesiger Vermögen zu den besorgten Erben kollektiver und privater Schulden», für die die Staatsund Gemeinwesen als Ganze hafteten und die sich daher in einer nicht auflösbaren Steuer- und Schuldenspirale bewegten; sodass sich nach ­Ansicht mancher Autoren die klassische Ausbeutung der Arbeitskraft

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«unter dem Regime des Finanzkapitalismus in die globale Ausbeutung der Rückzahlungskraft von Schuldnern weiterentwickelt» habe.23 Was freilich eine etwas zu elegante, luftig-akrobatische Argumenta­ tionsfigur ist: Denn die «alte» Ausbeutung der Arbeitskraft bildet ja ­unverändert und sogar mehr denn je die solide Basis aller, auch der ­«allerneuesten» Ökonomie, und damit zugleich der Finanz- und Schul­ denwirtschaft. In einem Aufsatz von 2008 hat Joseph Stiglitz nach den Gründen gefragt, warum die reale Arbeitszeit sich selbst in den entwi­ ckeltsten Ländern der Welt seit den 1970 er Jahren kaum noch verkürzt hat, trotz des enormen Wachstums des Gesamtprodukts und der Arbeits­ produktivität. Betrug die Wochenarbeitszeit im Durchschnitt der Indus­ trieländer um 1900 rd. 60 Stunden, nach 1918 noch rd. 48 Stunden, ab 1959 rd. 45 Stunden und seit 1975 rund 40 Stunden (in den USA aller­ dings deutlich mehr) – so ist der Zeiger des Fortschritts seither stehen geblieben oder bewegt sich wieder in die Gegenrichtung. Stiglitz fragt betont neutral, warum die Menschen «sich entschlossen haben, so wenig Freizeit zu haben? … Warum haben sich höhere Löhne und Wohlstand hauptsächlich in mehr Gütern niedergeschlagen, nicht in mehr Freizeit?» Für die ausreichend versorgte, aber «hart arbeitende» Mittelschicht ließe sich diese Frage mit einigem Recht stellen; und für die vielfach arbeitsbesessenen Führungskräfte und Vielverdiener, die rastlos disponierenden Reichen und Superreichen sowieso. Für die untere Hälfte der Gesellschaft liegt die Antwort allerdings so flach wie eh und je auf der Hand: Sie muss so viel arbeiten, um über die Runden zu kommen. Tatsächlich lagen die Realeinkommen der dreißig- oder vierzigjährigen Amerikaner im Jahr 2004 niedriger als dreißig Jahre zuvor, trotz langer Arbeitszeiten und (nach europäischen Maßstäben) minimalem Urlaub.24 Hätte man von der antiken Sklaverei, die sich auf alle Bereiche der ge­ sellschaftlichen Gesamtarbeit erstreckte und vielfach eine Schuldsklave­ rei war, nicht eine so karikaturhafte Vorstellung, dann läge der Begriff einer kapitalistischen Lohn- und Schuldsklaverei für die Bürger und ­Metöken von heute nicht ganz so fern, wie man glauben möchte. Und dabei reden wir noch gar nicht von den mörderischen, wirklich ganzoder halb-sklavischen Arbeitsregimes in den industriellen Schwellenlän­ dern und in den Ländern, die diese «Schwelle» noch längst nicht erreicht haben. Es ist wahr: Einige Parameter eines zivilisatorischen Fortschritts ­haben sich in den letzten 25 Jahren weltweit noch einmal deutlich verbessert: die allgemeine Schulbildung, die Lebenserwartung, der Rückgang der

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Kindersterblichkeit und des Hungers, kommunikative Vernetzung usw. Angesichts des ungeheuerlichen Anstiegs des globalen Reichtums sind diese Fortschritte allerdings beschämend gering. Und die eigentlichen, entscheidenden Marx’schen Themen: die Herrschaft der toten Arbeit über die lebendige Arbeit (und damit über die Lebenden); die elementare Frage, ob die Menschen und die Gesellschaft der Wirtschaft zu dienen haben oder ob es nicht eher umgekehrt sein sollte – alle diese Themen sind nicht nur nicht erledigt, sondern stellen sich vielleicht erst jetzt wirklich und praktisch, da «das wirtschaftliche Pro­ blem», von dem John Maynard Keynes 1930 gesprochen hatte, eigentlich lösbar gewor­ den ist. Keynes ging wie alle klassischen Ökonomen selbstverständlich davon aus, dass die kapitalistische Produktion, wenn sie ihre historische Auf­ gabe erfüllt habe, an ihre natürlichen Grenzen stoßen werde. Den Ge­ danken eines unendlichen materiellen Wachstums hielt er an sich schon für obszön, und er gab seiner Hoffnung Ausdruck, dass, wenn die Siche­ rung der elementaren Bedürfnisse einmal gewährleistet sei, anstelle der immer weiteren öden Akkumulation materieller Güter endlich einer ­höheren «Lebenskunst» Raum geboten sein werde. In seinem berühmten Aufsatz «Ökonomische Möglichkeiten unserer Enkelkinder» von 1930 sah er einer Zukunft hoffnungsvoll entgegen, die er etwa auf das Jahr 2030 datierte, in der das globale Sozialprodukt sich etwa versechsfacht haben werde und die grundlegenden materiellen Be­ dürfnisse weltweit gedeckt sein könnten. Das, so hoffte er, werde dann eine Zeit sein, in der die «Liebe zum Geld als einem Wert an sich» als das erkannt werde, was sie letztlich sei: «eine jener halb kriminellen, halb ­pathologischen Neigungen, die man mit Schaudern den Spezialisten für Geisteskrankheiten überlässt». Wenn die Ökonomen es bis dahin ge­ schafft hätten, sich selbst für nicht mehr zu halten als «bescheidene, sach­ kundige Leute, etwa gleichauf mit Zahnärzten  – das wäre groß­artig!» Die kritische, bange Frage blieb für ihn, ob eine materiell saturierte Menschheit wirklich motiviert und in der Lage sein werde, ihre freie Zeit und geistigen Kräfte für eine höhere «Lebenskunst» zu verwenden.25 Gegenüber dem Kommunismus seiner eigenen Zeit und vor allem der Politik einer staatlichen Gesamtplanung wie in der Sowjetunion Stalins, die in dieser Zeit der Weltwirtschaftskrise – auch in Keynes’ engerer Um­ gebung in Cambridge – einige Attraktion gewann, konnte er von dieser Position aus eine messerscharfe und durchaus präzise Trennlinie ziehen, mit einer lakonischen, aristokratischen Intuition, die an Tocqueville er­

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innert. So wenn er die Praxis der sowjetischen Fünfjahrpläne «das schlimmste Beispiel administrativer Inkompetenz, das die Welt vielleicht erlebt hat  – und der Opferung von allem, was das Leben lebenswert macht», nannte; ein Gedanke, den er bis zur Vermutung weitertrieb, dass «die subtile, beinahe unwiderstehliche Verlockung des Kommunis­ mus» womöglich gerade darin bestehe, «dass er verspreche, die Dinge schlimmer zu machen», da es sich um einen «Protest gegen die Hohlheit ökonomischen Wohlergehens» handele, das heißt um einen «Appell an den Asketen in uns».26 Damit stand Keynes Marx viel näher, als er wusste. Nur dass für die­ sen eine höhere «Lebenskunst» nicht einfach individuelle Muße und gut­ bürgerliche Behaglichkeit bedeutete. Sondern die vom Zwang physi­ scher Selbsterhaltung, demütigender Abhängigkeit und stumpfer Routi­ nen «befreite Arbeit», deren Einsatz nicht mehr unter dem Diktat der bloßen Effektivität und maximalen Verwertung stünde, sondern primär gesellschaftlichen oder persönlichen Zielvorgaben und Zwecksetzungen folgte, trüge vermutlich nun erst recht den Charakter einer vielseitigen, intensiven, beanspruchenden Aktivität, wäre «verdammtester Ernst». Aber sie wäre «sich selbst Zweck», insoweit sie der Erprobung der eige­ nen und gemeinsamen Fähigkeiten, der Entfaltung der persönlichen und kollektiven Wissbegierde, der Ausbildung einer «reicheren Individuali­ tät» und zugleich einer höheren Gesellschaftlichkeit diente.27 Nichts an dieser Vorstellung ist besonders utopisch, romantisch, extra­ vagant, im Gegenteil – so wenig wie das für Keynes’ bescheidenere Erwar­ tungen an die Welt seiner Enkel im Jahr 2030 gilt. Dass sie so «utopisch» erscheinen, wenn man sie hier und heute in einen gesamtgesellschaft­ lichen, und erst recht natürlich in einen globalen Maßstab überträgt, sagt viel über die materielle und die mentale Macht der Verhältnisse, wie sie jetzt sind. Dass irgendeine sozialistische «Weltrevolution» diese Macht brechen könnte, ist nicht nur nicht zu erwarten, sondern nach allen Er­ fahrungen nicht einmal zu wünschen. Ebenso irreal erscheinen aber ­Keynes’ Erwartungen, niedergeschrieben im Jahr 1930, also inmitten der hereinbrechenden Weltwirtschaftskrise und des heraufziehenden Welt­ ­ kriegs, dass der Selbstlauf einer sozial gezügelten kapitalistischen Wohl­ standsmehrung irgendwann zur «weichen Landung» in einer anheimeln­ den, gemächlichen Welt saturierter Bürgerlichkeit enden müsse. Inmitten dieses Dilemmas leben wir.

EPILOG

Das weiße Rauschen

A

lles historische Verstehen lebt aus einem persönlichen Erfahrungsfonds, geht von einem bestimmten, eigenen Stand-Punkt und Le­ bens-Horizont aus; und das ist auch ganz richtig so, vorausgesetzt man weiß es und ist in der Lage, es mit zu bedenken. Aus meinem langen «Roten Jahrzehnt», so bedeutungslos es an sich war, sind mir einige Erfahrungen und Nachgedanken geblieben, die mich biografisch, intellektuell und emotional mit dem Jahrhundert­ drama des Kommunismus verbinden. Wenn ich daran nur einen mehr oder weniger imaginären Anteil gehabt habe, dann immerhin genug, um vor allem im Rückblick auf die Zuspitzungen im «deutschen Herbst» 1977 das Gefühl eines Ritts über den Bodensee zu haben.1 Eben diese unbestimmte Getriebenheit bis zu einem Punkt, an dem der glückliche oder der böse Zufall ins Spiel kommt, gehört zu den biogra­ fischen Grunderfahrungen, die man in meiner Rekonstruktion der «Ur­ sprünge und Geschichte des Kommunismus» als einen roten Faden wie­ derfinden wird. So kippte immer wieder abrupt ins Finstere, was eben erst so hell und so hochherzig begonnen hatte – bis man an einen Punkt gelangte, an dem man (frei nach Herta Müller) sagen müsste: Gestern wäre ich mir lieber nicht begegnet. Aus diesem Erfahrungsfonds speist sich zum Beispiel meine Skepsis gegenüber allen Vorstellungen eines vorwiegend ideologischen, also vor allem ideen-geleiteten Handelns. Eher gehe ich davon aus, dass Men­ schen, zumal in Situationen umwälzender Ereignisse und Erfahrungen, sich in ihren existentiellen Radikalisierungen selbst voraus eilen, sich also, wie wir es 1968 taten, in die Rolle eines «Revolutionärs» werfen, ohne dass im Geringsten klar gewesen wäre, was für eine Revolution es sein soll. Der Fanatismus, mit dem man sich dann auf die Theorietexte verflossener Zeiten wirft, hat gerade etwas mit dem Bedürfnis zu tun, diese Leerstelle in der Begründung des eigenen Handelns zu schließen, sich eine höhere Legitimation zuzulegen, und immer auch, sich mit der moralischen Drachenhaut einer historischen Notwendigkeit auszustat­ ten.

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Epilog

Als verspätete Neokommunisten waren wir nicht so sehr Rekruten be­ stehender Parteien, Bewegungen, Kampforganisationen. Sondern wir selbst waren es, die, einmal in Bewegung gekommen, dringend An­ schluss suchten: an Gruppen und Organisationen, die auf irgendeine Weise dem eigenen Temperament oder Habitus entsprachen. Damit suchte man immer auch Anschluss an «die Geschichte», die einem in vie­ ler Hinsicht realer und bewegender erschien als die Gegenwart und die «unerträgliche Leichtigkeit» der eigenen Existenz. Aber vor allem suchte man Anschluss an eine halb reale, halb imaginäre Weltbewegung, die in den Ikonen lebender oder toter Revolutionsführer, Märtyrer, Kronzeu­ gen ein Gesicht bekam, sich in Schlüsselszenen verpuppte (rote Matro­ sen in Petrograd, gefolterte Revolutionäre in Lateinamerika, napalmver­ brannte Mädchen in Vietnam) und in einem Kosmos großartiger Lieder, Verse und Musiken fortlebte. Die Welt war Klang und Bild, bevor das Wort, die große Theorie alles zusammenfasste und ordnete. Zur Magie des historischen Augenblicks von «1968» gehörte auch das (trügerische) Gefühl, dass alles in der Welt und in der Geschichte einen Zusammenhang bildete und unmittelbar zu uns war. Wenn man so will, war das eine – nun auch massenmedial vermittelte – Totalitätserfahrung, die in dieser Form neuartig war und eine Seite dessen, was man später als Globalisierung bezeichnet hat. Es brachte uns als Nachkriegsgenera­ tion aber auch in einen scheinbar unmittelbaren Kontakt mit den Er­ schütterungen und Nachbeben der Weltkriegsepoche, in deren Schatten und Bann wir so oder so standen. Und zugleich waren wir noch Zeitgenossen vieler der Ereignisse und Entwicklungen, die in diesem Buch verhandelt werden – und die selbst aus diesen Erschütterungen entsprungen sind. Horkheimers (später be­ reuter) Satz, dass, wer vom Kapitalismus nicht reden will, vom Faschis­ mus schweigen muss, war, recht betrachtet, so falsch nicht. Und er lässt sich auf den Kommunismus, der als Bewegung und historische Forma­ tion wesentlich ein Produkt der beiden Weltkriege und der Konflikte der imperialistischen Weltmächte gewesen ist, durchaus erweitern. Als normative Vorstellung und als politische Bewegung ist der Kommu­ nismus nicht wiederzubeleben, schon gar nicht als eine Universaldoktrin und darauf gegründete Weltbewegung. Aber nach wie vor liegt dieser historische Komplex wie ein erratischer Block in der Landschaft des 20. Jahrhunderts. Das abrupte Verschwinden des Großteils der kommu­ nistischen Parteien und Staatswesen nach 1989 steigert nur noch den Er­

Epilog

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klärungsbedarf. Aber dasselbe gilt für die Mutationen, die diese histori­ sche Formation gerade heute unter unseren Augen erlebt, vor allem in der Volksrepublik China; oder bei ihrem unheimlichen Nachbarn und Klienten Nordkorea. Überhaupt sprengt diese ganze, unter dem Titel des «Kommunismus» rubrizierte Geschichte alle historischen Maßstäbe. Nie hat es eine politi­ sche Bewegung und Formation gegeben, die sich über eine so lange Peri­ ode hinweg derart über alle Kontinente und Länder der Welt erstreckt und die Weltpolitik mit entschieden hätte. Nie hat es eine Bewegung ge­ geben, die sich in solch ultimativer Weise dem «Höchsten der Mensch­ heit» geweiht und gerade deshalb in so flagranter Weise der Maxime ge­ huldigt hat, dass ihr «alles erlaubt» sei. Nie hat eine Bewegung so viele intellektuelle, künstlerische, kreative Begabungen stimuliert, mobilisiert, an sich gebunden, aber auch nie einen solchen Friedhof zerbrochener Existenzen, vernichteter Talente, zensierter, konfiszierter, verbrannter Manuskripte oder Kunstwerke hinterlassen. Und nie hat es eine solch elaborierte, alle Fragen umfassend und bindend beantwortende Schrift­ kultur in sämt­lichen Weltsprachen gegeben; und nie ist ein derartiger Berg gedruckter Texte so fast über Nacht unlesbar und zu Makulatur ge­ worden. Aber das alles sind, wie dieses Buch zu zeigen versucht, nur Epiphänomene ­einer ungleich größeren, bedeutenderen, globaleren Ge­ schichte. Wenn dieses Buch es in ziemlich freihändiger Weise unternimmt, eine Art Universalgeschichte des Kommunismus von den Uranfängen der Menschheit bis in die Zeit des Post-Kommunismus und bis heute zu zeichnen, ist das natürlich mehr als vermessen – und war ursprünglich auch nicht so vorgesehen. Ganz im Gegenteil: Die menschheitsgeschicht­ lichen Selbstberufungen der Sozialisten des 19. Jahrhunderts und der Kommunisten des 20. Jahrhunderts waren mir in ihrem Pathos immer suspekt. Dass ich mich dem Thema trotzdem in dieser Weise aus der Tiefe des geschicht­lichen Raumes genähert habe, folgte jedenfalls keiner rein philologisch-ideengeschichtlichen Logik, sondern vor allem der einer vielfachen, konsekutiven, historischen conditio sine qua non, die die je­ weiligen realgeschichtlichen Voraussetzungen in den Blick nahm: Kein chinesischer Kommunismus ohne die Sowjetunion und die Moskauer ­Internationale; kein Bolschewismus ohne die deutsche Sozialdemokratie und kein moderner Sozialistismus ohne den Marxismus. Nimmt man Marx und seinen Gefährten Engels aber nicht als isolierte, Theorien aus­ brütende Köpfe, sondern als lebendige und komplexe historische Figu­

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ren, dann gehen nicht nur viele zeitgenössische Strömungen und Prägun­ gen in ihr Denken und Handeln ein. Sondern man findet sich an einer historischen Schaltstelle wieder, e­ inem «Zeitalter der Revolutionen» und sozialökonomischer Evolu­tionssprünge, die einen irreversiblen Bruch im Kontinuum der mensch­lichen Geschichte bedeutet haben, auf den sie als Erste und am umfassendsten reagiert haben. Einmal dort angekommen, führt die Frage nach den materiellen und mentalen Voraussetzungen dieses historischen Bruchs oder Entwick­ lungssprungs immer tiefer in einen okzidentalen Geschichtsraum, der an die alten orientalischen Reiche anschließt oder ihnen parallel läuft, aber doch aus sich heraus die entscheidenden Fermente dieses Bruchs produ­ ziert. Nur in diesem okzidental-europäischen Kontinuum konnte sich wohl entwickeln, was bis heute als «bürgerliche Gesellschaft», als «Ka­ pitalismus», als «Liberalismus» und als «Moderne» bezeichnet wird. Aber zugleich und im steten Widerspruch dazu konnte sich auch nur hier alles das herausbilden (geistig und soziologisch), was den modernen «Sozialismus» und «Kommunismus» ausgemacht und getragen hat. Mehr noch: Dieser konnte sich von Anfang an aus einer sehr alten, men­ tal tief verwurzelten Geschichte religiöser, philosophischer, literarischer und rechtlicher Einsprüche, Verdikte, Anathemen und Widerstände spei­ sen, die sich gegen eben diese «modernen» Entwicklungen gerichtet ha­ ben. Marx’ Versuch, das eine mit dem anderen zusammenzudenken und in einer politischen Doktrin und Geschichtsauffassung zu vereinen, hat ein historisches Momentum entwickelt, das sich am Ende in zwei antagonis­ tische und buchstäblich in zwei Himmelsrichtungen führende politische Initiativen und Formationen gespalten hat: einen östlichen Kommunis­ mus und einen westlichen Sozialismus. Dem lag aber wieder nicht nur eine ideologisch-doktrinäre, sondern eine handfeste, realgeschichtliche Logik zugrunde, wie ich sie in diesem Buch versucht habe nachzuzeich­ nen. Ein gelehrtes Werk im Sinne einer methodischen Forschung kann dieses Buch nicht sein, da niemand Spezialist für Weltgeschichte ist. Erst recht konnte es keine neuen historischen Quellen erschließen. Mehr als Eric Hobsbawm über seine große (ungleich gelehrtere) Trilogie des langen 19. Jahrhunderts gesagt hat, ist dieses Buch «das, was die Franzosen haute vulgarisation nennen».2 Selbst wenn ich nur auf meine eigenen, dicht gefüllten Regale schaue, von den bibliothekarisch oder elektro­

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nisch verfügbaren Wissensaggregaten ganz zu schweigen, ist mir beim Schreiben immer wieder der beängstigende Satz von Marx in den Sinn gekommen: wonach «die Tradition ­aller toten Geschlechter … wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden (lastet)».3 Man braucht nur in die Literaturverzeichnisse und Fußnoten heutiger Forschungsarbeiten zu schauen, um zu sehen, wie aussichtslos der Versuch ist, «auf dem Stand der Forschung» zu sein, sobald man ein Thema weiter oder sehr weit fasst. Diese internationale Forschung hat, gerade was die Hauptländer des Weltkommunismus im 20. Jahrhundert betrifft, seit der partiellen Öff­ nung der Archive in den 1990 er Jahren noch einmal eine geradezu be­ drängende Fülle an mehr oder weniger gründlichen, oftmals erhellen­ den, manchmal großartigen Arbeiten in allen Weltsprachen hervorge­ bracht; und das im Anschluss an eine Masse älterer Bücher und Darstel­ lungen, die auch in den 1920/ 30er Jahren oder in den Zeiten des «Kalten Kriegs» keineswegs nur tendenziös, sondern oft hoch informiert und gut erzählt waren, und vor allem: lebensgeschichtlich noch «näher dran». Kurzum, in diesem Dickicht der internationalen Forschungen habe ich mich nur im archaischen Modus eines «Jägers und Sammlers» bewegen können. Ist das legitim? Diese Frage lässt sich auch umgekehrt stellen: Wenn nicht von Zeit zu Zeit, oder besser: immer wieder einmal versucht würde, wenigstens Teile des so sorgfältig erforschten, in seinen Grundzügen meist offen daliegenden historischen Materials mit beherzter Unbefangenheit zusammenzudenken – wozu dann die ganze Mühe des Forschens? Für Fachkollegen mag dieses Buch wenig Neues bieten, aber trotz des brei­ ten Pinsels, mit dem ich gemalt habe, vielleicht doch anregend zu lesen sein. In erster Linie ist es ein Versuch, ein scheinbar historisch und poli­ tisch «abgeschlossenes» oder abgetanes Thema, das mit dem Sammel­ begriff oder Bannwort des «Kommunismus» belegt ist, für eine breitere zeit- und welthistorisch interessierte Leserschaft noch einmal neu aufzu­ schließen. Es geht dabei inzwischen weniger darum zu werten, zu urtei­ len oder zu verurteilen, diese Geschichte «aufzuarbeiten» (im spezifisch deutschen Sinne dieses Wortes), eine Bilanz zu ziehen, Begriffe und Vor­ stellungswelten des Kommunismus zu reaktualisieren oder umgekehrt, sie noch einmal zu beerdigen. Sondern es geht um ein nachvollziehendes historisches Verstehen im Sinne eines «making sense». Ins Politische und Zeitgeschichtliche gewendet, geht es um die Frage, an welchem Punkt der menschlichen «Gattungsgeschichte» wir stehen –

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Epilog

ein Begriff, der uns ausgerechnet in den Schüben der Globalisierung fast verloren gegangen ist. Viele der Fragen und Probleme, von denen die So­ zialisten und Kommunisten vor 150  Jahren einmal ausgegangen sind, sind so offen und so ungelöst wie eh und je – oder können vielleicht erst jetzt sinnvoll gestellt werden. Wer freilich nach der Morgenröte irgendeines neuen «herrlichen Son­ nenaufgangs» Ausschau hält, begibt sich zum x-ten Mal in das Gravita­ tionsfeld jener retrograden und regressiven Utopien und Visionen, an de­ nen der Sozialismus und Kommunismus des 19. und 20. Jahrhunderts schon viel zu sehr gekrankt hat. Sofern es eine «Aktualität» von Marx gibt, dann ist sie jedenfalls weniger in der Exegese seiner historischen Texte oder in seinem notorischen Revolutionärstum zu finden, als viel­ mehr in seiner intellektuellen Grundhaltung: der einer entschlossenen Zeitgenossenschaft, gepaart mit einer historischen Perspektive, die die lange Geschichte der verschiedenen menschlichen Gesellschaften und ihre großen Entwicklungstendenzen empirisch und begrifflich zu erfas­ sen sucht, um im Material der eigenen Gegenwart die Potentiale, Keime und Fermente einer höheren Gesellschaftlichkeit zu finden. Statt durch die geschlossenen Lider hindurch in «roten», ozeanischen Gefühlen einer universalen kämpferischen, internationalen Solidarität gegen die Ausbeuter und die Unterdrücker aller Zeiten und Länder zu schwelgen, statt sich irgendeiner alten oder neuen «großen Idee» zu ver­ schreiben oder sich in den labyrinthischen Königsgräbern, Kathedralen und Archiven vergangener Theorie-Debatten zu verlaufen (die heute im Internet monumentaler denn je errichtet werden), braucht es den weit offenen, illu­sionslosen, aber deshalb nicht teilnahmslosen Blick auf das komplexe und chaotische Geschehen der Gegenwart, auch wenn es in all seinen medialen Verdoppelungen zunächst eher einem weißen Rauschen ähnelt.

NACHWORT

D

ieses Buch folgt dem Modus eines knappen analytischen Erzählens, was jeden einzelnen Themenkomplex betrifft – und ist dennoch zu einem epischen Format angeschwollen, dem vieles, auch Substantielles ­geopfert werden musste. Es fordert seinen Leserinnen und Lesern einiges an Ausdauer und Interesse ab, versucht aber, in seiner langen, tastenden Argumentation eine mittlere Linie der Komplexität und eine erzähleri­ sche Spannung zu halten, die es über diese weite Strecke trägt. Die Literatur- und Quellenverweise sind auf die unmittelbaren Entleh­ nungen beschränkt. Die vollen Titel werden bei der ersten Nennung auf­ geführt; danach werden nur noch die Kurztitel zitiert. Für die russischen oder chinesischen Namen habe ich die älteren, nichtwissenschaftlichen Umschriften verwendet, weil sie der Zeitschicht entsprechen, in denen dies alles spielt. Wer wüsste zum Bespiel, dass Ji­ ang Jieshi der ist, den die Welt als Tschiang Kai-shek in Erinnerung hat. Und wer kennt schon die korrekte Aussprache der russischen Namen in wissenschaftlicher Transskription. Dass diese Arbeit nicht im dichten Austausch einer internationalen akademischen Community entstanden ist, sondern sich eher einer indi­ viduellen Anstrengung verdankt, sieht man ihm an – mit allen Nachtei­ len, die das hat, vielleicht auch mit ein paar Vorteilen. Umso dankbarer bin ich, dass ich in den Jahren 2008-10 Gelegenheit hatte, in der «School of History» des «Freiburg Institute for Advanced Studies» (FRIAS) einen deutlicheren Begriff von einer methodisch fortgeschrittenen und viel­ seitigen Geschichtsforschung zu gewinnen. Die beiden Ko-Direktoren Ulrich Herbert und Jörn Leonhard sind mir dabei mit einem unvoreinge­ nommenen, freundlichen Interesse entgegengekommen, an das ich mich gerne erinnere, so wie auch an die vielen Gespräche und Diskussionen der Ko-Fellows dieser Jahre, von denen viele inzwischen ihre großen, meine Themen weitläufig berührenden Arbeiten fertiggestellt haben. Jörg Später war mir als Redakteur und Gesprächspartner damals behilf­ lich, den kurzen, 2010 erschienen Buchessay «Was war der Kommunis­ mus?» in der FRIAS Roten Reihe fertigzustellen, der eine erste Voraus­ skizze zu diesem Buch war.

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Nachwort

In ähnlich freundlich aufgeschlossener Weise sind mir während mei­ nes Jahres am «Imre Kertesz Kolleg» in Jena 2015/16 die beiden Leiter Joachim von Puttkamer und Włodimierz Borodziej begegnet. Dieses Fel­ lowship hat mir Gelegenheit gegeben, in verschiedenen Foren und For­ maten mit einem großen Kreis meist jüngerer, großteils aus Osteuropa stammender Wissenschaftler in Diskussionen zu kommen. Ein besonderer Dank gilt der Gerda Henkel Stiftung, die mir in den Jahren 2011/12, und noch einmal 2014, in denkbar unbürokratischer und großzügiger Weise mit einem Autorenstipendium geholfen hat, an diesem Werk zu arbeiten und durch einige Reisen (so vor allem 2011 nach China) meinen Horizont wesentlich zu erweitern. Meine Freun­ dinnen und Freunde aus früherer Zeit, die alle zu «old China hands» geworden sind, wie Traudel Schlenker, Helmut Forster, Horst Löchel und Jochen Noth, haben mich vor, während und nach dieser Reise in die Apokryphen der chinesischen Geschichte und Gegenwart einge­ weiht. Karl Schlögel ist von allen Fachkollegen derjenige, mit dem ich in einem sporadischen, aber steten Austausch über alle diese Fragen von Gegen­ wart und Geschichte gestanden habe und stehe, und dessen weit gefächer­ ten Arbeiten und unermüdlicher Neugier ich wesentliche intellektuelle Anregungen verdanke. Er hat mich immer wieder aufgemuntert, dieses Buch zu einem guten Ende zu bringen, obwohl ich ja in vielem einen ganz anderen Weg des Schreibens, Forschens und Nachdenkens gehe. Dietrich Beyrau hat mich vor vielen Jahren aus der Existenz eines freien Sachbuch-Autors wieder stärker in die Gefilde einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit historischen Themen zurückgeholt und gehört zum Umkreis jener Kol­legen, deren gründliche, quellengesättigte Arbeiten mir in vielem als Referenzpunkt gedient haben, ohne dass ich in der Lage gewesen wäre, es ihnen gleichzutun, und ohne dass ich die Zeit und die Energie aufgebracht hätte, meine Textentwürfe mit ihnen zu diskutie­ ren – sodass jede weitere Namensnennung eine Einvernahme wäre. Auf eine ganz spezielle Weise habe ich Barbara Wenner zu danken, die mir in der freundschaftlichsten und uneigennützigsten Weise als mein li­ terary angel geholfen hat, die Nase über Wasser zu halten. Stephan Spei­ cher hat durch ein außergewöhnlich sorgfältiges und interessiertes Vor-Lektorat und eine Vielzahl von Hinweisen dazu beigetragen, dass ein, wie ich hoffe, gut lesbares Buch entstanden ist, das sich nicht mehr Blößen gibt, als es bei einem solchen Stoff unvermeidlich ist. Janna Rösch und Alexander Goller haben mit großem Einsatz geholfen, Ma­

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nuskript und Fahnen für den Druck vorzubereiten. Für alle noch existie­ renden Lücken oder Ungenauigkeiten habe ich selbst zu haften. Mein Hauptdank gilt Detlef Felken, der dieses Buch ursprünglich an­ geregt und mit dafür gesorgt hat, dass ich es überhaupt schreiben konnte, und der auch nicht die Geduld und das Interesse verloren hat, als das Schreiben länger als gehofft dauerte und zu einem etwas anderen Resul­ tat geführt hat. Ohne diese kontinuierliche Unterstützung von Cheflek­ tor und Verlag hätte ich diesen Marathon schwerlich durchgehalten  – was man in der aktuellen Diskussion über Urheberrechte usw. auch als ein Statement verstehen kann: Ohne stabile, engagierte Verlage läge zwi­ schen Autoren und Lesern nur noch das weiße Rauschen der Daten­ ströme. Meiner Frau Anna Leszczynska wage ich kaum zu danken, weil sie viele der psychischen Kosten eines derart absorbierenden Unternehmens mitzutragen hatte. Ich tue es aber trotzdem und in Liebe. Frankfurt/Main, Mai 2017

Anmerkungen

PROLOG Die Farbe Rot 1 Vgl. Guy Deutscher, Im Spiegel der Sprache. Warum die Welt in anderen Sprachen anders aussieht, München 2010. 2 Friedrich Engels: Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft. In: Marx-Engels-Werke (im Folgenden abgekürzt: MEW) 19, S. 190. 3 Hegel, Philosophie der Geschichte, S. 535 (Ausgabe 1840).

ERSTES BUCH: Kommunismus als Weltgeschichte Teil I: Ex Occidente – Von den Ursprüngen 1. Die Spur der roten Fahne 1 Marc Angenot, Le Drapeau Rouge: rituels et discours. In: L’Esthétique de la rue (Colloque d’Amiens), Paris 1997, S. 75. 2 Zur komplizierten Überlieferungsgeschichte dieses Liedes und anderer, in denen die Commune posthum gefeiert wurde, vgl. Robert Brécy, La chanson de la Commune: Chansons et poèmes inspirés par la Commune de 1871, Paris 1991, S. 186. 3 Vgl. Maurice Dommanget: Histoire du drapeau rouge, Alençon 1966 (Marseille 2006). 4 Michel Pastoureaux, Blau. Die Geschichte einer Farbe, Berlin 2013. 5 Vgl. Stephan Selzer, Blau. Ökonomie einer Farbe im spätmittelalterlichen Reich, Stuttgart 2010. 6 Eine Geschichte der Farben und ihrer historischen Valeurs hat natürlich immer im Bewusstsein zu halten, dass jede Farbe ihre eigenen Ambivalenzen oder sogar pola­ ren Widersprüchlichkeiten in sich trägt – und dass der eigene Blick bereits kulturell codiert ist. Große Teile der außereuropäischen Welt haben sich in anderen farb­ lichen Symboliken bewegt. Man denke an das Gelb als Farbe kaiserlicher Macht, wie in China; oder an das Goldgelb Buddhas und das Safran der buddhistischen Mönche, die in weiten Teilen Asiens als Farbe einer weltentsagenden Spiritualität gelten; während die mohammedanische Welt dem Grün des Propheten eine privi­ legierte Bedeutung zugemessen und das Blau den Christen und Juden als den ungläu­ bigen Fremden zugewiesen hat. Das trifft sich dann wieder mit den Befunden über die Farben Europas. 7 Vgl. etwa das Sachwortregister der Lenin-Werke (in der Folge abgekürzt: LW), dem zufolge die Begriffe «Kommunismus» oder «kommunistisch» vor 1917 von Lenin nur sporadisch und wenn, dann in historisch zitierender Weise verwendet worden sind. Vgl. LW, Register, Bd. 1, Berlin (DDR) 1972, S. 300 f.

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Anmerkungen

8 Referat über die Revision des Parteiprogramms und die Änderung des Namens der Partei, 8. März (1918), in: LW Bd. 27, S. 113–126. 9 Menschheitsdämmerung. Symphonie jüngster Dichtung, hrsg. von Kurt Pinthus, Berlin 1920. 10 Nach Michail Heller/Alexander Nekrich: Geschichte der Sowjetunion, Bd. 1: 1914– 1939, S. 45. – Das Originalzitat findet sich in Ovid, Metamorphosen, 1,89 f. 11 A. Lunačarski, Lenin i iskustvo. Stat’i ob iskustvie, Moskau-Leningrad 1941, S. 449 f. – Die von Lenin abgezeichnete Liste der zu errichtenden Denkmäler findet sich in: W. I. Lenin, Über Kunst und Literatur, Moskau 1977, S. 176 f. 12 A. W. Lunatscharski, Lenin und die Kunst. Auszug aus L.’s «Erinnerungen an Lenin» (1933). Abgedruckt in: Lenin über Literatur und Kunst, ebd., S. 306 ff. 13 Lenin, Staat und Revolution, LW 25, S. 395. 14 Wolfgang Bauer, China und die Hoffnung auf Glück. Paradiese, Utopien, Idealvor­ stellungen in der Geistesgeschichte Chinas, München 1974, S. 392. 15 Ebenda, S. 567, 631 f. 16 Text hier nach Bauer, Ebenda, S. 568. 17 Ebenda. 18 Hier zit. nach Stuart S. Schram, The Political Thought of Mao Tse-tung, New York 1963, S. 252 f. 19 Das Rote Buch. Worte des Vorsitzenden Mao Tse-tung, hrsg. von Tilemann Grimm, Frankfurt/M. 1967, S. 18. 20 Jung Chang / Jon Halliday, Mao. Das Leben eines Mannes, das Schicksal eines Vol­ kes, München 2005, S. 632 f. 21 Vorwort Tilemann Grimm, in: Das Rote Buch, S. 7. 22 J. W. Stalin, Ökonomische Grundlagen des Sozialismus. In: Stalin Werke, Bd. 15, S. 292–338; Zitate S. 293, 324 f. 23 John Foster Dulles, Radio and Television Adress, 27. Januar 1953; dt. in: Reden und Dokumente des 20. Jahrhunderts (Chronik Handbuch), Gütersloh 1996, S. 299–301. 24 Ernesto Che Guevara, The Motorcycle Diaries. Latinoamericana – Tagebuch einer Motorradreise 1951/52, Köln 2004, S. 78. 25 Brief an Tante Beatriz, Mexico, 9. April (1955). In: Ernesto Guevara Lynch, Aquí va un soldado de América, Barcelona 1987, S. 86. 26 Brief an Tante Beatriz, San José, Costa Rica, 10. Dezember 1953. Hier zit. aus Selbstporträt Che Guevara, hrsg. von Victor Causas, Köln 2005, S. 89. 27 So in Briefen an die Mutter, zit. von E. Guevara sen. in: Acquí va un soldado, S. 92 f. 28 Zit. nach Paco Ignacio Taibo  II, Che. Die Biographie des Ernesto Guevara, Ham­ burg 1997, S. 91. 29 Ernesto Guevara, Taktik und Strategie der lateinamerikanischen Revolution. – Der Text, vermutlich eine interne Rede oder ein an die Armeekader verteiltes Papier, ist datiert auf Oktober-November 1962 und wurde erst nach Ches Tod in der Armee­ zeitschrift Verde Olivo (Olivgrün), 9. Oktober 1968 veröffentlicht. Hier zit. nach: Che Guevara Reader. Writings on Politics and Revolution, ed. by David Deutsch­ man, Melbourne-Havanna 2003, S. 294–304; Zitate S. 300, 304. 30 Pablo Neruda, Die Trauben und der Wind. Übertragen von Erich Arendt, Berlin (DDR) 1955, S. 140. 31 Mao Tse-tung, Über die Neue Demokratie, Januar 1940. In: Mao Tse-tung, Aus­ gewählte Werke, Bd. II, Peking 1968, S. 395–440. 32 J. W. Stalin, Kurzer Lehrgang der Geschichte der KPdSU (B), Moskau 1938; später in zahllosen Einzelausgaben in allen Sprachen erschienen; allein in der DDR bis 1956

Anmerkungen

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in ca. einer Million Exemplaren. In der maßgeblichen deutschen Ausgabe Berlin (DDR) 1951 findet sich die zitierte Passage auf S. 435 f. Vgl. Philip Short, Pol. Pot. Anatomy of a Nightmare, New York 2004, S. 79 f. Alle biografischen Informationen über den Werdegang von Saloth Sar sind den ers­ ten drei Kapiteln des Buchs von Philip Short entnommen. Vgl. Peter Fröberg Idling, Pol Pots Lächeln. Eine schwedische Reise durch das Kam­ bodscha der Roten Khmer, Frankfurt/M.-Wien-Zürich 2013. Ebenda, S. 82, 258.

2. Kommunismus als Weltgeschichte 1 Hier zit. nach Margritta Zellmer, Der lange Weg zum Nisch’l. in: Der klare Blick. Linke Zeitung für Chemnitz, Oktober 2011, S. 8/9. – Eine ausführliche Darstellung der teilweise kuriosen Aventüre dieses Marx-Monumentes findet sich bei Alice von Plato, (K)ein Platz für Karl Marx. Die Geschichte des Denkmals in Karl-MarxStadt. In: Adelheid von Saldern u. a.: Inszenierte Einigkeit. Herrschaftspräsentatio­ nen in DDR-Städten, Stuttgart 2003, S. 147–182. 2 The Economist, Millenium Edition, 23. Dezember 1999. 3 Karl Marx / Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei, in: Marx / ­Engels Werke (im Folgenden: MEW), Bd. 4, S. 459–493; Zitat S. 482; hier in der Schreibweise der Urfassung Manifest der Kommunistischen Partei, London 1848 (Reprint Berlin (DDR) 1975), S. 16. 4 Martin Malia, The Soviet Tragedy; hier nach der dt. Ausgabe: Vollstreckter Wahn. Russland 1917–1991, Stuttgart 1994, S. 31 f. 5 François Furet, Le Passé d’une illusion, Paris 1995; hier nach der dt. Ausgabe: Das Ende der Illusion. Der Kommunismus im 20. Jahrhundert, München-Zürich 1996, S. 10. 6 Stéphane Courtois: Pourquoi? Nachwort zu: «Le livre noir du communisme», Paris 1997; hier zit. nach der deutschen Ausgabe: Das Schwarzbuch des Kommunismus. Unterdrückung, Verbrechen, Terror, München-Zürich 1998, S. 816, 822. 7 Robert Service, Comrades! A History of World Communism, Cambridge 2007, S. 7, 14, 184 f. 8 Archie Brown, The Rise and Fall of Communism; hier nach der dt. Ausgabe: Auf­ stieg und Fall des Kommunismus, Berlin 2009, S. 26–44; Zitat S. 65. 9 David Priestland, The Red Flag. A History of Communism, N. Y. 2009; hier nach der dt. Ausgabe: Weltgeschichte des Kommunismus, München 2009, S. 53 f., 60, 685 ff. 10 Rolf Hosfeld, Die Geister, die er rief. Eine neue Karl-Marx-Biographie, München-­ Zürich 2009, S. 167. 11 Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800–1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 1983, S. 525. 12 Marx sprach vom «Kapital», von der «Kapitalistenklasse», von der «kapitalistischen Produktionsweise» usw. – aber nie vom «Kapitalismus» als einem alles übergreifen­ den sozialökonomischen System oder globalen Gestaltungsprinzip, das zu einem ­geschichtlichen Wesen oder Unwesen eigener Ordnung geworden wäre, wie es der populäre Gebrauch des Wortes suggeriert. Da der Begriff sich eingebürgert und seit Sombart und Weber auch wissenschaftliche Dignität gewonnen hat, werden wir ihn im Folgenden dennoch ohne distanzierende Anführungsstriche verwenden – so wie den Begriff des «Marxismus» auch, den Marx bekanntlich ebenfalls abgelehnt hat und der, wie noch zu zeigen sein wird, eine posthume, aus den legitimen Bedürfnis­ sen einer Operationalisierung gespeiste Vereinfachung seiner komplexen und viel­ fach fragmentarischen Gedankenmodelle war.

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Anmerkungen

13 Vgl. Gareth Stedman Jones, Einführung; in: Karl Marx / Friedrich Engels, Das Kommunistische Manifest, hrsg. von Gareth Stedman Jones, München 2012, S. 13. 14 Manifest der Kommunistischen Partei, in: MEW 4, S. 459–493. 15 Helmut Fleischer, Lenin historisch lesen, in: Jahrbuch für historische Kommunis­ musforschung 1994, Berlin 1995, S. 179. 16 Wilhelm Weitling: Die Kommunion und die Kommunisten (November 1841), hier zit. nach Jacques Grandjonc: Communisme/Kommunismus/Communism. Origine et développement international de la terminologie communautaire prémarxiste des utopistes aux néo-babouvistes 1785–1842, (= Schriften aus dem Karl Marx Haus, 39/2), Trier 1989, S. 523 f. 17 Heinrich Heine: Lutetia, Anhang: Kommunismus, Philosophie und Klerisei. Brief vom 15. Juni 1843. In: Ders., Werke und Briefe in zehn Bänden. Bd. 6, Berlin und Weimar 1972, S. 530; 539. 18 So erlangte etwa der Titel einer Rede des Ökologen Garett Hardin «The Tragedy of the Commons» (Science  162, Dec. 1968) im politischen Diskurs der angelsächsi­ schen Welt den Status eines geflügelten Worts, allerdings oft unter direkter Verkeh­ rung seiner Pointe: «Freedom in the Commons brings ruin to all». – Als «Kommu­ nitaristen» bezeichnet sich eine Schule britischer und amerikanischer Sozialphiloso­ phen (MacIntyre, Walzer, Taylor, Etzioni u. a.), die gegenüber dem dominierenden ökonomischen «Neoliberalismus» die Verantwortung des Individuums gegenüber der Gemeinschaft und die Bedeutung familiärer, zivilgesellschaftlicher und republi­ kanischer Bindungen betonen. 19 So Donald Sassoon, One Hundred Years of Socialism: The West European Left in the Twentieth Century, Revised Edition, London 2010. 20 Reinhart Koselleck, Einleitung, in: Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1, Stuttgart 1979, S. XV. 21 Vgl. Karl Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, München 1949. 22 Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identi­ tät in frühen Hochkulturen, München 2013. 23 Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Kapitel  IX: Herrschaftssoziologie, 5. Abschnitt, § 1: Wesen und Wirkung des Charisma, Tübingen 2002, S. 839 f. 24 Peter Sloterdijk, Zorn und Zeit. Politisch-psychologischer Versuch, Frankfurt/M. 2006, S. 181. – Peter Sloterdijk lässt in «Zorn und Zeit» die Kommunisten daher als «umgekehrte Romantiker» auftreten, als «Enzyklopädisten, die das Zornwissen der Menschheit sammeln» und die selbst den «Zorn von Jahrtausenden» inhalieren, um bei bei «den Einsätzen, um die jetzt gespielt wird», die nötige Bewegungsenergie zu mobilisieren. 25 Eric Hobsbawm, Europäische Revolutionen, Zürich 1962, S. 12. 26 Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Moskau 1939; Reprint Frankfurt/M.-Wien o. J. (1970), S. 26. 27 Friedrich Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates, MEW 21. 28 Ders., Dialektik der Natur, in: MEW 20, S. 583. 29 Karl Kautsky, Vorläufer des neueren Sozialismus, Bd. 1, Stuttgart 1909, S. 6. 30 Rosa Luxemburg, Einführung in die Nationalökonomie, in: Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Band 5, Berlin (DDR) 1975, S. 524–778; Karl August Wittfogel: Vom Urkommunismus bis zur proletarischen Revolution. Eine Skizze der menschlichen Gesellschaft. Teil  1: Urkommunismus und Feudalismus, Berlin 1922; Max Beer: Allgemeine Geschichte

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des Sozialismus und der sozialen Kämpfe. Mit Ergänzungen von Dr. Herrmann Duncker, Berlin 1930. Kurt Barthel (Kuba), Kantate auf Stalin. In: Kuba, Gedichte, Berlin (DDR) 1952, S. 267–277. Slavoj Žižek, Die Revolution steht bevor. Dreizehn Versuche über Lenin, Frank­ furt/M. 2002, S. 36 ff. Ebenda, S. 160. Alain Badiou, Die kommunistische Hypothese, Berlin 2011, S. 19. Ebenda, S. 158. Ebenda, S. 12 f. Ebenda, S. 13. Ebenda, S. 18.

Teil II: Die alte Welt des Kommunismus 1. Revolutionen der alten Welt 1 George Lichtheim, Kurze Geschichte des Sozialismus, München 1975, S. 12. 2 Hermann Parzinger, Die Kinder des Prometheus. Eine Geschichte der Menschheit vor der Erfindung der Schrift, München 2014. 3 Vgl. E. O. Wilson, Die soziale Eroberung der Erde. Eine biologische Geschichte des Menschen, München 2013. 4 Michael Tommassello, Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation, Frank­ furt/M. 2009. 5 Friedrich Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates, in: MEW 21, S. 95 f. 6 Ebenda, S. 97. 7 James Connolly, Irland vor der Eroberung (1897); auszugsweise in: Dieter Reinisch (Hrsg.), Der Urkommunismus. Auf den Spuren der egalitären Gesellschaft, Wien 2012. 8 Engels, Ursprung der Familie, S. 97. 9 Lewis H. Morgan, Ancient Society, or Researches in the Lines of Human Progress from Sagary, through Barbarism to Civilization, London 1877. 10 Johann Jakob Bachofen, Das Mutterrecht. Eine Untersuchung über die Gynaikokra­ tie der alten Welt nach ihrer religiösen und rechtlichen Natur, Stuttgart 1861. 11 Paul Lafargue, Die Entwicklung des Privateigenthums, London 1890. 12 Marx, Zur Kritik der Politischen Ökonomie. Vorwort, in: MEW 13, S. 9. 13 In seiner ersten systematischen Ausarbeitung «Zur Kritik der Politischen Ökono­ mie. Vorwort» nannte Marx die «asiatische, antike, feudale und modern bürger­ liche Produktionsweise» als «progressive Epochen ökonomischer Gesellschaftsfor­ mation». (MEW 13, S. 9) Offenbar sah er in der «asiatischen Produktionsweise» die historisch älteste und zugleich bis in die Gegenwart reichende Gesellschaftsform. In seinen sporadischen, aber durchaus systematischen Versuchen einer Bestimmung ging er davon aus, dass die eigentliche, breite Grundlage der hierarchisch und des­ potisch verfassten «orientalischen» Gesellschaften selbstgenügsame, Handwerk und Landwirtschaft verbindende Dorfgemeinden seien, und dass deren Mitglieder als Großfamilien oder Clans zwar erbliche Besitzer von Anteilen am Boden sein konnten, der jedoch ideell oder rechtlich noch immer Stammes- oder Staatseigen­ tum sei und damit der «höheren Gemeinschaft» inkorporiert blieb; oder umge­ kehrt, so wie in allen alten Gesellschaften, etwa der griechischen Polis: «Sein Eigen­

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tum … ist dadurch vermittelt, dass er selbst natürliches Mitglied seines Gemeinwe­ sens.» (Grundrisse der politischen Ökonomie, MEW  42, S. 384, 387 ff. Zitat S. 389/90). Jan Philipp Reemtsma, Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Kon­ stellation der Moderne, Hamburg 2008. Angelika Fleckinger, Ötzi, der Mann aus dem Eis, Wien-Bozen 2009. Vgl. Lawrence H. Keeley, War before Civilization. The Myth of the Peaceful Savage, Oxford 1996. Steven Pinker, The Better Angels of our Nature. Why Violence has Declined, N. Y.-London 2011; (dt. Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit, Frankfurt/M. 2011). Hier zit. nach Dieter Langewiesche, Eskalierte die Kriegsgewalt im Laufe der ­Geschichte?. In: Moderne Zeiten? Krieg, Revolution und Gewalt im 20. Jahrhun­ dert, hrsg. von Jörg Baberowski, Göttingen 2006, S. 12–36. Heraklit, Fragmente, in: Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und Deutsch von Hermann Diels. Hrsg. von Walther Kranz, Erster Band, Dublin-Zürich 1972, S. 162. Charles Tilly, War Making and State Making as Organized Crime. In: P. Evans u. a. (Eds.), Bringing the State back, N. Y. 1985, S. 169–191; Zitat S. 170. Bernhard Lamm, Heiliges Geld, Tübingen 1924; neuerdings: Sitta von Reden, ­Antike Wirtschaft, Berlin 2015; Dies., Money in Classical Antiquity, Cambridge 2010. Uruk. 5000 Jahre Megacity. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Pergamon­ museum Berlin, Petersberg 2013.

