234 67 30MB
German Pages 318 [321] Year 2002
Studien und Texte zu Antike und Christentum Studies and Texts in Antiquity and Christianity Herausgeber/Editor:
CHRISTOPH M A R K S C H I E S
(Heidelberg)
Beirat/Advisory Board H U B E R T CANCIK SUSANNA E L M
(Tübingen) • GIOVANNI (Berkeley) • J O H A N N E S JÖRG R Ü P K E (Erfurt)
13
(Salerno) (Münster)
CASADIO HAHN
Religiöse Vereine in der römischen Antike Untersuchungen zu Organisation, Ritual und Raumordnung herausgegeben von
Ulrike Egelhaaf-Gaiser und Alfred Schäfer
Mohr Siebeck
Ulrike Egelhaaf-Gaiser, geboren 1967; 1987-94 Doppelstudium der Griechischen und Lateinischen Philologie und Klassischen Archäologie in München und Tübingen; 1994-95 wiss. Assistentin am Institut für Klassische Philologie Tübingen; 1998 Promotion (Tübingen); 1998-99 wiss. Mitarbeiterin an der Akademie der Wissenschaften Berlin; seit 1999 wiss. Assistentin am Institut für Klassische Philologie Gießen. Alfred Schäfer, geboren 1963; 1986-94 Studium der Klassischen Archäologie, Alten Geschichte sowie Mittleren und Neueren Geschichte an der Universität zu Köln; 1994 Promotion (Köln); 1994 wiss. Mitarbeiter am Forschungsarchiv für Antike Plastik der Universität zu Köln; 1995 wiss. Mitarbeiter am Dekanat der Phil. Fakultät der Universität zu Köln; 1996-2002 wiss. Assistent am Winckelmann-Institut der Humboldt-Universität zu Berlin; seit 2002 wiss. Mitarbeiter am Winckelmann-Institut der Humboldt-Universität.
Die Deutsche Bibliothek -
CIP-Einheitsaufnahme
Religiöse Vereine in der römischen Antike : Untersuchungen zu Organisation, Ritual und Raumordnung / Hrsg.; Ulrike Egelhaaf-Gaiser ; Alfred Schäfer. Tübingen : Mohr Siebeck, 2002 (Studien und Texte zu Antike und Christentum ; Bd. 13) ISBN 3-16-147771-5
978-3-16-158644-6 Unveränderte eBook-Ausgabe 2019
© 2002 J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) Tübingen. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Guide-Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Held in Rottenburg gebunden. Gesetzt mit dem Programm T U S T E P des Zentrums für Datenverarbeitung der Universität Tübingen durch Diana Püschel, Professur für Vergleichende Religionswissenschaft, Universität Erfurt. ISSN 1436-3003
Inhalts verzeichni s
Einleitung
1
Teil I: Soziale und religiöse Strukturen ANDREAS BENDLIN
Gemeinschaft, Öffentlichkeit und Identität: Forschungsgeschichtliche Anmerkungen zu den Mustern sozialer Ordnung in Rom
9
1 II fenomeno associativo nel mondo romano in der Forschung . . . 2 Vom «Verein» zum Netzwerk: Muster sozialer Organisation in theoretischer Perspektive 3 Individuum und Gesellschaft: Antike und altertumswissenschaftliche Ansätze 4 Collegia als Netzwerke: Rom in der Späten Republik 5 Die Muster sozialer Ordnung: abschließende Überlegungen . . .
9 15 19 28 32
JÖRG RÜPKE
Collegia sacerdotum:
Religiöse Vereine in der Oberschicht
1 Vereine und die antike Religionsgeschichte 2 Sacerdotes publici 3 Cenae sacerdotales: Versuch einer Rekonstruktion 3.1 Amtsantrittsessen 3.2 Rhythmus 3.3 Ort 3.4 Die zeitliche Struktur der Priestertreffen 3.5 Konsequenzen für das römische Haus 3.6 Cena sacerdotalis: Semantik der Verschwendung? 3.7 Verhandlungen 3.8 Erweiterung des Kommunikationsraumes 3.9 Selbst-und Fremdwahrnehmung 4 Fazit und Perspektiven
. . . .
41 41 44 46 46 48 49 51 54 56 58 61 61 62
VI
Inhaltsverzeichnis
ALEXANDRU AVRAM
Der dionysische thiasos in Kallatis: Organisation, Repräsentation, Funktion
69
1 2 3 4
69 71 74 76
Der thiasos und der lokale Dionysoskult Äußere und innere Organisation des thiasos Feste und Mysterien Die Kultanlage des thiasos
IMOGEN DLTTMANN-SCHÖNE
Götterverehrung bei den Berufsvereinen im kaiserzeitlichen Kleinasien
81
Einleitung 1 Götterkult in Landwirtschafts- und Fischereivereinen 2 Götterkult im Handwerk und Dienstleistungsgewerbe 3 Vereine monotheistischen Glaubens 3.1 Judentum 3.2 Christentum Ergebnis Tabelle: Berufsvereine mit Bezug zu griechischen, römischen, orientalischen Gottheiten
81 82 86 89 89 91 92 94
CHRISTOPH MARKSCHIES
Lehrer, Schüler, Schule: Zur Bedeutung einer Institution für das antike Christentum Einleitung 1 Die pagan-religiöse Prägung der verschiedenen Bildungsinstitutionen und die christliche Reaktion darauf 1.1 Die pagan-religiöse Prägung des Unterrichts 1.2 Christliche Alternativen 1.3 Christen als Elementarlehrer 1.4 Die Christen und die antike Elementarbildung 2 Die Bedeutung des paganen Bildungskanons für die Christen und ihre Bildungsinstitutionen 3 Die Folgen der Übernahme paganer Bildungsinstitutionen für die Ausbildung einer christlichen Theologie 3.1 Der antike philosophische Unterricht 3.2 Philosophischer Unterricht bei den Christen 4 Schluß und Ausblick
97 97 100 100 101 104 106 108 112 113 114 119
Inhaltsverzeichnis
VII
Teil II: Raumwahrnehmung und Gemeinschaft ULRIKE EGELHAAF-GAISER
Religionsästhetik und Raumordnung am Beispiel der Vereinsgebäude von Ostia Einleitung 1 Antike und moderne Modelle von Raumwahrnehmung und Rauminszenierung 1.1 Sozialpsychologie des Raums 1.2 Hierarchisierung des Raums 1.3 Semantik des repräsentativen Raums 1.4 Wegrouten und (Handlungs)räume im Alltag 1.5 Sakrallandschaften und Gedächtnisräume 1.6 Spezifizierung der Fragestellung 2 Möglichkeiten der Raumkonzeption: Drei Vereinsgebäude in Ostia 2.1 Raumdifferenzierung zur Statusindikation: Schola und Tempel der fabri tignuarii 2.2 Konkurrenz der Bauformen: Die schola der mensores frumentarii 2.3 Raumverschwendung und Luxusostentation: Die schola des Trajan 3 «Beruflich organisierte» und «religiöse» Vereine: Varianten in der Raumgestaltung? 4 Euergetismus und Konkurrenz: Collegia im städtischen Kontext . 4.1 Fassadengestaltung der scholae 4.2 Öffentliche Ehreninschriften 5 Scholae und Handlungsräume im Alltag 5.1 Identitätsbildung über kollektiv genutzte Arbeitsräume und Latrinen 5.2 Gemeinsame Freizeitgestaltung in vereinseigenen Bädern . . 5.3 Wechselbeziehungen zwischen Wohnquartier und schola . . Schlußfolgerungen
123 123 125 125 127 128 131 133 134 135 136 138 140 143 147 148 150 153 154 155 157 159
ALFRED SCHÄFER
Raumnutzung und Raumwahrnehmung im Vereinslokal der Iobakchen von Athen
173
Einleitung 1 Baubeschreibung 2 Die Fundsituation der Skulpturen 3 Ein zusammengehöriger Fundkomplex
173 174 175 177
VIII 4 5 6 7 8 I II
Inhaltsverzeichnis
Dionysos als Hauptgott des Vereins Ein älteres Vereinsgebäude der Iobakchen Die Halle der Mysten auf Melos Das Bakcheion als multifunktionaler Raum Denkmäler, Rituale und Wertvorstellungen Katalog der Funde aus dem Versammlungslokal der Iobakchen Katalog der Funde aus dem Bakcheion von Melos
. .
