297 24 6MB
German Pages XIV, 272 [276] Year 2020
Justus Benrath Michael Hatzenbühler Michael Fresenius Michael Heck
Repetitorium Schmerztherapie Zur Vorbereitung auf die Prüfung Spezielle Schmerztherapie 5. Auflage
Repetitorium Schmerztherapie
Justus Benrath · Michael Hatzenbühler · Michael Fresenius · Michael Heck
Repetitorium Schmerztherapie Zur Vorbereitung auf die Prüfung Spezielle Schmerztherapie 5., vollständig überarbeitete und aktualisierte Auflage
Justus Benrath Klinik für Anästhesiologie und Operative Intensivmedizin – Schmerzzentrum Universitätsmedizin Mannheim, Medizinische Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg, Mannheim, Baden-Württemberg, Deutschland Michael Fresenius Klinik für Anästhesiologie, Intensivmedizin und Notfallmedizin, Marienhaus Klinikum Bendorf-Neuwied-Waldbreitbach Neuwied, Rheinland-Pfalz, Deutschland
Michael Hatzenbühler Krankenhaus Hetzelstift Neustadt/Weinstraße, Deutschland Michael Heck Praxis für Anästhesie Heidelberg, Baden-Württemberg, Deutschland
ISBN 978-3-662-61782-3 ISBN 978-3-662-61783-0 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-662-61783-0 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über 7 http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2004, 2007, 2012, 2015, 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Anna Krätz Springer ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany
V
Vorwort zur 5. Auflage Das Repetitorium Schmerztherapie erfreut sich steter Beliebtheit und erscheint nun in der fünften Auflage. In den Jahren seit der letzten Auflage hat sich Vieles verändert und so war eine komplette Aktualisierung mehr als überfällig. Einige Beispiele: Substanzen, die Politiker als systemrelevant und alternativlos bezeichnen würden, sind sang- und klanglos von der Bildfläche verschwunden, z. B. Flupiritin. Dafür sind, lang ersehnt, neue Wirkstoffe auf der Bühne erschienen, so die Antikörper gegen CGRP und CGRP-R zur Migräneprophylaxe. Weiterhin gibt es alten Wein in neuen Schläuchen, nämlich seit 1. März 2017 „Cannabis als Medizin“, so wird das entsprechende Gesetz genannt. Die Details der ersten Erhebung, die die Verschreibung von Cannabis als Fertigarznei (alt) oder Blüten (neu) seitdem begleiten, sind jetzt eingearbeitet. Dass damit die Grundfeste der wissenschaftlichen Medizin, erst eine randomisierte kontrollierte Studie (RCT), ob und wenn ja, wie, eine Substanz überhaupt wirkt und erst danach erfolgt die Erprobung an Patienten, mit diesem Vorgehen prinzipiell auf den Kopf gestellt wurde, ist wahrscheinlich in der allgemeinen Feierlaune, die sich nach dem Gesetzesbeschluss breitmachte, kaum jemandem aufgefallen. Bei der vollständig überarbeiteten neuen Auflage sind wie immer alle aktuellen Medikamente aufgeführt und kommentiert. Die vor wenigen Wochen erfolgte zweite Aktualisierung der Leitlinie LONTS im März 2020 wurde ebenso aufgenommen. Einen besonderen Schwerpunkt erhält diese Auflage durch die erstmals im Detail besprochenen Aspekte der psychotherapeutischen Unterstützungsmöglichkeiten schmerzkranker Patienten. Sie ist eine wesentliche Säule in der Behandlung gemäß dem bio-psycho-sozialen Krankheitsmodell. Die fünfte Auflage führt mit einigen Angaben zum ICD-11, der am 1. Januar 2022 in Kraft treten wird, bereits in eine neue Kategorie der medizinischen Zukunft: Im ICD-11 wird Chronischer Schmerz erstmals unterschieden in Symptom einer Erkrankung oder eigenständige Erkrankung selbst. So freuen wir uns auch für diese Auflage über freundlichen Zuspruch, wohlwollende Anmerkungen und anregende Optimierungsvorschläge. Justus Benrath
Mannheim Pfingsten 2020
VII
Inhaltsverzeichnis I
Allgemeiner Teil
1 1.1 1.2 1.3
Grundlagen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Definition. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schmerzbegriffe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nozizeptoraktivierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schmerzleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schmerzhemmende Mechanismen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schmerzkomponenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pathophysiologie der Schmerzverarbeitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einteilung des Schmerzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klassifikation chronischer Schmerzen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schmerzdokumentation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4 4
1.4 1.5 1.6 1.7 1.8 1.9 1.10 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6 7 7 7 9 10 13 14 15
2 Pharmakotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Nichtopioidanalgetika (NOPA) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Opioidanalgetika. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Koanalgetika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Phytotherapeutika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Schmerzmedikamente im Alter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6 Schmerzmedikamente bei Laktoseintoleranz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.7 Schmerzmedikamente bei Histaminintoleranz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.8 Schmerzmedikamente bei Myasthenia gravis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
17 19 26 47 60 60 64 66 66 69
3 3.1 3.2
Opioidtherapie bei Nieren- und Leberinsuffizienz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Leberinsuffizienz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 Niereninsuffizienz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72
4 Interventionelle Schmerztherapie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Invasive Medikamentenapplikation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Periphere Regionalanästhesieverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Sympathikusblockaden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Neurodestruierende Verfahren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5 Neurostimulationsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6 Akupunktur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.7 Therapeutische Lokalanästhesie (TLA). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.8 Transkutane elektrische Nervenstimulation (TENS). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 5.1
75 77 80 82 85 89 91 92 94 95
Psychotherapeutische Schmerzmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Entspannungsverfahren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100
VIII
Inhaltsverzeichnis
5.2 5.3 5.4 5.5 5.6 5.7 5.8 5.9 5.10 5.11
Progressive Muskelrelaxation (PMR) nach Jacobson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Autogenes Training (AT). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion, MBSR. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Biofeedback . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hypnose. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychodynamisch orientierte Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kognitiv-behaviorale Verfahren (KBT). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schmerzbewältigungsprogramme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Akzeptanz- und Commitment Therapie (ACT). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
100 100 101 101 101 102 102 103 103
6 Akute perioperative Schmerztherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Medikamentöse postoperative Schmerztherapie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Koanalgetika in der akuten postoperativen Schmerztherapie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Therapie von Nebenwirkungen der akuten postoperativen Schmerztherapie. . . . . . 6.5 Lokal- und Regionalanalgesie des Erwachsenen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.6 Spezielle Patienten in der postoperativen Schmerztherapie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.7 Notfälle in der Schmerztherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.8 Nicht-medikamentöse Therapiemöglichkeiten bei postoperativen Schmerz. . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
105 107 113 122 124 124 128 139 141 141
104 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104
II
Spezieller Teil: Krankheitsbilder
7 Neuropathischer Schmerz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Mononeuropathien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3 Polyneuropathie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Phantomschmerz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4 7.5 Komplexes regionales Schmerzsyndrom (CRPS) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.6 Sympathisch unterhaltener Schmerz (SMP). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.7 Zentraler neuropathischer Schmerz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
145 147 153 157 159 161 163 165 167
8 Tumorschmerztherapie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1 Tumorschmerztherapie bei Erwachsenen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Tumorschmerztherapie in der Pädiatrie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
169 170 185 190
9
Kopf- und Gesichtsschmerz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191
9.1 9.2 9.3 9.4
Einteilung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erfassung der Kopf- bzw. Gesichtsschmerzform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Migräne. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kopfschmerz vom Spannungstyp . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
194 194 195 210
IX Inhaltsverzeichnis
9.5 Trigeminoautonomer Kopfschmerz (TAK). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.6 Gutartige belastungsabhängige Kopfschmerzsyndrome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.7 Primär stechender Kopfschmerz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.8 Kopfschmerz bei Übergebrauch von Schmerz-, bzw. Migränemitteln . . . . . . . . . . . . . . 9.9 Zervikogener Kopfschmerz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.10 Riesenzellarteriitis (RZA) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.11 Trigeminusneuralgie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.12 Postpunktioneller Kopfschmerz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.13 Anhaltender idiopathischer Gesichtsschmerz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
212 215 216 216 218 219 220 222 223 225
10 Muskuloskelettale Schmerzen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.1 Nackenschmerz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2 Piriformis-Syndrom. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3 Kreuzschmerz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.4 Fibromyalgiesyndrom (FMS) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.5 Rheumatische Schmerzen (rheumatoide Arthritis und Arthrose). . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.6 Osteoporose. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
227 229 231 233 245 250 253 255
Serviceteil Hilfreiche Internetadressen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Stichwortverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265
Über die Autoren Prof. Dr. med. Justus Benrath 5 Studium der Humanmedizin an den Universitäten Heidelberg und
© Benrath
Glasgow 5 1997 Promotion an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg 5 1997–2001 Assistenzarzt an der Klinik für Anästhesiologie, Universität Heidelberg 5 2001–2006 Assistenzarzt an der Universitätsklinik für Anästhesie und allgemeine Intensivmedizin, Medizinische Universität Wien 5 2006 Facharzt für Anästhesiologie, Habilitation 2007, außerplanmäßige Professur 2015 5 Seit 2007 Leiter der Schmerzambulanz, Klinik für Anästhesiologie und Operative Intensivmedizin, Universitätsmedizin Mannheim 5 Zusatzqualifikationen: „Spezielle Schmerztherapie“, „Palliativmedizin“, „Notfallmedizin“, „Suchtmedizin“
Dr. med. Michael Hatzenbühler
© Hatzenbühler
5 Studium der Humanmedizin an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg 5 1991–1994 Assistenzarzt im Krankenhaus Hetzelstift Neustadt an der Weinstraße; 1993 Promotion an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg 5 Seit 1994 Assistenzarzt an der Abteilung für Anästhesiologie und Intensivmedizin der Universität Heidelberg 5 Seit 1998 Facharzt für Anästhesiologie 5 Seit Mai 2004 Oberarzt im Krankenhaus Hetzelstift/Neustadt, SAPV und Palliativstation 5 Zusatzqualifikationen: „Spezielle Schmerztherapie“, „Spezielle anäs thesiologische Intensivmedizin“, „Notfallmedizin“, „Palliativmedizin“
Dr. med. Michael Fresenius 5 Studium der Humanmedizin an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg
© Fresenius
5 1991–2000 Assistenzarzt an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg; 1994 Promotion an der Philipps-Universität Marburg 5 Seit 1997 Facharzt für Anästhesiologie 5 2000/2001 Oberarzt am Kreiskrankenhaus Sinsheim 5 Seit 2001 Oberarzt am Evangelischen Krankenhaus Düsseldorf 5 Seit 2009 Chefarzt der Klinik für Anästhesiologie, Intensivmedizin und Notfallmedizin, Marienhaus Klinikum Bendorf-NeuwiedWaldbreitbach 5 Zusatzqualifikationen: „Spezielle Schmerztherapie“, „Spezielle Intensivmedizin“, „Notfallmedizin“, „Palliativmedizin“,
XI Über die Autoren
Dr. med. Michael Heck 5 Studium der Humanmedizin und Promotion an der Ruprecht-Karls-
Universität Heidelberg 5 1989–1999 Assistenzarzt an der Universität Heidelberg 5 Seit 1994 Facharzt für Anästhesiologie 5 Seit 1999 niedergelassener Anästhesist in Heidelberg 5 Zusatzqualifikationen: „Spezielle anästhesiologische Intensivmedizin“, „Notfallmedizin“ © Heck Das 7 Kap. 5 entstand unter Mitarbeit von
Dr. Dr. med. Dipl. Phys. Robert E. Feldmann, Jr. Klinik für Anästhesiologie und Operative Intensivmedizin – Schmerzzentrum Universitätsmedizin Mannheim, Medizinische Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg Theodor-Kutzer-Ufer 1–3 68167 Mannheim
Abkürzungsverzeichnis ACE angiotensin converting enzyme
ACR American College of Rheumatology ACh Acetylcholin AK Antikörper AMPA α-Amino-3-hydroxy-5-methyl-4-isoxazolpropionsäure ASD Akut-Schmerzdienst ASIC acid sensising ion channels ASS Acetylsalicylsäure AWMF Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften BDI Beck’s Depressionsinventar BtMVV Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung CGRP calcitonin gene-related peptide CMD craniomandibuläre Dysfunktion CMV Zytomegalievirus CO2 Kohlendioxid CRP C-reaktives Protein CRPS complex regional pain syndrom (komplexes regionales Schmerzsyndrom) CWP chronic widespread pain DBS deep brain stimulation DD Differenzialdiagnose DGN Deutsche Gesellschaft für Neurologie DIVS Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Schmerztherapie DMKG Deutsche Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft ED Einzeldosis EMG Elektromyogramm EMLA eutektische Mixtur von Lokalanästhetika ENG Elektroneuropathie FMS Fibromyalgiesyndrom FSME Frühsommermeningoenzephalitis GABA γ-Aminobuttersäure G-CSF granulozytenstimulierender Faktor GCS Ganglion cervicale superius GFR Glomeruläre Filtrationsrate GI gastrointestinal GLOA ganglionäre lokale Opioidanapplikation GRIP Göttinger Rücken-Intensiv-Programm HADS hospital anxiety and depression scale HWZ Halbwertszeit IHS International Headache Society IE internationale Einheit
i.m. intramuskulär
XIII Abkürzungsverzeichnis
IMST interdisziplinäre multimodale Schmerztherapie i.v. intravenös IVRA intravenöse Regionalanästhesie KG Körpergewicht KHK koronare Herzkrankheit KS Kopfschmerz KUSS kindliche Unbehagens- und Schmerz-Skala LA Lokalanästhestikum/Lokalanästhetika MCS Motorkortexstimulation MOR μ-Opiat-Rezeptor MS Magensonde oder Multiple Sklerose MÜK Medikamentenübergebrauchskopfschmerz NLG Nervenleitgeschwindigkeit NMDA N-Methyl-D-Aspartat NNT number needed to treat NRS numerische Ratingskala NSAR nichtsteroidale Antirheumatika NW Nebenwirkung O2 Sauerstoff OTFC oral-transmukosales Fentanylcitrat p. o. per os PAF plättchenaktivierender Faktor pAVK periphere arterielle Verschlusskrankheit PCA patient-controlled analgesia (patientenkontrollierte Analgesie) PCEA patient-controlled epidural analgesia (patientenkontrollierte Epiduralanalgesie) PCIA patient-controlled intravenous analgesia (patientenkontrollierte intravenöse Analgesie) PDA Periduralanästhesie PDK Periduralkatheter PEG perkutane endoskopische Gastrotomie PET Positronenemissionstomographie pKa Säurekonstante PNP Polyneuropathie PTBS posttraumatische Belastungsstörung PTT partielle Thromboplastinzeit PZN Postzosterneuralgie QST Quantitativ-sensorische Testung RCT randomized clinical trial (randomisierte klinische Studie) SAB Subarachnoidalblutung SAPV spezialisierte ambulante palliativmedizinische Versorgung SCS spinal cord stimulation SEP somatisch evoziertes Potenzial SIP sympathetically independent pain (sympathisch unabhängiger Schmerz) SMP sympathetically maintained pain (sympathisch unterhaltener Schmerz) SNRI serotonine noradreanline reuptake inhibitor (Serotonin-NoradrenalinWiederaufnahmehemmer)
XIV
Abkürzungsverzeichnis
SSEP Somatosensorisch evoziertes Potenzial SSRI selective serotonine reuptake inhibitor (selektiver Serotonin-Wiederaufnahmehemmer) TENS transkutane elektrische Nervenstimulation TLA therapeutische Lokalanästhesie TZA trizyklisches Antidepressivum VAS visuelle Analogskala (zur Schmerzmessung) VRS verbal rating scale (zur Schmerzmessung) WM Wirkmechanismus WS Wirbelsäule
1
Allgemeiner Teil Inhaltsverzeichnis Kapitel 1 Grundlagen – 1 Kapitel 2 Pharmakotherapie – 17 Kapitel 3 Opioidtherapie bei Nieren- und Leberinsuffizienz – 71 Kapitel 4 Interventionelle Schmerztherapie – 75 Kapitel 5 Psychotherapeutische Schmerzmedizin – 97 Kapitel 6 Akute perioperative Schmerztherapie – 105
I
3
Grundlagen Inhaltsverzeichnis 1.1 Definition – 4 1.2 Schmerzbegriffe – 4 1.3 Nozizeptoraktivierung – 6 1.4 Schmerzleitung – 7 1.5 Schmerzhemmende Mechanismen – 7 1.5.1 Segmentale Schmerzhemmung – 7 1.5.2 Deszendierende Schmerzhemmung – 7
1.6 Schmerzkomponenten – 7 1.7 Pathophysiologie der Schmerzverarbeitung – 9 1.7.1 Periphere Sensibilisierung – 9 1.7.2 Zentrale Sensibilisierung – 9
1.8 Einteilung des Schmerzes – 10 1.8.1 Zeitlicher Aspekt – 10 1.8.2 Pathophysiologischer Aspekt – 12
1.9 Klassifikation chronischer Schmerzen – 13 1.10 Schmerzdokumentation – 14 1.10.1 Quantifizierung von Schmerzen – 15
Literatur – 15
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Benrath et al., Repetitorium Schmerztherapie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61783-0_1
1
4
1
Kapitel 1 · Grundlagen
1.1 Definition
Die Definition für „Schmerz“ nach der International Association for the Study of Pain (IASP 1979) lautet: > Schmerz ist ein unangenehmes Sinnesund Gefühlserlebnis, das mit aktueller oder potenzieller Gewebeschädigung verknüpft ist oder mit Begriffen einer solchen Schädigung beschrieben wird.
Akuter Schmerz hat als Warnsystem eine physiologisch sinnvolle, lebenserhaltende Funktion, da er schmerzvermeidendes bzw. heilungsförderndes Verhalten auslöst. Chronischer Schmerz besitzt keine physiologische Bedeutung. Er hat nicht nur seine Warnfunktion verloren, ist als eigenständige Erkrankung im Sinne einer Schmerzkrankheit anzusehen (. Abb. 1.1). 1.2 Schmerzbegriffe
5 Allodynie (statisch/dynamisch): Schmerzempfindung ausgelöst durch Aktivierung eines nicht-nozizeptiven Rezeptors, z. B. wird ein Pinselstrich bei der Postzosterneuralgie im entsprechenden Dermatom als schmerzhafte Berührung empfunden. 5 Anaesthesia dolorosa: Schmerzen in einem anästhetischen Hautareal, dessen Nervenversorgung unterbrochen worden ist, z. B. bei Deafferenzierungsschmerz 5 Analgesie: fehlende Schmerzempfindung auf einen normalerweise schmerzhaften Reiz 5 Anästhesie: hier: komplette Empfindungslosigkeit eines Hautareals; Steigerung der Hypästhesie, der Empfindungsminderung 5 „Complex regional pain syndrome“ (CRPS): Das CRPS kann kausal vom sympathischen Nervensystem unterhalten werden („sympathetically maintained pain“, SMP) oder vom
AKUT
Biologische Warnfunktion – Schutz des Körpers
CHRONISCH
»Sinnloser« Schmerz – ohne Funktion
SCHMERZ
Circulus vitious
– emotionale – psychische Belastung – soziale – ökonomische
. Abb. 1.1 Biologische Bedeutung des Schmerzes
sympathischen Nervensystem unabhängig sein („sympathetically independent pain“, SIP) 5 CRPS Typ 1 (früher: sympathische Reflexdystrophie, M. Sudeck): Schmerzsyndrom ohne Nachweis einer Nervenläsion 5 CRPS Typ 2 (früher: Kausalgie): Schmerzsyndrom mit obligatem Nachweis einer Nervenläsion. Für beide Formen gilt: mit Latenz auftretende brennende Schmerzen, Allodynie, Dysästhesie, Hyperalgesie, Ödem, trophische Störungen der Haut, Störung der Vaso- und Sudomotorik. Schmerzsyndrom nach (Bagatell-)Trauma der oberen oder unteren Extremität 5 Deafferenzierungsschmerz: nach kompletter Durchtrennung eines Nerven oder einer Nervenwurzel auftretende Spontanschmerzen, meist begleitet von Hyperalgesie, Allodynie und Dysästhesie; wohl hervorgerufen durch Spontanaktivität spinaler Neurone oder durch ektope Aktivität an einem Neurom oder im Spinalganglion 5 Dysästhesie: unangenehme Missempfindung spontan oder auf einen Berührungsreiz hin; z. B. wird ein Pinselstrich als unangenehme Berührung empfunden 5 Hypalgesie: herabgesetzte Schmerzempfindung auf einen Schmerzreiz, erhöhte Schmerzschwelle
1.2 · Schmerzbegriffe
5 Hyperalgesie: verstärkte Schmerzempfindung. Übermäßig starke Schmerzempfindung auf einen Schmerzreiz hin, erniedrigte Schmerzschwelle 5 Neuralgie: Schmerzen im Innervationsgebiet eines Nerven oder eines Nervenplexus, häufig mit der Qualität blitzartig einschießend (= neuralgiform) 5 Neuropathischer Schmerz: Schmerz, der als Konsequenz einer Läsion oder Erkrankung des somatosensorischen Systems auf peripherer oder zentraler Ebene entsteht 5 Noxe: Reiz, der in der Lage ist, Gewebe zu schädigen (und Schmerzen auszulösen) 5 Nozizeptiver Schmerz: Schmerz, ausgelöst an Nozizeptoren durch einen noxischen Stimulus 5 Nozizeption: Entstehung, Weiterleitung und Modulation schmerzhafter Informationen im peripheren und zentralen Nervensystem 5 Nozizeptor: freie Nervenendigung, die normalerweise eine hohe Erregungsschwelle besitzt und daher nur durch noxische Reize erregt werden kann 5 Einteilung nach Reizqualität: – Mechanonozizeptor: Aktivierung durch starke mechanische Reize – Thermonozizeptor: Aktivierung durch starke thermische Reize – Polymodaler Nozizeptor: Ansprechen des Nozizeptors auf mechanische, thermische und chemische Reize 5 Einteilung nach Reizschwelle: – Niederschwellige Nozizeptoren, sog. LTM-Nozizeptoren („low-threshold mechanoreceptive“), die durch nicht-noxische (z. B. Wärme, Berührung) und noxische Reize aktiviert werden und über einen weiten Bereich eine zur Reizintensität lineare Entladungsfrequenz aufweisen – Hochschwellige Nozizeptoren, sog. HTM-Nozizeptoren („high-threshold mechanoreceptive“), die durch be-
5
1
stimmte Noxen (z. B. Hitze, Capsaicin)aktiviert werden und primär eine hohe Entladungsfrequenz aufweisen – „stumme“ Nozizeptoren, die erst nach vorausgegangener Sensibilisierung, z. B. im Rahmen von Entzündungen, erregt werden 5 Parästhesie: nicht unangenehme Missempfindung spontan oder auf einen Berührungsreiz hin; z. B. wird ein Pinselstrich als „Ameisenlaufen“ empfunden 5 Peripherer neuropathischer Schmerz: Schmerz, der als Konsequenz einer Läsion oder Erkrankung des somatosensorischen Systems auf peripherer Ebene entsteht 5 Präventive Analgesie (vorbeugende Analgesie): Erstmals 1992 klinisch vorgestelltes Konzept der Analgetikagabe vor dem Auftreten von Schmerzreizen. Grundlage sind Erkenntnisse über die periphere und zentrale Sensibilisierung, die zum akuten postoperativen Schmerz und zur Chronifizierung postoperativer Schmerzen beitragen. Voraussetzung für die präventive Analgesie ist die Analgetikagabe nicht nur prä- und intraoperativ, sondern auch postoperativ bis zum Abklingen der akuten Schmerzen meist zwischen dem 3. und 6. postoperativen Tag. So kann das ZNS präventiv vor starker nozizeptiver Aktivierung geschützt werden. Daher auch als protektive Analgesie bezeichnet. 5 Projizierter Schmerz: Schmerz im Versorgungsgebiet eines Nerven nach dessen mechanischer Reizung; z. B. Schmerz im kleinen Finger nach Druck auf den N. ulnaris 5 Pseudoradikulärer Schmerz: peripher ausstrahlender, meist diffuser, dumpf ziehender Schmerz ohne segmentale Zuordnung, meist muskuloskelettalen Ursprungs, keine Hypästhesie oder Analgesie, eher Dysästhesie und Muskeltonusveränderungen; z. B. Koxarthrose
6
1
Kapitel 1 · Grundlagen
mit Schmerzausstrahlung am ventralen Oberschenkel bis zum Knie 5 Radikulärer Schmerz: durch Reizung oder Schädigung eines Nerven oder einer Nervenwurzel bedingter segmental orientierter Schmerz mit Hyp- oder Anästhesie im entsprechenden Dermatom und Paresen oder Plegien im Bereich der Kennmuskeln des Nerven; z. B. Schmerzen entlang des lateralen Ober- und Unterschenkels mit Fußsenkerschwäche bei Druck auf die Nervenwurzel S1 5 Schmerzgedächtnis: erhöhte Empfindlichkeit des nozizeptiven Systems, die durch Schmerzreize, wie z. B. Entzündungen, Traumata oder operative Eingriffe, ausgelöst wurde und diese überdauert 5 Sensibilisierung: Verstärkte neuronale Signalantwort auf einen physiologischen Reiz oder Antwort auf ein unter physiologischen Bedingungen unterschwelliges Eingangssignal. Bedingt durch Funktionsveränderung nozizeptiver Neurone, klinisch als Allodynie, Hyperalgesie und/oder Spontanschmerz auftretend; periphere Sensibilisierung durch Neurone des peripheren Nervensystems und/oder zentrale Sensibilisierung durch Neurone des zentralen Nervensystems 5 Sympathisch-afferente Kopplung: Sensibilisierung des Axons oder des Perikaryons im Spinalganglion gegenüber Noradrenalin über α2-Rezeptoren; Stimulationsunabhängige Erregung des somatosensorischen Systems durch zirkulierende Katecholamine führt zu Spontanschmerzen 5 Übertragener Schmerz (referred pain): fehlerhafte Lokalisation eines viszeralen Schmerzes in ein sensorisches Dermatom (Head’sche Zonen) aufgrund der segmentalen Verschaltung der viszeralen und sensorischen Afferenzen im Hinterhorn auf die gleiche Neuronenpopulation; z. B. Schmerzen im linken Arm
bei Herzinfarkt. Die viszeralen Afferenzen können im Rückenmark auch auf muskuläre Segmente (Myotome) verschaltet werden, was dann zu übertragenen Schmerzen in der korrespondierenden Muskulatur führt, sog. MacKenzie-Zone 5 Zentraler neuropathischer Schmerz: Schmerz, der als Konsequenz einer Läsion oder Erkrankung des somatosensorischen Systems auf zentraler Ebene entsteht 1.3 Nozizeptoraktivierung
Beispiele für direkte Aktivierung von Nozizeptoren über: 5 Vanilloidrezeptor (TRPV1: „transient receptor potenzial cation channel subfamiliy V member 1“ „Vanilloid-Rezeptor“): nichtselektiver Kalziumkanal, wird durch die Anlagerung von Capsaicin (roter Pfeffer) oder andere Vanilloide und auch Hitzereize (!) geöffnet 5 TRPA1: spannungsabhängiger Ionenkanal, wird durch noxische Kälte aktiviert 5 Spannungsabhängige Ionenkanäle, aktivierbar durch Azetylcholin, AMPA und NMDA 5 Protonenaktivierte Kanälen (ASIC: „acid sensing ion channels“), z. B. durch Protonen 5 Tetrodotoxin-(TTX-)resistente Natriumkanäle: befinden sich nur auf den Axonen der Nozizeptoren, deren Anzahl unter pathologischen Bedingungen gesteigert ist Beispiele für indirekte Sensibilisierung von Nozizeptoren durch (7 Abschn. 1.7.1): 5 Prostaglandin über EP3-Rezeptor 5 Bradykinin über B2-Rezeptor 5 Serotonin über 5HT3-Rezeptor 5 Noradrenalin/Adrenalin 5 Histamin, ATP, Zytokine, Neurotrophine, Neuropeptide
1.6 · Schmerzkomponenten
1.4 Schmerzleitung
Weiterleitung der Schmerzempfindung von der Peripherie ins Hinterhorn des Rückenmarks über: 5 Myelinisierte Aδ-Fasern (gute Schmerzlokalisation, scharfe, stechende Schmerzqualität), 10–25 m/s Leitungsgeschwindigkeit, 1–4 µm Durchmesser 5 Unmyelinisierte C-Fasern (schlecht lokalisierbare, anhaltende, dumpfe Schmerzqualität), 0,5–2 m/s Leitungsgeschwindigkeit, 90 %) 5 Anreicherung in Leber, Milz, Blut und Knochenmark sowie im sauren und entzündlich veränderten Gewebe 2.1.1.2 Indikationen
5 entzündliche Schmerzzustände sowie Knochenschmerz, Weichteilschmerz, viszeraler Schmerz 2.1.1.3 Kontraindikationen
5 Niereninsuffizienz mit Kreatininclearance 7) 5 Ulkusanamnese 5 Bestehende Blutungsgefahr 5 Kein ASS bei Kindern unter 12 Jahren wegen möglichem Reye-Syndrom! ! 5 Keine Kombination von NSAR mit ACE-Hemmern oder Ciclosporin (erhöhte Nephrotoxizität) sowie 5 keine Kombination mit oralen Antikoagulanzien (durch Konkurrenz an COX-1), Phenytoin, Lithium oder Methotrexat (erhöhte Medikamentenspiegel, da NSAR auch über CYP2C9 abgebaut werden). 5 Das ulzerogene Risiko ist unter NSAR 4- bis 5-fach, in Kombination mit Kortikoiden sogar 15-fach erhöht. 5 Bei gleichzeitiger Gabe von ASS als Thrombozytenaggregationshemmer: zuerst ASS einnehmen (irreversible COX-1-Hemmung), nach 2 h Ibuprofen (reversible COX-1-Hemmung).
20
Kapitel 2 · Pharmakotherapie
. Tab. 2.1 Übersicht über die Nichtopioidanalgetika (NOPA)
2
Generischer Name
Handelsname (Beispiele)
Analgesie Einzeldosis [mg/70 kg KG]
Analgesie Einzeldosis [mg/ kg KG]
Wirkdauer [h]
Tageshöchstdosis [mg]
Aspisol, Aspirin
500–1000 i. v. oder p. o.
–
4–6
3000
Salicylate Acetylsalicylsäure
Wirkmechanismus COX-1 (niedrige Dosierung) und COX-2-Hemmung (hohe Dosierung) Nebenwirkungen Nicht reversible Thrombozytenaggregationshemmung, gastrointestinale Nebenwirkungen, Übelkeit, Erbrechen, Bronchospasmus (10–15 % der Asthmatiker), allergische Reaktion; bei Kindern COX-1-Hemmung) Halbwertszeit: 2 h Nebenwirkungen Reversibler Transaminasenanstieg (in bis zu 4 % der Fälle), Blutung, Allergie, in Kombination mit nephrotoxischen Substanzen erhöhte Gefahr der Nierenschädigung, hoher First-Pass-Effekt 20–40 %, Anmerkungen Vor dem 16. Lj nicht empfohlen, da keine Studien. Orale Bioverfügbarkeit 50 %, alle anderen NSAR 90–100 % Voltaren K Migräne 50 mg als Gelkapsel mit schnellerem Wirkbeginn Cave! Rote-Hand-Brief, da das kardiovaskuläre Risiko dem der COX-2-Hemmer vergleichbar ist. Daher: Kontraindikation bei KHK, NYHA II-IV, zerebrovaskulärer Erkrankung, pAVK. Anwendung bei Patienten mit kardiovaskulärem Risiko nur unter strenger Indikationsstellung, so kurz und in so geringer Dosierung wie möglich. Indometacin
Indometacin
50–100
1–3
4–10
150–200 (3,5 mg/ kg KG/Tag)
Anmerkungen Mittel der Wahl bei akutem Gichtanfall, auch gute schleimhautabschwellende Wirkung; das Ansprechen von spez. Kopfschmerzen auf Indometacin kann deren Verdachtsdiagnose sichern (7 Abschn. 9.5.2 und 9.5.3) Halbwertszeit: 4–10 h Orale Bioverfügbarkeit: 100 %
21
2.1 · Nichtopioidanalgetika (NOPA)
. Tab. 2.1 (Fortsetzung) Generischer Name
Handelsname (Beispiele)
Analgesie Einzeldosis [mg/70 kg KG]
Analgesie Einzeldosis [mg/ kg KG]
Wirkdauer [h]
Tageshöchstdosis [mg]
Acemetacin
Rantudil, Azeat, Acemetacin Heumann etc.
1- bis 3-mal 30–60
–
6–12
180
–
24
40
24
–
Wirkmechanismus Prodrug von Indometacin Halbwertszeit: ca. 4 h Anmerkungen Bei Gichtanfall 1-mal 180 mg Heterozyklische Ketoenolsäuren (= Oxicame) Piroxicam
Brexidol
10–20
Wirkmechanismus Orale Bioverfügbarkeit: 100 % Nebenwirkungen Wie NSAR Anmerkungen Halbwertszeit: ca. (14–) 40 (–160) h durch enterohepatischen Kreislauf Meloxicam
Mobec
7,5–15
–
Wirkmechanismus Erster präferenzieller COX-2-Hemmer; orale Bioverfügbarkeit: ca. 90 %; Halbwertszeit: ca. 20 h, daher Einnahme 1 x/d möglich Nebenwirkungen Wie NSAR Propionsäurederivate (= Profene) Ketoprofen
Alrheumun
50 p. o.
–
6
150–200
Gabrilen ret.
200
–
24
–
Orale Bioverfügbarkeit: ca. 90 % Nebenwirkungen Wie NSAR Anmerkungen Cave: Zur intravenösen Gabe in Deutschland nicht zugelassen! Halbwertszeit: 2–4 h Dexketoprofen
Sympal 25
3-mal 25 oder 4bis 6-mal 12,5 p. o.
–
Ibuprofen
Aktren, IbuTAD, Ibuprof
200/400/600/800
15–20 s. c. (1mal/Tag) 8–12 (ret.)
6–8
75 (bei Nierenoder Leberinsuffizienz 50) 2400 (maximal 40 mg/kg KG/ Tag bei Kindern)
Orale Bioverfügbarkeit: 100 % Nebenwirkungen Hautreaktion, Blutbildung, Pseudotumor cerebri, Kopfschmerzen, Sehstörungen sowie Meningitis
2
22
Kapitel 2 · Pharmakotherapie
. Tab. 2.1 (Fortsetzung)
2
Generischer Name
Handelsname (Beispiele)
Analgesie Einzeldosis [mg/70 kg KG]
Analgesie Einzeldosis [mg/ kg KG]
Wirkdauer [h]
Tageshöchstdosis [mg]
Anmerkungen Saft ab dem 6. Lebensmonat, Tabletten ab dem 6. Lebensjahr zugelassen (Applikation in 3-4 Einzelgaben), In den unterschiedlichsten Applikationsformen erhältlich, z. B. als Granulat, Retardkapsel, Saft, Suppositorium, auch als Infusionslösung 400 und 600 mg ad 100 ml (Tageshöchstdosis beträgt i. v. 1200 mg!) Dexibuprofen
Deltaran 200/300/400
200–400
–
8
1200
Anmerkungen Das aktive S(+)-Enantiomer besitzt (angeblich) weniger Nebenwirkungen als das Razemat Naproxen
Proxen
250–500
–
(8–) 12
1250
Wirkmechanismus Einziges reines S-Enantiomer in der Gruppe der Arylpropionsäuren, sonst wird das R-Enantiomer partiell in das wirksamere S-Enantiomer umgewandelt (Inversion bei Ibuprofen ca. 50–80 %, Ketoprofen 10 % und Flurbiprofen 10 kg KG und Erwachsene:15 mg/ kg KG Reife Neugeborene, Säuglinge, Kinder 10 kg KG und Erwachsene:60 mg/ kg KG Reife Neugeborene, Säuglinge, Kinder 65 Jahre (GFR nimmt ab dem 40. Lebensjahr um 1 % pro Lebensjahr ab!) – Vorbestehende Nierenerkrankung – Komedikation mit Diuretika oder ACE-Hemmern – Flüssigkeitsdefizit 5 Leberfunktion – Erhöhung der Leberenzyme
! Zur Ulkusprophylaxe während der Verordnung von NSAR sollen Protonenblocker wie Omeprazol (Antra 20 mg/Tag), Lansoprazol (Lanzor oder Agopton 15– 30 mg/Tag) oder Misoprostol (Cytotec 4-mal 200 µg/Tag; maximal 800 µg/Tag) verordnet werden.
2.1.2 Selektive Cyclooxygenase-2-
Hemmer (Coxibe)
Die Nebenwirkungen der NSAR führten zur Entwicklung der selektiven Cyclooxygenase-2-Hemmer, da hierdurch die magenschleimhautschützende Prostaglandin-E-Synthese (über Cyclooxygenase-1) nicht gehemmt wird (. Tab. 2.3). Pharmakologisch zählen diese Substanzen auch zu den NSAR. 2.1.2.1 Indikationen
5 Vor allem bei anamnestisch erhöhtem Komplikationsrisiko, wie z. B. Ulkusanamnese (Reduktion der gastrointestinalen Komplikationsrate bei Langzeiteinnahme um 50 % im Vergleich zu NSAR) 5 Reaktive Arthrose, rheumatoide Arthritis (nur Celebrex) 2.1.2.2 Wirkmechanismus
5 Selektive (d. h. > 100-fach stärkere Hemmung der COX 2 als der COX 1), zeitabhängige Hemmung der Cyclooxygenase 2 5 Cyclooxygenase 2 wird unter physiologischen Bedingungen (konstitutiv) in
2
25
2.1 · Nichtopioidanalgetika (NOPA)
. Tab. 2.3 Übersicht über die COX-2-Hemmer Generischer Name
Handelsname (Beispiele)
Dosis [mg]
Wirk dauer [h]
Proteinbin dung [ %]
Bioverfüg barkeit [ %]
Tageshöchst dosis [mg]
Celecoxib
Celebrex
100–200 p. o.
12
97
70
400
Etoricoxib
Arcoxia
60, 90, 120 mg
24
–
–
120
Coxibe
Cave: Dosisreduktion bei Leber- und Niereninsuffizienz, Vorsicht vor toxisch dermaler Nekrolyse Parecoxib
Dynastat
Initial 40; Wiederholungsdosis 20
6–12
–
–
80
Indikationen Zur postoperativen Schmerztherapie (65 Jahre, Komedikation mit Fluconazol, eingeschränkter Leberfunktion (Child-Pugh-Score > 7–9), Gewicht 26 Wochen) von chronischen Schmerzen bei: – Arthrose (Evidenz IIb) – Rückenschmerzen (Evidenz IIb) – diabetischer Polyneuropathie (Evidenz IIb) 5 Opioidhaltige Analgetika können angeboten werden bei Respondern (offene Empfehlung) in der mittel- und langfristigen Therapie (> 13 Wochen) von chronischen Schmerzen bei: – Postzosterneuralgie (keine Daten zur Evidenz) – Phantomschmerz (keine Daten zur Evidenz)
29
2
– anhaltende Schmerzen nach Rückenmarksverletzung (keine Daten zur Evidenz) – nicht-diabetische Polyneuropathie (keine Daten zur Evidenz) – Restless legs-Syndrom (keine Daten zur Evidenz) 5 Weitere Empfehlungen: – Vor Einleitung einer Therapie mit Opioiden sollen die n ichtmedikamentösen Therapieoptionen optimiert und medikamentöse Alternativen erwogen werden. – Um die möglichen Risiken einer Therapie mit opioidhaltigen Analgetika zu minimieren (missbräuchliche Verwendung, sexuelle Störungen, erhöhte Mortalität), müssen die Wirksamkeit und Nebenwirkungen regelmäßig überprüft werden. – Eine Dosis von > 120 mg/Tag orales Morphinäquivalent soll nur in Ausnahmefällen überschritten werden. Vor einer weiteren Steigerung sollen erneut die Indikation sowie andere Therapieoptionen und mögliche missbräuchliche Verwendung überprüft werden. – Schnellwirksame bukkal oder nasal applizierte Opioide sollen nicht als Bedarfsmedikation empfohlen werden. – In der Langzeittherapie (> 6 Monate) sollte eine Bedarfsmedikation mit opioidhaltigen Analgetika nicht durchgeführt werden. – Bei Wirkungsabnahme können folgende Situationen vorliegen: – Krankheitsprogress – Toleranzentwickung – Opioidinduzierte Hyperalgesie – Fehlgebrauch, Missbrauch oder Substanzabhängigkeit – nach sechs Monaten soll eine Dosisreduktion und/oder ein Auslassversuch erfolgen, um die Indikation der Fortführung der Behandlung und das Ansprechen auf parallel eingeleitete nicht-medikamentöse Therapiemaßnahmen zu überprüfen.
30
Kapitel 2 · Pharmakotherapie
2.2.8 Interaktionspotential von
Opioiden
2
Medikamente werden in der Phase-IReaktion vorwiegend über das Isoenzymsystem Cytochrom P450 verstoffwechselt und anschließend in der Phase-II-Reaktion mit einer körpereigenen, wasserlöslichen Verbindung wie Glucuronsäure gekoppelt (= Konjugationsreaktion). Es ist nicht unwichtig, die Interaktionen zwischen Opioiden und dem CYP450-System zu kennen, da es einige relevante Konstellationen gibt, die zu Unter- oder Überdosierungen mit Opioiden führen können. Bei Hydromorphon, Morphin und Tapentadol wiederum spielt die Phase-I-Reaktion so gut wie keine Rolle, sie werden gleich konjugiert. > Ungefähr 25 % aller metabolisierten Arzneimittel werden über CYP2D6 verstoffwechselt!
z Klinisch relevante Interaktionen
5 Codein wird über 2D6 zu Morphin metabolisiert, Inhibitoren reduzieren die Wirkung. In der kaukasischen Bevölkerung sind circa: – 5–10 % slow metabolizer: keine Wirkung durch Codein, da kein Morphin entsteht – 2–10 % intermediate metabolizer: wie empfohlen dosieren, evtl. zu geringe Wirkung – 70–90 % extensive metabolizer: wie empfohlen dosieren – 1–10 % ultrarapid metabolizer: Bildung von Morphin erhöht, Intoxikationsgefahr! 5 Tramadol wird über 2D6 zu O-Desmethyltramadol metabolisiert, das analgetisch wirkt; Inhibitoren reduzieren die Wirkung. 5 Buprenorphin und Fentanyl werden nach einem hohen First-pass-Effekt über 3A4 abgebaut. Daher Wirkungsverstärkung durch 3A4-Inhibitoren
. Tab. 2.4 Potenzielle Interaktionen durch Isoenzym Cytochrom-P450, ausgewählte Medikamente Inhibitoren CYP2D6
Induktoren CYP2D6
Bupropion Celecoxib Citalopram Dimenhydrinat Duloxetin Fluoxetin Melperon Metoclopramid Paroxetin Promethazin Sertralin > 150 mg/d
keine bekannt
Inhibitoren CYP3A4
Induktoren CYP3A4
Aprepitant Clarithromycin Diltiazem Fluconazol Grapefruitsaft Itraconazol Verapamil Voriconazol
Carbamazepin Johanniskraut Phenytoin Primidon Rifampicin
nach Petri und Grandt 2016 und Syhr 2015
und Wirkungsabschwächung durch 3A4-Induktoren . Tab. 2.4. Berichte über kritische Interaktionen der Überdosierung sind vorhanden! 5 Methodon wird über 3A4 abgebaut, daher Wirkungsverstärkung durch 3A4-Inhibitoren und Wirkungsabschwächung durch 3A4-Induktoren 5 Oxycodon wird über 2D6 und auch über 3A4 abgebaut, daher Wirkungsverstärkung durch 3A4-Inhibitoren (z. B. Grapefruitsaft) und Wirkungsabschwächung durch 3A4-Induktoren (z. B. Johanniskraut!) Tilidin als Prodrug wird über 3A4 zum analgetisch wirksamen Nortilidin metabolisiert, es gibt jedoch keine Berichte über Interaktionen KEINE Interaktionen mit dem CYP450System, da polar und daher glucuronidierbar:
31
2.2 · Opioidanalgetika
5 Hydromorphon 5 Morphin; ABER: Glucuronidierung zu M6G, das analgetisch wirksamer ist als Morphin selbst 7 Abschn. 2.2.11.1 5 Tapentadol 2.2.9 Schwach wirksame Opioide
5 Opioide mit einer im Vergleich zu Morphin geringeren analgetischen Wirksamkeit. 5 Verschreibung von schwach wirksamen Opioiden unterliegt nicht der Betäubungsmittelverordnung (Ausnahme Tapentadol: Wirksamkeit 0,3– 0,5 im Vergleich zu Morphin; dennoch BtMVV-pflichtig)! 5 Verordnung erfolgt daher auf einem „normalen“ rosa Rezept (. Tab. 2.5). 2.2.10 Stark wirksame Opioide
5 Opioide mit einer gleich hohen oder höheren analgetischen Potenz als Morphin 5 die klinische Wirkstärke ist ein Produkt der Stärke der Rezeptoraffinität und der intrinsischen Effektivität 5 Dosierung von oral einzunehmenden stark wirksamen Opioiden . Tab. 2.6 2.2.11 Einzelpräparate 2.2.11.1 Morphin
5 Z. B. Sevredol, MST Mundipharma, Morphin Merck 5 Basis- und Referenzopioid, natürliches Alkaloid des Opiums 5 Starker Agonismus an MOR, schwächer am KOR, sehr schwach am DOR 5 30-Tage-Höchstmenge auf BtM-Rezept: 20 g 5 Pharmakologie: Metabolisierung in der Leber zu 2 Hauptmetaboliten:
2
M-3-Glucuronid (analgetisch unwirksam), Morphin-6-Glucuronid (aktiver Metabolit, Verhältnis von Morphin zu M-6-G im Serum ca. 1:10) sowie zu einem geringen Anteil zu Codein und Normorphin 5 Plasmaproteinbindung: 30 % 5 Orale Bioverfügbarkeit: ca. 20–30 % 5 Wirkungseintritt je nach Galenik: – Parenteral: nach 2–3 min – Oral, nicht retardiert: nach 15–20 min – Oral, retardiert: nach 40–60 min – Wirkdauer: 3–5 h bei i. v.-Gabe, 8–12 h als orales Retardpräparat (MST Continus und Capros bis 24 h Wirksamkeit) – Halbwertszeit: 2–3 h für Morphin und ca. 2 h für Morphin-6-Glucuronid (M6G) 5 Indikationen: starke akute und chronische Schmerzen 5 Nebenwirkungen: . Tab. 2.7, zusätzlich Konvulsionen, psychomimetische Reaktionen, Schweißausbrüche und Halluzinationen 5 Kontraindikationen: in Schwangerschaft und Stillzeit nur bei strenger Indikationsstellung 5 Relative Kontraindikationen bei Niereninsuffizienz (Akkumulation von Morphin-6-Glukuronid) 2.2.11.2 Oxycodon
5 Reiner µ-Agonist, seit 1998 in Deutschland für die orale Schmerztherapie auf dem Markt, seit 2006 auch zur i. v.-Applikation. Auch als kurz (3–5 h) wirksame Form (Oxygesic akut und Oxygesic Dispersa) 5 Verfügbarkeit: – Unretardiert (Oxygesic akut und Oxygesic Dispersa) – Retardiert als Oxycodon 5/10/20/ 40/80 mg – Parenteral – 30-Tage-Höchstmenge auf BtMRezept: 15 g
32
Kapitel 2 · Pharmakotherapie
. Tab. 2.5 Dosierung von schwach wirksamen Opioiden
2
Generischer Name
Handelsname (Beispiele)
Dosis [mg]
Wirkdauer [h]
Potenz (Morphin = 1)
Tageshöchst dosis [mg]
Codein
Codi OPT Codeinum, Codipront, Codyl
3- bis 4-mal 30– 60 (1 Tbl. = 60 mg Codein)
4–5
0,08–0,1 Morphin)
240
Indikationen klinisch nur noch als Antitussivum bei trockenem Reizhusten eingesetzt Wirkmechanismus Codein wird zu ca. 10 % durch o-Demethylierung zu Morphin metabolisiert. Etwa 10 % der Bevölkerung können wegen eines Enzymmangels (CYP2D6) Codein nicht zu Morphin metabolisieren, d. h. diese Patienten bekommen Nebenwirkungen ohne Wirkung. Aus diesem Grund hat Codein historische Bedeutung in der Schmerztherapie. Als Substitutionstherapeutikum bei Opioidabhängigen unterliegt Codein der BtMVV Halbwertszeit: 2–4 h; Bioverfügbarkeit 70 % Anmerkungen Kinder 14 Jahre: 3-mal 30 mg/Tag Dihydrocodein
DHC 30/60/90 (teilbare Tablette)
2- (bis 3-)mal 60– 120
8–10 (–12)
0,2
240
0,1–0,2
500
Indikationen klinisch nur noch als Antitussivum bei trockenem Reizhusten eingesetzt Wirkmechanismus Dihydrocodein wird in Morphin umgewandelt Pethidin
Dolantin
25–50–100
2–3
Anmerkungen Ältestes vollsynthetisches Opioid (seit 1939). Pethidin wird ausschließlich in der postoperativen Schmerztherapie wegen seiner guten Wirkung bei postoperativem Muskelzittern, „shivering“, eingesetzt. Auch für Kinder zugelassen. Nachteil: Abbau zum analgetisch potenten Norpethidin, das Krampfanfälle auslösen können soll Tilidin/Naloxon seit 1978 in Tropfen- und seit 1997 in Retardform
Valoron N, Tiligetic, Findol, Tilidin plus Tropfen
50–100 (= 20– 40 Trpf.)