2. Die Großen Erzählungen 1 So im babylonischen Versepos «Der Krieg der Götter», in der Nacherzählung des amerikanischen Mythenforschers Theodor  H. Gaster, The Oldest Stories of the World, N. Y. 1952; dt. Die ältesten Geschichten der Welt, Berlin (West) 1983, S. 61. 2 Das Gilgamesch-Epos, eingeleitet, rhytmisch übertragen und mit Anmerkungen ver­ sehen von Helmut Schmögel, Stuttgart u. a 1966; sowie Dasselbe, neu übersetzt u. kommentiert von Stefan Maul, München 2012. 3 Uruk. 5000 Jahre Megacity. Katalog, siehe oben, Anm. II.1, 22. 4 Gilgamesch-Epos, Zehnte Tafel, Verse 77–91, hier in der Übersetzung von Schmökel. 5 So in etwa lässt sich das Gilgamesch-Epos in der bewusst prosaischen Wiedergabe von Gaster (Fn. 1) und der eher sozialphilosophischen Ausdeutung der Geschichte bei Tomáš Sedláček, Die Ökonomie von Gut und Böse, München 2009, Kapitel 1 zusammenfassen. 6 5 Moses, 20,15–17. 7 4 Moses, 31,15–18. 8 So Raymund Schwager und Matthew White, hier zit. nach Steven Pinker, Gewalt, S. 36 f. 9 Sloterdijk, Zorn und Zeit, S. 131–141, passim. 10 Jan Assmann, Exodus. Die Revolution der alten Welt, München 2015, S. 20–24, passim. 11 Hesiod, Theogonie. Werke und Tage. Griechisch / Deutsch. Artemis und Winkler, Zürich-Düsseldorf 2000. 12 Hesiod, Werke und Tage, V. 57–59. Zit. nach: Karl Kérenyi, Vom Lachen der Götter. Mensch und Gott nach Homer und Hesiod, in: Antike Religion, München 1971, S. 137 f.

Anmerkungen

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13 Nach der Terminologie von Jan Philipp Reemtsma, Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne, Hamburg 2008, S. 113 ff. 14 Hesiod, Werke und Tage, Griechisch / Deutsch, hrsg. von Otto Schönberger, Stutt­ gart 1996. 15 Hesiod, von Andrea Ercolani und Luigi Enrico Rossi. In: Bernhard Zimmermann (Hrsg.), Handbuch der griechischen Literatur der Antike, Band 1: Die Literatur der archaischen und klassischen Zeit, München 2011, S. 78–123. 16 Dschuang-Dse, Peking 1954, in neuerer Edition: Zhuang Zi, Das wahre Buch vom südlichen Blütenland, Düsseldorf 1972. Hier zit. nach Ernst Schwarz, Einführung zu: Laudse, Daudedsching (Lao Tse, Tao-te-king), Leipzig 1978 / München 1980, S. 16 f. 17 Ebenda, S. 17. 18 Lao Tse, Tao-te-king, 18. Vers, S. 68  – Dazu kommt das Problem der modernen Übersetzungen. Die hier zitierte Übersetzung des 18. Verses von Ernst Schwarz lässt sich mit der klassischen Übersetzung von Richard Wilhelm nur mühsam zur De­ ckung bringen. Daran hängt aber unser ganzes Verständnis dieses Ideenkosmos. 19 Lao Tse, Tao-te-king, 25. Vers., S. 75. Hier zit. in der Übersetzung von Schwarz. – Die Kleinschreibung, die Schwarz den Texten verordnet hat, habe ich um der Klar­ heit willen nicht übernommen. 20 Schwarz, Einleitung, S. 27. 21 Kai Vogelsang, Geschichte Chinas, Stuttgart 2012, S. 244 ff.; 322 ff.

3. Von Platons Staat zum Reich Christi 1 Die «Atlantis»-Erzählung findet sich in Platons «Timaois»- und «Kritias»-Dialogen. Vgl. Reinhold Bichler, Athen besiegt Atlantis. Eine Studie über den Ursprung der Staatsutopie. In: Conceptus XX (1986), No. 51, S. 71–88. 2 Karl Kautsky, Vorläufer des neueren Sozialismus. Erster Band: Kommunistische Be­ wegungen im Mittelalter, 4. Aufl., Stuttgart 1919, S. 5, 11–25. 3 Karl Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. I: Der Zauber Platons, Ber­ lin-München 1957. 4 Platon, Der Staat, Stuttgart 1955, IV, S. 434 Stephanus-Zählung. 5 Ebenda, S. 462 c, 585 c. 6 Vgl. Marx, Das Kapital, Bd. 1, in: MEW 23, S. 388: «Platos Republik … ist nur athe­ niensische Idealisierung des ägyptischen Kastenwesens.» 7 Als ein «Vorläufer» blieb Platon wegen seines Aristokratismus und Idealismus im späteren kommunistischen Lehrkanon allerdings immer umstritten. So tauchen die Schriften von Platon neben denen von Immanuel Kant, Ernst Mach und anderen «idealistischen» und daher «zweifellos schädlichen» Autoren auf einer Liste auszu­ sondernder Literatur – dem ersten sowjetischen «Index» – auf, den Krupskaja 1922 für Lenin zusammengestellt hatte. Später nahm sie diese von den Bibliothekaren als «Hinweis» aufgenommene «odiöse Liste», um die es «viel Lärm gegeben habe», in einem Artikel in der «Prawda» vom 9. April 1924 allerdings ausdrücklich wieder zurück, da der Bannstrahl dann auch Tolstoi, Kropotkin und andere, durchaus pro­ gressive Autoren sowie die gesamte religiöse Literatur treffen müsste, für die die ­historisch-materialistisch geschulten Massen zunehmend unempfänglich würden. Vgl. A Bolshevist Index Expurgatorius, in: http://www.marxistsfr.org/history/ussr/ government/pravda/1924/04/09.htm. 8 Aristoteles, Politik, in: Ders., Philosophische Schriften in sechs Bänden, Bd. 4; Ham­ burg 1995, S. 41 (Pol. 1263 a 40–42). 9 Aristoteles, Nikomachische Ethik, in: Ders., Philosophische Schriften in sechs Bän­ den, Bd. 3: Nikomachische Ethik, Hamburg 1995, S. 82 (NE 1123 a 7–9).

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Anmerkungen

10 Aristoteles, Politik, in Ders., Philosophische Schriften in sechs Bänden, Bd. 4: Poli­ tik, Hamburg 1995, S. 21 (Pol. 1258 a 10–14). 11 Ebenda, Hamburg 1965, 1257 b, 30–40. 12 Karl Marx, Das Kapital, Bd. 1 (MEW 23), S. 167. 13 Robert von Pöhlmann, Geschichte der sozialen Frage und des Sozialismus in der an­ tiken Welt, München 1912, S. 97. 14 Tim Witmarsch, Battling the Gods: Atheism in the Ancient World, N. Y. 2015. 15 Vgl. Elizabeth Rawson, The Spartan Tradition in European Thought, Oxford 1991. 16 Plutarch, Große Griechen und Römer, Lebensbeschreibungen, Gesamtausgabe (6 Bde.), übersetzt von Johann Friedrich Kaltwasser, in Neubearbeitungen von Hans Floerke und später Ludwig Kröner, Bd. 1, München 1979, S. 125 ff. 17 Anette Merz, Der historische Jesus. In: Die Anfänge des Christentums, hrsg. von Friedrich Wilhelm Graf und Klaus Wiegandt, Frankfurt/M. 2009, S. 29, 50 f. 18 Römerbrief 3,19; hier zit nach Oda Wischmeyer, Die paulinische Mission als reli­ giöse und literarische Kommunikation, in: Ebenda, S. 107. 19 Friedrich Wilhelm Graf, Einleitung zu: Anfänge des Christentums, S. 19. 20 Adolf Martin Ritter, «Kirche und Staat» im frühen Christentum. Texte und Kom­ mentare zum Thema Religion und Politik in der Antike, Bern 2005; hier: Ambrosius von Mailand, Brief 75, S. 137 f. 21 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Zweiter Halbband, Kapitel  IX. Herrschafts­ soziologie, 6. Abschnitt: Politische und hierokratische Herrschaft, S. 900. 22 Ebenda, S. 911. 23 David Landes, Wohlstand und Armut der Nationen. Warum die einen reich und die anderen arm sind, Berlin 1999, S. 44–60. 24 Luther, Diverse Vorlesungen und Predigten, in: Ders., Werke (Kritische Gesamtaus­ gabe, Weimarer Ausgabe), Bd. 1 ff., Weimar 1966–1983. 25 Luther, Wider die mörderischen und aufrührerischen Rotten der Bauern, in: Ders., Werke (Kritische Gesamtausgabe, Weimarer Ausgabe), Bd. 18, Weimar 1908, S. 358. 26 Evangelisches Gesangsbuch, Lied  361. Hier in der Fassung der Originalausgabe nach: Johann Crüger:  Praxis Pietatis Melica. Das ist: Übung der Gottseligkeit in Christlichen und trostreichen Gesängen. Editio V. Runge, Berlin 1653, S. 610 ff. (in: Digitale Sammlungen der Bayerischen Staatsbibliothek). 27 Luther, Vom unfreien Willen, in: Luther Deutsch, Die Werke Luthers in Auswahhl, hrsg. von Kurt Aland, Bd. 3: Der neue Glaube, Göttingen 1991, S. 194 f. 28 Max Weber, Die protestantische Ethik und der «Geist» des Kapitalismus, Boden­ heim 1993 (Textausgabe auf der Grundlage der ersten Fassung von 1904/05, er­ schienen im «Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik», Bde. 20, 21). 29 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 912. 30 Ebenda, S. 903.

Teil III: Die Entdeckung der Zukunft 1. Millenarismus und Moderne 1 Zu den frühesten und einflussreichsten Studien gehörte: Norman Cohn, Die Sehn­ sucht nach dem Millenium. Apokalyptiker, Chiliasten und Propheten im Mittelalter, Freiburg 1998 (1957) – Als «Millenarismus» (lat.) oder «Chiliasmus (griech.) wird der Glaube an ein «Tausendjähriges Reich» bezeichnet, das Jesus als der prophezeite Messias (hebr.) oder Christos (griech. der Erwählte) nach seiner verheißenen ­Wiederkehr noch vor dem Jüngsten Gericht errichten werde. Den apokalyptischen

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(d. h. den Anbruch der Endzeit offenbarenden) Bibeltexten, insbesondere dem «Buch Daniel» und der «Apokalypse des Johannes» zufolge, musste der Wiederkehr des Messias eine Endschlacht, ein Armageddon, vorausgehen, das mit dem Sieg der himmlischen Heerscharen über die auf der Erde herrschenden Kräfte der Finsternis enden würde. Diese «eschatologische» (endzeitliche) Naherwartung, die die ersten Christen in der Erwartung des Wiedererscheinens Christi noch zu ihren Lebzeiten gehegt hatten, wurde in den millenaristischen oder chiliastischen Bewegungen des Mittelalters und der frühen Neuzeit immer wieder aktualisiert. «Reformatio Sigismundi», hier zit. nach Lasky, Utopie und Revolution, S. 129 f. Vgl. auch Norman Cohn, Sehnsucht nach dem Millenium, S. 129 f. Thomas Müntzer, Hochversachte Schutzrede und Antwort wider das geistlose, sanftlebende Fleisch zu Wittenberg …, in: Günther Franz / Paul Kirn (Hrsg.), Tho­ mas Müntzer. Schriften und Briefe, Gütersloh 1968, S. 321–343; Zitat S. 329. Marx, Zur Judenfrage, in: MEW 1, S. 488 ff.; sowie Zur Kritik der Hegelschen Rechts­ philosophie, Ebenda, S. 386. Engels, Der deutsche Bauernkrieg, in: MEW 7, S. 329, 353. Brief 45, in: Franz/Kirn, S. 395 ff. Thomas Müntzer, Fürstenpredigt, in: Franz / Kirn, Thomas Müntzer, S. 241–363. Alle Zitate aus der «Fürstenpredigt», in: Ebenda, S. 182–199 passim; sowie Brief 94 an die Gemeinde in Mühlhausen, S. 473 – Vgl. Hans-Jürgen Goertz, Thomas Münt­ zer. Revolutionär am Ende der Zeiten, München 2015; sowie Wolf Christian Schnei­ der, Der Blick auf Thomas Müntzer als Problem. Marx und die Frage des Religiösen, in: Was bleibt? Karl Marx heute. Workshop vom 14.–16. März 2008 anlässlich des 125. Todestages von Karl Marx im Studienzentrum Karl-Marx-Haus in Trier, hrsg. von Beatrix Bouvier, Bonn 2009, S. 43–72. Dieses Zitat aus einer Predigt von John Ball vor den aufrührerischen «Lollarden» ist in vielen, leicht abgewandelten Varianten überliefert. Der entsprechende deutsche Vers soll in Volksliedern seit dem Ende des 15. Jahrhunderts mehrfach aufgetaucht sein. So jedenfalls Wolfgang Steinitz, Deutsche Volkslieder demokratischen Charak­ ters aus sechs Jahrhunderten, Bd. 1, Berlin (DDR) 1954, S. 10. Gerrard Winstanley, The Law of Freedom in a Platform or; True Magistracy re­ stored. To his Excellency Oliver Cromwell, General of the Commonwealth’ Army (1652). Elektronische Fassung (www.bilderberg.org/land/lawofree.htm). Nach einer Erhebung des russischen Innenministeriums aus dem Jahr 1863 gab es acht Millionen «Altgläubige», das war ein Sechstel der gesamten orthodoxen Be­ völkerung des Reiches. Dazu kamen mehr als hunderttausend Molokanen und Duch­ borzen und ebenso viele Chlysten und Skopzen. Hier zit. nach James Billington, The Icon and the Axe. An Interpretive History of Russian Culture, N. Y. 1970, S. 700, Anm. 71. Vgl. John Gray, Black Mass. Apokalyptic Religion and the Death of Utopia, Lon­ don-N. Y. 2007, Zitate S. 31, 278. Wolfgang Bauer, China und die Hoffnung auf Glück, S. 171 ff. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 386. Ebenda, S. 839 f. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, Tübingen 1920, S. 35, 192. Cohn, Sehnsucht nach dem Millenium, S. 316 f. – Vgl. auch Ders., Die Protokolle der Weisen von Zion. Der Mythos von der jüdischen Weltverschwörung. Mit einer Einführung von Michael Hagemeister, Zürich 1998. Eric Hobsbawm, Primitive Rebels. Studies in Archaic Forms of Social Movement in the 19th and 20th Centuries, Manchester 1959, S. 60 f., 64.

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Anmerkungen

19 Hannah Arendt, Über die Revolution, München-Zürich 1974, S. 48. 20 Vgl. Wolfgang Schieder, Kommunismus. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hrsg. von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck, Bd. 3, S. 461 f.

2. Die eine Welt und ihre Schrecken 1 Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt 1989. 2 Lucian Hölscher, Die Entdeckung der Zukunft, Frankfurt/M. 1999, S. 38 f. 3 Peter Burke, The History of the Future, 1350–2000. In: The Uses of Future, ed. by Andrea Brady / Emily Butterworth, London 2009, S. IX–XX. 4 Fernand Braudel, Sozialgeschichte des 15.–18. Jahrhunderts. Aufbruch zur Weltwirt­ schaft, München 1986. 5 Ebenda, S. 73. 6 Ebenda, S. 67. 7 «Erst das ‹philosophische Jahrhundert›, als der Mensch aufhörte, die Zeitlichkeit der Ewigkeit entgegenzustellen, und anfing, sich selbst im Ablauf des allgemeinen Geschehens zu sehen …, hat die uns so geläufige Abstraktion des Begriffs der zu­ künftigen Zeit allgemein vollzogen.» – Artikel «Zukunft» in: Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Band 32, Leipzig 1954, Sp. 479; hier zit. nach Höl­ scher, Entdeckung der Zukunft, S. 36. 8 Vgl. Koselleck, Historia magistra vitae, in: Vergangene Zukunft, S. 40 f. – «Historia» war im Übrigen eine Pluralform, also «Geschichten» im Sinne von Exempeln und typischen Situationen; von «der Geschichte» im Singular als einem Per­spektivbegriff war noch längst keine Rede. 9 Nicolaus Copernicus, De Revolutionibus Orbium Coelestium. Dt. Über die Kreis­ bewegungen der Weltkörper, Berlin 1959. 10 Vgl. etwa Jan Golinski: Das geheime Leben eines Alchimisten. In: John Fauvel et al. (Hrsg.): Newtons Werk. Die Begründung der modernen Naturwissenschaft. Basel-­ Boston-Berlin 1993. 11 Vgl. Melvin Lasky, Utopie und Revolution, S. 277. 12 Zit. nach ebenda, S. 262. 13 Thomas Hobbes, Behemoth or the Long Parliament, London 1889, S. 214. 14 Thomas Morus, Utopia, in: Der utopische Staat, hrsg. von Klaus J. Heinisch, Rein­ bek 1960, S. 64. 15 Ebenda, S. 97. 16 Ebenda, S. 108. 17 Tommaso Campanella, «Civitas Solis – Idea Republicae Philosophicae» erschien zu­ erst 1623 in lateinischer Sprache in Frankfurt. Deutsche Übertragung in: Heinisch, Der utopische Staat, S. 115–169. 18 Vgl. Richard Saage, Politische Utopien der Neuzeit, Darmstadt 1991. 19 Nicolas de Gueudeville, Suite du Voyage de l’Amérique, ou Dialogues de Monsieur le Baron de Lahontan et d’un Sauvage dans l’Amérique, Amsterdam 1704; hier zit. nach Saage, Politische Utopien, S. 104. 20 Saage, Politische Utopien, S. 65. 21 Nova Atlantis. Fragmentorum alterum per Franciscum Baconum, London 1638, hrsg. von William Rawley, hier zit. nach Heinisch (Hrsg.), Der utopische Staat, S. 205. 22 Ebenda, S. 201. 23 Peter Sloterdijk, Im Weltinnenraum des Kapitals. Für eine philosophische Theorie der Globalisierung, Frankfurt/M. 2006, S. 126, 133.

Anmerkungen

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24 Louis Sébastien Mercier, L’An deux mille quatre cent quarante. Rêve s’il en fut ­jamais, London 1772 (dt. Das Jahr 2440. Ein Traum aller Träume, Frankfurt/M. 1989). 25 Reinhart Koselleck, Die Verzeitlichung der Utopie. In: Ders., Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt/M. 2000, S. 131–149. 26 Mercier, Das Jahr 2440, S. 221. 27 Ebenda, S. 93. 28 Hier zit.  nach Saage, Politische Utopien, S. 114  – Saage zitiert aus einer früheren Ausgabe von Mercier, Das Jahr 2440, hrsg. von Herbert Jaumann, Frankfurt/M. 1982, S. 95; diese Passage findet sich in der von uns verwendeten Ausgabe nicht. 29 Mercier, Das Jahr 2440 (wie Anm. 24), S. 154. 30 Ebenda, S. 169 f. 31 So Terry Eagleton in der Rezension einer Sammlung britischer Utopien der Jahre 1700–1850. Einige, schreibt er, rochen allzu gut nach «Merry old England», dem gemütlichen alten England; die meisten aber beschrieben «geruchslose, antiseptische Orte»; und wieder andere ergingen sich in plattem frühkolonialen Exotismus. Vgl. Terry Eagleton, Pretty Much like Ourselves. Rezension von: Modern British Utopias 1700–1850, by Gregory Claeys, London 1997. In: London Review of Books, Vol. 19, No. 17, S. 6 f.

3. The Pursuit of Happiness 1 Vgl. Gary Wills, Inventing America: Jefferson’s Declaration of Independence, New York 1978 (2002). 2 Giambattista Vico, Scienza nova, §§ 132–133; hier zit. nach Albert O. Hirschman, Leidenschaft und Interesse. Politische Begründungen des Kapi­talismus vor seinem Sieg, Frankfurt/M. 1980, S. 24. 3 Paul Henri d’Holbach, Système de la nature, S. 424 f.; hier zit. nach Ebenda, S. 35. 4 Claude Adrien Hélvetius, De l’esprit, S. 159 f.; hier zit. nach Ebenda, S. 36. 5 Hirschman, S. 82–89; 103–107. 6 Ebenda, S. 118. 7 Adam Smith, Der Reichtum der Nationen, dt. Ausgabe, S. 522  – Hier in der bei Hirschman gegebenen, plastischeren Übersetzung. 8 Bernard de Mandeville, The Fable of the Bees, ed. Philip Harth, London 1970 . (dt. Die Bienenfabel oder Private Laster, öffentliche Vorteile. Mit einer Einleitung von Walter Euchner. 2. Aufl. Frankfurt/M. 1980). 9 Mandeville, Die Bienenfabel, S. 92. 10 «The worst of all the multitude / did something for the common good.» Ebenda, S. 70, 84. 11 Hier zit. nach Philip Harth, Indroduction, ebenda, S. 15. 12 F. A. Hayek, Dr. Bernard Mandeville: Lecture on a Master Mind. In: Proceedings of the British Academy 52 (23 March 1966), S. 125–141; Zitat S. 126. 13 Adam Smith, Theorie der ethischen Gefühle, Hamburg 2000, S. 503 f. 14 Ebenda, S. 5. 15 Ebenda, S. 314 f. 16 So in einem frühen Aufsatz über Astronomie; hier zit. nach Sedlaček, Ökonomie von Gut und Böse, S. 249. 17 Smith, Reichtum der Nationen, S. 115–122. 18 Ebenda, S. 117 f. 19 Ebenda, S. 322. 20 Ebenda, S. 320.

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Anmerkungen

Ebenda, S. 495. Ebenda, S. 131. Stephen Toulmin, Cosmopolis. The Hidden Agenda of Modernity, N. Y. 1990. Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers. Mis en ordre & publié par M. Diderot, & quant à la Partie Mathématique par M. d’Alem­ bert, Paris 1751–1780.  – Reprint in 35  Bänden, Stuttgart-Bad Cannstatt 1968– 1995. Karl Marx, Theorien über den Mehrwert, MEW 26.1, S. 319. François Quesnay, Tableau Économique, et maximes générales du gouvernement économiques, Versailles 1756. Dt. Ausgabe hrsg., eingeleitet und übersetzt von M. Kuczynski, Berlin (DDR) 1965. Dass die physiokratischen Lehren gleichwohl zu einem der einflussreichsten Ent­ wicklungsschemata werden sollten, das in praktischer Anwendung bedeutete, durch die «Kommodifizierung des ländlichen Raumes» jene Dividenden zu erwirtschaften, mit denen «man Straßen, Häfen, Paläste bauen und all die nicht landwirtschaft­ lichen Produkte herstellen» konnte, die man brauchte, um Industrien aufzubauen, steht auf einem anderen Blatt. Vgl. Charles S. Maier, Leviathan 2.0. Die Erfindung moderner Staatlichkeit, in: Akira Iriye / Jürgen Osterhammel (Hrsg.), Geschichte der Welt. 1870–1945. Weltmärkte und Weltkriege, S. 67 ff. Nicolas de Condorcet, Esquisse d’un tableau historique des progrès de l’esprit hu­ main. Introduction et notes par M. et F. Hincker, Paris 1966. Dt. Entwurf einer his­ torischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes, Frankfurt/M. 1991. Ebenda, S. 205 f. (frz. Originalfassung). Ebenda, S. 260. Marquis de Condorcet, Über die Bedeutung des Wortes revolutionär, in: Marquis de Condorcet, Freiheit, Revolution, Verfassung. Kleine politische Schriften, hrsg. von Daniel Schulz, Berlin 2010, S. 153–157; Zitat S. 157. Wortwechsel Brissot-Robespierre, hier zit. nach M. Lasky, Utopie und Revolution, S. 528. Jean-Jacques Rousseau, Bekenntnisse, Frankfurt/M. 1985, S. 37. Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 2011, S. 49. Jean-Jacques Rousseau, Emile oder Über die Erziehung, Stuttgart 1963, S. 107. Am bekanntesten ist natürlich der Fanfarenstoß, mit dem sein Traktat «Du Contrat ­Social» (Über den Gesellschaftsvertrag) begann: «Der Mensch wird frei geboren, und überall liegt er in Ketten». Jean-Jacques Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit, hrsg. von Heinrich Meier, Paderborn u. a., 3. Aufl., 1993, S. 173. Ebenda, S. 305. Jean-Jacques Rousseau, Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit, in: Schriften, Band I, hrsg. von Henning Ritter, S. 223. Rousseau, Émile, S. 350 ff. Gesellschaftsvertrag, S. 154. Ebenda, S. 156. Vgl. Karl-Heinz Ott, Gier: Die Panik, zu kurz zu kommen. In: Psychologie heute, H.  1, 2012, S. 39 sowie das Psychogramm Rousseaus, das Ott in seinem Roman Wintzenried, Hamburg 2011, gezeichnet hat. Diskurs über die Ungleichheit, S. 155. Rousseau, Émile, Bd. 1, S. 125. Gesellschaftsvertrag, S. 13. Ebenda, S. 212.

Anmerkungen

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47 Man scheut vor dem zugleich Pompösen und Abgegriffenen einer solchen Begriff­ lichkeit zurück. In jedem Falle handelt es sich um etwas Anderes als um die von Adorno/Horkheimer diagnostizierte «Dialektik der Aufklärung», die auf die Bedro­ hung durch eine «instrumentelle Vernunft» abzielt und die Hauke Brunkhorst in ­seiner Arbeit über Adorno zur Formel einer «Dialektik der Moderne» zu erweitern versucht hat (Vgl. Brunkhorst, Theodor W. Adorno, Dialektik der Moderne, Mün­ chen-Zürich 1990). Aber auch Zygmunt Baumans Formel von der «Ambivalenz der Moderne», die den ordnenden, homogenisierenden und Übersicht schaffenden Gärt­ nerstaat im Auge hat, trifft das hier Gemeinte nicht (Zygmunt Bauman, Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Hamburg 2005). 48 Rousseau, Gesellschaftsvertrag, S. 28 f. 49 Ebenda, S. 40. 50 Ebenda, S. 34. 51 Ebenda, S. 52, 54, 64. 52 Ebenda, S. 66–71, passim. 53 Ebenda, S. 84 f. 54 Ebenda, S. 111. 55 Ebenda, S. 141. 56 Ebenda, S. 174 f. 57 Ebenda, S. 113. 58 Ebenda, S. 221. 59 Ebenda, S. 152. 60 Ebenda, S. 73.

Teil IV: Das Zeitalter der Revolution 1. Die Furien des Verschwindens 1 Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, in: Ders., Illuminationen. Ausge­ wählte Schriften, Frankfurt/M. 1977, S. 268–279; Zitat S. 275. 2 Jules Michelet, Histoire de la Révolution Française, Bd. I, Einleitung, Paris 1952, S. 21; Ders., Journal, Bd. I (1828–1848), hrsg. von Paul Viallaneix, Paris 1959, S. 378. Hier zit. nach Jochen Köhler, Die Revolution ist überall. Zu Jules Michelets Leben, Ideen und Werk. Einleitung zu Jules Michelet, Geschichte der Französischen Revolu­ tion, neue, bearbeitete Ausgabe in zwei Bänden, Frankfurt/M. 2009, S. 24; 27 f. 3 Hier zit. nach Burleigh, Irdische Mächte, göttliches Heil. Die Geschichte des Kampfes zwischen Politik und Religion von der Französischen Revolution bis in die Gegenwart, München 2008, S. 237. 4 Hannah Arendt, Über die Revolution, München 1965, S. 56 f. 5 Dass es sich tatsächlich um eine freimaurerische Symbolik gehandelt hat, ist eher un­ wahrscheinlich. Vielmehr zeigt sich, wie sehr die Ikonografie der Freimaurer ihrer­ seits aus den barocken und «orientalisierenden» Bildsprachen der Zeit schöpfte. 6 Edmund Burke, Betrachtungen über die Französische Revolution, übers. von Fried­ rich Gentz, Zürich 1987. 7 Thomas Paine, Rights of Man, Part 2, Introduction – eigene Übersetzung. 8 Vgl. Lorenz Jäger, Hinter dem Großen Orient. Freimaurerei und Revolutionsbewe­ gungen, Wien-Leipzig 2009, passim. 9 Im Art. 1 des Dekrets hieß es: «Die Ära der Franzosen zählt von der Gründung der Republik an, die am 22. September der bisher üblichen Zeitrechnung stattfand, am Tag, als die Sonne das wahre Herbstäquinoktium erreicht hat und um 9h 18m 30s

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Anmerkungen

nach der Zeit des Pariser Observatoriums ins Zeichen der Waage trat.» Zit. nach ­Peter Aufgebauer, Die astronomischen Grundlagen des französischen Revolutions­ kalenders. In: Fundus  4 http://webdoc.gwdg.de/edoc/p/fundus/4/aufgebauer.pdf, S. 172. Zur symbolischen Bedeutung vgl. Bronislaw Baczko, Lumières de l’utopie, Paris 1978, S. 214. Über die den Lebensrhythmus und das Weltempfinden «revolutionierende» Macht der mechanischen Uhr, namentlich der Taschenuhr, vgl. David Landes, Wohlstand und Armut der Nationen. Warum die einen reich und die anderen arm sind, Berlin 1999, S. 63–67. Arendt, Über die Revolution, S. 50. Zitat Robespierre, in: Ebenda, S. 69. Vgl. Albert Ollivier, Saint-Just et la force des choses, Paris 1954, S. 75-79. Arendt, Über die Revolution, S. 94–98. Ebenda, S. 73 f. Nach Helmut Lethen, Verhaltenslehre der Kälte. Lebensversuche zwischen den Krie­ gen, Frankfurt/M. 1994. Der volle Titel hätte womöglich gelautet: «De la nature, de l’état civil, de la cité et de l’indépendance» (Über die Natur, den Gesellschaftszustand, die Stadt und die Un­ abhängigkeit); geschrieben offenbar zwischen Herbst 1791 und 1792. Saint-Just, Fragments sur les institutions républicaines (1800), zu finden in der Sammlung «Les classiques des sciences sociales», fondée et dirigée par Jean-Marie Tremblay (www.uqac.uquebec.ca/zone30/Classiques_des_sciences_sociales/index. html). Zit. nach Ollivier, Saint-Just, S. 75 f. Ebenda, S. 100. Ebenda, S. 173 f. – Vgl. auch die ausführliche Würdigung der Rede von Saint-Just bei Wilhelm Blos, Die Französische Revolution, S. 208. Zit. in: Hans von Hentig, Terror. Zur Psychologie der Machtergreifung. Robes­ pierre – Saint-Just – Fouché, Frankfurt/M. (u. a.), S. 198. Ollivier, Saint-Just, S. 233. Vgl. James Billington, Fire in the Minds of Men. Origins of the Revolutionary Faith, New Brunswick 2007, S. 67 ff. Vgl. Arasse, Die Guillotine, Reinbek 1988, S. 29 f. So in einem Gespräch im Jahr 1816, zit. in: The Mind of Napoleon. A Selection of his Written and Spoken Words, N. Y. 1955, S. 64. Hier zit. nach Blos, Die Französische Revolution, S. 274. Eine Auswertung der Opfer der Guillotine nach den Gerichtsakten durch Donald Greer (The Incidence of the Terror during the French Revolution: A Statistical Inter­ pretation, in: Harvard Historical Monographs, 1935, S. 27–37) ergab eine Zahl von rd. 16 500 Todesurteilen, davon rd. 2500 in Paris. Nicht gerechnet waren dabei die ohne Prozess Getöteten oder in der Gefangenschaft Gestorbenen, deren Gesamtzahl auf 25–40 000 geschätzt wird. Insgesamt wurden circa 500 000 Personen zeitweise verhaftet oder unter Aufsicht gestellt. Rund 85 % der Hingerichteten gehörten dem früheren Dritten Stand an, darunter 28 % Bauern und 31 % Arbeiter. 8,5 % waren Adelige, 6,5 % Kleriker. Vier Fünftel der Urteile ergingen wegen Verrat oder Rebel­ lion. (Vgl. William Doyle, The Oxford History of the French Revolution, Kap. 11: Government by Terror; sowie François Furet / Mona Ozouf, Dictionnaire de la ­Révolution française, Paris 1988, S. 162). Bürger Gateau, Heeresintendantur, 27. Brumaire II: «… die heilige Guillotine befin­ det sich in der glänzendsten Aktivität, und der wohltuende Schrecken bewirkt, was

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Vernunft und Philosophie nicht in hundert Jahren erreicht hätten». Zit. in Arasse, Die Guillotine, S. 7. Zit. nach Reynald Sécher, Le Génocide franco-français: La Vendée vengée, Paris 1986, S. 158 f. Brief eines Jakobiners aus Nantes an den Vorsitzenden des Konvent, veröffentlicht im «Moniteur», 2. Januar 1794. Vgl. Jacques Hussenet (dir.), «Détruisez la Vendée!», La Roche-sur-Yon, Centre vendéen de recherches historiques, 2007, S. 274, 456 – Über die Frage, ob man von einem «franko-französischen Genozid» sprechen müsse, dem sich ein «Memorizid» angeschlossen habe (so der Vorwurf von Reynald Secher, Stéphane Courtois u. a., Vendée: du génocide au mémo-ricide: Mécanique d’un crime légal contre la huma­ nité, Paris 2011) ist nach 1989 viel gestritten worden. Dieser Vorwurf entzündete sich daran, dass die Französische Revolution spätestens mit den Feiern von 1889 (an deren Rande dann auch die Sozialistische Internationale gegründet wurde) zum ­eigentlichen und integralen Gründungsmythos der trikoloren Französischen Repub­ lik erhoben worden war. Hauptreferenzpunkt waren vor allem aber aufgefrischte Interpretationen des jakobinischen Terrors als eines direkten Vorläufers der von Kommunisten geführten Bürgerkriege und Terrorkampagnen des 20. Jahrhunderts, wie Stéphane Courtois sie 1997 in seinem «Schwarzbuch des Kommunismus» zu­ sammengestellt hat. (Das Schwarzbuch des Kommunismus. Unterdrückung, Verbre­ chen und Terror, München – Zürich 1998) – Dagegen haben Michel Vovelle und ­andere Historiker des linken und republikanischen Hauptlagers (zu Recht) den Be­ griff des «Genozids» in Frage gestellt, wie bei den kommunistischen Massenverbre­ chen auch. Der Krieg in der Vendée sei nach Ausmaß und Charakter eher mit den Unterdrückungs- und Vernichtungsaktionen «alten Stils» zu vergleichen, von denen die französische Geschichte erfüllt gewesen war und die bereits einen ähnlich ver­ heerenden und systematischen Charakter tragen konnten, ob bei der Niederschla­ gung der Jacquerien, der französischen Bauernkriege des 14./15. Jahrhunderts, oder in den großen französischen Religionskriegen des 16./17. Jahrhunderts bis hin zum Dreißigjährigen Krieg, oder in den pfälzischen Verheerungsexpeditionen der Gene­ räle Ludwigs XVI. (Vgl. Michel Vovelle, 1789. L’héritage et la mémoire, Paris 2007, S. 92). – So plausibel diese Einwände und so fragwürdig viele der revisionistischen Argumente sind, so sehr tendieren die Argumente der Verteidiger des republikani­ schen Zentraldiskurses dazu, den neuartigen, latent exterministischen und prätota­ litären Charakter des jakobinischen Großen Terrors zu verkennen oder zu verwi­ schen. Nehmen wir eine realistisch interpolierte Kernziffer wie die von circa 100 000 binnen ein bis zwei Jahren durch Organe der jakobinischen Macht gezielt zu Tode gebrachten Zivilisten oder Aufständischen, dann ergibt das bei einer Gesamtbevöl­ kerung von maximal 30 Millionen Franzosen einen Quotienten, der bedeutet, dass von den vielleicht 10 Millionen erwachsenen Männern einer von Hundert eines ge­ waltsamen Todes von der Hand des eigenen Staates starb. Das wäre eine Ziffer, die an die Opfer des Großen Terrors der Stalinära von 1937/38 in der Sowjetunion pro­ portional durchaus heranreicht. Nimmt man die Gesamtzahl der Toten des Franzö­ sischen Bürgerkriegs der Jahre nach 1792 auf allen Seiten in den Blick, die mehrere Hunderttausend betragen haben dürften, zuzüglich der circa 800 000 in den Revo­ lutionskriegen gefallenen Soldaten, zeigt sich ein Bevölkerungsverlust, der den Ver­ lusten der russländischen Bevölkerungen in der Periode von Weltkrieg und Bürger­ krieg 1914 bis 1924 nahekommen dürfte. (Vgl. Jean-Clément Martin, Violence et Révolution. Essai sur la naissance d’un mythe national, Paris 2006). Vgl. 1. Moses, 17: «Wie furchtbar ist diese Stätte! Hier ist nichts anderes als das

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Anmerkungen

Haus Gottes und hier die Pforte des Himmels.» Und das sagte Jakob, als er aus sei­ nem Traum von den Engeln auf der Leiter erwachte, einem Traum, in dem der Herr ihm erschienen war und verheißen hatte: «Siehe, ich bin mit dir. Ich will dich überall behüten (…).» Edmund Burke, Vom Erhabenen und Schönen, Berlin 1953, S. 72, 90. Ders., Betrachtungen, S. 46. Ebenda, S. 47. Fritz Mierau, Alexander Blok in unseren Tagen. Nachwort zu: Alexander Block, Lyrik und Prosa, hrsg. von Fritz Mierau, Berlin (DDR) 1982, S. 544. Alexander Block, Intelligenz und Revolution. In: Ausgewählte Werke, hrsg. von Fritz Mierau, Berlin (DDR) 1978, S. 167–180; Zitat S. 171. Morgan Philips Price, Die Russische Revolution. Erinnerungen aus den Jahren 1917–1919, Hamburg 1921, S. 495.

2. Der Traum der Großen Kommunion 1 Nicolas Edme Restif de la Bretonne, Revolutionäre Nächte in Paris. München 1989, S. 167. 2 Rétif de la Bretonne: Monsieur Nicolas, ou le coeur-humain dévoilé, 16 Bde, 1794– 97; hier zit. nach Wolfgang Schieder, Kommunismus, in: Geschichtliche Grundbe­ griffe, hrsg. von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck, Stuttgart 1982 S. 469. 3 Deniz Sdvižkov, Das Zeitalter der Intelligenz. Zur vergleichenden Geschichte der Gebildeten in Europa, Göttingen 2006, S. 22 f. 4 Vgl. Herfried Münkler u. a.: Nationenbildung. Die Nationalisierung Europas im Diskurs humanistischer Intellektueller. Italien und Deutschland. Politische Ideen, Band 8, Berlin 1988. 5 Vgl. Benedict Anderson, Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Frankfurt-N.Y. 1993, S. 40 f. – Die Schätzungen der Buchauflagen stam­ men von Lucien Fèbvre und Henri-Jean Martin, L’Apparition du Livre, Paris 1958. 6 Zur Adaption des römischen Rechts auf dem europäischen Kontinent (aber kaum in England) vgl. Perry Anderson, Die Entstehung des absolutistischen Staates, Frank­ furt/M. 1979, S. 27–35. 7 Sdvižkov, Zeitalter der Intelligenz, S. 35. 8 Anderson, Erfindung der Nation, S. 41 f. 9 Robert Darnton, An Early Information Society: News and the Media in Eigh­ teenth-Century Paris. In: The American Historical Review, Vol. 105, No. 1, S. 1–35. 10 Zit. nach Billington, Fire in the Minds, S. 36. 11 Philipp Buonarotti: Babeuf und die Verschwörung für die Gleichheit, mit dem durch sie veranlassten Prozess und den Belegstücken. Übersetzt und eingeleitet von Anna und Wilhelm Blos, Stuttgart 1909 (Reprint Bonn-Bad Godesberg 1975). 12 Vgl. Gracchus Babeuf, La guerre de la Vendée et le système de dépopulation, Paris 2008; sowie Babeuf, Manifeste des Plébéiens, S. 100 ff., in dem er sogar von einer künftigen «Vendée plébeienne» spricht. 13 Morelly, Code de la Nature ou le véritable esprit des ses lois de tout temps négligé ou méconnu (1755). Auszug in: Der Traum vom besten Staat. Texte aus Utopien von Platon bis Morris. Hrsg. von Helmut Swoboda, München 1972, S. 224–243. 14 Am drastischsten findet sich dieser Gedanke von den Besitzenden als «Menschen­ fressern» in der Originalfassung des von Sylvain Maréchal verfassten «Manifests der Gleichen», das Filippo Buonarotti in den zweiten Band der Erstausgabe seiner «Conspiration pour l’Égalité dite de Babeuf», Brüssel 1828, S. 130 aufgenommen

Anmerkungen

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hat: «Toujours et partout la pauvre espèce humaine, livrée à des anthropophages plus ou moins adroits, servit … de pature à toutes les tyrannies.» (Immer und über­ all war das arme Menschengeschlecht mehr oder weniger geschickten Menschen­ fressern ausgeliefert und hat … als Futter aller Tyranneien gedient.). Babeuf, Manifeste des Plébéiens, S. 101. Das Aufstandskomitee der öffentlichen Wohlfahrt an das Volk, Dok. 3, in: Buona­ rotti, Babeuf und die Verschwörung für die Gleichheit, S. 320–326; sowie Buona­ rotti, Ebenda, S. 136 f. Fragment eines Planes zu einem Polizeidekret, Dok. 6, in: Ebenda, S. 326 f. Entwurf eines ökonomischen Dekretes, Dok. 7, in: Ebenda, S. 327–333. Buonarotti fasst hier kursorisch und aus eigener Erinnerung oder mit angemaßter Autorität die Ergebnisse der Verhandlungen des «geheimen Direktoriums» über «Die neue Gesellschaftsordnung», über die «Politische Bildung und militärische Or­ ganisation» sowie über «Das Problem der Jugenderziehung» und «Die Presse, die Künste» zusammen, immer wieder mit expliziten Bezügen auf Sparta und seinen le­ gendären «Gesetzgeber» Lykurg. Die vorstehenden Regelungen, Pläne und Zitate sind diesen Passagen kursorisch entnommen, in: Ebenda, S. 180–221 sowie S. 235– 251. Sylvain Maréchal, Manifest der Gleichen, gekürzt in: Walter Markov, Französische Revolution. Bilder und Berichte 1789–1799, Berlin 1989, S. 320 f. Max Beer, Allgemeine Geschichte des Sozialismus und der sozialen Kämpfe, Berlin 1931 (Reprint Erlangen 1971), S. 399 f. – Die Zitate Buonarottis sind ohne Belege. Arthur Lehning, Buonarotti and his international secret societies. In: International Review of Social History, 1956, H. 1, S. 112–140, Zitat S. 124. Armando Saitta, Filippo Buonarotti (1949/1972), Bd. II, S. 161; hier zit. nach: Jaap Kloosterman, An unpublished Letter of Filippo Buonarotti to Charles Teste. In: ­International Review of Social History, Bd. 23 (1988), S. 202–211; Zitat S. 206. Thomas Steinfeld, Rezension von Jäger, Hinter dem Großen Orient, in: Süddeutsche Zeitung, 15.5.2010. Giuseppe Mazzini, The Duties of Men and other Essays, 1, London 1907, hier zit. nach Billington, Fire in the Mind of Men, S. 150. Félicité de Lammenais, Le Livre du Peuple (1837), zit. nach Billington, S. 161. Johann Gottfried Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, 2  Bde., hrsg. von Heinz Stolpe, Berlin-Weimar 1965, zweiter Teil, Siebtes Buch, S. 251. Anderson, Erfindung der Nation, S. 76. Mercier, Das Jahr 2440 (wie Anm. 24), S. 154. Ebenda, S. 169 f. Wie strikt der Ausschluss der «gefährlichen Klassen» von der politischen Mitwir­ kung kalkuliert war, geht aus einem Gutachten hervor, das Premierminister Lord Russell 1831 zuging, worin versichert wurde, «dass die 10-£-Qualifikation nicht eine einzige Person zur Ausübung des Wahlrechts zulasse, der man das Wahlrecht nicht ohne Gefahr und vernünftigerweise einräumen könne». Siehe Edward P. Thomp­ son, Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse, zweiter Band, Frankfurt/M. 1987, S. 913.

3. Phantome der Freiheit 1 Georg Büchner, Ludwig Weidig, Der hessische Landbote. Erste Botschaft, in: Georg Büchner, Werke und Briefe. Erster Band, Frankfurt/M. 1982, S. 333–345. «Friede den Hütten! Krieg den Palästen!» war ein Kampfruf der Soldaten der franzöischen

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Anmerkungen

Revolutionsarmee («Guerre aux palais! Paix aux chaumières!), der auf den jakobi­ nischen Schriftsteller Nicolas de Chamfort zurückgeht. Ebenda, S. 345. Ebenda, S. 354 f. Brief an Gutzkow, (Anfang Juni 1836), in: Büchner, Werke und Briefe, Bd. 2, S. 412. Jan-Christof Hauschild, Georg Büchner (rororo-monographie), 3. Aufl., Reinbek 2004. Mayer, Hans: Georg Büchner und seine Zeit. Frankfurt/M. 3. Aufl. 1977 (zuerst Wiesbaden 1946), S. 80 ff. Georg Büchner, Dantons Tod. Ein Drama. In: Büchner, Werke und Briefe, Bd. 1, S. 33. Ebenda, S. 44 f. Brief an die Braut, November 1833 (?). In: Büchner, Werke und Briefe, Bd. 2, S. 374. Büchner, Dantons Tod, in: Büchner, Werke und Briefe, Bd. 1, S. 49. Brief an August Stöber, 9. Dezember 1933. In: Büchner, Werke und Briefe, Bd. 2, S. 376. Georg Büchner, Dantons Tod, in: Ders., sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kri­ tische Ausgabe in 2 Bd., hrsg. von Werner R. Lehmann, Bd. 1, S. 7–75; Zitate S. 25, 30; ders., Brief an die Braut, in: ebenda, Bd. 2, S. 425 f., Zitat S. 425. Hauschild, Büchner, S. 76 f. Nachgelassene Schriften von Georg Büchner [Hrsg. von Ludwig Büchner]. Frank­ furt/M. 1850, S. 48; hier zit. nach Ebenda, S. 60. Die Feststellung August Beckers findet sich in: Die fröhliche Botschaft von der reli­ giösen und sozialen Bewegung, Lausanne, Nr.  6, September 1845, S.  14; hier zit. nach Ebenda, S. 60. Friedrich Schlegel, Athenäums-Fragmente, 116. in: Ders., Kritische Ausgabe seiner Werke, hrsg. von Ernst Behler u. a., 1. Abt. Bd. II, Paderborn (1974), S. 182 f. So Billington, Fire in the Minds of Men, S. 209. Eric Hobsbawm, Age of Revolution. Europe 1789–1848 (1962), S. 1. Eckhard Höffner, Geschichte und Wesen des Urheberrechts, Bd. 1, München 2011, S. 194 f. Billington, Fire in the Minds, S. 312; 315. William Bailie, Josiah Warren: The First American Anarchist. A sociological Study, Boston 1906, S. 20; 83–91. So noch einmal Billington, Fire in the Minds, Kap. 11: The Magic Medium: Journa­ lism, S. 306–323. Bayly, Geburt der modernen Welt, S. 400. Lucian Hölscher, Weltgericht oder Revolution. Protestantische und sozialistische Zukunftsvorstellungen im deutschen Kaiserreich, Stuttgart 1989, S. 14. Karl Marx, Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, in: MEW 1, S. 378.

4. Eine Neue Welt 1 Vgl. Manifest der Kommunistischen Partei, Abschnitt  III, mit den drei Unterab­ schnitten «Der reaktionäre Sozialismus», «Der konservative oder Bourgeoissozialis­ mus» und «Der kritisch-utopistische Sozialismus und Kommunismus», in: MEW 4, S. 482–492. 2 Engels, Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, in: MEW 19, S. 193 f. 3 Ebenda, S. 200 f. 4 Jean-Baptiste Say, Olbie, ou Essaie sur les moyens de réformer les mœrs d’une Nation (1800), Paris 2014.