179 180 181 184 185 189 202
HOLGER SCHWARZER
Vereinslokale im hellenistischen und römischen Pergamon 1 2 3 4 5 6 7
Einleitung Der Nischenbau auf der Theaterterrasse Das sogenannte Temenos für den Herrscherkult Der sogenannte Bau Z Das Gebäude mit dem Podiensaal Das sogenannte Hestiaion Der Podienraum in der Langen Halle des Asklepieions Das sogenannte Mithräum im Felsheiligtum von Kapikaya . . . Anhang: Inschriftliche Zeugnisse zu pergamenischen Kultvereinen Zusammenfassung
221 221 223 225 228 231 235 238 240 243 244
UTE VERSTEGEN
Gemeinschaftserlebnis in Ritual und Raum: Zur Raumdisposition in frühchristlichen Basiliken des vierten und fünften Jahrhunderts
261
Einleitung 1 Der Haupttyp frühchristlicher Versammlungsräume: die Basilika 2 Bischofskirchen in westlichen Kirchenprovinzen: Sufetula/Sbeitla und Verona 3 Gemeindekirchen der Kirchenprovinz von Antiochia: Zahrani und Gerade 4 Ritual und Raumfunktion Schlußfolgerung
261 262
Verzeichnis der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
299
266 270 274 286
Register Stellenregister Sachregister
301 306
Einleitung Das Vereinswesen erfreut sich seit einigen Jahren einer vermehrten Aufmerksamkeit in der Forschung. Der vorliegende Band möchte die Dokumentation ausgewählter archäologischer und epigraphischer Einzelbefunde in einen systematischen Fragehorizont stellen, indem er aktuelle Forschungstheorien aus anderen Fächern und Disziplinen für den Modellfall der römischen Vereine fruchtbar zu machen und dadurch neue Akzente zu setzen sucht. Ein solcher verstärkt methodischer Zugriff auf die sprachlichen und archäologischen Quellen ist nicht zuletzt dank aktueller und materialintensiver Publikationen verwiesen sei etwa auf den Sammelband von KLOPPENBORG/WILSON 1996, die Monographie von VAN NIJF 1997 und die archäologische Dissertation von BOLLMANN 19981 - möglich geworden. Im Zentrum des Bandes stehen weniger die politischen und rechtlichen Dimensionen des Vereinswesens (hierzu etwa AUSBÜTTEL 1982, FELLMETH 19872) als vielmehr gesellschaftliche Fragehorizonte: die Beiträge sind in zwei Teilen angeordnet, wobei im ersten Teil das Interesse an den Trägern und Mitgliedern sowie der Organisation und sozialen Struktur der Vereine im Vordergrund steht: Welche Eigenschaften charakterisieren einen religiösen Verein? Wie verhält sich diese Form privat initiierter, nicht oder nur teilweise kontrollierter und insofern diffuser Religion zur staatlich organisierten Kultpraxis? Wie ordnen sich hier die staatlichen Priesterschaften ein? Stellt etwa die Mitgliedschaft in den Vereinen eine Alternative zum Tempelbesuch dar? Wie ließ sich innerhalb des vielfältigen religiösen Marktes wirkungsvoll Identität stiften und bewahren? Welche Bedeutung kommt dabei insbesondere der Mahlgemeinschaft zu? Läßt sich eine Konkurrenz zwischen den Vereinen nachweisen, und wie wird sie konkret ausgetragen? Welche Ebenen der sozialen Schichtung, der vereinsinternen Weisungsbefugnis und Hierarchie lassen sich fassen, und wie werden sie inszeniert? 1 JOHN S. KLOPPENBORG/STEPHEN G. WILSON (Hgg.), Voluntary Associations in the Graeco-Roman World, L o n d o n ; N e w York 1996; ONNO M . VAN NIJF, The Civic World of Professional Associations in the Roman East, A m s t e r d a m 1997; BEATE BOLLMANN, Römische Vereinshäuser. Untersuchungen zu den Scholae der römischen Berufs-, Kult- und Augustalen-Kollegien in Italien, M a i n z 1998. 2 FRANK M . AUSBÜTTEL, Untersuchungen zu den Vereinen im Westen des römischen Reiches, F r a n k f u r t e r Althistorische Studien 11, K a l l m ü n z 1982; ULRICH FELLMETH, Die römischen Vereine und die Politik. Untersuchungen zur sozialen Schichtung und zum politischen Bewußtsein in den Vereinen der städtischen Volksmassen in Rom und Italien, Stuttgart 1987.
2
Einleitung
Im zweiten Teil wird dagegen primär das Verhältnis von Raum und nutzender Gemeinschaft, von Raumfunktion und Raumerfahrung thematisiert: Fungieren Raum und dekorative Raumausstattung in den Vereinsgebäuden als Abbild der internen gesellschaftlichen Ordnung und Rangabstufung, oder propagieren sie das Gemeinschaftsgefühl einer geschlossenen Gruppe? Läßt sich aus der komplexen Raumgestaltung - etwa durch Zutrittsbeschränkungen, Plazierung von Inschriften und Statuen oder die begrenzte Verfügbarkeit von exklusivem Komfort - auf eine Differenzierung der Gruppe und bewußte Inszenierung von Status schließen? Gibt es Indizien für die Raumwahrnehmung seitens der Benutzer? Lassen sich Unterschiede zwischen den Gebäuden der reinen Kultvereine und der sogenannten Berufsvereine aufzeigen? Schließlich: In welchem Bezug stehen die Vereinshäuser zu ihrer städtischen Umgebung? Sind sie als öffentliche oder geschlossene Bauten zu interpretieren? Mit welchem Publikum ist zu rechnen? Besondere Aufmerksamkeit gilt dem Aspekt der Zeit: Welche Bauformen oder Ausstattungsteile unterstützen die Ausbildung einer kollektiven Erinnerung, und welche Rolle kommt diesem gemeinsamen Erinnerungshorizont für die Gruppenidentität zu? Wie wirkt sich der regelmäßige Rhythmus der Zusammenkünfte, wie eine dauerhafte oder gar generationenlange, wie eine temporär befristete Vereinszugehörigkeit auf das Selbstverständnis der Gruppe und der einzelnen Mitglieder aus? Wie ist das Vereinsleben mit anderweitigen Verpflichtungen und dem beruflichen Tagesrhythmus der Mitglieder zu vereinen? Welcher Zeitaufwand war mit der aktiven Teilnahme am Vereinsleben verbunden? Lassen sich innerhalb der Vereinsgebäude oder zwischen Vereinshäusern und städtischer Umgebung verschiedene Handlungsräume - der Arbeit, der Freizeit, des Kultvollzugs, des geselligen Banketts - identifizieren? Wie intensiv werden diese verschiedenen Handlungsräume genutzt? Den hier skizzierten Fragen gehen die einzelnen Beiträge teils mittels einer übergreifenden systematischen Fragestellung, teils durch die Auswertung und Interpretation besonders illustrativer Fallbeispiele nach: ANDREAS BENDLIN definiert in seinem einführenden Beitrag zentrale, ebenso vielzitierte wie unterschiedlich gebrauchte Begriffe wie Gesellschaft und Gemeinschaft, Öffentlichkeit und Organisation. Zugleich setzt er sich mit den bisher von der althistorischen und soziologischen Forschung vorgetragenen Gründen und Erklärungsmodellen für die Entwicklung des republikanischen Vereinswesens sowie mit der traditionell funktionalen Einteilung in Berufs-, Militär-, religiöse und gesellige collegia kritisch auseinander. Anders als oftmals in der modernen Forschung behauptet, kann demnach die römische Gesellschaft nicht als eine geschlossene Einheit, sondern sollte als Summe verschiedener, vielfach und auf verschiedenen Ebenen vernetzten Öffentlichkeiten verstanden werden, unter denen die Vereine nur eine mögliche Form von Öffentlichkeit und Netzwerk darstellen.