2–4
–
600
Valoron N Retard-Tbl.
2- bis 3-mal 50– 150 (–200)
8–10
0,1–0,2
600
Wirkmechanismus Hohe Bioverfügbarkeit: 90 %; Halbwertszeit von Nortilidin: 3–5 h Relative Kontraindikation Leberinsuffizienz – Anmerkungen – Hepatische Umwandlung des Tilidins (Prodrug) in Nortilidin; wegen Naloxonzusatz nicht mit anderen Opioiden kombinieren! Nortilidin wird nicht renal ausgeschieden, deshalb bei Patienten mit Niereninsuffizienz den anderen Präparaten der WHO-Stufe II vorzuziehen. Durch Kombination mit dem Opioidantagonisten Naloxon sollen die Darmparalyse und die missbräuchliche Verwendung der Tropfen zur intravenösen Applikation reduziert werden. – Oral zugeführtes Naloxon verbleibt z. T. im Darm (lokale Wirkung auf glatte Muskulatur), enteral resorbiertes Naloxon unterliegt einem hohen First-Pass-Effekt in der Leber, sodass erst nach hohen Dosierungen ein systemischer antagonistischer Effekt zu erwarten ist (Schutz vor Überdosierung, Missbrauch der Tropfen zur intravenösen Injektion).
2
33
2.2 · Opioidanalgetika
. Tab. 2.5 (Fortsetzung) Generischer Name
Handelsname (Beispiele)
Dosis [mg]
Wirkdauer [h]
Potenz (Morphin = 1)
Tageshöchst dosis [mg]
– Oral zugeführtes Naloxon kann eine opiatbedingte Darmparalyse durch seinen lokalen, nicht systemischen Effekt auf die Darmmukosa antagonisieren (gleiches Prinzip wie bei Targin-Oxycodon/Naloxon). – Bei ausgeprägter Leberinsuffizienz kann die Wirkung von Tilidin abgeschwächt sein. – Bei sehr hoher Dosierung (10-bis 20-faches Dosis) kommt es bei Opioidabhängigen aufgrund der fehlenden Naloxonelimination (Naloxon-3-Glukuronid) bei der ersten Leberpassage zum Auftreten einer akuten Entzugssymptomatik. – Keine spasmogene Wirkung – Keine parenterale Applikation möglich, wurde jedoch vor Naloxonzusatz missbräuchlich betrieben – 1 Trpf. = 2,5 mg Tilidin und 0,2 mg Naloxon Tilidin/Naloxon Tropfen ist BtMVV-pflichtig wegen missbräuchlicher Verwendung! Tapentadol
Palexia ret. Palexia unret. Palexia Lösung
50/100/150/ 200/250 50 20 mg/ml und 4 mg/ml
12
0,3-0,5
500 (bisher keine Erfahrung bei höherer Dosierung)
Indikationen Mittelstarke bis starke Schmerzen Anmerkung Einziges Opioid mit nachgewiesener Wirkung der spinalen Wiederaufnahmehemmung von Noradrenalin Tramadol
Tramal, Tramadolor, Tramagetic etc.
50–100
2–4
Tramundin SL
100 mg, wovon 25 mg schnell (S) und 75 mg langsam (L) wie eine Retardtablette freigesetzt werden
–
Tramal long, Tramundin retard
2- bis 3-mal 100– 200
400 (–600)
8–12
0,1
0,1
400 (nicht dialysierbar!)
Indikationen Mittelstarke Schmerzen Wirkmechanismus Aktivierung von µ-Opioidrezeptoren sowie Interaktion mit dem Serotonin-Noradrenalin-System der spinalen Schmerzhemmung Bioverfügbarkeit: ca. 70 %; Halbwertszeit: 6 h Nebenwirkungen Sehr häufig (>10 %): Übelkeit, Schwindel; häufig: Erbrechen, Schwitzen, Erschöpfung, Kopfschmerzen; selten: Obstipation und Miktionsstörungen Anmerkungen Geringe spasmogene Wirkung (verwendbar bei Pankreatitis) Verminderung der analgetischen Wirkung bei simultaner Verabreichung vom Carbamazepin Kombination aus Paracetamol und Tramadol
Zaldiar
4-mal 2 Tbl.; 1 Tbl. = 325 mg Paracetamol/37,5 mg Tramadol
–
–
–
34
Kapitel 2 · Pharmakotherapie
. Tab. 2.6 Dosierung von stark wirksamen Opioiden
2
Generischer Name
Handelsname (Beispiele)
Dosis [mg]
Wirk dauer [h]
Potenz (Morphin = 1)
Tageshöchstdosis [mg]
Nicht retardiertes Morphinsulfat bzw. Morphinhydrochlorid
Sevredol
10/20
4
1
Morphin Merck Trpf.
0,5/2,0 %
Maximal alle 4 h bzw. 6-mal pro Tag
MSR Supp.
10/20/30
Oramorph Trpf.
10 mg/5 ml 30 mg/5 ml 100 mg/5 ml
Painbreak Brausetbl.
20
MST Mundipharma, M-Long, M-Dolor
10/20/30/60/90
8–12
1
Limitiert durch Nebenwirkungen
MST Retard-Granulat
20/30/60/100/200
12
1
L-Methadon
L-Polamidon
2,5–5 (20 Trpf. = 1 ml = 5 mg), 10 mg p. o. = 5 mg i. v.
4–24 h (HWZ 8–75 h)
8 (bei Morphindosis bis 100 mg/Tag) 16 (bei Morphindosis 100–300 mg/ Tag) 24 (bei Morphindosis ab 300 mg/Tag)
Limitiert durch Nebenwirkungen, Cave bei Niereninsuffizienz. Kumulationsgefahr durch extrem individuelle HWZ, orale Bioverfügbarkeit ca. 80 % (40– 100 %)
Oxycodon, nicht retardiert
Oxygesic akut
5/10/20
4
1,5–2
Oxygesic Dispersa (Schmelztbl.)
5/10/20
Limitiert durch Nebenwirkungen
Oxygesic inject
10/20
Oxycodon, retardiert
Oxygesic
10/20/40/80/120
8–12
Kombination: Oxycodon und Naloxon
Targin
5/2,5 10/5 20/10 40/20
8–12
Retardiertes Morphinsulfat
Limitiert durch Naloxon bei Leberinsuffizienz
35
2.2 · Opioidanalgetika
2
. Tab. 2.6 (Fortsetzung) Generischer Name
Handelsname (Beispiele)
Dosis [mg]
Wirk dauer [h]
Potenz (Morphin = 1)
Tageshöchstdosis [mg]
Hydromorphon, nicht retardiert
Palladon Kaps.
1,3/2,6
4
5–10
Dilaudid (i. v., s. c.)
1 ml = 2 mg
Orale Bioverfügbarkeit ca. 50 %, limitiert durch Nebenwirkungen
Palladon inject
10 ml = 100 mg
Palladon ret.
2/4/8/16/24
8–12
Jurnista
4/8/16/24
24
Temgesic 0,2 mg, Temgesic forte 0,4 mg
0,2–1,2
6–8
50-70
4–5 wegen Ceilingeffekts (s. u.)
Hydromorphon, retardiert Buprenorphin
Wichtige Besonderheiten: – Buprenorphin ist ein Partialagonist am µ-Opioidrezeptor und ein Antagonist am κ-Opioidrezeptor. Ein Partialagonist besetzt den Rezeptor, besitzt jedoch nicht die volle intrinische Aktivität wie ein Vollagonist. – Buprenorphin besitzt eine sehr hohe Rezeptoraffinität, d. h. ist mit MOR-Antagonisten, wie Naloxon, nur schlecht antagonisierbar (eher theoretische Überlegung, wahrscheinlich ohne klinische Relevanz). – Buprenorphin ist, vor allem bei (ehemaligen) Heroinabhängigen, eine sichere Substanz, da sie einen Ceilingeffekt aufweist: eine Steigerung der Dosierung bewirkt keine Erhöhung der analgetischen Wirkung, jedoch auch keine weitere Steigerung der Atemdepression.
5 Pharmakologie: – Hohe orale Bioverfügbarkeit (ca. 60– 85 %) – Parenterale Äquivalenz 1:1 im Vergleich zu Morphin – Bei höherer oraler Bioverfügbarkeit als Morphin ist die orale Äquivalenz zu Morphin ca. 1:2, d. h. 30 mg Oxycodon entsprechen 60 mg Morphin – Im Gegensatz zu Morphin keine klinisch relevanten aktiven Metabolite (Noroxycodon, Oxymorphon) – Abbau über CYP450 2D6 und 3A4 – Plasmaproteinbindung: 38 % – Kein Ceilingeffekt – Wirkbeginn nach ca. 60 min, Wirkdauer: ca. 12 h („duales Wirkprinzip“: angeblich schnellere Anflutung
als sonstige Retardpräparate, lange Wirkung) – Ein Teil der Patienten benötigt allerdings nach Erfahrung der Autoren eine 8-stündliche perorale Einnahme – Konstante Plasmaspiegel nach 24–26 h 5 Indikationen: starke und stärkste Schmer zen; hat einen nachgewiesen besseren analgetischen Effekt bei neuropathischen Schmerzen als die anderen Opioide. 5 Dosierung: oral: initial 2-mal 5 mg/Tag 5 Nebenwirkungen: . Tab. 2.7, jedoch geringe Inzidenz an Übelkeit und Erbrechen sowie Verwirrtheitszuständen im Vergleich zu Morphin 5 Kontraindikationen: – Akute hepatische Porphyrie – Kinder 10 %)
Häufig (1–10 %)
Obstipation bis zu 100 % (keine Toleranz) Übelkeit und Erbrechen (ca. 20 %) Sedierung (initial bis zu 20 %) Verwirrtheit (ca. 2 %) und Halluzinationen (bis zu 1 %)
Schwitzen Harnverhalt
– Asthma bronchiale – Gallenkolik – Schwangerschaft und Stillzeit nur bei strenger Indikationsstellung 2.2.11.3 Oxycodon und Naloxon
(Targin)
5 Tabletten à 5/2,5 mg; 10/5 mg; 20/10 mg, 40/20 mg Medikamentenkombination des µ- und κ-Agonisten Oxycodon mit dem Opiatantagonisten Naloxon zur Reduktion der opiatbedingten Obstipation. Das Naloxon hat eine höhere Rezeptoraffinität an den peripheren Opioidrezeptoren im Darm als das Oxycodon. Daher blockiert Naloxon die obstipierende Wirkung des Oxycodons in den Plexus myentericus und submucosus. Die resorbierte Naloxonmenge wird durch den hohen „First-Pass-Effekt“ in der Leber fast vollständig abgebaut, sodass bei suffizienter Leberfunktion keine systemische Naloxonwirkung auftritt. Oxycodon hat einen First-Pass-Effekt von 20–30 %. Targin ist mittlerweile auch für die Behandlung des Restless-legs-Syndroms zugelassen, da eine deutliche Überlegenheit der Symptomreduktion mit Oxycodon/Naloxon gegenüber Placebo gezeigt hat. ! Bei Leberinsuffizienz und zu hoher Naloxondosis (>30 mg) mit systemischem Naloxoneffekt und Schmerzverstärkung rechnen.
2.2.11.4 Hydromorphon
5 Palladon 5 Reiner MOR-Agonist 5 Geeignet für die orale Schmerztherapie besonders bei Patienten mit Niereninsuffizienz, multimorbiden Patienten und Patienten mit Polypharmakotherapie 5 Verfügbarkeit: – Retardkapsel (Palladon) à 4, 8, 16, 24 mg Hydromorphon mit 12 h Wirkdauer – Hartkapsel à 1,3 oder 2,6 mg Hydromorphon zur Einnahme als Bedarfsdosis – Palladon-Injekt Amp. à 2 mg, 10 mg, 100 mg zur parenteralen Gabe – Orales osmotisches System (Jurnista) à 4, 8, 16, 32, 64 mg mit 24 h Wirkdauer Bei einigen Patienten (ca. 10 %) wird ein gleichmäßiger Plasmaspiegel nicht über 24 h aufrechterhalten. Diese Patienten bekommen 1–3 h vor der Einnahme der nächsten Retardtablette Schmerzen („end of dose pain“). – Parenterale Potenz im Vergleich zu Morphin, ca. 5- bis 10-fach – 30-Tage-Höchstmenge auf BtMRezept: 5000 mg 5 Pharmakologie: – Stabile orale Bioverfügbarkeit: ca. 40–50 % – Sehr niedrige Plasmaproteinbindung: ca. 8 %; keine Pharmakoninteraktionen aufgrund von Verdrängung anderer Medikamente aus der Proteinbindung zu erwarten – Keine Interaktion mit Cytochrom P450-System, da Abbau durch Glukuronidierung – Keine aktiven Metaboliten, deshalb auch bei Patienten mit Niereninsuffizienz geeignet – Kein Ceilingeffekt, d. h. keine klinisch relevante Wirkbegrenzung nach oben – Wirkbeginn nach ca. 1–2 h (Retardkapsel), bzw. innerhalb 30 min bei Hartkapsel
2.2 · Opioidanalgetika
– Wirkdauer für Retardform: ca. 12 h (2-malige Applikation erforderlich), für Hartkapsel: ca. 4 h – Kurze Halbwertszeit: 2,6 h 5 Dosierung: – Oral: 2-mal 4 mg, ggf. um je 4 mg (= 30 mg Morphin) steigern – Kinder: 0,08 mg/kg KG alle 12 h – Parenteral: Erwachsene und Kinder > 12 Jahre: 1–2 mg i. m./s. c./i. v. – Anmerkung: Umrechnung von oralem Morphin auf orales Hydromorphon: Hydromorphonmenge = Morphinmenge dividiert durch 7,5; z. B. 90 mg Morphin p. o. entsprechen ca. 12 mg Palladon p. o. (immer Tagesmenge berechnen!) 5 Nebenwirkungen: . Tab. 2.7 – Anmerkung: soll im Vergleich zu Morphin geringere obstipierende Wirkung besitzen 5 Wechselwirkungen: unter Cimetidingabe höhere Plasmakonzentrationen von Hydromorphon 2.2.11.5 Levomethadon
5 L-Polamidon 5 Linksdrehendes Enantiomer von Methadon 5 Für einen Wirkung am NMDARezeptor gibt es keine Evidenz ! Cave Methadon ist nur halb so analgetisch wirksam wie L-Polamidon, da es das D-Enantiomer noch enthält oder umgekehrt: L-Polamidon ist analgetisch doppelt so potent wie das Razemat Methadon! Führt bei mit Methadon substituierten Patienten immer wieder zu Unter- oder Überdosierung!
L-Polamidon Lösung 5 mg/ml 5 20 Trpf. = 1 ml = 5 mg; 1 Trpf. = 0,25 mg 5 Substituierte kennen ihre Dosis L-Polamidon in ml: „30 Pola“ L-Polamidon )
37
2
5 Verfügbarkeit: – Amp. à 1 ml = 2,5 mg zur i. m.- und i. v.-Applikation – Tabletten à 2.5, 5, 20 und 30 mg zur oralen Einnahme mit Teilungskerbe – Bioverfügbarkeit bei oraler Einnahme: 90 % – 30-Tage-Höchstmenge auf BtM-Rezept: 1500 mg 5 Pharmakologie: – Halbwertszeit: 18–24(–60) h (variiert extrem stark) – Metabolisierung hauptsächlich über die Leber (> 50 %) durch CYP450 3A4 in 2 inaktive Hauptmetabolite, jedoch auch zu 50 % unverändert über die Niere – Der Metabolismus von L-Polamidon ist bei der Gabe des Razemats erhöht, d. h. die Wirkstärke von L-Polamidon im Razemat ist geringer als als Enantiomer – Plasmaproteinbindung ca. 80 % (40– 100 %) – Wirkeintritt: nach ca. 20 min parenteral, nach 60 min oral – Maximale Wirkung nach ca. 40 min – Wirkdauer: 4–24 h Potenz im Vergleich zu Morphin ist wegen der Kumulation abhängig vom Dosisbereich: 5 Bis 100 mg/Tag Morphin: Potenz L-Polamidon zu Morphin = 8:1 (z. B. 40 mg/ Tag Morphin = 5 mg/Tag L-Polamidon = 1 ml/Tag = 20 Trpf./Tag = 5 Trpf. alle 6 h) 5 100–300 mg/Tag Morphin: L-Polamidon zu Morphin = 16:1 5 Ab 300 mg/Tag Morphin: L-Polamidon zu Morphin = 24:1
5 Indikationen: – Starke (neuropathische) Schmerzen – (Perioperative) Substitution bei Drogenabhängigen
38
2
Kapitel 2 · Pharmakotherapie
5 Dosierung: – Anfangsdosierung: – 3-mal 10 Trpf. pro Tag (= 3-mal 2,5 mg = 7,5 mg/Tag = 60 mg Morphin/Tag) – Erhaltungsdosis: 0,5–0,8 mg/kg KG (maximal 1,0 mg/kg KG, da Kumulationseffekte auftreten, insbesondere bei Leberinsuffizienz) – Prämedikation Opiatabhängiger: 5–10 mg i. m. bzw. 10–20 mg p. o. (Wirkbeginn nach 30–60 min) 2.2.11.6 Tapentadol
5 Palexia 5 Tapentadol ist eine Weiterentwicklung des Tramadols und besitzt zwei voneinander vollkommen unterschiedliche pharmakologische Effekte: µ-ORAgonist und Noradrenalinwiederaufnahmehemmung. Dadurch bewirkt Tapentadol nicht nur eine Analgesie, sondern aktiviert wohl auch die körpereigene Schmerzhemmung 5 Tapentadol hat eine deutlich niedrigere Wirkstärke als Morphin, dennoch wird es als „stark wirksames Opioid (WHO III)“ eingestuft und ist dementsprechend BtMVV-pflichtig 5 Wirkstärke im Vergleich zu Morphin 0,3–0,5, d. h. 100 mg Tapentadol = 30– 50 mg Morphin 5 30-Tage-Höchstmenge auf BtM-Rezept: 1500 mg 5 Verfügbarkeit: – Filmtablette in den Dosierungen 50/100/150/200/250 mg als Retardtablette – Filmtablette in der Dosierung 50 mg als Bedarfsmedikation – Lösung zum Einnehmen: CAVE: 4 mg/ml und 20 mg/ml als Bedarfsmedikation erhältlich 5 Pharmakologie: – Orale Bioverfügbarkeit 30 % – Plasmaproteinbindung 20 %
– Glukuronidierung in der Leber (70 %), ein geringer Anteil wird über CYP450 2C9 und 2C19 abgebaut – Keine analgetisch aktiven Metabolite – Ausscheidung zu 95 % renal – Halbwertszeit 4 h 5 Indikationen: starke Schmerzen 5 Dosierung: 1 Retardtbl. alle 12 h, Beginn mit 2-mal 50 mg, Steigerung nach Bedarf 5 Nebenwirkungen: lt. Fachinformation sehr häufig (> 10 %) Obstipation, Übelkeit, Schwindel, Somnolenz, Kopfschmerzen 2.2.11.7 Transdermale
therapeutische Systeme (TTS)
Der Wirkstoff ist direkt in der Polymermatrix der Klebeschicht eingebettet, die eine kontinuierliche Abgabe sicherstellen sollen. Das Pflaster kann theoretisch geteilt werden (z. B. bei Kindern), ohne Gefahr des Medikamentenaustritts. Die Silikonklebeschicht bewirkt bei hoher Klebewirkung eine gute Hautverträglichkeit. Die Dosierung ist in . Tab. 2.8 dargestellt. Beispiele für Matrixpflaster 5 Transtec PRO – Buprenorphin wird zu 90 % über die Leber ausgeschieden, daher keine Dosisreduktion bei Niereninsuffizienz nötig – Wirkdauer: 96 h, d. h. Pflasterwechsel 2-mal pro Woche an festen Tagen – Vorteile in der Patientensicherheit und im Patientenkomfort 5 Norspan – Buprenorphin Matrixpflaster mit Wechsel lediglich 1 x/Woche – Vorteile in der Patientensicherheit und im Patientenkomfort
39
2.2 · Opioidanalgetika
2
. Tab. 2.8 Dosierung von transdermal applizierbaren Opioiden Generischer Name
Handelsname (Beispiele)
Pflastergrößen [µg/h]
Wirkdauer [h]
Potenz (Morphin = 1)
Tageshöchstdosis [mg]
Fentanyl transdermal
Durogesic SMAT
12/25/50/75/100
72
70–100
Limitiert durch Opioidnebenwirkungen
Buprenorphin
Transtec PRO
35/52,5/70
96
50
4 (Ceilingeffekt)
Norspan
5/10/15/20/30/40
148 (7 Tage)
50
4 (Ceilingeffekt)
– ABER: Verwechslungsgefahr der beiden Buprenorphin-Pflaster mit Unterdosierung möglich 5 Durogesic SMAT – Wirkdauer: 72 h (Durogesic TTS: 72–84 h), d. h. Wechsel alle 72 h – Ab 12 µg/h (Durogesic SMAT 12) bereits für Kinder ab dem 2. Lebensjahr zugelassen – Cave: Metabolisierung von Fentanyl über Cytochrom P450 3A4. Interaktion mit Erythromycin, Itraconazol, Ketoconazol, Diltiazem, Cimetidin und Ritonavir (Proteaseinhibitor bei HIV-Therapie)
2.2.11.8 Fentanyl
5 Matrixpflaster mehrerer Hersteller verfügbar in 5 verschiedenen Größen (12, 25, 50, 75 und 100 µg/h) Vorteile der Matrixpflaster 5 Bessere Hautverträglichkeit bzw. geringere allergische Spätreaktionen 5 Bessere dermale Haftung (vorteilhaft für Sportler oder stark schwitzende Patienten) 5 Theoretisch teilbar durch Zerschneiden (Cave: dann Off-label-Gebrauch
aufgrund „Veränderung eines Medikaments“) 5 Wirksamkeit 48–72 h
5 Fentanyl ist stark lipophil, deshalb transdermale Applikation möglich 5 Seit Oktober 1995 in Deutschland zugelassen 5 Seit Anfang 1998 ist die ambulante Einstellung des Patienten auf transdermales Fentanyl erlaubt 5 Seit Juni 1999 ist Fentanyl auch zur Therapie starker und sehr starker nicht tumorbedingter chronischer Schmerzen zugelassen. ! Cave: Rote-Hand-Brief wegen klinisch berichteten serotonergen Syndroms bei der gleichzeitigen Anwendung von Fentanyl mit Johanniskraut, Dextrometorphan, SSRI, SNRI und MAO-Hemmern, da Fentanyl seroto nerge Eigenschaften besitzen könnte.
5 Serotonerges Syndrom (Synonym Serotoninsyndrom): 5 Trias durch Hyperstimulation der peripheren und zentralen Serotoninrezeptoren aus – Bewusstseinsänderungen, z. B. Agitation, Halluzinationen, Koma,
40
2
Kapitel 2 · Pharmakotherapie
– autonomer Instabilität, z. B. Mydriasis, Tachykardie, Diarrhoe, Hypertonie, Tachypnoe, SchitzenHyperthermie, und – neuromuskulären Veränderungen, z. B. Tremor, Nystagmus, Hyperreflexie (pathognomonisch!), Koordinationsstörungen 5 Abfolge der Bewusstseinsveränderungen von leichten Symptomen: – Angst, Agitation, Unruhe, Akathisie (Unfähigkeit, ruhig zu sitzen) über – Verwirrung, Desorientierung, visuelle Halluzinationen zu – Koma 5 Diagnose nach Hunter-Kriterien (Sensitivität 84 %, Spezifität 97 %!) – vorheriger Gebrauch einer serotonergen Substanz UND – zusätzlich mindestens eines der folgenden Symptome: – Klonus (spontan und/oder induzierbar) – Agitation – Autonome Dysfunktion (s. o.) – Tremor – Hyperreflexie ! Achtung KEINE Evidenz für die Auslösung durch serotonerge Substanzen und 5 Buprenorphin, Hydromorphon, Morphin MÖGLICHERWEISE Auslösung durch serotonerge Substanzen und 5 Oxycodon 5 Tapentadol (theoretische Überlegung, keine Fallberichte) Serotonerges Syndrom BESCHRIEBEN durch serotonerge Stubstanzen und Phenylpiperidin-Opioide: 5 Fentanyl (Rote-Hand-Brief s. o.) 5 Tramadol (absolute Kontraindikation für die Kombination mit MAOHemmern!)
5 Methadon 5 Pethidin
5 Therapie: – Absetzen aller serotonergen Substanzen – Gabe von Aktivkohle – Überwachung und Stabilisierung der Vitalparameter – Behandlung der Angst- und Erregungszustände durch Benzodiazepine – ggf. Gabe von Serotoninantagonisten (Cyproheptadin: Initialdosis 12 mg oral, Gabe von 4–8 mg alle 6 h bis 31 mg/d; i. v. Chlorpromazin: Initialdosis 12,5–25 mg, Gabe von 25 mg alle 6 h) z Fentanylpflaster
5 Vorteile – Von der gastrointestinalen Motilität unabhängige, kontinuierliche Abgabe – Geringere Obstipations- und Emesisneigung – Verbesserte Vigilanz bei meist gleichzeitig verbesserter Analgesiewirkung nach der Umstellung (gilt besonders für die Umstellung von WHO-Stufe-II-Analgetika) – 30-Tages-Höchstmenge beträgt auf BtM-Rezept 500 mg – Cave: Rote-Hand-Brief wegen unbeabsichtigter Exposition von Pflastern auf Pflegepersonen oder Verschlucken von Pflastern durch Kinder mit Todesfolge 5 Nachteile – Kann bei Umstellung von Morphin Dysphorie hervorrufen – Entgegen den Herstellerangaben kann es zu sehr unterschiedlichen Fentanylspiegeln bei einzelnen Patienten kommen (hohe intra- und interindividuelle pharmakokinetische Unterschiede)
41
2.2 · Opioidanalgetika
Neueinstellung auf Fentanyl transdermal 5 Kleinste Pflastergröße (maximale Wirkung nach 12–24 h, stabiler Plasmaspiegel nach frühestens 36 h) 5 Nichtopioide weiter geben 5 Bei Bedarf zusätzlich schnell wirksames Morphin p. o. (z. B. 5 mg Oramorph) oder s. c.; besser: Bedarfsmedikation mit Fentanyl oral oder intranasal 5 Nach 3 Tagen Neuberechnung der Pflastergröße anhand des zusätzlichen Morphinbedarfs (. Tab. 2.9)
Umstellung von Morphin auf Fentanyl transdermal 5 Eine Pflastergröße kleiner wählen, als es der Umrechnung entspricht (. Tab. 2.9) 5 Letzte Retardmorphingabe bei Pflasterapplikation 5 Bei Bedarf zusätzlich schnell wirksames orales Morphinsulfat: – Morphin Merck Trpf. 2 % (16 Trpf. = 20 mg) oder – Sevredol-Tbl. 10/20 mg 5 Nach 3 Tagen Neuberechnung der Pflastergröße anhand des zusätzlichen Morphinbedarfs (z. B. 60 mg p. o. Mehrbedarf = 25 µg/h Fentanyl 2.2.11.9 Buprenorphin
5 Temgesic 5 Partialagonist (am µ-Rezeptor) und Antagonist (am κ-Rezeptor). Partialagonisten wirken nach alleiniger Gabe agonistisch, bei Zufuhr nach vorheriger Gabe
2
reiner Agonisten heben sie deren Wirkung teilweise oder vollständig auf, Problem bei Opiatrotation 5 Verfügbarkeit: – 1 Amp. à 1 ml = 0,3 mg – 1 Tbl. = 0,2 mg; 0,4 mg (sublinguale Gabe, besonders bei Schluckstörungen einsetzbar) – 30-Tage-Höchstmenge auf BtMRezept: 800 mg 5 Pharmakologie: – Metabolisierung in der Leber und Ausscheidung als einziges Opioid überwiegend mit der Galle (ca. 70 %) mit enterohepatischem Kreislauf, 10 % werden unverändert renal ausgeschieden – 95–98 % Eiweißbindung – Orale Bioverfügbarkeit: ca. 5 % durch ausgeprägten First-Pass-Effekt, daher sublinguale Applikationsform! – Wirkungseintritt nach s.l.-Gabe: nach 5–15 min – Maximale Wirkung: nach ca. 60 min – Wirkdauer: 6–8 h – Halbwertszeit: 2–5 h 5 Indikationen: starke akute und chronische Schmerzen 5 Dosierung: – Sublingual: 2–6 µg/kg KG (0,2– 0,4 mg), ggf. Wiederholung alle 6–8 h – i. m., i. v.: 2–4 µg/kg KG (0,15–0,3 mg), ggf. Wiederholung alle 6–8 h – Maximale Tagesdosis: 1,2 mg 5 Nebenwirkungen: – . Tab. 2.7, zusätzlich Konvulsionen, psychomimetische Reaktionen,
. Tab. 2.9 Äquipotenz von Oxycodon, Morphin und Fentanyl transdermal Oxycodon oral [mg/Tag]
Morphin i. v. [mg/Tag]
Morphin p. o. [mg/Tag]
Fentanyl TTS [µg/h]
Pflastergröße [cm2]
30
20
60
25
10
60
40
120
50
20
90
60
180
75
30
120
90
240
100
40
42
2
Kapitel 2 · Pharmakotherapie
Schweißausbrüche und Halluzinationen – Mögliche Minderung der Wirkung reiner Opioidagonisten durch Verdrängung aufgrund sehr hoher Rezeptoraffinität – Wegen hoher Rezeptoraffinität ist eine Antagonisierung bei Nebenwirkungen wie Atemdepression mit extremen Dosierungen von Naloxon möglich – Bei Atemdepression evtl. Atemstimulans 5 Transdermale Applikation von Buprenorphin seit September 2001 als TTS (Transtec-Pflaster) bei Patienten > 18 Jahren möglich 5 Buprenorphinpflaster gibt es von mehreren Anbietern in den Pflastergrößen: – 25 cm2 = 20 mg Buprenorphin = 35 µg/h – 37,5 cm2 = 30 mg Buprenorphin = 52,5 µg/h – 50 cm2 = 40 mg Buprenorphin = 70 µg/h – Cave: nur das Buprenorphin TTS Transtec PRO wirkt 96 h, d. h. 3,5 Tage, somit gibt es 2 feste Wechselzeiten pro Woche (z. B. Montagmorgen und Donnerstagabend) – Buprenorphinpflaster von AWD und Hexal wirken 72 h, d. h. sie müssen alle 3 Tage gewechselt werden 5 Für den Niedrigdosisbereich: Buprenorphin TTS (Norspan) von Grünenthal mit Pflasterwechsel 1 x/Woche – 6,25 cm2 = 5 mg Buprenorphin = 5 µg/h – 12,5 cm2 = 10 mg Buprenorphin = 10 µg/h – 25 cm2 = 20 mg Buprenorphin = 20 µg/h ! Ein sehr wichtiger Unterschied von Norspan® zu den anderen Buprenorphinpflastern ist, dass es nur einmal pro Woche gewechselt werden muss!
Buprenorphin 5 Vorteile – Geringere Obstipationsrate im Vergleich zur oralen Morphineinnahme – Keine Kumulation bei Niereninsuffizienz – Geringe spasmogene Wirkung – Geringes Abhängigkeitspotenzial und geringe Toleranzentwicklung durch langsame Dissoziation vom Opiatrezeptor – Keine nachgewiesene immunsuppressive Wirkung – Ceilingeffekt bei der atemdepressiven Wirkung 5 Nachteile – Durch langsame Dissoziation vom Opiatrezeptor Probleme bei der Opioidrotation möglich – Kombinierbarkeit mit anderen Opioiden wird diskutiert
2.2.11.10 Schnell wirksames
Fentanyl bei Durchbruchschmerzen
Zu Tumordurchbruchschmerzen 7 Kap. 8. Unterscheidung der Opiate nach Wirkungseintritt: 5 Schnell wirksam (ROO = „rapid onset opioids“, . Tab. 2.10), Wirkeintritt nach 5–10 min – Actiq (OTFC = orales transmukosales Fentanylcitrat) – Fentanyl sublingual (Abstral) – Fentanyl Bukkaltablette (Effentora) – Fentanyl Bukkalfilm (Breakyl) – Fentanyl nasal (Instanyl, PecFent) – Morphin i. v. 5 Kurz wirksam (SAO = „short acting opioids“), Wirkeintritt ab 15–20 min – Morphin s. c., Morphin p. o. (Painbreak, Oramorph, Sevredol) – Hydromorphon p. o. (Palladon 1,3/2,6 mg)
2
43
2.2 · Opioidanalgetika
. Tab. 2.10 Übersicht über die ROO („rapid onset opioids“) Actiq
Abstral
Breakyl
Effentora
Instanyl
PecFent
Wirkbeginna [min]
15
10
15
10
5–10
5–10
Wirkdauer [h]
4-6
1–2
1–2
1–2
0,5
1-1,5
Bioverfügbarkeit
52 %, davon 25 % direkt bukkal
Keine Angaben, geschätzt 70 %
71 %
65 %, davon 48 % direkt bukkal
89 %
Keine Angaben, geschätzt 80 %
Kostenb [€]
11,5
10,03
10,11
10,42
11,69
9,95
aLt.
Zulassungsstudien pro Applikation (niedrigste Dosierung, größte Packungseinheit), öffentlicher Apothekenverkaufspreis Stand 2020
bKosten
– Buprenorphin sublingual (Temgesic) – Oxycodon (Oxygesic akut, Oxygesic Dispersa) 5 Lang wirksam (LAO = „long acting opioids“), Wirkeintritt nach 45–60 min – Morphin retard p. o. – Hydromorphon p. o. (Palladon retard, Jurnista) – Oxycodon p. o. (Oxygesic, Targin) 5 Anmerkungen zu den Durchbruchschmerzmedikamenten: – ROO nur für Tumorschmerzpatienten, die mit mindestens 60 mg Morphinäquivalent stabil eingestellt sind – Durch schnelles Anfluten des maximalen Wirkstoffspiegels ist die Missbrauchsgefahr hoch, daher enge Patientenführung – Sorgfältige Anamnese, ob Tumordurchbruchschmerzen überhaupt vorliegen (7 Kap. 8)
Actiq (Fentanyl-Lutschtablette) 5 OTFC = oral-transmukosales Fentanylcitrat – Erstes Fentanyl zur Therapie von Tumordurchbruchschmerzen, seit 2002 auf dem deutschen Markt, noch
i mmer Marktführer bezüglich der Verschreibungshäufigkeit 5 Pharmakokinetik: – 25 % werden schnell transmukös resorbiert – 75 % werden enteral aufgenommen, wobei 50 % durch die Leberpassage (First-Pass-Effekt) abgebaut werden, so sind insgesamt nur 50 % der angebotenen Fentanylmenge verfügbar 5 Wirkmechanismus: – Schneller Wirkungseintritt nach 5 min durch transmukös aufgenommenes Fentanyl (mit 5–10 mg Morphin i. v. vergleichbar) – Lang anhaltender Effekt (ca. 2–3 h) durch enteral resorbiertes Fentanyl 5 Anwendung: – Fentanylstick nicht lutschen oder kauen, sondern 15 min an der Wangenschleimhaut reiben, was die transmukosal aufgenommene Menge an Fentanyl erhöhen soll. Praktikabilität dadurch deutlich eingeschränkt, v. a. bei Mundtrockenheit, Mukositis, Soor – 6 verschiedene Wirkstärken, Angabe auf der Lutschtablette: 200, 400, 600, 800, 1200 und 1600 µg
44
Kapitel 2 · Pharmakotherapie
Abstral (Fentanyl-Sublingualtablette)
2
5 Seit 2009 verfügbar, erste FentanylSublingualtablette 5 Pharmakokinetik: – F.A.S.T.-Technologie („fast acting sublingual therapy“) soll den Anteil des über die Mundschleimhaut aufgenommenen Fentanyls erhöhen. Dazu ist Fentanyl an mukoadhäsive Trägerpartikel gebunden – Durch schnelle sublinguale Resorption geringerer Anteil des geschluckten Fentanyls und damit der intestinalen Aufnahme, die geschätzte Bioverfügbarkeit liegt bei ca. 65 % 5 Wirkmechanismus: – Schneller Wirkungseintritt durch transmukös aufgenommenes Fentanyl nach 10 min – Mittellang anhaltender Effekt (ca. 1–2 h) durch enteral resorbiertes Fentanyl 5 Anwendung: – Tablette unter die Zunge legen, Tablette löst sich innerhalb von 10–15 s vollständig auf – Kindersichere Blisterpackung, die schwer zu öffnen ist – 5 verschiedene Wirkstärken, Tabletten sind unterschiedlich geformt: 100, 200, 300, 400, 600 und 800 µg
Effentora (Fentanyl-Bukkaltablette) 5 Seit 2009 verfügbar, erste FentanylBukkaltablette 5 Pharmakokinetik: Fentanyltablette, die mithilfe einer sog. „OraVescent-Technologie“ eine schnelle und effiziente Fentanylaufnahme ermöglicht. Dazu wird der pH-Wert lokal durch Kohlensäure erst abgesenkt, sodass die Löslichkeit des Fentanyls zunimmt, dann durch das entweichende Kohlendioxid wieder angehoben, was die mukosale Aufnahme erleichtert 5 Wirkmechanismus:
– Schneller Wirkungseintritt durch transmukös aufgenommenes Fentanyl nach 10 min – Mittellang anhaltender Effekt (ca. 1–2 h) durch enteral resorbiertes Fentanyl 5 Anwendung: – Tablette in die Wangentasche stecken oder unter die Zunge legen, nicht vollständiges Auflösen der Tablette innerhalb von 15–25 min, was zu einem deutlichen Bizzeln führt („Brausetablette“). Tablettenrest kann/muss geschluckt werden – Kindersichere Blisterpackung, die sehr schwierig zu öffnen ist – 5 verschiedene Wirkstärken, Packungen farblich markiert, Tabletten durch Aufschrift unterscheidbar: 100, 200, 400, 600 und 800 µg
Breakyl (Fentanyl-Bukkalfilm) 5 Pharmakokinetik: Breakyl ist ein lösliches, rechteckiges, flaches und flexibles Filmplättchen (Bukkalfilm) mit einer rosafarbenen und einer weißen Seite; der Wirkstoff Fentanyl befindet sich in der rosafarbenen Schicht. Die weiße Deckschicht minimiert die Menge Fentanyl, die in den Speichel abgegeben wird, um ein Verschlucken des Wirkstoffes mit dem Speichel zu vermeiden 5 Wirkmechanismus: – Schneller Wirkungseintritt durch transmukös aufgenommenes Fentanyl nach 15 min im Vergleich zu Placebo 5 Anwendung: – Innenseite der Wange befeuchten – Rosafarbene Seite an die Wangenschleimhaut anlegen und 5 min lang andrücken – Auflösen des Films innerhalb von 20 min, Rest muss geschluckt werden – 5 verschiedene Wirkstärken: 200, 400, 600, 800, 1200 µg
45
2.2 · Opioidanalgetika
Instanyl (Fentanyl nasal in wässriger Lösung) 5 Seit 2009 verfügbar, erstes FentanylNasenspray 5 Pharmakokinetik: Instanyl ist ein nasal verabreichtes Fentanyl, das fast ausschließlich (ca. 90 %) nasal resorbiert wird. Ein Sprühstoß appliziert 100 µl 5 Wirkmechanismus: – Sehr schneller Wirkungseintritt durch transmukös aufgenommenes Fentanyl nach 10 min im Vergleich zu Placebo – Kurz anhaltender Effekt (ca. 30 min) 5 Anwendung: – Patient muss zur Applikation aufrecht sein. Kindersichere Verpackung, die sehr schwierig zu öffnen ist – 3 verschiedene, farblich markierte Wirkstärken: 50, 100 und 200 µg in Flaschen zu je 10, 20 und 40 Sprühstößen
PecFent (Fentanyl nasal in pektinbasierter Lösung) 5 Seit 2010 verfügbar 5 Pharmakokinetik: Mit Pektin versetzte Fentanyllösung, durch Kontakt mit der Nasenmukosa entsteht eine dreidimensionale Gelmatrix, die eine schnelle (5– 10 min) und gleichmäßige Fentanylfreisetzung ermöglichen soll. Ein Sprühstoß appliziert 100 µl, Herauslaufen und Verschlucken durch Gelmatrix verringert. 5 Wirkmechanismus: – Sehr schneller Wirkungseintritt durch transmukös aufgenommenes Fentanyl nach 5 min im Vergleich zu Placebo – Langanhaltender Effekt (ca. 2 h) 5 Anwendung: – Flasche muss zur Applikation aufrecht gehalten werden, Applikation im Liegen möglich. Kindersichere Verpackung
2
– 2 verschiedene, farblich markierte Wirkstärken: 100 µg, 400 µg, Flaschen à 8 Sprühstöße mit Zählwerk, Packungen mit 1 Flasche, 4 und 12 Flaschen 2.2.12 Opioidrotation
Indikationen: 5 Inadäquate Analgesie 5 Therapieresistente Nebenwirkungen (Übelkeit, Müdigkeit, Obstipation, Harnverhalt, Juckreiz, Verwirrtheit, Halluzinationen, Hautreaktionen bei Pflastertherapie) 5 Medikamenteninteraktion oder Veränderung der Leber- und/oder Nierenfunktion 5 Opioidinduzierte Hyperalgesie Allgemein unterliegt die Äquivalenzdosis sehr großen individuellen Schwankungen, sodass diese nur als grobe Orientierung dienen. Die Umstellung auf ein anderes Opioid (Opioidrotation) bleibt dem erfahrenen Anwender von Opioiden vorbehalten. Bei jeder Opioidumstellung entsteht die nicht sicher auszuschließende Gefahr der Überdosierung bis hin zur Ateminsuffizienz, bzw. der Unterdosierung mit deutlicher Schmerzzunahme. Prinzipiell sollten ca. 50 % der errechneten Äquivalenzmenge am ersten Tag der Umstellung verordnet werden. Die zweiten 50 % sollten als Bedarfsmedikation eingenommen werden. Am zweiten Tag erfolgt die Therapiekontrolle der Rotation mit evtl. durchzuführender Dosierungsanpassung. Vorgehen A) Errechnen der Äquivalenzmenge des Opioids auf das rotiert werden soll B) Gabe von 50–70 % dieser berechneten Menge am Tag der Umstellung als
46
2
Kapitel 2 · Pharmakotherapie
Retardpräparat, Gabe von 50 % Äquivalenzmenge als Bedarfsmedikation C) Am Folgetag Therapiekontrolle und ggf. Dosisanpassung Beispiel: Umstellung Morphin p. o. auf Fentanyl transdermal 5 120 mg Morphin p. o./Tag entsprechen 50 µg/h Fentanyl transdermal 5 Tag: – 50 % der errechneten Menge = 25 µg/h transdermal applizieren – Bedarfsmedikation: 10 mg Morphin oral, z. B. Sevredol (maximal alle 4 h) 5 2. Tag: Wenn > 30 mg Sevredol/Tag notwendig, Dosisanpassung auf Fentanyl transdermal 50 µg/h
! Die Morphinäquivalenzdosis ist definitionsgemäß die Dosis eines Opioids in Milligramm, die intramuskulär verabreicht der Wirkstärke von 1 mg Morphin intramuskulär entspricht. Oral verabreicht variieren die Äquivalenzdosierungen entsprechend der oralen Bioverfügbarkeit der jeweiligen Opioide (. Tab. 2.11).
2.2.13 Verordnung von
Betäubungsmitteln (BtM)
Das Betäubungsmittelgesetz (BtMG), ehemals Opiumgesetz, ist ein Bundesgesetz, das den generellen Umgang mit Betäubungsmitteln regelt. In Anlage III regelt die BtM-Verschreibungsverordnung (BtMVV) das Verschreiben, die Abgabe und den Nachweis des Verbleibs von BtM. 5 Jeder Arzt/Tierarzt/Zahnarzt kann durch Nachweis der Approbation bei der Bundesopiumstelle dreiteilige BtM-Rezepte anfordern 5 Teil 1 und Teil 3 sind für die Apotheke bestimmt, Teil 2 muss 3 Jahre lang vom Verschreibenden aufbewahrt werden 5 Über jeden Zugang, Abgang und Bestand auf Station oder in der Praxis ist ein BtM-Buch zu führen, das 3 Jahre lang aufbewahrt werden muss 5 Für einen Patienten dürfen innerhalb von 30 Tagen bis zu 2 BtM unter Einhaltung der jeweiligen Höchstmengen verschrieben werden 5 Keine Verschreibung von Nichtopioiden auf einem BtM-Rezept möglich, Ausnahmen sind Laxans und Antiemetikum
. Tab. 2.11 Umrechnungstabelle der Dosisäquivalenzen bei Opioidwechsel Substanz
10 mg Morphin i. v. entsprechen
Orale Bioverfügbarkeit [ %]
Verhältnis oral zu parenteral
Morphinsulfat (Sevredol)
30 mg p. o.