Anmerkungen

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5 Ders., Abhandlung über die National-Oekonomie; oder einfache Darstellung der Art und Weise, wie die Reichthümer entstehen, vertheilt und verzehrt werden – Aus dem Französischen übersetzt, mit Anmerkungen und Zusätzen versehen von Lud­ wig Heinrich Jacob (2 Bde.), Wien 1814. 6 Vgl. Gareth Stedman Jones, Saint-Simon and the liberal origins of the socialist criti­ que of Political Economy, King’s College, Cambridge University https://stacks.stan­ ford.edu/file/druid…/stedman_jones.pdf. 7 Saint-Simon, Le nouveau christianisme, Paris 1832, S. 116; hier zit. nach Billington, Fire in the minds, S. 214. 8 R. Fakkar, Sociologie, socialisme et internationalisme pré-marxiste, Contribution à l’étude de l’influence internationale de Saint-Simon et de ses diciples, Neuchâtel 1968. Hier zit. nach Ebenda, S. 220–223. 9 Système de la Méditerranée, in: Le Globe, 5. Februar 1832, zit. nach Ebenda, S. 219 f. 10 Charles Fourier, Le nouveau monde industriel et sociétaire (1829), Section VI, Cha­ pitre XLVIII, «Caractères de dégénération de la 3ème phase». 11 Ders., Theory of Social Organisation (1820), N. Y. 1876 (Reprint 1977). Hier nach dem Textauszug auf http://sourcebooks.fordham.edu/mod/1820fourier.asp. 12 Nach Leszek Kolakowski, Die Hauptströmungen des Marxismus. Entstehung, Ent­ wicklung, Zerfall. Erster Band, München-Zürich 1981, S. 226–232. 13 Wolfgang Bauer und Clemens Zerling: Das Lexikon des Dunklen. Arun-Verlag 2006, S. 185. 14 August Bebel, Charles Fourier. Sein Leben und seine Theorien, Stuttgart 1890, S. 112 (in elektronischer Fassung zu finden unter www.gutenberg.org). 15 Vgl. die informative Website des Robert-Owen-Museums: http://robert-owen-mu­ seum.org.uk/. 16 Douglas F. Dowd, Eintrag «Robert Owen», in: Encyclopædia Britannica Online, 2016. 17 Über Owen, Bellers und Bentham vgl. Polanyi, Great Transformation, S. 149 ff. 18 Josiah Warren, Periodical Letter  II, 1856), hier zit. nach https://en.wikipedia.org/ wiki/Robert_Owen. 19 Friedrich Engels, Briefe aus London, Brief  III, in: «Schweizerischer Republikaner» Nr. 46 vom 9. Juni 1843, in: MEW 1, S. 475 f. 20 Robert Owen, The Book of the New Moral World: Containing the Rational System of Society, Founded On Demonstrable Facts, Developing the Constitution and Laws of Human Nature and of Society, London 1836 (diverse Reprints). 21 Michael Burleigh, Irdische Mächte, göttliches Heil., S. 308 f. 22 Edward Royle, Robert Owen and the Commencement of the Millenium, Manches­ ter 1998. 23 Interview mit Gareth Stedman Jones im Rahmen des Film-Projekts «Heaven on Earth – The Rise and Fall of Socialism» (2013): http://www.heavenonearthdocumen­ tary.com/interviews_jones.html. 24 Kolakowski, Hauptströmungen des Marxismus, Bd. 1, S. 226. 25 G. de Bertier de Sauvigny, Liberalism, Nationalism and Socialism: The Birth of Three Words, in: The Review of Politics, Vol. 32, No. 2 (April 1970), S. 147–166. 26 So jedenfalls James Billington, Fire in the Minds of Men, S. 243; sowie Anm. 1, S. 582. 27 Lorenz von Stein, Der Socialismus und Communismus des heutigen Frankreichs. Ein Beitrag zur Zeitgeschichte, Leipzig 1842, S. 353 f. 28 Schieder, Kommunismus, S. 473.

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Anmerkungen

29 Rapport sur la situation intérieure et extérieure de la France depuis la révolution de juillet (1930), Discours prononcé à la séance du 2 février 1832 de la Société des Amis du Peuple (Rede vor der Gesellschaft der Freunde des Volkes, 1832). In: Ders., Écrits sur la Révolution. Oeuvres completes, Bd. 1, Paris 1977; hier zit. nach den Archives Auguste Blanqui (https://www.marxists.org/francais/blanqui/index.htm). 30 Appel du Comité de la Société des Saisons (Aufruf des Komitees der Gesellschaft der Jahreszeiten, 12. Mai 1839, in: Ebenda. 31 Etienne Cabet, Voyage en Icarie, Paris 1840; dt. Reise nach Ikarien. Mit Materialien zum Verständnis von Cabet zusammengestellt von Alexander Brandenburg und Ahlrich Meyer, Berlin 1979. 32 Ders., Comment je suis communiste, Paris 1840; auszugsweise abgedruckt in Grand­ jonc, Communisme, S. 493–496; Zitat S. 496. 33 Hier nach dem Artikel «Kommunismus» in: Meyers Conversations-Lexikon, 1888, S. 980. 34 Paul Leroux, Lettre à George Sand, September 1841, in: Grandjonc, Communisme, S. 517 ff. 35 Zit. nach Schieder, Kommunismus, S. 499 f. 36 Zitate nach Ebenda, S. 482 f., 487. 37 Alfred Sudre, Histoire du Communisme ou Refutation Historique des Utopies Socia­ listes, Paris 1856 (hier zit. nach der fünften Auflage, 1856), S. 2 ff. – Eigene Überset­ zung.

ZWEITES BUCH: Das Marx’sche Momentum Teil V: Die Geburt der modernen Welt 1. Die Wahrheit des Diesseits 1 Karl Marx, Rheinische Zeitung, 15. Oktober (1842). Hier zit. nach Grandjonc, Communisme, S. 555. (Ergänzung des Zitats in Klammern durch den Verf.). 2 Brief an Arnold Ruge, 30. November 1842, MEGA 3/1, S. 29. 3 Heinrich Marx an Karl Marx, 9. November 1836, in: MEGA  I.1, 2.  Halbband, S. 196; auch zit. in Werner Blumenberg, Karl Marx in Selbstzeugnissen und Bilddo­ kumenten (rowohlts Monographien), Reinbek 1962, S. 27 f. 4 Marx, Brief an den Vater, 10. November 1836, in: MEW 40, Ergänzungsband, Ers­ ter Teil, S. 3–12, Zitate S. 8 f.; auch in MEGA, Ebenda, S. 219. 5 «Sie (die Dialektik) steht bei ihm (Hegel) auf dem Kopf. Man muss sie umstülpen, um den rationellen Kern in der mystischen Hülle zu entdecken.» Marx, Nachwort zur zweiten Auflage (1873) des «Kapital», Bd. 1, in: MEW 23, S. 27 – Engels hat die­ sen Gedanken später dann in die fixe Formel «Vom-Kopf-auf-die-Füße-Stellen» ge­ fasst und popularisiert. 6 Heinrich und Sophie Marx an Karl Marx, 17. November 1837, in: MEGA, Ebenda, S. 321 f. 7 Karl Löwith, Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des neunzehnten Jahrhunderts, Stuttgart 1958, S. 17. 8 Ebenda, S. 20 f.

Anmerkungen

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9 Engels, Ludwig Feuerbach oder der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, in: MEW 21, S. 259–307. 10 Friedrich Engels: Dialektik der Natur. Einleitung, in: MEW 30, S. 131 f. 11 Franz Mehring, Karl Marx. Geschichte seines Lebens (Mehring, Gesammelte Schrif­ ten, Band 3) Berlin (DDR) 1960, S. 3–552. Im ersten Kapitel «Junge Jahre» heißt es über Heinrich Marx, es bestehe «kein Zweifel, daß Heinrich Marx sich die frei­ menschliche Bildung erarbeitet hatte, die ihn von aller jüdischen Befangenheit be­ freite, und diese Freiheit hat er seinem Karl als wertvolles Erbe hinterlassen». (S. 10) – In ähnlicher, anderer Weise löst auch Jonathan Sperber, Karl Marx. Sein Leben und sein Jahrhundert, München 2013 dieses Unaufgelöste in Marx’ psychi­ scher Konstitution als eine bloße aufgeklärt-ironische Distanz zu einer anachronis­ tischen Stammeszugehörigkeit auf, sodass ihm der zeitgenössische Antisemitismus als Argument gegen die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft dienen konnte, vgl. S. 142 f., 499 ff. 12 Marx, Der achtzehnte Brumaire, MEW 8, S. 115. 13 Karl Marx, Zur Judenfrage, MEW 1, S. 347–377. 14 Edmund Silberner, Kommunisten zur Judenfrage. Zur Geschichte von Theorie und Praxis des Kommunismus, Köln 1983, S. 24–37 – Eine präzise Kritik der These Sil­ berners, wonach Marx insbesondere durch seine angeblich von Millionen gelesene, tatsächlich weithin apokryphe Frühschrift «Zur Judenfrage» zum eigentlichen Be­ gründer einer «antisemitischen Tradition des modernen Sozialismus» geworden sei, findet sich etwa in Thomas Haury, «Zur Judenfrage» von Karl Marx – ein Klassiker antisemitischer Propaganda?, in: Ders., Antisemitismus von links – Kommunistische Ideologie, Nationalismus und Antizionismus in der früheren DDR, Hamburg 2002, S. 160–182. 15 Marx, Judenfrage, S. 376. 16 Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. I. Antisemitismus, hier zit. nach der Ausgabe München 1986, S. 126 f. 17 Vgl. Gustav Mayer, Friedrich Engels. Eine Biographie (Berlin 1919), Köln 1975, S. 16 f. 18 Friedrich Engels, Briefe aus dem Wuppertal, MEW 1, S. 417 f. 19 David Friedrich Strauß, Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet, 2  Bde., Tübingen 1855/36. 20 Gustav Mayer, Engels, S. 26. 21 Ebenda, S. 42. 22 So, seinen Helden paraphrasierend, Mayer, Ebenda, S. 60. 23 Ebenda, S. 32 f. 24 Ebenda, S. 85. 25 Marx, Debatten über die Pressefreiheit, MEW 1, S. 57–60. 26 Marx (unter dem Pseudonym «Ein Rheinländer»), Debatten über das Holzdieb­ stahlsgesetz, 18. Oktober 1842, in: MEW 1, S. 109–147; und (wieder unter Pseudo­ nym), Rechtfertigung des †† Korrespondenten von der Mosel, S. 172–199. 27 Vgl. Sperber, Marx, S. 108. 28 Moses Hess, Die Communisten in Frankreich, 19.–21. April 1842; hier zit. nach Edmund Silberner, Geschichte seines Lebens, Leiden 1966, S. 115 f. 29 Zit. nach Francis Wheen, Karl Marx, München 2001, S. 53. 30 Vgl. Sperber, Marx, S. 117, 133 – Camphausen hat im April 1848 sogar versucht, Marx für die Mitarbeit in seinem Ministerium zu gewinnen. Vgl. MEGA, Abt. 3, Bd. I, S. 63. 31 Marx, Briefe aus den «Deutsch-Französischen Jahrbüchern», in: MEW 1, S. 345.

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Anmerkungen

32 Ebenda, S. 346. 33 Hannah Arendt, Über die Revolution, München 1974, S. 63, 65 f. 34 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, in: Ders., Sämtliche Werke, Band 11, Stuttgart 1971, S. 11. 35 Ebenda, S. 20. 36 Ebenda, S. 23. 37 Ebenda, S. 49. 38 Ebenda, S. 32. 39 Ebenda, S. 51. 40 Ebenda, S. 56 f. 41 Ebenda, S. 60 f. 42 Ebenda, S. 61. 43 Ebenda, S. 69. 44 Ebenda, S. 95 f. 45 Ebenda, S. 101 f. 46 Ebenda, S. 138. 47 Ebenda, S. 134. 48 Ebenda, S. 518, 524. 49 Ebenda, S. 524. 50 Ebenda, S. 525 ff. 51 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, in: Werke in zwan­ zig Bänden, Bd. 12, S. 529 f. 52 Ebenda, S. 529. 53 Ebenda, S. 533. 54 Hegel, Die Phänomenologie des Geistes, Hamburg 1952, S. 415. 55 Ebenda, S. 416. 56 Ebenda, S. 418. 57 Ebenda, S. 418 f. 58 Jean-Paul Sartre, Kritik der dialektischen Vernunft, Reinbek 1967, S. 460. 59 Rudolf Burger, «Ein herrlicher Sonnenaufgang» oder Die Tugend und der Terror, in: Forum, Juni/Juli 1989, S. 52–57; Zitat S. 57. 60 Phänomenologie des Geistes, S. 422. 61 Hegel, Phänomenologie des Geistes, Hegel Werke, Bd. 3, S. 36. 62 Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, 1. Teil, 3. Kapitel. In: Hegel, Sämtliche Werke, hrsg. von Hermann Glockner, 12. Band, Stuttgart 1953, S. 349 f. 63 Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Einleitung, S. 42. 64 «Keine größeren Siege sind je gesiegt, keine genievolleren Züge je ausgeführt wor­ den; aber auch nie ist die Ohnmacht des Sieges in einem helleren Licht erschie­ nen …» Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 533. 65 Ebenda, S. 531. 66 Ebenda, S. 539. 67 Ebenda, S. 540. 68 Ebenda, S. 330. 69 Vorrede zu Grundlinien der Philosophie des Rechts, Stuttgart 1970, S. 56; hier zitiert nach Kolakowski, Hauptströmungen des Marxismus, Erster Band, S. 81. 70 Löwith, Von Hegel zu Nietzsche, S. 83. 71 Vgl. Wolfgang Eßbach, Die Jungehegelianer. Soziologie einer Intellektuellengruppe, München 1988; sowie Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt/M. 1985. Dort die Festellung: «Wir verharren bis heute in Bewusstseinslagen, die die Junghegelianer herbeigeführt haben.» (S. 67).

Anmerkungen 72 73 74 75 76

1061

Marx, Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, in: MEW 1, S. 385. Ebenda, S. 379. Marx, Kritik des Hegelschen Staatsrechts, in: MEW 1, S. 231. Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, S. 379 ff. Ebenda, S. 390 f.

2. Der große Bruch 1 Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhun­ derts, München 2009. 2 Christopher A. Bayly, Die Geburt der modernen Welt. Eine Globalgeschichte 1780– 1914, Frankfurt/M.-N. Y. 2004. 3 Vgl. die konzise Zusammenfassung von Christof Dipper, Moderne. In: Docupedia-­ Zeitgeschichte, 25.8.2010. 4 Ernst Nolte, Marxismus und industrielle Revolution, Stuttgart 1983, S. 259. 5 Ebenda, S. 203. 6 Ebenda, S. 23. 7 Adolphe Blanqui, Histoire de l’économie politique en Europe depuis les anciens ­jusqu’à nos jours, Paris 1837, S. 209. 8 Friedrich Engels, Die Lage der arbeitenden Klassen in England (1845), MEW  2, S. 225–506; Zitat S. 237. 9 Ebenda, S. 252. 10 So jedenfalls das Ergebnis der Untersuchung von D. C. Coleman, Myth, History and the Industrial Revolution, London–Rio Grande 1992. 11 John Komlos, The Industrial Revolution as the Escape from the Malthusian Trap, in: The Journal of European Economic History 29 (2000), No. 2–3, S. 318 f. 12 Ebenda, S. 320 f.; 324. 13 David Landes, Wohlstand und Armut der Nationen, S. 61–76. 14 Vgl. The Cambridge World History, Bd. VII: Production, Destruction, and Connec­ tion. 1750-Present, 2 Bde., hrsg. von J. R. McNeill und Kenneth Pomeranz, Cam­ bridge 2015; vgl. auch Kenneth Pomeranz, The Great Divergence. China, Europa and the Making of the Modern World Economy, Princeton-Oxford 2000 – Eine an­ dere Position vertritt Peer Vries: Ursprünge des modernen Wirtschaftswachstums. England, China und die Welt in der Frühen Neuzeit, Göttingen 2013. 15 Jerome Blum, In the Beginning. The Advent of the Modern Age. Europe in the 1840s, N. Y.-Toronto 1994, S. 133 ff. 16 Richard A. Easterlin, How beneficent ist the market? A look at the modern history of mortality, in: European Review of Economic History 3 (1999), S. 257–294. 17 Landes, S. 294–298 – Der Begriff des industriellen «Take-off» stammt aus der klassi­ schen modernisierungstheoretischen Arbeit von W. W. Rostow, The Stages of Econo­ mic Growth: A Non-Communist Manifesto, London-N. Y. 1960; die Unterschei­ dung zwischen einem traditionellen, diskontinuierlichen, an agrarische Zyklen und Preisbewegungen gebundenen und einem modernen, langfristigen, selbsttragenden Wachstum findet sich bei Simon Kuznets, Croissance et structures économiques, ­Paris 1972. 18 Jan de Vries, The Industrious Revolution. Consumer Behavior und the Household Economy, 1650 to the Present, Cambridge-N. Y. (u. a.), 2008. 19 So jedenfalls de Vries, Industrious Revolution, S. 87 ff., 110–114; unter Heranzie­ hung einer ausgedehnten Spezialliteratur. 20 Karl Polanyi, The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, Frankfurt/M. 1978, S. 54.

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Anmerkungen

21 Polanyi, Great Transformation, S. 70. 22 Ebenda, S. 107 ff. 23 Peter H. Lindert, Poor relief before the Welfare State: Britan versus the Continent, 1780–1880. In: European Review of Economic History, 2 (1998), S. 101–140. 24 Thomas Malthus, An Essay on the Principle of Population, as it Affects the Future Improvement of Society with Remarks on the Speculations of Mr. Godwin, M. Condorcet, and Other Writers, London 1898, S. 61. (http://www.esp.org/books/ malthus/population/malthus.pdf). 25 So in einer zeitnahen Übersetzung, die der deutschen Ausgabe von Adolphe Blanquis «Geschichte der politischen Ökonomie», Bd. 2, Karlsruhe 1841, S. 105 entnommen ist (Reprint Glashütten/T. 1971). 26 Grafik aus G. M. Trevelyan, English Social History, 1942; in: Braudel, Durchbruch zur Weltwirtschaft, S. 633. 27 Roderick Floud, Kenneth Wachter, and Annabel Gregory, Height, Health and His­ tory: Nutritional Status in the United Kingdom, 1750–1980 (Cambridge, 1990), S. 134–95, 287–306, hier zit. nach Boyd Hilton, A Mad, Bad and Dangerous Peo­ ple? England 1783–1846, Oxford 2008, S. 575. 28 Simon Szreter, ‹Economic Growth, Disruption, Deprivation, Disease, and Death: On the Importance of the Politics of Public Health for Development›, Population and Development Review, 23 (1997), S. 693–728. Hier zit. nach Hilton, England 1783–1846, S. 674, 757. 29 So Komlos, Industrial Revolution, S. 330. 30 Vgl. zuletzt John Kelly, The Graves are Walking. The Great Famine and the Saga of the Irish People, London 2012. 31 So Hilton, England 1783–1846, S. 7. 32 Manchester, 2. Juli 1835. In: Alexis de Tocqueville, Voyages en Angleterre, Irlande, Suisse et Algérie (Oevres complètes, T. V), Paris 1958, S. 78–82. 33 Engels, Die Lage der arbeitenden Klassen in England, in: MEW 2, S. 257 f. 34 Ebenda, S. 356 ff. 35 Thomas Carlyle, Past and Present (1843); mit einer Würdigung von Ralph Emerson Waldo; E-Book unter Gutenberg Project Lizenz, 2004 – Die Zahlen entnahm Car­ lyle ­einem offiziellen Report, der unter dem Titel «The Return of Paupers for Eng­ land and Wales» 1842 in London erschienen war. Danach befanden sich mehr als 220 Tausend in geschlossenen Anstalten (In-door), während 1,2 Millionen arbeits­ pflichtige Arme Sozialhilfe (Out-door) erhielten. Die Gesamtzahl von 2 Millionen dürfte Schottland einschließen. 36 Charles Dickens, The Old Curiosity Shop, in: Master Humphrey’s Clock. Weekly Serial, April 1840 – Februar 1841, Folge 45 (E-Book Project Gutenberg, 2008). 37 Benjamin Disraeli, Sybil, Or the Two Nations (1845), Oxford 1998. 38 Henry Thornton, Der Papier-Credit von Großbritannien, Halle 1803; hier zit. nach Joseph Vogl, Das Gespenst des Kapitals, Zürich 2010, S. 75. 39 Ebenda, S. 78. 40 Sloterdijk, Im Weltinnenraum des Kapitals, S. 134 f. 41 Adam Smith, Der Wohlstand der Nationen, 8. Aufl. München 1999. 42 Ebenda, S. 82. 43 Ebenda, S. 786. 44 David Ricardo, On the Principles of Political Economy and Taxation (1817), Bd. IV, S. 237; hier zit. nach Nolte, Marxismus, S. 167. 45 Destutt de Tracy, Commentaire sur ‹L’esprit des Lois› de Montesquieu, Paris 1819; hier zit. nach Gareth Stedman Jones, Saint Simon and the liberal origins of the soci­

Anmerkungen

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alist critique of Political Economy (www-sul.stanford.edu/depts/hasrg/frnit/pdfs_gi­ mon/stedman_jones.pdf). Jeremy Bentham: Das Panoptikum (Panopticon or The Inspection-House; aus dem Jahre 1787). Aus dem Englischen und mit einem Essay von Andreas L. Hofbauer. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Christian Welzbacher. Mit einem ­Essay von Henry Sidgwick und einem Interview mit Michel Foucault, Berlin 2013. Marx, Ökonomisch-technologische Exzerpte (1860/61), in: MEGA, Zweite Abtei­ lung, Bd. 3, Teil 6, S. 2022. Marx, Kapital, Bd. 1, S. 317. Andrew Ure, The philosophy of manufactures, or: An exposition of the scientific, moral, and commercial economy of the factory system in Great Britain, London 1835 (Neudruck London 1967); hier zit. nach Nolte, Marxismus, S. 163 – Tatsäch­ lich hatte Marx Ures Text bereits 1844 im Pariser Exil (allerdings in französischer Übersetzung) gelesen; vgl. Engels, Vorwort zur vierten Auflage des «Kapital», in: MEW 23, S. 42. Hilton, England 1783–1846, S. 187. Hobsbawm, Age of Capital, S. 630 ff.

3. Das Gespenst des Proletariats 1 Victor Hugo, Die Elenden, div. Ausgaben. 2 Die ausgedehnte Debatte über den Topos der «Erfindung der Nation» und der «ima­ gined communities» braucht hier nicht referiert zu werden. Noch immer lesenswert Benedict Anderson, Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Frankfurt-N. Y. 1993. 3 Lorenz von Stein, Der Socialismus und Communismus des heutigen Frankreichs ­(erweiterte Neuausgabe in zwei Bänden), Leipzig 1848, Bd. 2, S. 211. 4 Barrington Moore, Ungerechtigkeit. Die sozialen Ursachen von Unterordnung und Widerstand, Frankfurt/M. 1987, S. 122. 5 Ebenda, S. 87–99; Zitat S. 610. 6 Gareth Stedman Jones, An End to Poverty. A Historical Debate, N. Y. 2004. 7 Edward P. Thompson, Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse, Bd. 2, Frank­ furt/M. 1982, S. 914. 8 Ebenda, S. 938. 9 Hier zit. nach Vincent Robert, Der Arbeiter. In: Ute Frevert / Heinz-Gerhard Haupt (Hrsg.), Der Mensch des 19. Jahrhunderts, Essen 2004, S. 19 (Erstausgabe Frank­ furt/M. 1999). 10 Graham Papers, Cambridge, hier zit. nach Nolte, Marxismus, S. 152, 562. 11 Zit. nach Werner Conze, Vom Pöbel zum «Proletariat». Sozialgeschichtliche Vor­ aussetzungen für den Sozialismus in Deutschland. In: Moderne deutsche Sozialge­ schichte, hrsg. von Hans-Ulrich Wehler, Köln 1976, S. 3, 6. 12 So Friedrich Sass, Berlin in seiner neuesten Zeit und Entwicklung, Leipzig 1846; hier zit. nach Moore, Ungerechtigkeit, S. 190. Eine Statistik des Leiters des Preußischen Statistischen Bureaus, Dieterici, schätzte die Stadtbevölkerung zur selben Zeit be­ reits auf 400 000. 13 Letzte Fassung von 1847, in: Heinrich Heine, Werke und Briefe, hg. v. H. Kaufmann, Bd. 2, S. 343 f. Berlin-Weimar 1980. 14 Ferdinand Freiligrath: Werke in sechs Teilen. Band 2, Berlin u. a. [1909], S. 95–97. 15 Lorenz von Stein: Der Socialismus und Communismus des heutigen Frankreichs. Ein Beitrag zur Zeitgeschichte, Leipzig 1842. 16 Der neu verfasste erste Teil der zweiten Auflage unter dem Titel «Proletariat und

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Anmerkungen

­ esellschaft» ist später wiederholt separat nachgedruckt worden und gilt als der G ­eigentliche Grundlagentext, hier zit. nach der Studienausgabe München 1971, hrsg., eingeleitet und kommentiert von Manfred Hahn. Vgl. zur Editionsgeschichte dessen Nachwort, S. 205–213. Ders., Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage, Leipzig 1850. Stein, Socialismus und Communismus des heutigen Frankreichs, 1842, S. 442. So in einem Aufsatz von 1844; hier zit. nach Hahn, Nachwort, S. 211. Stein, Socialismus und Communismus, S. 129 f.; 360. Ders., Proletariat und Gesellschaft, S. 11. Ebenda, S. 16. Ebenda, S. 44. Ebenda, S. 51. Ebenda, S. 199. Ebenda, S. 208. Ebenda, S. 15. Ebenda, S. 14–18, passim. Ebenda, S. 20, 33. Ders., Sozialismus und Kommunismus, 2. Aufl. 1848, S. 586. Ders., Socialismus und Communismus, 1842, S. 129 f. Ders., Proletariat und Gesellschaft, S. 32. «Das Wesen des Staates» fordere «eine Anwendung seiner Gewalt für das Wohl aller Klassen». In: Ders., Geschichte der sozialen Bewegung (Anm. 35), Band 3, S. 204. Ebenda, Band 1, S. CVI. Eine ausgezeichnete Aufbereitung der britischen Zensusdaten findet sich auf der Website «A Vision of Britain through Time» der Universitäten Portsmouth u. a. Eric, Hobsbawm, The Age of Capital, London 2010, S. 223. Tony Judd, Marxism and the French Left. Studies on Labour and Politics in France, 1830–1981, N. Y. 1986; hier nach der Neuauflage London-N. Y. 2011, S. 67 ff. Heinz-Gerhard Haupt, Sozialgeschichte Frankreichs seit 1789, Frankfurt/M. 1989, S. 196 f. Moore, Ungerechtigkeit, S. 203 ff. Vgl. Ebenda, S. 208–217; sowie Stephan Born, Erinnerungen eines Achtundvierzi­ gers, Leipzig 1898, Reprint Berlin-Bonn 1978, S. 85–89, 104–108.

Teil VI: Sozialistische Gründerzeit 1. Ein neuer Horizont 1 Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, in: MEW 40 (Ergänzungsband I), S. 475. 2 Ebenda, S. 494. 3 Ebenda, S. 499. 4 Ebenda, S. 516. 5 Ebenda, S. 536 – «Rückkehr für sich» wird in anderen Passagen auch als «Rückkehr zu sich» oder «Rückkehr in sich» bezeichnet. 6 Ebenda. 7 Ebenda, S. 537 f. 8 Ebenda, 542 ff. 9 Ebenda, S. 546.

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Ebenda. Ebenda, S. 547 f. Ebenda, S. 534 f. Marx/Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, MEW 4, S. 478 f. Engels, Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, in: MEW 19, S. 196. Orthographie nach der Originalausgabe London Februar 1848 (Reprint Berlin-­ (DDR), 1965), S. 16. Marx, Kritik des Gothaer Programms, in: MEW 19, S. 18. Ebenda, S. 19. Diese griffige Formulierung findet sich im Marx’schen Text allerdings nicht, und auch nicht in Lenins scholastischer Marx-Lektüre in «Staat und Revolution» von 1917, sondern erst in Artikel  12 der Verfassung der UdSSR von 1936, der sogenannten «Stalin-Verfassung». Diese Formel war marxistisch gesehen durchaus korrekt; was sie in der gesellschaftlichen und politischen Realität der Sowjetunion der 1930 er Jahre mit ihrem üppig wuchernden Privilegienwesen bedeutete, steht auf einem ande­ ren Blatt. Marx, Kritik des Gothaer Programms. In: MEW 19, S. 20 f. Engels an Bebel, 18./28. März 1875, in MEW 34, S. 129. Marx/Engels, Deutsche Ideologie, in: MEW 3, S. 33. Marx, Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie (Rohentwurf), in: MEW 42, S. 512. Ebenda, S. 604. Hegel, Philosophie der Geschichte, S. 42. Marx, Ökonomisch-Philosophisches Manuskript, in: MEW 14, S. 567. Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur, in: Studienausgabe Bd. IX: Fragen der Gesellschaft, Ursprünge der Religion, hrsg. von A. Mitscherlich u. a., Frank­ furt/M. 1997, S. 191–270. Kolakowski, Hauptströmungen des Marxismus, Erster Band, S. 473 f. Peter Sloterdijk, Im Weltinnenraum des Kapitals, S. 347. Marx, Die künftigen Ergebnisse der britischen Kolonialherrschaft in Indien (NewYork Daily Tribune, 9. August 1853), in: MEW 9, S. 226. Vgl. Hobsbawm, Marx, Engels und der Vormarxsche Sozialismus, in: Ders., Wie man die Welt verändert. Über Marx und den Marxismus, München 2012, S. 28 f., 32. Heinrich Heine, Die Wanderratten (1845/46), in: Klaus Briegleb: Heinrich Heine. Sämtliche Werke, Bd. 6., München 1968 ff., S. 306–307. Ders., Lutetia. Vorrede zur französischen Ausgabe (Entwurf), 1855. Von einer «Großen Beschleunigung» oder «Great Acceleration» in der Periode von 1890 bis 1914 spricht Christopher A. Bayly, Geburt der modernen Welt, Kap. 13, S. 564–609. Gordon  A. Craig, Warten auf die Barbaren. In: Warten auf die Barbaren. Essays über die Zukunft des geistigen Europas, hrsg. von Hilmar Hoffmann, Frankfurt/M. 1989. Marx, Brief an Ludwig Feuerbach, 11. August 1847, in: MEW 27, S. 426. Die Formulierung von den «Totengräbern» findet sich im «Manifest»; die vom Rä­ cher vor der Tür in einer Rede von Marx auf dem Jahresfest der Chartisten-Zeitung «The People’s Paper» 1856. Text in: MEW 12, S. 4. Engels, Grundsätze des Kommunismus, in: Ebenda, S. 363–380. Manifest, in: MEW 4, S. 463.

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Anmerkungen

39 Marshall Berman, All that is solid melts into Air. The Experience of Modernity, N.Y. 1988, S. 95. 40 Ebenda, S. 95, 103. 41 Marx an Engels, 6. Oktober 1858, in: MEW 29, S. 360. 42 Manifest, in: MEW 4, S. 454 f. 43 Engels, Anti-Dühring, MEW 20, S. 168. 44 Franziska Kugelmann, Kleine Züge zu dem großen Charakterbild von Karl Marx. In: Mohr und General. Erinnerungen an Marx und Engels, Berlin (DDR) 1982, S. 299.

2. Die Partei Marx 1 König Friedrich Wilhelm  IV. an Otto von Manteuffel, 11.11.1850; hier zit. nach ­Jürgen Herres, Der Kölner Kommunistenprozess von 1852, Geschichte in Köln. Zeitschrift für Stadt und Regionalgeschichte, H. 50, 2003, S. 137. 2 Marx an Kugelmann, 18. Juni 1871, in: MEW 33, S. 238. 3 Engels, Zwei Reden in Elberfeld, in: MEW  2, S. 536–556, passim; sowie Moses Hess, Erste und Zweite Rede über den Communismus, in: Rheinische Jahrbücher für gesellschaftliche Reform, Bd. 1 (1845). Hier zit. nach: Moses Hess, Communis­ tenrabbi, elektronisches Textarchiv in: www.haftgrund.net/moseshess/. 4 Marx an Engels, 24. April 1867, in: MEW 31, S. 291. 5 Sperber, Marx, S. 262 ff., 486–489. 6 Marx, Ökonomisch-philosophisches Manuskript, S. 553 f. 7 Marx, Kritische Randglossen zu dem Artikel ‹Der König von Preußen und die So­ zialreform. Von einem Preußen› (Deutsch-Französische Jahrbücher, Paris 1844), in: MEW 1, S. 404. 8 Marx, Nachwort zur zweiten Auflage des ‹Kapital› (1873), in: MEW 23, S. 19 ff. 9 Marx an Engels, 11. Februar 1851, in: MEW 27, S. 184: «Harney hielt eine lange und, wie man sagt, gute Pauke, worin er schließlich Blanqui, Barbes und zu guter Letzt Louis Blanc als den sozialistischen Messias leben ließ.»  – Über Lassalle als «Arbeiterdikator», s. Marx an Engels, 9. April 1863, in: MEW 30, S. 340. 10 Ebenda. Der Ausdruck Knote aus der niederdeutschen Form von Genosse. 11 Engels an Marx, 18. Oktober 1846, in: MEW 27, S. 59. 12 Ders., 14. Januar 1848, in: Ebenda, S. 111. 13 Engels, Zur Geschichte, des Bundes der Kommunisten, in: MEW 21, S. 213 f. 14 Wilhelm Weitling, Garantien der Harmonie und Freiheit (1842). Mit einem Nach­ wort herausgegeben von Ahlrich Meyer, Stuttgart 1974, S. 276. 15 Der Bund der Kommunisten. Dokumente und Materialien, Bd. 1, 1836–1849, Berlin (DDR) 1970, S. 303 f.; hier zit. nach der Fassung in H. M. Enzensberger, Gespräche mit Marx und Engels, Frankfurt/M. 1981, S. 61 f. 16 Brief von Weitling an Moses Hess, 31. März 1846, in: Ebenda, S. 63 ff. 17 Engels an Marx, 25. April 1848, in: MEW 27, S. 126. 18 Lorenz von Stein, Die socialistischen und communistischen Bewegungen seit der drit­ ten französischen Revolution. Anhang zur zweiten, erweiterten Ausgabe seines «Socia­ lismus und Communismus des heutigen Frankreichs», Leipzig-Wien 1848, S. 15 f. – Diese «Briefe» erschienen ursprünglich in der Augsburger Allgemeinen Zeitung. 19 Alexis de Tocqueville, Erinnerungen, Stuttgart 1954, S. 124. 20 Sir Lewis Namier, 1848: The Revolution of the Intellectuals, Oxford (1946) 2006, S. 4. 21 Vgl. Billington, Fire in the Minds of Men, S. 306. 22 Vgl. Veit Valentin, Geschichte der deutschen Revolution von 1848–49, Bd. I, Berlin 1930, S. 522.

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Marx/Engels, Manifest, in: MEW 4, S. 472. (Engels), Der 25. Juni, in: NRhZ, 29. Juni 1848, in: MEW 5, S. 131 f. Marx, Die Klassenkämpfe in Frankreich, in: MEW 7, S. 14 f. Marx/Engels, Rezensionen aus der «Neuen Rheinischen Zeitung. Politisch-ökono­ mische Revue». Viertes Heft, April 1850, in: MEW 7, S. 271 f. Marx, Die Bourgeoisie und die Kontrerevolution (Neue Rheinische Zeitung, 15. De­ zember 1848), in: MEW 6, S. 109. Marx/Engels, Manifest, in: MEW 4, S. 472. Marx/Engels: Ansprache der Zentralbehörde an den Bund vom März 1850. MEW 7, S. 246. Ebenda, S. 249. Ebenda, S. 247 f. Marx/Engels, Die deutsche Ideologie, in: MEW 3, S. 35. Weltgesellschaft der revolutionären Kommunisten. MEW 7, S. 553. So der Prospekt zur Aktienzeichnung vom 1. Januar 1850, in: MEW 7, S. 549 f. Marx/Engels, Revue, März/April 1850. in: Ebenda, S. 292 ff. Marx/Engels, Revue. Mai bis Oktober 1850, in: Ebenda, S. 428, 440. Marx/Engels, Revue. Januar/Februar 1850, Ebenda, S. 221. Marx/Engels, Revue. Mai bis Oktober, Ebenda, S. 431. Ansprache der Kölner Zentralbehörde an den Bund, 1. Dezember 1850, in: MEW 7, S. 561–565; Zitat S. 562. Brief der Zentralbehörde an den leitenden Kreis, London, Anfang 1851, in: Gesprä­ che mit Marx und Engels, S. 202. Marx, Enthüllungen über den Kommunisten-Prozess zu Köln, in: MEW 8, S. 412. Statuten des Kommunistischen Bundes, in: MEW 7, S. 565 ff. Marx an Engels, 11. Februar 1851, in: MEW 27, S. 186 f. Engels an Marx, 13. Februar 1851, in: Ebenda, S. 189 f. Hier zit. nach Blumenberg, Marx, S. 98. Engels an Marx, 9. Mai 1851, in: Ebenda, S. 254. Engels an Marx, 27. November 1851, in: MEW 27, S. 374. Marx, Die großen Männer des Exils, in: MEW 8, S. 312. Alexander Herzen, Die gescheiterte Revolution. Denkwürdigkeiten aus dem 19. Jahr­ hundert. Ausgewählt von H. M. Enzensberger, Frankfurt/M. 1977, S. 287.

3. Vom Anstoß zur Bewegung 1 August Bebel, Aus meinem Leben (1911), Bonn 1997, S. 44 f. 2 Ebenda, S. 60. 3 Lassalle an Marx, 24. Juni 1852, in: Ferdinand Lassalle, Nachgelassene Briefe und Schriften. Bd. 3: Der Briefwechsel zwischen Lassalle und Marx nebst Briefen von Friedrich Engels und Jenny Marx an Lassalle sowie von Karl Marx an Gräfin Sophie Hatzfeldt, hrsg. von Gustav Mayer, Stuttgart-Berlin 1922, S. 52. – Vgl. W. I. Lenin, Was tun? Brennende Fragen unserer Bewegung, in: LW 5, S. 355. 4 Die Agitation des Allgem. Deutschen Arbeitervereins und das Versprechen des Kö­ nigs von Preußen. Eine Rede gehalten am Stiftungsfest des Allgemeinen Deutschen Arbeiter-Vereins zu Ronsdorf am 22. Mai 1864, von Ferdinand Lassalle, Berlin 1864. 5 Marx an Johann Baptist von Schweitzer (Entwurf), 13. Oktober 1868, in: MEW 32, S. 568 f. 6 Vgl. die einschlägigen Zusammenstellungen von Zitaten bei Edmund Silberner, Kom­ munisten zur Judenfrage, S. 47.

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Anmerkungen

7 Die Agitation des Allg: Deutschen Arbeitervereins (Anm. 4), nach dem Anhang zur Broschüre mit Zeitungsberichten über die letzte Agitationsreise Lassalles von Düs­ seldorf bis Elberfeld. 8 Lassalle, Das Arbeiterprogramm, in: Gesammelte Reden und Schriften, hrsg. von Eduard Bernstein, Bd. 2, Berlin 1919, S. 147–202. 9 Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, hrsg. von Rudolf Marx, Stutt­ gart 1978, S. 42 f. 10 Lassalle, Tagebuch, hrsg. von Paul Lindau, Breslau 1891, S. 189 f. 11 Zur Damaskus-Affäre vgl. Jonathan Frankel: The Damascus Affair. «Ritual Mur­ der,» Politics, and the Jews in 1840, Cambridge 1997. 12 Gustav Mayer, Einleitung, in: Ferdinand Lassalle, Nachgelassene Briefe und Schrif­ ten, hrsg. von Gustav Mayer, Erster Band: Briefe von und an Lassalle bis 1848, Stuttgart-Berlin 1921, S. 30. 13 Alle Zitate aus Hans-Peter Bleuel, Ferdinand Lassalle oder der Kampf wider die ver­ dammte Bedürfnislosigkeit, Frankfurt/M. 1982, S. 75. 14 Ebenda, S. 103 f. 15 Heinrich Heine an Karl August Varnhagen von Ense, 3. Januar 1846. In: Das Hein­ rich-Heine-Portal (www.hhp.uni-trier.de). 16 Lassalle an den Vater, 12. Juni 1844, in: Ebenda, S. 101 f. 17 Lassalle an den Vater, 6. September 1844, in: Nachgelassene Briefe und Schriften, Bd. 1, S. 113–136. 18 Alle Zitate aus dem Brief Nr. 55, Lassalle an Arnold Mendelssohn, Alexander Oppen­ heim und Albert Lehnfeld, Mitte September 1845, in: Nachgelassene Briefe und Schriften, Erster Band, S. 213–231, passim. 19 Ebenda, S. 231. 20 Gustav Mayer, Einführung: in: Lassalle. Nachgelassene Briefe und Schriften. Vierter Band: Lassalles Briefwechsel mit Gräfin Sophie von Hatzfeldt, Stuttgart-Berlin 1924, S. 4. 21 Zit. nach Ebenda, S. 190. 22 Lassalle an Marx, 14. Oktober 1849, in: Nachgelassene Briefe und Schriften, Bd. 3, S. 13. 23 Viele der Kerngedanken des «Achtzehnten Brumaire» von Marx kann man in Las­ salles Briefen vom 19. Juli bzw. 12. Dezember 1851 sowie von Ende Februar 1852 vorformuliert finden. Vgl. ebenda, S. 36–50. 24 Lassalle an Marx, 1852, in: Ebenda, S. 52 f. 25 Die Philosophie Herakleitos des Dunklen von Ephesos. Nach einer neuen Sammlung seiner Bruchstücke und der Zeugnisse der Alten dargestellt von Ferdinand Lassalle, Berlin 1858. 26 Ferdinand Lassalle, Heraklit; hier referiert nach dem Eintrag «Lassalle, Ferdinand» von Ernst von Plener in der Allgemeinen Deutschen Biographie, Bd. 17, Leipzig 1883, S. 741 f. 27 Marx an Engels, 22.12.1857, in: MEW 29, S. 234. 28 Marx an Lassalle, 31. Mai 1858, in: MEW 29, S. 560 f. 29 Marx an Weydemeyer, 1. Februar 1859, in: MEW 29, S. 573. 30 Lassalle, Das System der erworbenen Rechte. Eine Versöhnung des positiven Rechts und der Rechtsphilosophie (Leipzig 1861)  – Hier referiert nach Ernst von Plener, «Lassalle, Ferdinand», in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 17 (1883), S. 740–780. 31 Marx an Engels, 30. Juli 1962, in: MEW 30, S. 257 ff.

Anmerkungen

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32 Lassalle, Über das Verfassungswesen. Rede am 16. April 1862 in Berlin. Mit einem Essay von Ekkehardt Krippendorff, Hamburg 1993. 33 Lassalle, Arbeiter-Programm, Über den besonderen Zusammenhang der gegenwär­ tigen Geschichtsperiode mit der Idee des Arbeiterstandes, Mit einer Einleitung von Franz Mehring, neu hrsg. von Hermann Duncker (= Elementarbücher des Kommu­ nismus, Bd. 2), Berlin 1923. 34 Lassalle, Die Wissenschaft und die Arbeiter. Eine Verteidigungsrede vor dem Ber­ liner Kriminalgericht
gegen die Anklage
die besitzlosen Klassen zum Hass und zur Verachtung gegen die
Besitzenden öffentlich angereizt zu haben (Zürich 1863); in: Ders., Gesammelte Werke I, S. 276. 35 Dammer, Fritzsche, Vahlteich an Lassalle, 4. Dezember 1862, in: Lassalles Brief­ wechsel aus den Jahren seiner Arbeiteragitation, hrsg. von Gustav Mayer, Wiesba­ den 1924, S. 59 ff. 36 Lassalle, Offenes Antwortschreiben. An das Zentralkommitee zur Berufung eines Allgemeinen Deutschen Arbeiterkongresses zu Leipzig, 1. März 1863, in: Gesam­ melte Reden und Schriften, hrsg. von Eduard Bernstein, Bd. 3, Berlin 1919, S. 41– 107. 37 Franz Mehring, Die deutsche Sozialdemokratie. Ihre Geschichte und ihre Lehren (1878); hier nach der ursprünglichen Fassung in der Zeitschrift «Die Gartenlaube», Jg. 1865, S. 352 (https://de.wikisource.org/wiki/Zur_Geschichte_der_Socialdemokra­ tie). 38 Arbeiterlesebuch. Rede Lassalles zu Frankfurt am Main am 17. und 19. Mai, Wies­ baden 1969 (Reprint), hier zit. nach Bleuel, Ferdinand Lassalle, S. 322 f. 39 Ebenda, S. 326. 40 Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Chronik. Teil 1. Von den Anfängen bis 1917, Berlin 1965, S. 57–106, hier S. 22 ff. 41 Lassalle, Verteidigungsrede in zweiter Instanz vor dem Berliner Kammergericht, in: Der Lassallesche Criminalprozess, 3tes Heft. Das Urtheil erster Instanz mit kriti­ schen Randnoten zum Zweck der Appellationsrechtfertigung bearbeitet von Ferdin­ and Lassalle; hier zit. nach Plener, Lassalle, ADB, S. 764 ff. 42 Ebenda, S. 766. 43 Lassalle, Die Feste, die Presse und der Frankfurter Abgeordnetentag, hier zit. nach Ebenda, S. 767. 44 Lassalle an Bismarck, Beschwerdetelegramm, hier nach Mehring, Die deutsche So­ zialdemokratie, in: Gartenlaube 1865, S. 415. 45 Bismarck an Lassalle, 11. Mai 63, in: Gustav Mayer, Bismarck und Lassalle. Ihr Briefwehsel und ihre Gespräche, Berlin 1928, S. 59. 46 Vgl. Bleuel, Lassalle, S. 346 f. – Vgl. auch Otto Pflanze, Bismarck. Der Reichsgrün­ der, München 2001, S. 235 f. 47 Lassalle an Bismarck, 8. Juni 1863, in: Ebenda, S. 60. 48 So der «Sozialdemokrat» vom 6. Februar 1870; hier zit. nach Toni Offermann, Die erste deutsche Arbeiterpartei. Organisation, Verbreitung und Sozialstruktur von ADAV und LADAV 1863–1871, Bonn 2001, S. 50. 49 August Bebel, Aus meinem Leben, Band 2, S. 180. 50 Reichstagsrede Bismarcks, 17. September 1878, in: Ausgewählte Reden des Fürsten von Bismarck: Dritter Band: Reden aus den Jahren 1878–1881 (Reprint), Paderborn 2015, S. 125–140, Zitat S. 131 f. 51 Hier zit. nach Bleuel, Lassalle, S. 357 f. 52 Lassalle an Bismarck, 8. Juni 1863, in: Ebenda, S. 61 f. 53 So die Zusammenfassung von Shlomo Na’aman in seinem Aufsatz: Lassalles Bezie­

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Anmerkungen

hungen zu Bismarck – ihr Sinn und Zweck. Zur Beleuchtung von Gustav Mayers ‹Bismarck und Lassalle›. In: Archiv für Sozialgeschichte  2, 1962, S. 55–85, Zitat, S. 67. 54 Lassalle an Bismarck, (Ende Januar oder Anfang Februar 1864), in: Ebenda, S. 87. 55 Die Agitation des Allgem. Deutschen Arbeitervereins und das Versprechen des Kö­ nigs von Preußen. Eine Rede, gehalten am Stiftungsfest des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins zu Rondorf am 22. Mai 1864 von Ferdinand Lassalle, Berlin 1864 (http://gutenberg.spiegel.de/buch/reden-und-schriften-1127/1). 56 Lassalle an Sophie Hatzfeldt, 20. Mai 1864 in: Nachgelassene Briefe und Schriften, Bd. IV: Lassalles Briefwechsel mit Gräfin Sophie von Hatzfeldt, S. 355 f.

4. Fülle des Lebens 1 Das Manifest der Kommunistischen Partei, in: MEW  4, S. 478 f.; sowie Engels, Grundsätze des Kommunismus, in: Ebenda, S. 377. 2 Ludwig von Mises, Die Gemeinwirtschaft. Untersuchungen über den Sozialismus, Jena 1932 (Reprint 2007), S. 63–65. 3 E. H. Carr, Romantiker der Revolution. Ein russischer Familienroman aus dem 19. Jahrhundert, Frankfurt/M. 2004, S. 29. 4 Marx an Engels, 28. September 1952, in: MEW 28, S. 148. 5 Jenny Marx an Adolf Cluß, 15. Oktober 1852, in: Ebenda, S. 637. 6 Ebenda, S. 640. 7 Ebenda, S. 641 f. 8 Die Geschichte findet sich, mit vielen Abwandlungen und Interpolierungen, in vielen Biografien, so zuletzt bei Jonathan Sperber, Karl Marx, S. 268–270, und bei Tristram Hunt, Friedrich Engels, S. 270 ff. – Eine detaillierte Durchmusterung der (eher zweifel­ haften) Quellenlage und ihrer Interpretationen findet sich dagegen in Terell Carver, Marx’s ‹Illegitimate Son› oder Gresham’s Law on the World of Scholarship, in dem Sammelband: Marx – Myths and Legends, Bristol 2005 (www.marxists.org). 9 Jenny Marx, Kurze Umrisse eines bewegten Lebens (1865), in: Mohr und General, S. 191 – Dass die Vaterschaft von Marx und das «Geständnis» von Engels nicht ein­ deutig bewiesen seien und dass zum Beispiel Willich als der Verführer von Lenchen Demuth in Frage gekommen wäre, hat Terell Carver aus einer Sichtung der vorlie­ genden Quellen und Indizien geschlossen. Vgl. Ders., Friedrich Engels: His Life and Thought, London 1989; sowie: Marx’ ‹Illegitimate Son›, in: Marx Myths and Le­ gends, Bristol 2005. 10 Eleanor Marx-Aveling, Karl Marx – Lose Blätter, in: Mohr und General, S. 144. 11 Karl an Jenny Marx, 21. Juni 1856, in: Karl Marx privat. Unbekannte Briefe, Mün­ chen 1962, S. 25–28. 12 Roy Whitfield, Frederick Engels in Manchester: The Search for a Shadow, Manches­ ter 1988. 13 Lafargue, Erinnerungen an Engels, in: Mohr und General, S. 430. 14 Georg Weerth, Mary, in: Sämtliche Werke in fünf Bänden, Band 1, Berlin 1956/57, S. 209–212. 15 Stephan Born, Erinnerungen eines Achtundvierzigers (Leipzig 1898), Berlin-Bonn 1978, S. 41. 16 Marx an Engels, 8. Januar 1863, in: MEW 30, S. 310. 17 Engels an Marx, 26. Januar 1863, Ebenda, S. 317. 18 Marx, Grundrisse, S. 231. 19 Marx, Theorien über den Mehrwert, Bd. 1, in: MEW 26.1., S. 80. 20 Vgl. Hunt, Engels, S. 257 ff., 319 f.