Einleitung
3
JÖRG RÜPKE konzentriert sich bei seiner Analyse der Struktur einer Vereinsund Bankettgesellschaft auf die stadtrömischen Priesterco//i , gi'a der Oberschicht. In seinem Rekonstruktionsversuch werden neben dem Rhythmus und zeitlichen Ablauf der Bankette auch die Ausstattung und Funktion der römischen domus als Ort dieser Kollegientreffen sowie die Intentionen des dabei betriebenen Luxus thematisiert. Im Hintergrund der Analyse von organisatorischen Strukturen, Funktionen, Wahrnehmungen und Instrumentalisierungen der Priesterbankette steht auch hier die Frage, welcher Typ von Öffentlichkeit in dieser Form der Vereins- und Bankettgesellschaft vorliegt und welche grundlegenden Charakteristika diese auszeichnen. Der Beitrag von ALEXANDRU AVRAM stellt in einer detaillierten Auswertung der epigraphischen und archäologischen Quellen den dionysischen thiasos in Kallatis vor. Anhand dieses besonders gut bezeugten Einzelfalls kann exemplarisch die äußere und innere Organisation eines dionysischen Vereins veranschaulicht werden: Erschließbar sind einzelne Amtsfunktionen, die Form der offiziellen Beschlüsse, detaillierte Regularien der Finanzierung, die Art und zentralen Bestandteile der Feste sowie die mutmaßliche Gestalt der zugehörigen Kultanlage, deren Benutzung - komplementär zu den für ein öffentliches Publikum bestimmten Dekreten - ausschließlich den Vereinsmitgliedern vorbehalten war. IMOGEN DITTMANN-SCHONE beschäftigt sich mit der Kultpraxis der sogenannten Berufsvereine im kaiserzeitlichen Kleinasien. Ausgehend von den Landwirtschafts- und Fischereivereinen, führt sie ihre epigraphische Quellenauswertung über das Handwerk und Dienstleistungsgewerbe bis zu den Vereinen monotheistischen Glaubens. Die Vielzahl und inhaltlichen Aussagen der zitierten Belege machen erneut deutlich, daß der gemeinsame Kultvollzug ein konstitutives Element aller collegia, also auch der sogenannten Berufsvereine darstellt und somit keine Basis für eine strikte Scheidung zwischen Vereinen mit religiöser und berufsbezogener Funktion darstellen kann. Den Schritt von der schola zur Schule vollzieht CHRISTOPH MARKSCHIES, der mittels der Trias «Lehrer, Schüler, Schule» ein bisher wenig beachtetes Segment für eine Institutionengeschichte des antiken Christentums zu erschließen sucht. Erörtert wird die Frage, wie die christlichen Lehrer und Schüler mit dem pagan geprägten Elementarunterricht umgingen, welche Bedeutung diesem zukam und welche Folgen mit der Übernahme dieser Bildungsinstitution verbunden waren. Grundsätzlich ist festzustellen, wie wenig christliche Gruppierungen und Gemeinden in vorkonstantinischer Zeit den Besuch des paganen Schulunterrichts problematisierten, andererseits wie sehr sich Inhalte und Unterrichtsformen christlicher Lehrer an dem Vorbild des paganen philosophischen Unterrichts orientierten. Den zweiten Teil des Bandes eröffnet ULRIKE EGELHAAF-GAISER mit einem Beitrag zu den Vereinsgebäuden in Ostia, der sowohl die interne Raumkonzeption von scholae als auch die Vereine im städtischen Kontext
4
Einleitung
beleuchtet. Es werden verschiedene semantische Systeme vorgestellt, mittels derer beruflich organisierte collegia ebenso wie die an Heiligtümer angeschlossenen Kultvereine eine komplexe Raumdifferenzierung erzielten, die Raumwahrnehmung seitens der Benutzer steuerten und die unterschiedlichen Raumfunktionen sichtbar machten. Hierauf wird analysiert, mit welchen Werbestrategien und Euergesiekonzepten sich die Vereine in der städtischen Konkurrenz zu behaupten suchten, und wie im Alltag die Aktions- und Kommunikationsräume von Arbeit, Freizeit, Wohnung, Kultvollzug und Vereinsleben ineinander greifen konnten. ALFRED SCHÄFER rekonstruiert die Baugeschichte und Ausstattung des bisher nicht hinreichend publizierten Vereinslokals der Iobakchen in Athen. Aufgrund der ausführlichen Iobakcheninschrift mit minutiösen Angaben zur Vereinsorganisation, der reichen statuarischen Ausstattung, der sorgfältigen Grabungsberichte und der Vergleichsmöglichkeit mit einem ähnlichen Komplex auf Melos bietet sich hier ein ausgezeichnetes Fallbeispiel, um einerseits die Bedeutung des Bakcheions als multifunktionaler Raum zu veranschaulichen, andererseits die vielfältigen Wertvorstellungen zu dokumentieren, die sich in der Raumkonzeption, den inschriftlich fixierten Ritualen und den Votiven artikulieren. Ziel des Beitrags von HOLGER SCHWARZER ist eine vergleichende Untersuchung aller erhaltenen pergamenischen Kultlokale, die eigenständig erbaut, also nicht an ein öffentliches Heiligtum angeschlossen waren. Besonders wertvoll wird diese erstmalige Befundzusammenstellung nicht zuletzt durch die Existenz dreier hellenistischer Bauten, sämtlich im Bautypus des Peristyls, die Rückschlüsse auf die sonst wenig dokumentierte Frühphase der Vereinsbauten und deren typologische Nähe zur Hausarchitektur erlauben. Dank der archäologisch gut erforschten städtischen Umgebung lassen die Befunde detaillierte Beobachtungen hinsichtlich der Kriterien der Standortwahl, der Zugangsregelungen und der vielfältigen Zweckräume und deren Funktionen - als Bankettsäle, Kult- und Gewerberäume - zu. UTE VERSTEGEN stellt abschließend in ihrem Beitrag die nordafrikanischen Basiliken des vierten und fünften Jahrhunderts als Versammlungsräume der frühchristlichen Gemeinden den römischen Vereinslokalen gegenüber. Untersucht wird, wie Ritual und Raumfunktion miteinander korrespondierten, mit welchen optischen und akustischen Hilfsmitteln liturgische Räume markiert, die soziale Ordnung und hierarchischen Rangabstufungen in der Gemeinschaft - etwa durch differenzierte Reglementierung der Einsichtigkeit, Zugänglichkeit und akustischen Wahrnehmung - etabliert wurden und welche Rückschlüsse die Kirchenbauten und ihre Ausstattung auf das Gemeinschaftsverständnis und Raumerlebnis sowie die damit zusammenhängenden Rituale erlauben. Der vorliegenden Publikation ging ein Kolloquium «Religiöse Vereine in der römischen Antike: Organisation, Repräsentation, Funktion» in Potsdam
Einleitung
5
voraus, das von Jörg Rüpke organisiert wurde und am 15. Februar 1999 in Potsdam stattfand. Gedankt sei an dieser Stelle allen Teilnehmern des Kolloquiums, die durch ihre Vorträge und engagierten Diskussionsbeiträge den Erfolg der Veranstaltung gewährleistet haben. Jörg Rüpke hat die Entstehung dieses Bandes in allen Phasen beratend begleitet, Jennifer Weisbecker am Lehrstuhl für Lateinische Philologie in Gießen einzelne Artikel neu formatiert. Diana Püschel an der Professur für Vergleichende Religionswissenschaft in Erfurt hat die Hauptlast der redaktionellen und technischen Bearbeitung getragen. Für ihre Zeit und Mühe möchten sich die Herausgeber bei allen Beteiligten herzlich bedanken. Ulrike Egelhaaf-Gaiser
Alfred Schäfer
Teil I Soziale und religiöse Strukturen
Gemeinschaft, Öffentlichkeit und Identität: Forschungsgeschichtliche Anmerkungen zu den Mustern sozialer Ordnung in Rom von A N D R E A S BENDLIN
1 II fenomeno associativo nel mondo romano in der Forschung 307/6 oder 305/4 v. Chr. erwarb der athenische Bürger Epikur ein Grundstück vor den Toren Athens in Sichtweite des DipyIon-Tores. Auf diesem Gartengrundstück (KT)7IOC) gründete dieser Epikur nach Maßgabe der von den Gesetzen der Stadt niedergelegten «Vereins»-Autonomie eine Gemeinschaft, die Männern wie Frauen aus allen sozialen Schichten offenstand, sich aus Spenden und durch die regelmäßigen Zahlungen der wohlhabenderen Mitglieder finanzierte und sich als ein hierarchiefreier Raum von gemeinsam Philosophierenden begriff. Epikur selbst soll - in religiöser Überhöhung - diese Gemeinschaft als einen «heiligen Körper» bezeichnet haben, dem er als Oberhaupt vorstand. Schon zu Lebzeiten ihres Gründers war diese Gemeinschaft mit eigenen Mahlzeiten, Festen und Lebensregeln sowie der selbstgewählten Abstinenz von jeglicher Form der politischen Betätigung als ein radikaler Gegenentwurf zu der existierenden athenischen Gesellschaftsordnung konzipiert. Die in einem elaborierten Festkalender spezifizierten Kultfeiern für den vergöttlichten Heros Epikur und andere Epikureer der Gründergeneration garantierten schließlich, ebenso wie deren statuarische Repräsentation im Kepos, über den Tod jener Personen hinaus den Fortbestand dieser Gruppe, die in ihrer Suche nach einer von anderen Verpflichtungen losgelösten Identität an eine moderne «Sekte» erinnert. 1 Die gelebte Utopie der epikureischen Kepos-Gemeinschaft markiert in ihrem sozialreformerischen Anspruch einen in den antiken Gesellschaften exl
' I e p ô v Gö)|ia: Epikur. F 130 Usener = F [54] Arrighetti. Weiteres bei CLAY 1986; ERLER 1994, 205-215, 287f.; SCHOLZ 1998, 301-310. Für Hinweise danke ich den Herausgebern, MAREILE HAASE und JÖRG RÜPKE. Im Text werden folgende Abkürzungen verwendet: AE L'Année épigraphique; CIL Corpus inscriptionum Latinarum; ILLRP Inscriptiones latinae liberae rei publicae (ed. A. Degrassi), 2 Bde., 1957-63, ND 1972; ILS Inscriptiones Latinae selectae.
10
Andreas Bendlin
tremen Typ sozialer Organisation. Gleichwohl verwendet sie Organisationsund Repräsentationsmuster, die für die «Vereine» der griechisch-römischen Antike alles andere als ungewöhnlich waren. So charakterisiert der römische Rechtsgelehrte GAIUS in seinem in der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts n. Chr. entstandenen Kommentar ad edictum provinciale ein corpus collegii societatis sive cuiusque alterius nomine - auffällig ist die Bandbreite der möglichen Termini selbst in dem um begriffliche Prägnanz bemühten juristischen Schriftwerk - als einen analog zur staatlichen Organisationsform (ad exemplum rei publicae) eingerichteten Typ der Vergemeinschaftung mit gemeinsamem Besitz (res communes), gemeinsamen Finanzen (arca communis) und einer intern hierarchisierten Ämterstruktur. 2 Was GAIUS hier übergeht, das sind die eine interne Identität mitkonstituierenden Aufgaben, Feiern, Feste oder religiösen Kulte dieser «Körperschaften». Basierend auf einer augusteischen lex Iulia de collegiis, die vielleicht auf ein caesarisches Statut gleichen Inhalts zurückging, 3 waren derartige «Körperschaften» in der Kaiserzeit in Gemeinden römischen Rechts (Plin. epist. 10,92 f.) zumindest de iure an die individuelle Ratifizierung durch den Senat bzw. an die Erlaubnis der staatlichen Autoritäten (Plin. epist. 10,33f.; Gaius Dig. 3,4,1) gebunden und bei weitgehender interner Satzungs- und Handlungsautonomie in ihrem Bestand von der Einhaltung der jeweils gültigen Rechtsnormen abhängig. 4 Genau diese interne Freiheit bei Übereinstimmmung mit den publicae leges bezeugt GAIUS auch in seinem Kommentar ad legem duodecim tabularum,5 Möglicherweise galt in Fällen, wo die Vereinsmitglieder die staatliche Erlaubnis einholten, daß Zweck und Gemeinnützigkeit der zu konstituierenden Gemeinschaft nachzuweisen waren (CIL 6,2193 = CIL 6,4416 = ILS 4966). Außerdem bestand in politischer und sozialer Hinsicht 2
G a i u s Dig.