30
1:3
Morphin ret. (MST, MST Continus)
30 mg p. o.
30
1:3
25 mg p. o.
80
–
Tapentadol (Palexia)
Dosisäquivalenz im Vergleich zu Morphin
0,3–0,5-fach
Piritramid (Dipidolor)
0,75-fach
7,5 i. v.
–
–
Levomethadon (L-Polamidon)
8-fach
4 mg p. o.
90
1:0,9
Hydromorphon (Palladon)
7,5-fach
2 mg p. o.
50
1:0,5
Oxycodon (Oxygesic)
2-fach
15 mg p. o.
80
1:0,8
Buprenorphin (Temgesic)
50-fach
0,2 mg s. l.; 0,15 mg i. m.
5
1:0,02
47
2.3 · Koanalgetika
5 Notwendige Angaben auf einem B tMRezept: – Name, Vorname, Adresse des Patienten – Ausstellungsdatum – Arzneimittelbezeichnung, Menge in Gramm oder Milliliter und deren Stückzahl – Anwendung des Arzneimittels, z. B. „2-mal täglich“, oder Zusatz „gemäß schriftlicher Anordnung“ – Name des Verschreibenden, Berufsbezeichnung, Anschrift mit Telefonnummer – Eigenhändige Unterschrift, im Vertretungsfall mit dem Zusatz „i. V.“ 5 Aktualisierung der BtMVV im Mai 2011: – Einführung von § 5c, der das „Verschreiben für den Notfallbedarf in Hospizen und in der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung“ (SAPV) regelt und nun einen „Notfallvorrat“ von BtM „für den unvorhersehbaren, dringenden und kurzfristigen Bedarf ihrer Patienten“ zulässt – Änderung von § 5b, der die Wiederverwendung nicht mehr benötigter BtM in Alten- und Pflegeheimen, Hospizen oder einer SAPV ermöglicht
2
. Tab. 2.12 Übersicht über die Betäubungsmittelhöchstmengen pro BtM-Rezept nach BtMVV(Auszug) Medikament
Höchstmenge [mg]
Buprenorphin
800
Dronabinol
500
Fentanyl
500
Hydromorphon
5000
Levomethadon
1800
Methadon
3600
Morphin
24.000
Opiumtinktur
40.000
Oxycodon
15.000
Piritramid
6000
Tapentadol
18.000
Tilidin
18.000
selbstständigen, häuslichen Einnahme verschreiben 5 BtM dürfen zur Ausrüstung eines „Kauffahrteischiffs“ von der Apotheke zunächst ohne Rezept abgegeben werden. Beim Nachreichen des BtM-Rezepts ist der Zusatz „K“ nötig 5 In Notfällen ist die Verschreibung eines BtM auf einem normalen Rezept mit dem Zusatz „Notfallverschreibung“ möglich, ein BtM-Rezept mit dem Zusatz „N“ ist nachzureichen
„BtM-ABC“ 5 Die Höchstmengen (. Tab. 2.12) können auf dem BtM-Rezept mit dem Zusatz „A“ überschritten werden 5 Die Verschreibung eines BtM zur Substitution ist mit dem Zusatz „S“ zu kennzeichnen 5 Der Arzt kann einem Patienten BtM zur Substitution in der benötigten Menge bis zu 2 Tagen (Zusatz „Z“) oder bis zu 30 Tagen (Zusatz „T“) zur
2.3 Koanalgetika
Koanalgetika sind Medikamente, die nicht ursprünglich als Analgetika entwickelt wurden, im Rahmen einer medikamentösen Schmerztherapie jedoch analgetisch wirken. Häufig besitzen sie keine Indikation für die Schmerztherapie, werden also in diesem Rahmen streng genommen oft „off label“ eingesetzt.
48
Kapitel 2 · Pharmakotherapie
2.3.1 Bisphosphonate
2
Derzeit sind 8 verschiedene Substanzen auf dem deutschen Markt. 5 Wirkmechanismus: – Hemmung der Osteoklastenaktivität, dadurch Hemmung der ossären Kalziumfreisetzung und des Knochenabbaus – Hemmung der Knochenresorption sowie Reduktion der Osteoklastenanzahl 5 Indikationen: – Bewegungsabhängige Schmerzen bei Osteoporose – Osteolytische Knochenmetastasen – Tumorbedingte Hyperkalzämie – Schmerzen bei M. Paget und Plasmozytom – CRPS (v. a. als Frakturfolge) 5 Nebenwirkungen: – Gefahr des Nierenversagens bei zu schneller i. v.-Gabe (langsame Infusion: > 2 h) – Kieferosteonekrose, daher vor Einnahme unbedingt zahnärztliche Kontrolle! – Hypokalzämie – Muskelschmerzen 5 Kontraindikationen: – Kinder – Niereninsuffizienz! – Akute Entzündungen des Gastrointestinaltrakts 2.3.1.1 Clodronsäure
5 Ostac 5 Dosierung: 1040 mg/d 5 Nebenwirkungen: Diarrhö 5 Zulassung bei tumorinduzierter Osteolyse und Hyperkalzämie durch Metastase oder Plasmozytom 2.3.1.2 Pamidronsäure
5 Pamifos 5 Dosierung: 90 mg in NaCl 0,9 % über 4–6 h alle 4 Wochen
5 Nebenwirkungen: Temperaturerhöhung um 1–2°C 5 Zulassung bei: osteolytische Knochenmetastasen, tumorinduzierte Hyperkalzämie, Plasmozytom 2.3.1.3 Ibandronsäure
5 Bondronat, Bonviva 5 Dosierung: 1-mal 50 mg/Tag, 6 mg in 500 ml NaCl 0,9 % oder Glukose 5 % i. v. über 2 h alle 3–4 Wochen 5 Zulassung zur Osteoporosetherapie und bei Knochenmetastasen 2.3.1.4 Alendronsäure
5 Fosamax 5 Dosierung: 10 mg (= 1 Tbl./Tag) oder 1-mal 70 mg/Woche 5 Zulassung zur Osteoporosetherapie 2.3.1.5 Zoledronsäure
5 Zometa: 4 mg in 100 ml NaCl 0,9 % über 15 min i. v. alle 3–4 Wochen 5 Aclasta: 5 mg in 100 ml NaCl 0,9 % über 15 min i. v. einmal jährlich 5 Zulassung zur Osteoporosetherapie und bei Knochenmetastasen, tumorinduzierter Hyperkalzämie 2.3.1.6 Risedronsäure
5 Actonel 5 Dosierung: 1-mal 5 mg/Tag oder 1-mal 35 mg/Woche; mindestens 30 min vor der erstmaligen Aufnahme von Nahrung morgens 5 Zulassung zur Osteoporosetherapie 2.3.2 Antikörpertherapie
5 Denosumab (Prolia und Xgeva) 5 Humaner monoklonaler Antikörper, der im Knochenstoffwechsel die Effekte von Osteoprotegerin (OPG) imitiert. Denosumab ist ein IgG2-AntiRANKL-Antikörper, der mit sehr hoher Affinität an RANKL (Receptor
2.3 · Koanalgetika
ctivator of Nuclear Factor Kappa B A Ligand), bindet und so dessen Interaktion mit RANK hemmt und dadurch die Reifung von Osteoklasten hemmt. 5 Indikationen: Zur Prävention von skelettbezogenen Komplikationen: (pathologische Fraktur, Bestrahlung des Knochens, Rückenmarkkompression oder operative Eingriffe am Knochen) bei Erwachsenen mit Knochenmetastasen aufgrund solider Tumoren. 5 Dosierung: 120 mg s. c. alle 4 Wochen 5 Schwierigkeiten: – Kieferosteonekrose (bis 6 % bei Pat., die wegen eines Multiplen Myeloms mit Denosumab behandelt wurden), Auftreten auch nach Monaten nach Exposition, daher, wie bei Bisphosphonaten auch, zahnärztliche Kontrolle vor Anwendung notwendig! – Cave: Rote-Hand-Brief wegen schweren Hypokalzämien mit tödlichem Ausgang bei Behandlung mit Xgeva, daher – Ausgleich bestehender Hypokalzämie vor Therapiebeginn – Gabe von Denosumab mit Kalzium und Vitamin D – Cave: Rote-Hand-Brief wegen atypischer Femurfrakturen bei Behandlung mit Prolia bereits bei einer Behandlungsdauer ab 2,5 Jahren möglich – Cave: Rote-Hand-Brief wegen erhöhter Inzidenz neuer primärer Malignome nach einem Therapie unter Denosumab (1,1 %) versus Zolendronsäure (0,6 %). 2.3.3 Calcitonin
5 Wirkmechanismus: – Steigerung des ossären Kalzium- und Phosphateinbaus in den Knochen, Steigerung der renalen Kalzium- und Phosphatausscheidung
49
2
– Zusätzlich wird diskutiert: direkte zentrale analgetische Wirkung durch Anhebung der Schmerzschwelle, wahrscheinlich durch Aktivierung der serotoninergen absteigenden Schmerzhemmung 5 Indikationen: – Phantomschmerz – CRPS – Schmerzhafte Querschnittsläsionen – Osteoporose – Knochenschmerzen infolge osteolytischer Knochenmetastasen – Hyperkalziämie – M. Paget 5 Dosierung: – 100–200 IE/Tag in 500 ml NaCl 0,9 % über > 2 h für 3–5 Tage – Gegebenenfalls mit Antiemetikum kombiniert 5 Nebenwirkungen: Übelkeit, Erbrechen (ggf. Ondansetron vor der Gabe), Flush mit Hautrötung, Hitzewallungen, Durchfall, Kopfschmerzen, orthostatische Dysregulation 5 Cave: Aufgrund erhöhter Inzidenz der Malignität sollte Calcitonin für die Behandlung der postmenopausalen Osteoporose nicht mehr dauerhaft angewandt werden, Beschränkung der Anwendung auf 4–12 Wochen (z. B. bei CRPS, M. Paget, vorübergehende Immobilisierung, Hyperkalzämie). 2.3.4 Ketamin/Esketamin
5 Sustanzen – Ketamin (Ketanest®) ist das Razemat aus (R)-Ketamin und (S)-Ketamin. Das Esketamin hat eine höhere Affinität und ist daher ca. zwei- bis dreifach wirksamer als das R-Enantiomer. In Deutschland ist vorwiegend das (S)-Ketamin (Ketanest S®) gebräuchlich, international eher das Razemat.
50
2
Kapitel 2 · Pharmakotherapie
5 Wirkungen und Wirkmechanismen: – antihyperalgetisch durch Blockade des NMDA-Rezeptors spinal (wirkt dadurch der opiatinduzierten Hyperalgesie entgegen) – analgetisch durch Aktivierung von GABAA-Rezeptoren – analgetisch durch agonistische Wirkung an Opioidrezeptoren – analgetisch durch Wiederaufnahmehemmung spinal von Noradenalin und Dopamin – rasch antidepressive Wirkung (genauer Mechanismus dieser Wirkung noch unklar, wahrscheinlich Blockade von NMDA-Rezeptoren in der lateralen Habenula) – Verstärkung endogener Katecholamineffekte zentral mit gesteigerter Herzfrequenz und erhöhtem Blutdruck 5 Pharmakokinetik – Bioverfügbarkeit: oral 17 %, sublingual 33 %, intranasal 25–50 %, i. m. 93 %. 5 Indikationen: – Supplement bei (hochdosierter) Opiattherapie, z. B. zur Tumorschmerztherapie oder bei neuropathischen Schmerzen – Prophylaxe und Therapie der Opiatinduzierten Hyperalgesie bei hochdosierter Opiattherapie 5 Dosierung: – 0.1 mg/kgKG/h (S)-Ketamin über Perfusor für 24 h. 5 Nebenwirkungen: – in dieser niedrigen Dosierung kaum psychotomimetische Nebenwirkungen – in höheren (akzidentellen) Dosierungen: Pseudohalluzinationen, unangenehme Träume, Übelkeit, Hypersalivation, Sehstörungen (durch Nystagmus), motorische Unruhe. 2.3.5 Kortikosteroide
5 Substanzen: – Prednisolon (Decortin H)
– Dexamethason (Fortecortin): Mittel der Wahl wegen fehlender mineralokortikoider Wirkung 5 Wirkung: – Antiphlogistisch – Antiödematös – Appetitanregend (in niedriger Dosierung) – Stimmungsaufhellend 5 Wirkmechanismus: Glukokortikoide führen neben einer Prostaglandinsynthesehemmung via Lipokortin zu einer Synthesehemmung proinflammatorischer, die COX-2-induzierender Zytokine, sowie zu einer Unterdrückung der COX-2-Bildung im Entzündungsgewebe 5 Indikationen: – Leberkapselschmerzen, z. B. bei Metastasen – Erhöhter intrakranieller Druck, bzw. Kopfschmerzen bei Hirnmetastasen – Lymphödem oder generelle Entzündungsreaktionen – Knochen- und Gelenkschmerzen – Neuropathische Schmerzen bei tumorbedingter Nerven- und Rückenmarkkompression – Lateraler Bandscheibenprolaps mit neuropathischem Schmerz – CRPS 5 Dosierung: – Initial Stoßtherapie für 5–7 Tage – z. B. Prednisolon (Decortin H): – 40–80 mg/Tag – Anschließend Reduktion unter die Cushing-Schwelle von 7,5–10 mg/ Tag – z. B. Dexamethason (Fortecortin): – Initiale Einzeldosis von 8–24 mg/ Tag, dann Reduktion m unter die Cushing-Schwelle von 1–2 mg/Tag innerhalb einer Woche 5 Nebenwirkungen: – Gastrointestinale Nebenwirkungen bei gleichzeitiger Einnahme von NSAR extrem erhöht! – Blutzucker- und Blutdruckanstieg – Erhöhtes Thromboserisiko
2.3 · Koanalgetika
5 Anmerkung: für längere Anwendung möglichst unter der Cushing-Schwelle dosieren oder auf 10 Tage beschränken 2.3.6 Spasmolytika
5 Butylscopolamin (Buscopan) 5 Butylscopolamin + Paracetamol (Buscopan plus) 5 Wirkmechanismus: Parasympatholytikum mit spasmolytischer Komponente sowie Sekretproduktionshemmung und Eindickung 5 Indikation: – Schmerzen von Hohlorganen – Magen-Darm-Spasmen – Gesteigerte Sekretproduktion – In der Palliativmedizin bei präfinalem Rasseln, sog. „Todesrasseln“ 5 Dosierung: – 10 mg i. v., i. m., s. c., rektal, p. o. – 20–40 mg alle 4–6 h (maximal 100 mg/Tag) bei präfinalem Rasseln 5 Kontraindikationen: – Tachyarrhythmie – Engwinkelglaukom – Blasenentleerungsstörungen 5 Nebenwirkungen: Abnahme der Schweißsekretion (Wärmestau), Hautrötung, zentralnervöse Störungen (z. B. Unruhe, Halluzinationen; vorwiegend bei Überdosierung), Akkommodationsstörungen, Glaukomauslösung (Engwinkelglaukom), Mundtrockenheit, Tachykardie, Miktionsbeschwerden 2.3.7 α2-Agonisten 2.3.7.1 Clonidin
5 Catapresan 5 Indikationen: – Adjuvanter Einsatz bei regionaler (rückenmarksnaher) Analgesie – Als Monotherapeutikum bei neuropathischem und sympathisch vermitteltem Schmerz (SMP)
51
2
– In Kombination mit Opioidanalgetikum – bei Opiatinduzierter Hyperalgesie 5 Dosierung: – 1- bis 2-mal 0,15 mg i. v. oder p. o. – i. v. kontinuierlich 0,2 bis 0,5 µg/kg KG/h – Epidural (nur bei Normovolämie!): Bolusinjektion > 5 µg/kg KG plus ggf. kontinuierlich 20–40 µg/h; Bolusinjektion in Kombination mit Opioid 16 mg/Tag oder 1 h nach Palladon 1,3 mg weiterhin NRS > 4
Palladonretard-Dosis um 4 mg pro Gabe erhöhen **
. Abb. 6.3 Beispiel für eine medikamentöse, postoperative Schmerztherapie mit Basisanalgesie und Rescue-Dosis für Patienten mit Niereninsuffizienz. (Adaptiert nach Pogatzki-Zahn et al. 2013)
. Tab. 6.5 Wirkcharakteristika der Nichtopioidanalgetika Ibuprofen
Diclofenac
ASS
Coxibe
Metamizol
Paracetamol
Analgetisch
+++
+++
++
++
+++
++
Antiphlogistisch
++
+++
++
++
(+)
(+/–)
Antipyretisch
++
+
++
–
+++
+++
Spasmolytisch
–
–
–
–
+++
–
5 Kontraindikationen und Anwendungsbeschränkungen: Gemäß der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA, European Medicines Agency) und den Herstellerinformationen: – Klinisch gesicherte koronare Herzkrankheit – Klinisch gesicherte zerebrovaskuläre Erkrankung – Herzinsuffizienz (NYHA-Stadium II–IV)
– Postoperative Schmerztherapie nach koronarer Bypass-Operation (Parecoxib) – Unkontrollierter Hypertonus (nur Etoricoxib) – Erhebliche kardiovaskuläre Risikofaktoren (z. B. Hypertonus, Hyperlipidämie, Diabetes mellitus, Rauchen) – Periphere arterielle Verschlusskrankheit
117
6.2 · Medikamentöse postoperative Schmerztherapie
6
5 Nebenwirkungen: In . Tab. 6.6 sind die Nebenwirkungen einiger Nichtopioidanalgetika aufgeführt.
5 Frischer Myokardinfarkt 5 Dekompensierte Herzinsuffizienz (NYHA III–IV), Aszites
6.2.3.1 Saure, antiphlogistisch-
Relative Kontraindikationen: 5 Hypovolämie 5 nicht eingestellter Hypertonus 5 Allergische Diathese, Asthma bronchiale 5 Rezidivierende Magen-DarmBeschwerden, anamnestisch MagenDarm-Ulzera
antipyretische Analgetika (nichtsteroidale Antirheumatika) (NSAR)
5 Salicylate (Acetylsalicylsäure): werden in der perioperativen Phase wegen Erhöhung der Blutungsneigung selten eingesetzt. 5 Arylessigsäuren (Diclofenac, Indometacin, Acetmetacin): Diclofenac findet breite Anwendung 5 Arylproprionsäuren (Ibuprofen, Naproxen, Ketoprofen): Ibuprofen findet breite Anwendung 5 Dosierungsbeispiele: – Diclofenac: 3-mal 50 mg p.o. bzw. 2-mal 75 mg p.o. – Ibuprofen: 3-mal 400–600(–800) mg p.o. – Ibuprofen: 3 × 400 mg oder 2 × 600 mg i.v., 100 ml Infusionslösung, Einzelgabe über 30 min, nicht länger als drei Tage ! Tageshöchstdosierung von Ibuprofen bei intravenöser Anwendung 1200 mg, bei oraler Anwendung 2400 mg!
Absolute Kontraindikationen der meisten NSAR: 5 Floride Erkrankungen des M agenDarm-Trakts, z. B. Gastritis, M agenDarm-Ulzera; nicht gültig für Metamizol und Paracetamol 5 Gerinnungsstörungen 5 Akute und chronische Niereninsuffizienz mit Kreatinin-Clearance 15 Jahre i.v.: nein
(0,5)–1
Oral: ab 3. Monat Rektal: >4 Jahre i.v. :>1 Jahr
10–15; über 15 min KI oder 2,5–3 mg/kg KG/h als Perfusor; 0,5 Trpf./kg KG p.o. (= 12,5 mg)
i.v., s.c.
i.v., rektal, oral
Ibuprofen (Nurofen 2 oder 4 %; Dolormin 2 % ab 6. Monat oder 4 % ab 3. Lebensjahr
Oral: >3 Monate Rektal: >6 kg KG i.v.: nein
10
i.v., s.c., Supp., Trpf.
Anschlagszeit: intravenös 30 min, rektal 60 min und oral 30–60 min Wirkdauer: 4–6 h Kontraindikationen: allergisches Asthma, Porphyrie, Glukose-6-Phosphat-Dehydrogenasemangel, Atopie
Metamizol (Novalgin)
Kontraindikationen: allergisches Asthma, Gastritis, Gerinnungsstörungen Anmerkungen: potentestes NSAR
Diclofenac (Voltaren)
6
6
8
Kontraindikationen: Leber- und Niereninsuffizienz Anmerkungen: Paracetamol oral in einer Dosis von 40 mg/kg KG ist nach Studienlage effektiv bei Appendektomie und Tonsillektomie
Paracetamola (Perfalgan, Ben-u-ron)
Altersabhängige Zulassung
. Tab. 6.19 Nichtopioidanalgetika bei Kindern
20 (6–12 Jahre); 40 (>12 Jahre)
(60)–80
(2,5)–3 max. 150 mg rektal
FG Ropivacain > Mepivacain > Prilocain > Lidocain
6
5 Ursachen einer Lokalanästhetikaintoxikation können sein: – Akzidentelle intravasale Injektion des LA – Überdosierung – Zu schnelle Resorption des LA vom Injektionsort – Hypoxie und/oder Azidose – Hypothermie 5 Klinische Symptome: – Periorales Kribbeln, Geschmacksstörungen (metallischer Geschmack) – Kopfschmerz – Benommenheit – Schwindel, Ohrensausen – Muskelzuckungen – Tremor, Tinnitus, Doppelbilder, Nystagmus, Verwirrtheit, Bewusstlosigkeit, tonisch-klonische Krampfanfälle, Koma – Hypotension, Bradykardie, EKGVeränderungen und Rhythmusstörungen – Apnoe 5 Maßnahmen: – Stoppen der LA-Zufuhr – Atemwegssicherung → Vermeidung einer Hypoxie und Azidose → Verschlechterung der klinischen Symptome – Bei Bradykardie Atropin, evtl. Anlage eines passageren Schrittmachers – Katecholamingabe bei hämodynamischer Instabilität – Leitliniengerechte Reanimation – Zur Therapie des zerebralen Krampfanfalles: Benzodiazepine, Thiopental – Bei Kreislaufstillstand: Infusion einer 20 %igen Lipidinfusion (L i p i d r e s c u e - Ko n z e p t ) → B o lus von 1,5 ml/kg KG Intralipid
20 % über eine Minute, anschließend kontinuierliche Infusion von Intralipid 20 % 0,25 ml/kg/min (bis hämodynamische Stabilität) → evtl. Dosiserhöhung auf 0,5 ml/ kg KG/min bei arterieller Hypotonie, evtl. Bolus nach 3–5 min wiederholen! Maximale Dosierungsempfehlung: 8 ml/kg KG 6.7.3 Sekundäre spinale
oder intravenöse Katheterfehllage bei PCEA
5 Klinische Symptome: – Arterielle Hypotonie – Motorische Blockade – Bewusstseinsstörung – Bei intravasaler Lage: stark ausgeprägte Müdigkeit, CO2-Retention, Bradypnoe und enge stecknadelkopfgroße Pupillen 5 Maßnahmen: – Infusion sofort beenden, ggf. Antagonisierung mit Naloxon (Narcanti) – Verlegung auf die Intensivstation zur Überwachung – Katheteraspiration – Blockadeaustestung (bei intravasaler Lage keine sensorische Blockade) 6.7.4 Spinales, epidurales
Hämatom oder Abszess
5 Klinische Symptome: – Isolierte Muskelschwäche (z. B. Fußheberschwäche) – Nacken- und Rückenschmerzen – Neurologische Defizite (sensorisch; Gesäß- und Oberschenkel) – Motorische Blockade (nach thorakaler Epiduralanalgesie) – Konus- oder Cauda-equina-Syndrom (nach lumbaler Epiduralanalgesie) – Blasen- und Mastdarmstörungen (z. B. unkontrollierter Stuhlabgang)
141 Literatur
5 Diagnostik: – Klinische Befunde: DifferenzialBlutbild, Leukozytose, CRP, Fieber, Rötung sowie Druck- und/oder Klopfschmerz über der Kathetereinstichstelle (gilt für Abszess) – Diagnostisches Verfahren der 1. Wahl bei Verdacht auf ein epidurales Hämatom/Abszess ist die Kernspintomographie (MRT) 5 Therapie: – Stoppen der Lokalanästhetikazufuhr nach Epiduralanästhesie bei motorischer/sensorischer Blockade – Bei symptomatischer Raumforderung neurochirurgische Intervention (Laminektomie, Teilhemilaminektomie) innerhalb von 8 h nach beginnender Symptomatik → Prognose des Patienten ist höchstgradig zeitabhängig! 5 Anmerkung: Das Belassen eines Periduralkatheters über den 4 Tagen hinaus, geht mit einem deutlich erhöhtem Risiko für einen epiduralen Abszess e inher! 6.8 Nicht-medikamentöse
Therapiemöglichkeiten bei postoperativen Schmerz
6.8.1 Gegenirritationsverfahren
(TENS, Akupunktur)
5 Anwendung von TENS mit alternierenden Frequenzen: Reduktion des Opioidbedarfs um bis zu 50 %; gute Wirkung bei Anwendung von alternierenden Frequenzen 2–100 Hz (Hamza 1999) 5 Akupunktur: paravertebrale Akupunktur vor Operationsbeginn vermindert den postoperativen Opioidbedarf um 40 % (Kotani 2001). Die Elektroakupunktur reduziert Schmerz-SEP signifikant im doppelblinden, placebokontrollierten Versuchsaufbau (Meissner 2004).
6
Akupunktur senkt den Opioidverbrauch und reduziert opioidbedingte unerwünschte Wirkungen (Sun 2008) 6.8.2 Weitere nicht medikamentö
sepostoperative Therapiemaßnahmen
5 Schmerzpsychologische Mitbetreuung (Einweisung des Patienten in kognitiv- verhaltenstherapeutische Verfahren, wie z. B. Ablenkungsstrategien, kognitive Umbewertung und positive Visualisierung sowie Anwendung anderer psychologische Verfahren wie z. B. Imagination, Hypnose, Relaxationsübungen, die alle einen schmerzreduzierenden Effekt haben) 5 Initiierung eines S chlaf-Wach-Rhythmus mithilfe gewohnter Rituale 5 Maßnahmen zur veränderten Aufmerksamkeit (Gespräche, Fernsehen, einen Rhythmusklopfen etc.) 5 Lokale Kälteapplikation (etabliert) 5 Massage
Literatur Bräscher A-K et al (2014) Kostenminimierungsanalyse in der postoperativen Schmerztherapie: Anaesthesis 63:783–792 Bremerich DH, Neidhart G, Roth B, Kessler P, Behne M (2001) Postoperative Schmerztherapie im Kindesalter. Anaesthesist 50:102–112 Brodner G, Mertes N, Buerkle H et al (2000) Acute pain management: analysis, implications and consequences after prospective experience with 6349 surgical patients. Eur J Anaesth 17:566–575 Büttner W et al (1998) Entwicklung eines Fremdbeobachtungsbogen zur Beurteilung des postoperativen Schmerzes bei Säuglingen. Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 33:353–361 Hamza MA et al (1999) Effect of the Duration of Electrical Stimulation on the Analgesic Response in Patients with Low Back Pain. Anesthesiology 91: 1622 Jage J et al (2005) Postoperative Schmerztherapie – eine interdisziplinäre Notwendigkeit. Dt Ärztebl 102:A361–A366
142
6
Kapitel 6 · Akute perioperative Schmerztherapie
Jage J, Hartje H (1997) Postoperative Schmerztherapie. Anaesthesist 46:65–77 Jage J, Heid F, Roth W, Kunde M (2002) Postoperative Schmerztherapie vor dem Hintergrund der DRGs. Anästh Intensivmed 43:262–278 Kotani N et al (2001) Preoperative intradermal acupuncture reduces postoperative pain, nausea and vomiting, analgesic requirement, and sympathoadrenal responses. Anesthesiology 95:349–356 Maier C et al. (2010) Qualität der Schmerztherapie in deutschen Krankenhäuser. Dt Ärztebl 107:607–614 Meissner W et al (2017) Qualität postoperativer Schmerztherapie in deutschen Krankenhäusern: Dt. Ärzteblatt 114:161–167 Meissner W, Ullrich K, Zwacka S, Schreiber T, Reinhart K (2001) Qualitätsmanagement am Beispiel der postoperativen Schmerztherapie. Anaesthesist 50(9):661–670 Meissner W, Weiss T, Trippe RH, Hecht H, Krapp C, Miltner WH (2004) Acupuncture decreases somatosensory evoked potential amplitudes to noxious stimuli in anesthetized volunteers. Anesth Analg 98(1):141–147 Morton NS (1999) Prevention and control of pain in children. Br J Anaesth 83:118–129 Niesel HC (Hrsg) (1994) Regionalanästhesie – Lokalanästhesie – Regionale Schmerztherapie. Thieme, Stuttgart Philippi-Höhne C (2010) Perioperative Schmerztherapie bei Kindern. Refresher Course. Aktuelles
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143
Spezieller Teil: Krankheitsbilder Inhaltsverzeichnis Kapitel 7 Neuropathischer Schmerz – 145 Kapitel 8 Tumorschmerztherapie – 169 Kapitel 9 Kopf- und Gesichtsschmerz – 191 Kapitel 10 Muskuloskelettale Schmerzen – 227
II
145
Neuropathischer Schmerz Inhaltsverzeichnis 7.1 Allgemeines – 147 7.1.1 Definition – 147 7.1.2 Ätiologie – 147 7.1.3 Diagnostik – 148 7.1.4 Therapie – 149
7.2 Mononeuropathien – 153 7.2.1 Deafferenzierungsschmerz – 153 7.2.2 Engpasssyndrome – 153 7.2.3 Karpaltunnelsyndrom – 153 7.2.4 Sulcus-ulnaris-Syndrom – 153 7.2.5 Tarsaltunnelsyndrom – 154 7.2.6 Schädigung des N. iliohypogastricus oder N. ilioinguinalis – 154 7.2.7 Schädigung des N. cutaneus femoris lateralis – 154 7.2.8 Trigeminusneuralgie – 154 7.2.9 Akute Zosterneuralgie – 154 7.2.10 Postzosterneuralgie – 156
7.3 Polyneuropathie – 157 7.3.1 Definition – 157 7.3.2 Leitsymptome – 157 7.3.3 Diagnostik – 157 7.3.4 Differenzialdiagnose – 157 7.3.5 Therapie – 157 7.3.6 Schmerztherapeutisch interessante Polyneuropathien – 159
7.4 Phantomschmerz – 159 7.4.1 Klinisch wichtige Unterscheidungen – 159 7.4.2 Symptome – 160 © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Benrath et al., Repetitorium Schmerztherapie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61783-0_7
7
7.4.3 Mögliche Prophylaxe – 160 7.4.4 Therapie des akuten Phantomschmerzes – 160 7.4.5 Therapie des chronischen Phantomschmerzes – 161
7.5 Komplexes regionales Schmerzsyndrom (CRPS) – 161 7.5.1 Diagnostik – 162 7.5.2 Therapie – 162
7.6 Sympathisch unterhaltener Schmerz (SMP) – 163 7.6.1 Schmerzqualität – 163 7.6.2 Diagnosesicherung – 163 7.6.3 Therapie – 165
7.7 Zentraler neuropathischer Schmerz – 165 7.7.1 Definition – 165 7.7.2 Ätiologie – 166 7.7.3 Leitsymptome – 166 7.7.4 Diagnostik – 166 7.7.5 Differenzialdiagnosen – 166 7.7.6 Therapie – 167
Literatur – 167
7.1 · Allgemeines
7.1 Allgemeines 7.1.1 Definition
Die aktuelle Definition lautet: Schmerz, der als Konsequenz einer Läsion oder Erkrankung des somatosensorischen Systems auf peripherer oder zentraler Ebene entsteht (Treede et al. 2008). Unterscheidung in: 5 Peripherer neuropathischer Schmerz: Schmerz als Konsequenz einer Läsion oder Erkrankung im peripheren Nervensystem, z. B. Postzosterneuralgie. Periphere neuropathische Schmerzen können durch das sympathische Nervensystem moduliert werden, man spricht von sympathisch unterhaltenem Schmerz (SMP = „sympathetically maintained pain“). Hier kommt es zu einer Kopplung zwischen efferenten postganglionären sympathischen Neuronen und afferenten nozizeptiven Neuronen. 5 Zentraler neuropathischer Schmerz: Schmerz als Konsequenz einer Läsion oder Erkrankung im zentralen Nervensystem; z. B. Allodynie nach Thalamusblutung Klinisch ist der neuropathische Schmerz charakterisiert durch brennende, ziehende, elektrisierende, blitzartig einschießende Schmerzen, die spontan auftreten. Zusätzlich lassen sich bei der körperlichen Untersuchung häufig Allodynie, Parästhesie/Dysästhesie oder Hyperalgesie auslösen. Eine Gliederung des neuropathischen Schmerzes zeigt . Abb. 7.1. 7.1.2 Ätiologie 7.1.2.1 Periphere, fokale oder
multifokale Neuropathien
5 Akute Zosterneuralgie, Postzosterneuralgie 5 Engpasssyndrome
147
7
5 Phantomschmerz, Stumpfschmerz, Schmerz nach kompletter oder inkompletter Nervendurchtrennung 5 Posttraumatische Neuropathie (z. B. Kompression durch fehlerhafte (intraoperative) Lagerung 5 Postmastektomieschmerz, Postthorakotomiesyndrom, Postherniotomieschmerz 5 Ischämische Neuropathie (häufig in Kombination mit Ischämieschmerz der pAVK) 5 Trigeminusneuralgie, Glossopharyngeus neuralgie 5 Plexusschmerz nach Bestrahlung 7.1.2.2 Periphere, generalisierte
schmerzhafte Neuropathien (Polyneuropathien)
5 Metabolisch: Diabetes mellitus, Alkohol 5 Medikamentös: z. B. Cisplatin, Disulfiram, Tuberkulostatika (Isoniazid, Ethambutol) 5 Malignome: paraneoplastisch, insbesondere bei Bronchialkarzinom 5 Entzündlich: Guillain-Barré-Syndrom (akute Polyradikuloneuropathie), HIVNeuropathie 7.1.2.3 Zentrale schmerzhafte
Neuropathien
5 Vaskulär: Ischämie oder Blutung im Thalamus 5 Entzündlich: multiple Sklerose 5 Traumatisch: spinale Schädigung nach Wirbelsäulenverletzungen, Einbruch von Metastasen in den Spinalraum mit Kompression des Rückenmarks 5 Tumoren 5 Syringomyelie 7.1.2.4 Komplexes regionales
Schmerzsyndrom (CRPS)
5 CRPS I: Schmerzsyndrom ohne Nachweis einer Nervenläsion 5 CRPS II: Schmerzsyndrom mit obligatem Nachweis einer Nervenläsion
148
Kapitel 7 · Neuropathischer Schmerz
Neuropathischer Schmerz
peripher
zentral
Polyneuropathie
Thalamusschmerz
Nervenkompression Phantomschmerz
7
Lanzinierende Neuralgien gemischt
Kausalgie
Plexusinfiltration
Postherpetische Neuralgie
Einbeziehung des sympathischen Nervensystemes
. Abb. 7.1 Vielfältigkeit des neuropathischen Schmerzes
7.1.3 Diagnostik
Durch die klinische und apparative Untersuchung sind erfassbar: 5 Sensible und motorische Reizsymptome („Plussymptome“): Parästhesie, Dysästhesie, thermische/mechanische Hyperalgesie, Hyperreflexie 5 Sensible und motorische Ausfallerscheinungen („Minussymptome“): Analgesie, Anästhesie, Hypästhesie, Hyporeflexie 7.1.3.1 Klinische Untersuchung
5 Neurologische Untersuchung mit Beurteilung von: – Plussymptomen: – Mechanische Hyperalgesie (Zahnstocher)
– Taktile Allodynie (Wattestäbchen, Pinsel) – Minussymptomen: – Taktile Hypästhesie (Wattestäbchen, Stimmgabel) – Thermohypästhesie (kalter Griff des Reflexhammers) – Mechanische Hypalgesie (stumpfer Druck mit dem Finger) – Trophik: Haut, Muskulatur, Durchblutung, Sudomotorik – Motorik: Muskeleigenreflexe, Kraftgrad 7.1.3.2 Apparative Untersuchung
5 Nervenleitgeschwindigkeit (NLG) mittels Elektroneurographie (ENG): Differenzierung zwischen axonaler Schädigung
149
7.1 · Allgemeines
(z. B. alkoholtoxisch) und Schädigung der Myelinisierung (z. B. durch Diabetes mellitus) möglich, Engpasssyndrome diagnostizierbar 5 Elektromyographie (EMG): Unterscheidung zwischen Myopathien und Neuropathien möglich 5 Quantitativ-sensorische Testung (QST): Formalisierte apparative Sensibilitätsprüfung aller Nervenfaserqualitäten (Aβ-, Aδ-, C-Fasern) nach erfolgter neurologischer Untersuchung. Die Funktionsfähigkeit der C-Fasernozizeptoren kann in der klinischen Sensibilitätsprüfung nicht erfasst werden. Es werden Sensibilitäts- und Schmerzschwellen für Hitze, Kälte und Druck eingesetzt. Aus den Werten wird mittels Normierung ein Sensibilitätsprofil erstellt, für das es zum Vergleichen große Datenbanken des Dt. Forschungsverbunds Neuropathischer Schmerz (DFNS) gibt. Apparativ aufwendig und nur an speziellen Zentren verfügbar 5 Somatosensibel evozierte Potenziale (SEP): Messung zentraler nozizeptiver Bahnen möglich, z. B. Reizung des N. medianus, Ableitung des evozierten Potenzials auf Höhe des Plexus brachialis, des Hinterhorns, des Hinterstrangkerns und des primären sensorischen Kortex 5 Hautbiopsie zur Diagnostik von SmallFiber-Neuropathien Ein Graduierungssystem unterscheidet zwischen sicherem, möglichem, wahrscheinlichem und unwahrscheinlichem neuropathischem Schmerz (. Abb. 7.2; Treede et al. 2008): Es existieren einige Fragebögen zum qualitativen und quantitativen Erfassen neuropathischer Plus- und Minussymptome: 5 Mit DN4 (Douleur Neuropathique en 4 Questions)
7
5 LANSS (Leeds Assessment of Neuropathic Symptoms and Signs) 5 NPQ (Neuropathic Pain Questionnaire) 5 NPSI (Neuropathic Pain Symptom Inventory) 5 painDETECT (Sensitivität und Spezifität 80 %) 5 PSQ (Pain Sensitivity Questionnaire) Mithilfe dieser nur vom Patienten auszufüllenden Fragen kann das Ausmaß der neuropathischen Komponente an einem chronischen Schmerzsyndrom abgeschätzt w erden. 7.1.4 Therapie
5 Realistische Therapieziele: – Schmerzreduktion um 30–50 % (nicht etwa Schmerzfreiheit!) – Verbesserung der Schlafqualität und der Lebensqualität – Erhalt der sozialen Aktivität, des sozialen Beziehungsgefüges und der Arbeitsfähigkeit – Verbesserung der Funktionalität 5 Kausale Therapie: Wiederherstellung der Nervenfunktion durch Vermeidung weiterer neuronaler Schädigung (optimale Blutzuckereinstellung, Alkoholabstinenz, Entlastung eingeklemmter Nerven). Die kausale Therapie bewirkt jedoch lediglich eine Verhinderung der weiteren Nervenschädigung. Bereits bestehende Schäden bilden sich, wenn überhaupt, nur sehr langsam zurück. Daher ist zusätzlich stets eine symptomatische Therapie erforderlich 5 Symptomatische Therapie: Reduktion der Schmerzen medikamentös durch eine Kombination von Antikonvulsiva, trizyklischen Antidepressiva und Opioiden. Wenn möglich, zusätzlich nichtmedikamentöse Verfahren (Nervenblockaden; 7 Kap. 4)
150
Kapitel 7 · Neuropathischer Schmerz
Schmerz
Anamnese
Schmerz mit einem neuroanatomisch plausiblen Verteilungsmuster und anamnestische Hinweise auf eine relevante Läsion oder Erkrankung des peripheren oder zentralen somatosensorischen Nervensystems
nein
Diagnose unwahrscheinlich
weder/noch
Diagnose reevaluieren
ja Arbeitshypothese: möglicher neuropathischer Schmerz
7 Untersuchung + Diagnostik
A: negative oder positive sensible Zeichen im Innervationsgebiet der geschädigten Nervenstruktur B: Diagnostischer Test, der die schmerzrelevante Läsion oder Erkrankung nachweist A+B sicherer neuropathischer Schmerz
A oder B wahrscheinlicher neuropathischer Schmerz
. Abb. 7.2 Flussdiagramm zur Diagnostik neuropathischer Schmerzen
Prinzipien Therapie
der
symptomatischen
5 Langsames Aufdosieren, besonders wichtig bei älteren Patienten, bis erwünschte Schmerzreduktion oder unerwünschte Nebenwirkungen eintreten 5 Kombination der Medikamentenklassen untereinander und miteinander bringt besseren Therapieerfolg bei geringeren Nebenwirkungen als bei Monotherapie 5 Individuelles und langwieriges medikamentöses Einstellen erfordert von Arzt und Patient gleichermaßen Geduld
5 Frühzeitig auch adjuvante (TENS, Akupunktur) und invasive (Regionalanästhesie, Sympathikusblockaden) Therapiemaßnahmen bedenken 5 Erhaltungsdosis nach Wirkung und Nebenwirkung. Reduktion und evtl. Auslassversuch sind nach 3–6 Monaten erfolgreicher Therapie sinnvoll
7.1.4.1 Wirksamkeit der
medikamentösen Therapien
Ausführliche Beurteilung der Medikamente mit Angabe der Nebenwirkungen und Kontraindikationen 7 Kap. 2.
7.1 · Allgemeines
7.1.4.2 Antikonvulsiva
5 Carbamazepin: Beginn mit 100 mg abends, langsame Steigerung um 100 mg jeden zweiten Tag bis maximal 1200 mg/ Tag und/oder 5 Gabapentin: Beginn mit 300 mg abends, tägliche Steigerung um 300 mg bis mindestens 900 mg/Tag; Steigerung auf 1800 mg/Tag sinnvoll, in Einzelfällen bis 3600 mg/Tag oder 5 Pregabalin: Beginn mit 25 mg abends, tägliche Steigerung um 25 mg bis 150 mg/Tag, maximal 600 mg/Tag. Dosissteigerung rascher möglich als bei Carbamazepin und Gabapentin 7.1.4.3 Antidepressiva
Trizyklische Antidepressiva (TZA) Diese nicht selektive Monoaminwiederaufnahmehemmer bewirken eine Hemmung der Aufnahme von Serotonin, Noradrenalin und Dopamin, dadurch Stimmungsaufhellung und Antriebssteigerung. Durch fehlende Selektivität allerdings viele und z. T. erhebliche Nebenwirkungen (Müdigkeit, Gewichtszunahme, Schwindel, orthostatische Dysregulation, Mundtrockenheit, Harnverhalt). Analgetischer Effekt durch Aktivierung der körpereigenen Schmerzhemmung (7 Kap. 1). 5 Amitriptylin, z. B. Amineurin, Saroten: 10–75 mg/Tag 5 Clomipramin, z. B. Anafranil: 25–150 mg/ Tag 5 Trimipramin, z. B. Stangyl: 25–50 mg/Tag TZA werden trotz der Nebenwirkungen seit Jahrzehnten erfolgreich als Koanalgetika bei neuropathischem Schmerz eingesetzt. Eine Weiterentwicklung stellen die selektiven Wiederaufnahmehemmer dar.
Selektive Serotoninwiederaufnah mehemmer (SSRI) SSRI („selective serotonine re-uptake inhibitors“) bewirken Aktivierung, Stimmungsaufhellung und Angstlösung. Durch die Selektivität der Rezeptorblockade sind die
151
7
Nebenwirkungen geringer. Wenig Müdigkeit und Gewichtszunahme, v. a. kaum anticholinerge Nebenwirkungen. ! Keine Zulassung zur Schmerztherapie!
5 Citalopram, z. B. Cipramil: 10–40 mg/Tag 5 Escitalopram, z. B. Cipralex: 10–20 mg/ Tag 5 Paroxetin, z. B. Paroxat, Seroxat, Tagonis: 50–100 mg/Tag Paroxetin und Citalopram (40 mg abends) haben eine mit TZA vergleichbare Wirkung, sonst gibt es allerdings kaum Studien zur Wirkung der SSRI beim neuropathischen Schmerz.
Serotonin-NoradrenalinWiederaufnahmehemmer (SNRI) SNRI („serotonine noradrenaline re-uptake inhibitors“) hemmen sowohl die Wiederaufnahme von Serotonin als auch von Noradrenalin und wirken dadurch gleichzeitig stimmungsaufhellend und antriebssteigernd. Die Wiederaufnahmehemmung von Noradrenalin setzt allerdings erst mit höherer Dosierung ein. SNRI gelten als nebenwirkungsärmer im Vergleich zu den TZA, in 15–20 % der Studien führen jedoch Übelkeit, Müdigkeit, Mundtrockenheit, Schwitzen und Obstipation zum Abbruch. 5 Venlafaxin, z. B. Trevilor: 2-mal 37,5– 75 mg/Tag, höhere Dosierung von 2-mal 75 mg/Tag ist effektiver (off-label use) 5 Duloxetin, Cymbalta: Beginn mit 30 mg/ Tag, Steigerung nach einer Woche auf 2-mal 30 mg/Tag; keine deutlich verstärkte Wirkung bei 2-mal 60 mg/Tag ! Nur Duloxetin ist für die diabetische PNP zugelassen!