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Marx an Engels, 25. Juni 1859, in: MEW 29, S. 443. Liebknecht, Marx zum Gedächtnis, in: Mohr und General, S. 125. Hans-Ulrich Thamer, Die Völkerschlacht bei Leipzig, München 2013, S. 103. Moritz Müller auf dem dritten Vereinstag deutscher Arbeitervereine, hier nach: Thomas Welskopp, Das Banner der Brüderlichkeit. Die deutsche Sozialdemokratie vom Vormärz bis zum Sozialistengesetz, Bonn 2000, S. 736. Vgl. Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Band I: Arbeitswelt und Bürgergeist, München 1998, S. 76–80. De Vries, Industrious Revolution, S. 186–237; Zitat S. 237. So die Formel im Programm des von Friedrich Naumann gegründeten «National­ sozialen Vereins», der sich in den 1890 er Jahren als einzige Partei der Hauptanlie­ gen der bürgerlichen Frauenbewegungen annahm. Hier zit. nach Herrad-Ulrike Bus­ semer, Bürgerliche und proletarische Frauenbewegung, 1865–1914, in: Frauen in der Geschichte, hrsg. von Annette Kuhn und Gerhard Schneider, Düsseldorf 1982, S. 34–55; Zitate S. 40, 42. Ebenda, S. 35. Nipperdey, Deutsche Geschichte I, S. 95 ff. Peter Gay, Erziehung der Sinne. Sexualität im bürgerlichen Zeitalter (1986); hier zit. nach Ebenda, S. 99. Vgl. Welskopp, Banner der Brüderlichkeit, passim. August Bebel, Die Frau und der Sozialismus, Stuttgart 1953, S. 45 f. Ebenda, S. 153. Ebenda, S. 313. John Stuart Mill, hier zit. nach Nipperdey, S. 75. Bebel, Ebenda, S. 144 ff. Ebenda, S. 200 f. Ebenda, S. 324 f. Ebenda, S. 35, 40 f. Ebenda, S. 561 ff.

Teil VII: Age of Empire 1. Freier Handel, schwarze Haut 1 Hier zit. nach Nolte, Marxismus, S. 156. 2 Vgl. etwa Pomeranz, Great Divergence, S. 274 f. 3 Kenneth Pomeranz und Stephen Topik, The World that Trade Created. Society, Cul­ ture and the World Economy. 1400 to the Present, N.Y.- London 2006, S. 186 ff. 4 Sven Beckert, King Cotton. Eine Geschichte des globalen Kapitalismus, München 2014. 5 Jürgen Osterhammel, Sklaverei und die Zivilisation des Westens, München 2000; vorsichtiger Wolfgang Reinhard, Die Unterwerfung der Welt, München 2016, S. 482–484. 6 Michael Mann, Sahibs, Sklaven und Soldaten. Geschichte des Menschenhandels rund um den Indischen Ozean, Darmstadt-Mainz 2011. 7 Hier zit. aus: Andreas Eckert, Sklavenhandel: Rückblick auf ein Jahr der Forschung. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27. Dezember 2007. 8 Letter to the Leeds Mercury from Richard Oastler, Fixby Hall, near Huddersfield, 29 September, 1830. Printed in the Leeds Mercury, 16 October 1830. In: J. T. Ward, ed., The Factory System, Vol. II, Birth and Growth, N. Y. 1970, S. 76–79.

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Anmerkungen

9 Eugene D. Genovese, American Slaves and Their History, in: The New York Review of Books, 3.12.1970; http://www.mybooks.com/articles/1970/12/03/.a-spe­ cialsupple­ment-american-slaves-and-their-his/. 10 Wortlaut der 13. Zusatzartikels. (Nach der Internetseite der Botschaft der USA in Deutschland.). 11 Ebenda, S. 457 f. 12 Marx: An Abraham Lincoln, Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika. MEW 16, S. 19. 13 Marx, Das Kapital, Bd. 1, in: MEW 23, S. 318. 14 Alexis de Tocqueville, De la Démocratie en Amérique, tome 1, Brüssel 1837, S.8 – Eigene Übersetzung («Pense-t-on qu’après avoir détruit la féodalité et vaincu les rois, la démocratie reculera devant les bourgeois et les riches? S’arrêtera-t-elle main­ tenant qu’elle est devenue si forte et ses adversaires si faibles?») 15 Gustave de Beaumont, Marie ou l’esclavage en Amérique. Tableau des moeurs américaines, Paris 1840. 16 Thomas Hamilton, Men and Manners in America, 2  Bde., London 1833 (Cam­ bridge 2009); dt.: Die Menschen und die Sitten in den vereinigten Staaten von Nord­ amerika, 2 Bde., Mannheim 1834. 17 August Nimtz, Democracy in America: Two Perspectives (Marx and Toqueville), Kapitel 1 in: Ders., Marx and Engels: Their Contribution to the Democratic Break­ through, Albany N.Y. 2000; Ders., Marx, Tocqueville, and Race in America: The ‹Absolute Democracy› or ‹Defiled Republic›, Lanham-Oxford 2003. 18 Hamilton, Men and Manners, Bd. 2, S. 142 f., 225 ff. 19 Hier nach Henning Ritter, Die Schreie der Verwundeten. Versuch über die Grausam­ keit, München 2013, S. 89, 91. 20 Ben E. Green. Preface to Adolphe Granier de Cassagnac, History of the working and the burgher classes (Paris 1838), Philadelphia 1871, S. XXXII. 21 Adam Tooze, Sintflut. Die Neuordnung der Welt 1916–1931, München 2015, S. 24. 22 Rudolf Stumberger, Das kommunistische Amerika. Auf den Spuren utopischer Kommunisten in den USA, Wien 2015. 23 Gregg Jones, Honor in the Dust. Theodore Roosevelt, War in the Philippines and the Rise and Fall of America’s Imperial Dream, N. Y. 2012. 24 Das ist, in grober Interpolation, der Grundgedanke von Adam Tooze, Sintflut, vgl. seine Einleitung «Eine neue Weltordnung entsteht», S. 11–43.

2. Staaten, Kriege, Revolutionen 1 So Eric Hobsbawm, Age of Capital 1848–1875, S. 29. 2 August Bebel, Aus meinem Leben (Erster Teil, 1911), Bonn 1997, S. 92. 3 Pierre-Joseph Proudhon, Idée générale de la Révolution au XIXe siècle (1851), (Lasky, S. 615). 4 Engels an Marx, 27. September 1856, in: MEW 29, S. 78. 5 Marx an Engels, 13. November 1857, Ebenda, S. 207. 6 Heiner Schultz, Der dauernde Anfang des unvermeidlichen Endes: Marx und Engels über England, Diss. Bielefeld 1986; hier zit. nach Hölscher, Weltgericht oder Revo­ lution, S. 355. 7 Bebel, Aus meinem Leben, S. 661. 8 Begriff der «Depression» u. seine Umstrittenheit S. Ritter/Tenfelde, S. 64. 9 Christopher Bayly, Geburt der modernen Welt, S. 564–609. Neuerdings wird der Begriff in anderer Bedeutung verwendet, nämlich als «Große Beschleunigung» im

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Sinne eines beschleunigten Verbrauchs der Umweltressourcen, so etwa in J. R. Mc­ Neill/Peter Engelke, The Great Acceleration. An Environmental History of the An­ thropocene since 1945, Cambridge, Mass. 2016. Engels an Marx, 13. April 1866, in: MEW 31, S. 104. Marx an Engels, 8. August 1870, in: MEW 33, S. 31. Engels an Marx, 15. August 1870, Ebenda, S. 40. Engels an Bebel, 18. November 1884, in: MEW 36, S. 238 f. Marx, Das Kapital, in: MEW 23, S. 779. Ebenda, S. 788. Marx/Engels, Kommunistisches Manifest, in: MEW 4, S. 465. Ebenda, S. 466. Marx/Engels, Revue, Januar/Februar 1850, in: MEW 7, S. 220 ff. Engels, Der demokratische Panslawismus (NRhZ, 15./16. Februar 1849), in: MEW 6, S. 273. Engels, Der dänisch-preußische Waffenstillstand (NRhZ, 10. September 1848), in: MEW 5, S. 394. Engels, Der magyarische Kampf (NRhZ, 13. Januar 1849), in: MEW 6, S. 172. Ebenda, S. 176. Engels, Marx und die ‹Neue Rheinische Zeitung› (1884), in: MEW 21, S. 19. Ebenda, S. 22. Engels, Der demokratische Panslawismus, in: MEW 6, S. 286. Ebenda. Marx, Der dänisch-preußische Waffenstillstand (NRhZ, 10. September 1848), in: MEW 5, S. 397. Marx, Eine neue Enthüllung in England, 24. September 1855, in: MEW 11, S. 522. L. von Pastor, Das Leben des Freiherrn Max von Gagern (1912); hier zit. nach Na­ mier, Revolution of the Intellectuals, S. 54 f. Diese Serie von Artikeln begann noch während des Krimkriegs, den Marx als Teil der von Russland forcierten «orientalischen Frage», eines Kriegs um die Zerschla­ gung und Auflösung des Osmanischen Reiches, betrachtete, vgl. Worum es in der Türkei wirklich geht, NYDT, 12. April 1853, in: MEW 9, S. 13–17. – Im Nachgang des Krimkriegs, den er ungeachtet seiner verlustreichen Schlachten als ein Auswei­ chen Englands und Frankreichs vor den russischen Hegemonialansprüchen interpre­ tierte, versteifte er sich darauf, den historischen Beweis zu führen, dass die britischen Liberalen die insgeheimen Förderer der russischen Territorialexpansionen gewesen seien. Insbesondere der langjährige britische Außen-, Innen- und Premierminister Lord Palmerston habe seit jeher als ein bezahlter Agent Russlands gewirkt, der für kurzsichtige britische Imperial- und Geschäftsinteressen dabei sei, die Zukunft ganz Europas zu verspielen  – wie Marx in Briefen an Engels (2. November 1853, in: MEW 28, S. 306 f.) sowie an Lassalle (6. April 1854, in: MEW 28, S. 605) erklärte und öffentlich in einer Serie von acht Artikeln, die auch als Broschüre erschienen (Lord Palmerston, in: MEW 9, S. 353–418), darlegte. Über Wochen vertiefte er sich in diplomatische Akten über den «Nordischen Krieg» Anfang des 18. Jahrhunderts zwischen Russland und Schweden, in denen er einen Schlüssel zur Komplizenschaft der englischen Liberalen mit den russischen Territorialinteressen zu finden glaubte, und kam von dort aus zu einer extremen Be­ wertung des nahezu «mongolischen» Expansionsdrangs Russlands, namentlich seit der Zeit Peters des Großen. Diese Theorien legte er insbesondere in seiner unpubli­ ziert gebliebenen Kampfschrift: Die Geschichte der Geheimdiplomatie des 18. Jahr­ hunderts. Über den asiatischen Ursprüng der russischen Despotie, hrsg. von Ulf

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Anmerkungen

Wolter, Berlin 1977 dar, S. 92–97. David Rjasanov, der russische Herausgeber der Marx-Werke, sah sich genötigt, in seinem Aufsatz «Karl Marx über den Ursprung der Vorherrschaft Rußlands in Europa. Kritische Untersuchungen» (wiederabge­ druckt im Anhang dieser deutschen Ausgabe) respektvolle Skepsis zu äußern. Vgl. Ebenda, S. 179–242, insbes. S. 216 ff. – Das führte Marx über Jahre hinweg in eine sehr merkwürdige Allianz mit einem der fanatischsten britischen Russophoben und Bewunderer des Osmanischen Reiches, dem erklärten Tory-Reaktionär David Ur­ quart, in dessen Zeitung er (zur Irritation vieler seiner Genossen) immer wieder krie­ gerische Artikel schrieb. Bei einer antirussischen Versammlung in London 1858, während des Italienfeldzugs Louis Bonapartes, den Marx inzwischen ebenfalls für ein Werkzeug des Zarentums hielt, sprach er sogar von «dem Krieg, den wir zusam­ men mit den Urquhartiten gegen Russland, Palmerston u(nd) Bonaparte führen», ein Krieg, an dem «Personen aller Parteien u(nd) Stände in allen Hauptstädten ­Europa’s bis Constantinopel teilnehmen». (MEGA 3/11, S. 19) – Zu diesem ganzen Komplex vgl. auch Sperber, Karl Marx, S. 309–323. Marx/Engels, Die Berichte der Generale Simpson, Pélissier und Niel (Neue Oder Zeitung, 1. Oktober 1855), in: MEW 11, S. 544. Marx/Engels, Der langweilige Krieg, New-York Daily Tribune, 17. August 1854, in: MEW 10, S. 375–380, Zitat S. 379. Vgl. Vries, Ursprünge des modernen Wirtschaftswachstums, S. 409. Charles  S. Maier, Leviathan 2.0. Die Erfindung moderner Staatlichkeit, in: 1870– 1945. Weltmärkte und Weltkriege, hrsg. von Emily S. Rosenberg, S. 33–286, Zitat S. 67. (= Band 4 von: Akira Iriye und Jürgen Osterhammel (Hrsg.), Die Geschichte der Welt, München 2012. Polanyi, Great Transformation, S. 70.

3. Der europäische Sozialismus 1 Marx/Engels, Revue. Mai bis Oktober 1850, in: MEW 7, S. 431 – Dass die Firma Boulton & Watt hier «die kolossalste Dampfmaschine für Ocean steamers» (Ozean­ dampfer) zeigte, die die Seeschiffahrt revolutionieren würde, konnte man erst an­ derthalb Jahrzehnte später einer Passage in Marx’ «Kapital» entnehmen. MEW 23, S. 398). 2 Engels an Marx, 18. Mai 1862, in: MEW 30, S. 237. 3 Engels an Marx, 9. September 1862, in: Ebenda, S. 284. 4 Hier zit. nach der im «Sozialdemokrat» vom 1. Juni 1889 veröffentlichten Fassung, in: MEW 21, S. 544. 5 Allein von Anfang 1862 bis Mitte 1863 verfasste Marx ein riesiges Manuskript von 1500 Seiten, das den Grundstock für die Bände  II und III des «Kapital» sowie die «Theorien über den Mehrwert» lieferte und den Grundstock seiner politisch-öko­ nomischen Thesen enthielt. Vgl. Nolte, Marxismus und Industrielle Revolution, S. 373–76. 6 Marx an Lion Philips, 29.11.1864, in: MEW 31, S. 431 f. 7 Hier zit. nach Sperber, Marx, S. 365. 8 Marx an Engels, 13. März 1865, in: MEW 31, S. 100. 9 Marx an Antoinette Philips, 18. März 1866, in: Ebenda, S. 504. 10 Marx an Engels, 10. März 1866, in: Ebenda, S. 190. 11 Vgl. Wolfgang Schieder, Karl Marx als Politiker, München 1991, S. 77. 12 Marx an Engels, 4. November 1864, in: MEW 31, S. 16. 13 Marx an Kugelmann, 9. Oktober 1866, in: Ebenda, S. 529. 14 Marx an Bracke, 5. Mai 1875, in: MEW 34, S. 137.

Anmerkungen

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15 Vgl. Bertram D. Wolfe, Marx und die Marxisten. 100 Jahre einer Doktrin, Berlin 1968, S. 121 ff. 16 Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich, in: MEW 17, S. 342. 17 Engels, Einleitung zu «Der Bürgerkrieg in Frankreich» (Ausgabe 1891), in: MEW 17, S. 625  – Im Originalmanuskript hatte Engels sich an die «sozialdemokratischen ­Philister» gewendet. Die Redaktion der «Neuen Zeit» hatte daraus die «deutschen Philister» gemacht. 18 Engels an Marx, 7. Oktober 1858, in: MEW 29, S. 358. 19 Engels, Die Zehnstunden-Bill. Politisch-Ökonomische Revue Revue, 4. Heft, April 1850, in: MEW 7, S. 233–243. 20 (Marx) Inauguraladresse der Internationalen Arbeiterassoziation, in: MEW 16, S. 11. 21 Manifest, in: MEW 4, S. 473. 22 Marx, Lohnarbeit und Kapital, in: MEW 6, S. 397–423. 23 Nach Eric Hobsbawm, Wie man die Welt verändert, S. 191. 24 Vgl. die Tabelle «Socialist parties, basic data, 1880–1918» in Sassoon, Ebenda, S. 10. 25 Georges Haupt, Der Kongreß fand nicht statt. Die Sozialistische Internationale 1914, Wien-Frankfurt-Zürich 1967, S. 22. 26 Eine ausgezeichnetes Porträt der deutschen Sozialdemokratie im Rahmen der Klas­ senbildungsprozesse der Arbeiterschaft und des Parteienspektrums nach 1890 findet sich etwa bei Nipperdey, Deutsche Geschichte II, S. 554–572 – Vgl. auch Helga Gre­ bing, Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Von der Revolution 1848 bis ins 21. Jahrhundert, Berlin 2007. 27 Robert Michels, Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie. Untersuchungen über die oligarchischen Tendenzen des Gruppenlebens, Leipzig 1911. 28 Welskopp, Das Banner der Brüderlichkeit, S. 529 ff. 29 Dieter Groh, Negative Integration und revolutionärer Attentismus. Die deutsche ­Sozialdemokratie am Vorabend des Ersten Weltkriegs, Berlin 1973. 30 Engels, Zur Kritik des sozialdemokratischen Programmentwurfs 1891, in: MEW 22, S. 235 f. 31 Engels, Der Sozialismus in Deutschland, in: Ebenda, S. 251 – Engels zitierte damit einen in Frankreich legendären Satz eines französischen Gardeoffiziers aus der ­ Schlacht gegen britische und verbündete Truppen bei Fontenay, 1745. 32 Kapital I, MEW 23, S. 12. 33 Ebenda, S. 654, 790 f. 34 Kapital III, in: MEW 25, S. 242. 35 Bebel, Die Frau und der Sozialismus, S. 449 ff. 36 Engels, Ergänzung der Vorbemerkung von 1870 zu «Der deutsche Bauernkrieg», in: MEW 18, S. 516 – Das war eine Paraphrase einer Formulierung von Marx im Nach­ wort zur zweiten Auflage des «Kapital», in: MEW 23, S. 19. 37 Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Hannover vom 9. bis 14. Oktober 1899, Berlin 1999, S. 128; hier zit. nach Helmut Hirsch, August Bebel in Selbstzeugnissen und Bilddo­ kumenten, Reinbek 1973, S. 84. 38 Kautsky, Nach der Revolution, 1902; hier zit. nach Hölscher, Weltgericht oder Re­ volution, Ebenda, S. 265. 39 Vgl. den Wortwechsel zwischen Jaurès und Bebel bei Hirsch, Bebel, S. 96 f.; Zitat bei Nipperdey, Deutsche Geschichte, Bd. II, S. 566. 40 Engels, Rede auf einer sozialdemokratischen Versammlung in Berlin am 22. Septem­ ber 1893, in: MEW 22, S. 413.

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Anmerkungen

41 Vgl. Hirsch, Bebel, S. 96 f. 42 Mike Davis, Die Geburt der Dritten Welt. Hungerkatastrophen und Massenvernich­ tung im imperialistischen Zeitalter, Berlin-Hamburg 2004. 43 Wilhelm Marr, Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum. Vom nicht con­ fessionellen Standpunkt betrachtet, Bern 1979, S. 38. 44 Friedrich Nietzsche, Der Antichrist. Fluch auf das Christentum, in: Ders., Werke in drei Bänden, hrsg. von Karl Schlechta, Bd. 2, S. 1161 ff. 45 O. Stockmayer, Gnade und Sünde, Ein Wort an die Kinder Gottes (1897); hier zit. nach Hölscher, Weltgericht oder Revolution, S. 85. 46 Adolf Stoecker, Sozialdemokratie und Sozialmonarchie (1891), hier zit. nach Ebenda, S. 228. 47 Verhandlungen des deutschen Reichstags, 201. Sitzung, 9. November 1911, S. 7728– 7730. Hier nach Franz Kühs, August Bebel. Der Mann und sein Werk, 1923 (Re­ print Hamburg 2013), S. 312 f.

4. Das Marx’sche Momentum 1 Honoré de Balzac, Das unbekannte Meisterwerk. Mit Illustrationen von Pablo P­i­ casso, Frankfurt/M. 1987. 2 Francis Wheen, Karl Marx: Das Kapital, München 2008, S. 7 ff. – Zu Lafargue siehe Anm. 6. 3 Marshall Berman, Adventures in Marxism, London-N.Y. 1999, S. 33 f. 4 Hier zit. nach Wheen, Das Kapital, S. 10. 5 «Nur dadurch, dass man an die Stelle der conflicting dogmas die conflicting facts und die realen Gegensätze stellt …, kann man die politische Ökonomie in eine positive Wissenschaft verwandeln.» Marx an Engels, 10. Oktober 1868. In: MEW 32, S. 181. 6 Paul Lafargue, Karl Marx. Persönliche Erinnerungen. In: Die Neue Zeit (1890); hier zit. aus Hans-Magnus Enzensberger, Gespräche mit Marx und Engels, Frankfurt/M. 1981, S. 298. 7 Karl Marx, Exzerpte über Arbeitsteilung, Maschinerie und Industrie. Transkribiert und hrsg. von Rainer Winkelmann, Berlin 1982; Karl Marx, Die technologisch-­ historischen Exzerpte. Transkribiert und hrsg. von Hans-Peter Müller, Berlin 1982; sowie Karl Marx, Die ethnologischen Exzerpthefte. Herausgegeben von Lawrence Krader, Frankfurt/M. 1976, in: MEGA, Zweite Abteilung, Bd. 3, Teil 2. 8 Karl Marx, Exzerpte und Notizen zur Geologie, Mineralogie und Agrikulturchemie, Band  IV/26 der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA), bearbeitet von Anneliese Griese, Peter Krüger und Richard Sperl, Berlin 2011. 9 Wheen, Das Kapital, S. 75 ff. 10 Vgl. Maximilien Rubel, Marx/Engels: Die russische Kommune. Kritik eines Mythos, München 1972, S. 303 – Vgl. etwa Engels Bemerkung gegenüber Lafargue, er habe Marx seinerzeit gesagt: «Ich würde mit Vergnügen die russischen Veröffentlichungen über die Lage der Landwirtschaft verbrennen, die dich seit Jahren hindern, das ‹Kapi­ tal› zu vollenden.» In: Paul Lafargue, Persönliche Erinnerungen an Friedrich Engels, in: Mohr und General. Erinnerungen an Marx und Engels, Berlin (DDR) 1982, S. 438. 11 Eleonor Marx-Aveling, Karl Marx – Lose Blätter. Hier zit. nach Ebenda, S. 144. 12 Jürgen Herres, Karl Marx als politischer Journalist im 19. Jahrhundert. In: Beiträge zur Marx-Engels-Forschung, Neue Folge 2005, S. 7. 13 Wolfgang Schieder, Karl Marx als Politiker, München-Zürich 1991. 14 Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, in: MEW  21, S. 292; sowie Engels an Bernstein, 25. Oktober 1881, in: MEW  35, S. 230.

Anmerkungen

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15 Vgl. Hunt, Friedrich Engels, Kapitel: «Der große Lama aus der Regent’s Park Road», S. 322–368. 16 Engels, Anti-Dühring, in: MEW 20, S. 131 f. 17 Engels, Die deutsche Reichsverfassungskampagne, in: MEW 7, S. 107–197. 18 Marx an Engels, 20. März 1859, in: MEW 29, S. 409. 19 Friedrich Engels, Das Begräbnis von Karl Marx. Bericht im «Sozialdemokrat» vom 22. März 1883, in: MEW 19, S. 335–339. 20 Leszek Kolakowski, Hauptströmungen des Marxismus, Erster Band, S. 17, 19. 21 So hat er selbst seinen Kenntnisstand im Gespräch mit Edgar Snow charakterisiert. Vgl. Edgar Snow, Roter Stern über China, Frankfurt/M. 1970, S. 196 f. 22 Raymond F. Wylie, The Emergence of Maoism. Mao Tse-tung, Chen Po-ta and the Search for Chinese Theory, 1935–1945, Stanford 1980. 23 Marx an Freiligrath, 29. Februar 1860, in: MEW 30, S. 495. 24 Marx an Engels, 11. September 1867, in: MEW 31, S. 342/43. 25 Marx an Becker, 17.4.1867, in: MEW 31, S. 541. 26 Joy Hudson Hall, Gabriel Deville and the Abridgement of Capital (Ph. D.), Auburn 1963, S. 440. 27 Hier zit. nach Eric Hobsbawm, Wie man die Welt verändert. Über Marx und den Marxismus, München 2012, S. 13. – Leider gibt Hobsbawm für dieses Zitat keine Quelle an. 28 Engels, Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, in: MEW 19, S. 189–228 – Die erste Ausgabe erschien in französischer Sprache unter dem Titel «Socialisme utopique et Socialisme scientifique» 1880 mit einem Vorwort von Marx; die erste deutsche Ausgabe 1882. 29 Hier zit. nach Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen. Erster Band, München 2001, S. 235. 30 Hosfeld, Die Geister, die er rief, S. 204 f. 31 Otto Bauer, Die Geschichte eines Buches. In: Die Neue Zeit, 1. Bd. (1908), H. 1, S. 23–33; Zitate S. 26 f. 32 «Ce qu’il y a de certain c’est que moi, je ne suis pas Marxiste.» Eins ist sicher, ich für mein Teil bin kein Marxist: So hat Engels eine Äußerung von Marx überliefert, die dieser gegenüber seinem Schwiegersohn Paul Lafargue gemacht habe (Brief an Edu­ ard Bernstein vom 2./3. August 1882, MEW 35, S. 388; und noch einmal in einem Brief an Konrad Schmidt vom 5. August 1890, MEW 37, S. 436). 33 Marx, Entwürfe einer Antwort auf den Brief von V. I. Sassulitsch. Dritter Entwurf, in: MEW 19, S. 401. 34 Karl Marx: Zur Kritik der politischen Ökonomie (Manuskript 1861–1863), Teil 3. In: MEGA II/3, S. 771 (Theorien über den Mehrwert. Heft XI). 35 Hier zit. nach Tristram Hunt, Friedrich Engels. Der Mann, der den Marxismus er­ fand, Berlin 2012, S. 436. 36 Engels an Friedrich Adolph Sorge, 12. Mai 1894, in: MEW 39, S. 245. 37 Werner Sombart, Der moderne Kapitalismus, Leipzig 1902; sowie Max Weber, Die protestantische Ethik und der «Geist» des Kapitalismus, in: Archiv für Sozialwissen­ schaft und Sozialpolitik 20 (1904), S. 1–545; 21 (1905), S. 1–110. 38 Wolfgang Eßbach, Wer war Marx? Bilder eines Intellektuellen. In: Richard Faber (Hrsg.), Was ist ein Intellektueller? Rückblick und Vorblicke, Würzburg 2012, S. 163–181. 39 Die ausgedehnten Briefwechsel untereinander und mit Dritten zum Beispiel waren über Jahrzehnte nur in engen Ausschnitten bekannt. Man versteht bei der Lektüre sehr gut, warum im Jahr 1913, als eine erste, taktvoll limitierte Ausgabe des Brief­

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Anmerkungen

wechsels von Marx und Engels in einem Verlag der deutschen Sozialdemokratie ­herausgegeben wurde, diese Publikation in den oberen Parteirängen für gelinde Schauer sorgte, nicht nur, aber vor allem wegen der zahllosen abfälligen Bemerkun­ gen über die historischen Gründer der Partei, allen voran Ferdinand Lassalle, aber auch Liebknecht und die anderen. Eine halbwegs vollständige Sammlung der wich­ tigsten Briefe fand sich erst in den Bänden der Marx-Engels-Werke (MEW) in den 1950 er/60 er Jahren. Die Folge der Marx-Engels-Werkausgaben ist eine verzwickte und bezeichnende Ge­ schichte für sich. In aller Kürze: Die Mitte der 1920 er Jahre begonnene erste MEGA (Marx-Engels-Gesamtausgabe) wurde 1935 in Moskau eingestellt; allerdings in den 1970 er Jahren in einer Kooperation der Moskauer und Ostberliner Institute für Marxismus-Leninismus wiederaufgenommen; seit 1990 wird sie in abermals neuer Fassung und Verantwortung weitergeführt.  – Die ersatzhalber erstellten MEW (Marx-Engels-Werke) erschienen zunächst nur in einer russischen Ausgabe; eine nach Stalins Tod revidierte zweite Fassung mit 43 Bänden (in 45 Büchern) diente ab 1956 dann als Grundlage für die in Ostberlin in deutscher Originalsprache sukzes­ sive erscheinenden «blauen Bände», die bis 1990 (fast) vollständig vorlagen. Seither wird die MEW in abermals revidierter Fassung von der Rosa-Luxemburg-Stiftung im Karl Dietz Verlag in Berlin herausgegeben. – Parallel dazu erschien jedoch zwi­ schen 1975 und 2005 in Moskau und London eine englischsprachige Werkausgabe unter dem Titel MECW (Marx-Engels-Collected Works), die 50 Bände umfasste und lange Zeit als die vollständigste Textsammlung galt. Vgl. Karl-Erich Vollgraf u. a. (Hrsg.): David Borissovič Rjazanov und die erste MEGA (= Beiträge zur Marx-Engels-Forschung. Neue Folge, Sonderband 1, Hamburg 1997); sowie Ders. (Hrsg.), Stalinismus und das Ende der ersten Marx-­Engels-Gesamtausgabe (1931–1941). Dokumente über die politische Säuberung des Marx-­Engels-Instituts 1931 (= Beiträge zur Marx-Engels-Forschung. Neue Folge, Sonderband  3, Berlin-­ Hamburg 2001). David Borissowitsch Rjasanow, Vorwort zur MEGA 1927. (Nachdruck des Origi­ nal-Vorworts zum Band 1 der Ersten Abteilung der MEGA, Moskau 1927, mit den Frühschriften von Marx). In: Utopie kreativ, H. 206 (Dezember 2007), S. 1095 (Das Zitat ohne Beleg im redaktionellen Vorspann.). Das «Ökonomisch-philosophische Manuskript» von 1844 wurde erstmals von Rja­ sanov 1932 in Moskau und Berlin im Rahmen der MEGA veröffentlicht; dann im Osten erst wieder als Teil der MEW 40 (Ergänzungsband 1), Berlin (DDR) 1968; im Westen zuerst in Karl Marx, Frühschriften, Stuttgart 1952; danach in einer Reihe anderer Ausgaben und Zusammenstellungen. Marx/Engels, Die deutsche Ideologie. Kritik der neuesten deutschen Philosophie in ihren Repräsentanten Feuerbach, B. Bauer und Stirner, und des deutschen Sozialis­ mus in seinen verschiedenen Propheten, in: MEW 3, S. 11–531 – Der Titel ist in die­ sem Fall eine nachträgliche Namensgebung. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (Rohentwurf), 1857–1859. Zuerst veröffentlicht Moskau 1939/41 im Verlag für fremdsprachige Literatur; dann wieder in kleiner Auflage in Berlin (DDR) 1953, sowie 1974 als MEW 42; dazwi­ schen in Frankfurt/M. 1968, zusammen mit Roman Rosdolsky, Zur Entstehungs­ geschichte des Marxschen Kapital. Der Rohentwurf des Kapital 1857–1858, Frank­ furt/M. 1968. In deutscher Sprache wurden die folgenden Texteditionen sukzessive verfügbar: Marx contra Russland. Der russische Expansionsdrang und die Politik der Welt­ mächte. Berichte von Karl Marx als europäischer Korrespondent der New York

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Daily Tribune 1853–1856, Stuttgart 1960; Polen, Preußen und Russland. In: Karl Marx, Die polnische Frage, hrsg. von Werner Conze u. a., Amsterdam 1961; Marx/ Engels, Die russische Kommune. Kritik eines Mythos, hrsg. von Maximilien Rubel, München 1972; Karl Marx, Die Geschichte der Geheimdipolomatie des 18. Jahr­ hunderts. Über den asiatischen Ursprung der russischen Despotie. Mit Kommenta­ ren von B. Rabehl und einem Text von D. Rjasanov, Berlin (West) 1977; Karl Marx, Enthüllungen zur Geschichte der Diplomatie des 18. Jahrhunderts, hrsg. und einge­ leitet von Karl August Wittfogel, Frankfurt/M. 1981. So z. B. Bert Andréas (Hrsg.), Briefe und Dokumente der Familie Marx. Archiv für Sozialgeschichte, 2. Band, Hannover 1962; Karl Marx privat. Unbekannte Briefe. Eingeleitet und kommentiert von Wolfgang Schwerbrock, München 1962; Mohr und General. Erinnerungen an Karl Marx und Friedrich Engels, Berlin (DDR) 1982; Hans Magnus Enzensberger (Hrsg.), Gespräche mit Marx und Engels, Frankfurt/M. 1981 – Ansonsten hat erst die 1970 neu begonnene und 1990 fortge­ führte «Marx-­Engels-Gesamtausgabe» (MEGA) die Briefe nicht nur erstmals voll­ ständig, sondern auch als Korrespondenz, d. h. einschließlich der Gegenbriefe, zur Verfügung gestellt. Vgl. Kolakowski, Hauptströmungen des Marxismus, Zweiter Band, S. 13. Hier zitiert nach Wheen, Das Kapital, S. 104. Ders., Karl Marx: A Life, London 1999 (dt. München 2001). Ders., Das Kapital, S. 117 f. Vgl. etwa Herfried Münkler, Die Aktualität des Karl Marx – Marx gegen den Mar­ xismus gelesen; oder Bertram Schefold, «Das Kapital» Band 3: Ausgangspunkt von Wegen und Irrwegen des ökonomischen Denkens im 20. Jahrhundert. In: Karl Marx. Neue Perspektiven auf sein Werk. Gesprächskreis Politik und Geschichte im KarlMarx-Haus, Heft 2, Trier 2005 – Beide Texte schöpfen aus dem enormen Fundus von qualifizierten Einleitungen zu den Einzelbänden der MEGA sowie zu den regel­ mäßigen Begleitbänden wie den Marx-Engels-Jahrbüchern (seit 2005) oder den Bei­ trägen zur Marx-Engels-Forschung. Neue Folge. Lin Piao, Instruction on Rising the Study of Chairman Mao’s Writings to a new sta­ ges» (Rede vor den Absolventen der Militärakademie in Peking, 18. September 1966), in: Michael Y. M. Kau (Ed.), The Lin Piao Affair: Power, Politics and Military Coup, N.Y. 1975, S. 367–374  – Über Lin Piaos Verwandlung der Mao Tse-tungIdeen in eine «Art marxistischen, mit magischen Kräften ausgestatteten Koran» vgl. die klassische Biografie von Stuart Schram, Mao Tse-tung, Frankfurt/M. 1969, S. 337 f. Vgl. Ian Johnson: A Revolutionary Discovery in China, in: New York Review of Books, 21. April 2016. Rezension von: Sarah Allen, Buried Ideas: Legends of Abdi­ cation and Ideal Government in Early Chinese Bamboo-Slip Manuscripts, N.Y. 2016. Engels, die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, in: MEW 19, S. 181–229; Zitate S. 194, 200 f., 202, 205, ff., 209, 211, 216 ff., 222 ff., 226. Karl Marx: Theorien über den Mehrwert. Zweiter Teil, in: MEW 26.2., S. 111.

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Anmerkungen

DRITTES BUCH: Warum Russland? Teil VIII: In Oriente – Der Osten wird rot 1. Das entgrenzte Imperium 1 Martin Malia, Vollstreckter Wahn. Russland 1917–1991, Stuttgart 1994, S. 30 f.; 50; 68; 70 f. 2 Karl Schlögel, Archäologie des Kommunismus, München 2013, S. 104. 3 Ders., Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, München 2003, S. 394. 4 Fjodor Tjutschew, Russland und der Westen. Politische Aufsätze, Berlin 1992, S. 19. 5 Alexander Etkind, Internal Colonization. Russia’s Imperial Past, Cambridge/UK-­ Malden, MA 2011, S. 5. 6 Fjodor Tjutschew, Russische Geographie, 1849; hier zit. nach Wolfe, Drei, die eine Revolution machten, S. 19. 7 Vgl. etwa den Fjodor Tjutschew Kalender, hrsg. von MIR – Zentrum russischer Kul­ tur in München, 2002, der das gesamte Leben und dichterische Werk Tjutschews entlang seiner Musen und Liebschaften aufrollt (www. www.mir-ev.de). 8 Nikolai Gogol, Mjortwyje duschi (1842); dt. Tote Seelen, hier, 11. Kapitel, Mitte und Schluss – Die beiden berühmten Passagen des Buches habe ich letztlich nach Vergleich des Originals mit diversen deutschen und englischen Übertragungen wie folgt selbst übersetzt. 9 George Kennan, The Long Telegram, 22. Februar 1946; ein Artikel unter dem Pseu­ donym «X» und dem Titel: The Sources of Soviet Conduct, in dem Kennan die we­ sentlichen Argumente des Telegramms wieder aufnahm, erschien in: Foreign Affairs, Juli 1947. 10 Zu diesem ganzen Komplex der Eroberung und Kolonisation Sibiriens: Yuri Slez­ kine, Arctic Mirrors. Russia and the Small Peoples of the North, N. Y. 1994; Zitat S. 77. 11 Andrej Sinjawski, Eine Stimme im Chor, München 1978, S. 276. 12 Ebenda. 13 Marx, Enthüllungen zur Geschichte der Diplomatie des 18. Jahrhunderts, hrsg. und eingeleitet von Karl August Wittfogel, Frankfurt/M. 1981, S. 129 f. 14 Tschaadajew, hier zit. nach Etkind, Internal Colonization, S. 17. 15 Belinsky, hier zit. nach Ebenda, S. 94–97. 16 Dostojewski, zit. nach Ebenda, S. 16–19. 17 Friedrich Engels, Die auswärtige Politik des russischen Zarentums, in: MEW  22, S. 13 ff. 18 So schon John Robert Seeley, The Expansion of England, London 1883, S. 12. 19 Dnjewnik P. A. Walujewa, ministra wnutrenich del. W dwuch tomach [Tagebuch des Innenministers P. A. Walujew. In zwei Bänden]. Moskau 1961; hier zit. nach Dietrich Geyer, Der russische Imperialismus. Studien über den Zusammenhang von innerer und auswärtiger Politik 1860–1914, Göttingen 1977, S. 74. 20 Fiona Hill and Clifford G. Gaddy, The Siberian Curse: How Communist Planners Left Russia Out in the Cold, Washington, D. C., Brookings Institution Press, 2003. 21 Nikolaj Berdjaev, Die russische Idee. Grundprobleme des russischen Denkens im

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19. Jahrhundert und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Eingeleitet, übersetzt und er­ läutert von Dietrich Kegler, St. Augustin 2015, S. 31. Mikhael Epstein, Russo-Soviet Topoi, in: The Landscape of Stalinism. The Art and Ideology of Soviet Space, ed. by Evgeny Dobrenko and Eric Naiman, Seattle-Lon­ don 2003, S. 288–293. Ebenda, S. 63 f. Michail Bakunin, Die Sache des Volkes. Romanow, Pugatschow und Pestel (1862); hier zit. nach: Karl Marx / Friedrich Engels, Ein Komplott gegen die Internationale Arbeiter-Association. Im Auftrage des Haager Kongresses verfasster Bericht über das Treiben Bakunins und der Allianz der sozialistischen Demokratie, Vollständige Neuausgabe, hrsg. von Karl-Maria Guth, Berlin 2014, S. 114. Orlando Figes, Die Tragödie eines Volkes. Die Epoche der russischen Revolution, Berlin 1996, S. 103. Zit. nach Wolfe, Drei, die eine Revolution machten, S. 351. Maxim Gorki, Vom russischen Bauern, Berlin 1922. Der Text findet sich nach­ gedruckt im Anhang von Alexander W. Tschajanow, Reise meines Bruders Alexej ins Land der bäuerlichen Utopie, hrsg. von Krisztina Mänicke-Gyöngyösi, Frank­ furt/M. 1981, S. 89–110, Zitat S. 108. Dietmar Neutatz, Träume und Alpträume. Eine Geschichte Russlands im 20. Jahr­ hundert, München 2013, S. 82 ff.

2. Die Dämonen der Intelligenzija 1 Marx, Manifest, in: MEW 4, S. 472. 2 Zu der Figur Tschernyschewskis und seinem pädagogisch-utopischen Roman «Was tun?» vgl. S. 533 f. in diesem Buch. 3 Lenin, Was tun? Brennende Fragen unserer Bewegung, in: LW 5, S. 529. 4 Leo Trotzki, Der junge Lenin, Wien-München-Zürich 1969; hier nach der Tb-Aus­ gabe Frankfurt/M. 1982. 5 Alexander Kerenski, hier zit. nach Wolfe, Drei, die eine Revolution machten, S. 32. 6 Vgl. Zaplin, W. W.: O shisni semji Blankow w gorodach Starokonstantinowe i Shotimire. In: Otečestvennye Archivy, H. 2, 1992. 7 Gorki, Lénine, Paris 1925, S. 83 f. – Diese erhellende Äußerung fiel Gorki zufolge in einem der Gespräche mit Lenin nach der Revolution, die sich immer wieder um «die Grausamkeit der revolutionären Praktiken und Gewohnheiten» drehten. Als Gorki die verräterisch verquere Frage stellte: «Scheint es nur so, oder haben Sie tatsächlich Mitleid mit den Menschen?», und zwar mit denen, die unter die Räder der Revolu­ tion geraten waren, soll ihm Lenin geantwortet haben: «Die Gescheiten tun mir leid. Es gibt nur wenige gescheite Menschen unter uns. Wir sind als Volk zwar intellektu­ ell begabt, aber zu träge. Der wirklich intelligente Russe ist fast immer ein Jude oder jemand mit etwas jüdischem Blut in den Adern.»  – In den Neuauflagen des Le­ nin-Porträts Anfang der 1930 er wurde dieser Passus (sicherlich mit Gorkis Einver­ ständnis) gestrichen. 8 Zit. nach Yuri Slezkine, Das jüdische Jahrhundert, Göttingen 2006, S. 169 f. 9 Hier zit. nach: Wolfe, Drei, die eine Revolution machten, S. 305. 10 Ebenda, S. 83 f. 11 Aus den Gerichtsprotokollen zit. in: Philip Pomper, Lenin’s Brother. The Origins of the October Revolution, N.Y. 2010, S. 184. 12 Marx/Engels, Vorwort zur russischen Ausgabe des «Kommunistischen Manifests», in: MEW 19, S. 296. 13 Richard Pipes: The Degaev Affair. Terror and Treason in Tsarist Russia. Yale 2003.

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Anmerkungen

14 Philip Pomper, Lenin, Trotzky, and Stalin: The Intelligentsia and Power, N. Y. 1990. 15 Hier zit. nach Pomper, Lenins Bruder, S. 33 f. 16 Iwan Turgenjew, Die Schwelle. In: Gedichte in Prosa, Komödien, Berlin-Weimar 1994, S. 33 f. 17 Radischtschew, Reise von St. Petersburg nach Moskau, Leipzig 1982, Versübertra­ gung von Bruno Tutenberg, S. 163 ff. 18 Herzen, Die gescheiterte Revolution, S. 304 ff. 19 Hier zit. nach Denis Sdvižkov, Onkel Vanja und die Dämonen – Die Geschichte der russischen Intelligencija, in: Ders., Das Zeitalter der Intelligenz, S. 151. 20 Wolfe, Drei, die eine Revolution machten, S. 105. 21 Ebenda, S. 45. 22 Sdvižkov, Zeitalter der Intelligenz, S. 173–176 – Dort auch die hier verwendeten sta­ tistischen Daten. 23 Valentinov, Černischevski i Lenin, in: Novy Zhurnal 26, 1951; hier zit. nach Figes, Tragödie eines Volkes, S. 145. 24 Vgl. das Nachwort von Wolf Düwel in: N. G. Tschernyschewski, Was tun? Aus Er­ zählungen vom neuen Menschen, Berlin-Weimar 1980 (6. Aufl.), S. 572. 25 Vgl. die Auflistung der insgesamt 13 Prüfungsthemen bei Trotzki, Der junge Lenin, S. 173 ff. 26 Über die Alakajewka-Episode und generell über die Besitz- und Einkommensverhält­ nisse der Uljanows vgl. Robert Service, Lenin. Eine Biographie, München 2000, S. 107–113; sowie Dmitri Wolkogonow, Lenin – Utopie und Terror», Düsseldorf u. a. 1994, S. 54 ff. – Wolkogonow war der einzige russische Historiker, der als Leiter des Präsidenten-Archivs des Kreml Einblick in jene unbekannten 3724  Dokumente be­ kam, die sich im Nachlass Lenins fanden, darunter auch Familien-Dokumente. 27 Orlando Figes, Tragödie eines Volkes, S. 156 f. 28 M. I. Uljanova-Elizarova Vospminanija ob Il’iče, in: Vospminanija ob Vladimire Il’iče Lenine, Bd. 1, Moskau 1989, S. 208; hier zit. nach Service, Lenin, S. 125 f. 29 Ebenda, S. 171 ff. – Figes hat diesen Aufbruch einer russischen Zivilgesellschaft mit zum Angelpunkt seiner gesamten Interpretation gemacht. 30 Als zentrale Quelle für Lenins Auftreten gegen die Tätigkeit der Hilfskomitees gelten die Erinnerungen des späteren Trudowik  W. W. Wodowosow: Moje Znakomstvo Leninym (Meine Bekanntschaft mit Lenin), in: Na Zhuszhoi Storone, Prag 1925, S. 178; ausführlich zit. bei David Shub, Lenin, Wiesbaden 1952, S. S. 32/33. 31 Trotzki, Der junge Lenin, S. 160, 180 f., 212. 32 Lenin, Über ‹linke› Kinderei und über Kleinbürgerlichkeit. In: LW Bd. 27, S. 333.

3. Marx in Russland 1 Lenin, Drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus (März 1913, zum 30. Todes­ tag von Karl Marx), in: LW 19, S. 3. 2 Vgl. Marx, Konspekt von Bakunins Buch «Staatlichkeit und Anarchie», 1874/75, im Manuskriptheft «Russica II, 1875», in dem sich Auszüge aus Arbeiten einer ganzen Reihe russischer Autoren finden. Hier zit. nach MEW 18, S. 599–642; Zitate pas­ sim. 3 So in einer Aufzeichnung Bakunins «Persönliche Beziehungen zu Marx» von Ende 1871, die ein Teil eines (nicht abgeschickten) Sendschreibens an die italienische ­Sektion der Allianz – als Reaktion auf den von Marx und Engels betriebenen Aus­ schluss der «Bakunisten» aus der Internationale – hätte sein sollen. Der Text wurde erst posthum veröffentlicht. In: Michael Bakunin, Gesammelte Werke, Bd. 3, Berlin 1975, S. 208 f.

Anmerkungen

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4 August Bebel, Antisemitismus und Sozialdemokratie, Berlin 1893. 5 Marx an Jenny Longuet, 11. April 1881, in: Ebenda, S. 179. 6 Marquis des Custine, La Russie en 1839 (3 Bände), Paris 1839–1842; (dt. Ausgabe Leipzig 1843. Gekürzte Fassung u. d. T.: Russische Schatten. Prophetische Briefe aus dem Jahre 1839, Nördlingen 1985. 7 Marx, Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte, in: MEW 7, S. 204 (Fußnote). 8 Boris Nicolaevsky, Russkie knigi v bibliotekach K. Marksa i F. Engel’sa (1929); hier zit. nach Ulrich Knaudt, Marx und Tschernyschewski – die revolutionäre Bewegung in Russland und die commune rurale, in: Debatte 5, S. 17. 9 Nachwort zur zweiten Auflage des «Kapital», Bd. 1 (1873), in: MEW 23, S. 21. 10 So in der Zusammenfassung von Knaudt, Marx und Tschernyschewski, S. 16. 11 Vgl. Franco Venturi, Roots of Revolution. A History of the Populist and Socialist Movements in Nineteenth Century Russia, N.Y 1960, S. 160. 12 David Rjazanov, Einführung zum Briefwechsel zwischen Vera Zasulič und Marx, in: Marx-Engels-Archiv, I. Band, Moskau 1926, S. 316–42. Zitat Rjasanow hier aus Rubel, Russische Kommune, S. 55. 13 Eigene Übersetzung nach dem französischen Original. 14 Marx, Brief an V. I. Sassulitsch, 8. März 1881, in: MEW 19, S. 242 f. 15 Vgl. die kondensierte Zusammenfassung der drei Brief-Entwürfe in Rubel, Russi­ sche Kommune, S. 56–68. 16 Marx, Brief an V. I. Sassulitsch. Erster Entwurf, in: Ebenda, S. 386. 17 Marx/Engels, Vorwort zur zweiten russischen Ausgabe des «Manifests der Kommu­ nistischen Partei», 1882, in: MEW 19, S. 296. 18 Engels an Gurwitsch, 27. Mai 1893, in: MEW 39, S. 75. 19 Hier zit. nach Stephen Kotkin, Stalin. Vol. I: Paradoxes of Power 1878–1928, N.Y. 2014, S. 66. 20 Nikolai-on, Ocherki naschego po-reformennogo obschestwennago chozjajstva, St. Petersburg 1893, S. 391. 21 Engels an Danielson, 14. Februar 1893, in: MEW 39, S. 58. 22 Plechanow, hier zit. nach Wolfe, Drei, die eine Revolution machten, S. 123. 23 G. V. Plechanov, Sočinenia (Werke), Bd. 2, Moskau 1923, S. 290; hier zit. nach Ko­ lakowski, Hauptströmungen des Marxismus, Bd. 2, S. 375. 24 Gespräch mit Woden, März 1893. Zuerst veröffentlicht in: Letopisi Marksisma, Moskau-Leningrad 1927, Bd. IV; in dt. Übersetzung in: Rubel (Hrsg.), Die russische Kommune, S. 181–190. 25 So Wladimir Bontsch-Brujewitsch, den Lenin schon in den 1890 er Jahren gut kannte, in seinen 1932 veröffentlichten Erinnerungen; hier zit. nach David Shub, Lenin, Wiesbaden 1952, S. 405. 26 Eine biographische Zusammenstellung der Gruppe der Elektro-Ingenieure, die den GOEELRO-Plan ins Werk setzten, bei Karl Schlögel, Jenseits des Großen Oktober. Das Laboratorium der Moderne. Petersburg 1909–1921, Berlin 1988, S. 294 ff. 27 Über den Zirkel am Petersburger Technologischen Institut und die Rolle von Stepan Radtschenko vgl. Billington, Fire in the Minds of Men, S. 452–461. 28 N. K. Krupskaja, Erinnerungen an Lenin, Wien-Berlin 1929, S. 7. 29 Iwan Babuschkin wurde in der Sowjetunion als früher Märtyrer des Bolschewismus verehrt; seine Erinnerungen erschienen in diversen Ausgaben und Fassungen. Hier zit. nach Wolfe, Drei, die eine Revolution machten, S. 139. 30 Lenin, Was sind die «Volksfreunde» und wie kämpfen sie gegen die Sozialdemokra­ ten? In: LW 1, S. 151. 31 Ebenda, S. 289 f.