3 , 4 , 1 pr.\
3 , 4 , 1 , 1 . V g l . BEHRENDS 1 9 8 1 , 1 7 4 - 1 7 8 ; AUSBÜTTEL 1 9 8 2 ,
16f„
92 f. 3 Zu der unübersichtlichen Geschichte der lex Iulia de collegiis s. los. ant. lud. 14,213215; Suet. Iul. 42,3; Augustus 32,1; CIL 6,2193 = 4416 = ILS 4966; Dis manibus. Collegio symphoniacorum qui sacris publicis praestu sunt quibus senatus c(oire) c(ogi) c(onvocari) permisit e lege Iulia ex auctoritate Aug(usti) ludorum causa. LINDERSKI 1995, 2 1 7 - 2 2 3 und YAVETZ 1983, 8 5 - 9 6 schließen caesarischen Ursprung nicht aus; das Problem läßt sich nicht abschließend klären. 4 Die seit MOMMSEN 1843, 87-91 anhand einer lex collegi der cultores Dianae et Antinoi aus Lanuvium (CIL 14,2112 = ILS 7212, 136 n . C h r . ; vgl. VOISIN 1987, 262ff.) immer wieder vertretende Ansicht, sogenannten collegia tenuiorum (der Begriff nur bei Marcianus Dig. 47,22,3,2; vgl. Dig. 47,22,1 pr.) sei durch ein kaiserzeitliches senatus consultum die Vereinsgründung grundsätzlich, d. h. ohne jeweils individuelle Ratifizierung, gestattet worden, scheint mir durch AUSBÜTTEL 1982, 2 2 - 2 9 widerlegt. 5 Der Dig. 47,22,4 korrupt überlieferte Text spiegelt trotz des Rückverweises auf eine angeblich solonische «Vereins»-Gesetzgebung, pace BEHRENDS 1981, 163-165, nicht die Rechtsrealität in Athen zu Beginn des 6. Jahrhunderts v. Chr. oder zu der Zeit der römischen Zwölftafelgesetze, sondern den zu Gaius' Lebzeiten gängigen Usus wider: ARNAOUTOGLOU
1 9 9 8 , 7 2 f . ; CRAWFORD 1 9 9 6 , 6 9 4 f .
Gemeinschaft, Öffentlichkeit und Identität
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Friedenspflicht: Die Formierung eines collegium oder sodalicium zur Abhaltung von turbae, coetus bzw. coniurationes war - in der flavischen Munizipalgesetzgebung bei Androhung einer Geldstrafe - verboten. Die hier zum Ausdruck kommende Furcht vor politischen Verschwörungen sowie vor unkontrollierbaren Organisationsstrukturen jenseits der Zugriffsmöglichkeiten, die den stadtrömischen, italischen und provinzialrömischen Eliten zu Gebote standen, findet sich zu allen Zeiten der römischen Geschichte; der sogenannte «Bacchanalien-Skandal» von 186 v. Chr. ist nur ein besonders prägnantes Beispiel. 6 Diese Furcht indiziert aber gleichzeitig die Einsicht dieser Eliten in die Grenzen von Kontrolle in den vormodernen, vorstaatlichen Gesellschaften: Das bei TACITUS beschriebene, nach lokalen Unruhen in Pompeji im Jahr 59 n. Chr. durchgesetzte Verbot solcher collegia, die «gegen die Gesetze» eingerichtet worden waren, impliziert, daß das Einholen einer Erlaubnis beim Senat oder anderen, lokalen Autoritäten nicht die Regel war. 7 Ausgehend von der antiken juristischen Vorstellung eines in Analogie zu den städtischen Institutionen konzipierten Vereins faßt JEAN PIERRE WALTZING eine derartige Körperschaft als petite cité, deren Organisationsund Repräsentationsformen diejenigen der übergeordneten politischen Strukturen der Stadt für ein Publikum imitierten, dem die entscheidende politische Mitwirkung am Gemeinwesen versagt geblieben sei. Daß derartige Vereine ihren Mitgliedern einen komplementären sozialen Raum für die individuelle Statusinszenierung eröffneten und zumindest gewisse Voraussetzungen für den gesellschaftlichen Aufstieg schufen, die Vereinsmitglieder auf diese Weise aber gleichzeitig in die gefügten Strukturen einer stratifizierten Gesellschaft integriert gewesen seien - diese These ist denn auch zum Leitmotiv zahlreicher Untersuchungen zu den Vereinen der griechisch-römischen Antike geworden. 8 Diese These entbehrt nicht einer gewissen Plausibilität: So verweisen Architektur und Ausstattung der kaiserzeitlichen Vereinshäuser der Stadt Rom und Italiens auf den Repräsentationsmodus des öffentlich-politischen Raumes 9 und folgen damit dem Modell der stadtrömischen und munizipalen Eliten; so wird die in augusteischer Zeit entstehende Repräsentationsepigraphik 10 zum Medium einer vereinsspezifischen, auf die Innen- wie Außenwirkung ausgerichteten Kommunikationsstruktur aus Ehreninschriften, fasti, alba und leges; 6 Flavische Zeit: Lex Irnitana c. 74 (= J. GONZALEZ, Journal of Roman Studies 76 [1986], 172); Plin. epist. 10,93. Republik: NIPPEL 1995, 27-30. 7 Tac. ann. 14,17; zum Grundsätzlichen AUSBÜTTEL 1982, 14; NIPPEL 1995, 113-119. 8 WALTZING 1895-1900, 1.513. Schon MOMMSEN 1843, 120 leitete die Organisation der Vereine von munizipalen Verwaltungsstrukturen her. Vgl. in diesem Sinne KNEISSL 1980,
3 2 6 f . ; FLAMBARD 1 9 8 1 , 1 6 5 f . ; VAN NIJF 1 9 9 7 , 2 4 7 ; ARNAOUTOGLOU 1 9 9 8 , 8 1 - 8 3 ; BOLLMANN 1 9 9 8 , 3 9 , 2 0 5 . 9 BOLLMANN 1 9 9 8 , 5 8 - 1 5 5 . 10 ALFÖLDY 1 9 9 1 .
12
Andreas Bendlin
so findet der aristokratische Euergetismus im öffentlichen Raum seine Entsprechung im Euergetismus der den lokalen oder überlokalen Eliten entstammenden Vereinspatrone sowie in der damit einhergehenden Einbindung einzelner Vereine in ein Geflecht reziproker sozialer, politischer und ökonomischer Abhängigkeiten zwischen dem als broker für die Interessen des collegium fungierenden patronus und dem den gesellschaftlichen Status dieses patronus affirmierenden collegiumu\ so entspricht die Zuschußfinanzierung städtischen Lebens durch Liturgien und munera der lokalen Eliten den unterschiedlichsten materiellen Aufwendungen, mit denen wohlhabende Vereinsmitglieder die Vereinskasse entlasteten. 12 Da zumindest in der römischen Kaiserzeit vielen Mitgliedern der anerkannten Vereine eine nicht unbeträchtliche Prosperität und ein gewisser gesellschaftlich anerkannter Status unterstellt werden darf, 13 verwundert es nicht, daß im 2. und bis zur Mitte des 3. Jahrhunderts n. Chr. einzelne dieser Vereine nicht nur finanzielle und administrative Aufgaben übernehmen konnten, die zuvor von den städtischen Eliten besetzt worden waren, sondern auch die Ämterbezeichnungen und internen Organisationsprinzipien der munizipalen Verwaltungsstrukturen adaptierten. 14 Gleichwohl beruht die These von der sozialen Integrationsleistung der Vereine in der griechisch-römischen Antike letzten Endes auf der funktionalistischen Gleichung, die Annahme oberschichtenspezifischer Symbolsysteme bedeute die Affirmation der diese Symbolsysteme legitimierenden Machtstrukturen einer stratifizierten Gesellschaft. Wie unten dargelegt werden wird, gehen viele Altertumswissenschaftler von dem Modell einer geschlossen-integrierten Gesellschaft als dem Normalfall gesellschaftlichen Lebens in der Antike aus; dagegen haben Soziologen darauf hingewiesen, daß ein solches Modell allein deshalb methodisch problematisch ist, weil das bloße Adaptieren von - in ihrem Kommunikationsgehalt diffusen - Werte- und Symbolsystemen die soziale Integration nicht sicherstellen könne, und die Verbindung von Systemadaption und Systemkonformität deshalb nicht notwendig sei.15 Die Auseinandersetzung innerhalb der römischen Aristokratie um die Zulässigkeit von collegia in der politisch aufgeheizten Atmosphäre der letzten Jahrzehnte der Späten Republik 16 scheinen ebenso wie die Eingriffe in die Organisationsfreiheit der kaiserzeitlichen Vereine 17 Indiz dafür zu sein, daß die 11
CLEMENTE 1 9 7 2 ; MROZEK 1 9 8 7 ; PATTERSON 1 9 9 3 ; VAN NIJF 1 9 9 7 , 7 3 - 1 2 8 .