Noradrenerge und spezifisch serotonerge Antidepressiva (NaSSA) 5 Mirtazapin, z. B. Remergil, Remeron: Beginn mit 15 mg abends, Steigerung bis auf 45 mg/Tag abends. Wirkung:
152
Kapitel 7 · Neuropathischer Schmerz
indirekte Verstärkung der noradrenergen und serotonergen Neurotransmission. Vorteil: keine anticholinerge Wirkung. Nachteil: Gewichtszunahme. 7.1.4.4 Lidocain
7
Lidocain, früher auch parenteral ohne nennenswerten Effekt verabreicht, hat seinen festen Platz in der Therapie der Postzosterneuralgie als Lidocain-Pflaster (Versatis®) und wird mittlerweile als erste medikamentöse Therapie der Postzosterneuralgie empfohlen. Es wird für 12 h auf das betroffene Hautareal aufgeklebt und bewirkt: 5 Lokalanästhesie durch Natriumkanalblockade 5 Schutz der Haut bei Allodynie und Hyperalgesie 5 Kühlung der Haut Zusätzlich ist der Plazeboeffekt des Pflasters nicht zu vernachlässigen, weswegen in plazebokontrollierten Studien der analgetische Effekt umstritten bleibt. Applikation für 12 h, dann 12 h Pause. 7.1.4.5 Capsaicin
Capsaicin wird schon sehr lange bei neuropathischen Schmerzen verwendet. Es führt an spezifischen Vanilloidrezeptoren (TRPV1) auf nichtmyelinisierten nozizeptiven C-Fasern zur kompletten Entspeicherung der Neuropeptide Substanz P und CGRP, wodurch initial eine Schmerzverstärkung und sekundär eine nachgewiesene Schmerzreduktion eintritt. Schmerzlinderung hält 12 Wochen an, dann erneute Applikation möglich. Erhältlich ist mittlerweile ein 8 %iges Capsaicinpflaster (Qutenza), mit Zulassung bei Postzosterneuralgie, diabetischer schmerzhafter Polyneuropathie und HIV-induzierter Neuropathie in Europa und Antrag auf Zulassung in den USA für Postzosterneuralgie. Auftragen ist extrem schmerzhaft, daher einstündige Vorbehandlung der Haut mit EMLA oder L idoderm,
besser noch ist eine Regionalanästhesie durch Nervenblockade. Dann Aufkleben des Pflasters unter Mund- und Augenschutz des Patienten und des Behandlers bei belüftetem Raum. Nach Applikation über 60 min bzw. 30 min am Fuß Abnahme des Pflasters unter Schutzkleidung, Waschen des Hautareals mit Lotion und Wasser. 7.1.4.6 Opioide
Entgegen der jahrzehntelang geltenden Lehrmeinung sind Opioide auch beim neuropathischen Schmerz wirksam. Ein Therapieversuch mit niedrigpotenten (Tramadol) und hochpotenten Opioiden (Oxycodon und Tapentadol) ist auf alle Fälle sinnvoll. Die meisten prospektiven Studien zur Schmerzreduktion bei diabetischer PNP liegen für Tramadol mit einer Tagesdosis von 200–400 mg/Tag vor. Auch hier gilt: niedriges Eindosieren und langsame Steigerung, v. a. bei älteren Patienten. Wahrscheinlichster Wirkmechanismus bei neuropathischen Schmerzen: Serotoninwiederaufnahmehemmung zusätzlich zur Aktivierung von μ-Opiatrezeptoren. ! Keine Kombination von Tramadol mit SSRI! Serotonerges Syndrom mit Veränderungen der psychischen Verfassung, Ruhelosigkeit, rasche unwillkürliche Muskelzuckungen, gesteigerte Reflexbereitschaft, Schwitzen, Schüttelfrost und Tremor mit Todesfolge möglich (7 Abschnitt 2.2.11.8).
Oxycodon ist das hochpotente Opioid, das in prospektiven randomisierten Studien am besten bei peripherem neuropathischem Schmerz (PZN und diabetische PNP) untersucht ist, Dosierungen zwischen 10– 120 mg/Tag. Tapentadol (Palexia®) ist seit Ende 2010 auf dem deutschen Markt. Dieser Wirkstoff vereint einen milden agonistischen Effekt am μ-Opioidrezeptor mit einer Wiederaufnahmehemmung von Noradrenalin. (Zulassungs-)Studien existieren für Rückenschmerz
153
7.2 · Mononeuropathien
als „mixed pain“, wo Tapentadol im Vergleich zum Oxycodon eine bessere Wirkung und eine bessere Verträglichkeit zeigt. Eine Studie bei diabetischer PNP zeigt einen stärker analgetischen Effekt als Plazebo. Unabhängige RCTs zeigen bislang keine überlegene Wirkung im Vergleich zu den anderen Opioiden.
7
7.2.2.1 Therapie
5 Physiotherapie, Lagerungsschienen 5 Medikamentöse Therapie 5 Erst diagnostische, dann therapeutische Blockadeserie mit LA und Kortison 5 Operative Dekompression 7.2.3 Karpaltunnelsyndrom
7.2 Mononeuropathien
7.2.3.1 Ätiologie
Brennende, einschießende Schmerzen im zugehörigen Dermatom. Zusätzlich schlaffe Lähmung der versorgenden Muskulatur möglich.
Chronische Kompression des N. medianus unter dem Lig. carpi transversum (Retinaculum flexorum).
! Prinzipiell sollte bei typischen neu aufgetretenen Neuralgien intensiv nach der Ursache gesucht werden (z. B. Kieferzysten bei Mandibularisneuralgie, Tumorsuche!), da dann eine kausale Therapie und damit Schmerzfreiheit erreicht werden kann.
Nächtliche Parästhesie/Dysästhesie, stechende Schmerzen in der Handfläche, Kraftverlust bei Faustschluss durch Schwäche der Tenarmuskulatur (positives Flaschenzeichen).
Bei lange bestehenden Neuralgien ist die Symptomatik oft chronifiziert und damit eine operative Therapie nicht indiziert.
5 Physiotherapie, Lagerungsschienen 5 Medikamentöse Therapie 5 Therapeutische Blockadeserie mit LA und Kortison 5 Offene oder endoskopische Dekompression
7.2.1 Deafferenzierungsschmerz
Nach kompletter Durchtrennung eines Nervs oder einer Nervenwurzel auftretende sensible und motorische Störungen, begleitet von Hyperalgesie, Allodynie und Dysästhesie. 7.2.2 Engpasssyndrome
Auslösung der Schmerzen durch Druck oder starkes Klopfen mit dem Zeigefinger aus dem Handgelenk heraus auf den Nerv proximal des Engpasses (Hoffmann-Tinel-Zeichen).
7.2.3.2 Klinik
7.2.3.3 Therapie
7.2.4 Sulcus-ulnaris-Syndrom 7.2.4.1 Ätiologie
Chronische Kompression des N. ulnaris im Bereich des Ellbogens durch Kompression (z. B. Lagerungsschaden), Überbeanspruchung („Tennisellbogen“). 7.2.4.2 Klinik
Schmerzen bei Ausübung von Druck auf den Ellbogen, Parästhesie/Dysästhesie auf der äußeren Armseite (Ulnarseite) im Bereich des Unterarms und der Hand.
154
Kapitel 7 · Neuropathischer Schmerz
7.2.4.3 Therapie
7.2.7 Schädigung des N. cutaneus
Siehe oben (Karpaltunnelsyndrom), therapeutische Blockadeserie mit LA und Kortison, operative Dekompression.
7.2.7.1 Ätiologie
7.2.5 Tarsaltunnelsyndrom 7.2.5.1 Ätiologie
Chronische Kompression des N. tibialis unter dem Retinaculum flexorum im Bereich des Malleolus medialis. 7.2.5.2 Klinik
7
Parästhesie/Dyästhesie auf der Fußsohle, später Parese der Fußmuskulatur. 7.2.5.3 Therapie
5 Physiotherapie, Lagerungsschienen 5 Medikamentöse Therapie 5 Therapeutische Blockadeserie mit LA und Kortison 5 Operative Dekompression 7.2.6 Schädigung des
N. iliohypogastricus oder N. ilioinguinalis
7.2.6.1 Ätiologie
Häufig iatrogene Schädigung der Nerven im Rahmen einer (offenen) Herniotomie. Selten Tumore, Abszesse im Retroperitoneum (Affektion des Plexus lumbosacralis). 7.2.6.2 Klinik
Hypästhesie, Parästhesie/Dysästhesie im Bereich der Haut oberhalb und unterhalb des Leistenbands und der Symphyse. 7.2.6.3 Therapie
5 Medikamentöse Therapie 7 Abschn. 7.1 5 Therapeutische Blockadeserie mit LA, idealerweise ultraschallgezielt.
femoris lateralis
Iatrogen bei Beckenkammbiopsie, Knochenspanentnahme, Hüftoperationen. Kompression des Nervs durch Tragen von zu enger Kleidung („Jeansnerv“) oder während der Schwangerschaft führt zur Meralgia paraesthetica. 7.2.7.2 Klinik
Hypästhesie, Parästhesie/Dysästhesie im Bereich des lateralen Oberschenkels von Hüfte bis Knie. 7.2.7.3 Therapie
5 Therapeutische Blockadeserie mit LA, idealerweise ultraschallgezielt 7.2.8 Trigeminusneuralgie
7 Abschn. 9.8. 7.2.9 Akute Zosterneuralgie 7.2.9.1 Ätiologie
Zoster ist eine akute neurodermale Erkrankung durch Reaktivierung latenter Varicella-Zoster-Viren in den Spinal- und Hirnnervenganglien. Auslösung durch unterschiedliche exogene und endogene Reize, z. B. Immunsuppression, Stress, mit konsekutiver akuter Radikulitis/Neuritis und Atrophie der Nervenzellen im Bereich der Spinalganglien. Es kommt zum Befall der peripheren Nerven und der Haut. 7.2.9.2 Inzidenz
30–40 % der Bevölkerung, Altersgipfel zwischen dem 60. und 70. Lebensjahr, keine Geschlechtsunterschiede. Risikofaktoren: Immunsuppression, Alkoholismus, Chemotherapie, Radiatio.
155 Neuropathischer Schmerz
7.2.9.3 Verlauf
5 Restitutio ad integrum 5 Postzosterneuralgie (s. unten) 7.2.9.4 Klinik
5 In ca. 80 % Prodromalstadium: Allgemeines Krankheitsgefühl, Fieber, Schmerzen; dann 5 Meist brennende Schmerzen im betroffenen Segment, meist in den thorakalen Segmenten (bis zu 60 % der Fälle), insbesondere Th5 (bis zu 20 %); in 30–40 % auch beidseitiger Befall 5 Einschießende Schmerzen, Dysästhesie, häufig statische und dynamische Berührungsallodynie (Patienten ertragen das Tragen von Kleidung nicht) 5 Dermatologische Veränderungen (herpetiforme Bläschen, Pigmentveränderungen) ! Bei Abheilung der Hauteffloreszenzen klagen noch 12–20 % der Patienten aller Altersklassen über Schmerzen, nach einem Monat noch 9–15 % und ein Jahr später 2–5 %.
7.2.9.5 Sonderformen
5 Zoster ophthalmicus: bei Befall des 1. Trigeminusastes mit Gefahr der Erblindung durch eine Keratitis und Iritis 5 Zoster oticus: gelegentlich mit Fazialisparese, Tränensekretions- und Geschmacksstörungen 5 Zoster sine herpete: Zoster ohne Effloreszenzen 5 Präherpetische Zosterneuralgie: Schmerzen vor dem Hautausschlag, z. T. motorische Beteiligung möglich 5 Zosterangiitis mit der Gefahr eines zerebralen Insults 5 Zoster generalisatus 7.2.9.6 Diagnostik
5 Klinisch durch die typischen Effloreszenzen und den charakteristischen Schmerz
7
5 Labor: Virusnachweis bis zum 10. Tag nach Ausbruch der Effloreszenzen 5 Labor in der Akutphase meist nicht notwendig, später Tumorabklärung empfohlen (Immunsuppression)! 7.2.9.7 Differenzialdiagnose
Interkostalneuralgie, Lumbalgie, Radikulopathie anderer Genese (Borreliose), idiopathische oder symptomatische Trigeminusneuralgie, atypischer Gesichtsschmerz. 7.2.9.8 Therapie
Die Therapie der akuten Zosterneuralgie hat 3 Ziele: 1. Verhinderung der Virenausbreitung, insbesondere bei immunsupprimierten Patienten, 2. Bekämpfung der akuten Schmerzen und dadurch 3. Verhinderung der Postzosterneuralgie. – Aciclovir (Zovirax): – 4- bis 5-mal 800 mg p.o. für 5–7 Tage – 3-mal 5–10 mg/kg KG i.v. für 5–7 Tage – Nebenwirkungen: Niereninsuffizienz, reversible neurologische Erscheinungen, Anstieg der Leberwerte, Panzytopenie, Magen-DarmStörungen, Hautausschlag – Kontraindikationen: eingeschränkte Nieren- oder Leberfunktion (Dosisanpassung erforderlich) – Valaciclovir (Valtrex): – 3-mal 1.000 mg p.o. für 5–7 Tage – Nebenwirkungen und Kontraindikationen wie Aciclovir – Famciclovir (Famvir): – 3 × 250 mg p.o. für 5–7 Tage – Nebenwirkungen und Kontraindikationen wie Aciclovir
Akute Schmerztherapie 5 Lokal: Kühlung und Pasta zinci (3- bis 5 x/Tag dünn auftragen) 5 Applikation von Lotio alba aequosa unter Zusatz von 1 %igem Aureomycin
156
7
Kapitel 7 · Neuropathischer Schmerz
5 NSAR, Metamizol und häufig Supplementierung mit Opioiden 5 Regionalanästhesie je nach betroffenen Dermatomen: – Therapeutische Interkostalblockaden bei thorakalem Befall – Epiduralanästhesie bei lumbalem Befall – Sympathikusblockaden (7 Abschn. 4.4): Ganglion-stellatum-Blockaden oder GCS-GLOA (GCS = Ganglion cervicale superius) bei Zosterneuralgie im Kopfbereich 5 Klinisch bewährt hat sich der frühzeitige Einsatz von Antikonvulsiva zur möglichen Verhinderung der Postzosterneuralgie, z. B. Gabapentin aufdosieren bis 3 × 300 mg/Tag und dann ggf. bis 3 mal 600 mg/Tag 7.2.10 Postzosterneuralgie 7.2.10.1 Ätiologie
Persistenz oder Neuauftreten der neuropathischen Schmerzen 2–3 Monate nach Beginn einer Zosterneuralgie. 7.2.10.2 Inzidenz
Nach 5 % (Angaben schwanken zwischen 2–23 %) aller Zosterinfektionen; 70 % bei über 70-Jährigen; 15 % Dauer länger als 6 Monate. 7.2.10.3 Klinik
5 Hautveränderungen und Sensibilitätsstörungen (segmental) 5 Narbenbildung mit pigmentiertem Randsaum 5 Statische oder dynamische Allodynie, (thermische) Hyperalgesie, Hypästhesie, Hypalgesie, Parästhesie/Dysästhesie 5 Juckreiz möglich 5 3 typische Schmerzformen (häufig in Kombination): – Brennend-bohrender Dauerschmerz – Kurze, einschießende Schmerzattacken
– Berührungsschmerzen als mechanische Allodynie 7.2.10.4 Diagnostik
5 Akuter Herpes zoster in der Anamnese im schmerzhaften Hautareal (Cave: Zoster sine herpete!) 5 Beweisend sind spezielle I gM-Antikörper gegen Varicella-Zoster-Virus 7.2.10.5 Therapie
Topische medikamentöse Therapie (7 Abschn. 7.1) 5 Lidocain-Pflaster (Versatis®), alle 24 h für 12 h aufkleben (Therapie der ersten Wahl lt. DGN) 5 Capsaicin-Pflaster (Qutenza®), alle 3 Monate
Systemische medikamentöse Therapie 5 Antikonvulsiva: allein oder in Kombination mit TZA 5 Gabapentin: 3-mal 300 mg/Tag bis 3600 mg/Tag oder 5 Pregabalin: 2-mal 75 mg/Tag bis maximal 600 mg/Tag 5 Trizyklische Antidepressiva: Amitriptylin 10–75 mg/Tag und Doxepin 10–75 mg/ Tag; SSRI wie Desipramin und Maprotilin sind nicht wirksam! 5 Opioide: keine Medikamente der 1. Wahl, aber Therapieversuch sinnvoll; Oxycodon soll von den Opioiden am besten bei neuropathischem Schmerz wirken 5 Als nicht wirksam haben sich erwiesen: Dextromethorphan und Memantin (beides NMDA-Antagonisten), Benzodiazepine, Mexiletin (Klasse-IbAntiarrhythmikum, „Lidocain zum Schlucken“), Tramadol
Interventionelle Schmerztherapie Ein Therapieversuch ist immer sinnvoll. Nach erfolgreicher diagnostischer Blockade: Serie von 5–10 (Sympathikus-)
157
7.3 · Polyneuropathie
Blockaden durchführen. Repetition am besten im schmerzfreien Intervall.
Adjuvante Therapie 5 TENS, bei Allodynie auch kontralateral möglich 5 Akupunktur, bei Allodynie auch an Fernpunkten (Ohrakupunktur); Wirkung umstritten 7.3 Polyneuropathie 7.3.1 Definition
Generalisierte Erkrankung peripherer Nerven, die zu motorischen, sensiblen und vegetativen Ausfällen führen kann. Die häufigsten Ursachen sind in Mitteleuropa Diabetes mellitus (bis 50 % aller Diabetiker, davon 30–50 % mit Schmerzen), Alkoholabusus und Zustand nach Chemotherapie.
7
– Spontanschmerzen: hell, scharf, spitz, schneidend, brennend oder dumpf, drückend, ziehend 5 Vegetative Reizsymptome: Ödeme, Hyper- oder Hypohidrosis, livide Hautverfärbung, Rötung, Blässe, trophische Störungen 7.3.3 Diagnostik
5 Genaue Anamnese (Alkohol!) 5 Labor (Blutzucker, HbA1c) 5 Neurologische klinische Untersuchung 5 Neurologische apparative Abklärung mit NLG, EMG 7.3.4 Differenzialdiagnose
Die Differenzialdiagnose der Polyneuropathien zeigt . Tab. 7.1. 7.3.5 Therapie
7.3.2 Leitsymptome
5 Motorische Reizsymptome: – Vorwiegend nächtliche, schmerzende Wadenkrämpfe – Gangunsicherheit, Ataxie: Vibrationsempfinden und Lagesinn meist schon früh im Verlauf der Erkrankung herabgesetzt 5 Sensible Reizsymptome: – Spontan oder durch äußere Reize ausgelöste Parästhesien/Dysästhesien, typischerweise mit distaler handschuh- oder sockenförmiger Verteilung – „Burning feet“: schmerzhaftes Kälteoder Hitzegefühl meistens der Fußsohlen oder seltener der Handinnenflächen, Verstärkung durch Laufen und durch Erwärmung
5 Möglichst kausale Therapie der Grunderkrankung 5 Symptomatische Therapie, orientierend an den klinischen Symptomen Bei sensiblen Reizsymptomen wie Parästhesie, Dysästhesie, einschießenden neuropathischen Schmerzen: 5 Carbamazepin: 600 mg/Tag (200– 1200 mg/Tag) 5 Gabapentin: 1800 mg/Tag (900– 3600 mg/Tag) 5 Pregabalin: 300 mg/Tag (150–600 mg/ Tag). Bei „burning feet“: 5 Amitriptylin: 75 mg/Tag (25–100 mg/ Tag) 5 Clomipramin: 75 mg/Tag (25–150 mg/ Tag)
158
Kapitel 7 · Neuropathischer Schmerz
. Tab. 7.1 Differenzialdiagnosen der Polyneuropathien (PNP)
7
Polyneuropathie
Differenzialdiagnose
Diabetische PNP
Distal symmetrische und proximal asymmetrische Form, autonome Störungen
Alkoholtoxische PNP
Neurologische und internistische Alkoholfolgeerkrankungen
Medikamenteninduzierte PNP
Zytostatika (Vinblastin, Vincristin, Cisplatin), Tuberkulostatika, Antibiotika, Virostatika, Migränemittel, Antirheumatika
Toxische PNP
Lacke, Klebstoffe, Schmiermittel, Keramikglasuren, Rattengift, Insektizide
PNP bei Arteriopathien
pAVK, Kollagenosen (Differenzialdiagnose: Autoantikörper, Rheumafaktoren), M. Wegener
PNP bei Urämie und Hepatopathie
Laborchemischer Nachweis
Paraneoplastische PNP
Primärtumornachweis (Bronchialkarzinom, Lymphome, Ovarialkarzinom, Magenkarzinom)
PNP bei HIV
Gewichtsverlust, opportunistische Infektionen, Kaposi-Sarkom (Differenzialdiagnose: HIV-Test)
Infektionsbedingte PNP
Borreliose, FSME, CMV, Lepra, Varicella-zoster-Infektion
Plasmozytom und benigne Gammopathie
Multipler Befall von Wirbeln, Becken, Schädel, Myelomniere (Differenzialdiagnose: BSG, monoklonale IgG, Bence-JonesProteine, Röntgenaufnahme des Schädels)
Guillain-Barré-Polyneuritis
Rasch aufsteigende oder langsam progrediente oder rezidivierende sensible und motorische Ausfälle, Liquoreiweißerhöhung (Differenzialdiagnose: Elektrophysiologie, Liquorpunktion)
Funikuläre Spinalerkrankung
Vitmin-B12-Mangel, Folsäuremangel, perniziöse Anämie
Hereditäre PNP z. B. Erythromelalgie z. B. M. Fabry
Familienanamnese, Gentest α-Galaktosidase-Aktivität messen, Gentest
Criticall-illness-PNP
Nach Intensivaufenthalt mit (längerer) Beatmung
5 Duloxetin: 60 mg mg/Tag (30–60 mg/ Tag) bei diabetischer Polyneuropathie 5 Tapentadol: 200 mg/Tag (100–400 mg/ Tag) bei schmerzhafter diabetischer Polyneuropathie Bei nächtlichen Wadenkrämpfen: 5 Chinin/Theophyllin: 520/390 mg/Tag 5 Dantrolen: 25 mg/Tag 5 Baclofen: 5–25 mg/Tag 5 Diazepam: 5–10 mg/Tag 5 Verapamil: 120 mg/Tag 5 Vitamin E (Eplonat): 400 IE/Tag
5 Vitamin B2 (Werdo): 20 mg/Tag 5 Kalzium (Calcium-Sandoz): 1–2 g/Tag 5 Magnesium (Magnesiocard): 15 mmol/ Tag ! Die oben aufgeführten medikamentösen Therapievorschläge sind Therapieversuche, d. h. die Medikation sollte bei Nichtansprechen abgesetzt werden. Dieses Vorgehen muss zuvor mit dem Patienten besprochen werden. Häufig ist die Kombination mehrerer Medikamentengruppen effektiver als eine Monotherapie.
7.4 · Phantomschmerz
7.3.6 Schmerztherapeutisch
interessante Polyneuropathien
7.3.6.1 Erythromelalgie
Punktmutationen führen zur gesteigerten Funktion des Natriumkanals NaV1.7. Diese Erregungssteigerung führt belastungsabhängig zu Schmerzen und zu einer Freisetzung von Substanz P und CGRP, was eine Durchblutungssteigerung und Rötung zur Folge hat (Erythromelalgie halt). Differentialdiagnose von insbesondere: CRPS (7 Abschn. 7.5) und diabetisch induzierter PNP, auch M. Fabry Therapie: symptomatisch; K alziumAntagonisten, Magnesium 7.3.6.2 Fabry
Der M. Fabry gehört zu den lysosomalen Speicherkrankheiten, es fehlt das X-chromosomal kodierte Enzym α-Galaktosidase. Die dadurch gespeicherten Stoffwechselprodukte sammeln sich in einer Vielzahl von Organen an, unter anderem in feinen peripheren sensorischen und vegetativen Nerven (small-fibre-disease). Erstsymptom sind klassischerweise Schmerzen und Parästhesien an den Akren, die bereits in der Kindheit auftreten können und dann häufig nicht richtig gedeutet werden. Im weiteren Verlauf können starke neuropathische Schmerzattacken („Fabry-Krisen“) mit brennenden Schmerzen an den distalen Extremitäten auftreten. Im Erwachsenenalter lassen die Schmerzen meist nach und weitere Symptome bestimmen das bunte Bild der Erkrankung (Anhidrose, Herz, Niere, zerebrovaskuläre Schäden). Schmerzen triggerbar durch Temperaturveränderung, physischen und psychischen Stress, Alkohol, Fieber; wahrscheinlich durch Degeneration von Nervenfasern in den Spinalganglien und im peripheren Nervensystem
159
7
Diagnose: Messung der Aktivität der α-Galactosidase A in einem Enzymassay Therapie: Enzymersatztherapie (Agalsidase α und β); schmerztherapeutisch symptomatisch 7.4 Phantomschmerz 7.4.1 Klinisch wichtige
Unterscheidungen
5 Stumpfsensationen: nicht schmerzhaftes Gefühl im Bereich der abgesetzten Extremität, häufig verstärkt beim Tragen einer Prothese 5 Stumpfschmerz: Schmerzen im Bereich des Extremitätenstumpfes; akut postoperativ nach Amputation oder chronisch, z. B. durch Prothesenirritation oder Neurombildung. Das Auftreten von Phantomschmerzen wird durch starke Stumpfschmerzen begünstigt. Die perioperative Schmerztherapie im Sinne einer präventiven/protektiven Schmerztherapie bei Extremitätenamputation ist daher besonders wichtig (7 Kap. 1 und 6)! 5 Phantomsensationen: nicht schmerzhaftes Gefühl, dass die nicht mehr vorhandene Extremität noch vorhanden sei. Telescoping möglich (z. B. Schmerz im Fuß wird direkt am Oberschenkelstumpf wahrgenommen) 5 Phantomschmerz: Schmerz, der in der nicht mehr vorhandenen Extremität lokalisiert wird. Besonders häufig in distalen Extremitäten und im Gesicht, Regionen mit großen kortikalen Repräsentationsfeldern. Der Phantomschmerz ist das klassische Beispiel eines Deafferenzierungsschmerzes: Nach kompletter Durchtrennung eines Nervs oder einer Nervenwurzel auftretende sensible und motorische Störungen, begleitet von Allodynie, Dysästhesie und Hyperalgesie
160
Kapitel 7 · Neuropathischer Schmerz
. Tab. 7.2 Entstehung von chronischen Schmerzen nach verschiedenen operativen Eingriffen
7
Operativer Eingriff
Anteil chronischer postoperativer Schmerzen
Extremitätenamputation
Stumpfschmerzen bis 57 %, Phantomschmerzen bis 55 %
Thorakotomie, konventionell
Postthorakotomieschmerzen bis 40 %
Thorakotomie, videoassistiert
Postthorakotomieschmerzen bis 22 %
Sternotomie, median
Brustschmerzen bis 25 %
Mastektomie
Phantomschmerzen bis 17 %, Narbenschmerzen bis 31 %
Tiefe anteriore Rektumresektion
Rektale Schmerzen bis 10 %
Cholezystektomie, offen oder laparoskopisch
Abdominelle Schmerzen bis 10 %
Herniotomie
Narbenschmerzen bis 10 %
Zahnextraktion
Zahnschmerzen bis 7 %
Phantomschmerzen treten jedoch nicht nur nach Extremitätenamputationen, sondern auch nach Mastektomie auf. Chronische Schmerzen nach operativen Eingriffen sind nicht selten (. Tab. 7.2). 7.4.2 Symptome
5 Brennender, elektrisierender oder krampfartig einschießender Schmerz 5 Häufig in den Abendstunden und nachts Schmerzmaximum mit Störung des Nachtschlafs 7.4.3 Mögliche Prophylaxe
5 Die vorhandenen Studien zur Prophylaxe des Phantomschmerzes durch Lokal- oder Regionalanästhesie sind widersprüchlich! Unbestritten jedoch ist, dass ein starker postoperativer Schmerz einen Prädiktor für eine Chronifizierung darstellt 5 Ideal: kontinuierliche Schmerzausschaltung mit LA und Opioiden über präoperativ angelegten Katheter (Plexuskatheter, Epiduralkatheter) im Rahmen einer protektiven Schmerztherapie (7 Kap. 1)
5 Bei Kontraindikationen gegen Regionalanästhesieverfahren: perioperative S(+)-Ketamin-Gabe: – Präoperativ: 0,5 mg/kg KG als Bolus – Intra- und postoperativ: ca. 0.1 mg/ kg KG/h als Infusion über Perfusor für 24 h, besser 48 h (z. B. 5 mg/h für 70 kgKG) 7.4.4 Therapie des akuten
Phantomschmerzes
! Zur Verbesserung der Prognose möglichst frühzeitiger Therapiebeginn! Die Anmeldung eines Patienten mit akutem Stumpfschmerz oder neu aufgetretenem Phantomschmerz ist als „schmerztherapeutischer Notfall“ anzusehen. Nach 4-wöchiger Schmerzsymptomatik sind nur noch 10 % erfolgreich therapierbar.
Mittel der 1. Wahl bei erst seit kurzem (z. B. postoperativ) bestehendem Phantomschmerz sind: 5 Regionalanästhesie, wenn möglich (7 Kap. 6) 5 Calcitonin 100–200 IE täglich in 500 ml NaCl 0,9 % i.v. über mehr als 2 h für 3–5 Tage
7.5 · Komplexes regionales Schmerzsyndrom (CRPS)
161
7
– Nebenwirkungen: Hitzewallungen, orthostatische Dysregulation, Übelkeit, daher ggf. in Kombination mit einem Antiemetikum – Nach 3 Sitzungen sind bis zu 75 % der Patienten längerfristig schmerzfrei bzw. schmerzreduziert, Wirkbeginn nach Minuten bis Stunden, hilft nicht bei Stumpfschmerz oder Phantomsensationen 5 Amitriptylin bei Brennschmerzen: langsam einschleichend bis zu einer Tagesdosis von 50–75–150 mg/Tag 5 Carbamazepin bei einschießendem Schmerz: 2-mal 100 mg/Tag bis 1200 mg/ Tag, evtl. Kombination mit Gabapentin 900 mg bis maximal 2400 mg/Tag oder Pregabalin bis 600 mg/Tag 5 Nichtopioidanalgetika und Opioide v. a. perioperativ sinnvoll 5 TENS kontralateral (primär 70 %ige Erfolgsrate, nach 1 Monat 50 % und nach 5 Jahren nur noch 28 %)
7.4.5 Therapie des chronischen
7.4.4.1 Weitere Therapieoptionen
Wir empfehlen die Austestung der oben genannten verschiedenen Medikamentengruppen. Um unsinnige Medikamenteneinnahmen zu vermeiden, sollte eine medikamentöse Dauertherapie nur durchgeführt werden, wenn ein sicherer Effekt nachgewiesen ist. Dosisreduktion und evtl. Auslassversuch sollten alle 3–6 Monate angestrebt werden.
5 Frühzeitig an Sympathikusblockaden denken! Der akute Phantomschmerz ist wahrscheinlich erst einmal ein peripherer neuropathischer Schmerz, der sympathisch unterhalten sein kann. Zuerst diagnostische, dann evtl. therapeutische Sympathikusblockade (7 Abschn. 4.4). 5 Therapieversuch mit hochpotenten Opioiden. Oxycodon soll bei neuropathischem Schmerz effektiver wirken als andere Opioide 5 S(+)-Ketamin (0,1 mg/kg KG/h für 24 h) über Perfusor 5 ggf. Amantadin (PK-Merz) 200 mg über 3 h (bis zu 85 % erfolgreiche akute Schmerzreduktion, Langzeitdaten schlecht)
Phantomschmerzes
5 Therapieversuch mit Calcitonin nach obigem Schema 5 Antikonvulsiva und Antidepressiva; NSAR meist unwirksam 5 Regionalanästhesie peripher und/oder rückenmarknah 5 Therapieversuch mit hochpotenten Opioiden 5 Therapieversuch mit S(+)-Ketamin i.v. oder p.o. 5 Therapieversuch mit Lidocain i.v. 5 Gegenirritation (TENS, Akupunktur?) 5 Psychotherapie, Biofeedback 5 Physikalische Therapie, Prothesentraining 5 SCS 5 Intrathekale Opioidapplikation > Chronische Phantomschmerzen sind schwierig zu behandeln! Interdisziplinäre und multimodale Schmerztherapie nötig!
7.5 Komplexes regionales
Schmerzsyndrom (CRPS)
Einteilung des CRPS („complex regional pain syndrome“) seit 1996: 5 CRPS Typ I – früher M. Sudeck nach dem gleichnamigen Erstbeschreiber (1902) oder nach Bonica (1953)
162
Kapitel 7 · Neuropathischer Schmerz
s ympathische Reflexdystrophie genannt – mit in der Tiefe lokalisierten diffusen oder generalisierten Brennschmerzen der gesamten Extremität im distalen Bereich der initialen Gewebeschädigung. Schmerzsyndrom nach (Bagatell-) Trauma ohne nachgewiesene Nervenläsion 5 CRPS Typ II – früher Kausalgie nach W. Mitchell (1872) – ist ein Schmerzsyndrom mit obligatem klinischem und elektrophysiologischem Nachweis einer Nervenläsion
7
7.5.1 Diagnostik
> Die Diagnose CRPS wird rein klinisch gestellt. Die charakteristischen Krankheitszeichen und Symptome sind oft nur in der Frühphase vorhanden. Später ist die Diagnose oft nur durch eine genaue Anamnese zu stellen.
Die Diagnose kann nach den sog. „Budapest-Kriterien“ (Sensitivität 99 %, Spezifität 68 %) gestellt werden (S1-Leitlinie der DGN 030–116, 2018): 1. Anhaltender Schmerz, der durch das Anfangstrauma nicht mehr erklärt wird 2. In der Anamnese müssen die Patienten über mindestens je 1 Symptom aus 3 der 4 folgenden Kategorien berichten: – Hyperalgesie, Allodynie – Asymmetrie der Hauttemperatur; Veränderung der Hautfarbe – Asymmetrie im Schwitzen; Ödem – Reduzierte Beweglichkeit, Dystonie, Tremor, muskuläre Schwäche; Veränderungen von Haar- oder Nagelwachstum 3. Zum Zeitpunkt der Untersuchung muss bei den Patienten mindestens je 1 Symptom aus 2 der 4 folgenden Kategorien vorliegen: – Hyperalgesie auf spitze Reize (z. B. Zahnstocher); Allodynie; Schmerz bei Druck auf Gelenke/Knochen/Muskeln – Asymmetrie der Hauttemperatur; Veränderung der Hautfarbe
– Asymmetrie im Schwitzen; Ödem – Reduzierte Beweglichkeit, Dystonie, Tremor, muskuläre Schwäche; Veränderungen von Haar- oder Nagelwachstum 4. Eine andere Erkrankung erklärt die Symptomatik nicht hinreichend. 7.5.1.1 Ergänzende apparative
Diagnostik
Je länger das CRPS besteht, umso schwieriger ist die Abgrenzung von den Veränderungen durch Funktionsverlust anderer Ursache 5 3-Phasen-Knochenszintigramm: Sensitivität von lediglich 30–50 % aber hohe Spezifität nach den ersten 6–9 Monaten 5 Mit Hautthermometern oder Infrarotthermographie wiederholt gemessene Temperaturunterschiede von mehr als 1–2 °C unterstützen die Diagnosestellung 5 MRT hat in der spezifischen Diagnostik keine Bedeutung 5 Konventionelles Röntgen kann im Zweifelsfall Frakturen ausschließen, hat keine Spezifität für CRPS 7.5.1.2 Differenzialdiagnose
5 Erkrankungen des rheumatischen Formenkreises 5 Entzündungen (Infektionen nach Operationen, Polyneuritiden, etc.) 5 Kompartment- und Nervenkompressionssyndrome 5 Arterielle und venöse Durchblutungsstörungen 7.5.2 Therapie
Die Therapieprinzipien lauten: Ein monomodaler Therapieansatz ist von vornherein zum Scheitern verurteilt. Frühzeitige multidisziplinäre Therapie! 5 Medikamentös: – Bisphosphonate möglichst rasch, bevorzugt intravenös: z. B. Pamidronsäure 60 mg i.v. alle 4 Wochen
7.6 · Sympathisch unterhaltener Schmerz (SMP)
– Kortisontherapie: Prednisolon 100 mg/Tag oder Methylprednisolon 80 mg/Tag Startdosis, dann Ausschleichen über 4 Wochen – Gabe von NSAR, Opioide – Gabapentin 900–1800 mg/Tag 5 Physiotherapie individuell zugeschnitten, z. B. Pain Exposure Therapy (PET): Physiotherapie wird mit Zustimmung der Patienten über die Schmerzgrenze hinweg durchgeführt. 5 Ergotherapie aktive Desensibilisierung mehrmals täglich 5 Physiotherapie mit verhaltenstherapeutischen Elementen (Spiegeltherapie, „Graded Motor Imagery Program“, „Graded Exposure“) sind zu wichtigen Bausteinen der CRPS-Therapie geworden. Sie normalisieren das Zusammenspiel zwischen Sensorik und Motorik auf kortikaler Ebene und reduzieren die Angst im Umgang mit der schmerzhaften Extremität. 5 Psychotherapie – Wirkungen – Angstreduktion – Selbstwahrnehmung der körperlichen Belastbarkeit – Erlernen von Entspannungsverfahren 5 Interventionell – Ganglion-stellatum-Blockade mit 3 ml Ropivcain 1 % oder Carbostesin 0.5 % oder – Wenn die untere Extremität betroffen ist: Katheterepiduralanalgesie (PDK) über bis zu 2 Wochen – SCS 7.6 Sympathisch unterhaltener
Schmerz (SMP)
Beim SMP („sympathetically maintained pain“) kommt es zur Kopplung zwischen efferenten postganglionären sympathischen Neuronen und afferenten nozizeptiven Neuronen. Diese Verbindung der sonst völlig
163
7
g etrennten Nervensysteme kommt über eine „sympathisch-afferente Kopplung“ zustande. Geschädigte nozizeptive Fasern exprimieren α2A-adrenerge Rezeptoren, deren Aktivierung durch Noradrenalinfreisetzung bei der tonischen Aktivität des sympathischen Nervensystems zur Schmerzverstärkung führen, klassisches Beispiel: CRPS, s. o. Zusätzlich werden neuroplastische Prozesse auf Rückenmarkebene und komplexe Umbauprozesse in der Formatio reticularis diskutiert. Die Pathogenese des sympathisch unterhaltenen Schmerzes (SMP) zeigt . Abb. 7.3 und 7.4. > SMP ist keine Diagnose! Grundsätzlich kann jeder neuropathische Schmerz durch das sympathische Nervensystem unterhalten werden. Daher sind frühzeitig diagnostische Sympathikusblockaden sinnvoll.
Ein sympathisch unterhaltener Schmerz ist nicht nur beim komplexem regionalem Schmerzsyndrom (CRPS) vorherrschend, sondern auch bei folgenden Schmerzsyndromen beteiligt: 5 Zosterneuralgie und Postzosterneuralgie 5 Trigeminusneuralgie 5 Phantomschmerzen 5 Postlaminektomiesyndrom 7.6.1 Schmerzqualität
5 Brennender, ziehender, einschießender Schmerz 5 Allodynie, Hyper-, Hyp- oder Dysästhesie 5 Trophische Störungen, gestörte Schweiß-sekretion 5 Reduzierte Motorik, eingeschränkte Beweglichkeit 7.6.2 Diagnosesicherung
Diagnostische Sympathikusblockaden beweisen das Vorliegen einer sympathischen
164
Kapitel 7 · Neuropathischer Schmerz
7
. Abb. 7.3 Flussdiagramm der CRPS-Therapie (Birklein, F. 2018, aus S1-Leitlinie der DGN 030-116)
Beteiligung am neuropathischen Schmerz. Eine diagnostische Blockade gilt als erfolgreich, wenn sie eine Reduktion der VAS/ NRS um >50 % ermöglicht (Schmerztagebuch führen lassen!). Bei technisch korrekt durchgeführter Sympathikusblockade kann ein Restschmerz bestehen bleiben. Dieser Anteil am Gesamtschmerz wird als „sympathisch nicht unterhaltener Schmerz“ (SIP = „sympathetically independend pain“) bezeichnet. 7.6.2.1 Diagnostische
Sympathikusblockaden
Zur Diagnose des sympathisch unterhaltenen Schmerzes (SMP) können je nach
okalisation folgende Blockaden durchgeL führt werden (Details in 7 Abschn. 4.4): 5 Ganglion cervicale superius 5 Ganglion stellatum ( = cervicale inferius) 5 Plexus coeliacus 5 Lumbaler Sympathikusgrenzstrang ! Verifizierung des Temperaturanstiegs in der betroffenen Körperregion zum sicheren Nachweis der Sympathikusblockade > Zum Ausschluss eines sympathisch unterhaltenen Schmerzes sind meist 2 diagnostische Blockaden erforderlich!
7
165
7.7 · Zentraler neuropathischer Schmerz
Grunderkrankung (z.B. CRPS, Zosterneuralgie) Funktionelle und neuroplastische Veränderungen (z.B.: CRPS, Zosterneuralgie)
Spinalganglion
Nozizeptoren und Rezeptoren
ZNS »Maladaptation«
Grenzstrangblockade GLOA
SIP
SMP
Mit ektoper Erregung im Spinalganglion
Mit peripherer noradrenerger Kopplung
IVRS, Grenzstrangblockade
. Abb. 7.4 Pathogenese des sympathisch unterhaltenen Schmerzes („sympathically maintained pain“; SMP) und Möglichkeit der Therapie durch Unterbrechung der „sympathisch-afferenten Kopplung“
7.6.3 Therapie
5 Medikamentöse Therapiemöglichkeiten: – Antidepressiva – Antikonvulsiva – Capsaicin-Applikation – Lidocain-Infusionen 5 Therapeutische Sympathikusblockaden: Sympathikusblockaden sind in 7 Abschn. 4.4 detailliert dargestellt („Sympathikusblockaden“)
7.7 Zentraler neuropathischer
Schmerz
7.7.1 Definition
Nach IASP: Schmerzen, die nach einer primären Läsion oder Dysfunktion im zentralen Nervensystem initiiert oder verursacht werden. Das Rückenmark, der Hirnstamm oder das Gehirn können betroffen sein.
166
Kapitel 7 · Neuropathischer Schmerz
eginn der Schmerzsymptomatik meist 2–6 B Wochen nach der Läsion; Auftreten auch nach Jahren möglich. 7.7.2 Ätiologie
7
5 Thalamusläsion bedingt durch: – Ischämischen Insult – Intrazerebrale Blutung – Hirntumor – Hirnabszess – Zerebrale Toxoplasmose – Multiple Sklerose (bis zu 40 % der Patienten) 5 Extrathalamische Ursachen: – Ischämischer Insult – Intrazerebrale Blutung – Rückenmarktrauma – Rückenmarktumor, -infarkt, -blutung – Syringobulbie, Syringomyelie > Ungefähr 1–3 % der Schlaganfallpatienten entwickelt einen zentralen Schmerz.
7.7.3 Leitsymptome
5 Störung der Sensibilität in Form eines Hemisyndroms 5 Veränderung der Berührungsempfindung in Form von Parästhesie, Dysästhesie, Hyperalgesie 5 Störung der Temperaturwahrnehmung und Nozizeption; oft „Schraubstockgefühl“ und Gefühl der „angeschwollenen Körperhälfte oder Extremität“ 5 Neuropathische Schmerzqualität: Dauerschmerz brennend, bohrend, stechend, schneidend oder einschießender Schmerz 5 Schmerz triggerbar durch bestimmte Körperhaltung, Bewegung, viszerale Stimuli (gefüllte Blase) oder seelische Komponenten (Angst)
7.7.4 Diagnostik
Neurologische Prüfung von: 5 Schmerzschwellen (QST) 5 Berührungs- und Vibrationsempfinden 5 Lagesinn, 2-Punktund Spitz-/ Stumpf-Diskrimination 5 Apparative neurologische Untersuchung 5 Bildgebende Verfahren (CT, MRT) 7.7.5 Differenzialdiagnosen
Unterscheidung zwischen neu aufgetretenem Schmerz nach zentraler Schädigung und sekundärer Verschlechterung einer Schmerzsymptomatik, die schon vor dem Trauma bestand (Suche nach primärer Schmerzursache). 5 Schulterschmerz nach Schlaganfall: – Lokaler, nozizeptiver Schulterschmerz auf der Seite der Parese, ggf. bekannte Arthrose – Diagnose: klinisch-neurologischer Befund, Röntgen 5 Gesichtsschmerz bei multipler Sklerose: – Einschießende, neuropathische Schmerzen im Versorgungsgebiet eines oder mehrerer Trigeminusäste – Diagnose: neurologischer Befund, SEP des N. trigeminus, Blinkreflex 5 Muskelschmerz bei multipler Sklerose: – Schmerzhafte Spasmen der Beinmuskulatur – Diagnose: neurologischer Befund, EMG 5 Spinale Raumforderung, spinales Rückenmarktrauma: – Paraparese der Beine, bilaterale Sensibilitätsstörung, Blasen- und Mastdarmstörung – Diagnose: Anamnese, neurologischer Befund, MRT 5 Syringomyelie, Syringobulbie: – Bilaterale, asymmetrisch verteilte dissoziative Sensibilitätsstörung
167 Literatur
– Beginn häufig an Armen und Händen – Atrophische Parese der Arme – Zentrale Paraparese der Beine – Horner-Syndrom – Hirnnervenausfälle – Über Jahre hinweg progrediente Symptomatik – Diagnosesicherung mittels MRT 7.7.6 Therapie
Oft kann keine vollständige Schmerzfreiheit, sondern lediglich eine Linderung der Schmerzen erzielt werden! 5 Medikamentöse Therapie: – Antidepressivum, z. B. Amitriptylin, evtl. in Kombination mit Antikonvulsivum – Bei Dysästhesie oder einschießendem Schmerz: Antikonvulsivum, z. B.
7
Carbamazepin, Gabapentin oder Pregabalin – Opioide und NSAR sind nicht indiziert! 5 Nichtmedikamentöse Therapie: – Verhaltenstherapie – Ultima ratio: Möglichkeit der „deep brain stimulation“ (DBS) oder Motorkortexstimulation (MCS; 7 Abschn. 4.7)
Literatur Birklein F et al (2018) Diagnostik und Therapie komplexer regionaler Schmerzsyndrome (CRPS), S1-Leitlinie. In: Deutsche Gesellschaft für Neurologie (Hrsg) Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie. 7 https://nw.crps-netzwerk. org/cms/wp-content/uploads/2018/09/030116_LL_ CRPS_2018.pdf. Zugegriffen: 22. Juni 2020 Treede RD, Jensen TS, Campbell N et al (2008) Neuropathic pain. Neurology 70:1630–1635
169
Tumorschmerztherapie Inhaltsverzeichnis 8.1 Tumorschmerztherapie bei Erwachsenen – 170 8.1.1 Grundregeln der Tumorschmerztherapie – 170 8.1.2 Ätiologie des Tumorschmerzes – 171 8.1.3 Pathogenese – 171 8.1.4 Diagnostik – 173 8.1.5 Allgemeines zur Tumorschmerztherapie – 173 8.1.6 Nichtmedikamentöse Therapie – 174 8.1.7 Medikamentöse Therapie – 175 8.1.8 Therapie des Durchbruchschmerzes – 177 8.1.9 Therapie der Opioidnebenwirkungen – 179 8.1.10 Neurochirurgische und neuroinvasive Verfahren – 184 8.1.11 „Notfalltherapie“ bei schwersten Schmerzzuständen – 185
8.2 Tumorschmerztherapie in der Pädiatrie – 185 8.2.1 Schmerzursachen – 185 8.2.2 Schmerzmessung – 185 8.2.3 Nichtmedikamentöse Schmerztherapie – 186 8.2.4 Medikamentöse Schmerztherapie – 186
Literatur – 190
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Benrath et al., Repetitorium Schmerztherapie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61783-0_8
8
170
Kapitel 8 · Tumorschmerztherapie
8.1 Tumorschmerztherapie bei
erfolgreiche Tumorschmerztherapie ist die Frage nach der Ätiologie und der zugrunde liegenden Pathogenese des Schmerzes.
dann, wenn sich hieraus therapeutische Konsequenzen ergeben) 5 Bestimmte Schmerzarten haben ursächlich nichts mit dem Tumor zu tun, z. B. Migräne, Bandscheibenvorfall, können jedoch zu den (neu aufgetretenen) Tumorschmerzen hinzutreten 5 Wenn möglich, kausale Therapie anstreben (Chemo-, Hormon- und Strahlentherapie, Radionuklidtherapie, palliative operative Eingriffe) 5 Besprechen aller Behandlungsmöglichkeiten mit dem Patienten und der Familie 5 Ausnutzen aller nichtmedikamentösen Therapien, wie z. B. physikalische Maßnahmen, Massagen, Physiotherapie, Wärme-/Kälteanwendungen 5 Symptomatische, medikamentöse Therapie mit langwirksamen Analgetika auf oralem Weg („by the mouth“), nach festem Zeitschema („by the clock“), gemäß dem WHO-Schema („by the ladder“) an die Schmerzsituation angepasst, mit zusätzlicher, schnellwirksamer Bedarfsmedikation bei „breakthrough pain“. Dabei ist auf größtmögliche Selbstbestimmung des Patienten zu achten. Vorsicht vor Umsetzung starrer Schemata oder Protokolle. Immer ist die individuelle Therapie wichtig 5 Prophylaktische Therapie von zu erwartenden medikamentösen Nebenwirkungen, wie z. B. Übelkeit, Obstipation etc., durch geeignete Kotherapeutika (Antiemetika, Laxanzien) 5 Regelmäßige Kontrolle der Schmerzstärke bzw. des Therapieerfolgs und evtl. Dosisanpassung bei Ineffektivität. Ausarbeitung eines schriftlichen Therapieplans für Patient und Angehörige 5 Therapieoptionen immer abwägen. Wie groß ist der Nutzen, wie groß ist die Belastung für den Patienten?