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Anmerkungen

32 Lenin, Der ökonomische Inhalt der Volkstümlerrichtung und die Kritik an ihr in dem Buch des Herrn Struve (Die Widerspiegelung des Marxismus in der bürger­ lichen Literatur), in: LW 1, S. 414. 33 Das erstere Zitat findet sich im Ersten Band der Korrespondenz zwischen Plechanow und Axelrod, Moskau 1925, S. 269–275; hier zit. nach Shub, Lenin, S. 37; das zweite Zitat hat Karl Radek kolportiert, in einem Beitrag in dem Sammelband: ­Lenin. Leben und Werk, hrsg. von Nikolai Bucharin, Wien 1924, S. 44. 34 Die Russische Revolution und die sozialistische Internationale. Aus dem literari­ schen Nachlass von Paul Axelrod, Jena 1932; hier zit. nach Shub, Lenin, S. 37. 35 Dietrich Geyer, Lenin und der deutsche Sozialismus, in: Werner Markert (Hrsg.), Deutsch-russische Beziehungen von Bismarck bis zur Gegenwart, Stuttgart 1964, S. 83. 36 N. K. Krupskaja, O Lenine, div. Ausgaben; hier zit. aus G. D. Obichkin, Nadeshda Krupskaja, eine Biographie, Berlin (DDR) 1978, S. 29. 37 Vgl. Service, Lenin, S. 163 ff. 38 Wladimir Iljin (Pseud.), Die Entwicklung des Kapitalismus in Russland. Der Prozess der Bildung des inneren Marktes für die Großindustrie, St. Petersburg 1899; in: LW 3, S. 167–182. 39 Lenin, Ebenda, S. 621 f. 40 Ebenda, S. 150 – Für Lenin ging es vor allem darum zu beweisen, dass auch auf dem Land «die Warenwirtschaft schon völlig auf eigenen Füßen steht, sodass die … [von Danielson und anderen als Hindernis einer kapitalistischen Entwicklung hervorge­ hobene] Bedeutung der Abgaben in den Hintergrund tritt». Die Frage ist so kompli­ ziert, weil der russische Staat die Ablösezahlungen an die vormaligen Grundherren, die er seinerseits nach der Bauernbefreiung entschädigt hatte, von den Bauerngemein­ den in Form einer Grundsteuer auf das ihnen überlassene Land einzog.

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4. Das Korn und die Gerste Wolfe, Drei, die eine Revolution machten, S. 337. Kolakowski, Die Hauptströmungen des Marxismus. Zweiter Band, S. 583. Ebenda, S. 399. Maxim Gorki, Wladimir Iljitsch Lenin, in: Gorki, Literarische Porträts, Berlin-Wei­ mar 1979, S. 7. Vgl. Volker Roelcke, Krankheit und Kulturkritik. Psychiatrische Gesellschaftsdeu­ tungen im bürgerlichen Zeitalter (1790–1914), Frankfurt/M. 1999, S. 112 ff. Ankündigung der Redaktion der «Iskra», in: LW 4, S. 351 f. Lenin an J. O. Martow, 5. Februar 1903, in: LW 34, S. 130. Wolfe, Drei, die eine Revolution machten, S. 271 f.; in freier Paraphrase von Trotz­ kis Mein Leben. Versuch einer Autobiographie, Frankfurt/M. 1990 (Tb-Ausgabe, 3. Aufl., S. 79 f. So jedenfalls erzählte er es seinem Bewunderer Max Eastman, den man womöglich den ersten «Trotzkisten» nennen könnte. Vgl. Max Eastman, Trotsky. A Portrait of his Youth,  New York 1925, S. 117 f. Trotzki, Mein Leben, S. 67. – Das Zitat über Darwin aus Eastman, Ebenda, der es so von Trotzki gehört haben will. Vgl. Stephen Kotkin. Stalin: Vol. I: Paradoxes of Power 1878–1928, N. Y. 2014, Kap. I: An Imperial Son, 11–28; sowie Simon Sebag Montefiore, Der junge Stalin, Frankfurt/M. 2008, S. Kapitel 6–8, passim. Boris Ilisarov, Tainaja žisn Stalina. Po materialam ego biblioteki i archiva k istorio­ grafii stalinisma, Moskau 2003.

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Montefiore, Der junge Stalin, S. 266 ff. Ebenda, S. 126. Vgl. Ebenda, S. 33–49. Vgl. David Lane, The Roots of Russian Communism. A Social and Historical Study of Russian Social-Democracy 1898–1907, S. 12 f. – Lane beruft sich dabei auf die Untersuchungen und Schätzungen von S. G. Strumilin und E. Smitten von 1927 zum Kaderbestand der Partei. Montefiore, Der junge Stalin, S. 299. Lenin, Schlusswort zum Politischen Bericht des ZK, XI. Parteitag der KPR(B), 28. März 1922, in: LW 33, S. 296 f. Referat der theoretischen Auseinandersetzungen in den Abschnitten über Plechanow und Lenin bei Kolakowski, Zweiter Band, S. 384 f., 390 f., 410 f. Lenin, Wie der ‹Funke› beinahe erloschen wäre, in: LW 4, S. 328–346. Die Neue Zeit, 1. Jg. 1883, S. 1 (Online in der Digitalen Bibliothek der Fried­ rich-Ebert-Stiftung). Lenin, Was tun?, Brennende Fragen unserer Bewegung, in: LW 5, S. 335–531; Zitat S. 365 f. Lenin, Womit beginnen?, in: LW 5, S. 7 f. Lenin, Was tun?, S. 468. Ebenda, S. 158, 252, 302. Ebenda, S. 383. Ebenda, S. 483. Nach Wolfe, Drei, die eine Revolution machten, S. 312 ff. Leo Trotzki: Naši političeskie zadači (Unsere politischen Aufgaben), Genf 1904, S. 54. In: Trotzki, Schriften zur revolutionären Organisation, Reinbek 1970, S.7– 134. Nach Wolfe, Drei, die eine Revolution machten, S. 312 f. Ebenda, S. 313. Lenin, Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück, in: LW 7, S. 197–430, Zitat S. 418. Alle Zitate nach Wolfe, S. 399 ff.; die in der «Neuen Iskra» veröffentlichte Kritik Luxemburgs fand sich in Übersetzung in dem SPD-Theorieorgan Neue Zeit, Jahr­ gang XXII, 2. Band, S. 484 ff. So Lidia Dan in ihren Erinnerungen. In: Leopold Haimson, The Making of Three Russian Revolutionaries. Voices from the Menshewik Past, Cambridge 1987, S. 170 f. Vgl. Trotzki, Mein Leben, S. 107. Vgl. Engels, Anti-Dühring, MEW 20, S. 126 f. Lenin, Ein Schritt vorwärts, S. 416. Ebenda, S. 379. Ebenda, S. 395 f.

Teil IX: Vom Weltkrieg zur Weltrevolution 1. Wetterleuchten – Das Jahr 1905 1 Das Tagebuch des letzten Zaren: von 1890 bis zu seinem Fall, hrsg. von Sergej Mel­ gunow, Berlin 1923 S. 237. 2 So Orlando Figes, Tragödie eines Volkes, S. 187. 3 Peticija rabočich Sankt-Peterburga dla podači carju Nikolaju  II, in: Krasnaja leto­ pis 
No. 2, 1925 g. (https://ru.wikisource.org; in engl. Übersetzung (The St. Pe­

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Anmerkungen

tersburg workmen’s peti-tion to the Tsar, January  22, 1905 unter https://en.wi­ kisource.org/wiki/The_St._Petersburg_workmen%27s_petition_to_the_Tsar,_Janu­ ary_22,_1905 – Eigene Übersetzung aus dem Russischen und Englischen. Father George Gapon, The Story of my Life, N. Y. 1906. Scott M. Kenworthy, An Orthodox Social Gospel in Late-Imperial Russia, in: Reli­ gion and Society in Central and Eastern Europe, Vol. I, May 2006, S. 1–29. Boris Savinkov u. d. Pseudonym «Roptschin», Kon bledni (1909) (dt. Das fahle Pferd. Roman eines Terroristen, übersetzt von Alexander Nitzberg, mit einem Dossier: Alexander Nitzberg, Boris Sawinkow: die Fleisch gewordene Vision Dos­ tojewskis, S. 235–269; und Jörg Baberowski: Das Handwerk des Tötens. Boris Sa­ winkow und der russische Terrorismus, S. 205–232, Berlin 2015) – Sawinkow war selbst ­einer der legendären Führer der sozialrevolutionären Kampforganisation und Organisatoren der Attentate gewesen, bevor er ins westliche Exil ging, in dem er als scheinbar authentischer Interpret des legendären russischen Terrorismus ei­ nen kurzen schriftstellerischen Ruhm genoss. Neben dem Ich-Erzähler, unverkenn­ bar dem Autor selbst, war der Hauptheld der Novelle Iwan Kaljajew, der Mörder des Großfürsten Sergej Alexandrowitsch, der sich vor Gericht wie in einem Brief an seine Mutter als jemand verteidigt hatte, der dem Pfad Jesu Christi folgend das Kreuz auf sich genommen habe und deshalb seine Tat mit seinem Tod beglaubigen wolle. Albert Camus hat noch Jahrzehnte später in seinem Theaterstück «Die Ge­ rechten» über Psychologie und Philosophie der russischen Terroristen am Beispiel Kaljajews sinniert und sich dabei an Boris Sawinkows Schilderungen orientiert. – Als ein zum Realpolitiker und Patrioten mutierter Kommissar der Provisorischen Regierung unter Kerenski kämpfte Boris Sawinkow im Sommer 1917 gegen die Deutschen und 1918/19 gegen die Bolschewiki, die ihn 1924 aus seinem polni­ schen Exil in die Falle lockten und in der Lubjanka, dem Hauptquartier der neuen Geheimpolizei GPU, verhörten. Hier stürzte er Monate später aus dem Fenster; ob durch Mord oder Selbstmord, war letztlich gleich. Vgl. Boris Sawinkow, Erinne­ rungen eines Terroristen. Mit einem Vor- und Nachbericht von H. M. Enzensber­ ger, Nördlingen 1985. Hier zit. nach Dietrich Geyer, Die Bomben der Märtyrer. Wie der Kampf gegen den Terror das zaristische Russland vor hundert Jahren dem Untergang entgegentrieb, in: Die Zeit, Nr. 38, 2004. Ebenda. Anna Geifman, Thou Shalt Kill. Revolutionary Terrorism in Russia, 1894–1917, Princeton 1993, S. 249. Vgl. Figes, Tragödie eines Volkes, S. 195 – Für die Zahlen der Sozialdemokraten vgl. Lane, Roots of Russian Communism, S. S. 12 ff. Die Mitgliederzahlen der beiden Fraktionen der Sozialdemokratie werden für Ende 1905 auf jeweils knapp 10 000 geschätzt, zusammen 20 000. Die Partei der Sozialrevolutionäre wird für dieselbe Zeit auf 50 000 Mitglieder geschätzt. Im Laufe des Reaktionsjahres 1906 schwoll die Mitgliedschaft der sozialistischen Fraktionen und Parteien allerdings stark an, jedenfalls nach ihren eigenen Angaben. So wurde für Dezember 1906 die Mitglied­ schaft der informell kooperierenden Fraktionen der Sozialdemokratie mit über 80 000 angegeben, die bis 1907 sogar auf 150 000 angewachsen sein soll. (Figes, Tragödie eines Volkes, S. 195). Rosa Luxemburg, Die Revolution in Russland; Artikelserie in der «Neuen Zeit», mit der sie die Ereignisse des Jahres 1905 fortlaufend begleitete. Hier zit. nach Klaus Mayer: Die russische Revolution 1905 im deutschen Urteil, S. 269 f. Vgl. auch Hel­ mut Hirsch: Vom Zarenhass zur Revolutionshoffnung. Das Russlandbild deutscher

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Sozialisten. In: Mechthild Keller (Hrsg.): Russen und Russland aus deutscher Sicht – Von der Bismarckzeit bis zum Ersten Weltkrieg (= West-Östliche Spiegelungen, hrsg. von Lew Kopelew, Reihe A, Bd. IV), S. 265 ff. Diese Zahl erwähnt unter Hinweis auf amtliche Quellen (ohne Nachweis) Wolfe, Drei, die eine Revolution machten, S. 432  – Sie erscheint glaubwürdig. Bis zum 17. Oktober, dem Generalstreik, waren schon etwa 1,5 Millionen Arbeiter im Streik gewesen. Vgl. Manfred Hildermeier, Die Russische Revolution 1905–1921, Frank­ furt/M. 1989, S. 72. In den anschließenden Streiks und Kämpfen bis Februar 1906 müssen es nach verschiedenen Angaben fast noch einmal so viele gewesen sein. Die Zahl der Arbeiter in Großbetrieben, Bergbau und Eisenbahnen betrug 1913, nach ei­ nem neuen Schub der Industrialisierung, 3,1–3,9 Mio. Vgl. Dietmar Neutatz, Träume und Alpträume. Eine Geschichte Russlands im 20. Jahrhundert, München 2013, S. 83. Vgl. Figes, Tragödie eines Volkes, S. 202 f. Hildermeier, Russische Revolution 1905–1917, S. 58, 65 f. Alexander Solschenizyn, Zweihundert Jahre zusammen. Die russisch-jüdische Ge­ schichte 1795–1916, München 2002  – Solschenizyn hat anhand einer Fülle von Quellen u. a. den Umfang und die Militanz der jüdischen Selbstverteidigungs-Abtei­ lungen, die sich nach den Pogromen der 1890 er Jahre gebildet hatten, sowie die ­fließenden Übergänge und die hervorgehobene Rolle jüdischer Revolutionäre in den revolutionären und terroristischen Gruppen vor und nach 1905 beschrieben. Sein forciertes Bemühen, ein «gerechtes» historisches Urteil, auch über das Zarenregime, zu fällen und das vorrevolutionäre Russland vom Vorwurf eines notorischen, staat­ lich geschürten Antisemitismus zu entlasten, sowie sein durchgängiger Impuls, die Geschichte seines Landes, vor allem aber die des Staatsvolks der Russen, einerseits als eine tragische Verstrickung und eine «Sünde» (vor allem auch gegen den eigenen Geist), andererseits aber auch als eine Geschichte des Selbstverlusts durch die Inva­ sion fremder, westlicher, «kosmopolitischer» Werte und Ideen, vom Marxismus bis zum Liberalismus, zu interpretieren – das alles bringt ihn in dieser heiklen Frage auf eine schiefe Bahn. So bilden die beiden nach seiner Rückkehr nach Russland verfass­ ten Bände über Russen und Juden («Zweihundert Jahre zusammen») den eher trau­ rigen Abschluss eines Lebenswerks, das gleichwohl Epoche gemacht hat. Hier zit. nach Wolfe, Drei, die eine Revolution machten, S. 423. Hier zit. nach Figes, Tragödie eines Volkes, S. 214. Vgl. Neutatz, Geschichte Russlands, S. 21 ff. Lenin, Der Fall von Port Arthur, Wperjod, 14. Januar 1905, in: LW 8, S. 35, 41. Wolfe, Drei, die eine Revolution machten, S. 424. Ebenda, S. 425 ff. Vgl. Cathy Porter, Introduction. In: David King and Cathy Porter, Images of Revo­ lution. Graphic Art from 1905 Russia, N.Y. 1983, S. 36–44. Wolfe, Drei, die eine Revolution machten, S. 427. Alle Angaben nach Hildermeier, Russische Revolution 1905–1917, S. 86 ff. Großfürst Alexander Michailowitsch Romanow, Einst war ich Großfürst, Leipzig 1932. Zusammen mit anderen, ähnlichen Berichten in: Douglas Smith, Der letzte Tanz. Der Untergang der russischen Aristokratie, Frankfurt/M. 2014, S. 87. Diese und die folgenden Angaben nach: Manfred Hildermeier, Russische Revolution 1905–1917, S. 89 f. Angaben über die Beute aus den verschiedenen «Expropriationen» nach zeitgenös­ sischen Quellen bei Geifman, Thou shalt kill, S. 21 f. Vgl. Montefiore, Der junge Stalin, S. 273–277. Über Asew gibt es eine reichhaltige Literatur, angefangen mit Boris Nikolajewski,

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Anmerkungen

Asew. Die Geschichte eines Verrats, Berlin 1932. Neuere Arbeiten sind: Anna Geif­ man: Entangled in Terror. The Azef Affair and the Russian Revolution, Wilmington 1999; zum Terrorismus dieser Jahre insgesamt auch: Benjamin Schenk / Anke Hill­ brenner: Modern Times? Terrorism in the late Imperial Russia. In: Jahrbücher für die Geschichte Osteuropas, Jg. 58, H. 2, 2011. 30 Geifman, Thou Shalt Kill, S. 20 ff.

2. Sturmvögel 1 Lenin an Gorki, Ende Januar 1913. In: LW 35, S. 54 – Statt «Freund Nikolai» wie in der offiziellen Lenin-Werksfassung habe ich hier die derbere Originalformulierung «Nikolaschka» eingesetzt, vgl. Lenin, Briefe an Gorki, 1908–1913, Wien 1924, S. 71. 2 Alle Angaben nach David Lane, The Roots of Russian Communism, S. 12 ff.; 21–34; 40 f.; 48–51. Auf dem Stockholmer Parteitag im April 1906 vertraten die 112 Dele­ gierten den eigenen Angaben zufolge: 13 000  Bolschewiki, 18 000  Menschewiki, 33 000 Bundisten, 26 000 Mitglieder der Polnisch-Litauischen und 14 000 der Let­ tischen Sozialdemokratie, was eine Gesamtzahl von mehr als 100 000 Mitgliedern ergibt. Ein Jahr später im April 1907 in London sollen die 338 Delegierten dann ca. 46 000 Bolschewiki, 38 000 Menschewiki, 25 000 Bundisten, 25 000 Polnisch-­ Litauische und 13 000 Lettische Sozialdemokraten vertreten haben, insgesamt knapp 150 000 Personen. Ein regionaler Überblick vom Dezember 1906 für die gut 80 000 Mitglieder der Russischen Partei (Bolschewiki und Menschewiki) alleine ergibt, dass etwa die Hälfte von ihnen aus dem Süden des Russischen Reiches stammten, aus Südruss­ land/Ukraine (25 000) und dem Kaukasus (16 000), während ein weiteres Viertel aus Moskau (7000) und Zentralrussland (13 000) kam. Die Hauptstadt Petersburg (6000) sowie Nordwest-Russland (3000), die Wolga (3000) und der Ural (6000) brachten jeweils ein knappes Achtel der Mitgliedschaft auf die Waage. Sibirien und Turkestan waren mit je 1000 Mitgliedern Diaspora. Interessant ist schließlich die soziologische Zusammensetzung des Kaderstamms, die sich aus einer Durchsicht der biografischen Angaben für knapp 1000 Mitglieder der SDAPR (Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands) zwischen 1898 und 1907 ergibt: Demnach stammten nach den Kategorien der russischen Ständeord­ nung ca. ein Fünftel aus dem «Adel» (22 % Bolschewiken, 19 % Menschewiken), bei weniger als 2 % in der Gesamtbevölkerung; dazu kamen einzelne Abkömmlinge des «Klerus». 55 % der Menschewiki und knapp 40 % der Bolschewiki waren «Stadtbürger», was sich wiederum von den ca. 11 % in der Gesamtbevölkerung ­abhebt. 38 % der Bolschewiki und 26 % der Menschewiki waren aus dem «Bau­ ern»-Stand, der über 80 % der Gesamtbevölkerung stellte. Last not least: Die führenden Bolschewiki stammten zum überwiegenden Teil aus der Nationalität der «Großrussen», während unter den Menschewiki der hohe An­ teil von Georgiern, Juden und anderen Nichtrussen herausstach. Dazu passte die re­ gionale Herkunft: Die Bolschewiki stammten zu einem überproportionalen Anteil aus den zentralrussischen Gebieten, die Menschewiki aus dem Westen und dem Sü­ den. Lenin selbst war so frei, die ­Zusammensetzung des Herausgeberkreises der «Is­ kra» 1903/04 wie folgt einzuteilen: «Harte» (Bolschewiki): 6 Russen + 3 Nichtrus­ sen; «Weiche» (Menschewiki): 1 Russe + 6 Nichtrussen. Die neun «Nichtrussen» waren bis auf zwei menschewistische Georgier alle Juden. Lenin selbst zählte sich unter die neun «Russen». Einer von Stalin absichtsvoll kolportierten Anekdote zu­ folge soll sein damaliger Frak­tionsgenosse Alexinski während des Londoner Partei­

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tags 1907, natürlich «im Scherz», gesagt haben, «die Menschewiki seien eine jüdi­ sche, die Bolschewiki aber eine echt russische Fraktion, und es wäre nicht schlecht, wenn wir Bolschewiki in der Partei einen Pogrom veranstalten würden.» (Stalin, Der Londoner Parteitag der SDAPR, in: Stalin Werke, Bd. 2, Berlin 1952, S. 46). Vgl. Robert Service, The Bolshevik Party in Revolution. A Study in Organisational Change, London 1979, S. 30. Vgl. Karl Schlögel, Russische Wegzeichen. Einleitung zu: Vechi. Wegzeichen. Zur Krise der russischen Intelligenz, Frankfurt/M. 1990, S. 8 ff. Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften. Roman, Erstes Buch, Reinbek 1987, S. 55. Vgl. Gerd Koenen, Der Russland-Komplex. Die Deutschen und der Osten 1900– 1945, München 2005. Maxim Gorki, Der Mensch (1904), hier zit. nach Hans Günther, Der sozialistische Übermensch. Maksim Gor’kij und der sowjetische Heldenmythos, Stuttgart-­Weimar 1993, S. 40 f. Ders., Nachtasyl. In: Gorki, Dramen, München 1976, S. 185  – Das Originalzitat lautet in seinem unbeholfenen Pathos: «Alles ist im Menschen, alles ist für den Men­ schen! Es besteht nur der Mensch; alles übrige ist das Werk seiner Hände und seines Gehirns! Der Mensch! Das ist groß! Das klingt … stolz! Der Mensch!». Gorki, Das Lied vom Sturmvogel (1901), zahlreiche Ausgaben. Günther, Der sozialistische Übermensch, Teil  I: Der frühe Gor’kij als nietzschea­ nisch-marxistischer Mythenschöpfer, S. 14–103. Maxim Gorki, Eine Beichte, dt. Berlin 1909; nach langem Ausschluss aus dem Werk-Kanon Gorkis wiederveröffentlicht in: Gesammelte Werke in Einzelbänden. Aufbau-Verlag, Berlin (DDR) 1971. Bd. 6, S. 241–448. Vgl. Ebenda, S. 85–89; sowie Kolakowski, Hauptströmungen des Marxismus  2, S. 498 ff. Stefan Plaggenborg, Maja Soboleva (Hrsg.), Bogdanov. Theoretiker für das 20. Jahr­ hundert, München 2008. Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus. Kritische Bemerkungen über eine ­reaktionäre Philosophie, in: LW 14, S. 1–363. Vgl. etwa Helmut Veil, Großinquisitor der Physik. Lenins Metaphysik von Zeit und Raum – und die dramatischen Folgen. In: Kommune. Zeitschrift für Politik, Ökono­ mie und Kultur, H. 2 / 2010, S. 75–86. So Michio Kaku, Physik der unsichtbaren Dimensionen, S. 86 ff. Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus, S. 316. Ebenda, S. 347. So Stefan Plaggenborg, Experiment Moderne. Der sowjetische Weg, Frankfurt/M.N. Y. 2006, S. 48 f., 67. Udo Leuscher, «Sozialistischer Realismus». Der Übergang von der Utopie zum fal­ schen Bewusstsein in der Kunst des jungen Sowjetrussland, in: Ders., Entfremdung, Neurose, Ideologie, Köln 1990, S. 350. Das Zitat und die Szene sind sattsam be­ kannt: Wie Lenin eines Abends während eines Hauskonzerts mit Beethovens «Apas­ sionata» in der Wohnung der Peschkowa, Gorkis früherer Ehefrau, dem Schriftstel­ ler gesagt haben soll: Dies sei eine «erstaunliche, nicht mehr menschliche Musik», die zeige, welche Wunder «der Mensch» (natürlich Gorkis Mensch in Großbuchsta­ ben) vollbringen könne. Aber er (Lenin) könne eine solche Musik nicht oft hören, dann «sie greift die Nerven an, man möchte liebevolle Dummheiten sagen und den Menschen die Köpfe streicheln». Aber das sei heutzutage unmöglich – «die Hand wird einem abgebissen, man muss auf die Köpfe einschlagen, mitleidlos einschlagen,

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Anmerkungen

obwohl wir, unserem Ideal nach, gegen jede Gewaltanwendung … sind». (Maxim Gorki, Wladimir Iljitsch Lenin, in: Ders., Literarische Porträts, Berlin-Weimar 1979, S. 48) Bei aller Vorsicht gegen diese «Erinnerungen» Gorkis, die dem klaren Zweck einer posthumen hagiographischen Verklärung dienten, ist die Passage einiger­ maßen dekuvrierend. Das «Opfer», das Lenin seiner Funktion als Revolutionsführer demnach bewusst bringt, ist nicht nur eines des freien Intellekts, sondern auch der menschlichen Gefühle, die er in sich unterdrückt  – indem er dem aufweichenden Einfluss der Musik auf seine «Nerven» widersteht; ein sinnliches Bedürfnis, dem er sich als musisch begabtes Kind und als verliebter Gymnasiast (nach dem Zeugnis seines Bruders Dmitri) in Simbirsk einst mit Klavier und Gesang oft und schwelge­ risch hingegeben hatte. (Die Erinnerungen von Lenins Bruder Dmitri Uljanow in: Detskie gody Vladimira Il’iča, in: Vospominanija o Vladimire Il’iče, Moskau 1989– 92, Bd. I.). Nach dem Bericht Zetkins, in: W. I. Lenin, Über Kunst und Literatur, Frankfurt/M. (Berlin (DDR)-Moskau) 1977, S. 300. Text der Resolution in: Lenin, Über Kunst und Literatur, S. 255 ff. Lenin, Staat und Revolution, in: LW 25, S. 471 f. Vgl. Boris Groys, Unsterbliche Körper; sowie Michael Hagemeister, ‹Unser Körper muss unser Werk sein›. Beherrschung der Natur und Überwindung des Todes in rus­ sischen Projekten des frühen 20. Jahrhunderts. Einführungen zu der von Groys/ Hagemeister herausgegebenen Textsammlung: Die Neue Menschheit. Biopolitische Utopien in Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Frankfurt/M. 2005 – Die Rede Krassins beim Begräbnis eines «roten Helden» 1921, zit. (u. a.) in: Hagemeister, Ebenda, S. 34. Mark Aldanow, Sowremenniki, Paris 1928, S. 244  – In der deutschen Ausgabe u. d. T. «Zeitgenossen», Berlin 1929 fehlt diese Passage. Hier zit. nach Michail Hel­ ler, Geschichte der Sowjetunion, Band 1: 1914–1939, Frankfurt/M. 1985, S. 14. Hermann Weber, Lenin in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek 1970, S. 73. Diese immer wieder genannte Zahl kann natürlich nur eine Schätzung sein. Sie ist in Relation zu den insgesamt 7 Millionen Goldrubeln zu setzen, die in diesen Jahren durch «Expropriationen» wie durch gewöhnliche kriminelle Raubüberfälle erbeutet sein sollen, vgl. Geifman, Thou shalt kill, S. 21 f. Vgl. Dietrich Geyer, Kautskys Russisches Dossier. Deutsche Sozialdemokraten als Treuhänder des russischen Parteivermögens 1910–1915, Frankfurt/M. 1981, S. 241 ff. Vgl. Samuel H. Baron, Plekhanov. The Father of Russian Marxism, Stanford 1963, Kap. 15: From Politics to Scholarship, S. 279–316. Vgl. Wittfogel, Orientalische Despotie, S. 487 ff. Trotzkis gesammelte Korrespondenzen erschienen erstmals 1926 unter dem Titel «Der Balkan und die Balkankriege» als Bd. VI seiner Gesammelten Werke in einem sowjetischen Staatsverlag. In dt. Übersetzung neu herausgegeben u. d. T. Leo Trotzki, Die Balkankriege 1912–13, Essen 1996. Artikel (unter Pseudonym) in der «Proletarskaja Prawda» Nr. 6: «Eine gute Resolu­ tion und eine schlechte Rede», in: LW 29, S. 524 ff. Vollständiger Text in: V. I. Lenin, Neizvestnye dokumenty 1891–1922, Moskau 1999, S. 161–179. Hier zit. nach Geyer, Kautskys Russisches Dossier, S. 239. P. I. Ljaschenko, Istoria narodnogo chosjaistva SSSR, Vol. 2, Moskau 19564, Kapi­ tel 13; hier zit. nach Service, The Bolshevik Party, S. 31 f.

Anmerkungen

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36 Lenin an Inessa Armand, vor dem 15. Juli 1914, in: LW 35, S. 121 f. 37 Ders. an Inessa Armand, 12./25. Juli 1914. In: Ebenda, S. 158 f.

3. Menschheitsdämmerung – August 1914 1 Lenin, Der Krieg und die russische Sozialdemokratie, in: LW 21, S. 20. 2 Georges Sorel, Réflexions sur la violence, Paris 1908 – Vgl. auch Klaus von Beyme, Politische Theorien im Zeitalter der Ideologien 1789–1945, Wiesbaden 2002, S. 679–685. 3 Henri Bergson, The Two Sources of Morality and Religion, N.Y. 1954, S. 227. 4 Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur, in: Sigmund Freud: Studienausgabe, Bd. IX. Fragen der Gesellschaft, Ursprünge der Religion. Hrsg. v. Alexander Mit­ scherlich, Angela Richard, James Strachey, Frankfurt/M. 1997, S. 191–270. 5 Stefan Zweig, Die Welt von gestern. Erinnerungen eines Europäers, Frankfurt/M. 1994, S. 260 f. 6 Leo Trotzki, Mein Leben, Berlin 1930, S. 223 f. 7 Lenin, Bemerkungen zu den Aufgaben unserer Delegation im Haag, 4.12.1922, in: LW 33, S. 433 f. 8 Lenin, Die Ergebnisse der Diskussion über die Selbstbestimmung, LW 22, S. 363 f. 9 (Lenin) Referat über das Thema «Das Proletariat und der Krieg», 14.(1.) Oktober 1914. Zeitungsbericht (aus «Golos» Nr. 37 und 38). In: LW 21, S. 276–282; Zitate S. 281 f. 10 Lenin an A. G. Schljapnikow, 14.XI. 1914, in: LW 35, S. 287 ff. 11 Lenin an Denselben, 17.X.1914, in: Ebenda, S. 135. 12 Lenin, Der Krieg und die russische Sozialdemokratie, 28. Sept. /11. Oktober 1914, in: LW 11, S. 19. 13 Angelica Balabanoff, Lenin. Psychologische Beobachtungen und Betrachtungen, Hannover 1959, S. 33, 36 ff. 14 Hier zit. nach Werner Markert, Die deutsch-russischen Beziehungen. Von Bismarck bis zur Gegenwart, Stuttgart 1964, S. 70. 15 So der «Vorwärts» vom 25. August 1914; hier zit. nach: Erich Matthias, Die deutsche Sozialdemokratie und der Osten 1914–1945. Eine Übersicht, Tübingen 1954, S. 6. 16 Philipp Scheidemann, Memoiren eines Sozialdemokraten, Bd. I, Dresden 1928, S. 369; hier zit. nach: Ebenda, S. 7. 17 «Vorwärts», Ende August 1914, hier zit. nach: Ebenda. 18 Fritz Fischer, Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/1918, Düsseldorf 1967, S. 157 f. 19 Zit. nach Jost Dülffer: Kriegserwartung und Kriegsbild in Deutschland vor 1914. In: Wolfgang Michalka, Der Erste Weltkrieg. Wirkung, Wahrnehmung, Analyse, Mün­ chen 1994, S. 779. 20 Hier zit. nach Hans-Dietrich Erdmann: Kurt Riezler  – ein politisches Profil (1882–1955). In: Kurt Riezler. Tagebücher, Aufsätze, Dokumente, Göttingen 1972, S. 37. 21 Ebenda, S. 82. 22 Vgl. die Einträge vom 23.12. und 31.12.1914, S. 235, 237. Riezler schlägt vor, «Grossfürst Nikolai, die Seele des Widerstandes», zu ermorden, mit der Hoffnung, dass Russland «moralisch zusammenbricht». 23 Ebenda, S. 243 – Orthographie wie im Original. 24 Egmont Zechlin, Die Deutsche Politik und die Juden im Ersten Weltkrieg, Göttingen 1969. 25 Für Helphand noch immer maßgeblich die Biografie von Winfried Scharlau/Zby­

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Anmerkungen

nek B. Zeman: Freibeuter der Revolution. Parvus-Helphand. Eine politische Biogra­ phie, Köln 1964  – Vgl. auch Boris Chavkin, Alexander Helphand, Finanzier der Weltrevolution, in: Zeitschrift für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte, 11 (2007), H.  2. (http://www.ku.de/forschung/forschung-an-der- ku/forschungseinr/ forschungseinrzimos/publikationen/forum/zeitgeschichte/zeitgeschichte/). Über Alex­ ander Kesküla und seine Pläne: Michael Futrell, Northern ­Underground. Episodes of Russian Revolutionary Transport and Communication through Scandinavia and Finland 1863–1917, London 1963, insbes. Kapitel  6: The Ingenious Estonian, S. 119–151. Sebastian Haffner, Der Teufelspakt. Fünfzig Jahre deutsch-russische Beziehungen, Reinbek b. Hamburg 1967 – Als jüngstes Exempel einer weitgehenden Verkennung der Tragweite dieser deutsch-bolschewistischen Kollusionen vgl. Catherine Merri­ dale, Lenins Zug. Eine Reise in die Revolution, Frankfurt/M. 2017. Davon handelt insgesamt mein Buch: Der Russland-Komplex. Die Deutschen und der Osten 1900–1945, München 2005. Vgl. Service, Lenin, S. 311 f. Der vollständige Text des Gründungsdokuments der «Handels- og Exportkopaniet, Aktielskab» in Gerhard Schiesser/Jochen Trauptmann, Russisch Roulette. Das deut­ sche Geld und die Oktoberrevolution, Berlin 1998, S. 74–77; dort auch eine Vielzahl weiterer Informationen und Verweise über die materiellen und geschäftlichen Ver­ bindungen. – Hanecki war derjenige, der Lenin im April 1917 an der Fähre in Trel­ leborg abholte und seine weitere Durchreise nach Russland organisiert hatte. Er ar­ beitete mit Parvus und anderen mehr oder weniger offen Hand in Hand. Über seine weitere Rolle als Mitglied des Stockholmer «Auslandsbüros» siehe seine weiteren Erwähnungen in diesem Buch. – Eine Durchsicht der Archivalien in freigewordenen sowjetischen Archiven in: A. G. Latyšev, Rassekrečenny Lenin, Moskau 1996, Kap. 7: «Nemeckoje zoloto» dla Lenina, S. 90–114. Zu diesem gesamten Komplex vgl. Futrell, Northern Underground, S. 145. Vgl. zu diesem Komplex eine detaillierte Zusammenstellung aller bekannten Daten in: Gerd Koenen, Rom oder Moskau? Deutschland, der Westen und die Revolutio­ nierung Russlands 1917–1924 (Diss. Tübingen, 2002), S. 221–240 (http://publikatio­ nen.uni-tuebingen.de) Vgl. Scharlau/Zeman, Freibeuter der Revolution, S. 180 ff., 207 ff. usw. Brockdorff-Rantzau an Bethmann Hollweg, 6. Dezember 1915. In: PA-AA, Deutsch­ land Nr. 131, Bd. 18, Bl. 97–100. Die Aufstellung vom 30.1.1918 findet sich in AA, WK 11, geh., Bd. 5; hier zit. nach Fischer, Griff nach der Weltmacht, S. 130. Lenin an Schljapnikow (14. November 1914, in: LW 35, S. 138. Lenin, Über den Nationalstolz der Großrussen (Dezember 1914), in: LW 21, S. 92 ff. Lenin, Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus. Allgemeinver­ ständlicher Abriss, in: LW 22, S. 191–309. Lenin: Über den Separatfrieden, in LW 23, S. 123–131; hier insbesondere S. 124 f. Ebd., S. 131.

4. Auferstehung – März 1917 1 Empress Alexandra Feodorovna, Letters of the Tsaritsa to the Tsar, 1914–1916, ed. Sir Bernard Pares, London 1923, hier zit. nach W. Bruce Lincoln, Passage th­ rough Armageddon. The Russians in War & Revolution, 1914–1918, N. Y. 1986, S. 28 f.

Anmerkungen

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2 Hier zit. nach Figes, Tragödie eines Volkes, S. 368. 3 Wassili Schulgin, Tage  … Memoiren aus der russischen Revolution (1905–1917), Berlin-Königsberg 1928, S. 92. 4 Hier zit. nach Figes, Tragödie eines Volkes, S. 269 f. 5 Sergej Witte, Erinnerungen. Mit einer Einleitung von Prof. Otto Hoetzsch, Berlin 1923; hier zit. nach Neutatz, Träume u. Alpträume, S. 131. 6 Pjotr Durnovo, Denkschrift vom Februar 1914, hier zit. nach Figes, Tragödie eines Volkes, S. 272. 7 Sergej Sasonow, Sechs schwere Jahre, Berlin 1927. 8 Dietrich Beyrau / Pavel Shcherbinin, Alles für die Front: Russland im Krieg 1914– 1922, in: Arnd Bauernkämper / Élise Julien (Hrsg.), Durchhalten! Krieg und Gesell­ schaft im Vergleich 1914–1918, Göttingen 2010; hier nach Jörn Leonhard, Die Büchse der Pandora. Die Geschichte des Ersten Weltkriegs, München 2014, S. 396 f. 9 A. Brussilow, Meine Erinnerungen, Berlin (DDR) 1988, S. 81 ff. 10 Angaben nach Neutatz, Träume und Alpträume, S. 140. 11 So in einem Flugblatt, mit dem er die Gründung seiner neuen Exil-Zeitschrift «Prizyv» (Aufruf, Weckruf), September 1915 ankündigte. Hier zit. nach Baron, Plechanow, S. 329. 12 Lincoln, Passage through Armageddon, S. 133 ff., S. 215–260; Figes, Trägödie eines Volkes, insbes. S. 275–292; Dietrich Beyrau: Petrograd 1917. Die russische Revolu­ tion und der Aufstieg 
des Kommunismus, München 2001, S. 39–43. 13 Lincoln, Passage through Armageddon, S. 259 f. 14 Hier zit. nach Kotkin, Stalin, S. 159. 15 Orlando Figes / Boris Kolonitskii, Interpreting the Russian Revolution. The Lan­ guages and Symbols of 1917, New Haven-London 1999, S. 19 ff. 16 Ebenda, S. 26. 17 Sir George Buchanan, My Mission to Russia, Vol. II, N.Y. 1970, S. 46. 18 Maurice Paléologue, Am Zarenhof während des Weltkrieges. Tagebücher und Be­ trachtungen, Bd. II, München 1927, S. 201 f. 19 Lenin, Ein Vortrag über die Revolution von 1905 (9. Januar 1917), in: LW  23, S. 244, 261 f. 20 Krupskaja, Erinnerungen an Lenin, Bd. 2, Moskau-Leningrad 1933, S. 184. 21 Karpinski, V. A., Vladimir Il’ič za granitsei v 1914–1917 gg, in: Zapiski instituta ­Lenina, 3 tom., Moskau 1926; hier zit. nach Kotkin, Stalin, S. 174. 22 Sergej Mstislawski, Pjat’ dnej. Načalo i konec fevralskoi revoljucii, Berlin 1922; hier zit. nach Figes, Tragedy of a People, S. 349. 23 Nikolaj Nikolajewitsch Suchanow, 1917. Tagebuch der Russischen Revolution. Ausgewählt, übertragen und herausgegeben von Nikolaus Ehlert. Vorwort von Iring Fetscher, München 1967, S. 18. 24 L. M. Spirin, Klasy i partii v grashdanskoj voine v Rossii, Moskau 1968, S. 36; hier zit. nach Heller, Geschichte der Sowjetunion, I, S. 16. 25 So Iring Fetscher, Vorwort zu Suchanow, Tagebuch, S. 9. – Tatsächlich handelte es sich um kein «Tagebuch». Vielmehr hatte Suchanow seine «Aufzeichnungen über die Revolution» (Zapiski o revoljucii) in mehreren Schüben zwischen Juli 1918 und August 1921 zu Papier gebracht und 1922 in zwei Bänden drucken lassen. Sie waren trotz der harschen, wenngleich bewundernden Kritiken Suchanows an Lenin und seiner Politik in den 1920 er Jahren in der Sowjetunion eine gängige Lektüre, nach­ dem Lenin selbst sich in einem seiner letzten Artikel mit Suchanows Darstellung (als dem Musterfall einer kleinbürgerlich-demokratischen Haltung zur Revolution) be­ schäftigt hatte. Ende der 1920 er Jahre wurden die gedruckten Exemplare aber aus

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Anmerkungen

dem Verkehr gezogen, allein schon wegen der zu günstigen Darstellung Trotzkis und seiner Rolle als Redner und Organisator sowie der Schilderung Stalins als eines «grauen Flecks», d. h. reinen Apparatschiks ohne Profil. Suchanow wurde im Men­ schewikenprozess 1931 mitangeklagt und zu Lagerhaft verurteilt. Kaum freigelassen, wurde er 1937 als «deutscher Spion» erneut verhaftet, 1940 durch ein Sondertri­ bunal im sibirischen Omsk zum Tode verurteilt und erschossen. Alle seine beschlag­ nahmten Papiere und hinterlassenen Aufzeichnungen sind verschollen, d. h. entweder vernichtet worden oder bis heute in den russischen Staats- und Polizeiarchiven unter Verschluss geblieben. Ebenda, S. 34. Viktor Šklovskij, Sentimentale Reise, Frankfurt/M. 1974, S. 10 f. Ebenda, S. 16 f. Paléologue, Am Zarenhof, S. 367 ff. Šklovskij, Sentimentale Reise, S. 19. Die letzere, weit höhere Zahl soll der Ministerpräsident Fürst Lwow dem französi­ schen Journalisten Claude Anet genannt haben. Vgl. Figes, Tragödie, S. 347. Tagebuch Tatjana Gippius, zit. nach Ebenda, S. 378. Zu dem gesamten hier abgehandelten Komplex vgl. Figes/Kolonitskii, Interpreting the Russian Revolution. Ebenda, S. 1–8. Ebenda, S. 7 – Schätzungen von Kolonitskii aufgrund zeitgenössischer Angaben, . s. Quellenangaben dort. Konstantin Paustowskij, Beginn eines unbekannten Zeitalters. Erzählungen vom ­Leben, Frankfurt/M. 1983, S. 7. Ebenda, S. 8 f.

Teil X: Marsch ins Niemandsland 1. Elementarkräfte – Juli 1917 1 Suchanow, Tagebuch der russischen Revolution, S. 281 f. 2 Stefan Zweig, Sternstunden der Menschheit, Frankfurt/M. 1986, S. 255 f. 3 Trotzki, Geschichte der russischen Revolution, Band  1: Februarrevolution, Berlin 1930, S. 172. 4 Suchanow, Tagebuch, S. 292 f. 5 Lenin, Über unsere Revolution (Aus Anlass der Aufzeichnungen N. Suchanows), in: LW 25, S. 462–467. 6 Lenin an Kollontai, 16.3. und 17.3.1917, in: Ebenda, S. 398 f., S. 401. 7 Zit. nach Alfred Opitz: Die russische Revolution des Frühjahrs 1917 im Echo füh­ render Tageszeitungen des zeitgenössischen Deutschland, in: Osteuropa 17 (1967), H. 4, S. 237 ff. 8 Kurt Riezler. Tagebücher, Aufsätze, Dokumente, Göttingen 1972, S. 422. 9 Vgl. Werner Hahlweg (Hrsg.): Lenins Rückkehr nach Russland 1917. Die deutschen Akten, Leiden 1957; Michael Pearson, Der plombierte Waggon. Lenins Weg aus dem Exil, München 1975; Merridale, Der Zug – Das Telegramm der deutschen Ab­ wehr findet sich im Original reproduziert im Katalog des Museums für Kommuni­ kation Berlin, Netze des Krieges. Kommunikation 14/18, Dok. 5 (http://www. mfk-berlin.de/netze-des-krieges/). 10 Lenin an Karpinski, 25.3.1917, in: Ebenda, S. 411 – Das Telegramm, das sogar den Weg in die deutsche Presse fand, auch in: LW 23, S. 306.

Anmerkungen

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11 Lenin, Über die Aufgaben des Proletariats in der gegenwärtigen Revolution, . «Praw­da», 7./20. April 1917, in: LW 24, S. 3–6. 12 Schljapnikows Memoiren «Semnadcaty god» (Das Jahr Siebzehn) erschienen 1925 in Moskau. Hier zit. nach Trotzki, Geschichte der russischen Revolution  I, S. 167. 13 Vgl. Lenins Notizen «Entwurf eines Artikels oder einer Rede zur Verteidigung der Aprilthesen», seinen «Prawda»-Artikel: Über die Doppelherrschaft; sowie die Bro­ schüre: «Briefe über die Taktik». In: LW 24, S. 14 f.; 20–37. 14 Lenin, Briefe aus der Ferne, Brief  1, veröffentlicht in der «Prawda» am 8./9 // 21./22. März 1917 unter dem Titel: «Die erste Etappe der ersten Revolution», in: LW 23, S. 311–322. 15 So zum Beispiel Jonathan Frankel, Lenin’s Doctrinal Revolution of April 1917, in: Journal of Contemporary History 4 (1969), H. 22, S. 117–142. 16 So zum Beispiel Alfred Schaefer, Lenin 1917. Eine Aufklärung der Machtergreifung durch Lenin-Texte, Berlin (West) 1980. 17 Lenin an Kollontai, 17.2.1917, in: LW 35, S. 262. 18 Vgl. Eine Wendung in der Weltpolitik, Artikel (oder Kapitel) I einer nicht veröffent­ lichten Broschüre «Bürgerlicher und Sozialistischer Pazifismus», datiert auf den 1. Januar 1917, in: LW 23, S. 179–182. 19 Lenin, Briefe aus der Ferne, S. 316. 20 Lenin, Rede über die internationale Lage, VI. gesamtrussischer außerordentlicher Sowjetkongress, in: LW 28, S. 149. 21 Text u. a. in Illustrierte Geschichte der russischen Revolution 1917, hrsg. von W. Astrow, A. Slepkow, J. Thomas, Berlin 1928, S. 139 f. 22 Riezler, Tagebücher, S. 420, 427, 430. 23 Editorial der Prawda, 15. März 1917, hier zit. nach Heller, Geschichte der Sowjet­ union I, S. 19. 24 Vgl. Koenen, Russland-Komplex, S. 126 ff.; sowie Figes, Tragödie eines Volkes, S. 441 ff. 25 Maxim Gorki, Unzeitgemäße Betrachtungen über Literatur und Revolution, Frank­ furt/M. 1974, S. 83 f. 26 Ebenda, S. 64, 66 f. 27 Die Kerenski-Memoiren. Russland und der Wendepunkt der Geschichte, Wien-­ Hamburg 1965, S. 291. 28 Hier zit. nach Figes, Tragödie eines Volkes, S. 423 f. 29 Viktor Šklovskij, Sentimentale Reise, Frankfurt/M. 1974, S. 32. 30 Ebenda, S. 35. 31 Ebenda, S. 60. 32 Ebenda, S. 59, 88. 33 Ausführlich dazu Figes, Tragödie, S. 30 f., 465 f. 34 Lenin, Rede über die Stellung zur Provisorischen Regierung (4./17. Juni), in: LW 25, S. 3–15; Zitat S. 6 – Original-Protokoll zit. bei Kotkin, Stalin I, S. 195. 35 Lenin, Rede über den Krieg (9./22. Juni), in: Ebenda, S. 16–30, Zitate S. 17, 22, 25 ff., 30. 36 Hier zit. nach Figes, Tragödie eines Volkes, S. 448. 37 Gorki, Unzeitgemäße Gedanken, S. 77. 38 Ebenda, S. 78. 39 Das Zeitungsblatt «Towarischtsch» ist in einzelnen Exemplaren im Archiv des Deutschen Historischen Museums in Berlin vorhanden (GOS-Nr. 99006462 / 99006463 / 99006464) – Nummer 70 vom 23./10. November 1917 bringt auf der

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Anmerkungen

Frontseite das Radiotelegramm Lenins als des Vorsitzenden des Rats der Volkskom­ missare, der den «Bürger Oberkommandierenden» der russischen Streitkräfte ange­ wiesen habe, unverzüglich Gespräche über einen Waffenstillstand aufzunehmen. Kerenski-Memoiren, S. 313. Vgl. Semion Lyandres: The Bolsheviks ‹German Gold› revisited. An Inquiry in the 1917 Accusations, Pittsburgh 1997 – Dort ist der Satz von 66 Telegrammen, die der Anklage zugrundelagen, in der (womöglich fragwürdig) «entschlüsselten» russi­ schen Fassung mit englischen Übersetzungen abgedruckt; und die darin enthaltenen Informationen sind mit den sonst aus der Literatur bekannten Erkenntnissen abge­ glichen worden. Z. A. B. Zeman (Ed.), Germany and the Revolution in Russia 1915–1918. Docu­ ments from the Archives of the German Foreign Ministry», Oxford 1958, S. 24. Vgl. Wolkogonow, Lenin, S. 118  – Für Stephen Kotkin steht es «außer Zweifel», dass der bolschewistische Druck- und Propaganda-Apparat sich zu einem Gutteil aus deutschen Zuschüssen gespeist habe; und dabei ging es eben nicht nur um die Zeitungen und Zeitschriften der Partei, sondern um die in Auflagen von Hundertau­ senden verbreiteten Pamphlete und Flugblätter; vgl. Kotkin, Stalin, S. 202. So Dietrich Beyrau: Petrograd 1917. Die russische Revolution und der Aufstieg . des Kommunismus, München 2001, S. 23; unter Verweis auf Roger Pethybridge: The Spread of the Russian Revolution, London 1972, S. 111 ff. Lenin, Wo ist die Macht, wo ist die Konterrevolution? (Prawda, 23. Juli 1917). In: LW  25, S. 151–156  – Dabei wäre es relativ leicht gewesen, auch nach damaligem Kenntnisstand Lenins nonchalante öffentliche Zurückweisung zu widerlegen, so wenn er behauptete: «Weder Hanecki noch Koslowski sind Mitglieder der Bolsche­ wiki, vielmehr gehören beide der Sozialdemokratischen Partei Polens an.» Und noch kühner: «Alle Welt weiß zwar, dass Hanecki mit Parvus in Geldgeschäfte verwickelt war, doch wir haben mit Hanecki nicht das Geringste zu tun.» (So in: Den Verleum­ dern, Rabotschaja Gaseta, 26. Juli 1917, in: LW  25). Tatsächlich bildete derselbe Hanecki mit Radek und Worowski (drei Polen also) die offizielle «Auslandsvertre­ tung des Zentralkomitees der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (Bol­ schewiki)» in Stockholm. Und Parvus Helphand ging, wann immer er in Stockholm war, dort ein und aus, sodass er «sich fast wie das vierte Mitglied der bolschewisti­ schen Vertretung aufführte». Lenin hatte Parvus bei seiner Durchreise im April ein persönliches Treffen ostentativ verweigert, aber hatte Radek zu ihm geschickt. Noch während Lenin sich auf der Reise nach Petrograd befand, war Parvus nach Kopen­ hagen zum deutschen Botschafter Brockdorff-Rantzau und weiter in das Auswärtige Amt nach Berlin gereist. Über diese Verhandlungen gibt es keine Aufzeichnungen. Aber der Ablauf legt nahe, «dass er den Diplomaten konkrete Vorschläge für eine Unterstützungsaktion zugunsten der Bolschewiki unterbreitet hat» – die dann auch sofort in die Wege geleitet wurde. (Vgl. Scharlau/Zeman, Freibeuter der Revolution, S. 259 ff.). Lenin, Zu den Losungen, in: LW 25, S. 181–189, passim. Kerenski-Memoiren, S. 341 ff. Schklowski, Sentimentale Reise, S. 32 f.