12
MEIGGS 1 9 7 3 , 3 2 5 - 3 2 7 ; AUSBÜTTEL 1 9 8 2 , 4 3 - 4 5 , 5 6 , 6 8 ; DUNCAN-JONES 1 9 8 2 , 1 1 3 f „
221-223; BOLLMANN 1998, 209f. 13 D'ARMS 1981, 121-171; AUSBÜTTEL 1982, 4 2 ^ 8 ; VAN NIJF 1997, 18-23, 209-247; vgl. COHEN 1984 zu d e n 14
apparitores.
AUSBÜTTEL 1 9 8 2 , 7 1 - 7 8 , 1 0 0 - 1 0 6 ; PATTERSON 1 9 9 4 , b e s . 2 3 4 F . ; STEUERNAGEL 1 9 9 9 ,
185. Zu den möglichen Gründen für den Rückzug der alten munizipalen Eliten vgl. BENDLIN 1997, 5 8 - 6 1 . 15
V g l . LUKES 1 9 7 5 .
16
S. unten Abschn. 4.
11
AUSBÜTTEL 1 9 8 2 , 1 0 1 - 1 0 6 ; COTTER 1 9 9 6 , 7 8 - 8 8 . S . o b e n S. l O f .
Gemeinschaft, Öffentlichkeit und Identität
13
politischen Autoritäten diese soziologische Erkenntnis intuitiv antizipiert haben; der Verdacht, collegia, sodalitates und andere vereinsähnliche Organisationsformen seien potentielle Herde sozialer wie politischer Devianz, stellten die Grundlagen gesellschaftlicher Ordnung in Frage und müßten deshalb kontrolliert oder gar verboten werden, ist denn auch ein Leitbild oberschichtenspezifischer Diskurse in der römischen Antike und darüber hinaus. Die komplementäre These, Vereine hätten der individuellen Rolleninszenierung und damit dem gesellschaftlichen Aufstieg gedient, müßte darauf hin überprüft werden, für welche Akteure sie die maßgebliche raison d'etre war oder ob diese These nicht lediglich eine - mehr oder weniger notwendige Konsequenz dieser Form der Gemeinschaftsbildung erfaßt. Viele Vereinsmitglieder waren wahrscheinlich in zahlreiche verschiedene Muster sozialer Organisation integriert - der Aufbau mehrerer paralleler sozialer Netzwerke ist in verhaltenssoziologischer Perspektive die Regel - und hatten wohl kein Interesse an einer politischen Betätigung. 18 Daß sich bei der Institutionalisierung von Gemeinschaftsformen Rangordnungen entwickeln, muß in verhaltenssoziologischer wie ethologischer Sicht ebenfalls als Normalfall gelten. 19 Allerdings waren die Hierarchien in zahlreichen Kollegien offenbar nicht stabil - magistri, quinquennales und untergeordnete Chargen wurden für eine begrenzte Zeit gewählt oder ernannt, die Grenze zwischen den verschiedenen administrativen und religiösen Rollen blieben aber unklar - und Rangordnungen nur an der oberen Spitze der Vereinsstruktur handlungsleitend. Interne Hierarchie war vielmehr in den unterschiedlichsten Vereinigungen - in Priesterkollegien, Handwerker- und Mysterienvereinen - häufig nach dem Prinzip der Seniorität, d. h. nach dem Zeitpunkt des Beitritts des jeweiligen Mitglieds, geregelt. 20 Überdies war die heterogene Sozialstruktur vieler Vereine - die Gemeinschaft von Freien, liberti und (zu einem geringeren Maße) auch Sklaven - gerade kein Abbild einer für die Eliten paradigmatischen Ordnung. 21 Alternativ wird die Entwicklung des Vereinswesens seit dem 1. Jahrhundert n. Chr. mit Hinweis auf die in dieser Zeit entstehende Vereinsarchitektur als ein Resultat der «Segmentierung von Öffentlichkeit» beschrieben: Mit der Veränderung des politischen Systems verlagerten sich in der Kaiserzeit, so diese These, auch die Repräsentationsformen gesellschaftlichen Lebens aus dem öffentlichen Raum in die Teilbereiche sozialen Handelns. 22 Vorerst unbe18 19
Vgl. WILSON 1996, 14. Vgl. BRASHEAR 1993, 3 0 ; WILSON 1996, l O f .
20
Zum Prinzip der Seniorität s. z. B. PLCCOTTINI 1994, 19. Vgl. schon TAYLOR 1942. Diese heterogene, und geographisch wie chronologisch sehr unterschiedlich repräsentierte, Gemeinschaftsstruktur läßt sich sowohl in den italischen collegia des 2. und 1. Jahr21
h u n d e r t s v. C h r . - B R U N E A U 1970, 5 8 5 - 6 3 8 ; FLAMBARD 1 9 8 1 , 1 5 6 - 1 6 1 ; FLAMBARD 1 9 8 3 , 8 0 - 8 2 ; SOLIN 1990, 1 5 6 f . ; PROSPERI VALENTI 1998, 1 1 4 f . - als a u c h in d e n V e r e i n e n d e r römischen Kaiserzeit - AUSBÜTTEL 1982, T>l-\2\ ROYDEN 1986, 2 3 4 ff. - finden. 22 ZANKER 1 9 9 4 . Vgl. BOLLMANN 1998, 2 0 6 f . ; STEUERNAGEL 1999, 186.
14
Andreas Bendlin
antwortet muß die Frage bleiben, ob die ohne Zweifel so richtig beobachtete Entwicklung der Vereinsarchitektur tatsächlich Indiz einer weitgehenden und gesamtgesellschaftlichen Verschiebung sei und die Analyse der Repräsentationsformen somit unmittelbaren Aufschluß über den sozialen Wandel geben kann. Alternativ ließe sich formulieren, daß in der römischen Gesellschaft schon vorhandene Ausdifferenzierungsprozesse (das römische Vereinswesen an sich ist ja gerade kein der Kaiserzeit eigenes Phänomen) 23 in der Kaiserzeit (die vereinseigenen Architekturformen greifen nun aktuelle öffentliche Muster auf) lediglich auf die erweiterten Formen gesamtgesellschaftlich virulenter Repräsentation reagierten. Bedenklich stimmt das implizierte Modell einer römischen Gesellschaft, die sich von einer sich als politische Öffentlichkeit konstituierenden Gemeinschaft zu einer sich immer weiter segmentierenden Form gesellschaftlichen Zusammenlebens entwickelt haben soll. Ein solches Entwicklungsmodell kann das Phänomen der gesellschaftlichen Komplexität und der sozialen Differenzierung häufig nur als Devianz von einem ursprünglichen homogenen Zustand thematisieren, ist aber nicht in der Lage, derartige Formen sozialer Komplexität als den Normalfall jeder Gesellschaft zu erfas24
sen. Es scheint also wenig ratsam, die römischen Vereine unter dem Gesichtspunkt einer Funktion beschreiben zu wollen - sei dies nun eine «integrative» oder eine «kompensatorische». Auch eine Typologie der unterschiedlichen Vereinszwecke ist nicht mehr angebracht, seit gezeigt werden konnte, daß das von THEODOR MOMMSEN postulierte collegium funeraticium nicht der antiken Realität, sondern der Imagination des modernen Gelehrten entsprungen war, und daß das Bestattungswesen und der Totenkult nur einer der Bestandteile der sozialen Aktivitäten in unterschiedlichsten Vereinsformen war. 25 So lassen sich die Vereine, deren Mitglieder in ihrem sozialen Status unterhalb der aristokratischen Oberschicht (und möglicherweise auch unmittelbar unterhalb der munizipalen «Mittelschicht» der Augustalen) anzusiedeln sind, zwar «entsprechend ihrer Zusammensetzung und ihren Aktivitäten in Berufs- und Militärkollegien, religiöse und andere mehr oder weniger straff organisierte, gesellige Vereine einteilen»; 26 in der Praxis kommt es aber, was die Mitglie23 Vgl. zum Grundsätzlichen BRASHEAR 1993, 24: «Sogar die allgemein akzeptierte These, der Zerfall der Makrogeseilschaft führe konsequenterweise zum Aufblühen von Mikrogesellschaften, kann im Lichte der vorgebrachten Argumente [sc. daß die Vereinsbildung eine universelle, biologisch bedingte Konstante sei] nicht mehr einfach so vorausgesetzt werden»;
ähnlich WILSON 1996, 13 f. 24
Zur wissenschaftsgeschichtlichen Einordnung und Kritik s. im Grundsätzlichen BEND-
LIN 2 0 0 0 , 25
124.