5 Daher sollte eine Abklärung der Symptome vor der Behandlung erfolgen (aber: keine belastende Diagnostik, bzw. nur
Reaktive Depressionen folgen oder begleiten oft die Schmerzsymptomatik. Die Bewusstwerdung der Krankheit wird oft durch den
Erwachsenen
8
„Tumorschmerz“ per se existiert nicht! Tumorschmerz ist die Folge verschiedener Ursachen, wobei man die psychologischen und emotionalen Aspekte der Schmerzgenese stets berücksichtigen muss. Dies bedeutet, den Patienten und sein soziales Umfeld in die Therapieplanung zu integrieren. Mit diesen Überlegungen besteht ein fließender Übergang zur Palliativmedizin, deren Hauptanliegen der Erhalt, bzw. die Optimierung der Lebensqualität ist. Auch diese wird umfassend gesehen, nämlich im Hinblick auf den Patient mit seinen Bedürfnissen in seinem Umfeld. Jeder Tumorschmerz verpflichtet zur Behandlung. Die Behandlung des Tumorschmerzes ist eine Notfallbehandlung. Etwa 50–80 % aller Krebspatienten leiden im fortgeschrittenen Stadium an Schmerzen. Über 80 % der Tumorpatienten kann durch eine effektive Schmerztherapie (=akzeptable Schmerzreduktion oder sogar Schmerzfreiheit) geholfen werden! Wichtige Fragen, die zu Beginn der Behandlung zu klären sind: 5 Ist der Patient über seine Erkrankung adäquat aufgeklärt? 5 Was sind die (schmerztherapeutischen) Therapieziele? Sind sie realistisch? 5 Welche Erwartung stellt der Patient an seinen (Schmerz-)Therapeuten? 8.1.1 Grundregeln der
Tumorschmerztherapie
> Unabdingbare Voraussetzung für eine
171
8.1 · Tumorschmerztherapie bei Erwachsenen
Schmerz eingeleitet und emotionale Bewältigungsprobleme oft durch Schmerzäußerungen ausgedrückt. Nicht die Änderung der Schmerzmedikation ist die notwendige Konsequenz, sondern das ausführliche, einfühlsame Gespräch mit dem Patienten. Erst wenn diese unterstützenden Gespräche erfolglos bleiben, sollten Anxiolytika und Antidepressiva eingesetzt werden. Durch adäquate Schmerztherapie kann nach Zech (1995) bei 76 % der Patienten ein guter, bei 12 % ein ausreichender und bei nur 12 % ein unzureichender Erfolg erreicht werden! 8.1.1.1 Wesentliche Gründe für
die Unterversorgung von Tumorschmerzpatienten
5 Schmerzdiagnose unkorrekt 5 Schmerzintensität unterschätzt 5 Dosierungsintervall zu lang 5 Dosierung zu niedrig 5 Bevorzugung niedrigpotenter Opioide 5 Falsche Angst vor Toleranz und Entzug 5 Falsche Angst vor Abhängigkeit 5 Unsicherheit im Umgang mit der BtMVV 5 Keine Koanalgetika eingesetzt 5 Keine Kotherapeutika eingesetzt 5 Spezielle schmerztherapeutische Verfahren, z. B. intrathekale Opioidapplikation, nicht bedacht 8.1.2 Ätiologie des
Tumorschmerzes
5 Tumorbedingte Schmerzen (60–90 %): – Infiltration oder Kompression von Nervengewebe – Weichteilinfiltration – Knochenmetastasen – Tumornekrosen an Schleimhäuten mit Ulzerationen und Perforation – Ausbildung eines Hirnödems – Pathologische Fraktur – Obstruktion von Hohlorganen
8
5 Therapiebedingte Schmerzen (10–25 %): – Schmerzen als Folge der Chemotherapie (Stomatitis, periphere Neuropathie, steroidbedingte Osteonekrose, Myositis mit Myalgie) – Schmerzen als Folge der Strahlentherapie (Osteoradionekrose, Myelopathie, Plexopathie) – Postchirurgische Schmerzsyndrome (Postmastektomiesyndrom, Postthorakotomiesyndrom, Stumpf- und Phantomschmerzen) 5 Tumorassoziierte Schmerzen (5–20 %): – Myofasziale Schmerzen bedingt durch statische Fehlhaltung nach Osteolysen oder Bestrahlung – Pilzinfektionen – Postzosterneuralgie (infolge geschwächter Immunabwehr) – Paraneoplastische Syndrome (Arthralgien, M. Raynaud, Myalgien) – Venenthrombose und Dekubitus 5 Tumorunabhängige Schmerzen (3–10 %): – Migräne, Spannungskopfschmerz – Rückenschmerzen – Arthritis etc. Die pathophysiologische Klassifikation der Schmerzursachen zeigt . Abb. 8.1. 8.1.3 Pathogenese
5 „Emotionale“ Schmerzen 5 Nozizeptorschmerzen 5 Neuropathische Schmerzen 5 Paraneoplastische Schmerzphänomene 8.1.3.1 Emotionale Schmerzen
Nicht immer bedeutet die Äußerung von Schmerz eine zunehmende Gewebeschädigung oder Irritation des Nervensystems durch den Tumor. Oftmals drückt der Patient unbewusst seine Hilflosigkeit und Ohnmacht gegenüber der Tumorerkrankung durch Schmerzäußerungen aus. Dies muss vom Schmerztherapeuten erkannt werden!
172
Kapitel 8 · Tumorschmerztherapie
Nozizeptorschmerz somatisch/viszeral Knochen Bänder Muskulatur Bindegewebe Hohlorgane viszeral Pleura Peritoneum Hohlorgane Parenchymat. Organe
Neuropathische Schmerzen Zentral Peripher Thalmus Nervenkompression
Tumorschmerzsyndrom
Gemischt Plexusinfiltration Sympathikus Postherpetische Neuralgie
Emotionaler Schmerz Angst Hilflosigkeit
. Abb. 8.1 Pathophysiologische Klassifikation der Schmerzursachen
Relief and Palliative Care) zur Tumorschmerztherapie besonders hervorgehoben: „Die Therapie anderer Symptome wie psychologischer, sozialer und seelischer Probleme ist von größter Bedeutung. Der Versuch, die Schmerzen zu therapieren, ohne sich den nicht physischen Bedürfnissen der Patienten zuzuwenden, wird voraussichtlich zu Frustrationen führen und scheitern.“ Das „Total-pain“-Konzept im Rahmen einer Tumorerkrankung von Cicely Saunders (. Abb. 8.2) zeigt die verschiedenen Aspekte, die bei der Empfindung „Schmerz“ eine Rolle spielen können. 8.1.3.2 Nozizeptorschmerzen
8 Es ist leichter, wegen Schmerzen als vor Hilflosigkeit zu weinen. Es ist leichter, Tabletten zu schlucken, als sich der Realität der finalen Erkrankung und all ihrer Auswirkungen zu stellen. Diesen emotionalen Schmerz kann man sehr gut mit dem Phänomen des „Heimwehs“ vergleichen. Auch das Heimweh lässt sich nicht mit Schmerzmedikamenten therapieren. Einzig sinnvolle Therapie ist die Lösung des Grundproblems. Übertragen auf die Tumorerkrankung bedeutet dies jedoch nicht, das unreflektierte Fortsetzen der spezifischen Tumortherapie. Hilfreich und wichtig sind eine fürsorgliche Unterstützung für Patient und Familie durch Hospiz- und Palliativarbeit. Der Patient und sein soziales Umfeld benötigen dann maximale Unterstützung in der Bewältigung dieser Probleme (Seelsorger, Psychologe, Mensch). In diesen Fällen keine Dosiserhöhung von Opioiden, kein Präparatewechsel, kein Umsteigen auf eine höhere WHOStufe oder auf invasive Techniken. Diese Aspekte werden auch in einer WHO-Empfehlung (1990 Report des WHO Expert Committee: Cancer Pain
Nozizeptorschmerzen entstehen durch direkte Irritation der Nervenendigungen (Nozizeptoren) im Gewebe, durch mechanische, thermische oder chemische Reize. Sie sind durch den Einsatz von Nichtopioiden und Opioiden (WHO-Stufenschema) meist gut beherrschbar.
Spirituelle Dimension
Soziale Dimension
Schmerz
Psychische Dimension
Physische Dimension
. Abb. 8.2 Total-pain-Konzept nach Cicely Saunders
8.1 · Tumorschmerztherapie bei Erwachsenen
8.1.3.3 Neuropathische Schmerzen
(7 Kap. 7)
Neuropathische Schmerzen entstehen durch Erkrankung oder Schädigung des peripheren oder zentralen Nervensystems. Sie sind nur im Ausnahmefall opioidsensibel und erfordern zwingend den Einsatz von Koanalgetika. 8.1.3.4 Paraneoplastische Schmerz
phänomene
Sie sind durch pathophysiologische Erkenntnisse allein nicht zu erklären. Angenommen wird eine zentrale oder humorale Ursache. 8.1.4 Diagnostik
Grundlage der Tumorschmerztherapie ist eine gezielte Schmerzanamnese und Diagnostik. Ziel ist es, das aktuelle Tumorstadium zu erfassen (Knochenmetastasen, Harnstau usw.). Nur so können die Schmerzsymptome bzw. neue Schmerzereignisse der Tumorerkrankung ursächlich zugeordnet und kausal oder symptomatisch behandelt werden. Nach einer gezielten Untersuchung können Schmerzen nach ihrer Genese behandelt werden. Wichtigstes differenzialdiagnostisches Instrument ist dabei die exakte Schmerzanamnese (7 Kap. 1), die Fragen nach Art, Dauer, Länge und Charakter des Schmerzes beinhaltet. Eine ausführliche Anamnese allein kann belastende Untersuchungen vermeiden. Es ist jedoch grob fahrlässig, bei Schmerzpatienten mit einer Tumoranamnese auf eine klärende bildgebende Diagnostik oder klärende Untersuchungen zu verzichten. ! In der Finalphase einer Tumorerkrankung soll auf überflüssige belastende Diagnostik ohne therapeutische K onsequenz verzichtet werden. Spätestens in der Finalphase müssen sonst reflexartig
8
173
a blaufende Diagnosevorgänge hinterfragt werden.
kritisch
8.1.5 Allgemeines zur
Tumorschmerztherapie
Man unterscheidet kausale und symptomatische Therapien. Zu den kausalen Therapien zählen die Chemo-/Hormontherapie, die Operation, die Bestrahlung und die Radionuklidtherapie. Symptomatische Therapien beschränken sich auf die Linderung der Symptome. Um alle kausalen Therapieoptionen auszuschöpfen, ist ein umfangreiches Spezialwissen nötig. Hier wird deutlich, dass Tumorschmerztherapie eine interdisziplinäre Aufgabe darstellt. 8.1.5.1 WHO-Stufenschema
5 Von der WHO im Jahre 1986 veröffentlicht 5 Prinzipiell solle mit der Stufe I begonnen und rasch durch stark wirksame Opioide der Stufe III ergänzt werden (. Abb. 8.3). > Die WHO-Stufe II ist für die Behandlung von Tumorschmerzen obsolet, die entsprechenden Opioide wirken zu wenig effektiv am Opioidrezeptor!
5 Das WHO-Schema orientiert sich nur an der Schmerzstärke und nicht an der Schmerzätiologie 5 Koanalgetika sollen bereits zu Beginn der Therapie und parallel eingesetzt werden 5 Nutzung aller Möglichkeiten der physikalischen Therapie für den Patienten 5 Jeder Tumorpatient soll die Möglichkeit einer psychoonkologischen Unterstützung erhalten. > Die Anwendung physikalischer Therapien sowie der gezielte Einsatz von Begleitmedikation und Koanalgetika,
174
Kapitel 8 · Tumorschmerztherapie
Stufe III Stufe II
Starke Opioidanalgetika
Stufe I
Schwache Opioidanalgetika
Nicht-Opioidanalgetika
z.B. Tramadol, Tilidin/Naloxon
z.B. Morphin, Oxycodon, Fentanyl, Hydromorphon, Buprenorphin
z.B. Metamizol, ibuprofen, Paracetamol, Diclofenac
+ Stufe I
+ Stufe I
Interventionelle Schmerztherapie, Opioidrotation Behandlung von Nebenwirkungen (Übelkeit und Erbrechen) Koanalgetika, Chemotherapie, Radiotherapie, ggf. Operation psychoonkologische Unterstützung, Zuwendung, physikalische Therapie
8
. Abb. 8.3 WHO-Stufenschema
eingebettet in eine ganzheitliche Patientenbetreuung inklusive Psychoonkologie, sind die tragenden Fundamente des WHO-Stufenschemas.
Viel zu oft werden die psychologischen und verhaltenstherapeutischen Möglichkeiten vernachlässigt. Die WHO weist ausdrücklich darauf hin, dass erfolgreiche Schmerztherapie nicht nur die physischen Aspekte von Schmerzen im Blick hat, sondern immer zusätzlich emotionale, soziale, psychologische Aspekte mit behandeln muss (. Abb. 8.2). Dies ist nicht alleine Aufgabe von Spezialisten, wie Psychologen und Seelsorgern, sondern die Aufgabe und der Auftrag an jede Berufsgruppe, die Tumorpatienten betreut. Dazu muss der Patient in seiner Gesamtheit und in seiner komplexen Ausnahmesituation begriffen und dementsprechend betreut, nicht lediglich therapiert, werden. Dabei ist menschliche Zuwendung speziellem medizinischem Wissen mindestens gleichwertig. Der offene, einfühlsame und ehrlich kommunikative Umgang mit dem Patienten, der auch eine „schlechte Nachricht“ mit einschließt, ist langfristig bei der B etreuung des Tumorpatienten der
aufrichtigere und bessere Weg und wird meist vom Patienten akzeptiert. Gleiches gilt auch für die Angehörigen des Patienten. 8.1.6 Nichtmedikamentöse
Therapie
8.1.6.1 Physikalische Therapie
Myogelosen als Folge übertragener viszeraler Schmerzen 7 Abschn. 4.7 oder als Folge primär ossärer Ursachen sind meist nicht durch Opioide oder Muskelrelaxanzien beeinflussbar. Hier helfen Wärmeanwendungen („heiße Rolle“, warme Wickel o. ä.) oder bei Lymphödemen eine Lymphdrainage jedoch keine Diuretikatherapie. 8.1.6.2 Psychoonkologische
Betreuung
Spezielle Verarbeitungsstrategien, Visualisierungsübungen, Krisenintervention durch qualifiziertes Personal. Ziel der psychoonkologischen Betreuung ist es, die Kompetenz des Patienten, mit der Krankheit klarzukommen, zu stärken. Man kann davon ausgehen, dass etwa
175
8.1 · Tumorschmerztherapie bei Erwachsenen
ein Drittel aller Krebspatienten infolge der schweren psychischen Belastung durch die z. T. jahrelang andauernde Grunderkrankung auch eine psychische Störung, z. B. Depression, Angststörung, Anpassungsstörung, entwickelt. 8.1.6.3 Nichtmedikamentöse,
adjuvante Tumorschmerztherapie
5 Chemo- und Hormontherapie: auch ohne morphologische Tumorregression oft guter analgetischer Effekt 5 Perkutane Radiatio von soliden Tumoren: nach 3 Wochen Eintritt des analgetischen Effekts, primär ggf. Schmerzzunahme durch Ödembildung 5 Perkutane Radiatio von Knochenmetastasten: analgetische Wirkung erfahrungsgemäß nach der Hälfte der applizierten Strahlendosis, zunächst ggf. Schmerzzunahme durch Ödembildung 5 Radioisotopengabe/Radionuklidtherapie: üblicherweise mit Anwendung von Strontium-89-Chlorid. Die Therapie hat eine Ansprechrate von bis zu 80 %, evtl. initiale Schmerzzunahme durch Ödembildung mit Schmerzreduktion nach 3–4 Wochen, die ca. 6 Monate anhält, evtl. Wiederholung 5 Antibiotikatherapie: bei superinfizierten Haut- und Weichteilmetastasen 8.1.7 Medikamentöse Therapie 8.1.7.1 Koanalgetika
In der Tumorschmerztherapie spielen Koanalgetika eine wesentlich Rolle. Oftmals kann nur durch den Einsatz dieser Medikamente eine adäquate Schmerzreduktion erzielt werden (z. B. bei neuropathischen Schmerzen). Häufig eingesetzt werden Antidepressiva, Antikonvulsiva, Antiarrhythmika und Clonidin, Bisphosphonate und Kortison haben einen festen Platz in der
8
Schmerztherapie von Knochenmetastasen (7 Kap. 2 Pharmakotherapie). 8.1.7.2 Nichtopioid- und
Opioidanalgetika
WHO-Stufe I WHO-Stufe I bei leichten Schmerzen ( 2–3) und schmerzbedingt eingeschränkter Nachtruhe sollten Medikamente der WHO-Stufe III, d. h. hochpotente Opioide, zur Anwendung kommen (. Tab. 8.1 und 8.2). Anmerkung: Bei Therapieerfolg, d. h. VAS 0–2, kann man abweichend von der Empfehlung der WHO versuchen, auf die Nichtopioide zu verzichten, um die ggf. aufgetretenen Nebenwirkungen dieser Substanzgruppe zu vermeiden. Sind in diesem Auslassversuch die Schmerzen mit Opioiden allein nicht beherrschbar, sollte das Nichtopioid wieder gegeben werden, die alternativ oft durchgeführte Fentanyl-Generikum-Pflaster sind zum Dosissteigerung des Opioids ist dann oft ! Teil ohne Beschriftung, d. h. verbunden nicht ausreichend. mit Dosisunsicherheit und VerwechsInsgesamt ist der Morphinverbrauch im lungsgefahr mit anderen transdermalen internationalen Vergleich in DeutschTherapiesystemen (z. B. Hormonpflaster). land eher gering (. Abb. 8.4). ! Achtung Applikationsformen der Opioide 5 Grundsätzlich ist die orale Applikationsform zu bevorzugen 5 Umsteigen auf andere Applikationsart, wenn:
Bei transdermaler Opioidtherapie unbedingt kontrollieren, ob die Angaben, welches Pflaster in welcher Dosierung geklebt ist mit 1. der Selbstauskunft des Patienten mit den Angaben in
177
8.1 · Tumorschmerztherapie bei Erwachsenen
8
. Tab. 8.1 Übersicht über nichtretardierte Opioidpräparate mit kurzer Wirkdauer Applikationsweg
Präparate
Dosierung
Oral
Morphin Merck Tropfen 0,5 %
1 ml (16 Trpf.) = 5 mg
Morphin Merck Tropfen 2 %
1 ml (16 Trpf.) = 20 mg
Sevredol 10, Sevredol 20
Tbl. à 10 mg, 20 mg
Palexia 2 %
1 ml = 20 mg
Palexia
Tbl. 50 mg
Oramorph
Tbl. bis 100 mg
Oxygesic akut
Kaps. à 5 mg, 10 mg, 20 mg
Oxygesic Dispersa
Schmelztabl. à 5 mg, 10 mg, 20 mg
Rektal
MSR 10, 20, 30 Supp
Supp. à 10, 20, 30 mg
s.c., i.m., i.v.
MSI 10, MSI 20 Injektionslösung
1 ml à 10 mg, 20 mg
Morphin Merck 10 mg, 20 mg
Für Pumpen und Portsysteme
Palladon inject
Amp. 10 mg/ml, 20 mg/2 ml
Oxygesic injekt
Amp. 10 mg/ml, 20 mg/2 ml
MSI 100, MSI 200 Amp.
Amp. 100 mg/5 ml
Morphin Merck 100 mg Amp.
Amp. 200 mg/10 ml
Palladon injekt Amp.
100 mg/10 ml
Oxygesic infusio Amp.
50 mg/ml
2. den schriftlichen Unterlagen (Arztbrief, Stationskurve) mit 3. dem tatsächlich auf dem Patienten applizierten Pflaster übereinstimmen. Ident sind diese Angaben höchst selten!
5 Keine Toleranzentwicklung gegenüber der analgetischen und obstipierenden Wirkung der Opioide, d. h. die oft notwendige Dosissteigerung ist meist durch Tumorprogression bedingt, und die Obstipationsprophylaxe muss dauerhaft eingenommen werden. Eine Toleranzentwicklung besteht jedoch bezüglich der sedierenden und atemdepressiven Wirkung der Opioide 5 Physische Abhängigkeit bei längerer Einnahme (>4–6 Wochen) von Opioiden, darum langsame Dosisreduktion entspre-
chend der HWZ des eingesetzten Opioids: 10–20 % Dosisreduktion pro 1–3 Tage 8.1.8 Therapie des
Durchbruchschmerzes
Nahezu alle Patienten berichten über Durchbruchschmerzen, d. h. nicht vorhersehbare, heftigste Schmerzattacken, die eine dramatische Verschlechterung der Lebensqualität bedeuten. Tumordurchbruchschmerzen treten unabhängig von der Tumorart und der Basismedikation auf, besonders häufig sind jedoch Patienten mit Knochenmetastasen betroffen. Obwohl es bisher keine allgemein gültige Definition gibt, zeichnen sich diese extrem schmerzhaften Episoden durch gut abgrenzbare Charakteristika aus: 5 Plötzliches, überwiegend unvorhersehbares Einsetzen
178
Kapitel 8 · Tumorschmerztherapie
. Tab. 8.2 Auswahl stark wirksamer Opioide (retardierte und nichtretardierte Formulierung)
8
Wirkstoff
Präparat
Darreichungsform
Applikationsweg
Dosierungs intervall
Äquipotenzdosierung
Buprenorphin
Temgesic
Amp. à 0,3 mg
s.c., i.m., i.v.
6–8 h
0,3 mg Temgesic i.v. = 10 mg Morphin i.v.
Tbl. à 0,2 mg
s.l.
6–8 h
1 Tbl. Temgesic = 10 mg Morphin p.o.
Forte-Tbl. à 0,4 mg
s.l.
Bei Bedarf
1 Tbl. Forte = 20 mg Morphin p.o.
Transtec
Pflaster à 35, 52,5 und 70 µg/h
Transdermal
72 h
Buprenorphin = 70– 100 × Morphin
Levomethadon
L-Polamidon
Tbl. à 2,5 mg
p.o.
6–8 h
2,5 mg L-Polamidon = 10 mg Morphin p.o.
Oxycodon
Oxygesic
Tbl. à 10, 20, 40 und 80 mg
p.o.
12 h
Oxygesic akut
Tbl. à 5, 10, 20 mg
p.o.
4 h
10 mg Oxycodon p.o. = 20 mg Morphin p.o.
Oxygesic Dispersa
Schmelztbl. à 5, 10, 20 mg
p.o.
4 h
Palladon
Retardkaps. à 4, 8, 16, 24 mg
p.o.
12 h
Palladon akut
Tbl. à 1,3 und 2,6 mg
p.o.
4 h
Palladon
Amp. à 2 mg, 10 mg, 100 mg
s.c., i.m.
Bei Bedarf
Durogesic, Matrifen
12, 25, 50, 75 und 100 µg/h
Transdermal
(48–)60– 72 h
Hydromorphon
Fentanyl
Trpf.: 1 ml = 5 mg
5 Schnell ansteigende Schmerzintensität innerhalb von 3–5 min bis zum Maximum 5 Schmerzintensität stark bis sehr stark, häufig bei 6–7 auf der visuellen Analogskala (VAS) 5 Durchschnittliche Dauer 30–60 min
7,5-fache Potenz im Vergleich zu Morphin
60 mg Morphin oral = 25 µg/h; dann je weitere 60 mg Morphin plus 25 µg/h
5 Durch Opioidbasistherapie nicht kontrollierbar 5 Bis zu 7 Attacken pro Tag Entscheidend für die effektive Therapie von Tumordurchbruchschmerzen ist die Abgrenzung zu neuropathischen
8
179
8.1 · Tumorschmerztherapie bei Erwachsenen
83
Dänemark 49
Schweden 30
Großbritannien
28
Frankreich 22
Norwegen Schweiz
16
Österreich
16 12
Niederlande
10
Deutschland 0
25
50 75 Morphinverbrauch [kg/1 Mio. Einwohner]
100
. Abb. 8.4 Morphinverbrauch im Jahr 2000 im europäischen Vergleich. Angaben lt. International Narcotics Control Board 2002
chmerzattacken sowie zu Schmerzen, die S am Ende eines Einnahmeintervalls auftreten („end of dose failure“). Letztere erfordern keine Bedarfsmedikation, sondern eine bessere Verteilung der Retardpräparate zur Abdeckung des Bedarfs über den Tag und in der Nacht. Ursache neuropathischer Schmerzen sind Läsionen an oder Erkrankungen des peripheren oder zentralen Nervensystems. Diese Schmerzen können sich als schneidende, brennende oder dumpfe Dauerschmerzen oder als blitzartig einschießende, elektrisierende Schmerzattacken für wenige Sekunden bis einige Minuten Dauer äußern. Auch neuropathische Schmerzattacken sind mit Bedarfsopioiden nicht ausreichend behandelbar, sondern erfordern die Therapie mit Koanalgetika. 73 % der Durchbruchschmerzen sind kürzer als 30 min und 93 % der Durchbruchschmerzen sind kürzer als 60 min. Um eine unnötige Übertherapie zu vermeiden, sollte eine adäquate Therapie dieser Durchbruchschmerzen mit „rapid onset opioids“ (ROO) erfolgen (7 Kap. 2).
Zudem sollte das ideale Medikament sehr rasch wirken und einfach anwendbar sein. 8.1.9 Therapie der
Opioidnebenwirkungen
8.1.9.1 Nebenwirkungen von
Opioiden
Gemäß Fachinformation: 5 Sehr häufig (>10 %): – Miosis – Obstipation bis zu 100 % (keine Toleranz); Gabe von Laxanzien obligat – Übelkeit und Erbrechen (ca. 20 %) – Sedierung (initial bis zu 20 %) – Stimmungsänderungen, meist Euphorie, aber auch Dysphorie 5 Häufig (1–10 %): – Schwitzen: Abhilfe durch Anticholinergika (Neuroleptika, Antidepressiva), Antihyperhidrotikum (Salbeitee, Tbl., Ganzköperwaschung: 2 EL Salbei auf 4–5 l Wasser) – Übelkeit, Erbrechen, Dyspepsie
180
Kapitel 8 · Tumorschmerztherapie
– Appetitlosigkeit – Urtikaria, Pruritus – Kopfschmerzen, Schwindel – Verwirrtheit (ca. 2 %) und Halluzinationen (bis zu 1 %), dann Dosisreduktion und Opioidrotation und erneut langsame Dosiserhöhung – Hypoaktivität – Schlaflosigkeit – Harnverhalt: Absetzen von anticholinerg wirkenden Substanzen, ggf. Opioidrotation 8.1.9.2 Therapie- und
Prophylaxemöglichkeiten
8
Antiemetika Bei Übelkeit Gabe von Antiemetika, z. B.: 5 Domperidon (Motilium): 3- bis 4-mal 20 mg p.o (wirkt nur auf die opioidinduzierte Magenentleerungsstörung, nicht auf die zentralnervöse Übelkeit!)
oder Prednison (Decortin) 3-mal 50– 250 mg i.v. 5 Dronabinol: initial 3 Tropfen (=0,1 ml = 2,5 mg) 2-mal täglich, langsame Steigerung sinnvoll Bei Erbrechen während der Tumorschmerztherapie und der Bestrahlung empfiehlt sich auch ein Therapieversuch mit Serotoninantagonisten: 5 Tropisetron (Navoban): 1- bis 2-mal 5 mg p.o. 5 Granisetron (Kevatril): 2- bis 3-mal 2–3 mg p.o. 5 Alizaprid (Vergentan): 4-mal 50–200 mg p.o. bzw. i.m. 5 Ondansetron (Zofran): 2 mal 4–8 mg p.o. oder lingual als Schmelztablette (Zofran Zydis®) Bei therapierefraktärem Erbrechen Versuch mit: 5 Promethazin (Atosil): 2- bis 3-mal 25 mg
! Domperidon wirkt nur auf die opioidinduzierte Magenentleerungsstörung, nicht auf die zentralnervöse Übelkeit!!
Obstipationstherapie/-prophylaxe mit Laxanzien
5 Metoclopramid (MCP): 3- bis 4-mal 10 mg/d p.o. oder i.v. 5 Haloperidol (Haloperidol ratiopharm Trpf., Haldol Janssen): 3-mal 0,5–1 mg (5–10 Trpf.) vor dem Essen bzw. 0,5–2,5 mg alle 8–12 h. In einem Rote-Hand-Brief 2017 wurde die Indikation „Erbrechen“ für die orale Applikation gestrichen, nicht jedoch für die Injektionslösung! 5 Dimenhydrinat (Vomex Supp. 150 mg): Jugendliche ab 14 Jahre und Erwachsene 1- bis 3-mal 1 Supp. pro Tag oder notfalls unter stationären Bedingungen 1 Amp. (=62 mg) i.v. – Nebenwirkungen: leicht sedierend, extrapyramidale Dyskinesien, irreversible Spätdyskinesien, Parkinsonoidsyndrom 5 Glukokortikoide: Dexamethason (Fortecortin) 2- bis 3-mal 4–8(–16) mg/Tag
Bei Obstipation Gabe z. B. von: 5 Laktulose (Bifiteral): 5 osmotisch wirksam, regt als Quellmittel mechanisch die Peristaltik an – Granulat oder Sirup initial 3-mal 1 EL, dann nach Stuhlkonsistenz und Frequenz – Kinder 3 Jahre 3-mal 5 ml initial 5 Macrogol (Movicol): 5 osmotisch wirksam, regt als Quellmittel mechanisch die Peristaltik an Biologisch inerte Substanz, deshalb kein Abbau im Darm, keine Resorption, keine Fermentation durch die Darmflora – Wird nach Auflösung in 125 ml Wasser getrunken – Bindung von Wasser, verhärtete Fäzes werden aufgeweicht – Erwachsene und Kinder ab dem 14. Lebensjahr initial 2- bis 3-mal
8.1 · Tumorschmerztherapie bei Erwachsenen
1 Beutel/Tag, dann 1 Beutel/Tag bzw. je nach Stuhlkonsistenz bis 3 Beutel/Tag 5 Bisacodyl (Dulcolax): 5 Wirkung im Rektum, wird nach enterohepatischem Kreislauf von den Darmbakterien zu Diphenolen metabolisiert, die eine erhöhte Motilität des Rektums bewirken – 1–2 Drg. (=5–10 mg) abends, Wirkungseintritt nach etwa 6–12 h; nüchtern eingenommen erfolgt der Wirkungseintritt nach etwa 5 h – 1 Supp. (=10 mg) führt kurzfristig – nach 15–30 min – zu einer Entleerung des Rektums 5 Natriumpicosulfat (Laxoberal): 5 Wirkung im Rektum, unterliegt NICHT dem enterohepatischem Kreislauf, wird von den Darmbakterien zu Diphenolen metabolisiert, die eine erhöhte Motilität des Rektums bewirken – 1–2 Tbl. bzw. 10–20 Trpf. (=5– 10 mg); Wirkungseintritt nach ca. 6 h – Kinder ab dem 4. Lebensjahr 4–8 Trpf./Tag 5 Trockenextrakt aus Alexandrinischen Sennafrüchten (Liquidepur N Lösung): 5 Sennosiduide sind Prodrugs, im Colon und im Rektum werden Aglykone abgespaltet. Diese bewirken eine verstärkte Sekretion von Flüssigkeit und Elektrolyten in das Darmlumen, wirken propulsiv UND hemmen die Flüssigkeitsresorption – ab dem 12. Lebensjahr 1 TL/Tag abends; bei hartnäckiger Obstipation ausnahmsweise 3-mal 1 TL/Tag 5 Paraffin (Obstinol M): Gleitmittel – 1–2 Messbecher (=30–60 ml) bei Bedarf, – Nebenwirkungen: Fremdkörpergranulome, Resorptionsstörungen von fettlöslichen Vitaminen, Gefahr der Aspirationspneumonie 5 Rizinusöl (Laxopol, Ricini oleum): relaxiert die glatten Muskelzellen im Darm
181
8
5 Öl der Samen des tropischen Wunderbaums (Ricinus communis) – als Kapsel (meist 0,5 g oder 1 g/Kapsel) oder reines Öl (10–30 ml) zum Einnehmen – Eintritt der Wirkung 2 bis 4 h nach Einnahme 5 CO2-produzierende Suppositorien (Lecicarbon): 5 Enthält Sojalecithin; die Zäpfchen produzieren im Rektum CO2, das die Peristaltik anregt. Wirkbeginn 15–30 Min nach Einführen. 1 Supp. bei Bedarf, für Kinder 4 erforderlich. Mit steigender Punktzahl nimmt die Dringlichkeit zu. 8.2.3 Nichtmedikamentöse
Schmerztherapie
5 Kinder mit Schmerzen brauchen Aufmerksamkeit, d. h. möglichst viel Zeit mit dem Kind verbringen; dadurch wird eine Schmerzeinschätzung auch besser möglich 5 Kindgerechte Informationen über den zu erwartenden spezifischen Schmerz mitteilen. Information auch an die Eltern 5 Kontroll- und Wahlmöglichkeiten dem Kind überlassen (z. B. Bestimmung der
Punktionsstelle oder der Person, die das Kind zur Lumbalpunktion festhalten darf, durch das Kind selbst) 5 Vorbereitung von Eltern und Kind auf schmerzhafte Eingriffe 5 Kinder nehmen Lügen durch ärztliches oder pflegerisches Personal persönlich: „tut gar nicht weh“, stimmt oft nicht! 5 Kindgerechte Umgebung 8.2.4 Medikamentöse
Schmerztherapie
8.2.4.1 Grundprinzipien
5 Berücksichtigung des W HOStufenschemas 5 Ein frühzeitiges Umsteigen auch auf starke Opioide ist oft erforderlich weil: – Starke Schmerzen in der Kinderonkologie häufig sind – Nebeneffekte der Nichtopioidanalgetika (Fiebersuppression und Gerinnungshemmung) vermieden werden müssen 5 Bei Nebenwirkungen der Opioide (Übelkeit, Obstipation) ist auch die Kombination von 2 Nichtopioidanalgetika möglich 5 Möglichst nichtinvasive Applikation der Analgetika (oral/transdermal) 5 Dauermedikation für Dauerschmerz und zusätzlich Bedarfsmedikation verordnen 5 Prophylaktische Therapie der Obstipation
Wie stark sind Deine Schmerzen? Wie fühlst Du Dich heute mit Deinen Schmerzen?
VAS:
1–2
-----------
3–4
-----------
. Abb. 8.5 Smiley-Analogskala. (Aus Pioch 2005)
5–6
-----------
7–8
-----------
9–10
187
8.2 · Tumorschmerztherapie in der Pädiatrie
5 Berechnung der Dosis in mg/kg KG bis zu einem Körpergewicht von 50 kg 5 Neugeborene und Säuglinge haben eine besondere Empfindlichkeit hinsichtlich der atemdepressiven Nebenwirkung von Opioiden
8
Ibuprofen und Diclofenac
Die Dosierungsempfehlungen der einzelnen Präparate sind in . Tab. 8.5 dargestellt.
5 Vorteile: – Gute Analgesie durch antiphlogistischen Effekt, v. a. bei Knochenschmerzen 5 Nachteile: – Passagere Thrombozytenaggregationshemmung – Serumspiegelerhöhung von Digoxin und Methotrexat
Paracetamol
Metamizol
8.2.4.2 WHO-Stufe I
5 Vorteile: – Keine Beeinflussung der Plättchenaggregation – Keine gastrointestinalen Mukosaschäden – p.o., als Suppositorium und i.v. applizierbar 5 Nachteile: – Geringe therapeutische Breite – Lebertoxizität ab 150 mg/kg KG pro Tag bzw. ab 100 mg/kg KG Einzeldosis (Antidot: Acetylcystein)
5 Vorteile: – Spasmolytischer Effekt – Keine Beeinflussung der Thrombozytenaggregation – p.o. und i.v. applizierbar 5 Nachteile: – Antipyretische Wirkung (lässt Infektionen in der Aplasie schwerer erkennen) – Kreislaufdepression bei schneller intravenöser Gabe – Absinken des Ciclosporin-Spiegel
Acetylsalicylsäure (ASS)
8.2.4.3 WHO-Stufe II
Aufgrund der irreversiblen Thrombozytenaggregationshemmung und der Gefahr eines Reye-Syndroms obsolet.
Tramadol 5 Weniger Übelkeit als bei Erwachsenen
. Tab. 8.5 WHO-Stufe I: Dosierungsempfehlungen der einzelnen Präparate Medikament
Applikation
Einzeldosis
Dosisintervall [h]
Tageshöchstdosisa [mg/kg KG]
Paracetamol
p.o., Supp.
15 mg/kg KG „loading dose“ zu Beginn der Therapie: 30 mg/kg KG
(4–)6
2 Jahre: 90
i.v. als Kurzinfusion
15 mg/kg KG Keine „loading dose“
6
60
Diclofenac
p.o., Supp.
1 mg/kg KG
(6–)8
3
Ibuprofen
p.o., Supp.
10 mg/kg KG
6(–8)
40
Metamizol
p.o., Supp., i.v. als Kurzinfusion über 15 min, max. 0.5 g/min!
15 mg/kg KG
4(–6)
75
a
bis 50 kg KG
188
Kapitel 8 · Tumorschmerztherapie
5 Ab 10 mg/kg KG/Tag ist ein Wechsel auf ein hochpotentes Opioid sinnvoll 5 p.o. und i.v. applizierbar. 8.2.4.4 WHO-Stufe III
5 Der primäre Einsatz starker Opioide ist bei starken Schmerzen die Regel 5 Morphin ist das Standardopioid 5 Säuglinge unter 6 Monaten erhalten primär nur 1⁄3 der angegebenen Startdosis mit nachfolgender Dosistitration 5 Die Bedarfsmedikation beträgt 1⁄6 der Tagesdosis 5 Dosisreduktion bei Therapiedauer über 5 Tage: langsame Dosisreduktion über 4 Tage um jeweils 25 %
5 Dosisreduktion bei längerer Therapiedauer: langsame Dosisreduktion über bis zu 2 Wochen, jeweils 20 % in den ersten 2 Tagen, danach jeweils 10 % täglich 5 Die Dosierungsempfehlungen der einzelnen Präparate sind dargestellt in . Tab. 8.6.
Morphin 5 Vorteile: – Keine obere Dosisgrenze, Titration nach Wirkung – Rektale Bioverfügbarkeit schwer vorhersehbar (30–70 %) – Oral, rektal, parenteral (s.c., i.v.) applizierbar
8 . Tab. 8.6 WHO-Stufe III: Dosierungsempfehlungen der einzelnen Präparate Medikament
Applikation
Übliche Startdosis 50 kg KG
Dosisverhältnis i.v.: p.o
Morphin
i.v.
Bolus 0,05–0,1 mg/kg KG alle 2–4 h
5–10 mg alle 2–4 h
1:3
PCA-Bolus: 0,02 mg/ kg KG
PCA-Bolus: 1 mg
p.o.
Unretardiert: 0,15–0,3 mg/ kg KG alle 4 h
Unretardiert: 5–10 mg; alle 4 h
i.v.
0,015 mg/kg KG alle 4–6 h
1–2 mg alle 4–6 h
p.o.
Unretardiert: 0,04 mg/ kg KG alle 6 h
Unretardiert: 1,3– 2,6 mg alle 6 h
Retardiert: 0,06 mg/kg KG alle 8–12 h
Retardiert: 4 mg alle 8–12 h
0,05–0,1 mg/kg KG alle 4–6 h
5–10 mg alle 4–6 h
PCA-Bolus: 0,025 mg/ kg KG
PCA-Bolus: 1,0 mg
i.v.
0,003–0,006 mg/kg KG; alle 6–8 h
0,2–0,3 mg; alle 6–8 h
s.l.
0,003–0,006 mg/kg KG alle 6–8 h
0,2–0,3 mg alle 6–8 h
i.v.
1 mg/kg KG alle 3–4 h
50–100 mg alle 3–4 h
p.o.
Unretardiert: 1 mg/kg KG; alle 3–4 h;
Unretardiert: 50– 100 mg alle 3–4 h;
Retardiert: 2 mg/kg KG alle 8–12 h
Retardiert: 100– 300 mg alle 8–12 h
Hydromorphon
Piritramid
Buprenorphin
Tramadol
i.v.
1:2
–
–
1:1,5
189
8.2 · Tumorschmerztherapie in der Pädiatrie
– Oral retardierte Substanzen (bis 24 h Wirkung) – PEG-gängiges Granulat – Spinal 100-fache Wirkung, peridural 10-fache Wirkung im Vergleich zur intravenösen Gabe 5 Nachteile: – Kumulation von Morphin-6 Glukuronid bei Niereninsuffizienz
Hydromorphon 5 Vorteile: – Keine aktiven Metaboliten – Alternativpräparat zu Morphin bei Niereninsuffizienz oder Morphinnebenwirkungen – p.o. und i.v. applizierbar (retardierte Substanzen verfügbar) – Retardierte Substanz PEG-gängig (die Pellets der Palladon-Kapseln behalten ihre retardierte Wirkung)
Piritramid 5 Nachteile: – Nur i.v. applizierbar
– Lässt sich nicht mit anderen Substanzen in Infusionslösungen mischen
Fentanyl 5 Vorteile: – Transdermal applizierbar – Transmukosal applizierbar: „FentanylLolly“ Actiq, Abstral, Effentora, – Transnasal applizierbar: Instanyl, PecFent
Buprenorphin 5 Vorteile: – Transdermal, transmukosal und i.v. applizierbar – Metabolisierung unabhängig von der Nierenfunktion 5 Nachteile: – µ-Partialagonist und κ-Antagonist, deshalb mögliche Kompatibilitätsprobleme mit reinen µ-Agonisten – Fraglicher Ceilingeffekt – Höchste Rezeptoraffinität, Buprenorphin kann nur mit höchsten Dosen von Naloxon (5–10 Amp. Naloxon à 0,4 mg) antagonisiert werden
. Tab. 8.7 Therapie der Opioidnebenwirkungen in der pädiatrischen Tumorschmerztherapie Medikament
Dosis
Applikationsform
1–2 mg/kg KG alle 6–8 h
i.v.
5 mg/kg KG alle 6–8 h
p.o., Supp.
Übelkeit Dimenhydrinat
8
Tageshöchstdosis: 2–6 Jahre: 75 mg; 6–12 Jahre: 150 mg Domperidon
0,3 mg/kg KG = 1 Trpf./kg KG alle 6–8 h; maximal 33 Trpf./Dosis
p.o.
Ondansetron
0,17 mg/kg KG alle 12 h; Höchstdosis 8 mg
i.v./p.o.
Laktulose
3 Jahre: 3-mal 5–10 ml
p.o.
Macrogol
0,8 g/kg KG/Tag
p.o.
Natriumpicosulfat
>4 Jahre: 4–8 Trpf. in 24 h >12 Jahre: 10–18 Trpf. in 24 h
p.o.
Obstipation
190
Kapitel 8 · Tumorschmerztherapie
. Tab. 8.8 Koanalgetika in der pädiatrischen Tumorschmerztherapie Medikament
Dosis
Indikationen
S-(+)Ketamin
0,5–3 mg/kg KG/Tag i.v.
Neuropathischer Schmerz Schmerzhafte Eingriffe Palliative Sedierung (in Kombination mit Midazolam)
8
Gabapentin
Schrittweise aufdosieren innerhalb von 3–7 Tagen auf 15–30 mg/kg KG/Tag p.o. in 3 ED Maximal 60 mg/kg KG/Tag Maximale Erwachsenendosis: 3600 mg/Tag
Einschießende neuropathische Schmerzen
Amitriptylin
Therapiebegin mit 0,2 mg/kg KG/Tag p.o. abends Steigern über 2–3 Wochen (alle 2–3 Tage um 25 %) Zieldosis: 1 mg/kg KG/Tag bzw. wirksame Dosis
Brennende neuropathische Schmerzen Phantomschmerzen Schmerzbedingte Schlafstörungen
Promethazin
0,2–0,5 mg/kg KG p.o. oder i.v. alle 6 h
Starke Übelkeit, Erbrechen Dyspnoe Akute Agitiertheit
Lorazepam
0,01–0,02 mg/kg KG alle 8–12 h p.o. Maximale ED 0,05 mg/kg KG
Schlafstörungen Krampfanfälle Angst CAVE: paradoxe Reaktion und Atemdepression bei Kindern!
8.2.4.5 Therapie der
Opioidnebenwirkungenund Koanalgetika
Die Therapie der Opioidnebenwirkungen zeigt . Tab. 8.7. Adjuvante Schmerzmedikamente sind in . Tab. 8.8 dargestellt.