2. «Es schwindelt» – November 1917 1 Leo Trotzki, Geschichte der russischen Revolution. Zweiter Teil: Oktoberrevolu­ tion, Frankfurt/M. 1973, S. 879, 886. 2 Trotzki, Mein Leben. Versuch einer Autobiographie, Frankfurt/M. 1974, S. 259 f.

Anmerkungen

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3 Leo Trotzki, Mein Leben, S. 290. 4 John Reed, Ten Days That Shook the World» (1919, engl. und russ.), dt. Zehn Tage, die die Welt erschütterten, Hamburg 1922. 5 Vgl. Harvey Pitcher: Witnesses of the Russian Revolution, London 2001. Pitcher übergeht allerdings die vielfachen antisemitischen Ausfälle in einem Teil der journa­ listischen und diplomatischen Berichte, am obsessivsten bei dem langjährigen Peters­ burger Korrespondenten der Londoner «Times», Robert Wilton. 6 In aller Treuherzigkeit wiederholt bei Reed, Zehn Tage, S. 60 und Anm. 6, S. 405. 7 Lenin, Ratschläge eines Außenstehenden, in: LW 26, S. 167 f. 8 Ders., Brief an die Genossen Bolschewiki, die am Kongress der Sowjets des Nord­ gebiets teilnehmen, Ebenda, S. 174. 9 Ders., Ratschläge eines Außenstehenden, Ebenda, S. 168. 10 Lenin, Die Krise ist herangereift, in: LW 26, S. 65 f. 11 Suchanow, Tagebuch der russischen Revolution, S. 580. 12 Ders., Sitzung des Zentralkomitees der SDAPR (B), 10. (23.) Oktober 1917. Referat (nach der protokollarischen Niederschrift), in: Ebenda, S. 177. 13 Ebenda. 14 Ders., Sitzung des Zentralkomitees der SDAPR (B), 16./29. Oktober, Referat (nach der protokollarischen Niederschrift), in: Ebenda, S. 179. 15 Trotzki, Mein Leben, S. 284. 16 Trotzki, Geschichte der russischen Revolution, II, S. 946. 17 Ebenda, S. 950 f. 18 Reed, Zehn Tage, S. 179. 19 Ebenda, S. 182. 20 Trotzki, Geschichte der russischen Revolution II, S. 943. 21 Ders., Mein Leben, S. 292. 22 Service, Lenin, S. 425. 23 Peter Scheibert, Lenin an der Macht. Das russische Volk in der Revolution 1918– 1922, Weinheim 1985, S. 6, nach J. Keep, Lenin and Leninism, State Law and Society, Lexington (Mass.) 1971. 24 Lenin, Staat und Revolution, LW 25, S. 472. 25 Lenin, Die drohende Katastrophe und wie man sie bekämpfen soll, in: LW  25, S. 331 f. 26 Ders., Werden die Bolschewiki die Staatsmacht behaupten?, in: LW 26, S. 89 f. 27 Ebenda, S. 92. 28 Ebenda, S. 477. 29 Ebenda, S. 488. 30 Vl.Bonč-Bruevič, Na bojewich postach Fevralskoi i Oktrjabskoi revoljucii (Auf dem vordersten Posten der Februar- und Oktoberrevolution), Moskau 1931, S. 262; hier zit. nach M. Heller, Geschichte der Sowjetunion I, S. 46. 31 Lenin, Schreiben an F. E. Dzierzynski und Entwurf eines Dekrets über den Kampf gegen Konterrevolutionäre und Saboteure, 7./20. Dezember 1917, in: LW  26, S. 372 ff. 32 Lenin, Wie soll man den Wettbewerb organisieren?, in: LW 26, S. 402–414. 33 Ebenda, S. 413. 34 Ders., Thesen über die Konstituierende Versammlung, in: Ebenda, S. 377. 35 Gorki, 9. Januar – 5. Januar, in: Unzeitgemäße Gedanken, S. 135 f. 36 Vgl. Helmut Altrichter, Russland 1917. Ein Land auf der Suche nach sich selbst, ­Paderborn 1997, S. 249 ff. 37 Boris Sokolov, hier zit. nach Figes, Tragödie eines Volkes, S. 550.

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Anmerkungen

38 Thomas Hobbes hat als Gegenfigur zu seinem «Leviathan» in seinem weniger be­ kannten Werk «Behemoth oder das lange Parlament» den englischen Staat in der Zeit des Bürgerkriegs als einen Unstaat, einen Zustand der Gesetzlosigkeit und An­ archie geschildert. Franz Neumann hat in seinem Buch «Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933–1944» (Frankfurt/M. 1977) das NS-Regime als einen solchen «Unstaat» zu zeichnen versucht, der sich vor und während des Krieges von einem Gesetzes- und Verwaltungsstaat immer mehr in einen Führerund Bewegungsstaat verwandelt habe. 39 Vgl. dazu die Passagen im nachfolgenden Kapitel  XI.2: Das kommunistische Mo­ mentum. 40 So Peter Scheibert, «Lenin an der Macht», S. 3 – in einer merkwürdigen, assoziati­ ven Verkettung von Ernst Jüngers Figur des «Anarchen» (in seinem fantasyhaften Altersroman «Eumeswil») und Max Webers Begriff der Herrschaft durch «Cha­ risma». 41 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Erster Teil: Soziologische Kategorienlehre, Zweites Kapitel: Soziologische Grundkategorien des Wirtschaftens, §  26. Rech­ nungsfremde Leistungsvergemeinschaftung: Formen des Kommunismus, S. 114 f.; sowie Drittes Kapitel: Die Typen der Herrschaft, 4.  Charismatische Herrschaft, S. 179–182. 42 Nach Jean Marabini, Der rote Oktober, S. 254 ff.  – Marabini, Historiker, Autor ­einer Lenin-Biographie und langjähriger Korrespondent von Le Monde in Moskau, war ein populärer Sachbuchautor der 1950/60 er Jahre, der in dem hier zitierten ­Jubiläumswerk von 1967 (leider ohne Nachweis von Quellen) vor allem aus der Fülle der in und außerhalb der Sowjetunion veröffentlichten Erinnerungs-Literatur schöpfte. 43 Trotzki, Mein Leben, S. 307. 44 Weber, Politik als Beruf, in: Ders., Politik und Gesellschaft, A. Politische Schriften und Reden, Frankfurt/M. 2006, S. 607 f. 45 So im Protokoll der «Arbeiten des 1. Gesamtrussischen Kongresses der Sowjetischen Volkswirtschaften», Moskau 1918; hier zit. nach Heller, Geschichte der Sowjet­ union I, S. 50. 46 Zit. nach Scheibert, Lenin an der Macht, S. 8.

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3. Russland in Blut gewaschen Šklovskij, Sentimentale Reise, S. 150, 175 f., 186. Ebenda, S. 209 f. Ebenda, S. 205, 240 ff., 244. Artjom Wesjoly, Russland in Blut gewaschen. Aus dem Russischen von Thomas Reschke, (Leipzig-Weimar 1987) Köln 1987, S. 32. Ebenda, S. 38 f. Ebenda, S. 42 f. Ebenda, S. 68 f. Ebenda, S. 76. Ebenda, S. 75. Ebenda, S. 86–89. Ebenda, S. 202 f., 218–221. Beyrau, Petrograd 1917, S. 63. Tooze, Sintflut, S. 142. Wolfgang Wilhelmus: Deutsche Presseorgane 1917/18 über die Oktoberrevolu­ tion, in: Beiträge zur Geschichtswissenschaft, H. 2, 1989, S. 207 – Vgl. auch Alfred

Anmerkungen

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Opitz: Die russische Revolution des Frühjahrs 1917 im Echo führender Tageszei­ tungen des zeitgenössischen Deutschland, in: Osteuropa, H. 4, 1967, S. 235–257; Zitate S. 208. Der Weltkrieg. Illustrierte Kriegs-Chronik des Daheim, 8. Band, Bielefeld und Leip­ zig 1918, S. 241 f. The Secret Treaties and Understandings – Text of the Available Documents with In­ troductory Comments and Explanatory Notes by F. Seymour Cooks and a Preface by Charles Trevelyan, MP, London (1919). Protokolle des Zentralkomitees der SDAPR (B): August 1917–Februar 1918, Moskau 1958 (russ.) – Hier zit. nach Sergej Slutsch: Deutschland und die UdSSR 1918–1939. Motive und Folgen außenpolitischer Entscheidungen. In: H. A. Jacobsen u. a. (Hrsg.): Deutsch-russische Zeitenwende. Krieg und Frieden 1941–1995, S. 29. Denkschrift vom 18. November 1917. In: PA-AA, Weltkrieg 2, Geh. Hier zit. nach Hahlweg, Der Diktatfrieden von Brest-Litowsk 1918, S. 18. Legationssekretär Lersner, Hauptquartier, an Auswärtiges Amt, 29. November 1917. Ebenda, Bl. 111. Ludendorff: Meine Kriegserinnerungen 1914–1918, Berlin 1919, S. 448. Ludendorff: Kriegführung und Politik, Berlin 1922 (2. durchges. Auflage), S. 208 ff. Werner Baumgart: Deutsche Ostpolitik. Von Brest-Litowsk bis zum Ende des Ersten Weltkrieges, Wien-München 1966, S. 45 f. George Buchanan, My Mission to Russia, Bd. 2, London 1923, S. 225 f. Baumgart, Deutsche Ostpolitik, S. 51. Ebenda, S. 47 f. Woodrow Wilsons Vierzehn Punkte, Ansprache an den Congress, 8. Januar 1918, in: Dokumente zur Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika, hrsg. von Her­ bert Schambeck u. a., Berlin 2. Aufl. 2007, S. 436–440. So erklärte etwa der Mehrheitssozialist Eduard David dem Oberkommandierenden in Ober-Ost, Max Hoffmann, am Rande der Brester Verhandlungen: Wenn Deutsch­ land sich das Prinzip des «Selbstbestimmungsrechts» konsequent selbst zu eigen ma­ che, könne es im Bund mit Russland und einer Traube neuer osteuropäischer Staa­ ten der Enge Mitteleuropas entfliehen und seinen Einfluss auf ganz Eurasien bis zum Indischen und Pazifischen Ozean ausdehnen. Hier zit. nach Tooze, Sintflut, S. 146 f. (mit weiterem Quellenverweis). John Wheeler-Bennett, Brest-Litovsk, the Forgotten Peace, London 1956, S. 209 ff. Lenin, Ausführung in der Sitzung des ZK der SDAPR(B), 18. Februar 1918, in: LW 26, S. 522 f. Lenin, Das sozialistische Vaterland ist in Gefahr, in: LW 27, S. 15 f. Ergänzung zu dem Dekret, in: Ebenda, S. 17 f. Die Hauptaufgabe unserer Tage. In: LW 27, S. 147–151. Über ‹linke› Kinderei und über Kleinbürgerlichkeit. In: LW Bd. 27, S. 318. Ebenda, S. 326 f. Ebenda, S. 332. Ebenda. Ebenda, S. 333. Albrecht Buchholtz, Leonid Krassin und sein Verhältnis zu Deutschland. In: Russ­ land und Deutschland, hrsg. von Uwe Liszkowski, Stuttgart 1974, S. 304 ff. Aufzeichnung Stresemanns vom 7. Juli 1918, im Nachlass Stresemanns. Auszugs­ weise dokumentiert in Hans W. Gatzke: Zu den Deutsch-Russischen Beziehungen im Sommer 1918. In: VJHfZG, H. 1/1955, S. 67–98; Zitate S. 73. Worowski an Lenin, 13. August 1918. In: RZCHiDNI, f. 5, op. 1, d. 2165, l. 26–28.

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Anmerkungen

41 Lenin an Worowski, 21. August 1918. In: Lenin, Neizvestnye Dokumenty, S. 249. 42 Vgl. Baumgart, Deutsche Ostpolitik, S. 299; sowie Ders., «Unternehmen Schluss­ stein». Zur politisch-militärischen Geschichte des Ersten Weltkrieges. (I–IV). In: Wehrwissenschaftliche Rundschau, H. 2–8, 1969. 43 Lenin, Rede in der gemeinsamen Sitzung des Gesamtrussischen Zentralexekutiv­ komitees, 29. Juli 1918. In: Lenin Werke, Bd. 28, S. 9, 13 ff. 44 Genossen Arbeiter! Auf zum letzten entscheidenden Kampf! In: Lenin Werke, Bd. 28, S. 40–43, passim. 45 Beide Telegramme Lenins an seine Frontkader vom 4. Juni und 11. August sind do­ kumentiert in: Lenin, Neizvestnye Dokumenty, S. S. 239, 246. Ebenso in Richard ­Pipes, The Unknown Lenin, S. 46, 50.

4. Phönix und Asche 1 The Military Writings and Speeches of Leon Trotsky. How the Revolution armed (4 Vols.), London 1979, Vol. 1, S. 85; hier zit. nach Figes, Tragödie, S. 651. 2 Marx, Entwürfe einer Antwort auf den Brief von V. I. Sassulitsch, in: MEW  19, S. 390. 3 Vgl. Orlando Figes, Peasant Russia, Civil War. The Volga Countryside in Revolution (1917–1920), Oxford 1989, Kapitel 3: «Six Month of Peasant Rule», S. 70–153. 4 Ders., Tragödie eines Volkes, S. 651–658. 5 Vgl. Nicolas Werth: Ein Staat gegen sein Volk. Gewalt, Unterdrückung und Terror in der Sowjetunion. In: Das Schwarzbuch des Kommunismus. Unterdrückung, Ver­ brechen und Terror, München-Zürich 1998, insbesondere Kap. 2: Der «bewaffnete Arm» der Diktatur des Proletariats, S. 67–84. 6 Figes, Tragödie eines Volkes, S. 686. 7 Werth, Ein Staat gegen sein Volk, S. 83. 8 Michail Heller hat vermutet, dass Trotzkis Einführung des Begriffs «kontslager» aus seiner Bekanntschaft mit der englischen Literatur über den Burenkrieg zusammen­ hing, vgl. Mikhail Geller, Kontsentratsionni Mir i Sovetskaya Literatura (London: Overseas Publications Exchange Ltd., 1974). – Eine Rekonstruktion der Entschei­ dungsprozesse, Kategorisierungen und Entwicklungen dieser Lager in den ersten Jahren der Sowjetmacht findet sich u. a. in Anne Applebaum, Der GULAG, Berlin 2003, S. 46 ff.; sowie in Joël Kotek / Pierre Rigoulot, Das Jahrhundert der Lager. Ge­ fangenschaft, Zwangsarbeit, Vernichtung, Berlin-München 2001, S. 128 ff. 9 Hier zit. nach Marabini, Der rote Oktober, S. 266. 10 Figes, Tragödie eines Volkes, S. 728. 11 Konstantin Paustowski, Die Zeit der großen Erwartungen, Frankfurt/M. 1983, S. 18–28. 12 Vgl. Werth, Ein Staat gegen sein Volk, S. 122 – Die Schilderung aus: S[ergej] P. Mel­ gunow, Der rote Terror in Russland 1918–1921, Berlin 1924, S. 134 f. 13 Vgl. Karl Schlögel, Der große Exodus. Die russische Emigration und ihre Zentren 1917 bis 1941, München 1994. 14 Vgl. Helmut Altrichter, Die Sowjetunion. Von der Oktoberrevolution bis zu Stalins Tod. Band 1: Staat und Partei, München 1986, Tabelle S. 336/37. 15 Vgl. etwa Figes, Tragödie eines Volkes, S. 729 f. 16 Vgl. Trotzki, Mein Leben, S. 385. Figes, Ebenda, S. 625 nennt, gestützt auf andere Untersuchungen, für die Periode des Bürgerkriegs eine Gesamtzahl von 75 000 ehe­ maligen Offizieren, die Dreiviertel der höheren Ränge der Roten Armee ausgemacht hätten, zuzüglich Ärzten, Veterinären oder Verwaltungskräften. Zur patriotischen Mobilisierung während des Polenfeldzugs vgl. Ebenda, S. 738 ff.

Anmerkungen

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17 Lenin an Gorki, 15. September 1919, zuerst veröffentlicht in: Lenin, Collected Works, Moskau 1975, Vol. 44, S. 283c-285. – Eigene Übersetzung aus dem Englischen. 18 Figes, Tragödie eines Volkes, S. 660 f. 19 V. N. Brovkin, The Mensheviks after Oktober, London 1987, S. 69; sowie Werth, Ein Staat gegen sein Volk, S. 100 f.; unter Verweis auf Dokumente im Pariser «Centre russe de conservation et d’étude de la documentation historique contemporaine (CRCEDHC), 17/84/43. 20 Werth, Ebenda, S. 101 ff. 21 Ebenda, S. 104 f. 22 Lenin, Politischer Bericht des Zentralkomitees der KPR (B) (an den XI. Parteitag), 27. März 1921, in: LW 33, S. 286. 23 XI s-ezd RKP(b), Mart-aprel’ 1922 g, Stenografičeskij otčet, Moskau 1961, S. 103 f.; hier zit. nach Beyrau, Petrograd, S. 71. 24 Werth, Ein Staat gegen sein Volk, S. 106 ff. 25 Vgl. Figes, Peasant Russia, S. 319–328. 26 Ebenda, S. 125–135. 27 Ebenda, S. 128 f. 28 Ebenda, S. 129 f. 29 Lenin, Bericht über die Politische Tätigkeit des ZK der KPR(B), 8. März 1921, in: LW 32, S. 187; 217. 30 Vgl. Markus Wehner, Bauernpolitik im proletarischen Staat. Die Bauernfrage als zentrales Problem der sowjetischen Innenpolitik 1921–1928, Köln-Weimar-Wien 1998, S. 59 ff. 31 Werth, Ein Staat gegen sein Volk, S. 136 f. 32 Ebenda, S. 138. 33 Lenin, Die Neue Ökonomische Politik und die Aufgaben der Ausschüsse für poli­ tisch-kulturelle Aufklärung. Referat auf dem II. Gesamtrussischen Kongreß der Aus­ schüsse für politisch-kulturelle Aufklärung 17. Oktober 1921, in: LW 33, S. 42. 34 Vgl. die eindrucksvolle Schilderung in Figes, Tragödie eines Volkes, S. 816–826. 35 A. Beljakow, Iunost’ voždia (Die Jugend des Führers), Moskau 1960, S. 80 ff.; zit. in M. Heller, Premier avertissement: un coup de fouet. L’histoire de l’expulsion des per­ sonnalités culturelles hors de l’Union Soviétique en 1922, in: Cahiers du Monde russe et soviétique, XX, H. 2 (April–Juni) 1979, S. 134. 36 Zuerst veröffentlicht in: The Unknown Lenin. From the Secret Archive. Ed. by Richard Pipes, New Haven 1996; hier zit. nach Werth, Ebenda, S. 142 f. 37 Christians in Contemporary Russia, London 1967, S. 38. Dieselben Zahlen finden sich in einer Moskauer Publikation aus dem Jahr 1966, zit. bei Werth, Ebenda, S. 143, Anm. 163. 38 Hier zit. nach Ebenda, S. 140. 39 Lenin, Brief an D. I. Kurski, 17.5.1922, in: LW 33, S. 344. 40 Alexander Solschenizyn, Der Archipel GULAG. Band 1: 1918–1956. Versuch einer künstlerischen Bewältigung, Bern 1974, S. 75 f. 41 Werth, Ein Staat gegen sein Volk, S. 146 ff. 42 Lenin, Politischer Bericht des Zentralkomitees, 27. März (1922), XI. Parteitag der KPR(B), in: LW 33, S. 266. 43 Ebenda, S. 275 f. 44 Nikolaj Berdjajew, Das neue Mittelalter, Tübingen (1950), S. 95 f.

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Anmerkungen

5. Das neue alte Reich Kotkin, Stalin, Kap. More than a Barge: Stalin in Tsarytsin (1918), S. 300–307. Isvestija TsK KPSS, 1989, Nr. 11, S. 162–64; hier zit. nach Kotkin, Stalin, S. 320. Trotzki, Mein Leben, Abschnitt: Der Zug, S. 354–364. Michail Voslensky, Nomenklatura. Die herrschende Klasse der Sowjetunion, Wien-­ München u. a. 1980, Kap. III, Abschnitt  11: Die Schaffung der Nomenklatura, S. 141–S. 164; Angaben und Zitate S. 144 f. Lenin, Brief an den Parteitag, 23. Dezember 1922 bis 4. Januar 1923, in: LW, Ergän­ zungsband 1917–1923, Berlin (DDR) 1973, S. 510. Vgl. Kotkin, Stalin, S. 488–501 – Kotkin stellt die Authentizität dieser letzten Doku­ mente stark in Zweifel, ohne direkt Krupskaja als Fälscherin oder Intrigantin zu identifizieren. Zit. nach Ebenda, S. 350 f. Lenin, Über das Selbstbestimmungsrecht der Nationen (April–Juni 1914), in: LW 20, S. 397–461; Ders., Die Stellung des «Bund» in der Partei (1903), in: LW 7, S. 82–93; Stalin, Marxismus und nationale Frage, in: Stalin Werke, Bd.2, Berlin 1950, S. 266– 333. Resolution des X. Parteitags der KPR(B), 15. März 1921; hier zit. nach Kotkin, Sta­ lin, S. 342. Vgl. Tooze, Sintflut, S. 294 ff.; sowie Martin Gilbert, Winston  S. Churchill, Bd. 4: The Stricken World, 1917–1922, London 1975, S. 234. Lenin, Manifest an das ukrainische Volk mit ultimativen Forderungen an die ukrai­ nische Rada, in: LW 26, S. 358 ff. Vgl. Ebenda, S. 256 ff. Die Opfer des Weltkriegs für das Russländische Reich von 1914–1917 (bis zur Ke­ renski-Offensive) werden im Allgemeinen auf circa 4 Millionen Soldaten und Zivi­ listen geschätzt, etwa in gleicher Proportion. In der Zeit des Bürgerkriegs 1918– 1923 sind etwa 8–10  Millionen Menschen umgekommen, bei Kampfhandlungen wie infolge des roten und weißen Terrors, der ethnischen Ausrottungen und Vertrei­ bungen, der antisemitischen Pogrome, des chronischen Hungers in den Städten so­ wie der Hungerkatastrophe von 1922. Davon waren gut vier Fünftel (80 %) Zivilis­ ten. Vgl. etwa Kotkin, Stalin, S. 405. Zitate und Referat in: Heller, Geschichte der Sowjetunion I, S. 137 ff. Gorki, Vom russischen Bauern, S. 109 f. Michail Bulgakow, Die weiße Garde, Berlin 1992. Vgl. Yuri Slezkine, The USSR as a Communal Apartment, or How a Socialist State Promoted Ethnic Particularism, in: Slavic Review, Vol  53, No. 2 (Sommer 1994), S. 414–452. Vgl. Baberowski, Der Feind ist überall. Stalinismus im Kaukasus. München 2003, Drittes Kapitel: «Moskau – das ist das Mekka und Medina für alle unterdrückten Völker». Die Bolschewiki und die nationale Frage, S. 184–214. Hier zit. nach Heller, Geschichte der Sowjetunion, S. 147 f. Stalin: Zum Tode Lenins, in: Stalin Werke, Bd. 6, S. 41–46. Heller, Geschichte der Sowjetunion I, S. 83 f.; unter Verweis auf eine sowjetische ­Publikation über die «Internationalisten» in der Roten Armee aus dem Jahr 1971. Vgl. Koenen, der Russland-Komplex, Kapitel  III.2: Geheimnisse der Weisen von Zion, S. 274–276; mit zahlreichen weiteren Quellenverweisen. Trotzki, Mein Leben, S. 294 f. Vgl. Wladislaw Hedeler / Ruth Stoljarowa: Wider ‹Trotzkismus› und ‹Antitrotzkis­ mus›. Eine bisher unbekannte Rede Leo Trockijs vom Oktober 1923, in: Zeitschrift

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für Geschichtswissenschaft, H. 10/1992. Übersetzung von Ruth Stoljarowa nach der publizierten Fassung in: Izvestija CK KPSS, H. 5, 1990  – Die Quelle, ein Steno­ gramm der improvisierten Rede Trotzkis, das Boris Baschanow als Sekretär Stalins angefertigt haben will, ist nicht unumstritten. Baschanow selbst hat davon keinen Gebrauch gemacht, als er 1928 aus der Sowjetunion floh und in den frühen 1930 er Jahren in rascher Reihenfolge zwei internationale Bestseller schrieb, in deutscher Fassung: «Stalin, der rote Diktator» (1931) und «Ich war Stalins Sekretär» (1933). Das Original befindet sich im (ehemaligen) Zentralen Parteiarchiv in Moskau, Fonds 127, Inventarliste 21, Nr. 1014, Blatt 39–39. Vgl. Koenen, Russland-Komplex, Kapitel IV.2: Hitlers Russland, S. 411–435. Vgl. Karl Schlögel, Einleitung. Abschnitt: Vor dem Holocaust, nach dem Holocaust, in: Ders. / Karl-Konrad Tschäpe (Hrsg.), Die Russische Revolution und das Schicksal der russischen Juden. Eine Debatte in Berlin 1922/23, Berlin 2014, S. 73–95 – Ma­ terialreich, aber ganz unter dem Primat der Abschüttelung eines angeblichen Tabus: Johannes Rogalla von Bieberstein: Jüdischer Bolschewimus. Mythos und Realität. Mit einem Vorwort von Ernst Nolte, Graz 2010 – Ebenfalls materialreich, aber mit dem ähnlich problematischen Anspruch, das Phänomen als solches in das Reich der antisemitischen «Feindbilder» zu verweisen: Ulrich Herbeck, Das Feindbild vom «jü­ dischen Bolschewiken». Zur Geschichte des russischen Antisemitismus vor und während der Russischen Revolution, Berlin 2009 – Die maßgebliche russische Dar­ stellung ist: Oleg  V. Budnickij, Rossijskie evrei meždu krasnymi i belymi (1917– 1920), Moskau 2005. In der ausgedehnten Literatur zum Thema vgl. Leonard Shapiro, The Role of the Jews in the Russian Revolutionary Movement, in: The Slavonic and East European Review, Vol. 40, No. 91, (Dec. 1962), S. 148–167; S. 164 f. – Zvi Gitelman, Jewish Nationality and Soviet Politics. The Jewish Section of the CPSU, 1917–1930, Prince­ ton 1972, S. 106 – Gerhard Simon, Nationalismus und Nationalitätenpolitik in der Sowjetunion, Baden-Baden 1986, S. 50–225. Hier zit. nach Slezkine, S. 226 – der diese Äußerung seinerseits dem Buch von Gen­ nadij J. Kostyrčenko, Tajnaja politka Stalina. Vlast’ i antisemitizm, Moskau 2001, S. 58 entnommen hat. In den Lenin-Werken findet sich dieses Zitat nicht. Isaak Babel, Die Reiterarmee, Zamość, in: Ders., Prosa, hrsg. von Fritz Mierau, Ber­ lin (DDR) 1983, S. 256. Babel, Meine erste Gans, in: Ebenda, S. 168 f. – Vgl. Slezkine, Das jüdische Jahrhun­ dert, S. 189 ff. Slezkine, Ebenda, S. 192–202. Ebenda, S. 225. Ebenda, S. 301. Ebenda, S. 174. Rede des Genossen J. W. Stalin beim Empfang im Kreml zu Ehren der Befehlshaber der Truppen der Roten Armee am 24. Mai 1945, in: Stalin, Werke Bd. 15, S. 15. Lenin, Zur Frage der Nationalitäten und der «Autonomisierung», in: LW  36, S. 190–196; Zitat S. 196. Nach Kotkin, Stalin, S. 476 ff. Alle Angaben aus G. R. F. Bursa, Political Changes of Names of Soviet Towns, in: The Slavonic and East European Review, April 1985, S. 161–193.

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Anmerkungen

VIERTES BUCH: Der Kommunismus in seinem Zeitalter Teil XI: Der rote Planet 1. Phantome einer Weltrevolution 1 Lenin, «Rede über die internationale Lage», 8. November 1918, in: LW 28, S. 156. 2 Hier zit. nach Wolfgang Leonhard, Völker hört die Signale! Die Anfänge des Welt­ kommunismus 1919–1924, München 1981, S. 17. 3 So hat es Paul Levi nach seinem Sturz als Parteivorsitzender und seinem Austritt 1921 überliefert: Ders., Zur Klarstellung. In: Unser Weg, H. 1–2, 1921, S. 45 f. 4 Brief an Julian Marchlewski, Ende Juli oder August 1918. In: Feliks Tych, Drei un­ bekannte Briefe Rosa Luxemburgs über die Oktoberrevolution. In: Internationale Wissenschaftliche Korrespondenz (IWK), 27 (1991), H. 3, S. 360. 5 Rosa Luxemburg, Was will der Spartakusbund? In: Dies., Gesammelte Werke, Bd. 4, Berlin (DDR) 1975, S. 443 f. 6 Karl Radek, Die Entwicklung des Sozialismus von der Wissenschaft zur Tat, Berlin 1919, S. 16, 21. 7 Karl Radek, Die russische und die deutsche Revolution und die Weltlage», (Bro­ schüre 1919); wieder abgedruckt in: Hermann Weber (Hrsg.), Der Gründungspartei­ tag der KPD. Protokoll und Materialien, Frankfurt/M.-Wien 1969. 8 Adam Tooze, Sintflut, S. 299. 9 Nach Ebenda, S. 306–312. 10 «Deutscher oder jüdischer Bolschewismus?». In: Auf gut deutsch, 16.8.1919. Hier zit. nach Louis Dupeux, ‹Nationalbolschewismus› in Deutschland, München 1985, S. 81. 11 Vgl. Gerd Koenen, Geheimnisse der Weisen von Zion, in: Russland-Komplex, S. 253–276; eine erheblich erweiterte und materialreichere Version findet sich im ­Kapitel: «Die Revolution und die ‹Weisen von Zion›» – in meiner Dissertation Rom oder Moskau. Deutschland, der Westen und die Revolutionierung Russlands, 1917– 1924. 12 «Leitsätze über die Bedingungen der Aufnahme in die Kommunistische Internatio­ nale, angenommen auf dem II. Kongress der Kommunistischen Internationale», 6. August 1920, in: Komintern und revolutionäre Partei. Auswahl von Dokumenten und Materialien 1919–1943, Berlin 1986, S. 78–85. 13 Lenin, Referat über die internationale Lage und die Aufgaben der Kommunistischen Internationale vom 19. Juli 1920, in: LW, Bd. 31, S. 203–222. 14 Vgl. Robert Gerwarth, Die Besiegten. Das blutige Erbe des Ersten Weltkriegs, Mün­ chen 2017. 15 Krasnoarmejez, 2. Juli 1920. Voller Text (in engl. Übersetzung) in: Norman Davies, White Eagle, Red Star. The Polish-Soviet War 1919–1920, London 1983, S. 145. 16 Karl Radek, Prawda vom 11./12. Mai 1920; hier zit. nach Figes, Tragödie eines Vol­ kes, S. 740. 17 Lenin, Rede auf der IX. Gesamtrussischen Konferenz der KPR(B), 22. September 1920. 18 Davies, White Eagle, Red Star, S. 149. 19 Nach Ebenda, S. 131.

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Hier zit. nach Kotkin, Stalin, S. 365. Ebenda, S. 360 f. Ebenda, S. 363. Lenin: Rede auf der IX. Gesamtrussischen Konferenz der KPR(B), 22. September 1920. Ausführlich in Koenen, Russland-Komplex, S. 233–301. Hier zit. nach Manfred Zeidler: Reichswehr und Rote Armee 1920–1933, München 1994, S. 32; Horst-Dieter Linke, Deutsch-sowjetische Beziehungen bis Rapallo, Köln 1970, S. 153 f.; sowie Hans von Seeckt: Aus seinem Leben 1918–1936. Hrsg. von Friedrich Rabenau, Leipzig 1940, S. 252. Heinrich August Winkler, Von der Revolution zur Stabilisierung. Arbeiter und Arbei­ terbewegung in der Weimarer Republik 1918 bis 1924, Berlin u. a. 1984, S. 516. Lenin, Referat über die internationale Lage (Fn. 14), S. 205. Vgl. meine Interpretation des Verhältnisses der Nationalsozialisten zum bolschewis­ tischen Russland und zur Evolution ihrer Interpretationen und Strategien in: Russ­ land-Komplex, S. 387–435. Lenin, Ursprünglicher Entwurf Thesen zur nationalen und kolonialen Frage, in: LW 31, S. 132–139. Zit. nach Leonhard, Völker, hört die Signale!, S. 210. The Trotsky Papers, 2  Vol., hrsg. von J. M. Meijer, Den Haag 1964, 1971, Bd. 1, S. 623 ff. Zit. nach Leonhard, Völker Hört die Signale, S. 211 ff. Zit. nach Ebenda, S. 276. Mao Tse-tung, «Über die Klassen in der chinesischen Gesellschaft (März 1926)», in: Mao Tse-tung: Ausgewählte Werke, Bd. 1, Peking 1968, S. 9–19. Clara Zetkin, «Der Kampf gegen den Faschismus. Bericht auf dem Erweiterten Plenum des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale, 20. Juni 1923», in: Dies., Ausgewählte Reden und Schriften, Bd. 2, Berlin 1960, S. 689 f. Karl Radek, «Der internationale Faschismus und die Kommunistische Internatio­ nale», in: Inprekorr, Bd. 3, 115 (09.07.1923), S. 1014. Karl Radek: Leo Schlageter – ein Wanderer ins Nichts. Rede auf der Sitzung der Er­ weiterten Exekutive der Kommunistischen Internationale am 20.6.1922. In: Schlage­ ter  – Kommunismus und nationale Bewegung. Eine Auseinandersetzung zwischen Karl Radek, Paul Frölich, Graf Ernst Reventlow, Moeller van den Bruck, Berlin 1923. Karl Radek, «Der Faschismus, wir und die deutschen Sozialdemokraten», in: Inpre­ korr, Bd. 3, 114 (6.7.1923), S. 1174. Kevin McDermott/Jeremy Agnew, The Comintern. A History of International Com­ munism from Lenin to Stalin, London 1996, The Comintern, S. 49 f. J. Stalin, «Die Revolution in China und die Aufgaben der Komintern», in: Stalin Werke, Bd. 9, S. 318 (nach der engl. Ausg.). Zahlen nach Hermann Weber, «Kommunistische Internationale», in: Lexikon des Sozialismus, Köln 1986, S. 323. Archie Brown, Aufstieg und Fall, S. 136–143. Vgl. Eric D. Weitz, «State Power, Class Fragmentation, and the Shaping of German Communist Politics, 1890–1933», in: Journal of Modern History  62 (1990) 2, S. 257–295; sowie Klaus-Michael Mallmann, Kommunisten in der Weimarer Repu­ blik. Sozialgeschichte einer revolutionären Bewegung, Darmstadt 1996. Eine tabellarische Zusammenstellung von Mitgliedsdaten, die teils dem Historischen Archiv der KPD (SAPMO/BArch), teils den Büchern von Herrmann Weber, Die Wandlung des deutschen Kommunismus. Die Stalinisierung der KPD in der Weima­

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rer Republik, Frankfurt/M. 1969, Bd. 1, S. 362 f.; sowie Klaus-Michael Mallmann, Kommunisten in der Weimarer Republik. Sozialgeschichte einer revolutionären Be­ wegung, Darmstadt 1996 entnommen sind, findet sich auf der Website von Ulrich Eumann, Kommunisten in der Weimarer Republik – Materialien zur Sozialgeschichte (www.kpd-sozialgeschichte.homepage.t-online.de/index.html). «Programmerklärung zur nationalen und sozialen Befreiung des deutschen Volkes», in: Die Rote Fahne 24 (1930). Einen Bericht über die «Arbplan», den Lukács der Kaderabteilung der Komintern einreichte, findet sich im Anhang von Reinhard Müllers Rezension zu: François Furet, Das Ende einer Illusion. In: Mittelweg 36, H. 5, 1996, S. 66–72. Vgl. Dupeux, Nationalbolschewismus, S. 372 ff. Ernst Niekisch, Der mitteleuropäische Traum. In: Widerstand, H. 7, 1932. Hier zit. nach Michael Pittwald, Ernst Niekisch. Völkischer Sozialismus, nationale Revolu­ tion, deutsches Endimperium (Diss.), Köln 2002, S. 176. Bericht Manuilskis über die Einheitsfront und die «günstige Situation» in Deutsch­ land, Moskau, 28.2.1933; dt. Übersetzung in: Hermann Weber / Jakov Drabkin / Bernhard H. Bayerlein (Hrsg.), Deutschland, Russland, Komintern. II. Dokumente (1918–1943), Teilband 2, S. 953–958. – Zu diesem Komplex insgesamt vgl. Bern­ hard H. Bayerlein, Deutscher Kommunismus und transnationaler Stalinismus – Kom­ intern, KPD und Sowjetunion 1929–1943, in: Deutschland, Russland, Komintern I: Überblicke, Analysen, Diskussionen, Berlin-Boston 2014, S. 225–400. Grigori Bjelych und Leonid Pantelejew, Schkid: Die Republik der Strolche. Überset­ zung aus dem Russischen von Maria Einstein. Berlin: Verlag der Jugendinternatio­ nale, 1929 (wiederaufgelegt Berlin 2005). Georg K. Glaser, Geheimnis und Gewalt. Ein Bericht, Stuttgart 1955 – Die Zitate fin­ den sich auf den Seiten 50, 69 ff., 117. Vgl. Michael Rohrwasser, Der Stalinismus und die Renegaten. Die Literatur der Ex­ kommunisten, Stuttgart 199 – Die klassische Sammlung von «Renegaten»-Texten ist der Band: The God that Failed. A Confession (N.Y. 1949), mit Beiträgen von ­Arthur Koestler, Ignazio Silone, Richard Wright, André Gide, Louis Fisher, Stephen Spender (dt. Der Gott der keiner war, Zürich 1995). Vgl. das unverändert eindrückliche Zeitzeugnis von Wolfgang Leonhard, Die Revo­ lution entlässt ihre Kinder, Köln 1955 (Tb. Köln 2005).

2. Das kommunistische Momentum 1 Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1994, S. 99. 2 Reinhard Müller, Menschenfalle Moskau. Exil und stalinistische Verfolgung, Ham­ burg 2001. 3 Ebenda, S. 103. 4 Alfons Paquet, Im kommunistischen Russland. Briefe aus Moskau, Jena 1919, S. 202. 5 So der englische Titel von Gustav Herlings Aufzeichnungen «Inny Świąt» von 1951, die er sich während der Zeit der sowjetischen Okkupation 1940 und seiner Jahre im Lager gemacht hatte, bevor er als Soldat der polnischen Anders-Armee 1942 das Land verlassen konnte. Das war einer der ersten authentischen Berichte über die Welt des GULag, der vor allem das vollständige Herausfallen aus der Welt der Le­ benden plastisch machte. Den Titel und das Leitmotiv lieferte eine Passage aus Dos­ tojewskis Aufzeichnungen «Aus einem Totenhause», seiner Haftzeit als Revolutio­ när in einem sibirischen Zuchthaus – das «eine besondere Welt, die keiner anderen

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glich», darstellte, von der sich «die übrigen Menschen nur Vorstellungen wie von ei­ nem unmöglichen Märchen machten». (F. M. Dostojewski, Aus einem Totenhause. Aufzeichnun­gen, München 1922, S. 14). Ernst Bloch, Geist der Utopie, Frankfurt/M. 1977, S. 215, 300. Schlögel, Berlin Ostbahnhof Europas, S. 55. Vgl. etwa meinen Überblick über die frühe Reiseliteratur in: Koenen, Russland-Kom­ plex, S. 301–322. Arthur Holitscher, Drei Monate in Sowjet-Russland, Berlin 1921, S. 16. Ebenda, S. 225 f. Ebenda. Ebenda, S. 204/05. Ebenda, S. 255. Karl Schlögel, Jenseits des großen Oktober. Petersburg. Das Laboratorium der Mo­ derne, Berlin 1998. Die Große Utopie. Die russische Avantgarde 1915–1932, Katalog zur Ausstellung in der Schirn-Kunsthalle, Frankfurt am Main 1992. Um den Titel eines berühmten Films von Nikita Michalkow über die Stalin-Zeit zu zitieren. Maxim Gorki, Dnjeprostroi, in: Gorki. Ein Lesebuch für unsere Zeit, Weimar 1953, S. 451. Leo Trotzki, «Die Kunst der Revolution und die sozialistische Kunst», in: Literatur und Revolution. Nach der russischen Erstausgabe von 1924, Berlin 1968, S. 215. Michael Hagemeister, «‹Unser Körper muss unser Werk sein›. Beherrschung der ­Natur und Überwindung des Todes in russischen Projekten des frühen 20. Jahrhun­ derts», in: Boris Groys/Michael Hagemeister, Die Neue Menschheit. Biopolitische Utopien in Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Frankfurt/M. 2005, S. 19–67; Zitat S. 66. Ebenda, S. 36 f. Andrej Platonow, Die Baugrube, Roman. Aus dem Russischen neu übersetzt, mit Kommentaren und einem Nachwort versehen von Gabriele Leupold, Frankfurt/M. 2016, S. 146. Vgl. zu dem gesamten Komplex meine ausführliche Darstellung in: Koenen, Utopie der Säuberung, S. 125–145 – Aus der ausgedehnten Literatur vgl. Benno Ennker, Die Anfänge des Leninkults in der Sowjetunion, Köln-Weimar-Wien 1997, insbes. Kap. B III: Der Totenkult, S. 138–248; Ilya Zbarski, Lenin und andere Leichen. Mein Le­ ben im Schatten des Mausoleums, Stuttgart 1999; in romanhafter Verfremdung, aber auf faktographischer Basis: Tilman Spengler, Lenins Hirn. Roman, Reinbek 1991, sowie Ders. (Hrsg.), Lenins letzte Tage. Eine Rekonstruktion von Alexej Chanjutin und Boris Rawdin, Berlin 1994. – Diese Untersuchung stand im Zeichen der axiomatischen Vorstellung, dass die Genialität Lenins eine Essenz oder ein Kon­ zentrat aller höheren geistigen Potentiale der proletarischen Volksmasse, und sogar des gesamten internationalen Proletariats sei. Das abschließende, nach zehnjährigen Forschungen Stalin im Mai 1936 vorgelegte Dokument zur Erforschung der «mate­ riellen Grundlage der Genialität Lenins» setzte gemäß den als Ausweis der Geniali­ tät festgestellten Merkmalen (vergrößerten Pyramidenzellen, Dicke der Zwischen­ hirn-Schichten, Anzahl der Hirnfurchen) Lenin unter den insgesamt 13 Teilnehmern dieses posthumen Wettbewerbs, denen regelrechte Genialitäts-Koeffizienten zuge­ teilt wurden, erwartungsgemäß vor allen anderen weit nach vorne. Das Dokument findet sich in: ‹Materialno obosnowatj genialnostj Lenina›. (Dossier über die Unter­ suchungen an Lenins Hirn). In: Istotschnik, H. 1, 1994.

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Anmerkungen

23 Vgl. Kirill Rossjanow, «Gefährliche Beziehungen. Experimentelle Biologie und ihre Protektoren»; sowie Hans-Walter Schmuhl, «Rassenhygiene in Deutschland – Euge­ nik in der Sowjetunion. Ein Vergleich», in: Dietrich Beyrau (Hrsg.), Im Dschungel der Macht. Intellektuelle Professionen unter Stalin und Hitler, Göttingen 2000, S. 340–359; 360–377. 24 Immer noch höchst lesenswert: Bertram D. Wolfe, Sechs Schlüssel zum Sowjet-Sys­ tem, Frankfurt/M. 1959, S. 70–87. Vgl. auch Shores A. Medwedjew, Der Fall Lys­ senko. Eine Wissenschaft kapituliert, Hamburg 1971. 25 Alexander Etkind, Eros des Unmöglichen. Die Geschichte der Psychoanalyse in Russland, Leipzig 1996, S. 330. 26 Der Arzt, Sozialrevolutionär und Kommissar unter Kerenski, Boris Sokolow, berich­ tet in seinen Erinnerungen über ein Treffen zwischen Lenin und Pawlow im Oktober 1919, über das er natürlich nur vom Hörensagen wusste. Lenin habe sich erkundigt, was die Theorie der «bedingten Reflexe» für die «Kontrolle des gesellschaftlichen Verhaltens» bedeute. Dabei habe er sich als ein Adept Iwan Setschenows dargestellt, dessen Buch über «Gehirn-Reflexe» im Jahre 1863 unter der russischen Intelligen­ zija für Furore gesorgt hatte. Pawlow sah sich selbst als Fortsetzer, aber auch als Überwinder Setsche­nows. Er habe Lenin zwei Stunden lang sein Konzept des «Neu­ rismus» erläutert, wonach das zentrale Nervensystem sowohl die bewussten wie die unbewussten mensch­lichen Handlungen steuere. Dabei spielten «bedingte» (durch Erfahrung und Gewohnheit erworbene, sozial konditionierte) Reflexe eine größere Rolle als etwa angeborene Instinkt­reaktionen oder individuelle Dispositionen. Le­ nin, der wusste, dass Pawlow ein erklärter Antibolschewik war, habe den «Materia­ lismus» seiner Forschungen gelobt und dafür gesorgt, dass Pawlows Laboratorium mit allen nötigen Mitteln ausgestattet wurde.  – Vgl. Boris Sokoloff: The White Nights. Pages from a Russian Doctors Notebook, New York 1956, S. 67. 27 Torsten Rüters, Pavlov und der Neue Mensch. Diskurse über Disziplinierung in ­Sowjetrussland, München 2002, S. S. 282 ff. 28 Stalin, Rede auf der Plenartagung der KPR(B), 19. Januar 1925, in: Stalin Werke, Bd. 7, Berlin 1952, S. 14. 29 Alexander Radó, Atlas für Politik, Wirtschaft, Arbeiterbewegung, Berlin 1930. 30 Eugen Varga, Vorwort zur Broschüre: W. I. Lenin, Über den Versailler Vertrag, Wien-­ Berlin 1933, S. 9 f. 31 Aus einer umfangreichen Literatur vgl. etwa: Paul R. Gregory, The Political Economy of Stalinism. Evidence from the Soviet Secret Archives, Cambridge 2004, S. 31–39. 32 Jeffrey J. Rossmann, «Weaver of rebellion and poet of resistance: Kapiton Klepikov (1880–1933) and shop-floor opposition to Bolshevik rule», in: Jahrbücher für Ge­ schichte Osteuropas, 44 (1996), S. 374–408. 33 Vgl. die ausführliche Diskussion der Moderne-Begriffe am sowjetischen Beispiel in: Stefan Plaggenborg, Experiment Moderne. Der sowjetische Weg, Frankfurt/M.-N.Y. 2006. Plaggenborg entwickelt darin eine eigene, hoch paradoxe Definition der so­ wjetischen Moderne als einer «integralistischen Moderne» (S. 366 ff.). Er spricht an anderer Stelle aber auch von der «konservative(n) Moderne Lenins» (S. 333) oder vom Stalinismus als einer «gewalttätige(n) Moderne», deren Modernisierungsleis­ tungen er unter vielen Aspekten in Frage stellt. 34 Josef Stalin, Fragen des Leninismus, Berlin 1947 (Reprint 1970), S. 331. 35 Vgl. die Tabelle in Gregory, Political Economy, S. 39. Zu etwas günstigeren Resulta­ ten kommen andere Berechnungen, siehe die Tabelle in Beyrau, Petrograd, S. 135. 36 Vgl. Stephan Merl, Bauern unter Stalin. Die Formierung des sowjetischen Kolchos­ systems 1930–1941, Berlin 1990, insbesondere sein Resümee, S. 453–469.