MOMMSEN 1 8 4 3 , 8 9 - 9 1 . D a g e g e n AUSBÜTTEL 1 9 8 2 , 2 2 - 2 9 , 5 9 - 7 1 ; FLAMBARD 1 9 8 7 ,
b e s . 2 1 0 ; PATTERSON 1 9 9 3 ; VAN NIJF 1 9 9 7 , 3 1 - 6 9 . 26 AUSBÜTTEL 1982, 29 nach WALTZING 1895-1900, i.32f. Einen Sonderfall stellen die Augustalen insofern dar, als sie einen sich unabhängig von decurionaler Kontrolle etablierenden, unmittelbar unterhalb der Oberschicht anzusiedelnden ordo von weitreichendem so-
Gemeinschaft, Öffentlichkeit und Identität
15
derschaft 27 und die Aktivitäten dieser Vereine betrifft, zu ständigen, jede allzu feinteilige Typologie ad absurdum führenden Überschneidungen. Deutlich wird dies nicht zuletzt am hohen Rang, den die Geselligkeit und Kommensalität sowie religiöse Handlungen in allen uns bekannten Formen von Vereinen einnehmen: Die religiöse Komponente läßt sich nach Aufweis der Zeugnisse wohl kaum 2 8 anachronistisch auf einen sozialen Nutzen reduzieren, sondern muß zum religiösen Selbstverständnis sowohl des einzelnen Vereinsmitglieds als auch der Gruppe in allen Vereinen 29 erheblich beigetragen haben. In den juristischen Quellen wird der Vereinsbildung zum Zweck religiöser Aktivitäten ein privilegierter Platz eingeräumt; 30 dieses Privileg galt in einer Gesellschaft, die die Kategorie «Religion» nicht - wie zuerst das 17. Jahrhundert - als eine von anderen Handlungsmustern verschiedene Kategorie menschlichen Handelns und Denkens konzipiert hat. Derselbe Dualismus von Individuum und Gemeinschaft - das lehrt nicht zuletzt die Sozialpsychologie 31 - ist auch für den Aspekt der Geselligkeit und Kommensalität konstitutiv: Vereine sind soziale Biotope, in denen die individuelle Identität mit der Identität einer Gruppe abgeglichen werden muß, und in denen religiöse und soziale Rituale, ebenso wie gruppenspezifische Kontrollhandlungen, derartigen Abgleichungen dienen können. In dieser Hinsicht sind Rangordnung und Regelsetzung, sind Kult und Kommensalität in den Vereinen keine auf die Außenwelt verweisenden Handlungen, sondern konstitutive Elemente eines Prozesses von Identitätsfindung innerhalb einer vereinsinternen «Öffentlichkeit». 3 2
2 Vom «Verein» zum Netzwerk: Muster sozialer Organisation in theoretischer Perspektive Der Zugriff auf derartige Fragestellungen verliefe zu restriktiv, wollte man für die Untersuchung der Gesamtheit des von JEAN PIERRE WALTZING und F R A N zialen und ökonomischen Einfluß bildeten: KNEISSL 1980; ABRAMENKO 1993; D'ARMS 2 0 0 0 , bes. 129. 27
KNEISSL 1 9 9 4 .
28
Pace BOLLMANN 1998, 210f.
29
Vgl. WALTZING 1 8 9 5 - 1 9 0 0 , 1 . 2 5 4 f . ; AUSBÜTTEL 1982, 2 9 ; WILSON 1996, 7.
30
Marc. Dig. 47,22,1,1: sed religionis causa coire non prohibentur ... dum tarnen per hoc non fiat contra s. c. quo illicita collegia arcentur, vgl. Ulp. Dig. 47,11,2: sub praetextatu religionis vel sub specie solvendi voti. 31 Vgl. in diesem Sinne den auf die Verhaltensforschung L. TIGERS zurückgreifenden Versuch von BRASHEAR 1993, 19-32, die Handlungsschemata in den antiken Vereinen auf biologistische Grundmuster zurückzuführen. 32 Die Verbundenheit mit einem Verein wird in den Texten verschiedentlich zum Ausdruck gebracht; vgl. z. B. CIL 10,1579 mit STEUERNAGEL 1999, 161. Den Aspekt der Kommensalität behandeln MROZEK 1987, 37^16 (unter besonderer Behandlung der gestifteten Mahlzeiten) und RÜPKE 1998.
16
Andreas Bendlin
CESCO W. DE ROBERTIS für die römische Antike materialreich ins Bewußtsein gerückten fenomeno associativo den Typ der römischen «Vereine» in der von GAIUS definierten rechtlichen oder der von der modernen Forschung verwendeten typologischen Bedeutung zum alleinigen Betrachtungsmaßstab machen. Die Forschungsperspektive kann dagegen erweitert werden, wenn man «Vergemeinschaftung» als einen dynamischen Prozeß versteht, der sich in der Entstehung von - in unterschiedlicher Organisationsdichte verknüpften - sozialen Netzwerken äußert, von denen die institutionalisierte Organisationsstruktur «Verein» nur einen speziellen Organisationstyp darstellt. Zur knappen Illustration des mit dem Begriff der sozialen Netzwerke Gemeinten soll die römische Armee dienen: 33 Diese läßt sich in Abgrenzung gegen die zivile Gesellschaft selbst als Gesellschaft sui generis mit einem ihr eigenen Wirkungsfeld, einer spezifischen Kommunikationsstruktur, internen Hierarchien und nur für sie typischen reichsweit vollzogenen religiösen und sozialen Ritualen beschreiben. Zur gleichen Zeit ist die Armee qua Gesellschaft - genau wie die zivile Gesellschaft - der Organisationsraum kleinteiliger Gemeinschaften: der römischen Legion oder der Auxiliareinheit; der sich im gemeinsamen Kultvollzug oder in Berufung auf gemeinsame Symbole als Gemeinschaften legitimierenden militärischen Einheiten; der Militärvereine stricto sensu;34 der Zeltgemeinschaften (contubernia) und der sich zum Kultvollzug als Gruppe zusammenfindenden Gemeinschaft einzelner Soldaten; und schließlich des quer zur militärischen Gemeinschaft liegenden Netzwerkes, das sich durch den Handel zwischen Militär und Zivilbevölkerung, durch den Konkubinat und weitere Muster des sozialen Kontaktes ergibt. 35 Die Vielfalt der Formen sozialer Vernetzung - vom schwach strukturierten und kurzfristigen Interaktionsfeld bis hin zur stark formalisierten Institutionalisierung von Gemeinschaft - wird erst in einer solchen netzwerkanalytischen Perspektive sichtbar. 36 Deutlich wird in der Netzwerkanalyse auch die Beeinflussung alltäglichen sozialen Handelns, seine «Plausibilitätsstruktur», durch die unterschiedlichen Netzwerke. Eine solche Perspektive ermöglicht es der Altertumswissenschaft, den Bezugsrahmen der Analyse - Individuum und politische Gemeinschaft, «Verein» und Gesellschaft - um entscheidende soziale Handlungsebenen zu verfeinern. Die sich an eine solche Netzwerkanalyse anschließende Frage nach dem Status und der Kompatibilität derartiger unterschiedlicher Öffentlichkeiten dürften viele Altertumswissenschaftler in der Regel hierarchisch, d. h. unter Rückgriff auf das Modell einer stratifizierten Gesellschaft beantworten. Wie 33 34
RÜPKE 1 9 9 0 , 1 6 5 - 1 9 8 ; HAYNES 1999, 7 - 1 1 . Vgl. d i e B e i t r ä g e in ALFÖLDY u . a. 2 0 0 0 . AUSBÜTTEL 1 9 8 2 , 2 9 f .
35 ALSTON 1995, 96-116; FRIEDL 1996, 229-269; ALSTON 1999 (mit weiteren bibliographischen Angaben). 36 Zum Methodischen vgl. SCHWEIZER 1996. Anwendung auf die Antike: ALEXANDER/D ANOWSKI 1990 (Cicero); REMUS 1996 (Ailios Aristides).