Literatur Pioch E (2005) Schmerzdokumentation in der Praxis. Springer, Berlin
191
Kopf- und Gesichtsschmerz Inhaltsverzeichnis 9.1 Einteilung – 194 9.2 Erfassung der Kopf- bzw. Gesichtsschmerzform – 194 9.3 Migräne – 195 9.3.1 Einteilung – 195 9.3.2 Pathogenese – 195 9.3.3 Klinik – 196 9.3.4 Begleitsymptome – 197 9.3.5 Sonderformen der Migräne – 197 9.3.6 Diagnostik – 197 9.3.7 Akuttherapie – 197 9.3.8 Behandlung von Migräneattacken als Notfall – 203 9.3.9 Interventionelle und neuromodulierende Verfahren zur Migränetherapie – 203 9.3.10 Prophylaxe der Migräne – 203 9.3.11 Behandlung bei menstrueller Migräne – 207 9.3.12 Migräne in der Schwangerschaft – 208 9.3.13 Status migraenosus – 209 9.3.14 Migräne bei Kindern – 209
9.4 Kopfschmerz vom Spannungstyp – 210 9.4.1 Einteilung – 210 9.4.2 Klinik – 210 9.4.3 Diagnostik – 211 9.4.4 Akuttherapie – 211 9.4.5 Prophylaxe – 212
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Benrath et al., Repetitorium Schmerztherapie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61783-0_9
9
9.5 Trigeminoautonomer Kopfschmerz (TAK) – 212 9.5.1 Clusterkopfschmerz – 212 9.5.2 Paroxysmale Hemikranie – 215 9.5.3 Hemicrania continua – 215 9.5.4 SUNCT-Syndrom/SUNA-Syndrom – 215
9.6 Gutartige belastungsabhängige Kopfschmerzsyndrome – 215 9.7 Primär stechender Kopfschmerz – 216 9.8 Kopfschmerz bei Übergebrauch von Schmerz-, bzw. Migränemitteln – 216 9.8.1 Klinik – 216 9.8.2 Diagnostik – 216 9.8.3 Risikofaktoren – 217 9.8.4 Therapie – 217 9.8.5 Prophylaxe – 218
9.9 Zervikogener Kopfschmerz – 218 9.9.1 Pathophysiologie – 218 9.9.2 Diagnostik – 218 9.9.3 Therapie – 218
9.10 Riesenzellarteriitis (RZA) – 219 9.10.1 Allgemeines – 219 9.10.2 Klinik – 219 9.10.3 Diagnostik – 219 9.10.4 Therapie – 220
9.11 Trigeminusneuralgie – 220 9.11.1 Pathophysiologie – 221 9.11.2 Diagnose – 221 9.11.3 Differenzialdiagnose – 221 9.11.4 Therapie – 222
193
9.12 Postpunktioneller Kopfschmerz – 222 9.12.1 Klinik – 223 9.12.2 Diagnostik – 223 9.12.3 Therapie – 223 9.12.4 Prophylaxe – 223
9.13 Anhaltender idiopathischer Gesichtsschmerz – 223 9.13.1 Charakteristik – 223 9.13.2 Klinik – 224 9.13.3 Diagnose – 224 9.13.4 Differenzialdiagnose – 224 9.13.5 Therapie – 225
Literatur – 225
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Benrath et al., Repetitorium Schmerztherapie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61783-0_9
194
Kapitel 9 · Kopf- und Gesichtsschmerz
9.1 Einteilung
9
Der Kopfschmerz (KS) wird nach der International Headache Society (IHS) in 14 Hauptgruppen mit insgesamt 212 Kopfschmerzformen eingeteilt (International Classification of Headache Disorders ICHD-3, 2018) 5 Teil 1: Primäre Kopfschmerzerkrankungen (92 %, ohne zugrunde liegende organische Erkrankung) – Migräne (Prävalenz 10–16 %) – Kopfschmerz vom Spannungstyp (Prävalenz episodisch bis zu 60 %, chronisch 5 Die spezifische Migränetherapie erfolgt mit Triptanen! 5 Dihydroergotamin, Ergotamin oder Ergotamin + Koffein sind in der modernen Migränetherapie wegen ihrer Nebenwirkungen und Risiken obsolet. 5 Keine Indikation für Opiate!
Wichtige Anmerkungen zur Einnahme von Triptanen 5 Möglichst früh, solange der Kopfschmerz noch leicht ist, aber nach Abklingen der Auraphase, Wirksamkeit
199
9.3 · Migräne
9
Akutmedikation zur Behandlung von Migräneattacken
Therapie von Übelkeit/ Erbrechen:
Analgetika-Therapie: - ASS 1000 mg (Ass 900 mg + MCP 10 mg) p.o. - Ibuprofen 200 mg/400mg/600 mg p.o. - Metamizol 1000 mg p.o. - Diclofenac-Kalium 50 mg/100 mg p.o. - Kombinationsanalgetika: 2 Tabletten ASS 250 mg/265 mg + Paracetamol. 200 mg/265 mg + Koffein 50 mg/65 mg
bei KI gegen NSAR: Paracetamol 1000 mg oder Metamizol 1000 mg p.o.
Für die (mittel-) schwere Migräneattacke und bei (bekanntem) fehlendem Ansprechen auf Analgetika
Metoclopramid 10 mg p.o./ ggf/ supp oder Domperidon 10 mg p.o.
Triptan-Therapie: schneller Wirkeintritt: - Sumatriptan 6 mg s.c. - Eletriptan 20 mg/40 mg/80 mg p.o. - Rizatriptan 5 mg/10 mg p.o. - Zolmitriptan 5 mg nasal mittelschneller Wirkeintritt & länger anhaltende Wirkung: - Sumatriptan 50 mg/100mg p.o. - Zolmitriptan 2,5 mg/5 mg p.o. - Almotriptan 12,5 mg p.o. langsamer Wirkeintritt mit lang anhaltender Wirkdauer: - Naratriptan 2,5 mg p.o. - Frovatriptan 2,5 mg p.o.
falls Monotherapie unzureichend: Triptan + NSAR
Bei Wiederkehr-Kopfschmerz: erneute Einnahme eines Tripatans nach frühestens 2 h order initiale Kombinationstherapie Triptan + lang wirksame NSAR (z.B.Naproxen) Notfall-Akutmedikation bei Migräneattacken
Metoclopramid 10 mg i.v.
Lysin-Acetylsalicylat 1000 mg i.v.
oder
Sumatriptan 6 mg s.c.
. Abb. 9.2 Akutmedikation zur Behandlung von Migräneattacken (Diener, H.-C. et al., aus S1-Leitlinie der DGN 030–057 von 2018)
200
Kapitel 9 · Kopf- und Gesichtsschmerz
. Tab. 9.2 Übersicht über die Triptane. (Mod. nach Ferrari et al. 2001)
9
Substanz Bemerkung
Wirkbeginn
HWZ [h]
Bioverfügbarkeit [%]
Effektivitäta [%]
Wiederauftreten der Kopfschmerzen nach 2 h [%]
Sumatriptan p.o. (z. B. Imigran) 50 und 100 mg wirken bei höherer NW-Rate stärker als 25 mg
Verzögert (45– 60 min)
2
14
50–60 % (nach 100 mg)
32
Sumatriptan s.c. (Imigran Inject mit Pen) wirksamste Attackentherapie
Extrem schnell (10 min)
k.A
96
70–80 %
k.A
Sumatriptan nasal (Imigran Nasenspray)
Sehr schnell (15 min)
k.A
16
65
k.A
Zolmitriptan (AscoTop oder Zomig)
Oral: verzögert (45–60 min)
2
48
25 (nach 2,5 mg)
31
Nasal: sehr schnell (15 min)
3
k.A.
32 (nach 5 mg)
28
Rizatriptan (Maxalt) mit Eletroptan wirksamstes orales Triptan in Metaanalysen
sublingual schnell (30 min)
2,5
45
31 (nach 5 mg)
40
Naratriptan (Formigran oder Naramig)
Verzögert (45– 60 min)
6
40 (nach 10 mg)
70
23
25
9
201
9.3 · Migräne
. Tab. 9.2 (Fortsetzung) Substanz Bemerkung
Wirkbeginn
HWZ [h]
Bioverfügbarkeit [%]
Effektivitäta [%]
Wiederauftreten der Kopfschmerzen nach 2 h [%]
Eletriptan (Relpax) mit Rizatriptan wirksamstes orales Triptan in Metaanalysen; mit Almotriptan bestes Nebenwirkungsprofil
Schnell (30 min)
5
ca. 50
31 (nach 40 mg)
31
35 (nach 80 mg)
24
Almotriptan (Almogran) mit Eletriptan bestes Nebenwirkungsprofil
Verzögert (45– 60 min)
3,5
70
35
28
Frovatriptan (Allegro oder Tigreat) längste HWZ
Verzögert (30– 120 min)
26
22–30
12
17
aSchmerzreduktion
von schwer nach mittelschwer bzw. mittelschwer nach leicht
dann erhöht im Vgl. zu späterer Einnahme 5 Nicht mehr als zweimal pro Tag 5 Maximal an 3 aufeinanderfolgenden Tagen 5 Maximal 10 Einnahmetage pro Monat. Cave: Medikamentenübergebrauchs-KS! 5 Zugelassene Altersgruppe: Patienten zwischen 18 und 65 Jahren 5 Nebenwirkungen mit 2–5 % gering: Hitzegefühl, Müdigkeit, Nackenschmerzen, Parästhesien der Extremitäten, Engegefühl des Thorax 5 Kontraindikation: KHK, unzureichend behandelte Hypertonie, Angina pectoris, Myokardinfarkt in der Anamnese, M. Rainaud, pAVK, TIA, Apoplex, Schwangerschaft, Stillzeit, schwere
eber- oder Nierenisuffizienz, vaskuläre L Risikofaktoren wie Hyperlipidämie 5 Triptane sind „schmerzfrei nach 2 Stunden“ als Endpunkt von Studien wirksamer als Nicht-Opioide 5 am besten untersucht ist die Kombination Sumatriptan und Naproxen (NNT 4,9) Derzeit gibt es 7 Triptane auf dem deutschen Markt:
Sumatriptan (z. B. Imigran) 5 Ältestes Präparat, seit 1993 zugelassen 5 Dosis im akuten Anfall: 50–100 mg p.o. bei Beginn der Kopfschmerzphase und nicht während der Auraphase (bei Wiederkehrkopfschmerz Repetition nach 4 h möglich, maximal 300 mg/Tag!)
202
9
Kapitel 9 · Kopf- und Gesichtsschmerz
5 Alternativ 25 mg rektal oder 5 6 mg s.c. mithilfe des Glaxopen (frühestens nach 2 h erneute Medikamenteneinnahme möglich, maximal 12 mg/ Tag!) rascherer Wirkungseintritt als bei oraler Applikation, aber höchstes Nebenwirkungspotenzial, daher Ultima ratio! Oder 5 Als Nasenspray 20 mg (Repetition nach 2 h möglich; maximal 40 mg/Tag) 5 Nebenwirkungen: Angina pectoris bis Herzinfarkt (auch Patienten ohne Risikofaktoren), lebensbedrohlich in einer Häufigkeit von 1:1 Mio.; schwere Herzrhythmusstörungen, Vasospasmen 5 Anmerkung: Effektivität bezüglich einer bedeutsamen Besserung nach 1 h: 85 % nach subkutaner bzw. 60–65 % nach nasaler Applikation; Rückfallquote (Wiederauftreten des Kopfschmerzes) von durchschnittlich 32 %
Zolmitriptan (z. B. AscoTop) 5 Dosis im akuten Anfall: 2,5–5,0 mg (= 1–2 Tbl. oder Schmelztablette) p.o. (maximal 10 mg/24h) oder 5,0 mg nasal 5 Anmerkung: Die nasale Applikation hat einen schnelleren Wirkeintritt als die orale Gabe!
Naratriptan (z. B. Naramig) 5 Dosis im akuten Anfall: 2,5 mg (= 1 Tbl.) p.o.; ggf. bei Rückkehr des Kopfschmerzes nach vorangegangener Besserung nochmals 1 Tbl. (frühestens nach 4 h, nicht mehr als zweimal 2,5 mg/Tag!) 5 Anmerkung: hat von allen Triptanen die geringste Migränerezidivrate innerhalb von 24 h und zeigt die geringsten Nebenwirkungen von allen Triptanen; nachteilig ist allerdings der späte Wirkbeginn (nach 4–5 h) der Substanz. Effektivität bezüglich einer bedeutsamen Besserung nach 4 h: 60 % 5 Nicht verschreibungspflichtig!
! Die Präparate Naratriptan, Sumatriptan und Zolmitriptan können zu QT-Verlängerungen mit der Gefahr einer „torsade de pointes“ führen. Vor Verschreibung ist daher eine EKG zum Ausschluss einer bestehenden QT-Verlängerung sinnvoll.
Rizatriptan (Maxalt) 5 Seit 1998 auf dem Markt 5 Dosis im akuten Anfall: 5–10 mg als Tablette oder Schmelztablette p.o.; Repetition frühestens nach 2 h in gleicher Dosierung 5 Nebenwirkungen: Müdigkeit, Benommenheit ! Bei simultaner Einnahme von Rizatriptan mit Propranolol sollten aufgrund einer Hemmung der Triptanelimination (gleicher enzymatischer Abbau) nur 5 mg Rizatriptan eingenommen werden.
Eletriptan (Relpax) 5 Dosis im akuten Anfall: 20–40–80 mg p.o., geringere vasokonstriktorische Potenz, bessere Resorption aus dem Gastrointestinaltrakt 5 Effektives Triptan mit schneller Resorption, aber hoher Nebenwirkungsrate
Almotriptan (Almogran) 5 Dosis im akuten Anfall: 12,5–25 mg p.o. 5 Höchste orale Bioverfügbarkeit von allen oralen Triptanen 5 Metabolisierung: 40 % von Almotriptan werden unverändert über die Niere und 50 % nach vorangegangener Metabolisierung hauptsächlich durch die Monoaminoxidase A (MAO-A) sekundär über die Niere ausgeschieden 5 Nicht verschreibungspflichtig!
Frovatriptan (z. B. Allegro) 5 Dosis im akuten Anfall: 2,5 mg p.o.
9.3 · Migräne
203
9
5 Frovatriptan bindet am 5-HAT-7-Rezeptor mit koronardilatierendem Nebeneffekt 5 Verzögerter Wirkbeginn, allerdings geringste Kopfschmerzrückkehrrate (17 %)
5 Bilaterale Stimulation des N. orbitalis möglich, große Studien fehlen bislang dazu
9.3.8 Behandlung von
(Siehe . Abb. 9.3 und . Abb. 9.4) Indikationen zur Migräneprophylaxe bei hohem Leidensdruck und: 5 3 oder mehr schwere Attacken pro Monat innerhalb von 3 Monaten 5 Migräneattacke länger als 72 h 5 Migräneattacke aufgrund mangelnder Medikamentenwirkung oder aufgrund von Nebenwirkungen der medikamentösen Therapie nicht adäquat behandelbar 5 2-maliges Auftreten eines Status migraenosus 5 1-maliges Auftreten eines migränösen Infarktes 5 Komplizierte Migräneattacken (neurologische Defizite >7 Tage) 5 Drohender Kopfschmerz bei Medikamentenübergebrauch (6–9 Migränetage/ Monat) 5 Manifester Kopfschmerz bei Medikamentenübergebrauch (mindestens 10 Medikamententage/Monat) 5 Komplizierte Migräne mit lang anhaltender Aura 5 Zunahme der Attackenfrequenz mit Einnahme der Analgetika an mehr als 10 Tagen
Migräneattacken als Notfall
Patientinnen, die den Notarzt rufen oder eine Ambulanz aufsuchen, haben meist zuvor orale Medikamente ohne Erfolg eingenommen. Daher konzentriert sich die Therapie auf parenteral zu applizierende Substanzen: 5 ASS 1000 mg i.v. mit oder ohne MCP (10–40 mg) 5 Sumatriptan 6 mg s.c., wenn nicht zuvor über einige Tage Triptaneinnahme oral, da Triptane bei Wiederholungsgabe innerhalb einer Attacke wenig wirken 5 Metamizol 1000 mg i.v. (langsam über 20 min, sonst Hypotonie) 9.3.9 Interventionelle und
neuromodulierende Verfahren zur Migränetherapie
5 Blockade der Nn. occipitales: – wenige kleine Studien zeigen einen moderaten Effekt – unklar bleibt, ob das Lokalanästhetikum, das Steroid oder die Kombination die beste Wirkung haben soll 5 Durchtrennung des M. corrugator und anderer perikranieller Muskeln wird nicht empfohlen 5 Stimulation des N. occipitalis major oder Elektrodenimplantation in das Ggl. sphenopalatinum werden nicht empfohlen 5 Transdermale Stimulation des N. vagus (7 Abschn. 9.5.1.7) möglich, große Studien fehlen bislang dazu
9.3.10 Prophylaxe der Migräne
Nur 1–8 % der Migränepatienten erhalten eine Prophylaxetherapie, obwohl nach den oben genannten Kriterien 53 % der Patienten eine medikamentöse Prophylaxe benötigen (Rizolli und Loder 2011). 9.3.10.1 Grundprinzipien der
Migräneprophylaxe
5 Siehe . Abb. 9.3; Ziel: Reduktion der Anzahl der Migräneattacken um mindestens 50 %, Evaluation ca. 2 Monate nach Erreichen der tolerierten Höchstdosis des Prophylaktikums
204
Kapitel 9 · Kopf- und Gesichtsschmerz
Medikamentöse Prophylaxe der Migräne Indikation: Leidensdruck, Einschränkung der Lebensqualität, Risiko eines Medikamentenübergebrauchs
Grundsätze der medikamentösen Prophylaxe: Aufklärung im Vorfeld: • Wirksamkeit: Reduktion der Kopfschmerzen um ca. 50% zeitlich verzögerter Wirkeintritt • Nebenwirkungen: detaillierte Aufklärung je nach Präparat, NW oft früh in der Eindosierung Medikamente langsam einschleichen, ,,start low go slow” Therapie-Monitoring: Kopfschmerztagebuch Therapiedauer: 6-12 Monate, dann Überprüfung auf Norwendigkeit Therapiewechsel/-abbruch: falls innerhalb von 2 Monaten nach Erreichen der Enddosis keine befriendigende Besserung
Auswahl/Abwägen der Prophylaxe in Absprache mit dem Patienten nach: • Grad der wissenschaftlichen Evidenz • Kopfschemerzfrequenz/Leidensdruck • antizipierten Nebenwirkungen und Kormorbiditäten • Lebensumständen (z.B. Schichtdienst)
9
Immer Kombination mit nicht medikamentösen Maßnahmen: - Regelmäßiger aerober Ausdauersport - Vergaktebstgerapeutische Maßnahmen, z.B.: - Entspannungsverfahren - Biofeedback - Psychologische Schmerztherapie, z.B.: - Schmerzbewältigung - Stressmanagement - Ggf. kognitive Verhaltenstherapie
Beispiel für Auswahl nach KS-Frequenz {niedrig => hoch): Magnesium => Betablocker => Topiramat
Medikamente mit guter Evidenz: - Betablocker: Propranolol, Metoprolol, (Bisoprolol) - Flunarizin - Valproinsäure - Topiramat* - Amitriptylin (TCAs) - Onabotulinumtoxin A (nur bei chronischer Migräne)*
Medikamente mit geringerer Evidenziage: - Opipramol** - (ASS) - Magnesium - Magesium plus Vitamin B2 plus Coenzym Q10 - ACE Hemmer** (Lisinopril) - Sartane** (Carndesartan)
*Evidenz aus prospektiven Studien zur chronischen Migräne, Botulinumtoxin kann eingesetzt werden, wenn zwei Prophylaxen zuvor nicht wirksam waren., **Off-Label Arrwendung
Additiv oder alternativ zur nicht medikamentösen und medikamentösen Prophylaxe: • nicht invasive Neuromodulation • ggf. okzipitale Nervenblockade • bei refraktären Verläufen ggf. auch invasive Neuromodulation
. Abb. 9.3 Migräneprophylaxe auf einen Blick (Diener, H.-C. et al., aus S1-Leitlinie der DGN 030–057 von 2018)
5 Niedrige Anfangsdosierung und langsame Steigerung der Dosis 5 Angemessene Einnahmedauer zur Wirksamkeitsbeurteilung 5 Führen eines Kopfschmerzkalenders zur Therapieobjektivierung, Motivation des Patienten
5 Nach 6–9 Monaten erfolgreicher Migräneprophylaxe Auslassversuch unternehmen 5 Patientenaufklärung mit realistischen Therapiezielen und Erwähnen der Nebenwirkungen 5 Schwangerschaft während der Prophylaxe vermeiden
9.3 · Migräne
9.3.10.2 Nichtmedikamentöse
Maßnahmen
5 Einhaltung einer strengen Tagesrhythmik (auch am Wochenende!), regelmäßige Nahrungsaufnahme, Einplanung von adäquaten Pausen im Tagesablauf, Kontrolle der Triggerfaktoren, Vermeidung von Nikotin, Koffein und Alkohol, sportliche Ausdaueraktivität (2-mal pro Woche für 1 h, z. B. Jogging) 5 Akupunktur (GERAC-Studie) 5 Kognitiv-verhaltenstherapeutische Verfahren 5 Biofeedback- bzw. Gefäßtraining (Erfolgsquote bis zu 60 %), Entspannungstechniken, Stress- und Reizverarbeitungstraining, Schmerzbewältigungstraining 5 Kopfschmerzkalender als „therapeutisches Instrument“: 50 % der Patienten erlangen durch das Führen eines Kopfschmerzkalenders bereits eine Reduktion der Migräneanfälle 9.3.10.3 Medikamente
S1-Leitlinie AWMF-Registriernummer 030057: „Zur Selbstmedikation im Rahmen der Migräneprophylaxe kann die Wirksamkeit bei keiner der rezeptfrei erhältlichen Substanzen als wissenschaftlich eindeutig belegt eingestuft werden.“ Empfehlungen der DGN und DMKG zur Migräneprophylaxe: 5 Medikamente der 1. Wahl: Metoprolol (A) und Flunarizin (A), Valproinsäure (A, Off-label-Gebrauch), Topiramat (A), Amitriptylin (A), 5 Medikamente der 2. Wahl: Bisoprolol (A), Naproxen (B), Pestwurz (B), Acetylsalicylsäure (C) 5 bei chronischer Migräne mit oder ohne MÜK: Topiramat und OnabotulinumtoxinA 5 die medikamentöse Therapie soll durch nicht-medikamentöse Verfahren der Verhaltenstherapie (z. B. Entspannungsverfahren) ergänzt werden.
205
9
5 regelmäßiger aerober Ausdauersport wird empfohlen. 5 Patienten mit Migräne und Einschränkung der Lebensqualität sollten Verfahren der psychologischen Schmerztherapie anwenden.
Medikamente der 1. Wahl 5 Topiramat (Topamax Migräne®) – Dosierung: initial in der 1. Woche 25 mg p.o. abends, 2. Woche 25–0– 25 mg, 3. Woche 50–0–25 mg, Enddosis 75–100 mg p.o. – Dauer: mindestens 3 Monate, bei guter Effektivität frühestens nach 6–8(– 12) Monaten Therapie absetzen bzw. ausschleichen – Wirkmechanismus: Membranstabilisierung durch Blockade von Na- Kanälen, Antagnoisierung der exzitatorischen Glutamatwirkung, Verstärkung der GABA-ergen Hemmung, dadurch Normalisierung der Übererregbarkeit des Kortex und des trigeminovaskulären Systems gegenüber Reizen – Nebenwirkungen: Parästhesien in der Einstellphase bei >10 % der Patienten (kann durch kaliumreiche Kost wie Bananen und Aprikosen positiv beeinflusst werden), Wortfindungsstörungen (insbesondere bei Überdosierung), Konzentrationsstörungen, Gewichtsabnahme (durchschnittlich 2,7 %) – Kontraindikationen: Anorexie, Niereninsuffizienz, Nierensteine – Anmerkungen: gute Effektivität (bei jedem 2. Patienten kommt es zu einer 50 %igen Reduktion der Attackenhäufigkeit und bei jedem 3. Patienten zu einer 75 %igen Reduktion) – Topiramat sollte bevorzugt eingesetzt werden bei: Adipositas, Komorbidität mit Epilepsie, arterieller Hypotonie – Bis zu einer Dosis von 200 mg/Tag wird die Wirkung von Kontrazeptiva nicht beeinflusst
206
9
Kapitel 9 · Kopf- und Gesichtsschmerz
5 Onabotulinumtoxin A (Botox®) – 50/100/200 „Allerganeinheiten“, die nicht umrechenbar sind in IE! (Pulver zur Herstellung einer Injektionslösung) – Dosierung: 155–195 Einheiten (entspricht 31–39 intramuskuläre Injektionsstellen à 5 Einheiten je 0,1 ml) temporal, periorbital, okzipital und in den M. trapezius – Wirkmechanismus: Nach spezifischer Aufnahme in die cholinergen terminalen Nervenendigungen Hemmung der ACh-Freisetzung durch Interaktion mit vesikalen Freisetzungsmechanismen, wahrscheinlich Reduktion der Freisetzung von algogenen Substanzen (z. B. Substanz P) – Nebenwirkung: Muskelschwäche – Kontraindikation: Myasthenia gravis 5 β-Rezeptoren-Blocker – Kardioselektives Metoprolol: 1. Woche 0–0–50 mg, 2. Woche 50–0–50 mg, 3. Woche 50–0–100 mg (= Enddosis für Frauen), ab 4. Woche 100–0– 100 mg (= Enddosis für Männer) oder – Propranolol (Dociton): 40–240 mg/ Tag; ebenfalls einschleichen – Anmerkungen: Die Effektivität dieser β-Blocker ist frühestens nach 6-wöchiger Therapie beurteilbar – Andere β-Blocker (mit Ausnahme von Bisoprolol) sind ineffektiv – Zu Beginn der Behandlung nichtretardierte Darreichungsformen, später Retardtabletten bevorzugen – Immer einschleichend dosieren – β-Blocker sollten bevorzugt werden bei: arterieller Hypertonie, Schweißneigung, Nervosität, Angst, Panikattacken und Tremor – Kontraindikationen für β-Blocker beachten: arterielle Hypotonie, M. Raynaud, Potenzstörungen, Muskelkrämpfe, Leistungssportler
5 Kalziumantagonist Flunarizin (Sibelium®) – Dosierung: >70 kg KG 10 mg p.o. für Männer und Frauen, bei 50–70 kg KG 5 mg p.o. und bei 4 Wochen): Kontrolle der Leberwerte – Nicht als Medikament zugelassen, als Nahrungszusatzstoff erhältlich 9.3.11 Behandlung bei
menstrueller Migräne
9.3.11.1 Definition
Migräne, bei der die Attacken 2 Tage vor bis zu 3 Tage nach Einsetzen der Monatsblutung in mindestens 2 von 3 Zyklen auftreten. Kommt es auch unabhängig von der Menstruation zu Attacken, spricht man von einer menstruationsassoziierten Migräne. Diese halten meist länger an und neigen eher zu Wiederkehrkopfschmerzen.
208
Kapitel 9 · Kopf- und Gesichtsschmerz
Episodische Migräne ≥ 4 Tage/Monat
Propranolol oder Metoprolol Topiramat Valproat Flunarizin Amitriptylin
Nicht wirksam: Keine Indikation zur Weiterbehandlung
9
Chronische Migräne
Nicht wirksam Wegen UAW abgebrochen Gegenanzeigen und Warnhinweise Monoklonaler Antikörper für 3 Monate NNT = 4-10
Propranolol oder Metoprolol Topiramat Valproat Flunarizin Amitriptylin OnabotulinumtoxinA
Evaluation • ≥50% Reduktion der Migränetage • ≥30% Reduktion MIDAS • ≥5 Punkte HIT-6
Keine erneute Verschlechterung der Migräne: keine Indikation zur Weiterbehandlung
Wirksam Forsetzung für 6-9 Monate Dann Therapiepause erwägen
Verschlechterung der Migräne Fortsetzung der Therapie
. Abb. 9.4 Prophylaxe der Migräne mit monoklonalen Antikörpern; MIDAS: Migraine Disability Assessment Score (Summe der Tage über 3 Monate, die durch Migräne „verloren gegangen sind“); HIT-6: Headache-Impact-Test (Diener, H.-C. et al., aus Ergänzung der S1-Leitlinie der DGN 030-057 von 2019)
9.3.11.2 Therapie
5 Bei Therapieversagen konventionelle Migräneprophylaxe mit β-Blockern, Flunarizin und evtl. Cyclandelat 9.3.11.3 „Prophylaxe“ der
menstruellen Migräne
5 Naproxen (Proxen): 2-mal 250 (–500) mg p.o. beginnend 3 Tage vor der Regelblutung bis 4 Tage nach Periodenbeginn bzw. bis Ende der Regelblutung. Gegebenenfalls Gabe von Östrogenpflaster (Estraderm TTS 50–100 µg/Tag) über 7 Tage, oder Östradiol-Gel (wurde jedoch in klinischen Studien als ineffektiv eingestuft!)
9.3.12 Migräne in der
Schwangerschaft
Bis zu 70 % der Migränepatientinnen erfahren in der Schwangerschaft eine deutliche Besserung der Migräne, insbesondere in den letzten 2 Schwangerschaftsdritteln. Bei 17 % sistiert sie völlig; nur bei ca. 5 % nimmt die Migränehäufigkeit zu. 9.3.12.1 Akuttherapie
5 Metoclopramid 20 mg p.o. 5 Ibuprofen 400 mg oder 600 mg p.o. oder Supp. 5 Gegebenenfalls Acetylsalicylsäure 1000 mg
9
209
9.3 · Migräne
. Tab. 9.3 Medikamente zur Migränetherapie bei Kindern Wirkstoff
Präparat
Initialdosis [mg/kg KG]
Dosisintervall [h]
Erhaltung [mg/ kg KG]
Maximaldosis pro Tag [mg/ kg KG]
Applikationsform
Paracetamol
Ben-uron
35–45
6–8
15–20
100
rektal
15–20
6–8
10–20
100
p.o.
Ibuprofen
Nurofen
10–15
6–8
10
40
p.o.
Ketoprofen
Orudis
2–3
6–8
1–2
6–9
p.o., rektal
Naproxen
Proxen
5–10
8–12
5–10
30
p.o., rektal
Metamizol
Novalgin
10–20
4–6
10–20
80
p.o., rektal
! Keine Triptane, da keine Studien vorliegen! Allerdings: bislang kein teratogenes Risiko bekannt.
9.3.12.2 Prophylaxe
5 Magnesium (Magnesium Diasporal Granulat): 600 mg/Tag 5 Gegebenenfalls in schweren Fällen Propranolol (bis 240 mg/Tag) 9.3.13 Status migraenosus
Definition: Über 72 h bestehende, therapierefraktäre Migräne 9.3.13.1 Attackentherapie
5 siehe 7 Abschn. 9.3.8; zusätzlich 5 50–100 mg Prednisolon i.v. einmalig oder 5 4–8 mg Dexamethason i.v. einmalig ! Keine Gabe von Triptanen; meist massiver Abusus mit Ergotamin vorausgegangen.
9.3.14 Migräne bei Kindern
Mehr als 10 % der Schulkinder haben Erfahrung mit Kopfschmerzen. Meist stehen im Kindesalter vegetative/abdominelle Symptome im Vordergrund. Die Kopfschmerzen kommen oft bifrontal vor. Die Attackendauer beträgt 2–48 h. Medikamente zur Migränetherapie bei Kindern sind in . Tab. 9.3 dargestellt. 9.3.14.1 Akuttherapie
Nichtmedikamentöse Maßnahmen 5 Unterbrechung der ursprünglichen Tagesaktivität 5 Reizabschirmung (Raumabdunklung, kühles Tuch, Ruhe) 5 Entspannung (autogenes Training, progressive Muskelrelaxation nach Jakobson) 5 Ätherische Öle (Eukalyptus und/oder Pfefferminze, z. B. Euminz®)
Medikamente 5 Bei Übelkeit und Erbrechen Domperidon (Motilium) 10 mg p.o. oder rektal
210
Kapitel 9 · Kopf- und Gesichtsschmerz
bzw. 1 Trpf./kg KG (maximal 33 Trpf.), Metoclopramid erst ab dem 14. Lebensjahr 5 1 Jahr mit Schmerzremission 14 Tage 5 Attackenartig auftretender streng einseitiger, extrem heftiger KS mit retroorbitalem Punktum Maximum
213
9.5 · Trigeminoautonomer Kopfschmerz (TAK)
9
. Abb. 9.6 Schematische Schmerzlokalisation bei Clusterkopfschmerz
5 Beginn meist im 3. Lebensjahrzehnt; Männer sind deutlich häufiger betroffen (Verhältnis Männer zu Frauen = 3:1) 5 Die Prävalenz beträgt ca. 0,1–0,2 % 5 Jahreszeitliche Betonung im Frühjahr und Herbst („Cluster“) 9.5.1.2 Pathogenese
In der Pathogenese scheint die aseptische Entzündung und Vasodilatation im Sinus cavernosus oder im Bereich der V. opthalmica superior eine Rolle zu spielen. Erhöhte Aktivität des trigeminovaskulären Systems (CGRP), erhöhte Aktivität des Parasympathikus (VIP). 9.5.1.3 Klinik
Anfallsartiger (von 1 Attacke alle 2 Tage bis 1–8 Anfälle/Tag), streng einseitiger, perioder retrobulbärer bzw. temporal lokalisierter heftigster Kopfschmerz (brennend, bohrend) mit Schmerzverstärkung im Liegen (reduzierter venöser Abfluss aus den Sinus cavernosus); meist ipsilaterale Lakrimation (in 80 % der Fälle) oder Rhinorrhö, konjunktivale Injektion (in 50–80 % der Fälle) und/oder ipsilaterales Lidödem, M iosis,
Ptosis, vermehrtes Schwitzen im Bereich von Stirn und Gesicht (. Abb. 9.6). 5 Die Anfälle treten meist nächtlich oder in den frühen Morgenstunden auf mit typischerweise schnellem Beginn, einer Dauer von 30–180 min und abruptem Ende 5 Bewegungsdrang (sog. „pacing around“) während der Attacke (im Gegensatz zur Migräne!) 5 Anmerkung: Vor Therapiebeginn symptomatischen Clusterkopfschmerz (Neurinom, Meningeom, zentrale Zysten, arteriovenöse Malformation der A. cerebri media) durch Bildgebung ausschließen. 9.5.1.4 Diagnostik (. Tab. 9.6)
. 9.5.1.5 Differenzialdiagnosen
5 Andere trigeminoautonome schmerzen 5 Migräne 5 Trigeminusneuralgie 5 Akutes Glaukom
Kopf-
Kapitel 9 · Kopf- und Gesichtsschmerz
214
. Tab. 9.6 Diagnosekriterien für den Clusterkopfschmerz (IHS 2004)
9
A
Mindestens 5 Attacken, die die Kriterien B–E erfüllen
B
Starke oder sehr starke einseitig orbital, supraorbital und/oder temporal lokalisierte Schmerzattacken, die unbehandelt 15–180 min anhalten
C
Begleitend tritt wenigstens eines der nachfolgenden Charakteristika auf: – Ipsilaterale konjunktivale Injektion und/oder Lakrimation – Ipsilaterale nasale Kongestion und/oder Rhinorrhö – Ipsilaterales Lidödem – Ipsilaterales Schwitzen im Bereich der Stirn oder des Gesichts – Ipsilaterale Miosis und/oder Ptosis – Körperliche Unruhe oder Agitiertheit
D
Attackenfrequenz liegt zwischen 1 Attacke jeden 2. Tag und 8 Attacken/Tag
E
Nicht auf eine andere Krankheit zurückzuführen
! Gefäßmalformationen oder Metastasen im Bereich der vorderen Schädelgrube → zerebrales MRT bei jeder Neudiagnose indiziert.
9.5.1.6 Therapie der Attacke
Die orale Triptantherapie ist wenig hilfreich, da bis zum Wirkeintritt die Clusterattacke meist von selbst sistiert. 5 Inhalation von Sauerstoff (12 l/min) über Gesichtsmaske mit Rückatembeutel in sitzender, leicht nach vorn gebeugter Position (15–20 min) – Sauerstoffkonzentrator für die häusliche Akutbehandlung bei der Krankenkasse beantragbar; wirkt bei 70 % der Patienten. 5 Sumatriptan (Imigran) 6 mg s.c. über Autoinjektor (maximal 12 mg/Tag) oder Nasenspray 20 mg (Repetition nach 2 h möglich; maximal 40 mg/Tag) 5 Zolmitriptan 5–10 mg Nasenspray 5 Intranasale Instillation von 1 ml Lidocain 4 –10 % in das ipsilaterale Nasenloch unter 30° Rotation zur betroffenen Seite und 45° Reklination; wirkt bei 30 % der Patienten. 9.5.1.7 Prophylaxe
Eine Prophylaxe ist bei lang anhaltendem Cluster (>2 Wochen), therapierefraktärem
Anfall oder >2 Anfällen/Tag generell sinnvoll. 5 Verapamil (Isoptin) in ansteigender Dosierung: – 1./2. Tag 0–0–80 mg – 3./4. Tag 80–0–80 mg – Ab 5. Tag 3-mal 80 mg p.o., weiteres Aufdosieren bis max. 960 mg/d unter EKG-Kontrolle! – Fortführung über 14 Tage hinaus nach letzter Attacke 5 Prednison (Decortin): 100 mg in 2 ED für 5 Tage, anschließend Dosisreduktion um 20 mg alle 2 Tage 5 Triptane abends eingenommen, um nächtliche Attacken zu verhindern 5 Lithium (Quilonum ret. oblong.): 1-mal 1 Tbl. à 450 mg für die ersten 3 Tage, ab dem 4. Tag ggf. 2 Tbl. bis 1500 mg (Dosierung nach Serumspiegel 0,6–0,8 ml/l) – Nebenwirkungen: Tremor, Hypothyreose, Polyurie 5 Topiramat 100–200 mg/d; Aufdosieren (7 Abschn. 9.3.10.3.1) 9.5.1.8 Interventionelle Verfahren
5 Am ehesten: Neurostimulation des Ggl. sphenopalatinum. Andere Operative Verfahren sind möglich, sie bringen nicht immer eine anhaltende Besserung, jedoch die Gefahr einer zusätzlich und
215
9.6 · Gutartige belastungsabhängige Kopfschmerzsyndrome
dann iatrogen hervorgerufenen Neuralgie des N. trigeminus. Zuvor: Versuch der Blockade des N. occipitalis major. 5 Elektrische Dauerstimulation des N. trigeminus (7 Kap. 4 periphere Nervenstimulation) möglich, aber mit vielen Komplikationen behaftet. 5 Nicht-invasive Vagusnervstimulation selbst appliziert am ventralen Hals kann durchgeführt werden, Studien laufen. 9.5.2 Paroxysmale Hemikranie
Kopfschmerzen ähnlicher vernichtender Charakteristik wie beim Clusterkopfschmerz, allerdings mit kürzeren Attacken (2–45 min) und mindestens 5-maligem täglichen Auftreten. Prävalenz sehr niedrig, Geschlechterverhältnis Frauen:Männer = 3:1. 5 keine wirksame Akuttherapie bekannt. 5 obligates und fast ausschließlich wirksames Medikament ist Indometacin: Aufdosieren 100–300 mg/Tag, dann 3–4 Tage beibehalten
Wirkt Indometacin gegen den Kopfschmerz, kann dies als Bestätigung der Diagnose gewertet werden.
9.5.3 Hemicrania continua
Kontinuierlicher, streng unilateraler KS mittlerer Intensität; extrem selten. keine wirksame Akuttherapie bekannt. obligates und fast ausschließlich wirksames Medikament ist Indometacin: Aufdosieren 100–300 mg/Tag 5 Obligat für die Diagnose ist das Ansprechen auf Indometacin.
9
9.5.4 SUNCT-Syndrom/SUNA-
Syndrom
Extrem seltenes Kopfschmerzsyndrom mit extrem kurzen (5–240 s), aber sehr häufigen (3–200/Tag) Attacken 5 keine wirksame Akuttherapie bekannt. 5 Prophylaxe mit: Lamotrigin: langsames Aufdosieren, Beginn mit 25 mg/Tag über 14 Tage, dann 50 mg/Tag über weitere 14 Tage, bis zur Wirkung, Erhaltungsdosis 100–400 mg/Tag 5 oder Gabapentin 1800–2400 mg/d 9.6 Gutartige
belastungsabhängige Kopfschmerzsyndrome
5 Diese primären Kopfschmerzen sind mit bis zu 30 % sehr häufig, Männer sind häufiger betroffen als Frauen. 5 Klinik: – Meist schlagartiger Beginn; wie bei der Subarachnoidalblutung! – Auftreten auch ohne körperliche Belastung möglich; wie bei der Subarachnoidalblutung! 5 Gemeinsam ist ihnen die Auslösung unter körperlicher Belastung: – jegliche körperliche Anstrengung – Hustenkopfschmerz (Kopfschmerz bei Husten oder Valsalva-Manöver) – Sexualkopfschmerz (Kopfschmerz nur bei Geschlechtsverkehr) 5 Therapie: – Betablocker, z. B. Propanolol in niedriger Dosierung – Indometacin – Liquorpunktion. Zur Diagnose (Ausschluss SAB) und Therapie!
216
Kapitel 9 · Kopf- und Gesichtsschmerz
9.7 Primär stechender
Kopfschmerz
9
5 Mit einer Prävalenz von ca. 1 % eher seltener primärer Kopfschmerz, Frauen sind häufiger betroffen als Männer 5 DD Trigeminoautonomer Kopfschmerz (7 Abschn. 9.5), jedoch KEINE autonomen Symptome 5 Klinik: – paroxysmale Schmerzattacken für Sekundenbruchteile bis Sekunden, einzeln oder in Serie – umschriebenes Areal (max. Größe einer 2-Euro-Münze) – Auftreten von einmal jährlich bis 100 Mal täglich, Wiederholung in unregelmäßigen Abständen – Häufig bei Patienten mit anderen primären Kopfschmerzen spontan oder triggerbar. 5 Therapie: – selten nötig – bei hoher Attackenfrequenz und starker Intensität: – Indometacin 2 × 25–50 mg/d – Gabapentin 3 × 300 mg/d 9.8 Kopfschmerz bei
Übergebrauch von Schmerz-, bzw. Migränemitteln
Patienten können durch zu häufige Einnahme von Medikamenten, meist um Kopfschmerzen zu therapieren, Kopfschmerzen entwickeln (medication overuse headache = MOH oder Medikamentenübergebrauchskopfschmerz = MÜK). Er ist definiert als Kopfschmerzen, die an mehr als 15 Tagen pro Monat auftreten und mit der Einnahme von spezifischen Kopfschmerzmitteln, analgetischen Mischpräparaten an mehr als 10 Tagen im Monat
oder einfachen Analgetika an mehr als 15 Tagen im Monat einhergehen. 5 Prävalenz: – weltweit 0,7–1 % – 5–10 % aller Kopfschmerzpatienten einer Spezialambulanz leiden an medikamenteninduziertem Kopfschmerz – 40–50 % der Patienten mit chronischen Kopfschmerzen betreiben in Deutschland einen Übergebrauch von Schmerz- oder Migränemitteln. 5 Durchschnittliche Dauer der Einnahme: 5 Jahre 5 Auftreten bevorzugt bei Frauen (Verhältnis Frauen zu Männer: 3:1 bis 5:1) zwischen dem 40. und 50. Lebensjahr 5 Der medikamenteninduzierte Kopfschmerz ist ein sekundärer KS 9.8.1 Klinik
5 Dumpf-drückender, auch pulsierender Dauerkopfschmerz, meist bilateral, bereits beim Aufstehen bzw. Akzentuierung in den frühen Morgenstunden 5 Medikamentenübergebrauch führt am häufigsten zu Symptomen, die zur Diagnose „chronische Migräne“ führen. Bei 50 % der Patienten, die scheinbar eine chronische Migräne aufweisen, haben nach einer Medikamentenpause wieder eine episodische Migräne 9.8.2 Diagnostik
Anhand der Anamnese und eines Kopfschmerzkalenders muss diagnostiziert werden, ob vor/neben dem medikamenteninduzierten KS ein zweiter KS besteht, der zu hoher Medikamenteneinnahme geführt hat. Dies ist oftmals erst nach einem Medikamentenentzug möglich. Die Diagnosekriterien sind in . Tab. 9.7 dargestellt.
9.8 · Kopfschmerz bei Übergebrauch von Schmerz-, bzw. Migränemitteln
217
9
. Tab. 9.7 Diagnosekriterien für den medikamenteninduzierten Kopfschmerz A
>15 Kopfschmerztage/Monat bei vorbestehendem Kopfschmerzsyndrom
B
Medikamenteneinnahme über mindestens 3 Monate
C
Ergotamine, Triptane, Opiate, Mischpräparate: >10 Einnahmetage/Monat
D
Einfache Analgetika: ≥15 Einnahmetage/Monat
E
Der Übergebrauch jeglicher Schmerz- oder Migränemedikation kann zu einem Kopfschmerz führen
9.8.3 Risikofaktoren
5 Primäre Kopfschmerzen (Migräne, Spannungskopfschmerz) 5 weibliches Geschlecht 5 >10 Kopfschmerztage pro Monat 5 niedriger sozialer Status 5 andere chronische Schmerzerkrankungen 5 Stress 5 körperliche Inaktivität, Übergewicht, Rauchen 5 abhängiges Verhalten 5 andere psychiatrische Erkrankungen (Angst, Depression) 9.8.4 Therapie
Bei einem Teil der Patienten sind eine Beratung und eine Schulung ausreichend, um einen MÜK zu behandeln. Dies gilt insbesondere bei Patienten, die nur Triptane oder einfache Analgetika einnehmen und die keine schwerwiegende psychiatrische Komorbidität aufweisen. Dies ist in der Regel nicht ausreichend bei Patienten mit Übergebrauch von Opioiden oder nach Rückfall. 9.8.4.1 Medikamentenentzug
Voraussetzungen für ambulanten Entzug: 5 Bestehender KS mit 5 Jahre) 5 Einnahme von Kombinationspräparaten bzw. psychotropen Substanzen (Schlafmittel, Tranquilizer, Anxiolytika) 5 Mehrere erfolglose Selbstentzüge 5 Angst, Depression 5 Ungünstige soziale Verhältnisse Erfolgsquote für ambulanten oder stationären Entzug 50–70 %! Rückfallquote 40– 60 % nach 4–6 Jahren. 9.8.4.2 Medikamentös
unterstützend
Antiemetika wie MCP, Domperidon oder Dimenhydrinat können zur Behandlung der Übelkeit während einer Medikamentenpause zum Einsatz kommen 5 Zur Schmerzdistanzierung während der Medikamentenpause: – Doxepin – Topiramat (Topamax): Beginn mit 1-mal abends 25 mg, dann alle 2 Wochen um 25 mg steigern bis 100 mg/ Tag; Beginn bereits vor dem Medikamentenentzug scheint hilfreich – Botox
Kapitel 9 · Kopf- und Gesichtsschmerz
218
9.8.5 Prophylaxe
9.9.1 Pathophysiologie
„10–20-Regel“ zum Vermeiden von MÜK (nach Göbel et al. 2014): 5 Schmerzmittel und spezifische Migränemittel sollen an weniger als 10 Tagen pro Monat verwendet werden 5 Mindestens 20 Tage pro Monat sollten komplett frei von der Einnahme von Schmerz- und/oder spezifischen Migränemitteln sein
Erregung der Nozizeptoren der kleinen Wirbelgelenke, deshalb muskuläre Verspannung (chronische Form) oder Irritation der oberen zervikalen Wurzel durch Gefäße und Narbengewebe.