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37 Sonja Margolina, Wodka. Trinken und Macht in Russland, Berlin 2004, S. 126– 134. Vgl. auch Stephen White, Russia goes Dry. Alcohol, State and Society, Cam­ bridge 1996. 38 Tabelle zu den Reallöhnen in der Industrie in: Eugene Zaleski, Planning of Econo­ mic Growth in the Soviet Union, Chapel Hill 1971, S. 392, hier zit. nach Beyrau, Pe­ trograd, S. 148. 39 Eine genaue Zahl ist wegen der hohen Fluktuationen unter den Häftlingen, Depor­ tierten und sonstwie Unfreien sowohl durch Tod wie Entlassung sowie wegen der vielfältigen Abstufungen zwischen freier und unfreier Arbeit – zumal nach den dra­ konischen Arbeitsgesetzen von 1940 – kaum zu nennen. Jedenfalls entsprach allein die Zahl der GULag-Häftlinge, die überwiegend im Bausektor, im Bergbau und Holzeinschlag eingesetzt wurden, etwa 10 % der industriell Beschäftigten und 3–4 % aller Arbeitsfähigen. Vgl. Beyrau, Petrograd, S. 182–185; Gregory, Poli­tical Economy, S. 106.

3. Im Gehäuse des Wahns 1 Chruschtschow rechnet mit Stalin ab: Wortlaut der Rede von Chruschtschow auf der Geheimsitzung des XX. Moskauer Parteitages am 25. Februar 1956, Frankfurt/M. 1956. 2 Vgl. etwa Vladimir Naumov, «Zur Geschichte der Geheimrede N. S. Chruščevs auf dem XX. Parteitag der KPdSU», in: Forum für osteuropäische Ideen- und Zeit­ geschichte, 1 (1997) 1, S. 137–177. 3 Solschenizyn, Die Eiche und das Kalb. Skizzen aus dem literarischen Leben, Reinbek 1978, S. 371. 4 Vgl. etwa Timothy Snyder, S. 73 f., 419 – Während Snyder vor allem den «Holodo­ mor» in der Ukraine ins Zentrum stellt, richtet Robert Kindler, Stalins Nomaden. Herrschaft und Hunger in Kasachstan, Hamburg 2014 den Fokus auf die nomadi­ sche Peripherie. Felix Schnell, Räume des Schreckens. Gewalt und Gruppenmilitanz in der Ukraine 1905–1933, Hamburg 2012, untersucht die autochthonen Gewalt­ dynamiken, die sich aus einer langen Vorgeschichte agrarischer Unruhen und darin ausgebildeter Formen einer Gruppenmilitanz schließlich in der Kollektivierungs­ kampagne von 1930 an entladen haben. – Christian Teichmann, Macht der Unord­ nung. Stalins Herrschaft in Zentralasien 1920–1950, Hamburg 2016 untersucht, ebenfalls in längerer Perspektive, die Folgen der Kollektivierung für die Wasserbauund Baumwollwirtschaft in Zentralasien. – Jörg Baberowski, Der Feind ist überall, nimmt den Kaukasus, und vor allem die Mixtur aus «Kulturrevolution» und Kollek­ tivierung im muslimischen Aserbeidshan ins Zentrum, S. 669–752. 5 Nicolas Werth, Die Insel der Kannibalen. Stalins vergessener Gulag, München 2006. 6 Vgl. Snyder, Bloodlands, Kapitel  3: Nationalitätenterror, S. 107–133. Snyder ver­ knüpft den Terror gegen die «feindlichen Nationalitäten» teils mit der vorangegan­ genen «Kulakenaktion» (insbesondere im Falle der Ukrainer), teils mit eigenen Kriegsvorbereitungen (was in allererster Linie die ca. 600 000 verhafteten, depor­ tiertern oder erschossenen Polen betraf); eine Politik, die sich nach 1939 dann in ­immer neuen Schüben fortsetzte, bis über 1945 hinaus. – Vgl. zu den Zahlen etwa Jörg Baberowski, Der rote Terror. Die Geschichte des Stalinismus, München 2003, 
 S. 195 ff. 7 So der russische Historiker N. F. Bugaj; hier zit. nach Eric D. Weitz, A Century of Genocide. Utopias of Race and Nation, Princeton 2003, S. 80. 8 Aus der umfangreichen Literatur zu diesem Thema vgl. McDermott, The Comin­

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Anmerkungen

tern, S. 145–155; Reinhard Müller, Menschenfalle Moskau. Exil und stalinistische Verfolgung, Hamburg 2001; William J. Chase, Enemies within the Gates? The Comin­ tern and the Stalinist Repression, 1934–1939. Lenin, «Werden die Bolschewiki die Staatsmacht behaupten?», in: LW 26, S. 95. Diese Feststellung ergibt sich schon aus den offiziellen Statistiken zur Entwicklung der Mitgliedschaft der RKP 1905–1929 in: Helmut Altrichter (Hrsg.): Die Sowjet­ union. Von der Oktoberrevolution bis 
zu Stalins Tod, Bd. 1: Staat und Partei, Mün­ chen 1986, S. 342 f., Tabellen 8–11. Lazar Kaganowitsch, Rede auf dem 18. Parteitag der KPdSU; hier zit. nach Charles Bettelheim, Luttes des classes en URSS, Bd. 2, Paris 1983, S. 150. Vgl. Georgi Dimitroff, Tagebücher 1933–1943, Berlin 2000, S. 165; 225 f. Arkadi Waksberg, Die Verfolgten Stalins. Aus den Verliesen des KGB, Kap. I: Drei Opfer: Kolzow – Meyerhold – Babel, Reinbek 1993, S. 17–66; sowie Witali Schen­ talinski, Das Auferstandene Wort. Verfolgte russische Schriftsteller in ihren letzten Briefen, Gedichten und Aufzeichnungen. Aus den Archiven sowjetischer Geheim­ dienste, Bergisch Gladbach 1996; darin u. a. das Dossier von Isaak Babel, S. 43–123. Werth, Ein Staat gegen sein Volk, S. 221. Eine detailliertere Analyse findet sich in ­Roger  R. Reese, The Red Army and the Great Purges, in: J. Arch Getty/Roberta T. Manning (Hrsg.), Stalinist Terror. New Perspectives, Cambridge 1993, S. 198–214. Nikita Petrov, Čelovek b kožanom fartuke (Der Mann mit der Lederschürze), in: Ders., Palači. Oni vypolnjali zakazy Stalina, Moskau 1011, S. 191–203 – Vgl. auch das Gespräch mit einem NKWD-Exekutor in: Swetlana Alexijewitsch, Secondhand Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus, Berlin 2013, S. 323. Nikita Petrov, Die wichtigsten Veränderungstendenzen im Kaderbestand der sowje­ tischen Staatssicherheit in der Stalin-Zeit, in: Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte 5, H. 2, 2001, S. 19–120. So in der Aufzeichnung von Georgi Dimitroff, Tagebücher, S. 162. Die seit der Öffnung der sowjetischen Archive in den 1990 er Jahren auf Daten und Akten gestützte Forschung hat sich in ihren Zahlenangaben inzwischen weitgehend angenähert, im Gegensatz zu den früheren Jahrzehnten, auch wenn vieles wegen der Chaotik des Prozesses und der unterschiedlichen, überlappenden Kategorien noch immer Schätzungen sind. Aus der immensen Literatur vgl. etwa J. Arch Getty/Ga­ bor T. Rittersporn/Viktor N. Zemskov: Victims of the Soviet Penal System in the Pre-war Years: A First Approach an the Basis von Archival Evidence, in: American Historical Review, Bd.  98, October 1993, S.  1017–1049; J.  Arch Getty and Oleg V. Naumov, The Road to Terror. Stalin and the Self-Destruction of the Bolshe­ viks, 1932–1939, New Haven-London 1999, Appendix One: Numbers of Victims of the Terror, S. 587–594; Stephen G. Wheatcroft, The Scale and Nature of Stalinist Repression and its Demographic Significance, in: Europe-Asia Studies  52, 2000, H. 6, S. 1143–59; Nicolas Werth, Ein Staat gegen sein Volk. Gewalt, in: Schwarz­ buch des Kommunismus, insbes. S. 206–290; Oleg Chlevnjuk, Das Politbüro. Me­ chanismen der Macht in der Sowjetunion der dreißiger Jahre. Hamburg 1998, ins­ bes. S. 265–269; Alec Nove, Victims of Stalinism: How many? In: Stalinist Terror. New Perspectives, ed. by J. Arch Getty and Roberta T. Manning. Cambridge-N.Y. 1993; N. Ochotin/A. Roginskij (Hg.), Sistema ispravitelno-trudovich lagerej v SSSR 1923–1960. Spravočnik (Das System der Lager für Umerziehung und Arbeit in der Sowjetunion 1923–1960. Handbuch), hrsg. von der Gesellschaft «Memorial» und dem Staatsarchiv der Russischen Föderation. Moskau 1998. Alec Nove, Victims of Stalinism: How many? In: Stalinist Terror. New Perspectives, ed. by J. Arch Getty and Roberta T. Manning, Cambridge-N.Y. 1993, S. 261–274.

Anmerkungen

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20 Schlögel, Traum und Terror, Abschnitt: Blindheit und Terror: Die unterdrückte Volks­ zählung von 1937, S. 153–173. 21 W. B. Žiromskaja (Hg.), Demografičeskaja istoria Rossii v 1930-e gody. Vsgljad v neisvestnoe. Moskau 2001  – Die Schätzungen des erwartbaren Bevölkerungs­ wachstums Russlands im 20. Jahrhundert in: Edmond Thery, La transformation de la Russie, Paris 1914, S. XIII; hier zit. nach Heller, Geschichte der Sowjet­ union I, S. 7. 22 Weitz, Century of Genocide, S. 144–189; hier insbesondere S. 146 f. 23 Vgl. Oleg Khlevniuk, Master of the House. Stalin and His Inner Circle, New Ha­ ven-London 2009. 24 Vgl. Simon Sebag Montefiore, Stalin  – Am Hof des roten Zaren, Frankfurt/M. 2005. 25 Hier zit. nach W. Wladislaw Hedeler, Chronik der Moskauer Schauprozesse 1936, 1937 und 1938. Planung, Inszenierung und Wirkung, Berlin 2003, S. 388, 393. 26 Orlando Figes, Die Flüsterer. Leben in Stalins Russland, Berlin 2008, S. 450–461. 27 Arthur Koestler, Sonnenfinsternis. Roman, Wien 1973 – Die Hauptfigur seines Ruba­ schow ist deutlich an die Figur Nikolai Bucharins angelehnt. 28 Ders., Als Zeuge der Zeit. Das Abenteuer meines Lebens, Bern-München 1984, S. 180. 29 Theo Pirker (Hrsg.), Die Moskauer Schauprozesse 1936–1938, München 1969, S. 226–241; Zitat S. 239 f. – Über «Bucharins Abschied», seine letzten Schriften und Briefe an Stalin, vgl. Schlögel, Traum und Terror, S. 661–684. 30 Paul  R. Gregory, The Political Economy of Stalinism. Evidence from the Soviet Secret Archives, Cambridge 2004, S. 70–75. 31 Eine ausführliche Diskussion dieser Frage findet sich in Arch Getty, Road to Terror, S. 480–490 mit längeren Auszügen aus den Gesprächen, die Feliks Tschujew in den 1970 er Jahren noch mit Molotow geführt hat: Feliks Čuev, Sto sorok besed s Molo­ tovym. Iz dnevnika F. Čueva, Moskau 1991. 32 Analysen zu den Generationsfolgen im engsten Zirkel der sowjetischen Machteliten bei Katya Vladimirov, «We are Neither Stokers nor Woodworkers». Social Origins of the Soviet Party Elite, 1917–1999, in: Russian History  41 (2014), S. 289–297; We, the people: Profiling five Generations of the Soviet Party Elites, 1900–1990; so­ wie «The Moth and the Flame»: Soviet Party Elites and the Purges of the 1930s (je­ weils unter dem Namen der Autorin auf www.academia.edu). 33 Vgl. James Harris, «Was Stalin a weak dictator?», in: Journal of Modern History 75 (2003) 2, S. 375–386. Ein pointierter Vergleich der politischen Systeme und Füh­ rungsstile im NS und Stalinismus findet sich in: Yoram Gorlicki/Hans Mommsen, «The Political (Dis)Orders of Stalinism and National Socialism», in: Sheila Fitzpat­ rick/Michael Geyer (Hrsg.), Beyond Totalitarianism. Stalinism and Nazism Compa­ red, Cambridge 2009, S. 41–86. 34 So der Tenor von Jörg Baberowski, Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt, München 2012. – Vgl. meine kritische Auseinandersetzung in: Weil es Stalin gefiel? Zu J. Baberowskis Deutung des Stalinismus, in: Osteuropa, Jg. 93 (2012), H. 4, S. 81–88. 35 Vgl. etwa das von Karl Schlögel in seinem Buch «Traum und Terror» entfaltete multi-­ perspektivische Bild von Moskau 1937. 36 Thomas Mann, Leiden und Größe Richard Wagners, in: Ders., Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Bd. 10, Frankfurt/M. 1990, S. 419. 37 Schlögel, Traum und Terror, «Gastmahl in Zeiten der Pest». Puschkin-Jubiläum am 10. Februar 1937, S. 198–217.

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Anmerkungen

38 Alexander Solschenizyn, Der Archipel GULAG 1918–1956. Versuch einer künstleri­ schen Bewältigung, Bern 1974, S. 160 f. 39 Sheila Fitzpatrick, «How the Mice buried the Cat. Scenes from the Great Purges of 1937 in the Russian Provinces», in: The Russian Review 52 (1993) 3, S. 299–320. 40 Vgl. die eindrucksvolle Zusammenstellung persönlicher Zeugnisse in Orlando ­Figes, Die Flüsterer, hier insbesondere S. 341–544. 41 Georgi Dimitroff, Die Offensive des Faschismus und die Aufgaben der Kommu­ nistischen Internationale im Kampf für die Einheit der Arbeiterklasse gegen den Faschismus. Bericht auf dem VII. Weltkongress der Kommunistischen Internatio­ nale, 2. August 1935. In: Georgi Dimitroff, Ausgewählte Schriften, Bd. 2, Berlin 1958, S. 523–558. 42 Eine Zusammenstellung aller Ungereimtheiten der Politik der Stalin’schen Führung und Komintern gegenüber dem nationalsozialistischen Deutschland bei: Bayerlein, Deutscher Kommunismus und transnationaler Stalinismus in Deutschland, Russ­ land, Komintern, S. 225–400. 43 Walter Laqueur: Deutschland und Russland, Berlin 1965, S. 291; vgl. dort auch das Kapitel «Antikomintern», S. 209–236. 44 Hans-Heinrich Nolte, ‹Drang nach Osten›. Sowjetische Geschichtsschreibung der deutschen Ostexpansion, Köln – Frankfurt/M. 1976. 45 Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (Bolschewiki). Kurzer Lehrgang, Berlin 1951, S. 412–417. 46 Stalin: Rechenschaftsbericht an den XVIII. Parteitag über die Arbeit des ZK der KPdSU (B), 10. März 1939. In: J. W. Stalin, Fragen des Leninismus, Berlin (DDR) 1948, S. 686–689. 47 Hitler, Rede vor dem Reichstag am 30. Januar 1939, in: Max Domarus (Hrsg.): Hit­ ler. Reden und Proklamationen 1932–1945 (2  Bde.), Würzburg 1962/63, Bd. 2, S. 1058. 48 Dimitroff, Tagebuch, S. 281. 49 Vgl. den Toast Stalins am 20.4.41, in dem er sagte, wenn jetzt Parteien wie die KP USA aus der Komintern austräten, sei das gar nicht schlecht; man könnte später wie­ der eine internationale Organisation gründen; jetzt sei sie eher ein Hindernis. Text und Kommentar mit weiteren Dokumenten in: Bernhard B. Bayerlein, «Der Verrä­ ter, Stalin, bist Du!». Vom Ende der linken Solidarität, Komintern und kommunisti­ sche Parteien im Zweiten Weltkrieg 1939–1941, Berlin 2008, S. 350 ff.; 458. 50 Vgl. die Tagebuchaufzeichnungen Dimitroffs vom November 1941, mit Kommentar in: Ebenda, S. 311–314. 51 Vgl. etwa die Schlusspassagen Boris Pasternak, Doktor Schiwago. Roman (1958). 52 Arthur Koestler: Sowjet-Mythos und Wirklichkeit. In: Der Yogi und der Kommissar. Auseinandersetzungen, Frankfurt/M. 1974, S. 150 ff. 53 Ernst Nolte, Der europäische Bürgerkrieg 1917–1945. Nationalsozialismus und Bol­ schewismus, Frankfurt/M.-Berlin 1987. Zur Kritik vgl. Gerd Koenen, Ein kausaler Nexus? Zur Realgeschichte von Antifaschismus und Antibolschewismus, in: Utopie der Säuberung, S. 191–214. 54 Alle Zitate aus: Gerd Koenen, Die Großen Gesänge. Lenin – Stalin – Mao Tse-tung. Führerkulte und Heldenmythen des 20. Jahrhunderts, Frankfurt/M. 1991, S. 214 ff., 218 ff., 225. 55 George Orwell, 1984, (1950), Schlusspassage.

Anmerkungen

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4. A Tale of Two Empires 1 Mao Tse-tung: Das chinesische Volk ist aufgestanden!, in: Ausgewählte Werke, Bd. V, Peking 1978, S. 13. 2 Harold Mackinder, The Geographical Pivot of History, in: The Geographical Jour­ nal, 1904, 23, S. 421–37; sowie Ders., Democratic Ideals and Reality: A Study in the Politics of Reconstruction, London-N. Y. 1919. 3 Vgl. Rana Mitter, A Bitter Revolution. China’s Struggle with the Modern World, Oxfor-N.Y. 2004; hier insbesondere S. 135 ff. 4 In ihrer Offenherzigkeit interessant, wenn auch mit Vorsicht zu genießen, sind Maos Selbstdarstellungen im berühmtem Bericht von Edgar Snow, Roter Stern über China, Frankfurt/M. 1970, insbesondere Teil IV: Entwicklungsgeschichte eines Kommunis­ ten, hier S. 196 f. Einen konzisen biografischen Abriss liefert Sabine Dabringhaus, Mao Zedong, München 2008, S. 15–25. 5 Vgl. Raymond  F. Wylie, The Emergence of Maoism. Mao Tse-tung, Ch’en Po-ta, and the Search for Chinese Theory 1935–1945, Stanford 1980. 6 Maos drei große militärtheoretische Schriften aus den Jahren 1936–38 beruhten auf einer Theoretisierung bereits gemachter Erfahrungen im Bürgerkrieg und entfalteten sie prospektiv für den bevorstehenden nationalen Widerstandskrieg gegen Japan, damit aber auch für jeden künftigen Kampf gegen «proimperialistische Kräfte» in China selbst. Vgl. Mao Tse-tung, Theorien des Guerillakrieges oder Strategie der Dritten Welt. Einleitender Essay von Sebastian Haffner, Reinbek 1966. 7 Vgl. Jürgen Osterhammel, Shanghai, 30. Mai 1925. Die chinesische Revolution, München 1997, S. 219–225, 231–235. 8 Mao Tse-tung, Gegen den Parteischematismus (8. Februar 1942), in: Ausgewählte Werke Bd. III, S. 55–73, Zitat S. 58 – Die archaisierende Rede von den „Rinderteu­ feln und Schlangengeistern findet sich vor allem in der Zeit der «Kulturrevolution» sowohl in vielen öffentlichen Aufrufen und Instruktionen wie besonders obsessiv auch in seinen informellen Äußerungen – so in einem Brief an seine Frau Tschiang Tsching von 1965, der zugleich von einem abgründigen Pessimismus zeugt, was die spontane Entwicklung des Denkens der Menschen betrifft: «In der ganzen Welt gibt es hundert Parteien, die größte Zahl dieser Parteien glaubt nicht mehr an den Mar­ xismus-Leninismus. Wenn Marx und Lenin bereits von ihnen zerschmettert wurden, um wieviel eher dann wir? … Unsere jetzige Aufgabe heißt, die Rechten in der gan­ zen Partei und im ganzen Land zu einem Teil (vollständig ist unmöglich) niederzu­ schlagen, nach weiteren sieben oder acht Jahren kann man erneut eine Kampagne starten und die Rinderteufel und Schlangengeister wegfegen, später muss so etwas noch viele Male durchgeführt werden.» In: Mao intern. Unveröffentlichte Schriften, Reden und Gespräche Mao Tse-tungs, hrsg. von Helmut Martin, München 1974, S. 207. 9 Joseph W. Esherick, «Ten Theses on the Chinese Revolution», in: Modern China 21 (1995) 1, S. 45–76; insbesondere S. 50–53. Über die terroristischen «Selbstreform»-­ Praktiken vgl. Jean-Louis Margolin, «China. Ein langer Marsch in die Nacht», in: Courtois u. a. (Hrsg.), Schwarzbuch des Kommunismus, S. 511–608; hier insbeson­ dere S. 523 ff. In milderem Licht, vor allem aus der Perspektive der kritisierten Schriftstellerin Ding Ling, beschreibt Jonathan D. Spence diese Prozesse in: Das Tor des Himmlischen Friedens. Die Chinesen und ihre Revolution 1895–1980, Mün­ chen 1985, insbesondere S. 293–306. 10 Feliks Čuev, Što sorok besed s Molotovym, Moskau 1991; engl. Ausgabe: Molotov Remembers. Inside Kremlin Politics. Conversations with Felix Chuev. Ed. and with an introduction by Albert Resis, Chicago 1993, S. 59.

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Anmerkungen

Chen Jian, Mao’s China and the Cold War, Chapel Hill, London 2001. Die sowjetische Rüstung 1983. Studie von Pentagon und NATO, Koblenz 1983. Hobsbawm, Zeitalter der Extreme, S. 324–362. Ebenda, S. 338. Ebenda, S. 340 ff., 348. Ebenda, S. 22 f. Stalin, «Ökonomische Grundlagen des Sozialismus», in: Stalin Werke, Bd. 15, S. 324 ff. Vgl. etwa Jonathan Brent/Vladimir Naumov: Stalin’s Last Crime. The Plot against the Jewish Doctors 1948–1953, N.Y. 2003; sowie Arno Lustiger: Rotbuch. Stalin und die Juden. Die tragische Geschichte des Jüdischen Antifaschistischen Komi­tees und der sowjetischen Juden, Berlin 1998. Vgl. Gerd Koenen, Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967–1977, Köln 2001. Mao Zedong, Speech at the Meeting of the Representatives of Sixty-four Commu­ nist and Workers’ Parties (Edited by Mao), November 18, 1957, in: Selected Works of Mao Zedong, Vol. 7 (Beijing 1999); in engl. Übersetzung von Michael Schoen­ hals, Mao Zedong: Speeches at the 1957 Moscow Conference, in: Journal of Com­ munist Studies 2, No. 2 (1986), S. 109–126. Hobsbawm, Zeitalter der Extreme, S. 329. Die Polemik über die Generallinie der internationalen kommunistischen Bewegung, Berlin 1970. Hier zit. nach Rainald Martin, Verblichene Blutspuren. Die Opfer der chinesischen Revolution, in: Nachdenken über China, hrsg. von Ulrich Menzel, Frankfurt/M. 1990, S. 260. Mao Tse-tung, Rede auf einer Konferenz der Sekretäre der Parteikomitees in den Provinzen, Städten und Autonomen Gebieten, Januar 1957, in: Ders., Ausgewählte Werke, Bd. V, S. 405 f. Mao, Speech at the Group Leaders’ Forum of the Enlarged Meeting of the Military Affairs Committee, 28 (Excerpts). June 18, 1958, in: Mao Zedong, Collected Works, Bd. VIII, Hyderabad, Indien  – Hier nach einer überarbeiteten Version des Maoist Documentation Project (www.marxists.org). Vgl. Margolin, China, ein langer Marsch, S. 536–552. Dass in den «Großen Sprung nach vorn» durchaus utopische Erwartungen unter den jugendlichen Massen der nachrevolutionären Gesellschaft Chinas einflossen, betont Mitter, A Bitter Revolu­ tion, S. 194–198. Jang Yisheng, Grabstein. Die große chinesische Hungerkatastrophe 1958–1962, Frankfurt/M. 2012. Mao Tse-tung, Down With The Prince Of Hell, Liberate the Little Devil(s) – A Talk with such Comrades As K’ang Sheng, February 28, 1966, in: Selected Works of Mao Tse-tung, Bd. IX, Hyderabad (Indien). (https://www.marxists.org/reference/archive/ mao/selected-works/volume-9/mswv9_52htm)  – Das Zitat, welches in Publikatio­ nen der Roten Garden zirkulierte, stammte offenbar aus einem informellen Ge­ spräch Maos mit seiner Gattin Tschiang Tsching und Geheimdienstchef Kang Sheng in Shanghai, das einen Startschuss für die «Kulturrevolution» lieferte. (Diesen Hin­ weis verdanke ich Helmut Forster.) Die Reise in den Westen. Ein klassischer chinesischer Roman. Mit 100 Holzschnitten nach alten Ausgaben. Übersetzt und kommentiert von Eva Lüdi Kong, Stuttgart 2016. Mao, Genossen Kuo Muo-jo erwidernd, Januar 1963, in: Mao Tse-tung, 37  Ge­ dichte, übersetzt von Joachim Schickel, Hamburg 1965, S. 43.

Anmerkungen

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31 Edgar Snow, Interview mit Mao Tse-tung am 9. November 1965, in: Ders., Die lange Revolution. China zwischen Tradition und Moderne, Stuttgart 1973, S. 233 ff. 32 Helmut Martin, Kult und Kanon. Entstehung und Entwicklung des Staatsmaois­ mus, Hamburg 1978, S. 12 ff. 33 Osterhammel, Shanghai, S. 29 f. – Die Zahlen sind entnommen: R. J. Rummel, China’s Bloody Century. Genocide und Mass Murder since 1900, New Brunswick, NJ-Lon­ don 1991. 34 Einen Überblick über die Literatur zu diesem Thema liefert Thoralf Klein, «Techno­ logische Innovation oder soziale Revolution? Chinas Bauern in der Transformation der Agrargesellschaft», in: Geschichte und Gesellschaft  33 (2007) 4, S. 575–611, insbesondere S. 578–584. 35 Roderick MacFarquhar/Michael Schoenhals, Mao’s Last Revolution, Cambridge-­ London 2006. 36 Vgl. etwa Roger Faligot, Rémi Kauffer: Der Meister der Schatten. Kang Sheng und der chinesische Geheimdienst 1927–1987. München 1988; Frederick C. Teiwes/War­ ren Sun, The Tragedy of Lin Biao: Riding the Tiger during the Cultural Revolution 1966–1971, Honolulu 1996. 37 MacFarquhar/Schoenhals, Mao’s Last Revolution, S. 3. 38 Ebenda. 39 Als «Meiji-Restauration» werden die der Wiedererrichtung eines kaiserlichen Zen­ tralstaats in Japan 1868 folgenden, an westliche Vorbilder angelehnten «Reformen von oben» bezeichnet, die in vieler Hinsicht denen in Preußen-Deutschland unter Bismarck folgten bzw. parallel gingen. 40 Deng Xioaping, «Respect Knowledge, Respect Trained Personnel». Gespräch mit zwei führenden Genossen des Zentralkomitees der KP Chinas, 24. Mai 1977. 41 Khrushchev on Khrushchev: An Inside Account of the Man and His Era, by His Son, Sergei Khrushchev, Boston 1990, S. 627. 42 Gregory, Political Economy, S. 259 f. Vgl. auch Bob Arnot, «Soviet Labour Produc­ tivity and the Failure of the Shchekino Experiment», in: Critique 15 (1986) 1, Vol. 1, 31–56. 43 Boris  Z. Rumer, Soviet Steel. The Challenge of Industrial Modernization in the USSR, Ithaca, N. Y. 1989. 44 Stephen Kotkin, Armageddon Averted. The Soviet Collapse 1970–2000, Oxford 2008, S. 63. 45 Gorbatschow, Perestrojka. Die zweite russische Revolution. Eine neue Politik für Europa und die Welt, München 1987, S. 43. 46 Vgl. Brown, Aufstieg und Fall, S. 792–795. 47 Alexander Jakowlew: Ein Jahrhundert der Gewalt in Sowjetrussland, Berlin 2004, S. 32. 48 Michail Gorbatschow, Alles zu seiner Zeit. Mein Leben, Hamburg 2013, S. 46. 49 Ders., Erinnerungen, Berlin 1996, S. 169. 50 Jakowlew, Jahrhundert der Gewalt, S. 27. 51 So auch Kotkin, Armageddon Averted, mit Verweis auf eine Reihe weiterer Autoren. Ähnlich Brown, Aufstieg und Fall, S. 796 ff. 52 Zit. nach György Dalos, Lebt wohl, Genossen! Der Untergang des sowjetischen Im­ periums, München 2011, S. 93 f.

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Anmerkungen Teil XII: Die postkommunistische Situation

1. Wege der Auflösung 1 Vgl. Gregory, Political Economy, S. 243–267. 2 Ebenda, S. 183–212. 3 Vgl. Robert William Davies, «Changing Economic Systems. An Overwiew», in: Ro­ bert William Davies/Mark Harrison/S. G. Wheatcroft (Hrsg.), The Economic Trans­ formation of the Soviet-Union. 1913–1945, Cambridge 1994, S. 18 f. 4 Boris Jelzin, Aufzeichnungen eines Unbequemen, München 1990, S. 81. 5 Kotkin, Armageddon Averted, S. 115–140. 6 Eine Gesamtzahl für die Kosten des Imperiums und seiner Vasallen und Klienten ist mir nicht bekannt. Für 1960–1980 sind von US-Analysten allein die Subventionierun­ gen der europäischen RGW-Länder auf über 87  Mrd. US-$ veranschlagt worden. Joint Economic Committee (Hrsg.), Soviet Economy in the 1980’s: Problems and Pro­ spects, Bd. 1, Wa­shington 1982, S. 102–116, hier zit. nach Plaggenborg, Experiment Moderne, S. 315. 7 Selbst die offiziellen Militäretats beider Staaten lagen 1987 fast gleichauf – 290 Mrd. US-$ der USA gegenüber 260 Mrd. US-$ der UdSSR. Dabei dürfte das reale BSP der UdSSR nach neueren Berechnungen nur etwa ein Drittel dessen der USA betragen haben. Über die verschiedenen Schätzungen (insbesondere Kritiken der überhöhten CIA-Schätzungen, die das BSP der UdSSR auf etwa die Hälfte dessen der USA veran­ schlagten), vgl. Abram Bergson, «How big was the Soviet GDP?», in: Comparative Economic Studies, 39 (1997), 22. März 1997, S. 1–14. 8 Die Rüstungsausgaben der UdSSR wurden von Beginn an nur partiell in den staat­ lichen Rüstungsetats ausgewiesen. Nach skrupulösen Berechnungen westlicher For­ scher betrugen sie mindestens 15 % des Bruttosozialprodukts, schon das eine singu­ läre Größe in Friedenszeiten. Berechnungen russischer wie westlicher Autoren ka­ men nach 1990 noch einmal zu deutlich höheren Zahlen, in der Größenordnung von 20 % und mehr, nicht zuletzt auf Grund von Angaben aus dem Umfeld Gor­ batschows, der selbst in einer Rede 1990 davon sprach, dass «das spezifische Ge­ wicht der Militärausgaben bei uns 18 % des Nationaleinkommens (erreichte), was kein einziger Staat der Welt hat». (Prawda, 29.4.1990). Vgl. Hans-Henning Schrö­ der, Sowjetische Rüstungs- und Sicherheitspolitik zwischen «Stagnation» und «Pere­ strojka», Baden-Baden 1995, Kap. 2: In der Sackgasse der Überrüstung, S. 27–83. 9 Vgl. meine Darstellung in: Gerd Koenen, Traumpfade der Weltrevolution. Das Gue­ vara-Projekt, Köln 2008, S. 305–311, S. 423–429; darin auch ein Referat der poli­ tisch-ökonomischen Schriften Guevaras, darunter «Mensch und Sozialismus auf Kuba» oder seine erst unlängst publizierten, nachgelassenen Kritiken der sowjetischen Theorien und Praktiken: Apuntes Críticos a la Economía Política, Havanna 2007. 10 Michail Scholochow: Der stille Don. Bde. 1–4, Berlin (Ost) 1947; hier Band 2: Krieg und Revolution, S.362 f. 11 Zu den geheimdienstlichen Verschlingungen des sowjetischen Großautors, womög­ lich Kollektivautors Scholochow und dem dokumentarischen Ausgangsmaterial sei­ nes mehrfach überarbeiteten Romans Felix Philipp Ingold: Geklonter Nobelpreis­ träger. Ein epochaler Betrug  – neue Debatten um Michail Scholochow. In: Neue Zürcher Zeitung, 23. August 2006. Seine Position wird gestützt durch die zwanzig­ jährigen Recherchen des israelischen Literaturwissenschaftlers Bar-Sella, kurz zu­ sammengefasst in: Kerstin Holm, Die Ruhmsucht der Sowjetunion, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31.7.2015.

Anmerkungen

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12 Babel; hier: Der Verrat, in: Babel, Prosa, S. 258. 13 Über das Schicksal Isaak Babels und der 1939, nach dem Sturz von Jeshow, verhaf­ teten Gruppe von Schriftstellern und Künstlern wie Michail Kolzow und Wsewolod Meyerhold ist nach den Dokumentenfunden der 1990 er Jahre vieles bekannt und veröffentlicht worden. Vgl. etwa Arkadi Waksberg, Die Verfolgten Stalins. Aus den Verliesen des KGB, Reinbek 1993, Kap. 1: Drei Opfer: Kolzow – Meyerhold – Babel, S. 17–66; Witali Schentalinski, Das auferstandene Wort. Verfolgte russische Schrift­ steller in ihren letzten Briefen, Gedichten und Aufzeichnungen. Aus den Archiven sowjetischer Geheimdienste, Bergisch-Gladbach 1996, insbes. Kapitel 2: «Ich bitte, mich anzuhören». Das Dossier von Isaak Babel, S. 35–123; Venedikt Sarnov, Impe­ rija Zla. Sudby pisatelej, Mokau 2011, S. 13–90. Vgl. auch Reinhard Krumm, Isaak Babel. Schreiben unter Stalin. Eine Biographie, Norderstedt 2005. 14 Claude Lefort, Complications. Communism and the Dilemmas of Democracy, N.Y. 2007, S. 169 f. 15 Das Zitat bei Richard Sennett, Autorität, Frankfurt/M. 1985, S. 94, 101. 16 Henri Barbusse, Stalin – Eine neue Welt, Paris 1935, S. 285 f. 17 Ernst Bloch, Zur Originalgeschichte des Dritten Reiches. Zuerst veröffentlicht in Moskau 1937. Wieder abgedruckt in: Erbschaft dieser Zeit, Frankfurt/M. 1977, S. 128 f., 147 ff. 18 Ronald  M. Schernikau, Rede auf dem Kongreß der Schriftsteller der DDR, 1. bis 3. März 1990 (http://www.schernikau.net/*/essays/schriftstellerkongress/. 19 Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 479. 20 Arendt war mit den russischen und sowjetischen Dingen sowohl von ihrer Herkunft her wie durch ihre langjährige Verbindung mit Heinrich Blücher eng vertraut. Vgl. Karl Schlögel, Archäologie totaler Herrschaft. Russland im Horizont von Hannah Arendt, in: Gerd Koenen/Lew Kopelew, (Hrsg.) Deutschland und die russische Re­ volution (= Westöstliche Spiegelungen Reihe  A, Band  5), München 1998, S. 790804 – Ob die Sowjetunion nach 1956 noch als «totalitär» zu bezeichnen war, war ihr fraglich; und was das China Mao Tse-tungs betraf, war sie vorerst unsicher; vgl. ihr Vorwort von 1966 zum Bd. III: Totale Herrschaft, S. 473–494. Sie hätte die­ sem Mangel Ende der 1950 er Jahre durch ein eigenes, viertes Buch über den Mar­ xismus, den Bolschewismus und die kommunistische Weltbewegung abhelfen wol­ len, das sie dann aber nicht mehr schrieb. Vgl. Margaret Canovan, The Political Thought of Hannah Arendt, London 1974, S. 12. 21 Figes, Die Flüsterer, S. 895–900. 22 Catherine Merridale, Steinerne Nächte. Leiden und Sterben in Russland, München 2001, S. 446. 23 Gerd Koenen, Der Kindertraum des Kommunismus, in: PflasterStrand, Juli 1990. 24 Ders., Unsere kleine deutsche Kulturrevolution, in: Nachdenken über China, hrsg. von Ulrich Menzel, Frankfurt/M. 1990, S. 242–253; Zitat S. 252. 25 Stellvertretend für viele: Chen Guidi und Wu Chuntao: Zur Lage der chinesischen Bauern. Eine Reportage, Frankfurt/M. 2011; Yang Jisheng, Grabstein – Mübei. Die große chinesische Hungerkatastrophe 1958–1962, Frankfurt/M. 2012; Liao Yiwu, Fräulein Hallo und der Bauernkaiser. Chinas Gesellschaft von unten, Frankfurt/M. 2009. Eine epische filmische Dokumentation des Schicksals der «alten» Industrien und Arbeiterschaften Nordchinas bietet Wang Bing, Tie Xi Qu: West of the Tracks (2003). 26 Eine anschauliche Darstellung des Kampfs um die Geschichte findet sich in: Richard McGregor, The Party. The Secret World of China’s Communist Rulers, N. Y. 2010, Kap. 8: Tombstone: The Party and History, S. 229–262.

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Anmerkungen

2. Das Gespenst des Kapitals 1 Perry Anderson: Two Revolutions. Rough Notes, in: New Left Review 61 (2010) 1, S. 59–96, hier S. 95. 2 Jessica  T. Matthews, Can China replace the West?, in: The New York Review of Books, 11. Mai 2017; eine kritische Rezension von Gideon Rachman: Easterniza­ tion: Asia’s Rise and America’s Decline, N. Y. 2017. 3 B. R. Myers, The Cleanest Race: How North Koreans See Themselves – and Why it Matters, N. Y. 2009 – Das Buch beruht vor allem auf einer Analyse von nordkorea­ nischen Propagandaschriften, aber auch von Spielfilmen, Erzählungen und Gemäl­ den. 4 Forschungen seit den 1970 er Jahren haben demonstriert, dass die Wachstumsraten der britischen Industrie bis dahin deutlich überschätzt worden sind. Statt 3 % oder mehr pro Jahr waren es im Schnitt allenfalls 2 %, und das pro Kopf-Einkommen stieg allenfalls um 0,5–1,0 %. Vgl. etwa Komlos, Industrial Revolution and Malt­ husian Trap, S. 318 f. (unter Verweis auf weitere Forschungen). – Ebenso Gerhard A. Ritter/Klaus Tenfelde, Arbeiter im Deutschen Kaiserreich 1871–1914, Bonn 1992, S. 15 f. – Der klassischen Modernisierungstheorie von Walt Rostow zufolge tritt eine Volkswirtschaft, wie zuerst die einiger westeuropäischer Länder Ende des 19. Jahrhunderts, in das Stadium eines «selbsttragenden Aufschwungs» (oder take-­off) ein, wenn die Investitionsrate sich von den bisherigen 5 % in Richtung 10 % des Bruttosozialprodukts bewegt. Vgl. W. W. Rostow, The Stages of Econo­ mic Growth: A Non-Communist Manifesto. Cambridge 1960, Zusammenfassung S. 4–16. 5 Das Absinken der Konsumtionsrate auf circa die Hälfe der in den USA konstatierte Paul Krugman, Will China break? in: New York Times, 19.12.2011 – Dass die In­ vestitionsrate von 1978 bis 2002 im Schnitt bei 30–40 % im Jahr gelegen hat, und mit den Investitionsprogrammen nach der Finanzkrise von 2008/09 bis 2011 auf 47 % gesteigert wurde, sind unangefochtene Zahlen, die sich etwa im «Länder­ bericht China: Reform oder Instabilität?» des Bundesverbandes der Deutschen In­ dustrie vom 30.11.2015 finden, vgl. S. 16 f. 6 Die These, dass vor allem die Verbindung mit dem «Chinese diaspora capital», die nach dem Anschluss Hongkongs 1997 dann in die flexible Formel «Eine Nation, zwei Systeme» gefasst wurde, den eigentlichen «Matchmaker» für die Dynamik des chinesischen Aufschwungs gespielt habe, vertritt etwa Giovanni Arrighi: Adam Smith in Beijing. Lineages of the Twenty-first Century, London 2008, S. 351 ff. 7 Anderson: Two Revolutions, S. 93 f. 8 Vgl. Bayly, Die Geburt der modernen Welt; Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. 9 Pomeranz, The Great Divergence. 10 Aman Sethi, A Free Man, N. Y. 2012. 11 FAZ, 16. November 2012. 12 Der politische Zusammenbruch nimmt oft bei der Ideologie seinen Anfang. Eine im Netz kursierende scharfe Rede von Xi Jinping, URL: www.chinablaetter.info/cate­ gory/cb-materialien (10.4.2014). 13 Vgl. etwa Harro von Senger: Moulüe – Supraplanung. Unbekannte Denkhorizonte aus dem Reich der Mitte, München 2008, S. 116. 14 Thomas Heberer, Chinesischer Sozialismus = Sozialistischer Konfuzianismus? Der Widerstreit zwischen Tradition und Moderne, in: Nachdenken über China, S. 132 f. 15 Statut der Kommunistischen Partei Chinas. In der auf dem XVIII. Parteitag der

Anmerkungen

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Kommunistischen Partei Chinas am 14. November 2012 zuletzt abgeänderten und angenommenen Fassung, URL: www.german.china.org.cn (27.9.2012). Anderson, Two Revolutions, S. 59. Brook Larmer, Is China the World’s New Colonial Power? (Eine Namibia-Reportage), in: The New York Times Magazine, 2. Mai 2017. McGregor, The Party, S. 17. Arendt, Elemente und Ursprünge, S. 379. Joan Robinson, Die fatale politische Ökonomie, Frankfurt/M.-Wien 1968, S. 7. Lester C. Thurow, Die Zukunft des Kapitalismus, Düsseldorf 1998, S. 59 – Hier zitiert nach Hosfeld, Die Geister, die er rief, S. v184. Hier zit. nach Skidelsky, Keynes versus Marx, S. 334. Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Moderne. Über das anti-genealogische Experiment der Moderne, Frankfurt/M. 2014, S. 217, 221. – Sloterdijk zitiert Maurizio Lazzarato, Die Fabrik der verschuldeten Menschen. Ein Essay über das neoliberale Leben, Berlin 2012. Joseph Stiglitz, Toward a General Theory of Consumerism: Reflections on Keynes’ Economic Possibilities for our Grandchildren, in: Lorenzo Pecchi and Gustavo Piga (Eds.), Revisiting Keynes: Economic Possibilities for Our Grandchildren, S. 41–85. John Maynard Keynes, Wirtschaftliche Möglichkeiten unserer Enkelkinder, in: Ders., Politik und Wirtschaft. Männer und Probleme. Ausgewählte Abhandlungen von John Maynard Keynes, Tübingen-Zürich 1956, S. 267. Robert Skidelsky, John Maynard Keynes – The Economist as Saviour 1917–1937, London 1992, S. 488. Marx, Grundrisse, S. 231, 505, 512.

EPILOG Das weiße Rauschen 1 Gerd Koenen, Das rote Jahrzehnt, insbesondere das Kapitel: Bleierne Zeit. Der KBW als Schule eines virtuellen Totalitarismus, S. 415–468. 2 Hobsbawm, Age of Revolution, S. X. 3 Marx, Der achtzehnte Brumaire, S. 115.

BILDNACHWEIS

Der Tafelteil mit den Abbildungen befindet sich zwischen den Seiten 568 und 569. Tafel 1 oben (Pictures from History), 2 oben, 2 unten links (Album/Prisma), 2 unten rechts (De Agostini Picture Library), 3 unten (Lithographie von Franz Kugler, 1828), 4 oben (Holzstich, aus: George Barnett Smith: The Life of the Right Honourable ­William E. Gladstone, Bd. 1, London o. J.), 7 oben (Fototeca Gilardi), 7 unten rechts (Lichtdruck nach Porträtaufnahme von Philipp Graff, um 1862), 8 oben, 9 oben links, 9 oben rechts (Ausschnitt – Sputnik), 9 unten, 10 oben (Sputnik), 11 oben links (Elizaveta Becker), 11 oben Mitte (Ausschnitt  – Imagno/Votava), 11 oben rechts (TT News Agency/SVT), 11 Mitte links (Sputnik), 11 unten rechts (Archive Photos), 12 oben (Archive Photos), 13 oben (Universal Images Group/Sovfoto), 13 Mitte ­(Universal Images Group/Sovfoto), 14 unten (IAM), 15 oben (Pictures from History), 15 unten (Pictures from History): akg-images, Berlin Tafel 1 unten: Privatarchiv von Keng Vannsak; hier: Philip Short: Pol Pot. Anatomy of a Nightmare, New York 2005 Tafel 3 oben links, 4 unten (Privatsammlung/© Look and Learn/Peter Jackson Collec­ tion), 5 unten (William Edward Kilburn/Royal Collection Trust © Her Majesty Queen Elizabeth II, 2017), 11 Mitte rechts (Universal History Archive/UIG): Bridge­ man Images, Berlin Tafel 3 oben rechts (Zeichnung), 6 unten (Ausschnitt): bpk-Bildagentur, Berlin Tafel 5 oben (United Archives), 12 unten (Heritage Images/Fine Art Images), 13 unten: ullstein bild, Berlin Tafel 6 oben: Karl Marx – Friedrich Engels. Gesamtausgabe (MEGA), Dritte Abteilung, Briefwechsel, Band 1 – Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und vom Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands; hier: Karl Marx – Friedrich Engels. Briefwechsel bis April 1846 (Text), Berlin 1975 Tafel 7 unten links: Public Domain/Wikimedia Commons Tafel 8 unten: New England Historical Society Tafel  10 unten: (World History Archive), 11 unten links (World History Archive), 14 oben (marka): Alamy Limited, Abingdon, Oxon (UK) Tafel  16 oben: © picture-alliance/dpa  – Report/RIA Nowosti: dpa Picture-Alliance, Frankfurt/Main Tafel 16 unten: Carlos Barria/Thomson Reuters, Berlin Leider war es nicht in allen Fällen möglich, die Inhaber der Rechte zu ermitteln. Wir bit­ ten deshalb gegebenenfalls um Mitteilung. Der Verlag ist bereit, berechtigte Ansprüche abzugelten.