Gemeinschaft, Öffentlichkeit und Identität
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angesichts der Vielfalt und Differenz der Muster sozialer Ordnung soziales Handeln von den Akteuren überhaupt als sinnvoll, d. h. als kohärent und - im Rahmen ihrer Vorstellungen - vernünftig und zielgerichtet konstruiert wird, dieses Problem wird häufig mit Bezug auf ein mit dem politischen System kongruentes gesamtgesellschaftliches Werte- und Symbolsystem aufgelöst; sowohl die «integrative» wie auch die «kompensatorische» Funktionsbeschreibung der römischen Vereine stehen deutlich in dieser Tradition. Einen methodisch zufriedenstellenderen Darstellungsmodus hat für dieses Problem die neuere Systemtheorie NIKLAS LUHMANNS entworfen: Operationalisierbar wird die Komplexität eines sozialen Systems nicht durch die hierarchische Ausrichtung auf ein verbindliches Werte- und Symbolsystem, sondern durch die Reduktion jener Komplexität; dies kann mit Hilfe der Ausdifferenzierung eines sozialen Systems geschehen, d. h. durch die Einrichtung verschiedener Teilbereiche sozialen Handelns, in denen die unterschiedlichen Muster sozialer Ordnung verhandelt und bewältigt werden. 37 Hinsichtlich der sozialtheoretischen Differenzierung unterschiedlicher Rollenmuster unterscheidet LUHMANN zwischen Interaktions-, Organisations- und Gesellschaftssystemen: 38 Unter Interaktionssystemen versteht er lose gekoppelte und weitgehend informelle Interaktions- und Kommunikationsmuster. Dagegen zeichnet sich ein Organisationssystem vor seiner Umwelt vor allem durch einen höheren Grad der Formalisierung von Sozialkontakten und weitergehender ideologischer Übereinstimmung, im konkreten Fall durch die Mitgliedschaft in einer Organisation, aus. LUHMANNS Begriff von Gesellschaft ist ein System anderen Zuschnitts, als dies Interaktions- und Organisationssysteme sein können: Jene sind zwar in diesem enthalten, dieses bildet aber deshalb nicht lediglich deren Summe, sondern umfaßt ganz im Gegenteil auch solche sozialen Handlungen, die nicht durch die informelle Interaktion oder Formen teilgesellschaftlicher Organisation konstituiert werden. Gerade im Zeitalter der «globalen Gesellschaft» können sich die Theoretiker sozialen Handelns in der modernen Gesellschaft nicht auf die Analyse des LUHMANNschen Typus des Gesellschaftssystems beschränken. In dem Augenblick, da Gesellschaft und Staat zunehmend als virtuelle Kategorien sozialer Verständigung begriffen werden, und da kontingentes, in den Teilsystemen der Gesellschaft autonomisiertes soziales Handeln sich an der Leitidee einer nur noch imaginierten gesellschaftlichen Einheit orientieren muß, verliert zum einen die Kategorie Gesellschaft den Anspruch, die gesamte soziale Wirklichkeit abbilden zu können, und wächst zum anderen die Differenz zwischen Interaktions-, Organisations- und Gesellschaftssystemen, was die Koppelung sozialen Handelns betrifft; als Ergebnis vermag keiner der von LUHMANN vorgestellten Systemtypen soziale Realität umfassend, sondern jeder von die37
V g l . LUHMANN 1 9 8 0 , 9 - 7 1 .
38
LUHMANN
1975.
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Andreas Bendlin
sen lediglich einen ganz spezifischen Ausschnitt darzustellen. 39 Tatsächlich ist für die Theoretiker sozialen Handelns dessen funktionale Ausdifferenzierung, andere würden sagen: Kompartimentalisierung, in den verschiedenen Teilsystemen von Politik, Recht, Wirtschaft, Kultur oder Religion ein bestimmendes Moment der neuzeitlichen gesellschaftlichen Entwicklung; und die - durch den Prozeß der Medialisierung beförderte 40 - Ersetzung einer gesamtgesellschaftlichen «Öffentlichkeit» durch viele verschiedene «Öffentlichkeiten» mit unterschiedlichen Adressaten bildet deren unmittelbare Konsequenz. Im Anschluß an diese Überlegungen verwende ich den Begriff der «Öffentlichkeit(en)» im folgenden weder als einen vom lateinischen Sprachgebrauch von publicum abgeleiteten objektsprachlichen Terminus zur Bezeichnung eines durch den politisch legitimierten populus definierten (und oft gegen das privatum abgegrenzten) Rechts- und Geltungsbereichs noch als das Synonym für die staatliche bzw. politische Öffentlichkeit, die schon im Zusammenhang der These von der «Segmentierung von Öffentlichkeit» diskutiert wurde. «Öffentlichkeit» verwende ich vielmehr in der metasprachlichen Bedeutung der teilgesellschaftlichen Öffentlichkeit eines bestimmten Publikums oder einer Gruppe; diese metasprachliche Bedeutung zeichnet sich seit dem Spätmittelalter ab, um dann in den Diskursen seit der frühen Neuzeit die Emanzipation von einem staatlichen Öffentlichkeitsbegriff zu markieren. 41 Dieser Öffentlichkeitsbegriff ist also kein im strengen Sinne «moderner» und nur für die bürgerliche Gesellschaft charakteristischer, 42 sondern als heuristische Kategorie der Versuch, unterschiedliche Kontexte sozialer Kommunikation metasprachlich zu erfassen. Auch bei der Beschreibung des Verhältnisses von Komplexität und Ausdifferenzierung in Gesellschaften handelt es sich ja nicht nicht um einen kontinuierlichen, unilinearen oder gar quasi-kausalen Steigerungszusammenhang von der stratifizierten antiken Gesellschaft mit nur einer «Öffentlichkeit» hin zur komplexen modernen Gesellschaftsform, sondern um eine kontingente, auf verschiedene historische Kontexte anwendbare Relation.
39 Vgl. hierzu LUHMANN 1975, 11-13. Den virtuellen Charakter der Kategorien Gesellschaft und Staat und die parallel hierzu sich verstärkende Bedeutung einer Vielzahl von autonomen Interaktions- und vor allem Organisationssystemen betonen WERNER 1992, 2 0 1 -
2 0 8 ; WILLKE 1 9 9 4 . 40
41
GIESECKE 1 9 9 8 , 7 3 - 1 2 1 .
Die unterschiedlichen Forschungspositionen der Begriffsgeschichte bezeichnen kontrovers HÖLSCHER 1978 und, mit Nachweis der mittelalterlichen, d. h. vormodernen, Wurzeln des modernen Öffentlichkeitsbegriffs, VON MOOS 1998. 42 So aber etwa HABERMAS 1990.
Gemeinschaft, Öffentlichkeit und Identität
19
3 Individuum und Gesellschaft: Antike und altertumswissenschaftliche Ansätze Die Terminologie, welche die Soziologie zur Analyse einer komplexen Gesellschaft zur Verfügung stellt, ist in den Altertumswissenschaften zu großen Teilen nicht rezipiert worden. Dies hat seinen Grund auch in der Natur der antiken literarischen Vorstellungen zu den gesellschaftlichen Ordnungsmustern und deren Rezeption durch die altertumswissenschaftliche Forschung. Zwar herrschte in der griechisch-römischen Antike Uneinigkeit hinsichtlich der Gründe, um deren willen Gemeinschaften entstanden: War Vergemeinschaftung für die einen ein utilitaristischer, aus Schwäche geschlossener Gesellschaftsvertrag, um Einzelne durch Konventionen und Gesetzesnormen innerhalb eines Gesellschaftsverbandes zu binden und so gleichzeitig zu schützen, 43 so postulierten andere einen natürlichen Drang zur Geselligkeit, der die Menschen zur Bildung von Gemeinschaften zum Zwecke der Erlangung des Guten veranlasse. 44 Einig sind sich die Verfasser der antiken Kulturentstehungslehren allerdings dahingehend, daß der Prozeß der Kulturentwicklung von der segmentierten zu der als Kollektiv geordneten stadtstaatlichen Gemeinschaft mit ihren materiellen Artefakten, ihren Gesetzen und Normen geführt habe; die maßgeblichen antiken Gesellschaftstheoretiker konnten die 7tÖÄ,lç, «hohl», indem der Bogen wohl ein Spitzbogen hätte sein können).
Der dionysische Thiasos
79
zweiten (später errichteten) Bau etwa von demselben Typ zu beziehen ist, mit einem ziemlich hohen Grad an Präzision rechtfertigen. D e n A u s d r u c k e t ç x ô v ¿7U(PAVE0T{XT0V TOTJ ( I D / O Ü xôkov
ist v o n P . B O Y -
ANCÉ durch «à la partie la plus en évidence de l'antre ou du souterrain» übersetzt worden. 43 Wenn angesichts des oben Behandelten die gewölbte Form der Kammer wahrscheinlich, die unterirdische Lage derselben wenigstens möglich ist, so ist umgekehrt der Idee, daß die Kultstätte als solche nichts anderes gewesen wäre als eine speziell für bakchische Zeremonien zwar eingerichtete, aber an sich natürliche Höhle, überhaupt keine Glaubwürdigkeit zu schenken. 44 Eher ging es nur um die absichtliche Nachahmung der Höhle, daher Ausdrücke wie liti^öq oder a v x p o v . 4 5 Zudem wurde der Tempel (ISM 3 , 3 5 : v a ô ç ) kurz nachdem er metaphorisch als bezeichnet worden war (ISM 3 , 4 4 , etwa 1 2 - 1 9 n. Chr.) mit einer Art Peribolos versehen (ISM 3,46, tiberische Zeit), 46 was für eine natürliche Höhle kaum passen würde. 47 Der dionysische thiasos in Kallatis mag also seine Feste in einer Landschaft abgehalten haben, die den Mythos nachzuahmen versuchte. Daß wir gerade auf dieser Ebene so gut wie nichts wissen, ist natürlich zu bedauern, aber kaum verwunderlich und sogar unvermeidbar; dies hatte mit der Öffentlichkeit überhaupt nicht zu tun, daher blieben auch die Thiasiten stumm. Der Öffentlichkeit waren die auf Marmorstelen eingegrabenen Beschlüsse bestimmt, die BOYANCÉ 1960, 117. Bekanntlich gibt es bei jedwelchen Zeremonien, die hie und da unter gewissen Umständen hätten stattfinden können, noch keine sicheren archäologischen Belege dafür, daß die natürlichen Höhlen als eigentliche Heiligtümer dienten. (Das ikonographische Material hilft dabei leider zu wenig, weil es wie so oft mythisch verfärbt ist). Allgemein dazu: H. LAVAGNE, Operosa antra. Recherches sur la grotte à Rome de Sylla à Hadrien, Paris; Rom 1988, 47-55. 43 44
4 5 Marcus Antonius hatte sich z. B. ein Lusthäuschen nach dem Muster der bakchischen antra einrichten lassen: WCTJtep 8Jii xcöv BaK^tKräv cxvxpcov yivexai (Athen. 4 , 1 4 8 b). 4 6 Z. 6ff. : oiKo8[ojir|a£tv x]ô xe JtpôOupov x à ç a\)\XQ.ç KCXÎ x ] à v avXàv 7tepißa[Xet]v; 7tpô0v>pov auch Z. 14 und 22. Somit spricht dann dieselbe Inschrift über ein tepov. Zu dem Peribolos und seinem monumentalen Tor: IG 2 2 , 1 0 4 6 , Z. 13: x à 9up(i)|iaxa Kaî xî)v ÔTtiaco x o û 7tpojrûXoD axéynv; vgl. R. MARTIN/H. METZGER, BCH 73 ( 1 9 4 9 ) , 3 4 0 («le propylée et son vestibule intérieur»); Weihinschrift aus Chios (Ch. MICHEL, Recueil d'inscriptions grecques, Paris 1900, 1145 = GRAF 1985, 100f.: ©écov NÎKWVOÇ Ko8onrinévov)» (Übersetzung: E. MEYER, Pausanias. Beschreibung Griechenlands, Zürich 1954, 4 7 3 ) .