9.9 Zervikogener Kopfschmerz
9
Kopfschmerz mit stechend-drückendem Charakter, vom Nacken ausgehend und über die Parietalregion ins Gesicht einstrahlend, ggf. nicht radikulärer Schulter-/ Armschmerz 5 Mechanische Auslösung durch bestimmte Kopfhaltungen oder Halsbewegungen 5 Erkrankungsalter: >40. Lebensjahr 5 Nach Blockade der Wurzel C2 mit einem Lokalanästhetikum verschwindet der Schmerz für 1–2 Tage 5 Der zervikogene Kopfschmerz ist ein sekundärer KS
9.9.2 Diagnostik
Die Diagnosekriterien für den zervikogenen Kopfschmerz sind in . Tab. 9.8 dargestellt. 9.9.3 Therapie
5 Krankengymnastik, Wärme-/Kälteapplikation, TENS plus 5 NSAR wie Ibuprofen (z. B. Optalidon, Opturem, Ibuprofen): 800 mg retard 1–2 Tbl./Tag (800–1600 mg/Tag), Naproxen (z. B. Proxen): 1- bis 2-mal 250 mg bis 2-mal 500 mg p.o. bzw. Diclofenac (z. B. Voltaren): 3-mal 50 mg p.o. oder rektal, 5 ggf. zusätzliche Gabe von Muskelrelaxanzien, z. B. Tizanidin 1- bis 3-mal 2 mg/Tag p.o. oder Methocarbamol 1- bis 3-mal 1.500 mg/Tag p.o. 5 Osteopathie (keine ausreichende Evidenz!)
. Tab. 9.8 Diagnosekriterien für den zervikogenen Kopfschmerz A
Schmerz, der von seinem zervikalen Ursprung in einen oder mehrere Bereiche des Kopfes und/oder des Gesichts projiziert wird und die Kriterien C und D erfüllt
B
Eine Störung oder Läsion in der Halswirbelsäule oder den Halsweichteilen, die als valide Ursache von Kopfschmerzen bekannt oder allgemein akzeptiert ist, wurde klinisch, laborchemisch und/oder mittels Bildgebung nachgewiesen
C
Der Nachweis, dass der Schmerz auf eine zervikogene Störung oder Läsion zurückzuführen ist, beruht auf wenigstens einem der folgenden Kriterien: – Nachweis klinischer Zeichen, die eine zervikale Schmerzquelle nahelegen – Beseitigung des Kopfschmerzes nach diagnostischer Blockade einer zervikalen Struktur bzw. des versorgenden Nervs unter Verwendung einer Placebo- oder anderer adäquater Kontrolle
D
Der Kopfschmerz verschwindet innerhalb von 3 Monaten nach erfolgreicher Behandlung der ursächlichen Störung oder Läsion
219
9.10 · Riesenzellarteriitis (RZA)
9.10 Riesenzellarteriitis (RZA) 9.10.1 Allgemeines
Die Riesenzellarteriitis ist die häufigste primäre systemische Vaskulitis. früher als „Arteriitis temporalis“ bezeichnet, sollte dieser Terminus vermieden werden, da nicht bei allen Riesenzellarteriitiden die Arteria temporalis mitbetroffen ist. 5 Prävalenz von 15–44/1000.000, fast alle Patienten sind älter als 50 Jahre 5 Krankheitsbeginn meist um das 70ste Lebensjahr 5 Frauen:Männer = 3:1 5 T-Zell-abhängiges Immungeschehen 9.10.2 Klinik
5 neu auftretende Kopfschmerzen temporal von bohrend-stechender Qualität, häufig unilateral, meinst frontotemporal betont (. Tab. 9.9), 5 Intensität stark, Schmerzverstärkung durch Husten und Kauen 5 Schmerzen beim Kauen pathognomonisch (30 % Claudicatio masticatoria) 5 „B-Symptomatik“: Krankheitsgefühl, Appetitlosigkeit, Muskelschmerzen,
Gewichtsabnahme, subfebrile Temperaturen. 5 Assoziation mit einer Polymaylgia rheumatica (PMR) liegt bei 50–70 % ! CAVE: Erblindung eines Auges durch Beteiligung der Ziliararterien (30 %!), daher rasche Diagnostik und Therapie bei Verdacht.
9.10.3 Diagnostik
ACR-Klassifikationskriterien (1990) 5 Alter >50 Jahre 5 neuartige oder neu auftretende Kopfschmerzen 5 abnorme Temporalarterien (Druckdolenz, abgeschwächte Pulsation) 5 BSG >50 mm in der ersten Stunde 5 histologische Veränderungen bei Biopsie der Temporalarterie Bei Erfüllen von drei der fünf Kriterien sichere Diagnose! (Sensitivität 94 %, Spezifität 91 %) Ergänzende Diagnostik: 5 Farb-Duplex-Untersuchung der Äste der Arteria temporalis (Wandödem, sog. Halo-Zeichen), hat eine gleich hohe Sensitivität wie die Biopsie 5 MRT-Angiographie
. Tab. 9.9 Symptome bei Riesenzellarteritis. (Nach Ness 2013) Symptome durch Beteiligung der kraniellen Gefäße
9
Kopfschmerzen Kauclaudicatio (Kauschmerzen) Überempfindlichkeit der Kopfhaut Visusverlust Auffälligkeit an der A. temporalis (Schmerzen, Knoten, Pulslosigkeit
Symptome durch Beteiligung großer Gefäße (Aorta und Aortenäste)
Claudicatio der Extremitäten (v. a. obere Extremität)
Symptome durch systematische Entzündung
Fieber, Nachtschweiß, Gewichtsverlust
Polymyalgia rheumatica
Proximal betonte Myalgien und Steifigkeit im Nacken, Schulter- und Beckengürtel
220
9
Kapitel 9 · Kopf- und Gesichtsschmerz
9.10.4 Therapie
9.11 Trigeminusneuralgie
5 Glukokortikoidtherapie, z. B. Prednisolon 1 mg/kgKG/Tag p.o., maximal 60 mg/Tag bis zur Beschwerdefreiheit und Normalisierung der Laborparameter (bei Visusstörung initial 0,5–1 g über 3 Tage), danach schrittweiser Reduktion um 10 mg alle 1–2 Wochen bis 30 mg/d, 2,5 mg alle 2 Wochen bis 10 mg und 1-mg-weise monatlich. Bei einem Teil der Patienten ist eine lebenslange Fortführung der Glukokortikoidtherapie erforderlich! Zur Reduzierung der Glucocorticoidtherapie ist seit 2017 zugelassen: 5 Tocilizumab (TOC, RoActemra®): monoklonaler Antikörper gegen Inter leukin-6-Rezeptor; – 162 s.c. mit Fertigpen wöchentlich oder i.v. – Therapiekosten 1800 EUR/Monat! 5 Methorexat (MTX) senkt ebenfalls das Rezidivrisiko und ermöglicht eine Einsparung von Glucocorticoiden; allerdings off-label-use! 5 Osteoporoseprophylaxe bei Langzeiteinnahme von Glucocorticoiden
5 Streng einseitiger, für Sekunden bis maximal 2 min Dauer einschießender heftigster scharfer, stechender Schmerz, durch Trigger (Essen, Trinken, Zähneputzen, Sprechen, Rasieren, Rauchen, Wind, Berührung) auslösbar, selten auch spontan auftretend. Zwischen den Attacken Beschwerdefreiheit. 5 Meist N. maxillaris (35 %) oder N. mandibularis (44 %), gelegentlich mit Kontraktionen der mimischen Muskulatur (= „tic douloureux“; . Abb. 9.7) 5 Einteilung in klassische (früher auch „idiopathische“) und symptomatische Trigeminusneuralgie: – klassisch: kein Sensibilitätsdefizit; Schmerzfreiheit zwischen den Attacken; Gefäß-Nerven-Konflikt im MRT wahrscheinlich (dieser kann intraoperativ zu 70–100 % nachgewiesen werden), die Pulsationen der A. cerebelli superior sollen zu einer segmentalen Demyelinisierung der Nervenwurzel führen. – symptomatisch: Sensibilitätsdefizit kann auftreten; keine Schmerzfreiheit
. Abb. 9.7 Schematische Schmerzlokalisation bei Trigeminusneuralgie V2
221
9.11 · Trigeminusneuralgie
9
. Tab. 9.10 Diagnosekriterien für die klassische Trigeminusneuralgie A
Paroxysmale Schmerzattacken von Bruchteilen einer Sekunde bis zu 2 min Dauer, die einen oder mehrere Äste des N. trigeminus betreffen und die Kriterien B und C erfüllen
B
Der Schmerz weist wenigstens eines der folgenden Charakteristika auf: – starke Intensität, scharf, oberflächlich, stechend – ausgelöst über eine Triggerzone oder durch Triggerfaktoren
C
Die Attacken folgen beim einzelnen Patienten einem stereotypen Muster
D
Klinisch ist kein neurologisches Defizit nachweisbar
E
Nicht auf eine andere Erkrankung zurückzuführen
zwischen den Attacken obligat; Folge von Entmarkungserkrankungen wie MS, Raumforderungen (Klassiker: Akustikusneurinom), Entzündungen
5 Kontrastmittel-MRT mit der Frage Gefäß-Nerven-Konflikt Die Diagnosekriterien für die beiden Formen der Trigeminusneuralgie sind in . Tab. 9.10 und 9.11 dargestellt.
9.11.1 Pathophysiologie
Demyelinisierung von benachbarten trigeminalen und nozizeptiven Fasern am mechanischen Kontaktort von pulsierendem Gefäß und Trigeminuswurzel. Nach Reizung peripherer sensibler Afferenzen (Trigger) werden Aktionspotenziale auf nozizeptive Fasern übertragen (→ einschießender Schmerz).
9.11.3 Differenzialdiagnose
9.11.2 Diagnose
Die primäre Trigeminusneuralgie geht nie einher mit: 5 Dauerschmerz (DD anhaltender idiopathischer Gesichtsschmerz) 5 Schmerzen außerhalb des Versorgungsgebietes des Trigeminus (DD anhaltender idiopathischer Gesichtsschmerz) 5 Sensiblem Defizit (Unterscheidungskriterium klassische und symptomatische Trigeminusneuralgie!)
5 typische Anamnese 5 neurologische Untersuchung
Ursachen symptomatischer Trigeminusneuralgien:
. Tab. 9.11 Diagnosekriterien für die symptomatische Trigeminusneuralgie A
Paroxysmale Schmerzattacken von Bruchteilen einer Sekunde bis zu 2 min Dauer, mit oder ohne Dauerschmerz zischen den Paroxysmen, die einen oder mehrere Äste des N. trigeminus betreffen und die Kriterien B und C erfüllen
B
Der Schmerz weist wenigstens eines der folgenden Charakteristika auf: – starke Intensität, scharf, oberflächlich, stechend – ausgelöst über eine Triggerzone oder durch Triggerfaktoren
C
Die Attacken folgen beim einzelnen Patienten einem stereotypen Muster
D
Nachweis einer ursächlichen Läsion anders als einer vaskulären Kompression mittels spezieller Untersuchungsmethoden und/oder operativer Exploration der hinteren Schädelgrube
222
Kapitel 9 · Kopf- und Gesichtsschmerz
5 Demyelinisierung bei MS (jüngere Patientinnen) 5 Raumforderungen im Bereich der hinteren Schädelgrube oder des Hirnstamms → kraniales CT indiziert! 5 Entzündungen: Herpes zoster, Cave: Zoster sine herpete! 9.11.4 Therapie 9.11.4.1 Medikamente zur Therapie
und Prophylaxe
9
Akuttherapie: langsame i.v.-Gabe von 150 mg Phenytoin Prophylaxe: 5 Medikamente der 1. Wahl: – Carbamazepin (Tegretal): Dosierung: 2-mal (100–)200–400 mg, ggf. bis maximal 1800 mg/Tag in 3–4 Einzeldosen ermöglicht anfangs bis zu 90 %ige Schmerzfreiheit, allerdings zunehmender Wirkverlust (50 % haben nach 10 Jahren wieder einschießenden Schmerz). NNT bei Therapiebeginn unter 2; – Oxcarbazepin (Trileptal): aufdosieren auf 2-mal (100–)200–400 mg 5 Medikamente der 2. Wahl: – Phenytoin: aufdosieren auf 2- bis 3-mal 100 mg. – Gabapentin (Neurontin): ca. 900– 1500 mg/Tag in 3 Einzeldosen – Lamotrigin: Beginn mit 25 mg/d, dann sehr langsame Steigerung um 25 mg alle 2 Wochen bis 2-mal 100 mg – Baclofen (Lioresal): 3-mal 5–10 mg; Steigerung um 5–10 mg an jedem 3. Tag bis auf ca. 60 mg/Tag; maximal 75 mg/Tag; Wirkung über GABAB-Rezeptoren 9.11.4.2 Interventionelle
Therapieverfahren
5 GLOA (ganglionäre lokale Opioidapplikation) am Ganglion cervicale superius:
5–10 Infiltrationen wenn die ersten 2–3 erfolgreich sind (7 Abschn. 4.4) mit Buprenorphin: 45 μg in 1,5 ml NaCl 0,9 % mit Abstandhalter und Sprotte-Nadel. Nota bene: in der derzeit gültigen S1-Leitlinie der DGN (AWMF-Registernummer 030–016) nicht enthalten. 5 Neurochirurgische Operationsoptionen: – Mikrovaskuläre Dekompression des N. trigeminus im Kleinhirnbrückenwinkel („Jannetta-Operation“) bei nachgewiesener Gefäß-Nerven- Affektion; die frühe Erfolgsquote von 98 % belegt die Wirksamkeit (Schmerzfreiheit bzw. deutliche Schmerzlinderung). Nach 20 Jahren beträgt diese Erfolgsrate noch über 67 %. In 11 % der Fälle musste innerhalb von sechs Jahren erneut operiert werden, wobei die Erfolgsrate nach diesen Re-Operationen deutlich niedriger als nach der Erstoperation lag (nach 5 Jahren nur noch bei 51 %) – Schädigung des Ganglion Gasseri durch Hitze (temperaturgesteuerte Koagulation), durch chemische Substanzen (Glyzerinrhizolyse) und durch mechanischen Druck (Ballonkompression). Alle Verfahren sind mit einer frühen Erfolgsquote von mehr als 90 % sehr gut wirksam – Radiochirurgie mittels Gamma-Knife, allerdings höhere Rezidivrate als die o.g. Verfahren. 9.12 Postpunktioneller
Kopfschmerz
Wegen der höchstwahrscheinlich zugrundeliegenden Pathogenese des Austritts von Liquor nach Lumbalpunktion oder Spinalanästhesie auch „Postpunktionelles Liquorunterdruck-Syndrom“ genannt (auch „post-dural puncture haedache“ oder „Postpunktionelles Syndrom).
223
9.13 · Anhaltender idiopathischer Gesichtsschmerz
9.12.1 Klinik
5 Streng orthostatischer Kopfschmerz, der innerhalb von 5 Tagen nach einer Lumbalpunktion oder neuraxialer Regionalanästhesie (Spinalanästhesie, Anlage eines Periduralkatheters) auftritt 5 Nackensteifigkeit und/oder 5 Subjektive Hörstörung 5 Spontane Besserung meist innerhalb von 14 Tagen 5 Prädisposition besteht bei: – mittlerem Lebensalter (höchste Inzidenz im Alter von 18–30 Jahren) – weibliches Geschlecht (doppelt so häufig wie männliches) – niedriger BMI – vorbestehende rezidivierende oder chronische Kopfschmerzen – vorhergehender postpunktioneller Kopfschmerz 9.12.2 Diagnostik
Klinische Diagnose, meist keine weitere apparative Diagnostik (Liquorlecksuche mittels MRT) nötig. Diagnostische Kriterien laut S1-Leitlinie (AWMF-Registriernummer 030-113) der DGN: A. Jede Kopfschmerzform, die das Kriterium C erfüllt. B. Eine durale Punktion ist erfolgt. C. Kopfschmerz entwickelt sich innerhalb von 5 Tagen nach einer duralen Punktion D. Nicht besser erklärt durch eine andere Kopfschmerz-Diagnose 9.12.3 Therapie
Den Beschwerden angepasste vorwiegende Flachlagerung (eine prophylaktische Bettruhe ist nicht wirksam)
9
5 Medikamentös: – Koffein (Coffeinum N®) 3–4 x tgl. 200–300 mg p.o. – Theophyllin: 3 x tgl. 280–350 mg p.o. – Gabapentin 1–4 x tgl. 300 mg p.o. – Hydrocortison: 1–3 x tgl. 10 mg p.o. 5 Kausal: Epiduraler Bloodpatch (EBP) – Der beste Zeitpunkt zur Anlage eines EBP ist nicht gesichert. Nach derzeitiger Studienlage gibt es keinen direkten Zusammenhang zwischen dem Erfolg eines EBP und dem injizierten Blutvolumen (bei Verwendung eines Volumens von 15–20 ml). – Bei anhaltenden Symptomen mehrmalige Anlage eines EBP möglich. – Durchführung: Gleichzeitige sterile Abnahme von 15–20 ml Eigenvollblut durch Assistenzpersonal, langsame (>1 min) Applikation über die Tuohy-Nadel im gleichen Segment, in dem die Duraperforation stattgefunden hat. Erfolgsrate bei erstem EBP ca. 96 %. Der Erfolg ist stets prompt. 9.12.4 Prophylaxe
Klar nachweisbare Reduktion der Häufigkeit bei 5 Verwendung dünner Kanülen 5 Verwendung von Kanülen mit atraumatischer Spitze (z. B. Sprotte-Nadel) 5 Orientierung des Kanülenschliffs beim Einstich parallel zu den Durafasern, also vertikal 5 Wiedereinführen des Mandrins vor dem Zurückziehen der Nadel 9.13 Anhaltender idiopathischer
Gesichtsschmerz
9.13.1 Charakteristik
5 Früher: „atypischer Gesichtsschmerz“
224
Kapitel 9 · Kopf- und Gesichtsschmerz
. Abb. 9.8 Schematische Schmerzlokalisation bei idiopathischem Gesichtsschmerz
9
5 Gesichtsschmerz ohne organische Ursache im Sinne einer Ausschlussdiagnose 5 Hohe Komorbidität mit Angst und Depression 5 In 90 % Frauen zwischen 30 und 60 Jahren betroffen 9.13.2 Klinik
5 Persistierende, orofaziale, überwiegend unilaterale Dauerschmerzen ohne Dermatomzuordnung (70 % der Fälle) 5 Mittlere Schmerzstärke ohne neuralgiformen (einschießenden) Charakter, vielmehr dumpf-drückender oder brennender, schlecht lokalisierbarer Schmerz 5 Meist gleichbleibende Intensität und Punctum maximum im Wangenbereich (. Abb. 9.8) 5 Meist spontan auftretend, gelegentlich nach Trauma (Operation, Infektion, Verletzung etc.), sehr häufig nach Zahnextraktion, wobei die idiopathischen Schmerzen am Beginn stehen und die die zahnärztliche Behandlung(en) erst initiieren.
5 Symptomfreie Phasen möglich (Wochen bis Monate) 5 Begleitsymptome: – Niedergeschlagenheit, Ängstlichkeit, Dys- und Parästhesien im Gesichtsbereich (Schwellungsgefühl, Überwärmung, Prickeln, Taubheitsgefühl), Hauttemperaturdifferenz – In 50–70 % Plussymptome (Hyperalgesie am Nervenaustrittspunkt, Berührungs- oder Kälteallodynie) – Kein sensibles oder motorisches Defizit! 9.13.3 Diagnose
Die Diagnosekriterien für den idiopathischen Gesichtsschmerz finden sich in . Tab. 9.12. 9.13.4 Differenzialdiagnose
Multidisziplinärer Ansatz nötig, um somatische, aber auch psychiatrische Ursachen auszuschließen. Es muss an alle Kopfschmerzarten gedacht, diese systematisch
225 Literatur
9
. Tab. 9.12 Diagnosekriterien für den anhaltenden idiopathischen Gesichtsschmerz A
Ein Gesichtsschmerz, der die Kriterien B und C erfüllt, ist täglich und über den größten Teil des Tages hinweg vorhanden
B
Anfangs ist der Gesichtsschmerz auf eine umschriebene Region einer Gesichtshälfte beschränkt, sitzt tief und ist schlecht lokalisierbar
C
Der Schmerz ist nicht begleitet von einem sensiblen Defizit oder anderen körperlichen Befunden
D
Untersuchungen einschließlich Röntgenaufnahmen des Gesichts und des Kiefers zeigen keine relevanten pathologischen Befunde
ausgeschlossen, sowie eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung abgeklärt werden. 9.13.5 Therapie
Multimodale Schmerztherapie. Zuvor häufig frustrane Therapieversuche: „Antibiotoka-Gabe wegen Sinusitis“ oder Extraktion (multipler, vermeintlich nicht gesunder) Zähne. 9.13.5.1 Nichtmedikamentöse
Maßnahmen
Der multimodale Therapieansatz und nicht- medikamentöse Verfahren stehen sicher im Vordergrund. 5 Psychotherapie (kognitiv-basierte Verhaltenstherapie), 7 Kap. 5 9.13.5.2 Medikamente
Es liegen keine systematischen Studien mit in Deutschland zugelassenen Medikamenten vor. Therapieversuch möglich mit 5 Trizyklischen Antidepressiva (Amitriptylin, Doxepin) 5 Erfahrungen auch mit Venlaflaxin und Duloxetin 7 Kap. 2.
! Invasive Maßnahmen jeder Art sollten möglichst vermieden werden (Gefahr der Verschlechterung der Symptomatik und der Somatisierung).
Literatur Diener HC, Gaul C, Kropp P et al (2018) Therapie der Migräneattacke und Prophylaxe der Migräne, S1-Leitlinie. In: Deutsche Gesellschaft für Neurologie (Hrsg) Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie. 7 https://dgn.org/leitlinien/3583-ll-030-057-2018-therapie-der-migraeneattacke-und-prophylaxe-der-migraene. Zugegriffen: 22. Juni 2020 Diener HC, May A et al (2019) Prophylaxe der Migräne mit monoklonalen Antikörpern gegen CGRP oder den CGRP-Rezeptor, Ergänzung der S1-Leitlinie Therapie der Migräneattacke und Prophylaxe der Migräne. In: Deutsche Gesellschaft für Neurologie (Hrsg) Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie. 7 https://dgn.org/leitlinien/3859-ll-030-057-cgrp-addendum-migraene-leitlinie-2019. Zugegriffen: 22. Juni 2020 Ferrari MD, Roon KI, Lipton RB, Goadsby PJ (2001) Oral triptans (serotonin 5-HT(1B/1D) agonists) in acute migraine treatment: a meta-analysis of 53 trials. Lancet 358(9294):1668–75 Göbel H, Heinze-Kuhn K, Petersen I, Göbel C, Göbel A, Heinze A (2014) Klassifikation und Therapie des Medikamenten-Übergebrauch-Kopfschmerzes (MÜK). Der Schmerz 28:191–206 Rizzoli P, Loder EW (2011) Tolerance to the beneficial effects of prophylactic migraine drugs: a systematic review of causes and mechanisms. Headache 51(8):1323–35
227
Muskuloskelettale Schmerzen Inhaltsverzeichnis 10.1 Nackenschmerz – 229 10.1.1 Einteilung – 229 10.1.2 Diagnostik – 229 10.1.3 Schmerztypen – 229 10.1.4 Therapie – 230
10.2 Piriformis-Syndrom – 231 10.2.1 Allgemeines – 231 10.2.2 Klinik – 231 10.2.3 Diagnose – 231 10.2.4 Therapie – 231
10.3 Kreuzschmerz – 233 10.3.1 Inzidenz – 233 10.3.2 Einteilung – 234 10.3.3 Chronifizierung von Kreuzschmerzen – 235 10.3.4 Chronifizierungsprophylaxe – 235 10.3.5 Risikofaktoren für chronischen Rückenschmerz – 235 10.3.6 Pathophysiologie – 236 10.3.7 Schmerzsyndrome – 237 10.3.8 Klinik – 237 10.3.9 Diagnostik – 237 10.3.10 Nicht-Spezifischer Kreuzschmerz – 240 10.3.11 Spezifischer Kreuzschmerz – 240 10.3.12 Therapie – 243
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Benrath et al., Repetitorium Schmerztherapie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61783-0_10
10
10.4 Fibromyalgiesyndrom (FMS) – 244 10.4.1 Definition und Zahlen – 244 10.4.2 Pathophysiologie – 245 10.4.3 Diagnostik – 245 10.4.4 Differenzialdiagnose – 248 10.4.5 Therapie – 248
10.5 Rheumatische Schmerzen (rheumatoide Arthritis und Arthrose) – 250 10.5.1 Definition rheumatischer Erkrankungen – 250 10.5.2 Prävalenz – 250 10.5.3 Klinik – 250 10.5.4 Therapie der Arthrose – 250 10.5.5 Therapie der rheumatoiden Arthritis – 251
10.6 Osteoporose – 253 10.6.1 Definition – 253 10.6.2 Prävalenz – 253 10.6.3 Risikofaktoren – 253 10.6.4 Diagnostik – 253 10.6.5 Prophylaxe – 254 10.6.6 Therapie – 254
Literatur – 255
229
10.1 · Nackenschmerz
10.1 Nackenschmerz
Synonyme: Zervikalsyndrom; zervikales, zervikobrachiales oder zervikomedulläres Syndrom. Nackenschmerzen sind meist dumpfe, drückende, manchmal brennende Schmerzen zwischen Hinterhaupt und Rumpf, der Schultergürtel ist meist mitbetroffen. Der Beginn ist schleichend, auch das Fortschreiten wird als schleichend angegeben. Es handelt sich um Spannungsschmerzen der Muskulatur.
10
5 Manualdiagnostische Befunderhebung mit Inspektion und Palpation (Muskelverhärtungen sind häufig, aber nicht spezifisch, daher nicht überbewerten) 5 Segmentale Funktionsuntersuchung mit Bewegungsausmaß der HWS 5 Neurologische Untersuchung (zum Ausschluss radikulärer Ursachen) 5 Radiologische Diagnostik (nicht spezifisch, daher nur in Ausnahmefällen wichtig und zielführend) 10.1.3 Schmerztypen
10.1.1 Einteilung
10.1.3.1 Zervikogene mechanische
90 % der Nackenschmerzen sind unspezifisch, d. h. es lassen sich keine organischen Ursachen finden. 5 Myofaszial bedingte Schmerzsyndrome (ca. 90 %) 5 Radikulär bedingte Schmerzsyndrome: – Diskogen (Bandscheibenprotrusion oder Bandscheibenvorfall) – (Knöcherne) Stenose des Wirbelkanals oder der Zwischenwirbelforamina – Vaskuläre Kompression C2/C3 5 Mechanisch bedingte Schmerzsyndrome: – In den Zwischenwirbelgelenken (sehr selten) – Diskogene, nicht radikuläre Schmerzen 5 Primär infolge direkter Schädigungen (Tumor, Spondylodiszitis, Fraktur, Trauma) 5 Sekundär infolge radikulärer oder mechanisch bedingter Schmerzsyndrome
5 Schmerzen bei fehlender pathologischer Neurologie, Schmerzprojektion eher proximal (Kopf/Schulter), pseudoradikuläre Ausbreitung 5 Häufig schmerzbedingte Bewegungseinschränkung der HWS 5 Irritationszonen über den zervikalen Gelenken 5 Schmerzfreiheit nach Facettenblockade
10.1.2 Diagnostik
5 Schmerzspezifische Anamnese (dumpfe, drückende Schmerzen, langsamer Beginn und langsames Fortschreiten)
Schmerzen
10.1.3.2 Radikulärer Schmerz
5 Schmerzprojektion entlang eines Dermatoms mit Verstärkung durch Bewegungen des Kopfes 5 Eventuell Schmerzen, Parästhesien im Bereich der Hand 5 Kraftgradminderung 5 Reduktion der Muskeldehnungsreflexe 5 Diagnose: pathologischer neurologischer Befund, Röntgen, CT, MRT 10.1.3.3 Sonderformen
5 Thoracic-outlet-Syndrom evtl. mit Plexus-brachialis-Parese, Kompression der A. subclavia (Adson-Manöver positiv; Adson-Manöver: Verschwinden des Radialispulses bei Reklination und Drehen des Kopfes auf die betroffene Seite in tiefer Inspiration, dadurch Anspannen der Mm. scaleni mit nachfolgender Gefäßkompression), Halsrippe, evtl. un-
230
10
Kapitel 10 · Muskuloskelettale Schmerzen
tere Armplexuskompression (Nachweis durch Dopplersonographie) 5 Pancoast-Tumor mit sehr intensivem Schmerz, evtl. rasche Ausbildung von Paresen, klassisch Störung des Sympathikus (Horner-Syndrom) und der Schweißsekretion, pathologische neurologische Untersuchungsbefunde, pathologisches CT und MRT der oberen Thoraxapertur 5 Karpaltunnelsyndrom mit nächtlichen Schmerzen und distalen Parästhesien in den Händen, Schwellungs- und Steifheitsgefühl der Hand, klinisch spät auftretende neurologische Zeichen einer N.-medianus-Schädigung (Bestätigung durch NLG) 5 Plexusneuritis (syn. Neuralgische Schulteramyotrophie, Neuritis des Plexus brachialis) Beginn mit akut stärksten Schmerzen, einige Tage bis Wochen anhaltend, dann spontanes Abklingen. Teilweise nach Infekt auftretend, relativ rasch Paresen (gutartiger Verlauf) im Bereich des Schultergürtels und Oberarms (oder Plexusparese), Liquoruntersuchung und Röntgen normal 5 CRPS mit brennenden oder dumpfen Schmerzen bei Hypo- oder Hyperthermie, distal generalisiert, mit distalen sensorischen und autonomen Störungen, trophischen Störungen und Bewegungseinschränkung der Finger, Schwellung, anamnestisch meist Trauma vorausgehend 5 Supraspinatustendinopathie mit Schmerzen im Bereich der unteren Schulter, Verstärkung bei Bewegung, unauffälliger Röntgenbefund und unauffällige Neurologie, muskuläre Tests positiv (meist Abduktion gegen Widerstand schmerzhaft bzw. schmerzhafter Bogen) 5 Arthropathie des Schultergelenks mit Schmerzen im Bereich der unteren Schulter, keine Verstärkung bei Bewegung gegen Widerstand, Röntgen z. T. negativ (bei Entzündung), z. T. positiv
(Arthrose), Kapselmuster, Bewegungseinschränkung: Außenrotation – Abduktion – Innenrotation 5 Postdiskotomiesyndrom nach Bandscheibenoperation und in Zusammenhang mit postoperativer Instabilität und narbiger Verziehung der Nervenwurzel 10.1.4 Therapie
50 % der Nackenschmerzen verschwinden innerhalb von 6 Monaten, egal welches therapeutische Konzept verfolgt wird! 10.1.4.1 Akuttherapie
5 Verbesserung der körperlichen Bewegung! Patienteninformation und Patientenschulung! 5 Veränderung der Lebensführung, Erhöhung des Aktivitätsniveaus, Abbau inadäquaten Krankheitsverhaltens, Abbau von Angst und Depressivität 5 Erst passive, dann aktivierende physikalische Maßnahmen 5 Medikamentös nach Stufenplan: – NSAR (WHO-Stufe I) – Evtl. WHO-Stufe II – Evtl. Myotonolytika; z. B., Metho carbamol, Tizanidin, Tolperison 5 Muskuläre Lokalanästhetikainfiltration von Triggerpunkten (Cave: hohes iatrogenes Chronifizierungspotenzial!) 5 Neuraltherapie 10.1.4.2 Langzeittherapie
5 Veränderung der Lebensführung, Erhöhung des Aktivitätsniveaus, Abbau inadäquaten Krankheitsverhaltens, Abbau von Angst und Depressivität 5 Physiotherapie 5 TENS 5 Biofeedback ! Bei chronischem HWS-Syndrom multimodalen Therapieansatz wählen. Anwenden des bio-psycho-sozialen Krankheitsmodells (7 Abschn. 1.8.2.1 und . Abb. 1.3).
231
10.2 · Piriformis-Syndrom
10
Os ilium Os sacrum M. piriformis Lig. sacrospinale
Tuberositas ischii
Inzisura sciatica Azetabulum Tochanter major N. ischiadikus Femur
. Abb. 10.1 Klinisch relevante anatomische Nachbarschaften des M. piriformis
10.2 Piriformis-Syndrom 10.2.1 Allgemeines
Synonym: Weaver´s bottom 5 Inzidenz von 5–8 % bei Patienten mit „Kreuzschmerzen“. 5 Wird der Gruppe der myofaszialen Schmerzen zugeordnet. In . Abb. 10.1 sind die anatomische Nachbarschaft des M. piriformis dargestellt. 10.2.2 Klinik
Chronische Schmerzen im Bereich der Gesäßmuskulatur mit Ausstrahlung ins Bein, die beim Laufen/Sitzen verstärkt auftreten, beim Liegen häufig vollständig verschwinden und eine Bandscheibensymptomatik imitieren können. Die Schmerzen können durch Druck auf den M. piriformis reproduziert werden (. Abb. 10.2).
10.2.3 Diagnose
5 Ausschlussdiagnose! 5 Patrick-Test, auch FABER (Flexion, Abduction, External Rotation) -Test genannt. 5 Diagnosescore: . Tab. 10.1. 10.2.4 Therapie z Medikamentöse Therapie
5 NSAR, z. B. Ibuprofen z Nichtmedikamentöse Therapie
5 Physiotherapie 5 therapeutische Lokalanästhesie, z. B. Triggerpunktinfiltration 5 Akupunktur 5 manuelle Therapie 5 Osteopathie (keine ausreichende Evidenz!) 5 sonographisch-gesteuerte Infiltration des M. piriformis mit Lokalanästhetika zu diagnostischen, bei Effektivität auch zu therapeutischen Zwecken
232
Kapitel 10 · Muskuloskelettale Schmerzen
10
. Abb. 10.2 Schmerzausstrahlungsmuster bei Piriformis-Syndrom
10
233
10.3 · Kreuzschmerz
. Tab. 10.1 Diagnosescore Piriformis-Syndrom (nach Michel et al. 2013) Kriterium
Punkte
Ein-/beidseitige Gesäßschmerzen fluktuierend mit schmerzfreien Intervallen im Tagesverlauf
1
Kein lumbaler Schmerz
1
Kein Tast-/Klopfschmerz über der LWS
1
Keine perineale Ausstrahlung
1
Lasègue-Zeichen negativ
1
Längeres Sitzen triggert Gesäß-/Ischiasschmerz
1
Ischiasschmerz, schmerzfreie Intervalle im Tagesverlauf
1
Gesäßschmerzen in Projektion auf M. piriformis auslösbar durch: - Patrick-Test und/oder Freiberg-Test (Tests positiv)
1
- Anspannung gegen Widerstand (Beatty-Test)
1
- Palpation
1
Ischiasschmerz (durch klinische Untersuchung reproduzierbar): - Dehnung
1
- Anspannung gegen Widerstand
1
Maximale Punktzahl
12
Auswertung: ≥ 8 Punkte: Piriformis-Syndrom wahrscheinlich, 6–7 Punkte: Piriformis-Syndrom unwahrscheinlich, Nur 50 % der chronischen Rückenschmerzpatienten ( > 6 Monate bestehende Schmerzsymptomatik) werden wieder in ihren Arbeitsprozess eingegliedert. Hierdurch entstehen für das deutsche Gesundheitssystem direkte und indirekte Kosten von 16–17 Mrd. € pro Jahr. Eine adäquate Behandlung von Rückenbeschwerden muss früh einsetzen.
Ungefähr 80 % aller Menschen haben irgendwann einmal in ihrem Leben Rückenbeschwerden. 7–10 % der Patienten mit Rückenschmerzen bleiben trotz intensiver Diagnostik und Therapie längere Zeit arbeitsunfähig. Die sozialmedizinische Bedeutung dieser Erkrankungen lässt sich allein daran messen, dass Rückenschmerzen in Deutschland derzeitig hinsichtlich 5 Arbeitsunfähigkeitstagen bei GKV-Versicherten an erster Stelle stehen, 5 17 % aller Neuzugänge der Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrenten, 5 26 % aller Fälle stationärer Rehabilitationsmaßnahmen ausmachen und
Die Bedeutung von Rückenschmerzen lässt sich auch an der „Nationalen Versorgungsleitlinie Nicht-spezifischer Kreuzschmerz“ ablesen, die von 30 Fachgesellschaften auf 108 Seiten ihre Empfehlungen abgibt und im März 2017 in der 2. Auflage veröffentlich wurde: 7 https://www.leitlinien.de/nvl/ kreuzschmerz.
234
Kapitel 10 · Muskuloskelettale Schmerzen
10.3.2 Einteilung
10
5 Nach der Ursache: – Spezifischer Kreuzschmerz aufgrund degenerativer Veränderungen vertebraler und/oder extravertebraler (Muskel- und Bindegewebe) Strukturen, sowie spezifischer Erkrankungen, wie z. B. Frakturen, entzündliche Prozesse und primäre oder sekundäre Knochentumoren. – Nicht-spezifischer Kreuzschmerz, bei denen sich im Gegensatz zu den spezifischen keine Hinweise auf ursächliche Erkrankungen, wie z. B. Frakturen, Tumoren oder Entzündungsprozesse, finden lassen. Die meisten Rückenbeschwerden beruhen auf keiner strukturellen, sondern einer funktionellen Störung des Stütz- und Bewegungsapparats. Eine vorübergehende akute Lumbalgie/Lumboischialgie bedarf daher nur in Ausnahmesituationen einer intensiven Diagnostik: Schmerzanamnese und klinische bzw. symptomorientierte neurologische Untersuchung zum Ausschluss von Warnsymptomen aufgrund spezifischer Erkrankungen im Bereich der WS, welche eine intensivere Abklärung bedürften, reichen völlig aus. 5 Bei degenerativen Veränderungen nach der Lokalisation: – Zervikal-, Thorakal- und Lumbalsyndrome: Die Lokalisation von Rückenschmerzen verteilt sich wie folgt: 65 % im lumbalen, 35 % im zervikalen und 2 % im thorakalen Bereich. Das lokale Lumbalsyndrom entspricht dem „simple backache“ und bedeutet einfacher, unkomplizierter Rückenschmerz. – Strahlen die Schmerzen durch Wurzelkompression in die unteren Extremitäten aus, so bezeichnet man dies
als lumbales Wurzelsyndrom bzw. Ischialgie, wobei je nach Anzahl der betroffenen Nervenwurzeln weiterhin zwischen einem mono- und polyradikulären Syndrom unterschieden werden kann. Auch ohne Wurzelkompression kann es jedoch zu ausstrahlenden Schmerzen kommen, häufig sind pseudoradikuläre Schmerzen, deren Ausbreitung nicht den Dermatomen beteiligter Nervenwurzeln entspricht. – Das Kaudasyndrom stellt eine besonders schwere Form des polyradikulären lumbalen Wurzelsyndroms mit unterschiedlichen neurologischen Ausfällen dar. 5 Nach der Dauer und somatischen sowie psychosozial komplizierenden Faktoren: – Akute Rückenschmerzen (Dauer 6 Wochen) 5 Nach dem Schweregrad: bewährt hat sich die Einteilung nach von Korff et al., die die Intensität und die schmerzbedingte Beeinträchtigung erfasst von – Grad 0: keine Schmerzen (keine Schmerzen in den vergangenen sechs Monaten) bis – Grad IV: Hohe schmerzbedingter Funktionseinschränkung 5 Nach dem Chronifizierungsstadium durch das Mainzer Stadienmodell der Schmerzchronifizierung (MPSS), das vier Kriterien abfragt und dann in drei Stadien einteilt (MPSS I-III): – zeitlicher Schmerzverlauf – Schmerzlokalisation(en) – Medikamenteneinnahme – Inanspruchnahme des Gesundheitssystem
235
10.3 · Kreuzschmerz
10
10.3.3 Chronifizierung von
10.3.4 Chronifizierungs
> Die Chronifizierung von Rückenschmer-
Die Prophylaxe ist die beste Maßnahme gegen eine Chronifizierung: 5 Information über die Harmlosigkeit der Rückenschmerzen (85 % sind unspezifisch) 5 Information über die gute Prognose der Rückenschmerzen zu Beginn der Behandlung (60–70 % schmerzfrei nach 6 Wochen, 33 % schmerzfrei innerhalb der ersten drei Monate, 75 % schmerzfrei nach 6 Monaten) 5 Beibehaltung normaler Aktivität 5 Frühzeitige Bewegungsschulung, mögliche Weichteilverletzungen werden durch Bewegung beschleunigt 5 Frühzeitige Einbeziehung von Rehabilitationseinrichtungen mit aktivierender Therapie 5 Frühzeitiges Zurückkehren an den Arbeitsplatz 5 Psychosomatische Fachdiagnostik nach 6 Wochen Arbeitsunfähigkeit und Chronifizierungszeichen
Kreuzschmerzen
prophylaxe
zen bedeutet Übergang vom akuten zum chronischen Rückenschmerz, wenn das Schmerzgeschehen mehr als 3 Monate anhält, seine Alarmfunktion verloren hat und zunehmend psychologische Begleiterscheinungen mit veränderter Schmerzwahrnehmung und Schmerzverarbeitung aufweist.
Iatrogener Beitrag Chronifizierung der Schmerzen
zur
5 Mangelhafte Information des Patienten über den gutartigen Verlauf der Erkrankung 5 Überbewertung radiologischer Befunde 5 Krankschreibung über längere Zeit 5 Verordnung, Anwendung und Empfehlung vorwiegend passiver therapeutischer Maßnahmen 5 Mangelhafte Differenzierung der Schmerzen in Diagnostik und Therapie 5 Vernachlässigung prophylaktischer Maßnahmen (z. B. Rückenschule) 5 Unreflektierte Verschreibung von Medikamenten über längere Zeit 5 Übermäßige und ungezielte lokale Injektionen, insbesondere beim unspezifischen Kreuzschmerz 5 Nichtbeachtung psychosozialer Faktoren (geringe Arbeitsplatzzufriedenheit ist der höchste prognostische Faktor für die Chronifizierung von Rückenschmerzen) 5 Nichtbeachtung der „yellow flags“ 5 Vernachlässigung der kognitiven Verhaltenstherapie zur Durchbrechung von Angst- und Vermeidungsverhalten
10.3.5 Risikofaktoren
für chronischen Rückenschmerz
Risikofaktoren für das Auftreten chronischer Rückenschmerzen (7 Kap. 1.8) (vergleiche auch . Abb. 1.3) sind: 5 Biologische Faktoren: – Vorangegangene Rückenschmerzen – Höheres Alter – Degenerative Prozesse – (Mikro-)Traumen – Vorangegangene Operationen 5 Psychosoziale Faktoren („yello flags“): – Depressivität, Distress (vor allem berufs-, bzw. arbeitsbezogen)
236
10
Kapitel 10 · Muskuloskelettale Schmerzen
– schmerzbezogene Kognitionen, z. B. Katastrophisieren, Hilfs- und Hoffnunglosigkeit, Angst-Vermeidungs-Überzeugungen – passives Schmerzverhalten, z. B. ausgeprägtes Schon- und Angst-Vermeidungsverhalten („Vermeider“) – überaktive Schmerzverhalten: beharrliche Arbeitsamkeit, suppressives Schmerzverhalten („Durchhalter“) – schmerzbezogene Kognitionen: Gedankenunterdrückung – Neigung zur Somatisierung 5 Berufliche Faktoren („blue flags“: subjektiv empfundene Belastungen und „black flags“: objektiv messbare Belastungen): – Schwerarbeit (Tragen, Heben schwerer Lasten) – monotone Körperhaltung – Vibrationsexposition – geringe berufliche Qualifikation – geringer Einfluss auf die Arbeitsgestaltung – geringe soziale Unterstützung – berufliche Unzufriedenheit – (drohender) Verlust des Arbeitsplatzes – Kränkung am Arbeitsplatz, chronischer Arbeitskonflikt (Mobbing) – eigene negative Erwartung hinsichtlich der Rückkehr an den Arbeitsplatz – geringe Arbeitsplatzzufriedenheit – Angst vor erneuter Schädigung am Arbeitsplatz 5 Lebensstil: – Rauchen – Übergewicht – geringe körperliche Kondition – Alkohol 5 Iatrogene Faktoren (7 Abschn. 10.3.3): – mangelhafte Respektierung des bio- psycho-sozialen Krankheitsmodells – Überbewertung somatischer/radiologischer Befunde bei nicht-spezifischen Schmerzen
– lange, schwer begründbare Krankschreibung – Förderung passiver Therapiekonzepte – übertriebener Einsatz diagnostischer Maßnahmen 10.3.6 Pathophysiologie
Rückenschmerzen können durch eine Vielzahl somatischer, insbesondere vertebraler, aber auch extravertebraler Erkrankungen verursacht werden. Auf der Grundlage somatisch bedingter Rückenschmerzen oder auch ohne ein primär somatisches Korrelat können sich unter Beteiligung psychischer und sozialer Mechanismen chronifizierte Rückenschmerzen entwickeln, die dann maßgeblich das Beschwerdebild bestimmen. Bedeutendste somatische Ursache von spezifischen Rückenschmerzen stellt dabei die degenerative Wirbelsäulenerkrankung dar. Anhaltend starke axiale Druckbelastungen durch den aufrechten Gang und verlangsamter Stoffaustausch im Zwischenwirbelabschnitt durch mangelnde Bewegung sind für das frühzeitige Auftreten degenerativer Veränderungen der Bandscheiben beim Menschen im Wesentlichen verantwortlich. Zur Bandscheibendegeneration gehören Quelldruckverlust, Rissbildungen und Zermürbungserscheinungen, die insgesamt eine Segmentlockerung hervorrufen. Im Rahmen degenerativer Wirbelsäulenveränderungen kann es zu intradiskalen Massenverschiebungen im Zwischenwirbelabschnitt mit Sequesterbildung kommen. Mechanische Bedrängung und entzündliche Prozesse können zu einem wechselnden Irritationszustand der Nozizeptoren in der Nervenwurzel, in Wirbelgelenkkapseln und Bändern mit entsprechender reflektorischer Reaktion in den Muskeln führen. Hieraus resultiert die Initiierung eines Circulus vitiosus mit konsekutiver Erhöhung des Muskeltonus der Rückenmuskulatur; dies wiederum führt zur Verstärkung des Schmerzes.