PERSONENREGISTER

Achmatowa, Anna  938 Adenauer, Konrad  34 Adler, Victor  439, 465, 660 Aganbegjan, Abel  972 Akashi 669 Alberti, Rafael  939 Alexander I., Zar 201 Alexander II., Zar  504, 515, 518, 522, 525 f. Alexander III., Zar  499, 503, 518, 521 f., 601, 614, 678, 681 Alexander III. der Große, König von Makedonien  66, 994 Alexander Michailowitsch, Groß­ fürst 620 Alexandra Fjodorowna, Zarin  601, 616, 678 f., 682, 691 f., 694, 844 Alexej Alexandrowitsch, Großfürst  616 f. Alexej Nikolajewitsch, Zarewitsch  616 f., 678 f., 702 Alexejew, Michail  694, 782 f. Algarotti, Francesco  490 Allilujewa, Nadeschda  774 Ambrosius von Mailand  94 Anderson, Perry  1003, 1017 Andrejew, Leonid  605, 617 Andrejewa, Maria  647 Andropow, Juri  921, 976 Anneke, Fritz  236 f. Annenkow, Pawel  361 Antonow, Alexander  814 f. Antonow-Owsejenko, Wladimir  815 Aragon, Louis  939 Arendt, Hannah  113, 141, 149, 152, 154, 232 f., 239, 996 f., 1023 Aristoteles  47, 56, 86–88 Arkwright, Richard  250, 253, 267 Armand, Inessa  626 f., 654 f., 716 Asef, Jewno  622 Assmann, Jan  48 Atatürk, Mustafa Kemal  836, 866 Augustinus von Hippo  98, 141

Augustus, römischer Kaiser 994 Axelrod, Pawel  518, 546, 557 f., 584 Babel, Isaak  778, 845 f., 915, 991 Babeuf, François Noël  173 f., 178, 188, 204, 289, 297, 359 f. Babuschkin, Iwan  555 Bachofen, Johann Jakob  62 Bachtin, Michail  989 Bacon, Francis  126 Badiou, Alain  54 Baez, Joan  432 Bakunin, Michail Alexandrowitsch  22, 179, 361, 414, 427 f., 455, 466, 505, 539–542, 604 Balabanoff, Angelica  665 Ball, John  19, 108 Balzac, Honoré de  262, 361, 453 Bangya, János  325 Barbès, Armand  220 Barbusse, Henri  993 Barthel, Kurt (Kuba)  52 f., 940 Bauer, Bruno  235 Bauer, Heinrich  307 Bauer, Otto  465, 831 Bayly, Christopher A.  1012 Bazard, Amand  208 Beaumont, Gustave de  394–396 Bebel, August  47, 212, 291, 327 f., 351, 357, 370, 376–380, 404,406, 410, 438–441, 444–406., 447, 451 f., 457, 460, 464–466, 514, 541, 559, 586, 647, 652 f., 666, 876 Bebel, Julie  376 Becher, Johannes R.  939 Bechterew, Wladimir  897 Becker, August  193 Becker, Herrmann Heinrich  304 Beer, Max  51, 177 Belinski, Wissarion  493 Bellers, John  215

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Personenregister

Bely, Andrej  605, 617 Benjamin, Walter  148 Bentham, Jeremy  214 f., 266 f., 390 Berdjajew, Nikolai  499, 629, 823–825 Bergson, Henri  661 Berija, Lawrenti  907, 914, 957 Berlin, Isaiah  471 Berman, Marshall  299, 453 Bernstein, Eduard  62, 442–444, 465–467, 583, 638 Bertier de Sauvigny, Guillaume de  218 Bethmann-Hollweg, Theobald von  658, 667, 672, 676, 716, 724 Bilibin, Iwan  617 Bismarck, Otto von  34, 199, 307, 349–354, 408–410, 417, 419, 432, 540, 624, 679 Blanc, Louis  222, 237, 278, 283, 309, 346, 407 f. Blank, Alexander (Israel)  516, 524 Blank, Karl  305 Blank, Marie, geb. Engels  305 Blanqui, Adolphe  250 Blanqui, Auguste  178, 187 f., 218–220, 222 f., 250, 307, 460, 528, 551 Bloch, Ernst  891, 993 f. Blochin, Wassili  915 Blok, Alexander  162, 617, 706 Blum, Robert  369 Boeckh, August  339 Böhm-Bawerk, Eugen  467 Börne, Ludwig  233 f., 316, 332 Bogdanow (Malinowski), Alexan­ der  635–638, 641 f., 645, 778 Bogolepow, Nikolai  605 Bonneville, Nicholas de  167, 171, 173 Bontsch-Brujewitsch, Wladimir  755 Bordiga, Amadeo  864 Born, Stephan  366 Bornstedt, Eduard von  199 Borodin, Michail  945 Boulanger, Georges  432 Braudel, Fernand  117 Brazier, Marguerite  167 Brecht, Bertolt  52, 882, 956 Brentano, Clemens  201 Breschnew, Leonid  52, 921, 971 f., 1001 Bright, John  425

Brissot, Jacques Pierre  140, 171 Brjussow, Waleri  617 Brockdorff-Rantzau, Ulrich von  672 Brodsky, Isaak  617 Bronski, Mieczyslaw  697, 859 Bronstein, Lew siehe Trotzki Brousse, Paul  18 Brown, Archie  36 Brown, John  391 Brussilow, Alexej  684 f., 691, 808 Buchanan, George William  692, 789 Bucharin, Nikolai  579, 672, 690, 792, 795, 831, 899, 903, 912, 919, 921 Buckle, Henry Thomas  379 Budé, Guillaume  168 Budjonny, Semjon  815, 850, 867 Büchner, Ernst  194 Büchner, Georg  186–195, 200, 270, 307, 344, 348, 368 Büchner, Ludwig  193, 368, 379 Bulgakow, Michail  839, 919, 991 Bulgakow, Sergej  629, 823 Buonarotti, Filippo  173, 177 f., 181, 188, 289, 297, 358–360 Burckhardt, Jacob  331 Burke, Edmund  150, 161 Burke, Peter  116 Burns, Lizzie (Lydia)  365–367 Burns, Mary  365 f. Burns, Mary Ellen  367 Bush, George H. W.  978 Byron, George Gordon  362 Cabet, Étienne  220 f. Calvin, Johannes  98 f. Campanella, Tommaso  22, 123 f., 126, 297, 359 Camphausen, Ludolf  236 Carey, Henry Charles  464 Carlyle, Thomas  164, 208, 261 Carr, Edward Hallett  361 Carrier, Jean-Baptiste  160 f. Cartwright, Edmund  253 Casanova, Giacomo  333, 360 Castro, Fidel  29 f., 471, 892, 906, 953, 988 Ceauşescu, Elena  982 Ceauşescu, Nicolae  39, 979, 982 Céline, Louis-Ferdinand  990 Chamberlain, Neville  878

Personenregister Chen Boda  461 Chevalier, Michel  209 Chomjakow, Alexej  493 Chruschtschow, Nikita  30, 52, 400 f., 830, 909, 957 f., 960, 962 f., 969, 971, 975, 977 Chruschtschow, Sergej  971 Chrustaljow-Nossar, Georgi  615, 620 Churchill, Winston  833, 843 Cicero, Marcus Tullius  117 Clausewitz, Carl von  195, 720, 951 Clemenceau, Georges  843 Cluß, Adolf  363 Cobden, Richard  268, 384, 390, 425 Cohn, Norman  112 Columbus, Christoph  118 Compton, Samuel  253 Comte, Auguste  210, 266, 408, 439, 462, 464 Condorcet, Nicolas de  139–141 Connolly, James  62 Considérant, Victor  210, 212, 237 Courtois, Stéphane  35 f. Croce, Benedetto  467 Cromwell, Oliver  107 f., 120 Curzon, George  869 Däubler, Theodor  890 Dahrendorf, Ralf  887 D’Alembert, Jean-Baptiste le Rond  140 f. Dalos, György  979 Dammer, Otto  345 Danielson, Nikolai  544, 549 f., 556, 561, 563 Dante Alighieri  104, 454 f. Danton, Georges  157, 188–191, 270, 758 D’Argenson, Voyer  178 Darthé, Augustin  173 Darwin, Charles  23, 34, 378 f., 439, 454, 459 f., 462, 520, 569 f., 573, 761, 945 Daumier, Honoré  198 De Custine, Astolphe  542 De Vries, Jan  254, 373 De Warens, Françoise-Louise  143 Degajew, Sergej  523 D’Eichthal, Gustave  208 Delacroix, Eugène  270

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Demuth, Frederick  363 Demuth, Helene «Lenchen»  363 f. Deng Xiaoping  111, 903, 918, 943, 950, 961 f., 970, 1003, 1010 Denikin, Anton  783, 814, 827, 835 Dennis, John  134 Desai, Meghnad  1025 Descartes, René  140 Desmoulins, Camille  191 Desmoulins, Lucile  191 D’Ester, Carl  236 Destutt de Tracy, Antoine Louis Claude 266 Deutsch, Felix  797 Deutsch, Lew Grigorjewitsch  546 Dewey, John  945 Dezamy, Théodore  220 D’Holbach, Paul Henri Thiry  132 Dickens, Charles  262, 455 Diderot, Denis  129, 138 Dieterici, Karl Friedrich Wilhelm  347 Dimitroff, Georgi  883, 914, 928, 934 Disraeli, Benjamin  45, 262, 432, 502 Dommanget, Maurice  18 Dostojewski, Fjodor  22, 449, 493, 523, 526, 530, 629, 765, 794 Douglass, Frederick  391 Dreyfus, Alfred  432, 527, 541, 741, 745 Dronke, Ernst  312 Drumont, Édouard  449 Dschugaschwili, Iossif siehe Stalin Dschugaschwili, Jakow  575 Duchonin, Nikolai  785 Dühring, Eugen  301, 464 f., 592 Dulles, John Foster  28 Duncker, Franz  339 f. Duncker, Lina  340 Durnovo, Pjotr  614, 618, 620 f., 624, 682 f. Dybenko, Pawel  720, 768 Dzierzynski, Felix  758, 763, 796, 812, 823, 841 f., 868, 894, 915 Ebert, Friedrich  697 Eckart, Dietrich  862 Ehrenburg, Ilja  778, 839, 936 Einstein, Albert  34, 640 Eisenhower, Dwight D.  28 Eisenstein, Sergej  612 f.

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Personenregister

Elisabeth I., Königin von England 272 Enfantin, Barthélemy Prosper  207–209, 212 Engels, Friedrich (Vater)  305 Engels, Friedrich  14, 22, 34 f., 36, 38, 45, 47, 50 f., 60, 62 f., 105 f., 135, 179, 191, 201, 204, 216, 230 f., 233–235, 250 f., 260–262, 290 f., 296–301, 304–307, 309–313, 316 f., 319, 321–326, 330, 338, 341, 344, 362–369, 378, 405 f., 408–418, 422, 424–428, 438 f., 442, 445, 451, 453, 455–469, 471–474, 495 f., 522, 539, 542, 548–550, 552, 556, 586, 592, 637–639, 666, 671, 697, 744, 762, 1003, 1031 Enver Pascha  39 Epikur  47, 246 Epstein, Mikhael  503 Erasmus von Rotterdam  98 Ezechiel 76 Fadejew, Alexander  846 Feuchtwanger, Lion  920 Feuerbach, Ludwig  246 f., 332 Fichte, Johann Gottlieb  229, 332 Figes, Orlando  509, 998 Flocon, Ferdinand  315 Foch, Ferdinand  789 Follen, Karl  181 Forrest, Jean Kurt  52 Fourier, Charles  22, 88, 188, 203 f., 208, 210–213, 237, 278, 297, 335, 358, 378, 439, 541, 560 Frank, Semjon  629, 823 Franz Ferdinand von Österreich-Este  658 Franziskus von Assisi  894 Freiligrath, Ferdinand  276, 312 Freud, Sigmund  294, 357, 662, 899 Friedland, Ferdinand  333 Friedrich I. Barbarossa, Kaiser 994 Friedrich II. der Große, König von Preußen  169, 490 Friedrich von Lantnaw  104 Friedrich Wilhelm IV., König von Preußen  222, 276, 415 Fritzsche, Friedrich Wilhelm  345 Fuchs, Klaus  956 Furet, François  35

Gagern, Friedrich von  415 Gagern, Heinrich von  415 Gagern, Max von  415 Galilei, Galileo  118 Gapon, Georgi  597–604, 609, 613, 693 Garibaldi, Giuseppe  179, 341 Gastjew, Alexej  775 Gautama Buddha  32, 47, 71, 89, 963 Ghai, Ghaia  867–869 Gibbon, Edward  497 Gilgamesch 71–74 Girardin, Émile de  199, 274, 315 Glaser, Georg  881–883 Gnedin, Jewgeni  929 Goebbels, Joseph  873, 932 Goethe, Johann Wolfgang von  34, 208, 229 f., 464 Gogol, Nikolai  483 Goltz, Rüdiger von der  834 Gorbatschow, Michail  721, 848, 907, 974 f., 977–979, 985 Gorki, Maxim  509 f., 517, 567, 616 f., 621, 626 f., 631–635, 647, 698, 731–733, 736, 738, 769, 809, 811, 819, 838 f., 896 Goto Shimpei  789 Gottwald, Klement  515 Gracchus, Gaius Sempronius  173 Gracchus, Tiberius Sempronius  22, 173 Gramsci, Antonio  471, 864 Granier de Cassagnac, Adolphe  397 Green, Ben  397 Green, Duff  397 Grimm, Tilemann  26 Gromyko, Andrej  923 Grün, Karl  203 Guesde, Jules  423, 445, 460, 541, 697 Guevara, Beatriz  29 Guevara, Ernesto «Che»  28–30, 890, 988 Guevara Lynch, Ernesto Rafael  29 Guizot, François  193 f., 275, 397 Gutenberg, Johannes  46, 168 Gutschkow, Alexander  681, 723 Gutzkow, Karl  187, 190, 193, 233 Gwosdew, Kusma  693 Haase, Hugo  660, 664 Habermas, Jürgen  639

Personenregister Hackett, John  65 Haeckel, Ernst  379, 462 Haffner, Sebastian  668 Hamilton, Thomas  394–396 Hanecki (Fürstenberg), Jakub  652, 654, 670, 673, 717, 797 Hardie, Keir  660 Hargreaves, James  253 Hatzfeldt, Sophie von  336,338 f., 342, 355, 360, 424 Hatzfeldt-Kinsweiler, Edmund von  336–338 Haxthausen, August Franz von  506 Hayek, Friedrich August  135 Hearst, Randolph  199 Heath, Robert  120 Hébert, Jacques-René  171–173 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich  14, 35, 37,  195, 206, 229–231, 234, 238–246, 292, 332., 335, 338–340, 413, 464, 467, 476, 533, 592, 637 Heine, Heinrich  44, 187, 195, 208, 221, 233, 276, 297, 308, 332–334 Helphand (Parvus), Alexander  616, 643, 668, 670–672, 690, 929 Helvetius, Claude Adrien  132 Heraklit  47, 65 f., 336, 339 f. Herder, Johann Gottfried  183 Hermlin, Stephan  940 Hertling, Georg von  787, 791 f. Hervé, Gustave  661 Herwegh, Emma  361 Herwegh, Georg  334, 361 f. Herzen, Alexander  326, 361 f., 529 f. Herzen, Natalie  361 f. Hesiod  77, 80 Hess, Moses  232, 236 f., 297, 305, 311 Hetherington, Henry  198 Hikmet, Nazim  939 Hilferding, Rudolf  674 Himmler, Heinrich  929 Hindenburg, Paul von  742 Hippius (Gippius), Sinaida  692, 706 f. Hippius (Gippius), Tatjana  706 f. Hirschman, Albert O.  131 f. Hitler, Adolf  298, 495, 566, 846, 862, 869, 873, 879 f., 882–884, 888 f., 912, 923, 927–937, 942, 959

1125

Ho Chi Minh  47, 471, 515, 885, 891, 942–944, 951 Hoare, Samuel  692 Hobbes, Thomas  120, 125, 134 Hobsbawm, Eric  112, 196, 282, 884, 888, 954 f., 960, 971, 1032 Hobson, John A.  674 Hölscher, Lucian  116 f. Hohenlohe-Schillingsfürst, Chlodwig zu 404 Holitscher, Arthur  894 Homer  80, 364, 795 Honecker, Erich  34, 978, 994 Hong Lou Meng  25 Hong Xiuquan  24 Hoover, Herbert  820 Horkheimer, Max  1030 Horthy, Miklós  861 Huangdi «Gelber Kaiser»  73 Hugo, Victor  262, 269 f., 295, 573 Humboldt, Alexander von  334, 339 Humboldt, Wilhelm von  230 Hutten, Ulrich von  168 Ieng Sary  31 f., 918 Iljin, Iwan  823, 1005 Iljuschin, Sergej  987 Iwan III., Zar 485 Iwan IV. der Schreckliche, Zar  485 f. Jackson, Andrew  395, 397 Jaeglé, Wilhelmine  195 Jagoda, Genrich  915, 919 Jakowlew, Alexander  975, 977, 987 Jan van Leyden  107 Janajew, Gennadi  979 Jaspers, Karl  47 Jaurès, Jean  439, 444–446, 465, 541, 647, 660 Jefferson, Thomas  131, 395 Jelisarow, Mark  670 Jelzin, Boris  848, 979, 985, 988 Jermak 486 Jesaja  76 f. Jeshow, Nikolai  909, 915 f., 964 Jesus Christus  13, 24, 71, 89–93, 106 f., 123, 182, 189, 201, 633, 706, 994 Joachim von Fiore  104 Joffe, Adolf  650, 720, 797

1126

Personenregister

Jogiches, Leo  859 Johann von Kronstadt  601 Joseph I. Bonaparte, König von ­Spanien 180 Judenitsch, Nikolai  783, 827 Jünger, Ernst  879 Jussupow, Felix  680 Kádár, Janos  979 f. Kaganowitsch, Lasar  836, 914, 918 f. Kaledin, Alexej  782 Kalinin, Michail  579 Kamenew (Rosenfeld), Lew  572, 579, 651, 724, 752 f., 768, 841, 843, 912 Kandinsky, Wassily  632 Kang Sheng  949, 965, 969 Kang Youwei  1015 Kant, Immanuel  119, 130, 229, 242 Kaplan, Fanny  759 Kapp, Wolfgang  870 Karl I., König von England  107, 120 Karpinski, Alexander  697, 717 Katharina II. die Große, Zarin  169, 491, 504, 528, 542, 842 Katkow, Michail  199, 530 Kautsky, Karl  47, 51, 85, 102, 121, 441, 444 f., 460, 465 f., 469, 472, 558, 586, 606, 608, 648, 650, 654, 664, 671, 674, 697, 860, 945 Kennan, George F.  483 f., 656 Kepler, Johannes  119 Kerbel, Lew Jefimowitsch  34 Kerenski, Alexander  155, 179, 516, 531, 604, 673, 693, 701–703, 709, 717, 730, 732 f., 739 f., 742 f., 746–748, 751–754, 758, 777, 784, 790, 872 Kérenyi, Karl  79 Kesküla, Alexander  668 Keynes, John Maynard  1027 f. Kezchoweli, Lado  575 Khieu Shamphan  918 Kim Il Sung  944, 950, 952, 1008 f. Kim Jong Il  1009 Kim Jong Un  39, 515, 953 Kinkel, Gottfried  326, 361 Kinkel, Johanna  361 Kirill, Großfürst 692 Kirow, Sergej  572, 813, 919 Kissinger, Henry  959 Klasson, Robert  553 f.

Kljutschewski, Wassili  491 Koenig, Friedrich  197 Koestler, Arthur  883, 920 f., 936 Kohl, Helmut  978 Kokowtzew, Waldimir  696 Kolakowski, Leszek  294, 460, 566 Kollontai, Alexandra  690, 720, 792, 813 Koltschak, Alexander  783 f., 814, 838 Kolzow, Michail  915 Kondratjew, Nikolai  989 Konfuzius  25, 47, 71, 83, 89, 110, 943, 1005, 1007, 1015 f. Konstantin I. der Große, römischer Kaiser  93 f. Konstantin, Zarewitsch 528 Kopernikus, Nikolaus  46, 118 Kornilow, Lawr  742, 747, 767, 782 f. Korsch, Karl  470 Koselleck, Reinhart  116 f. Koslowski, Mieczyslaw  671 Kossygin, Alexej  923, 972 Kotkin, Stephen  979 Kotzebue, August  181 Krasnow, Pjotr  754, 782 Krassin, Leonid  553 f., 575, 642, 645–647, 797, 897 Krenz, Egon  982 Krishanowski (Krzyzanowski), Gleb  553, 578 Kropotkin, Pjotr  542, 604, 945 Krupskaja, Jelisaweta  560, 626, 669 f. Krupskaja, Nadeshda  554 f., 560 f., 565, 626, 646, 669 f., 774, 826, 830 Kseshinskaja, Matilda  714 Kühlmann, Richard von  787 f., 792 Kugelmann, Franziska  302, 306 Kugelmann, Gertrud  302, 306 Kugelmann, Ludwig  302, 306 Kujbyschew, Walerian  836 Kulikow, Viktor  976 Kun (Kohn), Béla  861, 871 f. Kurski, Dmitri  822 Kustodiew, Boris  617 La Boétie, Etienne de  992 Labriola, Antonio  47, 465 Lacan, Jacques  53 Lafargue, Laura, geb. Marx  363 f., 459, 546

Personenregister Lafargue, Paul  62, 423, 453, 459, 546, 558 Lamennais, Félicité de  183, 220 Lange, Helene  375 Lao Tse  47, 71, 81 f., 89 Laplace, Pierre-Simon  119 Laponneraye, Albert  220 Lassalle, Ferdinand  47, 88, 232, 306, 309, 327–355, 360, 370, 408 f., 424 f., 457, 464, 586, 598 Lawrow, Pjotr  708 Le Bas, Philippe-François-Joseph  157 Lehfeld, Albert  332, 336 Lejeune, Frédéric  156 Lenin, Wladimir Iljitsch  21–23, 34, 36, 39 f., 45–47, 53, 146, 164, 199, 219, 321, 324, 326, 329, 353, 415, 460 f., 468–473, 480 f., 498, 500, 508 f., 514–519, 521, 532 f., 535–537, 539, 552, 556 f., 564–569, 571 f., 578–593, 603 f., 613, 621, 626 f., 630, 633–655, 659–665, 668–677, 683, 689 f., 696–698, 708, 714–725, 727, 731–733, 735–745, 747, 750–769, 772–776, 778 f., 787, 790, 792–799, 802–805, 807–810, 812–814, 816–819, 821–824, 826–832, 834, 840 f., 843, 845, 848–850, 856–858, 861, 863 f., 866–872, 874, 884, 886–888, 890, 894 f., 897, 899–902, 912–914, 923, 930 f., 943, 945, 974, 976, 979, 982, 1003, 1010, 1012 Leroux, Pierre  221 Lesseps, Ferdinand de  209 Lessing, Gotthold Ephraim  332 Lette, Wilhelm Adolf  370 Levi, Paul  871 f. Levien, Max  861 Leviné, Eugen  861 Libedinski, Juri  846 Lichatschow, Dmitri  987 Lichtheim, George  56 Liebknecht, Wilhelm  328, 340, 367–369, 441, 459, 464, 558, 586, 858 f. Lin Piao  25 f., 473, 959, 964–966, 969 Lincoln, Abraham  392 f., 396 f. Linde, Fjodor  734 Liprandi, Iwan  530 List, Friedrich  464 Liszt, Franz  208

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Litwinow, Maxim (Meir Wallach)  932 Liu Shao-chi  918, 960, 962 Lloyd George, David  833, 843 Locke, John  125 f., 131, 138 Löwith, Karl  230, 246 Lomonossow, Michail  939 Longuet, Charles  459 Longuet, Jenny, geb. Marx  289, 363 f., 542 Lopatin, Herman (German)  523, 544 Louis Bonaparte siehe Napoleon III. Louis Philippe I., König der Franzo­ sen  44, 184, 198, 315 Ludendorff, Erich  739, 788, 792, 797 Ludwig IX. der Heilige, König von Frankreich 19 Ludwig XIV., König von Frankreich 170, 497 Ludwig XV., König von Frankreich 139, 170 Ludwig XVI., König von Frankreich 153, 692 Lukács, Georg  471, 879 Lukas, Evangelist 106 Lukaschewitsch 521 Lunatscharski, Anatoli  22, 633–635, 638, 641, 690, 720, 757, 774, 809, 894, 897, 899 Luther, Katharina, geb. von Bora  97 Luther, Martin  34, 97 f., 105, 135, 359, 438, 500, 516, 751 Luxemburg, Rosa  51, 381, 446, 591, 608, 610, 649 f., 654, 674, 831, 857, 859, 872 Lwow, Georgi  723, 730 Lykurg  90, 145, 156 Lyssenko, Trofim  898 f. Mach, Ernst  636 Machiavelli, Niccolò  113, 168 Machno, Nestor  814 Mackinder, Halford  942 Majakowski, Wladimir  897 Malcolm X  208 Malewitsch, Kasimir  632 Malia, Martin  35, 480 f. Malinowski, Roman  651 f., 655 Malthus, Thomas  257–259, 265, 268, 272, 286, 295 f., 384 Mandeville, Bernard de  133–136

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Personenregister

Mann, Thomas  194, 532, 956 Mannerheim, Carl Gustaf Emil  834 Manteuffel, Otto Theodor von  303 Manuilsky, Dmitri  878 Mao Tse-tung  24–26, 31, 39 f., 47, 54, 73, 111, 382, 461, 471–473, 515, 639, 876, 885 f., 888–891, 905 f., 918, 923, 941 f., 944–947, 949, 951 f., 958–966, 968–970, 989, 999–1001, 1003–1005, 1007–1009, 1017 Marat, Jean-Paul  171 f. Marchlewski, Julian  650, 673, 857, 859, 868 Maréchal, Sylvain  171, 177 Maria  19 f. Maria Fjodorowna, Zarin 611 Marie-Antoinette, Königin von ­Frankreich 692 Marr, Wilhelm  449 Marrast, Armand  315 Martow (Zederbaum), Julij  559, 568, 584, 590,592, 649 f., 654, 664, 672, 697, 756 Marx, Eleanor  363 f., 459 Marx, Heinrich (Vater)  229–231 Marx, Henriette, geb. Preßburg (Mutter)  231, 302, 305, 364 Marx, Jenny, geb. von Westphalen  230, 237, 289, 303, 305 f., 342, 363 f., 543 Marx, Karl  14, 22 f., 34–38, 41, 45–47, 50, 58, 60, 62 f., 87 f., 105, 139, 144, 149, 174, 179, 189, 191, 195, 199, 202–204, 208, 212, 222, 228–239, 244, 246 f., 252, 262, 265, 267, 276, 286–313, 315, 317–326, 328–330, 332, 335, 337–342, 344, 351, 356, 358–369, 378, 393–395, 403, 405, 407–409, 411 f., 414–419, 421 f., 424–430, 438–444, 450 f., 453–473, 475 f., 480 f., 489, 495, 514 f., 522 f., 533, 536, 539–549, 552–558, 563 f., 569, 573, 580–584, 586, 634–637, 642, 648, 666, 697, 744, 800, 817, 893, 976, 1003, 1006 f., 1014, 1019 f., 1024, 1027 f., 1031 f., 1034 Marx, Samuel  231 Masaryk, Tomas  467 Matthys, Jan  107 Mauss, Marcel  61 Maximilian I., Kaiser von Mexiko 417

Mayer, Gustav  234, 671 Mazzini, Giuseppe  182, 193, 326, 424 McCarthy, Joseph  956 McGregor, Richard  1020 McKinley, William  401 McLellan, David  471 Mead, Margret  61 Meak 32 Mehring, Franz  231, 346, 465 Melanchthon, Philipp  168 Melnikow, Konstantin  897 Mendelssohn, Arnold  332, 336 Mendelssohn, Moses  332 Meni, Pharao 73 Mercier, Louis-Sébastien  127–130 Merridale, Catherine  998 Metternich, Klemens Wenzel Lothar von  191, 222 Mevissen, Gustav  236 f. Meyerhold, Wssewolod  915 Meysenbug, Malwida von  361 Michail, Großfürst 702 Michailowski, Nikolai  555 Michelet, Jules  148 f. Michels, Robert  437 Mickiewicz, Adam  182, 529 Mielke, Erich  978 Mikojan, Anastas  842, 987 Miljukow, Pawel  563, 693 f., 702, 723, 734 Mill, John Stuart  208, 286, 358, 378, 544, 569 Mirabeau, Honoré Gabriel de Riqueti, Comte de  334 Mirsky, Pjotr Dmitriewitsch  597 Mises, Ludwig von  356–358, 437 Mohammed  71, 145 Moll, Josef  307 Molotow (Skrjabin), Wjatscheslaw  579, 651, 718, 818 f., 918 f., 932, 951 Montefiore, Simon Sebag  575 Montesquieu, Charles de Secondat, Baron de  125 f., 152 Moor, Carl  671 Morelly, Étienne-Gabriel  174, 297 Morgan, Lewis Henry  62 Morgenthau, Henry  936 Morosow, Sawwa  647 Morus, Thomas  22, 36, 108, 121–123, 126 f., 220, 359, 994

Personenregister

1129

Moskwin, Michail  914 Mstislawski, Sergej  698 Müller, Herta  1029 Müntzer, Thomas  19, 97, 102, 104–107, 121, 186 Münzenberg, Willi  670, 820 Musil, Robert  631 Mussolini, Benito  566, 661, 864, 876, 888, 927 f.

Ordshonikidse, Sergo  835 f., 842, 914 Orwell, George  940 Ossorgin, Michail  823 Osterhammel, Jürgen  1012 Ostrowski, Nikolai  846 Otto-Peters, Louise  369, 374 Ovid 22 Owen, Robert  203 f., 207, 213–217, 220, 273, 297

Nagy, Imre  979 f. Namier, Lewis (Ludwik Niemirow­ ski) 315 Nansen, Fridtjof  819 Napoleon I. Bonaparte, Kaiser der Franzosen  158, 177, 180–182, 195, 209, 230, 245, 313, 318, 330, 389, 406, 408, 416, 448, 528, 530, 591, 715, 809, 824, 870, 941 Napoleon III., Kaiser der Franzosen 199, 209, 318, 406–408, 422, 455, 543 Nekrassow, Nikolai  573 Neruda, Pablo  28, 30, 939 f. Netschajew, Sergej  526, 540 f., 552 Neurath, Otto  1025 Newton, Isaac  34, 37, 119, 136, 138, 217, 263, 636 f. Nezval, Vitezlav  939 Niekisch, Ernst  879 Nietzsche, Friedrich  53, 298, 336, 449, 631 f. Nikolai I., Zar  182, 214, 490, 528 f. Nikolai II., Zar  512, 520 f., 556, 596 f., 601 f., 607, 611, 614, 620, 624–626, 672, 676, 678–680, 682 f., 688, 691 f., 694 f., 697, 699, 702, 721, 777, 842 Nikolai Nikolajewitsch, Großfürst 688 Nikonow, Sergej  523 Nipperdey, Thomas  37 Nixon, Richard  959 Nolte, Ernst  249 f., 424, 936 Nordau, Max  632 Noske, Gustav  859 Numa Pompilius, König von Rom 90 Nuon Chea  918

Paine, Thomas  150, 167 Paléologue, Maurice  696, 703 Palmerston, Henry Temple, 3. Vis­ count 389 Paquet, Alfons  892 Parvus siehe Helphand, Alexander Pasternak, Boris  806 Paulus, Apostel  92, 206 Paustowski, Konstantin  711, 805, 807 Pawlow, Iwan  899 f. Peel, Robert  352 Peng Tehuai  963 Péreire, Émile  209 Péreire, Isaac  209 Perowskaja, Sofia  525 Peschkowa, Jekatarina  733 Pestel, Paul von  504, 528 f. Peter I. der Große, Zar  109, 487–490, 493, 497 f., 504, 518, 538, 542, 681, 796, 842, 851 Peters, Jekabs (Jakow)  836 Petljura, Symon  814, 835 Petrarca, Francesco  168 Petraschewski, Michail  526, 530 Pfuel, Ernst von  339 Philipon, Charles  198 Philippe, Dr.  678 Philips, Antoinette  425 Philips, Lion  425 Pillot, Jacques  220 Pilnjak, Boris  778 Pilsudski, Bronislaw  521 Pilsudski, Josef  521, 613, 866 Pissarew, Dmitri  525 f. Pjatnitzkaja, Julja  919 Pjatnitzki, Igor  919 Pjatnitzki, Ossip  672, 919 Platon  36, 47, 54, 84–86, 88–90, 96, 123, 128, 130, 156, 228, 240, 359, 457, 1021

Oastler, Richard  390 Ogarjow, Marija  361 Ogarjow, Nikolai  361, 529 Oppenheim, Alexander  332, 336

1130

Personenregister

Platonow, Andrej  897, 991 Platten, Karl  716 Plechanow, Georgi  47, 460, 465, 469, 537, 546, 549, 551 f., 556–558, 581, 583–586, 589, 591 f., 637, 648 f., 654, 664, 690, 697, 714 Plehwe, Wjatscheslaw von  597, 600 f., 605 f., 622 Plutarch  90, 156 Pobedonoszew, Konstantin  600 Pöhlmann, Robert von  88 Poincaré, Raymond  654 Pol Pot (Saloth Sar)  31–33, 40, 47, 918 Polanyi, Karl  255 f., 421 Polowzow, Alexander  780 Poltoratski, Pawel  850 Pomeranz, Kenneth  1012 Popper, Karl  85 Potressow, A. N.  584 Pound, Ezra  990 Price, Morgan Philips  164 Priestland, David  36 Proudhon, Pierre-Joseph  88, 198, 203, 237, 278, 283, 335, 405, 408, 427 f., 464, 466, 541 Prudhomme, Louis-Marie  171 Pugatschow, Jemeljan  504, 542 Purischkewitsch, Wladimir  680 Puschkin, Alexander  361, 529 f., 629, 711, 848, 925 Putilow, Alexej  696 Putin, Wladimir  497, 848, 988, 1005, 1007, 1022 Quesnay, François  139, 286 Radek, Karl  572, 579, 650, 670, 673, 717, 792, 857–859, 867 f., 871, 873, 877, 892, 912 Radischtschew, Nikolai  528 Radó, Alexander  901 Radowitz, Joseph von  276 Radtschenko, Stepan  553 f., 559 f., 574 Rákosi (Rosen), Matyás  861 Rakowski, Christian  672 Rasin, Stenka  22 Raskolnikow, Fjodor  720 Rasputin, Grigori  679 f., 692 Reed, John  747, 755–757 Reich, Wilhelm  208

Restif (Rétif) de la Bretonne  165–167, 198, 359 Ribbentrop, Joachim von  932 Ricardo, David  250, 265, 268, 271, 286 f., 325, 346 Richelieu, Armand-Jean du Plessis, Duc de 341 Riezler, Kurt  667, 716, 724 Rjasanow, David  468 f., 539, 546, 650, 720 Robertson, William  789 Robespierre, Maximilien de  140 f., 144, 146, 152 f., 155, 157 f., 164, 173, 176, 187, 189, 190 f., 220, 243, 735, 758 Robinson, Joan  1025 Rodbertus, Karl  88 Rodsjanko, Michail  681 Roosevelt, Theodore  401 Rosenberg, Ethel  956 Rosenberg, Julius  956 Rousseau, Jean-Jacques  90, 130, 141–146, 153, 156–158, 165 f., 173 f., 187, 240, 332, 362 Rüstow, Wilhelm  341 Ruge, Arnold  238, 307, 326, 415 Rykow, Alexej  912 Sachs (Gladnev), Samuil  670, 857 Saint-Just, Louis-Antoine de  152 f., 156–158, 187, 190 f., 758 Saint-Simon, Henri de  22, 88, 188, 195, 203 f., 206–210, 250, 266, 278, 297, 335, 408, 439 Saloth Roeung  32 Sand, George  208, 221, 362 Sand, Karl Ludwig  181 Sarkissow, S. A.  897 Sartre, Jean-Paul  243 f. Sasonow, Sergej  682 f. Sassulitsch, Wera  546–548, 584, 592 Savonarola, Girolamo  113 Sawinkow, Boris  605, 622 Say, Jean-Baptiste  205 f., 250, 266, 286 Schapper, Karl  307, 323 Scheidemann, Philipp  666 Scheljabow, Andrej  525, 542 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph  212 Schernikau, Ronald M.  994 Schewyrjow, P. J.  520 Schiller, Friedrich  356

Personenregister Schklowski, Nikolai  777 Schklowski, Wiktor  700, 705, 734, 742, 777 f., 839 Schlageter, Leo  877 Schlegel, Friedrich  194 Schljapnikow, Alexander  664, 718, 813 Schlögel, Karl  481, 628 Schmitt, Carl  877, 890 Scholochow, Michail  846, 990 Schulgin, Wassili  680 Schulze-Delitzsch, Hermann  327, 370 Schumpeter, Joseph  299, 467, 1025 Schweitzer, Johann Baptist von  329 Sedowa, Natalja  757, 774 Seeckt, Hans von  870 f. Seeger, Pete  432 Seiler, Sebastian  199 Sergej Alexandrowitsch, Großfürst 605, 622 Serna y Llosa, Celia de la  29 Service, Robert  36 Sethi, Aman  1014 Shakespeare, William  119, 364, 454, 457, 693, 909, 921 Shaw, George Bernard  939 Shdanow, Andrej  800, 938 Sheljabow, Andrej  514 f., 525 Shelley, Percy Bysshe  362 Shmidova, Raissa  521 Short, Philip  32 Sibirjakow, Alexander  535 Sieyès, Emmanuel Joseph  167 Sigismund, Kaiser 104 Sihanouk, Norodom  30–32 Silone, Ignazio  883 Sima Quian  73 Simmel, Georg  467 Sinjawski, Andrej  486 f. Sinowjew, Grigori  567, 572, 579, 652, 665, 670, 741, 752 f., 768, 787, 812, 816, 841, 843, 863, 875, 877, 912 Sinowjew, Lilina  665, 670 Sipjagin, Dmitri  605 Sisson, Edgar  790 Sklarz, Georg  670 Skobelew, Matwei  701 Skobelewa, Sinaida  616 f. Skoropadski, Pawlo  834 Skrjabin, Alexander  632 Slezkine, Yuri  844–847

1131

Sloterdijk, Peter  126 f., 1025 Smith, Adam  132 f., 135–138, 205, 250, 264–266, 271, 286 f., 325, 464, 1012 Snow, Edgar  964 Sokolnikow, Grigori  836 f. Sokolow, Boris  701, 705, 770 Sokolowskaja, Alexandra  569, 577 Sokrates  47, 71, 89 Sologub, Fjodor  617 Solowjow, Wladimir  491, 629 f. Solschenizyn, Alexander  822, 909, 925 Sombart, Werner  467 Somow, Konstantin  617 Sophokles 454 Sorel, George  661 Sorge, Friedrich Adolf  467 Sorokin, Pitrim  823 Sostschenko, Michail  938 Spartacus  19, 22, 994 Spencer, Herbert  462 Sperber, Manès  883 Spinoza, Baruch  131 f. Stalin , Josef  25, 27, 29–32, 39 f., 47, 51 f., 270, 458, 460 f., 469–473, 484, 509, 515, 517, 519, 528, 539., 551, 556, 564 f., 568, 572–577, 579–581, 590, 612, 631, 634, 638–641, 645–648, 651, 673, 691, 718, 724, 743–745, 758, 760, 764, 774 f., 778, 810, 824–831, 833, 835 f., 839, 841 f., 844, 846–849, 851, 868 f., 877 f., 883–886, 888 f., 895 f., 898–901, 903–924, 927–937, 939 f., 944, 946 f., 949, 951 f., 955–958, 960–963, 969 f., 976, 989, 993 f., 998 f., 1003, 1005, 1008, 1027 Stassowa, Jelena  778, 914 Stein, Lorenz von  218, 237, 271, 277–279, 314 Stepun, Fjodor  823 Stieber, Wilhelm  303 Stiglitz, Joseph  1026 Stoecker, Adolf  449 Stolypin, Pjotr  507, 623–625, 628, 646, 679, 681, 695 Strasser, Gregor  873 Strasser, Otto  873 Strauß, David Friedrich  234 Strawinsky, Igor  632 Stresemann, Gustav  797 f.

1132

Personenregister

Struwe, Pjotr  550, 556–558, 583 f., 606 Subatow, Sergej  600 f. Suchanow (Himmer), Nikolai  698–701, 714 f., 731 f., 741, 745, 752, 756 f. Suchoi, Pawel  987 Suchomlinow, Wladimir  691 Sudeikin, Georgi  522 Sudre, Alfred  223 Sue, Eugène  262 Sun Yat-sen  73, 200, 875, 945, 1015 Surabow, A. G.  672 Suworin d. J., Alexej  748 Swanidse, Ketewan (Kato)  575 Swerdlow, Jakow  652, 758, 769, 828, 841 Tarasow-Rodionow, Alexander  846 Ter-Petrossjan, Simon  575, 646 f. Teste, Charles  178 Thälmann, Ernst  879 f. Theodosius I., römischer Kaiser 94 Thierry, Auguste  206 Thoré, Théophile  221 Thukydides 90 Thurow, Lester  1025 Tito, Josip Broz  515, 885, 891, 944, 956 Tjutschew, Fjodor  482–484 Tocqueville, Alexis de  260, 314, 394–397, 1027 f. Tolstoi, Alexej  778, 839 Tolstoi, Lew  22, 573, 604, 895 Tomasello, Michael  57 Tooze, Adam  833 Trepow 616 Tristan, Flora  212 Trotzki, Leo  40, 47, 199, 470, 515 f., 532, 537 f., 565, 567, 570, 572, 574, 577–579, 590–592, 610, 614–616, 620, 643, 649 f., 654, 662, 668, 670–672, 690, 715, 720, 738, 741, 744–747, 749, 752–754, 756–758, 774 f., 784, 791, 800, 804, 813, 826–831, 841, 843, 846, 850, 857, 869, 874 f., 878, 897, 900, 912, 921, 924, 927 f. Tschaadajew, Pjotr  492 Tschechow, Anton  573 Tscheidse, Nikolos  697 f., 701 f., 714, 716, 730, 736, 743 Tschen Po-ta  918, 946, 965

Tschenkeli, Akaki  653 Tscherewanin, Fjodor  701 Tschernjajew, Michail  498 Tschernomasow, Miron  652 Tschernow, Viktor  583, 604, 714, 726, 730, 738, 769 f. Tschernyschewski, Nikolai  514, 526, 533 f., 544 f., 555, 569, 572 f., 674 Tschiang Kai-shek  943, 946, 948 f., 1035 Tschiang Tsching  382, 963, 965 f., 969 Tschitscherin, Georgi  797 Tschou En-lai  26, 47, 918, 943, 959, 969 f. Tschujew, Feliks  951 Tuchatschewski, Michail  808 f., 815, 817, 866, 868 f., 915 Tupolew, Andrej  987 Turati, Filippo  439, 697 Turgenjew, Iwan  526 Turreau, Louis Marie  160 Tycho Brahe  118 f. Tyler, Wat  19 Ulbricht, Walter  39, 515 Uljanow, Alexander  516, 518–521, 523–526, 532 f. Uljanow, Anna  517, 537, 560, 670 Uljanow, Ilja 515 f., 519 f., 524, 532 Uljanow, Maria, geb. Blank  516, 524, 532., 535, 560, 626 Uljanow, Maria  670 Uljanow, Wladimir siehe Lenin Urbain, Thomas  208 Ure, Andrew  267 Uritzki, Moissei  672, 803 Ustrjalow, Nikolai  838 Uwarow, Sergej  492 Vacietis, Jukums  797, 834 Vahlteich, Julius  345 Vaillant, Édouard  445 Van der Lubbe, Marinus  883 Vandervelde, Emil  434, 439, 465, 653 f. Varga, Eugen  902 Varnhagen von Ense, Karl August  222, 334 Vergil 150 Vergniaud, Pierre  190 Vespucci, Amerigo  118

Personenregister Vico, Giambattista  132 Victoria, Königin von Großbritan­ nien  262, 375 Viktor Emmanuel II., König von Sardinien-Piemont 341 Viktoria, Deutsche Kaiserin 370 Virchow, Rudolf  379 Vo Nguyen Giap  951 Vogt, Oskar  897 Voltaire, François-Marie Arouet  140, 169, 332 Wagner, Richard  361 Walujew, Pjotr  497 f. Warren, Josiah  198, 216 Watt, James  250, 253 Wawilow, Nikolai  898 Weber, Max  46, 49, 94 f., 99 f., 111 f., 115, 467, 614, 773, 775, 918 Wedgwood, Josiah  390 Weerth, Georg  312, 365 Weidig, Ludwig  186, 188, 192, 348, 368 Weishaupt, Adam  178 Weitling, Wilhelm  43, 178 f., 310 f., 400 Wellington, Arthur Wellesley, Duke of  259, 275 Wesjoly, Artjom (Nikolai Kotschku­ row)  778 f., 781 Westphalen, Caroline von  237, 305 Westphalen, Edgar von  305 Westphalen, Ferdinand von  303 Westphalen, Ludwig von  230 Wheen, Francis  453, 471 Wichern, Johann Heinrich  222 Wigand, Otto  277 Wilberforce, William  388

1133

Wilhelm I., Deutscher Kaiser  354, 598 Wilhelm II., Deutscher Kaiser  441, 668, 672, 680 f., 692, 748, 787 Willich, August  323, 363 Wilson, Woodrow  789 f., 793, 837, 843, 943 Winstanley, Gerrard  107 f. Witte, Sergej  499 f., 531, 550, 600, 610 f., 614, 616, 618, 620, 624, 681 Wittfogel, Karl August  51, 470 f., 879 Wolfe, Bertram D.  565 Wolff, Wilhelm  312 Wolodarski (Mojsej Markowitsch Goldstein) 803 Woloschin, Maximilian  617 Woroschilow, Kliment  579, 827, 918 Worowski, Wazlaw  717 Wrangel, Pjotr  783, 815 Wu Han  963 Wyrubowa, Anna  678 Wyschinski, Andrej  157, 912, 920 Xenophon 88 Xi Jinping  473, 966, 1005, 1007, 1015–1017 Zereteli, Irakli  730, 735, 743, 770 Zetkin, Clara  377, 381, 641, 647, 665, 877, 893, 897 Zhao Ziyang  978 Zimmermann, Arthur  666 f. Žižek, Slavoj  53 Zola, Émile  573 Zoroaster (Zarathustra)  47, 71, 336 Zulukidse, Alexander  575 Zweig, Stefan  662, 715

Boris Kustodiev, Der Bolschewik, 1920.

Der Schatten Saloth Sars (des späteren Pol Pot), lächelnd, irgendwo am Meer, 1953 oder 1954.

Lucas Cranach, Das Goldene Zeitalter, um 1530.

«Jan van Leiden» als König der Wiedertäufer, 1534.

François Noël «Gracchus» Babeuf beim vergeblichen Versuch, sich im Gefängnis zu entleiben, 1796. (Spätere romantisierende Nacherfindung)

Filippo Buonarotti, ca. 1836. Gemälde von Philippe-Auguste Jeanron

Karl Marx als Student.

Georg Wilhelm Friedrich Hegel im Kreis seiner eifrig mitschreibenden Studenten.

Der Große Hunger in Irland. Verhungernde begehren Einlass in ein Arbeitshaus.

Schweigende Arbeit unter scharfer Überwachung in einem «Correction House» für jugendliche Vaganten nahe London, Mitte 19. Jahrhundert.

Philipp Jakob Loutherbourg, Coalbrookdale bei Nacht, 1801. Das Bild zeigt einen der ersten mit Kokskohle betriebenen Eisenverhüttungsbetriebe in den Midlands.

Die Chartisten-Kundgebung auf den Kennington Commons in London, 10. April 1848. Die Unschlüssigkeit der Menge, die nicht einmal Banner und Transparente mitgeführt hat, ist gut zu erkennen.

Federzeichnung von Friedrich Engels in einem Brief an seinen Jugendfreund Wilhelm Graeber, 1839.

Die erste Seite des «Kommunistischen Manifests» von 1848, in der Handschrift von Jenny Marx.

Marx und Engels mit den Marx-Töchtern in den frühen 1860 er Jahren.

Sophie Gräfin Hatzfeldt, Ende der 1840 er Jahre.

Ferdinand Lassalle, 1862.

Die Ausrufung der Pariser Kommune am 18. März 1871.

Der sog. Bread & Roses-Streik in Lawrence, Mass., 1912. Rund 25 000 Textilarbeiter, überwiegend Frauen, traten für die Verteidigung einer Arbeitswoche von 54 Stunden (6 Tage à 9 Stunden) in einen zweimonatigen Streik.

Wladimir Uljanow, Polizeifoto der ersten Verhaftung, Petersburg 1895.

Stepan Radtschenko, der auf dem Gruppenbild fehlt.

Die Leitungsgruppe des «Kampfbunds zur Befreiung der Arbeiterklasse», St. Petersburg, 14. Februar 1897, vor der Abreise in die Verbannung. Sitzend in der Mitte: Wladimir Uljanow (Lenin), links neben ihm Gleb Krishanowski, rechts neben ihm Julius Zederbaum (Martow).

Der «Blutige Sonntag» in St. Petersburg, 22. Januar 1905. Das Foto entstammt einer filmischen Nachinszenierung von 1925.

Capri, April 1908: Alexander Bogdanow (links) mit Lenin, der «Schach!» ruft. Gorki schaut zu.

Stalin mit 23 Jahren, 1902.

Kliment Woroschilow.

Leo Trotzki bei einer Ansprache um 1921.

Michail Kalinin.

Lew B. Kamenew.

Grigori Sinowjew. Vor und nach der Verhaftung.

Das offizielle, in allen sowjetischen Schul- und Geschichtsbüchern abgebildete Foto vom «Sturm auf den Winterpalast». Die deutlich erhöhte Position des Fotografen, der vorausfahrende Panzerwagen, der Pulverdampf, die Beleuchtung und andere Details deuten darauf hin, dass es sich um eine Reinszenierung handelt.

Lenin und Jakow Swerdlow (rechts von ihm) bei der Einweihung eines Denkmals für Marx und Engels, Moskau 1919.

Felix Dzierzynski, der Gründer der Tscheka, in seinem Büro.

Sterbende oder Tote am Straßenrand in Charkow (Ukraine) während der großen Hungerkatastrophe 1933.

Gulag-Zwangsarbeiter beim Bau des Fergana-Kanals in Usbekistan 1939.

Stalin und Gorki in einem «sozialistisch-realistischen» Gemälde von Alexander Gerassimow, 1939.

Mao Tse-tung auf dem Langen Marsch 1937.

Truppen der chinesischen «Freiwilligenarmee» in Nordkorea 1951.

Ho Chi Minh (Mitte) und General Giap (rechts) während der Belagerung von Dien Bien Phu 1954.

Boris Jelzin (Mitte) ruft auf einem Panzer vor dem russischen Regierungsgebäude in Moskau zum Generalstreik auf, 19. August 1991.

18. Parteitag der KP Chinas, Wahl Xi Jinpings zum Parteichef, November 2012.

Zum Buch «Du schließt die Augen und schaust in die Sonne, und durch deine Lider hindurch siehst du die Farbe deines Blutes – ein Karminrot. Dies ist die Farbe deiner leiblichen Existenz. Grün ist die Farbe der äußeren Vegetation. Gelb ist die Farbe der Sonne. Blau ist der Himmel über dir.» Mit diesen Sätzen beginnt Gerd Koenen seine epische Geschichte des Kommunismus, die von der alten in die moderne Welt und bis heute reicht. In seiner meisterhaften Darstellung holt er den Kommunismus aus dem Reich der reinen «Ideen» auf den Boden der wirklichen menschlichen Geschichte zurück. Er macht auf neue Weise plausibel, warum Marxismus, Sozialismus und Kommunismus eine naheliegende Antwort auf die vom modernen Kapitalismus erzeugten Umwälzungen waren – aber ebenso, wie und weshalb der «Kommunismus» als politisches System in Russland wie in China und anderswo in Terror und Paranoia endete.

Über den Autor Gerd Koenen, geb. 1944, lebt als Historiker und Schriftsteller in Frankfurt am Main. Nach einem langen «roten Jahrzehnt» als Mitglied des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds (SDS) und des Kommunistischen Bundes Westdeutschland (KBW) arbeitete er als Redakteur des Stadtmagazins «PflasterStrand» von Daniel CohnBendit, als wissenschaftlicher Mitarbeiter von Lew Kopelew sowie als freier Publizist und Sachbuchautor. Seine Bücher «Utopie der Säuberung», «Das rote Jahrzehnt» und «Vesper, Ensslin, Baader» sind wegen ihrer analytischen Schärfe und literarischen Kraft viel gelobt und gelesen worden. Im Jahr 2007 erhielt er für sein bei C.H. Beck erschienenes Buch «Der Russland-Komplex» den Leipziger Buchpreis für Europäische Verständigung.