80
Alexandru Avram
der thiasos bei wiederholten Gelegenheiten im Laufe der Jahrhunderte erlassen hat und von denen wir glücklicherweise einen Teil kennen; das hat aber der thiasos kaum als bakchische Gefolgschaft, sondern als Verein getan.
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Götterverehrung bei den Berufsvereinen im kaiserzeitlichen Kleinasien von IMOGEN DITTMANN-SCHÖNE
Einleitung1 Die Ausübung der Religion war neben sozialen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten ein wichtiger Bestandteil des griechischen Vereinslebens. Ursprünglich dürfte das religiöse Element unabhängig vom Vereinszweck überall zentrale Bedeutung besessen haben. Vereine mit beruflicher Ausrichtung waren nur schwer von eher kultisch orientierten Vereinen zu unterscheiden. Die Vereine Kleinasiens trugen entweder spezifische Bezeichnungen für religiöse Vereine ( 0 i a a o t , 8ot)(ioi, aireipat, z. T. e p a v o t ) oder Vereinsnamen, die aus dem Namen einer Schutzgottheit gebildet waren. Im Hellenismus bestanden in vielen Fernhandelszentren (z. B. auf den Mittelmeerinseln Rhodos, Delos, Lesbos) solche nach Gottheiten benannten Korporationen. Da sie sich gemäß den erhaltenen Inschriften allerdings überwiegend aus auswärtigen Kaufleuten zusammensetzten, 2 ist bei ihnen eine Verbindung von Gewerbe und Kult er1 Im Artikel werden folgende Abkürzungen benutzt: AE L'Année Épigraphique, Paris 1 ff. (1888 ff.). BCH Bulletin de Correspondance Hellénique. CIG Corpus Inscriptionum Graecarum, hg. v. A. Boeckh, Berlin 1828-1877. CIJ Corpus Inscriptionum ludaicarum. Recueil des inscriptions juives qui vont du Ille siècle avant Jésus-Christ au Vile siècle de notre ère, hg. v. J.-B. Frey, 2 Bde., Rom 1936/1952. IG lnscriptiones Graecae, Berlin 1863ff. IGBulg Inscriptiones Graecae in Bulgaria repertae, 3.1-3.2, hg. v. G. Mihailov, Sofia 1961/1964. I. Ephesos Die Inschriften von Ephesos, hg. v. H. WANKEL U. a., Bonn 1979-1981. I. Hierapolis W. Judeich, «IV. Inschriften», in: Altertümer von Hierapolis, hg. v. C. Cichorius/C. Humann/W. Judeich/F. Winter, Berlin 1898. I. Mylasa Die Inschriften von Mylasa 1, hg. v. W. Blümel, Bonn 1987. I. Parion Die Inschriften von Parion, hg. v. P. Frisch, Bonn 1983. I. Smyrna Die Inschriften von Smyrna 1-2.2, Bonn 1982-1990. M A M A Monumenta Asiae M ino ris Antiqua, Manchester/London 1928 ff. M D AI (Athen) Mitteilungen des Deutschen Archäologischen Instituts, Athenische Abteilung 6 (1981). M D A I (Istanbul) Mitteilungen des Deutschen Archäologischen Instituts, Istanbuler Abteilung 17 (1967) und 25 (1975). OGIS Orientis Graeci Inscriptiones selectae. Supplementum Sylloges Inscriptionum Graecarum, hg. v. W. Dittenberger, 2 Bde., Leipzig 1903/1905. SEG Supplementum Epigraphicum Graecum, hg. v. E. Hondius u. a., Leiden 1923 ff. 2 Die Namen dieser Korporationen endeten in der Regel auf - a x a i , z. B. Poseidoniastai, Hermaistai, Apolloniastai. Über die theonymen Berufsvereine der hellenistischen Zeit auf der
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Imogen Dittmann-Schöne
kennbar: Dem Namen nach stand zwar die Gottheit im Mittelpunkt, doch die wirtschaftlichen Interessen nahmen einen beachtlichen Stellenwert ein. Vereine, die sich über ihre berufliche Tätigkeit definierten, kamen verhältnismäßig spät auf, erst als die römische Herrschaft Einfluß auf die griechischen Städte nahm. 3 Da es jedoch auch in dieser Epoche noch nominelle Kultvereine gegeben haben muß, die berufliche Ziele verfolgten, kann die Grenze zwischen Kultvereinen mit Berufsbezug und Berufsvereinen mit Kultbezug nicht immer genau gezogen werden. Die vorliegende Untersuchung behandelt daher nur das nachweisbare Religionsverhalten derjenigen Kollegien, deren Name darauf hinweist, daß sie hauptsächlich professionell ausgerichtet waren (z. T. auch, wenn zusätzlich eine Gottheit mit Vereinsnamen enthalten ist). 4 Sie beruht auf der Auswertung von knapp 200 kaiserzeitlichen Inschriften Kleinasiens, in denen Berufskollegien in der einen oder anderen Form erwähnt sind. Davon ist in etwa jeder zehnten ein Hinweis auf religiöse Aktivitäten gegeben. Da sich bestimmte Gewerbegruppen deutlich häufiger an ihre Götter wandten als andere, sind die Unterkapitel - soweit es bei der begrenzten Materialmenge sinnvoll erschien - nach Branchen geordnet. Die ebenfalls im kaiserzeitlichen Kleinasien anzutreffenden monotheistischen Religionen Juden- und Christentum werden anschließend in eigenen Abschnitten behandelt.
1 Götterkult in Landwirtschafts- und Fischereivereinen Die Erwerbstätigen in der Land- und Wasserwirtschaft, d. h. Getreidehändler, Gärtner und Fischer, verehrten in besonderem Maße Götter der günstigen Witterung und des reichen Ertrags. So trat ein Verein von Getreidehändlern in Tarsos (Kilikien) als «heiliger Verband der Demeter-Diener» in Erscheinung. Bereits durch den Namen drückte er seine respektvolle Verehrung für die Göttin der Bodenfruchtbarkeit aus. 5 Dieses Kollegium dürfte ebenso wie ein in Tarsos bestehender Verband von Lastenträgern, das ODvepytov xcbv ev xrj oeixiKti d)|io in Roman Culture. The Case of the cubiculum>», Journal of Roman Archaeology 10. 36-56. ROMANO, ELISA 1994. «Dal De officiis a Vitruvio, da Vitruvio a Orazio. Il dibattito sul lusso edilizio», in: Le projet de Vitruve. Objet, destinaires et réception du de Architectura. Actes du colloque international organisé par l'École française de Rom, l'Institut de rechercher sur l'architecture antique du CNRS et la Scuola normale superiore de Pise (Rome, 26-27 mars 1993). Collection de l'Ecole française de Rome 192. Rom. 6 3 - 7 3 . RUGGIU, ZACCARIA 1996. «Maiestas Urbis. Il contributo dell' architectura privata all' immagine pubblica dell' città», Caesarodunum 30. 4 1 5 - 4 5 4 . SCHEID, JOHN 1995. «Les espaces cultuels et leur interprétation», Klio 77. 4 2 4 - 4 3 2 . "IÏŒGGIARI, SUSAN 1999. «The upper-class house as symbol and focus of emotion in Cicero», Journal of Roman Archaeology 12. 3 3 - 5 6 . WALLACE-HADRILL, ANDREW 1994. Houses and Society in Pompeii and Herculaneum. Princeton 1994. ZANKER, PAUL 1987. Augustus und die Macht der Bilder. München. DERS. 2000. «Bild-Räume und Betrachter im kaiserzeitlichen Rom», in: ADOLF. H. BORBEIN/TONIO HÖLSCHER/PAUL ZANKER (Hgg.). Klassische Archäologie. Eine Einführung. Berlin. 2 0 5 - 2 2 6 .
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Religionsästhetik und Raumordnung
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