237
10.3 · Kreuzschmerz
10.3.7 Schmerzsyndrome
5 Radikulärer Schmerz 5 Myofasziale Schmerzsyndrome: – Reflektorischer Muskelschmerz bzw. Verspannung durch Fehlstatik, Überlastung – Hartspann durch kontinuierliche Fehlbewegung oder Stereotypien 5 Spondylogene Schmerzsyndrome: Spondylarthrose oder Veränderung der Wirbelbogengelenke, entzündlich-rheumatische WS-Erkrankungen (z. B. M. Bechterew), Spondylitiden bei Enteropathien (z. B. M. Reiter, M. Behçet) mit gestörten Bewegungsfunktionen 5 Diskogene Beschwerden (Protrusion, Prolaps): 20–30 % der Bandscheibenvorfälle verursachen überhaupt keine Schmerzen. Die Schmerzen bei Bandscheibenschäden beruhen wahrscheinlich auf einem immunologisch-entzündlichen Prozess (Autoimmunreaktion) und weniger auf einer direkten Kompression des Nervs bzw. der Nervenwurzel 5 Psychogene Verspannung, z. B. bei den meisten Zervikalsyndromen 5 Maligne und metabolische Knochenerkrankungen, z. B. M. Paget 10.3.8 Klinik
. Tab. 10.1 zeigt Klinik und Ursachen von Rückenschmerzen auf. Die klinische Einteilung der Rückenschmerzen erfolgt nach der Symptomatik: 5 Lokal (nozizeptiv oder neuropathisch), nicht radikulär, d. h. ohne Ausstrahlung 5 Radikulär (mechanisch neuropathisch), d. h. Schmerzausstrahlung entlang eines Dermatoms 5 Pseudoradikulär, d. h. Schmerzausstrahlung, die sich nicht an das Versorgungsgebiet eines Nerven hält (s. unten)
10
10.3.8.1 Lumbago mit Leitsymptom
5 Nicht radikuläre Schmerzen ausgehend vom Bewegungssegment, schlecht lokalisierbar, tiefsitzend, dumpfer Schmerzcharakter – Differenzialdiagnose: Ischiosakralgelenk- oder Hüftgelenkveränderungen (übertragener Schmerz) 5 Radikulärer Schmerz (2 von 4 Symptomen müssen positiv sein): – Stärkere Schmerzen im Bein, einschließlich Gesäß, als im Rücken – Sensibilitätsstörungen im betroffenen Dermatom (bei > 90 % sind L5 und S1 betroffen) – Paresen der entsprechenden Kennmuskulatur – Schmerzintensitätszunahme bei Provokation (Lasègue-Zeichen Durch einen Bandscheibenprolaps kommt es zur mechanischen Kompression oder Dehnung der entsprechenden Nervenwurzel. Nur eine zusätzliche Schwellung und Entzündung verursacht die Schmerzen.
10.3.9 Diagnostik
Die wichtigsten therapeutisch und prognostisch relevanten Ziele der Diagnostik von Rückenschmerzen bestehen in: 5 Differenzierung unspezifischer und unkomplizierter Rückenschmerzen (. Abb. 10.1, Punkt A) von solchen mit radikulären Symptomen (. Abb. 10.1, Punkt B); Patienten mit alarmierenden Symptomen („red flags“) bedürfen sofortiger fachärztlicher Betreuung (. Abb. 10.1, Punkt C) 5 Bei fehlenden Hinweisen für gefährliche Verläufe und anderen ernstzunehmenden Pathologien zunächst keine weiteren diagnostischen Maßnahmen (insbesondere Bildgebung) durchführen
238
Kapitel 10 · Muskuloskelettale Schmerzen
5 Beachtung der Risikofaktoren für eine Chronifizierung („yellow, blue oder black flags“,, s. oben) von Rückenschmerzen 10.3.9.1 Anamnese
5 Auslöser, Zeitpunkt des Auftretens, Dauer, Lokalisation und Ausstrahlung der Schmerzen 5 Stärke und Beeinträchtigung bei täglichen Verrichtungen 5 frühere Episoden von Rückenschmerz 5 bei Verdacht auf chronifizierte Rückenschmerzen auch psychosoziale und arbeitsplatzbezogene Risikofaktoren (. Abb. 10.3) 10.3.9.2 Anhaltspunkte für das
Vorliegen spezifischer Ursachen
10
sind die sog. „red flags“, die zur Abwendung eines dramatischen Verlaufs eine fachärztliche Versorgung, ggf. Klinikeinweisung, nötig machen 1. Fraktur/Osteoporose – schwerwiegendes Trauma oder Bagatelltrauma bei älteren oder potenziellen Osteoporosepatienten 2. Infektion – Allgemeinsymptome positiv, durchgemachte bakterielle Infektion – Immunsuppression – konsumierende Grunderkrankung 3. Radikulopathie/Neuropathie – im Dermatom in ein oder beide Beine ausstrahlende Schmerzen oder motorische Schwäche – Kaudasyndrom: plötzlich einsetzende Blasen-/Mastdarmstörung – Gefühlsstörung perinanal, perineal – ausgeprägtes oder zunehmendes neurologisches Defizit der unteren Extremität 4. Tumor/Metastase – bekannte Tumorerkrankung – höheres Alter
– Allgemeinsymptome positiv: Gewich tsverlust, Inappetenz, rasche Ermüdbarkeit – starker nächtlicher Schmerz 5. Axiale Spondylarthritis (7 Abschn. 10.3.11.1) 10.3.9.3 Klinische/orientierende
neurologische Untersuchung
5 Reflexstatus (Muskeleigenreflexe, Fremdreflexe, Dehnungszeichen) 5 Motorik (Inspektion der Muskulatur auf Atrophien, Faszikulationen, Kontrakturen; Muskeltonus; Kraftprüfung) 5 Sensibilität 5 Vegetative Funktionen (Blasen-/Mastdarmfunktion, Hauttemperatur und -durchblutung) 10.3.9.4 Laboruntersuchung
5 BSG, CRP, Blutbild, AP, Serumkalzium und -phosphat, Urinstatus (zum Ausschluss anderer Krankheiten) 10.3.9.5 Bildgebende Verfahren
Beispielsweise CT, MRT oder Skelettszintigraphie nur dann, 5 wenn eine radikuläre Symptomatik vorliegt oder eine Stenose vermutet wird, 5 wenn Hinweise auf schwere Grunderkrankungen, z. B. ein Tumorleiden, weitere Diagnostik erfordern, 5 wenn fachärztlich unklare oder therapieresistente Befunde vorhanden sind, die eine weitere Abklärung erforderlich machen. 10.3.9.6 diagnostische
Periduralanästhesie
5 Bei nozizeptiver Schmerzursache (z. B. LWS-Knochenmetastase) kommt es unter der analgetischen Wirkung der Periduralanästhesie zur fast komplet ten Schmerzfreiheit. Nach Abklingen der Periduralanästhesie sofortiges
239
10.3 · Kreuzschmerz
A.
B.
10
C.
Einfacher (unkomplizierter) Rückenschmerz
Gravierende Symptome
Alarmierende Symptome »red flags«
– Rückenschmerz überwiegt – bewegungsabhängig – mäßiger Leidensdruck – keine neurologischen Ausfälle
– Beinschmerz überwiegt – Parästhesie – Lasegue positiv – keine gravierenden Paresen
– Labor auffällig
Kaudasyndrom
– Gewichtsverlust
– Kontinenzstörung
– weitere neurologische Symptome
– Gravierende Paresen
– Reithosenanästhesie
– Knochendestruktionen – Anamnese Karzinom, Steroide, HIV
Relevante psychische Auffälligkeit?
sofort
Medikamentöse Maßnahmen (z. B. Analgetika, NSAR), evtl, manuelle Therapie, Physiotherapie, Beibehaltung normaler Aktivität, keine Bettruhe
Medikamentöse Maßnahmen (z. B. Analgetika, NSAR), fakultative Entlastung und Bettruhe, physikalische Therapie, Krankengymnastik
Nach 4 Wochen Therapieresistenz
Nach 2 Wochen Therapieresistenz
sofort
ggf. erweiterte Diagnostik (Psychotherapeut/ Psychiater)
Fachärztliche Diagnostik und Therapie Orthopäde, Neurologe Psychiater/Psychotherapeut
ggf. sofort
Nach 3 Wochen Therapieresistenz
Reevaluation arbeitsunfähig? Psychosoziale Auffälligkeiten? postoperative Beschwerden
nein
Klinikeinweisung (Orthopädie, Neurochirurgie, Neurologie, evtl, weitere Disziplinen)
ja
Integrative Programme: Rückenschule, Edukation, Verhaltenstherapie, Bewegungsu. Arbeitstraining
Multimodale Rehabilitation mit edukativen, sport- und physiotherapeutischen sowie arbeitstherapeutischen Maßnahmen, Psychotherapie
berufsbegleitend ambulant
Teilstationärer Klinikaufenthalt Tagesklinik
. Abb. 10.3 Synopsis zur Diagnostik und Therapie von Rückenschmerzen
Wiederauftreten der Schmerzen mit unveränderter Schmerzsymptomatik. 5 Bei muskuloskelettaler Schmerzursache kommt es unter der Periduralanästhesie ebenfalls zu einer fast völligen Schmerz-
freiheit. Nach Abklingen der Periduralanästhesie treten die Schmerzen oft in ihrer Symptomatik verändert und viele Stunden bis Tage später wieder auf. Selten bleibt die Schmerzreduktion auch
240
Kapitel 10 · Muskuloskelettale Schmerzen
bestehen (therapeutische Periduralanästhesie). 5 Bei chronifiziertem Rückenschmerz kommt es trotz suffizienter Periduralanästhesie nicht zu einer Beeinflussung der Schmerzen. Es wird deutlich, dass hier invasive Therapieansätze an der Wirbelsäule oder gar Operationen scheitern werden und insofern kontraindiziert sind. 10.3.10 Nicht-Spezifischer
Kreuzschmerz
10
Die Nationale Versorgungsleitlinie mit der AWMF Registernummer nvl-007 umfasst in der Langfassung 108 Seiten, die durch eine Kurzfassung, eine Patientenleitlinie, Kurzinformationen für Patienten, Empfehlungen und mehrere Übersichten ergänzt wird. Die Kernaussagen lauten: 5 Zurückhaltende Diagnostik 5 Psyche und soziales Umfeld beachten 5 Bewegung statt Bettruhe 5 Schmerzmittel: so viel wie nötig, so wenig wie möglich 10.3.10.1 Therapeutische
Medikamentöse Therapie: 5 NSAR sollten in der niedrigsten wirksamen Dosierung und so kurzzeitig wie möglich oral (nicht parenteral!) angewandt werden 5 Metamizol kann angewandt werden, wenn NSAR kontraindiziert ist 5 Parazetamol sollte nicht angewandt werden 5 Opioide können bei fehlendem Ansprechen von Nicht-Opioiden für 4–12 Wochen oral (nicht transdermal!) angewandt werden, die Opioidtherapie soll regelmäßig evaluiert werden 5 Opioide sollen zur Langzeitbehandlung (7 Abschn. 2.2.7) nur im Rahmen eines therapeutischen Gesamtkonzepts angewandt werden 5 Muskelrelaxantien sollen nicht angewandt werden 5 Intravenös, intramuskulär oder subkutan applizierbare Medikamente sollen nicht angewandt werden Multimodale Behandlungsprogramme sollen bei Patienten mit subakuten und chronischen Kreuzschmerzen angewandt werden, wenn weniger intensive evidenzbasierte Therapieverfahren unzureichend waren.
Empfehlungen
Nicht-medikamentöse Therapie: 5 Die Patienten sollen angehalten werden, in Bewegung zu bleiben, von Bettruhe soll abgeraten werden 5 passiven Therapien (TENS, Massage, Reizstrom, Kinesiotape, Magnetfeldtherapie, etc.) sollen unterbleiben 5 Akupunktur kann bei unzureichendem Erfolg symptomatischer und medikamentöser Therapie in Kombination mit aktivierenden Maßnahmen in möglichst wenigen Sitzungen erfolgen 5 „Progessive Muskelralaxation“ (PMR) sollte angewandt werden 5 bei Vorliegen psychosozialer Risikofaktoren soll eine kognitive Verhaltenstherapie angeboten und angewandt werden
10.3.11 Spezifischer Kreuzschmerz
Die 2018 erstellte S2k-Leitlinie „Spezifischer Kreuzschmerz“ (AWMF-Registriernummer 033–051) kann als Reaktion auf die schon seit vielen Jahren bestehende S3-Leitlinie und Nationale Versorgungsleitlinie „Nicht-spezifischer Kreuzschmerz“ (7 Abschn. 10.2.4) gelesen werden. Die wichtigsten Punkte werden im Folgenden vorgestellt. Als „Klinischer Konsens“ wird bereits in der Einleitung festgehalten: „Psychische Komorbidität soll auch Berücksichtigung bei Diagnostik und Therapie akuter und chronischer spezifischer Wirbelsäulenerkrankungen finden, insbesondere vor der Indikation zur Durchführung operativer Maßnahmen.“
241
10.3 · Kreuzschmerz
Wer häufig mit der Diagnose „Postlaminektomie-Syndrom“ zu tun hat, kann sich dies für seine Patienten nur wünschen. 10.3.11.1 Morphologische Entitäten
Lumbales Facettensyndrom 5 Lokaler lumbaler Kreuzschmerz mit möglicher pseudoradikulärer Ausstrahlung, welcher durch eine Veränderung der Wirbelgelenke eines oder mehrerer Bewegungssegmente ausgelöst wird. 5 Am häufigsten degenerative Ursache, auch bei vermehrter mechanischer Belastung. 5 Diagnose – morgendlicher Anlaufschmerz, Retroflexionsschmerz, Umlagerungsschmerz – Diagnostische Facettenblockaden 5 Therapie – Symptomatisch, ursächlich (muskuläre Stabilisation), perkutane Neurotomie (z. B. Thermokoagulation) der die Facettengelenke versorgenden sensorischen Nerven – bei Therapieversagen: OP
Discogenes Lumbalsyndrom bis Osteochondrosis vertebralis 5 Lokaler lumbaler Kreuzschmerz mit möglicher pseudoradikulärer Ausstrahlung, welcher durch eine Veränderung der Bandscheibe eines oder mehrerer Bewegungssegmente ausgelöst wird. 5 Zeichen der degenerativen Wirbelsäulenveränderung, Prävalenz 26–40 % bei Pat. mit Lumbago ohne radikuläre Ausstrahlung 5 Diagnose – MRT, keine lumbale Discographie 5 Therapie – Physiotherapie, Gewichtsreduktion, aktive Stabilisierung durch Aufbau der Rumpfmuskulatur – bei Therapieversagen: OP, kein intradiscales Verfahren
10
Axiale Spondylarthritis inklusive M. Bechterew 5 Zusammenfassung von Erkrankungen des rheumatischen Formenkreises bei Vorliegen von Entzündungen der Sakroiliakalgelenke, der Wirbelkörper, der Wirbelgelenke und der Sehnenansätze; starke Assoziation mit HLA-B27, siehe auch S3-Leitlinie der AWMF mit der Registriernummer 060-003. 5 M. Bechterew: axiale Spondylarthritis mit Sakroiliitis im Röntgenbild/MRT 5 tiefsitzender Kreuzschmerz bei jungen Erwachsenen (Schmerzbeginn bei 80 % zwischen dem 20. und 30. LJ), Einschränkung der Beweglichkeit der LWS 5 Klinik – langsame Entwicklung – Morgensteifigkeit im unteren Rücken/ Kreuz von mind. 30 min – frühmorgendlicher Schmerz/nächtliches Erwachung – keine Besserung durch Ruhe – Besserung durch Bewegung – wechselseitiger Gesäßschmerz 5 Diagnose – Rheumatologische Abklärung! – Röntgen der Sakroiliakalgelenke – MRT der Sakroiliakalgelenke 5 Therapie – Physiotherapie, NSAR (. Tab. 10.2), Biologika (. Tab. 10.3)
Baastrup 5 Rückenschmerzen durch sich berührende Dornfortsätze durch Degeneration 5 Therapie – symptomatisch medikamentös, Physiotherapie, lokale Injektion von Lokalanästhetika mit Kortison
Spinalkanalstenose 5 Anatomische Einengung des Spinalkanals mit vermindertem Raum für Nerven und Gefäße durch Degeneration. 5 Diagnose
242
Kapitel 10 · Muskuloskelettale Schmerzen
. Tab. 10.2 Anamnestische Hinweise zur Einteilung von Rückenschmerzen (Mod. nach Cegla und Gottschalk 2008) Schmerzursache
Radikulär
Pseudoradikulär
Schmerzbeginn
Plötzlich
Langsam schleichend
Schmerzqualität
Stechend
Dumpf drückend
Ausstrahlung
Entlang eines Dermatoms
Ohne Dermatombezug
Auslöser
Bewegung, Pressen, Husten
Sitzen, Stehen
. Tab. 10.3 Vergleich Arthrose und rheumatoide Arthritis
10
Arthrose
Rheumatoide Arthritis
Pathophysiologie
Degenerativ
Entzündlich
Alter Erstmanifestation
>50 Jahre
30–45 Jahre
Morgensteifigkeit
60 min
Auftreten
Belastungsschmerz, „Anlaufschmerz“
Ruheschmerz, Besserung bei Bewegung
Gelenke
Monarthrose
Symmetrisch, > 3 Gelenke geschwollen
Lokalisation
Lokalisiert
Generalisiert
Schmerzcharakter
Bohrend, stechend
Dumpf, brennend
Tagesrhythmik
Eher abends
Eher morgens
Klinische Untersuchung
Krepitation bei aktiver Bewegung, keine Überwärmung des Gelenks
Ulnardeviation, Rheumaknoten, schmerzhafte Schwellung der proximalen Interphalangealgelenke, Metakarpophalangeal- oder Handgelenke, Schwanenhalsdeformität
Blutuntersuchung
BSG Stufenbett mit entlastender Lagerung (90° gebeugte Hüft- und Kniegelenke) mit gutem schmerzlinderndem Effekt und kurzfristiger Entlastung. Dauer maximal 7 Tage!
10
5 Vorübergehende Wärmeapplikation in der Anfangsphase mittels Heizkissen, Fangopackungen, Wärmflasche (seltener lokale Kälteapplikation) 5 Medikamentöse Schmerztherapie mit NSAR, zentral wirksamen Muskelrelaxanzien und schwach wirksamen Opioiden 5 Periduralanästhesie (Blockaden mit LA und Steroiden) 5 Intensive Physiotherapie (axiale Traktion bzw. entspannende Lagerung für die Lendenwirbelsäule – Effektivität nicht einheitlich beurteilt), Haltungsschule, Erlernen wirbelsäulenschonender Lagerungs- und Positionsänderungen 10.3.12.3 Chronische Symptomatik
(> 12 Wochen)
5 Medikamentöse Schmerztherapie mit NSAR nur kurzfristig, Antidepressiva, z. B. TZA, und evtl. zurückhaltend Opioiden (WHO-Stufe II, ggf. III) 5 Psychotherapie in Form von kognitiver Verhaltenstherapie, Schmerz- und Stressbewältigung
5 Kombination der Psychotherapie mit Ausdauer- und Krafttraining der Muskulatur, z. B. im GRIP (multimodale Therapiekonzepte mit 4-wöchiger Intensivbehandlung in Kleingruppen im Rahmen einer Tagesklinikaufnahme) 5 Nicht wirksam: Akupunktur, Injektionen aller Art, Radiofrequenzbehandlung, Laser- und Magnetfeldtherapie, SCS 10.3.12.4 Operationsindikation
5 Cauda-equina-Kompressionssyndrom mit Blasen- und Mastdarmlähmung 5 Akute Ausfallerscheinungen funktionell wichtiger Muskeln 5 Weiterführende Diagnostik vor Operation: CT, EMG und Myelographie 10.3.12.5 Primärprävention
5 Körperliche Bewegung: soll empfohlen werden, Auswahl des Verfahrens nach individuellen Präferenzen 5 Edukation: Informationen basierend auf dem bio-psycho-sozialen Krankheitsmodell sollen in die Prävention einbezogen werden 5 Ergonomie: Maßnahmen am Arbeitsplatz, wie ergonomische Gestaltung, Förderung der Arbeitsplatzzufriedenheit, sollten eingesetzt werden 10.4 Fibromyalgiesyndrom (FMS)
Statt „Fibromyalgie“ wird der Terminus Fibromyalgiesyndrom bevorzugt, da es sich bei dem Krankheitsbild um einen Symptomenkomplex handelt. 10.4.1 Definition und Zahlen
> Chronische Schmerzen in mehreren Körperregionen (CWP) sind ein häufiges Phänomen in der Allgemeinbevölkerung. Zur Definition des FMS müssen weitere
245
10.4 · Fibromyalgiesyndrom (FMS)
k örperbezogenen Beschwerden, wie Erschöpfung, S chlafstörungen, affektive Störungen, viszerale Störungen, etc., hinzukommen.
5 Prävalenz „chronic widespread pain“ (CWP) in der erwachsenen Bevölkerung 10 %, Verhältnis Frauen zu Männer = 2 : 1 5 Prävalenz FMS in der erwachsenen Bevölkerung in Deutschland 2.1 %, Verhältnis Frauen zu Männer = 4 : 1 bis 6 : 1 5 Altersgipfel 24–50 Jahre, Erkrankungsbeginn um das 35. Lebensjahr 5 Kontinuum von CWP zu FMS in der Anzahl der Symptome, der Zunahme der affektiven Störungen und funktionellen Beeinträchtigung 5 Kernsymptome des FMS sind neben chronischen Schmerzen in mehreren Körperregionen, Schlafstörungen bzw. nicht-erholsamer Schlaf, und Müdigkeit, bzw. körperliche und/oder geistige Erschöpfungsneigung 5 Die Kriterien eines FMS und die einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung, bzw. einer chronischen Schmerzstörung mit psychischen und somatischen Faktoren, erfassen zum Teil überlappende, zum Teil unterschiedliche klinische Charakteristika von Personen mit chronischen Schmerzen in mehreren Körperregionen ohne spezifischen somatischen Krankheitsfaktor. Das FMS kann daher als funktionelles somatisches Syndrom klassifiziert werden. 5 Das FMS kann mit depressiven Störungen assoziiert sein. Das FMS ist aber nicht als depressive Störung zu klassifizieren 5 Das FMS ist NICHT mit einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung (F45.40) oder einer Schmerzstörung mit psychischen und somatischen Faktoren (F45.41) gleichzusetzen. 5 Der Begriff „Fibromyalgie“ ist obsolet.
10
10.4.2 Pathophysiologie
Die pathophysiologischen Mechanismen sind bislang nicht eindeutig geklärt, diskutiert werden: 5 Störung der zentralen Schmerzverarbeitung mit reduzierter Schmerzschwelle, dadurch zentrales Hypersensitivitätssyndrom; evtl. Dysfunktion der zentralen deszendierenden hemmenden Bahnen. Daher wird die FMS auch als „zentrales Hypersensitivitätssyndrom“ verstanden. 5 Störung neuroendokriner Regelkreise mit reduzierten Konzentrationen an Serotonin (im Serum) und basalem Kortisol (im 24-h-Urin); pathologische Kortisolsekretion nach Stimulation 5 Dysfunktion der Hypothalamus-Hypophysen-Schilddrüsen-Achse mit Verlust der diurnalen Variabilität und Erhöhung der basalen Kortisolspiegel, jedoch Hyporeaktivität bei Stimulation 5 Erhöhung des basalen Sympathikotonus mit abgeschwächter Reagibilität auf Stressoren. 5 Erhöhte proinflammatorische und verminderte antiinflammatorische systemische Zytokinprofile sind beim FMS beschrieben 5 Erhöhte Konzentration z. B. von Substanz P (im Liquor), Metenkephalin, Dynorphin A 5 Ein biopsychosoziales Modell, wie beim chronischen Schmerz (7 Kap. 1.8; . Abb. 1.3) bezüglich Prädisposition, Auslösung und Chronifizierung des FMS wird postuliert 10.4.3 Diagnostik
> Die Diagnose erfolgt klinisch symptombasiert, der Nachweis von Tenderpoints ist fakultativ und für die Diagnose nicht (mehr) obligat. Druckschmerzhaftigkeit an den Kontrollpunkten schließt die Diagnose FMS nicht aus.
246
Kapitel 10 · Muskuloskelettale Schmerzen
10.4.3.1 Gegenüberstellung
Tenderpoints vs. Triggerpunkte
10
Unterschiede zwischen myofaszialen Triggerpunkten und Tenderpoints (nach Mense 2011): 5 Myofasziale Triggerpunkte – Palpabler Knoten im Muskel, meist in der Nähe des Muskelbauchs – Meist einzeln vorkommend – Allodynie und Hyperalgesie am Ort des Triggerpunkts – Übertragung der Schmerzen des Triggerpunkts – Normale Schmerzempfindlichkeit in anderen Geweben – Lokale Zuckungsreaktion – Lokale Kontraktur im Biopsiematerial – Peripherer Mechanismus der Entstehung 5 Tenderpoints – Fehlender Palpationsbefund – Lage meist am Muskel-Sehnen-Übergang – Multipel per Definition – Allodynie und Hyperalgesie auch außerhalb der Tenderpoints – Schmerzverstärkung unter psychischem Stress – Unspezifische histologische Veränderungen im Muskel – Zentralnervöser Entstehungsmechanismus wahrscheinlich 10.4.3.2 Symptombasierte
Diagnostik
Im Anamnesegespräch und über mithilfe von Fragebogen (Häuser et al. 2012) 5 Tagesmüdigkeit 5 Probleme beim Denken oder Gedächtnis 5 Morgenmüdigkeit bei nicht erholsamem Schlaf 5 Depression
5 Kopfschmerz 5 Schmerzen in mehreren Körperregionen: rechte und linke Körperseite, oberhalb und unterhalb der Taille, vorne und hinten 10.4.3.3 Modifizierte ACR-Kriterien
2010
5 Obligates Hauptsymptom: – Regionaler Schmerzindex: ≥ 7/19 Schmerzorte auf der regionalen Schmerzskala 5 Obligate weitere Befunde/Symptome: – Symptomschwere Score ≥ 5: Summe aus den Schweregraden von (minimal 0; maximal 12): – Körperliche Müdigkeit bzw. vermehrte Erschöpfbarkeit – (jeweils 0 = nicht vorhanden bis 3 = extrem vorhanden) – Nicht erholsamer Schlaf – (jeweils 0 = nicht vorhanden bis 3 = extrem vorhanden) – Kognitive Störungen (z. B. Konzentrations- und Merkfähigkeitsstörungen) – (jeweils 0 = nicht vorhanden bis 3 = extrem vorhanden) – Kopfschmerzen – (jeweils 0 = nicht vorhanden bis 1 = vorhanden) – Bauchschmerzen – (jeweils 0 = nicht vorhanden bis 1 = vorhanden) – Depression – (jeweils 0 = nicht vorhanden bis 1 = vorhanden) 5 Ausschlussdiagnostik: – Ausschluss einer körperlichen Erkrankung, welche das typische Symptommuster ausreichend erklärt 10.4.3.4 Weiterführende Diagnostik
5 Körperliche und psychische Beeinträchtigungen im Alltag. Symptombelastung kann mithilfe des Patient Health Questionnaire PHQ-15 abgefragt werden
10.4 · Fibromyalgiesyndrom (FMS)
(Abfrage der „somatischen Symptome“; Ergebnis je nach Punktzahl zwischen „minimale“ bis „schwer ausgeprägte“ somatische Symptomstärke) 5 Ausfüllen einer Schmerzskizze 5 Ursachenüberzeugungen und Krankheitstheorie 5 Psychosoziale Stressoren, inklusive biographische Belastungsfaktoren (z. B. kindlicher (sexueller) Missbrauch) 5 Psychiatrische und/oder psychotherapeutische Therapieerfahrung 5 Medikamentenanamnese! Tipp
In Deutschland ist die (unkritische) Einnahme häufig von: 5 Protonenpumpenhemmen (lt. Fachinfo gelegentlich: Kopfschmerzen; selten Myalgie) 5 Statinen (lt. Fachinfo häufig Myalgie, Arthralgie, Schmerzen in den Extremitäten, Muskelspasmen, Gelenkschwellungen, Rückenschmerzen)
10.4.3.5 Fachpsychotherapeutische
Untersuchung
Wird bei folgenden Konstellationen empfohlen: 5 Hinweise für vermehrte seelische Symptombelastung (Angst, Depression: häufige komorbide Störungen!) 5 Anamnestische Angaben von aktuellen schwerwiegenden psychosozialen Stressoren 5 Anamnestische Angaben von aktuellen oder früheren psychiatrischen Behandlungen 5 Anamnestische Angaben von schwerwiegenden biographischen Belastungsfaktoren 5 Maladaptive Krankheitsverarbeitung 5 Subjektive psychische Krankheitserklärungen (Krankheitsattributionen)
247
10
10.4.3.6 Weitere häufig assoziierte
funktionelle Syndrome
5 Beschwerden des Verdauungstrakts (z. B. Globusgefühl, dyspeptische Beschwerden und Stuhlunregelmäßigkeiten): Reizmagen und Reizdarm 5 Miktionsbeschwerden (z. B. Schmerzen beim Wasserlassen, häufiges Wasserlassen): Reizblase 5 Kopfschmerzen: Kopfschmerz vom Spannungstyp 5 Gesichtsschmerzen, nächtliches Zähneknirschen: Myoarthropathie der Kiefergelenke 5 Chronische Unterbauchschmerzen: „chronic pelvic pain“ (Frau) bzw. Prostatodynie (Mann) 5 Herzbezogene Beschwerden (z. B. Palpitationen, thorakales Druckgefühl): funktionelle Herz-Kreislauf-Beschwerden 5 Atembezogene Beschwerden (z. B. Gefühl der Atemhemmung): funktio nelle Atembeschwerden 5 Ohrgeräusche, Geruchs- und Lärmüberempfindlichkeit, empfindliche Augen: Reizüberempfindlichkeit 5 Vermehrtes Frieren oder Schwitzen, Kältegefühl der Extremitäten 10.4.3.7 Laboruntersuchung
5 Blutsenkungsgeschwindigkeit, C-reaktives Protein, kleines Blutbild (z. B. Polymyalgia rheumatica, rheumatoide Arthritis) 5 Kreatininkinase (z. B. Muskelerkrankungen) 5 Kalzium (z. B. Hyperkalziämie) 5 Thyreoidea-stimulierendes Hormon basal (z. B. Hypothyreose) 5 Vitamin D-Spiegel (Vitamin D-Mangel ist assoziiert mit FMS) 5 Ohne klinische Hinweise ist eine routinemäßige Untersuchung auf mit entzündlich-rheumatischen Erkrankungen assoziierte Autoantikörper nicht sinnvoll
248
Kapitel 10 · Muskuloskelettale Schmerzen
5 In Abhängigkeit von der Anamnese und dem körperlichen Untersuchungsbefund können weitere Laboruntersuchungen sinnvoll sein 10.4.3.8 Weitere technische
Diagnostik
Bei typischem Beschwerdekomplex und fehlendem klinischem Hinweis auf internistische, orthopädische oder neurologische Erkrankungen (Anamnese und klinische Untersuchung ohne Hinweis auf andere Erkrankungen als Ursachen von Schmerzen und Müdigkeit, unauffälliges Basislabor) wird empfohlen, keine weitere technische Diagnostik (weiterführendes Labor, Neurophysiologie, Bildgebung) durchzuführen. 10.4.4 Differenzialdiagnose
10
5 Allgemein: – Arzneimittelnebenwirkungen 5 Internistisch-rheumatologisch: – Entzündlich-rheumatische Erkrankungen – Chronisch entzündliche Muskelerkrankungen – Infektionen mit Auswirkung auf das Bewegungssystem (Borelliose) – Endokrinologische Erkrankungen – Osteoporose – Psoriasis mit Gelenkbeteiligung – Disseminierte Tumorerkrankungen (z. B. Plasmozytom) – Hämochromatose 5 Orthopädisch: – Statisch-muskuläre Dysbalancen – Hypermobilität – Myofasziale Schmerzsyndrome 5 Neurologisch: – Muskuläre fokale Dystonien – Multiple Sklerose
– Entzündlich-degenerative neuromuskuläre Erkrankungen (Neuroborelliose) – M. Recklinghausen 5 Psychiatrisch-psychotherapeutisch: – Depression – Anhaltende somatoforme (Schmerz-) Störung – posttraumatische Belastungsstörung 10.4.5 Therapie
> Multimodale Therapie durch spezialisierte Zentren!
10.4.5.1 Information der Patienten
Es wird empfohlen, Patienten bei der Erstdiagnose folgende Informationen zu geben: 5 Den Beschwerden liegt keine organische Krankheit („Fibromyalgie“ im Sinne einer distinkten rheumatischen Krankheit), sondern eine funktionelle Störung zu Grunde. 5 Die Legitimität der Beschwerden wird versichert. 5 Die Beschwerden werden mithilfe eines bio-psycho-sozialen Krankheitsmodells, das an die subjektive Krankheitstheorie der Patienten anknüpft, in anschaulicher Weise erklärt, z. B. durch das Vermitteln psychophysiologischer Zusammenhänge (Stress, Teufelskreismodelle). 5 Die Beschwerden sind ungefährlich im Sinne einer normalen Lebenserwartung, sie können durch eigene Aktivitäten gelindert werden 10.4.5.2 Basistherapie
Patienten mit FMS sollen über die Diagnose aufgeklärt werden. Sie sollen darauf hingewiesen werden, dass den Beschwerden keine organischer Krankheit zugrunde
249
10.4 · Fibromyalgiesyndrom (FMS)
liegt, sondern eine funktionelle Störung. Die Legitimität der Beschwerden soll versichert werden, sie sollen mithilfe eines bio-psycho-sozialen Krankheitsmodells erklärt werden (7 Kap. 1.8; . Abb. 1.3). Es wird empfohlen, dass bei Patienten mit relevanten Beeinträchtigungen von Alltagsfunktionen bei Diagnosestellung im Rahmen eines mehrere Therapieoptionen umfassenden Behandlungskonzepts folgende ambulante Behandlungen angeboten und/oder veranlasst werden: 5 Ausdauertraining von geringer bis mittlerer Intensität soll dauerhaft 2- bis 3-mal/Woche über mindestens 30 min 5 Funktionstraining (Trocken- oder Wassergymnastik) soll 2-mal/Woche über mindestens 30 min 5 Entspannungsverfahren in Kombination mit aerobem Ausdauertraining 5 Kognitive Verhaltenstherapie 5 Meditative Bewegungstherapien (Tai-Chi, Qi-Gong, Yoga) 5 Amitriptylin (10–50 mg/Tag) zeitlich befristet 5 Duloxetin 60 mg/Tag zeitlich befristet bei komorbiden depressiven Störungen und/oder generalisierter Angststörung 5 komorbide seelische Störungen und somatische Erkrankungen sollen parallel behandelt werden 5 Stark negative Empfehlung für 5 NSAR, hochpotente Opioide, Massage (da passives Verfahren) 10.4.5.3 Langzeitbetreuung
Das Ziel einer langfristigen Behandlung/ Betreuung ist die Symptomreduktion und die Verbesserung der Leistungsfähigkeit. Es wird empfohlen, bei Patienten mit anhaltenden relevanten Beeinträchtigungen von Alltagsfunktionen 6 Monate nach Ende einer (teil-)stationären multimodalen Therapie die im Folgenden genannten Behandlungsoptionen zu überprüfen. Bei einer Langzeitbetreuung nach den Prinzipien der psychosomatischen Grundversorgung
10
sind Selbstverantwortung und Eigenaktivität der Betroffenen zu stärken. Es wird empfohlen, mit den Patienten ein individualisiertes Behandlungsprogramm durch gemeinsame Entscheidungsfindung zu erstellen. Folgende Behandlungsoptionen können in diesem Rahmen mit dem Patienten erwogen werden: 5 Keine weitere spezifische Behandlung 5 Ambulante Fortführung multimodaler Therapien 5 Zeitlich befristet: (teil-)stationäre multimodale Intervall- bzw. Boostertherapie 5 Zeitlich befristet kann erwogen werden: Duloxetin oder Fluoxetin bzw. Paroxetin oder Pregabalin Übersicht Stark negative Empfehlungen für den langfristigen Einsatz von: 5 NSAR, Neuroleptika, Myotonolytika, Ketamin, Lokalanästhetika, Kortikosteroide, Calcitonin, Anxiolytika, antivirale Substanzen, Dopaminagonisten, Hormone, Hypnotika, Interferon, Serotoninantagonisten 5 Stark wirksame Opioide, Cannabinoide, MAO-Hemmer 5 Invasive Schmerztherapie: PDA, Sympathikusblockaden 5 Hyperbare Oxygenierung 5 Massage, Tenderpoint-Injektionen, TENS, Elektrokrampftherapie 5 Homöopathie 5 Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion 5 Nahrungsergänzungsprodukte
Wegen uneindeutiger Datenlage weder negative oder positive Empfehlung für: 5 Gabapentin 5 Schwach wirksame Opioide 5 ASS, Paracetamol, Metamizol 5 Akupunktur kann zeitlich befristet eingesetzt werden
250
Kapitel 10 · Muskuloskelettale Schmerzen
10.5 Rheumatische Schmerzen
(rheumatoide Arthritis und Arthrose)
1.000 Personen schwerden.
mit
rheumatischen
Be-
10.5.3 Klinik 10.5.1 Definition rheumatischer
Erkrankungen
5 Erkrankungen des Bindegewebes und schmerzhafte Störungen des Bewegungsapparats, die zur Ausbildung chronischer Symptome und damit zu chronischen Schmerzen führen 5 Am häufigsten sind die Arthrose und die rheumatoide Arthritis (RA; Synonym: chronische Polyarthritis) 10.5.2 Prävalenz
Schätzungsweise ca. 1 % der Bevölkerung, d. h. auf 100.000 Einwohner k ommen
. Tab. 10.4 gibt einen Überblick über die Klinik der Arthrose und der rheumatoiden Arthritis. 10.5.4 Therapie der Arthrose 10.5.4.1 Nichtmedikamentöse
Maßnahmen
5 Patientenschulung 5 Ergotherapie 5 Eispackungen, Eismassagen 5 Physiotherapie mit Kräftigung der gelenkstabilisierenden Muskulatur
10 . Tab. 10.4 Häufig verwendete NSAR in der Rheumaschmerztherapie Substanz
Tageshöchstdosis [mg]
Mittlere Tagesdosis oral [mg]
Eliminations-HWZ [h]
Besonderheit
Ketoprofen
300
150–300
1,5–2,5
–
Diclofenac
150
100–150
1–3
Gelegentlich Transaminasenerhöhung, selten Hepatitis bzw. Cholestase, präferenzielle COX-2-Inhibition
Ibuprofen
2400
1200–2400
2–4
Relativ geringe antiphlogistische Potenz
Dexibuprofen
1200
800
2–4
Soll weniger GI-NW als das Racemat verursachen
Indometacin
150
50–150
4–11
ZNS-Nebenwirkungen häufiger
500–1.000
12–15
–
Naproxen
1250
Meloxicam
15
7,5–15
15–20
Partiell selektive COX-2-Inhibition, lange HWZ
Piroxicam
20
10–20
50
Lange HWZ
10.5.4.2 Medikamente
10
251
10.5 · Rheumatische Schmerzen (rheumatoide Arthritis und Arthrose)
5 Bei nicht ausreichender Wirksamkeit: NSAR (. Tab. 10.5)
5 Paracetamol 2–4 g/Tag
. Tab. 10.5 Basistherapeutika: Dosierung und Überwachung häufig verwendeter Substanzen Substanz
Wirkstärke
Dosierung
Wirkeintritt nach Monaten
Methotrexat MTX (meist verwendetes Basistherapeutikum, Tagestherapiekosten 30 Cent)
Stark
Applikation 1-mal pro Woche oral oder parenteral (i.m., i.v.), Dosis individuell (initial 7,5– 15 mg, Dauerdosis 7,5–25 mg)
1–2
Anmerkungen Im 1. Monat 1-mal pro Woche, ab dem 2. Monat 1-mal 14-tägig, ab dem 4. Monat 1-mal pro Monat klinische Kontrolle inklusive Befragung nach Husten/Dyspnoe und Blutbild (inklusive Thrombozyten, Differenzialblutbild), Leberwerte, Kreatinin/Urinstatus Gängige Kombination: MTX, SSZ, HCQ (O’Dell-Schema) Nebenwirkungen Dermatitis, Stomatitis, Haarausfall; Kopfschmerzen, Übelkeit, Diarrhö; Transaminasenanstieg, Leberzirrhose; Eosinophilie, Zytopenien, Makrozytose; Pneumonitis; vermehrte Infektanfälligkeit; Fieber; vermehrte Rheumaknotenbildung; Teratogenität, Abort Nebenwirkungen sind z. T. durch Folinsäuregabe vermeidbar Sulfazalazin SSZ
Mittelstark
Woche 1: 1-mal 500 mg, Woche 2: 2-mal 500 mg, Woche 3: 3-mal 500 mg
2–3
Anmerkungen In den ersten 3 Monaten 14-tägig, ab dem 4. Monat monatlich und ab dem 7. Monat 2-monatlich klinische Kontrolle und Blutbild (inklusive Thrombozyten, Differenzialblutbild), Leberwerte, Kreatinin/Urinstatus Indikationen Häufig eingesetzt als Monotherapie bei geringer Aktivität oder in Kombination (Hydroxy-)Chloroquin HCQ
Schwach
2-mal 200 mg p.o.
4–6
Nebenwirkungen Nausea, Appetitlosigkeit, Diarrhö (insgesamt am häufigsten); Störungen von Akkommodation und Farbensehen, Einlagerungen in die Kornea oder Retina (selten!); Kopfschmerzen, Schwindel, Schlafstörungen; Neuropathie, Myopathie (selten) Infliximab (Remicade)
3 mg/kg KG als Infusion alle 4–8 Wochen, ggf. Kombination mit MTX
1–2 Wochen
Wirkmechanismus Chimärer monoklonaler TNFα-Antikörper Anmerkungen Vor Therapie Ausschluss einer aktiven Tuberkulose, Kombination mit MTX der Monotherapie mit MTX überlegen Adalimumab (Humira)
40 mg jede 2. Woche s.c. mit Pen oder Fertigspritze
1–2 Wochen
Wirkmechanismus Erster humanisierter monoklonaler TNFα-Antikörper Etanercept (Enbrel)
25 mg s.c. 2-mal pro Woche
1–2 Wochen (Fortsetzung)
252
Kapitel 10 · Muskuloskelettale Schmerzen
. Tab. 10.5 (Fortsetzung) Substanz
Wirkstärke
Dosierung
Wirkeintritt nach Monaten
100 mg/Tag s.c. über Fertigspritze
1–2
Wirkmechanismus Lösliches TNFα-Rezeptorfusionsprotein Anakinra (Kineret)
Wirkmechanismus Humaner monoklonaler Interleukin-1-Rezeptorantagonist, neutralisiert die inflammatorische IL1-Aktivität
10
5 Opioide; Vorteile: fehlende Organtoxizität, Nachteile: Effektivität einer Langzeittherapie nicht nachgewiesen, opioidbedingte Nebenwirkungen 5 Intraartikuläre Glukokortikoidinjektion: gute akute Wirkung, fehlende Evidenz bei Langzeittherapie; maximal 2–3 Gelenkinjektionen pro Gelenk pro Jahr empfohlen 5 Intraartikuläre Hyaluroninjektion: Wirkmechanismus ungeklärt, aber Effektivität bezüglich Schmerzreduktion gegenüber Placebo und NSAR belegt 5 Topische Applikation von NSAR-haltiger Salbe: Therapieversuch gerechtfertigt, NNT von 3,1 Nebenwirkungen (7 Kap. 2)
aller
NSAR
5 Magen und Darm: Übelkeit, Erbrechen, Völlegefühl, Magen-Darm-Geschwüre; die Häufigkeit der Magen-Darm- Störungen nimmt bei Anwendung höherer Dosen und bei Kombination von verschiedenen Antiphlogistika zu 5 Allergische und pseudoallergische Reaktionen: Pruritus, Exantheme, Ödeme, Stevens-Johnson-Syndrom, Broncho-spasmus, allergischer Schock und Schockfragmente 5 Haut und Schleimhaut: Steigerung der Lichtempfindlichkeit, Mundschleimhautentzündung, Haarausfall, Störung des Nagelwachstums
5 Zentrales Nervensystem: Kopfschmerzen, Schwindel, Müdigkeit, Sehstörungen, Konzentrationsschwäche, Verwirrtheit 5 Blut: Leukozytopenie, Agranulozytose, aplastische Anämie, Panzytopenie, Thrombozytopenie, reversible Hemmung (im Gegensatz zu ASS!) der Thrombozytenaggregation 5 Leber: Transaminasenerhöhung (meist passager), cholestatische Hepatose 5 Niere: Kreatininanstieg, Nierenversagen, Hämaturie, Blasenbeschwerden 5 Herz und Kreislauf: Herzklopfen, Unterschenkelödeme, Blutdruckanstieg 5 Weitere unerwünschte Arzneimittelwirkungen: 5 Strumawachstum (v. a. bei Pyrazolonen) 5 Ohrensausen und Schwerhörigkeit (nur bei Salicylaten) 5 Arzneimittelinteraktionen: besonders mit oralen Antikoagulanzien, Antihypertensiva, Methotrexat und Lithium
10.5.5 Therapie der rheumatoiden
Arthritis
Die generellen Behandlungsmöglichkeiten der rheumatoiden Arthritis werden parallel eingesetzt: 5 Basistherapie mit krankheitsmodulierenden Therapeutika (DMARD = „disease modifying antirheumatic drugs“)
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10.6 · Osteoporose
5 Basistherapeutika: so früh wie möglich einsetzen, entsprechend der Krankheitsaktivität (. Tab. 10.3) 5 Glukokortikoide: rascher Wirkeintritt, der die verzögerte Wirkung der DMARD überbrücken kann. Erhaltungstherapie mit Low-dose-Prednisolon (5–7,5 mg/Tag) 5 Analgetische Therapie mit NSAR (. Tab. 10.4) und Nicht-NSAR 5 Orthopädische Maßnahmen (konservative Maßnahmen und rheumachirurgische Interventionen) 5 Physikalische Therapie, Ergotherapie 5 Psychosoziale Betreuung ! Eine ausschließlich medikamentöse Therapie der rheumatoiden Arthritis ist ungünstig, allerdings spielt die medikamentöse Therapie mit ihren verschiedenen Facetten die zentrale Rolle.
10.6 Osteoporose
Es handelt sich um eine systemische Skeletterkrankung, die durch eine niedrige Knochenmasse und eine mikroarchitektonische Verschlechterung des Knochengewebes charakterisiert ist. Daher kommt es zur Knochenfragilität mit Frakturneigung. Sind bereits Frakturen als Folge der Osteoporose aufgetreten, liebt eine manifeste Osteoporose vor. 10.6.1 Definition
Auftreten von Knochenbrüchen aufgrund der erniedrigten Knochendichte und deren Folgen nach WHO 1994: 5 Verminderung des Knochenmineralgehalts in der DXA-Knochendichtemessung an der LWS und/oder am proximalen Femur um ≤ −2.5 Standardabweichungen vom Mittelwert einer 20–29-jährigen Frau (= T-Score) oder eines > 50-jährigen Mannes
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5 Diagnosestellung erfolgt mithilfe des T-Scores, jedoch nicht durch ihn. Die klinische Konstellation entscheidet! 10.6.2 Prävalenz
In Deutschland sind sehr viele Menschen betroffen: 5 bei postmenopausalen Frauen (50–60 Jahre) 15 %, Frauen > 70 Jahre: 45 % 5 Männer 50–60 Jahre 2.4 %, Männer > 70 Jahre: 17 % Klinisch auffällig wird die Osteoporose in der Regel durch Frakturen und ihre Folgen. Am häufigsten betroffen sind distale Radiusfrakturen, Hüftfrakturen und Wirbelkörperfrakturen. 10.6.3 Risikofaktoren
5 zunehmendes Lebensalter und weibliches Geschlecht, s. o. 5 stattgehabte Wirbelkörperfraktur(en) 5 proximale Femurfraktur bei Vater oder Mutter 5 Immobilität (maximale Gehstrecke